Idealismus und Faktizität 9783110825237, 9783110023756


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German Pages 299 [300] Year 1971

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VORWORT
A. AUFGABEN EINER FAKTIZITÄTSPHILOSOPHIE
1. Geltungsgedanke und Kulturphilosophie
2. Hönigswalds Theorie des Organischen
3. Gestaltwelt
4. Zeitgemäße Anthropologie
B. FRAGEN DER WISSENSCHAFTSTHEORIE UND -SYSTEMATIK
1. Relativismus und Rationalität. Zur Grundlegungsproblematik der Geisteswissenschaften
2. Vom Geltungsbegriff zum Symbolbegriff. Cassirers Beitrag zur Grundlegung der Kulturwissenschaften
3. Die moderne Grundlegungstheorie und der Galileische Naturbegriff
C. DER ANSPRUCH DER ONTOLOGIE
1. Die moderne Grundlehre und das Problem der Einheit
2. Hartmanns Weg zur Ontologie
3. Zum Problem des Konkreten
D. FRAGEN DER ÄSTHETIK UND KUNSTPHILOSOPHIE
1. Problemlage
2. Subjektstheoretische Ästhetik
3. Gliederungsfragen
4. Die Lehre von der Geschichtlichkeit der Künste. Zur Aktualität der Ästhetik Hegels
BIBLIOGRAPHISCHE HINWEISE
NAMENREGISTER
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Idealismus und Faktizität
 9783110825237, 9783110023756

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Wolandt · Idealismus und Faktizität

W G DE

Gerd Wolandt

Idealismus und Faktizität

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1971

I S B N 3 11 002375 Χ

© 1971 by Walter de G r u y t e r & C o . » vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung · J . Guttentag, Verlagsbudi h a n d l u n g · Georg Reimer · K a r l J . Trübner · Veit & C o m p . , Berlin 30, Genthiner Str. 13 P r i n t e d in G e r m a n y . Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in f r e m d e Spradien, vorbehalten. O h n e ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: T h o r m a n n & Goetsch, Berlin 44

VORWORT „Wir sind erklärte Gegner der sterilen Transzendentalphilosophie . . . Wir wollen eine lebendige Wirklichkeitsphilosophie . . . " Diese Verlautbarung aus der Zeit nach dem ersten Weltkrieg charakterisierte die Lage: Mit dem philosophischen Idealismus schien es aus zu sein. Buchtitel wie Hinauf zum Idealismus! (Otto Braun, 1908) waren nicht mehr gefragt, kaum noch ein Sozialidealismus (Paul Natorp, 1920). Man hatte genug vom hohlen Pathos des Kulturfortschritts, von der Blässe abstrakter Ideen und Werte und von einem in sich selbst kreisenden Reflexionismus des Bewußtseins. Die letzten Zeugnisse des klassischen Kulturidealismus wie Reinhard Kynasts Kant-Buch {Kant, Sein System als Theorie des Kulturbewu βtsseins, 1928) blieben nahezu unbeachtet. Nicht Kultur und Bewußtsein, sondern Leben, Wirklichkeit, Sein, Dasein, Existenz sind die Stichworte für die Akteure, die damals die philosophische Bühne betraten und die ein halbes Jahrhundert lang dort ausharrten. Wie war es dahin gekommen? Worin lag die Senilität der idealistischen Philosophie von 1910 und 1920, worin lag die Lebendigkeit der Wirklichkeitsphilosophie von 1920 und 1930? Welche Schritte legte der philosophische Gedanke zurück vom Idealismus der Jahrhundertwende zum Realismus der Nachweltkriegszeit? Bedeuteten diese Schritte einen Fortschritt für die Philosophie? Waren es Schritte abwärts vom Zauberberg zum Flachland, vom Kulturtraum zur Endlichkeitsernüchterung, und damit ein Gewinn an Einsicht in die Lage der Subjektivität? Aber was ist Ernüchterung, was Dürftigkeit? Bringt der Bescheidenheitsstandpunkt nicht eine Preisgabe aller Maßstäbe? Eine Selbstaufgabe der Philosophie im Zeichen der Barbarei, der Verdummung, der faschistischen und verwandter Lehren von der Gewalt des Blutes, des Bodens, der Umstände, der Bedürfnisse? Gab man nicht preis, was nie hätte preisgegeben werden dürfen? War dies nicht ein Aufstand der Armen im Geiste, die immer für das Gerade und Einfache und Greifbare eintreten, weil sie der Strenge komplizierter Begriffe nicht gewachsen sind? In der Tat: Parteigänger von dieser Art hatte der Anti-Idealismus und der Anti-Kritizismus der zwanziger und dreißiger Jahre nicht wenige. Sie hielten es mit der „natürlichen Einstellung", mit einer „gesunden Weltsicht", sie waren überzeugt von der Verwerflichkeit des „Szientismus", des „Intellektualismus", des „Rationalismus", des „Subjektivismus" und so weiter . . .

VI

Vorwort

Auf diese Gegnerschaft, so bemerkenswert und symptomatisch sie im übrigen sein mag, kommt es indessen erst in zweiter Linie an, wenigstens was die Philosophie selbst als Wissenschaft und als Theorie anlangt. Daß die Stellung des philosophischen Idealismus erschüttert war, zeigen nicht seine kleinen, sondern seine großen Gegner, seine ebenbürtigen und seine zuweilen überlegenen Gegner, zeigen vor allem aber auch jene Idealisten und Kritizisten, die sich angesichts der Last der Fragen genötigt sehen, ihre Grundlagen zu revidieren und neue Elemente in ihre Lehre aufzunehmen. Meine Untersuchungen betreffen die Spannung zwischen Idealismus und Faktizitätsthematik. Die Frage nach der Faktizität des Subjekts paßte in das Konzept des kulturphilosophischen Idealismus nicht hinein. Die einschlägigen Einzelwissenschaften, die empirisch um die Sachverhalte der Subjektsfaktizität bemüht sind (die Geisteswissenschaften insgesamt, unter Einschluß der Psychologie und der Soziologie), suchten denn auch in der klassischen Kulturphilosophie vergebens nach Orientierungspunkten. War aber nicht womöglich die Forderung nach systematischer Orientierung überhaupt verfehlt? Hatte das Systematische nicht dem Geschichtlichen zu weichen? Zwang nicht die Geschichte allen System versuchen ihr eigenes Gesetz auf? Das Ende der philosophischen Systemtheorie schien in Sicht zu sein. Manchem geschichtsorientierten Theoretiker wäre ein solches Ende gelegen gekommen. Endlich hätte er sich an seinen Lieblingsgegenständen, an Quellen und Texten, festhalten dürfen. Wozu noch über die Substanz nachdenken, da die Geschichte des Substanzproblems dem gelehrten Scharfsinn genug zu denken gab? Doch auch die Gegner des Kulturidealismus fuhren fort, systemtheoretisch zu arbeiten, und schließlich ging es unter verschiedenen Voraussetzungen und in mehreren Problembezirken um die sachgerechte Aufnahme der Faktizitätsproblematik (Erleben, Sprache, Geschichte vor allem) in das Gefüge der Grundlehre. Die vorliegenden Texte beziehen sich in vier Themenkreisen (Faktizitätsphilosophie, Wissenschaftstheorie, Ontologie, Ästhetik) auf recht verschiedenartige Problemstücke und auf recht verschiedenartige Lehrstücke. Und doch beziehen sie sich alle auf den philosophischen Idealismus in einem bestimmten Punkte: Es ist immer wieder die Frage, wie die Momente der Idealität, der Konstitution und der Geltung zu den Momenten der faktischen Subjektivität, also der Geschichtlichkeit, des Vollzugs, des Ausdrucks und der Sprache, in eine wohlbegründete und sachgerechte Beziehung gebracht werden können. Der philosophische Idealismus begegnet uns dabei vor allem in der Gestalt des Kritizismus. Der Weg des Kritizismus scheint mir durch die Stationen der Kulturphilosophie und der Monadologie am besten gekennzeichnet. Was unter den Voraussetzungen des Kritizismus Kulturphilosophie und Monadologie bedeuten, das versuchen meine Untersuchungen aufzuklären. Ich bin auf die Frage gefaßt, woran sich diese Ent-

Vorwort

VII

wicklung von der Kulturphilosophie zur Monadologie denn orientiere. Die Antwort ist verblüffend einfach: an Kant. Kant? — Hätte man das nicht leichter haben können? Warum erst der Umweg über die umständliche Kant-Renaissance der „Uber-Kant-Hinausgehenden" ? Warum die Mühe so vieler und so verwickelter Systementwürfe? Die Antwort: Eben dieser Umweg ist der Weg, den die Gedanken des Königsbergers bis zu uns zurückgelegt haben. Zwischen unseren Fragen (unseren „Sachfragen") und seinen Fragen liegt (unter anderem) die Wirksamkeit Kants im Kritizismus von Liebmann und Cohen bis zu Cassirer, Hönigswald und Zocher. Ein besonderer Dank des Verfassers gilt den Helfern bei den Druckkorrekturen: Fräulein Barbara Schlüter und den Herren Reinhard Albrecht, Hans Stark und Eberhard Winterhager. Bonn, im April 1971

Gerd Wolandt

INHALTSVERZEICHNIS VORWORT

V

Α. AUFGABEN EINER FAKTIZITÄTSPHILOSOPHIE

1

1. Geltungsgedanke 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

und Kulturphilosophie

Die Frage der „Übergänge" Überwindung des Neukantianismus Die Momente des Geltungsgedankens Verfehltes und Einseitiges Differenzierung der Grundlegung Ansich und Faktizität Berichtigung und Ergänzung

2. Hönigswalds Theorie des Organischen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22.

Lebensphilosophie und Biologismus Der Organismus in der Mitte der Weltgliederung Wissenschaftstheoretische Fragen Aristoteles und Aristotelismus Grenzen des Aristotelismus Die Differenzierung der Objekte Philosophie und nichtphilosophische Wissenschaften Der biologische Aspekt des Aristotelismus Kant Leibniz Wissenschaftstheoretische und systemtheoretische Gesichtspunkte Biologische Begriffsbildung Subjektstheorie Der Organismus drückt Bestimmtheit aus Organismus und Monade Leiblichkeit als Bedingung der Intentionalität Vergleich der Hönigswaldsdien Theorie mit der Nicolai Hartmanns Das Denken als Tatsache Das Denken als Prinzip Die „Ergänzung" Die Grundfunktion der Natur Die interindividuelle Bestimmtheit der Organismen

3 3 5 11 13 15 19 20 33 33 36 38 38 43 45 46 46 51 52 55 58 60 63 63 65 65 67 68 69 70 71

Inhaltsverzeichnis

IX

23. Der Organismus als Erfahrungsvoraussetzung 24. Das Problem der nichthumanen Organismen 25. Kritik und Ausblick

71 72 73

3. Gestaltwelt

76

1. Gliederung der Intentionali tät

76

I Das Nicht-Andere

76

2. Subjektivität und theoretische Subjektivität 3. Bestimmtheit für die Subjektivität und Bestimmtheit durch die Subjektivität 4. Das Nicht-Andere als Anderes 5. Das Nichtaufsichbeziehbare und das Aufsichbeziehbare 6. Die Subjektivität als Denken und als Natur — Äußeres und Inneres II E n t w u r f u n d G e s t a l t 7. 8. 9. 10. 11. 12.

Zweierlei Geschaffensein Der praktische Gegenstand Entwurf Entwurf und Erfahrung Gestalt und Vollzug Gestalt und Verständigung

Gestalt und Kunstwerk Objektivation und Subjektivation Die Stufen der Gestaltwelt Die Tatwelt und die Gegenständlichkeit des Unabhängigen Kunstwerk und Artefakt Maschine und Hand Darstellungsfunktion

IV K o n s t i t u t i o n 20. 21. 22. 23.

Die theoretische Objektivation Sinnbestände Nicht-Unabhängiges Verwirklichung, Anschauung, Ich-Bestimmung

4. Zeitgemäße Anthropologie 1. Unbehagen und Protest 2. Kulturphilosophie und Anthropologie 3. Mensch und Unmensch 4. Der Gegenstand der Anthropologie

77 78 79 80 81 81 83 85 85 86 87

III S u b j e k t i v a t i o n 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19.

76

87

..

87 89 92 93 94 95 96 96 96 97 99 99 101 101 102 107 109

X

Inhaltsverzeichnis

Β. FRAGEN DER WISSENSCHAFTSTHEORIE U N D -SYSTEMATIK 1. Relativismus und Rationalität. Geisteswissenschaften 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26.

Zur Grundlegungsproblematik

113 der 115

Bezogenheit und Bedingtheit Erwachen des geschichtlichen Bewußtseins „Anverwandeln" Bewahrung Vereinfadiung Darstellung Wahrheit Weltanschauungen Rationale Momente Verdecktheit der Voraussetzungen Macht und Anpassung Unvermeidbarer Relativismus? Das forschende Subjekt Das Gegebene der Naturforsdiung Abstand Die Verschiebung der Horizonte Naturforsdiung und Individualität Das Allgemeine Auswahl Bewertung Praktische Befangenheit Selbstbezug Gliederung der Kulturfunktionen Grundlegung Verständigung und Uberlieferung Notwendigkeit der Geisteswissenschaften

2. Vom Geltungsbegriff zum Symbolbegriff. Grundlegung der Kulturwissenschaften

Cassirers Beitrag zur

3. Die moderne Grundlegungstheorie und der Galileische Naturbegriff C. DER A N S P R U C H DER ONTOLOGIE 1. Die moderne Grundlehre und das Problem der Einheit 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

115 116 118 119 120 121 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131 134 134 135 136 137 138 140 142 143

Vorgeschichte Einheit des Seienden, Einheit der Welt und Einheit des Seins . . Rückkehr zum Sein Dogmatismus Neue Fragen Die Unabschließbarkeit der Grundlehre Grundfunktion der Einheit Einheitsgefüge der Grundlegung

146 159 165 167 167 169 171 172 174 175 176 178

Inhaltsverzeichnis

9. 10. 11. 12.

Vielheit der Grundlegungssphären Die Universalität der theoretischen Grundlegung Gliederung Sein, Einheit, Bewußtsein

XI

178 179 180 182

2. Hartmanns Weg zur Ontologie

187

3. Zum Problem des Konkreten

199

1. 2. 3. 4. 5.

Ausgang von Nicolai Hartmann Intra- und Extramundanität des Erkennens Positive Wissenschaft und Prinzipientheorie Das Prinzip der Prinzipiation Die Fundamentalfunktion des Konkreten

199 202 205 209 210

D. FRAGEN DER ÄSTHETIK U N D K U N S T P H I L O S O P H I E

215

1. Problemlage 1. Ästhetik, Ontologie, Ideenlehre 2. Denken und Sein 3. Hinnahme und Entwurf 4. Das Problem des Ästhetischen 5. Zwei Grundantworten — Der „Schein" 6. Die Eigentlichkeit des Ästhetischen 7. Schein und Eigentlichkeit 8. Die kulturphilosophische Ästhetik 9. Kritik der kulturphilosophischen Ästhetik 10. Die nachidealistische Ästhetik 11. Die Bedeutung des konkreten Subjekts 12. Die Lehre Nicolai Hartmanns 13. Die Lehre Heideggers 14. Eine neue spekulative Dimension

217 217 218 219 220 221 222 223 224 226 229 229 230 232 233

2. Subjektstheoretische

235

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Ästhetik

Das Ästhetische Das Verhältnis zu den Kunstwissenschaften Die Ästhetik als philosophische Disziplin Die drei Grundstellungen Das Vordringen der objektstheoretisdien Ästhetik Die Ästhetik Sturmfels' Recht und Grenzen der subjektstheoretischen Ästhetik

3. Gliederungsfragen 1. 2. 3. 4.

Aufgabe der Ästhetik Spekulation und Erfahrung Selbstgenügsamkeit, Gattungen, Stile Entwicklungsmomente

235 236 240 241 243 245 250 254 254 254 255 256

XII

Inhaltsverzeichnis 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.

Bestimmtes und Bestimmen Vereinzelung, Gliederung, Grundlegung Der Gliederungsgedanke bei N . Hartmann Der ältere Subjektivitäts-Begriff Universalität der Theorie und Positivität Theorie des Ästhetischen Gegenständlichkeit Das konkrete Subjekt als Gegenstand Entwurf Ausdruck Gestalt

4. Die Lehre von der Geschichtlichkeit der Künste. Zur Aktualität Ästhetik Hegels 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Entfremdung zwischen Kunstwissenschaft und Ästhetik „Aufklärerische" Ästhetiken Faktizitätsphilosophie Wissenschaft und Kunst Die Stelle der Kunst bei Hegel Vergangenheitscharakter und Geschichtlichkeit Kunstformen und Künste Die Geschichtlichkeit der Künste (Hegel und Panofsky)

257 258 259 261 263 263 264 265 265 266 267 der 270 270 271 272 273 273 275 278 280

BIBLIOGRAPHISCHE HINWEISE

285

NAMENREGISTER

286

Α. Aufgaben einer Faktizitätsphilosophie

1

Wolandt, Idealismus

Geltungsgedanke und Kulturphilosophie i. Die Frage der „Übergänge" Wenn man nidit bereit ist, die kritizistische Subjektstheorie in Bausch und Bogen zu verwerfen und zu den Akten zu legen, wie das eine Weile hierzulande üblich war, wenn man vielmehr entschlossen ist, wenigstens das „Lebendige", d. h. das auch im Gefüge einer weiterentwickelten Prinzipientheorie Lebensfähige in ihr zu retten, dann bürdet man sich eine Problemlast auf, die zu tragen nicht ganz leidit ist. Zwei Stücke scheinen mir vor anderen die eigentliche Stärke des neukantianischen Kritizismus auszumachen und Rettungs- und Konservierungsversuche zu rechtfertigen: der Geltungsgedanke, und zwar gerade in jener subjektstheoretischen Fassung, die ihm dieser Kritizismus gegeben hatte, und die Geltungssystematik, die Idee einer im ganzen geeinten Geltungsgliederung. Angesichts beider Stücke, angesichts des Geltungsgedankens und angesichts der Geltungsgliederung, sehen wir uns allerdings zugleich auch ungelösten Fragen gegenüber, die die kritizistischen Systematiker zum Teile schon selbst gestellt, zum geringsten Teile aber selbst auch beantwortet hatten. Ich will freilidi nicht die ganze Problematik entfalten, die sich aus einer Einfügung von Geltungsbegründung und Geltungssystematik in eine weiterentwickelte Grundlehre ergibt, und möchte mich mit einem Verweis auf meine einschlägigen systemtheoretischen Überlegungen, so weit sie das Verhältnis von Geltungslehre, Ontologie und Konstitutionstheorie betreifen, begnügen1. Idi will hier nur den Problemaspekt herausheben, der das Verhältnis der „klassischen" Geltungstheorie, wie sie von der Kulturphilosophie entwickelt wurde, zur nachkritizistischen Seins- und Faktizitätslehre betrifft. Es ist vor allem die Frage der „Übergänge": des Ubergangs vom theoretischen zum praktischen und des Ubergangs vom praktischen zum ästhetischen Grundlegungsfeld, die mir immer noch aufklärungsbedürftig zu sein scheint und in der die ganze Spannung zwischen Kulturphilosophie auf der einen Seite und Seinsund Lebensphilosophie auf der anderen Seite spürbar wird. „Kultur", „Sein" und „Leben" sind denn eigentlich auch die Grundgrößen, auf die 1



Vor allem: Gegenständlichkeit und Gliederung. 1964, besonders Einleitung und Kap. I I — V , Χ, X I V ; Philosophie der Dichtung. 1965, besonders Kap. V und VI.

4

Geltungsgedanke und Kulturphilosophie

sich die problemgeschichtliche Wende bezieht, wenn auch freilich nicht übersehen werden darf, daß diese Grundgrößen auf recht verschiedenen Problemebenen und unter recht verschiedenen Namen das Ringen um Sinn und Struktur der Grundlegung bestimmen. Bei der hier gestellten Frage nach der Möglichkeit des „Ubergangs" von der Theorie zur Praxis wird nicht gefragt, wie es möglich sei, Einsichten der Wissenschaft „anzuwenden", wie Forschungsergebnisse zum Heile oder zum Unheile fruchtbar gemacht werden können, wenigstens ist das nicht das hier vordringliche Problem. Vielmehr geht es darum, wie vom Begriff der Theorie zu einem solchen der Praxis fortgeschritten werden kann. Und Fortschritt meint hier nicht den Weg von einem Niederen zu einem Höheren, nicht den Weg von unten nach oben, sondern den Weg vom Einen zum Anderen, genauer: den begründeten und ausweisbaren Schritt von einem Grundsachverhalt zu einem anderen Grundsach verhalt, wenn man den Terminus vorzieht: von einem Prinzip (oder Prinzipieninbegriff) zum anderen Prinzip (oder Prinzipieninbegriff). Das schließt der Sache nach bereits eine Vorentscheidung ein, nämlich: die Theorie zuerst und dann die Praxis; eine Vorentscheidung, die, wie alles in der Philosophie, mit mehr oder weniger guten Gründen bestritten werden kann. Ich will das Recht dieser Vorentscheidung hier auf sich beruhen lassen. Die Begründung für das Recht, die Theorie vorzuordnen, das weiß ich wohl, ist eine eigene Sache. Immerhin hat eine lange Tradition diese Vorordnung akzeptiert. Auf diesen Seiten geht es nicht darum, ob diese Folge überhaupt angesetzt werden kann, und ob der Begriff der Praxis nicht vielleicht der vorgängigere und ursprünglichere sei. Das lasse ich auch nicht etwa dahingestellt, sondern ich nehme es als bereits entschieden an. Die Frage, auf die ich mich konzentriere, ist allein die, wie der Fortgang, der Übergang von dem einen zum anderen Grundlegungsfeld gedacht werden muß. Der spätere Kantianismus hat für diesen Übergang eine klare Formel gefunden. Dieser Übergang ist für ihn der Schritt von der Gegebenheit zur Aufgegebenheit, der Schritt vom Sein zum Sollen. Eine der einfachsten und der einprägsamsten Darstellungen dieser Lehre findet man bei Paul Natorp, vor allem in seinem Einführungsbuch Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme1. Diese Lehre hat Entsprechungen in allen neukantianischen Systemtheorien. Ich will nur einen Problempunkt herausheben, ein Moment, das eine Weiterentwicklung der Lehre erzwungen hat. Der Neu-Kantianismus formt die ursprüngliche Lehre Kants um zu einer Lehre von den Geltungsgebieten. Die Geltungen haben die Form 2

1 9 1 1 , 4 . Aufl. 1929.

Überwindung des Neukantianismus

5

von Werten oder die von Gesetzlichkeiten. Die Geltungen sind keine ontischen oder gegenständlichen Gründe, sondern sie sind Funktionen einer geltungsmächtigen Subjektivität, eines reinen Bewußtseins. Den Werten des Wahren, Guten und Schönen oder, in anderer Version, den Gesetzlichkeiten der Natur, der Freiheit und der Kunst sind ebensoviele Funktionen und Momente eines geltungsgemäßen (reinen) Bewußtseins zugeordnet: Erkenntnis, Wille, Gefühl. Das reine Bewußtsein verbürgt in diesen Formen die Bestimmtheit seines Leistens und die Bestimmtheit seiner Gegenständlichkeiten, der Weisen also, in denen Gegenstände von ihm gesetzt werden. Hier beginnt nun allerdings die eigentliche Schwierigkeit: Ist es richtig, so wie die Kulturphilosophie es tut, Gegenständlichkeiten einander zu konfrontieren? Ist das grundsätzlich richtig, und was leistet es im Hinblidk auf eine Aufklärung des Verhältnisses und der Folge der Grundlegungsfelder?

2. Überwindung des

Neukantianismus

Der Idealismui hat seine wechselnden Schicksale. So wie der zweite (der deutsche) Idealismus durch neue Grundstellungen abgelöst wurde, in denen vor allem positivistische und materialistische Motive wirksam waren, so fand der nächste, wenn man weiterzählen will: dritte Idealismus der Kulturphilosophie sein Ende durch wiederum neue Grundstellungen. Auch diese Wende vom kritischen Idealismus zur Metaphysik ist fast schon geschichtlich geworden, und es zeichnet sich, wenn die Zeichen nicht trügen, bereits der Beginn einer neuen Epoche der Grundlehre ab. Man kann die Folge der Epochen und die Wendepunkte, die ihre jeweilige Einleitung bezeichnen, von außen her beschreiben wie den Wechsel der Jahreszeiten, man kann sie aber auch, und nur das ist der Sache angemessen, als den Fortgang des philosophischen Fragens und des philosophischen Antwortens zu begreifen suchen. Dann zeigt es sich, daß der Vorgang des Ablösens nicht ein solcher eines Ersetzens der einen Denkart durch eine andere ist, sondern der Versuch, die Fragen, die die eine Epoche, die eine Form der Grundlehre nicht zu beantworten gewußt hat, mit neuen Mitteln zu beantworten und dabei noch einmal zu prüfen, ob die Fragen richtig gestellt waren. Eine Epoche würdigen heißt stets auch fragen, was sie geleistet habe. Die Würdigung schließt in aller Nüchternheit die Frage nach den Resultaten ein. Theoretische Resultate sind in der Regel „Fortschritte"*. '

„Es ist z w a r heutzutage M o d e geworden, die Lippen etwas spöttisch zu kräuseln, wenn von menschlichen Fortschritten die Rede ist — aber der Gelehrte als soldier kann diese spottlustigen Lippen nicht anders als mit einer gewissen Verblüffung an-

6

Geltungsgedanke und Kulturphilosophie

Mit Fortschrittsgläubigkeit hat das nichts zu tun, sondern nur etwas mit der Einsicht in die Struktur der Theorie. Die Philosophie mag von den Spezialwissenschaften durch Vieles getrennt sein, gewiß nicht dadurch, daß sie das Recht hätte, auf der Stelle zu treten, oder daß sie sich damit begnügen dürfte, fort und fort nur ihre eigene Vergangenheit zu feiern. Audi die Philosophie will mehr und mehr über den Gegenstand herausbekommen, den sie erforscht, sie will immer mehr wissen über den Grund, über die Grundlegung — oder wie immer sie die Sache nennen mag, die sie vermittels ihrer Begriffe zu erhellen sucht. So müssen wir, wenn wir eine Epoche würdigen, nicht nur fragen, was diese Epoche überhaupt geleistet habe. Nicht nur das Eigentümliche einer Epoche steht für sich zur Verhandlung. Wir müssen notwendigerweise auch fragen, was eine Epoche „Neues" geleistet habe, denn das Neue ist das eigentlich Relevante. Allerdings ist dabei nicht zu bestrebten, daß eine Epodie nicht auf allen Gebieten fortzuschreiten pflegt, daß eine Epoche in bestimmter Rücksicht audi hinter der ihr vorausgehenden zurückbleiben mag. In den Einzelwissenschaften kommt ein solches Zurückbleiben gelegentlich vor, ist aber schwerlich die Regel. In der Philosophie ist das, ich bin versucht zu sagen: normal. Das Philosophen! ist nur als eine Ganzheit möglich, weil der Gegenstand der Philosophie Einer ist. Dieser Eine Gegenstand aber baut sich aus einer Vielheit von Momenten auf, und kein Philosophem ist in der Lage, den vielen Momenten gleicherweise gerecht zu werden. „Einseitig" sind die Philosopheme deshalb alle, und die Front des philosophischen Denkens wird, um ein militärisches Bild zu gebrauchen, immer nur an bestimmten Abschnitten vorgeschoben. Mag es im ganzen audi vorangehen, Geländeverluste an anderen Abschnitten sind ganz natürlich, wenn die einmal eroberten Stellungen gewiß auch wieder einmal zurückerobert werden können. Auf das Bild kommt es indessen nicht an, sondern auf die Sache. Die Sache begegnet uns allerdings nur in bestimmten Philosophemen, im Fortgang von der einen Epoche zur anderen. Unabhängig davon, ob man den kulturphilosophischen Idealismus überhaupt noch aus erster Hand kennt oder nicht, ist man sich heute darin einig, daß er entschieden hinter dem deutschen Idealismus zurückbleibt. Für viele Punkte trifft diese Meinung, die zuweilen nur ein Vorurteil ist, zu, gewiß aber nicht für alle. Die nadikulturphilosophische Epoche, die bedeutende Philosopheme unseres Jahrhunderts hervorgebracht hat, ist nur verständlich, wenn man begreift, wie sie aus der sehen — denn, wird er fragen: Liebe Leute, wenn ihr von der Wissenschaft keine Fortschritte erwartet, was in aller Welt erwartet Ihr denn sonst eigentlich von ihr?" J . Ebbinghaus, Schulphilosophie und Menschenbildung im 79. Jahrhundert, Arch. f. Philos. 3, 1949, S. 199 (in: Ges. Aufsätze, Vorträge und Reden. 1968, S. 257; vgl. Vf., J. Ebbinghaus als philosophischer Schriftsteller, Zschr. f. philos. Forsch. [1970]).

Überwindung des Neukantianismus

7

Kulturphilosophie herausgewachsen ist und wie sie sich gegen die Kulturphilosophie hat entwickeln können. Die Kulturphilosophie dadite die Grundlegung als ein Gefüge von prinzipienhaften Subjektsfunktionen, als ein Gefüge von Gesetzlichkeiten des Bewußtseins oder, in anderer Version, als ein Gefüge von nichtseienden, von geltenden Werten. Bewußtsein und BewußtseinsIdeen dürfen wir als die Grundgrößen dieser philosophischen Epoche bezeichnen, oder, wenn wir es anders ausdrücken wollen: Bewußtsein und Geltungen. Dem entspricht der Grundriß dieses Philosophierens. Es ist ein Gefüge der Lehren vom Wahren, Guten und Schönen, das System von Logik, Ethik und Ästhetik. Der kulturphilosophische Idealismus, ob er uns als „Logizismus" in der Gestalt der Marburger Theorie des Kulturbewußtseins entgegentritt, ob er uns in der Form der südwestdeutschen Wertphilosophie oder in der Geltungstheorie Bruno Bauchs begegnet, hält diese Systemstruktur fest. Verbindlich ist diese Systemstruktur übrigens audi noch für Philosopheme, die sich von den problemgeschichtlichen Voraussetzungen der Kulturphilosophie, nämlich vom Kantianismus, entfernt haben, für die „psychologistischen" Lehren, deren Übereinstimmung mit den kulturphilosophischen Theorien bemerkenswert weit geht, weiter jedenfalls, als der programmatische Antipsychologismus der Kritizisten es vermuten läßt. Eine so weit gehende Gemeinsamkeit der Systemanlage suchen wir bei den nachidealistischen Philosophen vergebens. Der Kritizismus war der Sache nach im wesentlichen ein Geltungsidealismus, der seine historische Basis hauptsächlich bei Kant hatte, der aber die Begriffe für eine Neukonstruktion der Grundlegung auch von anderer Seite her bezogen hatte, vor allem von Lotze. Die Philosophie Lotzes nimmt hier dank ihrer weitgehenden Unabhängigkeit eine problemgeschichtliche Schlüsselstellung ein wie in anderer Problemfolge die Philosophie Brentanos. Gelegentlich der Überwindung des Neukantianismus werden zwei widerstreitende Kräfte frei, deren eine ausgesprochen systemorientiert ist, während die andere die gliedernde Systemform verschmäht. Dem entspricht auch das Verhältnis zur Tradition. Exponent der einen Richtung in Deutschland ist Nicolai Hartmann, Exponent der anderen Martin Heidegger. Während das Denken Hartmanns an vielen Stellen den von der Kulturphilosophie aufgegebenen Boden der Schulphilosophie zurückzugewinnen sucht, hält die andere an Heidegger sich anschließende Denkweise die überlieferten Systemordnungen von vornherein für uneigentlich und sucht sich den Fragen nach dem Grunde in einer fundamentaleren, radikaleren und anspruchsvolleren Weise zu stellen, ja, anders als in der Kulturphilosophie und anders als in der Neuontologie Hartmanns wird für die Philosophie eine wissenschaftsüberlegene Verfassung gefordert. Für die Neuscholastik schlägt angesichts der doppelten Opposition gegen die Kulturphilosophie die Stunde: Ihr Beifall gehört

s

Geltungsgedanke und Kulturphilosophie

zunächst einer Wiederbelebung der schulphilosophischen Systemarbeit, die auch die Sonderthemen der alten Metaphysik in ihren früheren Rechten bestätigt oder zu bestätigen scheint. Ein Teil der Vertreter neuscholastischen Denkens sucht aber auch in der radikaleren Fundamentalontologie nach Möglichkeiten für eine Aktualisierung der traditionellen Lehrgehalte, ohne bei dieser Annäherung (das gilt insbesondere für Philosophen wie J . B . Lötz 4 ) die systemgestützte Rationalität der eigenen Position im Ernste aufzugeben. — Damit sind allerdings wirklich nur Exponenten der philosophiegeschichtlichen Wende berücksichtigt. Die Bewegung hin zu einer erneuerten und wiederzugelassenen Metaphysik ist vielgestaltig und nicht frei von Verwicklungen. Die weite Spanne zwischen wissenschaftsnaher Systematik und wissenschaftsferner Radikalität und Existenzerhellung ist durch viele Theoreme ausgefüllt. Es ist also keine neue Systemanlage, die an die Stelle der alten tritt. Vorsichtiger ausgedrückt: eine neue Systemstruktur, die den neuen Lehren gemeinsam wäre, tritt zunächst wenigstens nicht zutage, was selbstverständlich ist, wenn die eine entscheidende Richtung den Gedanken eines Gebietssystems als uneigentlich von vornherein abweist. Eine wichtige Ubereinstimmung gibt es indessen doch in fast allen nachidealistischen Philosophemen von rechts nach links, und an dieser Ubereinstimmung läßt sich die Neuheit — oder der Grad der Neuheit — der Lehren geradezu ablesen: es ist das Hervortreten von Themen, denen die Kulturphilosophie keinen oder keinen wichtigen Platz in ihren Lehren ließ. Die Probleme der nachidealistischen Philosophie sind das Sein und die Faktizität; das Sein als eine Größe, die der Subjektivität gleichrangig oder womöglich überlegen sein soll; die Faktizität nicht als Tatsächlichkeit oder als Positivität (Gegebenheit) überhaupt, sondern als die Konkretheit des Subjekts, als die Konkretheit des Geistes, des Daseins, des geschichtlichen Lebens, als die Konkretheit des Denkens. Diese Faktizität aber begegnet uns in zwei Verfassungen: als die Faktizität der Einzelsubjektivität in ihrer Geschichtlichkeit und Geworfenheit und Innerlichkeit und Verantwortlichkeit, in ihrem Sichwissen, in ihrem Sichentwerfen und in ihrer Entscheidung und in ihrem Scheitern, und als die InterSubjektivität in der Verständigung, in der Uberlieferung, in der Sprache. Die Problemtitel verraten bereits, wie breit angelegt die gegenidealistische Bewegung sich darbietet und wie tief die Wurzeln der neuen Metaphysik in die Vergangenheit hinabreichen. Der eine, der ontologische Wurzelstrang reicht zurück über die Schulphilosophie bis zu „dem" Philosophen, bis zu Aristoteles. Die Wurzeln der Faktizitäts4

Das Urteil und das Sein, 1957.

Oberwindung des Neukantianismus

9

lehre reichen, wenn man von einem interessanten Neuaugustinismus absieht, nur bis ins 19. Jahrhundert zurück: Kierkegaard, Nietzsche, Dilthey, aber auch, in bestimmten die Geschichtlichkeitsthematik betreffenden Stücken, Hegel bieten Mittel zur Überwindung des Kulturidealismus, aber auch Wilhelm von Humboldt, Marx und Herder. Die Geschichte bewährt in einer bemerkenswerten Breite und Weite ihre anregende Kraft, aber angesichts des gemeinsamen Probleminteresses mündet die geschichtliche Vielfalt doch in einer beachtlichen Einheitlichkeit der Problemsicht. Doch das allein genügt nicht, um den Neuansatz zu verstehen. Der Neuansatz resultiert aus Problemresten, die der Kritizismus übriggelassen hatte. Hier aber steht ein Fragebereich, wie mir scheint, für die übrigen und für die Gesamtsituation dieses Idealismus. Es ist die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis. Es ist eine Frage, die der Idealismus auf seinem Boden nicht zu lösen vermochte, deren Lösung auch dann nicht standhält, wenn man an der Geltungssystematik der Kulturphilosophie festhält. Man pflegt allen Neuerern in der Philosophiegeschichte irgendwann einmal den Vorwurf zu machen, daß sie ein Kind mit dem Bade ausgeschüttet haben. Regelmäßig trifft dieser Vorwurf audi zu. Hartmann hat dieses sich immer erneut wiederholende Badausschütten als die unvermeidliche Einseitigkeit der Systeme zu fassen versucht. Das Bad war in diesem Falle der sdiematisdie Formalismus der Kulturphilosophie, der universale Progressismus der Kulturgebiete, der einförmige Subjektspurismus und der monoton in allen Sphären wiederkehrende Subjektsprimat, die überall wiederkehrende Subjektsproduktivität, derzufolge das Objekt, in welcher Leistungssphäre immer, alle seine Bestimmtheit dem Subjekt und nur dem Subjekt verdanke (so wenigstens in der Marburger Form). Das Bad darf man wohl ruhig als den Schematismus (vom Kantischen durchaus verschieden) kennzeichnen, der die kulturphilosophische Systematik allen Subtilitäten zum Trotz so einfach macht: die Angleichung der Kultur-, Leistungs- und Wertgebiete an einen einförmigen Grundlegungstypus, die Wiederkehr derselben Grundstruktur, ob es die Bestimmtheit der beteiligten Subjektivität, ob es die Bestimmtheit des vermeinten Gegenstandes, ob es die Bestimmtheit der Prinzipiationsform betraf, in allen Bereichen der Grundlegung. — Das Kind, das die Späteren auszuschütten Gelegenheit nahmen, war, auf einen einfadien Ausdruck gebracht, das Schematisierte: der Geltungsgedanke. Was bedeutet die „Schematisierung", die aufzugeben war, und was bedeutet der „Geltungsgedanke", der eigentlich hätte festgehalten werden sollen? Ich beginne mit dem Zweiten. — In einer Minimalgestalt hat sich der Geltungsgedanke in fast allen Standpunkten behauptet: in der Form des Antipsychologismus. Daß eine Erkenntnisgrundlegung

10

Geltungsgedanke und Kulturphilosophie

nicht mit den Mitteln der empirischen Psychologie bewältigt w e r d e n könne, w a r seit den Logischen Untersuchungen eine ganz allgemein akzeptierte Einsicht, der nur einige — w i e es schien: rückständige — „Psychologisten" widersprachen. A u c h diejenigen D e n k e r , die Theorien der F a k t i z i t ä t zu erarbeiten suchten, legten stets W e r t d a r a u f , nicht mit dem diskreditierten Psychologismus belastet zu werden. W e n n m a n das konkrete Subjekt z u m T h e m a machte, so unterschied sich die T h e m a t i sierung grundsätzlich v o n den Bemühungen der Erkenntnis- und W i l lens- u n d Kunstpsychologien 5 . Diese bescheidene F o r m des Geltungsgedankens, die im Antipsychologismus allenthalben übrigbleibt und die nur g a n z allgemein auf die A n e r k e n n u n g einer Sinndimension oder einer transzendentalen Dimension oder gar nur einer besonderen Seinsregion hinausläuft und diesen Bestand dem sogenannten A k t gegenüberstellt, erreidit indessen nicht den Geltungsgedanken der eigentlichen Geltungslehre', den Geltungsgedanken Cohens 7 , N a t o r p s 8 , Rickerts 9 , Bauchs 1 0 , wobei es nicht auf das Wort, sondern auf die Sache a n k o m m t : D e r Terminus „ G e l t u n g " ist nicht überall nachweisbar. 5

Nur Hönigswald kehrte den Spieß um, indem er die „Denkpsychologie" aufwertete und als Prinzipienwissenschaft, d. h. also als ein Stüde der Grundlehre bestimmte. • Vgl. hierzu audi F. Münch, Erlebnis und Geltung. (Kant-Studien-Erg.-Heft Nr. 30) 1 9 1 3 ; A. Liebert, Das Problem der Geltung, 1914, 2. Aufl. 1 9 2 1 ; W. Moog, Die deutsche Philos. des 20. Jahrhunderts, 1922 (Kap. V, Abschnitte 7 u. 8 über Cohen, Natorp, Windelband, Rickert). 7 Ich nenne bei den hier aufgezählten Autoren nur wenige für die kulturphilosophische Geltungslehre charakteristische Schriften. Bei Cohen sind vor allem die Kant-Büdier (Kants Theorie der Erfahrung, 1871, 2. Aufl. 1885, 3. Aufl. 1 9 1 8 ; Kants Begründung der Ethik, 1877, 2. Aufl. 1910; Kants Begründung der Ästhetik, 1889) und die drei Teile des Systems der Philos. (I: Logik der reinen Erkenntnis, 1902, 2. Aufl. 1914, 3. Aufl. 1922; I I : Ethik des reinen Willens, 1904, 2. Aufl. 1907, 4. Aufl. 1923; I I I : Ästhetik des reinen Gefühls, 1912, 2. Aufl. 1923). — Cohen-Bibliographie: W. Kinkel, Hermann Cohen, 1924, S. 346 ff. 8 Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften, 1910, 2. Aufl. 1921; Philos. Propädeutik, 1903, 5. Aufl. 1927; Piatos Ideenlehre, 1908, 2. Aufl. 1921 (Neudruck 1961) — Natorp-Bibliographien: Die Philos. der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. I, 2. Aufl. 1923, S. 187 ff. (Primärbibliographie); ferner in: P. Natorp, Pädagogik u. Philos. Drei pädag. Abhandlungen, 1964, S. 247 ff. (Bibliographie der päd. Schriften N.s, mit Sekundärbibliographie). 9 Der Gegenstand der Erkenntnis: 1892, 2. Aufl. 1904, 3. Aufl. 1915, 6. Aufl. 1928; System der Philos., Bd. I (mehr nicht erschienen) 1 9 2 1 ; Die Logik des Prädikats u. das Problem der Ontologie, 1930. — Bibliographie: A. Faust, Heinrich Rickert u. seine Stellung in der Philos. der Gegenwart. Die scharfsinnigste Auseinandersetzung mit Rickert bei R. Zocher, H. R.s philos. Entwicklung, in: Zsdir. f. Deutsche Kulturphilos., 4 (1937) 84 ff.; ders., Philos. Grundlehre, 1939 (Kap. I, 3. Absdin.: Die Ontologie in der kritizistischen Philos. H. R.s); ders., H. R. zu seinem 100. Geburtstage, in: Zsdir. f. philos. Forsch. 17 (1963) 457 ff. 10 In Betracht kommen hier vor allem seine Werke Wahrheit, Wert und Wirklichkeit (1923) und Die Idee (1926) — deren Neudruck dringend zu wünschen ist — und der Aufsatz Das transzendentale Subjekt, Logos 12 (1923) 29—49. Die Weiterentwicklung der Baudisdien Lehre spiegelt sich in den Grundzügen der Ethik (193J,

Die Momente des Geltungsgedankens

11

Bruno Bauch hat, wenn ich recht sehe, dem Geltungsgedanken in eingehenden Untersuchungen seine bestimmteste Gestalt gegeben, und zwar (das Spätwerk ausgenommen) ganz und gar noch auf dem Boden des klassischen Kulturidealismus und ohne Einbeziehung kritzismusfremder Motive. Freilich wurde der Geltungsgedanke audi von anderen Denkern festgehalten: von Cassirer 11 , von Hönigswald 12 , von Litt 1 ', von Ernst Hoffmann 14 , von Sturmfels 15 — um nur einige Namen zu nennen — nicht zuletzt auch von Rudolf Zocher". Alle diese Denker sind aber über den „klassischen" Kulturidealismus, wie ihn Baudi, zumindest der Bauch der zwanziger Jahre, noch vertritt, hinaus, der Sache nach und den historischen Voraussetzungen nach. Die „Sache" ist nun artikuliert durch Momente wie Symbol, Monade, Geist, Dialektik, Konstitution; die geschichtliche Grundlage aber ist nicht nur ein neugesehener Kant, sondern auch vieles Nichtkantische: Leibniz, Herder, Humboldt, Hegel und die intensive Auseinandersetzung mit dem Werk Husserls.

3. Die Momente des

Geltungsgedankens

Wenn idi vom „Geltungsgedanken" spreche, legt das den Verdacht einer Vereinfachung nahe. Freilich gibt es mannigfache Varianten mit Rücksicht auf die kulturphilosophisdien Schulen und Denker, mit Rücksicht gewiß auch auf die Entwicklung und Ausgestaltung der einschlägigen Lehrstücke in den Schulen. Dennoch möchte ich den Versuch wagen, Neudruck 1968) und in dem Nadilaßwerk Natur und Geist. — Der wissenschaftliche Nadilaß Bruno Bauchs befindet sich in den Händen seines Schülers und Freundes Erich Keller, der an entlegenem Orte über das letzte Werk Bauchs berichtet hat: in der Zeitschrift „Wirklichkeit und Wahrheit" Jg. 1965, Folge 2 (S. 9—42). Die Veröffentlichung dieses NachlaßWerkes wird jetzt vorbereitet. — Bibliographie: Die Philos. der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 7, 1929; weitere Selbstdarstellungen in Deutsche systematische Philos. nach ihren Gestaltern, Bd. I, 1 9 3 1 und Ziegenfuß' Philosophen-Lexikon (1937); Bd. I, 1949. — Uber Bauch: E.Keller, Das Problem des Irrationalen im wertphilos. Idealismus der Gegenwart, 1 9 3 1 ; R. Hönigswald, Zu B. Bauchs Werk „Wahrheit, Wert u. Wirklichkeit", in: Beitr. z. Philos. des deutschen Idealismus, 3 (1925) 1 — 1 3 ; ders., Vom Problem der Idee, Logos 15 (1926) 2 6 1 — 3 0 1 ; über B.s Ethik neuerdings die bemerkenswerte Arbeit J. Strassers, Die Bedeutung des kategorischen Imperativs in der Ethik B. B.s, 1967. 11 12 15 14 15 18

Siehe unten S. 146 ff. Siehe unten S. 33 ff. Einleitung in die Philos., 1933, 2. Aufl. 1949. Piaton, 19JO. Grundprobleme der Ästhetik, 1963 (Näheres siehe unten S. 245). Außer den schon genannten Titeln vor allem noch: Geschichtsphilos. Skizzen, Bd. I 1933, Bd. II 1934; Zum Problem der philos. Grundlehre, in: Zsdir. f. philos. Forsch. 1 (1946) 1 0 0 — 1 1 7 ; Tatwelt und Erfahrungswissen, 1948; Die Objektivität der Wissenschaft, in: Die Erlanger Universität 1 (1947) 1 2 7 — 1 2 9 .

12

Geltungsgedanke und Kulturphilosophie

den Geltungsgedanken in seinen Hauptmomenten zu explizieren, wenn ich dabei auch unvermeidlicherweise die Auffassungsvarianten in den Hintergrund treten lassen muß. Die Hauptmomente des Geltungsgedankens scheinen mir diese zu sein: 1. Die Geltungen sind keine gegenständlichen Größen und auch keine Momente des Gegenstandes. Sie sind vielmehr Funktionen der Subjektivität (des Bewußtseins). Sie sind Prinzipien der Leistungen der Subjektivität, Prinzipien der Entfaltung der Subjektivität. 2. Die Geltungen sind zwar keine Gegenstandsprinzipien, aber sie betreffen doch die Bestimmtheit des Gegenstandes, insofern er gesetzt, vermeint, gedacht wird. Sie sind als Vermeinensprinzipien Gegenstandsbezugsprinzipien. Anders ausgedrückt: sie sind Prinzipien des Gegenstandsbezugs, der Transzendentalität des Bewußtseins. 3. Die Geltungsprinzipien sind Maßstäbe für das Leisten der Subjektivität. Die Leistung der Subjektivität kann dem Maßstab angemessen (geltungsbestimmt, gültig) sein oder aber dem Maßstab unangemessen (geltungswidrig, ungültig) sein. Die Leistung ist geltungsdifferent und kann in dieser Differenz geltungspositiv oder geltungsnegativ ausfallen. 4. Die Geltungen haben die Eigenschaft, zu „gelten" und nicht zu „sein". „Geltung" und „Sein" sind verschieden. Die Geltungsprinzipien prinzipiieren nicht leistungsneutral, sondern sie enthalten Forderungen an ein mögliches Leisten. Sie sind nicht ohne ein Leisten und sie verwirklichen sich nicht ohne ein Leisten. Das Bewußtsein erfüllt oder verfehlt in seinen Leistungen die Forderungen, die die Geltungsprinzipien implizieren. Das Bewußtsein „soll" den Geltungsprinzipien gehorchen; die Erfüllung der Forderungen ist von ihm gefordert. (Bei Bauch findet sich freilich der Gedanke, daß der Forderungscharakter selbst noch artikulierbar ist. Diese Artikulationsmöglichkeit darf hier, wo nur die Grundmomente erfaßt werden sollen, unberücksichtigt bleiben.) 5. Die Geltungsprinzipien treten an das Bewußtsein nicht von außen heran. Die Subjektivität hat und findet ihre Geltungsgründe in sich. Die Subjektivität entwirft sich ihre eigenen, ihre eigene Bestimmtheit ausmachenden Prinzipien. Sie gehorcht sich also selbst und bleibt in diesem Gehorsam, der ein Vollstrecken des eigenen Gesetzes bedeutet, autonom. 6. Die Geltungen sind einer Subjektivität, einem Bewußtsein zugeordnet und bilden kraft dieser Zuordnung selbst eine Einheit. 7. Die Geltungen sind innerhalb dieser Einheit gegliedert in eine Vielheit von Geltungsformen oder Geltungsgebieten, die miteinander ein Gefüge, ein System ausmachen.

Verfehltes und Einseitiges

13

8. Die Geltungsgebiete sind zwar im System miteinander verbunden, aber jedes für sich enthält einen selbständigen Geltungsbestand, einen selbständigen Maßstabsinbegriff und auch eine selbständige Dimension des Gegenstandsbezugs. Die Geltungsgebiete sind in ihrer Eigenbestimmtheit und in ihrem Eigen-Sinn voneinander unabhängig. Sie besitzen ungeachtet ihrer Systemverflechtung Gebietsautonomie (Eigenbestimmtheit, wohlunterschieden von der Autonomie der Subjektivität). 9. Die Geltungsgrößen sind nicht durch andere Prinzipien begründet (abgesehen vom wechselseitigen Begründetsein in einem System gleichrangiger Momente). Sie sind als Prinzipien letztstellig, letztbegründend und also unbedingt. Diese Momente machen, wenn ich es so ausdrücken darf, die Kerntheorie der Geltungslehre aus, jenen Kern nämlich, der von einer konstitutions- und seinstheoretisch ergänzten und modifizierten Geltungsphilosophie (am weitesten entfaltet in der Lehre Hans Wagners17) im ganzen akzeptiert werden kann. Freilich ist damit aber auch nur so etwas wie ein gemeinsames Minimum der kulturphilosophischen Geltungslehre gekennzeichnet. Die teilweise ebenfalls akzeptablen Ergebnisse der Sonderrichtungen des Kulturidealismus (beispielsweise des „Historiokritizismus" Fritz Münchs18) sind dabei nicht berücksichtigt. Auf diese Varianten kommt es aber bei unseren Erwägungen hier nicht an.

4. Verfehltes und Einseitiges Zum gemeinsamen Minimum gehören indes audi Momente, die keine spätere Position mehr hat übernehmen können und die, wie mir scheint, auch von keiner späteren Position haben übernommen werden können, weil sie Verfehltes und Einseitiges enthalten. Es ist indessen etwas schwerer, diese Momente zu erfassen, als es der Aufweis der Momente der ersten Gruppe war, weil es sich hier zum guten Teile eben um bereits „überwundene" Grundauffassungen handelt. Diese Momente sind die folgenden: 1. Die radikale und allseitige Vorordnung der Subjektivität und die entsprechende radikale und allseitige Nachordnung des Gegenstandes und der Gegenständlichkeit. — Die aus der Subjektivität stam17

18

Philosophie und Reflexion, 1959; Über den Begriff de* Idealismus und die Stufen der theoretischen Apriorität, Philosophia naturalis 2 (1952) 1 7 8 — 1 9 9 ; Über den Grund der Sprache, Jahrbudi für Psychologie und Psychotherapie 1 ( 1 9 J 3 ) 3 3 0 — 354; Weltentwurf und Sprache, Zsdir. f. philos. Forsch. 16 (1962) 58—67. Siehe Seite 10 Anm. 6.

14

2. 3. 4.

5.

6.

Geltungsgedanke und Kulturphilosophie

mende Bestimmtheit ist in allen Sphären ursprünglicher als die der Gegenständlichkeit. Der Gegenstand verdankt demgemäß alle seine Bestimmtheit der Subjektivität (oder mindestens doch alles, was sich an seiner Bestimmtheit als „Form" ausweisen läßt). Man darf hier mit Fug von einem Grundlegungssubjektivismus sprechen. Dem entspricht die Ineinssetzung der Grundlegungsrichtung (vom Prinzip zum Prinzipiierten) mit der Intentionsridotung (vom Subjekt zum Objekt). — Die Grundlegung hat Intentionscharakter. In der Grundlegung ist allein eine reine, formale und ungegenständliche Subjektivität berücksichtigt. — (Subjekts-Formalismus und Subjekts-Purismus.) Die Grundlegung wird überall als eine einfache und einstufige Beziehung zwischen (formaler) Grundlegungssubjektivität und dem begründeten Material des Leistens und Denkens verstanden. Diese Einstufigkeit hat zusammen mit der Ineinssetzung von Grundlegung und Intentionalität (nach z) eine bedenkliche Simplizität des Systemaufbaus zur Folge. Unter Zugrundelegung von 3 wird das Gefüge der Grundlegung als ein Gefüge reiner, formaler Subjektsfunktionen aufgefaßt. Am klarsten tritt das in der Grundgliederung in die Funktionen der reinen Erkenntnis, des reinen Willens und des reinen Gefühls (Cohen) zutage. Sie ist aber auch in der wertphilosophischen Form des Kulturidealismus wirksam. Dem Vor- und Nachordnungsverhältnis von 1, zusammen mit der Systemgliederung von 5 entspricht der Ansatz einer Mehrheit (in der Regel: einer Dreiheit) von bedingten und konstituierten Gegenständlichkeiten. Die Grundlegungen ermöglichen den Aufbau von eigenartigen (spezifischen) Gegenständlichkeiten, die darin übereinstimmen, daß sie ein Anderes der Subjektivität sind, daß sie im Hinblick auf die Subjektivität als Bedingtes und Konstituiertes zugleich Gegenständiges sind. Wir haben also nicht nur eine Mehrheit von Geltungen (von Inbegriffen der Geltungsprinzipien, die den alten Grundlegungstiteln des Wahren, Guten und Schönen entsprechen) und eine Mehrheit von Subjektsfunktionen (die den alten Vermögen: Vorstellen, Begehren, Gefühl entsprechen) vor uns, sondern auch eine Mehrheit von Gegenstandswelten: die Sphären des theoretischen, des praktischen, des ästhetischen Gegenstandes (zumeist: Natur, Freiheit, Kunst).

7. Die beiden folgenden Momente kommen nicht in allen kulturphilosophischen Lehren gleicherweise vor. Das erste betrifft die Verknüpfung der Setzungen, die unter einem gemeinsamen Geltungsaspekt getätigt werden, in einem gemeinsamen Setzungsgefüge. Für das erste Grundlegungsgebiet, für das Gebiet theoretischer Geltung, ist diese Verknüpfungsform überall angesetzt. In der Marburger Lehre

Differenzierung der Grundlegung

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ist diese Setzungsstruktur auch noch auf das zweite Grundlegungsfeld, auf die Sphäre praktischer Geltung, ausgedehnt. Teilweise bleibt dieses Moment unbestimmt. Eine klare Abweisung für das Feld des Ästhetischen findet sich allerdings bei Jonas Cohn 19 . Sonderstrukturen für die Gebiete nichttheoretischer Geltung nimmt auch Rickert an20. 8. Mit der Einheit des Setzungsgefüges ist zumeist der Gedanke einer Setzungsprogressivität verbunden. Bei Natorp und auch beim frühen Cassirer wird die Konstitutions- und Vermeinensleistung der Subjektivität als der schrittweise Aufbau der Gegenständlichkeit in Akten der „Objektivierung" verstanden. Das gilt dann für alle Geltungssphären. Bei Rickert wird diese Progressivität allerdings ausdrücklich auf die theoretische Sphäre eingeschränkt. In diesen acht Momenten (i. Subjektivismus, 2. PrinzipiationsIntentions-Interferenz, 3. Formalismus und Purismus, 4. Einstufigkeit von Prinzipiation und Intentionalität, 5. gleichbestimmte Formalität der Subjektsfunktionen, 6. Gleichbestimmtheit der Gegenständlichkeiten, 7. Durchgängigkeit der Setzungseinheit, 8. Durchgängigkeit der Progressivität) werden der Schematismus, die Simplizität und die Einseitigkeit des Kulturidealismus offenbar. Allerdings ist unverkennbar, daß in der wertphilosophischen Form des Kulturidealismus bei Heinrich Rickert und teilweise auch bei Jonas Cohn, der stärker als andere Kulturidealisten Hegeische Motive berücksichtigt, Ansätze vorliegen, zumindest die schematische Gleichbestimmung aller Geltungssphären aufzuheben und eine differenziertere Geltungstheorie zu konzipieren. Diese Ansätze müssen wir indessen doch als mißlungen betrachten, da es ihnen an den Mitteln fehlt, die Geltungssystematik neu zu bestimmen.

5. Differenzierung der

Grundlegung

Rickert tat die Lebensphilosophie ab als eine Modeströmung, die das Niveau einer wissenschaftlichen, einer begründeten und systematisch ausweisbaren Philosophie nicht erreichte21. Er hatte gewiß gute Gründe auf seiner Seite. Der Mangel an Rationalität in den zeitgenössischen Lebensphilosophien (für Rickert vor allem: Nietzsche, Dilthey, Bergson, Simmel) war schwer zu bestreiten. Ebenso schwer zu bestreiten war auch die Tatsache, daß die Lebensphilosophie ihr Konto überzog, wenn sie dem Lebensbegriff oder seinen Äquivalenten eine 19 20

"

Allgemeine Ästhetik. 1901. System der Philosophie. Bd. I, 1 9 2 1 . Lebenswerte und Kulturwerte, Logos 2 ( 1 9 1 1 ) 1 3 1 — 1 6 6 ; Die Philosophie bens. 1920 (2. unveränderte Aufl. 1922).

des Le-

16

Geltungsgedanke und Kulturphilosophie

universale Fundierungsfunktion zudachte22. Trotzdem fehlt es den Rickertschen Argumentationen an Uberzeugungskraft. Ein überzogenes Konto ist nicht allenthalben schon der Beweis für unheilbare Illiquidität. Das Kontoüberziehen gehört, wenn man bei diesem Vergleich bleiben will, geradezu zum philosophischen Progreß: Neuansätze werden meist nicht gleich audi hinsichtlich ihrer Tragweite richtig eingeschätzt. Was uns heute in erster Linie an der Rickertschen Polemik und der entsprechenden Apologie stört, ist der Umstand, daß Rickert so tut, als sei auf Seiten der kritizistischen Kulturphilosophie alles im Lot. Und das gerade war nicht der Fall. Zumindest hatte die Lebensphilosophie das Recht der Probleme auf ihrer Seite. Die Kulturphilosophie aber hatte die andrängenden Fragen auch nicht angemessen zu beantworten vermocht. In bestimmten Punkten war die Lebensphilosophie, ungeachtet all ihrer Mängel, denn auch durchaus weitergekommen23. Die Kulturphilosophie erblickte ihren Schwerpunkt in der Wissenschaftstheorie — mit gutem Recht: Die Wissenschaft von der Wissenschaft bildete das Anfangsglied des Systems, und die Struktur der logischen Gegenstandskonstitution war vorbildlich für alle anderen Konstitutionsstrukturen. Aber gerade auf diesem Gebiete hat die Kulturphilosophie auch die folgenreichsten Mängel. Sie blieb Antworten schuldig oder gab doch recht ungenügende Antworten. In der Marburger Philosophie war Erkenntnistheorie die Theorie der naturwissenschaftlichen Erkenntnis gewesen, mit dem eindeutigen Schwergewicht auf einer Logik der exakten Naturwissenschaften. Die Logik der Geisteswissenschaften und überhaupt die Logik der Wissenschaften, die es mit Nichtnaturalem zu tun haben, blieb ein unaufgelöster Problemrest. Rikkert, der Ansätze seines Lehrers Windelband weiterführte, war in dieser Hinsicht wesentlich weiter fortgeschritten, nämlich zu einer Logik der Kulturwissenschaften. Weit genug war aber auch er nicht fortgeschritten. Der Sonderstatus jener Wissenschaften, die es mit einer Erkenntnis des konkreten Geistes zu tun haben, blieb audi hier noch verdeckt. Das Moment der Wertbeziehung allein vermochte noch nicht zu erklären, was die Konkretion des geschichtlichen Gegenstandes ausmacht. Trotz aller Versuche, ein Bindeglied, ein „drittes Reich", einzubauen, blieb es doch im Grunde bei einer Zweiweltentheorie, die die Kulturgrundlagen auf der einen Seite ließ und das vollziehende, vollstreckende Subjekt auf der anderen. Die Fülle des geschichtlichen Lebens konnte so zwar (mit Rücksicht auf die „Kulturgebiete") gegliedert werden, erfaßt schien damit aber das, was der Geist in seinen Konkretionen „wirklich" ist, keineswegs: die Dualität „das Subjekt und die Werte" 22

25

Vgl. Rudolf Zodier, Philosophie in Begegnung mit Religion und Wissenschaft. 1955, S. J 2 ff. Vgl. Otto Friedridi Bollnow, Die Lebensphilosophie. 1958, bes. Kap. X I und XII.

Differenzierung der Grundlegung

17

blieb fatal, wenn die konkreten, geschichtlichen Subjekte in einem starren Gegenüber zu den Werten verharren sollten. Wertbeziehende Erkenntnis schien demgemäß doch nur ein unzureichender Erklärungsversuch zu sein für das, was tatsächlich historische Vergegenwärtigung des Geistes bedeutete. War es nicht so, daß die Naturwissenschaften es mit einem Fremden und Gleichgültigen zu tun haben, während in den Geisteswissenschaften der Geist sich selber spiegelt? War es hier nicht, anders als in den wägenden und messenden Naturwissenschaften, der Geist, der seinesgleichen begegnete und der in seinesgleichen zugleich audi immer einen Teil seiner selbst ergriff? War das, was da begegnete, und das, was die Begegnung forschend und fragend herbeiführte, nicht dasselbe, nämlich ein lebendiges, atmendes, sich öffnendes und zugleich sich ständig wandelndes Bewußtsein, ein Bewußtsein, dem die Neutralität der naturwissenschaftlichen Einstellung durchaus fremd sein mußte, wenn es nicht bloß erklären, wenn es vielmehr verstehen sollte? Was anderes konnte hier als verständige und verstehende Instanz in Ansatz gebracht werden als ein lebendiger Geist, als das geschichtliche Leben selber? Die Unschärfe dieser Gedankengänge liegt auf der Hand, die Ungenauigkeit des Erkenntnisbegriffs, die unzulässige Gedehntheit des Lebensbegriffs, die ungebannte Gefahr relativistischer Konsequenzen. Hier hatte Rickert in der Tat ein leichtes Spiel, und es ist unnötig geworden, dieses Spiel noch einmal aufzunehmen. Hier soll es nur darauf ankommen zu zeigen, welche Lücke die Kulturphilosophie gelassen hatte. Wenn ich sagte, daß die Kulturphilosophie auf ihrem eigenen Gebiete versagte, so meine ich, das muß jetzt wohl kaum noch betont werden, nicht, daß sie in allen Punkten versagt habe. Einen Teil mindestens der Wissenschaftsbegründung hat die Kulturphilosophie durchaus, wenn auch natürlich nicht abschließend, bewältigt. Ich meine aber audi nicht, daß die Kulturphilosophie nur im Inhaltlichen eine Lücke gelassen habe, eine Lücke, die durch die Berücksichtigung weiterer Erkenntnisverfahren und weiterer Gegenstandsgebiete allein schon hätte geschlossen werden können. So milde ist der Vorwurf denn audi wieder nicht. Cassirer glaubte noch, daß die Kulturphilosophie durch eine inhaltliche Ergänzung, eine Erweiterung zu einer umfassenderen Form der Kultursystematik, repariert werden könnte. Hier widersprach ihm Heidegger in Davos und in seiner wichtigen Rezension des zweiten Symbol-Bandes mit einigem Recht24. Der Mangel liegt vielmehr tiefer. Er liegt in der Unvollstrecktheit des Letztheits- und Universalitätsanspruchs der Gegenstandsgebiete. Die Richtung hat Bauch gewiesen. Die Ausgestaltung des Systemprogramms hat aber auch er nicht unternommen, hat er, wenn man 24

Deutsche Literaturzeitung 49 ( 1 9 2 8 ) Sp. 1008.

2

Wolandt, Idealismus

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Geltungsgedanke und Kulturphilosophie

genau zusieht, audi gar nicht unternehmen können. Bauch lehrte, daß zwischen den Gegenstandsgebieten ein Verhältnis des wechselseitigen Umschließens und Umfassens anzunehmen sei, in dem jedem der Gebiete das Eigenrecht und die Eigentümlichkeit erhalten bleiben müßte. Damit rücken aber die jeweils anderen Gegenstandsmomente in den Horizont des einen Gegenstandsgebietes ein. Für das erste Feld, für die Theorie (und damit für die Wissenschaftsgrundlegung) bedeutet das, daß die nichttheoretischen Grundlegungsfaktoren an der Differenzierung des theoretischen Erkenntnis- und Gegenstandsfeldes beteiligt werden müssen. Soll nun aber nicht bloß eine Wiederholung des systematischen Koordinationsverhältnisses angesetzt werden, so muß sich zeigen lassen, wie innerhalb der theoretischen Konstitution (bloß) theoretische Konstitution und nicht- und übertheoretische Konstitution sich aufeinander beziehen lassen können. Diese Beziehung aber bleibt notwendig abstrakt und unfruchtbar, wenn aus ihr nicht zugleich die Erkennbarkeit des sich selbst konstituierenden Subjekts (und zwar als eines Gegenstandes positiver Forschung) und die Erkennbarkeit der in diesem sich selbst konstituierenden Subjekt wurzelnden und von diesem bezogenen Gegenstände erhellt. Diese Grundverhältnisse sind verwickelt, aber keineswegs undurchschaubar. Die differenzierte Konstitutionslehre Husserls hat das gleicherweise gezeigt wie die differenzierte Realontologie Hartmanns. Was zu tun bleibt (und was bei Husserl allerdings ebensowenig thematisiert ist wie bei Hartmann), ist schlicht dieses, zu zeigen, worin der systemtheoretische Fortschritt der Konstitutionstheorie und der Realontologie gegenüber jener Form der Theoretischen Philosophie liegt, die der Kulturidealismus glaubte festhalten zu müssen. Es fehlte, und damit komme ich zu meinen Ausgangserwägungen zurück, an der Möglichkeit, die nichttheoretischen Grundlegungsmomente als differenzierende Faktoren in die theoretische Grundlegung einzubeziehen. Das Dogma von der Strukturgleichheit der Grundlegungsfelder und das Dogma vom Form- und Setzungsidealismus standen im Wege. Das zweite Grundlegungsfeld konnte nur dann sachgerecht angesetzt werden, wenn durchschaut wurde, daß es sich hier nicht bloß um die Verwirklichung theorieähnlidier Grundlegungsforderungen handelte, sondern um eine — freilich unbedingte, freilich niditmundane — Begründung, um eine Se/tebegründung der Faktizität. Der durchaus kantische Gedanke mußte zurückgewonnen werden, daß nicht etwa die Bewältigung verschiedenartiger Gegenstände und Gegenständlichkeiten in der Grundlegungssystematik aufzuhellen war, sondern die Entfaltung der Subjektivität, der konkreten Subjektivität in ihrer Trennung von der Natur und in ihrer Bestimmung der Natur und in der Bestimmung ihrer Natur. In der ebenso radikalen wie einfachen Vorordnungsthese war der Kulturphilosophie die Natur als eine subjektsgegenständige Unabhängigkeit verlorengegangen. Die eigene Un-

Ansich und Faktizität

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abhängigkeit, die Konkretheit des Geistes in seiner ausgezeichneten Welt- und Naturstellung, in seinem ausgezeichneten Welt- und Naturbezug aber war überhaupt noch nicht ganz sichergestellt worden. Dem absoluten Idealismus hatte man in dieser Hinsicht mißtraut, und das Mißtrauen hatte einige gute Gründe auf seiner Seite. Hegels Theorie des Absoluten läßt weder der Natur überhaupt, noch der bloßen Natur, noch audi der Natur des Subjekts das ihr zustehende Recht, so viel weiter seine Geisttheorie gewesen sein mochte in der Berücksichtigung des Moments der Geschichtlichkeit und in der Berücksichtigung der konsequenten Selbstentfaltung der Subjektivität. 6. Ansich und Faktizität Der philosophische Idealismus der Jahrhundertwende stellt sich uns dar als eine Theorie des Kulturbewußtseins. Die Momente der Kultur und des Bewußtseins scheinen in den Lehren, die sich hier einig wissen, unlöslich aneinandergekettet. Die Einheit der Momente schließt jedoch unterscheidbare Formen der Grundlegung nicht aus, und es ist durchaus zu zeigen möglich, in welchen Lehren das Moment des „Bewußtseins" (der gründenden und stiftenden transzendentalen Subjektivität) und in welchen Lehren das Moment der „Kultur" (der grundlegenden Kultur-Ideen) den Vorrang besitzt. Die Subjektivität als der Grund einer zu entwickelnden, zu entfaltenden Bestimmtheit ist das zentrale Thema der Marburger. Die idealen Grundlagen subjektiver Leistung sind das vorrangige Problem der südwestdeutschen Wertphilosophien. Diesen Akzentuierungen entsprechen die Verzweigungen in der nachkritizistischen Grundlehre: Gegen die Bewußtseinsphilosophie wendet sich eine Seinslehre, gegen die Wert- und Ideenlehre eine Theorie der Faktizität. Das ist vereinfachend gesehen, gewiß. Keine Seinslehre ist fortan denkbar, die das Problem der Faktizität nicht wenigstens an sekundärer Stelle, das heißt mindestens als eine spezifische Regionalität abhandelte; und keine Faktizitätslehre, die nicht irgendeinen Bezug auf eine objektive und wissenschaftsgemäße Kategoriologie herstellen müßte. Viel weiter als bei den Varianten der Kulturphilosophie rücken die Standpunkte hier freilich auseinander. Das Verhältnis Bewußtsein-Kultur Schloß noch an keiner Stelle ein Vor- und Nachordnungsgefälle ein. Der Vorzug des Moments bezog sich eher auf die Frage des Ausgangs und die andere Frage der Ausgestaltung der im wesentlichen übereinstimmenden Grundlehre. Hier tut sich indessen die Spannung eines ursprünglichen Gegensatzes auf. Was der einen Lehre fundamental ist, ist der anderen nachgeordnet und umgekehrt. Der einen ist das Sein (Ansichsein) das ursprünglichere Moment, der anderen die Faktizität. Diese Spannung ist nicht zu leugnen und nicht aus der 2»

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Welt zu bringen. Wenn die Faktizitätsphilosophie dennoch das Sein als eine ursprüngliche Größe erscheinen läßt, dann doch ein anderes Sein als das der „objektivistischen" Seinslehre. Die Faktizitätsphilosophie nimmt das Sein eben der Faktizität (und dasjenige Sein, das die Faktizität sich zu eröffnen vermag); das Sein der anderen Ontologie hingegen ist faktizitätsneutral. Es ist bloß der Horizont, in dem Seiendes von der Art einer Faktizität und anderes Seiendes bestimmt ist und erscheinen kann. Das Sein ist im Grunde seiner Bestimmtheit hier nimmermehr der Faktizität verwandt. Faktizität ist hier bloß Gegründetes: eine Region einer selbstgenugsamen, einer gleichgültigen Welt. Wir Späteren beruhigen uns freilich auch bei diesen Standpunkten nicht mehr, die in Marburg in den zwanziger Jahren für eine kurze Frist gegeneinanderstanden, sondern suchen zu prüfen, zu vermitteln und im Zuge dieser Vermittlung womöglich noch ein kleines Stück von der Stelle zu kommen. Auf eine Formel gebracht: Wir suchen Ansich und Faktizität in einer Grundlehre zu verbinden, die beiden Momenten ihre Ursprünglichkeit läßt. Ehe aber die Gleichursprünglichkeit von Faktizität und Ansich erwiesen werden kann — eine Gleichursprünglichkeit, die weitreichende systemtheoretische und wissenschaftstheoretische Konsequenzen hat — muß bis zu der Stelle ihrer problemgeschichtlichen Verzweigung zurückgegangen werden. Um Liebmanns Wort abzuwandeln: Also muß auf den (klassischen) Kritizismus zurückgegangen werden. Denn die Antikritizismen sind nur aus der Problemspannung zu begreifen, die die Kulturphilosophie zurückließ und die ihr eigenes Ende bedingte.

7. Berichtigung und Ergänzung Wir hatten zunächst festzustellen versucht, worin die bewahrenswerten Momente des Geltungsgedankens zu erblicken sind, und diese Momente (in 3) in neun Hauptpunkten formuliert. Diese neun Momente machten nach unserer Auffassung so etwas wie eine positive Kerntheorie aus, die auch eine weiterentwickelte Grundlehre nach Möglichkeit festhalten sollte. Dieser ersten, positiven Tafel von Momenten stellten wir (in 4) eine negative Tafel gegenüber, die in acht Punkten die sachlichen und systematischen Mängel der kulturphilosophischen Grundlehre aufzählte. In diesen Momenten zeigte sich, daß die Kulturphilosophie von ihrer durchaus gediegenen Kerntheorie im einzelnen einen problematischen Gebrauch machte, insbesondere zeigte sich dies, daß sie (1.) der Sonderstruktur der Grundlegungsfelder zu wenig Rechnung trug und der Neigung erlag, eine Gleichförmigkeit dort anzunehmen, wo in Wahrheit ursprüngliche Verschiedenheiten angesetzt werden müssen („Schemati-

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sierung"), daß sie (2.) die Struktur des einen Grundlegungsfeldes einem anderen Feld aufzwang und so der einen Grundlegungsstruktur eine unangemessene Vorbildlichkeit gegenüber anderen zudachte („Einseitigkeit"), und endlich (3.), daß sie durch die stillschweigende oder ausdrückliche Annahme von Interferenzen in den Grundlegungsrelationen das Grundgefüge zwar — im Vergleich zur Kantischen Grundlehre — entschieden überschaubarer gestaltete, daß sie damit aber an wichtigen Stellen die Systematik in sachunangemessener Weise vereinfachte und die Problemaspekte verfehlte („Simplizität"). Ich will versuchen, mit ein paar Strichen zu skizzieren, wie ich mir eine Berichtigung und Ergänzung der kulturphilosophischen Grundlehre denke. 1. Am Anfang der negativen Punkte steht der Gedanke einer allseitigen Vorordnung der Subjektivität. — Der junge Hartmann hatte hier in Systembildung und Idealismus (Cohen-Festschrift 1 9 1 2 " ) , einer Arbeit, die das zweite Systemprogramm des Denkers enthält, eine Änderung der Grundlagen angestrebt. Hartmann führt hier den Gedanken einer Abwandlung der Grundkorrelation von Subjekt und Objekt ein. (Hartmann hat später den von ihm weiterentwickelten Gedanken der Abwandlung nicht mehr auf die intentionale Grundkorrelation anzuwenden versudit. Das hätte den Rahmen einer objektivistischen Ontologie gesprengt. Das Subjekt durfte später nicht mehr im Gefüge der Fundamentalitäten fungieren.) Im Gegensatz zu Cohen und Natorp lehrte Hartmann, daß das Subjekt nur in einer Geltungssphäre einen Vorrang besitzen kann: in der Sphäre des Praktischen, daß aber gerade in der ersten Sphäre dem Objekt der Begründungsvorrang gebühre, während in der dritten Sphäre ein Gleichgewicht der Korrelate anzunehmen sei. Der Vorrang der Subjektivität in der Grundlegung ist hier also erstmals gebrochen, was besonders folgenreich ist: gebrochen in der ersten Grundlegungsrücksicht. Allerdings bleibt in der Hartmannschen Systemskizze noch sehr vieles unbestimmt. Unbestimmt bleiben insbesondere die KorrelatbegrifFe, die Begriffe des Subjekts und des Objekts selbst. Unbestimmt bleibt auch die Frage, wie ein systematisch ausweisbarer Übergang von der einen Grundlegungshinsicht zur nächsten soll möglich werden können. Dennoch möchten wir grundsätzlich gerade diesem Ansatz zustimmen, weil er im Ernste dem Sondersinn der Grundlegungsgebiete besser gerecht wird als die kulturphilosophische Gebietstheorie. Für alle Felder wird man dabei allerdings sicherstellen müssen, daß die Vorordnung des einen Korrelats oder auch die Gleichordnung beider die Funktion der nach- oder gleichgeordneten Relate nicht schlech25

Kleinere Schriften. Bd. III, 1 9 j 8 (siehe hierzu meine Rezension in: Ardi. f. Reditsu. Sozialphilos. 45, 1959, 293—300).

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terdings aufheben darf. — Wenn also in der theoretischen Sphäre von einer Vorordnung der Objektivität mit Recht gesprochen werden soll, dann darf nicht übersehen werden, daß der Subjektivität allerdings im Hinblick auf die Erschließung der Gegenständlichkeit des Unabhängigen in der Tat eine vorgeordnete Funktion zufällt, daß die Gegenständlichkeit des Unabhängigen in Wahrheit allerdings in der Apriorität (bzw. in den Aprioritäten) der Subjektivität ihren Konstitutionsgrund hat. Das ändert indessen nichts daran, daß es der Sinn dieser Konstitutionen sein und bleiben muß, das Unabhängige in seiner Unabhängigkeit zu ergreifen, daß m. a. W. die konstituierte theoretische Gegenständlichkeit keine andere Funktion hat, als das Eigenständige, den Gegenstand als ein Selbstgenugsames oder, auf das vorliegende Problem bezogen: den Gegenstand in seiner Vorgeordnetheit zu ergreifen. — Wenn man allerdings die Subjektivität hier nur in formaler Weise ansetzt, dann wird nicht recht einsichtig, was Nachordnung der Subjektivität besagen kann. Erst wenn gezeigt wird, daß ebendiese Leistung als ein Absehen der Subjektivität von sich selbst angesehen werden muß, dann erst wird audi der volle Sinn des Vor- und Nachordnungsverhältnisses verständlich. Die Vorordnung der Subjektivität auf praktischem Felde bedeutet, daß es in diesem Leistungsbereich der Subjektivität nicht um das Erfassen, Erschließen und Bewältigen eines Anderen geht, sondern um die Bestimmung ihrer selbst. Der Gegenstand des praktischen Verhaltens ist also nicht eigentlich Objekt, sondern eben die Subjektivität selber. Hier wiederum, so berechtigt der Ansatz im ganzen ist, müßte sichergestellt sein, daß das objektive Moment des Praktischen angemessen berücksichtigt wird. In der praktischen Leistung geht es der Subjektivität ja keineswegs darum, bei sich selber zu bleiben und ihre Eigenbestimmtheit und Eigengesetzlichkeit zu wahren, vielmehr ist der Sinn allen praktischen Leistens doch auf Verwirklichung der Subjektivität gerichtet. In der praktischen Leistung will, erstrebt die Subjektivität nicht bloß ihren Bestand als pure Subjektivität, sondern zugleich als Objektivität, als Gegenständlichkeit, als Weltsachverhalt. Für das Gleichordnungsverhältnis der Momente in der ästhetischen Urkorrelation gilt Entsprechendes. Weder subjektives Verschweben noch objektive Erstarrung könnten dem Anteil der Momente gerecht werden. Gefühls- und Seinsästhetik könnten gleicherweise Einseitigkeiten zu ihrem Inhalte haben. Das Werk und das in der künstlerischen oder in der naturästhetischen Gestalt erscheinende gegenständliche Gebilde bewahren Selbständigkeit gegenüber allen Akten der Annäherung und der Aneignung. Diese Selbständigkeit ist aber niemals subjekts- und geistfremde Unabhängigkeit und Neutralität. Die Gestalt bildet ein Gegenständiges des Geistes, aber sie bleibt auch dem Geiste als ihrem Ursprung verwandt. Keine Gestalt, die als bloße Gegebenheit und die in

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bloßer Positivität registriert werden könnte. Die Geistursprünglichkeit der Gestalt aber ist zugleich geknüpft an die Weise der Subjektivität, in ihrer Faktizität vermeinend zu sein: an die Weise des Anschauens. Die Gegenständigkeit der Gestalt ist angeschaute Gegebenheit, die Subjektsursprünglichkeit der Gestalt ist die Weise des Subjekts, sich einem Gegebenen einzuprägen, ist die eigentliche Form der Subjektivation des Objektiven, der Subjektivation der Natur. — Die Naturgebundenheit der Gestalt und die Autonomie des produktiven Anschauens, die Eigengesetzlichkeit des „Gefühls" — beide Momente müssen in der Gleichordnung der grundkorrelativen Momente erhalten bleiben. Freilich genügen diese Gesichtspunkte allein noch nicht. Die Frage, wie die Anschlüsse der Grundlegungssphären zu denken sind, ist damit noch keineswegs zulänglich beantwortet. Es müßte gezeigt werden, wie es der Subjektivität möglich wird, von der einen „Grundeinstellung" zur nächsten zu kommen. Die Schwierigkeit liegt darin, daß die „Gegenständlichkeiten", die den Grundeinstellungen entsprechen, stark differierende Strukturen besitzen. Nicht nur die ursprünglichen Intentionsweisen müssen aneinander anschließen, audi die Strukturen des jeweils nächsten Feldes müssen als anschließbar gedacht werden. Die Formalanalytik, wie sie die Kulturphilosophie praktizierte, hatte hier ein verhältnismäßig leichtes Spiel: Die Einheit des Bewußtseins kam für die Einheit des Bewußten auf. Wenn aber das „Bewußte" jedesmal eine andere Bestimmtheit und eine andere Distanz zur Subjektivität repräsentiert, dann ist mit der kulturphilosophischen Einheitslehre nicht mehr durchzukommen. Die neuere Konstitutionstheorie hat hier indessen schon weitergearbeitet. Wichtig ist, daß eine Gliederung der Grundlegungs- und Einstellungsfelder „materiale" Momente berücksichtigen muß. Die Selbst-Konstitution (Praxis) muß sich an die Konstitution des Anderen, des Ansich (Theorie) anschließen. Zugleich muß sie sich, obwohl das Entworfene (und Entwerfbare) das Erfaßte (und Erfaßbare) überschießt, in das Feld der Theorie einzeichnen lassen. Wie dieses beides zusammenbestehen kann: Eingezeichnetheit (Lokalisiertheit) und Überschuß, das freilich kann nur eine solche Konstitutionslehre aufhellen, die bereits das Feld der Theorie selbst in seiner Gegliedertheit (Regionalisation), oder doch wenigstens in seiner Gliederbarkeit, analysiert hat. Wenigstens die Leerstelle für den Ansatz des Entwurfs muß freigehalten und die des Entwurfs bestimmt sein. Die Variation von Strukturen der Bestimmtheit hat Hartmann als eine Frage der Modaltheorie ausgewiesen. Das allein genügt indessen noch nicht. Die hier vorliegende Abwandlung birgt zugleich audi subjekts- und geltungsund temporalitätstheoretische Probleme. Monadologie, phänomenologische Konstitutionstheorie und Daseinsanalytik haben hier nicht weniges über die Einsichten der Kulturphilosophie hinaus aufgeklärt. Es

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fehlt audi nicht an Versuchen, die Ernte der recht verschiedenartigen Konstitutionslehren einzubringen (Zocher, Cramer 26 , Wagner), wenn auch noch genug zu tun übrigbleibt. Die Entwürfe ereignen sich nicht irgendwo und auf irgendeinem dunklen Grunde. Weder eine weltlose Subjektivität noch eine Existenz, die sich jeder rationalen Bestimmung entzieht, vermag dem spezifischen Sinn des Entwurfs gerecht zu werden. Und doch ist der Entwurf nichttheoretisch. Ebenso ist das Entworfene in seinem ursprünglichen Entworfensein (in seiner primären Konstituiertheit) kein Gegenstand der Erfahrung. Der Entwurfscharakter ist gewiß unbedingt, aber der Entwerfende hat seine Stelle in der Welt und das Entworfene könnte oder sollte eine Stelle in der Welt bekommen. Die Frage, wie die Entwürfe ihren Platz in der Welt finden können, ist weder ohne den Begriff einer ursprünglich-faktischen Subjektivität noch ohne den Begriff eines gemeinsamen Horizonts des Gegenständigen, des Ansich, zu beantworten. Die Subjektivität bricht nicht auf in die Zeitlosigkeit der Ideen. Die Ideen in ihrer Zeitvorgängigkeit sind für sie Maßstab. Das Ziel des Aufbruchs, das Nächste und das Fernste, das getan werden muß oder das getan werden kann, liegt in der Zukunft der Subjektivität. Der Anschluß impliziert hier keineswegs bloß die Frage nach der Abwandlung eines Geltungsmodus, er impliziert auch nicht bloß die Frage nach einer Veränderung und Umkehrung der grundkorrelativen (SubjektObjekt-)Prävalenzen, er betrifft die besondere Abschattung, die eine subjekt-konstituierte Gegenständlichkeit von anderer, subjekt-unabhängiger Gegenständlichkeit unterscheidet. Das ist, so wie es die neue Ontologie behandelt hat, ein Problem der Sphärenunterscheidung, der Unterscheidung primärer und sekundärer Seinsverfassung, eine Frage, deren die differenzierte Modalanalytik mit einigem Erfolg Herr zu werden versuchte. Doch dieser Ansatz allein reicht nicht aus. Es ist auch eine Faktizitäts-Frage: die Zeitlichkeit der Subjektivität ist hier der Ursprung für die Weise der zweiten Konstitution. Nur im Gegenzug zur Setzung und Anerkennung subjektsfremder und -unabhängiger Temporalität ist die Sphäre der subjekts-eigenen, der „je"-eigenen Zukunft zu bestimmen. All dieses gilt nun in wachsender Komplizierung der Prinzipienbeziehungen und -strukturen für das dritte Feld. Modaltheoretische Sphärendifferenzierung und Faktizitäts-(Temporalitäts-)Analytik müssen auch hier das Abwandlungstheorem ergänzen. In all diesen prinzipienwissenschaftlichen Aspekten ist bereits angedeutet, was die nach-kritizistische Philosophie, die Seinslehre, mit ihrer differenzierten Regional- und Modaltheorie, die Faktizitätstheorie, die Monadologie, die phänomenologische Konstitutionslehre, zu leisten ver24

Die Monade,

1954; Grundlegung

einer Theorie des Geistes, 1957.

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mögen, wenn die Aufgabe einer Sicherung, Ergänzung und Ausgestaltung der kulturphilosophischen Geltungstheorie ernsthaft in Angriff genommen werden soll. Doch auch eine so weit angelegte Nutzung nach-kulturphilosophischer Denkergebnisse für eine Neubestimmung und Neugestaltung der Geltungstheorie genügt nach meiner Meinung nicht mehr, wenn „genügen" so viel bedeuten soll wie dies, daß man alle verfügbaren theoretischen Mittel einsetzt, um den höchstmöglichen Grad der Klärung und der Differenzierung auf einem Problemgebiet zu erreichen. Man wird darüber hinaus, daß man die Resultate der neueren Faktizitäts- und Konstitutionstheorie berücksichtigt, und darüber hinaus, daß man die hier erarbeiteten neuen Fragemöglichkeiten nutzt, etwas weiteres tun müssen, nämlich dieses: Man wird den Gedanken einer Selbstentfaltung der Subjektivität, wie er in seiner anpruchsvollsten Gestalt von Hegel gedacht wurde, auf die hier zu bestimmenden Grundverhältnisse beziehen müssen, wenn man nicht darauf verzichten will, die Notwendigkeit der Gliederungsmomente, die Notwendigkeit der Konstitutionsfolge sichtbar zu machen. Eine bloße Wiederbelebung Hegels oder gar eines in sich selber kreisenden Hegelianismus wird allerdings nicht mehr möglich sein. Auch die Autorität Hegels kann das Nachfolgende, so weit es einen gediegenen philosophischen Gehalt besitzt, nicht zunichte machen. Trotz aller Tiefe kann auch der Hegeischen Lehre der Vorwurf nicht erspart werden, daß sie vereinfacht hat. Aber ich meine, daß die Grundlehre schon ungeheuer viel gewönne, wenn Hegels Lehre nicht mehr allein als der Gegenstand historischer Aneignung und erst recht nicht bloß als Anstoß für forschungsfremde Konstruktionen aufgefaßt würde, sondern als eine Theorie, mit deren Hilfe prinzipienwissenschaftliche Fragen befriedigender beantwortet werden können, als es mit Hilfe anderer Theoreme möglich ist. Das gilt aber ganz gewiß für die Frage nach der Möglichkeit und der Notwendigkeit der ursprünglichen Selbstentfaltung der Subjektivität. 2. Eine besondere und, so viel ich sehe, eigentlich nur von Zocher beachtete Schwierigkeit liegt in der Gleichsetzung von Intentionsrichtung und Grundlegungsrichtung (Prinzipiationsrichtung) vor. Die Kulturphilosophie überläßt die Theorie des Gegenstandes allein den positiven Wissenschaften. Da der Gegenstand sich in der Leistung der (reinen) Subjektivität aufbaut, darf, nach jener Lehre, sich die Philosophie auf eine Analytik des konstituierenden Bewußtseins beschränken. Damit wird eine philosophische Gegenstandslehre, wohlverstanden: eine philosophische Lehre vom ursprünglichen, eigenständigen Grundkorrelat, das der Gegenstand ist, also eine Theorie des Unabhängigen, eine Theorie des Ansich, eine Ontologie, entbehrlich. — Demgegenüber scheint mir das Recht der Ontologie — freilich nicht einer isolierten, sondern das einer gleichursprünglichen Ontologie — unabweisbar zu sein. Dem

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Gegenstand muß als einem Glied der Grundbeziehung, als einem Grundkorrelat Ursprünglichkeit, Letztheit und damit Universalität zugedacht werden. Das bedeutet, daß dem Gegenstand Begründungsuniversalität audi im Hinblick auf Subjekt und Subjektivität zugedacht werden muß. Auch das Ich muß in diesem fundamentalen Sinne als Nicht-Ich gedacht werden können. Und ebendies fordert nicht allein die philosophische Subjektstheorie, das fordert auch jede Form einer positiven Subjektstheorie, ob sie sich in der Gestalt der Psychologie oder in den vielfältigen Gestalten geisteswissenschaftlicher Forschung darbietet. Audi das Subjekt muß in seiner Unabhängigkeit (in seiner Eigenbestimmtheit), und das heißt: im Horizont des Seins, des Unabhängigen, des Ansich bestimmt werden können. Den Grund dieser Unabhängigkeit aber vermag keine andere philosophische Lehre aufzudecken als eine solche, die mit der Bestimmtheit des Anderen, des Nicht-Ich, des Unabhängigen ernstmacht. Der Ansatz einer eigenen, von der Geltungskonstitution (insbesondere von der theoretischen Konstitution) verschiedenen Seinsgrundlegung ist durchaus legitim und ebenso die Ausarbeitung dieses Ansatzes in einer ontologischen Kategorienlehre. Der Abstand zwischen Prinzip und Prinzipiiertem liegt nicht nur auf der Seite der Subjektivität — dort gewiß auch (wie wäre sonst eine Grundlegung von Gedanken und Entwürfen und Produktionen denkbar?) — die Distanz von Grundlegung und Grundgelegtem ist ebenso auf der Seite des Vermeinten, und gerade auch auf der Seite der Eigenständigkeit des Vermeinten anzusetzen. Auch hier gilt grundsystematisch, daß keinem der Elementargegensätze die Durchgängigkeit streitig gemacht werden kann. Die Kulturphilosophie mußte in einer positivistischen Befangenheit und Begrenztheit stecken bleiben, da sie das Feld und die Momentbestimmtheit des Unabhängigen allein der Erfahrungswissenschaft:, der positiven Theorie überließ. Sie schnitt sich aber auch den Weg zu einer sachgerechten Aufklärung positiver Subjektswissenschaften ab, da sie die positive Theorie von vornherein auf eine Gerichtetheit auf bloß Gegenständliches festlegte. Sie übersah, daß es den positiven Subjektswissenschaften (den Seelen- und Geistes- und Gesellschaftswissenschaften) nicht nur um gegenständliche und konkrete und „empirische" Subjektsbestände und -Verhältnisse ging, sondern durchaus auch um Subjektivitäten im Vollsinne. Wie weit die Depotenzierung der positiven Subjektswissenschaften sich auch immer in der Forschungspraxis (vor allem wohl der älteren Psychologie) gespiegelt haben mag und wie weit sie insbesondere dem Selbstverständnis dieser Wissenschaften entsprochen haben mag, gewiß bleibt doch, daß der volle Sinn auch positiver Subjektswissenschaft nur erschlossen werden kann, wenn klar ist, daß hier nicht bloß irgendwie ausgezeichnete Gegenstände erschlossen und erfaßt werden sollen, sondern Subjekte und S#&/e&f5äußerungen und

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SH&;e&i5beziehungen. In diesem Punkte kann aber nur eine solche Theorie die kulturphilosophische Grundlehre berichtigen, die die Gründe aufzeigt, die es möglich machen, der Subjektivität auch in ihrer Konkretheit (so also, wie sie zum Thema positiver Forschung wird), der Subjektivität als Faktizität, als einem eigenständigen Ansich volle Ursprünglichkeit, unhintertreibliche Letztheit, Sitz und Stimme im Grundsystem zuzuerkennen. Nicht alle nachkritizistischen Lehren haben diesen Schritt gewagt, und die ihn wagten, haben nicht alle die wissenschaftstheoretischen Konsequenzen daraus gezogen. Den ersten Schritt ging die Lebensphilosophie, den radikalsten Schritt ging die Fundamentalontologie. Die ganze system- und wissenschaftstheoretische Tragweite, die darin liegt, der Faktizität Fundamentalität zuzudenken, machte erst die Monadologie sichtbar, die forderte und explizierte, die Tatsache der Subjektivität, die Tatsache von Erleben, Sprache und Gestalt als „Prinzip", als Weltkorrelat und als Weltkonstituens zu begreifen. 3. Mit Bezug auf die weiteren Ergänzungsmöglichkeiten und Ergänzungserfordernisse darf ich mich in dieser Skizze kürzer fassen. — Die Einschränkung der Subjektstheorie auf die formalen und ungegenständlichen Momente ihres Bestandes scheint mir die schwächste Stelle der kulturphilosophischen Grundlehre zu sein. Der Kulturphilosophie schien es, als könne nur auf diesem Wege die Autonomie der Geltung gesichert werden, als sei nur auf diesem Wege der (freilich ganz unentbehrliche) Absolutismus der ursprünglichen Ideen, Gesetzlichkeiten oder Werte zu stützen. Das Moment der Ungegenständlichkeit, das Moment der Unbedingtheit muß freilich in jeder ursprünglichen Subjekts- und Konstitutionsfunktion erhalten bleiben, aber als Moment gerade ist es nur möglich, wenn es in der Symploke mit gegenständlichen — in bestimmter Rücksicht bedingten — Momenten gedacht wird, und zwar nicht bloß Momenten, die außerhalb der Subjektivität den Ort ihrer Bestimmtheit und den Platz ihrer Funktionalität haben, sondern gerade nur wenn der Übergang in die Gegenständlichkeit und in die Bedingtheit in die Gefüge der ursprünglichen, konstitutionsermöglichenden Subjektsfunktionen mithineingenommen wird. Das gilt gerade nicht bloß — wie man unter bestimmten systematischen Voraussetzungen meinen könnte — für die nichttheoretischen Felder, das gilt vor allem auch für die theoretische Subjektivität. Freilich ist nicht zu bestreiten, daß das Moment des Konkreten und Gegenständlichen in jeder der Grundlegungssphären in anderer Weise an der Konstitution der Leistung beteiligt wird. Die nach-, aber auch die spätkritizistische Grundlehre hat in verschiedenen Rücksichten hier den kulturphilosophischen Formalismus zu korrigieren gesucht. Für die theoretische Sphäre ist hier besonders die Rückgewinnung des Anschauungsmoments von Belang. Damit wurde die

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Ansatzfunktion der konkreten Subjektivität bestätigt und zugleich die Schlüsselstellung der Naturerfahrung fixiert. In der kulturphilosophischen Erkenntnislehre war demgegenüber die konkrete Subjektivität zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken. An dieser Revision des Formalismus sind die antikritizistischen Lehren ebenso beteiligt gewesen wie die Monadologie. Das Verdienst dieser Revision liegt nicht nur darin, daß sie die Grundfunktion der konkreten Subjektivität auch in der theoretischen Hinsicht sichtbar werden ließ. Wichtiger noch ist dies, daß sie mit der Gewinnung und — in der Besinnung auf die Kantische Grundlehre — mit der Rückgewinnung eines strengen Erfahrungsbegriffs zugleich eine bestimmtere Gliederung des Feldes der positiven Theorie möglich machte und einen Boden sicherte, von dem aus andere Formen positiver Erkenntnis, insbesondere die Form des „Verstehens", in ihrem spezifischen Sinn bestimmbar wurden. Stärker noch als in der theoretischen Hinsidit war die Berücksichtigung eines materialen Moments für die Grundlegung des Praktischen von Bedeutung. Der Versuch, die praktische Leistung in „materialen" Aprioritäten zu fundieren, darf allerdings als gescheitert angesehen werden27. Die Wertinhalte können wohl schwerlich auf dem Wege einer Typisierung konkreter Momente gewonnen werden. Jeder Versuch, eine Differenzierung und darüber hinaus auch noch eine Absolutsetzung von Werten (von Grundlagen praktischen Leistens) dadurch zu gewinnen, daß man den Werten gegenständliche Inhalte oder sonst einen gegenständlichen oder ontischen Bestand einlegt, verfehlt den ursprünglichen Sinn der praktischen Grundlegung. Nicht das idealisierte und typisierte Konkrete darf Grundlegungsrang beanspruchen, wohl aber das Konkrete im radikalen Verstände, die Faktizität in ihrer schlechthinnigen Vereinzelung. Der Ontologismus hat die Praktische Philosophie in dieser Rücksicht kaum zu fördern vermocht, wenn er auch im Hinblick auf die Weltmöglichkeit des praktischen Verhaltens und der praktischen Gegenständlichkeit wichtige Einsichten ermöglichte. Die Lehre von den idealen Wertinhalten hat nur ein sehr begrenztes Recht auf ihrer Seite. (Dieses darzutun, insbesondere mit Bezug auf die Verwandtschaft von Werten und Wesenheiten, wie sie in der Idealontologie der Werte angenommen wird, wäre allerdings eine lohnende Aufgabe.) Wichtige Einsichten verdanken wir nicht- und antiaxiologischen Lehren, den Theo27

Aus der umfangreichen Literatur zur Kritik der „materialen Wertethik" möchte idi nur auf drei Arbeiten hinweisen, die für mich besonders lehrreich waren: Karl Alpheus, Kant und Scheler. Diss. Freiburg 1930 (veröffentlicht Freiburg 1936); Josef Schmucker, Der Formalismus und die materialen Zweckprinzipien in der Ethik Kants. In: Kant und die Scholastik heute. Hrsg. v. J . B. Lötz. Pullach 1955; Richard Hönigswald, „ G e s i n n u n g I n : Analysen und Probleme. 1959 (Schriften aus dem Nachlaß. Bd. II).

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rien der Faktizität von Heidegger bis Sartre unter Einschluß des radikalen Dezisionismus. Das Recht der Entscheidung, die Unübertragbarkeit der Verantwortung, die Jeweiligkeit des Entwurfs sind die Momente, die in den Blick gerückt werden. Doch auch hier kommt es ebenso wie angesichts der theoretischen Grundlegung darauf an, den absoluten Boden jeder Entscheidung, jeder Verantwortung und jeden Entwurfs nicht aufzuheben und nicht zu gefährden. Die Entwicklung der Praktischen Philosophie dieses Jahrhunderts zeigt, daß fast jeder Schritt von Kant weg einen Schritt zurück bedeutet. Die Anerkennung materialer Momente darf ebendeshalb nichts anderes implizieren als die Anerkennung der Faktizität in ihrer praktischen Autonomie. Die Berücksichtigung materialer und gegenständlicher Momente der Subjektivität steckt, wenn ich recht urteile, in der Grundlegungstheorie des Ästhetischen noch in den Anfängen. Zwei Themen sind hier einschlägig: die monadische Konstitution der Gestalt und die ursprüngliche Geschichtlichkeit der Kunst. Hier bleibt für die philosophische Theorie noch Vieles zu tun. Mit vorsichtiger Übertreibung darf man sagen, daß Hegels Vorlesungen über Ästhetik auf diesem Gebiet vorläufig noch den letzten Forschungsstand darstellen28. Die „idealistische" Ästhetik, die den Grundsachverhalt der Kunst und des Schönen als eine ursprünglich zeitfremde Größe ansah und die aus der ursprünglichen Gliederung der Kunst alle geschichtlichen Momente herauszuhalten versuchte, hat zu lange das philosophische Denken auf diesem Felde beherrscht. An Versuchen, eine neue Grundlage zu finden, fehlt es indessen nicht. (Lehrreich in dieser Beziehung sind die NietzscheVorlesungen Heideggers29; vor allem weil sie die Gegensetzung zur Kulturphilosophie bewußt vollziehen.) 4. Die Kulturphilosophie enthielt das Programm, jede der Grundlegungen als universal vorgeordnet zu denken. Diese Forderung war, wie Bauch gezeigt hat, nur dann zu vollstrecken, wenn die Grundlegungen in einem System wechselseitigen Sich-Umfassens angesetzt wurden. Damit war zugleich auch dieses angesetzt (wenn auch freilich nirgends im Ernste durchgeführt), daß die (jeweils) umfaßten und umschlossenen Grundlegungs- und Geltungsmomente an der Binnengliederung der Grundlegungsgebiete beteiligt sein mußten. Die Einfachheit der kulturphilosophischen Grundlehre verbot es, diesen Gedanken wirklich durchzuführen. Das Gegenüber von konstituierender Subjektivität und konstituierter Gegenständlichkeit ließ keinen Raum für eine konstituierte Subjektivität, die im Hinblich auf die gleichfalls konstituierte Gegenständlichkeit eine Gliederungsbedeutung sollte haben können. Dies aber und gerade dies war die Voraussetzung 28

29

Vgl. V f . : Zur Aktualität bis 234. Bde. I, II, 1 9 6 ! .

der

Hegeischen

Ästhetik,

Hegel-Studien, 4 (1967)

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dafür, daß Konstitutionsregionen, wie denen von Natur und Geschichte, innerhalb der theoretischen Gegenständlichkeit ein wohlbestimmter Platz sollte angewiesen werden können. Der Gedanke einer Aufstufungsmöglichkeit der Grundlegungen und der einer Aufstufungsmöglidikeit der korrespondierenden Intentionalitäten war unabweisbar, er wurde indessen erst außerhalb des Kreises der klassischen Kulturphilosophie entwickelt und entfaltet. Das Dogma der Einstufigkeit der Beziehung zwischen Grundlegung und Grundgelegtem wird weiten Feldern der Erkenntnis nicht gerecht. Außerhalb der Naturwissenschaften trifft die Wissenschaft allenthalben auf bereits Konstituiertes, auf solches, das in der Regel bereits in einer nichttheoretischen Konstitution seine Bestimmtheit und damit seine Unabhängigkeit erlangt hat. Die Kulturphilosophie hatte den Gedanken der Vorordnung der Theorie gegenüber den Gebieten des Nichttheoretischen nur für die Ebene der Prinzipienerkenntnis gebraucht: Ethik und Ästhetik erwiesen sich als umschlossen und als begründet durch die Logik. Das ist unter dem Gesichtspunkt der Systembestimmtheit der Philosophie und angesichts der Forderung einer Letztbegründung aller Systemstücke gewiß richtig und wichtig. Hier kommt es indessen darauf an, das Moment des Umschließens auch auf die Verhältnisse der positiven Erkenntnis anzuwenden. Die Sonderstruktur verstehender Theorie wird erst hier begreiflich, denn aller verstehenden Theorie geht es nicht bloß darum, Gegenstände, sondern zugleich auch die Erschlossenheit von Gegenständen zu erfassen. Mit anderen Worten: die verstehende Wissenschaft erschöpft sich nicht darin, Konstituiertes, näher hin: BloßKonstituiertes, Subjekts- und Subjektivitäts-Fremdes zu erfassen, ihr obliegt es vielmehr, zugleich auch Konstitutionen (wenn audi in ihrem konkreten, in ihrem faktischen Vollzuge, in ihrer geschichtlichen Vereinzelung) zu erfassen. So ist etwa positive Sprachwissenschaft stets mehr als bloße Tatsachentheorie, denn Sprachen sind keine bloßen Tatsachen, sie kommen vielmehr einer bestimmten Erschlossenheit von Tatsachen gleich. Es gibt viele Schritte, die über diese Einstufigkeit des kulturphilosophischen Grundlegungsansatzes hinaus gemacht worden sind. Gerade auch Denker, die nie einen Zweifel an ihrer Übereinstimmung mit zentralen Lehrstücken der Kulturphilosophie aufkommen ließen: Cassirer, Hönigswald, Litt haben die Simplizität der Kulturphilosophie in dieser Rücksicht mit Erfolg zu überwinden gewußt. Uns fehlt indessen noch ein zureichender Uberblick gerade über diese Weiterentwicklung der Geltungs- und Grundlegungstheorie. Uns fehlt, so viel ich sehe, auch in systemtheoretischer Beziehung hier noch Einiges; vor allem käme es darauf an, die Frage zu prüfen, wie die Gebiete des Praktischen und des Ästhetischen durch Fremdkonstituiertes eine Gliederung erfahren. Ins-

Berichtigung und E r g ä n z u n g

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besondere die gliederungsreiche Fülle der Kunst und des ästhetischen Erlebens ist nur verständlich, wenn sie die Inhalte der Weltorientierung und die Inhalte der sich selbst bestimmenden Subjektivität mitumschließt. Sogar das wortlose Kunstwerk verhilft der Subjektivität in ihrer ganzen Leistungs- und Entfaltungsfülle zu ihrem — freilich „unmittelbaren" — Ausdruck. Nirgendwo trifft, so scheint es, die künstlerische Gestalt in einem einfachen Bezug auf ein zu gestaltendes Material. Was wir die „Lebendigkeit" der ästhetischen Form nennen, ist eben die Gegenwärtigkeit jener hochkomplizierten, sich und Anderes konstituierenden Größe, die die Subjektivität ist. Die Aufhellung dieses vielstufigen Konstitutionsgefüges bleibt allerdings erst noch zu leisten. 5. Der Mangel einer gleichbestimmten Formalität der ursprünglichen Subjektsfunktionen wurde unter 3 bereits besprochen. Hinzuzufügen wäre hier nur, daß in der Spannung der Momente zugleich auch die Folgebestimmtheit mit Rücksicht auf die Selbstentfaltung der Subjektivität sichtbar werden muß: Die Momente können nur so in der nächsten Grundlegung wirksam werden, wie sie in der vorausgehenden Grundlegung sich bestimmt hatten. So wird das Anschauungs- und Ansatzmoment der Faktizität der Konkretion des Entwurfs die Unterlage bieten; so wird ebenso das Moment des Entwurfs die Basis bieten für die zugleich geschichtsbewahrende und geschichtsüberwindende Produktion der Gestalt. Dasselbe gilt für die ungegenständlichen Momente: Die lückenlose Universalität der theoretischen Weltkonstitution ist Voraussetzung für die Ausnahmslosigkeit der praktischen Gesetzesgeltung gegenüber den sich entwerfenden und sich verantwortenden konkreten Subjekten; die Gesetzesgeltung, die die je geschiedenen Entwürfe und Entscheidungen verpflichtet, ist die systematische Grundlage für den intersubjektiven Rang der künstlerischen Gestalt. 6. Von den letzten drei Momenten will ich hier nur noch das sechste eigens behandeln. Die Setzungseinheit und die Progressivität schließen Spezialprobleme ein, die einerseits eine weitergehende Klärung der anderen Momente erfordern und die andererseits den Rahmen der vorliegenden Überlegungen sprengen würden. Von ganz entscheidender Bedeutung ist es wohl, daß der „Objektivismus" der Grundlegungsgebiete überwunden werde. Wenn vom praktischen Gegenstand oder vom ästhetischen Gegenstand die Rede ist, dann ist das allerdings etwas ganz anderes als auf dem Felde der Theorie. Die Auffassung der Kulturphilosophie, die Grundlegungsgebiete als nebeneinander angeordnete Möglichkeiten des Bewußtseins, sich auf Gegenstände zu beziehen, zu begreifen, hat einem Kulturpositivismus Vorschub geleistet, von dem auch Cassirers Philosophie der symbolischen Formen nicht ganz frei ist. Dieser Kulturpositivismus, der Subjektsfunktionen und zugeordnete Gegenständlichkeiten nebeneinanderstellte und nacheinander analysierte, hat die Einsicht verdrängt, daß

32

Geltungsgedanke und Kulturphilosophie

die Grundlegungsformen nur als Momente der sich selbst entfaltenden Subjektivität bestimmt werden können. Hier wird die Kulturphilosophie auf dem Wege über Seinslehre, Konstitutionstheorie und Faktizitätsphilosophie ihre abschließende Ergänzung erfahren müssen, so weit auf dem Felde der philosophischen Grundlehre überhaupt von einem Absdiluß gesprochen werden darf.

Hönigswalds Theorie des Organischen i. Lebensphilosopbie

und Biologismus

Hönigswalds Philosophie des Lebens ist keine Lebensphilosophie. „Das Leben" ist zwar auch für Hönigswald Grundprinzip, aber es ist nur ein Prinzip und gewiß nicht das einzige. Was die Lebensphilosophie zur Lebensphilosophie macht, ist dies, daß dem Leben (was immer auch darunter verstanden werden mag) eine ganz bestimmte, nämlich: eine universale Grundbedeutung zuerkannt wird. Die Beschäftigung mit dem Problembezirk des Lebendigen macht einen Philosophen noch nidit zum Lebensphilosophen. Für den Grundtheoretiker des zwanzigsten Jahrhunderts ist es nicht ungewöhnlich — allerdings audi nicht selbstverständlich — wenn er den Fragebereich des Lebens betritt. Die Naturphilosophie und die Philosophie der Naturwissenschaften fragen auch nach dem Bestände und nach der (wissenschaftlichen) Erschließbarkeit des Lebendigen 1 , so wie sie nach dem Bestände der unbelebten Natur und nach der Erforschbarkeit des Anorganischen fragen. Leben und Lebenserkenntnis haben hier, in Naturphilosophie und Epistemologie, ihren wohlbestimmten Platz — aber auch ihre vergleichsweise eng umgrenzte Region. Leben und Lebenserkenntnis bleiben hier aus guten Gründen Teilaspekte. Es wird dort gar nidit gefragt, ob das Leben ein Grundprinzip sei, wo von den Einblicken in die Struktur und in die Funktion des Lebendigen (und von der Analyse der Lebenserkenntnis) kein weitergehender Gebrauch gemacht wird, das heißt: kein solcher, 1

3

H ö n i g s w a l d s Forschungsberidit über Naturphilosophie (Jahrbücher d. Philos. i , 1913, 60—98, 3 6 6 — 3 6 9 ) bezieht sich — v o n der G r e n z p r o b l e m a t i k abgesehen — nur auf das Gebiet des Anorganischen; die Philosophie des Organischen behandelt Julius Schultz im gleichen B a n d e in einem eigenen A r t i k e l ( 1 6 7 — 1 9 9 , 3 7 1 — 3 7 3 ) . T h e o d o r Ziehen gibt in seinem Naturphilosophie-Beridit über die Literatur v o n 1 9 1 J — 1 9 2 5 ( a . a . O . 3, 1927, 1 8 6 — 2 1 6 , 3 4 2 — 3 5 2 ) der Naturphilosophie des Organischen einen k u r z e n Abschnitt. — M o r i t z Schlick berücksichtigt das Organische eingehend in seinem A r t i k e l Naturphilosophie (Dessoir-Lehrbuch 1925, 3 9 3 — 4 9 2 ) , ebenso M a x H a r t m a n n ( D i e philos. Grundlagen der Naturwissenschaften, 1948 und Philosophie der Naturwissenschaften, in: 25 Jahre Kaiser Wilhelm-Gesellschaft, B d . I I : Die Naturwissenschaften, 1936, S. 1 — 3 5 . — D o r t auch H i n w e i s e auf H ö nigswalds Forschungsbericht). E d u a r d M a y ( K l e i n e r Grundriß der Naturphilosophie, 1949) und N i c o l a i H a r t m a n n (Philosophie der Natur, 1 9 j o ; entsprechend: Philos. Grundfragen der Biologie, 1912 — w i e d e r a b g e d r u c k t : Kleinere Schriften, I I I , 1958).

Wolandt, Idealismus

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Hönigwalds Theorie des Organischen

der über die Region des Lebendigen hinausreicht. Philosophie des Lebens als Teil der Naturphilosophie (und Wissenschaftslehre der Biologie als Teil der Epistemologie) ist Regionaltheorie. Lebensphilosophie aber ist Fundamentaltheorie, Grundlehre. Es gibt zwei Typen der Grundlehre, die einem weiterreichenden (universalen, fundamentalen) Gebrauch von Lebensbegriffen zuneigen. Beide erblicken in Momenten des Lebens Grundfaktoren. Nur die eine Form der Grundlehre pflegen wir Lebensphilosophie zu nennen. Der andere Typus ist der des Biologismus. Dabei hat der Terminus Biologismus — ähnlich wie der des Psychologismus — zumeist einen disqualifizierenden Nebensinn, dergestalt daß man analog zum Psycho-

logismus unter Biologismus „Biologie am Unrechten Ort" versteht2, also

eine Grenzüberschreitung biologischer Verfahrensweisen oder biologisch bestimmter Sachverhaltsformen. Die Lebensphilosophie hingegen erfreut (oder erfreute) sich in der Regel eines höheren Ansehens. Ihre Wirksamkeit bis auf den Tag ist nicht zu leugnen3. Die Typisierungen, die den Begriffen der Lebensphilosophie und des Biologismus entsprechen, sind natürlich, wie die meisten ihrer Art, selbst problematisch4. Sie sind jedoch tauglich, die Hauptzüge bestimmter Denkrichtungen kenntlich zu machen. Wenn ich das Grundsätzliche in den sonst sehr verschiedenartigen Lehren herauszuheben versuche, so muß ich wohl vor allem dieses zur Sprache bringen: Ein Biologismus, der seinen Namen verdient, stützt sich auf das Lebendige, wie es der eigentlichen Lebenswissenschaft, der Biologie, vor Augen steht. Für den Biologismus sind Momente wichtig, die Struktur, Situation und Genese des Organismus kennzeichnen, wie zum Beispiel: Anpassung, Artwandel, Umweltbezug, Reife- und Verfallsprozesse und dergleichen. Die Lebensphilosophie, so weit sie sich selber so nennt — oder dodi so genannt werden darf, bezieht sich auf das Lebendige in einem anderen Sinne. Sie meint vor allem ein nicht- und überorganisches Leben: das Werden in einem Gegensatz zu „starrem" Sein; das geschichtliche „Leben" des Geistes, der in der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit Subjekt und Objekt der Erkenntnis zugleich ist; schließlich a

a

4

Hönigswald widmet dem Problem des Psydiologismus die dritte Abhandlung seiner Grundlagen der Denkpsychologie (2. umgearbeitete Auflage 1925, Neudruck 1965), dort auch die genannte Bestimmung. Einen ausgezeichneten Oberblick bietet: Otto Friedrich Bollnow, Die Lebensphilosophie, 1958; von verwandten Gesichtspunkten ist Bollnows Dilthey bestimmt (Eine Einführung in seine Philosophie. 2. Aufl. 1955. — Den Begriff einer Philosophie des Lebens klärt mit Bezug auf seine systematischen Voraussetzungen: R. Zodier, Philosophie, 1955, S. 52 ff. (vgl. auch oben S. 15 f.). In der Geschichte der Erkenntnistheorie (1933, Neudruck 1966) sucht Hönigswald „philosophiegeschichtliche Schlagworte wie .Rationalismus', .Empirismus' u. ä." möglichst zu vermeiden (VI). Vgl. meine Rezension: Philosophischer Literatur-Anzeiger 22 (1969) 1 4 8 — 1 5 1 .

Lebensphilosophie und Biologismus

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bezieht sich diese Form einer Grundlehre des Lebendigen auch auf Momente, die die innere Struktur des Geist-Lebens ausmachen: die besondere Zeitlichkeit des Geistes und die eigentümliche Unvergleichlichkeit der geschichtlichen Einzelerscheinung, die, wie man bisweilen meint, der Unbeweglichkeit und der Allgemeinheit des Begriffs trotzt. In einer großen Zahl von Philosophemen finden wir Lehrstücke von der einen (biologistischen) oder der anderen (lebensphilosophischen) Art. In manchen Lehren sind auch die Momente der einen mit solchen der anderen Art verknüpft, so daß wir dort beispielsweise im Prozeß des geschichtlich-geistigen Lebens Strukturen antreffen, die dem Lebenswelt-Bezug des Organischen entsprechen. Der ersten Grundrichtung könnten wohl Theoretiker wie Lorenz und Gehlen, der zweiten vor allem Dilthey, Bergson, Simmel und Klages (mit freilich sehr verschiedenen Lehrstücken und Problemschwerpunkten), der dritten in erster Linie Rothacker zugezählt werden. Alle diese Formen einer Philosophie des Lebendigen können sich auf Momente stützen, die einer Größe gehören: der konkreten Subjektivität. Ob organisch oder geschichtlich — stets geht es um die Verfassung und um das Schicksal des humanen Lebens. Ein anthropologischer Grundzug ist den Philosophemen des Lebendigen denn auch unschwer nachzuweisen. Bei aller Vielfalt und Verschiedenartigkeit ist aber auch ebenso unschwer allen diesen Lehren eine Gegensätzlichkeit anzusehen, die Gegensatzposition nämlich zu Subjektslehren, denen es vor allem um etwas anderes geht als um das Lebendige, das Konkrete und Individuelle, ein Gegensatz zu allen Formen des Wertidealismus, des Transzendentalismus, wo eine reine (nichtfaktische) Subjektivität mit ihren Prinzipien als Grundgröße in Ansatz gebracht wird. Lebensphilosopheme und Biologismen stimmen, kurz gesagt, darin überein, daß sie antikritizistisch orientiert sind. Das folgende muß man sich allerdings vergegenwärtigen: Nicht der Umstand, daß diese Lehren die Erscheinungen des organischen und des geistigen Lebens überhaupt berücksichtigen, macht ihre Eigentümlichkeit aus, sondern dies, daß sie, abweichend von allen Theoremen des kulturphilosophischen Idealismus und Kritizismus, diesen Erscheinungen eine fundamentale Funktion, einen Vorordnungsrang einräumen. Dabei darf freilich nicht übersehen werden, daß zumindest lebensphilosophische Züge sich auch in kritizistischen Lehren nachweisen lassen, beispielsweise in der Philosophie Natorps, die die zeitfreie Geltungssystematik durch so etwas wie eine Dynamik des Schaffens und Werdens zu beleben versucht. Hier hat indessen das Motiv des „Lebendigen" noch eine untergeordnete Bedeutung. Im ganzen bleibt der Gegensatz zwischen Lebens- und Kulturphilosophie audi hier bestehen.

3'

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Hönigwalds Theorie des Organischen

2. Der Organismus in der Mitte der Weltgliederung Wie verhält sich Hönigswalds Theorie des Organischen zu diesen Lehren? Wie verhält sie sich zu den Auffassungen des Biologismus, der Lebensphilosophie und endlich zu denen der Kulturphilosophie, die, wie es Rickerts Buch „Die Philosophie des Lebens" zeigte, die Gegensätzlichkeit der Lebensphilosophie durchaus anerkannte (und deren Grundauffassungen — mit welchem Recht immer — als verfehlt ansah)? Hönigswalds Philosophie des Lebens ist unzweifelhaft eine Theorie des organischen Lebens. Seine Lebens-Theorie beschränkt sich durchaus auf ebendasselbe Lebendige, das auch von den biologisch orientierten (und informierten) Philosophen in Betracht gezogen wird. Mensch, Tier und Pflanze — an erster Stelle freilich der homo sapiens Linne — werden ihm in den entsprechenden Lehrstücken als organische Wesen zum Thema seiner philosophischen Erwägungen. Das schließt indessen nicht aus, daß nicht auch die besonderen Themen der verschiedenen Lebensphilosophien innerhalb der Hönigswaldschen Grundlehre wichtig werden: die Frage nach der Geschichtlichkeit des Geistes, nadi seinem besonderen Uberlieferungsbezug, die Frage nach der spezifischen Zeitlichkeit des Erlebens und damit nach dieser Form des inneren „Lebens" der Subjektivität, endlich auch das Problem der eigentümlichen „Bewegung", die im Vollzugsleben die subjektive Dimension von der anderen Dimension scheidet, in der naturale Prozesse ihren Ort haben5. Auch Recht und Stelle der „Intuition" und des „Irrationalen" — Hauptthemen der Lebensphilosophie — werden von Hönigswald eingehend erwogen®. Dennoch ist der Abstand Hönigswalds sowohl der Lebensphilosophie wie auch dem Biologismus gegenüber groß. Dieser Abstand 5 Wissenschaft und Kunst (Schriften aus dem Nadilaß, Bd. IV), 1961. • Hönigswald hat an vielen Stellen die besondere Dimensionsbestimmtheit des Erlebens erörtert. Besonders charakteristisch ist die folgende Stelle aus der (noch nicht veröffentlichten) Systematik der Philosophie (Ms.-S. 385): „Der Inbegriff dieser Erwägungen . . . läßt sich in der Feststellung zusammenfassen, der Ausdruck ,idi' markiere eine einzigartige Dimensionsbestimmtheit. So bedeutet denn der Ausdruck monds eine terminologisdi verkürzte Formel für die mit der spezifischen Dimensionsbestimmtheit des Erlebens gesetzten Bezüge. Substantialen Deutungen bleibt sie sonadi entrückt. Man mag nun besorgen, daß das Wort .Dimensionsbestimmtheit' der Kontinuität meiner selbst noch nicht ausreichend Rechnung trägt. Man vergißt dabei nur, daß Dimensionsbestimmtheit hier in der schlechthinnigen ,Dichte' der bekannten Reihe des Wissens gipfelt. Das eben bedingt die Immanenz jedes Erlebnismittelpunktes, dessen dauerndes Geschiedensein von jedem anderen. Es drückt also aus, was im Grunde genommen schon die Reflexiv-Beziehung ,ich-mir' enthält, dieselbe, in deren Fassung allein ,idi' vorkomme..". Im Leibniz-Kapitel der Philosophie von der Renaissance bis Kant (1923) setzt Hönigswald die „Dimensionsbestimmtheit, d. i. die Realität des Erlebens" der „Dimension der Natur" entgegen (162). In den Grundlagen der Pädagogik (2. Aufl. 1927, S. 49 f.) gebraucht Hönigswald die Wendungen „Dimensionsbestimmtheit des ,Ich'", „Dimensionalität des Psychischen".

Der Organismus in der Mitte der Weltgliederung

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ist allerdings schwerer zu bestimmen als derjenige, der die (reine, wertund geltungsidealistische) Kulturphilosophie von diesen beiden Formen der Grundlehre trennt. Gerade in dem Punkte, in dem die Kulturphilosophie sich von allen Lebensphilosophien und von allen Biologismen abwendet, ist auch Hönigswald uneins mit der Kulturphilosophie. Der Kulturidealismus der Neukantianer operiert mit einem nichtfaktischen, nichtempirischen, nichtrealen Subjekt, während Hönigswald allein ein konkretes, tatsächliches Subjekt anerkennt. Er hält diese Subjektivität und nur diese Subjektivität für einen Grundsachverhalt. Den Respekt vor dem Individuellen und Konkreten teilt er mit Lebensphilosophie und Biologismus. In einem anderen Moment sieht er sich hinwiederum mit der Kulturphilosophie verbündet: Den Begründungsboden der Kulturphilosophie, den Geltungsgedanken gibt auch Hönigswald nicht auf und nicht preis. Eine „Synthese" von Geltungsidealismus und Lebensphilosophie (oder Biologismus) in der Lehre Hönigswalds zu erblicken wäre gleichwohl verfehlt. Der Weg, den Hönigswalds Philosophie zurücklegt, um die Momente der Faktizität und der Individualität in die Grundlegung aufzunehmen, ist sehr viel weiter. Erst eine Theorie des Unabhängigen — unter Einschluß einer Theorie der Natur — ermöglicht die Verknüpfung von Geltung und Individualität. In anderer Terminologie: der Weg von der Idee zur Geschichtlichkeit führt über das Sein. Der philosophischen Theorie des Organischen hat Hönigswald keine geschlossene Einzeluntersuchung gewidmet. Dennoch ist diese Theorie für ihn ein zentrales Lehrstück. Dabei ist zu bedenken, daß auch für Hönigswald die Welt „viele Mitten" 7 hat: die konkreten Subjekte, die „Erlebnismittelpunkte", die Hönigswald auch mit dem leibnizschen Namen „Monaden" nennt8. Wenn die Monaden indessen auch Weltmitten sind, in der Mitte der Hönigswaldschen Weltgliederung hat der Organismus seinen Platz, in der Mitte nämlich zwischen Natur und Monade. Kein Wunder denn auch, daß Hönigswald in jeder seiner 7

„Du bist und bleibst ein Bursche zum Lachen", entgegnete der Ma'oniter, „und hast eine Art, didi in die Mitte der Dinge zu stellen, daß niemand weiß, ob er sich wundern soll oder ärgern. Meinst du Heda, wir reisen, damit du irgendwohin kommst, wo dein Gott didi haben will?" „Ich denke nicht daran", versetzte Joseph. „Weiß ich doch, daß ihr, meine Herren, auf eigene Hand reist, nach euren Zwecken und wohin euch der Sinn steht, und will gewiß eurer Würde und Selbstherrlichheit nichts anhaben mit meiner Frage. Aber siehe, die Welt hat viele Mitten, eine für jedes Wesen, und um ein jedes liegt sie in eigenem Kreise. Du stehst nur eine halbe Elle von mir, aber ein Weltkreis liegt um didi her, dessen Mitte nicht ich bin, sondern du bist." Thomas Mann, Joseph in Ägypten, Wien 1936, S. 9 f. (Zitat korrigiert).

8

Anders als bei Leibniz hat Hönigswalds Welt auch für Nichtmonadisches Platz. Nur Subjektivitäten sind in der Hönigswaldschen Grundlehre als Monaden bestimmt. In diesem Punkte folgt Wolfgang Cramer Hönigswald und vollzieht die Abgrenzung gegen die Leibnizsdie Monaden-Metaphysik mit Nadidruck. Vgl.: Die Monade, 1954, S. 74 f.

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Hönigwalds Theorie des Organischen

systematischen Hauptschriften (und ebenso in vielen anderen Arbeiten) Bestimmtheit und Funktion des Organischen erörtert. Dieses Thema wird im Laufe seiner Denkarbeit immer wichtiger. Ihm widmet Hönigswald deshalb innerhalb seiner größeren Arbeiten immer ausgedehntere Überlegungsreihen.

j. Wissenschaftstheoretische Fragen Anfangs sind es für Hönigswald vor allem wissenschaftstheoretische Fragen, die ihn angesichts der Thematik des Organischen interessieren. In seiner Antrittsvorlesung Vom allgemeinen System der Wissenschaften9 berührt Hönigswald die Wissenschaften vom Lebendigen nur in einem kurzen Absatz. An dieser Stelle findet sich jedoch auch schon eine Andeutung der später ausgearbeiteten Fragerichtung. Für die beschreibende Naturforsdiung, so führt Hönigswald hier aus, spiegele sich der Kosmos der Erfahrung in einem System von Begriffen. „Die Grundlagen des Systems mag immerhin Gesetzeswissenschaft liefern — und es wird dies vor allen Dingen bei den in strengem Sinne ,natürlichen' Systemen der Fall sein — seiner Aufstellung allein schon liegt ein durchaus eigenartiges und selbständiges Bedürfnis zu Grunde" (142). Diesem Eigenartigen und Selbständigen forscht Hönigswald in der Folgezeit auf vielfältige Weise nach.

4. Aristoteles und Aristotelismus Eine bemerkenswerte Vertiefung des wissenschaftstheoretischen Aspekts enthält das Aristoteles-Kapitel der Philosophie des Altertums10: „In der Tat kann es kein biologisches System . . . geben, für das Vergleichung von Einzelobjekten, ungeachtet ihrer individuellen Eigenart, als Grund und Quelle der Begriffsentwicklung bedeutungslos wäre; ja, das nicht dem Gedanken eines Gemeinsamen im Mannigfaltigen eine geradezu zentrale methodologische Stellung einräumte. Biologischer Begriff und biologische Definition können schlechterdings des aristotelischen Grundtypus der Begriffsbildung nicht entraten" (359). Wie in seinem Rickert-Aufsatz von 1912 11 tritt Hönigswald hier für „das relative Recht einer abstraktiven und klassifikatorischen Logik" (360) ein. Für Hönigswald stellt sich hier eine Grundfrage der Erkenntnistheorie. Wo die Erkenntnis mit dem vereinzelten Objekt zu rechnen hat, dort 9 10 11

Philos. Wochenschrift und Literatur-Zeitung 4 (1906) 133—14$. 19171 unveränderte Zweitauflage 1924. 2ur Wissenschaftstheorie und -systematik. Mit besonderer Rücksicht auf Heinrieb Rickerts „Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft", Kantstudien 17 (1912) 28—84.

Aristoteles und Aristotelismus

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hat der aristotelische Erkenntnisbegriff seine legitime Stelle: „ W o . . . Naturwissenschaft der Struktur bestimmter methodischer Aufgaben gemäß schärfste Beachtung und systematische Registrierung von Einzelheiten fordert, da erneuert sich bewußt oder unbewußt der Geist des Aristotelismus... Nur in sehr bedingtem Sinn darf daher die aristotelische Wissenschaftslehre in der Biologie, oder doch für gewisse Zweige der Biologie, als überwunden gelten; — nicht weil diese Zweige methodologisch rückständiger, sondern weil sie anderen gegenüber von eigenartiger Struktur sind und eigentümliche Aufgaben zu bewältigen haben" (365). Hönigswald ergreift hier die Partei der traditionellen Erkenntnis- und Wissenschaftslehre und verteidigt sie gegen den Wissenschaftsbegriff der Marburger, insbesondere gegen denjenigen Cassirers 12 . Die Problemlage ist außerordentlich verwickelt. Hönigswald erkennt sehr wohl an, daß die Marburger Wissenschaftslehre auf dem Felde der exakten Wissenschaften der traditionellen Theorie von Grund aus überlegen ist — obwohl er auch ihr fundamentale Mängel nachsagt. Auf dem Gebiet der Biologie aber muß sie nach seiner Ansicht versagen, weil sie die Eigenbedeutung des Einzelobjekts untergehen läßt. Hier — aber freilich, so weit es die Naturwissenschaften betrifft, nur in dieser Sphäre — behält die traditionelle Klassenlogik, behält der aristotelische Erkenntnisbegriff ein bestimmtes Recht, so lange eben die Grenzen des Gebiets nicht überschritten werden. Hönigswald erblickt, so führt er in seinem Artistoteles-Kapitel aus, in der biologischen Erkenntnis ein spezifisches Erfahrungsmoment: „,Erfahrungsmäßig' am Gegenstande i s t . . . das im logischen Sinn des Wortes nicht zu seiner Form Gehörige, durch den Begriff seiner logischen Form also nicht restlos Mitdefinierte. Hält man nun diesen Gesichtspunkt fest, so wird klar, daß das Maß erfahrungsmäßiger Bestimmtheit in der Biologie weit größer ist als in jeder anderen Wissenschaft von Gegenständen der äußeren Natur. Biologisch urteilen heißt demnach so viel wie empirisch urteilen. Wo nun aber das biologische Urteil, gleichviel aus welchen Gründen, als Maßstab und Vorbild jeglichen Urteils; wo der Gewißheitswert biologischer Urteile als Norm für Struktur und Gewißheitswert von Urteilen überhaupt betrachtet wird, da ist bereits der Schritt von der Anerkennung des methodischen Eigenwertes der Empirie zu einem erkenntnistheoretischen Empirismus vollzogen, da hat die ,Tatsache' prinzipiell aufgehört Problem zu sein, da wird sie vermeintlicher Rechtsgrund und ,Apriori' für den Begriff aller Erkenntnis selbst" (363 f.). Das Problem "

Hönigswald nahm zu Cassirers Substanzbegriff und Funktionsbegriff zweimal ausführlich Stellung: Wissenscbaftstheorie und -systematik, Kant-Studien 1 7 ( 1 9 1 2 ) 2 8 — 8 4 , Abschnitt I I (39 ff.) und: S.u. F., Kritische Betrachtungen zu E. Cassirers gleichnamigem Werk, Deutsche Literaturzeitung 3 3 ( 1 9 1 2 ) 2 8 2 1 — 2 8 4 3 , 2 8 8 5 — 2 9 0 2 — hierzu: Cassirer, Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik, Jahrbücher der Philosophie 1 ( 1 9 1 3 ) 1 — 5 9 , bes. 18 ff.

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Hönigwalds Theorie des Organischen

des empirischen Moments in der Erkenntnis beschäftigt Hönigswald von seinen frühesten Schriften an. Es wird für ihn im Verlauf seiner Gedankenentwicklung in doppelter Rücksicht wichtig: Das Gefüge der Erkenntnisaspekte, das System der Wissenschaften mithin, klärt sich an dem jeweiligen Verhältnis zu diesem Moment. Für Hönigswald betrifft das in erster Linie die Bestimmung und Abgrenzung der methodologischen Grundlagen der Mathematik, der exakten Naturwissenschaft, der Biologie, der Psychologie, der Historie und der „kasuistischen Wissenschaften" (zu denen er die Medizin zählt). Die andere Rücksicht bezieht sich auf die zu erforschenden Objekte. Die Bedeutung des Einzeldings in der Erfahrungserkenntnis ist ein Problem, dem Hönigswald immer wieder und nicht selten unter Bezugnahme auf die Lehren des Aristoteles nachfragt. Dabei rücken Gesichtspunkte ins Licht, die auf dem Boden der Aristotelischen Theorie nicht mehr zulänglich gewürdigt werden können. Für Hönigswald handelt es sich um die Momente des Individuellen, des Besonderen und in umfassendem Sinne um den Begriff der Tatsache, von dem auch an der eben angeführten Stelle aus der Philosophie des Altertums die Rede war. Gerade hier zeigt sich die entscheidende Entwicklung Hönigswalds. So schreibt er in seinem Romantik-Aufsatz13: „Aristoteles war darauf aus, eine Lehre von der Erkenntnis des Individuellen zu begründen. In Wahrheit aber umriß er eine Erkenntnis des Besonderen, oder, was dasselbe bedeutet, eine Logik des Allgemeinen. Denn nur an dem Allgemeinen bestimmt und entfaltet sich schließlich das Besondere..." Hönigswald stellt auch hier fest, „daß sich die aristotelische Begriffsbildung in ihren Grundzügen nach den methodischen Bedürfnissen der klassifizierenden Biologie richtet". Das bedeute aber nicht, „Aristoteles habe die Biologie der Philosophie dogmatisch übergeordnet, er habe Biologie auf Philosophie .angewandt', sondern es will nur sagen, er habe Piatos Lehre von der I d e e . . . an der Frage zu messen verstanden, wie sie wohl methodischen Ansprüchen der biologischen Begriffsbildung genügen möchte. . . . " Doch das ist es nidit allein. Auf so etwas wie eine dogmatische Oberordnung läuft es denn doch hinaus, wenn Hönigswald meint, Aristoteles neige dazu, „die gesamte Erkenntnis- und Geltungsfunktion der Idee durch deren Bezug auf den methodologischen Typus und das logische Gefüge des biologischen Begriffs für erschöpft zu halten, die theoretische Funktion der Idee in dem isoliert gedachten Sinn der biologischen Begriffsbildung aufgehen zu lassen. Die Idee gipfelt ihm eben, dem methodologischen Typus der Biologie entsprechend, in der Funktion eines schlechthin Allgemeinen, d. h. in dem Begriff eines Faktors, dessen Bestimmtheit darin beschlossen erscheint, daß sich ihm Einzelnes unterordnet. Zwar übersieht Aristoteles keinen Augenblick das methodische Recht auch des 13

Vom philosophischen

Problem der Romantik,

Euphorion 30 (1929) 4 3 3 — 4 4 J .

Aristoteles und Aristotelismus

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,Individuellen' . . . In der theoretischen Durchführung des Gedankens aber erfüllt sich Aristoteles der Begriff der Essenz immer wieder mit dem Bedeutungsgehalt der ,Klasse'. Die Essenz wird ihm zum Allgemeinen und damit das Individuelle, dessen individuelles Gesetz sie sein will, zum Besonderen. Darum weichen denn auch in dem aristotelischen System der Logik die ursprünglichen, auf die Idee des Individuums gerichteten Ansätze immer wieder Motiven, die dem Sinn dieser Idee widerstreiten, oder zum mindesten fremd sind. . . . Die Spannung zwischen Besonderem und Individuellem, zwischen Individuellem und Allgemeinem besteht weiter, die Begriffe selbst bleiben, solange es nicht gelingt, jene Spannung zu beseitigen, in der Tiefe ihres Gefüges unergründet" (435 f.). Der biologische Grundzug bestimmt nach Meinung Hönigswalds die ganze Tradition des Aristotelismus. In einer vergleichsweise frühen Arbeit bereits, in seinem Giordano-Bruno-Beitrag von 1 9 1 1 nämlich14, wird das deutlich: „Vor allen Dingen beherrscht die aristotelische A u f fassung des Ursachenbegriffs das naturwissenschaftliche Denken Brunos. Wenn die Norm der Klasse . . . für den Aristotelismus die Ursache des realen Seins aller individuellen Gestaltungen bildet, die unter die Klasse subsumiert werden können, dann fallen die Begriffe der Verursachung und des Strebens der Einzeldinge nadi Erfüllung der Forderungen ihrer Klasse zusammen: Kausalität erscheint teleologisch, d.h. mittelst des Begriffs der Zielstrebigkeit und des Zwecks definiert. Damit aber war die für die Erkenntnislehre des Aristotelismus bezeichnende Grundlage gewonnen: alle Naturforschung erschien, ihren Prinzipien nach betrachtet, im Sinne derjenigen naturwissenschaftlichen Sonderdisziplin bestimmt, die für Aristoteles selbst im Mittelpunkt seines wissenschaftlichen Interessenkreises gestanden hatte: der Biologie. Das .Hineinwachsen' der Materie in eine gattungsmäßig bestimmte Form, wie es in sinnenfälliger Weise im Organismus vor sich geht, eine Form, welche den zu bildenden ,Stoff' als reale Ursache zu beherrschen scheint, ist von nun an nicht nur der symbolische, sondern der wirkliche Repräsentant alles natürlichen Geschehens. In ihrer Funktion, zugleich Ziel und Ursache aller individuellen Existenz zu sein, wird die ,Form' selbst ,substanziale' Realität, und in einem System von Formen, in welchem jedes Glied für jedes höhere selbst wieder .Materie' wird, gestaltet sich die gesamte Natur. So erscheint diese dem Aristotelismus in ihrer Gesetzlichkeit als ein teleologisch und deshalb zugleich real bestimmtes System von .Formen', in welchem sich das Sein, stufenweise von Form zu Form getrieben, zur einheitlichen Gesamtheit des Weltorganismus gliedert" (325 f.). In seinen verschiedenen Bruno14

Giordano Bruno. In: Große Denker, hrsg. v. E. v. Aster, 1. Bd., 1 9 1 1 , 31 j—346; 2. Aufl. 1923, 343—376 (span. Madrid 1941).

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Hönigwalds Theorie des Organischen

Würdigungen kommt Hönigswald immer wieder auf die biologischen Züge des Aristotelismus zurück. In der Philosophie von der Renaissance bis Kant (1923) schreibt er: „Bruno steckt, trotz seines heftigen, ja dogmatischen Kampfes gegen die Aristoteliker, ganz in den Kategorien ihrer Schule. Kausalität vermengt sich ihm mit Zweckbestimmtheit. Der biologische Begriff wird ihm Muster und Vorbild aller wissenschaftlichen Begriffsbildung überhaupt" (34 f.). In der Geschichte der Erkenntnistheorie (1933, '1966) ist es nicht anders: „Erkennen bedeutet ihm im scholastisch-aristotelischen Sinn Klassifizieren. Daß er selbst den Aristoteles ablehnt, ändert daran nichts. Der Geist der Analysis ist ihm fremd, in der Mathematik erblickt er keine Gewähr und kein Instrument der Forschung. . . . hinter allem dem steht eine Erkenntnislehre, die von Analysis und Logik der inventio nichts weiß und nichts wissen will. Die Phänomene bleiben, trotz der alles umfassenden Einheit des Weltorganismus, in ihrem letzten Grunde isoliert, .individuelle Substanzen', durch metaphysische Machtsprüche, nicht durch analytische Einsicht in die Bedingungszusammenhänge miteinander verknüpft" (88 f.). Die Orientierung des Aristotelismus an der Biologie ist für Hönigswald Stärke und Schwäche zugleich. In einem Bereich wenigstens erscheint ihm der Einsatz der klassifizierenden Logik legitim, im Bereich der Theorie des Lebendigen. Hier hat die Erkenntnis mit solchem zu rechnen, das von Natur aus vereinzelt ist, mit den Organismen eben. Dabei ist ersichtlich, daß Hönigswald stärker am Aristotelismus als an Aristoteles selbst interessiert ist, wenn er diesem freilich auch eigene Untersuchungsreihen widmet. Das mag damit zusammenhängen, daß Hönigswald die Philosophiegeschichte sozusagen von Galilei aus buchstabiert. Galilei ist für Hönigswald gewiß nicht der Anfang der Philosophie, er ist aber ganz gewiß für ihn der Beginn der Erfahrungswissenschaft im gegründeten Verstände. (Und da nach seiner Überzeugung die Philosophie sich auszuschließen hat aus dem Bereich der Erfahrungswissenschaften, könnte man hier fast auch den eigentlichen Ausgang einer „wissenschaftlichen Philosophie" im Hönigswaldschen Sinne ansetzen, wenn man die Philosophie allein unter diesem Selbstausschließungsaspekt würdigen wollte — was auch Hönigswald nicht tut.) Die Schwäche des Aristotelismus wird eben hier deutlich. Die vorgalileische Biologie (wie weit sie im einzelnen und im besonderen auch immer gekommen sein mag) muß einen Grundmangel aufweisen: Das Substrat der Vereinzelung der Organismen mußte unbestimmt bleiben. Eine Bestimmung des belebten Naturobjekts macht es erforderlich, daß nicht nur sein Verhältnis zu unbelebten Objekten miterwogen werde, die unbelebte, besser: die ohne Rücksicht auf Lebendiges in sich bestimmte Natur (und ihre kategorialen Strukturen) ist die Voraussetzung für jede Lokalisation der Organismen und die Prozeßstruktur des Un-

Grenzen des Aristotelismus

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belebten, die Kausalität, ist die Basis für alle Lebens- und Entwicklungsprozesse. j. Grenzen des Aristotelismus In der physikalistisch orientierten Logik der Marburger sieht Hönigswald nun aber wiederum den Gesichtspunkt legitimer Klassifikation vernachlässigt und er stützt seine Ergänzungswünsche geradezu auf den Aristotelismus. Im Laufe der Zeit drängt sich Hönigswald allerdings die Uberzeugung auf, daß der Aristotelismus, da er dem Abstraktionsgedanken verhaftet bleibt, im Grunde nicht einmal die logischen Bedürfnisse der biologischen (und klassifizierenden) Begriffsbildung voll zu befriedigen vermag. Das hängt damit zusammen, daß Hönigswald nun in der wissenschaftlichen Klassifikation einen Sonderfall der Analysis erblickt. Immerhin, der Sondercharakter der Klassifikation bleibt erhalten, die relative Geschiedenheit der Momente der Klasse und der zur Klasse gehörigen Exemplare und, was dem erkenntnistheoretisch entspricht, die Vorgegebenheit der Exemplare vor den Bestimmungsstücken einer überzuordnenden Art verbieten eine Elimination der Differenz. Hönigswald begnügt sich mit Bezug auf diese Mängel der aristotelischen Wissenschaftslehre auf Andeutungen. Feststeht für ihn aber immerhin, daß audi in der Dimension der Klassifikation mit der Abstraktionslogik nicht durchzukommen ist. Wenn man die Gesamtentwicklung der Lehre Hönigswalds ins Auge faßt, so zeigt sich freilich audi hier, daß im Laufe der Zeit für Hönigswald die Fragen der Monadologie und der Gegenstandstheorie wichtiger werden als die der Wissenschaftstheorie. Im Vordergrund steht nun nicht mehr das Problem, wie Lebendig-Vereinzeltes erkannt werden kann, sondern das, was die Vereinzelung des Lebendigen begründet. Dabei erarbeitet Hönigswald schließlich auch wichtige Voraussetzungen, um zwischen „natürlicher" und „künstlicher" Vereinzelung zu unterscheiden. Anders gesprochen, er legt die Bedingungen frei für eine ursprüngliche Unterscheidung der Besonderung der „Dinge" und der Organismen. Durchgeführt hat Hönigswald diese Lehre allerdings selbst nicht mehr. Die Auseinandersetzung Hönigswalds mit dem antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Aristotelismus wäre sonst um weitere Bezüge bereichert worden. Gerade an dieser Stelle wird deutlich, wie stark Hönigswalds Betrachtung philosophiegeschichtlicher Zusammenhänge von aktuell-systematischen Motiven belebt wird. Nach Hönigswalds Auffassung nahm die ältere Erkenntnislehre (man dürfte sie im Sinne Hönigswalds auch „vorgalileische" nennen) die Vereinzelung der Objekte (Dinge) als einen entweder problemlosen oder als einen „von Natur aus" gegebenen Sachverhalt hin. „Von Natur aus" und „vereinzelt" wird indessen der

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Hönigwalds Theorie des Organischen

neuzeitlichen Theorie zum Gegensatz. Die moderne Wissenschaft bestimmt die Natur geradezu als den Horizont des Unvereinzelten. Vereinzeltheit bedeutet auch In-sich-Bestimmtheit, Geschlossenheit — in Hönigswaldscher Bestimmung: „Ganzheit". In der Vereinzeltheit ist ein Objekt zugleich Bezugsgröße für Anderes, das sich einfügen, beziehen, formen läßt. Das System der Formen aber wird von der neuzeitlichen Naturwissenschaft mit Erfolg aus der Natur ausgetrieben. Die Natur wird nun erstmals als durchgängiger Kontext, als Inbegriff, als Gefüge von Dimensionen begriffen, als eine Gegenständlichkeit, in der von jeder Stelle aus jede andere muß erreicht werden können — mit den Mitteln der Erkenntnis, mit den Mitteln angewandter Mathematik, mit den Mitteln der Messung. Doch nicht nur die Formen sind aus der Natur ausgetrieben, auch die Geister sind es. Die Natur ruht in sich. Sie begegnet dem erkennenden Geiste als das Objektive, und allein in objektiven, sachbezogenen Bestimmungen lassen sich die Naturobjekte erfassen. Diese Verschränkung von Naturbestimmtheit und Objektivität ist ein Drehpunkt der Hönigswaldschen Grundlehre. Unter den Philosophen der Faktizität nimmt Hönigswald auch darin eine Sonderstellung ein, daß er nicht gegen die ursprüngliche Einstellung der Naturwissenschaft steht. — Die Natur, so wird es in der neuzeitlichen Naturtheorie deutlich, zeigt ihre Objektivität in der Ordnung planetarischer und kosmischer Prozesse. Alles Einzelne ist hier Moment des Ganzen, und das Ganze bleibt beherrscht von unverbrüchlich geltenden Gesetzen15. Das Bild der Dinge ist demgegenüber äußerlich, vordergründig, bloß „subjektiv". Die Faßlichkeit, die Greifbarkeit, die Sichtbarkeit der Dinge ist sekundär, sie betrifft unsere Auffassungsweise, nicht die Bestimmtheit der Objekte selbst. Anders gesprochen: ein subjektives Moment erst ermöglicht die Vereinzelung. Übrigens ist die Hinsicht der „Gegebenheit" damit für Hönigswald keineswegs völlig in den Bereich des Sekundären verwiesen. Gegebenheit, bei Hönigswald audi: der Ich-Bezug der Objekte, ist durchaus ein notwendiges Moment gegenständlicher Bestimmtheit. Auch das Naturobjekt, wie es der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung korrespondiert, muß gegeben sein, nur erscheint es dann eben nicht als „Ding". Man kann das auch so ausdrücken: in der Weise des naturwissenschaftlichen Auffassens sieht das Auffassen von seinem Auffassen selbst ab.

15

Vgl. vor allem die Galilei- und Newton-Kapitel in Hönigswalds Philosophie von der Renaissance bis Kant (21—29, 2 0 1 — 2 1 0 ) — [Auf Einband und Rüdcen lautete der Titel zuerst Die Philosophie der Renaissance bis Kant].

Die Differenzierung der Objekte

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6. Die Differenzierung der Objekte Wie die entsprechende Problemlage auch immer philosophiegeschichtlich und wissenschaftsgeschichtlich aus den Quellen belegt werden mag, insbesondere auch: wie sie interpretiert werden mag16 (denn Hönigswalds Teil ist in allererster Linie die Interpretation), feststeht, daß Hönigswald in allen diesen Fragen ein Hauptstück seiner eigenen Grundlehre miterwägt. Die spezifische Individualität, die Vereinzelung von Objekten ist nun auch für Hönigswald kein bloß „objektiver" Sachverhalt mehr, d. h. kein Sachverhalt, der aus Objektsmomenten allein bestimmt werden könnte. Allemal muß auf Momente der Subjektivität zurückgegangen werden, wenn einsichtig gemacht werden soll, wie ein Gegenständliches vereinzelt gegliedert zu denken ist. Vereinzelte Objektsbestimmtheit schließt für Hönigswald jedesmal ein subjektives Moment ein, genauer: ein monadisches Moment. Der einseitig mathematisch und physikalisch orientierte Logizismus der Marburger stimmt mit dem Aristotelismus in seinem Objektivismus überein. Der Marburger Logizismus versucht allerdings alle empirisch relevanten Faktoren auf die Struktur des in mathematischer Funktionalität erfaßbaren Gesetzes zurückzuführen, um die subjektsfreie Objektivität der Gegenstände sicherzustellen, während der Aristotelismus dem teleologisch geprägten Einzelgebilde ontische Objektivität einlegt. Für Hönigswald sind beide Objektivismen gleicherweise unannehmbar, genauer: sie werden es, denn zunächst neigt auch Hönigswald in seiner Wissenschaftstheorie noch zu einem „dogmatischen" Objektivismus. Erst im Laufe der Jahre enthüllt sich ihm der subjektstheoretische — wenn man will: „spekulative" — Boden für die Differenzierung der Objekte im Hinblick auf ihre Vereinzelung. Ein Unterschied bleibt allerdings noch zwischen einer bloß subjektiven und einer in gewisser Rücksicht objektiven, natürlichen Vereinzelung von Objekten, einer Vereinzelung, die auch unabhängig von einem Erfaßtwerden ihren Bestand hat. Ihren Grund aufzudecken wird für Hönigswalds Theorie des Organischen mehr und mehr zur Hauptaufgabe. Charakteristisch auch für Hönigswalds Selbstverständnis ist die Tatsache, daß sich ihm die Wende- und Höhepunkte der Philosophiegeschichte zugleich wissenschaflsgeschichtlich darstellen. Die Orientierung der Philosophie an bestimmten Wissenschaften prägt ihre jeweilige Grundstellung. Stark vereinfacht ergeben sich bei Hönigswald die folgenden Zuordnungen: Piaton — Mathematik, Aristoteles (und Aristotelismus) — Biologie, Galilei (und neuzeitliche Philosophie bis auf Kant) — Physik. Das ist natürlich nicht so über alle Maßen originell.

18

Eine verwandte Problemsituation hat Erwin Panofsky in seiner Abhandlung „Idea" mit Bezug auf die neuzeitliche Kunsttheorie ans Licht gerückt (Studien der Bibl. Warburg, Bd. V , 1924, 2. Aufl. i960).

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H ö n i g w a l d s Theorie des Organischen

Eigenartig ist aber immerhin die Entschiedenheit, mit der Hönigswald die Zuordnungen festhält — bedeutend der spekulative Gebrauch, den Hönigswald von den philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Relationen macht. Angesichts der nachkantischen Philosophie ist es schwieriger, eine Formel zu finden, die der Hönigswaldschen Auffassung gerecht würde. Deutlich ist indessen, daß die Geschichte der Philosophie nun in den Bannkreis der empirischen Subjektswissenschaften, der Psychologie und der Historie, gerät. 7. Philosophie und nichtphilosophische Wissenschaften Hönigswald sieht darin, daß sich die Philosophie an den verschiedenen nichtphilosophischen Wissenschaften orientiert, nur in Extremfällen eine Überfremdung. In den genannten Bezügen betrachtet er die Orientierung als das Geltendmachen eines im Grunde (und als Grund) berechtigten Aspekts. Hönigswald hält es ganz gewiß für unerlaubt, daß sich irgendeine der erwähnten Wissenschaften, in welcher Weise auch immer, an die Stelle der Philosophie setzt. Die sonderwissenschaftlichen Aspekte repräsentieren ihm jedoch Aspekte der Grundlehre, der Philosophie selbst. Die Abgrenzung von Philosophie und Sonderwissenschaft scheint auch für Hönigswald nicht in allen Fällen klar zu sein. Im Grunde ist es ja die Frage, was Mathematik, Biologie, Physik, Psychologie, Historie „innerhalb" der Philosophie bedeuten dürfen und was außerhalb. Vergleichsweise unklar, so meine ich, bleibt bei Hönigswald der Prozeß der in der Geschichte fortschreitenden Selbstbestimmung der Philosophie. Die Verwickeltheit der historischen Problemlinien ist ja wohl darauf zurückzuführen, daß die Philosophie nicht nur Momente der jeweiligen Sonderwissenschaften in sich aufnahm, sondern daß sie darüber hinaus auch deren Geschäfte mitbesorgte. Der progressiven Emanzipation der Wissenschaften korrespondiert die progressive Reduktion (und Präzisierung) der philosophischen Thematik. Die Gesdiichte der Philosophie und die Geschichte der Wissenschaften können deshalb auch nicht als zwei geschiedene — und einander nur hier und dort beeinflussende — Prozesse verstanden werden. Überspitzt formuliert: die Geschichte der Philosophie ist in bestimmten Phasen Geschichte der Wissenschaften, und die Geschichte der Wissenschaften ist in vergleichbarem Verhältnis Philosophiegeschichte.

8. Der biologische Aspekt des Aristotelismus Es handelt sich also keineswegs nur darum, daß die Philosophie in dieser oder jener Epoche fremden Göttern und Mustern unterworfen

D e r biologische A s p e k t des Aristotelismus

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wäre („Physikalismus", „Psychologismus", „Historismus"), sondern um Momente, die in der Grundlehre gar nicht entbehrt werden können. Philosophie ist eben auch Theorie des Lebens, der Natur, der Einzelsubjektivität, der Geschichtlichkeit. Die Frage ist nur, wie es ihr gelingen mag, eben diese Theorie ihren eigenen Normen gemäß zu gestalten. Hönigswalds Urteil über die genannten philosophiegeschichtlichen Sachverhalte schwankt zuweilen. Einmal nimmt er beispielsweise Aristoteles vor dem Vorwurf in Schutz, dieser habe „die Biologie der Philosophie dogmatisch übergeordnet" 17 , dann wieder sagt er wenigstens dem Aristotelismus nach, er habe sich mit der „Dogmatisierung des biologischen Typus der Begriffsbildung... den Weg zur Theorie der exakten Wissenschaft verbaut" 18 . Offenbar nimmt Hönigswald, mit einem gewissen Recht, eine zunehmende Dogmatisierung des biologischen Gesichtspunkts in der Entwicklung des Aristotelismus an. Aber, so wie er es darstellt, kann es in diesem Punkte am Ende nicht viel anders gewesen sein als am Anfang. In seinem Buch Denker der italienischen Renaissance (1938) sieht Hönigswald Giordano Bruno im gleichen Lichte: „,Weltorganismus'... ist . . . ein Lieblingsmotiv unseres vom Neuplatonismus so mächtig angeregten Denkers. Von ihm her nähert sich dieser, ganz und gar gegen seine bewußte Absicht, der aristotelischen Uberlieferung. . . . Mit vollen Segeln steuert nun Bruno, der Verächter der aristotelischen Überlieferung, selber im Fahrwasser des peripatetischen Denkens. Der Begriff der Naturgesetzlichkeit hat sich ihm verschoben; die Deutung droht aufs neue die Erkenntnis zu verdrängen... Die Aussagen über die Grundformen der astronomischen Bewegung richten sich nach Gesichtspunkten, deren Ursprung außerhalb der astronomischen Forschung, im Bereich metaphysischer Spekulation über die Natur des Zusammenhangs der Dinge überhaupt, zu suchen ist" (167, 168). Der biologische Aspekt des Aristotelismus ist auch für Hönigswalds letztes philosophiehistorisches Werk Abstraktion und Analysis" wichtig. Die Überwindung des aristotelisch-scholastischen Biologismus erscheint bei Hönigswald fast als der entscheidende Schritt zur wissenschaftlichen Philosophie hin. Man könnte meinen, die Philosophie gerate in der Neuzeit, dieser Deutung zufolge, nur in einen anderen Herrschaftsbereich und komme sozusagen vom biologischen Regen in die physikalische Traufe. In Wahrheit — das ist wohl Hönigswalds Meinung — kommt die Philosophie, so weit sie als Wissenschaftsgrund17 18

19

Abstraktion und Analysis, 1 5 7 . Näheres zum T e x t weiter unten. Geschichte der Erkenntnistheorie, 1 j . V g l . meine Rezension: Philos. Literaturanz. zz (1969) 1 4 8 — 1 5 1 . Ein Beitrag zur Problemgeschichte des Universalienstreites in der Philosophie des Mittelalters (Schriften aus dem Nachlaß, Bd. I I I ) , 1 9 6 1 . V g l . auch Zur Wissenschaftstheorie und -Systematik, 37.

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legung in Betracht zu ziehen ist, nun erst zu sich selbst. In der alten Naturtheorie — audi dies ein Aspekt, auf den Hönigswald immer wieder zurückkommt — waren Empirie und Spekulation noch ungeschieden. Der alten Naturtheorie korrespondierte eben noch keine Naturer/aÄrung im strengen Sinne. Und dies gilt nicht etwa nur für die Physik, es gilt gerade auch für die dem Aristotelismus doch eigentlich gemäße Disziplin, für die Biologie. Man verstehe midi recht: Hier handelt es sich nicht darum, wie weit im einzelnen die Kenntnis der belebten Natur fortgeschritten gewesen sein mag, es kommt nicht darauf an, wie ausgedehnt das Wissen um Lebendiges im Umkreis peripatetischer Naturbetrachtung gewesen sein mag. Es geht darum, was grundsätzlich möglich war auf dem Grunde aristotelischer Natur- und Lebensbegriffe. Anders sind die Überlegungen Hönigswalds keinesfalls zu verstehen. (Daß sie nach der Seite einer Erforschung des faktischen Naturwissens ihre Ergänzung fordern, ist gar nicht zu bestreiten.) Das, „was darin liegt", ist Hönigswalds Problem, geradeso wie der „erkenntnistheoretische Gehalt" in den alten Schöpfungserzählungen20. Hönigswald sieht die begrifflichen Bedingungen für eine, wie er es nennt, „selbstgenugsame" Naturwissenschaft — und überhaupt für eine eigenständige Erfahrungswissenschaft — erst in der auf Galilei folgenden Epoche erfüllt. So muß er denn schließlich auch urteilen, der Aristotelismus sei außerstande gewesen, der Biologie ihre Grundlage zu geben. Angesidits dieser im ganzen doch wieder negativen Beurteilung des Aristotelismus durch den Kantianer (hinter der man bei oberflächlicher Prüfung einen Rückfall in den Antiaristotelismus der Kritizisten vermuten könnte) muß überraschen, daß Hönigswald ebendemselben Aristotelismus so ausgedehnte Studien gewidmet hat. Die Erklärung ist einfach: Mochte der älteren Naturtheorie auch der eigentliche Schritt zur Erfahrungswissenschaft versagt geblieben sein, die Voraussetzungen, die sie — und das bezieht sich in erster Linie auf Aristoteles selber — für eine Wissenschaft des Lebendigen ergriffen hatte, blieben unverloren. Die biologisch orientierte Naturtheorie hatte im Aristotelismus die Last der physikalischen Probleme — der astronomischen beispielsweise — mitzutragen gehabt. Die Emanzipation der neuzeitlichen, kausalanalytisch verfahrenden Physik machte sie erst frei im Bereich ihrer Zuständigkeit. Die Philosophie aber hatte nun erstmals einen Korrespondenten, der sie für ihre eigene Problemdimension freigab: die Erfahrungswissenschaft. Hönigswalds Rückbezug auf die historischen Voraussetzungen der entsprechenden Wissenschafts- und Erkenntnisgliederung bringen zugleich die spekulative Struktur dieser Gliederung vor den Blick. Ganz Entsprechendes unternahm er, als er vor die Theorie selbst 20

Vom erkenntnistheoretiscben dem N a d i l a ß , Bd. I), 1957.

Gehalt

alter

Schöpfungserzählungen

(Schriften aus

D e r biologische A s p e k t des Aristotelismus

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zurückzugehen versuchte in die Bereiche vorwissenschaftlicher Weltdeutung und vor die griechische Kosmologie zurückging in die Sphäre der früh-vorderasiatischen Kosmogonien. Die sehr verschiedene Bewertung der neuzeitlichen Physik einerseits und der Biologie des Aristotelismus andererseits hat hier ihre Basis. Diese Physik, so viel noch vor ihr liegen mochte, war Erfahrungswissenschaft, die alte Biologie konnte es noch nicht sein. Der alte aristotelische Biologismus hatte noch kein Korrektiv. Da es keinen konkurrierenden Naturbegriff gab, war sein Universalismus unvermeidlich. Ein Universalismus der Physik, wie er fußend auf der eindrucksvollen Rationalität der physikalischen Forschung tatsächlich in der Geschichte immer wieder einmal auftreten modite, war leichter zu korrigieren. Weil die Physik ihr sicher umgrenztes Erfahrungsgebiet besaß, mußte jeder Universalismus offenkundig von den Mitteln der Übertragung und der Grenzüberschreitung Gebrauch machen. Eine Übertragung physikalischer Begriffe auf Psychologie, Historie — oder auch auf die Philosophie selbst — mußte an den Kriterien physikalischer Begriffsbildung selbst zuschanden werden — und wurde es auch. Die alte Naturtheorie war demgegenüber in ihrer Dogmatisierung gar nicht zu falsifizieren. Kein Wunder, daß Hönigswald, dem es an vielen Stellen seiner Systemtheorie um die Eigenständigkeit und um die Unabhängigkeit der Sonderwissenschaften und der ihnen korrespondierenden Gegenständlichkeiten ging, diese Thematik auch historisch in hohem Grade fesselte. Der aristotelische Erkenntnis- und Wissenschaftsbegriff bildet ein Hauptproblem in Abstraktion und Analysis. Mit dem Ausblick auf das Universalienproblem kommt Hönigswald auf Überlegungen zurück — und trägt sie teilweise mit den gleichen Wendungen und den gleichen Akzenten vor — die ihn bei der Würdigung peripatetisdier Nachklänge in der neuzeitlidien Philosophie beschäftigten. Aristoteles, so Hönigswald audi hier, habe sich bemüht, „die Idee, diesen Träger und letzten Bestimmungsgrund aller Erkenntnis, den methodischen Ansprüchen und Bedürfnissen der Biologie anzupassen" (15). Hönigswald nimmt diesen Gedanken aus der Einleitung des Buches im Thomas-Kapitel wieder auf. Auch hier macht Hönigswald auf die ungelöste Grundfrage aufmerksam: „Das Problem des Individuums findet denn auch auf dieser Grundlage keine prinzipielle Lösung und wirkt in der Geschichte der Philosophie, nicht zuletzt unter der Hülle mystischer und romantischer Tendenzen, ungemindert fort" (157). Hönigswald erblickt, ebenso wie bei Bruno, in der thomistischen Lehre eine Verschmelzung neuplatonischer und aristotelischer Tendenzen: „Natur und Naturwissenschaft erscheinen nun ganz unter dem Bilde gewisser Konstanten der biologischen Fragestellung. Das Naturgeschehen bestimmt sich nun als das Hineinwachsen einer ,Materie' in eine gattungsmäßig gestaltete Form. Diese h a t . . . substantiale Realität. Natur kennzeichnet sich nun als 4 Wolandt, Idealismus

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Hönigwalds Theorie des Organischen

Stufenfolge realer Klassenformen, worin sich das Sein, von Stufe zu Stufe getrieben, zum Weltorganismus gliedert und entfaltet" (167). Hönigswald macht Schritt um Schritt deutlich, daß der methodologische Aspekt durch einen anderen ergänzt werden muß, nämlich durch den Aspekt der Gegenstandstheorie. Dem entspricht es, daß seine Kritik an der traditionellen Lehre schärfer und differenzierter wird. Das läßt sich am leichtesten belegen, wenn man den Aristoteles-Abschnitt der Geschichte der Erkenntnistheorie (von 1933) mit dem vorhin besprochenen Aristoteles-Kapitel (von 1917) vergleicht. Auch hier würdigt Hönigswald die Grundlegung der biologischen Erkenntnis durch eine „Logik der Klassifikation" 21 : „...Aristoteles ist Plato gegenüber, dem der mathematische Typus der Erkenntnis vorschwebt, der Platoniker der biologischen Begriffsbildung. Das Motiv der Klasse, in ihrer Funktion, das Einzelding zu bestimmen... der passiv gestaltlose aber gestaltungsfähige, nach Gestaltung verlangende Stoff und das aktiv gestaltende Prinzip erscheinen ganz auf den biologischen Gedanken abgestimmt, daß ein wechselnder Stoff in eine zum mindesten relativ konstante Gattungsform eingeht.. ."(24). Gerade darin erblickt Hönigswald aber auch einen Mangel der Lehre: „ . . . an die Stelle des Individuellen schob sich unvermerkt das Besondere. Darum bleibt die aristotelische Erkenntnislehre unbeschadet ihrer immer wieder erneuten Ansätze nach dem Individuellen hin eine Theorie des Allgemeinen.. ."(24). Hatte Hönigswald zuvor in der Hauptsache dies an der traditionellen Lehre beanstandet, daß sie grenzüberschreitend die Verfahrensweise der biologischen Begriffsbildung auf das Gesamtgebiet der Erkenntnis übertrage, so sieht er nun im aristotelischen Erkenntnisbegriff überhaupt eine Bedingung empirischer Erkenntnis unerfüllt. „Das Problem des Individuellen", so urteilt er nun, „findet... auf aristotelischem Boden keine Lösung.. ."(25). „Mit der Dogmatisierung des biologischen Typus der Begriffsbildung... verbaute sich der Aristotelismus allerorten den Weg zur Theorie der exakten Wissenschaft, ohne doch den biologischen Begriff von dem ,okkulten', die Erfahrung günstigsten Falls nur wiederholenden des ,Wesens' befreit zu haben. So galt denn auch der Kampf der zu methodischer Selbständigkeit erwachenden positiven Forschung vor allem denjenigen Elementen in der aristotelischen Philosophie, in denen sich das ,Wesen' und die substantiale Form darstellten: der Autorität des Abstraktionsbegriffs und der einfachen vergleichenden Induktion. In diesem Kampf, der eine Auseinandersetzung der usia mit dem Naturgesetz zeitigen mußte, trat schließlich auch die Biologie gegen Aristoteles auf den Plan" (25 f.). Die „bisher höchste Vollendung" des entsprechenden Stückes der Grundlehre aber sei, so belehrt 11

„Die aristotelische Logik stellt sich . . . als eine Logik der Klassifikation dar." philosophischen Problem der Romantik, 437.

Vom

Kant

uns Hönigswald an dieser erblicken (26).

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Stelle, in der Kritik der Urteilskraft zu

9. Kant Diese Stelle muß man freilich selbst im Lichte der Hönigswaldschen Kant-Auffassung würdigen22. Für Hönigswalds Theorie des Organischen ist das Thema „Hönigswald und Kant" womöglich ebensowichtig wie das andere „Hönigswald und Aristoteles" (oder: „Hönigswald und der Aristotelismus" — denn Hönigswalds Verhältnis zur mittelalterlichen und überhaupt zur scholastischen Philosophie gehört in diesen Problembezirk mit hinein). Es leidet keinen Zweifel, daß Hönigswald in der Philosophie Kants mehr als nur einen der Höhepunkte der „wissenschaftlichen Philosophie" — um seine eigenen Worte zu gebrauchen — erblickt. Das hindert Hönigswald aber nicht daran, auch Kant gegenüber in der unbefangendsten Weise Vorbehalte zu machen. Hönigswald meint, Kant habe die Möglichkeitsbedingungen für eine erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis des Individuellen freigelegt. Doch erschöpft sei damit das Problem des Individuellen noch keineswegs. Hönigswald weist denn auch in dem Kant gewidmeten Abschnitt der Geschichte der Erkenntnistheorie eigens auf die Ergänzungsbedürftigkeit der Kantischen Grundlehre hin: „Wichtiges erscheint jedenfalls noch ungelöst. Noch waren der Begriff der Gegebenheit und des Reizes unbewältigt, die Kluft zwisdien ,Form' und ,Inhalt' der Erkenntnis nicht restlos geschlossen,... das Problem der Psychologie im Hinblick auf seine mannigfaltigen Bezüge zu den Begriffen der Natur und des Individuellen nicht ausdrücklich gestellt..." (158). Ich sagte bereits, daß Hönigswald Kant vor anderen Denkern den Vorzug gibt. Er rühmt Kant nach, daß gerade er den Gedanken der 22

4*

Hierzu außer den entsprechenden Abschnitten in der Geschichte der Erkenntnistheorie besonders: Immanuel Kant, Festrede an Kants 200. Geburtstag, 1924, bes. 24 f. — Die Kenntnis zweier Nachsdiriften einer Hönigswaldschen Kant-Vorlesung verdanke ich Eberhard Zwirner: Kant und der philosophische Kritizismus, Wintersemester 1922/23. Die eine Nachschrift wurde von E. Zwirner, die andere von W. Jedlitzka angefertigt. Die Vorlesung gibt vor allem darüber Aufschluß, wo H ö nigswald die Problemsdiwerpunkte bei Kant erblickte. Von Bedeutung sind auch die zahlreichen Rezensionen Hönigswalds, die Kant-Ausgaben und Schriften über Kant zum Gegenstand haben. Eine in Vorbereitung befindliche Hönigswald-Bibliographie wird die entsprechenden Nachweise enthalten. Wichtige Aufschlüsse geben vor allem die Besprechungen der beiden Kant-Bücher Bruno Bauchs. Über Immanuel Kant (den „großen" Kant) 2. Aufl. 1917, 4 7 J S.: Deutsche Literaturzeitung 39 (1918) 219—228, 2 4 3 — 2 5 1 ; über Immanuel Kant (den „kleinen" Kant — den R. Zocher „bemerkenswert" nennt), Sammlung Göschen N r . 536 [ i . A u f l . ] 1 9 1 1 : Deutsche Literaturzeitung 30 ( 1 9 1 1 ) 1 8 7 7 — 1 8 8 1 ; 2. Aufl. 1 9 1 6 : Kant-Studien 22 (1918) 178—180. Die besondere Würdigung der Kritik der Urteilskraft wird deutlich: D L Z 39 (1918) 2 j i .

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Hönigwalds Theorie des Organischen

philosophischen Systematik vollendet habe: „Als entscheidend . . . für Kants problemgeschichtliche Bedeutung darf betrachtet werden, daß von nun an die philosophischen Sonderdisziplinen nicht mehr nebeneinanderstehen, weil sie nebeneinanderstehende ,Bedürfnisse' befriedigen, sondern weil sie durch eine sich selbst rechtfertigende Fragestellung der kritischen Erkenntnislehre wie durch ein unzerreißbares Band zu einer notwendigen, d.h. nicht nur subjektiven Ansprüchen genügenden systematischen Gemeinschaft verknüpft werden" (158). Doch Kant kann auch für Hönigswald nicht das letzte Wort sein: „Denn keines Menschen Name ist groß genug, um an die Stelle von Problemen zu treten." 23 Indes, Hönigswald hat sich einmal sehr kritisch zu bestimmten Formen des Uber-Kant-hinaus-Gehens geäußert: „Man kennt die Warnung, ,bei Kant stehen zu bleiben'. Aber nicht immer fühlt man auch die Gefahren ihres dogmatisch verstandenen Sinns. Denn es gibt audi einen kritischen Sinn eines ,Stehenbleibens' bei Kant. Er bedeutet... die Besinnung aller philosophischen Forschung auf ihr eigentümliches Wesen, die Richtung auf ihren unverlierbaren und sich nie erschöpfenden methodischen Gehalt." 24

/o.

Leibniz

Hönigswald selbst ging in der Erneuerung der Monadologie vor Kant zurück. Hönigswalds philosophiegeschichtliche Leibniz-Würdigungen sind überaus positiv: in der Philosophie von der Renaissance bis Kant (148—175), in der Geschichte der Erkenntnistheorie (122 bis 130), vor allem auch in der kleinen Studie G.W. Leibniz (1928). Hier sagt er, das Motiv der Monade weise „weit über Kant hinaus" (51 f.). Hönigswald knüpft in den Momenten der eigenen Dimensionalität des Erlebens25 und in denen einer Geschiedenheit der Erlebnismittelpunkte („Fensterlosigkeit") an Leibniz an. Ebenso sucht Hönigswald für den Gedanken, daß die Monade (die Einzelsubjektivität) dem Inbegriff der Gegenstände äquivalent sei, eine Entsprechung bei Leibniz. Hönigswald nennt dies, die „notwendige Beziehung jeglichen Gegenstandes der Erfahrung auf den in der Möglichkeit seines Erlebtwerdens gesetzten Tatbestand des Ich"2". Auch für den Begriff der „Ergänzung" 23 24

25

26

Grundfragen der Erkenntnistheorie, S. V . In der obengenannten Rezension von B. Bauchs „großem" Kant, 251. — Ubereinstimmungen in dieser Hinsicht finden sich bei J. Ebbinghaus, Kantinterpretation und Kantkritik, in: Dt. Vjschr. f. Literaturwiss. u. Geistesgeschichte 2 (1924) 8 0 — i i j (wiederabgedr. in: Gesammelte Aufsätze, 1968, S. 1 — 2 3 . Ebbinghaus spricht dort von der „Bewegung der ,über Kant Hinausgehenden'" (Ges. Aufs. 3). Die Philosophie von der Renaissance bis Kant, 162; Geschichte der Erkenntnistheorie, 128. Die Philosophie von der Renaissance bis Kant, 164.

Leibniz

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glaubt Hönigswald das Gemäße bei Leibniz zu finden: „Gleichwie die Monade das notwendige Complementum des Erkenntnisbegriffs darstellt, einen neuen Bezug, in dem sich der Begriff der Erkenntnis methodisch vollendet; so stellt auch das Leben nicht eine dinghaftreale Potenz dar, die zu den anorganischen Potenzen hinzutritt, sondern einen neuen Bezug, deren Normen gemäß das Anorganische als Substrat des Lebendigen betrachtet wird." 27 — Man wird die Abhängigkeit Hönigswalds von Leibniz allerdings nicht überschätzen dürfen. Die Problemlage, aus der heraus Hönigswald seine Monadologie konzipiert, ist von der Leibnizschen sehr verschieden. Hönigswalds Ausgangslage ist durch ganz bestimmte wissenschaftstheoretische Aufgaben gekennzeichnet, die die Grundlegung der Historie, der Psychologie und der Biologie betreffen. Hönigswald gibt Kants transzendentale Subjektstheorie nicht auf, er sucht sie nur zu erweitern um die Momente der Konkretheit und Vereinzelung. In dieser Rücksicht findet Hönigswald Vorgeprägtes bei Leibniz. Aber die transzendentale Grundfunktion der Subjektivität soll gerade dem konkreten Subjekt, der Monade, eingelegt werden. Bei Hönigswald hat jede der Subjekts-Monaden Korrelat-Funktion dem Inbegriff der Gegenstände gegenüber. Der Einheit des Objekts (der Einheit des Inbegriffs der Gegenstände) muß geradezu die ursprüngliche, d. h. unendliche Vielheit der subjektiven Aspekte korrespondieren. Jede Ich-Monade ist ein Alles-denken-Können. Die Hönigswaldsche Monade steht nicht nur in einem Beziehungsverhältnis zu allen anderen Monaden, sondern auch zu allem Nichtmonadischen. Der Monade korrespondiert ursprünglich Nichtmonadisches. Nichtmonadisches aber bestimmt Hönigswald in Kantischem Sinne als Kontext der Natur. Zugleich ist ihm das Nichtmonadische Unabhängiges. Die Philosophie hat, Hönigswald zufolge, das Nicht-Ich ebenso als Grundmoment zu würdigen wie das Ich, das Nicht-Ich freilich stets in Wechselbestimmtheit zum Ich. Wie das Ich stets gegenstandsgerichtet und gegenstandsbezogen ist — in der Konsequenz der Hönigswaldschen Grundlehre dürfte man auch sagen: „auf Unabhängiges gerichtet und auf Unabhängiges bezogen" — so ist der Gegenstand — und wiederum ebenso: das Unabhängige — stets ichbezogen (wenn auch freilich nicht — oder doch nur unter besonderen Bedingungen — „ich-bestimmt"). Unabhängigkeit in ausgezeichnetem Sinne, Unabhängigkeit, die Subjektsmomente — außer dem des Ichbezugs — ausschließt, eignet der (unbelebten) Natur. Naturphilosophie, Gegenstandstheorie und eine (transzendental fundierte) Seins- und Ansichseinslehre werden dergestalt in ihr Recht eingesetzt. Wenn man bedenkt, daß im klassischen Neukantianismus das Gebiet der Theoretischen Philosophie allein von der Logik (Erkenntnistheorie) verwaltet 27

A.a.O., 165.

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H ö n i g w a l d s Theorie des Organischen

wurde, kann der Wandel nicht mehr geringfügig erscheinen. Hönigswald hat sidi allerdings nur vergleichsweise summarisch mit der Frage von Disziplin-Kompetenzen befaßt. Philosophie als Erkenntnis- und Prinzipienwissenschaft leistete ihm alles in allem. A m liebsten war dem Philosophen wohl die Formel, Philosophie sei „Theorie des Gegenstandes'*28. Die Nähe der Hönigswaldschen Konzeption zu phänomenologischen und ontologischen Lehren ist unverkennbar. Wichtig in diesem Zusammenhang ist vor allem eines, nämlich daß die Monade sich nicht nur durch intermonadische Relationen (bei Hönigswald: Verständigung, Verständigungsgemeinschaft, Uberlieferung) bestimmen läßt, sondern stets auch den Bezug auf die bloße Natur impliziert. Das Verhältnis zur bloßen Natur aber ist durch ein besonderes Naturobjekt vermittelt, durch den Organismus. Die Theorie des Organischen erweist sich deshalb für Hönigswald mehr und mehr als das Bindeglied zwischen Subjektstheorie und Gegenstandstheorie — wenn man die Termini mit Bedacht setzt: zwischen Geltungslehre und Naturphilosophie. Wenn man insgesamt Hönigswalds Beziehungen zu Kant und Leibniz vergleicht, wird man das folgende wohl sagen dürfen: Kant war für Hönigswald in allen Phasen der herausragende Lehrer. Das zeigt sich auch darin, daß Hönigswald in expliziten und impliziten Auseinandersetzungen mit den Neukantianern (Riehl, Rickert, Natorp, Cassirer, Bauch) fast immer für den historischen Kant Partei nahm29. Von Leibniz hingegen lernte er nicht wirklich. Dazu war sein LeibnizStudium wohl auch nicht ausgedehnt genug. Bei Leibniz sah Hönigswald das Verwandte. Der Grundgedanke der Monadologie gab ihm die Möglichkeit, Ich-Theorie und Nicht-Ich-Theorie aneinander zu binden und in einer Grundlehre zu verschmelzen. Nicht ganz ohne Bedeutung für Hönigswalds Theorie des Organischen war unter den philosophischen Klassikern schließlich Hegel. Ihm rühmt Hönigswald nach, er stehe „dem Problem der organischen Natur weit näher als so manche seiner naturforschenden Gegner" 30 . Für Hönigswalds Theorie des Organischen ist in gewissem Umfang auch die Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts von Belang, aber, wenn ich recht sehe, doch nur hinsichtlich der tieferen Fundamente der Lehre. Was die besonderen Inhalte angeht, so hat sich Hönigswald wohl 28

29

30

Grundfragen der Erkenntnistheorie, IJ8; ebenso im selbstverfaßten Artikel des Philosophen-Lexikons (Hauer/Ziegenfuß/Jung) v o n 1937 (Teildruck) und 1949. In der Selbstdarstellung von 1931 (Deutsche systematische Philosophie nach ihren Gestaltern) heißt es: „Theorie des Objekts" (223). Ich deutete das in meinem Hönigswald-Artikel an: The Encyclopedia of Philosophy, N e w Y o r k 1967, V o l . 4, 63. Gedanken zur Philosophie Hegels, 164. I n : Preußische Jahrbücher 226 (1931) 148—168.

Wissensdiaftstheoretisdie und systemtheoretisdie Gesichtspunkte

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eher an das gehalten, was er den empirischen Fächern, vorzüglich in seinen Lehrjahren, zu verdanken hatte. D e m Austausch mit dem Mediziner Ottomar Rosenbach kommt hier eine besondere Bedeutung zu 81 .

Ii. Wissenschaftstheoretische

und systemtheoretische

Gesichtspunkte

Es ist aufschlußreich, die Entwicklung der Hönigswaldschen Theorie des Organischen unter dem Gesichtspunkt der Traditionsbezüge zu betrachten. Die A b w e h r des Marburger Physikalismus bestätigt das Eigenrecht der biologischen Begriffsbildung. Stützen für Hönigswald sind Aristoteles, der Aristotelismus und Kant. Später kommen Leibniz und Hegel hinzu. D e m Wechsel der Traditionsaspekte entsprechen Verlagerung und Vertiefung der Fragestellung. Zuerst geht es um das Sonderrecht der biologischen Begriffsbildung und, damit verknüpft, das Sonderrecht der Klassenlogik. Hinter dieser Problematik verbirgt sich indes etwas Grundsätzlicheres, die Frage nämlich, wie es möglich sei, „ausgezeichnete" Objekte zu erfassen, also Objekte, die nicht bloß in Prozeß und Kontext bestimmt sind, sondern die in ebendiesem Prozeß und Kontext herausragen, die sich gegen Prozeß und Kontext als „Ganzheiten" behaupten. Der spätere Hönigswald unterscheidet diese Objekte von den „Gegenständen unter Gegenständen", den Gegenständen, die sidb in ihrem Objektsein (in dieser Rücksicht) erschöpfen, an deren Bestimmtheit mithin auch nur Momente des Gegenständlichen beteiligt sind. Bei den „ausgezeichneten" Gegenständen hinwiederum ist festzuhalten, daß ihnen ihre Ganzheit nicht etwa erst durch einen A k t des Erfassens und also erst vermittels ihrer spezifischen Gegebenheit zufließt, sondern daß ihnen ihre Ganzheit vielmehr durchaus „von Natur aus" zukommt, wenn sie auch nicht in Momenten des Gegenständlichen, des Bloß-Gegenständlichen oder, was dem gleichkommt, der bloßen N a t u r , gründet. Diese ausgezeichneten Objekte nun sind aus dem übrigen Inbegriff des Gegenständlichen herausgehoben und sie verlangen in ihrer Sonderbestimmtheit von der Wissenschaft erfaßt zu werden. Die aristotelische Tradition dachte diese Verfassung jedem Objekt zu, weil sie sich an der Geschlossenheit von „Dingen" orientierte: Dinge lassen sich vergleichend ordnen, Dinge lassen sich in Klassen gliedern. Die moderne Naturwissenschaft und die zugehörige Wissenschaftstheorie machten diese Auffassung zunichte. Die Objektbedeutung isolierter Dinge weicht dem Begriff des Naturgesetzes. Es zeigt sich, daß dem Naturobjekt Dingvalenzen äußerlich sind. Isolierte Eigenstrukturen, ins31

V g l . Hönigswalds Artikel im Biographischen Jahrbuch und Deutschen N e k r o l o g 13 (1910) 3 6 7 — 3 7 7 ; ferner: O . Rosenbach, Ausgewählte Abhandlungen, dort im Anhang Briefe Rosenbachs an Hönigswald.

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Hönigwalds Theorie des Organischen

besondere isolierte Eigenprozessualitäten weichen durchgängiger Strukturalität und durchgängiger Prozessualität32. Das gilt für die unbelebte Natur. In der belebten Natur herrschen Vereinzelung und Ganzheit. Angesichts der Organismen ist Klassifikation legitim. Die Naturauffassung der neuzeitlichen Physik und einer physikalisch orientierten Wissenschaftstheorie hat hier ihre Grenze. An dieser Stelle gibt es also für Hönigswald einen berechtigten Aristotelismus. Anfangs überwiegt in der systemtheoretischen Beurteilung allerdings noch das Negative. Im Rickert-Cassirer-Aufsatz Zur Wissenschaftstheorie und -systematikM werden Elemente, die der aristotelischen Tradition der Begriffsbildung entstammen, regelmäßig als das zu Uberwindende charakterisiert. In der Argumentation Rickerts findet Hönigswald beispielsweise „in weit höherem Grade die Einflüsse der logischen Tradition des Aristotelismus . . . als dies eine erschöpfende Theorie der wissenschaftlichen Begriffsbildung vielleidit gestattet" (39). Bald darauf heißt es: „eine Logik der Naturwissenschaft kann niemals aristotelisch sein" (41). Und gegen Ende der Abhandlung beklagt Hönigswald bei Rickert noch einmal „jene unleugbare Toleranz gegenüber der aristotelischen Auffassung des Begriffs als einer Allgemeinvorstellung" (77, vgl. auch 37). In all diesen Zusammenhängen wird allerdings die Abgrenzung der Kulturwissenschaften, respektive der historischen Wissenschaften von der exakten Naturwissenschaft erwogen. Die Eigenbedeutung der Biologie wird nur beiläufig behandelt. Immerhin hält Hönigswald in seinen kritischen Überlegungen fest: In dem Entwicklungsprozeß, „der die Logik aus einem ,Organon' der Klassifikation in eine Theorie der Wissenschaft verwandelte", sei „die Klassifikation als methodisches Forschungsmittel nicht beseitigt" worden. Sie sei vielmehr „unter dem Gesichtspunkt des neuen Begriffs der Wissenschaft zum Problem gemacht" worden (40). In der eigenen Wissenschaftstheorie Hönigswalds bleibt — zumindest auf dieser Stufe seiner Entwicklung — eine Lücke. Das Eigenrecht der Klassifikation wird zwar anerkannt. Noch bleibt aber die Klassifikation auf die Seite einer überwundenen — der aristote32

33

Hönigswald behandelt diesen Problemkomplex bereits in seiner Habilitationsschrift Beiträge zur Erkenntnistheorie und Methodenlehre, 1906. Das wissenschaftliche Verfahren Galileis bildet den Ausgangspunkt der Untersuchung. Auf den Galileischen Wissenschaftsbegriff kommt Hönigswald in der Folgezeit nicht nur in den einschlägigen philosophiehistorischen Sdiriften (Die Philosophie von der Renaissance bis Kant, Geschichte der Erkenntnistheorie, Denker der italienischen Renaissance), sondern auch an vielen anderen Stellen zurück, so u. a. Grundprobleme der Wissenschaftslehre (1946 abgeschlossen, Schriften aus dem Nachlaß, Bd. V), 1965, 186 ff.; Analysen und Probleme (Schriften aus dem Nachlaß, Bd. II), 1959, 83; Die Systematik der Philosophie (nodi unveröffentlicht; geplant: Schriften aus dem Nachlaß, Bde. I X , X ) Ms.-Blätter 39 ff. Untertitel: Mit besonderer Rücksicht auf Heinrich Rickerts „Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft", Kant-Studien 17 (1912) 28—84.

Wissensdiaflstheoretisdie und systemtheoretische Gesichtspunkte

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lischen — Phase der Begriffstheorie gedrängt. In dem Gegensatz von Abstraktion und Analyse, der das Titelthema der Mittelalter-Arbeit werden sollte, bleibt die Klassifikation auf der Seite der Abstraktion — eben weil die nichtklassifizierende Naturwissenschaft als das Gegenglied der Historie innerhalb der Wissenschaftssystematik betrachtet wurde. Es gibt ein „Fortschreiten von der abstraktiven und klassifikatorischen zu einer analytischen... Subsumtion" (41). Was aber die historische Begriffsbildung angeht, so beanstandet Hönigswald bei Rikkert, daß seine Werttheorie dem Moment des Individuellen nicht hinlänglich Rechnung trage. Doch auch bei Hönigswald bahnt sich ein vertiefteres Verständnis für die historische Begriffsbildung erst an, als er das Problem des Individuellen unter dem Aspekt des Monadischen begreift. Das aber bedeutet, daß er die Theorie des Organischen miteinbezieht. In den früheren Schriften zieht Hönigswald diesen Problemkreis noch nicht in seine Erörterungen. Die wissensdiaflstheoretisdie — für Hönigswald nach fortan festgehaltener Terminologie zugleich „wissenschaftssystematische" — Aufgabe bleibt vorerst beschränkt auf eine Grundlegung der Wissenschaft von der belebten Natur. Für die neuzeitliche Theorie der Wissenschaft handelt es sich darum, den Sonderbereich der biologischen Erkenntnis, in dem Hönigswald zugleich den der klassifizierenden Erkenntnis erblickt, mit Rücksicht auf den Erkenntnisbegriff der exakten Naturwissenschaft, der Wissenschaft der unbelebten Natur also, zu bestimmen und zu rechtfertigen34. Hier kommen nun allerdings — trotz aller grundsätzlichen Vorbehalte Hönigswalds — aristotelische Momente zum Zuge, und zwar sowohl mit Bezug auf die Grundstruktur der Klassifikation wie auch mit Bezug auf die Struktur des Klassifizierten. Die Vorbehalte, die Hönigswald trotz allem gegenüber der aristotelischen Tradition für unerläßlich hält, betreffen, wie bereits ausgeführt, die Frage der Individualität und die Unhaltbarkeit des Abstraktionsgedankens. Die Auflösung dieser Schwierigkeiten liegt für Hönigswald in Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft. Die wissenschaftliche Erkenntnis des Individuellen mit Eigenbedeutung, so weit es dem Horizont der Natur angehört, ist hier grundgelegt. In der Folge allerdings ergibt es sich für Hönigswald, daß die Theorie des Organischen sich nicht darin erschöpfen darf, den Sonderstatus des Lebendigen und der Biologie gegenüber der Natur und der 34

Im Aristotelismus vermißt Hönigswald gerade die wissenschaftssystematische Bestimmung der Biologie: „. . . neben Mathematik blieb Biologie ein relativ selbständiges wissenschaftstheoretisches Problem; der biologische Begriff eine selbständige methodologische Tatsache. Die Frage vor allen Dingen blieb offen, wie sich die allem Mathematischen gegenüber wohlcharakterisierte, ja unaufhebbare Eigenart des biologischen Begriffs den Grundsätzen wissenschaftlicher Geltung überhaupt einfügt." Philosophie des Altertums, 366.

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Hönigwalds Theorie des Organischen

exakten Naturwissenschaft zu bestimmen und zu begründen, sondern daß ihr innerhalb der philosophischen Grundlehre weitere Aufgaben zufallen, ja daß sie innerhalb ihres bisher zugewiesenen Sondergebiets unterbestimmt bleibt, solange sie sich nidit als einen Teil der Monadologie begreift. Hönigswald erblickt die ursprüngliche Spannung, die die Standpunkte innerhalb der philosophischen Grundlehre trennt, in dem Gegensatz von Romantik und Aufklärung. Beide Begriffe meinen bei Hönigswald mehr als die herkömmlichen Begriffe der entsprechenden geistesgeschichtlichen Erscheinungen im 18. und 19. Jahrhundert. Beide stellen zudem für Hönigswald legitime und wechselbezogen ergänzungsbedürftige Einstellungen der Grundlehre dar: Aufklärung kommt für die Momente des Allgemeinen und Allgemeingültigen, des Universalen und Geltenden auf, Romantik für das Vereinzelte, Konkrete, Faktische, Besondere und Eigenwertige. Im Aristotelismus erfüllt sich deswegen auch ein romantisches Motiv: das — natürlicherweise und von Natur wegen — Vereinzelte ist hier in seiner Bedeutung anerkannt und gewürdigt, die Stufenordnung des Lebendigen bestätigt jedem Organismus seinen besonderen Rang. Wenigstens dem Ziel der aristotelischen Betrachtungsart ist das gemäß. In der Durchführung kommt, nach Hönigswald, die Theorie über das Immer-noch-Allgemeine des Besonderen nicht hinaus. Nicht der Begriff des einzig-einzelnen Organismus ist das Resultat dieser Erkenntnisweise, sondern der Begriff der Artbestimmtheit einer Mehrzahl von gleichbestimmten Organismen. Das „Individuelle" im vollen Sinne bleibt hier unerreicht.

12. Biologische

Begriffsbildung

Eine kritische Anmerkung scheint mir an dieser Stelle unerläßlich zu sein. O b die aristotelische Wissenschaftstheorie der Biologie hier wirklich das Individuelle verfehlt, so weit es für eine biologische Erkenntnis in Betracht kommen darf, scheint mir zweifelhaft. Nicolai Hartmann hat in seinem Buch Grundfragen der Biologie, das im selben Jahre 1912 erschien wie seine beiden systemprogrammatischen Aufsätze Systematische Methode (Logos, Bd. 3) und Systembildung und Idealismus (Cohen-Festschrift), ausgeführt, für die Biologie komme das Einzelexemplar nur in Betracht, so weit es Klassenbestimmtheiten repräsentiere35. (Das muß wohl auch gelten, wo im Sonderfall einem einzigen 35

„Für die Biologie als Wissenschaft sind Individuum und Gattung durchaus nicht gleichwertige Fundamentalbegriffe. So sehr sie aufs strengste korrelativ sind, und nirgends voneinander abgetrennt werden können, so liegt doch für die Forschung das Schwergewicht immer auf der Gattung. . . . selbst in der Deskription sucht sie das Individuum niemals um seiner selbst willen auf, sondern um des Allgemeinen

Biologische Begriffsbildung

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— oder letzten — diese Rolle zufiele.) Freilich kommt zu der spezifizierenden Funktion der Klassengliederung noch eine andere besondernde Funktion hinzu. Es ist der Aspekt der Genese. Jedes Exemplar muß auch hinsichtlich seiner Stellenbestimmtheit in den Dimensionen willen. Auf dieses kommt es ihr überall an. Das unmittelbare Objekt der Beobachtung, der Einzelfall, ist ihr immer nur Repräsentant des allgemeinen Falles', auf dessen genaue Herausschälung alle ihre induktive Methodik geht. Er braucht, wo er sich genügend aus der Menge der Koeffizienten heraus isolieren läßt, gar nicht erst verallgemeinert zu werden. Der individuell beobachtete Prozeß gilt unmittelbar als der gattungsmäßige Prozeß. In diesem aber liegt der Seinswert (!) des erforschten Phänomens. Das Individuelle dagegen hat hier nur insofern methodischen Wert, als es den sich darbietenden Ausgangspunkt der Beobachtung bezeichnet. Wir kennen eben die gesuchten Gattungsprozesse nicht anders als in der Form von Erscheinungen an einzelnen Individuen oder höchstens Beziehungen von Individuen untereinander. Diese müssen daher notgedrungen zum Mittel der Forschung werden gegenüber dem Gattungsmäßigen als dem eigentlichen Zweck. Methodologisch genommen ist also das Individuum hier keineswegs eigenwertig und darf daher nicht verwechselt werden mit der eigentlichen .Individualität', wie sie uns als Eigenwert und Selbstzweck in den Geisteswissenschaften, und also in erster Linie in der Ethik, entgegentritt." (73; Kleinere Schriften, Bd. III, 124 f.) An einer anderen Stelle desselben Buches schreibt Hartmann: „Wie alle theoretischen Wissenschaften legt sie den ganzen Wert auf die allgemeinen Gesetze und Prinzipien, nicht aber auf die nackte Tatsächlichkeit der Einzelerscheinung." (35 £.; Kleinere Schriften, Bd. III, 101). Zur Unterscheidung von Naturgesetzlichkeit und organischer Artgesetzlichkeit („phylogenetisch entstandene Gesetzlichkeit"; „von temporären Bedingungen abhängige Gleichartigkeiten"; „bewegliche Gesetzlichkeit") in der späteren Lehre Hartmanns: Philosophie der Natur, 1950, 706 ff. — In einem Seminarreferat Über das Problem der Individualität (März 1907, unveröffentlicht) hatte Hartmann noch stärker die Mittelstellung des biologischen Individuums betont: „Das ,organische Individuum' steht mitten zwischen dem physikalisch Einzelnen und dem Individuum der menschlich-sittlichen Gemeinschaft. Während das physikalisch Einzelne sich zerlegen und überleiten ließ und also niemals eine streng geschlossene Einheit bildete, tritt uns hier etwas entgegen, was sich diesem Verfahren als eine Vergewaltigung seiner Eigenart widersetzt. . . . Was der Begriff auf dem Gebiet des MathematischMechanischen leisten konnte, nämlich das Erfassen und endgültige Durchdringen des noch so spezialisierten Einzelnen, — das kann er hier nicht mehr. Das organische Individuum liegt über seine Kompetenz hinaus. Es kann von ihm wohl annähernd umgrenzt, nicht erschöpft werden. . . . Und doch haben wir in dem . . . organischen Individuum noch lange nicht das wirkliche Individuelle erreicht. Freilich geht hier die Spezialisierung um ein beträchtliches weiter als in der Physik. Aber es ist nur ein relativer Fortschritt. Denn das Aufhören der faktischen Durchführung wird ja ersetzt durch das richtungsweisende Prinzip. Und diese Forderung der Weiterdurchführung geht noch keineswegs auf ein wirklich Einzelnes, nur einmal Daseiendes, sondern vielmehr auf den Typus, die Gattung. Das organische Individuum ist eben nicht Individualität; es ist nur Operationsbegriff für die Gattung." (Seite V I des Manuskripts). Bei Natorp, der sich in seiner Ausarbeitung der „philosophischpädagogischen Untersuchung" Individualität und Gemeinschaft auf das Referat seines Schülers stützte, sind die entsprechenden Abschnitte vager. Sie schließen mit der Feststellung: „Somit widerspricht auch die Biologie, insoweit sie mit naturwissenschaftlichen und also rein theoretischen Begriffen arbeitet, nicht dem allgemeinen S a t z . . . : daß im ganzen Umkreis des bloß theoretischen Erkennens das Einzelne dem Allgemeinen, nämlich dem des Gesetzes, schlechthin untergeordnet bleiben

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Hönigwalds Theorie des Organischen

der Individual- und der Artentwicklung betrachtet werden können (Ontogenese und Phylogenese), wobei beiden Entwicklungshinsichten eine individualisierende Bedeutung zufällt. Doch audi diese genetischen Gesichtspunkte ändern nichts an der Grundverfassung der Biologie. Wo Entwicklungsprozesse oder -phasen erfaßt werden, sind gleichartige Verläufe und Sachverhalte mitbetroffen, mag die Forschungslage ihren Einbezug nahelegen oder nicht. Die Beschränkung auf das individuelle Gebilde um seiner selbst willen ist ausgeschlossen. Dasselbe gilt von Prozessen und allen anderen Sachverhalten in der Sphäre des Lebendigen. Wo die Theorie das Individuelle nicht mehr als ein Moment des Allgemeinen erfaßt, wo sie es in seiner Eigenwertigkeit zu würdigen sucht — und das ist im Ausgang von allen Phänomenen des Lebendigen zweifellos möglich — dort hat sie das Gebiet der Biologie bereits überschritten und sidi in Historie verwandelt. — Mir scheint, daß die spätere Lehre Hönigswalds dieser wissenschaftstheoretischen Auffassung im Grunde nicht widerspricht. In der sich stellenweise verschärfenden Polemik gegen den Aristotelismus kommt dies allerdings kaum zum Ausdruck. Es hat den Anschein, daß im Werk der Reife und Spätzeit bei Hönigswald die Probleme der Wissenschaftstheorie gegenüber anderen Problemen zurücktreten. Zumindest bleibt — anders als in der Frühzeit — die Wissenschaftstheorie keinesfalls der Mittelpunkt systematischer Überlegungen. Für unser Gebiet bedeutet das, daß in der späteren Zeit weniger die Frage nach Eigenart und Recht der Lebenserkenntnis als vielmehr die nach Eigenart und Funktion des Lebendigen gestellt wird, weniger die Frage nach der Grundlegung der Biologie als die nach der Grundstellung des Organismus. Früher war es Hönigswald, wie gesagt, um das Sonderrecht der Biologie gegenüber der empirischen Wissenschaft von der unbelebten Natur gegangen, nun geht es Hönigswald vielmehr um das Leben als Grundlage der Subjektivität. Daß Hönigswald damit über die Interessensphäre der Biologie hinausfragt, ist klar. Deutlidi ist aber auch, daß Hönigswald sich hier kaum noch auf traditionelle Lehrstüdke stützen kann.

IJ.

Subjektstheorie

Zunächst kam, das festzuhalten ist wichtig, die Subjektstheorie audi bei Hönigswald ohne eine Theorie des Organischen aus36. Hönigswald

38

muß, eine unabhängige Geltung neben und außer ihm nicht behaupten kann." Philosophie und Pädagogik, 1909, 168 f., in der 2. („verbesserten") Auflage von 1923 unverändert 1 1 7 . In den Studien zur Theorie pädagogischer Grundbegriffe ( 1 9 1 3 , Neudruck Wiss. Budiges. 1966) zum Beispiel vergleicht Hönigswald zwar Biologie und Psychologie,

Subjektstheorie

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näherte sich der Faktizitätsfrage, wenn man mir es erlaubt bildlich zu reden, von oben her, das heißt im Ausgange von der geltungstheoretischen Subjektslehre. Der Titel für das Problemgebiet, den Hönigswald hier einsetzte, war der der Denkpsychologie. Die Konkretheit der Subjektivität zu bestimmen, das hieß zunächst einmal, Denken nicht nur als einen Geltungs- und Gültigkeitssachverhalt, als Gegenstandsbezug, sondern auch als Vollzug, als Erleben, als psychische Temporalität anzuerkennen. Hönigswald berücksichtigt dabei schon hier, daß die Konkretion sich zugleich in der Dimension der Sprache ereignet. Der erste Entwurf dieser Lehre findet sich in den Prinzipienfragen der Denkpsychologie (1913) 37 . Die Ausgestaltung der Theorie des Erlebens zu einer Monadologie erfolgt dann in den Analysen der Grundlagen der Denkpsychologie (1921, überarbeitete Fassung 1925 s8 ); ferner in der die Grundlagen ergänzenden Arbeit Vom Problem des Rhythmus (1926s9). Von nun an bezieht jede systematische Arbeit Hönigswalds, sofern sie die Probleme der Monadologie erörtert, die Probleme der Theorie des Organischen mit ein. Präzisierungen enthalten die an die Grundlagen sich anschließenden Arbeiten: die um fundamentaltheoretische Kernstücke erweiterte Pädagogik (Über die Grundlagen der Pädagogik, 192740), die Grundfragen der Erkenntnistheorie41 und die Selbstdarstellung42 (beide 1931). Von allergrößter Bedeutung sind außerdem zwei Textabschnitte in Philosophie und Sprache (1937"). Hier behandelt Hönigswald unter anderem das Grundverhältnis von Bestimmtheit und Organismus, die Bedeutung des Organismus für die Vereinzelung, das Verhältnis Sprache-Organismus und die verwickelten Fragen der Tiersprache und des tierischen Organismus (53—67 und 269—305). In den Nachlaßwerken endlich finden sich in allen Bänden noch neue Fassungen der Organismus-Theorie und bemerkenswerte Er-

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zu einer Verknüpfung der Momente des Erlebens und des Lebens kommt es indessen noch nicht: „Wenn die Urteile der Biologie konstituiert werden durch ein System von Relationen, dessen Prinzip die teleologische Determination der kausalen Ordnung darstellt, so kennzeichnen sich die Urteile der Psychologie durch ein System von Relationen, das in der Bestimmtheit kausal determinierter Abfolgen nach der Gesetzlichkeit der Bedeutung besteht" (91). Kantstudien 18 ( 1 9 1 3 ) 2 0 j — 2 4 5 ; auch als Separatdruck. Untertitel: Studien und Analysen. i . A u f l . Maschinenschrift; Neudruck der 2., umgearbeiteten Aufl. Wiss. Buchges. 1965. Eine analytische Betrachtung über den Begriff der Psychologie. (Wissenschaftliche Grundfragen, Heft 5). Ein Beitrag zur Frage des pädagogischen Universitäts-Unterrichts. 2., umgearbeitete Aufl. Untertitel: Kritisches und Systematisches. (Beiträge zur Philosophie und ihrer Gesdiichte, Bd. 1). In: Deutsche systematische Philosophie nach ihren Gestaltern, hrsg. v. H. Schwarz, Bd. 1, 1 9 1 — 2 2 3 ; Sonderausgabe 1933. Untertitel: Problemkritik und System (Neudruck 1970).

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Hönigwalds Theorie des Organischen

gänzungen. Am wichtigsten sind in dieser Hinsicht die Grundprobleme der Wissenschaflslehreu, die Allgemeine Methodenlehre45 und Die Systematik der Philosophie4e. Das sind indessen nur die Haupttexte. Da Hönigswald die Gepflogenheit hat, stets die Probleme der philosophischen Grundlehre in ihrem Totalzusammenhang abzuhandeln, die Lehre vom Organischen nadi seiner Uberzeugung aber zu dieser Grundlehre gehört, stößt man an vielen Stellen seiner systematischen und historischen Arbeiten auf das einschlägige Fragengebiet. — Ich will im folgenden den Versuch machen, aus dem Hönigswaldschen Problemgeflecht, in dem alles mit allem verknüpft ist, den Problemstrang des Organischen herauszulösen. Hönigswald, der Theoretiker der Gegenständlichkeit, begann seinen wissenschaftlichen Weg nicht im Angesicht der Gegenständlichkeit, sondern der Gegenstände. Wie so viele Philosophen vor und nach ihm begann er mit dem Studium des Konkreten, ehe er sich den Prinzipien zuwandte. Dasjenige Konkrete, das den jungen Gelehrten zuallererst beschäftigte, war jenes organisierte Stück Natur, dem die Heilkunst ihre besondere Mühe zuwendet: die humane Leiblichkeit in ihrem Bedrohtsein. Auf die Frage nach dem Grundverhältnis von Gesundheit und Krankheit, die den nachdenklichen jungen Mediziner beschäftigte, ist dann der Philosoph zu wiederholten Malen zurückgekommen. Sie wurde für ihn schließlich ein wohlumrissenes Stück seiner Lehre vom humanen Organismus und vom Naturbezug des Subjekts. Dasselbe trifft zu für die Frage nach der geistigen Komponente der leiblichen Erkrankung, für das Problemgebiet der Psychiatrie4'. Auch hier bleiben dem Philosophen die Fragen des Mediziners lebendig. Dennoch wird man ganz gewiß nicht sagen dürfen, daß die Grundfragen der Medizin im Hönigswaldschen Gesamtwerk eine Hauptrolle spielen. Sie stellen — nicht mehr und nicht weniger — einen Aspekt der Monadologie dar. Der Beginn mit der Medizin ist durchaus nur Ausgangspunkt, nicht mehr. Der Teilcharakter dieser Problematik ist dem jungen wie dem reifenden und dem schließlich die Ernte einbringenden Denker sehr wohl bewußt. Der universale Zug des philosophischen Fragens ist im Früh- und im Spätwerk stärkstens ausgeprägt. Wie bei allen bedeutenden Systematikern ist auch bei Hönigswald die Sorge um das Ganze, und das heißt hier: um die Allheit der Probleme, vorrangig. Die Voraussetzungen und die Bedingungen eines jeden wissenschaftlichen Sonder44 45 46

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Schriften aus dem Nachlaß, Bd. V, 1965, hrsg. v. G. Wolandt u. H. Schmitt. Desgl., Bde. VII, 1969 und VIII, 1970, hrsg. v. H. Oberer. Titelzusatz: Aus individueller Problemgestaltung entwickelt. Schriften, Bde. I X und X , in Vorbereitung, hrsg. v. H. Zander. Wichtig vor allem: Philosophie und Psychiatrie, in: Archiv f. Psychiatrie und Nervenkrankheiten 87 (1929), 7 1 5 — 7 4 1 ; entsprechend: Denkpsychologie, 2. Aufl. 238 ff., 344 f. (1. Aufl. 192, 330 f.) u. a. m.

Der Organismus drückt Bestimmtheit aus

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gebiets, so weit die Wissenschaftslage dies irgend nahelegte, bildeten Fragepunkte im Kreis der Hönigswaldschen Denkanstrengungen.

14. Der Organismus drückt Bestimmtheit aus Was fesselt Hönigswald am Problembestand des Organischen? Die philosophischen — näherhin: wissenschaftstheoretischen — Grundlagen der Biologie, wie das bei Max Hartmann der Fall ist? Die Seinsbestimmtheit der organisierten Natur wie bei Nicolai Hartmann? Beide Problemaspekte sind zweifellos auch für Hönigswald wichtig. Fragen der „Wissenschaftstheorie und -systematik" lassen ihn ebensowenig los wie Probleme der Seinsbestimmtheit. Doch beide Frageaspekte ordnen sich einem anderen Aspekt unter, der Frage nämlich: Wie erweist und wie gestaltet sich der Organismus als ein Moment der Gegenständlichkeit? Bestimmtheit und Gegenständlichkeit sind für Hönigswald im wesentlichen dasselbe48. Und so fragt er, wie es kommt, daß der Organismus nicht nur bestimmt ist, sondern darüberhinaus audi noch Bestimmtheit „ausdrückt": „,Mein c Organismus stellt ein Objekt dar, das bei bedingungsloser Zugehörigkeit zum Naturkontext, d. h. bei bedingungsloser Kausalbestimmtheit und physikalischer Theoriegemäßheit, nicht nur bestimmt ist, sondern als Ort des Erlebens Bestimmtheit ausdrückt."49 Oder anders: Wie ist es möglich, daß der Organismus Gegenständlichkeit „repräsentiert"? Der Organismus „bedeutet", so lehrt Hönigswald an einer wichtigen Stelle seines Werkes Philosophie und Sprache, „die naturhafte Repräsentation der Gegenständlichkeit" (61). Oder — was, wie wir sehen werden, dem allen entspricht — wie kommt es, daß im Bereich des Lebens Prinzip und Tatsache eines sind50? Worum geht es in diesen Fragen?

/ j. Organismus und Monade Der Organismus bildet die Mitte der Hönigswaldschen Welt — auf der einen Seite die Monadizität, das Monadische mit der eigenen Dimensioniertheit des Erlebens (das jede geistige und intentionale Leistung miteinschließt), auf der anderen Seite das lückenlose Kontinuum der Naturobjekte, der Kontext der Natur, und dazwischen, in der Mitte also, monadische, beseelte Naturobjekte, die Organismen. Die Natur er18

49 50

„Bestimmtheit bedeutet nicht Gegenstand, sondern .Gegenständlichkeit'..." losophie und Sprache, 30. Grundprobleme der Wissenschaftslehre, 257. Philosophie und Sprache, 291.

Phi-

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Hönigwalds Theorie des Organischen

scheint hier als ein einiger Inbegriff von unselbständigen Objekten 51 . Die Monaden hingegen stehen für sich. Sie sind vereinzelt, für sich bestimmt und sich bestimmend. Gleichwohl sind sie aber doch auch verbunden. In der Gegenstandsgerichtetheit und Gegenstandsbezogenheit sind die Monaden geeint, und hier unterwerfen sie sich gemeinsamen Prinzipien, den Bedingungen gültigen Erkennens und Gestaltens: den Geltungsprinzipien. Jede Monade hat zwar ihr eigenes Erleben, aber dennoch gehören ihr die Gedanken, die sie vollzieht, nicht uneingeschränkt. Die andere Monade muß erkennend an meine Stelle treten können, und ich muß, absehend von meinem eigenen Vollzuge, so denken, daß die andere Monade meine Stelle einzunehmen vermag52. Uneingeschränktes und unvergleichbares Eigentum hat die Monade nicht an ihren Gedanken, sondern nur und gerade an etwas anderem, das nicht bloß monadisch, sondern auch natürlich ist. Die Monade hat, sie besitzt ihren Körper, ihren eigenen Leib und ihr eigenes Leben. Zu ihrem Leibe unterhält die Monade, wie Hönigswald das nennt, eine Possessivrelation. „Wie kraft des Reflexivverhältnisses ,ich-mir', ,ichmich', so ,binc ich überhaupt erst vermöge der Possessivbeziehung zu ,meinem' Körper." 53 „Hier muß der Gegenstand, der als ,mein' bezeichnet wird, zugleich ,mich selbst* bezeichnen. ,Mein Körper' ist eben erst in dieser Hinsicht ,mein'. Er ist darum auf eine ganz andere Weise ,mein' als ,mein' Rock. Ich bin geradezu, oder ich bin doch zumindesten auch ,mein' Körper . . . K54 Die Possessivbeziehung erstreckt sich auf den Organismus der Monade mit allen Funktionen und in seiner ganzen Entwicklung. Jeder hat seinen Anfang, seine Geburt. „Was aber für die Geburt recht ist, ist für den Tod billig. Der Unterschied besteht nur darin, daß der Neugeborene die süße Gewohnheit des Daseins in der Regel noch vor, der Verstorbene aber hinter sich hat." 55 Die Monade ist vereinzelt, sie hat ihren Possessivbezug auf ihren Organismus und sie findet sich stets schon in einer Vielzahl von Monaden. Eine Ausnahme macht nur die Zentralmonade der Gottheit (diese teilt aber eben auch nicht die Bindung alles anderen Monadischen an ein Naturobjekt 56 ). Der Vereinzelung entspricht die unbegrenzte Vielzahligkeit. Die Vielen sind wiederum auch geeint — nicht etwa in irgendeiner Ubersubjektivität, sondern nur vermittels ihrer Funktion, sich auf den einen Gegenstand beziehen zu können. In der Gerichtetheit auf die eine gemeinsame Gegenständlichkeit haben die Monaden auch die Möglichkeit ihrer Verständigung, ohne indessen doch je ihre eigene 51 52 53 54 55 M

Über die Grundlagen der Pädagogik, i. Aufl. 1927, 9$ f. V g l . Philosophie und Sprache, 49 f. A . a . O . , $$. Grundlagen der Denkpsychologie, 329. Analysen und Probleme, 248. Philosophie und Sprache, 247.

Leiblichkeit als Bedingung der Intentionalität

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Stelle aufzugeben. Jede Monade vermeint den Gegenstand von ihrem Standort, von ihrer Weltstelle aus, aber vermeinend bezieht sie sich auch auf die andere Monade, die wie sie den Gegenstand vermeint.

16. Leiblichkeit als Bedingung der

Intentionalität

Die Vereinzelung und die Vielzahl bestimmen nicht nur den Bereich des Erlebens, sondern auch den des Lebens. Auch hier sind es die Vielen, die vereinzelt ihre Stätte in der Welt haben, ihren „Zeitort". Aber das, was die Vielen verbindet, insofern sie nur als Organismen betrachtet werden, kann nicht wohl die Einheit des Gegenstandsbezugs sein. Andererseits scheint aber audi gerade die Einheit des Gegenstandsbezugs, die Vereinigung also der Monaden, nicht möglich ohne den Natur- und den Organismusbezug der Monade. Verständigung zwischen den Monaden, die Uberlieferung von Individuum zu Individuum und von Generation zu Generation, scheint Hönigswald nicht möglich ohne Vermittlung des Organismus. N u r Monaden vermögen miteinander zu sprechen, aber eben nur „beleibte" Monaden. Doch der Leib ist nicht nur eine physiologische Bedingung der Sprache, der Leib gehört für Hönigswald zu den Grundbedingungen der Sprache und des Denkens. Kein Denken, kein Erleben, kein Erfahren — auch als Gegenstandsbezug, als Intentionalität aufgefaßt — ohne den Organismus!

77. Vergleich der Hönigswaldschen Theorie mit der Nicolai Hartmanns Damit habe ich einige Stücke der Hönigswaldschen Lehre gezeigt. Wie steht es um ihren prinzipientheoretischen Sinn? Welche philosophische Bedeutung kommt Hönigswalds Theorie des Organischen zu? Wissenschaftsgeschichtlich ist Hönigswald von zwei Seiten aus beizukommen. Man kann die Frage stellen, was Hönigswald gegenüber der älteren Grundlehre, von der er ausgeht, hinzugewinnt, wenn er die Theorie des Organischen in die Grundlegungstheorie aufnimmt. Diese Frage setzt indessen schon eine Reihe von Schritten voraus. Zuerst müßte man fragen, was mit der Umwandlung der Subjektstheorie in eine Monadologie gewonnen ist. Zuvor könnte freilich überhaupt nach dem Recht und dem Nutzen eine Faktizitätstheorie gegenüber der älteren Subjektslehre gefragt werden. Diese Frage wäre für den gegenwärtigen Zweck aber denn doch zu weitreichend. Ich ziehe es deshalb vor, das Eigentümliche der Hönigswaldschen Organismus-Theorie beim Vergleich mit einer Lehre ans Licht zu rücken, die sachlich nähersteht, weil sie selbst, wie die Hönigswaldsche Monadologie, den Schritt zum 5 Wo land:, Idealismus

Hönigwalds Theorie des Organischen

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Ansich und zur Faktizität bereits vollzogen hat und überdies eine eigene Lehre des Organischen miteinschließt. Ich spreche von der Ontologie Hartmanns. Bei diesem Vergleich habe idi zudem den Vorteil, mich auf weithin bekannte Lehrstücke beziehen zu können. — Was eint, was trennt Hönigswald und Hartmann in der Lehre des Organischen? Beide gehen von ähnlichen Ausgangspositionen aus. Beide haben ihre — freilich verschiedengerichteten — Auseinandersetzungen mit dem Marburger Kritizismus hinter sich. Beide, so sagte ich schon, machen Ansich (Unabhängigkeit, Ansichsein) und Faktizität (konkrete Subjektivität) zu ihrem Thema. Beide streben Gliederungen an, die nicht alleine die Ordnung der Geltungsgrößen, Ideen oder Werte, sondern die die Welt der Gegenstände und des Unabhängigen selber betreffen. Beide lassen freilich auch eine der älteren Ideenlehre verwandte Geltungsund Wertgliederung zu, mit dem Unterschied allerdings, daß bei Hönigswald die Geltungsgliederung gleichfundamental ist wie die Weltgliederung, während sie bei Hartmann einen nachgeordneten und abhängigen Status bekommt. Verschieden ist audi die Bewertung von Ansich und Faktizität. Bei Hartmann ist das Ansich (Ansichsein), der ontologischen Grundthese entsprechend, jeder anderen Größe vorgeordnet, bei Hönigswald ist das Ansich (die Unabhängigkeit) ein der Faktizität (Monadizität) gleichgeordnetes Grundimplikat. Entsprechend ist der real-konkrete Geist bei Hartmann nachgeordnet und eingeordnet. Er ist nur „Schicht" einer Weltsphäre. Dasselbe gilt von der organischen Natur, für die Hönigswald ebenso wie für das Monadische einen Platz im Gefüge der Grundmomente vorsieht. Die Thesen Hönigswalds sind anspruchsvoll genug: „Der Organismus bedeutet . . . die naturhafte Repräsentation der Gegenständlichkeit."57 — Eine andere These: Der Organismus befinde sich zwar im Räume, er bedeute aber auch die „Setzung des Raumes, in welchem er sich mit den ihm zugeordneten Reizen befindet"58. Hönigswald bestimmt fernerhin den Organismus als „monadisches Naturobjekt" und sagt geradezu: „ . . . der Organismus ist immer jemandes' Organismus, oder er ist überhaupt nicht"59. Gerade an diesen Thesen, die (i.) den Organismus als Implikat von Bestimmtheit und Gegenständlichkeit kennzeichnen, (2.) den Organismus als Erkenntnis- und Erfahrungsbedingung für die konkrete Subjektivität in Anspruch nehmen und (3.) den Organismus selbst monadisch und durch die Monade bestimmt sein lassen, hält Hönigswald von Anfang (genauer: von der Denkpsychologie an) bis zum Ende fest. Wenn ich nun den Vergleich Hönigswald-Hartmann weiterführen darf: Bei Hartmann ist die Organologie Regionalontologie, die Lehre von bestimmten Bereichsprinzipien einer Realschicht. Den Begriff des 57 58 59

A . a . O . , 61. A . a . O . , 58. Selbstdarstellung,

209.

Das Denken als Tatsache

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Prinzips (Kategorie) hält Hartmann durch seine ganze Ontologie hindurch fest. Die Prinzipien gehen zwar im Prinzipiieren auf und haben kein Fürsichsein, zwischen Prinzip und Prinzipiiertem, zwischen Kategorie und Concretum gibt es aber keine Interferenz. Die Prinzipien bleiben in ihrem durchgängigen Schichten- und Sphärengefüge vom Konkreten geschieden (wenn wir von dem einen Punkt absehen, daß auch die Beziehung Prinzip-Concretum selbst als einer der prinzipienhaften Fundamentalgegensätze gefaßt wird). Anders bei Hönigswald. — Audi er kennt den Abstand von Prinzip und Prinzipiiertem, den er in dem Verhältnis von Prinzip und Tatsache faßt. Die Beziehung Prinzip-Tatsache ist indessen variabel. In der Naturgrundlegung treten Prinzip und Tatsache auseinander, in der Grundlegung der Monade und auch in der Grundlegung des Organismus fallen, so lehrt Hönigswald, Tatsache und Prinzip zusammen. Das hat zur Folge, daß es bei Hönigswald Tatsachen mit voller Prinzipienfunktion gibt. Diese Bestände, in denen sich das Zusammenfallen von Tatsache und Prinzip, von Tatsächlichkeit und Prinzip-Sein, ereignet, nennt Hönigswald ausgezeichnete Tatsachen. Dem entspricht mithin eine dreifache Gliederung: (i) bloße Tatsachen, wie die Naturobjekte es sind; (2) ausgezeidinete Tatsachen wie Monade und Organismus (oder auch monadische Sachverhalte wie beispielsweise Sprache oder Kunstwerk) und schließlich (3) bloße nichttatsachenhafte Prinzipien wie die Naturkategorien und der Kontext der Natur selbst, aber audi die Gegenständlichkeit selbst und alle Momente, die mit der Gegenständlichkeit der Vereinzelung von Erleben und Leben vorgeordnet sein mögen. Zu erwähnen ist noch, daß Hönigswald ungeachtet dieser Prinzipiendifferenzierung nur einen Prinzipienrawg kennt. Was als ein Prinzip bestimmt ist, das ist als ein letztes Prinzip bestimmt. Jedes Moment hat eine Stelle und eine Funktion in der einen Grundlegung. Kein Moment ist isoliert (oder auch nur in relativer Isolation) bestimmbar. Die Implikation aller Momente ist durchgängig (ebenso wie etwa bei Hartmann die implikative Bestimmtheit im Gefüge der Fundamentalkategorien).

18. Das Denken als Tatsache Die Frage, die die Hönigswaldsche Theorie des Organischen einleitet, ist diese: Wie ist der Naturbezug der Monade und des Monadischen insgesamt möglich? Wie muß die Tatsache beschaffen sein, die das Monadische befähigt (wir dürfen audi sagen: das Denken als Prinzip — das Denken als Gegenstände-setzender und Gegenstände-ermöglichender Konstitutionsgrund), Tatsachenbestimmtheit zu gewinnen? Wie ist es möglich, geltungsbestimmte und gegenstandserschließende Gedanken 5*

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Hönigwalds Iheorie des Organischen

in der Vereinzelung des konkreten Erlebens zu vollziehen und an etwas zu binden, das tatsächlich, das ein „Ereignis" ist? Tatsächlich im elementaren Sinne als pures Erfahrungsobjekt ist für Hönigswald aber einzig und allein das Naturobjekt. Hönigswald sucht ausdrücklich die „Ergänzung" für die Monade und für die Dimension der Intentionalität und des Erlebens. Er sucht ein Naturobjekt, dessen Struktur geeignet ist, der Monade mit ihrer Reflexivität und mit ihrer Intentionalität in der gegenständlichen Welt der Tatsachen einen Platz zu geben. D a die Natur aber auch der Bereich der primären Zeit ist, sucht Hönigswald in der Ergänzung zugleich den „Zeitort" für die Monade.

ip. Das Denken als Prinzip Die Monade erschöpft sich nicht darin, vereinzelte Subjektivität, vereinzeltes Erleben zu sein. Erleben bedeutet bei Hönigswald Intentionalität schlechthin, Intentionalität jeder Einstellung und Art. Das Erleben ist für ihn als ein Alles-denken-Können bestimmt. Ganz gewiß vermag kein einzelnes Subjekt quantitativ oder qualitativ die Allheit des Gegenständlichen zu vermeinen, doch — so Hönigswald — jede Vermeinensleistung steht unter der Voraussetzung und unter dem Maßstab einer als uneingeschränkt zu denkenden Allheit. Oder, wieder anders formuliert: jede gegenständliche Setzung steht unter der Bedingung der Gegenständlichkeit. Die Gegenständlichkeit im Hönigswaldschen Sinne hat hier eine doppelte Funktion. Sie verbürgt als Prinzipieninbegriff dem zu Erfassenden seine Bestimmtheit, unabhängig davon, ob es wirklich gedacht wird oder nicht. Zugleich aber und zum zweiten verbürgt sie dem Denken die Möglichkeit des Gegenstandsbezugs. In der Hinsicht des theoretischen, des wissenschaftlichen Denkens besagt das nach Hönigswald, daß die Gegenständlichkeit dem Subjekt die Möglichkeit eröffnet, den Gegenstand so zu denken, wie er ist, abgesehen und unabhängig von ebendiesem Denkvollzug selber. Die Gegenständlichkeit ermöglicht es also demjenigen Subjekt, das sich an sie bindet, den Gegenstand so zu denken, wie er an sich und für jeden anderen, für jedes andere Subjekt, bestimmt ist. Ich will an dieser Stelle nicht die Einzelheiten dieser Theorie explizieren, sondern nur darauf hinweisen, daß hier die Gegenständlichkeit — übrigens ganz ausdrücklich — als Geltungsprinzip, näherhin als Prinzip theoretischer Geltung bestimmt ist. Gegenständlichkeit ist hier der Grund gegenstandsbezogener und gültiger Gedanken (und ebenso der Grund ungültiger, aber darum nicht weniger gegenstandsbezogener Gedanken). Die einzelne Monade vollzieht zwar die Gedanken — und nur sie allein ist imstande, die Gedanken zu vollziehen, die gültigen so gut wie die ungültigen, die Gedanken „gehören" aber keineswegs einer

Die „Ergänzung"

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Monade allein. Sie sind vielmehr als „Sinnbestände" der mögliche Besitz aller. Sofern die Monade am Gegenstandsbezug teilhat, den die Gegenständlichkeit eröffnet, hat sie auch an der Prinzipienfunktion der Gegenständlichkeit teil. Diese Funktion aber muß erst einmal, den Ausdruck ganz wörtlich genommen, „Ereignis" werden. Das Erleben braucht, wie Hönigswald sagt, seinen Zeitort. 20. Die „Ergänzung" Hier haben wir ein weiteres Systemverhältnis zu bedenken. Der intersubjektiv verbindlichen (aber allerdings stets auf Vollzug angewiesenen) Ordnung gegenstandsbezogener Gedanken, der Ordnung der Sinnbestände, korrespondiert als ihr Anderes das schlechterdings Gedanken- und Subjektivitätsfremde, die Ordnung der puren Tatsachen der Natur. Soll aber ein Vollzug der Sinnbestände an irgendeiner Stelle — und das heißt: in irgendeinem monadischen Erlebnismittelpunkt — Zustandekommen, dann muß der Gedanke, der Sinnbestand selber in die Ordnung seines Anderen, in die Ordnung der Natur einbezogen werden. Oder, wie Hönigswald diese Beziehung gelegentlich kennzeichnet: der Sinnbestand (und seine ihm zugrundeliegende Ordnung) muß auf die Natur „abgebildet" werden. Das wäre schlechterdings unmöglich, wenn Subjektivität und Nicht-Subjektivität, wenn Ich und (pures) Nidit-Ich in allen Grundmomenten verschieden wären. Das sind sie indessen nicht. Was beide eint, ist die Zeit. Die Zeitfreiheit des Gedankens, die ihm um seiner Geltungsbestimmtheit und auch um seiner möglichen InterSubjektivität willen eignen muß, ist für Hönigswald nicht Zeitfremdheit. Die Zeitüberlegenheit des Gedankens stellt sich vielmehr als eine Weise der Zeitbewältigung, der „Zeitgestaltung" dar. Die Zeitüberwindung, die Verknüpfung des Geschiedenen in der präsentiellen Gleichzeitigkeit, ist für Hönigswald ein wesentliches Bestimmungsstück auch des Gedankens in seiner Geltungsreinheit. Diese Temporalität allein, die man in anderer Terminologie innere oder sekundäre Zeitlichkeit nennen mag, genügt aber eben noch nicht, um die Vereinzelung des Denkens und das Ereigniswerden des Denkens im konkreten Vollzuge zureichend zu bestimmen. Bemerkenswert ist hierbei, daß Hönigswald für die ganze Konkretheit der Monade den Nachweis zu erbringen versucht, daß sie der „Ergänzung" bedarf. Das gilt also nicht allein für die Vereinzelung und für die Einzelsubjektivität, es gilt ebenso für alle Formen der Intersub jektivität, für Verständigung, Uberlieferung, Sprache und Staat. Einzelsubjektivität wie InterSubjektivität bedürfen gleicherweise der „Ergänzung", und zwar einer ganz bestimmten Ergänzung, nämlidi durdi ein geeignetes, durch ein „monadisches" Naturobjekt.

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H ö n i g w a l d s Theorie des Organischen

Hönigswald gebraucht gelegentlich die einfache Formel: Nur sofern ich lebe, erlebe ich. Die Angemessenheit des Organismus, den Hönigswald das monadische Naturobjekt nennt, spiegelt sich in einer Reihe von Entsprechungsverhältnissen. Während das bloß Naturale als ein Außereinander seiner Zeitstadien zu betrachten ist, sind Erleben wie Organismus durch Zeit-Einheiten geprägt. So wie das Wissen allemal gewußt werden kann und so wie alles Erleben einen Selbstbezug an sich hat, ist audi der Organismus einwärts gewandt: Er gehört mit allen seinen Gliedern allemal „jemandem" (mindestens aber irgendeinem Wesen). Nach Hönigswald ist der Possessivbezug schlechterdings konstitutiv f ü r jedes organisierte Naturobjekt. Verwandt sind auch die Determinationsstrukturen bei der erlebenden Monade und dem Organismus. Die Monade muß imstande sein (oder im Einzelfall gerade daran gehindert sein), sich selbst zu bestimmen. Auch der Organismus genügt eigener Bestimmung, freilich nicht einer solchen, die im Wollen des Einzelwesens ihren Grund hat. — Worauf es Hönigswald entscheidend anzukommen scheint, ist der Grundsachverhalt, daß der Organismus der Monade, also „mein Körper", nicht nur überhaupt zur Konkretheit der faktischen Subjektivität gehört, sondern dies, daß der Organismus allererst die Vereinzelung der Monaden möglich werden läßt, da er es ist, der der besonderen Zeiteinheit: der sich vollbringenden Zeiteinheit der Monade zu einem „Zeitort", zu einer Stelle in der primären, nichtgestalteten, nicht-zentrierten Zeit der Natur verhilft. Da aber nichtgestaltete Zeit nur in der Verschränkung mit dem Räume bestimmt ist, verhilft der Organismus der Monade schließlich auch zu räumlicher Lokalisation. In der Vermittlung über den Organismus wird also die Natur selbst als ein Prinzip auch der Monadizität wirksam. 2i. Die Grundfunktion der Natur Leiblos, so könnte man es auch ausdrücken, wäre die Vereinzelung, und damit auch die Vielzahligkeit der Monaden, nicht denkbar, denn Vereinzeltheit bedeutet für Hönigswald Tatsächlichkeit, Tatsächlichkeit aber stets auch Naturalität. So hat denn jede monadische Größe ihre „natürliche Seite" und ist in ihrer Naturalität ein möglicher Gegenstand naturwissenschaftlicher Betrachtung, zugleich aber eben auch, da sie nur in der Bindung an ein organisiertes Naturobjekt vorkommen kann, ein Gegenstand biologischer Betrachtungsweise. Hönigswald versucht gelegentlich den Gedanken, ob nicht der Einheit des (theoretischen) Gegenstandes vermöge seiner, wie er es nennt, „Aspekthaftigkeit" eine Vielzahl der Subjekte korrespondieren müßte. Hönigswald hat diesen Gedanken nicht weiterverfolgt. Es hätte sich sonst ergeben müssen, daß unter den in der Theorie der Gegenständ-

Die interindividuelle Bestimmtheit der Organismen

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lichkeit angenommenen Voraussetzungen auch hier dasselbe sich gezeigt hätte, nämlich daß erst an einem vollbestimmten Begriff des unabhängigen Gegenstandes sich die Vereinzelung der Monaden bestimmen läßt. Erst wenn mit dem Moment der Unabhängigkeit auch das Moment der Nicht-Subjektivität gesetzt ist, mit allen Bestimmungsstücken einer selbstgenugsamen Natur, insbesondere mit einer einigen und nichtgestalteten Zeit, ist der Boden gesichert, auf dem die konkrete Monade ihre Vereinzelung und damit ihre Selbständigkeit gewinnen kann. Monadische Zeitgestaltung, dies ist der Sinn der Hönigswaldschen Lehre, kann erst dort einsetzen, wo bereits ein größenhafles Naturobjekt der Einheit einer Zeitgestaltung unterworfen wurde. 22. Die interindividuelle

Bestimmtheit der Organismen

Es hat den Anschein, als folge bei Hönigswald die belebende Organisation der Natur aus der Monade, wenn er den Organismus als ein monadisches Naturobjekt bestimmt. Der Organismus ist nadi Hönigswald nicht nur Bedingung für die Vereinzelung der Monaden, er ist zugleich auch Bedingung für jede mögliche Gemeinsamkeit der Subjekte. Gewiß ist die Intersubjektivität der Sinnbestände grundgelegt in der Einheit der Geltungsprinzipien und damit in der Einheit des Gegenstandsbezugs. Für die Monaden ist diese Einheit indessen keine von Natur aus gegebene Einheit, sondern allemal eine aufgegebene und zu verwirklichende Möglichkeit. N u r dort aber, wo tatsächliche, das heißt für Hönigswald: auch im Kontext der Natur bestimmte Beziehungen zwischen den Subjekten gegeben sind, ist der gemeinsame Bezug auf einen Gegenstand möglich. N u r dort können sich Monaden über den Gegenstand verständigen, nur dort ist ein Nachvollzug und damit eine Uberlieferung der Sinnbestände möglich, nur dort audi kann eine Gemeinsamkeit des Gegenstandsbezugs der Monaden planvoll herbeigeführt und pädagogisch eingeleitet werden. Die Intersubjektivität der Monaden knüpft also notwendig an die interindividuellen Relationen der monadischen Organismen an60. Die Folgebestimmtheit der intermonadischen Tradition ist zugleich an die Richtung der natürlichen Generationsfolge gebunden.

2j. Der Organismus als

Erfahrungsvoraussetzung

Noch in einer weiteren Hinsicht nimmt Hönigswald den Organismus als ein Grundmoment konkreter Monadizität in Anspruch. Nicht 60

Eine entsprechende Theorie der interindividuellen Relationen entwickelt Rudolf Hoffmann in seiner Würzburger Dissertation Zur Analytik des Gemeinschaftsbegriffs (1961).

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Höingwalds Theorie des Organischen

nur die Vereinzelung und nicht nur die Vergesellschaftung der Monade hängt von ihrer Organismus-Bestimmtheit ab, auch die Gegenstandsbezogenheit der Monade bedarf der leiblichen Organisation der Subjektivität als eines notwendigen Moments. Gemäß der Doppelfunktion der Gegenständlichkeit betrifft das nicht nur das Moment der Gegenstandsbezogenheit der Monade, sondern zugleich audi die, wie Hönigswald es nennt, „Ich-Bezogenheit" des Gegenstandes. Nur vermittelt durch den Organismus vermag sich die Monade auf den Gegenstand zu beziehen, und nur vermittelt durch den Organismus vermag das Unabhängige zum Objekt und damit zu einem Ich-Bezogenen zu werden. Das bedeutet nun freilich, daß im Gefüge der Gegenständlichkeit, oder genauer: im Zusammenhang des Inbegriffs möglicher Gegenstände, dem Natur gegenständ als Erfahrungsboden eine nichtwegdenkbare Funktion zufällt. Was immer als ein Gegenstand soll erfaßt werden können, muß sich auch unter dem Aspekt der Naturgegenständlichkeit bestimmen lassen, und sei der Abstand der besonderen Gegenständlichkeit von derjenigen der Natur noch so groß. Wenn aber die Naturgegenständlichkeit als ein Moment miteingeht in jeden Gegenstandsbezug, dann fällt dem Organismus der Monade (also „meinem Körper") eine besondere Rolle zu. Der eigene Organismus bestimmt der Monade ihren Ort im Felde der Erfahrungsgegenständlichkeit. Vermittels ihrer eigenen Naturalität ist sie „Gegenstand unter Gegenständen" und vermittels ihrer eigenen Naturalität ist ihr, lehrt Hönigswald, erst der Weg zu anderen Gegenständen eröffnet. Die Selbstbezogenheit, die Reflexivität, ist für Hönigswald — hier steht er in einem bewußten Gegensatz zu allen Theoretikern der geraden und primären Einstellung — in allen Erfahrungshinsichten mitkonstitutiv. Aus keinem Bereich der Erfahrung vermag die Monade sich herauszuhalten, von jedem Grundaspekt der Erfahrung (in erster Linie bei Hönigswald: Natur, Leben, Erleben, Geschichte) ist sie mitbetroffen. Das bedeutet nun freilich nicht, daß die Monade mit ihren konkreten Valenzen zum Maß aller Dinge und aller Einsichten würde. Die Monade ist vielmehr als Ort der Gegenstandserschlossenheit zugleich auch eingeordneter Gegenstand (und dies wiederum hinsichtlich ihrer Naturalität, hinsichtlich ihrer Lebendigkeit, hinsichtlich ihrer Präsenz und hinsichtlich ihrer Geschichtlichkeit).

24. Das Problem der nichthumanen Organismen An dieser Stelle schien mir eine Kritik nahezuliegen. Ich habe früher Hönigswald zwei Vorwürfe gemacht. Ich warf ihm vor, er habe die Eigenständigkeit des Organischen gegenüber dem Monadischen nicht

K r i t i k und Ausblick

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hinlänglich gewahrt. Und ich erhob den weiteren Vorwurf, der mit diesem ersten zusammenhängt, Hönigswald habe seine Theorie einseitig auf den humanen Organismus ausgerichtet und die Sonderbestimmtheit des animalischen und des pflanzlichen Organismus nicht genügend gewürdigt 91 . — Ich möchte heute diese Vorwürfe nicht mehr in der gleichen Schärfe aufrechterhalten. Zwar ist klar, daß für Hönigswald die Theorie des Organischen vor allem als ein Stück der Subjektstheorie in Betracht kommt. In einigen Punkten hat Hönigswald auch, daran halte ich immer nodi fest, die Strukturen des Monadischen allzuschnell auf die Sphäre des Lebendigen übertragen. Im ganzen glaube ich aber, daß der Vorwurf, bei Hönigswald handle es sich im wesentlichen um eine Organologie „von oben her", nicht stichhält. Das Schichtungsverhältnis des Oben und Unten ist hier ohnehin mit einem anderen Aspekt — dem des Gegenstandsbezugs — verschränkt. Hier ist demjenigen, das zuvor als das Untere gedacht war (und nun meinetwegen als das Rechte oder das Linke in der intentionalen Relation begegnet), der Natur also, die Grundfunktion ursprünglicher Unabhängigkeit, des vollgültigen Ansich, zugedacht. Der ganzen Anlage nach muß das Organische an dieser Grundbestimmtheit partizipieren und sich als naturaler und größenhafter Bestand gegen die Innerlichkeit und gegen die ideale Geltungsbestimmtheit des Monadischen behaupten. — Zwar lehrt Hönigswald, alles Erleben sei „mögliches Erleben", sofern eben nur „empirische Anzeichen" für das Vorhandensein von Erlebensleistungen gefunden werden können. A n der Grundverschiedenheit des ich-haften Erlebens jedem anderen Modus des Erlebens gegenüber läßt er aber nicht den geringsten Zweifel. A n mehreren Stellen erwägt er den Sonderstatus des nichthumanen Organismus. Ausgedehnte Überlegungen gelten der Sonderbeschaffenheit des tierischen Lebens, dem Problem der Tiersprachen und schließlich auch dem Problem der Dressur, das für Hönigswald in doppelter Hinsicht von Bedeutung ist, einmal hinsichtlich der Bestimmung der Relation Mensch—Tier und zum zweiten hinsichtlich der Frage nach dem für alle Pädagogik relevanten Abstand von Dressur und Erziehung. Auch der Eigenart des pflanzlichen Organismus widmet er einige grundsätzliche Erwägungen, die den Sonderstatus dieser Organisationsform mindestens im grundsätzlichen anerkennen.

25. Kritik und Ausblick Ich würde meine Kritik an der Hönigswaldschen Organismus-Theorie heute anders fassen. Es sind vor allem zwei Rücksichten, in denen Hönigswalds Organismus-Theorie nicht genügt. 81

Gegenständlichkeit

und Gliederung,

129.

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Hönigwalds Theorie des Organischen

(1) Hönigswald hat die Beteiligung des Organismus an der Konstitutionsfunktion der Monade in einem bestimmten Bereich — im Bereich der theoretischen "Weltkonstution — eindrucksvoll sichtbar gemacht. Er hat aber oftmals die Gegenständlichkeit von vornherein nur in dem spezifischen Sinn der theoretischen Gegenständlichkeit genommen und dabei zwar berücksichtigt, daß gerade seiner Grundlehre zufolge die konkrete Monade an der Konstitution der nichttheoretischen Gegenständlichkeit (in Praxis, Kunst und Glaube) beteiligt sein muß, nicht aber in zulänglicher Weise bedacht, welche Funktion hier dem Organismus als einem Moment der konkreten Subjektivität zufällt. Die geltungsgliedernde Systemfunktion, die nach Hönigswald die Monadizität besitzt, bleibt so (zum Teile wenigstens) unanalysiert. (Ansätze finden sich am ehesten noch in der Hönigswaldsdien Staatstheorie.) (2) Ein anderer Vorwurf ist dieser: Hönigswald bestimmt den Organismus gleicherweise wie die Monade als „Tatsache und Prinzip". Die Prinzipienfunktion des Organismus, wenn man von der bloßen Possessivrelation absieht, erschöpft sich aber im wesentlichen darin, daß der Organismus an der Konstitutionsfunktion der Monadizität beteiligt wird. Eine eigene Konstitutionsfunktion des Organismus wird von Hönigswald nicht berücksichtigt. Die zentrierende und konstituierende Bedeutung des Organismus für eine begrenzte Gegenständlichkeit wird deshalb nicht eigens bedacht, ebensowenig das spannungsreiche Beziehungsgefüge, das sich dort ergeben muß, wo die Umweltkonstitution zur Weltkonstitution erweitert wird, und wo die Umweltkonstitution in den Selbstentwurf der faktischen Subjektivität aufgenommen wird. Dieser zweite Mangel scheint mir mit einer Simplizität zusammenzuhängen, die der Hönigswaldschen Konzeption, allem Beziehungsreichtum und aller Verschlungenheit zum Trotz, dennoch anhaftet: Die Grundthese vom Zusammenfallen und vom entsprechenden Auseinandertreten von Tatsache und Prinzip ist selbst noch zu einfach. Nicht jede ausgezeichnete Tatsache ist Prinzip im gleichen Sinne. Der Organismus fungiert konstituierend und begründend in anderer Weise als die geltungsbestimmte Monadizität. — Hönigswalds Einzelausführungen tragen diesem Umstand teilweise Rechnung (so in der These vom vermittelten Kultur- und Geschichtsbezug des tierischen Organismus). Das Grundverhältnis selber bleibt indessen unaufgehellt. Einer nachrechnenden und weiterdenkenden Systemtheorie läßt Hönigswald noch Arbeit die Fülle. Ein Beispiel für eine solche an Hönigswaldsche Gedanken anknüpfende Theorie hat Wolfgang Cramer in seiner Monadologie und in seiner Geist-Lehre gegeben. Zweifellos ist es Cramer gelungen, den Abstand von Monade und Organismus strenger zu bestimmen und die Lehre von den verschiedenen Temporalitäten erheblich zu vertiefen. Doch angesichts der Vielfalt der sachlichen Motive und Aspekte im Hönigswaldsdien Werke bleibt noch genug zu

Kritik und Ausblick

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tun. Insbesondere die Problematik der Geltungsgliederung ist längst noch nicht ausgeschöpft. Es scheint mir kein ganz geringes Verdienst Hönigswalds zu sein, in einer Zeit, die in der Organismus-Problematik vorwiegend regionaltheoretische oder wissenschaftstheoretische Aufgaben erblickte, die Frage nach der Bestimmtheit des Organischen als ein philosophisches Problem fundamentalen Ranges in Angriff genommen zu haben.

Gestaltwelt ι. Gliederung der Intentionalität Die Intentionalität ist nichts anderes als die Möglichkeit des Subjekts, sich auf etwas und etwas auf sich zu beziehen. Diese Beziehung, die wir Wissen, Erleben, Vermeinen nennen, ist von jeder anderen Beziehung dadurch unterschieden, daß sie nicht Gegenstände miteinander verbindet, sondern Gegenstände ermöglicht. Vermeinend bezieht sich das Subjekt auf viele Gegenstände. Vermeinend bezieht sich das Subjekt auf grundverschiedene Gegenstände: auf Gegenstände, die Gegenstände sind und weiter nichts, auf Gegenstände, an deren Bestand das Vermeinen beteiligt ist. Zu diesen ausgezeichneten Gegenständen, an deren Bestand das Vermeinen beteiligt ist, zählt das Subjekt selbst mit allem, was ihm gehört, und zählt alles, was ihm gleicht: die anderen Subjekte und Subjekts-Kreise. Mögen die Gegenstände und die Gegenständlichkeiten noch so verschieden sein, das Vermeinen ist stets gegenstandsgerichtet, es ist Wissen-um. Aber nicht alles Wissen-um ist ein Erfassen-von. Vermeinen ist nicht immer ein theoretisches Vermeinen, ein Erkennen oder ein Erkennen-Wollen. Vermeinend sucht sich das Subjekt nicht nur in der Welt zu orientieren und über die Welt zu informieren, es sucht die Welt und in der Welt sich selbst auch zu verändern. Und vermeinend schaut es, vermeinend schafft es. Die Intentionalität des Subjekts ist nicht einfach. Sie ist gegliedert und bildet ein Gefüge von grundverschiedenen Möglichkeiten des Vermeinens. Den Grundweisen des Vermeinens entsprechen die ursprünglichen Sphären des Vermeinten: Welt, Tatwelt und Gestaltwelt. Die folgenden Seiten handeln von der dritten Sphäre. I. D a s

Nicht-Andere

2. Subjektivität und theoretische Subjektivität Was die Gestaltwelt ist, muß verborgen bleiben, solange Welt und Tatwelt nicht bestimmt wurden. Welt, Tatwelt und Gestaltwelt sind nur in dieser Folge bestimmbar. Die Bestimmtheit der Gestaltwelt setzt die der Tatwelt voraus, die Bestimmtheit der Tatwelt die der Welt. Anders ausgedrückt: Nur auf dem Boden der Weltkonstitution ist Tatweltkonstitution möglich. Der Gestaltweltkonstitution hinwiederum muß die Tatweltkonstitution vorausgegangen sein.

Bestimmtheit für die Subjektivität

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Die Welt ist das Korrelat der theoretischen Intention. Die theoretische Intention bringt die Welt nicht hervor, aber sie setzt die Welt voraus und sie hat nur unter dieser Voraussetzung einen Sinn. Wo der theoretische Gedanke etwas erfaßt, erfaßt er es als Weltstück. Wo er etwas verfehlt, verfehlt er es als Weltstück. Das gilt natürlich nur für die primäre Theorie, also nicht für das Erfassen und Verfehlen von Sachverhalten einer anderen Größenordnung: für das Bedenken der Welt selber und aller Größen, die ihr Äquivalent sind, für das Bedenken der Grundsachverhalte, das sich in der Philosophie vollzieht. Doch auch diese Grundsachverhalte beziehen sich auf die Welt. Sie können nicht in angemessener Weise erfaßt werden, wenn die Philosophie (die sekundäre Theorie) sie nicht von den Weltstücken, den Gegenständen der Erfahrung, zu unterscheiden weiß. Die Welt ist gegliedert. Diese Gliederung verdankt die Welt der Subjektivität. Sie verdankt die Gliederung freilich nicht der Subjektivität, die sich bloß theoretisch verhält. Wir unterscheiden die großen Gebiete der Natur und der Kultur. An den Gebilden der Kultur hat die theoretische Subjektsleistung zwar teil, aber zu einem guten Stück entspringen die Kulturgebilde doch nichttheoretischen Leistungen, ja die Hervorbringung der Kultur ist gerade keine theoretische Leistung, sondern eine praktische Leistung, denn Hervorbringen bedeutet stets Verändern und nicht Hinnehmen. Theorie aber ist nichts anderes als die Hinnahme des Unabhängigen, das hinnehmende Vermeinen eines von diesem Vermeinen Unabhängigen. Dennoch vermeint das Subjekt in der Theorie auch solches, das erst durch die Subjektivität eine Bestimmtheit erhalten hat. Die Welt und die Weltstücke, die der Theorie begegnen, haben nur zum Teile ihre Bestimmtheit unabhängig von der Subjektivität. Diesen Teil nennen wir Natur. Die Natur ist das Andere der Subjektivität, das Nicht-Subjektive. Dem theoretischen Vermeinen eignet jedoch Universalität. Es wendet sich nicht nur demjenigen zu, das das Andere der Subjektivität ist, es wendet sich auch demjenigen zu, das der Subjektivität zugehört. Jener Teil der Welt aber, der der Subjektivität zugehört, ist (im weitesten Sinne verstanden) die Kultur. Was dem Subjekt zugehört, kann zweierlei sein: es kann die Subjektivität selbst sein, es kann ein solches sein, das durch die Subjektivität bestimmt ist. Zur Kultur gehören also die Subjektivität und die subjektiven Gegenstände.

3. Bestimmtheit für die Subjektivität und Bestimmtheit durch die Subjektivität Durchaus nicht alle Gegenstände des Subjekts sind subjektive Gegenstände. Mögliche Gegenstände der Theorie sind schlechterdings alle Ge-

78

Gestaltwelt

genstände, wobei „Gegenstand" jetzt der Universalität der Theorie entsprechend uneingeschränkt weit zu denken ist, nämlich als das Bestimmte schlechthin. In diesem Sinne kann man sagen, daß jeder Gegenstand „ichbezogen" sei. Ichbezogenheit meint aber noch nicht Bestimmtheit durch das Subjekt, sondern bloß Bestimmtheit für das Subjekt. Die Objekte der (bloßen) Natur besitzen Bestimmtheit für das Subjekt (insofern sie erkannt sind oder erkannt werden können oder erkannt werden sollen), aber sie besitzen keine Bestimmtheit durch das Subjekt. Sie sind, ob das Subjekt sich ihnen zuwendet oder nicht, ob das Subjekt ihnen etwas zufügt und einlegt oder nicht. Subjektive Gegenstände sind nicht nur gedacht oder erkannt, denkbar oder erkennbar, sie sind bestimmt durch die Subjektivität. Ihre Bestimmtheit impliziert also mehr als ein Gegenstandsein und mehr als den Bezug auf die Subjektivität, insofern diese nur Denken und Erkennen ist. Um dies zu verstehen, muß freilich noch weitergehend aufgeklärt werden, was das Denken und Erkennen, also das theoretische Vermeinen bedeutet. Im theoretischen Vermeinen begegnet dem Subjekt nicht nur Anderes (Nicht-Subjektives), im theoretischen Vermeinen begegnet dem Subjekt nicht nur Natur. Es begegnet dem Vermeinen auch Nicht-Anderes. Was aber immer dem Subjekt in seiner theoretischen Einstellung begegnen mag, es begegnet ihm als Anderes. Es begegnet ihm als Unabhängiges.

4. Das Nicht-Andere als Anderes Dies nun ist eine relationale Bestimmung: das Andere dem Einen gegenüber, das Unabhängige, das in bezug auf eine andere Größe unabhängig ist. Audi das Subjektive begegnet also als ein Anderes. Damit es aber überhaupt begegnen kann, muß es allererst sein und bestimmt sein. Diese Bestimmtheit verdankt es der Subjektivität. Das Nicht-Andere als Anderes ist doppelbestimmt und doppelbezogen. Es ist mit bezug auf die Subjektivität ein Nicht-Anderes, da es ja (in welcher Form auch immer) zur Subjektivität gehört, es ist mit bezug auf das theoretische Vermeinen, mit bezug also auf die theoretische Subjektivität ein Anderes, da diese ja nur hinzunehmen vermag, nur Anderes zu vermeinen vermag, da diese ja nichts zu bestimmen, was hier bedeutet: in sein Sein und in seine Bestimmtheit zu bringen vermag. Andersheit mit bezug auf Subjektivität überhaupt (auf Subjektivität in der Fülle und Totalität ihrer Möglichkeiten) hat nur die Natur, Andersheit mit bezug auf theoretische Subjektivität besitzt auch das Subjektive, die Kultur, weil, gemäß der Universalität der Theorie, schlechterdings alles an dieser Andersheit teilhaben muß, weil es nichts gibt,

Das Nichtaufsichbeziehbare und das Aufsichbeziehbare

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von dem nicht gesagt werden müßte, daß es allein unter der Bedingung der Andersheit (also der Unabhängigkeit) erkannt werden kann. j. Das Nichtaufsichbeziehbare und das

Aufsichbeziehbare

Die Gegenstände, die durch die Subjektivität bestimmt sind — eine Bestimmung, zu der, wie gesagt, die theoretische Subjektivität schlechterdings unvermögend ist — besitzen einen besonderen Bezug auf die Subjektivität. Dieser Bezug kann nicht derjenige sein, der überhaupt ein Bestimmtes als Gegenstand ausweist. Der bloße Ich-Bezug fügt der Bestimmtheit des Bestimmten nichts hinzu, er gibt dem Gegenstand keine Ich-Bestimmtheit. Er verbürgt freilich auch noch nicht, daß der Gegenstand sich in seiner eigenen Bestimmtheit zeigt. Er macht das Bestimmte nur überhaupt zum Gegenstand des Denkens (Vermeinens), er macht ihn, anders gewendet, zum Inhalt des Vermeinens. Auch die Subjektivität, die nicht nur Vermeinen ist, sondern audi Erfassen, also Denken als das Begegnenlassen von etwas in seiner eigenen Bestimmtheit (was ebenso viel bedeutet wie: in seiner Andersheit oder Unabhängigkeit), fügt dem Bestimmten nichts hinzu. Wäre die Subjektivität nur Denken (Vermeinen-von) und wäre die Subjektivität (über diese Verfassung hinaus) nur Erfassen, dann könnte sie allerdings nur hinnehmen, dann könnte ihr nur Anderes begegnen. (Daß die Subjektivität dem Gegenstande die kategorialen Momente seiner Unabhängigkeit zudenken muß, versteht sich wohl von selbst. Dieses Zudenken, das dem Gegenstand seine Bestimmtheit vorgibt, ist indessen kein Einlegen. Dem Gegenstand fließt aus der Subjektivität hier keine gegenständliche Bestimmtheit zu.) Nun ist das Vermeinen erst dann und erst dort ein Erfassen, wo sich das Subjekt nicht nur überhaupt auf etwas bezieht und wo das Subjekt das Bezogene festzuhalten, zu erinnern und zu vergessen vermag, sondern wo das Vermeinen im Horizont und unter der Voraus-Setzung der Allheit des Bestimmten und also Vermeinbaren vermeint. Die Andersheit, die einlagenfreie Bestimmtheit, scheint mit der Natur zusammenzufallen. In der Tat ist die Natur die erste Form der Andersheit, die Andersheit des bloßen Anderen. Doch audi das Eingelegte, Subjekts-Bestimmte, muß erfaßt werden können. Schon das bloße Vermeinen ist uneingeschränkt. Alles ist möglicher Inhalt, audi das Vermeinen selber. Vermeinen ist Vermeinen von etwas und ist der Möglichkeit nach stets auch Vermeinen seiner selbst. Es ist ein Allesvermeinen-Können. Auch das Erfassen ist nicht bloß ein Erfassen von Anderem, sondern es ist zugleich auch möglich als ein Selbsterfassen. Vermeinen und Erfassen sind keine Gegenstände von der Art bloßer Gegenstände. Sie sind deshalb (in ihrer Eigenbestimmtheit als Vermeinen und als Erfassen) keiner bloßgegenständlichen Einschränkung un-

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Gestaltwelt

terworfen. Sie sind allbezogen und allbeziehbar. Das gilt ausdrücklich sowohl vom Vermeinen (überhaupt) als auch vom (theoretischen) Erfassen. Das bloße Vermeinen kommt allerdings nur als ein Moment an einem gerichteten Vermeinen vor (Erfassen, Entwerfen, Gestalten, Glauben). Immanenz ist stets das Moment einer Transzendenz. Auch das Vermeinen, das schweifend und irrend eine Richtung verfehlt oder zwischen Richtung und Richtung schwankt (zwischen Gegenständlichkeit und Gegenständlichkeit), steht unter dem Maßstab einer Richtung, unter der Idee einer Gegenstandskonstitution. Das Erfassen unterscheidet sich (auf einen sehr niedrigen Nenner gebracht) dadurch vom bloßen Vermeinen, daß es nicht nur zu wissen weiß (zu vermeinen vermeint), sondern daß es auch das Wissen vom Gewußten gegründeterweise zu unterscheiden weiß und, von dieser Unterscheidung ausgehend, die Welt in ihrer Bestimmtheit, in der Gliederung der Weltteile und der Differenzierung der Weltstücke, begegnen zu lassen vermag. Die theoretische Subjektivität beschränkt sich in ihrem Allbezug nicht darauf, nur die Natur und das Natürliche zu erfassen. Sie sucht sich auch selber zu erfassen. In diesem Erfassen weiß sie sich indes nur als eine Möglichkeit, als eine Richtung des Vermeinens. Die Subjektivität wendet sich zurück auf die Subjektivität im ganzen und auf die Subjektivität in ihrer elementaren und zugleich die Richtungen einenden Verfassung, Vermeinen, Intentionalität zu sein. Wo sie aber immer Subjektivitäten denkt, dort denkt sie diese als ausgezeichnete, als doppelbestimmte Sachverhalte, als Sachverhalte, die auf Anderes (auf nichtsubjektive Sachverhalte) und auf sich selber (auf Subjektives) bezogen sind. Diese Doppelbestimmtheit eignet aller Subjektivität. Diese Doppelbestimmtheit hat alle Subjektivität und hat alle Subjektivität für sich selber, wenn auch freilich nur die theoretische Subjektivität ein Anderes in Andersheit, in Unabhängigkeit vermeint. Das Unabhängige umschließt das Subjektive (die Subjektivität mit allem, was ihr gehört) und das Nicht-Subjektive (die Natur). Jenes ist das Einwärtsgewandte (oder Einwärtswendbare), das Reflexive, dieses das Nichteinwärtsgewandte, das Nichtreflexive. Das Nichtaufsichbeziehbare aber ist ein solches, dessen Bestimmungen außereinander sind. Die Bestimmtheit des Nichtsubjektiven ist das Äußere; das Aufsichbeziehbare, das, genau genommen, ein Sichzufsickibeziehen ist, ist ein Inneres, ein Beieinander. 6. Die Subjektivität als Denken und als Natur — Äußeres und Inneres Beieinander kann nur ein solches sein, das außereinander war. Nur das, was geschieden war, kann in eins fallen. Das ist nicht zeitlich zu

Zweierlei Gesdiaffensein

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verstehen. Das Zusammenbringen der Momente, das die Reflexivität ausmacht, ist nur möglich unter der Bedingung der Geschiedenheit der Momente. Geschiedenheit im vollen Sinne des Außereinander hat nur das Andere der Subjektivität, die Natur. Wenn die Subjektivität nun also im Sichwissen zu sich findet und sich im theoretischen Sichwissen in ihrer Nichtandersheit (nämlich in ihrer Subjektivität) als Anderes (nämlich als ein Bestimmtes, ob es vermeint wird oder nicht) denkt, dann kann sie sich nicht mehr in bloßer Nicht-Andersheit denken, nicht als bloßes Denken denken, dann muß sie die Nicht-Andersheit nicht nur im Horizont der Andersheit (als einen überhaupt möglichen Gegenstand), sondern audi unter der Bedingung einer bestimmten, einer artikulierten Andersheit denken, nämlich unter der Bedingung des Äußeren. Das Nichtandere wird ihr ( — sie selbst wird sich — ) so zu einem Inneren. Die Subjektivität als Inneres aber ist eine Subjektivität, die eine Natur hat, ist eine Subjektivität, die eine Natur ist, wenn audi freilich nicht bloße Natur. Die Subjektivität ist Denken und ist Natur zugleich, sie ist nicht bloße Natur, weil sie Denken ist, sie ist nicht bloßes Denken, weil sie Natur ist. Die Reflexivität der Momente, das Beieinander eines Geschiedenen, bringt Vereinzelung mit sich. War Subjektivität in ihrer Form als theoretische Subjektivität bisher eingeführt als eine Instanz, für die ein Anderes seine Bestimmtheit hat, so ist sie nunmehr auch als eine Größe denkbar, die für ein Anderes Bestimmtheit zu haben vermag. Die Bestimmtheit der Subjektivität für ein Anderes verschafft sich das Andere aber nicht selbst, da es als Äußeres und Außereinander sich nicht zu beziehen vermag, sie ist gesetzt von der Subjektivität selber und in der Subjektivität selber, insofern sich nämlich die Subjektivität selber als Natur setzt.

II. E n t w u r f u n d 7. Zweierlei

Gestalt

Geschaffensein

Die faktische Subjektivität ist der Konstitutionsgrund für ich-bestimmte Gegenstände. Die Gegenstände, die nicht nur für, sondern auch durch das Subjekt bestimmt sind, verdanken ihre besondere, über die bloße Natur hinausgehende Bestimmtheit dem Subjekt, sie sind insofern „geschaffen". Das Geschaffensein aber kann von zwiefacher Art sein. Es kann ein GeschafFensein sein, in dem das Subjekt sich selbst vollbringt, oder es kann ein Geschaffensein sein, in dem das Subjekt etwas für sich vollbringt. Die systematische Sachlage ist diese, daß das Subjekt einerseits einen Gegenstand von der Bestimmtheitsart des An6 Wolandt, Idealismus

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Gestaltwelt

deren hervorbringt und daß es zum zweiten einen Gegenstand von der Bestimmtheitsart des Für-das-Ich-Seins hervorbringt. Die beiden Geschaffenheiten, oder, anders ausgedrückt: die beiden ich-bestimmten Gegenständlichkeiten, die ich meine, sind der praktische und der ästhetische Gegenstand (und, entsprechend, die Horizonte dieser Gegenständlichkeiten: Tatwelt und Gestaltwelt). Der Einfachheit halber rede ich hier von „Gegenständen". Beide sind ich-bestimmt, d. h. geschaffen. Beide sind selbstverständlich auch vermeint, denn jede Gegenstandsbestimmung durch die Subjektivität impliziert in dieser oder jener Form ein Vermeinen. Sie sind also audi beide ich-bezogen. Und ebenso gilt, daß beide (das zu durchschauen ist allerdings schon schwieriger) unabhängig sind, insofern sie im universalen Horizont der Theorie müssen begegnen können. Dieser zuletzt genannte Grundsachverhalt tritt in der Wirklichkeit und Möglichkeit von Wissenschaften des Praktischen (wie Staats-, Rechtswissenschaft, Pädagogik, Medizin usf.) auf der einen und in der Wirklichkeit und Möglichkeit von Kunstwissenschaften auf der anderen Seite zutage. Dennoch treten an der Bestimmtheit beider Gegenstände die Momente der Unabhängigkeit und des Ich-Bezugs auseinander. Die Setzung des praktischen Objekts schließt stets das Moment einer Realisationsabsicht oder -forderung mit ein. Die Unabhängigkeit (das Ansich) ist ein Moment des Entworfenen, aber die Unabhängigkeit ist nicht das fundierende Moment des Entworfenen. Das Subjekt entwirft den praktischen Gegenstand zwar, damit er realisiert werde, aber ob er realisiert wird oder nicht. Auch der gescheiterte Entwurf ist ein Entwurf. Das Subjekt will und verantwortet auch das, was schließlich mißlingt. Der praktische Gegenstand ist durdi das Subjekt bestimmt, er ist, ob er unabhängig wird oder nicht, aber ihm eignet stets ein Moment der Unabhängigkeit. Wo das praktische Objekt im vollen Sinn realisiert ist, stellt es selbst kein Ziel einer praktischen Leistung mehr dar. Wo die Unabhängigkeit bestimmendes Moment geworden ist, hat die Praxis ihr Recht verloren und die Theorie, näherhin: die Erfahrung, ihr Recht gewonnen. Das Vergangene und Getane kann man nicht mehr ändern, das kann man nur noch „bewältigen". — Der ästhetische Gegenstand hingegen fordert keine Realisation. Er tritt an einem Realen auf, aber er ist selbst kein Reales. Er korrespondiert bestimmten Vollzügen — denen des Sehens, des Hörens, des Verstehens — aber er hat auch eine Bestimmtheit, die es dem Vollzuge ermöglicht, ihn wiederzufinden und wiederzuergreifen. Diese Bestimmtheit ist, da sie keineswegs ein in der Zeit vorgehaltenes Ziel des Leistens ist, ruhend und erfüllt. Die Erfüllungs- und Realisationslücke des praktischen Objekts ist dem ästhetischen Objekt fremd. Unabhängigkeit gegenüber den möglichen Vollzügen des Subjekts ist hier nicht aufgegeben, sondern gegeben. Zweifellos besitzt auch dieser Gegenstand ein Moment der Unabhängigkeit.

D e r praktische Gegenstand

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Aber audi hier ist die Unabhängigkeit nicht das fundierende Moment der Gegenständlichkeit. Es ist zwar gegebene, gegenwärtige und keineswegs zu erstrebende, zukünftige Unabhängigkeit, aber es ist die Unabhängigkeit eines Gestifteten und stets von neuem zu Stiftenden. Diese Unabhängigkeit gründet im Ich-Bezug. Das Subjekt bestimmt nicht (wie in der Praxis), es nimmt nicht hin (wie in der Theorie), es nimmt hin, was es bestimmt hat. Zwar kann das Subjekt auch sonst Ich-Bestimmtes hinnehmen. Das tut es in der Theorie des Praktischen. Aber dann nimmt es das Ich-Bestimmte als Anderes hin. Hier aber nimmt es Ich-Bestimmtes in Ich-Bestimmtheit. Das macht die Sonderart des Geschmacksurteils und die des ästhetischen Gegenstandes zugleich aus.

8. Der praktische Gegenstand Wir sprechen zwar vom praktischen und ästhetischen Gegenstand, wie wir vom theoretischen Gegenstand sprechen. Die ursprünglidie Verschiedenheit der nichttheoretischen Gegenständlichkeiten von der theoretischen Gegenständlichkeit wird dabei leicht verdeckt. Gewiß sind auch die nichttheoretischen Gegenstände nicht bloße Inhalte (immanente, „intentionale" Objekte). Auch sie besitzen Transzendenz. Doch ihre Transzendenz ist von der des theoretischen Gegenstandes wesentlich verschieden. Das nichttheoretische Objekt ist nicht bloß Gegenstand für das jeweils die entsprechende Gegenstandssetzung leistende Subjekt. Im Gegensatz zu dem bloß in der Immanenz Vermeinten (und bloß in dieser Immanenz Bestimmten) ist das nichttheoretische Objekt möglicher Gegenstand für andere Subjekte und im Prinzip für alle Subjekte, sofern diese nur zum Setzungsnachvollzug imstande sind. Der Gegenstand der nichttheoretischen Setzung ist also nicht bloß ichbezogen (wie der Inhalt), er ist auch subjektsgemeinschaftsbezogen, er besitzt einen Intersubjektivitätsbezug wie der Gegenstand der Theorie. Und doch fehlt, wenn man diese Eigenart einen Mangel nennen will, diesen Gegenständlichkeiten ein Moment als Fundierungsfaktor, das immerhin das erste und bestimmende der theoretischen Gegenständlichkeit ist: die Unabhängigkeit, das Ansich. Der Umstand, daß auch nichttheoretische Objekte zu Gegenständen der Theorie werden können, macht sie noch nicht zu Objekten von schierer Ansich-Bestimmtheit. Nichttheoretische Objekte, wenigstens gilt dies für das praktische und für das ästhetische Objekt, haben ihren Konstitutionsgrund in der Subjektivität, näherhin in einer bestimmenden und prägenden Funktion der Subjektivität. Wenn indessen der theoretische Gegenstand von der Subjektivität konstituiert ist, dann unter Ausschließung ihrer selbst, als nichtbestimmt durch die Subjektivität. Nichttheoretische Objekte bleiben auch als Gegenstände der Theorie nicht6*

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Gestaltwelt

theoretische (praktische, ästhetische) Objekte. Die Theorie rückt sie in ihr Konstitutionsfeld (das Feld des Unabhängigen) als bereits durch Subjektivität konstituierte, aber als durch nichttheoretische Subjektivität konstituierte. Anders als bei der Natur, auf die in der Erkenntnis erstmals der Strahl der Subjektivität, des Vermeinens, trifft, fungiert hier die theoretische Konstitution als eine nachfolgende, als eine sekundäre Konstitution. Die praktische Leistung ist Sichbestimmen, und zwar ein Sichbestimmen des Subjekts in seiner Unabhängigkeit. Diese Unabhängigkeit schließt Naturalität, Vereinzelung, Faktizität ein. Es ist ein Sichbestimmen zu einer besonderen, so oder so beschaffenen, Unabhängigkeit, die ohne die Selbstbestimmung nie zustandegekommen wäre. Dabei ist zu vergegenwärtigen, daß es sich um ein Bestimmen (und um ein Vermeinen) des Selbst durch das Selbst, des Subjekts durch das Subjekt handelt. Dieses Sichselbstvermeinen ist Selbstbezug, aber keine Reflexion, denn es ist kein hinnehmendes Vermeinen — das Subjekt vermeint sich nicht in seiner Gegebenheit, sondern in seiner Aufgegebenheit, Entworfenheit. Damit hängt es zusammen, daß die praktische Leistung, wenn sie auch das Subjekt zu ihrem Gegenstande hat, ihren Grund keineswegs in subjektiven Gegebenheiten haben kann (in subjektiver Willkür). Obwohl einzelne Subjekte sidi selbst bestimmen, bestimmen sich diese Subjekte doch zu dem, was die Subjektivität im Grunde, in der Entfaltung ihrer idealen Momente ihnen abverlangt. Zur Möglichkeit dieses Sichbestimmens und Sichvermeinens gehört die Nichtgegebenheit des vermeinten und zu bestimmenden Objekts. Der praktische Gegenstand ist das Subjekt selbst in seiner Aufgegebenheit, das Subjekt in seiner Geistigkeit, in seiner Naturalität, in seinen Lebensbezügen. Der ästhetische Gegenstand ist von anderer Beschaffenheit. Er gründet zwar in einer Leistung des Subjekts, aber er ist nicht das Subjekt, das gegebene Subjekt so wenig wie das aufgegebene. In seiner NichtSubjektivität gleicht der ästhetische Gegenstand dem theoretischen. Auch der theoretische Gegenstand ist nicht das Subjekt. Es sei denn, das Subjekt würde in der Theorie (in der Reflexion) zum Gegenstand gemacht. Doch auch in der Reflexion geht es nicht um das vermeinende Vollbringen der Subjektivität, sondern um das Vermeinen der Subjektivität in ihrer (hier nicht erst zu vollbringenden) Unabhängigkeit, um ihre Bestimmtheit im Zusammenhang mit anderen Bestimmtheiten, im Horizont des Unabhängigen überhaupt. Allerdings wird auch der theoretische Gegenstand vom Subjekt konstituiert, aber er wird doch nicht als ein zu bestimmender konstituiert. Ebendies ist beim praktischen Gegenstand der Fall. Der praktische Gegenstand steht unter der Bedingung des Handelns, er steht unter der Bedingung des Subjekts in seiner Subjektivität (seinem Vermeinen-Können) und in seiner Naturalität (seinem Wirken-Können). Nennt man dieses Subjekt

Entwurf

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„Monade", so darf man sagen, der praktische Gegenstand sei ein monadischer Gegenstand. Der ästhetische Gegenstand, der Gegenstand innerhalb der Gestaltwelt, ist hingegen nur ein Gegenstand für die Monade, er ist, wenn man so will, ein „monadisierter" Gegenstand. 9. Entwurf Man möchte gern zwischen monadischem Gegenstand und Monade unterscheiden. In gewisser Rücksicht hat das einen Sinn. Das faktische Subjekt denkt, erkennt, produziert, fühlt, träumt, meint, g l a u b t . . . Alle denkbaren Leistungen sind Leistungen der Monade. Die Monade leistet gewiß nicht nur in einer Sphäre des Praktischen und nicht nur unter Maßstäben des Praktischen. Dennoch ist die Monade nichts anderes als der praktische Gegenstand. Die praktische Leistung ist das Sichselbstvollbringen des Subjekts. Es ist gewiß auch ein Sichselbstmeinen, aber ein Sichselbstmeinen, insofern Meinen hier Tätigen, Vollbringen einschließt. (Daß praktisches Vermeinen nicht allemal, garantiert sozusagen, gelingt, lehrt an entsprechendem Orte die Praktische Philosophie. Dennoch ist Vermeinen hier stets, mag ihm Gelingen beschieden sein oder nicht, auf Vollbringen aus.) Das Vermeinte ist hier das Subjekt als ein Zuverwirklichendes. Zum Subjekt gehören selbstverständlich auch die Natur des Subjekts, die Umgebung des Subjekts, die Lebensund Kulturumwelt des Subjekts, die Tatwelt. Zum Subjekt gehören auch die anderen Subjekte, insofern sie Gegenstände eines praktischen Verhaltens werden. (Husserl hat die Komplexheit der Umwelt und damit des praktischen Gegenstands in Ideen II beispielhaft freigelegt.) Der Gegenstand ist hier also (erstens) das Subjekt selbst und (zweitens) ein zu vollbringender. D a es aber ein Zeitliches ist, das hier vollbracht wird, ist es ein aus der Zukunft zu Gewinnendes und in die Zukunft hinein zu Vermeinendes und zu Denkendes. Das In-die-Zukunft-hinein-Denken nennen wir Entwerfen. Das praktische Objekt ist entworfen, der praktische Gedanke ist der Entwurf. D a es aber das faktische Subjekt ist, das entwirft, handelt es sich um die unendliche Vielfalt von „je eigenen" Aufgegebenheiten und „Zukünften".

10. Entwurf und

Erfahrung

D a das Moment der Unabhängigkeit hier der Monade, also dem faktischen Subjekt korrespondiert (und nicht der universalen und einigen Intentionalität) oder, anders ausgedrückt, da das Einzelsubjekt es selbst auf sich nimmt, Unabhängigkeit, primäre und als Tatsächlichkeit zu respektierende Seinsbestimmtheit zu konstituieren, durchbricht es

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Gestaltwelt

audi die Sphäre einer universal hinzunehmenden Seinsbestimmtheit. Was es hier vermeint, was es entwirft, ist nicht als Erfahrungsgegenstand bestimmbar. Es hat den Grund zu seiner Bestimmtheit nicht in der Natur. Das Subjekt steht unter Ideen, denen es sich zwar nicht willkürlich — sonst brächte es sich um seinen eigenen Bestand, nämlich um seine Subjektivität — aber doch frei unterwirft. Erst das Verwirklichte, also der gelungene Entwurf, besser: das (so oder so, und durchaus nicht immer „gut") gelungene Entworfene ist — nach seinem Vollbrachtsein — ein Gegenstand möglicher Erfahrung, weil es nun nicht mehr einer je eigenen und bloß monadischen Zukunft angehört, sondern einer Gegenwart und Vergangenheit, die die Gegenwart und Vergangenheit aller ist, und damit jener primären Zeit, die ein Moment des unabhängigen Gegenstandes ist. Der praktische Gegen5tand war nicht nur für eine Verwirklichung überhaupt, sondern gewiß auch für eine Naturalisation entworfen. Ist er naturalisiert, kann er auch erkannt, nämlich erfahren werden. Dennoch bleibt ihm seine Herkunft, sein Ursprung aus dem Geiste. Angemessene Erfahrung wird ihm seinen Ursprung lassen müssen als ein Bestimmungsmoment, das zu seiner besonderen Unabhängigkeit gehört. Deshalb ist Geschichtserfahrung stets auch, sofern man diesen bestimmten Sinn unterlegt, Ideengeschichte. Ii. Gestalt und Vollzug Der ästhetische Gegenstand ist Gestalt. Die Gestalt ist geschaffen, aber nicht verwirklicht. Ich kann die Gestalt sehen oder hören oder auch beides zugleich. Sie hat ihre Bestimmtheit in der Natur, eine, wie es scheint, unabhängige Bestimmtheit, da auch andere sie hören und sehen können und mit mir oder nach mir sehen und hören — nämlich „dasselbe" hören und sehen, aber sie ist dennoch nicht verwirklicht. Sie ist nur, insofern ich sie, insofern ein Subjekt sie „verwirklicht", aber das Subjekt verwirklicht sie gerade nicht, sondern es hört und sieht sie. Der ästhetische Gegenstand fordert nicht wie der praktische Gegenstand verwirklicht zu werden, sondern er will vollzogen werden. Die Leistung ist auch hier ein Vermeinen, insofern sich das Subjekt auf etwas richtet, aber sie ist weder, wie in der Theorie, ein Vermeinen um seiner selbst willen (das dem Vermeinten nichts aus der Faktizität einlegt), noch ist es ein Vermeinen, das Tätigen einschließt, sondern es ist ein Vermeinen, das Vollziehen einschließt. Während im Praktischen der Gegenstand allemal unter der Bedingung einer ursprünglichen Vollbringbarkeit gedacht werden mußte, steht hier der Gegenstand unter der Bedingung der Vollziehbarkeit. Die Vollziehbarkeit ist aber Vergegenwärtigung. Nicht die Zukunft jenes so schwer zu vertretenden Sachverhalts, der ich selbst bin, steht hier in Frage, sondern die Gegenwart eines Gegenstandes, der mir gehört in seiner Gegenwärtigkeit. Der Gegenstand ist

Gestalt und Verständigung

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hier nur, soweit ich ihn habe. Das Haben gehört zu seinem Bestand. Das Haben ist gegenwärtig, präsentiell. Was mir entschwunden ist, was ich „nidit mehr zusammenbringe", vermag ich nicht mehr der Einheit des Gestaltgefüges einzugliedern. Die Gestalt will zusammen gehört, gesehen und — in bestimmtem und durchaus angebbarem Sinne — verstanden werden. Daß sie zusammengefaßt und zusammenerfaßt werden will, bedeutet, daß sie gegen andere Gegenstände — auch gegen Gegenstände ihrer Art, also gegen Gestalten — in ihrem Eigenbestande sich behauptet und durch eine angemessene Würdigung, durch ein angemessenes Subjektsverhalten, behauptet werden will. Sie ist vielheitlich, weil auf monadische Konstitution verweisend, sie ist verwirklichungsfremd, weil sie immer wieder durch die Subjektivität erzeugt werden will und erzeugt werden muß, und nicht etwa, wie das geschichtliche Subjekt und seine Lebenswelt, ein für allemal gut oder schlecht, auf jeden Fall aber endgültig verwirklicht worden ist. Die Gestalt hält das Subjekt in der Bewegung des Vollzugs, und die Bewegung des Vollzugs, die das innere Leben des Subjekts ist, wäre nicht möglich, wenn die Gestalt nicht dieser Bewegung immer wieder ein Ziel geben würde.

12. Gestalt und Verständigung Die Gestalt ist indessen nicht einfach. Die ganze Inhaltlichkeit und Bestimmtheit des Subjekts vermag sich in Gestalt zu verwandeln, wenn auch nicht auf einmal und an einer Stelle. Ein Teil dieser Verwandlung sind die Künste, ein Teil dieser Verwandlung ist das Naturschöne, der schöne Leib und die schöne Landschaft, ein Teil dieser Verwandlung ist der Ausdrucksgehalt, der auch den anderen, den „nicht-ästhetischen" Leistungen des Subjekts stets anhaftet. Die Sphäre der Gestalt, die Gestalten und die Gestaltwelt, — das ist nichts anderes als die Vergegenwärtigung des Vollzugslebens der Subjektivität in der äußeren Welt und damit zugleich die Gegenwärtigkeit der Innerlichkeit für das andere Subjekt, denn nur im Äußeren vermag die innere Gegenwärtigkeit Intersubjektivität zu erlangen. So ist die Gestalt denn auch der Boden aller möglichen Verständigung. Weder Erkennen allein noch Handeln allein kann Verständigung möglich werden lassen, das vermag erst die Gestalt. III.

Subjektivation

ι j. Gestalt und Kunstwerk Das Kunstwerk ist gestalthafter Gegenstand, ebenso wie das Naturschöne (der ästhetisch differente Leib und die ästhetisch differente

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Gestaltwelt

Landschaft) und die Ausdrucksträger der nichtästhetischen Kulturleistungen, der nichtästhetischen Gedanken-Objektivationen es sind. Es ist von jenem (dem Naturschönen) dadurch unterschieden, daß es seinen gegenständlichen Bestand einer Leistung des Subjekts verdankt, während das Naturschöne vom Subjekt vorgefunden wird, es ist von diesen, den Ausdrucksträgern der nichtästhetischen Objektivationen, dadurch unterschieden, daß die Gestalt zugleich die Einheit des Gegenstandes verbürgt. Die Ganzheit des Kunstwerks ist selbst Gestalt. Die Einheit der nichtästhetischen Objektivation ist entweder der theoretische oder der praktische oder auch der religiöse „Sinn". Die Einheit liegt in diesen Fällen in einem Gegenstandsbezug, und die Gestalt hat nur die Funktion, diesen Gegenstandsbezug, diesen Sinn für eine Subjektsmehrheit zu manifestieren. Die Manifestation tätigt allerdings das konkrete Subjekt mit seiner eigenen Stimme, mit seiner eigenen Hand. Die Manifestation trägt deshalb in Rede und Schrift auch stets die Züge der Handschrift und die Züge des persönlichen Sprechens. Kann der Sinn auch nur so manifestiert werden, so muß er doch stets von der jeweiligen, faktischen und monadischen Manifestation losgelöst werden können und in neuer Manifestation von anderen Subjekten angeeignet werden können, und zwar angeeignet werden können auch in anderer Ausdrucksform, in anderer Handschrift, in anderer Rede und auch in anderer Redefügung. Was immer gegenüber dem Sinn in monadischer Leistung und durch die monadische Leistung variabel ist, das gehört in diese Sphäre des Ausdrucks, Ausdruck als Sinnirager verstanden. Beim Kunstwerk ist das anders. Wo das Kunstwerk Sinn enthält, dort ist auch der Sinn selbst gestaltet, dort sucht sich der Sinn seinen Ausdruck und der Ausdruck seinen Sinn. Eine Variation des Ausdrucksmoments zieht zugleich eine Variation des Sinnmoments nach sich und umgekehrt. Das Kunstwerk ist stets gestalthaft, aber es ist nicht stets einfache Gestalt, es ist nicht allemal bloß Gestalt. Daß die Gestalt in ihrem bloßen Gestaltsein keine einfache Größe ist, sondern die für das Subjekt geformte Ordnung fundierender (physischer, naturaler) Elemente, darf ich hier voraussetzen. Aber auch über das Gestaltsein hinaus kann das Kunstwerk Verweisungssinn besitzen. Es meint dann einen Gegenstand, der die Gestalt selbst nicht ist. Die Gestalt selbst nimmt einen Sinnbezug auf. Die Gestalt stellt etwas dar. Die Darstellung ist dort vergleichsweise am einfachsten, wo die Kunstgestalt eine gegenständliche, nämlich eine natürliche Struktur (in bestimmter Abwandlung) wiederholt. Das Kunstwerk hat hier eine Projektionsfunktion. Es steht hier noch nicht auf der Stufe des Gedankens. Diese Stufe hat es erst in der Poesie erreicht. Hier trägt die Gestalt den Gedanken, aber der Gedanke ist unmittelbar mit der Gestalt verknüpft. Wo ich dem Gedanken eine andere manifestierende Gestalt entsprechen lasse, dort än-

Objektivation und Subjektivation

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dert sich in der Poesie auch der Gedanke. Deshalb ist Übersetzen von Dichtwerken stets zugleich ein (mehr oder weniger gelingendes) Umdichten. Eine besondere Schwierigkeit liegt darin, daß das poetische Kunstwerk in derselben Sphäre seine Bestimmtheit hat, oder doch ein wesentliches Moment seiner Bestimmtheit, wie der nichtpoetische Gedanke. Der Unterschied liegt hier nur darin, daß der Gegenstand weder hingenommen ist, noch als ein zu verwirklichender (und damit als ein einer künftigen Hinnahme zugänglicher) vermeint ist, sondern in der Intention selbst entspringt. Der poetische Gegenstand ist fingiert. Freilich unterscheidet er sich von Fiktionen der bloßen Einbildung dadurch, daß er manifestiert ist.

14. Objektivation und Subjektivation Die Kunst enthält eine Folge von Stufen, in denen sich das Subjekt den Gegenstand zueignet oder in denen das Subjekt den Gegenstand „subjektiviert". Die Objektivation des Subjektiven (der Vollzüge, Gefühle, Stimmungen, Absichten, Gedanken usf.) ist stets auch eine Subjektivation des Objektiven. D a das bloß Objektive aber die Natur ist, handelt es sich hier stets um eine Subjektivierung und Durchgeistung und Beseelung der Natur. Nimmt man die Innerlichkeit des Subjekts als das eigentlich Lebendige (von dem das andere, das geistlose Lebendige eine verwandte Form sein mag, da es auch eine eigene Innerlichkeit und Zentriertheit besitzt), so darf man mit Recht die Gestalt eine „lebendige Form" nennen. Kunst also ist als Objektivation des Inneren zugleich Subjektivation des Äußeren. Um den Uberblick zu erleichtern, zeige ich die Folge der Subjektivation des Objektiven, der die Folge der Objektivation des Subjektiven entspricht, in einem Schema. Subjektivation und Objektivation sind gegenläufig. Die Natur nimmt immer weitere Momente der Subjektivität und der subjektiven Bestimmung und Gliederung in sich auf, ohne je als Moment ausgeschaltet zu werden. Auch die Objektivation des theoretischen Gedankens hat noch ihre naturale Seite, so untergeordnet sie sein mag. Natur und theoretische Objektivation sind Schlußglieder. Die Natur trägt alles. In der theoretischen Objektivation spiegelt sich alles. Der theoretische Gedanke baut sich die Welt noch einmal — als Gegenstand. Er geht in dem, was er vermeinend voraussetzt, nicht zur benachbarten Größe. Der Versuch, Entwurfs- und Kunstgedanken, Bilder und Gestalten zu verstehen, ohne deren Naturbezug zu berücksichtigen, bliebe bodenlos. Die Theorie setzt auch dort, wo es ihr nicht um die Natur geht, die Grundordnung der Natur als den Boden ihrer Erfahrung immer schon voraus. Während die Subjektivität im ganzen, in der

Gestaltwelt

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Kultur

Natur Kunst anorg. Natur

org. Natur Pflanze] Tier (Umwelten)

handelnd veränderte Natur

NaturObjektivation des Bild gestalt bloße Kunst(NaturPlastik Male- poet. | prakt. | rel. sdiö- gestalt rei ; Gedankens nes) •

theoret.





Τ

Gestal- Darstellungsbezug tung

Τ

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1 1' aijf aijf Ein ieit Vi elhe it be zobee togene g ne Vi elhe:it Ein ieit

1 Ε inh eit

Subjektivation Objektivation

Entfaltung zur Vollständigkeit ihres Wesens, auch von der bloß immanenten Intention zur erfassenden und von dieser zur selbstbestimmenden (die Subjektivität bestimmenden und differenzierenden) Intention fortschreitet, von dieser zu den übertragbaren Gestalten der darstellenden Künste bis zur festgelegten, eingeordneten und unübertragbaren Gestalt des Baukunstwerks und schließlidi zur unmittelbaren Determination der eigenen und der fremden Naturalität im Handeln, überspringt der theoretische Gedanke die ganze Folge, macht mit der reinen Erfahrung des Bloßnaturalen den Anfang, um über das Erfassen der naturnächsten und der naturfernsten Manifestationen der Subjektivität zu sich selbst zurückzukehren. Das Sdiema zeigt, darauf möchte ich ausdrücklich aufmerksam machen, nicht alle Systembezüge, insbesondere diejenigen nicht, die die Umfassensfunktion der nichttheoretischen Sphären (der Tatwelt, der Gestaltwelt) kennzeichnen. Der eine Bezugspol der gezeigten Gliederung ist die bloße Natur. Diese wird aber in ihrer reinen Andersheit und Subjektsfremdheit nie zum Gegenstand einer nichttheoretischen Setzung, wenn auch viele nichttheoretische Gedanken sich auf ein Vermeintes beziehen mögen, an dessen Aufbau die Natur als Moment beteiligt ist. Die Gliederung überspannt den Zwischenraum zwischen dem theoretischen Gedanken als Weltgebilde (als Gebilde in der Geäußertheit und

Objektivation und Subjektivation

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also in der äußeren Welt), einer Größe, der das Faktische nur als Träger und schlechterdings nicht als Konstitutionsgrund dient, und der subjekts-, geist- und lebensfremden Natur. Naturbezug und Naturbestimmtheit sind also entscheidende Gesichtspunkte der Stufung. Dabei wird deutlich, daß sich die Eigenbestimmtheit der Objektivationen von Gedanken (intentionalen Größen, Sinnbeständen) nicht in der Getragenheit durch ein naturales Objekt, in der Bindung an den Objektivationsträger (das Gefüge fundierender physischer Elemente) erschöpfen kann, daß die Bestimmtheit intentionaler Bestände und intentionaler Objektivationen nur in dem Momente der Getragenheit von dieser Welt ist, in dem Momente der Intentionalität (der Gegenstandsbezogenheit) aber über diese Welt hinausweist. Das gilt für die Objektivationen des praktischen, des religiösen und des poetischen Gedankens, insofern sie auf ein Entworfenes, Geglaubtes oder Gedichtetes sich richten — Größen, die alle keinen Platz in der primären Erfahrungswelt haben, das gilt aber bemerkenswerterweise auch für die Objektivation des theoretischen Gedankens, obwohl sein Gegenstand diese Welt selbst ist und alles, was sie enthalten mag. Denn der intentionale Bezug auf die Welt ist in seinem Grunde kein weltlicher Bezug. Erkenntnis ist keine Seinsrelation. Als Objektivation ist die Erkenntnis in der Welt. Als Weltkonstitution (die in jeder theoretischen Setzung eingeschlossen ist) korrespondiert die Erkenntnis der Welt, ist sie Weltkorrelat. Die Welt gibt nicht nur der Weltkonstitution (im theoretischen Gedanken) einen Platz, sie ist in den nichttheoretischen Hinsichten durchlässig für zusätzlichen Sinn. Diese Sinnsetzungen und Gegenstandskonstitutionen sind nicht nur der theoretischen Sinnsetzung und Gegenstandskonstitution gleichrangig, sie sind auch gleicherweise allbezogen: im Gegenstand des Glaubens bezieht sich das Subjekt auf den Ursprung des Ganzen, im Gedicht erscheint das Verhältnis der Subjektivität zum Ganzen, und im Entwurf bestimmt sich das Subjekt zu jeder Leistung, zur Totalität seines Subjektslebens. Dementsprechend muß es möglich sein (in der Religionsphilosophie, in der Praktischen Philosophie, in der Philosophischen Poetik), die Weise des Bezugs jeder nichttheoretischen Intentionalität und Gegenständlichkeit auf jedes Gebiet und auf jedes Moment der Grundlegung aufzudecken, wobei zu berücksichtigen ist, daß die Gegenständlichkeit sich in jeder Intention anders spiegelt und daß sich in den nichttheoretischen Welten die primäre Weltgliederung nicht einfachhin wiederholt. Das tritt vor allem schon darin zutage, daß an allen nichttheoretischen Weltkonstitutionen die Monadizität als ursprünglich pluralisierendes Moment beteiligt ist. Nicht also die theoretische und die poetische Gegenständlichkeit sind grundlegungstheoretisch zu konfrontieren, sondern die theoretische Gegenständlichkeit und die poetischen Gegenständlichkeiten, ebenso Welt und Tat weiten.

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Gestaltwelt

Der Begriff der Objektivation ist hier in einem doppelten Verstände genommen. Objektivationen im engeren Sinne sind die Objektivationen von Intentionen. In ihnen manifestiert sich eine ungegenständliche, nämlich eine gedankliche Gegenstandskonstitution, die sich durchaus, und nicht nur im Bereich der Theorie, in Setzungen und Bestimmungen, also in Urteilen vollzieht. Objektivation der Subjektivität ist aber audi die gegenständliche Darstellung im Bilde (in projizierender und in konzentrierender Darstellung, im ebenen und im räumlichen Bilde). Objektivation ist gleichfalls das Ins-Äußere-Treten der Subjektivität in der geschaffenen Kunstgestalt und in der ungeschaffenen Naturgestalt. An allen diesen Objektivationen von der Äußerung des theoretischen Gedankens bis zum Anschauen der Natur ist ein Gestaltmoment beteiligt, doch audi das Einwirken der Leiblichkeit der Subjektivität auf die Natur ist eine Weise ihrer Objektivation. Letzte Stufen der Objektivation von Subjektivem, freilich einer geistfremden und womöglich noch seelenfremden Subjektivität, finden sich in der Belebung der N a tur. Hier erschöpft sich der weiteste Sinn der Objektivation. Umgekehrt wird die Natur, in der aufsteigenden Stufenfolge, von Leben, Seele und Geist durchdrungen, gegliedert, durchbrochen und überhöht. Andererseits nimmt die Subjektivität von Schritt zu Schritt in den Objektivationen Weltbestimmtheit in sich auf und bringt sich zuerst in ihrer vereinzelten Innerlichkeit (im Glauben) und schließlich in ihrer vollen Naturalität (im Handeln) ins Spiel. — Die Reiheneinteilung wäre wohl auch anders möglich gewesen. Nicht alle Stufen besitzen den gleichen Systemrang und dieselbe Selbständigkeit. Kunst, Praxis, Religion, Theorie könnten je ein Gliedmoment repräsentieren; ebenso aber auch Natur, Leben und Geist. Auf die Zwölfzahl der Stufen kommt es gewiß nicht an. Indes kommt es aber auf die sachliche Folge an. Die wüßte ich nicht zu ändern. Wichtig ist es auch festzuhalten, daß Praxis als Weltveränderung und die praktische Objektivation (die Objektivation von Entwurfsgedanken) zwei verschiedene und deshalb verschieden zu placierende Grundsachverhalte sind. Der geäußerte Entwurfsgedanke ändert die natürliche Welt noch nicht, wenn er als Äußerung auch ein naturaler Sachverhalt ist — wie jede andere Äußerung (in Rede und Schrift) sonst. Der Hände Arbeit verändert die Welt, nicht der Appell, wenn auch ohne Vorsatz und Plan und Entwurf nichts bewirkt würde.

ι f. Die Stufen der Gestaltwelt Die Kunst ist eine Form der Subjektivation, aber eben nur eine, wenn auch eine reich gegliederte und vielfältige. Sie selbst steht in einer größeren Stufungsfolge, jener Stufungsfolge, die mit der Subjektivität im ganzen identisch ist — und der übrigens auch die Objektivität im

Die T a t w e l t und die Gegenständlichkeit des Unabhängigen

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ganzen entspricht, wenn diese auch nicht mit jener zusammenfallen kann. Am Anfang der Folge steht die Natur, das Unberührte und bloß Objektive. Es folgt das „künstlich" (durch Handeln) Veränderte: Leib und Umwelt, so weit sie durch Aktivität über den („rohen") Naturzustand hinaus verändert wurden. — Eine Zwischenstufe zwischen bloßer Natur und kultivierter Leiblichkeit und Umwelt nimmt die Sphäre des geistfremden Lebendigen (Pflanzen und Tiere mit ihren besonderen Umwelten) ein. Eine nächste Stufe ist die Gestaltwelt, beginnend in der gestalthaft erlebten Natur (das Naturschöne, besser: die ästhetisch differente Natur und der ästhetisch differente Leib), sich fortsetzend in den kunstvoll und künstlich hervorgebrachten Gestalten. Jenseits von „bloßer" Gestaltkunst (reiner Ton-, Werk- und Baukunst) finden wir das gestalthafte Bild und den gestalthaften Gedanken. Diese verweisen auf eigene Gegenstände und Gegenständlichkeiten, frei geschaffene Gegenständlichkeiten, die über das gestaltete Naturale, über die natürliche Form, die Raumform, die Farbe, den Umriß, die Linie, den Laut und den Rhythmus hinausliegen. Das Bild teilt noch gegenständliche Strukturen mit dem Vermeinten, das — poetische — Wort nicht mehr: die vermeinte Gegenständlichkeit und die vermeinten Gegenstände sind in der Gestaltung zugleich gedacht, sie sind über alle mögliche Naturstruktur, über alle nachzumessenden Maße hinaus vermeint und insofern frei, nicht-natural gesetzt und allenfalls in einer Illustration andeutbar, aber gewiß nie erreichbar, weil sie nicht als primär-äußere Gegebenheiten vermeint sind, nicht in bloßer Naturalität vermeint sind. Das im poetischen Gedanken Vermeinte hat kein äußeres Dasein, keine Unabhängigkeit gegenüber der stiftenden, schaffenden Subjektivität. Ebendeshalb hat es auch nirgendwo eine exakt angebbare Ausmessung. Das Vermeinte hat — wo immer Maßbestimmungen gegeben, gesetzt werden — seine, d. h. seine produzierte Zeitlichkeit und seine produzierte Räumlichkeit. 16. Die Tatwelt und die Gegenständlichkeit des Unabhängigen Der Schritt zum Äußeren vollzieht sich im praktischen Gedanken, der Schritt von der Gestaltwelt zur Tatwelt, von der für das Subjekt bestehenden Gegenstandswelt zur an sich bestehenden. Doch auch hier bleibt noch die Ich-Bestimmtheit, der Bezug auf eine konstituierende faktische Subjektivität. Der Gegenstand des praktischen Gedankens und damit derjenige der praktischen Objektivation, also der Äußerung des praktischen Gedankens, ist das Selbst als ein unabhängig zu machendes, d. h. als ein zu verwirklichendes, und die Welt des Selbst, seine Umwelt, seine Tatwelt. Eine Vielheit von Welten auch hier, aber mit dem Mo-

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Gestaltwelt

ment der Unabhängigkeit, in der Form des Verwirklichungssinns, des Verunabhängigungssinns des Entworfenen, des praktisch Vermeinten und Gedachten. Erst im theoretischen Gedanken und in der theoretischen Objektivation kommt die Subjektivation zur Vollendung, das Denken erreicht die Sadie und durchläuft — erkennend — die ganze Folge der Entfaltung der Subjektivität nodi einmal. Der vermeinte Gegenstand ist nun erstmals nicht etwas über die Natur hinaus, wie die gestaltgetragenen Gegenständlichkeiten (Bildwelten und Gedichtwelten), und wie die Entwurfswelten (die je eigenen Aufgegebenheiten und Zukünfte), sondern der Gegenstand ist hier die Natur selbst und alles übrige, in seiner Bezogenheit auf die Natur, in seiner Eingezeichnetheit, in seiner Einbezogenheit, Fundiertheit usf. Die Natur ist konsequent die erste Form des für das Subjekt bestimmten Anderen, die erste Form des in seiner Andersheit angeeigneten Anderen. Alle anderen Bestimmungen, die ihren Ursprung in der Subjektivität selbst haben, können nun erst in ihrer Bestimmtheit, in ihrer Unabhängigkeit, in ihrem Ansich, ergriffen und erfaßt werden. Der theoretische Gedanke ist über den ästhetischen (d. h. den poetischen) und den praktischen Gedanken hinaus der Schritt, über partikuläre und monadische Gegenständlichkeiten (des Entwurfs und der Gestaltung) hinaus die universale und einzige Gegenständlichkeit des Unabhängigen zu erreichen.

IJ.

Kunstwerk und Artefakt

Die Objektivation (als Gehalt- und Sinnträger) ist nur eine Form der Subjektivation des Objektiven (der Natur). Die erste, wenn man von der Sphäre des Organischen absieht, ist die handelnde Bestimmung der eigenen Natur des Subjekts (des Leibes) und die seiner Umgebung (Artefakte, Werkzeuge, Bauwerke). Die zweite ist auch noch nicht im vollen Sinne Objektivation, wenigstens noch nicht Hervorbringen einer solchen, sondern Ergreifen eines Vorhandenen als Ausdrucksträger, als ein Ausdruckshaltiges und also als ein Gestalthaftes: die in Gestalten erlebte Natur, das Naturschöne. Hier erlebt das Subjekt noch als ihm gehörig, was es nicht selbst geschaffen hat. Erst auf der Stufe der bloß gestaltenden Künste scbaffl das Subjekt das ihm Gemäße, es schafft Gestalten und Gestaltgefüge. So wie das Subjekt sich selbst und seine Innerlichkeit (sein Denken) in der Natur behauptet und vollbringt, so bringt es nun Subjektives in die Gegenstände, die es schafft und verändert. Dabei ist zu beachten, daß das Kunstwerk stets ein Stück der Umwelt ist, die wir beim Geistsubjekt, das sich und sie entwirft, Tatwelt nennen sollten. Das Kunstwerk ist also stets ein Artefakt: es ist stets auch, das gilt vom Gedicht

Maschine und Hand

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ebenso wie vom Dom, von der Symphonie ebenso wie vom Porträt, ein künstlich geformtes materielles Gebilde, ob sein Bestand am einzelnen Gebilde hängt (wie beim Bauwerk) oder nicht (wie beim Dichtwerk). Jedes — oder doch fast jedes künstlich geformte Gebilde (diese Einschränkung ist angesichts der modernen technischen Möglichkeiten, mit dem Ganzkleinen und mit dem Ganzgroßen zu operieren, angezeigt) ist als Gestalt erlebbar oder doch im Hinblick auf eine mögliche Gestalthafligkeit betrachtbar. Andererseits ist nicht jedes Artefakt ein Kunstwerk. Nur ein soldies Artefakt, das durch die Einheit eines Gestaltzusammenhangs bestimmt ist, ist ein Kunstwerk. Das bedeutet zugleidi, daß der Formung des Kunst-Artefakts ein einender Gestaltungs- und Ausdruckswille (ein „Kunstwollen") einer einzelnen faktischen Subjektivität (oder ein gemeinsamer Ausdruckswille im Zusammenwirken einer faktischen Werkstattgemeinschaft) zugrunde liegen muß. Was ohne diesen Ausdruckseinsatz, ohne dieses Gestaltenwollen (das durchaus unbewußt, unreflektiert sein kann) zustandekommt, das ist kein Kunstwerk. Das hängt damit zusammen, daß das Subjekt Hervorbringungstechniken audi übernehmen, wiederholen, bloß anwenden kann, ohne seine Seele, wie man so sagt, oder sein Seelenheil daranzuwenden. Das Nützliche, das Brauchbare, das Zweckmäßige ist zwar auch etwas spezifisch dem Subjekt Gehörendes, und zu ihm Gehörendes, es ist aber noch nicht in dieser Bestimmtheit zugleich als Gestalt bestimmt. Andererseits schließen die Nützlichkeit und Dienlichkeit keineswegs aus, daß ein Artefakt Kunstwerk sei. Auch das bloß Nützliche, also ein solches, das für keine „höheren" Zwecke als die der Lebenserhaltung und der Lebenserleichterung (des Wohnens ζ. B.) bestimmt und brauchbar ist, kann durchaus ein Kunstwerk sein. Es kommt einzig und allein darauf an, welcher Ausdrucks- und Gestaltwert dem Artefakt eignet.

18. Maschine und Hand Die Kunstbestimmtheit schließt also allemal ein Wertmoment ein. Übrigens möchte ich das medianisch Hergestellte nidit von vornherein aus dem Reich der Kunst hinausweisen. Nur wo ein mechanisches Wiederholen an die Stelle der Gestaltung tritt, wo es Ersatz wird für ein solches, das mit Hand und Herz vollbracht werden müßte, begegnet uns ein Wertwidriges. Das Ideal ist durchaus ein Deckungsverhältnis von Tatwelt und Gestaltwelt, ein Inbegriff von Artefakten also, die ausnahmslos dem Auge und dem Ohr wohlgefällig sind. Nur das Mißgestaltete und vor allem das Schwindel- und Scheinhafte stört diese ideale (und stets geforderte) Harmonie des Dienlichen und des Gestalthaften. Wo das Mechanische in den Dienst des Gestaltungswillens tritt, dort kann es durchaus seinen angemessenen Platz haben und hat

Gestaltwelt

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ihn in der Baukunst von altersher gehabt, wo der Meister dem Gehilfen die Herstellungsanweisung gab. Ebensogut hat es diesen rechten und legitimen Platz einer Dienstfunktion in der modernen Welt der Fließbänder. Die Arbeit der Maschinen zeitigt vor allem dort bedenkliche Resultate (und zwar mit Rücksicht auf die hervortretenden Gestaltqualitäten bedenkliche Resultate), wo sie Handwerksarbeit vortäusdit. Audi das, was den technischen Möglichkeiten nicht mehr gemäß ist, das künstlich erhaltene Handwerk, das sich Kunsthandwerk nennt, führt oft genug zu ähnlich unwahren (hinsichtlich des zugrunde liegenden Gestaltungswillens unwahren) Gebilden. Mit der Handgemaditheit allein ist es noch nicht getan. Die Hand will auch in angemessener Weise schaffen. Was die Maschine besser kann, ist ihre Sache nicht mehr. Die Sache der Hand ist hier eine andere: das Hervorbringen der Maschine, so weit bei Entwurf und Entwicklung im Ernste Hand angelegt werden muß. Die Herstellung von Nippes (und Verwandtem) gibt weder der Hand noch dem Ausdruck eine angemessene Aufgabe. Die Geschichte der Werkkunst fällt mit der Geschichte der Technik zwar nicht zusammen, aber die Werkkunst kann hinter der Technik auch nicht hoffnungslos zurückbleiben. Beider Schicksale sind miteinander verknüpft.

19.

Darstellungsfunktion

Doch das Gestalthafte bleibt von dem Technischen und dem Dienlichen unterschieden. Die Bedeutung der Dienlichkeit und die Funktion des Technischen (im Sinne zweckvoller und ökonomischer Naturbewältigung) tritt dort stärker zurück, wo an die Gestalt Darstellungsfunktionen geknüpft sind. Zugleich widerfährt hier dem Natürlichen (über Artefakt- und Gestaltbedeutung hinaus) eine zusätzliche Subjektivation: das Artefakt und Gestaltgebilde verweist auf Gegenstände. Diese Gegenstände waren zuvor nicht da, sie erscheinen nur vermittels des Werkes. Wie zuvor in die Natur die Innerlichkeiten des Subjekts hineingekommen waren, getragen von den Leibern der Subjekte, so kommen jetzt neue Gegenständlichkeiten in Natur und Welt.

IV.

Konstitution

20. Die theoretische

Objektivation

In der theoretischen Objektivation ist die Entfernung von der Natur am größten. Die theoretische Objektivation bietet dem Gedanken in einer uneingeschränkten Nichtnaturalität Platz. Welches naturale Material der Gedanke für sein Geäußertwerden in Anspruch nimmt, ist

Sinnbestände

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für die Bestimmtheit des Gedankens vollkommen gleichgültig, ebenso, an welcher Stelle in der zeitlichen und räumlichen Ausbreitung des N a turalen der Gedanke ins Äußere tritt. Dennoch handelt es sich auch hier um echte Objektivation. Audi der theoretische Gedanke bedarf eines Naturobjekts, um Weltbestimmtheit und damit den Status eines Gegebenen zu erlangen. Die Letztstelligkeit der theoretischen Objektivation unter den Gebilden in dieser (primären) Welt, unter den Gegenständen, die wir als Gegebene erfahren, bekundet sich zugleich in einer Bezogenheit auf die ganze Reihe möglicher Weltbestimmtheiten und möglicher Gegebenheiten: die theoretische Objektivation (die theoretische Rede) ist, insofern sie dem Erkenntnisgedanken Raum gibt, auf die ganze Folge des Primärbestimmten, des Unabhängigen bezogen, da nur der theoretische Gedanke ein Bestimmtes so zu intendieren vermag, wie es an ihm selber bestimmt ist. In dieser intentionalen Beziehung, die wir diejenige der Erfahrung nennen, kommt nun wiederum dem Ganzanderen, dem ganz und gar Denkfremden, der bloßen Natur und ihren Objekten, eine systematisch ausgezeichnete Bedeutung zu: Nur in der Natur und in einer Bezogenheit auf Naturales vermag das theoretische Denken etwas zu erfahren. Was immer für das theoretische Denken Erfahrungsgegenstand ist, das ist ihm auch ein in den Ordnungen der Natur bestimmter Gegenstand. Die Natur gibt den ersten und den letzten Objekten der Erfahrung ihren Platz; sie ist der universale Erfahrungsboden, sie ist der durchgängige Beziehungsgrund für jedes primär bestimmte und bestimmbare Weltstück, sei es Organismus, Leib, Seele, sei es Handlung, Werk, Ausdruck, Manifestation, sei es Subjekt, sei es Intersubjektivität — was es auch immer sein mag, sofern es nur einen Platz in der Welt des Unabhängigen beanspruchen darf.

2i.

Sinnbestände

Die Gebilde der Kunst — Bauwerke, Musikstücke, Gedichte — sind weder ein Naturfremdes wie der theoretische Gedanke, noch auch sind sie ein bloß Naturales. Sie sind auch nicht von der Art, daß ihrer Eigenbestimmtheit der Platz ihrer Objektivation und das Material, das ihre Objektivation ermöglicht, gleichgültig und beliebig, d. h. schlechterdings frei variabel, auswechselbar wäre. Das Bauwerk hat seine Stelle in der Landschaft, das Musikwerk seinen an die Gegebenheit bestimmter Naturbestände geknüpften Klang, das Poem hat Klang und Dauer, dennoch ragen sie alle aus der bloßen Natur heraus. Dieses Herausragen kann aus der Weltbestimmtheit allein nicht verstanden werden. Die Letztstelligkeit der theoretischen Objektivation hat ihren Grund allein in der spezifischen Intentionalität des theoretischen Gedankens. 7

Wolandt, Idealismus

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Gestaltwelt

Diese ist universale Intentionalität, eine Vermeinensuniversalität, deren erste (aber nicht einzige) Gestalt diejenige der Erfahrung ist. Der theoretischen Intentionalität korrespondiert der Inbegriff möglicher Gegenstände, die Allheit möglicher Gegenstände. Die Bestimmtheit des theoretischen Gedankens geht ganz und gar darin auf, diese Leistung zu vollbringen, ein Bestimmtes in der diesem Bestimmten eigentümlichen Bestimmtheit zu vermeinen. Unabhängigkeit ist dergestalt ein Korrelat des theoretischen Vermeinens. Nun vollzieht sich das Vermeinen aber in einer Vielfalt von Setzungen und Bestimmungen, deren Ergebnisse die theoretischen Gedanken, die „Gehalte", sind. Die Ordnung dieser Gehalte, ihre progressive Entfaltung, die dem Progreß des Vermeinens des Unabhängigen entspricht, ist unterschieden von der Manifestation, der Äußerung des Gedankens. Im Prinzip können dieselben Gedanken beliebig oft objektiviert werden. Die Stelle und die natürliche Beschaffenheit der Objektivation ist wesensverschieden vom Intentionssinn der Gedanken. Das scheint nicht von den künstlerischen Objektivationen zu gelten. Dem künstlerischen Sinnbestand ist es nicht gleichgültig, wer ihn objektiviert, zu welcher Zeit er ihn objektiviert und in welchem Material er ihn objektiviert. Eine Pieta in Gips könnte durchaus einen anderen künstlerischen Gehalt haben als eine solche in Marmor. Das Material ist nicht gleichgültig für den künstlerischen Sinnbestand. Dementsprechend kommt in der Kunst eine ganz andere Vielfalt der Sinnbestände in Betracht. Jede Produktion und jede Reproduktion, jede „Auffassung" und Wiedergabe hat auch in künstlerischer Rücksicht eine eigene Bedeutung, während dem theoretischen Sinngehalt das Wer, Wann und Wo gleichgültig sind, sofern nur irgendwer irgendwann und irgendwo die Voraussetzung für eine Objektivation geschaffen hat. Die Welt der theoretischen Sinngebilde ist nicht nur eine Einheit (nämlich die des „Gewußten" — und die des Wißbaren, die der möglichen Gedanken), sie ist audi bei weitem kleiner als die Welt der theoretischen Objektivationen, der Äußerungen des theoretischen Gedankens. Die Welt der künstlerischen Sinngebilde hingegen scheint, mit einer wichtigen Einschränkung, genauso groß zu sein wie die Welt der künstlerischen Objektivationen. Die Einschränkung betrifft die Sachverhalte der Reproduktion und des Nachvollzugs. Hier kehrt gewiß das einmal produzierte Sinngebilde wieder. Insofern ist auch in dieser Rücksicht die Sphäre der Objektivation weiter. Aber die Wiederkehr bedeutet doch jedesmal auch eine Neugestaltung, eine Neuformung, und es ist doch nicht ganz dasselbe — gerade auch in künstlerischer Hinsicht nicht —, welches hier wiederkehrt, es kann und soll es auch nicht sein, da eine stiftende Leistung auch des reproduzierenden und auch des nachvollziehenden Subjekts gefordert ist.

99

Nicht-Unabhängiges

22.

Nicht-Unabhängiges

Doch das ist nur eine erste Verschiedenheit der beiden Sinngebiete. Die Einzelbedeutung, die das künstlerische Sinngebilde zusammen mit seiner Objektivation hat, ist damit noch nicht erklärt. Das theoretische Sinngebilde ist Vermeinen eines Unabhängigen. Das Vermeinte des künstlerischen Sinngebildes ist ein anderes. Es ist Nicht-Unabhängiges (wenigstens in bestimmten und fundamentalen Momenten). NichtUnabhängiges ist nur denkbar als ein solches, das durdi eine besondere Konstitutionsleistung gegründet ist. Konstituiert das Denken in der theoretischen Leistung seine Gegenstände als unabhängige (in Unabhängigkeit), so konstituiert hier das Denken Gegenstände in Abhängigkeit. Wie ist eine solche Determination des Denkens möglich? Hat das vermeinende Stiften eines vom Subjekt Abhängigen einen Sinn? Wir haben zunächst zu klären, wie eine von der theoretischen abweichende Gegenstandskonstitution beschaffen ist, und dann, worin diese Konstitution ihren Grund hat. Dabei kommen wir in eine weitere Konstitutionssphäre. Wissenschaft und Kunst sind offenkundig nicht die einzigen Formen der Gegenstandskonstitution, und Kunst ist nicht die einzige Form der Konstitution ich-abhängiger Gegenständlichkeiten, desgleichen ist auch die Theorie nicht die einzige Form der Konstitution eines in Unabhängigkeit Vermeinten. 2j. Verwirklichung, Anschauung,

Ich-Bestimmung

Die Welt ist voll von Sachverhalten, die allein möglich sind, weil das Ich, weil ein Ich sie einmal vermeint hat. Die Subjekte selbst sind nur möglich, weil sie vermeinen, weil sie sich vorwegnehmen, weil sie sich vermeinend wollen. Jede Leistung, unter Einschluß der theoretischen ist nur möglich, weil sie vermeinend verwirklicht wurde. Leisten ist allemal Denken, und zwar nicht nur das Denken des in einem geleisteten oder zu leistenden Gedanken Vermeinten, sondern auch das Denken des zu vollbringenden Leistens selber. Für das Gebiet der Theorie können wir das auch so ausdrücken: Im Vermeinen des Unabhängigen entwirft das Subjekt (vermeinend) die Wissenschaft. Die ganze Sphäre des ZuVerwirklichenden, des Zu-Vollbringenden ist ich-abhängige Gegenständlichkeit. Erst in der Vollbrachtheit wird sie zum Unabhängigen, und damit auch zu einem Gegebenen möglicher Erfahrung. Diese Gegenständlichkeiten, die den Entwürfen des sich selbst verwirklichenden und sich selbst verantwortenden Subjekts entsprechen, sind abhängige und, gemessen an der Gegenständlichkeit, die dem theoretischen Vermeinen zugeordnet ist, sekundäre Gegenständlichkeiten. Die sekundäre Gegenständlichkeit der Kunst ist von diesen Gegenständlichkeiten gleichwohl noch unterschieden. 7»

100

Gestaltwelt

Das Sekundäre der Praxis (wenn ich das Feld des Entwurfs so nennen darf) ist ein solches, das ein Primäres, ein Unabhängiges werden soll, das Sekundäre der Kunst wird nicht verwirklicht, es wird nur angeschaut und soll nur angeschaut werden, wobei das Anschauen auch ein hörendes oder hörend-sehendes oder verstehendes Anschauen sein kann. Der Leistungssinn der Theorie — und damit komme ich zum Geltungsaspekt — ist das Erfassen des Anderen, das der Gegenstand für den Gedanken ist, der Leistungssinn der Praxis ist die Verwirklichung der Subjektivität (selbstverständlich nicht irgendeine Verwirklichung, sondern diejenige, die dem Sinn der Subjektivität gemäß ist), der Leistungssinn der Kunst ist die Produktion eines solchen, das zwar für die Subjektivität ist, das aber nicht die Subjektivität selber ist. Wenn diese Produktion einen Sinn haben kann, dann nur diesen, daß das Subjekt sich hier einen Gegenstand gibt, durch den es sich selber zu bestimmen vermag. Das künstlerisch Vermeinte ist nicht bloß ichbestimmt, wie es die Subjektivität als sich-selbst-bestimmende notwendigerweise auch ist, es ist zugleich auch ich-bestimmend, und zwar, das ist die Wesenseigentümlichkeit dieses Bestandes, es ist als Gegenstand, als ein vom Subjekt Verschiedenes, als ein Anderes, ich-bestimmend. An dieser Stelle zeigt das Kunstgebilde eine Momentübereinstimmung mit dem religiösen Objekt, mit dem Gegenstand des Glaubens, der Anbetung, der religiösen Furcht und der religiösen Hoffnung. Auch der Gegenstand des Glaubens ist ich-bestimmend, insofern er geglaubt wird als Schöpfer und Schöpfung, Richter und Gericht usf., aber der Gegenstand des Glaubens wird als ein unabhängiger geglaubt. „Gott ist nicht, weil ich an ihn glaube, sondern ich glaube an ihn, weil er ist." Gleichwohl ist er mir, dem Subjekt, zugewandt, wie es der Gegenstand der Erkenntnis nimmermehr ist. Der Gegenstand der Theorie ist mir gegenüber gleichgültig. Art, Umfang und Gültigkeit meiner Erkenntnisleistung sind ihm nichts. Der Gegenstand des Glaubens aber erschließt sich mir, er ist gegenwärtig in seinem Bezug auf mich, obwohl er doch auch von mir unabhängig ist. Wenn aber das künstlerische Objekt ich-bestimmend genannt werden kann, so ist seine Ich-Bestimmung eine selbst durch das Subjekt gestiftete.

Zeitgemäße Anthropologie ι. Unbehagen

und

Protest

Das große Unbehagen in unseren Tagen nimmt Partei für den Menschen. Der weltweite Protest richtet sich gegen die Unmenschlichkeit. Die Mißvergnügten sind zwar verständlicherweise in vielen Punkten uneins. Einig sind sie sich indessen darin, daß der Mensch unterdrückt oder bedroht sei. Diese Unterdrückung und diese Bedrohung haben nach Meinung der Mißvergnügten ein doppeltes Gesicht. Der Friede des Menschen ist von zwei Seiten her gestört. Das Verhältnis des Menschen zum anderen Menschen ist nicht in Ordnung. In Unordnung ist aber auch das Verhältnis des Menschen zur Sache und zu den Sachen: zu den Maschinen und zu den Gütern dieser Erde beispielsweise. Die Protestierenden fordern eine Änderung dieser Verhältnisse. Sie fordern, daß der Mensch nicht durch den Menschen unterdrückt werde und daß der Mensch nicht der Sache Untertan sei. Sie fordern konsequent das Gegenteil, nämlich daß der Mensch dem Menschen gegenüber frei sei — eine Gesellschaft der Freien, ohne Herren und Knechte, und daß dem Menschen die Sache Untertan sei, daß er die Maschine, und nicht die Maschine ihn regiere, daß er seine Bedürfnisse, und nicht die Bedürfnisse ihn bestimmen. Das sind zwei Gesichtspunkte, die nicht voneinander getrennt werden können. Eine Herrschaft des Menschen über den Menschen (die Unterdrückung der einen Klasse durch die andere) ist allerdings nur möglich, wenn der eine Mensch mehr Gewalt über bestimmte Sachen hat als der andere. Die Untrennbarkeit der Gesichtspunkte besteht auch dann, wenn die Sache ihrerseits Unterdrücker und Unterdrückte unter ihre Herrschaft bringt. Die Ideen der Mißvergnügten sind nicht alle neu. Warum sollten sie das auch sein? Und vieles von dem, was in diesen Gedanken alt ist, ist schon so oft „überwunden" worden (wie die Aufklärung), daß das Überwinden Unsinn geworden ist. Was indessen nicht bloß alt ist, das sind die Verhältnisse und das ist die Anwendung dieser Gedanken auf diese Verhältnisse. Bei alldem aber ist vom Menschen die Rede — nicht von diesem oder jenem Menschen, sondern vom Menschen schlechthin, von seinem Geschick, von seiner Lage, von dem, was er ist, und von dem, was er sein will und was er sein soll. Kein Zweifel, daß wir es hier mit einem Humanismus zu tun haben,

102

Zeitgemäße Anthropologie

allerdings mit einem besonderen, mit einem sozialistischen Humanismus, vielleicht hier und da auch mit einem anarchistischen Humanismus. Von älteren Humanismen scheint sich dieser neue dadurch zu unterscheiden, daß er sich radikaler gebärdet. Den früheren Humanismen war es darum zu tun, das Recht menschheitlicher Bildung zu erweisen und schließlidi Gesittung und Kultur gegen Verrohung und Barbarei zu verteidigen, dies vor allem in den vergangenen Jahrzehnten gegen einen sich ausbreitenden Faschismus. Der ältere Humanismus durfte sich selbst als eine bewahrende Haltung verstehen, welche die Werte einer alten Kultur gegen neue Verderber und Verhunzer in Schutz nahm. Wer im Banne dieses konservativen Humanismus steht, dem muß Vieles, was sich nun als Verteidigung des Menschlichen anbietet, suspekt erscheinen. Der neue Humanismus ist erklärtermaßen nicht bewahrend, sondern verändernd. Um des Menschen willen soll das Bestehende — notfalls gewaltsam — einem Neuen weichen. Die Gesellschaft, wie sie ist und wie sie, wenigstens mit ihrem besten Teile, dem Faschismus in seiner krassesten Gestalt getrotzt hatte, soll gründlich verwandelt, die bestehenden Herrschaftsformen sollen vernichtet werden. Eine Änderung durch Gewalt strebt vielleicht nur eine Minderheit der Mißvergnügten an, eine grundlegende Änderung ist aber gleichwohl, so scheint es wenigstens, das Ziel aller. Die Mißvergnügten nehmen auf ihre Weise die Veränderung, die sie anstreben, vorweg. Was die bestehende Gesellschaft schätzt (und was die bestehende Gesellschaft zusammenhält), das verhöhnen die radikalsten unter ihnen: Erwerbssinn und Hygiene, Karrieredenken und Staatsräson, „Kirche und Staat", „Ruhe und Ordnung", „Sitte und Anstand" und vieles mehr — sie verhöhnen zumindest jene erstarrten Formen, die niemand mehr in Frage zu stellen schien. Und sie verhöhnen gerade die modernen Erscheinungsformen eines geordneten und zivilisierten Daseins. Sie finden Huxleys „schöne neue Welt" schon lange nicht mehr schön.

2. Kulturphilosophie und Anthropologie Daß der Mensch nicht der Sache ausgeliefert werde und daß der Mensch nicht vom Menschen mißbraucht und „manipuliert" werde, ist eine Angelegenheit, die zur Zeit jedermann aus vielfältigen Anlässen bewegt. Es ist möglich, daß die Philosophie hier oder dort Orientierungshilfen geben kann. Ich möchte nur zeigen, wo man diese Orientierungshilfen vielleicht finden könnte. Shaw hat gesagt, es gebe keine Waffen gegen Ubermacht außer Gedanken. Oder — um einen anderen Dichter (Gide) zu zitieren — wenn es stimmt, daß „wenige die Welt retten werden" (und jeden Tag zu dieser Rettung aufgerufen sind), dann kann diese

Kulturphilosophie und Anthropologie

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Rettung allerdings von nichts anderem als von der Kraft des Gedankens erwartet werden. Wenn die Welt und wenn die Gesellschaft menschlicher gemacht werden sollen — und wer könnte das Recht dieser Forderung leugnen? — dann ist es erforderlich, zu sagen, was „menschlicher" heißen soll. Das setzt voraus, zu wissen — so gut wie möglich zu wissen — was der Mensch in seinem Wesen ist und was der Mensch um seines Wesens willen (und vielleicht auch um Gottes willen) sein soll. „Menschlicher werden" bedeutet, daß unsereins sich in der Spannung zwischen dem, was er von Natur aus ist, und dem, was seine Bestimmung ist, bewähre. Was aber ist der Mensch von Natur aus, und was ist seine Bestimmung? Eine der Errungenschaften unserer Epoche, so scheint es mir, ist das Bewußtsein der „Menschenrechte", der Gleichheit des Humanen und die fortschreitende Befreiung der Menschheit von dem Druck überlebter Privilegien. Wir wissen gut, daß das ein Prozeß voller Fehl- und Rückschläge ist. Aber der Geist vermag auch des siegenden Unsinns zu spotten, und gegen die Vertreter der Inhumanität (Thomas Mann sagte: „gegen so etwas wie Hitler") wird der Geist der Menschlichkeit immer recht behalten. Was aber ist das Menschliche in seinem Wesen? Das herauszufinden, müht sich mit wechselndem Erfolge die philosophische Anthropologie. Die philosophische Anthropologie ist eine vergleichsweise n^ue Disziplin. Sie ist jung und durchaus noch nicht so wohletabliert, daß jeder Philosoph ihr den gleichen Platz einzuräumen bereit wäre. Mit dem Menschen hat sich die Philosophie zwar von alters her beschäftigt. Die antike Skepsis hat ihn bekanntlich für das Maß aller Dinge gehalten, aber eine besondere Disziplin, die sich eigens mit dem Menschen zu befassen gehabt hätte, hat es deshalb noch lange nicht in der Philosophie gegeben. So kann man wohl sagen, daß Piaton und Aristoteles „anthropologische" Fragen behandelt haben, nicht aber, daß es bei ihnen oder bei einem anderen der Denker bis in die Neuzeit hinein eine philosophische Anthropologie gegeben habe. Als Titel einer bestimmten Disziplin finden wir die Anthropologie allererst im 18. Jahrhundert, interessanterweise (darauf hat Marquard 1 hingewiesen) ungefähr gleichzeitig mit der philosophischen Ästhetik. Kant hat vom Wintersemester 1772/73 an eine Vorlesung über „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" gehalten und diese Vorlesung 1798 als Buch veröffentlicht. Von der Wende zum 19. Jahrhundert an sind dann vor allem naturwissenschaftlich und medizinisch orientierte Denker mit eigenen Anthropologien hervorgetreten, unter ihnen Ver1

O. Marquard, Zur Geschichte des philosophischen Begriffs „Anthropologie" seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts, in: Collegium Philosophicum (Festschrift für J . Ritter), 1965, S. 209 ff.

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Zeitgemäße Anthropologie

treter eines späten und nachhegelschen Idealismus wie Hermann Lotze (mit seinem „Mikrokosmus") und Immanuel Hermann Fichte. Bei Kant bildet die Anthropologie noch kein Glied der philosophischen Systematik. Sie ist hier nur eine — freilich philosophisch orientierte — „Weltkenntnis". So wenig die von Kant überwundene Schulphilosophie einen Platz für die Anthropologie hatte, so wenig kann die neue Transzendentalphilosophie der Anthropologie eine zentrale Stelle einräumen. Der Spätidealismus I. H. Fichtes versucht das, aber doch ohne wirklichen Erfolg. Fichte bleibt auf einem Nebenweg 2 . Die philosophische Forschung der einflußreichen Schulen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kommt im ganzen ohne Anthropologie aus. Die Philosophie dieser Epoche fragt nicht nach dem Wesen des Menschen, sondern nach den Grundlagen der Kultur: nach den Ideen, den Werten, den Gesetzen des reinen Kulturbewußtseins. Die Krise der Kulturphilosophie führt erst eigentlich zu einer vollen Anerkennung der Anthropologie. Beteiligt an dieser Wende sind viele Forscher, in Deutschland vor allem wohl Scheler, Plessner, Litt, Rothacker, Nicolai Hartmann, Cassirer und Gehlen. Die Folge dieser Wende ist, daß die Anthropologie nun weithin als eine vollwertige philosophische Disziplin anerkannt wird und audi äußerlich einen Platz im Kanon der philosophischen Disziplinen zugewiesen bekommt: Die philosophischen Handbücher, Sammelwerke, Lexika und Zeitschriften nehmen nun fast alle eigene Artikel zum Problem der Anthropologie auf. Das ist eine neue Lage. Die alte Schulmetaphysik kannte die Themen Sein, Seele, Welt, Gott. Die Transzendentalphilosophie Kants machte die Vermögen der Subjektivität zum Problem: spekulative und praktische Vernunft, Verstand, Urteilskraft und Anschauung. Der absolute Idealismus Hegels handelte von Sein, Wesen und Begriff, Natur, subjektivem, objektivem und absolutem Geist. Der Kulturidealismus, der Kant-Idealismus, der in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende so etwas wie eine neue Schulphilosophie geworden war, hatte die Kultuncieew und -werte des Wahren, Guten und Schönen und die entsprechenden Kulturge&zete der Wissenschaft, der Sittlichkeit und des Rechts und der Kunst zum Thema. Nun kommen neue Probleme in Sicht: die geschichtliche und endliche Subjektivität, das mythische Bewußtsein, die Sprache — in diesen Zusammenhängen allenthalben aber: der Mensch. Die systematische Einordnung der Thematik der Anthropologie ist allerdings keineswegs leicht. Gegenüber dem Kulturidealismus wird man einen ergänzenden Ausbau der philosophischen Thematik und Systematik nach zwei Seiten hin konstatieren müssen. Das eine Thema ist das Sein und die Lehre von der Ordnung und Gliederung des Seins, das 2

Vgl. meinen Artikel über 1. H. Fichte in der Bonner Universitäts-Festsdirifl, Band Philosophie und Altertumswissenschaften, 1968, S. 36 ff.

Kulturphilosophie und Anthropologie

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andere Grundthema ist das der faktischen Subjektivität und ihrer Strukturen und Möglichkeiten. Dabei bildet die neukonzipierte Lehre vom Sein und von der Seinsgliederung die Voraussetzung für die Lehre von der faktischen Subjektivität. Erst die Annahme, daß das reine Kulturbewußtsein und seine Ideen nicht alles seien, und daß dem Bewußtsein ein Anderes entgegenstehen müsse, wenn Erkenntnis und Wissenschaft einen Sinn haben sollten, machte es möglich, nun eine systematische Erforschung der Grundstrukturen dieses Anderen, des Seienden also, in die Wege zu leiten. Das menschliche Sein behauptete sich hier als Problemgebiet von besonders anspruchsvoller Beschaffenheit. Das menschliche Sein erwies sich erstens als Teil des Ganzen, als eine Seinsregion neben derjenigen der Naturgebilde und -prozesse, zugleich diese aber auch wiederum als ihre Basis beanspruchend, da das Menschensein zugleich doch auch natürliches und lebendiges Sein einschließt; zum zweiten zeigte sich das menschliche Sein als der differenzierteste (und zugleich als der am meisten gefährdete) unter den realen Seinssachverhalten; zum dritten aber erwies sich humanes Sein, ob es in seinen sprachlichen Äußerungsformen ergriffen oder in seinen weltstiftenden und -konstituierenden Funktionen (so bei Cassirer) betrachtet wurde oder ob das humane Sein in seiner besonderen Weltstellung gegenüber anderen Weltsachverhalten bestimmt und abgegrenzt wurde, als ein Grundsachverhalt besonderer Art. — Alle Kulturgebiete und -ideen (Wissenschaft, Praxis, Kunst, Religion) zeigten eine Zuordnungsbeziehung zu den Momenten des menschlichen Seins. Und umgekehrt: Was immer als menschliches Sein aufgefaßt und analysiert wurde, das zeigte seine Entfaltung in den „objektiven" Möglichkeiten der Kultur. So konnte sidi (wie bestimmt das in den einzelnen Lehren auch immer zutagegetreten sein mag) die Anthropologie als eine Systemklammer besonderer Art erweisen. Wenn die Philosophie die Grundlagen der Kulturgebiete bisher (und in überwiegendem Maße immer noch) in den Disziplinen der Erkenntnistheorie (Wissenschaft), der Ethik und Rechtsphilosophie (Praxis), der Ästhetik (Kunst) und Religionsphilosophie untersucht und bestimmt hatte, so unternahmen es die Anthropologen nun, den Menschen zum Thema zu machen. Dabei wird zum Problem, auf Grund welcher Ausstattung und Verfassung der Mensch in die Lage gesetzt ist, als einer und derselbe alle so verschiedenen Kulturaufgaben zu bewältigen. Es wird also ein besonderes Thema, eigens jene „Ausstattung" zu untersuchen, die den Menschen dazu instand setzt, die Vielfalt seiner Kulturaufgaben zu bewältigen. Wenn ich die neue Thematik so kurz und so summarisch kennzeichne, dann könnte es Verwunderung hervorrufen, daß die Philosophie nicht früher schon dieselbe Aufgabe in Angriff genommen hat. Dazu ist zweierlei zu sagen. Einmal dies: Die Philosophie hat allerdings audi früher schon Fragen behandelt, die nun unter dem gemeinsamen Pro-

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Zeitgemäße Anthropologie

blemtitel der Anthropologie auftreten — etwa Probleme der Sprache und in bestimmter Rücksicht auch Probleme der Geschichtlichkeit der Subjektivität — aber sie hatte das nicht im Bewußtsein der Zusammengehörigkeit aller dieser Fragen und nicht im Bewußtsein der Grundfunktion des menschlichen Seins gegenüber der notwendigen Spezialisierung der Kulturgebiete getan. Das ist indessen nur eine Antwort auf die Frage, wie die Aktualisierung der philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert zu erklären sei. Die andere ist diese: Die kulturidealistische Philosophie hielt sich in diesem Fragebereich für unzuständig. Was nicht zu den Ideen zählte, also zu den Gesetzen der Wissenschaft, zu den gültigen Normen des Wollens und Handelns und des künstlerischen Schaffens und Schauens, das Schloß diese Philosophie überhaupt aus dem Kreis ihrer Betrachtung aus. Alles andere, also etwa die Struktur des lebendigen Bewußtseins oder die Sprache, gehörte für den Kulturidealismus zum „Empirischen". Hier meinte der Kulturphilosoph nicht kompetent zu sein und allein dem Einzelforscher, dem empirischen Wissenschaftler, das Feld überlassen zu sollen. Die Kulturphilosophie übersah hier etwas, was schon bei Piaton grundsätzlich klargestellt ist, nämlich daß jeder Sachverhalt zwei Weisen der Betrachtung zuläßt und fordert, daß jeder Sachverhalt in seiner „empirischen" Erscheinung und in seinem „Wesen" muß betrachtet werden können und daß diese Unterscheidung einen durchaus angebbaren Grund hat. Husserls Phänomenologie hat hier für die philosophische Forschung die methodologische Basis zurückgewonnen. Auch die Hauptgegenstände der Kulturphilosophie: Wissenschaft, Praxis und Kunst lassen die doppelte Betrachtung zu. Alle Kulturgebiete können in ihren konkreten Schicksalen — und dann allerdings „empirisch" und historisch — erforscht werden oder aber im Hinblick auf dasjenige, was den bleibenden Wesenssinn eines jeden Kulturgebiets ausmadit. Dasselbe gilt aber auch für diejenigen Bestände, in denen die Kultur in dieser Welt ihren Vollstrecker und ihre verwirklichende Gliederung hat: für die geschichtliche Subjektivität, für die Sprache, für die Arbeit des Menschen. Auch hier kann die Frage nach dem Wesenssinn, nach den bleibenden Formen und Strukturen, nach den bleibenden Abhängigkeiten und Bezügen nicht unterdrückt werden. Und es ist das bedeutende Verdienst der modernen philosophischen Anthropologie, diese Fragen gegen eine einseitige Ideenphilosophie durchgesetzt zu haben3. Zuweilen ist die Anthropologie dabei zu weit gegangen und hat nun ihrerseits der Ideenlehre (also den philosophischen Disziplinen der Erkenntnistheorie, der Ethik und der Ästhetik) das Recht auf die Erforschung eines eigenen Grundlegungssinnes streitig gemacht. Doch das sind Einseitigkeiten und Überspan3

Vgl. meine Rezension: E. Rothacker, Philosophische Anthropologie Philosophy and History 2 (1969) 160 f.

(1. Aufl. 1968),

Mensdi und Unmensdi

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nungen, wie sie in der Philosophiegeschichte nicht selten sind und wie sie schließlich ihre Korrektur zu erfahren pflegen. Heute wird kaum noch jemand die philosophische Erkenntnistheorie in Anthropologie ganz oder teilweise aufzulösen versuchen. Aber auch kaum noch einer, der den Forschungsstand kennt, wird der anthropologischen Thematik — er mag sie fassen und nennen, wie er will — das Recht auf angemessene Bearbeitung noch streitig machen wollen. Das ist das unverlierbare Resultat jahrzehntelangen Forschens und Denkens auf diesem Felde.

j. Mensch und Unmensch Wir hören von den zeitgenössischen Aufrührern, es gehe ihnen darum, Welt und Gesellschaft zu „humanisieren", Welt und Gesellschaft menschlicher zu machen. Ein Ziel, das nur der „Inhumane" von sich weisen könnte. Aber wer ist Mensch, wer Unmensch? Was ist human, was inhuman? Zu wissen, was menschlicher ist, setzt voraus, daß man weiß, was menschlich ist. Wissen, was menschlich ist, kann ich aber doch wohl nur dann, wenn ich weiß, was der Mensch ist. Das Programm einer Humanisierung setzt eine Reihe von Sachverhalten und Beziehungen voraus, die nicht im Dunklen bleiben dürfen. Vor allem sind es diese: Ich werde als ein Mensch geboren — nicht als ein Tier. Das aber schließt nicht aus, daß ich (mit der Gesellschaft und mit der Welt, der ich angehöre) humanisiert werden kann. Obwohl ich ein Mensdi bin, kann ich Mensch werden. Dieses Werden ist als ein wechselvoller und unter Umständen langwieriger und womöglich unabschließbarer Prozeß zu verstehen. — Der Weg vom Menschen zum Menschen ist freilich nur dann recht zu begreifen, wenn man weiß, daß er alternativen Charakter hat. Der gegengerichtete Weg ist möglich: weg vom Menschen — ein Prozeß der Entfremdung vom eigenen Menschsein, ein fortschreitender Verlust der Züge des Humanen, die Entartung zum Unmenschen. Doch auch der Unmensch bleibt Mensch. Er bleibt es im biologischen, im rechtlichen und auch noch in einem sittlichen Sinne — vom religiösen ganz zu schweigen: die Menschenwürde auch des schlimmsten Unmenschen bleibt uns unantastbar — oder sollte uns doch unantastbar bleiben. Unser Problem: Wir werden als Menschen geboren und können doch Mensch werden. Wir können Unmenschen werden und bleiben doch Menschen. Ist der Begriff des Menschen zweideutig? Die Menschlichkeit, deren wir durch Geburt teilhaftig werden, so scheint es, meint ein Sein, von dem nur der Tod uns trennen kann. Die Menschlichkeit, die wir erringen, gewinnen oder auch verfehlen oder sogar wieder verlieren können — ganz oder zum Teil — scheint von anderer Art zu sein. Sie ist kein selbstverständliches und allen Wesen von unserer Art gleicherweise

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Zeitgemäße Anthropologie

zugeteiltes Sein, sondern ein Gefordertes und Erwünschtes zugleich. Der Satz „er ist ein Mensch gewesen" bezieht sich nicht auf die selbstverständlich mitgegebene Menschlichkeit des Menschen, sondern auf eine errungene (oder geschenkte) Menschlichkeit, die dem Unmenschen versagt bleibt oder die der Unmensch irgendwann einmal verloren hat. Die Frage „Was ist der Mensch?" gliedert sich offenbar mit Bezug auf diese Sachlage. Das selbstverständliche Sein des Menschen müssen wir von seinen Möglichkeiten trennen. Die Frage danach, was der Mensdi ist, läßt offenbar nur eine Antwort zu. Zum Sein des Menschen gehört Vieles, aber dieses Viele ist geeint in einem zusammengehörigen Grundbestand: Vereinzelung und Gemeinschaftsbezug, Leibgebundenheit und Sprache, Werkzeuggebrauch und Selbstbewußtsein gehören beispielsweise hierhin. Hier sind die Bestimmungen anzutreffen, die alle Wesen unserer Gattung gemeinsam haben. Bei aller Verschiedenartigkeit der Völker und Zeiten ist es doch möglich, diese gemeinsamen Momente festzustellen. Die Anthropologie hat nicht geringe Mühen darauf verwandt. Die Möglichkeit des Menschseins hingegen bleibt durch den Gegensatz bestimmt. Erfüllen und Verfehlen des Menschseins stehen nebeneinander, und regelmäßig kommen beide sogar miteinander vor. Sein und Werden schließen einander allerdings nicht aus. Zum mitgegebenen Sein zählen wir gewiß auch die Entwicklung des menschlichen Lebewesens zwischen Zeugung, Geburt und Tod. Jeder Faktor, den wir nannten, ist entwicklungsbezogen. Keiner repräsentiert eine starre Größe, das gilt vom Werkzeuggebrauch so gut wie von der Sprachfähigkeit, von der Leiblichkeit ebensosehr wie vom Selbstbewußtsein. Vorsorglich darf idi hier noch feststellen, daß auch die Störung den Grundsachverhalt nicht aufhebt: Aphasie bedroht nicht das sprachlose, sondern das sprachbegabte Wesen, und Störung oder Verlust des Selbstbewußtseins konstatieren wir nur dort, wo ein Selbstbewußtsein zum Wesensbestand gehört. Auch das Kleinkind, das das einfachste Werkzeug noch nicht zu handhaben weiß, ist dennoch ein „Werkzeugwesen". Es gehört zur Gemeinschaft derer, deren Wesenszüge durch Werkzeuggebrauch bestimmt sind. Nicht das Vorkommen oder Nichtvorkommen aller Faktoren entscheidet also über das Menschsein, sondern dies, daß audi ein Nichtvorkommen unter der Voraussetzung des Vorkommens gedacht werden muß. Der Sprachgestörte gehört ebensogut zur Gemeinschaft der Sprechenden wie der „Normale". Der Gestörte, der Kranke, der Zurückgebliebene wird von uns durchaus nicht als Tier, gewiß aber auch nicht als Unmensch betrachtet. Die Gleichheit der Menschen und die Gemeinschaft derer, die an menschlichem Sein teilhaben, ist in dieser Rücksicht unaufhebbar. — Das ist nicht etwa der Ausdruck einer sentimentalen Humanität, das entspricht vielmehr in aller Nüchternheit dem Begriff menschlichen Seins. Entwicklung, Krankheit, Störung können wir gar nicht anders bestimmen als so.

Der Gegenstand der Anthropologie

109

Wie steht es aber mit der Unterscheidung von Sein und Sein-Können des Menschen, mit der Unterscheidung von Mensch und Unmensch? — Auch hier gibt es Entwicklung, muß es Entwicklung geben, da doch so Verschiedenes erreicht werden kann. — Wohin ist der Mensch unterwegs? Er ist, so sagt man, zu sich selbst unterwegs. Wie aber — wir wiederholen die Frage — kann man unterwegs sein zu etwas, das man „eigentlich" doch immer schon ist? Wie kann man, sofern wir die gegengerichtete Bewegung betrachten, sich von etwas fortbewegen, das man ebensosehr immer schon ist? Der Sachverhalt, der erreicht oder verfehlt wird, mag „Mensch" oder „Selbst" heißen. Das Problem bleibt dasselbe.

4. Der Gegenstand der

Anthropologie

Die philosophische Anthropologie und ihre Fragen sind aus der Philosophie des 20. Jahrhunderts nicht mehr fortzudenken. Die Frage nach dem konkreten Zentrum aller Kultur ist eines ihrer Hauptthemen. Und gerade dies erwies sich, daß diese Frage, obwohl sie sich durchaus auf ein Konkretes bezieht, doch keine bloß-empirische Frage sein kann. Der Mensch und das Menschliche — der Gegenstand also der Anthropologie — zeigen sich zwar in unendlich vielen und in unendlich verschiedenen Erscheinungen. Dennoch sind alle diese Erscheinungen geeint in einem gemeinsamen Wesenssinn, der die Konkretheit des Menschlichen von jeder anderen Konkretheit unterscheidet. Dabei handelt es sich nicht einmal bloß um ein starres und unbewegliches Konkretes, sondern vielmehr zugleich um eine Konkretion: um die Konkretion des Menschlichen, überdies nicht um eine Konkretion, die sich von alleine vollzieht, sondern um eine Konkretion, die zugleich den aktiven Einsatz des sich konkretisierenden Menschen einschließt. Das menschliche Sein ist Werden, und das menschliche Werden ist Praxis. Die Anthropologie sucht nun in ihren verschiedenen Bereichen die Strukturen dieses Seins, das zugleich Werden und zugleich Praxis ist, aufzudecken. Die Hauptthemen, denen sich die Anthropologie hier zu stellen hat, betreffen dabei zweierlei: die Binnenstruktur des Humanen, d. h. die Frage danach, wie das Humane in sich bestimmt sei, und die Außenbezüge des Humanen, die Beziehungen des Humanen zu Anderem: zur Natur, zum Leben, zur Welt, zu den Ideen. Das Andere des Humanen ist freilich nicht allenthalben ein Fremdes. Die Welt birgt audi Fremdes in sich, sie ist aber zugleich auch vom Menschen geprägt, entworfen, erfaßt. Humanes Sein und Werden ist zugleich auch Weltkonstitution. Das Leben des Menschen, auch im organischen Verstände, erleidet den Einbezug in das Ganze des menschlichen Seins. Der Leib ermöglicht jede Praxis. Der Leib ist der erste und der nächste Ausdrucksträger des Menschen. Die Ideen vollends nehmen zwar den Menschen in ihren Dienst. Er beugt sich der Wahrheit und dem Recht.

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Zeitgemäße Anthropologie

Aber es sind seine Ideen, da er sich in ihrem Dienst zu sich selber bestimmt, nämlich dazu, ein Mensch zu sein. Was ideenwidrig ist: Unwahrheit und Unrecht, das stellt sich auch seiner Menschlichkeit in den Weg. Der Mensch ist sicherlich — dieser Relativismus ist längst überwunden — in seiner zufälligen und unvollkommenen Verfassung nicht „das Maß aller Dinge", aber seine Ideen sind Maßstäbe. Wahrheit und Vernunft, Recht und Freiheit mögen mißverstanden und in der Tagesphrase für Unwahres und Unvernünftiges mißbraucht werden. Vermittels ihrer allein erhebt sich der Mensch zu seiner eigenen Bestimmung. Die Welt der Tatsachen, die der Mensch hinnimmt und respektiert als die Sphäre des Gegebenen, durchdringt er erkennend zugleich doch als die seinige. Die Gesetze der Erkenntnis und die Werte seines Handelns erfährt der Mensch als objektive, für alle seinesgleichen verbindliche Instanzen, und doch weiß er — oder kann es doch wissen — daß diese Gesetze und diese Werte jene Faktoren sind, die sein Sein, sein Werden und seine Praxis allererst möglich machen. Nicht fremden Herren dient er, sondern im Grunde nur sich selber, wo er die enge Welt seiner Vorurteile, seiner Meinungen, seiner Gewohnheiten und seiner Herkömmlichkeiten durchbricht und fragt, was recht und was wahr ist, und das Rechte und das Wahre in sein Bewußtsein und damit in seine Welt hineinbringt. Diesen humanen Aspekt aller Objektivität — sei es in der wissenschaftlich fundierten Weltorientierung, sei es in der vernunftgegründeten Selbstbestimmung und Weltveränderung — rückt die philosophische Anthropologie ans Licht. Sie verfehlt ihre Aufgabe nur dort, wo sie das Humane in einer bloßen Zufälligkeit und Jeweiligkeit zu Maß und Grund der Dinge, der Gedanken und der Handlungen zu machen versucht. Welt, Natur, Leben, Ideen sind die Titel für die notwendigen Außenbezüge des Humanen. Alle diese Außenbezüge sind aber nur denkbar, weil das Humane in sich dazu ausgerüstet ist, dem Außen und dem Objektiven in all seinen Grundformen angemessen zu begegnen. Von den objektiven Momenten in ihrer Eigenbestimmtheit haben in erster Linie die nichtanthropologischen Disziplinen der Philosophie zu handeln: Weltlehre (Kosmologie), Seinslehre (Ontologie) und die klassischen Grunddisziplinen der philosophischen Ideenlehre: Erkenntnistheorie, Ethik, Rechtsphilosophie, Ästhetik, Religionsphilosophie. Die Anthropologie zeigt hier nur die Verknüpfbarkeit der objektiven Momente in der Konkretheit und in der sich selbst bestimmenden Konkretion des Humanen. Diese Konkretion aber bietet eine Fülle eigener Probleme. Die Konkretheit des Humanen selber erweist sich als eine vielmomentige Einheit. Das Humane zeigt sich in der Vereinzelung und in der Vereinigung der Gemeinschaft und der Gemeinschaften, sie zeigt sich in der Geschlossenheit und Geschiedenheit der Innerlichkeit und in der gefahrenvollen Gebundenheit dieser Innerlichkeit an den Leib. Sie zeigt sich in

Der Gegenstand der Anthropologie

111

allen Formen des Ausdrucks — in der sieb selbst reflektierenden Grundform des Ausdrucks vor allem: im sprachlichen Wort. Anthropologie ist, kurz gesagt, sowohl Lehre von der Einzelmenschlichkeit wie von der Zwischen- und Allmenschlichkeit, und ihre Hauptnot liegt darin, angesichts der Vielfalt und der Verschlungenheit ihrer Probleme die klaren Linien einer verläßlidien und überprüfbaren, systematisch ausweisbaren Begriffsbildung nicht aus den Augen zu verlieren. Auf keinem anderen Felde der philosophischen Forschung ist die Verführung so groß wie hier, an die Stelle einer strengen Begrifflichkeit die Feuerwerkskunst des Aperjus treten zu lassen und gleichzeitig die Grenzen zwischen Philosophie und Erfahrungswissenschaft zu verwischen. Schulphilosophische Pedanterie muß hier das Korrektiv bilden. Was für jede Sonderdisziplin der Philosophie gilt, das gilt auch hier: Nur was die Probe systematischer Begriffsbildung bestanden hat, darf einen Platz im Gefüge der philosophischen Anthropologie für sich beanspruchen.

Β. Fragen der Wissenschaftstheorie und -systematik

8

Wolandt, Idealismus

Relativismus und Rationalität Zur G r u n d l e g u n g s p r o b l e m a t i k der G e i s t e s w i s s e n s c h a f t e n

i. Bezogenheit

und

Bedingtheit

So richtig es ist, daß jede Zeit ihre Wissenschaft hat, so richtig ist es aber audi, daß es der Wissenschaft zu jeder Zeit um die eine Wahrheit gehen muß. Die eine Wahrheit, sofern sie sich in den Urteilen und Theorien der Wissenschaft spiegelt, ist jedoch stets bedroht durch Größen, die der Einheit der Wahrheit entgegenstehen, die aus der einen Wahrheit viele Wahrheiten entstehen lassen. Eine Vielheit ist hier indessen nur denkbar, wenn die Wahrheit den Grund zu ihrer Bestimmtheit nicht in sich selber hat, sondern wenn sie bedingt wird. Die eine Wahrheit, der das Streben der Wissenschaft gelten sollte (ob und wo sie audi immer erreicht werden mag), ist unbedingte Wahrheit, die vielen Wahrheiten, die neben- und gegeneinander ein Recht beanspruchen wollen, sind bedingte Wahrheiten, bedingt durch solches, das nicht die Wahrheit selber ist. Die Wahrheit ist unbedingt, aber sie ist nicht unbezogen. Sie ist bezogen auf die Subjekte, die die Wahrheit in ihrem Denken vollziehen und sich aneignen. Wo diese Bezogenheit sich wandelt in eine Bedingtheit, sprechen wir von Relativismus. Die Ächtung des Relativismus ist fast so alt wie die Wirksamkeit des Relativismus. Keine der Wissenschaften unter Einschluß der Philosophie ist sicher vor dieser Hauptgefährdung des wissenschaftlichen Geistes. Der Grund für die Unausrottbarkeit des Relativismus liegt in nichts anderem als im Bezugsmoment der Wahrheit. Das Verhältnis von Wahrheit und Subjektivität ist alles andere als einfach. Die Wahrheit ist unabhängig von den Subjekten, aber sie ist auch für die Subjekte. Überdies ist sie nicht für die Subjekte wie irgendein Sachverhalt sonst. Sie ist für die Subjekte, insofern sie durch die Subjektivität ist. Obwohl sie aber durch die Subjektivität ist — die Wahrheit ein Moment der Subjektivität und die Subjektivität ein Moment der Wahrheit — ist sie doch nicht durch die Subjekte, oder sollte es doch nicht sein. Am schwierigsten, so scheint es, ist die Unbedingtheit der bezogenen Wahrheit dort sicherzustellen und zu begreifen, wo es um die Wahrheit über die Subjekte geht, um die Wahrheit der subjekts- und geistes- und geschichtswissenschaftlichen Erkenntnis. Das zu einem angemaßten Be8»

116

Relativismus und Rationalität

dingungsrang drängende Bezugsglied als Gegenstand — kein Wunder, daß der Gegenstand hier der Erkenntnis die Gesetze vorzuschreiben sucht. Wo die Erkenntnis sich aber bedingen läßt, verzichtet sie auf ihre Gegründetheit, verzichtet sie auf ihre Rationalität. In der Konsequenz ist dieser Verzicht für sie tödlich.

2. Erwachen des geschichtlichen

Bewußtseins

In der Wissenschaftgeschichte sind die Geisteswissenschaften vergleichsweise jung. In ihrer gegenwärtigen Gestalt entwickelten sie sich erst in dem kurzen Zeitabschnitt der letzten Jahrhunderte. Eine Gelehrsamkeit, die sich der Geschichte des Geistes annahm, hat es gewiß auch zuvor schon gegeben. Aber diese Gelehrsamkeit war doch, vom Grundimpuls des Wissen- und Verstehenwollens abgesehen, wesentlich verschieden von der später sich entfaltenden und sich organisierenden Forschung. Offenbar war mehreres erforderlich, damit die Geisteswissenschaften in ihrer neueren und gegenwärtigen Gestalt möglich werden konnten: Eine Versachlichung der Einstellung, eine Neutralisierung des Gegenständlichen, Sinn für die Eigenwertigkeit des Fremden und des Vergangenen — all dies sind Momente des erwachenden geschichtlichen, des erwachenden gesckiiditswissenschaftlicben Bewußtseins. Es handelt sich zwar nicht um das Entstehen einer neuen Wirklichkeit — die Sachverhalte waren schon immer da, solange der Geist in dieser Welt lebt — aber doch um das langsame Sichtbarwerden einer Wirklichkeit in ihrer Sonderart — ein Prozeß, der gewiß noch gar nicht abgeschlossen ist. Es ist ein Vorgang der Differenzierung des theoretischen Bewußtseins, eines Bewußtseins, das sich Zug um Zug die Werkzeuge schafft, um die Welt des Geistes und der Geschichte nach allen Richtungen hin zu durchstreifen, eines Bewußtseins, das keine Grenzen und keine Einschränkungen mehr hinnimmt, es sei denn solche des jeweiligen Zugangs, weil es von vornherein seine Gegenstände in einem A l l gleichartiger Gegenstände weiß und obendrein darum weiß, welcher Weg von dem einen Objekt, von dem einen Geschehnis oder Denkmal zum anderen eingeschlagen werden muß. Diese stets in und mit dem Geiste gegebene Wirklichkeit in ihrer Vielfalt und ihrer ursprünglichen Ordnung war dem wissenschaftlichen Bewußtsein keineswegs selbstverständlich verfügbar. Es bedurfte vielmehr einer eigentümlichen und keineswegs einfachen Konstitutionsleistung, die mit dem Aufschwung der geisteswissenschaftlichen Studien zusammenfällt, um aus einer vorgegebenen und unbewältigten Wirklichkeit eine Wirklichkeit für das wissenschaftliche Bewußtsein, näherhin für das erfahrungswissenschaftliche Bewußtsein werden zu lassen. Die Aufgeschlossenheit für konkrete Geistigkeit, vor allem für fremde, entfernte und vergangene Geistigkeit, hatte sich von langer

Erwachen des geschichtlichen Bewußtseins

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Hand her vorbereitet. Sie kam sicherlich nidit an einem Tage und in einem Kopfe zum Durchbruch. Auch ideengeschichtlich ist die Sachlage keineswegs einfach. Zwar bedurfte es in gewissen Punkten jener bekannten „Uberwindung" der Aufklärung, damit bestimmten Zügen des konkreten Geistes Gerechtigkeit werden konnte, doch man darf nicht vergessen, daß schließlich „Aufklärung" dazu gehörte, die Grenzen der eigenen Geistigkeit zu überschreiten. Wie dem nun sei, die Frage nach der Bestimmung eines Zeitpunktes für den Beginn einer geistigen Entwicklung ist weniger wichtig als die nach dem Sinn einer solchen Bewegung. Und was den Gehalt des hier erörterten Vorgangs betrifft, so ist schwer zu übersehen, daß wir es mit einem der einschneidendsten Ereignisse der Wissenschaftsgeschichte überhaupt zu tun haben. Es zeigt sich, daß methodisch etablierte Geisteswissenschaften erst dort auftreten, w o die Eigenbestimmtheit der Geschichte selbst erfaßt wird, wo ein Wissen um die Geschichtlichkeit alles Geistigen sich durchsetzt. Dort erst sind die Voraussetzungen für eine Erschließung der Gebilde des Geistes vorhanden. Erfassen bedeutet für eine methodenbewußte Geschichtsforschung, das historische Faktum einer Totalität von Fakten einzuordnen. Das Einzelne wird allemal als ein Moment des Ganzen begriffen, insofern es zu einem jeglichen in Beziehung gesetzt, insofern es mit einem jeglichen, das nur immer im Horizont der Geschichtsforschung bekannt werden mag, muß verglichen werden können. Erst wo der Begriff des Ganzen vorausgesetzt ist, kann um Lücken und Abstände gewußt werden, erst dort können Lücken und Abstände durch neue Forschungen ausgefüllt werden, erst dort ist auch ein Wissen um die jeweilige Unausgefülltheit möglich. Das Interesse an den untersuchten Gegenständen ist nicht länger durch Zufall oder Neigung allein bestimmt, sondern es fügt sich der umfassenden und grundsätzlich gemeinsamen Anstrengung, die Welt der Geschichte und des konkreten Geistes zu einer Welt für den Geist zu machen. Forschung ist auch hier Progreß (und gelegentlich Umweg oder Irrweg). Das gilt auch für die Differenzierung und Spezialisierung der erforderlichen Forschungsarbeit. Mochte die Aufgabe im ganzen auch schon feststehen, die Gliederung des Geschichtlichen im Hinblick auf ursprüngliche Geistes- und Kulturbereiche (der Sprache, der Politik, des Rechts, der Wirtschaft, der Kunst usf.) bot noch eine Fülle von Schwierigkeiten. Es war nicht zu übersehen, daß innerhalb der Geschichte mit Rücksicht auf die verschiedenen Kulturbereiche Sonderentwicklungen berücksichtigt werden mußten, Vorgänge, die zwar miteinander in einem wechselseitig sich beeinflussenden Zusammenhang stehen, deren Ablaufbestimmtheit gleichwohl jedesmal eine andere Struktur haben kann.

118

Relativismus und Rationalität

j.

„Anverwandeln"

Das Urteil Außenstehender über den Wert der Geisteswissenschaften schwankt. Gewiß erkennt man an, daß es die Geisteswissenschaften mit dem Edelsten und Höchsten zu tun haben, das sich in dieser Welt findet, mit den Hervorbringungen der Kunst, der Sprache, des Staatswesens, des Glaubens usf., mit Leistungen also, die selbst je nach Rang Achtung verdienen. Ehrt diese Achtung aber zugleich auch den, der sie erweist? Denn zweifellos ist es ein Achtungserweis, die Dinge des Geistes zu studieren und zu erforschen. Die geisteswissenschaftliche Forschung erscheint als ein Dienst an dem zu Erforschenden, und der Glanz des Gegenstandes fällt auf die Forschung selbst zurück. Der Geisteswissenschaftler mag sich auf diese Weise als der Verwalter eines nationalen und menschheitlichen Erbes fühlen. Er hat die Schlüssel in den Händen, mit denen die Pforten der Schatzkammern sich öffnen lassen. Vielleicht ist dies eine ganz und gar äußerliche Ansicht. Allerdings sind Stoffwechsel, Mineralien und chemische Verbindungen trivialere Objekte als Goethe-Gedichte oder religiöse Urkunden. Gleichwohl könnte es so sein, daß ihre Erforschung in sich einen höheren Wert hätte als das Studium der Geistesäußerungen. Die Würde des Gegenstandes ist nicht notwendig auch die Würde der Intention, die ihn erfaßt oder zu erfassen glaubt. Die Beschäftigung mit Großem macht noch nicht selbst groß, und, um ein anderes Bild zu verwenden, die Leistung des Kellners ist nicht wohl mit der des Kochs zu vergleichen. Gerade bezüglich des inneren Wertes geisteswissenschaftlicher Arbeit bestehen Zweifel. Vor allem der Naturwissenschaftler neigt dazu, die Arbeit des Geisteswissenschaftlers mit Skepsis zu betrachten. Vieles scheint, schon in der äußeren Form, weit von dem entfernt zu sein, was die Darstellung von Forschungsresultaten sonst verlangt. Man vermißt oftmals die Strenge einer klaren Begriffssprache und jene Sachlichkeit, die sonst der Forschung eigentümlich ist. An die Stelle wissenschaftlicher Nüchternheit scheint zuweilen das Bekenntnis oder gar die Beschwörung zu treten. Der Gegenstand erscheint dementsprechend nicht als eine neutral zu konstatierende Tatsache, sondern als das Ziel eines Nachempfindens und Anverwandelns. Sollten diese Bedenken recht haben, so träten in ihnen zwei Mißlichkeiten von erheblicher Bedeutung zutage: Handelt es sich wirklich um ein Anverwandeln und Nachempfinden, so wäre der notwendige Abstand zwischen Erkennen und Gegenstand gefährdet. Das geisteswissenschaftliche Denken besäße dann selbst gegenständliche Strukturvalenzen. Es wäre selbst als ein Gegenständliches differenziert. Differenziert sein kann es jedoch nur in der Hinsicht des subjektiven Vollzuges des „Eindringens", „Empfindens" usf. Das geisteswissenschaftliche Denken wäre in dieser Form möglicher Gegenstand, aber keine mögliche Erkenntnis. Es läge dann zwar irgendeine Begegnung zwischen Subjekt und Gegenstand vor,

Bewahrung

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aber gewiß keine theoretische. Daraus ergibt sich eine zweite Mißlichkeit: Ist das geisteswissenschaftliche Denken ein Anverwandeln, ist es, anders ausgedrückt, eine Abschattung gegenständlicher Strukturen in einem wie immer beschaffenen Medium des Erlebens, dann ist diese Differenzierung nicht nur gegenständlich bestimmt, sie ist auch vielheitlich bestimmt. Die Mannigfaltigkeit möglicher geisteswissenschaftlicher Resultate wäre dann unabsehbar. Es wären dann so viele Schauungen und Nacherlebnisse möglich, wie Nacherlebende und Schauende sich einem Gegenstand zuwenden. Die Idee theoretischer Verbindlichkeit wäre für dieses Feld aufgegeben. Wir glauben, daß Gründe auf unserer Seite sind, die diese Bedenken hinsichtlich ihrer allgemeinen Konsequenzen entkräften können. Wir wissen aber auch, daß der Geisteswissenschaftler mit den Mitteln seiner Disziplin allein nicht gegen sie ankommen kann. Die Klärung muß sich wissenschaftstheoretischer, d. h. also philosophischer Gesichtspunkte bedienen. Indes meinen wir aber auch, daß diese Bedenklichkeiten nicht leicht genommen werden sollten, daß sie, gerade weil sie in der Lage sind, die Geisteswissenschaften als Wissenschaften grundsätzlich in Frage zu stellen, eine sorgfältige Prüfung verdienen. 4.

Bewahrung

Müßten die Geisteswissenschaften, so mag man fragen, denn für sich unvermeidlicherweise die gleiche Objektivität in Anspruch nehmen, die man den Naturwissenschaften selbstverständlich einräumt? Könnte ihre Aufgabe nicht bescheidener sein? Sollte es nicht genügen, daß man den Geisteswissenschaften nur rein konservierende Aufgaben überließe, in der Meinung, diese Disziplinen könnten zwar imstande sein, Gebilde von Kulturwert vor dem Verfall und bedeutende Geschehnisse vor dem Vergessen zu retten, und darüber hinaus Entferntes, Fremdes oder Vergangenes für den Besucher, Betrachter oder Leser zugänglich zu machen — das sei schließlich aber auch alles. Man kann indessen die Geisteswissenschaften nicht auf diese vermeintlicherweise harmlosen Tätigkeiten einschränken, man machte denn auch diese selbst zunichte. Wie kann es sonst Gewißheit darüber geben, daß es die Sache selbst ist, die bewahrt, erinnert oder zugänglich gemacht wird? Daß der Geisteswissenschaftler selbst gelegentlich von seiner Arbeit bescheiden denken mag, ändert an diesem Sachverhalt nichts. Die Bewältigung auch seiner schlichtesten Aufgaben schließt Voraussetzungen ein, die niemals preisgegeben werden dürfen. Ist aber Geisteswissenschaft in ihrem Grunde zweifelhaft, dann muß auch alles, was sie tut, zweifelhaft sein. Ist ihre Arbeit durch Willkür bestimmt, dann kann sie keine Zugänge schaffen, dann kann sie nichts im Ernst bewahren und erhalten, denn dann weiß sie nicht, was

120

Relativismus und Rationalität

sie erhält und bewahrt. Es geht ihr ja nicht um irgendein Bild der Antike, sondern um die Antike selbst, nicht um irgendeine Vorstellung von Goethe, sondern um Goethe selbst.

j.

Vereinfachung

Uberall dort, wo Geisteswissenschaft sich in den Dienst der Uberlieferung stellt, erfüllt sie zugleich auch eine pädagogische Funktion. Die vergangene Leistung und das vergangene Ereignis wirken — dadurch, daß sie bewußt gemacht werden, im Guten oder Bösen auf ein gegenwärtiges Tun. Sie wirken als Ansporn oder als Abschreckung, als Vorbild oder Warnung auf das Leben der Gegenwart. Das Wissen um Vergangenes, mag man meinen, besitzt diese Wirksamkeit um so mehr, je faßlicher es ist, und je mehr die gewußten Tatbestände den jeweils vorliegenden pädagogischen Absichten angepaßt sind. So kann man glauben, daß die Vorstellung tugendreiner Helden und grundschlechter Verräter zur Erweckung positiver Gesinnungen geeigneter sei als das Wissen um den wirklichen Menschen mit seinem Widerspruch. Allerdings werden pädagogische Bemühungen vielfach bei der Darreichung des Stoffes um der Faßlichkeit willen vereinfachen müssen. Indes, die didaktisch motivierte Vereinfachung soll doch eine spätere Ergänzung des Wissens zulassen und nicht etwa Geschichtsfälschungen Vorschub leisten. Wahrhaftigkeit ist ein Grundmoment aller pädagogischen Anstrengung. Es gibt keinen Wert, der die Außerkraftsetzung ihrer Forderungen einschlösse. Gewiß kann man auch mit Schwindel pädagogisch relevante Resultate erzielen, aber man kann diese Resultate nur dann billigen, wenn man pädagogische Beziehungen nicht für Relationen der Verständigung, sondern für solche der Dressur hält. Dies gilt selbstverständlich nicht allein für die Anleitung und Führung von schulisch betreuten Minderjährigen, sondern für alle sozialpädagogischen Verhältnisse. Ist aber einmal die Forderung strenger Wahrhaftigkeit für alle pädagogisch interessierte Überlieferungsbemühung anerkannt, dann ist auch die wissenschaftliche Funktion der Geisteswissenschaften gefordert, denn der Geisteswissenschaft muß es nun auch in dieser Rücksicht um die Tatbestände gehen, „wie sie wirklich gewesen sind". Die Geisteswissenschaft hat nicht etwa mythopoetische Funktionen. Dies alles bedeutet freilich keineswegs, daß nur eine geisteswissenschaftlich bestimmte Überlieferung pädagogisch wirksam werden dürfte. Auch in der Dichtung erlangt die Vergangenheit pädagogische Effizienz. Doch die Dichter lügen nicht. Fiktion ist nicht Trug und Schwindel, die Fiktion der Dichtung ist als Fiktion gewußt. Und in Wahrheit ist dies ja auch der einzig legitime Ort für endgültige Simplifikation und Idealisation. Die Dichtung stellt nicht dar, sie produziert. Gewiß ist der

Darstellung

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Gegenstand der Dichtung geschichtlich. Aber es ist produzierte Geschichte, die in der Dichtung erscheint.

6. Darstellung Noch ein weiterer Versuch, die Geisteswissenschaften den Forderungen strenger Wissenschaftlichkeit zu entziehen, soll zur Sprache kommen. Man läßt vielfach die geisteswissenschaftliche Darstellung mit poetischen Erzeugnissen dergestalt in Konkurrenz treten, daß man von ihr verlangt, sie habe ein abgeschlossenes (oder „abgerundetes") Bild der dargestellten Epoche, Person, des Werkes etc. zu geben. Doch gerade das ist ja nicht der Fall. Die wissenschaftliche Darstellung muß zwischen Sichergewußtem, Problematischem und Nichtgewußtem unterscheiden. Dies aber kann nimmermehr ein abgeschlossenes Bild ergeben, wenn auch die Darstellung sich beliebigen stilistischen Glanzes erfreuen mag. Dieser Glanz ist sekundär. Ja, mehr noch: nichts ist öder als dieser Glanz, wenn sich mit ihm nicht die vorwärtstreibende Kraft des Fragens verbindet. Gewiß besteht ein Teil der geisteswissenschaftlichen Literatur aus bloßen Darstellungen. Doch erheblich sind nicht die Darstellungen, sondern die Forschungen. Wissenschaft ist schließlich kein gebildeter Zeitvertreib, sie entspringt vielmehr aus dem nirgends einschränkbaren Drang des Wissenwollens. Nichts törichter denn audi, als von dem Wissenschaftler Leidenschaftslosigkeit fordern zu wollen. Was wäre der Forscher, wenn ihn nicht die Leidenschaft für die Wahrheit beherrschte?

7. Wahrheit Die Bequemlichkeit möchte es freilich immer gerne so haben, daß aus einer Theorie praktisch nichts folge, daß wissenschaftliche Einsicht praktisch zu nichts verpflichte und dem Wissenschaftler jede gerade opportune Haltung erlaubt sei; daß Verständigung und Gemeinschaft auch theoretische Verantwortlichkeit, mit anderen Worten: den unbedingten Willen zur Wahrheit entbehren könnten, daß man schließlich und endlich Erziehung und Gemeinschaftslenkung auch mit anderen Vorstellungen realisieren könne als mit wahren Einsichten. Gewiß, man kann auch das, aber dann bringt man eben die Gemeinschaft und die pädagogische Wirksamkeit um ihren Sinn. Die Wahrheit ist stets unbedingt gefordert, oder sie ist nicht. Man kann dieser Forderung nichts abhandeln. Wo eine Theorie nicht um der Wahrheit willen erarbeitet wird, dort ist sie schon an der Wurzel vergiftet. Die Folgen für das Einzelbewußtsein und, wenn der Schwindel Schule macht, für das Zeitalter sind horrend. Die Forderung der Wahr-

122

Relativismus und Rationalität

heit bedeutet dieses, daß Theorie den Sinn hat, eine Sache so zu erfassen, wie sie an sich ist. Weder mit Rücksicht auf pädagogische Ziele noch mit Rücksicht auf Darstellungsbedürfnisse kann die geisteswissenschaftliche Arbeit sich dieser Forderung entschlagen. Bei den Bedenken, die der geisteswissenschaftlichen Forschung allenfalls ein sogenanntes relatives Recht einzuräumen geneigt sind, handelt es sich nicht etwa um die Kritik an bloß partiellen und revidierbaren Mißständen. Nicht darum geht es, daß die geisteswissenschaftliche Arbeit sich hier und dort von den Forderungen strenger Wissenschaftlichkeit entfernt haben mag (dergleichen gibt es ja in allen Disziplinen), sondern darum, daß die Möglichkeit einer Wissenschaftlichkeit der Geisteswissenschaften in Zweifel gezogen wird. Und die „Phänomene" scheinen diese Bedenken durchaus zu bestätigen. Diese Phänomene wollen wir im folgenden betrachten:

8.

Weltanschauungen

Keine Wissenschaft sonst, so scheint es, ist so sehr Moden und nichttheoretischen Mächten ausgeliefert wie die geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Gewiß strebt die Forschung auf allen Feldern ihrer Arbeit weiter. Demgemäß sind im allgemeinen die Veränderungen, von denen wissenschaftliche Auffassungen betroffen sind, durch den Fortgang der theoretischen Arbeit selbst bestimmt. Bei den Geisteswissenschaften scheint das anders zu sein. Offenbar nehmen sie unmittelbar an den Schicksalen des allgemeinen Zeitgeistes teil. Ihre äußere Gestalt scheint bestimmt durch die herrschenden Ideologien und Mächte. So ist es möglich, ja es scheint geradezu ein Schicksal zu sein, dem die Geisteswissenschaften nicht entrinnen können, daß sie einmal völkisch, dann wieder international, daß sie einmal besonders liberal, dann wieder in irgendeinem Sinne religiös orientiert sind. Was überhaupt als Mode, als Weltanschauung oder sonst als allgemeine Gesinnungsart sich ausbreitet, das scheint auch sofort die Tätigkeit der Geisteswissenschaft zu bestimmen, ob es nun ein sogenannter „Existentialismus", ob es ein Faschismus oder ein Sozialismus ist. Die Ansichten der Geisteswissenschaftler scheinen demgemäß, wie oftmals bemerkt wurde, höchst labil zu sein, wechselhaft wie Börsenkurse, und daß dies, wofür so Vieles zu sprechen scheint, mißlich ist, das ist aus mehreren Gründen deutlich. Einmal kann es auf diese Weise keine allgemein verbindlichen Einsichten mehr geben. An ihre Stelle treten Auffassungen, die der gerade herrschenden Gesinnung gemäß sind. Wahr ist dann nur, was einer Weltanschauung entspricht. Da aber stets mehrere Weltanschauungen nachoder nebeneinander wirksam werden und sie alle schließlich mit dem gleichen Rechtsanspruch auftreten, so muß der Widerstreit unauflöslich

Rationale Momente

123

werden, es sei denn, es würde eine Instanz gefunden, die alle diese Größen zunichte macht. Hier aber wird die Theorie, wie es kaum wirkungsvoller geschehen kann, relativiert. Ja, es sieht so aus, als hätten wir hier den Relativismus in besonders reiner Gestalt vor uns: Theoretischer Relativismus ist der Versuch, Urteile durch endliche Instanzen zu legitimieren. Endliche Instanzen aber müssen schon deshalb zu solcher Legitimation untauglich sein, weil endliche Größen immer eine mögliche Pluralität darstellen. Neben einer endlichen Größe, von welcher A r t sie auch sein mag, ist stets noch eine andere zu denken möglich. „Strömungen", Ideologien, Weltanschauungen usf. aber sind notwendig endliche Gebilde. Was sie auch immer an Gehalten bergen mögen — an Gehalten, die an und für sich vielleicht einen zeitlosen Rang haben — , die Tage und Jahre von Weltanschauungen, Lebensgefühlen und dergleichen sind gezählt, und ihr Wirkungsbereich ist begrenzt. Mag eine „Anschauung" momentan auch das Feld behaupten, mag sie selbst von ihrer legitimen Singularität überzeugt sein, sie bleibt ein Endliches. So ist es nicht entscheidend, ob de facto mehrere Begründungsweisen von dieser Art augenblicklich in Konkurrenz treten. Jede solche Begründungsweise ist unzureichend, gültige Einsicht zu unterbauen. Und wenn alle Geisteswissenschaft einer Zeit existentiell oder völkisch sein sollte — auch das Unbestrittene wäre nur relativ begründet oder, was dasselbe besagt, es wäre letztlich nicht begründet.

9. Rationale

Momente

Das Problematische liegt darin, daß eine wissenschaftsfremde Instanz, also etwas, das ursprünglich nicht selbst Grund, sondern vielmehr Gegenstand ist, dennoch als Grund ausdrücklich oder stillschweigend in Ansatz gebracht wird. Freilich sind die wissenschaftsfremden Instanzen nicht durchaus gleichwertig. Weltanschauungen, Ideologien usf. sind zunächst einmal Auffassungsweisen, Modi, in denen der Mensch sich mit Weltlichem auseinandersetzt. Diese mögen nun so weit wie immer von echter Theorie entfernt sein, ganz theoriefremd können sie gleichwohl nicht sein. Hier müssen wir allerdings ein Doppeltes in Betracht ziehen. Grundsätzlich ist jede dieser Auffassungen (und jede Spielart wiederum dieser A u f fassungen) atheoretisch. Schon die Tatsache, daß jede Weltanschauung in ihrer Jeweiligkeit Ansprüche macht gültig zu sein, entfremdet sie der Theorie. Die Pluralität der Instanzen macht Wahrheit zunichte. Neben dieser grundsätzlichen und formalen atheoretischen Bestimmtheit müssen wir jedoch noch etwas anderes berücksichtigen. Auch ein weltanschaulich, ideologisch, kurz, atheoretisch unterbautes Weltauffassen ist Denken und es ist Denken in bestimmten Ordnungsrücksichten. Ob nun Volk oder Rasse, ob eine religiöse Instanz oder ob die Idee eines bestimmten gesell-

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Relativismus und Rationalität

schaftlichen Zustande zum Grunde der Betrachtung gemacht wird, stets handelt es sich um ein Ordnen von Gegenständen unter Gesichtspunkten. So merkwürdig eine solche Ordnung audi sein mag, sie ist in bestimmter Beziehung eben doch Ordnung. Zwar wird ein gegenständlicher Aspekt zum Prinzip, und zwar zum Wahrheitsprinzip erhoben, aber immerhin handelt es sich doch auch hier um ein Bedenken von Gegenständen. Um dieses Denken möglich werden zu lassen, bedarf es, wie sehr es auch jeweils durch Atheoretisches verdorben sein mag, doch immer eines Rationalen. Das Rationale zeigt sich darin, daß überhaupt so etwas wie Ordnung gestiftet wird. Die Weltanschauungen müssen also, in größerem oder geringerem Maße, Rationales enthalten, d. h. solches, das — ohne nichtrationale Beimengungen — Begründung im Sinne echter Theorie zu leisten imstande ist. Was also die geisteswissenschaftlichen Auffassungen angeht, die sich mit wissenschaftsfremden Mitteln ausweisen, so darf angenommen werden, daß ihre Fragwürdigkeit in dem Maße wächst, in welchem die Weltanschauungen, die als Unterbau benutzt und beansprucht werden, Nichtrationales enthalten. Das bedeutet also, daß weltanschaulicher Unterbau im Sinne der Theorie zwar immer schlecht ist, weil er die Konsequenzen des Relativismus in sich schließt, daß er aber doch nicht so schlecht sein muß, daß er in jedem Falle völlig eliminiert werden müßte. Nur die nichtrationalen Momente, die freilich in jedem Falle verschieden stark sein können, sind auszuscheiden, wenn gültige Theorie soll möglich werden können. Gewiß gibt es Weltanschauungen, die dem Gedanken einer universalen Ordnungsgesetzlichkeit eher entsprechen als andere. Je begrenzter der Gesichtskreis (oder: je gefühlsbestimmter eine Einstellung), desto schlechter ist eine Ansicht fundiert. Wie die verschiedenen konkreten Weltanschauungen in dieser Hinsicht zu beurteilen sind, das darf hier unausgeführt bleiben. Man kann allerdings annehmen, daß dort, wo die Beleuchtung am schlechtesten, auch die Finsternis am größten ist. io. Verdecktheit der

Voraussetzungen

Wir sehen also, daß die Relativismus-Problematik bei weitem nicht so einfach ist, wie sie auf den ersten Blick zu sein scheint, und die Sachlage kompliziert sich noch weiter aus mehreren Gründen. Wir haben bislang Rationales und Nichtrationales einander entgegengesetzt. „Rationales" sollte dasjenige heißen, das Wissenschaftsbegründung zu leisten imstande ist. Formal war für das sogenannte Rationale festgesetzt, daß es ein universales (für jede Einsicht verbindliches) und singuläres (jede andere Begründungsweise ausschließendes) Prinzip sein muß. Mit Rücksicht auf unsere Fragestellung sollte fernerhin von ihm gefordert werden können, daß es als Grund für geisteswissenschaftliche Einsichten fungieren kann. Sicher ist also zunächst einmal so viel, daß ein Endliches, ein

Macht und Anpassung

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Beschränktes, ein Zeitliches als Grund wohl nicht beansprucht werden darf, denn etwas Gegenständliches vermag keine uneingeschränkte Gültigkeit zu verleihen. Sicher ist auch, daß etwas Atheoretisches als Grund ausgeschlossen werden muß, denn Atheoretisdies ist als das Andere der Theorie zugleich möglicher Gegenstand der Theorie und als Gegenstand ist es Gegenstand unter Gegenständen und unterliegt insofern der Beschränkung im oben genannten Sinne. Mit diesen Feststellungen ist indessen noch nichts über die Struktur des Rationalen ausgemacht, das als Grund für geisteswissenschaftlidie Einsicht beansprucht werden soll. Über die inhaltliche Bestimmtheit des Prinzips wissen wir noch nichts. „Rational" bedeutet hier nur so viel wie: zureichend zur Wissenschaftsbegründung, näherhin: zureichend zur Begründung von Geisteswissenschaft. Die Forderung der Rationalität bedeutet nicht mehr als die Forderung hinreichender Begründung, sie bedeutet nicht, daß Begründung im Sinne irgendeines überkommenen „Rationalismus" in Anspruch genommen würde. Ja, wir dürfen hier im Vorblick auf Späteres bereits vermuten, daß eine Begründung geisteswissenschaftlicher Erkenntnis im Sinne des traditionellen Rationalismus unmöglich ist. Doch das bedeutet nicht, daß auf Rationalität, d. h. auf Begründetheit verzichtet werden könnte. Dies zum ersten. Eine weitere nicht unerhebliche Schwierigkeit liegt darin, daß die Grundlegungsfaktoren innerhalb der geisteswissenschaftlichen Einsichten und Auffassungen zumeist verhüllt auftreten. Erkenntnistheoretische Erwägungen liegen im allgemeinen nicht auf dem normalen Wege positiver geisteswissenschaftlicher Forschung und dort, wo sie gleichwohl — in mehr oder weniger elementarer Form — angestellt werden, müssen sie nicht die wirklich beanspruchten fundamentalen Voraussetzungen treffen. Die Grundlagenvoraussetzungen liegen auch hier nicht zutage. Sie müssen in jedem Falle erst ans Licht gezogen werden.

Ii. Macht und Anpassung Und an etwas anderes muß man wohl noch erinnern. Weltanschauliche Zeitströmungen sind nicht selten mit erheblicher Macht ausgestattet. Da aber diese Strömungen glauben, auch in der geisteswissenschaftlichen Arbeit ihren Ausdruck finden zu müssen (wie auch etwa in der Arbeit der Künste), so suchen sie vielfach diesen Ausdruck zu erzwingen. Sie wenden sich dann gegen denjenigen, der nicht auf dem (jeweils) rechten Wege ist, gegen den, der die „Linie" nidit einhält. Um weiterarbeiten zu können, sieht sich die geisteswissenschaftliche Forschung entweder zur Anpassung oder zur Tarnung veranlaßt. Da die Weltanschauungen ja nur einen solchen Aspekt zu verabsolutieren pflegen, den es gibt und

126

Relativismus und Rationalität

der irgendwo auch ein begrenztes Recht hat, ist die Tarnung nicht eben schwer. So spielt schließlich überall im Geiste das ökonomische, Völkische, Religiöse, Soziale usw. irgendeine Rolle, und zumeist genügt es, daß man jeweils sagt, daß man diese Funktion für fundamental hält. J a , man kann das zur Not sogar glauben, ohne irgendwelche theoretischen Konsequenzen daraus zu ziehen. (Nur der Grundlegungstheoretiker, also der Philosoph, ist hier in einer weniger glücklichen Lage.) Die Kritik muß im Einzelfall also stets zwischen dem unterscheiden, was als Letztbegründungsinstanz wirklich benutzt ist, und dem, was als äußere Einkleidung leicht abgestreift werden kann. Dort aber, wo eine Unterwerfung unter wissenschaftsfremde Mächte, freiwillig oder erzwungen, zugleich Einfluß hat auf die Bestimmtheit der Aussagen, dort ist die Geisteswissenschaft durch den Relativismus korrumpiert, denn diese Mächte machen, als Instanzen gebraucht, die Forderungen überzeitlicher Wahrheit zunichte.

12. Unvermeidbarer

Relativismus?

An diesem Punkt der Überlegung könnte man freilich eine ernstere Frage stellen: Muß Geisteswissenschaft nicht stets aus weltanschaulichen Urgründen handeln? Kann sie sich den Zeitströmungen, Lebensgefühlen und weltanschaulichen Gesinnungen überhaupt entziehen? Ist ihr zeitlose Wahrheit zugänglich? Ist ihr Objektivität möglich? Ist sie ihrer Eigenart nach nicht prinzipiell auch hinsichtlich ihrer Begründung an eine „geistige Situation" gebunden? Ist für die Geisteswissenschaft Objektivität nicht ein Phantom, dem sie umsonst und nur dort nachjagt, wo sie ihr eigenes Wesen mißversteht? Hier tut sich die Frage auf, ob es mit der „Rationalität" der Geisteswissenschaften nicht eine ganz eigentümliche Sache ist. Insbesondere muß gefragt werden, ob die Forderung, allen Relativismus zu überwinden, sich nicht bereits an einem naturwissenschaftlichen Erkenntnisideal orientiert. Es ist also die Frage, ob die formalen Mindestforderungen nicht bereits im Sinne der Naturerkenntnis determiniert sind. Das Problem stellt sich jetzt also anders. Es geht nicht mehr darum, erkenntnisfremde Instanzen von der Wissenschaftsbegründung fernzuhalten, hier ist die Frage vielmehr, ob die spezifische Bestimmtheit geisteswissenschaftlicher Forschung nicht ihrerseits mit innerer Notwendigkeit relativistische Momente aufweist. Was jetzt ins Auge zu fassen ist, ist etwas tiefer Liegendes als die Korruption, die die Geisteswissenschaften in den Dienst erkenntnisfremder Mächte zu bringen sucht. Es ist etwas, das an die Wurzel der Geisteswissenschaften greift. Hier sind es vor allem zwei Faktoren, die eine Relativierung geisteswissenschaftlicher Erkenntnis von innen her herbeizuführen scheinen.

Das forschende Subjekt

IJ. Das forschende

127

Subjekt

Diese beiden Faktoren sind: die eigentümliche Lage des forschenden Subjekts in den Geisteswissenschaften und die Wertbetroffenheit der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis. Wir wollen die beiden Punkte, obwohl sie miteinander im Zusammenhang stehen, nacheinander erörtern. Zum ersten Problembereich: Faktische Forschung wird stets von konkreten Subjekten getätigt, von lebendigen, einem Zeitalter verhafteten Menschen, die Wissenschaft als ihre Aufgabe ergriffen haben. Das ist in allen Disziplinen so. Bei den Geisteswissenschaften begegnet uns der Sonderfall, daß die forschenden Subjekte selbst mögliche Gegenstände der Forschung sind. Das gilt für die Forschenden in ihrer vollen Realität, also in allen Momenten ihrer realen Bestimmtheit. Es gilt für die Äußerungen der Einzelgeister sowohl wie für ihre Gesinnungen, für ihr Handeln, ihr Fühlen und für ihre Gestaltungsart. Dabei ist zu beachten, daß die Forschenden und ihre Leistungen nicht nur als mögliche Gegenstände einer Wissenschaftsgeschichte in Betracht kommen, sondern daß sie notwendigerweise in ihrer vollen realen Konkretheit mögliche Objekte werden. Diese Konkretheit aber schließt alle Aufbaumomente ein, die am konkreten Geist konstatiert werden können. Hier geht es uns freilich nur darum, daß der Geist in seiner vollen Konkretheit ein mögliches Objekt geisteswissenschaftlicher Forschung ist. Ob die Geisteswissenschaft alle entsprechenden Einzelbezüge in einem bestimmten Falle auch für erforschenswert hält, ist eine andere Frage. (Die prinzipielle Erforschbarkeit ihres Objektes muß ihr indes stets vorgegeben sein.) Hier ist der Umstand zugrundezulegen, daß der konkrete Geist überall ein in sich zusammenhängendes Gefüge ist. Zwar richtet sich das Forschungsinteresse meist nur jeweils auf eine Art der Äußerungen des konkreten Geistes. Das spiegelt sich in der Gliederung der Geisteswissenschaften: Nebeneinander finden sich Disziplinen, die es sich zur Aufgabe machen, die konkreten Gestalten der Kunst, der Religion, der Sprache usw. zu erforschen. Diese Spezialisierung ist immer nur möglich, wenn man die konkrete Einheit des Geistes voraussetzt, denn die Kulturbereiche, in denen die konkreten Erscheinungen sich zusammenschließen, sind gegeneinander nicht schlechterdings isoliert. Sie beeinflussen einander vielmehr wechselseitig. So ist eine geschichtliche Darstellung der Kunst undenkbar, wenn man etwa die entsprechende Entwicklung der religiösen Vorstellungen außer acht läßt. Man kann, so ließe sich der Sachverhalt bezeichnen, eine bestimmte, in diesem Fall eine künstlerische Manifestation des konkreten Geistes nur verstehen, wenn man sie als die Manifestation eines Subjekts begreift, das auch glaubt, handelt usf. In diesem uneingeschränkten Sinne nun ist das forschende Subjekt sich selbst innerhalb der Geisteswissenschaften thematisch. In den Naturwissenschaften

128

Relativismus und Rationalität

ist das anders. Hier ist das konkrete forschende Subjekt nicht auch selbst Gegenstand. Dies ist das eine, das die Lage des forschenden Subjekts in den Geisteswissenschaften charakterisiert. Das andere ist dies, daß das forschende Subjekt seine Gegenstände von seinem Platze aus bedenken muß. Auf den ersten Blick scheint diese Feststellung eine Plattheit zu enthalten. Jeder Forscher, so wird man einwenden, muß schließlich von seinem Platz aus forschen. Irgendwo müssen ja auch in der Naturforschung die Experimente gemacht werden, irgendwo: nämlich dort, wo der Forscher sich realiter aufhält. „Irgendwo" muß schließlich ebenso der Mathematiker seine Gedanken entwickeln. Nämlich an seinem Schreibtisch, auf seinem Spazierweg, wo immer. Der Unterschied jedoch ist, daß das Irgendwo in den Geisteswissenschaften mögliches Thema, möglicher Gegenstand ist. Das faktisch, physisch und technisch Gegebene aber, das der Naturwissenschaftler braucht, um seine Experimente auszuführen, kommt hinsichtlich seiner historischen Lokalisiertheit (die es natürlich besitzt) für ihn überhaupt nicht in Betracht. Nur die naturalen Valenzen der Experimentsituation sind entscheidend, nicht aber die historischen. Alles Gegebene, auch das Experimentierwerkzeug, ist hier Natur. Der Forscher steht unmittelbar der Natur gegenüber. Für die mathematische Einsicht schließlich hat die materielle Vermittlung überhaupt keine Bedeutung.

14. Das Gegebene der

Naturforschung

Wir können an dieser Stelle allerdings nicht auf die ganze Problematik des Gegebenen in den Naturwissenschaften eingehen. Wir wollen nur das herausheben, was zum elementaren Verständnis der Lage des Geisteswissenschaftlers notwendig ist. Insbesondere ist hier noch folgendes zu berücksichtigen. Die Dimension der Geschichte ist für die Naturforschung oder die mathematische Forschung gewiß nicht in jeder Beziehung zu eliminieren. Wenn der Naturwissenschaftler zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Einsicht hat (oder diese durch ein Experiment bestätigt), die die Forschung weiterbringt, dann müssen hierfür gewiß auch geschichtliche, und zwar wissenschaftsgeschichtliche Bedingungen erfüllt sein. Der Forschungsprogreß muß in der Geschichte erst einmal bis zu dieser Stelle gelangt sein, an der diese Fragestellung und diese Einsicht möglich werden. Das gilt ebenso wie dies andere, daß der einzelne Forscher in seinem eigenen Denken (in seiner eigenen Denkgeschichte) den Punkt erreicht haben muß, an dem er ein bestimmtes Problem lösen kann. Sind alle diese geschichtlichen Bedingungen einmal erfüllt, dann geht in die naturwissenschaftliche Einsicht selbst kein geschichtliches Moment ein. Sie hätte, wären die wissenschaftsgeschichtlichen Bedingungen nur erfüllt gewesen, an jedem Punkte der Geschichte gefaßt werden können und sie muß an

Abstand

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jedem Punkte der Geschichte grundsätzlich wieder reproduzibel sein, denn die Einsicht gilt nicht nur von diesem Geschichtspunkte aus betrachtet, sondern sie gilt von jedem nur möglichen und denkbaren Punkt der Geschichte aus, und zwar gilt sie in dieser Unabhängigkeit, weil sie nicht von einem Geschichtlichen gilt. Sie gilt ζ. B. vom freien Fall und nicht etwa von jenem Fall, an dem die in Rede stehende Gesetzlichkeit einmal einsichtig wurde. Das Gegebene in der Naturforschung hat nur eine Funktion im Hinblick auf ein Durchgängiges. Das Gegebene kommt hier nicht als das diesem konkreten Subjekt Gegebene in Betracht. Von dieser Relation ist überhaupt auf jede Weise abzusehen. Das Gegebene soll vielmehr auf ein Durchgängiges hinleiten, das nicht durch die konkrete Erkenntnisbeziehung bestimmt ist. Ob es dabei überhaupt in seiner Einzelbestimmtheit spezifische Bedeutung hat oder nicht, macht keinen Unterschied. "Wesentlich ist, daß seine Bestimmtheit unter Ausschluß der Valenz konkreter Gegebenheit erwogen wird. (Das heißt also: dem erforschten Naturgebilde kann als Einzelnem im Gesamtzusammenhang gewiß eine charakteristische Bedeutung zukommen, denn Naturerkenntnis richtet sich nicht stets nur auf „Allgemeines", doch ist an der Einzelbestimmtheit keinesfalls „Gegebenheit" beteiligt.) Der Naturgegenstand wird in jedem Falle als Bestandteil eines Ganzen betrachtet, das nicht durch das Moment der Gegebenheit artikuliert ist. Naturales ist in den Naturwissenschaften also unabhängig von seiner Gegebenheit zu bestimmen. Zwar muß es auch gegeben sein. Für seine Bestimmtheit hat aber nur „mögliche" Gegebenheit eine Bedeutung, und nicht audi konkrete Gegebenheit. Also nicht der Bezug auf ein konkretes forschendes Subjekt in bestimmter realer Situation.

15. Abstand Die Lage der Geisteswissenschaften ist eine ganz andere. Hier richtet sich Geist auf Geist. Hier ist der Geist sich selbst Gegenstand. Man wird zunächst meinen wollen, daß das doch faktisch nicht viel ausmacht. Zumeist, wird man einwenden, habe die Geisteswissenschaft doch Gegenstände in entfernter Vergangenheit. Der Abstand zwischen Forscher und Erforschtem sei vielfach so groß, daß auch der Geisteswissenschaftler es mit einem Gegenstand zu tun bekomme, der als etwas In-sich-Ruhendes fast schon den Anblick eines Natürlichen gebe. Tatsächlich hält sich die Geisteswissenschaft von Urteilen, die das Gegenwärtige und die das Jüngst-Vergangene betreffen, am liebsten zurück. Hier, so sagt man, fehle eben noch der „Abstand". Hier könne man allenfalls zu — theoretisch unverbindlichen — Meinungen oder zu Vermutungen kommen, wissenschaftliche Aussagen seien hier jedoch nur schwer möglich. 9

Wolandt, Idealismus

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Relativismus und Rationalität

Ganz so einfach ist die Sache indessen doch nicht. Diese Auffassung wird zwei Umständen nicht gerecht: einmal dem, was man die fortlaufende Verschiebung des Horizonts geisteswissenschaftlicher Forschung nennen könnte, und zum anderen der Bestimmtheit aller geisteswissenschaftlichen Fragestellung durdi Selbst-Verständnis. Beide Umstände aber kann der Relativismus, zunächst wenigstens, als Stützen für sich in Anspruch nehmen.

16. Die Verschiebung des Horizonts Wir beginnen mit dem ersten Moment, das sich aus der eigentümlichen Lage des forschenden Subjekts in den Geisteswissenschaften ergibt. Um welche Fakten sich die geisteswissenschaftliche Forschung immer kümmern mag, und wie lange diese Fakten, als Leistungen, Ereignisse, Gestalten usf., auch vergangen sein mögen, immer erscheinen ihr die Einzeltatbestände doch als Glieder eines Gesdiichtsganzen. Dieses Ganze selbst aber ist an jedem Punkte der Geschichte ein anderes. Der Kreis der Gegenstände wächst mit dem Fortgang der Forschung unablässig, und von jedem späteren Betrachtungsort aus ist mehr zu berücksichtigen. Dies kann natürlich nur dann gravierend sein, wenn Geschichte in jeder Hinsicht ein Ganzes ist, wenn im Wirkungszusammenhang der Geschichte durchgängige Kontinuität besteht. Trifft dies aber zu, dann erscheint auch jeder Einzelgegenstand als Moment in diesem Ganzen und, wie wir nun sagen müssen, als Moment in einem jeweiligen Ganzen, in demjenigen nämlich, das sich von dem geschichtlichen Standpunkte eines Forschenden aus zeigt. Dergestalt wandelt sich unablässig der Horizont, in dem geschichtliche Fakten erscheinen können. Scheinbar kann die Geisteswissenschaft zwar das Gegenwärtige und Jüngst-Vergangene aus ihrer Betrachtung ausklammern, sie kann ihre Betrachtung auf Dinge mit einem bestimmten Mindestalter beschränken; sie wird jedoch nichts daran ändern können, daß audi die jüngst vergangenen Dinge mit zum Geschichtsganzen gehören. Daraus ergibt sich dies: Wie zeitlos und „objektiv" sich geisteswissenschaftliche Arbeit auch gebärden mag, nach außen hin tritt doch auf allen Gebieten ein unablässiger Wandel der Geschichtsbilder und Geschichtsvorstellungen in Erscheinung. Zwar mag der Geisteswissenschaftler den Blick auf eine ferne Vergangenheit richten — in bestimmten Disziplinen ist das bekanntlich sein eigentliches Geschäft — , er kann es nicht verhindern, daß auch das Jüngst-Vergangene und das Gegenwärtige eine bestimmende Funktion auf seine Begriffsbildung ausüben. Gewiß sind die Ereignisse und Gestalten dieser nächsten Vergangenheit und dieser Gegenwart nicht sein Gegenstand. Er zieht seinen Forschungen eine zeitliche Grenze. Und doch gehören auch die jüngsten Erscheinungen zu jener einen geschichtlichen

Naturforschung und Individualität

131

Welt, in der die längst vergangenen Dinge gleicherweise ihren Ort haben. Es ist eine einzige Welt von Gegenständen, die sowohl in einem Wirkungszusammenhang stehen als audi gleiche Strukturmomente aufweisen. Welche Beschränkung sich die Forschung nun auch immer auferlegen mag hinsichtlich der zeitlichen Erstreckung ihres Gegenstandsbereiches — und jede Forschung muß sich selbstverständlich beschränken — , die durchgängige Verwandtschaft der Formen und Gestalten ist unaufhebbar wie auch der Fortgang der historischen Wirksamkeit. In erster Linie macht sich die Wiederkehr der Strukturformen geltend. Das bedeutet natürlich nicht, daß dieselben konkreten Strukturen wiederkehren könnten, sondern vielmehr dies, daß sich der Aufbau historischer Erscheinungen immer wieder in denselben Hinsichten ereignen muß. Daraus folgt einmal die prinzipielle Vergleichbarkeit aller gleichstrukturierten Erscheinungen, zum anderen aber dies, daß hinsichtlich der Durchgängigkeit des Zusammenhangs und der Vergleichbarkeit jeder Einschnitt, den die geisteswissenschaftliche Forschung vollzieht, überschreitbar sein muß. Wenn geisteswissenschaftliches Verstehen sich zu einem wesentlichen Teile als ein vergleichendes Bestimmen vollzieht, dann können dieser vergleichenden Arbeit auch keine Grenzen gezogen sein, es seien denn solche möglicher Gegebenheit. Der Horizont dessen aber, was als Bestand eines möglichen Sichtbaren dem Geisteswissenschaftler gegenübertritt, erweitert sich beständig. Fortschreitend tritt Neues in seinen Gesichtskreis, und er kann vor diesem Neuen nicht die Augen verschließen. Wie gesagt, der Bereich dessen, was der Forscher sich unmittelbar zum Gegenstande macht, mag in gewissem Sinne festbegrenzt sein, der Kreis seiner Erfahrung von Geistigem ist es nicht. Das aber ist entscheidend, denn audi das Entfernte bestimmt er schließlich mit Rücksicht auf diesen umfassenden und variablen Zusammenhang. Damit nun scheint ein weiteres, und zwar wissenschaftsimmanentes Moment der Unsicherheit und Relativität die Bestimmtheit geisteswissenschaftlicher Begriffsbildung zu bedrohen. Schon rein quantitativ und materialiter ist der Kreis des zu Vergegenständlichenden in den Geisteswissenschaften variabel. Diese Variabilität hat ihren Grund in einer außerhalb der Theorie selbst liegenden Bestimmungskomponente, nämlich in der realen zeitlichen Lage der forschenden Subjekte.

ιγ. Naturforschung und

Individualität

Doch es tritt noch ein weiteres Moment hinzu, das die theoretische Verfassung der Geisteswissenschaften im Vergleich mit derjenigen der Naturwissenschaften in Frage stellt. Geisteswissenschaftliche Begriffsbildung, so kann man es kurz bezeichnen, verfährt immer „selektiv". Dies sei näher erläutert. Gewiß, auch naturwissenschaftliche Forschung aller 9*

132

Relativismus und Rationalität

Bereiche muß Anlässe und Ansätze auswählen, von denen aus sich eine Annahme bestätigen mag, oder auch nicht. Diese Anlässe sind allerdings real bestimmt. Sie repräsentieren sich in individuellen Gebilden und Prozeßkonstellationen. Und doch ist hier die Sachlage von Grund auf anders als in den Geisteswissenschaften. Am Einzelgebilde und am Einzelprozeß soll sich stets eine übergreifende Valenz, ein Durchgängiges zeigen. Das reale Gefüge, das im Ansatz der Fragestellung thematisiert wird, wird nicht in seiner Individualität und um seiner Individualität willen erforscht. Das heißt übrigens keineswegs, daß die Naturerkenntnis für die Bestimmung des Individuellen belanglos wäre. Naturerkenntnis bedenkt das Individuelle in seiner durchgängigen Bestimmtheit. An diesem Individuellen, das als Anlaß oder Ansatz dient, wird der Naturwissenschaft die Bestimmtheit auch jedes anderen gleichbestimmten Individuellen einsichtig. Und doch kann hier, wenigstens soweit Naturwissenschaft unter diesem Aspekt denkt, nicht die Vereinzeltheit als solche Problem werden. Man wird gegen diese Ausführungen viele Bedenken geltend machen wollen, insbesondere mit Bezug auf das unerschöpfliche Reich des Lebendigen mit seiner wechselvollen „Geschichte". Doch man bedenke, daß Einmaligkeit, qualitative Eigenart und Nichtumkehrbarkeit, sowie auch seine relative Gesetzesfremdheit dieses Reich noch nicht zu einem „geschichtlichen" machen. Nicht jede Genese ist geschichtlich. Das Leben und die Natur, das mit allem Nachdruck zu sagen, ist keineswegs überflüssig, haben keine Geschichte. Auch unter genetischem Aspekt wird das Lebendige nicht als pures Einzelexemplar für den Forscher bedeutsam. Auch hier handelt es sich für ihn vielmehr immer um eine Allheit (Art etc.), an der sich der jeweils in Rede stehende Wandel vollzieht; auch dort, wo ihm von dieser Allheit möglicherweise nur ein einziges Exemplar zur Verfügung steht. Jedes studierte Exemplar mag freilich eine individuelle Phase in der Genese repräsentieren; es repräsentiert zugleich aber audi immer die Entwicklungsphase eines bestimmten Inbegriffs von Lebewesen. Und auch bei dem Einzelexemplar, das aus irgendwelchen Gründen von den Bestimmungsmomenten seiner Art abweicht, ist es nicht anders. Auch es wird stets nur im Hinblick auf das Durchgängige, Allgemeine bzw. Normale beurteilt. Die „individualisierenden" Tendenzen in bestimmten Bereichen der Naturwissenschaft haben sachlich und methodisch keineswegs jenen Sinn, den man ihnen gerne beilegen möchte. Individualität im Vollsinne kann unter dem Aspekt der Naturwissenschaft überhaupt nicht Problem werden. Das Moment der Generalisation ist in den Naturwissenschaften dementsprechend keineswegs sekundär. Das aber entlastet diese materialiter in ungeheurer Weise. Naturwissenschaft kann sich eben überall auf die Erforschung des Durchgängigen beschränken. Dies allerdings ist ihr in allen Zügen und in seiner ganzen Zusammenhangsbestimmtheit zu erfassen aufgegeben; denn die Kontinuität der naturalen Systeme kommt der Bestimmtheit derselben gleich.

Naturforsdiung und Individualität

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Das besagt nicht, daß Naturales in seiner Individualität schlechthin bedeutungslos wäre für die Vergegenständlichung durch das Bewußtsein. Dieses Tier, diese Pflanze, diese Landschaft können in ihrer unverwechselbaren Einzigkeit im höchsten Maße wert- und bedeutungsvoll sein, doch eben nicht unter dem Blickwinkel naturwissenschaftlicher Forsdiung, wo sie nur als Repräsentanten eines Durchgängigen in Betracht kommen können. Die Naturwissenschaft sieht von eigentlichen Wertgesichtspunkten ab. Gewiß gibt es in der biologischen Theorie quasiaxiologische Aspekte, insbesondere in der Umweltforschung. Doch hier gilt dasselbe wie für jede genetische Betrachtung des Lebendigen. Der quasiaxiologische Gesichtspunkt betrifft die Art und nicht das einzelne Exemplar für sich und um seiner selbst willen. In bloßer Theorie kommt dem einzelnen Lebewesen kein Wert zu. N u r vermittels praktischer und sittlicher Instanzen gewinnt es axiotische Valenz. Nur hier erfährt die Einstellung gegenüber einem Naturalen jene spezifische Determination, die bewirkt, daß das Naturale als Individuelles gewürdigt wird. Noch einmal sei es gesagt: Auch die Naturwissenschaft will Einzelnes, will Individuelles bestimmen, doch stets nur als Moment eines Ganzen, eines Durchgängigen, eines Inbegriffs. Die Naturwissenschaft zielt immer nur auf die Bestimmtheit im Ganzen ab. Die Fundamentalbedingung für diese Einstellung kann hier allerdings noch nicht voll einsichtig werden. Wie überall in der Verfassung von Leistungen des Bewußtseins entscheidet auch angesichts der Naturwissenschaften die besondere Struktur der Grundkorrelation von Subjekt und Objekt über den spezifischen Aufbau des Leistungsgehalts. Die Prävalenz der Generalisation, die einer beliebigen Differenzierung der Bestimmungen im gegenständlichen Bereich nicht entgegensteht, resultiert aus der Ausgeschlossenheit jedes subjektiven Moments auf der Objektseite. Diese Ausgeschlossenheit ist bei den Realwissenschaften nur für diejenigen charakteristisch, die die „ N a t u r " zum Gegenstande haben. Die methodische Grundstruktur korrespondiert dergestalt gegenständlichen Momenten, allerdings nicht solchen positivgegenständlicher Art, sondern solchen, die der Gegenständlichkeit selbst gleichkommen. Dabei ist noch zu beachten, daß die Theorie auch sonst, daß eine jegliche Wissenschaft in Zusammenhängen und letztlich in universalen Zusammenhängen ihre Gegenstände bestimmt. Indes, der Einzelgegenstand geht doch nicht immer in der Zusammenhangsbestimmtheit auf, nicht in jenen Momenten, die ihn als Glied eines Durchgängigen kennzeichnen, wie dies beim puren Naturgegenstand der Fall ist. Allerdings verfügt jeder individuelle Gegenstand über naturale Valenzen, und ohne diese wäre eine Individualisation schlechterdings unmöglich. Aber das individuelle Naturobjekt geht überall dort nicht in der Gliedfunktion, in der Zusammenhangsbestimmtheit auf, wo das Bestimmte selbst einem universalen Zusammenhang korrespondiert, wo der Gegenstand selbst die Gegenständlichkeit repräsentiert. —

134

Relativismus und Rationalität

Wo schließlich die Gestalt und die Gestaltungsgliederung eines Naturobjekts gewürdigt werden, geschieht dies in ästhetischer Einstellung. Beide aber, praktische und ästhetische Einstellung, kennen nur den Einzelgegenstand. Demgemäß vollziehen beide in der Setzung die Vereinzelung des Objekts, denn dieses ist „von sich aus", und das heißt: in seiner naturalen Valenz, keineswegs vereinzelt, sondern ein Glied im Kontext des Durchgängigen. Doch wohlbemerkt, nicht etwa daß dem Naturalen kraft praktischer oder ästhetischer Setzung überhaupt erst Individualität zuflösse, vielmehr nur dies trifft zu, daß der Naturgegenstand jene spezifische Individualität gewinnt, die sich im Werte bzw. in der Gestalt ausprägt. Diese Individualisation kommt der Herauslösung aus dem wert- und gestaltindifferenten, in Durchgängigkeit bestimmten Zusammenhang der Natur gleich.

18. Das Allgemeine Und noch ein weiteres, das der vorliegenden Auffassung vielleicht entgegengehalten werden könnte: Audi innerhalb der geisteswissenschaftlichen Problemstellungen ist Durchgängiges und Allgemeines von höchstem Gewicht. Doch ehe man eine Nivellierung der wissenschaftlichen Gesichtspunkte hüben und drüben in Ansatz zu bringen versucht, mache man sich erst einmal klar, was Allgemeinheit im Felde der Geisteswissenschaften bedeutet und einschließt. Man mache sich, kurz gesagt, erst einmal die Strukturuntersdiiede klar, die zwischen dem Durchgängigen hier und dort vorliegen. Die geisteswissenschaftliche Forschung richtet sich, das ist das Entscheidende, auf Einzelgegenstände in ihrer Singularität. Zwar trägt jedes Singuläre notwendig Züge, die es mit anderen Einzelgegenständen in einen Zusammenhang bringen. Doch zumeist ist es nicht diese gemeinsame Qualität oder doch gerade nicht sie allein, der die Forschungsanstrengung des Geisteswissenschaftlers gewidmet ist. Er erforscht den Einzelgegenstand vielmehr gemeinhin um dessen eigenen Gewichts willen, auch dort, wo er ihn, und das ist ja immer der Fall, in einen übergreifenden Zusammenhang einordnet, der in gemeinsamen Momenten gründet.

19.

Auswahl

Überblicken wir noch einmal die Sachlage: Die Geistes Wissenschaft erforscht Tatbestände „geistiger", „menschlicher" und „geschichtlicher" Art. Dieser Fakten aber gibt es unendlich viele. Da es dem Geisteswissenschaftler jedoch nicht bloß um durchgängige Bestimmungsvalenzen, son-

Bewertung

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dern um das Einzelne in seiner Besonderheit geht, sieht er sich einer in jedem Sinne unausschöpflichen Mannigfaltigkeit von Gegenständen gegenüber. Ihm bleibt nichts anderes übrig als „auszuwählen". Wohlbemerkt, das Ausgewählte ist nicht etwa als Repräsentant eines Universalen in den Blick genommen. Es steht zunächst durchaus nur für sich, und das Universale bekundet sich an ihm auf ganz andere Weise als am Fall oder Exemplar der Naturwissenschaft. Diesen Einzelgegenstand hier auswählen heißt in der Geisteswissenschaft gerade nicht: andere zugleich mitbestimmen, sondern: andere ausschließen, andere vernachlässigen. Der Geisteswissenschaftler entscheidet sich mit seiner Fragestellung für einen bestimmten Einzelgegenstand oder für einen bestimmten, begrenzten Kreis von Einzelgegenständen. Die Entscheidung, die das naturwissenschaftliche Forschungsinteresse leitet, ist von ganz anderem Charakter. Sie gilt nicht Einzelgegenständen als solchen, sie gilt allenfalls Inbegriffen derselben oder Relationen von allgemeiner Bedeutung, durch die Einzelgegenstände bestimmt sind. Die naturwissenschaftliche Fragestellung widmet sich mithin immer unmittelbar einem Ganzen. Ein Bereich von Einzelgegenständen kommt als ganzer in den Blick oder gar nicht. In den Geisteswissenschaften hingegen liegt echte Selektion vor. Der Kunsthistoriker wählt unter den Kunstwerken eines Zeitalters das Bedeutsame und Erhebliche aus und legt es seiner Darstellung zugrunde. Der Historiker der politischen Geschichte beschränkt sich auf die Ereignisse von wirklichem Gewicht. Ähnliches vollzieht sidi in allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen, und selbst dort, wo der Mangel an Quellen, Monumenten und Zeugnissen eine völlige Vernachlässigung irgendwelchen Materials zu verbieten scheint, bleibt es doch Sache des Forschers, zwischen dem Wichtigen und dem Unwichtigen zu unterscheiden. Doch das ist nicht der Regelfall. Im allgemeinen zwingt die Unausschöpflichkeit des Materials schon zur Auswahl. Diese Auswahl aber ist, wie wir sehen, Angelegenheit der jeweiligen Forsdhung. Und hier zeigt es sich doch offenbar, daß die Vorstellung, die die Forschung von einem Geschichtsabschnitt vermittelt, ganz von den Fakten abhängt, auf die sie sich stützt. Das betrifft, wie gesagt, die Auswahl des Materials sowohl wie audi die Art seiner Verwendung. Der Befund darüber, wo die Schwerpunkte einer Entwicklung liegen, hängt von der Entscheidung des Forschers ab.

20. Bewertung Damit aber scheinen die Geisteswissenschaftler nun vollends jedes festen Bodens beraubt zu sein. Sind nicht alle Türen weit geöffnet für Neigungen, Vorlieben, Vorurteile, für jede Art blinder Willkür? Der Geisteswissenschaftler nimmt, das wäre das Ergebnis, die Dinge nicht so, wie sie sind, sondern er bewertet sie zugleich.

136

Relativismus und Rationalität

M a n kennt die Versuche, eben dieses Bewerten auf einen festen Untergrund zurückzuführen. Die axiologische Wissenschaftstheorie sucht zu erweisen, d a ß die Wertgesichtspunkte, auf G r u n d deren der Geisteswissenschaftler seine Urteile fällt, nicht in dessen Belieben und in dessen W i l l k ü r gestellt seien. D a ß er sich vielmehr einer festen Ordnung von Werten, einem System, gegenübersähe. D a ß ferner das geisteswissenschaftliche Werturteil nicht von den begrenzten Lebensinteressen des jeweiligen Forschers beherrscht werde, sondern daß dieser in der Theorie von den Leitlinien seines persönlichen Handelns gerade absähe und statt dessen die zur Erörterung stehenden historischen Fakten und Ereignisse entweder auf allgemein gültige Werte oder doch auf die Werte, die für die erforschte historische Situation leitend und verbindlich waren, „beziehe". A u f diese Weise scheint eine spezifische Objektivität der Geisteswissenschaften gesichert zu sein, vorausgesetzt, daß die Annahme der vorgegebenen Wertsystematik oder eines objektiven Bestandes von Werten (und sei es nur eines solchen für eine bestimmte Zeit und eine bestimmte Epoche) sicher vorausgesetzt werden kann. A b e r das ist, wenn man die einschlägigen Aufstellungen prüft, ganz offenkundig nicht der Fall.

2i.

Praktische

Befangenheit

Tatsächlich gibt es eine ganze Reihe von ungeklärten Punkten in den werttheoretischen Auffassungen. Die eigentliche Schwierigkeit der geisteswissenschaftlichen Arbeit, das ist überall richtig gesehen, liegt darin, die praktische Befangenheit des forschenden Subjekts zu überwinden. Wenn der Liebhaber und Kenner den Kunstgebilden gegenüber ganz seiner Neigung vertrauen mag, so ist dies dem Kunsthistoriker, der ein umfassendes und zutreffendes Bild einer Kunstentwicklung zu geben sucht, offenbar verboten. Schärfer noch tritt der Gegensatz von Praxis und Theorie in der politischen Geschichte zutage. D a s handelnde Subjekt ist Parteigänger, es hat Bindungen an individuelle Gemeinschaften, deren Sache es vertritt. Der Forscher hingegen muß allen Seiten gerecht werden. Seine nationalen, ständischen, religiösen Bindungen dürfen ihn nicht blind machen für die Ansichten und Intentionen sowie für die realen Leistungen einer gegnerischen oder fremden Gruppe. Die Forderung nach Objektivität ist geläufig, und es mag sein, daß die faktische Forschung ihr in weiterem M a ß e Genüge tut, als man es bei der komplizierten Sachlage annehmen möchte. Wie aber die faktische Verfassung geisteswissenschaftlicher Arbeit audi aussehen mag, die Frage ist doch, welche Fundamente ihr einen sicheren Stand zu geben vermögen. Zunächst scheint, so müssen w i r wieder vorläufig sagen, alles darauf hinauszulaufen, daß man dem Wahrheitsanspruch geisteswissenschaftlicher Einsichten mit den stärksten Zweifeln begegnen muß. Es ist ja

Selbstbezug

137

keineswegs so, daß der Geisteswissenschaftler nur in einem unglücklichen Einzelfalle relativierenden Mächten unterliegt. Die Sachverhalte, die wir hier im Auge haben, sind vielmehr durchgängiger Art. Sie charakterisieren die geisteswissenschaftliche Arbeit in allen Bereichen und Teilbereichen. Insbesondere ist es auch nicht die Frage persönlicher Disziplin allein, die den Forscher auf diesem Felde den Relativismus überwinden lassen könnte. Auch Weitabgewandtheit und reine Versenkung in das längst Vergangene können die Gefahren, die der Forschung hier drohen, nicht bannen. Im Gegenteil. Sie würden gerade neue Bedenken auf den Plan rufen.

22.

Selbstbezug

Eine der Grundschwierigkeiten ist diese, daß der Forscher selbst, seine Umwelt, seine Äußerungen, seine ganze geistig-kulturelle Existenz, notwendig mit in den Gegenstandsbereich gehören, den er erforscht. Man mache sich das ganz klar. Es sind politisches Wirken, stilistisch geprägte Ausdruckswelt, Wandel und Streit religiöser Uberzeugungen, was er einerseits erforscht und woran er, in welchem Grade auch immer beteiligt, als praktisches Subjekt teil hat. Und seine Umgebung, sein Zeitalter sind Phasen des Gesamtprozesses, aus dem er seine Gegenstände wählt. Aber nicht nur dies. Wie kommt es denn, daß vergangene, ferne, fremde Kunst zu ihm spricht? Wie kommt es, daß er die Zusammenhänge politischen Handelns und Leidens durchschaut? Dies wird ihm doch nur deshalb möglich, weil er aus lebendiger Erfahrung schon weiß, was politische Zielsetzung, was politische Führung und Verführung bedeuten, weil ihm Kunst, Gestalt und Stil schon längst aus alltäglichstem Umgange vertraut sind. Er kann also gar nicht von sich absehen, er kann seine elementare Erfahrung gar nicht eliminieren. Er muß von seiner Stelle aus und aus seiner Situation heraus den Weg in die Geschichte antreten, wenn er nicht für deren Gegebenheiten blind bleiben will. Er bringt zwar seine Brille mit, aber ohne diese Brille könnte er überhaupt nichts erblicken. Er bringt seine Vorurteile mit, aber ohne diese könnte er schlechterdings nicht urteilen. Denn was Gestalt ist, das muß ich sehen, und was ein Ziel ist, das muß einmal meinen Willen in Spannung versetzt haben, sonst weiß ich in keinerlei Belang, was Gestalt und Aufgabe sind. Die Standortrelativität der geisteswissenschaftlichen Forschung ist mithin unaufhebbar. O b der Standortrelativismus es auch ist, das bleibt zu prüfen. Ebendasselbe gilt für die axiotischen Bezüge. Ziele und Aufgaben werden nur um des eigenen Entwurfs willen ergriffen. Auch hier gilt: ich kann das Ergreifen von Aufgaben und das Ergriffenwerden durch Werte nur verstehen, wenn ich selbst ergriffen bin, wenn ich selbst Aufgaben ergreife.

138

Relativismus und Rationalität

Das alles besagt nicht, daß ich grundsätzlich und im materialen Verstände an kulturellen und geistigen Leistungen nur das verstehen könnte, was ich selbst in ebenderselben Weise mache und hervorbringe. Indes, ich muß doch überhaupt eine Erfahrung mit der bezüglichen Gegenständlichkeit gemacht haben, wenn ich soll wissen können, worum es sich bei diesen Leistungen handelt. Mein Denken muß dem Wirklichen bereits im Entwurf von Neuem und zu Schaffendem vorausgeeilt sein, wenn ich ein Wissen darum haben soll, was Aufgabe und Wert sind; mein Auge muß Gestalten gesehen haben, wenn ich irgendwo im Toten und Vergangenen die Lebendigkeit einer Form erspüren soll. Die konkrete Existenz des Forschenden ist zwar gemeinhin nicht wirkliches Thema in einer geisteswissenschaftlichen Problemstellung. Sie ist indes möglicher Gegenstand. Doch ihre Bedeutung wächst ihr nicht allein aus dieser formalen Möglichkeit zu. Die Lebenswelt und die praktisch-geistige Aktivität gehören in irgendeiner Weise mit zu den Voraussetzungen geisteswissenschaftlicher Forschung, und das ist in der Tat eine prinzipiell andere Wissenschaftsverfassung, als wir sie bei den Wissenschaften von der Natur antreffen können. Daraus, daß elementare praktische Erfahrung der Forschenden mit in ihre geisteswissenschaftlichen Ansätze eingehen muß, resultiert allerdings das ernsteste Problem. Die Individualitäten der Forschenden unterscheiden sich ebenso wie ihre Lebenswelten. Ihre Art zu handeln und anzuschauen ist jedesmal anders. Der eine weiß sich von diesen Ideen geleitet, der andere von jenen. Die Bewertungen differieren dementsprechend. Was liegt näher als dies, daß jeder seine Vorzugsordnung und jeder seinen eigenen Stilwillen in die Geschichte hineinträgt?

2j. Gliederung der

Kulturfunktionen

Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich daraus, daß in der Welt der Geschichte und des Geistes offenbar alles zusammenhängt. Jeder Gegenstand scheint nur relativ auf seine Umgebung betrachtet werden zu können. Der Geist einer Epoche bildet einen Zusammenhang der Auseinandersetzung, der Verständigung, der wechselseitigen Beeinflussung. Zugleich sind die Epochen über die Zeiten hin engstens miteinander verbunden. Folgen bewußter und unbewußter Tradition durchziehen alle Kulturbereiche. Doch nicht nur dies. In der Einzelpersönlichkeit selbst verknüpfen sich die Intentionen, Vorstellungen, Absichten und Leistungen zu einem lebendigen Gefüge. Die Glaubenshaltung bleibt nicht ohne Bezug auf die theoretischen Überzeugungen, beide wirken auf die praktische, moralische und politische Einstellung, und diese wiederum auf Gestaltungsart und Stilempfinden. So kann es nicht wundernehmen, daß ein ursprüngliches Interesse der Historie sidi den geschichtlichen Er-

Gliederung der Kulturfunktionen

139

scheinungen in ihrer vollen Komplexheit zuwendet. Der Gang der Gesamtkultur, wie er sich in den Schicksalen der Völker und Zeitalter widerspiegelt, ist ein hervorragender Gegenstand der Geschichtswissenschaft. In dieser Sicht vollzieht sich recht eigentlich auch die Bestimmung des eigenen Standortes. Aber während sich hier, in der allgemeinen Geschichte, das historische Interesse den Schicksalen der Kulturgemeinschaft in den verschiedenen Zeitabschnitten und Regionen widmet, kommt in anderen Studien die Einzelpersönlichkeit zu ihrem Recht. In diesen Bemühungen zeigt sich jedoch sogleich eine besondere Eigentümlichkeit. Das Schicksal von Menschheit, Geist und Kultur und, entsprechend, das von menschlichen, kulturbestimmten Gruppen scheint als solches selbst in seiner, man möchte fast sagen, gleichmäßigen, in allen Dimensionen sich differenzierenden Vielgestaltigkeit die wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Freilich hat hier nicht alles gleiches Gewicht. Aber grundsätzlich haben doch alle Kulturfunktionen ihre Bedeutung für das Schicksal der geschichtlichen Gemeinschaften. Die wissenschaftlich-historische Beschäftigung mit einer Einzelpersönlichkeit aber pflegt von einer spezifisch gerichteten Forschungstendenz bestimmt zu sein. Was hier als Gegenstand in den Blick gerückt wird, ist der Dichter, der Staatsmann, der Religionsstifter, der Wissenschaftler. Zwar wird audi jetzt das Individuum möglidist nach allen Kulturbezügen hin gewürdigt, doch bleibt das Absehen auf spezifisch bestimmte Kulturleistungen leitend. Das Übrige dient nur dem Verständnis des Einen, das den Rang dieses Einzelnen in der Geschichte ausmacht. Die wechselseitige Durchdringung der Kulturleistungen ist nicht zu übersehen. Aber nun ergibt sich ein neues Problem, das Problem recht eigentlich, mit dem die modernen Geisteswissenschaften ihre bestimmte Gestalt gewinnen. Die Einzelleistungen ordnen sich nicht nur dem Prozeß und den verschiedenen nationalen etc. Strömen der Gesamtkultur ein, sie stehen zugleich in spezifischen Überlieferungsfolgen: denen der Wissenschaft und der Wissenschaften, der Kunst, der Künste, der Dichtung, der Sprache, der Religion, des Staatswesens, der Wirtschaft. Dies birgt die theoretische Aufgabe in sich, die einzelnen Kulturleistungen nach ihrer spezifischen Struktur zu gliedern und zu ordnen, die Kunstschöpfungen in den Zusammenhang der Kunstgeschichte einzufügen, die Poeme in den der Dichtungsgeschichte. Hier zeigt sich sogleich eine neue Problematik. Im Felde der Naturwissenschaften können wir prinzipiell mit ein für allemal geschiedenen Gesichtspunkten rechnen, seien diese nun in einem Forschungsstadium schon in der rechten Weise in Ansatz gebracht oder nicht. Die Aspekte sind in einem besonderen Sinne „systematisch" gegliedert, sie gelten für die entsprechenden Erscheinungen zu aller Zeit. Eine der Zeit in jeder Beziehung vorgängige Systematik der Kulturleistungen würde das Bild unveränderlich parallellaufender Entwidk-

140

Relativismus und Rationalität

lungslinien bieten. Ob diese Vorstellung zutrifft, steht dahin. Der geschichtliche Ursprung des Geistes würde dann eine gleichzeitige Wirksamkeit aller Kulturfunktionen einschließen. Die Fragehinsicht, die damit erreicht ist, zeichnet sich bereits ab. In ihr wäre die Bestimmtheit der Kulturfunktionen Problem. Es ginge nicht mehr darum, einzelne Kulturleistungen an ihren Ort zu rücken, die wissenschaftliche Aufgabe bestünde vielmehr darin, die möglichen örter von Kulturleistungen überhaupt erst einmal sichtbar zu machen. Jene Ordnung, in der den positiven Wissenschaften vom Geiste ihre Gegenstände begegnen, wäre freizulegen. Nur auf diese Weise gewönne die Gliederung, die den Gegenständen in der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis widerfährt, verbindlichen Charakter. Die Aufhellung der Gliederungsproblematik schlösse noch ein weiteres ein. Sie würde zurückwirken auch auf die theoretische Behandlung der komplexen Geschichtsgebilde. Denn auch die allgemeine Historie ruht überall auf Einzeleinsichten auf, die ihr aus der Erforschung spezifischer Kulturbereiche zufließen. Die Bestimmtheit dieser Einzelbefunde hängt aber zugleich von der hinreichenden Differenziertheit der Gesichtspunkte, und das heißt von einer hinreichenden Einsicht in die Sondercharaktere der Kulturfunktionen ab. 24.

Grundlegung

Uberblicken wir noch einmal die Erwägungen dieses Abschnitts, so sind es vor allem zwei Problembezirke, deren Behandlung uns dringlich erscheint. Der eine Fragebereich ist durch die Sonderstruktur der Geisteswissenschaften, durch die Momente der Selbstbezüglichkeit und der Daseinsrelativität ihrer Einsichten, gekennzeichnet. Im ersten Moment ist der Abstand von Subjekt und Gegenstand Problem, das andere führt auf die Relativismusfrage. Der zweite Problembezirk enthält die Frage nach der Grundgliederung der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis. Beiden Problemfolgen ist es eigentümlich, daß sie nicht mehr in das Gebiet der positiven geisteswissenschaftlichen Forschung selbst fallen, sondern daß ihre Behandlung aller einschlägigen spezialwissenschaftlichen Erkenntnis vorgängig ist. Sie fallen mit anderen Worten nicht mehr in die Sphäre der positiven Wissenschaft, sondern in die der Philosophie. Die Grundstruktur muß schon feststehen, wenn positive geisteswissenschaftliche Arbeit einsetzen soll. Die Geisteswissenschaft muß gegen allen Relativismus als Erkenntnis ausgewiesen sein, wenn sie überhaupt Verbindlichkeit für sich beanspruchen will. Ihre theoretische Strukturbeschaffenheit muß sich überdies als Ordnung und Gliederung bekunden. Grundverfassung, mögliche Gültigkeit und Differenzierung der Grundhinsichten müssen sich mithin als vorgängige Momente erweisen, und dies wiederum bedeutet also, daß sie mit den Erkenntnismitteln der Philosophie erfaßbar sein müssen.

Grundlegung

141

Vorerst haben wir uns die Fülle der Schwierigkeiten vergegenwärtigt, denen der Versuch einer Grundlegung der Geisteswissenschaften begegnet. Angesichts des Übermaßes an Problematischem, Fraglichem und Fragwürdigem könnte man an der Möglichkeit, eine sichere Rechtsgrundlage für die Ansprüche der Geisteswissenschaften zu finden, vollends zweifeln. Zweifeln könnte man darüber hinaus aber auch an der Tunlichkeit eines solchen Versuchs. Man könnte vielleicht fragen, ob die Bedeutung der Geisteswissenschaften eine Bemühung dieser Art praktisch legitimieren kann. Dies kommt, wie man sieht, der alten Frage nach dem Nutzen der Historie (im weitesten Sinne) gleich. Wir haben an dieser Stelle dreierlei auseinanderzuhalten. Einmal: die Frage nach der Möglichkeit des faktischen Bestandes von Geisteswissenschaften. Diese Frage beschäftigt uns in letzter Linie. Allerdings sei hier bemerkt, daß wir uns keineswegs jenen Anschauungen anschließen, die Faktizität für eine prinzipientheoretisch vernachlässigbare Größe halten. Eine Auffassung, die beispielsweise im landläufigen Antipsychologismus verbreitet war. Indes, es gibt Faktisches, das in jedem Falle mehr als „Faktisches" (Reales, Gegenständliches) ist. Gehört der geschichtliche Bestand der Geisteswissenschaften aber zu Faktischem von dieser Art, und er gehört dazu, dann ist es unumgänglich, die übergegenständlichen Valenzen, die an der Begründung dieser spezifischen Faktizität teilhaben, aufzuklären. Wir können den ganzen Sachverhalt auch so ausdrücken: Alles Faktische ist, um als eben das Faktische, das es ist, Bestand haben zu können, begründet, und zwar in Prinzipien begründet. Nicht ein einzelnes Faktisches als solches, wohl aber jede Art von Faktizität ist prinzipienwissenschaftliches Problem. Die Bedingungen der Möglichkeit einer Faktizität können allerdings höchst komplexer Natur sein. So wird die Frage nach der Faktizität eines Kulturbestandes, wie er sich in den überlieferten Geisteswissenschaften darbietet, auf die Frage nach dessen Wert und praktischer Bedeutung im grundsätzlichen Sinne zurückleiten. Dieses Moment nun steht in der Frage nach dem Nutzen der Historie wesentlich im Mittelpunkt. Die mögliche Bedeutung der Geisteswissenschaften für die Gemeinschaft, für menschliches Leben und menschliche Entfaltung überhaupt ist hier Problem, eine Angelegenheit, die man nicht gering schätzen sollte. Doch auch diese nächste Valenz erschöpft den analytischen Sachverhalt noch keineswegs. Denn die Bedeutung eines Kulturbestandes im Hinblick auf die Gesamtheit des menschlichen Lebens leitet sich stets aus dem „inneren Werte" des spezifischen Bestandes ab. Diese Valenz aber stellt sich dar in den Prinzipien, die die Bestimmtheit und Autonomie eines Leistungsgebietes gewährleisten. Sie gründen in diesem Falle die Geisteswissenschaften als theoretische Leistungsgefü£e. Und erst wenn die theoretische Valenz sichergestellt ist, kann und muß den Geisteswissenschaften auch praktische Bedeutung zukommen; praktische Bedeutung aber hat nur ein solches, das Faktizität

142

Relativismus und Rationalität

besitzt. Jede Kulturleistung ist durch diese drei Momente charakterisiert: ursprüngliche Geltungsbestimmtheit, praktisch-sittliche Valenz und Faktizität. Diese Momente treten gewiß nicht getrennt voneinander auf. Sie stellen vielmehr eine Folge mit wachsender Komplexion dar. Ihre Grundlegungsfunktion kann jetzt allerdings nur andeutend bezeichnet werden. Indes ist dies deutlich, daß die erste Stelle in der Analyse der Geltungsbestimmtheit zukommt. Erst wenn die ursprüngliche Geltungsvalenz ermittelt ist, kann auch die praktische Bedeutung, die dieser Geltungsgröße eignet, untersucht werden. Das letzte Thema der Analyse schließlich ist in der Frage nach der Möglichkeit faktischer Konkretion beschlossen. Diese Folge enthält jedoch keine Stufung im Hinblick auf die Prinzipienvalenz der erörterten Grundlegungsmomente. Praktische Bedeutung und Faktizität stellen ebenso wie Geltungsvalenz durchaus fundamentale Themen dar. Die Folge berücksichtigt lediglich die Gliederung einer analytischen Erörterbarkeit der zu untersuchenden Momente. Diese Folge schreitet nicht etwa, wie man meinen könnte, vom Allgemeinen zum Besonderen fort — das Prinzipielle (auch Faktizität, Konkretheit usf.) ist immer ein Allgemeines — ; die Analyse nimmt vielmehr ihren Fortgang vom strukturell Elementareren zum strukturell Komplexeren. Die Notwendigkeit dieser Folge kann nur in der vollzogenen Analyse selbst einsichtig werden.

2j. Verständigung und

Überlieferung

Dennoch drängt sich die Frage nach der praktischen Valenz am ehesten auf, denn in ihr gestalten sich die Entscheidungen des Handelns. In aller Vorläufigkeit wollen wir deshalb hier den praktischen Rang der Geisteswissenschaften erwägen. Zuvor mache man sich allerdings noch ein weiteres klar: Geisteswissenschaft ist jegliche Theorie, die konkreten Geist, die konkrete Geistesgebilde betrifft. Ihr Geltungsbereich erstreckt sich auf eine jede Vergegenständlichung konkreter Geistigkeit. Gewiß finden die Geisteswissenschaften ihre hervorragende Pflege im akademischen Forschungsbetrieb. Indes, die Grenzen der Schule sind auch hier nicht die Grenzen der Wissenschaft. Jedes Bedenken von Tatbeständen muß sich an theoretischen Maßstäben messen lassen, und überall dort, wo die elementare Weltorientierung mit Fakten kultureller Art zu rechnen hat, ist auch sie geisteswissenschaftlichen Prinzipien untergeordnet. Die Beschäftigung mit Kulturgebilden ist nicht etwa ein Luxus, sondern schlichte Notwendigkeit für den lebendigen Geist. Kenntnis des konkreten Menschen und seiner Leistungen ist nicht Bedürfnis gelegentlicher Neugierde, sondern Grundmoment jeder Verständigung. Diese Kenntnis, methodisch geordnet, ist Bestandteil der Theorie und sie bezieht sich nicht etwa allein auf ein regelmäßiges oder typisch menschliches

N o t w e n d i g k e i t der Geisteswissenschaften

143

Verhalten, sondern vor allem auf die konkreten Manifestationen in ihrer wechselnden Gestalt. Allerdings ist nicht jede Kenntnis und nicht die Kenntnis jeder Manifestation gleich bedeutsam. Diese Ungleichheit hat folgenden Grund: Verständigung ist in jeder Hinsicht pädagogisch bestimmt, das bedeutet: die in der Verständigung begegnende fremde Geistigkeit birgt in sich Ansatz, Anreiz oder Vorbild für die eigene Leistung. Fremde Geistigkeit ist nicht gleichgültig. Ihr Ausdruck und ihre Hervorbringungen differieren mit Rücksicht auf Gewicht und Bedeutung im Gesamtgefüge der Kultur. Diese Bedeutung ist mithin stets eine Funktion der Verständigung. Das Geistesprodukt, sei es eine Rechtsordnung, eine Ideologie, ein Kunstgebilde, eine soziale Institution, was immer — sein Rang bekundet sich zugleich in seiner pädagogischen Valenz, ohne jede Einschränkung verstanden: in der sittigenden Kraft, die von ihm ausstrahlt. Was wäre menschliches Wirken ohne Anreiz und Vorbild? Fremde und vergangene Geistigkeit erweist sich als Voraussetzung für die Ausbildung des eigenen Handelns. Dabei schränkt sich die pädagogische Bedeutung keineswegs ein auf den Bereich sogenannter „Bildung", sie betrifft vielmehr konkretes Denken und Handeln schlechthin, sofern es traditionsbestimmt ist. Praktische wie kontemplative Leistung sind stets durch Uberlieferung determiniert, welche Qualität das Überlieferte auch immer besitzen mag. Der Zugang nun zu dem überlieferten Gut, der Zugang, in dem dieses Gut überhaupt erst überliefert wird, ist — Denken. Alle Aneignung ist Denken. Ein Denken aber, das Etwas so denkt, wie es an sich bestimmt ist, ist Theorie. Wissenschaft, Theorie von vergangener und fremder konkreter Geistigkeit ist Geistes-Wissenschaft. Diese also zeigt sich uns, in elementarer wie in ausgebildeter Gestalt, als ein Moment der Verständigung, als ein Moment mithin menschlichen Seins.

26. Notwendigkeit

der

Geisteswissenschaften

Mag die Geisteswissenschaft in ihrer Struktur, in ihrem Geltungssinn für uns jetzt noch problematisch sein, an ihrer Notwendigkeit ist ebensowenig zu zweifeln wie an derjenigen der Naturwissenschaft. Was aber den Rang der Naturwissenschaften angeht, so ist er ebensowenig unbestritten wie der der Geisteswissenschaften. Ja, es gibt ernste Wissenschaftstheoretiker, die sich von der Exaktheit der Naturwissenschaften durchaus nicht beeindrucken lassen. Wir lesen beispielsweise im Laskschen Nachlaß: „So besteht die Naturwissenschaft in einem skrupellosen theoretischen Eindringen in das Bedeutungsbare, in einem Uberwiegen der theoretischen Form und ihrer Triumphe. Hinstreben zu jener Schicht, wo das Material immer dünner und durchsichtiger wird. Deshalb Tendenz der Quantifizierung. In der Mathematik ausgehöhltestes und

Relativismus und Rationalität

144

schattenhaftestes Material, hier deshalb ungehemmteste Orgien der theoretischen Form; aber auch exakteste Wissenschaft. Aber auch hier wird nicht ergründet; Mühle des Verstandes um so glänzender, je weniger gemahlen wird. Welcher Wahnwitz, über diesen Vorzügen die Nachteile zu verkennen und Mathematik und Naturwissenschaft als Muster der Wissenschaftlichkeit hinzustellen."1 Allerdings beruht die Minderbewertung der Geisteswissenschaften vielfach auf einer Orientierung an den Normen naturwissenschaftlicher („exakter") Begriffsbildung. In wie hohem Maße die spezifische Strenge der Naturwissenschaften in der Neuzeit zum Leitbild aller Theorie wurde, ist bekannt. Indes, diese Idealbildung beruht nur auf einer methodologischen Grenzüberschreitung. Diese wiederum hat ihren Grund darin, daß die exakten Disziplinen früher mündig wurden als die Geisteswissenschaften. Das ändert jedoch nichts daran, daß sich die letzteren größerer Kulturbedeutung erfreuen. Anders gewendet: ihr pädagogisches Gewicht ist größer. Kenntnis und Beherrschung der Natur sind gewiß kulturell relevant, jedoch nur dann, wenn sie vom rechten Geist bestimmt sind. Fortgeschrittenheit auf den Gebieten der Naturforschung schließt Barbarei nicht immer aus. Die Gebilde der Kultur haben zwar ihren Untergrund in der Natur, und Kenntnis des Naturalen wird der Beförderung der Kultur allenthalben dienlich sein, gleichwohl bleibt Kultur etwas Supranaturales. Gemeinschaft, Sprache, Gesittung, Kunst und Recht sind nicht Naturbestände, sie haben ihren Ursprung in Entwürfen des Geistes. Ihre Pflege und ihre Fortentwicklung bilden den inneren Sinn aller Überlieferung. Diese aber stützt sich auf Kenntnis und Aneignung. Und diese wiederum finden ihre methodisch geklärte Pflege in den Geisteswissenschaften. Nichts kann dem Menschen dringender angelegen sein, als sich selbst und seinesgleichen zu begreifen. Dasjenige aber, das der Mensch wesentlich ist, ist Geist und findet seinen Ausdruck in den Gebilden der Kultur. Theoretisch geklärtes Selbstverständnis ist Wissenschaft vom Geiste, und zwar als Wissenschaft vom Geiste in seinen konkreten Einzelerscheinungen: positive Geisteswissenschaft. Theoretisch geklärtes Selbstverständnis meint: Verstehen des Selbst, so wie es ist, unterschieden von allen Wunsch- und Wahnbildern; Wissen darum, wie menschliches Sein und menschliche Leistung sind, und nicht, wie man sie, aus welchen Motiven immer, gerade wahrhaben möchte. Gültiges Selbstverständnis ist ein dringendes Anliegen des Geistes, und das aus mehreren Gründen. In freier Tathandlung schafft der Mensch. Nicht bloße Natur kann ihn leiten. Im Selbstentwurf denkt er sich als den, der er sein wird; im Wollen bestimmt er sein Handeln zu tätiger Veränderung der Wirklichkeit. Selbst und Welt meistert er jedoch nur, wenn er beide so denkt, wie sie sind. Sein Tun würde die vermeinte Zukunft verfehlen, wenn sein Den1

Gesammelte

Schriften,

III, 1924, S. 243.

Notwendigkeit der Geisteswissensdiaften

145

ken nicht die Kraft hätte, die Gegenwart zu ergreifen. Menschliche Gegenwart hinwiederum ist geschichtliche Gegenwart, sie resultiert aus dem bisherigen Schicksal des Geistes. Das Wissen um die Herkunft des Geistes, dies und nichts anderes ist Geisteswissenschaft. Mögen sich die Naturwissenschaften audi größeren Ansehens erfreuen, der Rang der Geisteswissenschaften wird darum nicht geschmälert. Kann es, so mag man fragen, ein würdigeres Geschäft der Theorie geben, als die Erscheinungsformen des Geistes zu studieren? Mag die Mühe der Kulturwissenschaften auch besonderen Schwierigkeiten begegnen — daß dies ihr Los ist, haben wir gesehen —, die Unüberwindlichkeit dieser Schwierigkeiten müßte doch erst mit Gründen dargetan werden. Eine Berufung auf vorgebliche oder wirkliche Mängel im Faktischen will hier überhaupt nichts besagen. Denn wer sich erst einmal klargemacht hat, welche Verschlingung der Problemlinien hier vorliegt, wer ahnt, welche Konsequenzen sich aus den einschlägigen Strukturbeschaffenheiten ergeben, der urteilt vorsichtig. Der hält keine Rezepte zur Reformierung der geisteswissenschaftlichen Praxis bereit und glaubt gewiß nicht an die Möglichkeit, die wissenschaftstheoretische Sachlage auf einfache und womöglich gar abschließende Weise klären zu können. Wissenschaftstheoretisch möglich ist nur dies: die Voraussetzungen der Problematik aufzudecken. Der Sinn der Geisteswissenschaften enthüllt sich allein einer systematischen Analyse. Um ihn freizulegen, ist es erforderlich, alle fundamentalen Systembezüge zu ermitteln, durch die Geisteswissenschaften ihren Ort unter den Wissenschaften und ihren Ort unter den Kulturleistungen überhaupt erlangen.

10 Wolmdt, Idealismus

Vom Geltungsbegrifi zum Symbolbegriff Cassirers Beitrag zur G r u n d l e g u n g der K u l t u r w i s s e n s c h a f t e n In seiner Abhandlung 7.ur Logik der Kulturwissenschaften (die erstmals 1942 in Schweden erschien1) schreibt Cassirer: „Das Objekt der Natur scheint uns unmittelbar vor Augen zu liegen. Zwar lehrt uns die erkenntnistheoretische Analyse alsbald, wie vieler und wie komplizierter Begriffe es bedarf, um auch dieses Objekt in seiner Eigenart zu bestimmen. Aber diese Bestimmung vollzieht sich in einer gleichbleibenden Richtung: wir gehen . . . auf den Gegenstand zu, um ihn immer genauer kennenzulernen. Das Kulturobjekt aber bedarf einer anderen Betrachtung; denn es liegt uns sozusagen im Rücken . . . der reflexive Prozeß des Begreifens ist seiner Richtung nach dem produktiven Prozeß entgegengesetzt . . ." 2 . Anschließend bestimmt Cassirer dann die Aufgabe einer Logik der Kulturwissenschaften: „Die Kultur schafft in einem ununterbrochenen Strom ständig neue sprachliche, künstlerische, religiöse Symbole. Die Wissenschaft und die Philosophie aber muß diese Symbolsprache in ihre Elemente zerlegen, um sie sich verständlich zu machen"8. Der Philosophie, so dürfen wir ergänzen, fällt dabei die Aufgabe zu, die Grundformen des Symbolischen, die sogenannten „symbolischen Formen", zu bestimmen. Ja, Philosophie wird für Cassirer recht eigentlich zur Theorie der symbolischen Formen. Und mit dieser Auffassung der Philosophie erlangt Cassirer zugleich seine bestimmte Stelle — und zwar als einer der letzten — in der Reihe der bedeutenden Denker des deutschen Kulturidealismus 1 . — Cassirer hat seine überragende Position in der Entwicklung des Kulturidealismus durch drei Leistungen erworben5: 1. durch sein großes und auch heute noch wegweisendes Lebenswerk 1

Göteborg Högskolas Arsskrift, Bd. X L V I I , 194a: 1 (2. unv. Aufl. Darmstadt 1961). « S. 94 f. (86). 3 Ebd. 4 Vgl. D. Gawronsky: Ernst Cassirer, His Life and His Work. (In: The Library of Living Philosophers. Bd. V I : The Philosophy of Ε. C. Ed. by P. Α. Schlipp, Evanston, Illinois 1949, S. ι ff., deutsch in: Philosophen des 20. Jahrhunderts. Band: Ernst Cassirer. 1966. — In der deutschen Ausgabe fehlen bedauerlicherweise einige Stücke der Originalsammlung.) 5 Bibliography of the Writings of Ε. C. (bis 1946): Schilpp a. a. O., S. 881 ff. — Die Bibliographie wurde von Ε. Gadol für die deutsche Ausgabe vervollständigt.

Vom Geltungsbegriff zum Symbolbegriff

147

auf dem Felde der Philosophiegesdiichte, 2. durch seine Logik des Funktionsbegriffs und 3. durch den Versuch, den kritizistischen Idealismus im Hinblick auf eine Grundlegung der Geisteswissenschaften zu ergänzen. Diese Ergänzung aber hat zu ihrer Voraussetzung die Konzeption einer umfassenden Theorie der symbolischen Formen. — Von dieser dritten Leistung Cassirers soll im folgenden die Rede sein. Was sind „symbolische Formen" und welche Bedeutung fällt ihnen angesichts einer Grundlegung der Geisteswissensdiaften zu? — „Unter einer symbolischen Form' soll jene Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnlidies Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird"". Worin liegt das Neue dieser Bestimmung, und vor allem: worin liegt ihre weiterführende Kraft für die Theorie der Geisteswissenschaften? Wenn wir diese Frage beantworten wollen, müssen wir uns die Problemsituation vergegenwärtigen, die den Ausgangspunkt der Cassirerschen Symboltheorie bestimmt. — Mit der zunehmenden Entfaltung der geisteswissenschaftlichen Forschung im Verlaufe des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts trat an die Philosophie in immer stärkerem Maße die Aufgabe heran, sich mit den Fragen einer Grundlegung der Geisteswissenschaften zu beschäftigen. Worin liegt aber das Eigentümliche dieser besonderen Grundlegungsfrage? Die Frage nach der Grundlegung der Geisteswissenschaften ist ein Teil der Frage nach Grundlegung und Möglichkeit der positiven Wissenschaften überhaupt, sie ist ein Teil der philosophischen Wissenschaftstheorie. Die Fragestellung der Wissenschaftstheorie aber ist wiederum ein Teil der erkenntnistheoretischen Grundlehre im ganzen, die ja auch noch die Frage nach Grund und Möglichkeit der philosophischen Erkenntnis mitumfaßt. Aber auch die Frage der Erkenntnisgrundlegung im ganzen ist nicht die einzige Grundfrage; sie ist nicht das einzige Problem der systematischen Philosophie, audi sie ist nur ein Aspekt der umfassenden Fragestellung, die das ganze Gefüge der Grundlegung betrifft. Wenn die Philosophie eine Grundlegungsfrage stellt, stößt sie in eine Dimension vor, die zwar in einem Zusammenhang mit den Forschungsgebieten der positiven Wissenschaften steht, die aber gleichwohl von diesen Gebieten geschieden ist. Die positiven Wissenschaften erforschen das Konkrete und Gegenständliche, die Philosophie aber ein Nicht-Konkretes und Nicht-Gegenständliches, ob sie dieses nun als Prinzip, als Möglichkeitsbedingung, als Wesen oder als Idee bestimmen mag. Sie erforscht gerade dasjenige, das dem Konkreten zugrunde liegt, mit dem allein die Erfahrung (die des Alltags sowohl wie die methodisch geläuterte der β

10*

Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften. Vorträge der Bibliothek Warburg, Bd. I (1921—1922), Leipzig 1923 (wiederabgedruckt in: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Darmstadt 1956, 2. A. 1959), S. i j (17j).

148

Vom Geltungsbegriff zum Symbolbegriff

positiven Wissenschaft) es zu tun hat. Die Philosophie forscht nach dem Wesen und nach den Prinzipien des Konkreten. Und sie fragt nach dem Wesen und nach den Prinzipien eines jeglichen, das Konkretheit besitzt. Weil anders aber das Grundlegende nicht gedacht werden kann, macht sie das Ganze der Grundlegung, die Allheit der Prinzipien zu ihrem Problem. Diese Grundlegung hat aber nicht nur die Funktion, die Bestimmtheit der Objekte zu verbürgen, sie hat auch die Funktion, die Bestimmtheit der objizierenden Instanzen, die Bestimmtheit des Denkens also und die der Subjektivität, sicherzustellen. Was nun Cassirers Grundlegungstheorie betrifft, so ist sie gewiß beides: sie ist Theorie der Grundlegung des Objekts und sie ist Theorie der Grundlegung des Subjekts, und — das ist das Bemerkenswerte — sie ist das erste, insofern sie das zweite ist. Allein aus einer Lehre von der Grundkonstitution des Subjekts ist für Cassirer eine Theorie von der Grundkonstitution des Objekts zu gewinnen. Doch diese Uberzeugung findet sich fast durchgehend in der ganzen Philosophie des Kulturidealismus. Wenn man die Bedeutung der „Philosophie der symbolischen Formen" für die Grundlegungstheorie der Geisteswissenschaften würdigen will, ist es gut, zuvor einen Blick auf die problemgeschichtliche Herkunft dieser Lehre zu werfen. — Ernst Cassirer gehört, wie man weiß, der Marburger Schule des Neukantianismus an, und innerhalb dieser Schule steht er ihrem Haupt und Gründer Hermann Cohen am nächsten7. Die Nähe Cassirers zu Cohen — zu ihm und nicht etwa zu dem in systematischem Belang wirksameren Natorp — ist frappierend. Ja, man kann sagen, daß Cassirer in seinem späteren Lebenswerk zu Problemstellungen des frühen Cohen, insbesondere im Hinblick auf Sprache und Mythos, zurückfindet. Vergegenwärtigen wir uns die Grundlehre des Marburger Kritizismus, so steht uns ein geschlossenes Gefüge der drei Systemteile Logik, Ethik und Ästhetik vor Augen. Oder genauer: das Gefüge einer Logik der reinen Erkenntnis, einer Ethik des reinen Willens und einer Ästhetik des reinen Gefühls. Jede der drei Grunddisziplinen der Philosophie hat es mit einer spezifischen Leistungshinsicht des reinen Bewußtseins zu tun, mit einer Leistungshinsicht, die zugleich eine Hinsicht der Gegenstandserzeugung ist, denn alle Bestimmtheit fließt nach dieser Lehre dem Gegenstand nur aus der Setzung durch die Subjektivität, durch das Bewußtsein, zu. Die ganze Grundlegung fällt demgemäß auch auf die Seite des Bewußtseins. Das Bewußtsein ist als konstituierende Instanz zugleich der Inbegriff der Prinzipien. Was Cohen — und in diesem Punkt folgt Natorp völlig seiner Lehre — in der Kantischen Grundlehre an subjektsfremden Grundlegungsmomenten findet, das sucht er aus der Transzendentalphilosophie zu verbannen. Die Subjektivität ist Prinzipien7

Vgl. D. Gawronsky a. a. O., S. 6 ff. (S. 4 ff.).

V o m Geltungsbegriff zum Symbolbegriff

149

inbegriff und sie ist der einzige Prinzipieninbegriff. Die Subjektivität hat innerhalb der Grundlegung einen schrankenlosen Vorrang. Um aber jede Relativierung der Erkenntnis und der übrigen Bewußtseinsleistungen mit Bezug auf vereinzelte Subjekte und ihre individuellen Besonderheiten auszuschließen, schränken Cohen und Natorp (in Anknüpfung an den Kantischen Begriff des Bewußtseins überhaupt) alle Konstitution durch die Subjektivität auf ein reines Bewußtsein ein. Nicht das individuelle, reale Bewußtsein ist Ursprung aller Bestimmtheit, sondern einzig und allein jene Subjektivität, die übrigbleibt, wenn man von allen realen und gegenständlichen Bestimmungsstücken absieht. Um diese reine Prinzipienfunktion des Bewußtseins sicherzustellen, werden schließlich auch alle Grundlegungsfaktoren mit Ausnahme logischer Gesetzlichkeiten eliminiert. Die reinen Anschauungsformen, für Kant in ihrer Nichtlogizität unentbehrliche Faktoren der Erfahrungsermöglichung, werden ihres Anschauungscharakters entkleidet und (in umgebildeter Gestalt) in das Gefüge der logischen Grundlegung einbezogen. Durch drei Dinge ist die Marburger Grundlehre mithin bestimmt: i . dadurch, daß sie allein der Subjektivität Grundlegungsrang zubilligt (unter Ausschluß der Gegenständlichkeit und des Seins), 2. dadurch, daß sie allein dem „reinen", dem nichtgegenständlichen Subjekt eine Stelle in der Grundlegungsdimension gibt und 3. dadurch, daß sie sich — dies gilt in erster Linie für die Erkenntnisgrundlegung — auf die logischen Grundmomente beschränkt. Nicht zu Unrecht kann man deshalb dem Marburger Kritizismus, der sich selbst als kritischen Idealismus zu bezeichnen pflegt, im Fundamentalansatz Subjektivismus, Purismus und Logizismus nachsagen. Wie aber steht es innerhalb der älteren Marburger Lehre um die Probleme des Geistes und der Geisteswissenschaften? Die Sachlage ist nicht ganz einfach. — Philosophie ist nach Cohen die Lehre von den ursprünglichen Erzeugungsweisen des Bewußtseins. Erzeugt aber werden durch das Bewußtsein die Inhalte der Kultur, und in diesen Inhalten — denjenigen der reinen Erkenntnis, des reinen Willens und des reinen Gefühls — ergreift und begreift das Bewußtsein seine Objekte: Natur, Freiheit und Kunst. Das Bewußtsein ist, wie gesagt, Ä«/i«rbewußtsein, die Kultur ist die umgreifende Einheit möglicher Inhalte und Erzeugungen. Philosophie ist also in eben demselben Sinne, in dem sie Theorie des Bewußtseins und der autonomen Bewußtseinsformen ist, auch Theorie der Kultur. („Kulturphilosophie" ist, wie man sieht, hier also kein Sonderbereich der Philosophie, sondern sie gerade ist die Philosophie im ganzen.) N u n dürfen wir, wenn wir von einer bestimmten Akzentuierung in werttheoretischer Rüdssicht absehen, gewiß Kulturwissenschaften und Geisteswissenschaften miteinander gleichsetzen. Enthält, so fragen wir, die Marburger Philosophie der Kultur zugleich eine Grundlegung der positiven Kulturwissenschaften? Enthält sie eine Grundlegungstheorie

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Vom Geltungsbegriff zum Symbolbegriff

jener Wissenschaften, die eine Erforschung der Tatsachen des Geistes, der Geschichte und der Kultur sich zur Aufgabe machen? Unsere Frage, die den systematischen Anspruch der Marburger Grundlehre in einem zentralen Punkte trifft, ist eben dieselbe Frage, die Cassirer gelegentlich der Auseinandersetzung mit dieser Theorie sich selbst vorlegt und die ihn schließlich zu jener Erweiterung der Grundlegungstheorie führt, die mit den Begriffen des Symbols und der symbolischen Form verknüpft ist8. Wie steht es nun mit der Marburger Lehre mit Rücksicht auf die genannte Grundlegungsfrage? — Wir müssen zunächst einmal zwei Dinge auseinanderhalten: i. das Problem einer Grundlegung des Geistes selbst, die Frage also nach den Prinzipien von Geist, Geschichte und Kultur, und 2. das Problem einer Grundlegung der Wissenschaften, die Geist, Geschichte und Kultur zu ihrem Objekt haben. — Angesichts dieser Unterscheidung begegnet uns allerdings sofort eine erhebliche Schwierigkeit: Nach der Marburger Doktrin ist die Unterscheidung dieser beiden Grundfragen selbst problematisch, denn da das Bewußtsein selbst, da die methodische Leistung der Erkenntnis selbst ihren Gegenstand konstituiert, ist die Frage nach eigenständigen Gegenstandsprinzipien recht eigentlich überflüssig. Es gibt zwar die Erfahrungswissenschaften, die sich mit den Objekten beschäftigen, aber es gibt für die Marburger keine Philosophie des Objekts. Die Frage nach dem Grunde der Gegenstände, und zwar nach einem Grunde, der auf der Gegenstandsseite zu suchen wäre, gehört nach Marburger Uberzeugung einer überwundenen und mit Notwendigkeit abzuweisenden Metaphysik an. Es kann nach dieser Lehre keine philosophische Theorie mehr von „Dingen an sich", es kann beispielsweise keine Naturphilosophie mehr neben einer philosophischen Theorie der Naturer&ewnims geben. Man beachte, welche Simplizität der Systematik hier ihren Ursprung hat: Die Richtung der Intentionalität, die Richtung des Vermeinens vom Subjekt zum Objekt, ist zugleich die Richtung der Prinzipiation, die Richtung von der Grundlegung zum Grundgelegten. Nun ist diese Gleichsetzung, so unhaltbar sie sein mag, in der Sphäre der Natur noch am leichtesten durchzuführen. So gewiß dem Denken, und so gewiß der Erkenntnis stets eine Grundlegungsfunktion (ein Moment letztrangiger Ursprünglichkeit) eignet (wenn auch nicht gerade das einer Gegenstandserze«g«wg), so gewiß ist die Natur mit der Vielfalt ihrer Objekte gerade von derjenigen Grundlegungsfunktion, die dem Denken eignet, ausgeschlossen. Die Natur ist das schlechterdings Denkhemde, und deshalb war es auch leicht, sofern man nur ein Grund8

Vgl. P. Natorp, Kant und die Marburger Schule. Kant-Studien, 17 (1912), S. 193 ff.; ders. Hermann Cohens philosophische Leistung unter dem Gesichtspunkt des Systems. Philos. Vortr. d. Kant-Ges. Nr. 2 1 , 1 9 1 8 ; E. Cassirer, Hermann Cohen und die Erneuerung der kantischen Philosophie. Kant-Studien, 17 (1912), 252 ff.; W. Kinkel, Hermann Cohen. 1924.

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legungsmoment, dasjenige des Gegenstandsbezugs nämlich, ins Auge faßte, der Natur gleichzeitig audi GrundlegungsirzmAheix. zuzudenken. Zu dieser einen Vereinfachung in der Grundlegungstheorie kommen jedoch noch weitere hinzu, die die Systematik an entscheidenden Punkten belasteten und sie schließlich zerreißen mußten. Die eine Vereinfachung liegt darin, daß, so wie dem Denken und nicht auch dem Gedachten, so auch nur formalen und nicht auch inhaltlichen Faktoren ein Grundlegungsrang zugedacht wurde. Dazu kam schließlich noch eine dritte (und für unseren Problemaspekt die schwerwiegendste) Vereinfachung: das Verhältnis zwischen Denken und Gedachtem, zwischen Vermeinen und Vermeintem wurde grundsätzlich nur als ein einstufiges berücksichtigt. Nur so konnte Paul Natorp, dem die Verlegenheit der Marburger Systematik im Hinblick auf eine Grundlegung der Geisteswissenschaften vor Augen stand, die Lösung anbieten: Ethik und Ästhetik fiele die Grundlegungsaufgabe für die Geisteswissenschaften zu9. Daß dies nun keineswegs eine Lösung sein konnte, stand für Cassirer von Anfang an fest. Der Grundsachverhalt ist ja dieser: Während den Naturwissenschaften ein (wie auch immer strukturiertes) Denkfremdes begegnet, stehen die Geisteswissenschaften selbst einem Denken, einer Welt von manifestierten und sich verwirklichenden Gedanken gegenüber. Das Denken begegnet hier gerade keinem Anderen, sondern es begegnet sich selbst, ob es nun praktische, politische, künstlerische, ob es — in der Wissenschaftsgeschichte — die theoretischen Gedanken, oder ob es die in den Sprachen geäußerten Gedanken sind. Die Doppelbett der Grundlegungsfrage, darauf weist Cassirer mit Nachdruck hin, ist unbestreitbar. Ethik und Ästhetik stellen zwar die Frage nach den Prinzipien bestimmter geistiger Leistungen (nach dem Grunde praktischer und ästhetischer Setzungen nämlich), aber sie können nicht zugleich auch die Frage nach einer Grundlegung der positiven Erkenntnis solcher Leistungen mitstellen. Die Frage nach der Erkenntnisgrundlegung kann, gerade unter den Voraussetzungen des Kritizismus, einen legitimen Ort allein in der Logik haben. Das Stück, das innerhalb der Systematik fehlt, ist dieses: eine Logik, die diejenigen Prinzipien aufdeckt, die dem Erkennen nicht bloß (wie in der Naturwissenschaft) von Nichtgedanklichem, sondern die dem Erkennen von Gedanken zugrunde liegen. Die erforderliche Differenzierung der Wissenschaftsgrundlegung — das zeigt Cassirer in seiner Abhandlung Die Begriffsform im mythischen Denken10 — ist jedoch aus der Grundform des Theoretischen allein nicht zu gewinnen (Cassirer wendet sich hier gegen die Wissenschaftstheorie des südwestdeutschen 9 10

Kant und die Marburger Schule. S. 216. Studien der Bibliothek Warburg, Bd. I. Leipzig 1922 (in: Wesen und Wirkung Symbolbegriffs, S. 1 ff.).

des

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Neukantianismus), sie muß vielmehr den Inhalt, d. h. aber das Objekt der Erkenntnisarten prinzipientheoretisch berücksichtigen: „ . . . die Reflexion auf die Form und Eigenart der historischen Erkenntnis bestimmt als solche nichts über den Inhalt dieser Erkenntnis — die Art und Richtung der geschichtlichen Auffassung und Beschreibung läßt den Gegenstand dieser Auffassung noch völlig unbestimmt. Um diesen zu bestimmen, müssen wir von der Form der geschichtlichen Erkenntnis wieder auf den Gehalt und das Wesen dessen, was in die historische Entwicklung eintritt, zurückgehen."11 Die Sprengkraft dieses Gedankens ist gar nicht zu überschätzen. Der logizistische Subjektivitätsprimat in der Grundlegungstheorie ist hier durchbrochen, und zwar gerade an einer Stelle, wo — innerhalb der positiven Theorie — die Subjektivität der Subjektivität begegnet, wo, anders ausgedrückt, die Grundbedingungen dafür aufgedeckt werden sollen, daß es dem Ich möglich sei, seine eigenen konkreten Erscheinungsformen und Äußerungen in der Geschichte zu studieren. Die philosophische Frage nach dem Objekt der Erkenntnis ist für Cassirer an dieser Stelle unabweisbar geworden, „an dieser Stelle" aber bedeutet: so weit es um die Konstitution des Geistes geht. Und hier liegt für Cassirer der Einsatzpunkt des Symbolbegriffs. Was führt zu der neuen Konzeption? Wir lenken die Frage noch einmal zurück: Wenn die Marburger Lehre schon den Ort einer philosophischen Theorie der Geisteswissenschaften nicht befriedigend anzugeben wußte, weil sie die mögliche Mehrstufigkeit des Intentionalen nicht bewältigte (mit Rücksicht eben auf ein Denken von Gedanken) — war sie denn nicht in der Lage, wenn schon nicht eine Theorie der Geisteswissenschaften, so doch eine solche des Geistes zu geben? Verstand die Marburger Philosophie sich denn nicht selbst als die Philosophie der Kulturl Ich meine es so: Wenn die Marburger Lehre schon nicht selbst eine Differenzierung des Erkenntnisfeldes durchführte, besaß sie in ihrem Begriff der Kultur nicht doch schon das systematische Mittel, um eine solche Differenzierung durchzuführen? — Sie besaß es nicht. Cassirer mußte dem Kulturbegriff erst einen neuen Inhalt geben, wenn er die Aufgabe bewältigen wollte, die er sich gestellt hatte. Das „Ganze der Kultur" bedeutet für Cohen die Einheit des Systems der Geltungsformen. „Kultur" ist für ihn ausschließlich ein Geltungsbegriff, er hat allein die mögliche Gültigkeit einer Bewußtseinsleistung zu seinem Inhalt, keinesfalls ist er als Inbegriff der Konstitutionsgrundlagen von konkreten Größen gedacht. Die Frage nach denjenigen Momenten, die sich den Geltungsaspekten (den Aspekten der Logik, der Ethik und der Ästhetik) nicht einordnen lassen, hat überhaupt keine prinzipientheoretische, d. h. keine philosophische Relevanz für ihn. Alles, was die konkrete, die geschichtliche Verfassung des Geistes und der indi11

A . a . O . , S .6.

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viduellen Gebilde, in denen sich der Geist manifestiert, betrifft, ist Sache der positiven Wissenschaften und der Psychologie. Alles „Empirische" ist bloß gegenständlich, und alles Gegenständliche (der Gedankenvollzug sowohl wie der Ausdruck der Gedanken in der Sprache — genauer: in den Sprachen) wird von der Grundlegungsdimension ausgeschlossen. N u n wäre es gewiß abwegig (und gerade Cassirer liegt dies so fern wie nur möglich), die Berechtigung der Geltungstheorie überhaupt in Frage zu stellen. Aber dies, daß die bisherige Geltungssystematik zur Bestimmung der Grundfunktion des Geistes nicht hinreicht, ist ihm vollkommen deutlich. Cassirer strebt dabei sowohl eine Erweiterung wie auch eine vorgängigere Fassung der philosophischen Problematik des Geistes und der Subjektivität an. Er ist der Überzeugung, daß die „Erkenntnistheorie in ihrer herkömmlichen Auffassung für eine methodische Grundlegung der Geisteswissenschaften nicht ausreicht" 12 . „Der Lehre von der naturwissenschaftlichen Begriffs- und Urteilsbildung, durch die das ,Objekt' der Natur in seinen konstitutiven Grundzügen b e s t i m m t . . . wird, mußte eine analoge Bestimmung f ü r das Gebiet der reinen Subjektivität zur Seite treten. Diese Subjektivität geht in der erkennenden Betrachtung der Natur und der Wirklichkeit nicht auf, sondern sie erweist sich überall dort wirksam, wo überhaupt das Ganze der Erscheinung unter einen bestimmten geistigen Gesichtspunkt gestellt und von ihm aus gestaltet wird." 13 Die Subjektivität — ich wiederhole — geht in der erkennenden Betrachtung nicht auf, sie geht aber auch nicht auf in den weiteren (in der Geltungssystematik berücksichtigten) Grundhinsichten des Praktischen und des Ästhetischen; die Subjektivität geht hinsichtlich ihrer Grundverfassung überhaupt nicht in Geltungsbestimmungen auf. Ihre Grundstruktur muß — und dies ist Cassirers Überzeugung — in umfassenderer Weise gedacht werden. Der Schlüsselbegriff ist für Cassirer der des Symbols. Ich muß hier nicht auf die wechselvolle Vorgeschichte dieses Begriffs eingehen, die Cassirer gegenwärtig ist, wie überhaupt das Historische überall — gelegentlich im Übermaße — seine systemtheoretischen Überlegungen durchdringt, ich halte mich an die Funktion des Begriffs innerhalb der Cassirerschen Philosophie. Es ist die Funktion des Geistes, vermittels deren er in bestimmten Objektivationen die Welt ergreift. Der Subjektivität bleibt (wie in der älteren Bewußtseinsphilosophie) die erzeugende Kraft. Aber die Erzeugung bezieht sich nun nicht auf die Objekte der spezifischen Bewußtseinsleistungen, sondern auf die Vermittlung selbst: auf jene Größen, die die Subjektivität erschafft, um ein Vermeintes zu ergreifen. Mit Rücksicht auf die Sphäre der Sprache ist dieser 12

13

Philosophie der symbolischen 1953. 1954» 1965), S. V. Ebd.

Formen. Erster Teil: Die Sprache. 1923 (Neudrudce

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Symbolbegriff oft gewürdigt worden 14 , aber es kommt alles darauf an, ihn in seiner ganzen Weite zu verstehen15. Cassirer geht es um die „geistigen Formen der Weltauffassung" 18 . Allen diesen Formen ist gemeinsam, daß sich in einer Äußerlichkeit ein „inneres geistiges Prinzip" 17 offenbart. Es handelt sich um Formen der „Gestaltgebung" und der „Objektivierung". In dieser Weise bestimmt Cassirer Sprache, Mythos, Erkenntnis und Kunst. „ . . . in ihnen allen prägt sich das Grundphänomen aus, daß unser Bewußtsein sich nicht damit begnügt, den Eindruck eines Äußeren zu empfangen, sondern daß es jenen Eindruck mit einer freien Tätigkeit des Ausdrucks verknüpft und durchdringt."18 Cassirer bestimmt die symbolische Form durch eine Reihe von Momenten, von denen ich vor allem diese hervorheben will: 1. An erster Stelle steht die welteröffnende, die welterschließende oder, wie wir auch sagen dürfen, die intentionale Funktion. Jede der symbolischen Formen ist Grund und Möglichkeitsbedingung eines bestimmten Gegenstandsbezugs. Sie alle, ob Mythos, Kunst, Erkenntnis oder Sprache, sind für Cassirer „Formen der Weltauffassung" — eine Lehre, die freilich mit Bezug auf bestimmte Sphären der Kunst (Architektur und Musik) ihre Schwierigkeiten hat. 2. Dabei entsprechen die Formen nicht etwa einer vorgegebenen Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeiten bestimmen sich vielmehr erst in der Selbstobjektivierung, in der Selbstoffenbarung des Geistes1'. 3. In der Folge der symbolischen Formen erblickt Cassirer einen „bestimmten systematischen Stufengang", dessen Stufenfolge allerdings, so viel ich sehen kann, nicht ganz klar ist. Nur das Ende steht fest: Am Ende der Entwicklung steht das Theoretische, die Wissenschaft20. 4. Ein weiteres wesentliches Moment ist die Unableitbarkeit, die Letztheit jeder symbolischen Form. Die Formen stellen „wahrhafte Urphänomene des Geistes dar, . . . an denen sich . . . nichts mehr . . . auf ein anderes zurückführen läßt" 21 . 14

15

16 17 18 19 20

21

Vgl. W . M. Urban, Cassirer's Philosophy of Language. 1949 (Schilpp, S. 40 i f f . , deutsche Ausgabe: S. 281 ff.). Im Begriff des Symbols versucht Cassirer ein Moment zu ergreifen, das sich „in jeder geistigen Grundform wiederfindet und das dodi andererseits in keiner von ihnen in sdilechthin gleicher Gestalt wiederkehrt". Philos. d. symb. Formen. I, S. 16. Die Begriffsform im mythischen Denken. S. 7. A. a. O., S. 6 i. Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften. S. 15 (175). Philos. d. symb. Formen. I, S. 9. Zur „Philosophie der Mythologie" (in: Festschrift für Paul Natorp, 1924). S. 53 f.; Philos. d. symb. Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. 1925 (1953), S. 3$ (34 f.)· Sprache und Mythos. — Ein Beitrag zum Problem der Götternamen. Studien der Bibliothek Warburg, Bd. VI, 192$ (wiederabgedruckt in: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. S. 82).

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5. Von höchster Bedeutung ist endlich der Ganzheits- und Inbegriffcharakter jeder Sphäre des Symbolischen. Stets ist „das Ganze der Erscheinung unter einen bestimmten geistigen Blickpunkt gestellt" 22 , es geht stets um die „Gestaltung . . . zu einem objektiven Sinnzusammenhang", zu einem „objektiven Anschauungsganzen" 23 . — Auch hier stellt sich die Frage, ob das der Struktur aller Formen wirklich gemäß ist, ob nicht bestimmte Symbolformen gerade etwas anderes an die Stelle des einigen Ganzen setzen, ohne deshalb ihre Letztheit und Universalität einzubüßen. 6. Ein weiteres Moment ist dasjenige der Vermittlung, die Auffassung, daß in der symbolischen Form der Wechselbezug von Innerem und Äußerem, der Wechselbezug von Subjektivem und Objektivem, seine Stätte hat24. Hier hat Cassirer in seinen gründlichen und positiv fundierten Analysen der Spradie, in der Aufdeckung des Zusammenhangs von Bedeutungs-, Ausdrucks- und Darstellungsfunktion, die Diskussion in einem Felde der Geisteswissenschaften — und zwar in Zustimmung und Widerspruch — außerordentlich belebt. Daran ändert nichts, daß auch hier der Systemtheoretiker kritische Bedenken anmeldet: das eine, daß Cassirer, weil er die Universalität der Vermittlungsfunktion behauptet, der Einzigartigkeit der Sprache nicht voll gerecht wird, und das andere Bedenken, daß diese Vermittlungsfunktion für die innere Bestimmtheit anderer Formen, vor allem der Erkenntnis, ganz außer Betracht bleibt. Es ist hier vor allem die Schwierigkeit, daß Cassirer die Unterscheidung zwischen geltungshaften und nicht- bzw. vorgeltungshaften Grundmomenten des Geistes nicht berücksichtigt. 7. Diese Nichtunterscheidung wird bei einem weiteren Moment deutlich, beim Absolutheitsanspruch, der nach Cassirer den verschiedenen Formen innewohnt. 8. Als letztes in der Reihe der charakteristischen Momente will ich das der Systembestimmtheit nennen25. Cassirer strebt eine „philosophische Systematik des Geistes" an, „in der jede besondere Form ihren Sinn . . . durch die Stelle, an der sie steht, erhalten würde, in der ihr Gehalt und ihre Bedeutung durch den Reichtum und die Eigenart der Beziehungen und Verflechtungen bezeichnet würde, in welchem sie mit anderen geistigen Energien und schließlich mit deren Allheit steht" 2 '. Diese systematische Bestimmung ist Aufgabe und Programm. Cassirer selbst bewertet freilich seine eigene Arbeit noch als Anfang und Versuch. Und es ist nicht zu übersehen, daß, bei allem Reichtum im 22 23 24

25 28

Philos. d. symb. Formen. I, S. V. A.a.O., S . u . A . a . O . , S. 2 j ; Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften. S. 38 (199). Philos. d. symb. Formen. I, S. 8; D. Begriff d. symb. Form. S. 31 (192). Philos. d. symb. Formen. I, S. 14.

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einzelnen und in der Verwertung positiver Einsichten, im Hinblick auf die Vollständigkeit sowohl wie auf die eigentliche Fundierung der Systematik vieles unausgeführt bleibt oder nur vorläufig bestimmt ist. Cassirer ist der Ansicht, daß seine Theorie der symbolischen Formen die Kritik der Vernunft zur Kritik der Kultur fortentwickelt. Die Philosophie der symbolischen Formen „sucht zu verstehen und zu erweisen, wie aller Inhalt der Kultur . . . sofern er in einem allgemeinen Formprinzip gegründet ist, eine ursprüngliche Tat des Geistes zur Voraussetzung hat" 27 . Nun mag es scheinen, daß der ältere Marburger Kritizismus ebendasselbe lehrte: die Einheit der Grundlegung im Begriff der Kultur. Formal betrachtet ist die These, daß der KulturbegriS den Vorrang haben müsse vor dem We/ibegriff, nicht so neu. (Sie ist übrigens — wenn auch in zwei sich befehdenden Grundformen: der werttheoretischen und der methodologischen — Gemeingut der ganzen kulturidealistischen Spekulation.) Und auch diese zweite These: das Sein sei nicht anders als im „Tun" erfaßbar (eben im Gestaltetwerden durch die geistigen Grundenergien) ist nicht neu. Sie ist reinste Marburger Lehre. Was neu ist, ist etwas anderes: die Umstrukturierung des Grundgefüges und damit zugleich die Berücksichtigung der Inhaltlichkeit des Geistes in einer bisher mit den Mitteln des Kulturidealismus noch nie in Angriff genommenen Weise. Den Rang einer symbolischen Form spricht Cassirer (ohne damit das Feld freilich streng zu begrenzen) insgesamt vier Instanzen zu: Sprache, Mythos, Erkenntnis und Kunst. Bemerkenswert und für die ganze Anlage der Lehre charakteristisch ist, daß das Feld des Praktischen, das Gebiet der philosophischen Ethik und der philosophischen Staats- und Rechtslehre, fast völlig unberücksichtigt bleibt. Für das andere klassische Gebiet des Nichttheoretischen, für das Ästhetische, findet sich bei Cassirer nur Weniges: vor allem sein kurzer Vortrag über „mythischen, ästhetischen und theoretischen Raum" 28 und ein Kapitel (von philosophie-historischen Studien sehe ich hier ab) im Essay on Man2". Im Hauptwerk selbst ist die symbolische Form des Ästhetischen nicht ausgearbeitet. — Was Cassirer zunächst in aller Ausdrücklichkeit anstrebt, ist eine Erweiterung und Ergänzung der kritizistischen Systematik mit Rücksicht auf jene Sphären, die in ihr bisher noch keinen Platz fanden: mit Rücksicht auf Sprache und Mythos. So handeln denn auch die meisten Arbeiten, die Cassirer dem Symbolproblem widmet, und die beiden ersten Bände der Philosophie der symbolischen Formen von den Gebieten der Sprache und des Mythos. 27 28

28

A . a . O . , S. II. Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum. Vierter Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Bericht hg. v. H. Noack, 1 9 3 1 , S. 21 ff. An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture. New Haven, 1944. (17. Aufl. 1967; deutsche Übersetzung: Was ist der Mensch? i960).

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Systematisch ist die Erweiterung der Thematik deshalb so bedeutsam, weil sie Valenzen des konkreten Geistes, näherhin: geltungsfremde Valenzen, in das Gefüge der Grundlegung einzuordnen sucht. Diese Einordnung gelingt freilich nur, weil an die Stelle des alten Geltungsbegriffs ein anderer tritt, eben derjenige der symbolischen Form. D a Cassirer den grundlegungstheoretischen Wandel, der hierin liegt, nicht eigens kenntlich macht und lediglich eine Ergänzung der kulturidealistischen Grundlehre anzustreben sdieint, birgt der Wandel zugleich auch eine gewisse Unklarheit, aber es liegt in ihm auch — das ist gar nicht zu bestreiten — die Voraussetzung für einen wichtigen prinzipientheoretischen Fortschritt. Bei Cassirer bahnt sich die Einsicht an (wenn sie freilich auch noch nicht voll zum Durchbruch kommt), daß der realen Subjektivität in allen ihren Gestalten Fundamentalität eignet, daß m. a. W. nichts an der realen Subjektivität bloß gegenständliche, bloß empirische Bedeutung hat. Cassirer macht deutlich, daß der ganze Reichtum der Bedeutungs-, Darstellungs- und Ausdrucksformen des Geistes nur dann voll gewürdigt und begriffen werden kann, wenn er im Hinblick auf eine ursprüngliche Weltdeutung und Weltsicht verstanden wird. Dies aber ist eine eminent wichtige Einsicht gerade für das wissenschaftstheoretische Verständnis der Eigenart und der Sonderstellung der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis im weiten Felde der wissenschaftlichen Forschung. Und es nimmt nicht wunder, daß diese Gedanken, die zunächst einmal den schlichten Sinn haben, die Voraussetzungen der wirklichen positiven Forschung aufzudecken, ihrerseits an einigen Stellen diese Forschung selbst anzuregen vermochten. Zeugnis hiervon geben vor allem die Arbeiten aus dem Warburg-Kreis (Panofsky, Saxl, Wind). Die Nähe der Cassirerschen Philosophie des Symbolischen zu den Ergebnissen und zu den Verfahrensweisen der positiven Theorie (eine Nähe, die der Systemtheoretiker nicht selten bedauert, weil sie umfassendere systematische Klärungen in den Hintergrund rückt) trägt hier ihre Früchte. Cassirer nimmt zuweilen — das ist wahr — mit seiner Theorie eine Mittelstellung zwischen reiner Erfahrungswissenschaft einerseits und strenger prinzipientheoretischer Spekulation ein, aber diese Mittelstellung hat eben auch ihre Vorzüge: sie ermöglicht es ihm, das Problem einer Grundlegung der Geisteswissenschaften von beiden Seiten, von den Bedürfnissen der lebendigen Forschung aus und zugleich mit den Augen des Grundlegungstheoretikers zu sehen. Angesidits dieser Vorzüge der Cassirerschen Theorie kann freilich die philosophische Kritik nicht völlig verstummen. Und die Frage Heideggers, ob eine Erweiterung der kritizistischen Systematik ohne eine radikale Revision der Grundlegungstheorie selbst möglich sei, behält ihr Recht30. Hier liegen die Gren-

30

„. . . läßt sich die Kritik der reinen Vernunft einfach .erweitern' zu einer .Kritik der Kultur'? . . . Wie steht es um die überall unabweisbare ontologisdie Ausarbeitung

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zen C a s s i r e r s : E r h a t z w a r M o m e n t e u n d Hinsichten der konkreten S u b j e k t i v i t ä t in die G r u n d l e h r e a u f z u n e h m e n vermocht, das P r o b l e m des k o n k r e t e n S u b j e k t s selbst, das P r o b l e m des k o n k r e t e n Geistes, blieb i n dessen noch u n b e w ä l t i g t . G e g e n H e i d e g g e r aber d a r f zugunsten

Cassi-

rers gesagt w e r d e n , d a ß die N o t der Philosophie nicht allein in der z e n tralen P r o b l e m a t i k liegt 8 1 , sondern d a ß sie sich a u d i in den T e i l p r o b l e m e n darstellt.

31

der Verfassung und Seinsart dessen, was unbestimmt genug bald ,Bewußtsein', bald .Leben', bald .Geist', bald .Vernunft' genannt wird? . . . Die Wesensinterpretation des Mythos als einer Möglichkeit des mensdilidien Daseins bleibt solange zufällig und richtungslos, als sie nicht auf eine radikale Ontologie des Daseins im Lichte des Seinsproblems überhaupt gegründet werden kann." Besprechung des 2. Teils der Philosophie der symbolischen Formen, Deutsche Literaturzeitung, 49. Jg. (1928) Sp. 1008. Heidegger fordert, daß „ . . . entschlossener als bisher wieder begriffen wird, daß eine noch so reiche und dem herrschenden Bewußtsein entgegenkommende Darstellung der Phänomene des Geistes nie schon die Philosophie selbst ist, deren Not erst aufbricht, wenn ihre wenigen seit der Antike unbewältigten Grundprobleme erneut ergriffen sind". A . a. O., Sp. 1 0 1 1 f.

Die moderne Grundlegungstheorie und der Galileische Naturbegriff Galilei trug dazu bei, daß ein „Weltbild", besser: ein Welt begriff in Frage gestellt wurde. Sein Weltbegriff scheint in der Gegenwart in Frage gestellt zu sein. Dieser Galileische We/ibegriff aber, der der Natur eine neue Grundstellung gab, ist fundamentalsystematisch mit dem Galileischen Wissenschaftsbegriff verknüpft. Wenn Welt und Welterfassen, wenn Denken und Sein hinsichtlich ihrer grundlegungstheoretischen Erschlossenheit eine gemeinsame Geschichte haben, dann bezeichnet das Hervortreten der Galileischen Wissenschaftslehre in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts eine der Schicksalsstunden in der Geschichte des Grundlegungsgedankens. — Die philosophische Galilei-Forschung der letzten achtzig oder neunzig Jahre hat sich immer wieder eingehend mit Galileis Bedeutung sowohl in rein systematischem Belang wie auch mit der problemgeschichtlichen Herkunft seiner Lehre im Hinblick auf die Naturphilosophie des Mittelalters, im Hinblick auf die Naturspekulation seiner unmittelbaren Vorläufer (insbesondere auf die Giordano Brunos) und nicht zuletzt im Hinblick auf die antike Philosophie selbst (vor allem im Hinblick auf Piaton und Demokrit) beschäftigt. Eine Reihe namhafter Forscher (u. a. Prantl, Dühring, Natorp, Mach, Liebmann, Riehl und Cassirer) hat die philosophische Leistung Galileis gewürdigt. Anfangs stand dabei Galilei freilich allzu einseitig als der Überwinder der alten Metaphysik und als der Wegbereiter des modernen Kritizismus im Blick. Die späteren Forschungen und systematischen Überlegungen haben diese Vorstellung in vielen Beziehungen ergänzt und berichtigt. Insbesondere Galileis Verhältnis zur mittelalterlichen Prinzipienlehre und Naturphilosophie wurde allzu einseitig unter dem Eindruck, den der Kampf Galileis mit seinen zeitgenössischen Gegnern hervorrief, beurteilt. Einen wesentlichen Fortschritt bedeutet hier die neueste Forschung, die einerseits ein gründliches Studium der mittelalterlichen Lehrstücke nicht scheute (hier ist in erster Linie die verdienstvolle Arbeit Anneliese Maiers zu nennen) und die andererseits, frei von idealistischen Vorurteilen, den systematischen Gehalt der Galileischen Wissenschaftslehre einer neuen Prüfung unterzog. An diesem zweiten, an der Besinnung auf die fundamentalsystematische Bedeutung der Galileischen Theorie nahmen Denker wie Edmund Husserl, Richard Hönigswald, Nicolai Hartmann, Hugo Dingler und Eduard May teil.

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Die moderne Grundlegungstheorie

Es ist oft ausgeführt worden, daß Galilei dem theoretischen Geltungsgedanken im Hinblick auf die Naturerkenntnis einen klaren Ausdruck gegeben habe. Dabei wird freilich leicht übersehen, daß der Begriff der Gesetzeserkenntnis bei Galilei keineswegs nur in rein formaler Gestalt in Ansatz gebracht ist, sondern daß er ein materiales, ein gegenständliches Korrelat besitzt. Er setzt einen neukonzipierten Begriff der Natur voraus: den Sdiritt von einer Welt relativ isolierter Einzelwesen und Einzelerscheinungen zu einem selbstgenugsamen Inbegriff. Die wissenschaftstheoretischen Überzeugungen, die im Dialog, in den Discorsi und in der Korrespondenz mit Kepler ihren Niederschlag finden, betreffen gleicherweise die Verfassung der exakten Erkenntnis wie die Art ihres Gegenstandsbezugs. Was die Beschaffenheit der positiven Naturerkenntnis betrifft, so ist ein Doppeltes bedeutsam: zum ersten ihr Geltungsanspruch und zum zweiten ihre Methodenstruktur. Das zweite Moment aber ist engstens mit dem Geltungsanspruch der Naturerkenntnis verknüpft. Es betrifft den Erfahrungscharakter aller Naturtheorie. — Das Wesentliche an Galileis Wissenschaftsbegriff ist jedoch nicht dieses, daß er sich überhaupt zu Experiment und Beobachtung bekennt und sich gegen eine spekulative (oder gar philologische) Naturtheorie ausspricht, das Wesentliche ist dieses andere, daß er dem Experiment einen streng methodischen, in Prinzipien gegründeten Sinn gibt. Deshalb ist Galileis Wissenschaftstheorie allem früheren und allem zeitgenössischen Empirismus weit überlegen. In Galileis Wissenschaftstheorie kommt die strenge Tatsachenerkenntnis zum ersten Male zum vollen Bewußtsein ihrer Rechtsgrundlagen. Erstmals erlangt die Tatsachenerkenntnis gegründete Eigenständigkeit gegenüber der philosophischen Spekulation. Allerdings noch nicht im Hinblick auf das ganze Feld des Tatsächlichen. Insbesondere steht noch eine Grundlegung jenes Horizontes aus, in dem die Tatsachen der Geschichte und des Geistes begegnen. Das Erwachen des geschichtlichen Bewußtseins, das Wissen um die Eigenbestimmtheit des Geschichtlichen, hat, was die Grundlegungstheorie betrifft, seine Anfänge erst im 18. Jahrhundert, es entfaltet sich bei Herder und Hegel, es führt schließlich zur modernen Theorie der geschichtlichen Faktizität. Die Galileische Wissenschaftsgrundlegung bezieht sich also nicht auf das ganze Feld der Tatsachenwissenschaften, sondern nur auf die Wissenschaften vom Nichtgedachten, (mit Lask zu sprechen:) auf die Wissenschaften vom Unberührten. Doch die problemgeschichtliche Bedeutung dieser Grundlegung erschöpft sich gerade nicht darin, nur diesen Horizont der Gegenständlichkeit zu eröffnen, sie ist vielmehr die Voraussetzung für alle fernere Differenzierung der Bezirke möglicher Tatsachenwissenschaft. — Wenn sich freilich Galilei gegen die Anmaßungen der Spekulation wendet, so wendet er sich gegen eine bestimmte Spekulation, nämlich gegen eine solche, die ihre Grenzen nicht kennt. Was er selbst in seiner Wissen-

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schaftstheorie leistet, ist dennoch im vollen und wahren Sinn dieses Begriffs spekulativ. Das Wissen um das Eigenrecht der Erfahrungserkenntnis findet selbst keine Beglaubigung in Experimenten, es ist vielmehr in jedem seiner Experimente bereits vorausgesetzt. So kann denn auch der Begriff der Erfahrung kein Problem der Erfahrungswissenschaft selbst sein. Galilei hat, wie Riehl es formulierte, „der Methode Piatons das Experiment hinzugefügt". Diese Hinzufügung ist indes keine äußerliche Anreihung, sondern sie kommt der Gewinnung einer eigenen Dimension des Theoretischen gleich. Auch der Begriff der Hypothesis, auf den sich Galilei ausdrücklich beruft, bekommt einen neuen Sinn: er führt nicht über die Erscheinungswelt hinaus, sondern er dient gerade einer Bestimmung der Erscheinungen. Hypothese und Experiment bedingen sich nun wechselseitig. Die Hypothese stellt nicht etwa die Gesetzmäßigkeit der Natur als solche in Frage, sondern sie ermöglicht die Aufdekkung einer bestimmten Erscheinungsstruktur. Für die Philosophie des endenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts war die positive Bedeutung dieser Lehre ebenso unzweifelhaft wie die Bedeutung der exakten Wissenschaften selbst. Die kulturidealistische Philosophie erblickte in Galilei einen der Wegbereiter des Kantischen Kritizismus und in seiner Gesetzeserkenntnis das Muster für die philosophische Grundlegungstheorie. Doch dabei blieb es nicht. So wie Serenus Zeitblom nach dem Sinn jenes „betäubenden Bombardements mit Zahlen", das uns die moderne Naturwissenschaft liefert, fragt, so verspottet Emil Lask die berühmte Exaktheit der Naturwissenschaften. Je lebendiger und je differenzierter das philosophische Interesse an den Grundlegungsfragen der Geschichtlichkeit, des Geistes und des Werthaften wird, desto größer wird auch der Widerspruch gegen die bedingungslose Vorordnung des Grundlegungsfeldes der exakten Theorie einerseits und der Natur andererseits. Es ist ein Widerspruch, der bereits in den Philosophemen der großen Nachkantianer wirksam war. Die Kritik richtet sich einerseits gegen die Vorrangstellung, die der exakten Naturwissenschaft im System der Wissenschaften eingeräumt worden war, sie richtet sich schließlich aber auch gegen den Vorrang, den man dem Galileischen Naturbegriff im Ganzen des Seienden zugestanden hatte. Für die problemgeschichtliche Dringlichkeit dieser Kritik spricht, daß sie von ganz verschiedenartigen Positionen aus, von der kritizistischen Wert- und Geltungstheorie, von der Phänomenologie, von der sogenannten Lebensphilosophie Diltheyscher Prägung und schließlich auch von der neuen Ontologie vorangetrieben wurde. — In zwei Punkten wird dabei der an Galilei anknüpfende Grundlegungsgedanke in Frage gestellt: 1. Ist die Verfahrensweise der exakten Erkenntnis (der Gesetzeser11

W o l a n d t , Idealismus

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D i e moderne Grundlegungstheorie

kenntnis) schlechthin verbindlich und vorbildlich für alle (positive wie nichtpositive) Theorie? 2. Ist der Galileische Naturbegriff der einzige legitime Begriff der Natur, ja, ist er überhaupt in seinem Grundlegungsrang zureichend ausgewiesen? Daß dieses neue Fragen sich in zunehmendem Maße in den Philosophemen des metaphysischen, des absoluten Idealismus eine Stütze sucht, ist kein Zufall, denn dort waren der neuzeitliche Naturbegriff und der neuzeitliche Wissenschaftsbegriff ja schon einmal in eine Krise geraten. Mit besonderer Schärfe hat Martin Heidegger diesen Bedenken Ausdruck gegeben. An vielen Stellen wiederholt er, daß die Natur mehr und ein anderes sei als bloß der Horizont exakter Forschung. Die Rationalität (die „wissenschaftliche Berechenbarkeit") ist für ihn innerhalb der Einstellung des konkreten Subjekts (des Daseins also) nur ein Moment, und noch dazu ein vergleichsweise äußerliches. Heidegger stellt die Forderung, daß die „wissenschaftlich vorgestellte Natur in die Natürlichkeit der Natur [was immer das sein mag] zurückgeholt", daß die Berechenbarkeit der Natur „in das offene Geheimnis einer neu erfahrenen Natürlichkeit der Natur zurückgeborgen" werde. Ein geschichtliches Recht gesteht Heidegger dem Galileischen Wissenschaftsbegriff immer noch zu, aber in der Anerkennung des geschichtlichen Rechts liegt bereits die Abweisung des vollen Geltungsanspruchs. Die Galileische Lehre, so sagt er ausdrücklich, sei nicht wahrer und sei nicht fortgeschrittener als die Aristotelische Naturtheorie. Von Fortschritt könne hier ebensowenig die Rede sein, wie die Dichtung Shakespeares nicht fortgeschrittener genannt werden könne als die des Aischylos. Nicht einmal der Hausfreund (in Heideggers Hebel-Schrift) darf sich in die Galileische Naturauffassung verlieren, auch er holt die Natur in eine — „ältere" Natur zurück. Die moderne Ontologie und die moderne Subjektstheorie haben, soviel ich sehe, uns einiges an prinzipientheoretischen Befunden und Uberlegungen an die Hand gegeben, um diesen Fragen zu begegnen. Die moderne Ontologie hat gezeigt, daß die Natur, in der die exakte Theorie ihre Objekte bestimmt, zwar ein ursprüngliches Grundlegungsfeld ist, aber doch nicht das einzige. Sie hat den regionalen Charakter der Natur grundsystematisch ausgewiesen. In mehreren Hinsichten stellt der Grundlegungssachverhalt der Natur die Philosophie jedoch vor Probleme, die über eine Analyse der Prinzipienstruktur dieser Region selbst hinausgehen. Ein erstes dieser Probleme betrifft die Grundstellung des als Organismus ausgezeichneten Naturobjekts. Ein zweites betrifft die Natur in ihrer Bedeutung als Umwelt. Ein dritter (für die Fundamentaltheorie der wichtigste) Problemkreis endlich bezieht sich auf die Naturbestimmtheit des Subjekts selbst. (Die Fragen dieses dritten Problemgebiets wurden erst in den letzten Jahrzehnten — von Denkern wie Hus-

Die moderne Grundlegungstheorie

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serl, Hönigswald, Sartre und nicht zuletzt auch von Heidegger — ein großes Stück vorangetrieben.) Alle diese Problembereiche können aber nur dann in zulänglicher Weise bearbeitet werden, wenn am Galileischen Begriff einer selbstgenugsamen Naturordnung festgehalten wird. Denn der einige Kontext der Natur, der die Voraussetzung Galileischer Gesetzeserkenntnis bildet, ist auch die systematische Voraussetzung für eine bestimmte Lokalisation von Leben, Umwelt und konkreter Subjektivität. Ida komme nun zu dem anderen Punkte, an dem der Galileische Grundlegungsgedanke in Frage gestellt ist. Wie steht es um die Vorbildlichkeit der naturwissenschaftlichen Verfahrensweise für andere Wissenschaften? Es ist die Frage, ob die eigentümliche Exaktheit der Naturwissenschaften den übrigen Wissenschaften (insbesondere den Geisteswissenschaften und der Philosophie) zum Muster dienen kann. Zum ersten: Was die Geisteswissenschaften betrifft, so kommt als Objekt stets ein Gehalt oder doch eine gehaltbezogene Größe in Betracht. Der Gegenstand gehört selbst zur Sphäre des Gedankens. Er ist kein Unberührtes wie das Naturobjekt, sondern gerade ein Berührtes und Geprägtes. Dieses Objekt ist nicht nach Gesetzen bestimmt, sondern es hat allenthalben seinen Ursprung in einer Leistung der unbedingten Subjektivität, die ihm ein Moment der Unbedingtheit mitteilt. Zum zweiten: Auch die Philosophie läßt sich nicht (wie es der moderne Logizismus gelegentlich versuchte) in Gesetzeserkenntnis auflösen. Prinzipien sind zwar allgemein in ihrem Geltungsanspruch wie die Gesetze, aber während die Gesetze die Beziehung konkreter Maßwerte bestimmen, gründen die Prinzipien jene Ordnung, in der eine soldie Bestimmung allererst denkbar wird. Die Prinzipien sind den Gesetzen eindeutig vorgeordnet. So unterscheidet sich denn auch die Systembestimmtheit der Prinzipien von derjenigen der Gesetze. Prinzipien sind stets als Momente des einigen Gefüges der Grundlegung bestimmt. Das Verfahren der Prinzipienerkenntnis kann denn auch — bei aller Strukturverwandtschaft — nicht die analytische Methode Galileis sein, es ist vielmehr immer noch dasjenige der Platonischen Hypothesis und dasjenige der Platonischen Dialektik geblieben, und nicht zuletzt in der Galileischen Wissenschaftstheorie liegen die Voraussetzungen für eine strenge Scheidung von Erfahrung und Spekulation. Galileis Wissenschaftstheorie zeigt sich uns im wesentlichen durch drei Momente bestimmt: 1. In der Ebene der Bedingungen durch den Begriff des Naturgesetzes. Auf dem Wege der synthetischen Methode wird im Gesetz die bestimmte Relationsstruktur sichtbar, die einer Allheit möglicher Erscheinungen zugrundeliegt. Das Gesetz tritt an die Stelle substantialer Formen und vereinzelter Wirkursachen. 2. Die Zerlegung des Einzelfalls in seine aufbauenden Elemente weist u»

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Die moderne Grundlegungstheorie

den Weg zum Gesetz. Nicht der unmögliche und unnütze Versuch, alle gleichartigen Fälle zu durchlaufen, gibt dieser Erkenntnis ihre Stütze, sondern die strenge Versuchsanordnung und die Voraussetzung einer durchgängigen Gesetzlichkeit. In dieser apriorischen Voraussetzung liegt der weite Abstand zwischen alter und neuer Naturtheorie. 3. Die einige Ordnungsstruktur der Natur, ihre spezifische Dimensionierung, ermöglicht die Festlegung von Maß werten. An die Stelle einer Vielheit von isolierten Verursachungsverhältnissen tritt ein geschlossener Kausalzusammenhang. Hier liegt auch das Eigentümliche der Galileischen Grundlegungstheorie. Das Unbedingte begegnet uns in diesem Entwurf in doppelter Gestalt — zum ersten: in der Bestimmtheit des Erfahrungsdenkens, zum zweiten: in der Selbstgenügsamkeit der Natur. — Beide Momente entsprechen (so elementar der Galileische Ansatz im ganzen auch sein mag) einem beträchtlichen Schritt im Fortgang der prinzipientheoretischen Forschung, über den Wissenschaftsbegriff und über den Naturbegriff des späten Mittelalters hinaus. Der Ansatz einer autonomen Erfahrungswissenschaft; ist von höchster Bedeutung sowohl für die Abgrenzung wie auch für die Differenzierung der theoretischen Grundlegungssphäre in den neuzeitlichen Philosophemen bis hin zur modernen Geltungstheorie. Der Ansatz einer selbstgenugsamen Natur aber ermöglicht überhaupt erst sowohl eine prinzipientheoretisch ausgewiesene Gegenüberstellung wie auch eine Einordnung der Subjektivität in den Horizont des Seienden. Der Ansatz einer selbstgenugsamen Natur ermöglicht erst den Gedanken der autonomen Subjektivität, ein Gedanke, der seine fortschreitende Ausgestaltung in der Theorie Descartes', in Leibniz' Monadologie, in der Kantischen Transzendentalphilosophie und schließlich in den neuesten Lehren von der Grundbestimmtheit der konkreten Subjektivität findet. Der Fortgang der Grundlegungstheorie zu jenem Unbedingten, das die Subjektivität selbst ist, war nur möglich, weil in der Naturerkenntnis ein erstes Leistungsfeld der Subjektivität und in der selbstgenugsamen Natur ein erstes gegenständliches Bezugsglied spekulativ sichergestellt war. Dem entspricht, daß überall dort, wo die Bestimmtheit der exakten Theorie und die Selbstgenügsamkeit der Natur geringgeachtet wurden, die Grundlegungstheorie (gerade auch hinsichtlich einer Bestimmung der Grundstellung der Subjektivität und einer Explikation des Geltungsgedankens) von folgenschweren Unbestimmtheiten belastet blieb. Gerade darin aber zeigt sich die problemgeschichtliche Kraft des Galileischen Naturbegriffs.

C. Der Anspruch der Ontologie

Die moderne Grundlehre und das Problem der Einheit i.

Vorgeschichte

„Einheit", so lesen wir beim jungen Nicolai Hartmann, „ist dasjenige Problem, das von den Anfängen der Philosophie her mit dem des Seins am engsten zusammenhängt" 1 . Für die Seinslogik ist das unum als Einheit des Prinzips und als Prinzip der Einheit gleicherweise bestimmend. Wenn allerdings der Schüler Hermann Cohens in der Einheit des Logos die Bürgschaft für die Einheit des Seins erblickt, dann macht es sich der Ontologe drei Jahrzehnte später schwerer: „Immer schien es, wenn man nur die Einheit habe, so habe man alles" 2 . Die Einheit ist indessen für die ontologische Grundlegungstheorie nur eines der Fundamen talprinzipien. Sie selbst bedarf ihres fundamentalen Gegenstücks, der Mannigfaltigkeit, und was noch wichtiger ist: Sie beherrscht nicht mehr so selbstverständlidi das Grundgefüge, wie es in anderen Grundlehren, wie es in der Lehre des frühen Hartmann selbst noch der Fall sein modite. Wenn man freilich mit der Einheit auch noch nidit „alles" hat, so ist doch der Begriff der Einheit in der Ontologie offenbar nicht zu entbehren. Das gilt für alle ontologischen Grundprobleme. Die Ontologie hat es mit dem Sein, mit dem Seienden und mit der Welt zu tun. Sie sucht diese Grundbestände in ihre Momente zu entfalten. Sein, Seiendes und Welt aber sind nur bestimmbar, wenn sie zugleich als Einheiten gedacht werden. Schon eine vorläufige und nach Möglichkeit „vorstandpunktliche" Bestimmung von Sein, Seiendem und Welt zeigt, daß ohne den Begriff der Einheit nicht auszukommen ist. Dabei ist es gleich, ob die Grundsachverhalte, die wir Sein, Seiendes und Welt nennen, unter diesen oder unter anderen Namen auftreten. Und was für die Seinslehre überhaupt gilt, nämlich dieses: daß sie stets den Grundfaktor der Einheit zu berücksichtigen habe, das gilt ebenso für die beiden Hauptformen der modernen Seinslehre, für die „alte" Ontologie (die man audi eine Ontologie „alter A r t " nennen könnte) und für die „neue" Ontologie. Der im einzelnen komplizierte Grenzverlauf zwischen der alten und der neuen Ontologie ist durch die Transzendentalphilosophie Kants be1 2

Piatos Logik des Seins. 1909. S. 173 (Neudruck 1965). Der Aufbau der realen Welt. 1940. S. 290.

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Die moderne Grundlehre und das Problem der Einheit

stimmt. Das ist sachlich und nicht chronologisch gemeint. Zwar gehört allerdings alle forkantische Ontologie zur „alten", aber noch nicht alle «dc&kantische Ontologie zur „neuen". Insbesondere tritt die „neue" Ontologie erst sehr viel später ins Leben und wird erst sehr viel später spruchreif (im wesentlichen erst im 20. Jahrhundert), während die „alte" Ontologie auch über Kant hinaus fortexistiert und sich fortentwickelt, ohne dabei allerdings allzu große Veränderungen zu erleiden. Wenn man von diesem Fortbestand der alten Ontologie (in der Neuscholastik) absieht3, so wandelt sich die Funktion der Ontologie im Laufe des 19. Jahrhunderts gründlich, gründlich genug, daß sie gegen Ende dieses Wandlungsprozesses ganz zu verschwinden scheint. Die philosophische Systematik glaubt schließlich ohne Ontologie auskommen zu können und auskommen zu müssen. Das Schicksal der Ontologie in den Philosophemen nach Kant war durch den jeweiligen Seinsbegriff bestimmt. Es kam darauf an, ob es sich beim Sein um eine vorgängige oder um eine nachgeordnete oder womöglich um eine nicht-grundlegende (also um eine außerhalb der Philosophie zu erfassende) Größe handle. Da aber einerseits ein wie auch immer beschaffener Begriff des Seins ohne den der Einheit nicht wohl auskommen konnte und andererseits auch eine teil- oder nicht-ontologische Grundlehre vom Begriff der Einheit Gebrauch machen mußte, stand notwendigerweise das Verhältnis von Sein und Einheit mit zur Verhandlung. Wo dem Sein eine andere Stelle innerhalb oder außerhalb der Grundlegung zugedacht wurde, dort mußte audi der Einheit eine andere Systembedeutung zugedacht werden. Vorwegnehmend soll hier nur dieses angedeutet werden: Betrachten wir die Grundlehre mit Rücksicht auf das Verhältnis von Sein und Einheit, von Kants problemgeschichtlicher Ausgangsposition an bis zur Gegenwart, so zeigt sich, wenn ich mit groben Strichen skizzieren darf, eine Entwicklung in drei Hauptphasen: von einem vergleichsweise einfachen Monismus über einen Pluralismus zu einem komplizierten Monismus. Am Anfang steht die „alte" Ontologie der Schulphilosophie mit ihrer Grundlegungs- und Seinseinheit4. Kant setzt gegenüber diesem Monismus durch seine Restriktionsthese (auf theoretischem Gebiet) und durch seine Freiheitslehre (auf praktischem Gebiet) — um nur die 3

4

Die ältere Neusdiolastik, die einzige bedeutende Richtung, die die Fundamentalität der Ontologie nicht preisgab, verhielt sich konservierend und apologetisch. Sie bewahrte die ontologischen Lehrgehalte und ergänzte sie aus der mittelalterlichen Tradition. Diese bewahrende Arbeit war von größtem Werte. Die Stunde, zur aktuellen Systemarbeit zurückzukehren, sdilug der Neuscholastik indessen erst mit der Rückkehr der philosophischen Forschung zu einer ontologischen Grundlehre, also mit dem Einsatz der neuen Ontologie. Für die Kenntnis der „Ausgangslage" wichtig vor allem: H . Pichler, Über Christian Wolffs Ontologie. 1910 und M. Wundt, Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung. 194J (Neudruck 1964).

Einheit des Seienden

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wichtigsten Momente zu nennen — eine ursprüngliche Differenzierung der Grundlegungsgebiete durch, die im absoluten Idealismus in teilweise radikal umgedachter Gestalt wiederkehrt und schließlich in den neukantianischen Systemtheorien gegliedert, vereinfacht und in der Konzeption einer Kulturgrundlegung zu einem starren Pluralismus der Bewußtseins-, Wert- und Gegenstandsgebiete verfestigt wurde. Gegen diese Kulturvielfalt wendet sich die neue Ontologie. Zu ihr gehört nicht nur die sich selbst so nennende Lehre Hartmanns, sondern mit bestimmten Lehrstücken auch Diltheys Lebensphilosophie, Husserls Phänomenologie, Heideggers Daseins- und Seinsanalytik, ja im Grunde sogar die transzendentalrealistisch-kritizistische Monadologie Hönigwalds und manches Verwandte. A l l diesen Theorien ist es gemeinsam, daß sie den ungenügend ausgewiesenen Kultur Pluralismus durch eine monistische Grundlegungsform zu ersetzen versuchen, an der Momente wie „Sein", „Unabhängigkeit" und Entsprechendes ursprünglich beteiligt sind. An die Stelle des Nebeneinanders der Leistungs- und Gegenstandsgebiete tritt, vermittelt durch Begriffe wie „Leben", Umwelt, Konstitution, sekundäre Sphären, Schichtung, Zeitbestimmtheit und Ich-Bestimmtheit, ein kompliziertes Ineinander der Grundlegungsbereiche und -momente, das mit den Prinzipien der alten Ontologie die Einheitlichkeit, nicht aber die Einfachheit teilt5. Die neue, nachneukantianische Grundlehre knüpft bei ihrem Grundlegungsversuch sowohl an Kant selbst wie an die vorkantische Ontologie an, wobei sie in zunehmendem Maße auf die Quellen dieser Ontologie in Mittelalter und Antike zurückgreift.

2. Einheit des Seienden, Einheit der Welt und Einheit des Seins Die Einheit des Seins scheint außer aller Frage zu stehen: Einheit besitzt nach alter Lehre ein jegliches Seiende, Einheit besitzt das Seiende im ganzen, insofern es zu jenem Ganzen sich fügt, das wir Welt nennen, Einheit besitzt notwendigerweise auch der Grund dieses Ganzen: das Sein. Dabei ist zu beachten, daß die einzelnen Seienden zwar Einheit besitzen, daß jedem einzelnen Seienden Einheit zukommt, daß sie aber gleichwohl viele sind. In ihnen treffen die beiden Momente der Einheit und der Vielheit zusammen. Sie sind als Einheiten viele. Sie bilden miteinander eine Vielheit. Als Vielheit sind sie hinwiederum nur möglich, weil jedes von ihnen die Bestimmtheit der Einheit besitzt. Welt und Sein hingegen besitzen die Bestimmtheit der Einheit zusammen mit der 5

Diese Gemeinsamkeit macht verständlich, daß auch die Neusdiolastik in ihrer Auseinandersetzung mit nichtscholastischen Lehren an systematischer A k t u a l i t ä t gewinnt. Vgl. hierzu meine Besprechung von J. B. Lötz, Sein und Existenz (1965) in: Philosophy and History 3 (1970).

170

Die moderne Grundlehre und das Problem der Einheit

Bestimmungsgröße der Einzigkeit. Welt und Sein sind nicht nur von jedem anderen Seienden verschieden (wie das beim einzelnen Seienden der Fall ist, das als ein Seiendes unter Seienden bestimmt ist), sondern von jedem Seienden schlechthin, wobei die Welt das Andere jedes (Einzel-)Seienden ausmacht, insofern sie als der Inbegriff aller Einzelseienden gedacht werden muß, während das Sein als der Grund jedes einzelnen Seienden und des Ganzen des Seienden (der Welt) das Andere des Seienden im ganzen ist. Wir haben also zu unterscheiden: Sein (als Grund des Seienden), Welt (als Inbegriff des Seienden) und das (einzelne) Seiende selbst. Allen drei Größen kommt Einheit zu. Vielheit hingegen ist ein Bestimmungsstück des Seienden, das von seinesgleichen (den anderen Seienden) unterschieden werden kann. Das Sein als der Grund ist nur in Einzahl zu denken, ebenso die Welt. Der Gedanke an eine mögliche Vielheit von Welten erfaßt den Weltbegriff noch nicht in seiner Letztheit: Auch die vielen Welten müßten sich noch aufeinander beziehen und so zusammenfassen lassen in einer letzten, um- und übergreifenden Welt. Gliedmomente einer übergeordneten Einheit, nämlich einer Wechselbeziehung, sind Sein und Welt freilich dennoch. Insofern sind sie auch Stücke einer „Vielheit", da sie Korrelate des begründeten und geordneten Seienden sind. Aber diese Einheit ist von letztrangiger und unvergleichlicher Art, sie entspricht dem Sinn des Seins als Grund und der Welt als Inbegriff: Sein und Welt haben im Seienden ihr Anderes, das durch sie und in ihnen ist. Die Einheiten Sein-Seiendes und Welt-Seiendes sind von Sein und Welt nicht verschieden. Sein und Welt sind ohne ihren Bezug auf das Seiende — ohne den gründenden und ordnenden Bezug auf das Seiende — funktionslos. Ein „Fürsichsein" des Seins ist ebensowenig denkbar wie ein „Fürsichsein" der Welt. Dabei sind Sein und Welt nicht unabhängig voneinander zu denken. Das Sein gründet das Seiende in der Welt. Die Welt ist der Horizont, in dem das Sein das Seiende gründet. Die einzige Einheit des Seins findet in der einzigen Einheit der Welt ihre Erfüllung als Grund des Seienden. Das Seiende ist stets eines unter vielen: es ist Seiendes unter Seienden und also Einzelseiendes. Von welcher Art diese Einzelbestimmtheit sein mag, ist auf dieser Stufe der Überlegung noch offen. Die Einzelbestimmtheit ist nichts anderes als die Gegründetheit durch das Sein. In welcher Sphäre des Gesamtinbegriffs des Seienden, in welcher Sphäre der Welt ein Seiendes seinen Platz haben mag, ist hier noch nicht ausgemacht, denn von Sphären der Welt war noch nicht die Rede, weil noch nicht von einer Gliederung der Welt die Rede war. Wie aber die Welt im ganzen hinsichtlich ihrer Bestimmtheit nur aus dem Sein verstanden werden kann, so kann auch die Weltgliederung nur aus dem Sein verstanden werden. Das wiederum ist nur möglich, wenn die Gliederung im Sein selbst ihren Grund findet.

Rückkehr zum Sein

171

Ein Sein, das Gliederung ermöglicht, kann selbst nicht einfach sein. Auch das Sein impliziert eine Vielheit von Momenten, wie die Welt eine Vielheit von Sphären impliziert. Doch die Vielheit pluralisiert nicht das Sein; es gibt keine „Seine", sowenig es „Welten" gibt. Die Vielheitlichkeit der Seinsmomente, die die ursprüngliche Struktur des Seins ausmachen, ändert nichts an der Einzigkeit des Seins. Die Frage nach der Herkunft der Seins- und Weltbegriffe, wie und von welchen Ausgangssetzungen aus sie gewonnen sein mögen, ist hier freilich noch nicht beantwortet. Es geht hier lediglich darum, deutlich zu machen, mit welchen Grundverhältnissen von Anfang an gerechnet werden muß, wenn von der Einheit im Hinblick auf Sein, Welt und Seiendes gesprochen wird. Das Grundproblem einer philosophischen Seinslehre zeigt sich allerdings erst dort, wo die Beziehung von Sein und Seins begriff (Sein und Seinsgedanke), Welt und Welt begriff, Seiendem und Begriff des Seienden erwogen wird. Dann erst kann sich auch zeigen, wo der Anfang und der Ursprung aller Gliederung gesucht werden müssen.

j. Rückkehr zum Seines habe", so belehrt Professor Kuckuck den Marquis de Venosta und uns, „das Sein nicht immer gegeben und werde es nicht immer geben"". Gleich dem Leben sei es nur eine Episode. Der Gelehrte beantwortet hier die alte Frage nach dem Anfang auf seine Weise7. Aus dem Zusammenhang des kosmologischen Lehrgesprächs geht hervor, daß das Sein der unbelebten Natur gleichgesetzt wird — daß also eine Grundfunktion im Hinblick auf die Allheit des Seienden diesem SeinsbegrifT kaum zudenkbar ist8. Daß der Professor mit den Sternenaugen den Seinsbegriff zwar falsch — nämlich „grenzunterschreitend", insofern ihm seine volle Fundamentalität und Universalität vorenthalten werden® — aber 6 7

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Th. Mann, Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. 1954. S. 3 1 3 . Eine Weise, die an Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit gemahnt: „Es ist . . . als verwandelte er sie [die Ideen aus dem weiten Felde der Wissenschaften und Künste] . . . nach einem gewissen Gesetze der Assimilation auf eine ihm eigene Weise in seine spezifische Denkungsart..." Kant: Rezension der Ideen, Ak. V I I I , 4$. Philosophische Eigenwilligkeiten Thomas Manns u. a. im Schopenhauerund im Fontane-Essay (vgl. Adel des Geistes, 1948, S. 333 f. und 538). Den Begriff der Grenzuntersdireitung, die als spezifischer Verstoß im Felde der Erkenntnis der Fundamentalprinzipien das Entsprechungsstück bildet zur Grenzüberschreitung, dem Verstoß auf dem Gebiet einer Erkenntnis der Regionalprinzipien, hat meines Wissens erstmals M. Brelage erarbeitet ( F u n d a m e n t a l a n a l y s e und Regionalanalyse. Eine problemgeschichtliche Untersuchung zur Kategorienlehre bei Paul Natorp und Nicolai Hartmann. Kölner Phil. Diss. 1957, S. 74 f. und 108 f.), dessen Studien zur Philosophie Hartmanns (vgl. Zsdir. für philos. Forsch. 18, 1964,

Die moderne Grundlehre und das Problem der Einheit

172

doch so selbstverständlich gebraucht u n d m i ß b r a u d i t , ist bezeichnend. D e r T e r m i n u s h a t den M a k e l des D o g m a t i s m u s o f f e n b a r w i e d e r Vom

„Sein"

verloren.

sprechen B e r u f e n e u n d U n b e r u f e n e in den letzten

zehnten so geläufig, w i e m a n z u v o r v o n „ K u l t u r " u n d

Jahr-

„Bewußtsein"

gesprochen hatte. S o gesehen ist der M u t z u m Sein keine A u s n a h m e h a l tung. D a s w a r , w i e m a n w e i ß , nicht i m m e r so. E i n e m g a n z e n Z e i t a l t e r galt die A n e r k e n n u n g eines u n a b h ä n g i g e n Seins als ein unverzeihlicher Dogmatismus.

4.

Dogmatismus

D e r M a k e l des D o g m a t i s m u s ist nicht v o n u n g e f ä h r in die W e l t gekommen. A l s

Vorwurf

v e r d a n k t er sein D a s e i n keinem

anderen

I m m a n u e l K a n t , u n d K a n t i a n e r w a r e n es, die ihm i m m e r w i e d e r —

als mit

alten o d e r m i t neuen G r ü n d e n — G e l t u n g z u verschaffen w u ß t e n . D a ß S. 170 f.) zum Scharfsinnigsten und Ergiebigsten gehören, was im Hinblick auf eine problemgeschichtlich fundierte und systematisch engagierte Hartmann-Würdigung bisher überhaupt geleistet worden ist (vgl. audi: Studien zur Transzendentalphilosophie. 1965). — Die Grenzunterschreitung, also die Einschränkung fundamentaler Bestimmungsmomente auf einen Bereich — wenn beispielsweise ein Seinsbereich als absolut indeterminiert gedacht wird oder wenn ein Bereich absolut einheitsloser Mannigfaltigkeit und ein anderer mannigfaltigkeitsloser Einheit angesetzt wird (75) — führt nach Brelage dazu, daß das Denken das Seiende überhaupt verfehlt: „Verstöße im Hinblick auf die Fundamentalkategorien führen zum Verlust der theoretischen Bestimmtheit des Denkens" (109). Hier wird das geltungssystematische Problem des „Verstoßes" sichtbar, denn wo die theoretische Bestimmtheit als solche in die Krise gerät, dort muß die Frage nach dem System möglicher Intentions- und Sinnbestimmtheiten gestellt werden, ebenso aber auch die Frage nach der Möglichkeit ihrer jeweiligen Aufhebung. Ich habe mich hierzu an zwei Stellen geäußert: Philosophie der DiAtung. 1965, S. 37 ff. und Ergänzung und Abschluß. Zsdir. für Philos. Forsch. 17 (1963) 185 ff. — Eine Ergänzung des Brelageschen Gedankens ist vielleicht angezeigt: Die Grenzunterschreitung, die darin liegt, daß den Fundamentalfaktoren zu wenig an Begründungsfunktion abverlangt wird (nämlich nur eine partikuläre anstelle einer universalen), gefährdet nicht notwendig die ganze Sphäre des Theoretischen. Der Teilbereich wird ja möglicherweise durchaus fundiert (so etwa bei einer Einschränkung der Wissenschaft auf „exakte" Theorie), nur die anderen Gebiete werden der Grundlosigkeit überantwortet. Hier scheint sich, wenn ich recht sehe, das Hartmannsche „Gesetz der Stärke" auch auf der Erkenntnisseite zu bewähren: Naturwissenschaft und (in vorläufiger, d.h. in einer noch begründungsbedürftigen Form) Naturphilosophie sind auch möglich, wenn der Rest im dunkeln bleibt. Für jene Wissenschaften und für jene philosophischen Disziplinen, die sich „Höherem" (und „Aufruhendem") zuwenden, scheint das nicht zu gelten: Wo ihnen der Boden der Erfahrung fehlt, beziehungsweise wo sie nicht auf das Andere ihres Gegenstandes bezogen sind, w o sie nicht naturale Gegenstandsbestimmtheit beziehungsweise Kategorienbestimmtheit der Natur (mit-)setzen oder voraussetzen, dort büßen sie allerdings den Charakter strenger Theorie und wissenschaftlicher Philosophie ein. Zum „Wechselverhältnis von Setzung und Voraussetzung": Brelage, S. 106.

Dogmatismus

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der Terminus „Sein" deshalb nicht aus der Sprache der Philosophie verschwand, versteht sich fast von selbst. Er kehrt immer wieder als Gegenpol in der Selbstbegründung und Selbstunterscheidung der kritizistischen Lehren, er kehrt wieder in den Idealismen der großen Nachfolger Kants, er wird gelegentlich in entsprechender Umdeutung vom Neukantianismus selber in Anspruch genommen10 und überdauert natürlich in jener Tradition, in der die alte Schulphilosophie allem Kritizismus zum Trotz fortbestand. In der herrschenden Philosophie des späten 19. Jahrhunderts, die durch ihren Wissenschaftspositivismus und durch ihre Rückbesinnung auf Kants Transzendentalphilosophie gleicherweise charakterisiert ist, hat der Seinsbegriff jedoch seinen fundamentalen Rang ganz eindeutig anderen Faktoren abgetreten, nämlich dem Bewußtsein und der Kultur. Dieser Epoche der Bewußtseins- und Kulturphilosophie folgte eine andere der Seins- und Faktizitätsphilosophie, so weit sich das sehr Verschiedene in den Strömungen der ersten Jahrhunderthälfte auf diese Nenner bringen läßt. Die Rückkehr des 20. Jahrhunderts zur Seinslehre gehört sicherlich zu den bemerkenswertesten Vorgängen der jüngsten Philosophiegeschichte. Diese Rückkehr war alles andere als einfach. Kein Weg der Ontologie führte an Kant vorbei. Kants Umdrehung der Ontologie in eine Analytik des Verstandes war nicht mehr ungedacht zu machen. Es mußte Gründe geben, die vor Kants Lehre standhalten, wenn für die Seinslehre wieder eine fundamentale Stelle in der Systematik beansprucht werden sollte. Diese Wiedereinführung, oder besser: Wiederzulassung der Ontologie ist nicht etwa rundheraus antikantianisch und antikritizistisch, wie es vor allem die neuscholastische Ontologie immer gewesen war, die gerne einem zum „Subjektivisten", „Relativisten" versimpelten Kant Gefechte lieferte 11 . Die neue Ontologie sah ihren Gegner zunächst nicht — oder nur mit Einschränkungen — in Kant selbst (dem „historischen" Kant), sondern im Neukantianismus. Die Unterscheidung von Kant und Neukantianismus vereinfachte fürs erste die Problemlage und erleichterte die Argumentation. Der Anti-Ontologismus der ursprünglichen Kantischen Lehre konnte zum mindesten in Zweifel und Kant selber damit auf die Seite der Ontologie und der Metaphysik gezogen werden. Hatte man aber Kant einmal für die Metaphysik gewonnen und gezeigt, daß die neukantianische Kant-Auslegung 12 , die Kant allein als Wissen10

11

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Ζ. B. als „Sein gleichsam auf dem Marsche". P. Natorp, Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme. 4. Aufl. 1929, S. 31, 61. Beispiele für diesen handfesten Antikantianismus enthält die (im übrigen recht instruktive) Ontologie A . Lehmens: Lehrbuch der Philosophie auf aristotelisch-scholastischer Grundlage. 1. Bd.: Logik, Kritik und Ontologie. 1898 u. ö. Ähnlich auch O. Willmann, Gesdoichte des Idealismus. Bd. 3, 2. Aufl. 1907, Kap. X V . Insbesondere diejenige H. Cohens: Kants Theorie der Erfahrung. 1871 (1885 2 , 1913") und Cohens Kommentar zur Kr. d. r. V. 1907. Im Suppl.-Bd. d. Kant-Ausg.

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Die moderne Grundlehre und das Problem der Einheit

schafts- und Erfahrungstheoretiker deutete, Kant nach dem Bilde der eigenen Systematik zurechtlegte und auswählte13, dann konnte man sich an das halten, was allerdings dringend eine Änderung verlangte: die Systemtheorie des Neukantianismus. 5. Neue Fragen Der vom philosophischen Ringen ergriffene Zeitgenosse pflegt durch eine bedeutende denkerische Leistung so beeindruckt zu sein, daß er sie — oder doch mindestens das, was ihren „eigentlichen" Gehalt ausmacht — sozusagen aus dem Nichts aufsteigen sieht. Das ist recht gut verständlich. Aber dem jeweils Vorangegangenen geschieht auf diese Weise in der Regel Unrecht. Beim Verhältnis der neuen Metaphysik zum Neukantianismus ist das kaum anders. Angesichts der fast (dieser Zusatz ist nicht überflüssig) allgemeinen Nichtachtung14 und Vernachlässigung der neukantianischen Kulturphilosophie hat es den Anschein, als sei diese im ganzen und in allen Stücken verfehlt und ein Wechsel unabwendbar gewesen — ein hödist radikaler Wechsel wie bei einer abgewirtschafteten Herrschaftsform. Der Verfehltheit mag man dabei verschiedene Namen geben: Subjektivismus, Formalismus, Szientismus oder welche immer. Übrigens haben die Vorwürfe, die diesen Titeln entsprechen, alle ein Recht auf ihrer Seite, nur ein weniger handfestes, als man glauben mag. Ohne Subjektskonstitution, ohne formalisierende Reduktion und ohne Wissenschaftsbezug geht es schließlich nicht mehr. Die Uhr der Problemgeschichte ist nicht zurückzustellen. Der Streit kann nur noch um die besondere Form und um die grundsystematische Bestimmung der Konstitution, der Reduktion und der Wissenschaftsbezogenheit gehen. Die Wende vom Neukantianismus zur Metaphysik hatte ihren Grund in Problemen, die nicht aufgelöst werden konnten ohne einen gründlichen Umbau der kulturphilosophischen Systemdisposition selbst. Es waren dies vor allem: (r.) die Frage nach der Grundlegung des faktischen Subjekts in seiner geschichtlichen, seelischen und natürlichen Vereinzelung, (2.) die Frage nach dem Grunde und nach der Struktur der Tatsächlichkeit überhaupt, (3.) damit zusammenhängend die Frage nach einer möglichen Unabhängigkeit des Gegenstandes und (4.) schließlich,

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d. Philos. Bibl. (Bd. 113). — Hierzu: G. Martin, Immanuel Kant. 3. Aufl. i960, S. 143 ff. und W. Ritzel, Studien zum Wandel der Kantauffassung. 1952, S. 30 ff. Das führt übrigens auch schon B. Baudi gegen P. Natorps Kritik (in Kant-Studien 22, 1918, S. 426—459) ins Feld: Immanuel Kant. 3. Aufl. 1923, S. 468 ff. (im Nachtrag). So spricht nodi W. Boehlich (mit Bezug auf H. Cohen und an der angeführten Stelle mit einem gewissen Redit) vom „abstrakten Ideenhimmel des Neukantianismus". Der Berliner Antisemitismusstreit. 1965, S. 250.

Die Unabsdiließbarkeit der Grundlehre

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woran man angesichts dieser philosophiegeschichtlichen Wende am wenigsten zu denken pflegt, die Frage nach der Möglichkeit von Erfahrungswissenschaften des Nichtnaturalen, die Frage also nach der Möglichkeit der Geistes- und Kulturwissenschaften, der Psychologie, der Soziologie usf. Für diese Fragen, die natürlich noch weiter aufgeschlüsselt und differenziert und in ihrer Zusammengehörigkeit bestimmt werden können, hatte die Kulturphilosophie nur unzulängliche Antworten erarbeitet, für sie besaßen die nachfolgenden Philosopheme zumindest bessere Lösungsvorschläge, und der Weg zum Besseren macht schließlich auch in der Philosophie den ganzen Fortschritt aus, der sich irgendwo ereignen kann.

6. Die Unabschließbarkeit der Grundlehre Sein und Einheit sind weder Dinge, noch überhaupt Gegenstände, sondern Größen, die ihren Platz in der Sphäre der Grundlegung haben. Die Grundlegung ist ein Inbegriff von Momenten. Diese Momente nennen wir Prinzipien. Die Bestimmtheit eines jeden Prinzips kommt der Funktion gleich, die dieses Prinzip im Gefüge der Grundlegung hat. Das Gefüge der Grundlegung aber ist die geordnete Vielfalt der Prinzipien, die zugleich jedem Moment seine Funktion gibt. Will ich also die Bestimmtheit eines Prinzips ermitteln, so muß ich das Verhältnis dieses Prinzips zu anderen und letztlich zu allen anderen Prinzipien erfassen, was zugleich bedeutet, daß ich auch die anderen Prinzipien (und letztlich also auch alle anderen Prinzipien) beim Erfassen eines Prinzips mitdenken muß. Eine Unmöglichkeit, so scheint es zunächst, denn hier wird vorausgesetzt, was erst noch zu suchen ist: die Bestimmtheit jedes besonderen Prinzips. Hätte ich schon dasjenige, was die Prinzipientheorie fordert, dann wäre prinzipientheoretische Forschung überflüssig. Ich wüßte schon, was sinnvollerweise hier überhaupt gesucht werden kann. Andererseits kann die Prinzipientheorie von der allseitigen Grundlegungsund also Systembezogenheit des Prinzips nichts nachlassen, wenn sie den Sinn des Prinzips nicht aufgeben will. Insbesondere darf sie sich nicht durch Anleihen bei der positiven Theorie von ihrer Sonderaufgabe ablenken lassen. Was nur durch seinen Bezug auf einen größeren oder kleineren Komplex von Gegebenem (positiv Erfaßtem) ausgewiesen ist — etwa als ein allgemeiner und wiederkehrender Zug an Gegenständen — ist damit noch nicht als Prinzip ausgewiesen. Das alles versteht sich keineswegs von selbst. Verstünde es sich von selbst, dann wäre die Philosophie nie von der Stelle gerückt, dann enthielten die Philosopheme zu allen Zeiten dieselben theoretischen Resultate. Wie aber, diese Frage drängt sich auf, sind Progreß der Forschung einerseits und Uneinigkeit der Forscher andererseits auf diesem Felde

176

Die moderne Grundlehre und das Problem der Einheit

möglich, wenn doch einem Prinzip seine Bestimmtheit nur aus dem All der Prinzipien zufließt? Entweder hat man, so scheint es, die Bestimmtheit des Prinzips (also den Prinziplenbegriff) oder man hat sie nicht. Glücklicherweise existiert diese Alternative nicht, genauer: glücklicherweise existiert sie nicht für die philosophische Forschung. Der vollendete Begriff eines jeden Prinzips — der mit dem Begriff der Grundlegung im ganzen zusammenfällt — bleibt für die Forschung Idee. Das Prinzip in seiner Vollbestimmtheit freizulegen bleibt zwar die ewige Aufgabe und das unverrückbare Ziel aller philosophischen Anstrengung (und dieser Aufgabenbezug und diese Zielgerichtetheit unterscheiden die philosophische Theorie von jeder positiven Theorie), aber keine Leistung vermag dieses Ziel zu erreichen und diese Aufgabe ganz zu erfüllen, weil jede Antwort neue Fragen ermöglicht und weil die Differenzierung der Grundbestimmungen vermittels der in der Theorie zu bildenden Grundbegriffe gar nicht als abschließbar gedacht werden kann. Die Grundlegung, also das Gefüge der Prinzipien, bildet zwar ihrem ursprünglichen und unwegdenkbaren Sinn gemäß eine Totalität, eine Totalität indes, die in ihrem Aufbau Unendlichkeit einschließt und nur in einem unabschließbaren Progreß erfaßt werden kann. Diese Unendlichkeit wird dem philosophischen Bewußtsein angesichts der Divergenz der Problemlinien zur Gewißheit15. Eine Unausschöpflichkeit ist dem Gegenstand der Theorie nun allerdings überall eigentümlich, nicht nur dem Gegenstand der Philosophie. Was die philosophische Begriffsbildung aber von der einzelwissenschaftlichen unterscheidet, ist der nicht unwichtige Umstand, daß das in ihr Gesetzte als Moment des Ganzen gesetzt wird, daß also im Einzelnen, im Unterschiedenen, das Ganze mitgesetzt wird, während in der positiven Theorie das Ganze nur vorausgesetzt wird (und vorausgesetzt werden muß), weil es sich einer positiven Setzung durchaus entzieht. Dementsprechend sind die Begriffe der positiven Wissenschaft systembestimmt (insofern sie nämlich nur unter Zugrundelegung eines Ganzen Bestimmtheit besitzen), während die Begriffe der Philosophie allemal systembestimmend sein müssen, weil sie sich auf nichts anderes als auf Momente des Ganzen beziehen können. 7. Grundfunktion

der Einheit

Die alte Metaphysik setzte in der Umkehrbarkeitsthese der Transzendentalienlehre die ursprüngliche Wechselbestimmtheit von Sein und Einheit16. Hat das Prinzip der Einheit diese beherrschende Funktion auch 15 16

N . Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis. 1925 s , 60. Kap. G. Martin, Immanuel Kant. 3. Aufl. i960, S. 124 ff.; vgl. auch Wilhelm von Ockham.

Grundfunktion der Einheit

177

nodi in der gegenwärtigen Grundlehre? Die alte transzendentale Einheit kehrte in der kritizistischen und kulturphilosophischen Grundlehre als die Einheit der Synthesis und als die Einheit des Bewußtseins wieder 17 . Davon unterschieden blieb die kategoriale Funktion der Einheit, insofern sie als Quantitätsprinzip gedacht wurde 18 . Die kategoriale (quantitative) Einheit war als angewandte Einheit zu denken, deren Anwendung entweder (bei Kant selbst) vermittelt durch den Schematismus oder (bei den Marburger Neukantianern) unmittelbar das Mannigfaltige in bestimmter Rücksicht (eben in seiner Extensivität) ordnete. Die nicht- und vorkategoriale Einheit (die qualitative) hingegen hatte ihre „Anwendung" nicht im Grundzulegenden, sondern in der Grundlegung selbst19. Sie war die Form jeder Prinzipiation, die Form jeder Gliederung und Ordnung, vermittels deren das Subjekt sich seine Gegenstände aufbaut. Hier sind nun allerdings wiederum zwei Systembezüge zu unterscheiden: Die Funktion der synthetischen Einheit in der Ermöglichung der theoretischen Gegenstandskonstitution (in der Erfahrungsermöglichung vor allem) und die Funktion der Einheit in der Verknüpfung der Grundmöglichkeiten, der ursprünglichen Leistungsweisen der Subjektivität. Diese zweite Funktion impliziert — der gegenstandsstiftenden Funktion der Subjektivität entsprechend — die Verknüpfung der den verschiedenen Leistungen (Erkennen, Wollen, Fühlen) gehörenden Gegenstandsfelder (Natur, Sittlichkeit, Kunst). Von der ersten Funktion handelt der zweite Abschnitt des Deduktionskapitels (B), von der zweiten handeln die neukantianischen Systemtheorien. Wenn Kant audi in § 12 der Kr. d. r. V. und in den entsprechenden Partien des NachlaßWerkes und der Vorlesungen die Transzendentalienlehre im ganzen und damit den Einheits-Satz als steril abgetan hatte20, so behauptete die Einheit gleichwohl in seiner eigenen Lehre und in der Lehre der Erneuerer der Kantischen Philosophie ihre beherrschende Grundfunktion. Diese Grundfunktion der Einheit hat eine doppelte Zielrichtung. Zum ersten begründet sie die Einheit des Einzelbestimmten, des Einzeldings. Diese Aufgabe fällt der Einheit sowohl in dem ent-

17

18

19 20

12

1949, § 4 (S. 9 ff.); Klassische Ontologie der Zahl. 1956, S. 61; Allgemeine Metaphysik. 1965, S. 82 ff. (vgl. auch meine Rezension in: Universitas 29 [1969] 769 f.). H. Cohen, Logik der reinen Erkenntnis. 2. Aufl. 1914, S. 66 ff. (1902, S. 54 ff.); P. Natorp, Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften. 1910, S. 44 ff.; Philosophie. 4. Aufl. 1929, S. 18 f., 47. G. Martin, Kant. S. 122. Dort auch ein Hinweis auf die immer noch wichtige Schrift H. Rickerts: Das Eine, die Einheit und die Eins. 1924 2 . G. Martin, Kant. S. 114. Die Stellen gibt H. Leisegang in seinem Aufsatz Über die Behandlung des scholastischen Satzes: „Quodlibet ens est unum, verum, bonum seu perfectum" und seine Bedeutung in Kants Kr. d. r. V. Kant-Studien 20, 1 9 1 5 , S. 4 0 3 — 4 2 1 , bes. 4 1 7 fr. Wichtig vor allem das (dort zitierte) von B. Erdmann mitgeteilte Bruchstück und die Stelle aus den Metaphysik-Vorlesungen (Pölitz 1 8 2 1 ; Neudruck 1964) S. 42 ff. W o l a n d t , Idealismus

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Die moderne Grundlehre und das Problem der Einheit

sprechenden Lehrstück Baumgartens zu21, mit dem Kant sich auseinandersetzt, wie auch in der neuscholastischen Tradition und Interpretation der Transzendentalienlehre 22 . Hier ist also die Einheit eines solchen gedacht, das zugleich als das Glied einer Vielheit bestimmt ist. Die zweite Funktion betrifft die Einheit des Nicht-Vielen, die Einheit des zugrunde liegenden Einzigen. Auch sie läßt sich aus der Transzendentalienlehre erschließen. 8. Einheitsgefüge der Grundlegung In alledem ist vorausgesetzt, daß es nur ein All des Grundgelegten und dementsprechend nur eine Grundlegung gibt. Obwohl eine Vielfalt von Grundlegungsgrößen unterschieden wird23, bleibt die Grundlegung im ganzen (das ganze Prinzipiengefüge) dem einen Grundgelegten und Grundzulegenden (der Welt der Dinge) vor- und zugeordnet. Das gilt natürlich auch für die ganze Reihe der Transzendentalien 24 . Auch die moderne Scholastik hält an dieser Systemstruktur fest. Selbst gehaltsund leistungsgründende Transzendentalien wie das verum, das bonum (und konsequent auch das in der älteren Theorie nur gelegentlich begegnende pulchrum) werden von der modernen Scholastik noch in das Einheitsgefüge der ontologischen Grundlegung miteinbezogen. Wenn Kant das Lehrstück von den Transzendentalien schon im ganzen für systemtheoretisch unfruchtbar hielt, so machte er angesichts des verum noch darauf aufmerksam, daß es sich hier um ein Prinzip handle, das nicht etwa dem Ganzen des Grundgelegten zugeordnet werden könne, daß Wahrheit nicht als Eigenschaft eines Dinges in Betracht komme, sondern lediglich als eine solche des Urteils25. 9. Vielheit der Grundlegungssphären An dieser Stelle tritt die Spannung zutage, die seit Kant und seit seinem Versuch einer kritischen Restriktion der Theorie die Grundlehre beherrscht: Mag die Grundlegung im ganzen auch eine ursprüng21

22

23

24 25

A . G. Baumgarten, Metaphysica. Halle 1 7 3 9 ; 1757 4 , §§ 72 ff· (nadiKant, Ak. X V I I ) ; deutsch: Metaphysik. Halle 1766, §§ 55 ff. (vgl. hierzu M. Wundt, Schulphilosophie. S. 220 ff.). Beispielhaft: J. B. Lötz, Das Urteil und das Sein. 1957, § § 2 u. 1 1 ; ders.: Artikel „Transzendentalien" in Bruggers Wörterbuch, 5. Aufl. 1 9 5 3 ; bei weitem schlichter: A . Lehmen, Logik, Kritik und Ontotogie. 2. Aufl. 1904, S. 349 ff. Innerliche und äußerliche, allgemeine und disjunktive. Baumgarten, Metaphysica, Ontologia P. I (§§ 6—350; deutsch: §§ 6—251). Bei Baumgarten: unum, ordo, verum, bonum (§§ 7 2 — 1 0 0 ; deutsch §§ 55—79). Leisegang, S. 4 1 7 .

Die Universalität der theoretischen Grundlegung

179

liehe Systemeinheit besitzen, die Systemeinheit umschließt nun eine Mehrheit nicht nur von Grundlegungsmomenten — das hat sie seit Piaton und Aristoteles stets getan — sondern auch eine Vielheit von ursprünglichen Grundlegungssphären, ob sich diese Vielheit nun in der Geschiedenheit von Subjektivität und Gegenständlichkeit zeigt oder in der Geschiedenheit der Kulturfunktionen (oder der kulturgeordneten Gegenstandssphären). Im Gegensatz zum Grundlegungsmonismus, der für die alte Metaphysik (und für ihr eindrucksvolles Weiterleben bis auf den heutigen Tag) charakteristisch ist — ein Grundlegungsmonismus, der sich durchaus mit einer weiten Aufgeschlossenheit für die Fülle und die Vielfalt des Vorhandenen, des Geforderten und des Möglichen verträgt — ist die durch Kants Transzendentalismus geprägte Grundlehre in der Regel pluralistisch aufgebaut. Die ursprüngliche Geschiedenheit der Vermögen und die aktualisierte oder doch aktualisierbare Primatfunktion dieser Vermögen weisen der nachfolgenden Grundsystematik den Weg in eine ursprüngliche Vielfalt der Grundlegungen. Der entscheidende Punkt, auf den es hier ankommt, ist dieser: Die Grundlegung des theoretisch konstituierten Gegenstandes steht zwar an erster Stelle in der Entwicklung des Systems, aber sie ist anderen und, das ist wichtig, von ihr unabhängigen, ihr gegenüber autonomen Grundlegungen gleichgeordnet. Für die Systemtheorie ergibt sich zwar eine Grundlegungs/o/ge, die den philosophischen Disziplinen Logik, Ethik, Ästhetik (und womöglich noch: Religionsphilosophie) entspricht, im System bestand behaupten alle Sondergrundlegungen indessen eine Gleichrangigkeit. Diese Gleichrangigkeit bringt es mit sich, daß jede der Grundlegungen letztbestimmt ist und daß jede der Grundlegungen sich das All des Begründbaren zu unterwerfen vermag. Dies aber schließt ein, daß jede der Grundlegungen jeder anderen Grundlegung vorgeordnet ist. Diese Vorordnung ist nun aber keineswegs, wie man meinen könnte, nur eine müßige spekulative Konstruktion, sondern die strenge Konsequenz des Gedankens einer Pluralität von Grundlegungsautonomien. Wir erblicken also in der konsequenten Entfaltung des ursprünglichen Systemansatzes das komplizierte Gefüge wechselseitig einander umfassender und voneinander umfaßt werdender Grundlegungen. io. Die Universalität der theoretischen

Grundlegung

Dieser Gedanke, auf den ich auch in anderen Zusammenhängen bereits hingewiesen habe28, ist, wie mir scheint, bis heute noch nicht in seiner vollen systematischen Tragweite gewürdigt worden. Jede System2S

12*

Vf., Gegenständlichkeit Nr. 87).

und

Gliederung.

1964,

S. 54

(Kant-Studien-Erg.-Hefl,

180

Die moderne Grundlehre und das Problem der Einheit

beziehung, die aus den wechselseitigen Umfassensverhältnissen resultiert, bedarf allerdings einer eigenen Bestimmung. Am leichtesten ist es noch, die Universalitätsbedeutung der theoretischen Grundlegung aufzudecken. Sie zeigt sich darin, daß auch das in theoriefremder Autonomie (also in praktischer, ästhetischer oder religiöser Ursprünglichkeit) Vermeinte und Konstituierte, wie übrigens auch das Vermeinen und Konstituieren selbst, als ein möglicher Gegenstand der Theorie muß bestimmt werden können, ja, daß die theoretische Konstitution sich erst in dem Bezug auch auf das Fremde und Andere systematisch erfüllt. Der Neukantianismus hat diesen Gedanken explizit nur auf die Prinzipien der nichttheoretisdien Leistungs-, Kultur- und Gegenstandsgebiete zu beziehen gewußt (aber allerdings audi hier nidit voll bewältigt), eine Beziehung auf das Prinzipiierte ist nidit nachweisbar. Die erste Beziehung betrifft die Möglichkeit einer universalen und nicht auf bloße Erkenntnisbegründung eingeschränkten philosophischen Systematik, die zweite Beziehung betrifft die Wissenschaftssystematik in ihrer Vollständigkeit, also das ganze Gefüge möglicher Erfahrungswissenschaften. In diesem Gefüge der Erfahrungswissenschaften wurde die Grundlegung der Geistes- und Kulturwissenschaften erst im Laufe des vorigen Jahrhunderts spruchreif. Und hier zeigt es sich, daß es um nichts anderes geht als um die Frage, wie die Theorie — in diesem Falle die positive Theorie — anwendbar sein soll auf ein solches, das in einer nichttheoretischen Grundlegung wurzelt. I i . Gliederung Die universale Umfassensfunktion der theoretischen Grundlegung zu explizieren ist die Aufgabe, die der philosophischen Systematik einerseits und der Wissensdiaftstheorie und -systematik andererseits zufiel. Schon diese Aufgabe ließ sich allerdings mit den Mitteln der neukantianischen Philosophie allein nicht bewältigen. Mit den Mitteln der neukantianischen Lehre war es nicht möglich, den fundamentalen Abstand zwischen Natur- und Geisteswissenschaften im Ernste begreiflich zu machen. Freilich gibt es in diesem Punkte zwischen den Lehrmeinungen erhebliche Unterschiede. Während für die Marburger Erkenntnistheoretiker die Grundlegung der Geisteswissenschaften eine Verlegenheit blieb, förderten Windelband (mit dem Gesichtspunkt des Idiographischen) und Rickert (mit dem Begriff der Wertbeziehung) die Problematik um ein gutes Stück. Aber den entscheidenden Schritt vermochten auch sie nicht zu tun, weil sie den Schlüssel für die Differenzierung der Grundlegungsgebiete nicht zu finden vermochten. Sie verfuhren so, als sei die Systemgliederung der Grundlegungen (oder der Werte) bereits gesichert und bestimmt, aber gerade das war nicht der Fall. Man hat die Rickertsche Wertlehre einmal mit einer leeren Säulen-

Gliederung

181

halle verglichen. Das Bild besagt natürlich — wie alle Bilder in der Philosophie — wenig. Es ist möglich, daß damit nicht viel mehr gemeint war als die Trockenheit der Rickertschen Theorie. Auf Trockenheit oder Nichttrockenheit kommt es indessen nicht an. Was der Wendung dennoch einen guten Sinn geben könnte, ist dieses, daß man in der Rickertschen Lehre eine Bestimmung der verschiedenen Grundlegungsire/w/ie vermißt, und zwar eine sachgerechte und systematisch ausgewiesene Bestimmung. Der landläufige Vorwurf, den wir auch bei Nicolai Hartmann finden, der Neukantianismus sei zu „konstruktivistisch" verfahren, wird übrigens nicht ganz zu Recht erhoben. Wenn mit Konstruktivismus ein Zuviel an Spekulation, ein Sichverlassen der Philosophie auf ihre eigenen begrifflichen Mittel und eine Verachtung der Erfahrung gemeint sein soll, trifft er den Neukantianismus im ganzen kaum. Ein Grundfehler des Neukantianismus ist im Gegenteil der zu weit gehende Respekt vor der Erfahrung, die Einbeziehung von Empiremen (wie Hönigswald es gegen Rickert zum Ausdruck gebracht hat27) in die philosophische Theorie. Der Fehler liegt in einer Anerkennung von unabgeleiteten und spekulativ unausgewiesenen Vorgegebenheiten. Es ist eben, ob man es wahrhaben will oder nicht, im Grunde audi ein Positivismus und Dogmatismus, wenn sich die Philosophie die Kulturtatsachen von außen her geben läßt und sich damit begnügt, von diesen Tatsachen, den tatsächlichen oder für tatsächlich gehaltenen Gebilden und Leistungen der Kultur und des Kulturbewußtseins aus zurückzufragen auf die Gesetze und die Grundlegungen dieser Tatsachen und Leistungen oder (in der Südwestdeutschen Version) auf die Werte, denen diese Leistungen genügen sollen. Die Gliederung der Kulturgebiete oder — was ihnen entspricht — die Gliederung der Grundlegungen und der Werte ließ sich die neukantianische Philosophie, wenn wir von wenigen spekulativen Gliederungsansätzen absehen, geben, sie nahm sie als ein fraglos Vorhandenes, anstatt sie selbst zu entwickeln und abzuleiten. In einigen Punkten, nämlich dort, wo die Bestimmungen durch die Tradition, insbesondere durch die Kantische Lehre selbst, bereits philosophisch ausgewiesen waren, mochte das gutgehen, für das Ganze der Systematik war es fatal. Erst im späteren Neukantianismus, so zum Beispiel beim späten Natorp (deutlich vor allem in und seit seiner einführenden Philosophie- Schrift28), zeigt sich ein Ringen um die „Ubergänge", das Fragen nach einer Legitimation des Anschlusses des jeweils nächsten Systemgebiets, und bezeichnenderweise kommt es bei diesem Ringen denn auch bald zu einer Umwandlung und schließlich zu einer Aufhebung der alten Systemdisposition. 27

28

R. Hönigswald, Zur Wissenschaftstheorie und -systematik. Kant-Studien 17, 1 9 1 2 (S. 28—84) S. 69 f. — H . Rickert bezieht sidi auf diese Kritik: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, y Aufl. 1929, S. 37 Anm., vgl. audi S. 66 Anm. Philosophie. 4. Aufl., 1929, S. 60 ff., 94 ff.

182

Die moderne Grundlehre und das Problem der Einheit

12. Sein, Einheit, Bewußtsein Was nun das Prinzip der Einheit betrifft, so war für die kritizistische Grundlehre stets klar, daß die Grundlegungen ihre Einheit im System haben müssen und daß diese Systemeinheit durch eine eigene (und zwar eine im strengen Sinne einheitsverbürgende) Instanz zu sichern sei. Diese Instanz aber war keine andere als das Bewußtsein, näherhin das reine Bewußtsein. Das reine Bewußtsein hinwiederum war als dasjenige bestimmt, das eine jegliche Grundlegungsaufgabe, unbeirrt durch die Fehlbarkeit und Trägheit des empirischen Bewußtseins, zu vollbringen vermag. Es ist der Begriff eines Subjekts, das seine volle Sachhingegebenheit (und damit seinen Sinn als Bedenken und Ergreifen der Sache) dort verwirklicht, wo es sich selbst vergißt, wo es „von sich absieht". Wovon sieht es aber ab? Die kritizistische Auskunft lautet: von alledem, was am Subjekt Nicht-Subjekt ist und also Gegenstand. Das aber, was am Subjekt gegenständlich ist, ist dieser Auffassung zufolge der Gegenstand nicht der philosophischen, sondern der psychologischen Betrachtung, und zwar einer Betrachtung der empirischen Psychologie. Die auszustreichende Gegenständlichkeit des Subjekts ist mithin positive Gegenständlichkeit. Für uns Heutige liegt der Hauptfehler dieser Theorie fast schon auf der Hand. Er liegt in dem völlig unbestimmten und unausgewiesenen Gegenstandsbegriff. Es wurde in der neukantianischen Grundlehre zweierlei übersehen: daß das Subjekt nur als das Korrelat einer ursprünglich, und das heißt einer als Grundlegungsgröße bestimmten Gegenständlichkeit eine Funktion zu haben vermag (daß also ein bloß gegenständliches Subjekt gar kein Subjekt wäre), und daß es diesem Subjekt außerhalb der Theorie um das Vollbringen seiner eigenen Gegenständlichkeit selbst geht29. Wenn man das Nebeneinander und die Geschiedenheit der Kulturgebiete gelten läßt, ist der Gedanke einer Verknüpfung des Geschiedenen in der Einheit eines formal verstandenen Bewußtseins nicht schwierig. Wenn man aber zugibt, daß dem Bewußtsein ein Anderes entsprechen muß und daß ihm die Gegenständlichkeit (mit allen Momenten der ursprünglichen Faktizität) nicht abgesprochen werden kann, ja, daß es im Gegenteil dem Bewußtsein um die Rechtfertigung, Entfaltung und Äußerung dieser seiner eigenen Faktizität selbst geht, dann ist audi die Grundfunktion des Prinzips der Einheit in dieser Gestalt nicht mehr zu halten. Die Philosophie sieht sich nun zwei einander bedingenden und einander fordernden Grundfragen gegenüber: Was ist das Bewußtsein in seiner ursprünglichen Faktizität? und: Was ist das Andere des Bewußtseins? 29

Vf., Gegenständlichkeit

und Gliederung.

XI. Kap.

Sein, Einheit, Bewußtsein

183

Die erste Frage führte zur zweiten, und die zweite wurde zuerst beantwortet. Dasjenige, dem die Anstrengung des Bewußtseins zuerst (an erster Stelle in der Systemfolge) gilt: der vermittels der Theorie freizulegende Gegenstand, ist das vom Bewußtsein Unabhängige, es ist der Inbegriff des Seienden, der seinen Grund im Sein oder, was gleichwertig ist, der seinen Grund im Gefüge der Seinsprinzipien hat. Das Bewußtsein aber in seiner Faktizität ist nichts anderes als ein Seiendes ausgezeichneter Art: es ist Geist oder Dasein oder jene Tatsache, die zugleich Prinzip ist. Die Konvertibilitätsthese der alten Metaphysik rechnet nicht nur mit der Einheit des Seins, sie rechnet audi mit einer Einheit von Sein und Denken. Das tut sie, indem sie die Gleichursprünglichkeit von ens und verum in Ansatz bringt 30 . Die scholastische Transzendentalienlehre ist, worauf J . B. Lötz mit vollem Recht hinweist31, durchaus etwas anderes als eine gegenstandstheoretische (oder realistisch-ontologische) Kategorienlehre. Die Transzendentalien sind nicht nur fundamentaler als die klassischen Kategorien. Sie haben auch eine andere Systemfunktion als die ontologischen Fundamentalprinzipien, wie sie N . Hartmann in seinen Gegensatzpaaren bestimmt 32 . Sie implizieren den Ursprung einer Grundlegung, die zwar auch ontologisch, zugleich aber doch wieder mehr als ontologisch ist. Hierin unterscheidet sich die alte Metaphysik (und zum guten Teile audi die neue Scholastik) zwar nicht von der „neuen" Ontologie im ganzen, aber doch mindestens von der „ontologistischen" neuen Ontologie. Ens und verum, ens und bonum sind gleichgeordnet, die Prinzipien des Erkennens und des Wollens sind an der Grundlegung im gleichen Systemrang und in strenger Verbundenheit beteiligt. Das Verhältnis des Denkens zum Sein, des Wollens zum Sein ist also nicht etwa wie in der kategoriologischen Ontologie (wenn wir diese zur Unterscheidung von einer transzendental-theoretischen Ontologie so nennen dürfen) das einer Nachordnung, sondern das einer ursprünglichen Gleichordnung. Das Wahre und das Gute sind dem Sein gleichrangig und also gleichgründend. Daß dieser Ansatz die Gefahr in sich birgt, die Distanz der Grundfaktoren zu verschleiern und deren Eigenbestimmtheit zu verdecken, ist kaum zu übersehen. Die Versuchung, alles mit allem in einer harmonischen Ordnung zu versöhnen, ist gewiß groß genug. Auf der anderen Seite hat eine objektivistische und ontologistische Ontologie den Vorzug, das Moment und den Horizont des Ansidi und der Unab30

51

52

Versuche, das traditionelle Lehrstück auf eine Problemlage zu beziehen, die durch die neuen Ontologien geprägt war, unternahm G. Söhngen in Sein und Gegenstand. Das scholastische Axiom ens et verum, convertuntur als Fundament metaphysischer und theologischer Spekulation. 1930. Sein und Existenz. 1965, S. 168 f. Vgl. G. Martin, Aufbau der Ontologie. Blätter für Deutsche Philos. 15 (1941/42 — in: Gesammelte Abh. Bd. I, 1961, S. 1 6 7 — 1 8 $ , bes. S. 173 ff.).

184

Die moderne Grundlehre und das Problem der Einheit

hängigkeit rein als solche selbst in ihrer spezifischen Bestimmtheit sichtbar zu machen. Ich halte gerade diese Ontologie, die in ihrem Objektivismus, wie G. Martin schon früh bemerkte, quer zur Tradition steht, für eine gediegene Errungenschaft des modernen Philosophierens33. Doch den Rang einer selbstgenugsamen Grundlehre vermag ich dieser Ontologie dennoch nicht zuzuerkennen. Audi das Ansich, das Sein dieser Ontologie ist selbst noch als das Moment einer vor- und übergeordneten Grundlegung zu bestimmen. Der frühe Hartmann, der in Systembildung und Idealismus (Cohen-Festschrift 1912) die Korrelation von Subjekt und Objekt noch zu den Grundgegensätzen zählte, stand dieser Auffassung näher, einer Auffassung, die Hartmann um der strengen Eigenbestimmtheit seiner Ontologie willen späterhin glaubte aufgeben zu müssen. Das Verdienst, die Eigenbestimmtheit des ontologischen Moments festgelegt und expliziert zu haben, ist indessen bei weitem größer, als es ein Teil der landläufigen Hartmann-Kritik vermuten lassen mag. Und doch ist, wie mir scheint, die Anerkennung der Gleichursprünglichkeit der nichtontologischen Fundamentalfaktoren, modern gesprochen: der Geltungsgrundlegungen, nicht zu umgehen. In diesem Punkte steht die Scholastik dem kritischen Idealismus allerdings näher als eine Ontologie, die die gegenstandsgerichtete Einstellung der positiven Wissenschaften für die philosophische Grundeinstellung hält. Die scholastische Grundlehre entfernt sich indessen in anderer Richtung auch wieder vom kritischen Idealismus (oder besser: dieser entfernt sich von jener). Die alte Metaphysik und die auf ihr aufbauende Neuscholastik setzen trotz der Vielheit der Transzendentalien ein Einheitsgefüge der Grundlegung voraus. Kants Transzendentalphilosophie hatte eine Pluralisierung nicht nur der Grundlegungsmomente, sondern audi der Grundlegungsgebiete angebahnt. Die Trennungen von Denken und Sein, Anschauungsform und Kategorie, Kategorie und Idee, Konstitutivität und Regulativität, Erkennen und Wollen, Natur und Freiheit, Phaenomenon und Noumenon, Natur und Kunst usf. sind Voraussetzungen für die strenge Bestimmung und Begrenzung der Geltungsgebiete und Gegenständlichkeiten. Die Kant-Erneuerer versuchten diesen Differenzierungsprozeß in eine veränderte Systemform zu bringen und zugleich konsequenter und überschaubarer zu machen. Das Resultat dieser Arbeit sind die verschiedenen neukantianischen Systemtheorien, die die Grundlegung als ein Gefüge von Werten, von Gesetzlichkeiten des Kulturbewußtseins oder von symbolischen Formen auffassen. Allen diesen Lehren ist gemeinsam, daß sie den unterschiedenen Grundlegungsmomenten u n d -Inbegriffen Gleichursprünglichkeit z u d a c h t e n . I h n e n allen ist

aber auch noch etwas anderes gemeinsam, nämlich dies, daß sie sich von der alten Metaphysik weiter entfernten als Kant. Der zeitliche Abstand 33

G. Martin, a. a. Ο. S. 184 (vgl. unten S. 254).

Sein, Einheit, Bewußtsein

185

mag daran beteiligt sein, auch Unkenntnis (Kant hatte schließlich noch nach den Lehrbüchern der alten Metaphysik gelesen) und das verbreitete Vorurteil, mit der Scholastik sei es ohnehin ein für allemal vorbei. Wichtig für uns ist allein das Resultat: Während im System Kants noch alle Transzendentalien der alten Metaphysik eine sachlich und systematisch gleichwertige Entsprechung finden, erstrecken sich die neukantianischen Grundlehren nur auf die in der Systemfolge „späteren" Transzendentalien. Das verum und das bonum haben ein Äquivalent in der theoretischen und der praktischen Grundlegung. Das Schöne ist entsprechend angereiht, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, daß die Ästhetik ihr eigenes Schicksal hatte und daß hier der Versuch, das Verhältnis zur alten Metaphysik zu bestimmen, einer besonderen Problemlage Rechnung tragen muß. Immerhin wird man sagen dürfen, daß die neukantianische Grundlehre, welche Gebiete und Grundlegungen sie nun noch einbeziehen mag (Religion, Mythos oder Sprache), Grundsachverhalte behandelt, die ganz entsprechend wie die „späteren" Transzendentalien bestimmt werden. Die „früheren" Transzendentalien aber: ens, unum und ordo haben keine Entsprechung im Gefüge der Grundlegungen. Insbesondere gilt das für das Sein. Was allenfalls dem ens entsprechen mag — der Gegenstand, die Gegenständlichkeit, das Zu-Erkennende — es gehört nicht zu den konstituierenden, sondern zu den konstituierten Momenten, nicht zur Grundlegung, sondern zum Grundgelegten. Mit dem unum steht es anders. Aber hier ist die Sachlage recht schwierig. Ein Eigengebiet entspricht ihm nicht und kann ihm nicht entsprechen. Wäre die Einheit Grundgröße, dann müßte sie die Einheit der Grundlegung verbürgen. Tatsächlich wird sie auch von den meisten kritizistischen Lehren als eine solche Grundgröße in Anspruch genommen. Die Einheit des Bewußtseins und die Einheit der Synthesis garantieren zugleich die Einheit des Systems. An Versicherungen in dieser Hinsicht fehlt es nicht. Hier scheint der Pluralismus der Grundlegungen in der Einheit der Grundlegung, vermittelt durch die Einheit des konstituierenden Bewußtseins, aufgehoben. Fraglich ist nur, ob die Durchführung dem Systemprogramm entspricht und ob das gründende Bewußtsein allein zu leisten vermag, was ihm abverlangt wird. Der Neukantianismus hatte das außerordentlich komplizierte Gefüge der Kantischen Grundlehre mit seinen vielfältig einander bedingenden Gegensatzmomenten umgeformt in eine verhältnismäßig leicht überschaubare Drei- oder Mehrgebietslehre, in eine plausible, bildungsfreundliche und wohlproportionierte Kulturphilosophie. Die Klammer des Ganzen war das reine Subjekt als Kulturbewußtsein, als Kulturobjekte schaffendes oder als Kulturwerten folgendes Bewußtsein. Der Preis, der für diese (am Kantischen Gedanken gemessen relativ) „freie Konstruktion" (Zocher) gezahlt werden mußte, war recht hoch. Er wurde, um im Bilde zu bleiben, in Kantischer Münze erlegt: Was sich der Systemharmonie nicht fügte, wurde eliminiert, insbesondere das

186

Die moderne Grundlehre und das Problem der Einheit

Moment der Anschauung und das des (der Anschauung korrespondierenden) Gegenstandes. Damit verloren aber, was hier im einzelnen nicht ausgeführt werden kann, die Gebiete (Kulturbereiche) des Theoretischen, des Praktischen und des Ästhetischen entscheidende Bestimmungsstücke. Die Verfassung eines überall gleicherweise konstitutiven und erstaunlicherweise überall produktiven Bewußtseins konnte die Differenzen der Gebiete und der entsprechenden Bewußtseinsleistungen kaum verständlich machen. In der leeren Größe eines solcherweise gleichkonstitutiven und gleichproduktiven Bewußtseins wird gerade das nicht mehr sichtbar, was die verschiedenen Geltungsprinzipien fordern: Absehen der Subjektivität von ihrer eigenen Bedingtheit (und Erfassen des Bedingten) in der Theorie, Bestimmung der Bedingtheit nach unbedingten Normen in der Praxis, Herausstellen der eigenen Bedingtheit in eine zugleich freie und verbindliche Idealität in der Poiesis. Das Moment der Bedingtheit verlor seine Grundfunktion, den Sinn und die Gliederung der Leistungen und den Sinn und die Gliederung der Gegenständlichkeiten abzuwandeln. (Erst in der Fortbildung des Kritizismus, in einem im besten Verstände kantischer werdenden Kantianismus — bei Hönigswald, Zocher, Cramer — wurde dieser Hauptmangel des kultur- und bewußtseinstheoretischen Neukantianismus durchschaut und in den wesentlichen Punkten korrigiert.) Die Kultur- und Geltungsgliederung blieb ohne Natur- und Erfahrungsbezug grundlos. Eine Wiederherstellung der Einheit der Grundlegung erreicht oder mindestens angebahnt zu haben ist das Verdienst einer Grundlehre, die in Ubereinstimmung mit Kant (oder auch in einem bloß vermeintlichen Gegensatz zu ihm) die Natur und die Unabhängigkeit des Gegenstandes der Theorie in die Grundlegung zurückbrachte — das Verdienst einer Grundlehre, die zugleich einer Rückbesinnung auf das Bleibende der alten Metaphysik den Weg bereitete. Die Wende zum Sein konnte auf die Dauer keine Abkehr vom Bewußtsein bedeuten. Das Moment der Einheit verbürgt in der nun erreichten Problemlage die spannungs- und gliederungsreiche Zusammengehörigkeit von Bewußtsein und Sein.

Hartmanns "Weg zur Ontologie Die Differenzierung seiner prinzipientheoretischen Lehrstücke bringt es mit sich, daß Hartmann nicht die Durchschlagskraft einfacher Gedanken auf seiner Seite hat. Was man gegen Hartmann in globaler Weise geltend zu machen pflegt, hängt mit dieser Differenzierung engstens zusammen. Man beanstandet die übergroße Positivität der Hartmannschen Philosophie, ihre Orientierung an der Arbeitsweise der positiven Wissenschaften und die Einbeziehung ihrer Ergebnisse. Hartmann habe, so äußerte einmal ein zeitgenössischer Philosoph, das Unding einer „empirischen Philosophie" geschaffen. Und was Hartmann (gerade von sachkundiger Seite) entgegengehalten wird, ist der Vorwurf eines Mangels an spekulativer Entschiedenheit. Was man vermißt, ist ganz gewiß nicht die Breite der Problembehandlung, sondern das Fehlen einer bestimmten Tiefendimension, das Fehlen insbesondere einer fundamentalphilosophischen Erörterung des Subjektsproblems. Gelegentlich dient dieser Vorwurf freilich auch nur dazu, die Anstrengungen eines (nach Lage der Dinge mühseligen) Hartmann-Studiums zu umgehen. Aber auch zu der wissenschaftspädagogischen Frage nach dem Wert und Nutzen eines Hartmann-Studiums kann nur Stellung genommen werden, wenn die andere Frage nach dem grundlegungstheoretischen Gehalt der Hartmannschen Philosophie geklärt ist. Eine solche Würdigung aber wird bestimmt kein uneingeschränkt positives Ergebnis haben können. Die philosophische Forschung müßte stillstehen, wenn irgendwo ein Philosophem frei von Mängeln und frei von Ergänzungsmöglichkeiten wäre. Worin also ist das Eigentümliche Hartmanns — das Eigentümliche seiner Lehre im Hinblick auf den Fortgang der grundlegungstheoretischen Forschung zu erblicken? Wir dürfen sagen (und wir sagen damit nichts Neues): in seiner Neubegründung der Ontologie. Diese Neubegründung ist durch drei Faktoren charakterisiert: (i.) durch die Lehre von der Grundlegungsbedeutung des Seins, (2.) durch die Lehre von der uneingeschränkten Vorordnung dieses grundlegenden Seins vor jede andere Instanz, insbesondere vor Denken und Erkenntnis, und (3.) in der Lehre, die besagt, daß innerhalb der Philosophie die gegenständliche, die primäre Einstellung einen Vorrang vor jeder Reflexionsform besitzt. Hartmann versucht zwar nicht, den Reflexionismus der vorangegangenen Theorien einfachhin auszustreichen, aber er bestreitet ihm doch seinen Vorrang. Er bestreitet der Erkenntnistheorie ihre letztfundierende

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Bedeutung und sucht sie selbst als fundiert auszuweisen. Hartmann erneuert also nicht etwa eine vorkritische Ontologie, sondern er macht den Versuch, einer reflexiven philosophischen Grundlehre eine nichtreflexive Grundlehre vorzuschalten. Das ganze Bedingungsverhältnis von Subjektivität und Gegenständlichkeit wird damit umgekehrt. Am handgreiflichsten tritt dies darin in Erscheinung, daß an die Stelle des neukantianischen Subjekts-Idealismus (mit seinem Kultur- und Fortschrittspathos) eine (nüchterne) Seins- und Sachgerichtetheit tritt, vor allem eine bescheidenere Einschätzung der Weltstellung des Subjekts, insbesondere eine im höchsten Grade illusionslose Betrachtung der Möglichkeiten und der Grenzen der konkreten, geschichtlichen Subjektivität. Wer die nüchternen Analysen in Hartmanns Geist-Philosophie1 mit Natorps hochgestimmter Sozialpädagogik2 und Natorps Sozialidealismus3 vergleicht, dem wird deutlich, welches Gewicht eine fundamentaltheoretische Umdisposition auch im Hinblick auf die Ausarbeitung vergleichsweise spezieller Systemstücke hat. Allein — Begeisterung oder Nüchternheit entscheiden nicht über das Recht von Philosophemen. Die Frage bleibt, ob der Hartmannsche Grundlegungsansatz gerechtfertigt ist. Diese Frage kann allerdings gerade dann nicht in zulänglicher Weise behandelt werden, wenn immer nur von dem Bruch Hartmanns mit dem Kulturidealismus die Rede ist. Wie kommt Hartmann überhaupt zu seiner „Grundstellung"? Wodurch ist Hartmanns Weg zur Ontologie bestimmt? — Im Hinblick auf diese Frage möchte ich in Kürze das Verhältnis Hartmanns zur Spätentwicklung Natorps skizzieren. Ein Anliegen ist beiden Denkern offenbar gemeinsam: nämlich dieses, die Kategorienforschung aus ihrer Erstarrung zu lösen. Der Vergleich ist höchst lehrreich. Gerade wenn man angesichts der Ausführlichkeit und der Wiederholungen der Hartmannschen Deskriptionen einerseits und seiner problemgeschichtlichen Bestandsaufnahmen andererseits zur Ungeduld neigt, wird man leicht in der Natorpschen Spätphilosophie4 die größere spekulative Kraft vermuten, aber bald auch die Unschärfe und den allzu ausgedehnten Bildgebrauch beklagen. Die Frage nach dem systematischen Rang der beiden Prinzipientheorien ist bald zu entscheiden, wenn man den Fortschritt in der Sache, den Gedankenfortschritt in der System1

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Kategorien der Geschichte. In: Proceedings of the Seventh Intern. Congr. of Philos. O x f o r d 1930 (Kleinere Schriften, Bd. I I I , 1958); Das Problem des geistigen Seins. 1 9 3 3 ; Sinngebung und Sinnerfüllung. Blätter f ü r Deutsche Philos. 8 (1934) 1 — 3 8 — (in: K l . Sehr. I, 195). Sozialpädagogik. 6. Aufl. 1 9 2 5 ; Philosophie und Pädagogik, 2. Aufl. 1 9 2 3 ; Pädagogik und Philosophie. 1964. Sozialidealismus. 2. Aufl. 1922. Vorlesungen über praktische Philosophie. 1 9 2 5 ; Philosophische Systematik. 1958; Selbstdarstellung in: Die Philos. d. Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 1 , 2. Aufl. 1923.

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disposition, erwägt. Auch der späte Natorp stellt die Frage nach dem Sein, audi er stellt die Frage nach der Bestimmtheit des Konkreten und des Individuellen, insbesondere die Frage nach der Bestimmtheit des konkreten Subjekts. Aber der alte neukantianische Grundlegungsansatz ist bei Natorp nicht durchbrochen. Es fehlt (i.) jede Basis für eine legitime Differenzierung der Seinsgrundlegung; es fehlt (2.) an einer Systemgrundlage für die Theorie des konkreten Subjekts, und es fehlt (3.) auch jede Grundlage für eine konstitutionstheoretische Differenzierung des Geltungsgedankens. Darin war Natorp über Cohen hinausgekommen: Er kannte die Fragen, er sah die Mängel der kulturidealistischen Systematik. Aber sein Systementwurf vermochte die Fesseln des Cohenschen Grundlegungsgefüges nicht zu sprengen. Hartmann hingegen ist diese Sprengung tatsächlich gelungen. Er hat den Weg zu einer im Ernste neuen Konstitutionslehre gefunden. Doch dieser Weg hat ihn mehr als nur einen Schritt gekostet. Was hat ihm die Kraft dazu gegeben, diesen Weg zu gehen? Hartmanns Verhältnis zur Philosophiegeschichte war stets im höchsten Grade positiv, positiv aber nur unter dem Aspekt der eigenen systematischen Sorgen und Bedürfnisse. Hartmann brauchte nichts notwendiger als eine (man darf, wenn auch Hartmann selbst diesen Terminus nicht liebte, ruhig sagen:) „spekulative" Beweglichkeit gegenüber den in ihrer Plausibilität erstarrten Formen der spätidealistischen Kulturphilosophie, eine Beweglichkeit, die er sich in allererster Linie in einem Durchdenken der Platonischen Ideenlehre5 und in einem Durchdenken der Philosophie Hegels" aneignete. Seine große Arbeit über Piatons Seinslogik und sein Methodenaufsatz7 legen Zeugnis davon ab. Gewiß verdankt Hartmann, wie er selbst bekennt, darüberhinaus auch der Phänomenologie nicht wenig (insbesondere derjenigen Schelers8). Doch dieses beides allein: die systemtheoretische Schulung an Piaton und Hegel und die phänomenologische Breite des sachhingegebenen Blicks können die Wendung Hartmanns zur Ontologie noch nicht hinreichend erklären. Ihr Ursprung liegt vielmehr in einer geduldigen und gründlichen Auseinandersetzung mit der kulturidealistischen Grundlegungssystematik selbst. Erst hier findet Hartmann den Weg zu einer neuen Grundlehre. Es ist immer schwierig, in der kontinuierlichen Entwicklung eines Denkers bestimmte Phasen und Epochen zu fixieren. Bei Hartmann pflegt 5

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Piatos Logik des Seins. 1909, Neudruck 1967; Das Problem des Apriorismus in der Piaton. Philos., SB Preuß. A k . 1 9 3 5 , 15 (Kl. Sehr. II, 1957). Die Philosophie des Deutschen Idealismus. Bd. II: Hegel. 1929, Neudr. 19, Aristoteles und Hegel. Beitr. z. Philos. d. Deutschen Idealismus, 3, 1923 (Kl. Sehr. II); Hegel und das Problem der Realdialektik, Blätter f. Deutsche Philos. 9, 1935 (Kl. Sehr. II). Systematische Methode, Logos 3, 1 9 1 2 (Kl. Sehr. III). Max Scheler, Kant-Studien 33, 1928 (Kl. Sehr. III).

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man sonst eine kritizistische und eine nachkritizistische Phase zu unterscheiden. In Wirklichkeit ist die Entwicklung ungleich komplizierter. Man darf zwar annehmen, daß Hartmann am Beginn seines Weges die Grundüberzeugungen der Marburger Schule geteilt hat. Alle literarischen Zeugnisse, die uns vorliegen, lassen indes bereits die Selbständigkeit des großen Systematikers erkennen. Nur als eine Ausgangsbasis werden wir deshalb die kulturidealistische Systemdisposition würdigen müssen. Sie entspricht im wesentlichen der Lehre Hermann Cohens, vor allem aber derjenigen Gestalt des Marburger Philosophierens, die ihr Paul Natorp gegeben hat. In einer Reihe von Momenten ist diese Systematik Gemeingut der spätidealistischen Kulturphilosophie überhaupt, Gemeingut auch der spätidealistischen Werttheoretiker (wie Windelband, Rickert, Jonas Cohn, Münsterberg und Bauch). Was nun die Entwicklung der Hartmannschen Systemkonzeption betrifft, so sind hier vier deutlich unterscheidbare Stufen zu konstatieren: 1. Die erste nachweisbare Auseinandersetzung mit der Marburger Grundlegungssystematik enthält ein Seminarreferat aus dem Wintersemester 1906/07. Paul Natorp hat es (unter Kenntlichmachung dieser Herkunft) in eine eigene Schrift miteingearbeitet. Es handelt sich um den 3. bis 6. Abschnitt einer Untersuchung über Individualität und Gemeinschaft, die erstmals im Jahre 1909 in Natorps Buch Philosophie und Pädagogik veröffentlicht wurde. Die Hauptpartien behandeln die Bedeutung des Individuellen in den drei verschiedenen Grundlegungssphären. Letztlich geht es um das Problem einer Abwandlung der Begründungs- und Bestimmungsfunktion in den drei Geltungsgebieten des Theoretischen, des Praktischen und des Ästhetischen. 2. Eine zweite und für den Durchbruch des Hartmannschen Gedankens wohl die wichtigste Phase dürfen wir in den Arbeiten erblicken, die alle im Jahre 1 9 1 2 ihre Veröffentlichung finden. Es sind dies die Philosophischen Grundfragen der Biologie9, der Aufsatz Systematische Methode10 und (der bedeutendste Beleg für die Hartmannsche Systemkonzeption aus dieser Zeit) sein Beitrag zur Cohen-Festschrift, der den Titel trägt Systembildung und IdealismusVon dieser Phase werde ich am ausführlichsten zu sprechen haben. 3. Eine dritte endlich, in der sich die Ontologie nicht nur sachlich, sondern auch terminologisch ankündigt, fällt in die Zeit des ersten Weltkrieges. Hier veröffentlicht Hartmann seine Aufsätze über die Erkennbarkeit des Apriorischen12 und über Logische und ontologische Wirklichkeit13. Sie enthalten die letzte Vorstufe zur endgültigen Systemfassung. 9 10 11 12 13

In Kl. Sehr. III ohne Register abgedruckt. Siehe oben Anm. 7. Kl. Sehr. III. Logos 5, 1 9 1 4 / 1 5 (Kl. Sehr. III). Kant-Studien 20, 191 j (Kl. Sehr. III).

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4. Diese aber findet ihren Niederschlag in der Reihe der bekannten großen Untersuchungen, beginnend 1921 mit der Erstfassung der Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis. — Auch innerhalb der endgültigen Lehre lassen sich freilich noch Stufen, Wandlungen und Revisionen nachweisen (etwa mit Bezug auf das Schichtungstheorem, auf den Wertbegriff und auf die Systembedeutung der Anthropologie) — im wesentlichen bleibt das Systemgefüge jedoch (bei aller Differenzierung der Einzelstücke, die die fortschreitende Arbeit zeitigt) unverändert. Insbesondere für das Verhältnis Hartmanns zum Kritizismus einerseits und zur subjektstheoretischen Ontologie (zur Daseinsanalytik) andererseits bleiben diese Veränderungen unerheblich. Ich komme nun zur Charakteristik der kulturidealistischen Ausgangsposition. Der Kulturidealismus verstand sich bekanntlich als die Überwindung eines metaphysischen (oder absoluten) Idealismus auf der einen Seite und eines empiristischen Positivismus (Psychologismus und Materialismus) auf der anderen. Er stand gewissermaßen in der Mitte zwischen diesen beiden Polen: zwischen einer Einschränkung der Theorie auf eine Erforschung des bloß Faktischen (einer Einschränkung, die der Positivismus forderte) und einer Ausdehnung der Theorie auf eine Erkenntnis des Absoluten (eine Ausdehnung, die der nachkantische Idealismus zu vollziehen gesucht hatte). Der spätidealistische Kritizismus ging von der positiven Erkenntnis aus und suchte die „Gesetze" (oder die Prinzipien) dieser positiven Erkenntnis freizulegen. Die Bezogenheit aller Prinzipienanalyse auf eine vorliegende positive Erkenntnis (oder auf eine vorliegende primäre Kulturleistung) aber macht die eigentümliche Relativität des Spätidealismus aus. Wenn man so will, steckt hier im Kritizismus selbst ein positivistisches Moment. Der Prinzipienpositivismus, der daraus resultiert, daß allein der Analyse ein Recht in der Prinzipienbestimmung zugestanden wird, ist beispielsweise noch in Cassirers Philosophie der symbolischen Formen14 wirksam. Die Vielheit der Kulturbereiche wird innerhalb des Kulturidealismus im Grunde als etwas fraglos Bestehendes hingenommen. Dabei fällt dann schließlich auch die Unterscheidung zwischen geltungshaften Sphären (das Theoretische, Praktische und Ästhetische) und nichtgeltungshaften Sphären (Erleben, Sprache, Mythos) dahin. Auf dem Boden des Kritizismus wird die Frage des Verhältnisses zwischen geltungshaften und vorgeltungshaften Subjektsgrundlagen erst bei Hönigswald spruchreif. Eine weitere grundsystematische Schwierigkeit liegt darin, daß (vom späten Natorp abgesehen) das Konkrete zwar als Ausgang der prinzipientheoretischen Untersuchung berücksichtigt wird, daß die Prinzipienanalyse aber nicht die Möglichkeit hat, zum Konkreten zurückzukehren. Auch bei Natorp ist diese Rückkehr (darauf hat bereits Joseph 14

3 Bde. 1 9 2 3 — 1 9 2 9 (Neudrucke seit 1953).

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Klein in seiner Studie Hartmann und die Marburger Schule15 hingewiesen) dunkel geblieben. Das Problem, mit dem wir es hier zu tun haben, ist die Frage nach dem Ort des Konkreten in der Grundlegung. Es ist, wie man es einmal genannt hat, die Frage nach einer Ableitung des Unableitbaren, oder besser: nach einer Ableitung der Unableitbarkeit. Die Bewußtseins-Philosophie, d. h. also die Philosophie des Marburger Kulturidealismus, kann dem Konkreten überhaupt keine eigene Grundlegungsfunktion einräumen. Das ist erst dort möglich, wo dem Objekt in seiner Unabhängigkeit, wo dem Sein eine fundamentale Valenz zugedacht wird. Dazu aber bedarf es einer eigenen Konstitutionsrücksicht. Kein Zufall denn auch, daß in Hartmanns Ontologie das Konkrete selbst als Fundamentalprinzip gewürdigt wird, wenn er leider auch nicht so weit geht, jene Tatsache, die die konkrete Subjektivität selbst ist, als Prinzip (bei Hartmann muß man hinzusetzen: als fundamentales Prinzip) zu würdigen. Was nun die spätidealistische Grundlehre betrifft, so knüpft sie bekanntlich an Kant an. Diese Anknüpfung geht aber einher mit einer weitreichenden Veränderung und Vereinfachung der Systemdisposition. Die Momente der Anschauung und der Unabhängigkeit werden aufgehoben. Die Philosophie des Kulturidealismus entfaltet sich in einem Gefüge von gleichberechtigten Grundlegungstheorien. (Den Grund für diese Systematik hatte Hermann Cohen in seinen Kant-Büchern gelegt1". Jede der Grundlegungssphären ist nach Cohen „ein eigentümliches Glied im Ganzen der Kultur". Ihm entspricht jeweils eine „eigene Gesetzlichkeit des Bewußtseins".) Die letztfundierende Bedeutung einer jeden dieser Disziplinen wird allerdings, soviel ich sehe, nur von Bruno Bauch mit Rücksicht auf ihre wechselseitige Vorordnung bedacht17. Aber audi Bauch beschränkt sich auf eine Feststellung des formalen Gefüges. Im Verhältnis der Hartmannschen Lehre zum Marburger Kritizismus fällt zuerst das Trennende ins Auge18. Ontologie und Bewußtseinsphilosophie zeigen in entscheidenden Lehrstücken völlig entgegengesetzte Auffassungen: dort Subjektsprimat, hier Seinsprimat, dort Theorie des reinen Bewußtseins, hier Theorie des realen Geistes. Dieser Gegensatz läßt die Tatsache fast vergessen, daß die Philosophie Hartmanns eine Fortführung der kritizistischen Grundlegungstheorie ist, eine Fortführung, die freilich einen radikalen Wandel impliziert. — Innerhalb der spät15

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17 18

In: Nicolai Hartmann — Der Denker und sein 'Werk. Hrsg. v. H . Heimsoeth u. R. Heiß, I9J2. Kants Theorie der Erfahrung. i . A u f l . 1871, 2. Aufl. 1885, 3. Aufl. 1 9 1 8 ; Kants Begründung der Ethik. i.Aufl. 1 8 7 1 , 2. Aufl. 1910; Kants Begründung der Ästhetik. 1889. Wahrheit, Wert und Wirklichkeit. 1923. Die Bezüge auf den südwestdeutschen Neukantianismus spielen im Werk Hartmanns nur eine vergleichsweise untergeordnete Rolle.

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idealistischen Systementwürfe bleiben zwei Problemkomplexe unaufgehellt: (i.) Das Moment des Ansich (also das der Unabhängigkeit, des Seins) wird nicht in seiner Grundlegungsfunktion bestimmt. Das Objekt wird einzig und allein als das Bestimmbare der positiven Wissenschaften, in gewissen Formen des Kritizismus sogar nur als das Bestimmbare der exakten Theorie ausgewiesen. (2.) Es fehlt an einer prinzipiensystematisch begründeten Differenzierung des Gegenstandsfeldes. Es fehlt mit anderen Worten an einer Regionaltheorie nichtgeltungshafter Bestände. Die Frage nach der Systembestimmtheit der faktischen Subjektivität wird zwar — vor allem von Natorp — gestellt, aber doch eben in höchst unzulänglicher Weise. Erst angesichts der Probleme, die die kulturidealistische Systemtheorie übrigläßt, kann die Hartmannsche Leistung voll gewürdigt werden. Die Auseinandersetzung mit diesen Restproblemen läßt sich bereits in der frühesten Arbeit Hartmanns nachweisen. Die Grundlegungsgliederung nach Geltungssphären ist hier noch ganz selbstverständlich in Ansatz gebracht. Hier wird bereits das Verhältnis von Prinzipiensphären unter dem Aspekt der Abwandlung betrachtet. Unter der Idee der Abwandlung behandelt Hartmann auch späterhin die Frage nach einer begründeten, nach einer systematisch ausgewiesenen Gliederung der Grundlegung. Freilich kommt er später zu einer ganz anderen Svstemkonzeption. Aber hier (an der von ihm vorgefundenen idealistischen Grundlehre) erprobt er zum ersten Male die Idee, die ihm späterhin zu einem der wichtigsten Mittel wird, die Differenzierung der Grundlegung in die Grundlegungsregionen (in die Sphären und Schichten des Seins) prinzipientheoretisch zu bestimmen. In dem frühen Referat handelt es sich um die Frage nach der Abwandlung der Grundbeziehung zwischen Bedingung und Bedingtem, die hier gleichgesetzt ist mit derjenigen zwischen dem Allgemeinen und dem Individuellen. Bemerkenswert ist freilich im Hinblick auf die spätere Entwicklung eher das Negative: (1.) die Verlegenheit angesichts einer Aufnahme der Geisteswissenschaften in das Feld des Theoretischen (wo der Vorrang des Allgemeinen, der zunächst für das Theoretische schlechthin angenommen wird, eine Grenze findet) und (2.) (im praktischen Bereich) die Gleichsetzung des Allgemeinen mit der Gemeinschaft. — Die Voraussetzungen für eine prinzipientheoretische Bestimmung der Formen des konkreten Geistes sind hier noch nicht erfüllt. Was wir vor uns sehen, ist nicht mehr als ein erster Versuch. Er zeigt vor allem, wie hilflos der Spätidealismus allen konstitutionstheoretischen Fragen gegenübersteht, allen Fragen, die über eine Regionaltheorie des Geltungsbereichs hinausführen. Einen großen Schritt vorwärts zum Ausbau und zur Ergänzung der Grundlegungstheorie macht Nicolai Hartmann in der zweiten von uns genannten Phase, und hier vor allem in seinem Festschrift-Beitrag 13

Wolandt, Idealismus

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Systembildung und Idealismus. Dieses beides — um es noch einmal zu wiederholen — bringt Hartmann hier bereits in Ansatz: (i.) einen Abstand zwischen Fundamentalprinzipien einerseits und Bereichsprinzipien andererseits und (2.) (und zwar ganz ausdrücklich) den Gedanken einer Abwandlung von Prinzipien bei ihrer Aufnahme in verschiedene Prinzipiensphären. Hartmann faßt die Fundamentalbegriffe als Einheiten variabler Elemente auf. Die Beweglichkeit der Grundbegriffe aber hat geradezu eine systemstiftende Bedeutung. Die Fundamentalbegriffe wandeln sich in ihren verschiedenen Anwendungen ab und ermöglichen so eine Kontinuität zwischen den spezifischen Grundlegungssphären. Bei dieser Abwandlung und Verschiebung werden sie aus dem Bezugszusammenhang der Logik, d. h. der theoretischen Grundlegung, gelöst und auf die anderen Problemfelder (die des Ethischen, des Ästhetischen und des Psychologischen) bezogen. Die theoretische Philosophie soll dergestalt schon in ihrem Ansatz durch den Bezug auf die nichttheoretischen Disziplinen bestimmt sein. Von der Abwandlung betroffen sind sowohl das Kategoriensystem als ganzes wie auch jedes einzelne Prinzip. In der Richtung von der Logik zur Psychologie hin ist eine Bedeutungsverschiebung der Fundamentalprinzipien zu erblicken, die durch abnehmende Begrifflichkeit und zunehmende Anschaulichkeit charakterisiert ist. Hier benutzt Hartmann zunächst das Natorpsche Schema, um eine Dimension des Übergangs zwischen dem Objektiven (d. h. Geltungsbestimmten) und dem Subjektiven (d. h. also dem Geltungsindifferenten, der Sphäre des Vollzugs) anzusetzen. Hartmann zeigt, daß das Verhältnis der intentionalen Grundfaktoren (das Verhältnis von Subjektivität und Gegenständlichkeit) sich in den drei Geltungssphären in der Tat abwandelt, und zwar dergestalt, daß einer Prävalenz des Objekts im theoretischen Felde eine solche des Subjekts im praktischen folgt, und schließlich die fundamentalsystematische Gleichrangigkeit beider Korrelate in der Sphäre des Ästhetischen. Dieses Theorem, das eine der wichtigsten Errungenschaften der neueren Geltungslehre darstellt, ist bereits bei Natorp der Sache nach vorbereitet, nur daß Natorp den grundsätzlichen Vorrang des Bewußtseins und die entsprechende grundsätzliche Dependenz des Objekts nicht aufzugeben vermag. (Natorp behilft sich hier mit dem Dreischritt von 1. Sein, 2. Sollen und 3. einer Synthese von Sein und Sollen.) Die Schwierigkeit, die allerdings auch Hartmann in der Studie von 1 9 1 2 übrigläßt, ist die Bestimmung des Systemverhältnisses zur psychologischen Sphäre. Die Aufnahme dieser Sphäre in die Abwandlungsfolge ist gewiß unhaltbar. Denn hier kann es sich nicht mehr um eine Form der Geltungsbestimmtheit handeln. Von der Abwandelbarkeit sind jedoch nicht nur die theoretischen, die (wie Hartmann sagt) „in der Logik konstitutiv genommenen Kategorien" betroffen, sondern auch eine Reihe von Prinzi-

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pien, „die sich keiner philosophischen Disziplin besonders zuweisen lassen". Es handelt sich um Prinzipien wie System, Form und Methode. (Dabei ist zu beachten, daß die Durchgängigkeit des Methoden-Begriffs der Marburger Systematik entnommen ist.) Zu den gebietsvorgängigen Prinzipien zählt ferner eine Reihe von Korrelationen, deren Gegensätzlichkeit (dieser Gedanke tritt also auch schon hier auf) „Dimensionen eröffnet, in die sich alle besonderen Bestimmungen einzeichnen müssen". Diese Grundkorrelationen sind: Prinzip—Gegenstand (auch im Methodenaufsatz spricht Hartmann regelmäßig vom Gegenstand, wo er später Concretum sagt), ferner: Rationales—Irrationales, und wie zuvor: Allgemeines—Individuelles. Wichtig und charakteristisch ist, daß die Subjekt-Objekt-Beziehung einen Platz unter den Fundamental-Korrelationen einnimmt. Leider hat Hartmann gerade diesen Gedanken später seiner objektivistischen Ontologie geopfert. Alle geltungsbetroffenen, alle intentionalen Beziehungen ordnet Hartmann späterhin dem allumgreifenden Seinshorizont ein und beraubt sie damit ihrer ursprünglichen Letztheit und ihrer Fundamentalität im Sinne der Prinzipiensystematik. Die Idee der kritischen Ontologie selbst hätte diese Unter- oder Einordnung nicht notwendig gemacht. Nur der Wechsel von der einen spekulativen Einseitigkeit (oder Standpunktlichkeit) zur anderen Einseitigkeit, der Wechsel vom Subjektivismus zum Objektivismus, führte zu dieser Konsequenz. Für den, dem die Letztheit und Ursprünglichkeit aller Grundlegungssphären (und zwar unter dem Aspekt der Geltung, d.h. des Gegenstands&ezMgj, sowohl wie unter dem der GegenstandsKonstitution) ein spekulatives Erfordernis zu sein scheint, für den ist deshalb diese Frühform der Hartmannschen Systematik besonders wichtig, weil Hartmann hier (wenigstens grundsätzlich) noch nicht den Gegen-Standpunkt eingenommen hat. Hier ist deshalb auch noch am ehesten der Schlüssel zu finden, um auf Hartmannschem Boden die Geltungsdisziplinen (Erkenntnistheorie, Werttheorie und Ästhetik) von der Bevormundung durch die Ontologie zu befreien. Die Abwandlung der Wechselbeziehung von Subjektivität und Gegenständlichkeit (der in der späteren, ontologischen Systematik nur noch eine sekundäre Funktion bleibt) wird in diesem frühen Entwurf zum bestimmenden Moment für die Systementwicklung, d. h. aber hier noch: für den Ansatz der Ge/i»ngsdifferenzierung. Während für die Wissenschaftsbegründung das Einzelsubjekt neutralisiert wird, wird es in der praktischen Grundlegung zur entscheidenden Instanz. Die theoretische Sphäre, so lehrt Hartmann hier, sei indifferent gegen Idealismus und Realismus. An die Stelle des kritizistischen Bewußtseinsldealismus tritt für ihn ein Idealismus der Prinzipien, und damit ist der Subjektsvorrang in der theoretischen Grundlegung bereits gebrochen. Dem Idealismus der Prinzipien aber entspricht ein Realismus der Gegenstände. Hartmann geht also bereits daran, den subjektivistischen Bewußtseinsprimat des Kriti13*

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zismus auszuschalten. „Idealismus könnte hier (d. h. in der theoretischen Grundlegung) nichts anderes bedeuten als die Einordenbarkeit aller Objektbestimmungen in eine ideale, in eine wissenschaftliche Vernunft". Für die Ethik hingegen sei es wesentlich, „das Prinzip ins Subjekt hinein zu verlegen". (Später gibt Hartmann bekanntlich der phänomenologischen Ethik nach und setzt an die Stelle einer selbstgenugsamen Selbstprinzipiation die Bestimmung durch Seinsbestände idealer Art: durch Werte.) Das Grundverhältnis verschiebt sich weiterhin in der ästhetischen Hinsicht. Die Anklänge an die einschlägigen Marburger Lehrstücke sind unverkennbar. Auch für Hartmann ereignet sich in der ästhetischen Grundlegungsdimension eine Vereinigung theoretischer und praktischer Begründungsmomente. Das Entscheidende ist indessen, daß der Gedanke einer ursprünglichen Erzeugung des Objekts nun auf eine spezifische Sphäre eingeschränkt wird. Ein Grundfaktor der universalen Bewußtseinsprävalenz ist in seine Grenzen verwiesen, innerhalb deren er allerdings schlechterdings bestimmend bleibt. Im Ästhetischen, so lehrt Hartmann an dieser Stelle, fallen Bewußtseinsinhalt und Gegenstand zusammen. Das Objekt erweist sich, trotz seiner Gebundenheit an natürliche Dinghaftigkeit, als erzeugt. Zusammenfassend: Was Nicolai Hartmann in Systembildung und Idealismus erarbeitet, ist dreierlei: (i.) der Gedanke einer Mehrstufigkeit der Grundlegungsmomente, (2.) der Gedanke einer Kontinuität zwischen den Grundlegungssphären (auf Grund der Prinzipienabwandlung) und (3.) die Idee einer Abwandlung der intentionalen Grundkorrelation, d. h. des Verhältnisses von Subjektivität und Gegenständlichkeit. Hartmanns Überlegungen zum Problem der Prinzipiendifferenzierung (sei es in vertikaler, sei es in horizontaler Hinsicht) nehmen ausdrücklich Bezug auf den Cassirerschen Funktionsbegriff, aber der Gebrauch, den Hartmann vom Funktionsgedanken macht, ist durchaus originell. Dieser Gebrauch wäre nicht möglich, wenn Hartmann nicht das (bis zuletzt von ihm festgehaltene) Lehrstück von dem wechselseitigen Begründungscharakter der drei Methoden — der transzendentalen (oder analytischen), der deskriptiven (oder phänomenologischen) und der dialektischen — entwickelt hätte. Vor allem die Freilegung der dritten Methodendimension ist wesentlich. Sie ermöglicht ihm die Einsicht in den systematischen Wechselbezug der Prinzipien. Damit erst gelingt es ihm, zumindest einen guten Teil des Marburger Wissenschaftspositivismus hinter sich zu lassen. Die bloße Analyse erhält durch die Prinzipiensystematik eine spekulative Gegeninstanz. (Die Forderung einer solchen Systematik existiert selbstverständlich auch im Kulturidealismus. Eine entsprechende Ausarbeitung finden wir indessen nicht. Eine solche hat uns erst Hartmanns Lehre von den kategorialen Gesetzen gegeben.)

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Hartmann macht den Weg zur Ontologie frei, indem er zeigt, daß das gegenständliche Moment in der theoretischen Grundkorrelation gerade nicht einer Erzeugung korrespondiert. Dieser Nachweis gelingt ihm, weil es ihm möglidi wird, unter der Voraussetzung der Prinzipienabwandlung, die spezifische Bestimmtheit desjenigen Objekts, auf das sich die ganze Mühe und die ganze Anstrengung der Wissenschaften richtet, zu bestimmen. Hartmanns spätere Arbeit gilt denn auch dieser Aufgabe, das Prinzipiengefüge, das den Aufbau des Unabhängigen, des Seienden, ermöglicht, freizulegen. Dabei gibt es eine überraschende Übereinstimmung Hartmanns mit dem Spätidealismus: der Primat des Theoretischen besteht bei Hartmann (wenn auch mit verändertem Vorzeichen) fort. An die Stelle der Logik tritt die Ontologie. — Es ist übrigens mit Rücksicht auf die spätere Entwicklung der Subjektstheorie bemerkenswert, daß Hartmann in der Phase der Systembildungs-Schrift der „Psychologie des Denkens" noch einen gleidifundamentalen Rang einräumt wie der „Logik des Seins". Freilich bedeutet das nicht, daß Hartmann an dieser Stelle die Beziehung von Geltung und Vollzug, von Geltung und Faktizität (oder wie immer wir Heutigen dieses Systemverhältnis nennen würden) zulänglich erfaßt. Hartmann geht diesen Weg (den Weg zur Fundamentalontologie der konkreten Subjektivität) nicht weiter. Audi die Konzeption eines Gefüges letztrangiger Geltungsgrundlegungen läßt er späterhin fallen. Was immer er an Leistungsgrundlegungen in Ansatz bringt (auf dem Gebiete der Erkenntnis, des Ethischen und des Ästhetischen) hat angesichts der Seinsgrundlegung nur eine sekundäre, eine abgeschattete Bedeutung. Wenn er aber auch das Verhältnis von Geltungsbeständen einerseits und Subjektsfaktizität andererseits nicht in der Richtung der ursprünglichen Konzeption weiterbestimmt, so läßt doch auch ihn das Problem der konkreten Subjektivität nicht mehr los. Sein Beitrag zu dieser Problematik erwächst jedoch aus einem anderen Problembereich: aus der Erforschung der Grunddifferenzierung des Unabhängigen, aus seiner Lehre von der Schichtung des realen Seins. Auf diese Weise, vermittels einer hochdifferenzierten Regionalontologie, sucht Hartmann die Weltstellung des konkreten Subjekts zu bestimmen. Diese Bestimmung leistet freilich nicht alles, was spekulativ möglidi und gefordert ist: Der Verfassung der konkreten Subjektivität, ein Weltstück zu sein, kann die ontologische Konstitutionstheorie genügen, — die ursprüngliche Letztheit der konkreten Subjektivität, dies nämlidi, daß sie nidit nur Weltstück, sondern auch Welt korrelat ist (dem Sein nicht nur eingeordnet, sondern das Sein zugleich auch stiftend), vermag die bloß-objektivistische Ontologie Hartmanns nicht zu zeigen. In diesem Punkte ist eine fundamentale Subjektstheorie der Hartmannschen gewiß überlegen. Dabei darf jedoch eines nicht vergessen werden: Der Nachweis der ursprünglichen Fundamentalität ist nicht die einzige Aufgabe der Subjektstheorie, und gerade die Fundamentaltheorie des konkreten

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Subjekts verliert allen Boden unter den Füßen, wenn zuvor nicht die Weltstellung selbst (mit allen Momenten der Geschichtlichkeit, der Leiblichkeit und der Naturbezogenheit) prinzipiensystematisch bestimmt wurde. Es darf auch nicht vergessen werden, daß das Feld, auf dem eine Lokalisation des konkreten Subjekts möglich wird, allererst einmal freigelegt werden mußte. Diese Freilegung aber ist zu einem guten Teile das Werk Hartmanns1®. Die spekulativen Mängel und Einseitigkeiten seiner Lehre wiegen demgegenüber gering. Hartmann steht darin, daß er „jeden seinsmäßigen Bezug der Kategorien auf ein Subjekt abschneidet, gegen die ganze Geschichte der Philosophie"20. Der uneingeschränkte Anti-Idealismus des späteren Hartmann hat in der Tat etwas Monumentales.

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Vgl. hierzu M. Brelage, Die Schichtenlehre N. H.s, Studium Generale 9 (1956) 297—306 und H. Oberer, Über die Einheit der „Kategorialen Gesetze", KantStudien 57 (1966) 286—295. G. Martin, Aufbau der Ontologie, Blätter f. Deutsche Philos. 15 (1941/42) — (Gesammelte Abhandlungen, Bd. I, 1961, S. 184).

Zum Problem des Konkreten i. Aus gang von Nicolai

Hartmann

In der Fundamentalphilosophie die Frage nadi dem Konkreten aufzuwerfen mag befremdlich anmuten, denn alles Philosophieren, so scheint es doch, ist ein Nachdenken über Gründendes: über Ideen, Kategorien, Prinzipien, Möglichkeitsbedingungen, keinesfalls aber eine Beschäftigung mit Einzelnem, Bedingtem, Prinzipiiertem oder durch Ideen Normiertem. Allerdings, so mag man dem gegenüber wiederum zu bedenken geben, ist audi dies wohl mehr eine Auffassung überlieferter Schulphilosophie und nicht ein Standpunkt, auf dem die Philosophie bestehen müßte: es ist, so könnte man einwenden, die Denkweise vor allem eines „spekulativen" Philosophierens. Dort habe naturgemäß das Konkrete keinen Platz: in der Formalisierung, die sich der Analyse, der Konstruktion und Ableitung bediene, sei eben der Bruch mit der Welt der konkreten Dinge unabwendbar geworden. Die Geschichte der Philosophie lehre aber, daß neben diesem Typus weitabgewandten Spekulierens noch ein anderer möglich sei, ein Typ der Welt-, Sach- und Erfahrungsaufgeschlossenheit. Im Umkreis dieses anderen Philosophierens habe das Konkrete allerdings seinen natürlichen Ort. So stünden denn, hinsichtlich ihrer Einstellung zum Konkreten, die Denkungsarten der Sachhingegebenheit und der „rein-gedanklichen" Konstruktion einander als „Typen" unvereinbar gegenüber, und dem Herzen des Betrachters wäre es — unter theoretischem Aspekt wenigstens — freigestellt, der einen oder der anderen „Grundhaltung" zuzuneigen. Diese Ansidit ist geläufig, aber sie ist zu einfach, um wahr sein zu können. Freilich ist sie bequem, denn sie erspart eine Rückführung der geschichtlich hervorgetretenen Philosopheme und Standpunkte auf das, was sie als philosophiegeschichtliche Fakten möglich werden läßt, auf das Problem. Die Anordnung der philosophiehistorischen Ereignisse gehorcht eben einer eigenen Regel. Sie kann nur am Leitfaden der Entfaltung der Grundprobleme erfolgen. Auch das hier in Rede stehende „Faktum" kann nicht anders begriffen werden. Die Frage, wie sich Philosopheme zum Konkreten verhalten, ist nicht von der anderen abzulösen, wie das Problem des Konkreten als ein philosophisches möglich ist. Die zuvor angeführte Argumentation beruft sich nur auf die aller-

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Zum Problem des Konkreten

äußerlichste Erscheinungsform der philosophischen Theorien. Wenn das Konkrete (die Erfahrung, die „Sache", das Einzelne) schon die philosophischen Geister scheidet, dann doch wohl nicht in dieser Weise. Hinter der vermeintlich philosophiegeschichtlichen Einteilung spukt das Bild eines Nebeneinanders von Denk- und Denkertypen, das die Vorstellung zu seiner Voraussetzung hat, Philosophieren sei wesentlich eine Angelegenheit des Temperaments, der Persönlichkeit und der Entscheidung. Gewiß, im Bereich der philosophischen Wissenschaft kommt dem geschlossenen und in jeder Phase des Denkens neu gewagten Entwurf eine spezifische Bedeutung zu. Teilarbeit ist in der Philosophie in bestimmtem Sinne ausgeschlossen, jedes Philosophem weist sich durch seine systematische Bestimmtheit aus, jedes Philosophem ist, wie weit es auch immer determiniert sein mag, nur als ein Ganzes möglich. Setzung und Vollzug dieser Ganzheit sind gewiß Sache des einzelnen Denkers, denn Begründung muß an allen Stellen als im Hinblick auf das Totum vollzogen gedacht werden. So gewinnen die historischen Einzelgestalten in der Dimension der philosophischen Erkenntnis eine andere Selbständigkeit als im Progreß irgendeiner der Einzelwissenschaften1. Doch damit werden der Zusammenhang und die Einheit der Philosophie nicht aufgehoben. Auf unser gegenwärtiges Problem gewandt: eine philosophiegeschichtliche „Typologie", die sich an der „Einstellung" zum Konkreten orientieren sollte, müßte doch immer die Problemhinsicht selbst zu ihrem Bestimmungsgrunde nehmen, wenn sie als philosophiegesdiiditliche sich ausweisen wollte. Das bedeutet jedoch, daß die etwa in Frage stehenden Philosopheme unter dem Aspekt der Einheit des Problems zu beurteilen wären. Mögen Neigung, Temperament und Persönlichkeit im besonderen Falle motivieren was immer, mögen sie die „Anlässe" darbieten, die im Leben eines Philosophen seine Nachdenklichkeit auslösen — von theoretischem, und d. h. philosophischem Wert ist doch immer nur, in welcher Weise der Denker einen Faktor in den ursprünglichen Problemhinsichten bestimmt. Dem vermeintlichen Neben- und Nacheinander der „Einstellungen" liegen Lösungsversuche eines perennierenden Problems zugrunde. Die geduldige Arbeit, die diesem Problem gilt, zeitigt Resultate, die in ihrer theoretischen, und das meint: für alles Philosophieren verbindlichen Bedeutung von Neigungen und Einstellungen desjenigen, der sie erarbeitet, unabhängig sind, ja die weit und entscheidend über die anfänglichen Ansichten (und Neigungen) des Denkers hinausgehen können. Ein solches Grundproblem ist durch den Begriff des Konkreten gekennzeichnet. Wir wollen im folgenden versuchen, die Einheit dieses 1

Vgl. dazu H . Ridkert, Geschichte und System der Philosophie. Ardi. f. Geschichte d. Philos. 40, 1 9 3 1 . Daß audi die Einzelwissenschaften in dieser Hinsicht charakteristische Unterschiede zeigen, lassen wir hier außer Betracht.

Ausgang von Nicolai Hartmann

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Problems in den Grundlinien wenigstens zu skizzieren. Damit ist bereits angedeutet, daß sich das Problem als ein gegliedertes Gefüge darstellt, ein Gefüge freilich von besonderer Art, da es in einer bestimmten Hinsicht die Möglichkeit jeder Fügung mitbegründet. Doch diese Sonderart ist die Eigenart aller fundamentalphilosophischen Probleme. — Noch zwei Bemerkungen zu unserem Verfahren: (i.) Um eine systematische Basis zu haben, beziehen wir uns auf eine vergleichsweise differenzierte Prinzipientheorie, nämlich die Nicolai Hartmanns. — (2.) Diese Prinzipientheorie hat für uns den Vorzug, daß sie das fundamentalphilosophische Problem des Konkreten entscheidend gefördert hat. Bei Hartmann hat das Grundproblem des Konkreten seine letzte Fassung im Aufbau der realen Welt (1. Aufl., 1940) gefunden, wirksam ist es indessen in allen seinen Schriften. Seine erste und den Weg freimachende Gestalt erhielt es in dem frühen Aufsatz Systematische Methode (Logos III, 1912) 2 . — Die einschlägigen Hartmannschen Überlegungen stehen keineswegs unter der gleichen systematischen Endabsicht: einmal gelten sie der Aufdeckung des Gefüges philosophischer Methoden, dann betreffen sie die Einordnung der realen Erkenntnis in den Stufenbau der Welt und schließlich suchen sie das Konkrete als Fundamentalprinzip in das System der Seinsgegensätze einzugliedern. Hartmann erreichte in jeder dieser Problemrichtungen eine bemerkenswerte Differenzierung der Bestimmungen. Eine weitergehende, spekulative Auswertung ließ er aus allgemein-methodologischen Gründen, aber auch mit Rücksicht auf die materielle Grundannahme des Primats der Ontologie auf sich beruhen. Wenn wir dergestalt audi nicht alle systematischen Mittel dem Bereich seiner Philosophie entnehmen können, allzu weiter Umwege auf fremdem Boden bedarf es dennoch nicht. An bestimmten Stellen versuchen wir die spekulative Begründung durch die Aufnahme Hönigswaldscher Gedankengänge zu ergänzen und in Richtung auf die durchgängige Wechselbezogenheit aller letztbegründenden Korrelationen, insbesondere auf die Notwendigkeit der korrelationalen Struktur jeder Letztbegründung, zurückzuführen. Die wesentliche Verwandtschaft beider Philosopheme liegt darin, daß es hier und dort um die fundamentalphilosophische Bewältigung „materialer" Valenzen geht, ferner darin, daß beiden Denkern die Anknüpfung an ein wissenschaftstheoretisch orientiertes Philosophieren eine unaufgebbare Voraussetzung ihrer eigenen Konzeption ist. Beiden gemeinsam ist audi die Auffassung von der entscheidenden Funktion der konkreten Subjektivität, verbunden mit der Überzeugung, daß gleichwohl dieser der Geltungs-, bzw. (bei Hartmann) der Systemgedanke nicht aufgeopfert werden darf. Dennoch sind die Unterschiede ihrer Theorien nicht unerheblich. Sie werden auch in der Problemhinsicht, die uns beschäftigt, deutlich. Hier betreffen sie vor 2

Nachdruck: Kleinere Schriften, Bd. III, 1958.

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allem Struktur und Zusammenhang der Letztbegründung. Allerdings werden die inneren Differenzen zweier durchgegliederter Konzeptionen nicht so leicht offenbar, wie Schlagworte es vorzutäuschen suchen. Auch hier kann es sidi nicht darum handeln, eine „Entscheidung" für die eine oder die andere Philosophie zu treffen; für die kritische Anknüpfung und Auswertung ist vielmehr all das von Gewicht, was eine bestimmte Fragestellung zu fördern imstande ist.

2. Intra- und Extramundanität des Erkennens Unsere Explikation der Problemörter des Konkreten folgt in ihrer sachlichen Abfolge der Richtung von der Erfahrung zur Spekulation und von der Spekulation zur Erfahrung zurück, ein Weg, der, wie wir zu zeigen versuchen, ein Weg innerhalb der Fundamentalphilosophie ist. Prinzipien (Möglichkeitsbedingungen, Ideen) sind dem Ursprung und der Bestimmtheit nach das Erste. Für unser Wissen sind sie jedoch nicht das Erste, sondern das Letzte®. Dasjenige, von dem wir zuvor eine Kenntnis erlangen, ist das Konkrete. Der erste Orientierungsversuch des Wissens bleibt im endlichen Kreise unseres Daseins. Er hat es mit den Tatsachen unserer „Umwelt" und mit denen unseres individuellen Bewußtseins zu tun. Dieses Wissen ist in seinem Gehalt noch keineswegs theoretisch. Der Gegenstand kommt nur soweit in Betracht, wie er für midi als den einzelnen Wissenden eine daseinsrelative (sei es vitale, sei es „mythische") Bedeutung hat. Das heißt nicht, daß das vorwissenschaftliche Wissen jedes Zusammenhanges mit dem echten Wissen entbehrte4. Der intentionale Bezug dieses Wissens auf das Konkrete ist selbst gewiß mehr als nur eine konkrete Relation. Der Bezug ist schon als Wissen, als ein Haben von etwas (u. zw. von etwas Konkretem) bestimmt. Das Wissen gestaltet sich als Inhalt, aber ihm erscheint das Konkrete noch nicht in Objektivität. Das Konkrete erscheint dem Wissen nicht als Anderes, denn das einzelne Wissen verfügt hier noch nicht über Kriterien, von sich selbst abzusehen. Es ist Zentrum seiner Welt, und da es eine Vielheit von einzelnen Wissenden gibt, die sich wiederum nur in jeweiligem Zusammenschluß in ihrer Weltvorstellung einigen, weil ihnen der Maßstab eines universalen Weltdenkens fehlt, werden durch sie die konkreten Weltgegenstände nicht in derjenigen Bedeutung bestimmt, die diesen an sich selbst und unabhängig von der Funktion zukommt, die ihnen im jeweiligen Daseinsverständnis beigemessen wird. 3 4

Systematische Methode, S. 141 (Kl. Sdir. III, S. 39). Vgl. R. Hönigswald, Gleichzeitigkeit und Raum. S. 86 f., Ardi. f. Philos. 2 (1948) 67—95.

Intra- und Extramundanität des Erkennens

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Dies aber leistet die (positive) Wissenschaft. Die Spannung der Situation und die Beschränktheit des Sehfeldes5 werden dadurch überwunden, daß das jeweilige Wissen das Vorurteil einer zentralen und vielheitlich zentrierenden Position aufgibt und seiner wahren Weltstelle bewußt wird. Das jeweilige Wissen weiß sich auf dieser Stufe als Weltstück unter anderen Weltstücken, als einzelnes Bewußtsein unter anderen Erlebnismittelpunkten. Es weiß sich als Konkretes. Dies ist ihm jedoch nur möglich, wenn es seine Stelle in bezug auf das andere Gewußte bestimmt: sowohl auf das Gewußte, das ein Wissensfremdes ist, wie auf dasjenige, das als Gewußtes selbst ein Wissen ist. Der Horizont für das dezentralisierte Wissen, das ein Wissen um das Konkrete in seinem Ansichsein ist, ist nicht mehr die (jeweilige) Umwelt, sondern die schlechterdings einige Welt. Im Bedenken der Weltgegenstände als Weltgegenstände wird das Wissen zwar nicht überhaupt zum Wissen (zum Geist), aber es gewinnt Objektivität und damit verbürgbare Einheit über alle Jeweiligkeit hinaus. Das Wissen erlangt Verbindlichkeit für alle einzelnen Wissenden, denn der Inbegriff der konkreten Weltgegenstände ist für sie alle derselbe, so wie jeder einzelne Erlebnismittelpunkt zwar seine eigene Stelle, aber doch für alle Erlebnismittelpunkte dieselbe Stelle hat. — Wissen heißt jetzt nicht mehr, eine Sache aus der jeweiligen Position betrachten (wenn auch gewiß noch „von ihr aus"), sondern es heißt, sich auf einen Standpunkt stellen, der jedermanns Standpunkt nicht nur sein kann, sondern sein muß. Das bedeutet, genauer gesprochen, daß die einzelne Subjektivität nicht mehr durch ihre Jeweiligkeit den Gesichtspunkt der Beurteilung bestimmt. Die Hinsicht jeglicher konkreter Gliederung ist vielmehr das einige Ganze der Welt konkreter Gegenstände — der Inbegriff des (konkret) Ansichseienden. Er ist die Grundlage jeder positivwissenschaftlichen Gegenstandsbestimmung. In beiden Weisen also, im vorwissenschaftlichen wie im positivwissenschaftlichen Denken, fungiert das Konkrete als Gewußtes, wenn es auch in der zweiten Einstellung erst in seinem wahren Bestand und also wahrhaft als das Konkrete, das es an sich selbst ist, dem Wissen erscheint'. — Die Problemstelle des Konkreten in der Fundamentalphilosophie ist durch diese Überlegungen noch nicht bezeichnet. Aber die Stufen des Wissens müssen durchlaufen sein, wenn die Fragerichtung auf Letztbegründendes soll erreicht werden können, denn das Denken ist eines in allen Entfaltungshinsichten. Es gestaltet die Einstellung auf Konkretes zu echter Objektivität. So erreicht es im Bedenken eines Unabhängigen die Dimension der Theorie. Erst in dieser Dimension wird 5 8

Das Problem des geistigen Seins. 1 9 3 3 , 9. Kap. (S. 93 ff.). In der vorwissenschaftlichen Einstellung richtet sich das Denken gewiß schon auf Konkretes — worauf sonst? — , aber es bleibt als Wissen in seinem Geltungswert rücksichtlich universaler Gegenständlichkeit unbestimmt.

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Zum Problem des Konkreten

aber audi ein Bedenken der Fundamente möglich, denn sie haben wie das Konkrete ihren Bestand unabhängig vom jeweiligen Wissen. Die Art dieser Unabhängigkeit aber betrifft, wie sich erweisen wird, zugleich die der Bestimmtheit des Konkreten (oder Begründeten) sub specie der Fundamentalphilosophie. Allein, noch ist die Funktion des Konkreten im primären wissenschaftlichen Denken nicht voll bestimmt. Das Erkennen ist nicht nur eines, das sich die Welt als den Inbegriff möglicher Gegenstände gegenüberstellt, es hat selbst auch einen Ort in ebendieser Welt. Gewiß muß es in seinem theoretischen Leistungssinn Vorgängigkeit gegenüber jedem endlichen, konkreten und primär bestimmbaren Bestände erlangen, aber gerade sofern diese Vorgängigkeit dem Ganzen der Welt korrespondiert, muß sie Setzungsvalenz sein, genauer: ein Implikat, das jede Setzung einschließen muß, um Geltungsdifferenz zu erlangen. Dadurch gewinnt der Inhalt, der zunächst nichts anderes darstellt als den Zielpunkt der Akte des konkreten Bewußtseins, mögliche Objektivität. Wie immer man die Folge der Begründungsfaktoren des theoretischen Denkens anordnen mag — eine Aufgabe, die wir hier nicht bewältigen wollen —, der Erfahrungsboden (der „Kontext der Natur") und die konkrete Subjektivität müssen ihren Ort in diesem Begründungszusammenhang finden. Positive Theorie ist nur als differenzierte möglich, das primäre Bedenken der Natur schließt aber das Moment der Unabhängigkeit, das Bedenken des Geistes darüberhinaus dasjenige naturaler Stellenbestimmtheit ein. Entsprechendes gilt für alle Zwischeninstanzen. — Ferner: dasjenige, was sich in der Objektivität und zu ihr gestaltet, ist das Denken in seiner Konkretheit, es ist dasjenige, das im Progreß sich entfaltet und das im Aufgabenbezug über sich hinausstrebt. Beide Faktoren: Aktbezogenheit und Objektivität, Intra- und Extramundanität des Erkennens sind nicht unabhängig von einander zu denken. Dasjenige, was Objektivität gewinnt, ist der Inhalt. Er ist zwar eine intentionale Größe und kein schlichtes Weltding. Ihm eignet indessen gerade als Intention noch keine gesicherte und gegründete Vorgängigkeit, er ist ein Mittleres: als Leistungsgröße betrachtet ist er als Inhalt geltungsmäßig noch determinierbar, als (gegenständliche, reale) Weltgröße aber ist er über die schlechthinnige Individualisation hinausgehoben als identischer Zielpunkt einer Vielzahl möglicher Akte. — So bleibt Erkennen zugleich als Inhalt und zugleich als Akt bestimmt. Die Vorgängigkeit des Erkennens ist aufgegeben, sie wird gestaltet im Absehen-von. Vorwissenschaftliches Denken kommt über seine Konkretheit gleichsam nicht hinaus. Es bleibt, als Wissen freilich, ein gegenständlicher Bestand. Und dieses Nicht-darüber-hinaus-Kommen schließt zugleich aus, daß es als Intention überhaupt zum Konkreten gelangt, daß das Konkrete für es als Konkretes in seinem Ansichselbstsein erscheint. Dazu aber bedarf es, wie wir sahen, der Setzung eines Horizonts, der selbst

Positive Wissenschaft und Prinzipientheorie

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keine konkrete Größe mehr ist, der nicht nur als Uberendliches vermeint ist, sondern dessen Unendlichkeit begründet ist: es bedarf der Setzung von „Welt".

j. Positive Wissenschaft und

Prinzipientheorie

Ein anderes ist es nun, diesen Horizont νonwjzusetzen, ein anderes, die Voraussetzung selbst in den Blick zu bringen. Diese Aufgabe fällt einem sekundären theoretischen Denken, der Philosophie, zu. Diese ist der primären, der positiven Theorie nachgeordnet. Sie setzt ihrerseits bereits das voraus, was an Rücksichten auf das Konkrete (als Gegenstand und als Vollzug) in das primäre Denken eingegangen sein muß. Das Aufdecken der Voraussetzungen ist in seinem Wesen ein „Zurückfragen" hinter die primäre Gegenstandszuwendung wie hinter das primär Gegebene. Primäre Gegenstandszuwendung in geklärter Gestalt, d. h. eine Zuwendung, die das Gegebene so erschließt, wie es an sich selbst ist, ist positive Wissenschaft. Ferner aber können nur dann die Gründe des Gegebenen und Konkreten in ihrem Bestände erschlossen werden, wenn das Konkrete selbst in seiner endlichen Gegenständlichkeit so bestimmt worden ist, wie es an sich selbst ist. Das Denken der Prinzipientheorie bleibt in seinem Ansatz stets durch das Denken der positiven Theorie bedingt 7 . Diese Bedingtheit muß in ihrem ganzen Gewichte anerkannt werden. Sie gilt nicht nur für jene prinzipientheoretischen Fragen, die materialiter durch eine vorausgegangene einzelwissenschaffcliche Problementfaltung motiviert sind (sogenannte Grundlagenforschung). Sie betrifft das prinzipientheoretische Fragen in jeder, also auch in jeder „formalen" Hinsicht, denn stets muß sich das spezifisch philosophische Fragen vom positivwissenschaftlichen Fragen unterschieden wissen8, und zwar von einem konkret bestimmten Fragen, denn es soll seine Untersdhiedenheit demjenigen gegenüber kennen, von dem es notwendigerweise hat ausgehen müsssen. Sowohl die inhaltliche Explikation der Prinzipienerkenntnis wie auch die kritische Selbstaufklärung und Ausgrenzung des prinzipientheoretischen Verfahrens sind Resultate des philosophischen Denkens. Am Anfang steht die Einstellung auf Konkretes. Denken ist als Denken ursprünglich positiv gerichtet, und auch das Philosophieren nimmt in diesem Denken seinen Ausgang. Die philosophische Einstellung ist notwendig die spätere und als spätere ist sie die der früheren, der positiven Einstellung folgende9. Es ist ein und dasselbe Denken, das diesen Weg SystematisAe Methode, S. 132 (Kl. Sehr. III, S. 32). Vgl. R. Hönigswald, Grundfragen der Erkenntnistheorie. • Der Aufbau der realen Welt. 1940, Kap. 63 c (S. 585).

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1931, S. 17.

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Zum Problem des Konkreten

zurücklegen muß: den Weg vom Konkreten zu den Prinzipien. Dieser Weg ist mit Rücksicht auf das Denken wie auf das Gedachte notwendig: Die Gründe, zu denen zurückgefragt werden soll, sind Prinzipien von konkreten Gegenständen, und zwar hinsichtlich ihrer Unabhängigkeit wie hinsichtlich ihrer Erschlossenheit und Erschließbarkeit; das Denken aber tritt als ein selbst Konkretes zunächst Konkretem gegenüber und macht es zu seinem Gegenstand, indem es von der eigenen Konkretheit absieht. Wenn dergestalt prinzipientheoretisches Denken in der positiven Einstellung seinen Ausgang nehmen muß, so scheint Philosophie „in eine bemerkenswerte Konkurrenz" zur positiven Wissenschaft zu treten10. Diese Besorgnis ist in der Tat überall dort berechtigt, wo Philosophie in einer positiven oder quasi-positiven Einstellung steckenbleibt, dort also vor allem, wo sie sich keine Rechenschaft über ihre spezifische Gegenständlichkeit gibt. Der Weg der Prinzipientheorie indessen ist nicht nur durch seinen Anfang, er ist gleicherweise durch sein Ende bestimmt. Das gilt für alle Stufen und Phasen. Wenn die Prinzipientheorie auch an ihrem Anfang mit der positiven Wissenschaft in einem bestimmten Sinne die Einstellung auf Konkretes teilt 11 , so schließt diese Einstellung doch um ihrer methodologischen Bestimmtheit willen alle Konkurrenz aus. Die philosophische Bewältigung des Gegebenen hat die Gestalt der Deskription 12 . Diese Beschreibung stimmt allerdings in ihrer gegenständlichen Einstellung mit der positiven Theorie überein. Während sich nun aber die positive Erkenntnis in der Bestimmung gegenständlicher Bestände erschöpft, soll die philosophische Deskription den Weg vom Konkreten zu den Prinzipien vorbereiten. Die philosophische Beschreibung ist entsprechend durch ihre Vorläufigkeit charakterisiert13. Die philosophische Deskription ist auf die konkreten Gegenstände nicht um dieser selbst willen gerichtet, sondern um des Prinzipiellen willen, das in ihnen faßbar wird 14 . In irgendeiner Weise muß das Begründende im Begründeten erscheinen15, damit dieser Zugang möglich wird. Zu Beginn aber ist problematisch, welchem erscheinenden Moment prinzipielle Valenz zugesprochen werden kann. Eher scheint angegeben werden zu können, was als konkrete Valenz gelten muß: dasjenige, das in positiver Wissenschaft seine

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R. Hönigswald, Geschichte der Erkenntnistheorie. 1933 (Neudruck 1966), S. 132; vgl. Systematische Methode, S. 139 f. (Kl. Sehr. III, S. 38 f.). Systematische Methode, ebd. Systematische Methode, S. 131 ff. (Kl. Sehr. III, S. 31 ff.); Aufbau, Kap. 63 ε, f (S. 589 ff.). Aufbau, Kap. 63 e; Systematische Methode, S. 131 f. (Kl. Sehr. III, S. 31 f.). Aufbau, Kap. 63 b u. e. Systematische Methode, S. 138 (Kl. Sehr. III, S. 38).

Positive Wissenschaft und Prinzipientheorie

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Bestimmung erfährt 16 . Doch von dieser Gegenständlichkeit bleibt philosophische Deskription um ihrer Endabsicht willen unterschieden1'. Die Bestimmtheit des Grundes selbst ist am Anfang der philosophischen Untersuchung problematisch, und ebenso ist problematisch, in welcher Weise der Grund an und mit dem Konkreten erscheinen mag. Was dem forschenden Blick zunächst begegnet, ist eine Art Mixtum 18 ; es ist unausgemacht, was von bloß konkreter und was von prinzipieller Valenz ist. Was anfangs erscheint, und zwar gewiß an Konkretem erscheint, ist — „Phänomen", ein Bestand, dessen prinzipielle oder konkrete Dignität erst noch aufgeklärt werden muß19. Der Ausgang vom Konkreten ist unumgänglich. Dabei macht es keinen Unterschied, ob das Konkrete durch äußere oder durch innere Tatbestände repräsentiert wird, durch Befunde der positiven Wissenschaft oder durch überlieferte Meinungen. Nichts ist in diesem Felde der Prüfung entrückt, die Klarheit im Hinblick auf Begründendes und Begründetes sucht. Zwar überschreitet diese Untersuchung die primärwissenschaftliche Einstellung. Durch die — selbst noch nichts entscheidende — Phänomenologie20 indes ist Ausgang der Prinzipienwissenschaft im Bereich des Konkreten möglich. Sie sucht in der Folge, die Gründe rein und als solche selbst in den Blidk zu bekommen. Dazu gehört die Abwendung von den Gegenständen, eine Abwendung, deren erster Schritt die Neutralisation21 des Konkreten durch die Phänomenologie ist. — Es soll hier außer Betracht bleiben, ob der zweite und spätere Weg als „Verlängerung der natürlichen Einstellung" 22 oder als Reflexion ausgelegt werden muß. Bedeutsam ist an dieser Stelle die Unterscheidung von primärer und prinzipientheoretischer Gerichtetheit. Es ist der Prinzipientheorie aufgegeben, die Gründe zu suchen, die das Konkrete in seinem Bestände aufbauen. Wenn also die Prinzipien aufgedeckt werden, so immer als Möglichkeitsbedingungen für Konkrele

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Für den Anfang zum mindesten ist es tunlich, eine solche Selbstgenügsamkeit der positiven Theorie gegenüber der Prinzipientheorie anzunehmen und von komplexeren Fundierungsverhältnissen — etwa mit Rücksicht auf die spezifische Leistungsstruktur der Geisteswissenschaften — abzusehen. Für die methodische Folge ist eine solche — späterhin durchaus korrigible — Annahme sogar unerläßlich. Systematische Methode, S. 130 f. (Kl. Sehr. III, S. 30 f.). In ähnlicher, allerdings charakteristisch verschiedener Problemstellung: Systematische Methode, S. 135 f. (Kl. Sehr. III, S. 35). Eine verwandte Erörterung findet sich gleichfalls Systematische Methode, S. 135 f. (Kl. Sehr. III, S. 35). Auch dort geht es um die grundsätzliche Unterschiedenheit der Phänomenologie von der positiven Wissenschaft, freilich unter Erwägung spezifisch vorwissenschaftlicher Charaktere. Wesentlich und annehmbar scheint uns die neutrale Sinnbestimmtheit. Aufbau, S. 593 (Kap. 64 f); Systematische Methode, S. 135 (Kl. Sehr. III, S. 35). Vgl. auch R. Zocher, Philosophie in Begegnung mit Religion und Wissenschaft. 1955, S.71. Zur Grundlegung der Ontologie, 1935, Kap. 3 d, 4 a—d (S. 49 ff.).

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Zum Problem des Konkreten

tes. Alle strukturelle und modale Bestimmtheit des Konkreten hat ihren Grund in Prinzipien. Doch diese Prinzipiiertheit setzt voraus, daß das Konkrete schon als Konkretes determiniert ist. — Die Frage geht dahin, kraft welchen Prinzips das Konkrete überhaupt in seiner Stellenbestimmtheit als Konkretes begründet ist. Es ist das Problem, worin der Grund dafür zu suchen ist, daß das Konkrete Begründetes und Bedingtes und nicht vielmehr Begründendes und Bedingendes ist. Es geht mithin um ein Prinzip, das über die jeweilige konkrete Bestimmtheit hinaus die Konkretheit überhaupt des Konkreten zu begründen in der Lage ist. (Für die Stellenbestimmtheit des Prinzips gilt mutatis mutandis dasselbe, auch es muß in seinem Prinzip-Sein, und das bedeutet zugleich: in seiner Nicht-Konkretheit begründet sein.) 4. Das Prinzip der Prinzipiation Damit ist eine Hinsicht in den Blick gerückt, die eine neue Begründungsebene darstellt: Das Prinzip ist nicht nur Grund für die Bestimmtheit des Konkreten, es ist ein als Prinzip Begründetes23. (Von der Funktion des Konkreten, die dieser Hinsicht entspricht, wird gleich noch die Rede sein.) N u n ist jener Grund, der das Prinzipsein des Prinzips begründet, gewiß selbst Prinzip, und wenn ein Inbegriff der Prinzipien angenommen werden soll, dann schließt er also das Prinzip des Prinzips noch mit ein. Das bedeutet einmal, daß zum mindesten an dieser Stelle im Bereich der Prinzipien Selbstbegründung angenommen werden muß, und zum anderen, daß es im Bereich der Prinzipien selbst den Abstand von Prinzip und Prinzipiatum gibt24. Wenn wir aber bedenken, was denn das Prinzipsein des Prinzips ausmacht, so ist es der Bezug des Prinzips auf das Konkretum, sein Grund-Sein für das Konkrete 25 , kantisch geredet: die Anwendung. Daraus ergibt sidi etwas Entscheidendes für die Bedeutung des Konkreten: Wie das Konkrete seine Begründetheit durch das Prinzip erfährt, so hat das Prinzip sein Prinzipsein nur aus dem Bezug auf das Konkrete. Die Begründung des Prinzips ist also nicht in einer übergelagerten Prinzipienschicht zu suchen, bildlich gesprochen also (vom Konkreten aus gesehen) nicht „über" der Ebene der Prinzipien, sondern vielmehr in der Richtung nach „unten", im Rückbezug des Prinzips auf das Konkrete 26 . Damit gewinnen Bedingtheit und Begründetheit Stellen im Prinzipiengefüge. Das Prinzip wird gleichsam selbst als „Konkretum" gedacht, allerdings als ein Konkretes von besonderer Art: einmal ist es ein „von unten her" Begründetes und zum anderen wird es 23 24 25 26

Systematische Methode, S. 126 (Kl. Sehr. III, S. 26 f.). Aufbau, Kap. 24 e (S. 238 ff.). Aufhau, Kap. 43 a—c; Systematische Methode, S. 142 (Kl. Sehr. III, S. 41). Vgl. audi R. Zocher, Tatwelt und Erfahrungswissen. 1948, S. 10.

Das Prinzip der Prinzipiation

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gewiß in dieser Begründetheit nicht zu einem Konkretum von endlicher Struktur". Immerhin gewinnt das Konkrete Begründungsfunktion für das Prinzip, doch in dieser Begründungsfunktion, die eine Begründung „hinauf" ist, behält es seine Valenz als Begründetes, als Konkretes also. Und nur als Konkretes im vollen Sinne, also als Endliches, vermag das Prinzipiat in dieser Hinsicht als Grund des Prinzips zu fungieren. — Redit besehen ist es also auch hier keine starre, irrelationale Größe, die die Begründung einerseits für die ursprüngliche Stellenbestimmtheit des Prinzips und andererseits für die des Konkreten liefert — es ist ein Begründungsgefüge: Die Wechselbeziehung selbst von Prinzip und Konkretum, eine Korrelation, die Gerichtetheit und demgemäß Abstand und Unterschiedenheit ihrer Relate einschließt28. Aus dem Umstand, daß das Konkrete hier in den Blickwinkel der Analyse tritt, könnte von neuem auf einen Konflikt mit der positiven Wissenschaft geschlossen werden. Und in der Tat ist es der mögliche Gegenstand der positiven Theorie, von dem in der analytischen Betrachtung die Rede ist. Es ist die Welt der Erfahrung, deren Grundlagen Problem werden. — Während der Gegenstand der phänomenologischen Deskription das Konkrete nur einschließt, jedoch die Lokalisation seiner Momente im Begründungsgefüge noch nicht sichtbar werden läßt, steht hier der endliche Gegenstand der Erfahrungswissenschaft im Blick, freilich, der bestimmten Formalität der korrespondierenden Bedingungen gemäß, als Erfahrungsgegenstand überhaupt. — Dennoch bleiben die Kompetenzen der positiven Theorie unangetastet: Wenn es für die Phänomenologie noch eine Uberschneidung zwar nicht in den Leistungsabsichten, wohl aber im Hinblick auf das materialiter Thematisierte geben kann, so sind in der analytischen Erörterung des Grundlegungsgefüges die Grenzen bereits gezogen. Es ist, wie gesagt, dasselbe Konkrete, das in Erfahrung und Prinzipienanalyse thematisch wird, dasselbe — und doch in grundverschiedener Funktion. Die Erfahrung, genauer gesprochen: die positive Theorie, hat es immer mit Einzelgegenständen zu tun, deren Bezogenheit auf andere Einzelgegenstände allenthalben Problem ist. Von welcher besonderen Art diese Einzelgegenstände auch immer sein mögen, und welche spezifischen Bedingungen audi ihre positive Betrachtung mag erfüllen müssen, immer geht es um innerweltliche Bezüge, niemals um die universale Valenz der untersuchten Bestände29. — Die Erfahrung ist kein Gegenstand der Erfahrung, sondern einzig und allein ein solcher der Analyse. Dieses irreversible Verhältnis bezeichnet zugleich die örter für Erfahrung und Analyse. Dasselbe gilt für „das" Konkrete, für „das" Gegebene usf. Die fundamentalphilosophische Be27 28 29

14

Vgl. Systematische Methode, S. 146 (Kl. Sehr. III, S. 45). Systematische Methode, S. 126 (Kl. Sdir. III, S. 26 f.). Vgl. V f . , Philosophie der Dichtung. 1965, § 3. Wolandt, Idealismus

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Zum Problem des Konkreten

Stimmung der Erfahrungsvalenzen schließt gerade eine Anerkennung dieses Sachverhaltes ein. Sie und nur sie kann aus Gründen verständlich machen, warum konkrete Tatbestände „unableitbar", warum sie allein positivwissenschaftlich erschließbar sind30. Die Begründung von unten her, die, wie wir sahen, keine Umkehr der Begründungsrichtung einschließt, sondern vielmehr ein Moment der Gerichtetheit des Prinzipiierens ist, macht zugleich die fundamentale Valenz des Konkreten begreiflich. Das Prinzip der Prinzipiation, als Prinzip des Prinzips wie als Prinzip des Konkreten, ermöglicht beider Abstand und Bezogenheit, ohne Prinzipienverdoppelung oder die Fährnisse eines infiniten Regresses mit sich zu bringen. Das Prinzipienprinzip (ein sogenanntes „kategoriales Gesetz"31) hat seinen Ort nicht in einer neuen Prinzipienscliidit, die den aussichtslosen Versuch machen müßte, Letztheit zu überbieten, sondern sein Ort ist die Relationalität der Prinzipienfunktion selbst. Die Begründungsfunktion hat die Gestalt der Fundamentalgegensätze. In der oppositionalen Struktur bekundet sich die Bestimmtheit als Bezogenheit. Bezogenheit aber ist wiederum nicht denkbar ohne Unterschiedenheit. Fundamentale Bezogenheit und fundamentale Unterschiedenheit fordern einander, und erst im Zusammen beider prägt sich Bestimmtheit zur Gliederung aus.

j. Die Fundamentalfunktion

des

Konkreten

Wenn man die fundamentale Valenz des Konkreten erörtert, liegt es nahe, sich darauf zu beschränken, die Konsequenzen zu erwägen, die in dieser Problematik aus der Hartmannschen Prinzipientheorie erwachsen. Allein der Charakter der genannten Kategoriologie drängt nicht allenthalben zu systematischer Geschlossenheit. Insbesondere im Hinblick auf das Konkrete sind die Systemlinien nicht ohne weiteres überschaubar. Das Motiv ist zwar an vielen Stellen wirksam, und zwar ausdrücklich sowohl wie implizit; auch mangelt es den verschiedenen Problemfeldern nicht durchaus an verbindenden Bezügen, dergestalt, daß die Verflochtenheit der Fragehinsichten von Prinzipienerkenntnis (Systematische Methode), Fundamentalgegensätzen und kategorialen Gesetzen vielfach nachweisbar ist; gleichwohl entspricht es der programmatischen Bescheidenheit Hartmanns32, daß vieles in der Schwebe bleibt. Vorläufigkeit ist in bestimmtem Sinne überall postuliert, um die Gefahren 30 31

32

Vgl. R. Hönigswald, Naturphilosophie. S. 66, Jahrbücher der Philos. ι (1913). Aufbau, Kap. 42 u. 43 (S. 4 1 2 ff.); Kategoriale Gesetze, in: Philos. Anzeiger 1, 2. Halbband (1925/26), Abschnitte 2 u. 3 (S. 2 1 1 ff.). Vgl. 2. Β. N . Hartmanns Selbstdarstellung in: Deutsche systematische Philosophie nach ihren Gestaltern, hrsg. v. H. Schwarz, 1 9 3 1 , S. 281 ff. (Kl. Sehr. I, S. 1 ff.).

Die Fundamentalfunktion des Konkreten

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der „Systemkonstruktion" zu meiden. Demzufolge sind auch die unterschiedenen Fragekomplexe in weitgehender Isolation gegeneinander abgehandelt, ein Umstand, der zugleich die inhaltliche Differenzierung der systematischen und problemgeschichtlichen Motive begünstigt und die Zusammenschau erschwert. Das offenbart sich vor allem dort, wo materiale Valenzen eine quasipositive Phänomennähe zu gebieten scheinen, nämlich in der fundamentaltheoretischen Behandlung des Schichtungsgedankens. Die — gesetzlich geregelte — Einteilung eines vorgegebenen Inbegriffs, der Sphäre des Realen, steht im Vordergrund. Diese Gliederung ordnet sich zwar der Hinsicht kategorialer Gesetzlichkeit ein33, doch ihr Anschluß an das Gefüge der fundamentalen Wechselbeziehungen ist im Hinblick auf ihre spekulative Notwendigkeit kaum zu durchschauen. An dieser Stelle gefährdet die Vorläufigkeit der theoretischen Fassung, da sie nicht rein immanent-prinzipienwissenschaftlicher Natur ist, die systematische Bestimmtheit der Aufstellungen. Der Grund hierfür ist wohl anzugeben: Während sonst allenthalben (in der Prinzipienerkenntnis, in den Fundamentalgegensätzen, in der Begründungsstruktur selbst) mit funktionalen und demgemäß korrelationalen Beständen gerechnet und das Bloß-Gegenständliche vom Gedanken der Grundlegung überall abgewehrt wird, ist hier das Zu-Bestimmende einer dogmatischen Erstarrung preisgegeben. Der zu gliedernde Inbegriff („Sein", „reale Sphäre") wird als ein schlechterdings Beziehungsvorgängiges bestimmt. Demgemäß wird er als eine Größe von nichtkorrelathafter Art gedacht — eine Bestimmung, die nur endlichen und gegenständlichen Beständen zukommen darf. (Den sekundären Sphären eignet keine grundkorrelative Valenz.) — Dergestalt kann auch die Funktion des Konkreten im Hinblick auf die materiale Differenzierung des Seienden nicht in ihrer Notwendigkeit einsichtig werden. — Vorgearbeitet ist einer solchen Einsicht durch Hartmanns Kategorienlehre gleichwohl in weitestem Maße. — Wir fassen uns mit Rücksicht auf die fundamentalen regionaltheoretischen Konsequenzen kurz und suchen die vorausliegenden Probleme noch einmal zu überschauen: Das Konkrete bot zunächst die Basis für Prinzipienerkenntnis überhaupt, es wurde uns sodann faßbar in seiner spezifischen Prinzipienvalenz für die Begründungsfunktion selbst, durch diese Valenz ferner auch in seiner Stellenbestimmtheit im Gefüge der Grundkorrelationen; dieses System schließlich barg in sich nicht allein das Moment der Wechselbezogenheit, sondern audi das der Unterschiedenheit. Hier ist der nächste Schritt zu tun. — Gegliedertheit, Abstandsbestimmtheit fordert als Korrelat Selbstbezüglichkeit, Reflexivität, — Bestimmtheit fordert Gewußtheit34. Der 33 34

14»

Aufbau, Kap. 42 c (S. 4 1 6 ff.). Dabei bezeichnet das „Gefordert-Sein" stets den Fortgang in der Dimension fun-

212

Zum Problem des Konkreten

Inbegriff eines möglichen Bestimmten, Artikulierten, Strukturierten — wie immer die Wendungen für die Valenz vorgängig-formaler Begründetheit lauten mögen — will als „Unabhängiges" charakterisiert sein, als ein Korrelat mithin, das seinem Gegenglied nicht nur einen Platz innerhalb seiner selbst (als sogenannte sekundäre Sphäre o. ä.) einräumt, sondern dessen Bestimmtheit sich selbst in einem vorgängigen Wechselbezug gegründet weiß. Nur auf diese Weise ist die Subjektivität analytisch einzuführen, und zwar nicht nur als „innerweltliche", sondern als echtes, der Bestimmtheit selbst korrespondierendes Grundkorrelat. Damit wird eine Unterschiedenheit möglich und zugleich notwendig, die den Gedanken der Beziehung selbst in eine charakteristische fundamentale Opposition bringt. Die Abstandsbestimmtheit der Beziehung, in der Bestimmtheit sich gestaltet, findet in der Verknüpfung ihr Gegenglied. Auch die Synthesis ist Prinzip. Gemäß der Wechselbedingtheit alles Prinzipienhaften wird hier zugleich mit Bezogenheit und Andersheit die Begründungsfunktion wirksam, damit auch die Fundamentalfunktion des Konkreten. Die reine Synthesis hat im Bestimmten (im Gegenstand überhaupt) ihr Oppositum, im Vollzuge hat sie ihr Begründetes. Die Zusammengenommenheit der Gegenstandsmomente im Wissen findet in der Präsenz ihre konkrete Entsprechung. Der Abstandsbestimmtheit der Relate aber korrespondiert auf dieser Stufe die distrahierende Ordnungsstruktur der Natur. — Gewiß sind auf diese Weise nicht alle prinzipientheoretischen Schwierigkeiten, die die systematische Bestimmung der naturalen Ordnungsgefüge birgt, bewältigt, doch man bedenke, daß diese Valenzen, in ihrem Charakter als Möglichkeitsbedingungen, einer positiven Betrachtungsart auf jeden Fall unergründbar bleiben müssen. Zu leicht erliegt an dieser Stelle die Analyse der Versuchung, sich an das Greifbare und Dingliche zu halten. Gerade hier erweist es sich, daß das Konkrete kein ein für allemal gegebener und verfügbarer Bestand sein kann, daß es vielmehr eine, allerdings spezifisch bestimmte, Begründungsfunktion darstellt. Die Wechselbestimmtheit der Prinzipien meint weder, daß Beliebiges spekulativ bestimmt werden, noch bedeutet sie, daß alles mit allem „zusammenfallen" könnte. So gehört im Hinblick auf die materiale Gliederung der Welt die „Begründung von unten her" zu den Möglichkeitsbedingungen der Regionalisation. Das erste Andere der Synthesis ist auf der damentalsystematischer Wechselbezüglidikeit, nicht etwa ein geheimnisvolles „Entstehen" des Einen aus dem Anderen. (Hier kann es sich überhaupt nicht um Dinge handeln, die als gegenständliche Bestände zu entstehen vermögen. Vgl. audi R . H ö nigswald, Philosophie des Altertums. i . A u f l . 1 9 1 7 u. 2. unv. Aufl. 1924, S. 261 f.). Vielmehr erfordert die Freilegung von Valenzen, in denen Bestimmtheit sich ausprägt, die Angabe aller definierenden Bezüge. (Vgl. Aufbau, Kap. 24 f). Die Folge der einander bedingenden Momente charakterisiert zugleich die Entwicklung der Analyse.

Die Fundamentalfunktion des Konkreten

213

Stufe des Begründeten die distrakte Beziehung, diese ist aber in doppelter Weise Bedingung für die Synthese: als das (erste) „Gegebene" in der Funktion der Andersheit, als „Träger" im Begründungsbestand der Synthesis selbst. Die Trägerfunktion bedarf allerdings vielfältiger Vermittlung. Die Möglichkeit der Stufenfolge soll hier außer Betracht bleiben35. Uns beschäftigt nur die grundsätzliche Funktion des Konkreten. (Im Hinblick auf das zweite Moment hat sie Nicolai Hartmann im „Gesetz der Stärke" 36 gefaßt, die Rücksicht auf das erste findet sich, freilich nicht radikal formuliert, in seiner Erkenntnisbegründung 3 '.) In keiner Hinsicht, das trifft auch für den Regionalaspekt zu, ist das Konkrete in seiner universalen Valenz ein starrer Bestand, ein Inbegriff von Gebilden, der einem anderen der Prinzipien gegenüberzutreten hätte. Stets handelt es sich um eine grundfunktionale Größe. So tritt es auch, wo es um den Ursprung des Denkens und der Subjektivität geht, nicht von außen hinzu, sondern es hat als Funktion der Gegebenheit und als Funktion der Getragenheit teil an der Begründung des Denkens sowohl wie an der der Gegenständlichkeit. Hier kann denn auch die prinzipielle Verfassung, in der der Ansatz der philosophischen Analyse sich findet, eine im systematischen Sinne abschließende Klärung 38 finden.

35

38 37

38

Vgl. Aufbau, 10. Kap., 50.—61. Kap. (S. 188 ff., 472 ff.); Neue Wege der Ontologie. In: Systematische Philosophie, hrsg. v. N . Hartmann, 1942, Abschnitt V , S. 23 i f f . (3. Aufl. 1949, S. 3J ff.), Abschnitte V I I I , I X , S. 255 ff. (S. 59 ff.); E. Husserl, Ideen 2u einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 2. Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution (Husserliana I V , 1952); R. Hönigswald, Philosophie und Sprache. Basel 1937, 4. Kap. (S. 37 ff.). Aufbau, Kap. 55 d, 56 a (S. 519 f., 529 f.). Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis. 2. erg. Aufl. 1925, Kap. 50 a—54 ε, 57» 7 ° g (S. 367 ff., 420 ff., 528 f.). Diese steht nicht im Gegensatz zum Gedanken des „offenen Systems". Abgeschlossenheit bezeichnet den Modus prinzipienwissenschaftlicher Einsichten überhaupt unterschieden von dem positivwissensdiaftlicher Befunde. Dennoch kann es natürlich für das einzelne Philosophem nur „jeweilige" Abgeschlossenheit geben. Vgl. H.-G. Gadamer, Zur Systemidee in der Philosophie, bes. S. 70 ff., in: Festschr. f . Paul Natorp, 1924.

D. Fragen der Ästhetik und Kunstphilosophie

Problemlage ι. Ästhetik,

Ontologie,

Ideenlehre

Mandie Philosophen haben der Ästhetik eine abschließende Funktion innerhalb der philosophischen Systematik zugedacht. Gerade bei den sogenannten Logizisten, die die Erkenntnislehre an den Anfang des Systems stellten, findet sich diese Konzeption. Die Philosophie des Schönen und der Kunst als Abschluß der Philosophie scheint ein schöner Abschluß zu sein. Indes, der Abschluß des philosophischen Systems muß, wenn er überhaupt möglich ist, nicht schön, sondern wahr sein, ganz abgesehen davon, daß die Theorie des Schönen weder schön sein kann noch schön sein will. Von der Theorie ist so wenig Schönheit zu erwarten wie von der Dichtung Wahrheit. — Andererseits könnte der Anfang des Systems eine ebensogute Stelle sein wie das Ende. Was allem Übrigen vorausgeht, könnte audi einen sachlichen Vorrang besitzen. In der Tat entspricht einem „ästhetischen" Anfang (einem Systemanfang mit der Ästhetik und der Kunstphilosophie) zumeist eine Verschmelzung von Ästhetik und Philosophie: Das Schöne als Grundthema erweist sich dort zugleich als das Wesen, von dem alles andere abhängt. Beide Betrachtungsweisen, das Schöne (oder die Kunst) als Abschluß und das Schöne (oder die Kunst) als Anfang, entsprechen aber kaum noch dem Stand der philosophischen Besinnung. Die eine Betrachtungsweise setzt die Vollendbarkeit der Philosophie in der Gestalt einer Philosophie der Kultur voraus1, die andere ist entweder naiv oder raffiniert: naiv, wenn sie das theoretische Begründungsbedürfnis übersieht (das füglich nur in einer Erkenntnis Wissenschaft bewältigt werden kann), raffiniert, wenn sie das Begründungsbedürfnis zu verschleiern oder zu umgehen versucht. Ob Kunst oder Mythos — es ist stets dasselbe: als Ersatz für Wissenschaft und für Philosophie sind sie unbrauchbar. Der Anfang der Philosophie kann die Ästhetik nicht sein. Ein wohlbestimmtes Stück der Philosophie ist sie gleichwohl und seit langem ist sie als ein solches behandelt worden. Wenn die Philosophie ein Recht hat, nach dem Wesen der Kunst und nach dem Wesen des Schönen zu 1

Es madit kaum einen Unterschied, wenn die Kulturphilosophie der Religion noch einen Notsitz hinter der Kunst zimmert, denn die systematische Vollendungsfunktion wird auf jenem Boden schwerlich der Religion zugedacht.

218

Problemlage

fragen, dann kann diese Problematik f ü r sie keine zufällige und keine nebensächliche Angelegenheit sein, denn die Philosophie behandelt keines ihrer Problemgebiete nur beiläufigerweise. Ob sie die Frage nach dem Wesen des Schönen und der Kunst stellt, ist deshalb nicht dem Belieben des einzelnen Denkers überlassen, die Frage macht vielmehr ein wohlbestimmtes Stück ihrer Grundproblematik selbst aus. Diese Grundproblematik aber ist charakterisiert durch die Fragen nach dem Grunde des Seienden (d. h. nach dem Inbegriff der Seinsprinzipien oder Kategorien) und nach dem Grunde des Denkens (nach dem Inbegriff der Denkprinzipien oder Ideen). Den einen Grundlegungssachverhalt erforscht die Ontologie, den anderen die Ideenlehre, von der die Erkenntnistheorie nur eine Disziplin ist. Was hat das Wesen des Schönen und der Kunst mit dem Grunde des Seienden und mit dem Grunde des Denkens zu tun? Ist das Seiende in seiner Seiendheit nicht ein anderes als das Schöne, und ist die Kunst in ihrem Innersten dem Denken nicht geradezu fremd? Doch dem ist entgegenzuhalten, daß Schönes, um einen Bestand zu haben, selbst ein Seiendes sein muß, und daß das Kunstwerk dem künstlerischen Gedanken seines Schöpfers entspringt. Rückt aber das Schöne in den Horizont des Seins und das Werk in den Machtbereich des Gedankens, dann werden Ontologie und Ideenlehre zuständig. Ergibt sich, daß das Schöne eine Art des Seienden und die Produktion eine Form des Denkens ist, dann können die Probleme der Ästhetik nicht abgelöst von der philosophischen Fundamentallehre und ihren beiden Grunddisziplinen abgehandelt werden. Die Theorie vom Wesen des Schönen ist nur im Zusammenhang einer umfassenden Grundlegungstheorie möglich. Eine isolierte Ästhetik bliebe grundlos. Andererseits bliebe aber auch die philosophische Grundlegungstheorie ohne Ästhetik unvollständig. Keine Ästhetik ohne Philosophie (im ganzen Umfange ihrer Fundamentalsystematik) und keine Philosophie ohne Ästhetik.

2. Denken und Sein Ich ging von der Voraussetzung aus, daß die philosophische Fundamentalproblematik die Fragen nach den Prinzipien des Seienden und nach den Prinzipien des Denkens umfaßt. Die Probleme der Ästhetik müssen ein Teil dieser Fragestellungen sein, wenn das Schöne eine Art des Seienden und die künstlerische Produktion eine Form des Denkens ist. Dazu bedarf es noch einiger vorbereitender Klärungen: Der Streit zwischen Idealismus und Realismus (wenigstens der moderne) geht darum, ob dem Denken oder dem Sein der Vorrang gebühre. „Vorrang" aber meint prinzipientheoretisch: ob die Prinzipien des Denkens in denen des Seins, oder ob die Seinsprinzipien in den Denkprinzipien, in den

Hinnahme und Entwurf

219

Ideen, ihren Ursprung haben. Beide Begründungsauffassungen sind „monistisch", sie wollen die Ursprünglichkeit nur einer Grundlegungshinsicht gelten lassen. Demgegenüber darf mit gutem Recht eine Wechselbezüglichkeit beider Fundierungssphären behauptet werden. (Der volle Nachweis für das Recht des Korrelativismus kann allerdings nicht an dieser Stelle erbracht werden.) Jede bedarf zu ihrer Bestimmtheit der anderen. Natürlich kann das Seiende auch dann sein, wenn es nidht gedacht wird. Aber diese seine Unabhängigkeit wird ihm gerade zugedacht. Die Bestimmtheit des Seienden bliebe dunkel ohne das Denken. Was wäre seine Bestimmtheit, wenn es nicht eine Bestimmtheit für das Denken wäre? N u r für das Denken ist Seiendes bestimmt, audi wenn es nicht durch das Denken bestimmt ist. Das Denken aber verlöre mit dem Seienden seinen Inhalt. „Reines", d.h. ungerichtetes Denken wäre inhaltslos. Das gilt audi dort, w o das Denken sich vom Seienden ab- und sich selbst zuwendet. In der Abwendung ist die Hinwendung bereits vorausgesetzt. Der Zusammenhang von Hinwendung und Abwendung (zum Sichselbstdenken des Denkens) ist dabei nicht ein Problem der Reihenfolge, sondern eines der Bestimmtheit. Denkt das Denken sich selbst, dann denkt es sich als unterschieden von Anderem, das es nicht selbst ist. Denkt es aber Anderes, dann denkt es dieses Andere als ein von ihm selbst Unterschiedenes. Grundlegend und vorausgesetzt ist immer die gemeinsame Ordnung, der alles Bestimmte und alles Seiende angehört. Denken ist ein Seiendes von besonderer Art. Es ist dasjenige Seiende, das für sich selbst ein Seiendes ist und dem ebendeshalb, weil es sich selbst begegnet, auch Anderes zu begegnen vermag.

j. Hinnahme und Entwurf Damit ist jedoch nicht gesagt, daß das Denken in allen seinen Formen hinnehmend wäre. Es ist nur eine Form des Denkens, in der das Seiende so erscheint, wie es gerade unabhängig von diesem Denken (und vom Denkenden, vom Subjekt) bestimmt ist. Diese Hinnahme (die in sich keineswegs reine Rezeptivität ist) ist nur eine der ursprünglichen Formen des Denkens, eine andere ist die der ursprünglichen Aktivität, die der ursprünglichen Selbstbestimmung des Subjekts. Hier ist die Hinsicht, in der das Subjekt sidi selbst entwirft, in der das Denken sich auch in der Möglidikeit und zu der Möglichkeit des hinnehmenden (des theoretischen) Denkens entwirft. Das theoretische Subjekt ist nicht einfach da, sondern es verwirklicht sich selbst auf dem Grunde eines vorlaufenden Entwurfs seiner eigenen Bestimmung. Das Subjekt entwirft sich in dieser ursprünglichen Möglichkeit und es entwirft sich in anderen ursprünglichen Möglichkeiten. Es entwirft sich in der ganzen Weite oder Enge seiner konkreten geistigen Existenz, und nicht nur in der Bestimmtheit

220

Problemlage

seiner geistigen Existenz, sondern auch in seinem konkreten Bestände schlechthin, in seiner vollen Faktizität. Wenn dem Wollen stets ein Vorstellen und dem Handeln ein Entwurf zugrunde liegt, so bedeutet dies allerdings keineswegs, daß die Subjektivität in ihrer Faktizität ausschließlich durch sich selbst bestimmt wäre. Nicht nur daß die Selbstdetermination des konkreten Subjekts von Fall zu Fall auf denkfremde Determinanten stieße, die Selbstdetermination ist zu einem wesentlichen, nicht wegzudenkenden Teile Determination eines Anderen des Denkens: der subjektiven Leiblichkeit und der subjektiven Umwelt. Das Fürsich vollzieht seine Konkretion an einem Ansich, das Selbst verwirklicht sich im Nicht-Selbst. Doch das Andere, das Ansich, das Nicht-Selbst, auf das sich das Nicht-Andere, das Fürsich, das Selbst (das Subjekt) bezieht, kommt damit in einen spezifischen Subjektsbezug: es ist die Menschen weit, die Welt der Güter und Übel. Das reine Ansich ist nun ein Ansich im Bezug auf das Fürsich: das Unabhängige als Gegenstand des Entwurfs, der der Selbstverwirklichung und Selbstdurchsetzung des Denkenden im Seienden zugrunde liegt.

4. Das Problem des Ästhetischen Der Schritt von der Hinnahme zum Entwurf entspricht dem Verhältnis der ursprünglichen Sphären des theoretischen und des praktischen Denkens. Damit scheinen die Grundmöglichkeiten des Denkens auch schon ausgemessen zu sein. Und doch wird noch eine weitere Sphäre zum Problem, die Sphäre, in der Subjekte Seiendes weder als pures Ansich noch als Gut oder Übel, sondern eben als Schönes erleben und in der sich das Denken weder zu Hinnahme noch zu Entwurf, sondern eben zur Konzeption und zur Würdigung des Schönen bestimmt. Die philosophische Frage, die hier zu stellen ist, ist diese: Worin hat dieses Denken seinen Grund? Welches sind die Prinzipien des ästhetischen Denkens? Und: Worin hat das ästhetisch differente Seiende (das Schöne und das Häßliche) seinen Grund? Welches sind die Prinzipien des Schönen? Wenn die ästhetische Sphäre einen eigenen Bestand gegenüber den anderen Sphären des Denkens und des Seienden behaupten soll, dann ist es unmöglich, sie der einen oder der anderen Form unterzuordnen, dann muß ihre Grundbestimmung ein im Ernste Neues und ein Anderes sein, als es in den Prinzipieninhalten des Theoretischen und des Praktischen gefunden werden kann2. 2

D i e Frage nach dem Wesen des Schönen hat ihren ursprünglichen Grund nicht darin, daß es Kunstwerke gibt, für die — da es sie nun einmal gibt — auch entsprechende Wesenheiten müssen gefunden werden können. Die Frage nach dem Wesen des Schönen entspricht der ursprünglichen Möglichkeit des Denkens, sidi auf Schönes zu richten und sidi selbst in dieser Einstellung zu bestimmen. In der Sphäre, die dieser

Zwei Grundantworten — Der „Schein"

j. Zwei Grundantworten

221

— Der „Schein"

Ich möchte nun zwei Grundantworten auf die Frage nach dem Wesen des Schönen besprechen. Die eine Art der Beantwortung läßt sich auf die Formel bringen, das Schöne, und mit ihm die Kunst, sei Schein, die andere auf die, das Schöne und das Werk der Kunst hätten Anspruch auf Eigentlichkeit gegenüber der menschlichen Existenz. Diese Formeln selbst besagen allerdings noch nichts. Es kommt auf die begriff liehe Explikation an. Die erste Auffassung: Das Subjekt sucht in der Kunst und im Schönen der Vergänglichkeit des Realen und der Unerbittlichkeit seiner zeitlichen Ordnung zu entfliehen, indem es eine Sphäre des Zeitenthobenen und Beständigen aufsucht, eine Sphäre zwar anschaulicher, aber gleichwohl in ihrem eigentümlichen Gehalt irrealer und deshalb dem Zeitfluß trotzender Gebilde. Die Welt der Kunst hat nach dieser Auffassung mit der Welt des Realen die Konkretheit gemeinsam. Ihre Inhaltlichkeit entstammt dem Zeitlichen, aber das Zeitliche, das dem Denken — aus welchen Gründen immer — bedeutsam geworden ist, wird im künstlerischen Gebilde entrückt. Der Gehalt entstammt zwar dem Zeitlichen und findet seine Manifestation in einem zeitlichen Schöpfungsakt, aber das Zeitliche ist in ihm isoliert und entwirklicht. Es ist nicht mehr, sondern es erscheint nur noch. Es gewinnt auf diese Weise Idealität. Es erscheint im „Schein". Es ist durchaus noch ein Konkretes und Größenhaftes, in äußerer und innerer Anschauung zugänglich, aber das Gewicht des Realen, den Ernst und die Schwere des Wirklichen, hat es eingebüßt. Das Wesentliche der Kunst ist demgemäß der Schein, das Erscheinen eines Konkreten, das von allem primären Seienden prinzipiell entfernt ist. Das Ästhetische entspringt in der Zeit, aber es entflieht zugleich der Zeit, in der es entspringt. Anders als das Objekt der Theorie und anders als der Gegenstand der praktischen Anstrengung hat das künstlerisch Dargestellte, Ausgedrückte und Empfundene als solches selbst (also in seiner Dargestelltheit, in seiner Ausgedrücktheit und in seinem Empfundensein) keine Stellenbestimmtheit in der Sphäre des Realen. Unmittelbar hat es keinen Anteil an der Prozessualität der wirklichen Welt. Nur vermittelt gehen Wirkungen von ihm aus — vermittelt eben durch den Einsatz eines Subjekts. Die Isoliertheit, Entrücktheit und Zeitenthobenheit des künstlerischen Gebildes lassen es andererseits zu einem geeigneten Gegenstand für Ausnahmebefindlichkeiten des Subjekts werden. Am ästhetischen Gebilde (im Konzertsaal, an der Leselampe, in der schönen Natur) sucht und findet das Subjekt Erhebung und Erlösung von den Spannungen, dem Einstellung entspricht, wird nicht nur das Kunstschöne, sondern auch das Naturschöne (und das Realschöne überhaupt) Ereignis.

222

Problemlage

Drang und dem Druck, und vor allem von der Unabschließbarkeit des realen Arbeitslebens. Das gilt für dasjenige ästhetische Gebilde, das von Menschenhand produziert wurde, gleicherweise wie für das unproduzierte Schöne, das als ein Nichtartefakt, als ein Stück der unabhängigen Natur und der realen Welt von Menschenhand vielleicht erhalten und gepflegt werden kann, es gilt aber auch für Objekte, die, wie die Wogen des wildbewegten Meeres, allen menschlichen Einwirkungen überlegen bleiben. Es gilt für Geschaffenes und für Ungeschaffenes, für Berührtes und für Unberührtes. Das Ästhetische ist nach dieser Auffassung jener Sektor der Kultur, der dem Subjekt neben betrachtender Theorie und neben praktischem Handeln im Schaffen von Kunstwerken und im Genießen des Schönen eine Welt der Lösung und Erhebung bietet und ebendiesem Subjekt einen Kontakt mit dem schlechthin Vollkommenen ermöglicht, der ihm überall sonst versagt bleibt. Eine überlegene, eine bessere, eine entrückte Welt, aber eine Welt des Scheins.

6. Die Eigentlichkeit des Ästhetischen Die zweite Auffassung: Das Ästhetische wird nunmehr als eine Dimension gedadit, die das Subjekt auf dem Wege zu seiner eigenen Verwirklichung durchmessen muß. Das Ästhetische ist hier nicht mehr eine Möglichkeit des Subjekts neben anderen Möglichkeiten, eine Möglichkeit, der sich das Subjekt ebensogut zuwenden kann, wie es sich von ihr abzuwenden vermag. Das Ästhetische ist hier vielmehr eine Hinsicht, die nicht allein das Grundlegungssystem vervollständigt, sondern die für die Selbstverwirklichung der konkreten Subjektivität auf jeden Fall und in jedem Fall notwendig ist, eine Hinsicht, der das Subjetkt unter keinen Umständen entgehen kann. Sicherlich ist das Ästhetische ein Feld von Leistungsweisen, die sich von denen der Theorie und des Praktischen unterscheiden. Aber in der abstrakten Unterscheidung allein ist die Grundverfassung des Ästhetischen noch nicht faßbar. Die konstituierende Funktion des Ästhetischen muß vielmehr im Hinblick auf die konkrete Subjektivität selbst sichtbar gemacht werden. Das aber bedeutet: Die zentrale Fragestellung der Ästhetik richtet sich demgemäß nicht allein auf ein gesondertes und begrenztes Leistungsgebiet des Denkens und sie richtet sich auch nicht allein auf ein gesondertes und begrenztes Gegenstandsgebiet, sondern sie richtet sich auf die Grundverfassung der konkreten Subjektivität selbst. Die Frage lautet nun: Ist das Ästhetische ein notwendiges Moment der Subjektivität (und damit des Denkens)? Ist die Subjektivität ursprünglich schon, und das heißt: schon immer und nicht bloß gelegentlich, durch den Grundfaktor des Ästhetischen bestimmt? Ist sie es, dann kann die Funktion der Kunst und des Schönen nicht auf Ausnahmezustände der Entspannung, der Zerstreuung oder der

Schein und Eigentlidikeit

223

Erhebung eingeschränkt gedacht werden, dann ist sie vielmehr bestimmend für die konkrete Subjektivität und für das Denken schlechthin. Das bedeutet dann aber, daß Kunst und Schönes mehr sein müssen als eine Welt des Irrealen und des Scheins, daß sie vielmehr von realer Bedeutung sein müssen, da sie das ausgezeichnete Reale, das die konkrete Subjektivität (das konkrete Denken) ist, in seinem Grunde bestimmen. Dann ist das Sdiöne nicht nur eine bloße Möglichkeit der Subjektivität (die genutzt oder nicht genutzt werden mag, gut oder schlecht genutzt werden mag), es ist vielmehr auch eine Wirklichkeitsbedingung, ein unveräußerliches, schlechterdings notwendiges Aufbauprinzip der Subjektivität. Die konkrete Subjektivität (das konkrete Selbst) kann dem Schönen und der Kunst nicht ausweichen im großen und reichen Angebot der Kultur, es ist vielmehr vollkommen anders: Die konkrete Subjektivität verhält sich, sofern sie Subjektivität ist — ob sie will oder nicht (und durchaus auch, wenn sie nicht will!) — stets schon zum Schönen. Das Schöne ist mit anderen Worten, dieser Auffassung zufolge, nicht nur eine wählbare Möglichkeit der Subjektivität, sondern es gehört zu den Faktoren, die die Wirklichkeit, die Realität und die Faktizität der Subjektivität verbürgen.

7. Schein und

Eigentlichkeit

Fällt der Kunst und fällt dem Schönen wahrhaftig diese Funktion zu, dem Geist nicht eine Welt des Scheins zu geben, sondern den Geist zu sich selbst kommen zu lassen? Die Theorie, die das Schöne als Schein auffaßt, entspricht einer vergleichsweise „zahmen" Meinung hinsichtlich der Bedeutung des Schönen, besser: einer Meinung, die das Schöne selbst für etwas „Zahmes" und Harmloses hält. Das Schöne ist für sie letztlich ein Bestandteil geordneter Bildung, ein Stück im Lehrplan des Menschen und der Menschheit. Das Schöne wird dem „Schöngeistigen" gleichgesetzt. Dieser gemütlichen Auffassung gegenüber macht die Lehre von der Eigentlichkeit des Kunstwerkes den Ernst, das Gewicht und auch die Gefährlichkeit des Werkes geltend. Aber, so wird man fragen, ist denn das Verhältnis von Schein und Eigentlichkeit wirklich und wahrhaftig ein echter Gegensatz? Könnte es nicht so sein, daß nur die Theorie des Scheins unvollkommen ist, daß sie den Gedanken, auf den es ankommt, nicht zu Ende gedacht hat, nämlich diesen Gedanken: daß erst im Schönen die Subjektivität zu sich selbst kommt und daß, entsprechend, die Momente, die die Scheinhaftigkeit ausmachen — Zeitenthobenheit und Isoliertheit — für die Struktur des ästhetischen Gebildes überhaupt nicht entbehrt werden können? Ich will versuchen, einige Voraussetzungen für die Behandlung dieser Frage zu bestimmen.

224

Problemlage

8. Die kulturphilosophische

Ästhetik

Die Frage nach dem Verhältnis von Schein und Eigentlichkeit ist ein Grundproblem der philosophischen Ästhetik der letztvergangenen Jahrzehnte. Die Problementwicklung ist durch das Spannungsfeld dieser beiden Begriffe bestimmt. Bis zu welcher Stelle ist die Arbeit an diesem fundamentalen Problem gekommen? Die Schwierigkeit liegt darin begründet, daß die neueren ästhetischen Theorien (ich meine diejenigen, die für die Fundamentalproblematik überhaupt in Betracht kommen, weil sie Grund und Stütze in einer systematischen Gesamtkonzeption haben) auf den ersten Blick eine so geringe Ubereinstimmung zeigen. In einem, stimmen sie allerdings überein, in ihrer Gegnerschaft gegen die kulturidealistische, kulturphilosophische Ästhetik, wie sie vor allem im Neukantianismus entwickelt wurde. Es ist deshalb sachlich geboten, von dieser Ästhetik (die, ungeachtet der Vielfalt der in ihr sich äußernden Denkerpersönlichkeiten, eine bemerkenswerte Einheitlichkeit zeigt) auszugehen. Der Kulturidealismus knüpft — allerdings bei einer weitgehenden Veränderung und wohl auch Vereinfachung der Systemdisposition — an Kant an und rückt die Ästhetik als dritte, gleichberechtigte Geltungsoder Wertlehre neben Logik und Ethik. Zu ihrer Charakteristik hebe ich fünf Bestimmungsmomente hervor: (i.) Die Ästhetik erscheint hier als eine Disziplin der Transzendentalphilosophie, insofern sie die Möglichkeitsbedingungen einer besonderen Gerichtetheit des Bewußtseins auf Gegenstände erforscht. Sie handelt, wie die anderen Disziplinen der Transzendentalphilosophie auch, von den Prinzipien, unter deren Voraussetzung sich Gedanken auf Objekte beziehen können. Dabei geht es auch dieser Disziplin nicht um den realen und faktischen Vollzug der Gedanken, sondern um deren Gehalt, in welchem der Gegenstandsbezug seinen Niederschlag findet. (2.) Da die Ästhetik aber den Gegenstandsbezug von Gedanken erforscht, erforscht sie zugleich dasjenige, worin diese Gedanken ihren Ursprung, ihre Einheit und ihren Zusammenhang haben. Sie ist demgemäß — wie alle Philosophie — Theorie des Bewußtseins. Das Bewußtsein kommt für diese Lehre allerdings nur in seiner Reinheit in Betracht. Die kulturidealistische Philosophie (und Ästhetik) handelt nicht vom faktischen und realen Bewußtsein, sondern nur von demjenigen Bewußtsein, das sich zur Höhe der geforderten Gesetzeserfüllung erhebt. Diese Erhebung gelingt dem Bewußtsein, dieser Theorie zufolge, aber nur dann, wenn es von allen seinen empirischen und faktischen Bedingtheiten absieht und sich durch die Umstände seiner individuellen und realen Verfassung nicht von der geforderten Aufgabenerfüllung abbringen läßt.

Die kulturphilosophische Ästhetik

225

(3.) Die Ästhetik ist als Theorie des ästhetischen Gehaltes und des ästhetischen Bewußtseins zugleich Ge/f««gstheorie. Die Prinzipien des reinen ästhetischen Bewußtseins (des „reinen Gefühls") ermöglichen die Gegenstandsbezogenheit des Gehaltes. Wenn der Gehalt sich auf den Gegenstand bezieht, d. h.: wenn er leistet, was er leisten soll, ist er gültig. Die Grundlage für diese Gültigkeit liegt in den Bewußtseinsprinzipien, die auf diese Weise zugleich Geltungsprinzipien (d. h. also Werte oder Ideen) sind. (4.) Die Gehalte beziehen sich auf das Objekt. Diesem aber fließt nur aus dem Bewußtsein Bestimmtheit zu. Die Gegenstandsbestimmtheit hat — in der theoretischen, in der praktischen und in der ästhetischen Sphäre — ihren Ursprung in einer Grundlegung durch das Bewußtsein. Das reine Bewußtsein ist Konstitutionsgrund der Objektbestimmtheit. (5.) Die Leistungen, die das Bewußtsein in den verschiedenen Dimensionen vollbringt, stehen in einem Gesamtzusammenhang, in dem der Kultur. Das gilt für die Leistungen der Wissenschaften, des praktischen Lebens und auch für die der Kunst 3 . Das Bewußtsein ist als Kulturbewußtsein, und die Philosophie, die überall Theorie des geltungsbestimmten Bewußtseins ist, ist als Philosophie der Kultur bestimmt. (Auch die Naturphilosophie wird in dieses Gefüge eingeordnet: Sie wird als Philosophie der Wissenschaft von der Natur verstanden. Die Welt der Naturobjekte aber macht kein eigenes philosophisches Thema aus, weil den Naturobjekten alle Bestimmtheit aus ihrer theoretischen Setzung zufließt.). Zusammenfassend: Gegenstandsbezug, reines Bewußtsein, Geltungsgedanke, Bewußtseinsvorordnung und Kultur sind die entscheidenden Bestimmungsstücke der kulturidealistischen Philosophie im ganzen und auch der kulturidealistischen Ästhetik. Diese Systemgrundlagen finden sich, jeweils nur geringfügig abgewandelt, bei Cohen4, Natorp 5 und Cassirer6, bei Windelband7, Rickert8, Kroner", Medicus10 und Böhm 11 und

3

Von der eigenartigen Stellung, die die verschiedenen kulturidealistischen Philosopheme der Religion zuweisen, sehe ich hier ab. 4 Hermann Cohen, Kants Begründung der Ästhetik. 1889; Ästhetik des reinen Gefühls. Zwei Bände. 1 3 1 2 . 5 Paul Natorp, Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme. 4. Aufl., 1929. S. 95 ff. * Ernst Cassirer, Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum. In: Vierter Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Bericht hg. v. H. Noack, 1 9 3 1 . S. 21 ff.; An Essay on Man. N e w Haven 1944 (deutsch: Was ist der Menschf i960). 7 Wilhelm Windelband, Einleitung in die Philosophie. 3. Aufl. 1923. S. 362—390. 8 Heinrich Rickert, System der Philosophie. Erster Teil: Allgemeine Grundlegung der Philosophie. 1921. 6. und 7. Kap. • Ridiard Kroner, Die Selbstverwirklichung des Geistes. 1928. S. 1 4 6 — 1 6 3 . 10 Fritz Medicus, Grundfragen der Ästhetik. 1917. 11 Franz J. Böhm, Die Logik der Ästhetik. 1930. 15 Wolandt, Idealismus

226

Problemlage

schließlich audi bei Münsterberg12, Jonas Cohn13, Baudi14 und Reinhard Kynast 15 . Die meisten dieser Denker bekennen sich zwar zu Kant und heißen mit Recht Neukantianer, das ändert jedoch nichts daran, daß sie in wesentlichen Stücken den Boden der Kantischen Philosophie verlassen. Das betrifft vor allem ihre Stellungnahme zur Seinsproblematik16. Hermann Cohen, wohl der bedeutendste Vertreter der kulturidealistischen Ästhetik, bestimmt deren Aufgabe wie folgt: „Wie die Kunst ein eigentümliches Glied im Ganzen der Kultur, so bedeutet das ästhetische Bewußtsein eine eigene Gesetzlichkeit des Bewußtseins. Und die Ästhetik bedeutet sonach ein notwendiges Glied im System der Philosophie, — sofern die Philosophie zu ihrer Aufgabe hat: die Inhalte der Kultur als Erzeugnisse des Bewußtseins zu begründen, . . . nach ihrer . . . prinzipiellen Verschiedenheit zu kennzeichnen, zugleich aber auch in ihrer systematischen Einheit festzuhalten; weil alle diese Richtungen aus Einem Punkte, aus dem gemeinschaftlichen Prinzipe des Bewußtseins hervorgehen"17. Ähnlich bestimmt auch Rickert die Ästhetik als die Lehre von den „künstlerischen Kulturgütern"18. 9. Kritik der kulturphilosophischen Ästhetik Die Geschlossenheit dieser Kulturphilosophie ist bestechend: Jeder Inhalt, jedes Objekt hat den Ursprung seiner Bestimmtheit im Bewußtsein. Eine Analyse der Prinzipien des Bewußtseins führt somit auf die Grundlagen aller Inhaltlichkeit und Gegenständlichkeit überhaupt, und alle prinzipielle Differenzierung des Gegenständlichen hat ihre Konstitutionsgrundlage in einer Differenzierung des Bewußtseins. Dabei ist freilich wesentlich, daß nicht das konkrete Bewußtsein diese Konstitutionsfunktion übernimmt, sondern das zur reinen Erkenntnis, zum reinen Willen und zum reinen Gefühl geläuterte Bewußtsein. Das Bewußtsein, das den Gegenstand durch Setzung in seine Bestimmtheit bringt, ist zugleich der Inbegriff der Geltungsprinzipien (Gesetze, Werte), die die Legitimität der Setzung verbürgen. Dies aber gilt für alle Setzungsweisen und damit, angesichts der Abhängigkeit des Objekts, zugleich für alle 12 13 14 15

18

17 18

Hugo Münsterberg, Philosophie der Werte. 1908. S. 234—297. Jonas Cohn, Allgemeine Ästhetik. 1901. Bruno Bauch, Anfangsgründe der Philosophie. 2. verb. Aufl. 1923. S. 120 ff. Reinhard Kynast, Kant. Sein System als Theorie des Kulturbewußtseins. 1928. S. 169—183. Im Neukantianismus ist (mit Ausnahme vor allem von Riehl und Hönigswald) die Ablehnung eines unabhängigen Ansichseins allgemein. Die Anerkennung eines unabhängigen Seins, ja sogar (wenigstens für die Marburger Sdiule gilt das) einer vom Denken unterschiedenen Anschauungsfunktion in der Erkenntnis, galt den Neukantianern als „Dogmatismus". Kants Begründung der Ästhetik. S. 101. System der Philosophie. S. 338.

Kritik der kulturphilosophisdien Ästhetik

227

Kultur- und Gegenstandsbereiche. Wie aber sind die ästhetische Setzung und der ästhetische Kulturinhalt in ihrer Besonderheit bestimmt? Cohen läßt das Ästhetische aus einer Verschmelzung von Natur und Sittlichkeit (den Objekten der theoretischen und der praktischen Setzung) hervorgehen: „Natur und Sittlichkeit werden durch die Kunst zu einem neuen, eigentümlichen Inhalte umgeschaffen, in welchem dennoch Natur und Sittlichkeit dem Stoffe nach erhalten bleiben" 1 '. Ganz entsprechend erblickt Natorp im Ästhetischen eine Überwindung des Gegensatzes von Sein und Sollen20. In diesem Interferenzgedanken21 liegt bereits ein Anfang, das Nebeneinander der Grundlegungsgebiete zu überwinden. Doch die Geschlossenheit der philosophischen Systematik, in der Dreiheit von theoretischer, praktischer und ästhetischer Grundlegung, trügt. Sie ist mit einer Nivellierung der unterscheidenden Momente und einer gewaltsamen Parallelisierung der Sphären erkauft. (Der Fehler des kulturidealistischen Logizismus liegt nicht darin, daß das Theoretische an erster Stelle steht, sondern vielmehr darin, daß alle Grundlegungsformen nach dem Vorbild des Theoretischen gedacht werden.) Die grundsystematischen Mängel treten in den folgenden Punkten zutage: (i.) In allen Kulturbereichen (d.h. Grundlegungssphären) wird der Subjektivität ein unbedingter Vorrang vor dem Objekt zugedadit. In allen Sphären verdankt das Objekt seinen Ursprung — oder doch den seiner Grundstruktur und seines formalen Bestandes — einer Leistung des Bewußtseins. Trotz einer bestimmten Anerkennung von Strukturunterschieden bleibt das Grundverhältnis einer erzeugenden Subjektivität und einer erzeugten Objektivität stets bestehen. (2.) Das fundierende Bewußtsein wird überall gleicherweise als eine ideale Größe angesetzt. Es ist stets das reine und nicht das konkrete Bewußtsein, dem die Ursprungsfunktion zufällt. Der Vollzugscharakter der Bewußtseinsleistungen bleibt ebenso außer Betracht wie die Geschichtlichkeit der Subjektivität. Die Konkretheit des Subjekts wird stets nur als eine bedingte Größe gedacht. Die Konkretheit hat keinen Anteil an einer Grundlegungsfunktion. Grundlegend ist allein das reine, ideale, nichtkonkrete Bewußtsein. Kurz: Die Momente der Faktizität des Subjekts (seine Geschichtlichkeit, seine Leiblichkeit, sein Naturbezug) bleiben prinzipientheoretisch unberücksichtigt. (3.) Besonders bedeutsam für die Systemgliederung ist der Umstand, daß das Verhältnis einer bedingenden und erzeugenden Subjektivität und einer bedingten und erzeugten Gegenstandsbestimmtheit in allen Grundlegungssphären (in der theoretischen, praktischen und ästhetischen Hinsicht) gleicherweise erhalten bleibt. 19 20 21

15*

Kants Begründung der Ästhetik. S. 101. Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme. 4. Aufl. S. 101. Er findet sich in monadologisdier Umformung bei Hönigswald wieder.

228

Problemlage

(4.) Die Inhaltsbestimmungen aller drei Sphären werden einander angeglichen. Dabei sind vielfach Momente vorherrschend, die ursprünglich das Inhaltsgebiet des Theoretischen charakterisieren22. Das Zusammenstimmen der Inhaltsgebilde ist der Maßstab für ihre ideale Dignität. Das gilt für das Gebiet des Praktischen, das gilt auch für dasjenige des Ästhetischen. Freilich hat die Ästhetik die Naivität eines primitiven Normativismus hinter sich gelassen: „Aus der Fülle des wirklichen künstlerischen Lebens hat sie zu lernen, um nicht einen Teil der Kunst, der zufällig in ihren Gesichtskreis getreten ist, mit der Kunst überhaupt zu verwechseln"23. Was die kulturphilosophisdie Ästhetik jedoch zuerst und vor allem würdigt, sind „Gleichmaß . . Harmonie . . ., Abgeschlossenheit u n d . . . Ganzheit des schönen Gegenstandes"24. Aber auch dies muß wohl als die Einschränkung des Ästhetischen auf eine ganz bestimmte Inhaltlichkeit verstanden werden. So ist es denn audi nur konsequent, daß bei aller Anerkennung der Eigenständigkeit des Ästhetischen das Rationale und das Ausgeglichene zumindest für höherwertig gehalten werden als das Irrationale und Spannungsvolle im künstlerischen Bereich. — Die Rationalität und die durchgehende Einstimmigkeit des Theoretischen werden allen Sphären zugedacht, insbesondere auch dem Bereich des Schönen. (5.) Ein weiteres Moment ist die Entrücktheit, die dem ästhetischen Objekt zugedacht wird. Die Welt der ästhetischen Gebilde wird als eine Welt der Irrealität und des Scheins betrachtet, als eine Welt, die sich vermöge ihrer Idealität über die Sphäre des Realen, Bloß-Natürlichen und Irdischen erhebt. Im Hinblick auf das Subjekt bekommt das Ästhetische so eine Ausnahmestellung: Die theoretischen Prinzipien sind 22

23 24

K . Schilling kritisiert gelegentlich, und zwar mit Bezug auf Rudolf Stammler, eine jener Grenzverletzungen, die für die Marburger Grundlegungstheorie charakteristisch sind ( E i n f ü h r u n g in die Staats- und Reditsphilosophie. 1939, S. 64 Anm.): „Stammler . . . findet den Begriff der Gerechtigkeit, der bei ihm die Funktion des sittlichen Grundsatzes im verbundenen Willen aller ist, nur in dem Gedanken der .unbedingten Harmonie' . . . ein ästhetisierendes Ideal des bloßen ethischen Naturalismus, dem die Kraft des Nein-sagen-Könnens abhanden gekommen ist." Freilich deutet Schilling die Übertragung der Idee durchgängiger Einstimmigkeit und Begründung im Sinne einer Unterwerfung unter ein „ästhetisierendes Ideal" und deutet dementsprechend zumindest an dieser Stelle das Ästhetische — oder doch das in ästhetischem Sinne Wirksame — als eine quasi-theoretisch strukturierte Größe. Der Logizismus im Felde des Praktischen hüllt sich in das Gewand eines Ästhetizismus. Doch auch aus diesem Felde müßte er erst noch vertrieben werden, damit das Ästhetische als solches selbst sichtbar würde. Die unter dieser Einschränkung berechtigte Kritik Schillings an Stammler ließe sich ebenso gegen die entsprechenden Lehrstücke N a torps wenden. Die „Kraft des Nein-sagen-Könnens" findet ihre Anerkennung auf kritizistischem Boden erst bei Hönigswald, der ausdrücklich im Bereich des Rechts die Kollision als einen Grundsachverhalt würdigt ( G r u n d f r a g e n der Erkenntnistheorie. 1931, S. 131). Rickert, System der Philosophie. S. 336. Rickert, System der Philosophie. S. 334.

Die nachidealistisdie Ästhetik

229

dem Subjekt unentbehrlich, weil in ihnen seine ganze Weltorientierung ihre Grundlage hat, die praktischen Prinzipien (Werte oder ethische Gesetze) verleihen dem Wollen und Handeln des Subjekts, ohne welche es überhaupt keinen Bestand besäße, ihre Richtung. Die ästhetischen Prinzipien aber ermöglichen ein bloß Scheinhaftes, einen bloßen Überschuß. So groß der Gewinn auch immer sein mag, den das Subjekt durch das Schöne und durch die Kunst davonträgt, so sehr das Ästhetische zur Veredelung und zur Bildung der Subjektivität beitragen mag, seine Unerläßlichkeit für den Bestand der Subjektivität wird in der kulturphilosophischen Ästhetik keineswegs einsichtig. 10. Die nachidealistische

Ästhetik

In der nachidealistischen Ästhetik läßt sich keine ähnliche Einheitlichkeit an systematischen Grundüberzeugungen mehr nachweisen. Die neuen Ansätze zeigen tiefgehende Verschiedenheiten. Neben Theoremen, die sich engstens an die einschlägigen Einzelwissenschaften anlehnen, und solchen, die für die Philosophie einen der positiven Theorie verwandten Wissenschaftscharakter beanspruchen, finden sich solche, die einen radikalen Abstand zwischen der Philosophie und den übrigen Wissenschaften fordern. Ein anderer Gegensatz betrifft die bevorzugte Problemhinsicht: die Entscheidung, ob dem subjektiven oder dem objektiven Relat in der ästhetischen Grundlehre der Vorrang gebührt. Auf jeden Fall hat die nachidealistisdie Ästhetik eine eindrucksvolle Vielfalt von bemerkenswerten Einzelleistungen hervorgebracht. Mit Rücksicht auf die problemgeschichtliche Bewegung vom Schein zur Eigentlichkeit sind hier zunächst zwei Richtungen zu berücksichtigen: die sogenannte psychologische oder, wenn man so will, psychologistische Ästhetik, mit so hervorragenden Forschern wie Lipps, Volkelt und Külpe, auf der einen Seite und die phänomenologische Ästhetik, vertreten vor allem von Moritz Geiger und wirksam bis in unsere Tage durch die Schriften Roman Ingardens; in nächster sachlicher Nähe die Vertreter der „Allgemeinen Kunstwissenschaft" (in erster Reihe Dessoir und Utitz) und nicht zuletzt jene Grundlagenforschung, die unmittelbar aus der positiven Kunstgeschichte hervorwächst25.

Ii. Die Bedeutung des konkreten

Subjekts

Welche Schwächen die psychologische Ästhetik in der Verkennung des Geltungsgedankens auch immer aufweisen mag, dieses muß anerkannt werden: daß sie die Bedeutung des realen, konkreten Subjekts 25

Einschlägige Schriften der genannten Autoren siehe unten S. 242.

230

Problemlage

und seiner Momente für die Konstitution des Ästhetischen dem kulturidealistischen Subjekts-Purismus gegenüber zur Geltung brachte. Von einer grundsystematischen Bestimmung der konkreten Subjektivität war sie freilich noch weit entfernt. — Die phänomenologische Ästhetik vertieft in der Folge die Analyse des subjektiven Moments, wichtiger noch aber wird die Analyse der Seinsstruktur des ästhetischen Gegenstandes. Hier gehen die phänomenologischen Ästhetiken im engeren und weiteren Sinne einen entscheidend wichtigen Schritt über die kulturtheoretischen Lehrstücke hinaus. Eine Schwäche haftet jedoch den beiden genannten Richtungen an: eine Unbestimmtheit hinsichtlich der systematischen Fundierung. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt im Binnenbereich der ästhetischen Sphäre. An der Sicherung durch eine der Kulturphilosophie ebenbürtige oder womöglich überlegene Fundamentallehre fehlt es. Das Verdienst schließlich, den Kulturidealismus mit zulänglichen Waffen in seinem Zentrum angegriffen zu haben, fällt an zwei Denker, die imstande waren, der Bewußtseinsphilosophie eine im Ernste neue Grundlehre entgegenzusetzen, ich spreche von Nicolai Hartmann und Martin Heidegger. Im Horizont ihres Philosophierens wird überhaupt erst der Weg zu einer prinzipientheoretisch zulänglichen Fassung des Begriffs der Eigentlichkeit des Kunstwerks frei (ein Weg, der in einer anderen Phase der Problemgeschichte erstmals von Hegel beschritten worden war — kein Zufall denn auch, daß beide Denker sidi mit Hegel auseinandersetzen!).

12. Die Lehre Nicolai

Hartmanns

Die kulturidealistische Theorie hatte in größtmöglicher Eindringlichkeit den Wert- und Geltungsgedanken herausgearbeitet und für die Ästhetik nutzbar gemacht. Das Theorem leidet freilich unter einer verhängnisvollen Einseitigkeit: Subjekt und Objekt sind ausschließlich in Abhängigkeit vom Geltungsgedanken in Ansatz gebracht. Was nicht in Geltungsprinzipien gründet, ist für den Kulturidealismus philosophisch bedeutungslos. Die Lehre von einer unabhängigen Seinsgrundlegung und die Theorie des konkreten Geistes verfielen beide dem Vorwurf, unkritische Metaphysik zu sein. Das Seiende (das Naturobjekt oder welches Seiende immer) und das konkrete Bewußtsein kamen nur als Objekte der positiven Theorie in Betracht. Eigenen Grundlegungsrang hatten sie nicht zu beanspruchen. An diesem Punkte setzt die Neubegründung der Ontologie durch Hartmann ein. Die erste Vorstufe hierzu ist, daß Hartmann die Grundlegungsbedeutung des Objekts innnerhalb der verschiedenen Sphären untersucht2'. Schließlich rückt 28

Systembildung

und Idealismus.

In: Philosophische

Abhandlungen.

Festschrift

für

Die Lehre Nicolai Hartmanns

231

er an die Stelle der Bewußtseinsphilosophie eine hochdifferenzierte Ontologie, seine Lehre von den Prinzipien-Sphären und den PrinzipienSchichten der Welt", und diese Lehre gibt ihm die Möglichkeit, dem Ästhetischen einen bestimmten Ort im Horizont des Seienden anzuweisen28. Hartmann gewinnt einen regionalontologisch gegründeten Begriff des realen Geistes und bestimmt die besondere Seinsweise des ästhetischen Objekts als eine Bezogenheit auf den realen Geist2®. Er bestimmt die Seinsweise des ästhetischen Gegenstandes als ein „Fürunssein" und gibt der Lehre vom ästhetischen Schein einen systematisch bestimmten Gehalt im Wechselbezug von realem Vordergrund und idealem Hintergrund 30 . In dem strengen Bezug auf die konkrete Subjektivität oder, wie ich es auch nennen kann, in der Konstitution des Ästhetischen durch die konkrete Subjektivität, wird ein erstes wesentliches Moment der Eigentlichkeit des Werkes sichtbar. Und doch ist der Bann der Uneigentlichkeit des Ästhetischen noch nicht völlig gebrochen. Der spekulative Grund liegt darin, daß an die Stelle des kulturidealistischen Sub/e^fsprimats bei Hartmann ein ebenso einseitiger Seimprimat tritt. Die konkrete Subjektivität hat nun zwar Grundlegungsrang, aber doch nur einen solchen von nachgeordneter Bedeutung. Der konkrete Geist hat nur regionale und nicht auch fundamentale Valenz. Er ist Weltstück und nicht ursprüngliches Korrelat von Welt und Sein. Was aber, wie das Ästhetische, selbst noch einmal durch ein solches Weltstück — ein ausgezeichnetes zwar — konstituiert ist, das kann nur einen sekundären Bestand besitzen. Der Bezug der Kunst auf die Faktizität des Subjekts, auf seine konkrete Leiblichkeit, Geschichtlichkeit und Naturalität ist nun zwar — im Prinzip zumindest — systematisch ausgewiesen, ein Moment der Eigentlichkeit des Ästhetischen damit spekulativ sichergestellt, aber der volle Sinn der Eigentlichkeit des Ästhetischen, und damit seine wahre Grundlegungsfunktion, bleibt hier noch verdeckt. Wie seinen neukantianischen Lehrern steht audi Hartmann — freilich in ganz anderer Gestalt — das Dogma vom Primat des Theoretischen im Wege. War es dort die fraglose Vorbildlichkeit der theoretischen Grundlegungsform, so ist es hier der Primat des theoretischen Objekts in seiner Unabhängigkeit, der starre Vorrang des Ansichseins, der Hartmanns Ontologie mit der Einseitigkeit eines Ontologismus belastet.

27

28

29 80

Hermann Cohen. 1912. Wiederabgedruckt in: Kleinere Schriflen. Bd. III. 1958. Zur Grundlegung der Ontologie. 1935; Möglichkeit und Wirklichkeit. 1938; Der Aufbau der realen Welt. 1940. Möglichkeit und Wirklichkeit. 35. K a p . (Die Welt des Schönen und ihre Modalstruktur). Das Problem des geistigen Seins. 1933. Dritter Teil (Der objektivierte Geist). Das Problem des geistigen Seins. 47.—48. K a p . ; Ästhetik 1953. 6., 7., 11.— I J . , 41. Kap.

232

Problemlage

ι j . Die Lehre Heideggers An dieser Stelle führt ein anderer ontologischer Entwurf, die Lehre Heideggers, weiter. Heidegger setzt bekanntlich das Schema der herkömmlichen Systemkonzeptionen mit ihrem fraglosen Vorrang und ihrer fraglosen Vorbildlichkeit der theoretischen Grundlegungsform bewußt außer Kraft. So wird man denn auch vergeblich bei Heidegger nach einer systematischen Ästhetik im herkömmlichen Sinne dieser philosophischen Disziplin suchen. Heideggers Frage nach Wesen und Ursprung der Kunst ist ein Teil seiner Fundamentaltheorie 31 , die zugleich Seinslehre und Subjektslehre ist. Heidegger rückt an den Ort der kulturphilosophischen Bewußtseinskonstitution eine Seinsgrundlegung, aber eine solche, die (anders als diejenige Hartmanns) das Dasein, d. h. also die konkrete Subjektivität, in sich aufnimmt. Hartmann ging den Schritt von einer bloßen Positivität des konkreten Subjekts zur Regionalität, Heidegger geht den weiteren Schritt von der Regionalität zur Fundamentalität. Dieser Schritt aber entscheidet audi über die Grundfunktion der Kunst. Heidegger geht auch hinsichtlich der Grundlegung der Kunst über die — wie Gadamer es nennt3* — „ontologische Vormeinung" Hartmanns hinaus. Für Heidegger ist das Ästhetische nicht etwa ein fraglos mit der menschlichen Natur Gegebenes, sondern ein „Maßstäbliches" und „Ranghaftes" mit „Entscheidungscharakter". Das Ergreifen des Ästhetischen vollzieht sich in der Anstrengung einer Leistung von ausgezeichneter Art. Wo die Subjektivität vor dem Anspruch der Kunst versagt, dort versagt sie vor ihrer eigenen Bestimmung, sie versinkt in die Uneigentlichkeit: in einen bloßen Kultur- und Bildungsbetrieb, in blinden Fortschrittsfatalismus, in Krampf, Ordnungslosigkeit und Zweideutigkeit. Zu dieser maßstäblichen Bedeutung der Kunst kommt ein weiteres hinzu, die ursprüngliche Bezogenheit der Kunst auf die leibliche Faktizität des Subjekts. Kunst ist nach Heidegger: Bejahung, Rettung und Gestaltung des Sinnlichen. Doch das ist nur ein Moment des Verhältnisses. Kunst ist nicht nur Bejahung des Sinnlichen, sondern zugleich auch „maßgebende Gestaltung und Verwahrung des Absoluten"33, sie macht „innerhalb des geschichtlichen Daseins des Menschen . . . in der Weise des Werkes offenbar.., was das Seiende im Ganzen ist..", und gerade daraus resultiert die gründende Funktion des Ästhetischen für die konkrete (für die geschichtliche und leibliche) Subjektivität. Die Kunst, so sagt 31

32 33

Der Ursprung des Kunstwerkes. Mit einer Einführung von Hans-Georg Gadamer. Reclam Nr. 8446/47. 1962. Audi in: Holzwege. 1950, 3. Aufl. 1957. Bauen Wohnen Denken. In: Vorträge und Aufsätze, 1954, 1. Aufl. 1959. — Vgl. W. Perpeet, Heideggers Kunstlehre. Jahrbuch für Ästhetik 8 (1963) 158—189. Der Ursprung des Kunstwerkes. S. 114. Nietzsche. I. Bd. 1961. S. 108.

Eine neue spekulative Dimension

233

Heidegger, ist „notwendig als ein Weg und Aufenthalt des Menschen, in dem ihm die Wahrheit des Seienden im Ganzen, d. h. das . . . Absolute sich eröffnet" 34 . Das Ästhetische vermag diese eigentliche, und spekulativ erst hier faßbare, Bedeutung für die Subjektivität zu erlangen aus ihrer schlechthin überlegenen Eigenbestimmtheit heraus. Ein doppeltes Konstitutionsverhältnis wird sichtbar: Einmal hat das Ästhetische seinen Grund in der bewahrenden und gestaltenden Leistung des konkreten Subjekts. Das Verhalten zu Ästhetischem ist ein „Seinlassen des Schönen". Doch das Schöne ist nicht nur ein Gegründetes, es ist zugleich auch ein Gründendes. Das „Seinlassen des Schönen" ist „die höchste Anstrengung unseres Wesens, die Befreiung unserer selbst zur Freigabe dessen, was in sich eine eigene Würde hat" 3 5 . In diesem Dastehen erst kann das Werk eine Welt eröffnen und dem Menschen die Aussicht auf sich selbst geben. Und damit schließlich ergibt sich dieses: die eigentliche Bedeutung der Kunst für die Konstitution der Subjektivität: Kunst ist kein „bloßes Vorkommnis . . . nichts, was es unter anderem auch gibt, was man betreibt und zuweilen genießt. Kunst stellt das ganze Dasein in die Entscheidung" 38 .

14. Eine neue spekulative

Dimension

Für die prinzipientheoretische Forschung ist das Ergänzende von Belang, das Heidegger zur bisherigen Grundlegungstheorie der Kunst hinzufügt. Es darf dabei nicht übersehen werden, daß Heidegger (aller Unterschiede der Einstellung, des Standpunkts und der Sprache ungeachtet) in vielen Stücken mit anderen Denkern, insbesondere mit den phänomenologischen Lehren und mit Hartmann übereinstimmt. Es darf aber ferner auch, um der problemgeschichtlichen Gerechtigkeit willen, nicht übersehen werden, daß in den älteren Theoremen in bestimmten Bereichen weitaus differenziertere Einsichten verfügbar sind, als sie bei Heidegger gefunden werden könnten. Das gilt etwa für die Seinsschichtung des ästhetischen Gegenstandes, für die Struktur der Gestalt, für die Transponibilität ästhetischer Gebilde, für die Aufstufung der Verweisungsverhältnisse und, an diese anknüpfend, für die Gliederung der Künste. Was in den einschlägigen Heideggerschen Schriften hierzu zu finden ist, ist vergleichsweise elementar. Eine gewisse Mißachtung dieser Probleme durch Heidegger ist nicht zu übersehen. Das ändert indessen nichts daran, daß auch sie echte prinzipientheoretische Aufgaben darstellen. Ein Prinzipieninbegriff — und was ist die Grundlegung der 34 35 36

Nietzsche. Nietzsche. Nietzsche.

I. Bd. S. 147 f. I. Bd. S. 129. I. Bd. S. 147 f.

234

Problemlage

Kunst und des Ästhetischen anderes? — ist eben erst dann bestimmt, wenn er auch in seiner Differenzierung bestimmt ist. (Es kommt nur darauf an, daß dies in philosophisch begründeter Weise geschieht.) Doch diese Bedenken rücken nichts von der wegweisenden und anregenden Kraft des Heideggerschen Philosophierens hinweg. Heidegger hat den Weg zu einer erheblichen Vertiefung der ästhetisch-philosophischen Fragestellung gezeigt. In der Eigentlichkeit des Kunstwerks hat er eine neue spekulative Dimension aufgewiesen: den Aspekt einer Grundlegung der Subjektivität durch das Ästhetische, während zuvor nur die Grundlegung des Ästhetischen durch die Subjektivität — durch die reine in der Kulturphilosophie, durch die konkrete in der Regionalontologie — im Blick stand. Damit ist es erst möglich, den Grund des ästhetischen Scheins in der Eigentlichkeit des Kunstwerks philosophisch zu bestimmen.

Subjektstheoretische Ästhetik Das Schöne verdankt nicht der Ästhetik sein Dasein, und es hat seine Stätte nicht allein in den Werken der Kunst. Was aber ist die Ästhetik? Die vertraute Antwort lautet: die Lehre vom Schönen1 oder, genauer, die philosophische Lehre vom Schönen2; denn dieses ist ja festzuhalten, daß nicht jede Wissenschaft, die es mit Schönem zu tun hat, Ästhetik genannt werden kann und Ästhetik genannt (oder als Teil derselben verstanden) werden will, wie es ehedem einmal geschehen mochte, sondern allein die philosophische Theorie, die sich dem Schönen zuwendet5. Die besonderen Kunstwissenschaften (Kunstgeschichte, Dichtungsgeschichte, Musikgeschichte) sind weder Teilgebiete noch lehnspflichtige Provinzen der Ästhetik, obwohl auch sie alle Schönes (so weit es in den Werken der Künste erscheint) zu ihrem Gegenstande haben. Dem entspricht, daß auch die Ästhetik als eine philosophische Wissenschaft gegenüber den Kunstwissenschaften, die positive Wissenschaften sind, ihre Eigenständigkeit behauptet4. — Bestimmt man nun die Ästhetik als die philosophische Lehre vom Schönen, so ist allerdings auf mehreres zu achten: i. darauf, daß der Begriff des Schönen in der rechten Weise aufgefaßt werde, nämlich weit genug, z. daß das Verhältnis der philosophischen Lehre vom Schönen zur nichtphilosophischen, d. h. aber zur positiven Theorie des Schönen aufgehellt werde und 3. daß das Verhältnis dieser philosophischen Disziplin zu anderen Disziplinen der Philosophie nicht im dunklen bleibe.

/. Das Ästhetische Zu 1 (Begriff des Ästhetischen): Eines ist gewiß: Die Ästhetik, die es, um es zunächst so auszudrücken, mit dem Schönen schlechthin zu tun hat (mit dem, was überhaupt Anspruch darauf erheben darf, schön ge1

2

s

4

H. Schmidt / G. Schischkoff, Philosophisches Wörterbuch. 18. A. Stuttgart 1969. S. 37. Vgl. besonders F. Th. Visdier, Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Erster Teil. 2. A. 1922. § 1. W. Brugger, Philosophisches Wörterbuch. 5. Α., 1953; ebenso: H. Lützeler, Einführung in die Philosophie der Kunst. Bonn 1934. S. 91. Vgl. hierzu: A. Fischer, Ästhetik und Kunstwissenschaft. In: Münchner Philosophische Abhandlungen (Lipps-Festschrift). Leipzig 1 9 1 1 . S. 100 ff. J. Cohn, Allgemeine Ästhetik. Leipzig 1901. S. 5 ff.

236

Subjektstheoretische Ä s t h e t i k

nannt zu werden), muß es zu vermeiden suchen, das Schönheitsideal eines Zeitalters mit dem Schönen schlechthin zu verwechseln. Die Ästhetik darf audi unter denjenigen Beständen, die durch den Bezug auf die Schönheit bestimmt sind, nicht willkürlich auswählen. Das „Häßliche", so problematisch dieser Begriff eines Wertnegativen auch immer sein mag, kann nicht ohne den Bezug auf das Schöne bestimmt werden 5 . A n gesichts der Notwendigkeit, den Gegenstand der Ästhetik in seiner ganzen Weite zu bestimmen 6 , erscheint es sinnvoll, einen Begriff des „Ästhetischen" einzuführen, wie es Dessoir tut'. Dieser Begriff deckt dann alles, was nur immer ästhetisch different genannt zu werden verdient, sei es „schön", „häßlich" oder w a s immer. Eine weitere Sorge betrifft nun die Einschränkung auf das Schöne (oder besser: auf das Ästhetische) in der Kunst, da es ästhetisch DifTerentes doch offenbar auch außerhalb der Kunst gibt und es ebendeshalb unmöglich ist, die Ästhetik auf eine Philosophie der Kunst einzuschränken 8 . Zweifellos fordert die Sonderbestimmtheit des kunstfremden Ästhetischen, des Naturästhetischen (des Naturschönen und des Naturhäßlichen), mit Recht ihre prinzipientheoretische Anerkennung, aber auch diese beiden, Kunstästhetisches und Naturästhetisches', können doch nur in ihrem Zusammenbestehen bestimmt werden 10 . Die Ästhetik umgreift also als Lehre v o m Ästhetischen das Schöne so gut wie das Häßliche und das Kunstschöne so gut wie das Naturschöne.

2. Das Verhältnis

zu den

Kunstwissenschaften

Z u ι (Ästhetik und Kunstwissenschaften): Die Ästhetik ist die philosophische Lehre v o m Ästhetischen. Sie fragt nach dem Wesen, nach der Grundlegung, nach den Prinzipien des Ästhetischen, nicht V g l . J. G . Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Z w e i t e r Teil. 2 . A . Leipz i g 1 7 7 8 . S. 2 9 9 ; C h . Oeser, Briefe an eine Jungfrau über die Hauptgegenstände der Ästhetik. 1 9 . A u f l . 1 8 7 6 . S. : i ( 4 . B r i e f ) ; M . Sdiasler, Ästhetik. Erster T e i l . 1 8 8 6 . S. 1 ff., 19 fr. * N . H a r t m a n n , Ästhetik. 1 9 5 3 , 2 . u n v . A u f l . 1 9 6 9 , S. 5 f f . 7 M . Dessoir, Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschafl. Stuttgart 1 9 0 6 . S. 1 0 4 f f . ; v g l . E . U t i t z , Ästhetik und Philosophie der Kunst. I n : Lehrbuch der Philosophie. [ 2 . ] B d . : Die Philosophie in ihren Einzelgebieten. Berlin o. J. [ 1 9 2 J ] . S. 6 0 5 ff. 8 Eine k u r z e Kennzeichnung des A b s t a n d e s bei H . Lützeler, a . a . O . S. 9 1 . — Literatur dort A n m . 2 .

5

• Eigentlich m ü ß t e dem Kunstschönen (Kunstästhetischen) nicht ein N a t u r - , sondern ein Realsdiönes (-ästhetisches) entgegengestellt w e r d e n , denn nicht nur dem A n organischen und dem Organischen, auch dem Seelischen und dem Geistigen kann eine ästhetische Bestimmtheit eignen. 1 0 H i e r z u : H e g e l , Vorlesungen über die Ästhetik. Erster Teil, 2 . K a p . ( 2 . Aufl., ed. H . G . H o t h o , 1 8 4 2 . S. 1 4 8 ff., bes. S. 1 8 0 ff.; ed. F. Bassenge, Berlin 1 9 5 5 , S. 1 5 0 ff : bes. S. 1 7 2 ff.); v g l . audi Η . W a g n e r , Philosophie und Reflexion. 1 9 5 9 , 2 . unv. Aufl. 1 9 6 9 , S. 2 6 6 f., 2 8 9 f.

Das Verhältnis zu den Kunstwissenschaften

237

aber nach den Einzelerscheinungen, nach den konkreten Gebilden und Akten, die dem Felde des Ästhetischen angehören". Von den konkreten Erscheinungen des Ästhetischen handeln andere Wissenschaften als die Ästhetik: vom konkreten Kunstschönen die empirischen Kunstwissenschaften, also Literatur-, Kunst- und Musikgeschichtsschreibung. Von einem isolierten Bereich des Realschönen freilich handelt noch keine empirische Disziplin, und es ist die Frage, ob eine solche Isolation überhaupt möglich ist. Mag das Schöne auch „von Anfang an in den Werken der Natur" geschlummert haben, es erwachte doch erst durch den Geist, der das Schöne in den „Werken der Natur" erlebte11*. Das Problem des Realschönen ist zugleich das Problem des ästhetischen Erlebens. Eine positive Wissenschaft, die von den Einzelerscheinungen des Realschönen handelte, hätte zugleich von den Ereignissen und Vorgängen des ästhetischen Erlebens zu handeln. Tatsächlich geht die positive Wissenschaft weder an den Erscheinungen des Realschönen noch an den Ereignissen des ästhetischen Erlebens vorüber; nur sind beide in einer Weise in die Gesamtkultur eingebettet, daß eine isolierte Erforschung offenbar nicht sinnvoll ist. Soweit das dem Realschönen zugewandte Erleben zu den Voraussetzungen der Kunstproduktion gehört, wird es von den verschiedenen Kunstwissenschaften berücksichtigt; soweit es außerhalb der Künste für die Prägung und Entwicklung der Einzelgeister sowohl wie des Gemeingeistes Bedeutung erlangt, rückt es in den Blickkreis der Geistesgeschichte. Allerdings liegt die Vermutung nahe, daß das ästhetische Erleben von Realem die Kunst in stärkerem Maße beeinflußt als die anderen Gebiete der Kultur. Das bedeutet jedoch sicherlich nicht, daß das Erleben von Realschönem eine unmittelbare Entsprechung in den Künsten besäße. Vielmehr unterscheiden sich „vor-" oder „außerkünstlerisches" ästhetisches Erleben und Kunstproduktion hinsichtlich ihrer Grundstruktur zutiefst. Das Erleben des Realschönen mag viele Inhalte haben; aber es ist doch in seinem Grundbestande eines, die Produktion in den Künsten aber ist vielheitlich. Die Gestalten der Kunst gehören verschiedenen Reichen an, und ein ästhetisches Erleben, das denselben Inhalt hat (ζ. B. das Erleben einer Landschaft) kann in verschiedenen, vielleicht sogar in allen Künsten seinen Ausdruck finden, ob diese Künste nun darstellender Art sind oder nicht. Die produktive Umsetzung des Schönen in die Äußerlichkeit der Kunstgestalten gehorcht anderen Gesetzlichkeiten als die vor- oder nichtproduktive Innerlichkeit des ästhetischen Erlebens. 11

113

Vgl. F. Medicus, Grundfragen der Ästhetik. 1 9 1 7 . S. 102 f.; das Problem sehr klar bei A . Fischer, a. a. O. S. 103 ff. „Ehe die Ästhetik ward, war die Schönheit; so wie der gestirnte Himmel war, ehe es eine Astronomie gab. Sie war von Ewigkeit in Gott, von Anfang an in den Werken der Natur, und vor aller Philosophie in den Werken der Kunst." J. A . Eberhard, Handbuch der Ästhetik. Erster Teil, Halle 1803, S. 18.

238

Subjektstheoretische Ästhetik

So ist das Landschaftserleben kein Spiegel der Landschaft, wie es, wenn wir die Eigentümlichkeiten dieser Spiegelung mitberücksichtigen, das Landsdiafts&iW sein mag. Das Landschafts erleben ist ein komplexes Gefüge von Eindruck, Ausdruck, Denken, Empfinden, Anschauung, Erinnerung, Stimmung und so fort, es hat aber, streng genommen, keine gegenständliche Struktur. Es ist „Innerliches", es ist Intention, und das Intendierte dieser Intention, der realschöne Gegenstand also, hat seine besondere Verfassung, eben ein schöner zu sein, nur durch diese Intention. Das Realschöne ist dem übrigen Realen gegenüber nur dadurch ausgezeichnet, daß es in besonderer Weise — eben „ästhetisch" — gewürdigt wird. Die Kunstgestalt hingegen ist mehr. Sie besitzt eine streng bestimmte und einer spezifischen Gesetzlichkeit gehorchende Idealität. Das Realschöne hat keine „kunstgegenständliche" Struktur, es sei denn, ich bezöge es in das Gefüge einer bestimmten Kunstgestalt mit ein. Das ist etwa dort der Fall, wo Bauwerke und Landschaft eine Einheit bilden. Das ästhetische Erleben ist ebenso durchaus verschieden von der künstlerischen Produktion, die es auslösen mag. Und wenn nun auch ein Abstand von subjektivem Ineinander des Erlebens und objektivem Außereinander der Gestaltungsweise angenommen werden muß, so wird man dennoch sagen dürfen, daß dasjenige ästhetische Empfinden, das die Künste seiner Zeit nicht zu bewegen vermag, auch sonst keine nennenswerte Bedeutung besitzt. Offenbar drängt das Erleben zur Produktion. Die Innerlichkeit verlangt nach Äußerung; mag diese Äußerung, eben um ihrer ursprünglichen Differenzierung willen, von der Innerlichkeit auch noch so sehr verschieden sein, mag das Realschöne in den Künsten auch nicht mehr wiederkehren als dasjenige, das es dem Erleben einmal war, so bestimmt es doch die Kunst, aber es bestimmt zugleich auch mehr als die Kunst. Ursprünglich produziert und also gestalthaft sind ja nicht nur die Werke der Kunst, sondern produziert und also gestalthaft sind alle Objektivationen des Geistes. Wenn das Erleben des Realschönen als ein Einheitliches, als ein ungeschiedenes Ineinander der Innerlichkeit, der ursprünglichen Gliederung der Kunstproduktionen noch vorausliegt, so liegt es nicht nur diesen Produktionen voraus, sondern jeglichen Produktionen. Zur Kunst zählen wir nur diejenigen Gestalten, in denen das Gestalthafte die Ganzheit des Gegenstandes verbürgt. Freilich müssen wir darauf achten, daß wir das Gebiet der Kunst nicht zu eng fassen. Man neigt zuweilen dazu, die Kunst für einen Ausnahmebereich, für etwas um jeden Preis Weihevolles und Feiertägliches zu halten, das in Museen zu internieren, durch Alarmanlagen zu sichern, bei gedämpftem Licht vorzutragen sei — also sozusagen von goldenen Schüsseln zu essen sei, während sie, wenn nicht alltägliches Brot, so vielleicht doch ein Brot des Lebens ist. Es ist die Frage, ob Kunst, und zwar Kunst im eigentlichen Verstände, nur Uberschuß und Luxus und nicht vielmehr ein Notwendiges für den

Das Verhältnis zu den Kunstwissenschaften

239

Bestand der Subjektivität sei. Doch wie weit die Macht und die Bedeutung der Kunst auch reichen mögen, das Feld der Produktion ist offenbar weiter als dasjenige der Kunst. Jede Objektivation hat dieses an sich, daß sie „gestaltet" und also ästhetisch oder, wenn man so sagen will, „künstlerisch" different ist12. Zwischen Realschönes und Kunstschönes schiebt sich also ein Drittes: das weite Reich der Objektivationen außerhalb der Kunst, jene Gebilde, die zwar gestalthaft sind, die aber nicht von der Einheit eines durchgängigen Gestaltgefüges beherrscht werden und deshalb auch nur in zweiter Linie hinsichtlich ihrer Gestaltqualität gewürdigt werden wollen. Viele Artefakte gehören gewiß hierher, aber auch alle Sprachgebilde außerhalb der Dichtung und, so nebensächlich dieses Gebiet audi erscheinen mag, akustische Produktionen außerhalb der Musik. Was immer aus der Innerlichkeit der Subjektivität in das Äußere der Welt hineingebracht sein mag, es ist im Hinblick auf seine Gestaltbeschaffenheit beurteilbar, wie übrigens auch jedes nichtproduzierte Reale, sofern es nur als Reiz für Empfindungen zu fungieren vermag. — Das Kunstschöne (die Kunstgestalt) ist nur eine Form des Objektivationsschönen, und die Grenze zwischen den Grundformen des „Schönen", d. h. also des ästhetisch Differenten, ist angesichts der konkreten Gebilde gewiß schwer zu ziehen. Die Objektivationen — Kunst und Nicht-Kunst — werden zu Teilen des Realen, der Abstand zwischen Hingenommenem und Geschaffenem ist nicht leicht zu bestimmen. In allem Geschaffenen ist auch Hingenommenes, und das Hingenommene selbst kann etwas Geschaffenes und bereits von fremder Produktion Geprägtes sein. Die Hinnahme mag sich auf das unberührte Realobjekt beziehen, das als Gestalt erlebt wird, sie kann aber auch eine Übernahme von fremdproduzierter Gestaltwirklichkeit sein — oder schließlich auch beides. Es ist nicht eben leicht, alle diese Bestimmungsstücke im konkreten Gebilde zu scheiden, so leicht — vergleichsweise leicht wenigstens — es auch sein mag, die Dimensionen in der Grundlegung des Ästhetischen auseinanderzuhalten. (Man denke nur daran, welche Schwierigkeiten es bereitet, das Verhältnis eines Bauwerks zu der Landschaft, die es umgibt und deren Teil es geworden ist, zu analysieren.) Es leuchtet aber auf alle Fälle ein, daß das „Naturschöne", d. h. das Reale in seiner Gestaltwirklichkeit, am Aufbau eines jeden Kunstwerkes seinen notwendigen Anteil hat. — Die Ästhetik weiß sich in Unterschiedenheit von jenen Wissenschaften, die das konkrete ästhetische Erleben und Schaffen und die die 12

So faßt es auch R. Hönigswald auf: Wissenschaft und Kunst. (Schriften aus dem Nachlaß. Bd. IV). 1961. Bes. S. 103. Vgl. Vf., Gegenständlichkeit und Gliederung. Untersuchungen zur Prinzipientheorie Richard Hönigswalds. 1964. Kap. X I I (Kunst).

240

Subjektstheoretische Ästhetik

konkreten ästhetischen Gebilde erforschen, weil sie ein Nichtkonkretes und zugleich Gründendes und Wesenhaftes: das Schöne selbst, das Ästhetische selbst, bedenkt. Dieses Gründende und Wesenhafte ist freilich selbst kein Einfaches, wenn es auch die Einheit der konkreten ästhetischen Gebilde verbürgt. Wie aber vermag die Ästhetik das Gründende und Wesenhafte zu erfassen?

Die Ästhetik

als philosophische

Disziplin

Z u 3 (Systembestimmtheit der Ästhetik): Die Ästhetik ist eine Disziplin der Philosophie. Selbst dort, w o man die traditionelle und schulmäßige Gliederung der Philosophie in Disziplinen nicht akzeptiert, wird man den Fragen nach dem Wesen des Schönen einen eigenen Bereich anweisen. Wenn die Philosophie im ganzen v o n dem handelt, was das Wesen eines Jeglichen ausmacht, was ein Jegliches zu seiner ursprünglichen Voraussetzung hat oder was einem Jeglichen als sein Prinzip zugrunde liegt, so haben die Sonderfächer der Philosophie (die besonderen Fragebereiche der Philosophie) bestimmte Momente und Dimensionen des Wesens oder der Grundlegung zu ihrem Gegenstand, jene Momente und Dimensionen nämlich, die eine ursprüngliche, eine wesentliche Differenzierung eines Jeglichen, d. h. eines jeglichen Bestimmten, ermöglichen. Diese Momente oder Dimensionen der Grundlegung, die die Voraussetzung d a f ü r sind, daß sich ästhetisch Bestimmtes v o n nichtästhetisch Bestimmtem scheide, daß Reales und Nichtreales auseinanderzutreten vermögen usf., die mithin das Wesen des Ästhetischen sowohl wie das des Anderen des Ästhetischen, das Wesen des Realen sowohl wie das des Anderen des Realen zu ihrem Inhalte haben, besitzen selbst Bestimmtheit nur mit Rücksicht auf ihr Gegenglied, mit Rücksicht letztlich auf das ganze Gefüge wesenhafter Glieder und Gegenglieder. K u r z : auch das Wesenhafte des Ästhetischen kann nur dann erfaßt werden, wenn dieses Wesenhafte in seinem Wesensverhältnis zu anderen Wesensmomenten, zu anderen Grundlegungsdimensionen bestimmt wird. Tatsächlich läßt auch keine Ästhetik die Systembestimmtheit des Ästhetischen ganz außer Betracht, wenn auch freilich diese Systembestimmtheit in sehr unterschiedlichem Maße berücksichtigt wird. Hieran ändert übrigens auch die Wahl des Ausgangspunktes nichts. O b eine Ästhetik („phänomenologisch") von den konkreten ästhetischen Sachverhalten auf das zugrunde liegende Wesen zurückzugehen oder ob sie („spekulat i v " , „konstruierend") von elementaren Ursetzungen aus zum besonderen Grundlegungsfeld des Ästhetischen voranzuschreiten sucht, den Systembezug des Ästhetischen auf außerästhetische Grundfaktoren muß sie stets berücksichtigen.

Die drei Grundstellungen

4. Die drei

241

Grundstellungen

Diese drei Momente: 1. die bestimmte Weite des Begriffs des Ästhetischen, 2. die Geschiedenheit von philosophischer und positiver Theorie des Ästhetischen und 3. die Systembestimmtheit der Grundlegung des Ästhetischen sind gleicherweise charakteristisch für die meisten neueren Theorien. Das bedeutet indessen doch nicht, daß auf dem Felde der Ästhetik in allen Grundüberzeugungen Übereinstimmung bestünde. Nicht nur über den Ausgangspunkt (ob „oben", bei den höchsten, letzten, einfachsten Grundlegungsmomenten, oder „unten", bei den konkreten Phänomenen, zu beginnen sei) gibt es verschiedene Ansichten, auch über die Natur desjenigen, das als Grundlegung und Wesen des Ästhetischen verstanden werden soll, sind die Meinungen verschieden. Zwei Grundauffassungen, Grundstellungen der Problematik, zeichnen sich ab: die subjektstheoretische und die objektstheoretische Ästhetik13. Während die eine Ästhetik Wesen und Grundlegung des Ästhetischen in einem Subjektiven (im Akt, Erleben, Schaffen, in einer Setzung oder im Subjekt als einer konstituierenden Instanz) sucht, sucht die andere Ästhetik Wesen und Grundlegung des Ästhetischen in einem Objektiven (im Gegenstand, im Werk, in einem eigenartigen Seienden). Daß beide Momente, Subjektives und Objektives: Schaffen, Erleben einerseits und Gegenständlichkeit andererseits zur Struktur des Ästhetischen gehören, leugnet allerdings niemand, die Frage ist indessen, welchem Moment der Vorrang in der Grundlegung und im Wesensgefüge gebührt. Die Frage ist, ob die ästhetische Objektivität der ästhetischen Subjektivität, oder aber ob die ästhetische Subjektivität der ästhetischen Objektivität ihren Bestand und ihre Bestimmtheit verdankt. Beide Grundstellungen der Ästhetik umschließen allerdings eine reiche Differenzierung der Standpunkte. Auf der Seite der subjektstheoretischen Ästhetik differieren die Lehren je nachdem, ob im Begriff des Subjektiven stärker oder gar ausschließlich das Moment der Geltungsbestimmtheit oder dasjenige der Faktizität berücksichtigt wird (lebensphilosophische Ästhetik14,

18

14

16

Idi möchte nicht den Gegensatz von idealistischer und realistischer Ästhetik (der dem von idealistischer und realistischer Philosophie entspricht) verwenden, weil er den entscheidenden grundlegungstheoretischen Gegensatz nicht trifft, wenn auch freilich die subjektstheoretische Lehre zumeist „idealistisch" und die objektstheoretisdie Lehre zumeist „realistisch" ist. W. Dilthey, Die Einbildungskraft des Dichters. In: Philosophische Aufsätze, E. Zeller gewidmet. 1887; Über vergleichende Psychologie. Abschn. I V (Die Kunst als erste Darstellung der menschlich-geschichtlichen "Welt in ihrer Individuation. 1895/ 1896). In: Ges. Schriften. V . Bd. S. 273 ff.; Das Erlebnis und die Dichtung. 10. Aufl. 1929: Goethe und die dichterische Phantasie. S. 175 ff. — K. Jaspers, Philosophie. 1932, 2. Aufl. 1948. S. 2 8 2 f f . (Philosophie und Kunst), S. 840 ff. (Kunst als Sprache aus dem Lesen der Chiffreschrift). Wolandt, Idealismus

242

Subjektstheoretische Ästhetik

psychologische

Ästhetik 1 5 ,

kritizistisch-kulturphilosophische

Ästhetik 1 6 ),

u n d je nachdem, ob im Begriff des O b j e k t i v e n stärker das M o m e n t des Werkes, das des Phänomens oder das des Seienden berücksichtigt w i r d (Allgemeine Kunstwissenschaft 1 7 , phänomenologische 1 8 und ontologische Ä s t h e t i k " ) . N e b e n diesen beiden Grundstellungen scheint allerdings noch eine synthetische A u f f a s s u n g jenseits v o n Subjektivismus oder Objektivismus möglich zu sein, die eine F o r t f ü h r u n g der Problemstellungen in sich enthält. Tatsächlich sind denn auch mindestens z w e i Formen einer synthetischen Ästhetik nachweisbar, deren eine die ästhetische Problemstellung v o n einer objektstheoretischen (und z w a r einer phänomenologischen), deren andere die Problemstellung v o n einer subjektstheoretischen (und

zwar

einer kritizistisch-kulturphilosophischen)

Grundstel-

lung aus weiterentwickelt. Ich spreche v o n den einschlägigen Lehrstücken M a r t i n Heideggers 2 0 und Richard H ö n i g s w a l d s 2 1 . —

O b übrigens diese

verschiedenen Grundstellungen und S t a n d p u n k t e den T i t e l einer Ä s t h e tik f ü r sich in Anspruch nehmen oder nicht, ist unwichtig, solange sie eine u n d dieselbe G r u n d f r a g e zu lösen suchen. 15

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20 21

J . Volkelt, System der Ästhetik. I.—III. Band. 2. Aufl. 1927, 1925, 1925; Th. Lipps, Ästhetik. I., II. Bd. 1903, 1906. Außer H . Cohen und P. Natorp (über diese weiter unten): W. Windelband, Einleitung in die Philosophie. 3. Aufl. 1923. §§ 17—19 (Ästhetische Probleme); H. Rickert, System der Philosophie. Bd. I. 1921. S. 333 ff. (Die Künste und die Schönheit); J . Cohn, a . a . O . ; Der Sinn der gegenwärtigen Kultur. 1914. S. 144—176 (Kunst und Lebensgestaltung); H . Münsterberg, Philosophie der Werte. 1908. 8. Abschnitt (Die Schönheitswerte); R. Kroner, Die Selbstverwirklichung des Geistes. 1928. 146—163 (tiaturwissensdiaft und Kunst). M. Dessoir, a. a. O.; ferner eine Reihe von einschlägigen Arbeiten in der von ihm herausgegebenen Zeitschrifi für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 1906 ff.; E. Utitz, a. a. Ο.; ferner: Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. In: Jahrbücher der Philosophie. Erster Jahrgang. 1 9 1 3 ; Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft. 1914, 1920; Die Gegenständlichkeit des Kunstwerks. 1 9 1 7 (Philosophische Vorträge. Nr. 17); Das Problem einer allgemeinen Kunstwissenschaft. In: Zeitschrift für Ästhetik. 16 (1922); E. Panofsky, Uber das Verhältnis der Kunstgeschichte zur Kunsttheorie. In: Zeitschrift f . Ästhetik. 18 (1924); Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst. In: Logos 21 (1932). Beides in: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. 1964. M. Geiger, Ästhetik. In: Systematische Philosophie (Kultur der Gegenwart). 3. Aufl. 1 9 2 1 ; Beiträge zur Phänomenologie des ästhetischen Genusses. In: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung. Bd. I (1913); O. Becker, Von der Hinfälligkeit des Schönen und der Abenteuerlichkeit des Künstlers. In: HusserlFestschrift. 1929 (auch in: Dasein und Dawesen. 1963); R. Ingarden, Das literarische Kunstwerk. 1931, 2. Aufl. i960; Untersuchungen zur Ontologie der Kunst. 1962; Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. 1968. N . Hartmann, siehe oben S. 2 3 1 ; ferner: Über die Stellung der ästhetischen Werte im Reich der Werte überhaupt (1926). In: Kleinere Schriften. Bd. III. 1958. Siehe oben S. 232. Über die Grundlagen der Pädagogik. 2. Aufl. 1927. S. 161—168 (Pädagogik und Ästhetik); Grundfragen der Erkenntnistheorie. 1 9 3 1 . Kap. X (Über Kunst); Kunst

Das Vordringen der objektstheoretischen Ästhetik

y Das Vordringen

der objektstheoretischen

243

Ästhetik

Was nun die Forschungslage in den zurückliegenden Jahrzehnten betrifft, so ist ein merkliches Zurückweichen der subjektstheoretischen und ein Vordringen der objektstheoretischen Ästhetik nicht zu leugnen. Sieht man von den eigentümlichen und noch kaum wirksam gewordenen Gedanken der (von mir so genannten) synthetischen Ästhetik ab, so ist ein Sieg der objektivistischen Ästhetik ganz zweifelsfrei zu konstatieren. Dieser Sieg ereignete sich freilich in mehreren Etappen und an verschiedenen Fronten. Eingeleitet wurde er durch den Ausgang vom Kunstwerk, oder besser: durch die Orientierung an den Resultaten der positiven Kunstgeschichtsforschung (vor allem mit Rücksicht auf das Gebiet der bildenden Künste). Die Arbeit der kulturphilosophischen und -psychologischen Ästhetik zeigte gerade im Hinblick auf die Theorie der Künste (die Lehre von den Kunstarten und Kunstformen) beträchtliche Mängel, die nun eine „Allgemeine Kunstwissenschaft" zu überwinden suchte. Ein anderes Bestreben ging dahin, die Ästhetik von allem Rationalismus und Logizismus, die für die kritizistische Ästhetik charakteristisch zu sein schienen, zu reinigen. Diesen Reinigungsversuch — ein Versuch, alle systematischen Vorurteile, allen vermeintlichen Systemzwang außerachtzulassen — unternahm die phänomenologische Ästhetik. Eine Wiederherstellung des Systems, diesmal aber nicht auf dem Boden einer kulturschaffenden und kulturerzeugenden Subjektivität, sondern auf dem Boden einer umfassenden Seinslehre, unternahm die ontologische Ästhetik. Dieser Standpunktwechsel hat sich freilich keineswegs kontinuierlich vollzogen. Die neuen Lehren brachen vielmehr mit der subjektstheoretischen Ästhetik im ganzen und setzten Neues an ihre Stelle. Dieser problemgeschichtliche Vorgang, der durchaus nicht so unkompliziert ist, wie es auf den ersten Blick erscheinen möchte, hat, auch das muß berücksichtigt werden, Parallelen auf anderen, ja auf allen Gebieten philosophischer Systemforschung. Insbesondere auf den Feldern der Erkenntnistheorie und der Ethik, aber auch auf dem der Religionsphilosophie, tritt im Laufe der ersten Jahrhunderthälfte dieser Umschlag von einer subjektstheoretischen zu einer objektstheoretischen Grundlehre in die Erscheinung, eine Entwicklung, die durchaus mit der auf dem Felde der Ästhetik verwandt ist. Das bedeutet freilich nicht, daß die Verwandtschaft der Problementwicklung in den verschiedenen philosophischen Disziplinen eine Einförmigkeit der Systemstrukturen zur Folge hätte. Ganz im Gegenteil ist vielmehr nicht zu übersehen, daß der neuerwachte Objektivismus, die Wendung zu einer auf allen Feldern objektstheoreund Pädagogik. In: Analysen und Probleme. (Schriften aus dem Nacblaß. Bd. II) 1959; 'Wissenschaft und Kunst. (Schriften aus dem Nachlaß. Bd. IV) 1961. 16»

244

Subjekts theoretische Ästhetik

tisch orientierten Philosophie, eine ganz erhebliche Differenzierung der Ergebnisse zur Folge hat, einerseits weil die Notwendigkeit, die aus den Einzelwissenschaften aufsteigenden Grundfragen zu beantworten, nun stärker anerkannt wird als zuvor, und andererseits weil die Frage nach der Verschiedenheit in der Konstitution der Gegenstandssphären sich kräftiger durchsetzt. An die Stelle des Gedankens einer einheitlichen, hervorbringenden und leistenden Subjektivität (deren Hervorbringungsund Leistungsgebiete allerdings verschieden sind) tritt nun die Vorstellung einer ursprünglich pluralistisch gegliederten Gegenstandswelt. Das Scheidende und Unterscheidende tritt merklich in den Vordergrund vor dem Verbindenden und Einheitlichen. Das entspricht übrigens ganz der dem Konkreten zugewandten Einstellung der objektstheoretischen Philosophie. Nicht die spekulative Einheit, sondern die phänomenologische Vielheit ist der Quellgrund dieser Philosophie. Jeder Umschwung einer so tiefgreifenden Art aber, das hat Nicolai Hartmann recht eindringlich gezeigt22, führt zu Einseitigkeiten, dazu eben, daß ein Teil der Errungenschaften der vorangegangenen Epoche zu Unrecht vernachlässigt wird, daß mit den Mängeln der Vorgänger audi ihre Vorzüge beiseitegeschoben werden. Daß dies so ist, hängt offenbar damit zusammen, daß die Philosophie ungeachtet ihrer Tradition immer wieder von vorn beginnen muß. Auch das Uberlieferte muß in einem anfänglichen Philosophieren stets von neuem angeeignet werden. Zugleich setzt aber jeder Neubeginn eine bestimmte Freiheit gegenüber der Uberlieferung, insbesondere gegenüber den gerade vorgefundenen Doktrinen voraus. Die Folge ist, daß gerade die selbständigen und schließlich fruchtbaren Geister zunächst einmal das Feld freiräumen, ehe sie mit dem Neuaufbau beginnen. Die Muster für den Neubau suchen sie allenfalls in größerer Ferne. Nicht anders vollzog sich auch der Schritt vom Subjektivismus zum Objektivismus, vom Kritizismus zur Ontologie, vom Psychologismus zur Phänomenologie und endlich der vom Systemkonstruktivismus zum Wissenschafts-Positivismus. Allein, und auch dafür gibt Nicolai Hartmann die Belege, mit einem solchen Umschlag pflegt die problemgeschichtliche Entwicklung nicht ihr Ende zu finden. In der Epoche, die der Gegenstellung folgt, besinnt man sich in der Regel wieder auf die Ursprungsposition (die ihrerseits natürlich nur eine in der Folge der philosophischen Grundstellungen ist23), gewöhnlich haben denn auch noch einige Denker die alte Stellung gegen die herrschende Lehrmeinung festgehalten. 22

23

Der philosophische Gedanke und seine Geschichte. In: Abhandlungen der Preußischen Akademie. Jg. 1936. Phil.-Hist. Klasse. Nr. 5. (In: Kleinere Schriften. Bd. II. Berlin 1957, ferner bei Reclam o. J., hrsg. v. I. Heidemann). Natürlich darf man sich das Nach- und Gegeneinander der philosophischen Grundstellungen nicht zu schematisch vorstellen. Der Unabhängigkeit der Geister entsprechen mannigfadie Wechselfälle in dieser Entwicklung.

Die Ästhetik Sturmfels'

6. Die Ästhetik

245

Sturmfels'

Ist die subjektstheoretische Ästhetik so tot, wie man wahrhaben will, ist sie in allen ihren Formen (des Psychologismus, des Kritizismus und der Lebensphilosophie) tot und begraben? Hat die objektstheoretisdie Philosophie (Phänomenologie, Ontologie und Wissenschafts-Positivismus) ein für allemal den Sieg davongetragen? Nun, es mehren sich die Zeichen, daß dem nicht so ist. Die Lehre von der Konstitution wenn nicht der Gegenständlichkeiten, so doch der gegenständlich bestimmten Leistungen in der Subjektivität und durch die Subjektivität rückt neuerdings wieder ins Zentrum der systematischen Forschung, und dem am weitesten entwickelten Stück der subjektstheoretischen Philosophie, der Lehre von der Geltung und von der Differenzierung der Geltungsprinzipien, widerfährt ein gleiches. Es mehren sich, kurz gesagt, die Zeichen dafür, daß man bereit ist, das subjektstheoretische Lehrgut von neuem zu prüfen, um das etwa doch noch Lebensfähige und für den Fortgang der Forschung Nützliche zu bewahren. Diese Rück- und Neuorientierung erstreckt sich, wie es die Sache in der Philosophie zu allen Zeiten geboten hat, zuerst und vor allem auf das Gebiet der sogenannten Theoretischen Philosophie, d. h. der Erkenntnistheorie, der Ontologie, der Metaphysik. Aber ebenso wie es zu allen Zeiten und in allen Wechselfällen der Geschichte der Philosophie war, werden auch diesmal wieder die anderen Felder des philosophischen Denkens mitergriffen. Berücksichtigt man dieses alles, so erscheint es schon nicht mehr als ein bloßer Anachronismus, wenn eine Untersuchung zur philosophischen Ästhetik sich unumwunden zur Tradition des subjektstheoretischen Philosophierens bekennt. Bei der Untersuchung, von der ich spreche, handelt es sich um Wilhelm Sturmfels' Grundprobleme der Ästhetik21. Worum geht es Sturmfels? Er gibt nicht mehr und nicht weniger als einen Grundriß der Ästhetik. Gar nicht weniges in seiner Theorie ist durchaus vertraut und stützt sich ganz unmittelbar auf entsprechende Lehrstücke der Kritik der Urteilskraft, anderes aber steht in Ubereinstimmung mit Hermann Cohens Ästhetik des reinen Gefühls2S, wieder andere Lehrstücke gehen in charakteristischer Weise gerade über Cohen hinaus. Betrachten wir die Einzelheiten: Die Ästhetik hat nach Sturmfels weder eine beschreibende noch eine normengebende, noch eine psychologische Funktion. Die zentrale Aufgabe der Ästhetik liegt vielmehr, wenn ich das so ausdrücken darf, in einer Feldbestimmung, sie liegt in der Bestimmung und Begrenzung eines besonderen Gebietes, das Sturmfels das Reich der Kunst nennt. Dieses Gebiet verdankt seine Bestimmtheit und Begrenztheit seiner

24 25

1963. Im folgenden beziehen sich Zitate mit bloßer Seitenangabe auf diese Schrift. System der Philosophie. Dritter Teil: Ästhetik des reinen Gefühls. Zwei Bände, 1 9 1 1 , 2. Aufl. 1923.

246

Subjektstheoretische Ästhetik

Autonomie, es ist ein Reich eigenen Ursprungs ( 7 , 1 9 ) . Man beachte wohl: das erste Thema dieser Ästhetik ist nicht der Sinn und A u f b a u des Ästhetischen (oder Künstlerischen) in seiner Mannigfaltigkeit, sondern die Bestimmung des Feldes des Ästhetischen selbst. Die Feldbestimmtheit ist von vornherein als eine von ausgezeichneter Art aufgefaßt: Was diesem Felde angehört, das ist nicht nur von Anderem in bestimmten Merkmalen unterschieden, es ist auch von diesem Anderen unabhängig. Feldbestimmtheit und Autonomie finden ihren Halt in einer eigenen Grundlegung oder, wie Sturmfels es in der Sprache der Marburger Kulturphilosophen sagt, in einer eigenen „Gesetzlichkeit". Diese, die Grundlegung oder Gesetzlichkeit, vermag deshalb als Bürge für Sonderbestimmtheit und Autonomie zu fungieren, weil sie ihre Stütze in einem schlechthin umfassenden Gefüge von gleichrangigen und ursprünglichen Grundlegungen hat. Sturmfels knüpft hier durchaus an Cohen an, der schon in seinem dritten Kant-Buch schrieb: „Wie alle Art kritischer Philosophie ist auch die kritische Ästhetik an die transzendentale Methode gebunden. Sie geht daher von der Wirklichkeit eines Geistes- oder Kulturgebietes aus, um dasselbe nach den Bedingungen zu erforschen, auf denen die Gesetzlichkeit desselben b e r u h e . . . So richtet sich . . die transzendentale Frage an die Kunst, als dasjenige Kulturgebiet, in welchem das ästhetische Bewußtsein vorzugsweise sich betätigt" 26 . Die Fundamentalbegriffe der Gesetzlichkeit und der Grundlegung sind auch f ü r die spätere Cohensche Ästhetik charakteristisch: „Wie jede systematische Gesetzlichkeit muß auch die ästhetische als eine Grundlegung zur Bestimmung kommen . . . Gefordert wird eine Gesetzlichkeit für die Kunst, gemäß der Gesetzlichkeit f ü r die Wissenschaft und der f ü r die Sittlichkeit" 27 . Und ganz entsprechend lehrt auch Paul Natorp: „. . der Allgewalt des Gesetzes überhaupt vermag . . auch diese freieste Gestaltungsart sich nicht zu entziehen. Sie könnte nicht eine eigene Welt von Objekten organisieren, wenn nicht durch eine eigene Gesetzgebung, die sie erst zur Welt, zum geordneten Kosmos macht. Und diese Welt wäre nicht unser, nicht einem und demselben Bewußtsein angehörig, das auch über die Welten des Verstandes und des Willens Herr ist, wenn nicht ihre Gesetzlichkeit zugleich in einer inneren und notwendigen Beziehung stände zu den Gesetzesordnungen, welche jene anderen Welten regieren" 28 . 26

27

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H . Cohen, Kants Begründung der Ästhetik. 1889. S. 144. Vgl. E. Cassirer, Hermann Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie. S. 271 f. Kant-Studien. 17 (1912). Ästhetik des reinen Gefühls. Erster Band. S. 74. Vgl. W. Kinkel, Hermann Cohen. 1924. S. 274 fr.; ders., H. Cohens Ästhetik des reinen Gefühls. In: Deutsche Literaturzeitung. Jg. 33. N r . 27 (28. Juli 1912). Vgl. audi P. Natorps Kritik in: Hermann Cohens philosophische Leistung unter dem Gesichtspunkte des Systems. Berlin 1918. (Philosophische Vortrage. N r . 21). P. Natorp, Sozialpädagogik. 4. Aufl. 1920. S. 342. Vgl. ders., Philosophie. Ihr

Die Ästhetik Sturmfels'

247

Diese „notwendige Beziehung" aufzudecken, die Beziehung der Grundlegung des Ästhetischen zu den anderen Grundlegungen, betraditet audi Sturmfels als seine Aufgabe. Sie ist für ihn gleichbedeutend mit der Frage nach der Eigenbestimmtheit der Kunst und nach ihrem Verhältnis zu den anderen ursprünglichen Ordnungen (die Disposition der Marburger behält er bei), den Ordnungen der Natur und des Moralischen. Die eigentümliche Gesetzlichkeit der Kunst tritt nach Sturmfels in einer Reihe von Bestimmungen zutage, deren wichtigste wohl diese sind: 1. Die Kunst gründet im Gefühl, näherhin im Selbstgefühl (23 ff.) 29 . 2. Die Kunst ist ebendeshalb (mit Bezug auf die Subjektivität) kein Anderes, wie es die Natur ist. „Es geht beim Kunsterleben nicht darum, uns in eine fremde Welt einzuleben, sondern darum, die Wirklichkeit des Kunstwerks im nacherzeugenden Gefühl in uns erstehen zu lassen" (9)30. 3. Das ästhetische Gefühl ist produktiv. Es bringt den Inhalt des Kunstwerks hervor (33). 4. Jedes künstlerische Gebilde besitzt Selbständigkeit. „Jedes Kunstwerk steht für sich, ist in sich neu und originell. Hierin eben unterscheidet sich die Kunst von der Wissenschaft, die in dem Fortschritt ihrer Erkenntnisse in einem methodischen Zusammenhang steht . . ." (10 f.) 91 . 5. Der Bezug der Kunst auf das Gefühl (auf das Selbstgefühl) bringt es mit sich, daß ihre Gegebenheit davon abhängt, ob die Kunstwerke „noch lebendiger Inhalt des ästhetischen Bewußtseins sind" ( 1 1 ) . Die Kunstwerke sind also mit Rücksicht auf ihre Geschichtlichkeit bestimmt. 6. Doch die Geschichtlichkeit macht das Wesen der Kunst dennoch nicht aus: „Das Kunstwerk ist bei aller seiner Geschichtlichkeit zugleich von einer übergeschichtlichen Kraft geformt, durch die es als Gleichnis des Ewigen im Menschen die Grenzen des Nur-Geschichtlichen überschreitet" (12, vgl.33). Die Kunstwerke besitzen eine „überzeitliche Gültigkeit".

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Problem und ihre Probleme. 4. Aufl. 1929. S. 9$ ff. und Philosophische Propädeutik. j. Aufl. 1927. S. j i f. (§ 39. Aufgabe und Prinzip der Ästhetik). Zum Begriff des Selbstgefühls: Cohen, Ästhetik des reinen Gefühls. Zweiter Band. S. 4 1 7 ; Natorp, Philosophie. S. 103; zum Begriff des Gefühls: Cohen, Kants Begründung der Ästhetik. S. 222 ff.; Natorp, Philosophische Propädeutik. S. 61 f. (§ 45 Das Gefühl). Der These von der Andersheit der Natur gegenüber der Subjektivität könnte ein orthodoxer Marburger allerdings kaum zustimmen. Wie die Gegenständlichkeit schlechthin, so kann audi die Natur für die Marburger kein Subjektsfremdes sein. Vgl. etwa Natorp, Hermann Cohens philosophische Leistung. S. 8 f. Ein verwandtes Lehrstück das „individuelle Kunstgebild" betreffend bei Natorp: Philosophie und Pädagogik. 2. Aufl. 1923. S. 123, ebenso dort S. 134 der Abweis jener spezifischen Progressivität, die für die Wissenschaft charakteristisch ist (über N . Hartmanns Anteil an dieser Partie unterrichtet eine Bemerkung S. 109).

248

Subjektstheoretisdie Ästhetik

7. Das Kunstwerk hat nicht nur seinen Grund und seinen Bestand in der Subjektivität, im Selbstgefühl der Subjektivität und in der Zugehörigkeit zur Subjektivität (Momente 1 und 2), es ist audi für die Subjektivität, und zwar nicht nur für die hervorbringende, sondern audi für die andere Subjektivität; es besitzt grundsätzliche Mitteilbarkeit (7), es besitzt seine eigene „Sprache". 8. Die Sprache der Kunst ist von der gewöhnlichen, primären Sprache, der „Sprache des Begriffs", als die „Sprache des Gefühls" unterschieden (14). 9. Die Struktur des Kunstwerks ist geprägt durch die „künstlerische Form, in der sich ein künstlerisches Selbst mitteilt" (18, vgl. 26, 27). — Außer den fundamentalen Faktoren der Ursprünglichkeit und der Autonomie finden wir bei Sturmfels — ohne damit freilich die ganze Systembestimmtheit sdion erfaßt zu haben — neun Momente, ich nenne sie noch einmal: 1. Gefühlskonstituiertheit, 2. Subjektszugehörigkeit, 3. Produktivität, 4. Gebilde-Selbständigkeit, j . Geschichtlichkeit, 6. Uberzeitlichkeit, 7. Mitteilbarkeit, 8. Gefühlssprache und 9. Form. Sturmfels nennt die Grundlegung der Kunst „Gesetzlichkeit", „das Gesetz ihrer Bildung" (8), zugleich eine Ordnung, die dem „künstlerischen Gegenstand" seine Bestimmtheit verleiht (14). Zugleich ist die Grundlegung eine Ordnung, in der „sich der menschliche Geist darstellt und ausdrückt" (15). Dieser Ordnungen gibt es mehrere: die der Natur, die des Sittlichen (Moralischen) und endlich diejenige der Kunst. Diese Ordnungen sind einerseits voneinander verschieden, andererseits aber stimmen sie darin überein, daß sie, wie Sturmfels ausdrücklich sagt (15), durch die „für sie spezifischen Gesetzlichkeiten . . . ihren Gegenstand hervorbringen" 82 . Ein und derselbe Gegenstand kann verschiedenen Ordnungen unterstehen. Der Gegenstand Stuhl ist Naturgegenstand, Gebraudisgegenstand und künstlerischer Gegenstand. Entsprechend wird dieser Gegenstand erfaßt entweder durch ein „Natururteil", durch ein „soziales Urteil" oder durch ein „Gefühlsurteil" bzw. durch ein „Kunsturteil" (16, 20 ff.). Nun stehen aber die Ordnungsformen, die dem Gegenstand seine Bestimmtheit geben, und die entsprechenden „Beurteilungsarten" selbst wiederum in einer bestimmten Ordnung. Diese Ordnung, also das Grundlegungssjsiewz, ist in doppelter Rücksicht bestimmt, einmal mit Bezug auf die wechselseitige Bestimmung der Systemglieder, zum anderen mit Bezug auf ihre Folge. Sturmfels drückt diesen Gedanken so aus: „So ist die Grundform, in der der menschliche Geist der Natur und der Wirklichkeit innewird, eine Form, die in allen Ordnungsformen, wenn auch gemäß deren Eigenart, mitenthalten ist" (17). Dieser Satz ist wichtig. Freilich ist er nicht frei von Unbestimmtheiten. Gemeint ist wohl nicht eine „Beurteilungsart", sondern eine Gegen32

A n anderer Stelle ist freilich von „Bestimmung oder . . Erzeugung" die Rede (20).

D i e Ästhetik Sturmfels'

249

standsart, genauer: deren „Gesetzlichkeit" (und nicht „ N a t u r " , sondern „Naturgegenstände" müßte es also heißen). Doch dieser P u n k t ist offenbar von minderem Gewicht 33 . Wesentlicher ist etwas anderes: Sturmfels spricht von „ N a t u r und Wirklichkeit". Die anfängliche Einschränkung auf „Natururteil" und N a t u r genügt offenbar nicht. A l s ein Systemglied, das dem Praktischen (dem praktischen Urteilen und dem praktischen O b j e k t ) und dem Ästhetischen gleichrangig gedacht werden kann, kommt nur das theoretische Urteil schlechthin und die theoretische Gegenständlichkeit im ganzen in Betracht 84 . — Lassen wir diese Schwierigkeit auf sich beruhen, so bleibt doch dieses, d a ß die theoretisdie (oder wai«rtheoretische) Urteils- oder Gegenstandsform an der ersten Stelle in der Systematik steht und zugleich ein Implikat der anderen, nachfolgenden Formen ist, ein Implikat allerdings, das sich der fremden „Eigenart" fügen muß. Das Gefühl ist unter den Bewußtseinsfunktionen „das Bewegende": „Das Fühlen ist gewissermaßen die motorische Kraft, durch die G e danke und Wille sich als lebendiger Gedanke und als lebendiger Wille darstellen" (25). Es ist „als eine Grundbewegung des Bewußtseins dasjenige, was Körper und Geist miteinander verbindet" (26). — W a s hier „lebendig" heißen, was die „Verbindung v o n K ö r p e r und Geist" sein soll, das bleibt allerdings dunkel. Es geht w o h l darum, dem G e f ü h l eine besondere Konkretionsfunktion zuzudenken. Die Frage ist nur: Sind Denken (Erkennen) und Wollen denn ohne den Gefühlsbezug, der doch eine spezifisch ästhetische Funktion darstellt, nidit „lebendig", verbinden sich im Erkennen und im Wollen nicht ebenso Funktionen v o n Geist und Körper? Freilich ist das Verhältnis des Geistes zur Leiblichkeit im p r a k tischen und im theoretischen Felde je ein anderes. Einmal ist es charakterisiert durch die Beziehung v o n Reiz und Empfindung und zum anderen dadurch, daß die Subjektivität ihre Leiblichkeit frei zur A k t i v i t ä t bestimmt. Nicht die Bewegungsfunktion innerhalb des Bewußtseins und die Verbindungsfunktion über das Bewußtsein hinaus (in Richtung auf den, auf „meinen" Körper) sind wesentlich für die ästhetische Leistung des Gefühls, wesentlich ist w o h l doch etwas anderes, nämlich dieses, daß das Ästhetische der individuellen Subjektivität zu bestimmtem A u s druck verhilft. Die Geschichtlichkeit (der Subjektivität), so lehrt Sturmfels, „erfährt . . . verwandelt . . . in der künstlerischen Form . . einen 33

34

Denn so wie die Gegenstandsordnungen sich zueinander verhalten, ganz so werden sich dieser Lehre zufolge auch die „Beurteilungsarten" zueinander verhalten. Ähnliche systemtheoretische Schwierigkeiten finden sich bei Sturmfels überall dort, w o er von Größen handelt, f ü r die in der alten kritizistischen Grundlegungsdisposition („Natur, Sittlichkeit, Kunst") keine letztbestimmte Stelle vorgesehen w a r , wie „Geschichtlichkeit", „Wesen des Menschen", „Geist", „Soziales". D i e Spannung zwischen der älteren formalistischen Geltungslehre und der jüngeren Faktizitätslehre bleibt bestehen.

250

Subjektstheoretische Ästhetik

vertieften überzeitlichen Ausdruck" (33). Im Gegensatz zu den „objektiven Formen des Geistes" (Wissenschaft, „Moralisches") handle es sich bei der Kunst „um eine eigene Ausdrucksform des Individuums in seinem Selbstgefühl" (33). In den objektiven Formen ist das Individuum „verurteilt . . sich selbst aufzuheben" (34). Nicht nur im Theoretischen also ist nach Sturmfels diese Selbstaufhebung gefordert, auch im Praktischen: „Es geht im Moralischen nicht um das Individuum, sondern um das die Grenzen der Individuen übersteigende Allgemeine, um das Gesetz, ohne das eine menschliche Ordnung nicht möglich würde" (33). — „Vor dieser Gefahr, gegenüber dem Anspruch des Unbedingten zur völligen Bedeutungslosigkeit herabzusinken, rettet die Kunst das Individuum, indem sie dieses in der Objektivierung der künstlerischen Form auf ein anderes Selbstgefühl hin mitteilbar macht und in eine ästhetische Kommunikation eingehen läßt. Es ist somit das Individuum in seiner ganzen Besonderheit, das in der Kunst zur Anerkennung kommt, und zwar dadurch, daß das Selbstgefühl in der ästhetischen Form ausdrückbar, d. h. einer eigenen Spradiform mächtig wird" (34 f.). — Diese Sätze sind ein Kernstück der Sturmfelsschen Ästhetik. Von ihnen hängt alles ab, was über das Unbewußte in der Kunst (42 ff.), den Stil (6p ff.), die künstlerische Wirklichkeit (72 ff.), die poetischen Gattungen (84 ff.) und über den Humor ( 1 1 7 ff.) ausgeführt ist. Betrachten wir sie also genauer!

7. Recht und Grenzen der subjektstheoretischen

Ästhetik

In der Marburger Lehre findet sich der Gegensatz des Objektiven und des Subjektiven in anderer Gestalt: Natorp stellt den drei klassischen gegenstandserzeugenden Leistungsformen die psychologische Dimension des Subjektiven gegenüber35. Den gleichen Gegensatz übernimmt auch der frühe Nicolai Hartmann36. Diese Marburger Theorie hat einen guten Sinn, denn (um es einmal so auszudrücken) die Gehaltsbestimmtheit der drei Grundlegungsarten und die Aktbestimmtheit lassen sich durchaus als ein solcher ursprünglicher Gegensatz auffassen. Daran ändert auch der Umstand nichts, daß die begriffliche Form, in der Natorp diesen Gegensatz zu bestimmen versuchte, nicht genügen konnte37. Andererseits aber bestimmt der Gegensatz des Objektiven und des Subjekti35

36

37

Philosophie. J . K a p . , bes. S. 130, 135 ff., 143 f.; Allgemeine Psychologie. Tübingen 1912. S. 125 ff. (§ 17); Philosophie und Pädagogik. S. 137 ff.; Philosophisdie Propädeutik. S. 56 ff. (§ 42). Systembildung und Idealismus. 1912. Abschnitt V. (Kleinere Schrißen. Bd. III. I9j8. S. 76 ff.). Vgl. R . Hönigswald, Prinzipienfragen der Denkpsychologie. In: Kant-Studien 18 (1913) Absdinitt I (S. 205 ff.).

Recht und Grenzen der subjektstheoretischen Ästhetik

251

ven nicht nur an dieser Stelle das Systemgefüge. Er beherrscht vielmehr die ganze Folge der Grundlegungsstufen: das Verhältnis des Theoretischen zum Praktischen gleicherweise wie das Verhältnis des Praktischen zum Ästhetischen. Diese letztgenannte Stufe hat Sturmfels im Auge. — Im Praktischen ereignet sich bereits eine erste Wendung zum Subjektiven, insofern die Subjektivität sich in dieser Leistung nicht mehr auf Anderes, sondern auch sich selbst richtet (Erfassen eines Anderen in der Theorie, Bestimmung des Selbst in der praktisch-relevanten Setzung). Beide Leistungsformen bleiben aber noch in einem Medium des Objektiven, insofern es ein Reales ist, das in der Theorie erfaßt (in erster Linie wenigstens und mit Rücksicht auf die Grundform der Theorie) oder in der praktischen Leistung entworfen und bestimmt wird. Auch die praktische Leistung zielt zwar auf ein Subjektives (auf das Selbst nämlich), aber doch nur auf ein reales oder zu realisierendes Subjektives, auf ein, sozusagen, Objektiv-Subjektives. Die ästhetische Leistung hingegen hat ein solches zu ihrem Inhalt, das diese Realität (die des realen Erkenntnisgegenstandes und die des sich bestimmenden Selbst) nicht besitzt, dessen Bestand weder von der Subjektivität unabhängig ist noch die Subjektivität selbst ist, sondern das in der Subjektivität gründet und das deshalb in einem besonderen Sinne „subjektiv" genannt werden darf — eine (oder gar die) „subjektive Form des Geistes". Die These von der spezifisch subjektiven Bestimmtheit der ästhetischen Form hat gewiß ihr Recht. Aber ist auch diese andere Lehre Sturmfels' akzeptabel, daß die individuelle Subjektivität in den objektiven Geltungsfeldern zu völliger Bedeutungslosigkeit hinabsinke? — Dieses Lehrstück scheint mir, so sehr es einer verbreiteten Uberzeugung der kulturidealistischen Philosophie entspricht, geradezu falsch zu sein: Gehören nicht Faktizität, Naturalität, Leiblichkeit, konkrete Innerlichkeit und Geschichtlichkeit zu den ursprünglichen Bedingungen der Möglichkeit der theoretischen Leistung, d. h. zu ihrem Prinzipiengefüge? Wäre anders Erfahrung — welcher Art immer — überhaupt möglich, wenn nicht die Faktizität (mit ihren Äquivalenten) theoretische Gegenständlichkeit vermittelte? Und geht es im Praktischen denn nur um das „Allgemeine", und nicht vielmehr um die Ordnung und Entfaltung der individuellen Subjektsfaktizität in konkreten Entwürfen? Ist denn die Idee, die die praktische Leistung gründet, ein dem Faktischen abgezogenes und dem Faktischen zugleich entrücktes Allgemeines? Ist die Idee denn nicht jenes unbedingte Konkrete, an dem die individuelle Faktizität als Moment der Bestimmtheit ihren Anteil hat? In Theorie und Praxis, im Erkennen und im Wollen, in Weltorientierung und Selbstentwurf realisiert — das ist allem Subjektspurismus, auch diesem, entgegenzuhalten — die faktische Subjektivität (zu einem guten Teile) ihre — Faktizität.

252

Subjektstheoretische Ästhetik

Angesidits der Sturmfelssdien Grundprobleme der Ästhetik sehen wir uns tatsächlich fundamentalen Fragen gegenüber, die, so viel ich sehe, bis heute ungelöst sind. Mag Sturmfels audi eine weit zurückliegende Lehre — die Hermann Cohens — wiederaufnehmen, in einem anspruchsvollen Sinne ist seine Fragestellung aktuell. Die Unausgeglichenheit kritizistischer und lebensphilosophischer Motive ist nicht nur für seine Ästhetik charakteristisch. Das Grundlegungsproblem, das hinter dieser Unausgeglichenheit steht, wartet immer noch auf seine Lösung. Was aber die Mittel zu einer solchen Lösung angeht, so will es mir scheinen, daß sie außerhalb des Kritizismus und außerhalb der Lebensphilosophie bereitgestellt worden sind. Ich möchte deutlicher werden: Welchen Grundsachverhalt die philosophische Ästhetik ins Zentrum ihrer Lehre rückt, das reine Gefühl oder aber das „lebendige", geschichtliche Gefühl, mit anderen Worten, ob sie geltungs- und ideentheoretisch oder ob sie lebensphilosophisch und anthropologisch verfährt — in beiden Fällen begreift sie die Subjektivität als Fundamentalfaktor. O b die philosophische Reflexion in der Sphäre der Idealität, in der des reinen Bewußtseins, oder in der des „Lebens" bleibt, macht vielleicht keinen so sehr großen Unterschied. Die Frage ist stets, ob mit der Subjektsimmanenz — mag ich sie als Bewußtseinsimmanenz oder als Lebensimmanenz verstehen — philosophisch etwas anzufangen ist, ob, anders gewendet, Subjektivität im Horizont der Subjektivität und Geschichtlichkeit im Horizont der Geschichtlichkeit bestimmt werden können. Die Frage ist, ob die Subjektsimmanenz (werde sie als Idealität, werde sie als Faktizität verstanden) nicht allemal durchbrochen werden muß. Ein solcher Durchbruch aber führt mit Notwendigkeit über die Subjektstheorie hinaus, f ü h r t auch in der Ästhetik über die Subjektstheorie hinaus. Die Bestimmung derjenigen Momente, ohne die audi die philosophische Ästhetik nicht auszukommen vermag, eben der der Subjektivität und der Faktizität, ist nur möglich unter Voraussetzungen i . eines objektiven Korrelats (für die Subjektivität) und 2. eines objektiven Horizonts (zur Lokalisation der Faktizität). Weder die Fragen der Geltungstheorie noch die der Faktizitätslehre sind ohne Bezug auf eine philosophische Gegenstandslehre (Ontologie) zu behandeln. Wo eine Lehre vom Konkreten im ganzen, d. h. eine ontologische Konstitutionstheorie fehlt, dort bleibt auch die besondere Konkretheit, die das f a k tische Subjekt ist, unbestimmt. Ergibt sich aber, daß auf dem Felde des Ästhetischen die Faktizität eine spezifische und ausgezeichnete Äußerungsmöglichkeit besitzt — und es spricht Vieles dafür, daß es so ist —, dann muß auch die Philosophie des Ästhetischen in wohlbestimmter Hinsicht gegenstandstheoretisch sein. Daran freilich, daß auch die subjektstheoretischen Themen der Geltung und der Faktizität ihre Stelle in der Ästhetik behalten müssen, ist kein Zweifel. Die Subjektstheorie, insbesondere die des Kritizismus, hat lange Zeit gemeint,

Recht und Grenzen der subjektstheoretisdien Ästhetik

253

ihren Platz gegen die Gegenstandstheorie (gegen den vermeintlichen Dogmatismus der Ontologie) verteidigen zu sollen. Sie wird einsehen müssen, und das gilt ganz besonders für die philosophische Ästhetik, daß sie ihren Platz nur auf der Seite der Gegenstandstheorie verteidigen kann. Die Front verläuft anders, als man glaubte: nicht hier Subjekt, dort Objekt, sondern hier Bestimmtheit, dort Unbestimmtheit.

Gliederungsfragen j. Aufgabe der

Ästhetik

Der Terminus Ästhetik bezeichnet ein bestimmtes Gebiet des philosophischen Fragens. Die Fragen, die hier gestellt werden, gelten dem Wesen entweder dessen, was gemeinhin „Kunst" genannt wird, oder auch dem Wesen des Schönen überhaupt. Ich will dasjenige, dessen Wesen in der Ästhetik aufgedeckt werden soll, in aller Vorläufigkeit das Ästhetische nennen und lasse dabei offen, wo die Grenzen dieses Feldes liegen. Eine solche Vorläufigkeit ist geboten; es könnte sonst geschehen, daß die Theorie an einem Phänomenbestand einsetzt, der zwar zum Felde des Ästhetischen gehört, der aber nicht so weit reicht wie das Ganze des Ästhetischen. Mag ein prinzipientheoretischer Ansatz auch nie den jeweils betrachteten Bestand in seiner Vollbestimmtheit erfassen können, so muß doch sicher sein, daß dieser Bestand als ganzer gedacht wird und daß nicht nur ein Teilstück für das Ganze gesetzt wird. Dazu gehört, daß er in seiner Unterschiedenheit gegenüber anderen möglichen Inbegriffen erfaßt wird. Ästhetisches muß, diese Aufgabe steht am Anfang jeder philosophischen Ästhetik, in seiner Unterschiedenheit gegenüber Nichtästhetischem bestimmt werden.

2. Spekulation und Erfahrung Dieselbe Sachlage begegnet uns überall dort, wo überhaupt eine philosophische Theorie die Grundverfassung eines Bestandes oder Bereichs zu erfassen sucht. Der Unterscheidungsforderung entspricht, daß ein philosophischer Problemzusammenhang nur dort eine hinlängliche Eigenbestimmtheit erlangt, wo er sich gegenüber allen anderen gleichrangigen Problemzusammenhängen zu behaupten vermag. Darüberhinaus bedarf es jedoch noch eines weiteren: Der philosophische Problemzusammenhang muß sich nicht nur gegenüber gleichrangigen philosophischen Problemen, er muß sich gerade auch gegenüber allen verwandten positiven Fragestellungen behaupten. Angesichts der ersten fundamentalen Fragen scheint diese Selbstbehauptung der nichtpositiven Theorie vergleichsweise geringere Schwierigkeiten zu enthalten. Die Fragen nach der Bestimmtheit des Denkens und des Seins, des Einen und des Vielen beispielsweise wird keine positive Theorie beantworten wollen. Doch

Selbstgenügsamkeit, Gattungen, Stile

255

bei fortschreitender Differenzierung der Fragestellungen und der Fragegebiete fällt die Grenzziehung schwerer. Und immer wieder müssen die Kompetenzbereiche von Erfahrung und Spekulation neu geschieden und bestimmt werden. Wo der Philosoph darangeht, die Grundlagen für einen besonderen Gegenstandskomplex aufzudecken, stellt er in der Regel fest, daß die Bestände dieses Komplexes schon in gewisser Weise theoretisch verfügbar sind, bevor die spekulative und prinzipientheoretische Arbeit beginnt. Erschöpft die positive Theorie freilich auch an keiner Stelle die theoretischen Fragemöglichkeiten, so hat sie doch ihr Geschäft in der Regel wenigstens schon aufgenommen, wenn die prinzipientheoretische Analyse und die spekulative Bestimmung der in Rede stehenden Größen einsetzt. Etwas anderes kommt hinzu: Gewiß fordern solche Bestände auch vor aller Differenzierung der Theorie in Erfahrungswissenschaft und Spekulation schon zu Fragen heraus, die teils der konkreten Beschaffenheit dieser Gegebenheiten, teils auch der wesentlichen Verfassung derselben gelten. Wenn die Frageabsichten einander jedoch nicht stören sollen, müssen die Aspekte der positiven und der nichtpositiven Theorie geschieden werden. Dies ist freilich nur dort zu erreichen, wo die geschiedenen Erkenntnisarten in sich selbst und in ihrer Distanz hinlänglich etabliert sind. Das Verhältnis von positiver und spekulativer Theorie ist eine Wechselbeziehung. Grundlegungstheorie, die nicht in irgendeiner Hinsicht horizonteröffnende und horizontberichtigende Bedeutung für positive Theorie hätte, wäre leeres Spiel. Wie schwierig die entsprechenden Durchführungen in einer philosophischen Sonderproblematik auch immer werden mögen, es existiert kein theoretischer Anlaß und es existiert dementsprechend kein theoretisches Recht, die Frage nach Voraussetzungen an irgendeiner Stelle zu unterdrücken. Ungesichert durch mitgesetzte Voraussetzungen, seien sie expliziert oder nicht — explizierbar müssen sie sein! —, wäre positive Theorie nichts anderes als eine mehr oder minder ausgedehnte und zufällige Anhäufung von mehr oder minder interessanten und verdienstvollen Kenntnissen. Es ist aber gewiß kein Zufall, daß an Wendepunkten der Forschung, dort wo neue Fragefelder und Fragehinsichten sich auftaten, Grundlegungsfragen gestellt wurden. Mit Rücksicht auf das Feld des Ästhetischen sind längst nicht alle Voraussetzungen geklärt; ja, es hat den Anschein, daß diese Klärung in wichtigen Stücken immer noch an den Anfängen steht.

j. Selbstgenügsamkeit,

Gattungen,

Stile

Die philosophische Ästhetik hat im wesentlichen zwei Aufgaben, die bewältigt werden müssen: die Abgrenzung des spezifisch ästhetischen

256

Gliederungsfragen

Tatbestandes gegenüber nichtästhetischen Fakten, die gleichwohl Einfluß und Bezogenheit auf das Ästhetische besitzen, und die innere Ordnung des Ästhetischen selbst. Aufgegeben ist also einerseits, das konkrete ästhetische Gebilde, oder auch nur die konkrete ästhetische Einstellung, von Nichtästhetischem abzuheben, und andererseits, diesen Einzelbestand einer spezifisch ästhetischen Gliederungssystematik zu unterwerfen. Es ist unverkennbar, daß zahlreiche einzelwissenschaftliche Versuche (in erster Linie solche der Kunstgeschichte, in zweiter Linie, zum Teil den Anregungen der ersteren folgend, solche der Dichtungsgeschichte) eine Klärung dieser Art zum Ziele haben, wenn sie an bestimmten Gebilden und Epochen die Fragen der ästhetischen Selbstgenügsamkeit und der ästhetischen Differenzierung in positiver Untersuchung exemplarisch erörtern. So werden die außerästhetische Bedingtheit und die außerästhetische Bestimmtheit von Kunstgebilden und Kunstgesinnungen (als den beiden Trägern ästhetischer Valenzen) ausdrücklich abgehoben von dem inneren Sinn und der inneren Geschichte der ästhetischen Phänomene. Die charakteristisch ästhetischen Struktur- und Gehaltsvalenzen gelten diesen positiven Bemühungen als ihr eigentlicher Gegenstand. Das andere, die Klärung allgemeingeschichtlicher, allgemeinkultureller und allgemeinphilologischer Bezüge gilt für dieses besondere einzelwissenschaftliche Interesse als Vorarbeit, als unerläßliche und unersetzbare Vorarbeit allerdings. Wenn auch die anspruchsvollere Deutung angesichts der Kompliziertheit der historischen Verflechtungen bisweilen den festen Boden unter den Füßen verlieren mag, so weiß sie sich doch, wenigstens in dieser Hinsicht, der eigentlicheren Problematik zugewandt. Das Kunstwerk und das Dichtwerk in der Geschlossenheit ihres Aufbaus rücken ins Zentrum der Thematik, ebenso wie die Entwicklung des spezifisch Ästhetischen und Poetischen und wie die Geschichte des ästhetischen Erfassens. Neben diesen Problemen finden sich Fragen, die die Ordnung der Gattungen betreffen. Und innerhalb dieser Problematik tritt das geschichtliche Moment stärker in die Erscheinung. Die Gattungsordnung wird nun in ihrer historischen Funktionalität betrachtet, die Stilentwicklung zugleich als eine Veränderung der Gattungsverhältnisse aufgefaßt und auf diese Weise erst der Gedanke stilgeschichtlicher Kontinuität zur Wirksamkeit gebracht.

4.

Entwicklungsmomente

Es wird deutlich, daß in den Stilen sich zugleich bestimmte Gewichtsverhältnisse der Gattungsvalenzen ausprägen. Hier zeigen sich Strukturen, die mit der herkömmlichen und ungeschichtlich gedachten Systematik nicht zu bewältigen waren. Die Schwierigkeiten der Bezogenheit von gehaltlicher und historischer Bestimmtheit treten dergestalt auch

Bestimmtes und Bestimmen

257

schon in der positiven Theorie zutage. Diese Bezogenheit enthält mehr als eine bloße Gleichzeitigkeit von Verschiedenem. Die Gehaltsbestimmtheit korrespondiert der historisch-genetischen Bestimmtheit in charakteristischer Weise. Das Verhältnis zeigt sich sowohl in der Binnengliederung des Ästhetischen als auch in dem Bezug zu nichtästhetischen Valenzen der Kultur- und Bewußtseinsentwicklung. Die Fragen, die sich hier ergeben, drängen ganz offensichtlich auf eine Klärung der Voraussetzungen. Gelegentliche grundlegungsanalytische Reflexionen, wie sie sich in der positiven Forschung an vielen Stellen finden, können nun nicht mehr ausreichen. Das Problem muß auf dem Boden einer umfassenden Grundlegungstheorie angegangen werden. Wie die Dinge liegen, sind es vor allem Fragen der Regionalisation, auf die die einschlägige Problematik immer wieder hindrängt. Es ist hier einmal die Frage nach der spezifischen Bestimmtheit der ästhetischen Sphäre im Gesamtgefüge der Kultur· und Leistungsbereiche, und zum anderen die Frage nach der inneren Gliederung des Ästhetischen selbst. Zumindest die erste Frage, die nach der Lokalisation des Ästhetischen, überschreitet das Gebiet einzelwissenschaftlicher Forschung, denn diese Lokalisation betrifft das Ästhetische als Ganzes, unabhängig von dem Stande zeitweiliger Erforschtheit und Erforschbarkeit. Die Frage leitet schließlich zurück auf das Problem der Möglichkeit der Gliederung des Grundlegungsgefüges überhaupt.

j. Bestimmtes und

Bestimmen

Die Frage nach einer ursprünglichen Gliederung wird überall dort spruchreif, wo die Ordnung des Gegenständlichen nicht mehr allein aus positiv erfaßbaren Bestimmungsstücken verstanden werden kann. Zweierlei ist möglich: Die Ordnungsbezüge können entweder mit dem Gegenständlichen in seiner jeweiligen Vereinzelung gegeben sein, oder aber sie können dieser Vereinzelung schon vorausliegen. Das heißt, daß diese zweite Art von Ordnungsvalenzen bereits vorgegeben sein muß, wo Gegenständliches in positiver Weise erfaßt wird. Vorgegebene Bestimmtheit wiederum ist in doppelter Gestalt möglich, einmal als Bestimmtheit überhaupt, zum anderen als spezifische Bestimmtheit. Dabei ist anzunehmen, daß Bestimmtheit immer schon, also auch die Bestimmtheit überhaupt, eine Gliederung impliziert. Daß aber die Bestimmtheit schon eine ursprüngliche Gliederung einschließt, ist nicht nur hinzunehmen, sondern auch erweislich. Wo die Bestimmtheit immer auftreten mag, dort ist sie die Bestimmtheit eines Bestimmten für ein mögliches oder denkbares Bestimmen. (Ob und wie das Bestimmen hierbei aktualisiert ist, ist nicht entscheidend; auch die Feststellung der Nichtaktualisiertheit oder, in gewissen Rücksichten, die der Nichtaktualisierbarkeit 17

Wolandt, Idealismus

Gliederungsfragen

258

des Bestimmens, schließt den Hinblick auf ein Bestimmen ein.) So wird mit der Bestimmtheit des Bestimmten auch die Bestimmtheit des Bestimmens Problem. In dieser Beziehung schließt Bestimmtheit stets schon die Doppelheit der Rücksichten, also eine erste Form der Gliederung, in sich: die Gliederung in Vermeinen und Vermeintes.

6. Vereinzelung, Gliederung, Grundlegung Die Gliederung (Regionalisation) ist die eine Form möglicher Differenzierung. Die Differenzierung hat eine doppelte Gestalt: einmal die der Vereinzelung und zum anderen die der Gliederung. Die erste ist durch die zweite ermöglicht1. In der Spannung zwischen Bestimmtheit überhaupt auf der einen Seite und dem Vereinzelten auf der anderen vermittelt die Gliederung. Die Vermittlung betrifft ein rein strukturelles Verhältnis. Es ist das Verhältnis der Grundlegung. Die Grundlegung nun meint nicht mehr, aber auch nicht weniger, als jenen Größenbestand, der (explizit oder implizit) vorausgesetzt werden muß, wo Bestimmtes gedacht wird. Sehen wir von der analytischen Betrachtungsweise der Grundlegung und ihrer Momente zunächst ab, so heißt das: Wo immer ein Einzelbestimmtes, nur davon ist die Rede, gedacht wird, dort sind bereits Größen mitzudenken, die diesem Einzelbestimmten als solchem nicht abgenommen werden können. Sie sind schon vorauszusetzen. Die Grundlegung ist aber nicht nur Bestimmtheit oder Gegenständlichkeit überhaupt, grundlegend ist gleicherweise Gegenständlichkeit in ihrer Gliederung, Gegenständlichkeit als gegliederte. Sie weist das Einzelbestimmte spezifischen Hinsichten, Gebieten, Bereichen, Sphären usf. zu. Wichtig ist, daß diese Gliederung als ursprüngliche gedacht wird, d. h. aus dem Gedanken der Bestimmtheit, aus der Grundkorrelation von Bestimmen und Bestimmtem selbst, entfaltet wird; oder, anders gesprochen, daß die Bestimmtheit als ein Gliederungsgefüge und daß das Gliederungsgefüge als die Bestimmtheit verstanden werden. Vor die Frage nach dem inhaltlichen Sinn der Gliederung der Gegenständlichkeit überhaupt in spezifische Gegenständlichkeiten rückt eine andere, die die formale Möglichkeit der Gliederung selbst betrifft. Die Gliederung scheint zunächst nur in der Weise denkbar zu sein, daß sich die Glieder als Teilbestände eines größeren Ganzen zeigen. Doch diese Vorstellung ist unzutreffend. Der Abstand von Grundlegendem und Grundgelegtem ist irreduzibel. Das Grundlegende, also das Gefüge der Gegenständlichkeit, ist im Abstand von allem Grundgelegten, also dem Gegenständlichen, bestimmt. Dem Grundlegenden aber, dem Gefüge der 1

Vgl. Vf., Gegenständlichkeit

und Gliederung.

1964, III. Kap. (S. 42 ff.).

Der Gliederungsgedanke bei N . Hartmann

259

Gegenständlichkeit, eignet Letztheit. Es ist durch keine andere Größe oder Instanz bedingt, es unterliegt keiner weiteren Bedingung, oder doch nur dieser, selbst grundlegende Bedingung für jegliches Bedingte zu sein. Wenn aber dem Gefüge der Gegenständlichkeit Letztheit eignet, dann muß auch jedes Moment der Gegenständlichkeit, jede Hinsicht der Gegenständlichkeit, Letztheit besitzen. Was immer den R a n g der Gegenständlichkeit für sich beansprucht, das muß Letztes sein; was aber als Nichtletztes konkret bestimmt ist, das ist als Gegenständliches bestimmt. Anders ausgedrückt: Ist die Gegenständlichkeit als ein Inbegriff von Prinzipien bestimmt — von Prinzipien, die Konkretes, von welcher Art audi immer, in seinem Bestand ermöglichen, dann ist eine Größe auch erst dann als ein Prinzip ausgewiesen, wenn sie sich als Moment der Gegenständlichkeit hat nachweisen lassen. Nicht, was für Dieses oder Jenes, oder für Vieles gilt, ist Prinzip, sondern nur eine solche Instanz, die eine Funktion hat im einigen Gefüge der Gegenständlichkeit. Der Sinn der Grundlegung läßt keine Prinzipien von vorläufiger oder von relativ-positiver Bedeutung zu. Der Forderung nach muß jedes Prinzip als Moment der Gegenständlichkeit gedacht werden. Diese Forderung ist unaufgebbar, auch wenn sie nur schwer und (in den konkreten philosophischen Ansätzen) nur stückweise erfüllt werden kann. Impliziert Gegenständlichkeit als solche bereits Ordnung, so muß Gliederung ursprünglich schon in der Gegenständlichkeit angelegt sein. Diese Gliederung ist nicht die Differenzierung des Gegenständlichen als Gegenständlichem, sondern sie stellt das Ordnungsgefüge dar, das jeder Differenzierung von Einzelgegenständlichem zugrunde liegt. Die Gliederung ist also nicht gegenständliche Ordnung, sie liegt vielmehr allem Gegenständlichen als Bedingung voraus. Wo immer Einzelgegenständliches vermeint wird, dort muß Gegenständlichkeit als Ordnungsgefüge schon vorgegeben sein. Hinsichten und Bereiche der Gegenständlichkeit — oder in anderer Wendung: Gegenständlichkeiten — sind ungegenständliche Bedingungen, deren Struktur nur aus dem Gedanken der Gegenständlichkeit selbst erschlossen werden kann. Doch nicht das generelle Problem einer Ableitung spezifischer Gegenständlichkeiten beschäftigt uns hier, sondern die Frage, wie der Gedanke der ungegenständlidien Gliederung (der Regionalisation) für die Ästhetik fruchtbar gemacht werden kann.

7. Der Gliederungsgedanke bei N. Hartmann Es ist vor allem das Verdienst Nicolai Hartmanns, die Theorie der regionalen Gliederung weitergeführt und strenger begründet zu haben. Das Problem der Regionalisation hat ihn von Anbeginn seiner systematischen Arbeit an beschäftigt. Zunächst wird man an die bekannten 17*

260

Gliederungsfragen

Lehrstücke seiner Schichtenlehre und an die Konzeption der Schichtungsgesetzlichkeiten denken. Doch dies ist nur eine Hinsicht, in der Hartmann sich den einschlägigen Problemen widmete. Allerdings ist es auch die Stelle, an der er seine Gedanken am weitesten entwickelt hat. Doch auch in anderen Rücksichten tritt bei Hartmann der Gedanke des Regionalen zutage. Man besinne sich darauf, daß der generelle Sinn des Regionalen in der horizonteröffnenden Funktion spezifischer Gegenständlichkeiten liegt. Dieser Sinn eignet auch den primären und sekundären Seinssphären. Jedesmal geht es Hartmann darum, die Struktur des Prinzipiengefüges aufzudecken, das eine spezifische Gegenständlichkeit ermöglicht. Überall stellt sich das Problem, wie sich prinzipielle Valenzen, seien sie struktureller oder modaler Art, im Hinblick auf ihre spezifische Grundlegungsfunktion verbinden und abwandeln. Eben dieses Problem ist bereits leitend in den früheren Entwürfen, in denen er noch an der klassischen und schulgerechten Geltungsgliederung festhält. Formale Übereinstimmungen mit der späteren Lehre lassen sich jedoch schon hier nachweisen. So tritt vor allem bereits der wichtige Begriff der Abwandlung in Erscheinung. Sind dies die systematischen Hauptstellen, an denen der Regionalitätsgedanke im Hartmannschen Werk sich findet, also: (in der Frühzeit) Geltungsgliederung und (in der ausgearbeiteten Theorie) Sphären- und Schichtengliederung, so finden sich regionale Ansätze mit ganz verwandten Bestimmungsstücken auch in Binnenbereichen, so zum Beispiel in den Sonderuntersuchungen zur Struktur des Naturalen, insbesondere des Organischen, des Geistigen und schließlich in der Theorie des Schönen, wo es um die Erscheinungsschichten im Kunstwerk geht. Es bedürfte eingehender und sicherlich lohnender Arbeit, die Einzelbezüge und die strukturellen Ubereinstimmungen und Differenzen der genannten Gliederungsverhältnisse ans Licht zu rücken. Ich beschränke mich hier auf das, was für den Ansatz der besonderen Problematik des Ästhetischen von Bedeutung ist. In der früheren Theorie hat das Ästhetische bei Hartmann etwa den Ort, den es auch in der Natorpschen Philosophie besitzt, wenn Hartmann auch dem Wandel der Subjektsfunktion und der Gegenständlichkeit in den unterschiedenen Geltungssphären weiter nachgeht. Auf jeden Fall ist hier die Ursprünglichkeit der ästhetischen Hinsicht voll respektiert. In der späteren Theorie wird der Sphäre des Ästhetischen mit Rücksicht auf den Primat des Realen nur eine abgeleitete Bestimmtheit zugestanden; die Lehre von der Erscheinungsgliederung aber begnügt sich im wesentlichen mit einem Aufweis des phänomenologisch Deskribierbaren. Der Gliederungsgedanke kommt, wie ich ausführte, für das Feld der Ästhetik in doppelter Hinsicht in Betracht. Einmal betrifft er die Einordnung der ästhetischen Gegenständlichkeit in ein umfassendes System von Gegenständlichkeiten, zum anderen betrifft er die Binnengliederung des Ästhetischen selbst. Das erste und grundlegende Problem ist dabei

Der ältere Subjektivitäts-Begriff

261

natürlicherweise das einer Lokalisation der ästhetischen Hinsicht im Grundlegungsgefüge. Bei dem anderen Problem, dem der Binnengliederung, könnte es jedoch zunächst zweifelhaft sein, ob überhaupt eine echte prinzipienwissenschaftliche Frage vorliegt, und ob es nicht vielmehr Sache der positiven Forschung ist, innerhalb des ästhetischen Feldes Gliederungsmomente zu entdecken. Wenn aber auch der zweite Gesichtspunkt prinzipientheoretische Bedeutung haben sollte, dann muß er in einem notwendigen Zusammenhang mit dem ersten stehen. Zunächst zum Problem der Lokalisation: Das Gliederungsschema ist der überkommenen Geltungssystematik entnommen. Sehen wir von der Problematik der Religionsphilosophie und der der philosophischen Psychologie ab, so ist die Einteilung in drei Felder charakteristisch: die Felder des Theoretischen, des Praktischen und des Ästhetischen. Dies ist auch die Gliederung, die Hartmann akzeptiert und deren Aufbau er nachgeht. Audi in seiner späteren Theorie sind die Rücksichten keineswegs aufgehoben, wenn sich auch das Beziehungsgefüge und die Stellenbestimmtheit der Felder ändern. Was sich aber vor allem ändert, ist das Ansatzverfahren. Dadurch daß Hartmann in der Entwicklung seiner Systematik den reinen Konstruktivismus verwirft, verschafft er sich die Möglichkeit, die Gebiete des Praktischen und des Ästhetischen in relativer Isolation und, in wesentlichen Stücken, phänomenologisch-deskriptiv zu bearbeiten, das heißt, in einer Weise, die es ihm gestattet, weitgehend auch Vorläufiges im Sinne der Analyse, bloß Typisches und Positives in seine Überlegungen miteinzubeziehen. Die Frage nach dem systematischen Anschluß der Gegenständlichkeitsfelder und nach einer umfassenden Folgebestimmtheit der spezifisch gerichteten Analysen tritt auf diese Weise verhältnismäßig zurück. Das, was regionaltheoretisch an beherrschender Stelle steht, ist jene Ordnung, die man die Binnengliederung der theoretischen Gegenständlichkeit nennen müßte. Innerhalb des Horizonts der theoretischen Philosophie, hier: der Ontologie, wird der Gliederungsgedanke durchgeführt. Auch die Felder des Nichttheoretischen werden unter diesen Aspekt gerückt. An der Berechtigung dieser Behandlungsweise kann kein Zweifel sein, denn was immer Bestand haben mag und dank welcher Instanzen es ermöglicht sein mag, es muß möglicher Gegenstand für die Theorie sein, es muß sich der theoretisch zu erforschenden Welt einfügen lassen. Dieser Gesichtspunkt ist durchaus legitim. Aber er genügt allein nicht. Das Problem der ursprünglichen Bestimmtheit der Felder bleibt bestehen.

8. Der ältere

Subjektivitäts-Begriff

Neben der einseitigen Vorordnung des theoretischen Aspekts verdient ein weiterer Punkt Beachtung. Er betrifft den Versuch Hartmanns,

262

Gliederungsfragen

sogenannte Konstruktionen durch eine deskriptiv-phänomenologische Bestandsaufnahme zu ersetzen. Das gilt besonders für die nichttheoretischen Felder. Die konstruktivistische Theorie seiner Vorgänger zeigt neben erheblichen Vorzügen auch Mängel, die ein solches Vorgehen verständlich machen. Einer ihrer Vorzüge lag darin, daß sie die Geltungsgrundlegungen als autonome Größen ansetzte und daß sie eine Gliederung grundsätzlicher und nicht bloß tatsächlicher oder typischer Art versuchte. Eine Schwierigkeit lag indes darin, daß sich die Gliederung allein an der Grundverfassung des in der jeweiligen Hinsicht vermeinten Gegenstandes orientierte. Zwar wurde überall der korrelative Charakter des Verhältnisses von Vermeinen und Vermeintem betont, aber es war doch wesentlich die Verfassung des Gegenständlichen und nicht etwa die der Subjektivität, was für die Artikulation der Felder verantwortlich gemacht wurde. Die Subjektivität trat hier, dies zur Erläuterung, in doppelter Funktion auf: Einmal repräsentierte sie die Einheit der Leistungs- und Kulturbereiche, zum anderen zeigte sich die Subjektivität als den spezifischen Geltungsgesetzlichkeiten unterworfen. Gegenständlichkeitserschließende Bedeutung eignete nur den Geltungsmomenten. Die Subjektivität war dergestalt zwar von Geltungsmomenten betroffen, aber zugleich in Unterschiedenheit von allen Geltungsbeständen bestimmt. Sie war in dieser Funktion streng genommen nicht selbst Geltungsbestand, sondern lediglich geltungsbetroffen. Die Leistung war demgemäß in jeder Hinsicht Bestimmen, nicht aber Sichbestimmen. Die betroffene, konkrete Subjektivität war dergestalt in allen Bezügen das zu Uberwindende und nicht das zu Bestätigende. Sie eignet sich, noch anders formuliert, Sinn an, aber sie hat nicht von sidi aus Sinn. Zwar war das Subjektive nicht ein Gegenständliches gewöhnlicher Art, denn es war jeder Form der Objektivität zugeordnet, aber es blieb grundsätzlich hinter dem Bestimmtheitsrange einer jeden Objektivität zurück. Noch anders gewendet: Der Gedanke ursprünglicher Valenz und Verbindlichkeit blieb der gegenständlichen Bestimmtheit vorbehalten, daran ändert auch der Umstand nichts, daß sie als Setzungskorrelat in Ansatz gebracht wurde. Es zeigt sich, daß auf diese Weise die notwendig fundamentale Valenz der konkreten Subjektivität vernachlässigt wurde. Demgegenüber ist festzuhalten: Wenn die Subjektivität die universale Einheit der Leistungsmöglichkeiten einschließen soll, dann muß sie jeder ansetzbaren Gegenständlichkeit gleichrangig sein. Und gerade dies wird verdeckt in der bloßen Betroffenheit durch objektive Geltungsmomente. Der Gedanke der Selbstkonstitution bleibt so nach seiner fundamentalsystematischen Seite hin unausgeführt, denn das Selbst ist, der Einheitsidee zum Trotz, als bloß Begründetes gedacht.

Universalität der Theorie und Positivität

263

9. Universalität der Theorie und Positivität Nehmen wir die Folgebestimmtheit der Grundlegungstheorie an, wie sie durdi die Idee der Selbstbegründung der Theorie vorgeschrieben ist, so ist zunächst einmal die theoretische Grundlegung in ihrer universalen Bezugsvielfalt auszuarbeiten. Zwar wird von der älteren Geltungslehre der Vorordnungsrang der theoretischen Grundlegung in der Dimension der philosophischen Analyse anerkannt, mit anderen Worten: das Gefüge der Grundlegungen, und zwar aller Grundlegungen, wird als thematisiert und thematisierbar im Horizont der theoretischen Einstellung vorgestellt, doch es wird nidit zugleich auch die notwendige Differenzierung in jeder Hinsicht der positiven Erkenntnis berücksichtigt. Gerade dies aber suchte der „Ontologismus" nachzuholen. Neben anderem wurde audi die Subjektivität in den Horizont der Positivität miteinbezogen. Und dies ist im höchsten Grade verdienstvoll. Denn erst wenn die Theorie der theoretischen Gegenständlichkeit wenigstens prinzipiell voll ausgestaltet ist, lassen sich die anderen Grundlegungsinstanzen wirklich anschließen. Wenn wir das noch einmal festhalten wollen: Theoretische Gegenständlichkeit, ob man sie nun in der Weise des Ontologismus oder in der Weise des Kritizismus interpretiert (um nur diese für die vorliegende Problementwicklung repräsentativen Standpunkte zu nennen), muß ihren Grundlegungssinn sowohl im Hinblick auf die prinzipienwissenschaftliche Einstellung wie auf die positivwissenschaftliche Einstellung bekunden, und auch dies letztere in vollem Umfang, nicht bloß in Bezug auf das Feld exakter Wissenschaft. —

10. Theorie des Ästhetischen Indes, audi eine umfassend angelegte und differenzierte theoretische Philosophie bleibt prinzipiell ergänzungsbedürftig. Einzubeziehen in den Horizont der theoretischen Gegenständlichkeit ist ein Jegliches, auch ein nichttheoretisch Konstituiertes, doch die ursprüngliche Konstitution dieses Einbezogenen bleibt eigens zu bedenken. Auf den besonderen Punkt gewandt, der uns beschäftigt: Einzubeziehen ist auch das Ästhetische. Dieser Einbezug ist aber nur dann möglich, wenn die spezifische und ursprüngliche Grundlegung des Ästhetischen berücksichtigt wird. Bildet das Ästhetische auch einen besonderen Bereich oder eine eigene Hinsicht des durch Theorie zu erfassenden Gegenständlichen, so verdankt es doch seine eigentümliche Bestimmtheit nicht Prinzipien der theoretischen Gegenständlichkeit. Zwar muß es sich, soweit es gegenständliche Bestimmtheit erlangt hat, dem umfassenden Horizont theoretischer Gegenständlichkeit einordnen lassen, gleichwohl kann es in dieser Einordnung nicht aufgehen. Es fordert eine eigene Grundlegung.

Gliederungsfragen

264

Soll ermittelt werden, worin der eigentümliche und ursprüngliche Sinn der ästhetischen Gegenständlichkeit zu erblicken sei, so ist es, wie gesagt, unerläßlich, den Ort der ästhetischen Gegenständlichkeit im System möglicher Gegenständlichkeiten zu bestimmen. Das bedeutet, daß diejenigen Momente, die das Unterscheidende der ästhetischen Gegenständlichkeit gegenüber anderen Gegenständlichkeiten ausmachen, bestimmt werden müssen. Die nichtästhetischen Gegenständlichkeiten müssen also grundsätzlich so weit mit in Betracht gezogen werden, als dies zur Bestimmung der ästhetischen Gegenständlichkeit notwendig ist.

Ii.

Gegenständlichkeit

Allgemein ist zunächst dieses festzuhalten: Die Gegenständlichkeit ist eine Weise, in der Gegenständliches, von welcher Art es auch sei, dem Subjekt begegnet. Jede Art der Gegenständlichkeit ist bestimmt durch den Bezug auf die Subjektivität, oder, anders ausgedrückt, Gegenständlichkeiten sind die Weisen oder die Hinsichten, in denen die Subjektivität sich auf ein Gegenständliches bezieht. Dabei bedeutet hier „Hinsicht" das Gefüge von Bedingungen, auf Grund deren Gegenständliches in einen Bezug zur Subjektivität tritt. Gegenständlichkeit ist also nichts anderes als ein Inbegriff von Prinzipien, der eine spezifische und dabei ursprüngliche, auf keine andere Instanz zurückführbare Einstellung des Subjekts möglich macht. Die ursprünglich geschiedenen Hinsichten, in denen die Subjektivität sich auf Gegenständliches bezieht, nennen wir Gegenständlichkeiten. Die Hinsicht, die zuerst Problem werden muß, weil sie die Hinsicht möglicher Probleme selbst ist, ist die der Theorie. In der theoretischen Gegenständlichkeit erscheint ein jegliches so, wie es in Unabhängigkeit ist. Es erscheint so, wie es unabhängig von der konkreten Intention, in der sich das Erfassen ereignet, bestimmt ist. Das gilt nicht nur für dasjenige, das vom Subjekt unterschieden ist, es gilt auch für das Subjekt selbst, genauer gesprochen, für die Subjektivität in ihrem ganzen Bestände, für die konkreten Subjekte in ihrer Vereinzelung sowohl wie in ihrer Verbundenheit. Das konkrete Subjekt erfaßt sich, seinesgleichen und alle Ordnungen, denen es und seinesgleichen angehören, in theoretischer Einstellung als Bestände unter anderen Beständen. Hierbei denkt es Subjektives als etwas, das einerseits in der Welt ist und dem andererseits Welt und Weltliches erscheinen. Das konkrete Subjekt erfaßt sich und seinesgleichen als Vermeinte und Vermeinende zugleich, und dies sowohl in konkreter wie in prinzipieller Bedeutung, also sowohl in einzelwissenschaftlich-positiver wie in spekulativ-reflexiver Einstellung. Das konkrete Subjekt ist gewiß ein Gegenständliches, und das macht seine Erforschbarkeit durch positive Theorie möglich, aber es ist

Das konkrete Subjekt als Gegenstand

265

obendrein ein Gegenständliches von ausgezeichneter Art, — ein Gegenständliches, neben und außer dem nicht nur anderes Gegenständliches ist, sondern für das Anderes in der Weise ist, daß es vermeinbar und beziehbar ist, wobei dieses Andere und Vermeinbare jegliches umfaßt: Gegenständliches und Nichtgegenständlidies, Schliditgegenständliches und ausgezeichnetes Gegenständliches. —

12. Das konkrete Subjekt als Gegenstand Wenn also das konkrete Subjekt auch nicht gleidistrukturiert ist wie anderes, nichtsubjektives Gegenständliches, so weiß es sich doch in theoretischer Beziehung in einem Horizont mit anderem, nichtsubjektivem Gegenständlichem. Indes, die Möglichkeit positivtheoretischer Erforschbarkeit des Subjektiven unterliegt einer besonderen Bedingung: Die konkrete Subjektivität ist sich selbst Grund. Anders ausgedrückt: Die konkrete Subjektivität bestimmt sich selbst. Und sie ist nur dann möglicher Gegenstand der Theorie, wenn sie sich bestimmt hat. Die Selbstbestimmung ist Leistung der konkreten Subjektivität, und jede Leistung ist temporalbestimmtes Ereignis. Ist theoretisches Vermeinen nun auch in seinem Intentionssinn nichtzeitlich und unabhängig von wirklichen Vollzügen bestimmt, so kann doch dort, wo dieses Vermeinen sich auf Leistungen richtet, nur das vermeint werden, was, von der Stelle des Vollzugs des Vermeinens aus gesehen, schon geleistet ist. Wenn man so sagen will: Der Sinngehalt des Vermeinens ist zwar unabhängig vom Vollzuge, doch nur vollzogene Vollzüge sind in Unabhängigkeit zugänglich.

IJ.

Entwurf

Hier wird eine andere Hinsicht im Grundlegungsgefüge sichtbar. — Drücken wir diesen Sachverhalt so aus: Vollzogene Leistung läßt sich, unter bestimmten Bedingungen, theoretisch vermeinen, offen bleibt indes — und zwar schlechterdings offen — was Inhalt eines zu vollziehenden Leistens wird. Dieser offenen Möglichkeit, die die konkrete Subjektivität für sich selbst ist, mangelt nicht etwa Bestimmtheit, aber ihre Bestimmtheit ist von derjenigen, durch die das primär Grundgelegte charakterisiert ist, prinzipiell verschieden. Es ist, wie man sagt, die Bestimmtheit des Entwurfs. Er betrifft die konkrete Subjektivität in ihrer ursprünglichen Konstitution und in all ihren Momenten, er betrifft das konkrete Subjekt in seiner Leiblichkeit und in seiner Geistigkeit, in seiner Vereinzeltheit, in seiner Umweltsituation und in seiner verständigungsvermittelten Verbundenheit in den möglichen Gemeinschaften mit anderen konkreten Subjekten. Das konkrete Subjekt genügt durch das spezi-

266

Gliederungsfragen

fische Leisten des Selbstentwurfs der Idee, die es von sich selbst hat. Es verantwortet sich handelnd und wollend vor dieser Idee. So viel zur Skizzierung der theoretischen und der praktisch-axiotischen Hinsicht. — Nun noch ein Wort zur Ausgestaltung der Systematik. — Die Hinsichten der Gegenständlichkeit haben ihren vereinigenden Bezug in der Subjektivität. Sie ist diejenige Instanz, der Gegenständliches in der Hinsicht einer Gegenständlichkeit erscheint. Achten wir nun auf die Bestimmtheit, die die konkrete Subjektivität im Hinblick auf die spezifischen Gegenständlichkeiten sich selbst gibt: Man sagt mit Recht, daß das konkrete Subjekt in der theoretischen Einstellung von sich absieht. Das trifft gleichermaßen dort zu, wo es Subjektives, und möglicherweise auch sich selbst zum Gegenstande hat. Es vermeint, wo es theoretisch vermeint, in Unabhängigkeit. Und es erfaßt Subjektives und Subjektivitäten, zwar notwendig im Wandel und im Fortgang des Sichbestimmens und Sichentwerfens, aber stets schon in getätigtem und vergangenem Wandel und in der vergangenen Lebendigkeit des Leistens. Sofern das konkrete Subjekt aber theoretisch vermeint, rückt es an eine Stelle vor aller Temporalität, vor aller Besonderung. Gewiß ist es ein konkretes Denken, das die theoretischen Setzungen vollzieht, und die konkrete Situation des Denkens hat Einfluß auf die Ansatzmöglichkeiten dieser Setzungen, aber eben in den geltungsdifferenten Sinn dieses Erfassens geht nichts von der konkreten Bestimmtheit des Subjekts mit ein. Sich selbst, seine Leistungen und seine Besonderheit, bestätigt und verantwortet das Subjekt erst in praktischer Hinsicht. Diese Verantwortung bezieht sich, schlicht gesprochen, auf die der Subjektivität gegebene Zeit. Der Leistungsvollzug erweist sich hier als rastlose Neubestätigung, als Rechtfertigung in jedem Momente des lebendigen Handelns. — Kennzeichnend ist nun, daß in der verantwortlichen Bewältigung von Zeitlichem nichts Konkretes dauernden Bestand hat. Alles praktisch Geleistete fordert unablässigen Neuerwerb. N u r die Subjektivität selbst weiß sich in ihrer unwandelbaren Verantwortlichkeit, in dieser nur ihr eigenen Würde, als dauernd. Aber gerade diese Verantwortlichkeit fordert ständige Aktion, ständigen Neubeginn, ständige Selbstrechtfertigung und Selbstbesinnung. Sie verbietet jedes Verweilen.

14. Ausdruck Kurz: in theoretischer Hinsicht ist der konkrete Eigenbestand dem Objektiven untergeordnet, in praktischer Hinsicht unterliegt er in der lebendigen Verantwortung ständiger Verwandlung und Überwindung. Dauer des Konkreten ist der Subjektivität hier nicht gegeben, will sie den Sinn ihres spezifischen theoretischen und praktischen Leistens nicht

Gestalt

267

verfehlen. Und doch fordert sie für sich ein Verweilen, um ihres eigenen konkreten Bestandes in seiner Aktualität gewiß zu werden. Die Dimension, die an dieser Stelle sichtbar wird, ist ebensowohl notwendig wie die vorangegangenen Hinsichten. Und weil jede Hinsicht universal bezogen sein muß auf das ganze Gefüge der Gegenständlichkeiten, muß auch dieser dritten Gegenständlichkeit Notwendigkeit in Bezug auf die vorangegangenen Hinsichten eignen. — Erscheint der Subjektivität in theoretischer Hinsicht Gegenständliches in Unabhängigkeit, leistet in praktischer Hinsicht die konkrete Subjektivität Selbstentwurf und Selbstverantwortung ihres Daseins, so tritt in ästhetischer Hinsicht dieses weitere hinzu, daß die Subjektivität in ihrer Ideenbezogenheit ihren ursprünglichen Ausdruck findet. Bedenken wir: Die Subjektivität weiß den Sinn ihrer Setzungen als zeitenthoben, und sie weiß ebenso ihre sittliche Dignität als inkorruptibel durch zeitliche Mächte. Diese Überzeitlichkeit macht zugleich jene Leistungen möglich, auf Grund deren sie überhaupt gegenüber anderem Gegenständlichen ausgezeichnet ist. Und doch bewahrt nichts von ihrer komplexen realkonkreten Gebildlichkeit einen Bestand gegenüber dem unerbittlichen Wandel des Zeitlichen. Die Subjektivität unterwirft sich in ihrem Handeln der Idee, die sie von sich selbst hat, sie bejaht im Entwurf ihre Zukunft, aber sie kann sich nicht zu dem bekennen, was sie in ihrer Ideenunterworfenheit gegenwärtig ist. Dies eben geschieht im Ausdruck. — Gewiß bekundet sich die Subjektivität in allen ihren Leistungen. Hier nun ist eine bestimmte Weise der Bekundung gemeint, und diese Bekundung ist durch die Struktur der Subjektivität mit Notwendigkeit gegeben: Jedes Leisten vollzieht sich im Gemeinschaftszusammenhang der Subjekte. Leisten ist zunächst einmal ein Stiften von Sinn durch das konkrete Subjekt. Die Leistungsgemeinschaft aber erfordert es, daß Sinn audi tradiert, daß er weitergegeben und aufgenommen werde 2 . Im Vollzugsleben, in ihrer Innerlichkeit, sind die konkreten Subjekte geschieden. Sie wissen unmittelbar nur um ihre eigenen Vollzüge. Tradition ist erst dort möglich, wo Sinn manifestiert wird in naturalen Größen, das aber heißt: Die Zeitenthobenheit des Sinns wird naturalen Größen mitgeteilt. Zeitenthobenheit vermag also nicht die Subjektivität in ihrem leiblichseelischen Bestände zu erlangen, aber sie hat die Möglichkeit, in ihren Werken zu überdauern. I J . Gestalt

Das, was die Möglichkeit hat zu überdauern, ist ein von ihr gestaltetes Naturales. (Beiläufig bemerkt: Was sie von sich selbst und von ihrer 1

Z u m Problem der Tradition: V f . , Die künstlerische Inter Subjektivität, Ästhetik 1 3 (1968) 1 8 — 2 7 .

Zschr. f.

268

Gliederungsfragen

eigenen zeitüberwindenden Idealität hält, ist daran abzulesen, ob sie Dauerndes schafft, oder ob sie sich damit begnügt, nur für Gebrauch und Verbrauch zu produzieren.) Manifestation von Sinn ist die Möglichkeit zugleich für jede Verständigung und Uberlieferung, sie ist zugleich aber auch die Möglichkeit, den Äußerungen des Geistes Dauer zu verleihen. — Der Gedanke der Objektivation ist geläufig. Ich muß ihn hier nicht in allen Momenten explizieren. Hier geht es nur um die gegenständlichkeitssystematische Auswertung. Ich kann mich auf Grundsätzliches beschränken. Die erste Objektivation, in der Sinn einen Niederschlag findet, ist die Leiblichkeit des Subjekts, die immer auch eine Äußerung von Geistigkeit ist. Die nächste Objektivation, und diese umschließt bereits jede Objektivationsmöglichkeit, ist die durch den Einsatz des Subjekts geformte Umwelt. Ein jeder Sinnbestand, der jemals vollzogen wurde, findet hier seinen wie immer gearteten Ausdruck. Ein Teil dieses zum Ausdruck Gelangten hat die Möglichkeit zu überdauern. Die spezifische Struktur dessen, was den Ausdruck zu tragen berufen ist, ist die der Gestalt. In der Gestalt bewahrt der Sinnträger die Einheit des stiftenden Vollzugs. Das Gestaltete hat seinen Ort im Naturalen, aber es ist als Ausdrucksträger zugleich ausgezeichnet und hervorgehoben. Die Gestalt bewahrt sich, in gewissem Spielraum, auch gegenüber einem Wechsel und gegenüber einer möglichen Beeinträchtigung der fundierenden naturalen Elemente. Diese Eigenbestimmtheit der Gestalt, die in ihrer fundierenden Schicht die Struktur eines extensiv und nicht etwa bloß sinnhaft Bestimmten ist, macht die Irrealität und Idealität, und, mit gewissen, an die Verfassung der Gestalt selbst geknüpften Einschränkungen, ihre Transponibilität aus. Das hier Geleistete ist etwas ursprünglich Anderes als das in theoretischer und in praktischer Leistungsrücksicht Gesetzte. Die Weise, in der Sinnbestände in Gestalten zum Ausdruck kommen, ist die der Objektivation. Durch die gestalthafte Darstellung ist niemals, wie man vielfach denkt, etwas Unabhängiges vermeint. Die einem Ausdruck korrespondierende Gestalt ist kein Vermeinendes, sie ist produziertes Gegenständliches. Das Verhältnis zwischen sich ausdrückender konkreter Innerlichkeit und produzierter Gestalt kann nicht durch eine andere Beziehung interpretiert werden. Die Relation Vollzug — Gestalt besitzt ebensogut Letztheit und Irreduzibilität wie etwa die Beziehung Urteil — Gegenstand. Wie aber steht es, so wird man fragen, um die vielfach höchst komplexe Inhaltlichkeit des Produzierten? Man muß nun, wohlbemerkt, unterscheiden zwischen den Sinnbeständen, die durch Gestalthaftes getragen sind, und ebendiesem Gestalthaften selbst. Nicht in der Gestalt kann die Gerichtetheit auf ein Unabhängiges liegen (ja, nicht einmal eine Gerichtetheit auf eine Größe des Entwurfs), sondern lediglich in dem

Gestalt

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von der Gestalt unterschiedenen Sinn. Dort aber, wo der Sinn selbst der Norm der Gestalt unterworfen wird, also in freien sprachlichen Produktionen, ist das Vermeinte selbst ein Produziertes. Offensichtlich ist zu unterscheiden zwischen dem frei Produzierten, dem frei Gestalteten — dieses macht den Eigenbereich der ästhetischen Gegenständlichkeit aus — und dem Bezug des Gestalthaften auf fremde Sinnbestände. Hier und nur hier fungiert die Gestalt als bloßer Träger von Gehalten. — In der ursprünglichen Produktion ist der Gehalt selbst durch die Gestaltung bestimmt. Was nun die innere Gliederung des Reiches freier Produktion betrifft, — die innere Gliederung also der ästhetischen Gegenständlichkeit, so ist klar, daß diese nur mit Rücksicht auf den Ausdruckswert der Gestalt entwickelt werden kann. Als ursprüngliche Leistungsgröße muß auch der Gestalt universale Beziehbarkeit eignen, und Ausdruck in der Hinsicht der Produktion (zu unterscheiden von Erfassen und Entwurf) muß finden können, was immer die Subjektivität für sich ist. Nur hier kann ein Leitfaden für die ursprünglich angelegte Entwicklung der Gattungen und Stile gesucht werden.

Die Lehre von der Geschichtlichkeit der Künste (Zur A k t u a l i t ä t der Ä s t h e t i k Hegels) i. Entfremdung

zwischen Kunstwissenschaft und Ästhetik

In der oberbayrischen Sommerfrische verschließt sich Professor Horstmar Hobbe allen Reizen, die Land und Leute bieten, und „arbeitet an einem großen Werk, das das letzte, entscheidende Wort über die Kunst als Kunst bringen sollte und den Titel trug: ,Uber die Phantasie als das an sich Irrationale'". Ludwig Thoma hat in seinem 1918 erschienenen Roman „Altaich" dieses Bild eines deutschen Ästhetikers gezeichnet1. Das letzte Wort über die Kunst als Kunst? — Offenbar ist das Unsinn, Unsinn wie Nabokovs Spott-Titel „Haben Sinne Sinn?" 2 . Die Einschätzung der Ästhetik, die hier zutage kommt, ist indessen nicht bloß ein Spaß. Sie ist weitverbreitet, und sie ist insbesondere dort nicht unbekannt, wo man sich gleicherweise um die Kunst bemüht: in der Sphäre der Kunsthistoriker. Wozu Ästhetik? Wozu eine Spekulation „über die Kunst als Kunst", da doch die Kunst in der Fülle der Kunstwerke aller Zeiten und Breiten genug Rätsel aufgibt? Was kann am Ende der stubenhockende Ästhetiker über die Kunst wissen, das derjenige viel besser wissen muß, der seine Anschauungen und sein Verständnis immer von neuem in der Begegnung mit den Werken überprüft? Der Naturwissenschaftler findet eher einen Weg zur Naturphilosophie als der Kunstwissenschaftler zur Kunstphilosophie und zur philosophischen Ästhetik. Zumindest gilt das für die letzten Jahrzehnte. Was die Ästhetik zustandebringt, erscheint dem Kunsthistoriker „kunstfern" und „steril". Wenn er bei seinen Forschungen auf Grundfragen stößt, sucht er sie deshalb in der Regel lieber mit seinen eigenen Mitteln zu beantworten. Zu Zeiten Hegels waren die Beziehungen zwischen der empirischen Kunstforschung und der philosophischen Ästhetik noch enger, wie es das Beispiel des Kunsthistorikers Heinrich Gustav Hotho zeigt, dem wir die Edition der Hegeischen Ästhetik-Vorlesungen verdanken. Wie ist es zu der Entfremdung zwischen Kunstwissenschaft und Ästhetik gekommen? 1 8

Altaich. Eine heitere Sommergeschichte, 64.—70. T., 1934, S. 36. V. Nabokov, Lolita (deutsche Ausgabe), 1959, S. 6.

.Aufklärerische" Ästhetiken

271

Was für die Kunstwissenschaft gilt, gilt umgekehrt ebenso für die Ästhetik. Gerade wichtige Werke der philosophischen Ästhetik erweisen sich als unbeeinflußt durch die zeitgenössische Kunstwissenschaft. Es gibt Ausnahmen. Aber gerade die Ästhetiken namhafter Philosophen (in Deutschland beispielsweise Hermann Cohens und Nicolai Hartmanns) zeigen sich als unbeeinflußt und einflußlos zugleich. An der Abstraktheit der Gedankengänge kann das nicht gelegen haben. Die Fülle der Aspekte und Einzelheiten, die die philosophische Ästhetik erörtert, spricht gegen diese Vermutung. Der tiefere Grund liegt, wie ich glaube, woanders. Die philosophischen Ästhetiken sind Stücke philosophischer Systeme. Das war bei Hegel nicht anders. Was aber in der nachhegelschen Ästhetik mehr und mehr anders wird, ist dies, daß das Moment des Systematischen das Moment des Geschichtlichen verdrängt. Es ist der Widerstreit von Aufklärung und Romantik. Während die Aufklärung die Unwandelbarkeit der Ideen und Kulturgrundlagen verteidigt, bringt die Romantik in der Philosophie die ursprüngliche Entfaltung des Idealen in der Geschichte zur Geltung. Hegel vereinte die Momente. In der Systemphilosophie nach Hegel wird die Geschichte von neuem gewichtlos. Die geschichtsbewußte Philosophie aber (vor allem die Diltheys und seiner Nachfolge) wird systemfremd. Für die Philosophie der Kunst war diese Entwicklung besonders mißlich. Der Kunstwissenschaftler ist stets auch Kunsthistoriker. Was soll er mit Lehren anfangen, die nur einen ungeschichtlichen Sinn der Kunst zu berücksichtigen vermögen?

2. „Aufklärerische"

Ästhetiken

Wie sehen die von mir als „aufklärerisch" gekennzeichneten Ästhetiken aus? Sie stimmen darin überein, daß sie die Grundlegung der Kunst und des Schönen einem Gefüge von Grundlegungen einordnen, und zwar entweder einer Ideensystematik (Wahres, Gutes, Schönes) oder einer Gebietsordnung (Natur, Freiheit, Kunst) oder einem System der Vermögen (Erkenntnis, Wille, Gefühl) oder einer Seinssystematik (An-sich-Sein, Gesollt-Sein, Für-uns-Sein). Diese Systeme haben im Grunde alle dieses gemeinsam, daß sie als zeitvorgängig und deshalb audi als geschichtsvorgängig verstanden werden können. Im Schönen und in der Kunst eröffnen sich Möglichkeiten und Gebiete für die Subjektivität, die den Möglichkeiten und Gebieten der Theorie und der Praxis nicht nur im Prinzip gleich wertig, sondern die diesen Gebieten auch mit Bezug auf Zeit und Geschichte gleichartig sind: Das Schöne ist unwandelbar schon immer gewesen, und das Bewußtsein kann in seiner Geschichte von dieser Idee Gebrauch machen, wie es von der Idee der Wahrheit Gebrauch machen kann.

272

D i e Lehre von der Gesdiichtlidikeit der Künste

j.

Faktizitätsphilosopbie

Das Bewußtsein wird hier als etwas verstanden, das teilhat oder teilhaben soll an den Möglichkeiten, die der kulturelle Ideenhimmel ihm bietet. Die Geschichte des Bewußtseins ist demgemäß gekennzeichnet durch Gegenwärtigkeit oder gelegentlich auch durch Abwesenheit der Ideen. Was das Bewußtsein in seiner Bewußtheit und in seinen Leistungen ist, das verdankt es den Ideen. — Dieser Ansicht steht die andere entgegen, daß das Bewußtsein sich selbst zu vollbringen, zu verantworten und zu bestimmen habe, und daß dieses Sichselbstvollbringen, Sichverantworten und Sichbestimmen die Eigenbedeutung des konkreten und geschichtlichen Bewußtseins ausmache. Fast alle antiaufklärerischen Philosopheme in den letzten Jahrzehnten (von Dilthey bis Heidegger) stimmen darin überein, daß das geschichtliche Subjekt gegenüber allen Idealitäten, ob das nun Werte sind oder ob es transzendentale Gesetzlichkeiten sind, in seinem Recht bestätigt werden müsse. Das trifft für alle Formen der Faktizitätsphilosophie zu, ob die Faktizität nun Dasein, Existenz oder Leben genannt wird. Die Frage ist aber, wie das Bewußtsein seine Geschichtlichkeit vollbringt. Offenbar doch in bestimmten Formen. Man wird sagen können: eben in den Formen der Wissenschaft, der Praxis (in Recht, Staat, Gesellschaft, Wirtschaft), der Kunst. Die Aufgabe der Philosophie wird es aber doch wohl bleiben müssen, ebendiese Formen mit Rücksicht auf ihren Grundsinn zu bestimmen. Bleibt damit in der Thematik der Philosophie nicht eben doch alles beim alten? — Ich kann die systemtheoretischen Überlegungen, die erforderlich sind, um das Verhältnis zwischen der Ordnung der Grundformen des Bewußtseins und der Geschichtlichkeit ebendesselben Bewußtseins aufzuhellen, hier nicht entfalten. Ich will die Problemsituation nur in Kürze skizzieren: Die Lehre von der Zeitlosigkeit und Ungeschichtlichkeit der Ideen, wie sie vor allem im neukantianischen Idealismus vertreten wurde (aber auch in der phänomenologischen und ontologischen Wertlehre), unterschlägt die Selbstbestimmung und Selbstentfaltung der geschichtlichen Subjektivität. Die andere Lehre von der ursprünglichen Geschichtlichkeit aller konkreten Subjektivität aber vernachlässigt die Momente, die allererst einer Theorie Maßstab und Rationalität zu geben vermögen. Der eine Standpunkt nimmt eine durchgängige Ungesdiichtlichkeit aller Grundformen des Bewußtseins an. Der andere Standpunkt zieht alle Grundmomente in die Geschichtlichkeit hinein. Beide Auffassungen scheinen mir in ihrer Konsequenz unhaltbar zu sein. Der entscheidende Punkt ist wohl dieser: daß man das konkrete Bewußtsein nicht für den fügsamen Vollstrecker recht verschiedener Ideen und Werte halten darf, sondern daß man es dem Bewußtsein zutraut, sich selbst zu vollbringen. Dieses Sich-selbst-Vollbringen muß allerdings die

Wissenschaft und Kunst

273

ganze Weite humaner Arbeit in sich beschließen, die Arbeit des Bewußtseins an sich selber und an seiner Welt; dieses Vollbringen ist gleichwohl nicht irgendeine Leistung, sondern eine ganz bestimmte, es ist Praxis. 4. Wissenschaft und Kunst Der Kardinalfehler der Philosophen ist die Einseitigkeit. Sie versuchen, die Welt aus einem Grunde zu kurieren. Was der Praxis recht ist, ist nicht notwendig audi der Wissenschaft billig und erst recht nicht der Kunst. Die Geschichtlichkeit des Bewußtseins (oder, anders gewendet: die Geschichtlichkeit des konkreten Menschen) ist seine Praxis. Das ändert nichts daran, daß die Wissenschaft in ihrem Wesen ungeschichtlich bleiben muß. Wenn die Wissenschaft dabei bleiben soll zu sagen, wie es (mit Ranke gesprochen) „wirklich gewesen ist" und wie es „wirklich ist", und die Tatsachen und das, was den Tatsachen zugrunde liegt, nicht verfälschen will, dann darf sie ihre Resultate an keine Veränderungswünsche binden. Nur der hat Hoffnung, mit Erfolg zu verändern, der weiß, was ist, und nicht nur was ihm gerade so erscheint, sondern was jedermann jederzeit geradeso erscheinen muß, weil es ist. Der Veränderungswille des Subjekts muß aus dem Spiel bleiben, wo es sich in der Welt und über die Welt orientieren will. Anders ausgedrückt: Wo das Subjekt Wissenschaft will, will es nicht sich selber, will es nicht seine Geschichtlichkeit. Die theoretische Wahrheit ist ungeschichtlich. Die Praxis ist es nicht, obwohl audi sie nicht grund- und ziellos in übergeschichtlicher Rücksicht bleiben darf. Die Kunst endlich ist wie die Praxis eine Manifestation des geschichtlichen Bewußtseins, aber sie besitzt eine Geschichtlichkeit besonderer Art. Ich glaube nicht, daß es in unserer Epoche bereits eine Kunstphilosophie gibt, die die besondere Geschichtlichkeit der Kunst zulänglich und nach allen Regeln der philosophischen Kunst (das heißt: der philosophischen Systemtheorie) bestimmt hätte, ich glaube aber, daß wichtige Voraussetzungen für eine solche Kunstphilosophie bereits vorliegen; vor allem könnte Hegels Ästhetik hier weiterhelfen. Freilich kann nicht einfach der Hegeische Gedanke übernommen werden. Die Geschichte und die Errungenschaften des nachhegelschen Denkens können nicht rückgängig gemacht werden. Das kann niemand wünschen, dem an einem Fortgang des philosophischen Denkens im Ernste gelegen ist.

Die Stelle der Kunst bei Hegel Ich darf an die Stelle der Kunst im Hegeischen System erinnern. Bei Hegel hat die Kunst bekanntlich ihren Platz als die erste Gestalt 18

Wolandt, Idealismus

274

Die Lehre von der Geschichtlichkeit der Künste

des absoluten Geistes vor den Formen der Religion und der Philosophie, in der sich die Vollendung des absoluten Geistes vollzieht. Der Kunst fällt dabei nicht nur eine spezifische sachliche Aufgabe zu, nämlich die Idee für die unmittelbare Anschauung erscheinen zu lassen: „Indem die Kunst die Aufgabe hat, die Idee für die unmittelbare Anschauung in sinnlicher Gestalt und nicht in Form des Denkens und der reinen Geistigkeit überhaupt darzustellen und dieses Darstellen seinen Wert und seine Würdigkeit in dem Entsprechen und der Einheit beider Seiten der Idee und ihrer Gestalt hat, so wird die Höhe und Vortrefflichkeit der Kunst . . . von dem Grade der Innigkeit und Einigkeit abhängen, zu welcher Idee und Gestalt ineinander gearbeitet erscheinen" (Ästhetik, Hotho, 2. Aufl., I 92®). Die Kunst ist für Hegel nicht nur eine der Grundformen des Geistes, sie ist zugleich auch eine Funktion seiner Geschichtlichkeit. So wie der Geist sich selbst vollbringt, so vollbringt er auch diese Form seiner Vermittlung von Idee und sinnlicher Gestalt in einer wohlgeordneten Folge der besonderen Kunstformen (der symbolischen, klassischen und romantischen Kunst) und zugleich in einer Ordnung und einer Folge der Kunstgattungen (Architektur, Skulptur, Malerei, Musik, Poesie). Die Kunst ist für Hegel nicht nur geschichtlich, weil sie — wie jeder humane und kulturelle Tatbestand — in der Geschichte sich ereignet und sich wandelt. Sie ist ein Moment der Geschichte selbst, wenn Geschichte Geschichte des Geistes ist. Der Geist bestimmt sich geschichtlich, und da die Geschichte die Entfaltung der Momente des Geistes bedeutet, bestimmt sich der Geist in einem seiner Momente, besser: in einer Folge seiner Momente als Kunst. Eine Hauptschwierigkeit liegt darin, daß der Geist in dieser seiner Selbstentwicklung seine Phasen hinter sich lassen muß. Das gilt auch für die Kunst. In ihr kommt seine Selbstentwicklung nicht zu ihrem Ende. Hegel lehrt dies in der Tat ganz ausdrücklich: „Wie nun aber die Kunst in der Natur und den endlichen Gebieten des Lebens ihr Vor hat, ebenso hat sie auch ein Nach; d. h. einen Kreis, der wiederum ihre Auffassungs- und Darstellungsweise des Absoluten überschreitet. Denn die Kunst hat noch in sich selbst eine Schranke und geht deshalb in höhere Formen des Bewußtseins über. Diese Beschränkung bestimmt denn auch die Stellung, welche wir jetzt in unserem heutigen Leben der Kunst anzuweisen gewohnt sind. Uns gilt die Kunst mehr als die höchste Weise, in welcher die Wahrheit sich Existenz verschafft" ( 1 3 1 f.) 4 .

3

4

Im folgenden beziehen sich Seitenangaben ohne Zusatz auf den ersten Band dieser Ausgabe. Bei Lasson (Hegel SW, Bd. X a = Philos. Bibl. 164) übernommen (ohne Auszeidinung des Vor und Nach): 152. — Vgl. Encyclopädie § 563: „Die schöne Kunst (wie deren eigentümliche Religion) hat aber auch ihr Vorwärts in der Zukunft der wahrhaften Religion." (Version der zweiten Ausgabe. Später: „ . . . h a t ihre Zukunft in

Vergangenheitsdiarakter und Geschichtlichkeit

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6. Vergangenheitscharakter und Geschichtlichkeit Hegel läßt keinen Zweifel, in welcher Richtung der Gang der Geschichte des Geistes sich fortsetzt, besser, sich bereits fortgesetzt hat: Der Kunst folgt die Religion und der Religion die (philosophische) Theorie. Vom (schönen) Äußeren geht es ins Innere und von dort aus weiter zum wahrhaft Objektiven, zum Begriff: Die Kunst vermag dem Geiste noch nicht vollständig zu ihm selber zu verhelfen. Zwar hat „die schöne Kunst.. von ihrer Seite dasselbe geleistet, was die Philosophie [geleistet hat] — die Reinigung des Geistes von der Unfreiheit" (Enc. § 562). — „Aber die schöne Kunst ist nur eine Befreiungs-Stufe, nicht die höchste Befreiung selbst. — Die wahrhafte Objektivität . . [ist] nur im Elemente des Gedankens . ., dem Elemente, in welchem allein der reine Geist für den Geist [ist]" (ebd.). Die Kunst, daran läßt Hegel gar keinen Zweifel, hat ihre große Zeit gehabt und wird sie nie wieder bekommen: „Ist . . der vollkommene Inhalt vollkommen in Kunstgestalten hervorgetreten, so wendet sich der weiterblickende Geist von dieser Objektivität in sein Inneres zurück und stößt sie von sich fort. Solch eine Zeit ist die unsrige" (132). Doch ein Trost bleibt, und an diesen Strohhalm des Trostes haben sich denn auch viele Hegel-Interpreten, die sich das Vergnügen an den Werken der modernen Kunst nicht trüben lassen wollten, geklammert. Der TrostSatz aus den Ästhetik-Vorlesungen lautet: „Man kann wohl hoffen, daß die Kunst immer mehr steigen und sich vollenden werde" — doch man tut gut daran, die zweite Hälfte des Satzes stets mitzubedenken, sie lautet: „aber ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein". Es stecken viele Probleme und es steckt viel Problematisches in Hegels Feststellungen. Man sollte Hegels Lehre nicht durch Satzhalbierungen verharmlosen: Etwas, das einmal ein höchstes Bedürfnis des Geistes gewesen ist, ist es nach Hegels Lehre nun nicht mehr. Die philosophische Kunsttheorie muß sagen, ob sie dem zustimmt oder nicht. Ich meine, daß sie dem nicht zustimmen kann. Nicht etwa, weil die Kunst seit und nach Hegel mehr zustandegebracht hat, als der Kunstphilosoph wissen konnte, sondern weil die Kunst entweder ein „höchstes Bedürfnis" oder in ihrem Wesen keine Kunst ist. Es ist eine Haupterrungenschaft der Hegeischen Ästhetik, daß sie der Kunst eine ursprüngliche Geschichtlichkeit zudenkt. Es ist eine der wesentlichen und gerade für die gegenwärtige Kunsttheorie wichtigen Einsichten, daß die Kunst hier als eine ursprünglich geschichtliche Größe gedacht wird. Das muß jedoch nicht einschließen, daß die Kunst auch der wahrhaften Religion".) Vgl. auch Vf., Zur Aktualität der Hegeischen Hegel-Studien 4 (1967) 219—234. 18»

Ästhetik,

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Die Lehre von der Geschichtlichkeit der Künste

als eine durch andere Momente und Funktionen überholbare Größe gedacht werden müßte. Hegel ist, wenn ich das Ergebnis einer Kritik an seiner Ästhetik hier vorwegnehmen darf, darin zu weit gegangen, daß er die Geschichtlichkeit der Kunst mit einem, wie man es zu nennen pflegt, „Vergangenheitscharakter" gleichgesetzt hat. Daß er das tat, hat seinen Grund in der Hegeischen Systemtheorie in ihrem Gesamtzusammenhang. Dieser Vergangenheitscharakter der Kunst ist allerdings auch für Hegel durchaus keine empirisch nachzuweisende Verfassung der Kunst. Wir würden es uns deshalb zu leicht machen, wenn wir Hegel durch Matisse oder Mondrian, durch Wagner oder Schönberg, durch Tolstoi oder K a f k a zu widerlegen versuchten. Dem hat Hegel natürlich längst vorgebeugt. Nur philosophisch kann man Hegel beikommen, nicht anders, und natürlich nicht etwa in der Absicht, es um jeden Preis besser und anders machen zu wollen als Hegel, sondern vielmehr in der Absicht, „das Beste daraus zu machen", d. h. von Hegel zu lernen, was unsere Kunsttheorie, die Lehre vom Kunstwerk und seinen Formen und die Lehre von der Erkenntnis der Kunstwerke, also die Wissenschaftstheorie der Kunstwissenschaften irgend weiterbringen kann. Dazu gehört ganz zweifellos Hegels Lehre von der Geschichtlichkeit der Kunst und der Künste, aber doch ohne die Implikation der Überholbarkeit. Die Kunst muß in einem ursprünglichen Verhältnis zur Geschichtlichkeit des Geistes (des Bewußtseins, des Daseins, der Subjektivität) stehen, ohne doch selbst in der Geschichte unterzugehen, oder wenigstens im Hinblick auf ihre „höchste" Funktion zu verblassen. In der Hegeischen Vorlesung kommt der Funktionsschwund sehr augenfällig zur Geltung: „Mögen wir die griechischen Götterbilder auch noch so vortrefflich finden, und Gott Vater, Christus, Maria noch so würdig und vollendet dargestellt sehen, es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr" (132). Daß dem so ist, ist schwer zu bestreiten. Aber ist es ein Beleg für Hegels These? Erweist das Kunstwerk darin und nur darin seine ursprüngliche Funktion (einem höchsten, und das heißt doch wohl unbedingten Bedürfnis zu entsprechen), wenn wir ihm gegenüber eine Haltung religiöser Andacht einnehmen? (Hegel meint freilich nicht, daß die Andacht alleine schon das Bild machen könnte.) Andererseits: Kommt nicht dort, wo ein solches religiöses Moment in unserer Beziehung zum Kunstwerk fehlt, ein Faktor der Beliebigkeit, der Auswechselbarkeit, der Oberflächlichkeit in das Verhältnis zum Werk mit hinein? — Klarheit kann nur eine Analyse der Momente bringen. Es ist nicht die Frage, wie ernst oder unernst es uns wohl mit der Kunst und mit den Kunstwerken sein mag, es ist die Frage, wie ernst es uns sein muß, wenn wir überhaupt in eine Beziehung zur Kunst eintreten sollen. Die Analyse des Grundverhältnisses und der Grundstrukturen muß zeigen, ob die Geschichtlichkeit der Kunst überholbar

Vergangenheitscharakter und Geschichtlichkeit

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ist, anders ausgedrückt: ob die Geschichtlichkeit eines jeden Kunstwerks zusammenbestehen kann mit dem Vergangensein der Kunst. Ich sage noch einmal: Die Trauer um die verlorenen Paradiese mag das wahrhaben wollen. Aber ich meine, diese Theorie kann nicht dafür einstehen, wofür sie einstehen zu können vorgibt, nämlich dafür, daß auch keine Paradiese mehr zu gewinnen sind. Und eben das ist keine empirische Frage. Die Kunst zum Vergangensein zu verurteilen, hieße ihr ihre ursprüngliche Freiheit nehmen und ihr ihre besondere Funktion absprechen, an der Befreiung des Geistes mitzuwirken. Die geschichtliche Aufgabe der Kunst ist nach Hegels Lehre erfüllt, und doch setzt ihr geschichtliches Leben sich fort. Kunst sozusagen im Status des geist- und bewußtseinsgeschichtlichen Pensionärs, Kunst außer (höchsten) Diensten. Kunst nur noch als Bildungsverzierung und -bereicherung. Ist diese Konsequenz unabweisbar? — Hilfreich, wie so oft beim Studium Hegelscher Lehrstücke, ist der Rückblick auf Kant. — Es ist Kants Verdienst, die Kunst und ihre Bewußtseins-Konstitution in Geschmacksurteilen von empirischen Bedingungen befreit zu haben (wofür die Voraussetzung war, daß er einen strengen Begriff der Empirie einführte). Hegel geht von dieser nichtempirischen und also ursprünglichen Verfassung des Ästhetischen und der Kunst aus und zeigt, daß allerdings hier die geschichtliche Subjektivität, der geschichtliche Geist die Möglichkeit erhält, ein nichtempirisches Verhältnis, eine Beziehung zum Absoluten, ins Werk zu setzen. Man kann das auch so ausdrücken: Gerade weil die Konstitutionsgründe des Werkes keine empirischen Gründe sind (und also auch nicht in geschichtlichen „Mustern" gefunden werden können), wird es der geschichtlichen Subjektivität möglich, ihre eigene Geschichtlichkeit in ihrem Verhältnis zum Unbedingten (zu jenem Unbedingten, das der Geist selber ist) ins Werk zu bringen, im Werk zu bewahren, im Werk anzuschauen, im Werk zu hören und im Werk zu verstehen. Damit ist jedoch noch keineswegs festgestellt, daß diese Möglichkeit, eine Geschichtlichkeit — ohne alle endgültige Festlegung durch geschichtliche Gründe — im Werk zu bewahren, selber auch wieder bloß eine geschichtliche Möglichkeit sein müßte. Diese Art der Geschichtlichkeit, die für das Vergangensein der Kunst verantwortlich sein müßte, nimmt Hegel allerdings nicht als eine empirische Bestimmtheit. Es ist eine Bestimmtheit im System und in der Gesamtentwicklung des Geistes. Eine empirische Hintertür indessen läßt sich Hegel sozusagen offen, wenn er die Kunst — depotenziert — doch noch am Leben läßt. Ich meine, daß die Geschichtlichkeit der Kunst auch frei von diesen fatalen Implikationen gedacht werden kann, und daß Hegels Lehre auch erst dann überzeugend aktualisiert werden kann, wenn man diese Implikationen aufhebt und die Hegeische Kunstphilosophie insoweit revidiert. Hegel bezieht seine Lehre von der Geschichtlichkeit der Kunst

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Die Lehre von der Geschlchtlidikeit der Künste

auf die Kunst im ganzen ebenso wie auf die Künste (die Kunstgattungen) und auf die Kunstformen. Diese Kunstphilosophie imponiert ebensosehr in ihrem fundamentalen Ansatz wie in ihrer hochdifferenzierten Durchführung, und es fällt schwer zu sagen, nach welcher Seite hin Hegel die Kunsttheorie weiter vorangetrieben hat.

7. Kunstformen

und Künste

Bei Hegel treten die Kunstformen nacheinander ihre Herrschaft über die Beziehung von Idee und Gestalt an, oder, anders gesagt: die Beziehung von Idee und Gestalt wandelt sich ab in der Folge der Kunstformen. Sie wandelt sich dergestalt ab, daß es der Idee mit immer weiteren Bestimmungen möglich wird, das Äußere der Gestalt zu durchdringen. Da aber die Idee Geist ist — Subjektivität also — treten immer weitere Momente der Subjektivität in das Anderssein des unmittelbar Anschaulichen hinüber, immer weitere Momente der Subjektivität finden ihren Ausdruck im Anderssein einer nun vom Geiste in Besitz genommenen Naturalität — es ereignet sich ein Prozeß der Subjektivation des Anderen, des Naturalen. Jede der Idee-Gestalt-Beziehungen, die sich darin unterscheiden, daß die Idee mit jeweils anderen und weiteren Momenten in der Grundbeziehung der Kunst wirksam wird, hat nun ihre angemessene Kunstart, ihre angemessene Kunstgattung (oder deren mehrere). Die erste Gestaltung des Anderen in der Form des Symbolischen ereignet sich in der Architektur, die zweite, klassische in der Plastik (Skulptur), die dritte, romantische aber in den Künsten der Malerei, der Musik und der Poesie. Die Stimmigkeit dieser Systematik, die zugleich eine Genetik ist, wurde oft angezweifelt. Sehr weit ging beispielsweise der amerikanische Philosoph Jack Kaminsky (Hegel on Art, N e w Y o r k 1962). Er meinte, die Idee könne dazu gebraucht werden, jede ausdenkbare Kunstentwicklung zu rechtfertigen. Die Reihenfolge klassisch-romantisch-symbolisch wäre ebensogut durch die Idee zu rechtfertigen gewesen wie die Hegelsche Folge symbolisch-klassisch-romantisch. Natürlich hätte — so meint Kaminsky wenigstens — Hegel argumentiert, daß seine Folge durch die Tatsachen gestützt würde. Hegel lasse uns indessen über die Unvermeidlichkeit der von ihm angenommenen Entwicklung im unklaren. Die Reihenfolge der Kunstformen sei mithin ganz willkürlich angenommen und könne deshalb auch beliebig variiert werden. — Hegel hätte sich nun freilich nicht auf die Tatsachen berufen. Worauf er sich in Wirklichkeit beruft und allein berufen kann, das ist die Bestimmtheit der einander folgenden Kunstformen. In ihnen liegt ersichtlich die Folge vom Elementaren zum Komplexen und von Strukturen des Äußeren und Naturhaften (des Ansich) zu solchen des Inneren, der Subjektivität (der Re-

Kunstformen und Künste

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flexion). Diese Folgebestimmtheit kann schlechterdings nicht umgedreht werden. Das Komplexe ist dem Elementaren nicht vorzuordnen, weil es das Elementare bereits voraussetzt. Dasselbe gilt von jeder reflexiven Struktur, etwa von dem Verhältnis des Selbst zu seiner eigenen Leiblichkeit. Sie setzt allemal schon die Beziehung auf eine nichtreflexive Größe voraus, etwa auf das pure Ansich der Natur. Es ist eindrucksvoll, wie es Hegel gelingt, in der Folgeordnung der Kunstformen erst den ursprünglichen Sinn jeder besonderen Form sichtbar zu machen. Natürlich handelt es sich hierbei nicht um Stiltheorie in demselben Sinne, in dem die Kunstwissenschaften Stil-Probleme behandeln. Die Kunstformen — des Symbolischen, Klassischen und Romantischen — sind vielmehr Grundstile, die die Basis bilden für die vielfältige Differenzierung der Stile. Ernste Schwierigkeiten bereitet eher der Einbezug der nichtbildenden Künste (der Musik und der Poesie) in die Folgeordnung. Hier fehlt offenbar dies, was die bildenden Künste zur Einheit bindet, nämlich daß die Aufbaumomente der einen Kunst zu den sachlichen und geschichtlichen Voraussetzungen der nächsten zählen. Musik und Poesie haben eben nicht in der Malerei ihre Voraussetzung wie diese in der Plastik und in der Architektur; zumindest ist der Voraussetzungssinn hier ein ganz anderer. Dennoch kann es durchaus so sein, daß auch der Musik und ebenso der Poesie nur unter bestimmten Voraussetzungen der Bewußtseinsentwicklung und der Selbstentfaltung des Geistes die Stunden sdilagen. Vor Hegel war die Frage der Geschichtlichkeit der Kunst nodi nidit spruchreif. Nach Hegel war das anders. Die Lehren der Kulturphilosophie standen bewußt gegen den absoluten Idealismus und gegen den Idealismus der Geschichte, wie er Hegels Theorie zugrunde lag. Während die Ästhetiken der Aufklärungsepoche und auch noch die Ästhetik Kants die Frage der Geschichtlichkeit der Kunst (als eine Frage der Fundamentaltheorie) auf sich beruhen ließen, war die Lage nach Hegel anders: Seine Geschichtlichkeitsthese verlangte Stellungnahme, und die Stellungnahme der Kulturphilosophie war negativ. Nun wurde die Kunst festgelegt als ein zeitüberlegener und geschichtsvorgängiger Sachverhalt — ebenso wie die anderen Grund- und Hauptbestände der Kultur: Wissenschaft und Moral. Die Konsequenzen für die philosophische Ästhetik sind nicht unerheblich: Ebenso wie die Kunst einer von der Geschichte unbeeinflußten Kultur- und Bewußtseinsgesetzlichkeit korrespondiert, der Gesetzlichkeit des „reinen Gefühls" nämlich, so sollen auch die Kunstgattungen als Gliederung dieser geschichtsüberlegenen Größe aufgefaßt werden. Die Kunstgattungen können nach der Uberzeugung der kulturphilosophischen Ästhetiker nur „systematisch", und das heißt: geschichtsvorgängig, geschichtslos und geschichtsfrei bestimmt werden. So bieten uns die um-

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Die Lehre von der Geschichtlichkeit der Künste

fangreichen Ästhetiken der Kulturphilosophie (unter Einschluß einer Kulturpsychologie) ausführliche Gattungstheorien, die alle darin übereinstimmen, daß sie die Kunstgattungen als geschichtsvorgängige Gliedbestände der Kunst auffassen. 8. Die Geschichtlichkeit der Künste (Hegel und

Panofsky)

Für die philosophische Ästhetik schien diese Lehre nicht problematisch zu sein. Auch die phänomenologische Ästhetik und die ontologische Ästhetik dachten in diesem Punkte nicht anders, und niemand sah ernstlich einen Anlaß, zu Hegels Lehre von der Geschichtlichkeit der Gattungen (der Kunstarten) zurückzukehren. Um es ganz deutlich zu sagen: Daß innerhalb der Kunstgattungen vielfältige geschichtliche Wandlungen möglich waren, das wurde natürlich nie bezweifelt, nur eben dies, daß die Geschichtlichkeit auch in der Gattungsbestimmtheit selbst zutage tritt — und nicht etwa ein Inhalt ist, der in jede Gattungsform einzutreten vermag — das war den kulturphilosophischen Ästhetikern durchaus fremd. Den Anstoß zu einer Änderung dieser Auffassung gab der Kunsthistoriker Erwin Panofsky. In einem programmatischen Vortrag Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst5 setzte er auseinander, welche Sinnschichten und Sinnmomente die Wissenschaft am Kunstwerk zu unterscheiden habe. Panofskys Lehre von den Sinnschichten hat mittlerweile eine bemerkenswerte Wirksamkeit gezeitigt, und auch sie ist für die Kunstphilosophie wichtig genug. Worauf es mir hier aber ankommt, ist nur ein Punkt: Panofsky bestimmt — unter dem Aspekt seiner wissenschaftstheoretischen Fragestellung — das Kunstwerk als einen Tatbestand innerhalb der künstlerischen Problemgeschichte. Das Kunstwerk ist sozusagen die Antwort auf ein bestimmtes geschichtlich-künstlerisches Problem. Die Weise des geschichtlichen Antwortens entspricht der Stilbestimmtheit des Werkes. Diese aber müssen wir kennen, um ein Werk, „und sei es auch rein phänomenal, zutreffend beschreiben zu können". — Daß das so ist, belegt Panofsky mit höchst einleuchtenden Beispielen. Die einfache Beschreibung setzt voraus, daß wir das „Verhältnis zwischen Fläche und Tiefe, Körper und Raum, Statik und Dynamik" bereits kennen, das beispielsweise in einem mittelalterlichen Bildwerk bestimmend ist. In diesem Zusammenhang kommt nun Panofsky zu einer bemerkenswerten und aller kulturphilosophischen Ästhetik entgegenge5

In: Logos 31 (1932) 1 0 3 — 1 1 9 ; wiederabgedruckt in: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, hrsg. v. H. Oberer u. E. Verheyen, 1964, 85—97; vgl. hierzu E. Forssman, Ikonologie und allgemeine Kunstgeschichte, Zschr. f. Ästhetik 11 (1966) 1 3 2 — 1 6 9 , sowie J . Bialostocki, Erwin Panofsky (1892—1968): Thinker, Historian, Human Being, Simiolus 4 (1970) 68—89.

Die Geschichtlichkeit der Künste

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setzten Konsequenz, einer Konsequenz, die sich ungeachtet ihrer Wichtigkeit in einer Fußnote versteckt. Er schreibt: „Im übrigen sei die Bemerkung gestattet, daß das, was von der Identifizierung des dargestellten Gegenstandes gilt, sogar auch für die Bestimmung der ,Kunstgattung' zutrifft, der ein bestimmtes Kunstwerk angehört. Es wäre ein Irrtum zu glauben, daß sich die gattungsmäßige Zugehörigkeit eines Kunstwerks zur ,Baukunst', ,Plastik', ,Handzeichnung' oder ,Malerei' rein anschaulich oder gar rein vom Technischen aus in zureichender Weise bestimmen ließe: auch das System der KunstgattungsbegrifTe ist (wie sich gerade an den ,Grenzfällen' des ,Denkmals', des ,Möbels', der ,Maschine' usw. besonders einleuchtend dartun ließe) im Grunde ein System von ,StilBegriffen'"5*. Für Panofsky, so darf ich hinzufügen, war das nicht nur ein Programm, sondern ersichtlich die Grundlage für seine kunsthistorische Forschungsarbeit. Gerade für den an den Begriffen der klassischen Ästhetik Geschulten ist es faszinierend zu sehen, wie weit Panofsky dabei kommt, wenn er den Versuch unternimmt, das gattungs- und stiltheoretische Niemandsland zwischen Antike und Renaissance grundwissenschaftlich zu durchdringen. Wohlbemerkt, den Ästhetiker beeindruckt hier nur in zweiter Linie die empirische Leistung, die selbstverständlich nur möglich ist, weil Panofsky eine große kunstwissenschaftliche Tradition zu nutzen weiß. Es ist vielmehr das grundtheoretisch Bedeutsame, das Panofsky ans Licht bringt: der Wandel der Stil- und Gattungsmomente in einem System. Denn das ist dem Kunstempiriker Panofsky vollkommen klar — ich zitierte es eben schon —, daß es sich um ein „System von Kunstgattungsbegriffen" handeln muß, und nicht etwa um beliebig aufgelesene und aufgeraffte Einzelzüge. Die Nähe Panofskys zu Hegel ist unverkennbar. Aber sie ist auch überraschend genug. Der Philosoph des absoluten Geistes und der Kunsthistoriker unseres Jahrhunderts kommen zu ganz verwandten Resultaten. Die wechselseitige Bestimmung von Stilen und Gattungen in der Folge der Epochen und in der Konkretion der Werke ist für beide Kunsttheoretiker ein Kernstück ihrer wissenschaftlichen Ansätze. Alles spricht dafür, daß beide einem Zwang der Sache gehorchten, oder, was dasselbe bedeutet, daß beide in dieser Hinsicht das Rechte fanden. Wenn ich hier von einem Zwang der Sache spreche, so ist mir wohl bewußt, daß Panofsky nicht ganz dieselbe Sache vor Augen stand wie Hegel. Hegel ging es darum, die Bewegung des Geistes in den Formen und in den Arten der Kunst auf ihren Grund in den bestimmenden Momenten des Absoluten zurückzuverfolgen. Außer der eigenen nicht geringen Kunstkenntnis bot ihm die Kunsthistorie seiner Zeit das Material, das er in die Ordnung seiner Gesamtkonzeption einfügte. 5a

A. a. O. 109 Anm. (Grundfragen, 96 Anm. 3).

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Die Lehre von der Geschichtlichkeit der Künste

Panofsky hingegen folgte keinem vorgefaßten Plane, sondern er suchte sich die begrifflichen Mittel und Voraussetzungen zu erarbeiten, um mit ganz konkret bestimmten, positiven Fragen, die er sich im Angesicht der Werke und Denkmäler stellte, fertigzuwerden. Nie ging Panofsky von systematisch bereits fixierten Begriffen aus. Stilbegriffe und Gattungsbegriffe gewann er am konkreten Werk und suchte sie an einer Mehrheit von Werken zu verifizieren, stets bereit, das Zugrundegelegte mit Rücksicht auf das neu in den Blick Tretende zu modifizieren. Das zeigt sich vor allem in Panofskys Arbeiten über die Perspektive* und über die Plastik des n . bis 13. Jahrhunderts7. Panofsky ging es in den hier genannten Schriften unter anderem darum, die Stil- und gattungsgeschichtliche Lücke, die die Forschung zwischen der Kunst der Spätantike und der der Renaissance offengelassen hatte, vermittels eingehender Einzeluntersuchung und strengster Begrifflichkeit auszufüllen. Hegel hatte für die Antike einen Vorrang des Plastischen behauptet, einen Vorrang näherhin der in vereinzelter Leiblichkeit zentrierten Plastizität. Ebendies bestätigen Panofskys Forschungen, die den Gedanken des Vorrangs der Plastizität in der Analyse der spätantiken Malerei zeigen. Die Einheit der Vielheit der im Bilde erscheinenden plastischen Subjektivitäten andererseits vermag nur ein zentralperspektivischer Bildaufbau zu gewährleisten; er sichert dem erscheinenden Subjektiven den gemeinsamen Grund in der darstellerisch bewältigten und gebändigten Natur. Die geschichtlichen Endpunkte von der reinen (sich selbst genügenden, Rund-) Plastik zur Malerei, die das Plastische in ihre übergreifende Ordnung aufzuheben vermag, sind damit festgestellt — spekulativ ausgewiesen bei Hegel, empirisch belegt bei Panofsky. Was aber Panofsky aufdeckt, ist das Dazwischentreten anderer Formmomente in der byzantinischen und in der mittelalterlichen Kunst. Panofsky erblickt das Ä«mfproblem der nadiantiken Kunst darin, die Einheit gegenüber dem Vielen durchzusetzen. Die Einheit ist aber keineswegs von Anbeginn die Einheit des naturgemäßen Bildraumes, sie liegt vielmehr in Gefügen und Geweben anderer Art, in der rhythmischen und symbolischen, entkörperlichten Fügung einer aperspektivischen Malerei und in der Verschmelzung der Plastik mit der Massenbestimmtheit des Bauwerks. Die herkömmliche Gattungstheorie, die die Gattungen glaubt sicher sondern und abgrenzen zu können, hat von den empirischen und begrifflichen Schwierigkeiten, die sich hier ergeben, kaum eine Vorstellung. — Wenn man auf Hegels Ästhetik hinblickt, so wird man angesichts der Versuche der Kunstwissenschaft — mit denen Panofsky niciit allein geblieben ist und die in vielfältiger Weise Schule gemacht haben und • Die Perspektive als symbolische Form. In: Vorträge der Bibliothek Warburg 1924/ 192J, 1927, wiederabgedruckt in: Aufsätze, 1964, 99—167. 7 Die deutsche Plastik des elften bis dreizehnten Jahrhunderts, 1924.

Die Geschichtlichkeit der Künste

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denen Verwandtes gefolgt ist — feststellen müssen, daß Hegels Konzept gut war — gut bis auf eines: Die Hegeische Lehre von der Geschichtlichkeit der Kunst und der Kunstgattungen vermittelt den Gedanken einer Abgeschlossenheit und teilweise auch den einer Einfachheit der Kunstentwicklung, die beide so, wie sie bei Hegel erscheinen, nicht zutreffen können. Die Kunstentwicklung insgesamt hat zwar Konsequenz. Gerade die empirische Forschung kann nachweisen, daß künstlerische Probleme — Darstellungs- und Gestaltungsprobleme nämlich — nicht beliebig bewältigt, sondern nur in bestimmter Folge gelöst werden können. Der Weg zur Zentralperspektive z.B. war ein langer und durchaus nichtumkehrbarer Prozeß. Der Weg von Cezanne zu Kadinsky, Klee und Mondrian war es nicht minder. Das Ende und das Ziel dieser Prozesse und der in diese Prozesse eingebetteten vielfältigen Sonderprozesse können spekulativ nicht vorweggenommen werden. Die Spannung zwischen Idee und Gestalt findet immer neue Vermittlungen, und die vermittelnde Instanz kann nichts anderes als der schöpferische Geist in seiner Faktizität sein, der immer neuen Werken den Ausdruck seiner selbst einprägt. Die Sinnlichkeit als ein Moment der Kunst — ihr Erscheinungssinn also — ist kein Moment, dessen Überwindung ein geschichtliches Ziel bedeuten könnte. Mit der Naturalität des konkreten Subjekts hat die bewahrende Anschauung, die die Grundverfassung der Kunst ausmacht, ihr unaustilgbares Recht — ein ebenso legitimes Recht wie der reine und geschichtsüberlegene Begriff der Wissenschaft. Hegel hat uns die Geschichtlichkeit der Kunst und der Künste zu begreifen gelehrt, wir tun gut daran, wenn wir die Geschichtlichkeit der Kunst und der Künste um unserer kunstbedürftigen Gegenwart (und Zukunft) willen gegen den Anspruch des Hegeischen Begriffs in Schutz nehmen.

BIBLIOGRAPHISCHE HINWEISE Vorabdrucke der Untersuchungen dieses Buches erschienen an verschiedenen Orten. Die Texte wurden für die Buchausgabe durchgesehen und teilweise erheblich verändert. Die Erscheinungsorte der vorabgedruckten Kapitel sind im folgenden aufgeführt. A 1: Tradition und Kritik, Festschrift für Rudolf Zocher, 1967, 299—350. A 3: Subjektivität und Metaphysik, Festschrift für Wolfgang Cramer, 1966, 366—396. A 4 : Praxis, Zagreb 1969, 474—482 (serbo-kroat.); Praxis, internationale Ausgabe 1970, 532—541 (deutsch). Β 1: Philos. Jahrbuch 74 (1967) 340—367. Β 2: Zschr. f. philos. Forsch. 18 (1964) 614—626. Β 3: Philosophia naturalis 8 (1964) 191—197. C 1: Kant-Studien 57 (1966) 323—342. C 2: A. a. O. 54 (1963) 304—316. C 3: A. a. O. 49 (1957/58) 423—436. D l : Bunka (Culture), Sendai 30 (1966) 102—112 (japan., zum Teil); Jahrbuch f. Ästhetik 8 (1963) 204—214 (zum Teil). D 2: A. zuletzt a. O. 9 (1964) 28—48. D 4: Internationaler Kongreß für Ästhetik 1968 in Uppsala, Kongreßbericht, Uppsala 1971 (Kurzfassung). A 2 und D 3 erscheinen hier zum ersten Male.

NAMENREGISTER Alpheus 28 Aristoteles 8, 38 ff., 45, 47 ff., 55, 103, 162 Aristotelismus 39 ff., 45, 47 ff., 55, 58 Aster, v. 41 Bassenge 236 Bauch 7, 10, 11, 12, 17 f., 29, 51, 54, 174, 190, 192, 226 Baumgarten 178 Becker 242 Bergson 15, 35 Bialostocki 280 Boehlich 174 Böhm 225 Bollnow 16, 34 Braun, Ο. V Brelage 171 f., 198 Brentano 7 Brugger 235 Bruno 41 f., 47, 159 Cassirer VII, 11, 15, 17, 30, 31, 39, 54, 56, 104, 105, 146 ff., 159, 186, 191, 196, 225 Cohen, Η. VII, 10, 14, 21, 148 ff., 167, 173 f., 177, 189 f., 192, 225, 226, 227, 242, 245 ff., 252, 271 Cohn, J. 15, 190, 226, 235, 242 Cramer 24, 37, 74 Demokrit 159 Descartes 164 Dessoir 229, 236, 242 Dilthey 9, 15, 35, 161, 169, 241, 272 Dingler 159 Dühring 159

Fichte, I. H. 104 Fischer, A. 235, 237 Forssman 280 Gadamer 213, 232 Gadol 146 Galilei 42, 45, 48, 56, 159 ff. Gawronsky 146, 148 Geiger 229, 242 Gehlen 35, 104 Gide 102 Hartmann, M. 33, 63 Hartmann, N. 7, 9, 18, 21, 23, 33, 58 ff., 63, 65 ff., 104, 159, 167, 169, 171 f., 176, 181, 183, 184, 187 ff., 201 ff., 230 f., 232, 236, 242, 244, 247, 250, 271 Hegel 9, 11, 15, 19, 25, 29, 54, 55, 104, 160, 189, 230, 236, 270 f., 273 ff. Heidegger 7, 17, 29, 157 f., 162, 163, 169, 230, 232 ff., 242, 272 Heidemann 244 Herder 9, 11, 160, 171 Hoffmann, E. 11 Hoffmann, R. 71 Hönigswald VII, 10,11, 28, 30, 33 ff., 159, 163, 169, 181, 186, 191, 201, 202, 205, 206, 210, 212, 213, 226, 228, 239, 242 f., 250 Hotho 236, 270 Humboldt, W. v. 9, 11 Husserl 10, 11, 18, 85, 159, 162 f., 169, 213 Huxley, Α. 102 Ingarden 229, 242

Ebbinghaus, J. 5 f., 52 Eberhard 237 Erdmann, B. 177

Jaspers 241 Jedlitzka 51

Faust 10

Kaminsky 278

Namenregister Kant VII, 7, 9,11, 21, 28, 29, 45, 51 ff., 55, 57, 103 f., 148 f., 161, 164, 167 ff., 171, 172 ff., 177 f., 181, 184 ff., 226, 245 Keller 11 Kepler 160 Kierkegaard 9 Kinkel 10, 150, 246 Klages 35 Klein 191 f. Kroner 225, 242 Külpe 229 Kynast V, 226 Lask 143 f., 161 Lasson, G. 274 Lehmen 173, 178 Leibniz 11, 37, 52 ff., 55, 164 Leisegang 177, 178 Liebmann 20, 159 Lipps 229 Litt 11, 30, 104 Lorenz 35 Lötz 8, 28, 169, 178, 183 Lotze 7, 104 Lützeler 235, 236 Mach 159 Maier, A. 159 Mann, Th. 37, 103, 161, 171 f. Marburger Schule 7, 9, 14, 16, 19, 39, 42, 45, 55, 66, 148 ff., 177, 180, 190 ff., 226 Marquard 103 Martin 174, 176 f., 183, 184, 198 Marx 9 May 33,159 Medicus 225, 237 Moog 10 Münch 10, 13 Münsterberg 190, 226, 242 Nabokov 270 Natorp V, 4, 10, 15, 21, 35, 54, 59 f., 148 ff., 159, 173 f., 177, 181, 188 ff., 191 ff., 225, 227, 242, 246 f., 250 Nietzsche 9, 15 Noack 156, 225 Oberer 62, 198, 280 Oeser 236 Panofsky 45, 157, 242, 280 ff. Perpeet 232 Pichler 138 Piaton 40, 45, 50, 103, 159, 161, 189

287

Plessner 104 Pölitz 177 Prantl 159 Rickert 10, 15 ff., 36, 38, 54, 56 f., 180 f., 190, 200, 225, 226, 228, 242 Riehl 54, 159, 161, 226 Ritzel 174 Rosenbach 55 Rothacker 35, 104, 106 Sartre 29, 163 Saxl 157 Schasler 236 Schilling 228 Sdiilpp 146 Sdiisdikoff 235 Sdieler 104, 189 Sdilidk 33 Sdimidt, H. 235 Schmitt, H. 62 Schmucker 28 Schultz, J. 33 Sdiwarz 61, 210 Simmel 15, 35 Shaw 102 Söhngen 183 Stammler 228 Strasser 11 Sturmfels 11, 245 ff. Südwestdeutsche Sdiule 7, 19, 181, 192 Sulzer 236 Thoma 270 Thomas von Aquin 49 Urban 154 Utitz 229, 236, 242 Verheyen 280 Vischer, F. Th. 235 Volkelt 229, 242 Wagner 13, 24, 236 Willmann 173 Wind 157 Windelband 10, 16,180, 190, 225, 242 Wundt, M. 168, 178 Zander 62 Ziegenfuß 54 Ziehen 33 Zocher 10, 11, 16, 24, 25, 34,185 f., 207 Zwirner 51

GERD WOLANDT

Philosophie der Dichtung Weltstellung und Gegenständlichkeit des poetischen Gedankens Groß-Oktav. X, 210 Seiten. 1965. Ganzleinen DM 32,—

J Ü R G E N MITTELSTRASS

Neuzeit und Aufklärung Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie Groß-Oktav. XVI,

656

Seiten. 1971. Ganzleinen

DM68,—

BURKHARD T U S C H L I N G

Metaphysische und transzendentale Dynamik in Kant's Opus postumum Groß-Oktav. XII, 224 Seiten. 1971. Ganzleinen DM 54,— (Quellen und Studien zur Philosophie, Band 3 herausgegeben von Günther Patzig, Erhard Scheibe und Wolfgang Wieland)

ANDRIES

SARLEMIJN

Hegelsche Dialektik

Groß-Oktav. X, 206 Seiten. 1971. Ganzleinen DM 48,—

WOLFGANG MÜLLER-LAUTER

Nietzsche Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie Groß-Oktav. VIII, 195 Seiten. 1971. Ganzleinen DM 38,—

"Walter de Gruyter · Berlin · New York