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German Pages 373 [376] Year 2023
Maximilian Krämer Idealismus und Entfremdung – Adornos Auseinandersetzung mit Kierkegaard
Deutsche Zeitschrift für Philosophie Sonderbände 47
Maximilian Krämer Idealismus und Entfremdung – Adornos Auseinandersetzung mit Kierkegaard
ISBN 978-3-11-100982-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-101034-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-101209-4 ISSN 1617-3325 Library of Congress Control Number: 2023932656 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Danksagung Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung meiner im März 2022 von der Fakultät IV der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg angenommenen Dissertation. Mein Dank gilt an erster Stelle Herrn Prof. Dr. Tilo Wesche für die langjährige Betreuung der Arbeit – insbesondere für die keineswegs selbstverständliche, institutionell ungebundene Begleitung des Vorhabens vor meiner Zulassung als Doktorand in Oldenburg im Wintersemester 2018/19. Herrn Prof. Dr. Johann Kreuzer danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens. Darüber hinaus möchte ich von weiteren namentlichen Erwähnungen absehen – und zwar gerade weil Philosophie wesentlich ein Gemeinschaftsprojekt ist. Der Austausch mit Lehrenden und Studierenden an den Universitäten Mainz, Sevilla und zuletzt Oldenburg sowie bei den Kolloquien an anderen Hochschulen hat diese Untersuchung auf vielfältige Weise geprägt. In lebhafter Erinnerung sind mir auch die Tagungen in Erfurt und Kopenhagen zu Kierkegaards zweihundertstem Geburtstag im Jahr 2013, als mein Dissertationsprojekt noch ganz am Anfang stand. Die Gespräche haben mir gezeigt, welches Interesse gegenwärtig in der Kierkegaardforschung an Adornos Auseinandersetzung mit dem Dänen besteht. Nicht zuletzt unser informeller Kreis von Doktorierenden in Mainz hat mich zudem in der Annahme bestärkt, dass das Philosophieren überhaupt ein Unternehmen ist, das den dafür nötigen Einsatz lohnt. Auch wenn Familie, Freundinnen und Freunde davon vielleicht nicht immer überzeugt waren, haben sie mich in all den Jahren bei meinem Vorhaben vorbehaltlos unterstützt – meine Schwester auch mit umfangreichen Korrekturarbeiten. Dafür danke ich ihnen von Herzen.
https://doi.org/10.1515/9783111010342-001
Inhalt 1 Einleitung 1 Ein schwieriges Verhältnis Das Anliegen der Arbeit 5 Übersicht der Literatur zu Adorno und Kierkegaard 8 Die Rückkehr der Entfremdungsdiagnosen und die Abwesenheit Adornos Das Problem der Entfremdung als Folie der kritischen Interpretation Kierkegaards 16 19 Gliederung und Verfahren der Untersuchung I Ein Vorbegriff von Entfremdung 24 Negative Anthropologie 26 Entäußerung und Verselbständigung 30 Vorbemerkungen zum Subjekt des Entfremdungsgeschehens Bindung und Entbindung 36 39 Positive und negative Freiheit . 40 . Selbsttäuschung . Existenziale Heimatlosigkeit 41 43 Zur Obdachlosigkeit in der Moderne . . Nihilismus 46 Allgemeinheit als progressive Rückeinbettung 48 . 49 Entzweiung, Verdrängung und Umschlag ins Gegenteil Verdinglichung 50 55 Hegels Schema von Entfremdung und seine Kritik II . . . . . . . . .
Entfremdung nach Kierkegaard 62 Inverse Theologie und verkehrte Welt 62 Die Lehre von der Erbsünde als anthropologisches Modell von Entfremdung 66 Verzweiflung als Entfremdung 71 Die dreifache Bestimmung des verzweifelten Selbst 73 Nicht man selbst sein wollen? 77 Verzweiflung und Widerfahrnis 80 Negativismus 82 Dämonie und Entfremdung 85 Vorbemerkungen zu Kierkegaards Kritik der Spekulation 90 Wer ist der Adressat der Polemik? 90 Abstraktion als Entfremdung 91 Allgemeinheit und Konkretion 94 Wirklichkeit und Möglichkeit 97 Interesse und Gleichgültigkeit 99
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14
VIII
.
Inhalt
Ewigkeit, Weltgeschichte und die Zeitlichkeit der Existenz
100
104 III Konstruktion des Ästhetischen Adornos Kierkegaardbuch im Kontext seiner Zeit 105 Das Problem indirekter Mitteilung 114 Innerlichkeit und Handlung 122 . 127 Wendung der Innerlichkeit und Vorsehung . Reduplikation in der Praxis 130 Autonome Kunst und autonomes Individuum 132 Der sich selbst entfremdete Nominalismus 136 142 Abstraktes Selbst und verstellte Ontologie 149 Konstruktion des Ästhetischen vs. ästhetische Konstruktion . Zum Mehrfachsinn der Begriffe 149 Sphärendialektik und Pseudokonkretion 153 . . Mitteilungsgehalt und ästhetische Darstellung bei Kierkegaard und Adorno 156 . 161 Kierkegaards explizite Ästhetik Scheincharakter und Sprachähnlichkeit der Kunst 165 166 Die Subjektivität der Mitteilung . . Scheinlose Wahrheit und Bilderfeindschaft 166 . Musik und Sprache 169 174 . Verdinglichte Sprache Sprachkunst als Korrektiv und Utopie . 177 Wahrheit und Schein – Umrisse einer anderen Dialektik 183 193 Wendung der Schwermut IV Spät- oder Nachidealismus? 198 Zum epochenübergreifenden Idealismusbegriff Adornos 199 Kierkegaards Einzelner und das unglückliche Bewusstsein 201 Differenzen über Differenzen: Kierkegaard und der idealistische Binnendiskurs 204 . Schellings Bedeutung – und seine Abwesenheit in Adornos 207 Kierkegaardkritik . Identität und Nichtidentität des Subjekt-Objekts 210 213 . Tathandlung: Fichte und Kant Ding an sich und Nichtidentität 217 219 . Das Grundproblem 223 . Der intelligible Charakter und die Antinomie(n) der Freiheit . Homo noumenon 229 230 . Gesellschaftstheoretische Konsequenzen Die Wirklichkeit des Ethischen und der methodische Negativismus Vorrang des Objekts 242 . Objektivität, die auf dem Subjekt lastet – Leiden 244
232
Inhalt
. .
Erfahrung 246 Objektlosigkeit und Objektivation
250
V Gesellschaftliche Entfremdung und individuelle Praxis 254 Totalität als kritisch-hermeneutischer Begriff 255 . Negative und positive Unendlichkeit bei Hegel 258 . 262 Totale und (anti‐)systematische Erkenntnis . Zur Totalität des Verblendungszusammenhangs 267 Die Totalisierung der Entfremdung bei Marx und Adorno 275 . Entzweiung der bürgerlichen Gesellschaft und Entbindung des Individuums 275 281 . Paradoxe Individualisierung und Subjektivierung des Materialismus . Individualismus als Ideologie und Ideal 285 Autonomie und Authentizität 287 . 292 . Nonkonformismus Der Einzelne und das Allgemeine 295 . Allgemeinheit, Besonderheit, Einzelheit 297 . Die abstrakte Allgemeinheit der bürgerlichen Gesellschaft 301 306 Gesellschaft als Substanz des Individuums . . Bewahrung von Allgemeinheit in der Vereinzelung 309 . Subjektiv realisierte Allgemeinheit bei Kierkegaard und Adorno 312 318 . Verdinglichung und Nächstenliebe Schlussbetrachtung: Stellvertretend leben Werkübersicht und Siglenverzeichnis Sonstige zitierte Literatur 357
Personenregister Sachregister
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340
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IX
Einleitung 1 Ein schwieriges Verhältnis „Man fühlt sich fortwährend zum Widerspruch, ja zu leidenschaftlicher Abwehr herausgefordert“¹, schrieb Romano Guardini 1927 über Kierkegaard. Und genau das wollte dieser bei den Lesenden auch erreichen: eine nachhaltige Irritation, die dazu führen soll, selbst zu urteilen und „leidenschaftlich“ zu denken. Bei Adorno ist dieser Plan aufgegangen. Seine erste philosophische Publikation, Kierkegaard: Konstruktion des Ästhetischen von 1933, die überarbeitete Fassung seiner Habilitationsschrift, liest sich auf den ersten Blick wie eine Abrechnung mit dem Dänen. Sieht man genauer hin, so erkennt man jedoch, dass ihn gerade jenes Widerständige an Kierkegaard fasziniert. Noch deutlicher zeigt das die Gedenkrede zu dessen 150. Geburtstag. Dort versucht Adorno, Kierkegaard aus der nivellierenden Vereinnahmung zu befreien, die diesem zwischen den Weltkriegen – in der Hochphase seiner Rezeption im deutschen Sprachraum – theologisch, philosophisch aber auch politisch widerfuhr: „Sieg als Niederlage“ (GS 2, 244). Nicht nur wurde Kierkegaard dadurch die Spitze genommen, es ging damit auch der Blick für das unauflösbar Ambivalente bei ihm verloren. Erst so konnten sich einzelne Momente aus jenem Ineinander von Wahrheit und Unwahrheit, das ja zumindest das pseudonyme Werk auch für ihn selbst sein sollte, verselbständigen: „Die Bahn solchen Sieges ist die einer sich entfaltenden Unwahrheit von Kierkegaards Lehrgehalt“ (GS 2, 244). Derartiges kann man Adorno wahrlich nicht vorwerfen. Bei ihm sind vernichtende Kritik und überschwängliche Würdigung oft so ineinander verwoben, dass man den Eindruck bekommt, er widerspräche sich selbst. Damit spiegelt er Kierkegaard bisweilen fast, woran schon abzulesen ist, dass die Auseinandersetzung mit ihm die eigene Methode maßgeblich geprägt hat. Allerdings hat eben das auch zu dem Unverständnis beigetragen, das Adornos Deutung entgegengebracht wurde. Bei beiden besteht die Gefahr, „zwischen den Widersprüchen hängen zu bleiben, die eben das Prinzip dieses ärgerlich dialektischen Denkens sind“ (Deuser 1983, 101). In der Kierkegaardforschung hat Adornos Interpretation überwiegend entschiedene Ablehnung erfahren, weil sie dem Dänen nicht gerecht zu werden schien. Bisweilen gründet diese Absage aber schon in der an Adorno und die Kritische Theorie selbst² – womit es nun, was man ja diesem gerade angelastet hat, gar nicht mehr vor-
Romano Guardini 2003, 85. Auf diesen Aufsatz, „Der Ausgangspunkt der Denkbewegung Sören Kierkegaards“, der zuerst in der Zeitschrift Hochland veröffentlicht wurde, bezieht sich Adorno mehrfach zustimmend. Beispielhaft hierfür ist Klaus-M. Kodalles Beitrag zum Kopenhagener Kierkegaardkolloquium 1982 und sein Disput darüber mit Hermann Deuser (Kodalle 1983).Vgl. auch Kodalle 1988, 195 – 214, sowie den Band Negative Dialektik und die Idee der Versöhnung: Eine Kontroverse über Theodor W. Adorno (T. Koch, Kodalle u. H. Schweppenhäuser 1973). In jüngerer Zeit lassen sich vergleichbare Motive bei Walter Dietz (1993a, 36 – 37) vermuten, wo er die „neomarxistische“ Kierkegaardrezeption verwirft. Ähnlich arguhttps://doi.org/10.1515/9783111010342-002
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Einleitung
rangig um das Verständnis Kierkegaards geht. Dieser Dissens fällt insofern auf den Dänen selbst zurück, als dessen Denken bis heute als konservativ oder reaktionär, wie bei Adorno als „Deckbild von Revolution“ (GS 2, 256), oder gar direkt als revolutionär verstanden bzw. missverstanden wird. Es scheint, dass mit dem Abstand zu jener studentenbewegten Zeit, in der auch Adornos Buch von 1933 in der Theologie (wieder‐) entdeckt wurde, die Abwehr nachlässt und überhaupt die (innertheologische) Kontroverse über die Kritische Theorie weniger angespannt geführt wird. In jedem Fall aber hat Adorno mit ihm, wie Heiko Schulz (2011b, 20 – 21) in seinen Studien zur Rezeptionsgeschichte Kierkegaards feststellt, „nachhaltige[n] Impulse“ geliefert und es haben seine „Anstöße im Kontext einer Diskussion der politischen bzw. sozialethischen Aspekte und Probleme in Kierkegaards Werk bis heute nichts von ihrer provozierenden Stimulanz verloren“. Nun kann ein Denker ohnehin auf ganz verschiedene Weise rezipiert werden. Schulz (2011b, 8 – 15) nennt unter anderem die „produktive Rezeption“. In der Philosophie ist ihm hierfür vor allem Heidegger beispielhaft, aber auch der französische Existenzialismus. Dort durchzieht zwar die Auseinandersetzung mit Kierkegaard das ganze Denken, eine explizite Bezugnahme auf ihn findet sich aber kaum – und wenn, zumeist im Modus der Distanznahme. Andersherum verhält es sich bei der „rezeptiven Produktion“ (H. Schulz 2011b, 17– 22), womit schlicht die (akademische) Kierkegaardliteratur gemeint ist. Adorno nimmt dabei eine charakteristische Zwischenstellung ein und er ist Schulz, neben Jaspers, eines der wenigen Beispiele hierfür: „For apart from Kierkegaard’s implicit presence in much of Adorno’s work the latter has also written and published quite a bit about the Danish thinker.“³ Es ist kein Geheimnis, dass Adorno schon in jungen Jahren – und zwar bevor er mit Hegel und Marx besser vertraut war – Kierkegaard geradezu exzessiv studiert hat. Mehr noch als es seine Veröffentlichungen ahnen lassen, die zumindest an der Oberfläche oft vorrangig das Trennende bezeugen, zeigen das diverse Briefwechsel – mit Adorno und über ihn. Es war wohl der 14 Jahre ältere Siegfried Kracauer, der ihn dazu brachte, wie Peter Šajda (2012, 6 – 7) vermutet. Bereits vor dem ersten Weltkrieg hatte Kracauer sich mit dem Dänen beschäftigt. In seinen Briefen an ihn nach seinem Umzug nach Wien 1925 berichtet Adorno, dass er mehrere Kierkegaardbände aus Frankfurt mitgenommen habe und allabendlich darin lese. Und bereits in einem Brief vom Dezember 1923 an Leo Löwenthal amüsiert sich Kracauer über diese intellektuelle Leidenschaft Adornos, damals noch Gymnasiast, wenn er meint, dass eine junge Dame den ganzen Kierkegaard gelesen haben müsste, um Adorno überhaupt zu verstehen (Kracauer u. Löwenthal 2003, 51). Freilich musste, wer die akademischen und feuilletonistischen Debatten der Zwanzigerjahre verfolgte, früher oder später ohnehin auf den Kopenhagener stoßen.⁴ Dafür sorgten Zeitschriften wie Der Brenner und Hochland, aber auch das Feuilleton der mentiert auch Jan Cattepoel (2011, 19 – 22) in Kierkegaard als Kommunikationsanalytiker und Sozialkritiker. H. Schulz 2011a, 91– 92. Vgl. H. Schulz 2011b, 17. Vgl. H. Schulz 2011b, 43 – 99.
1 Ein schwieriges Verhältnis
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Frankfurter Zeitung, in dem u. a. Kracauer über Kierkegaard schrieb. Diskutiert wurde sein Denken, neben der existenzphilosophischen Rezeption, sowohl in protestantischen als auch katholischen Kreisen – Karl Barth, Rudolf Bultmann, Dietrich Bonhoeffer auf der einen Seite, Theodor Haecker und Ludwig Derleth auf der anderen seien hier genannt – und in progressiven ebenso wie in nationalkonservativen Milieus. Die inzwischen umfassend aufgearbeitete Rezeption Kierkegaards in der Zwischenkriegszeit erklärt jedoch nicht die spezifische Faszination, die er auf Adorno ausübte. Sicherlich waren es auch die allgegenwärtigen existenzphilosophischen und theologischen Fragen, die den Frankfurter beschäftigten. Seine Deutung im „Kierkegaardbuch“⁵ versteht sich aber gerade als Gegenentwurf zu den aneignenden Interpretationen der Dialektischen Theologie sowie zu denen von Jaspers und vor allem Heidegger. Deshalb zielt Adorno – das gilt noch für manche Passagen aus der Negativen Dialektik – nicht selten weniger auf Kierkegaard, als vielmehr auf seine Nachfolger. Die Kritik wird also gewissermaßen auf den Dänen zurückprojiziert – um ihn aus seiner späteren Vereinnahmung zu befreien, aber auch um jene „Unwahrheit“ im Nachvollzug ihrer Entfaltung schon im Ursprung klarer erkennen zu können. Und schließlich versucht Adorno manchmal auch schlicht, seine zeitgenössischen Gegenspieler selbst zu treffen und bedient sich dabei nur kierkegaardscher Motive. Einen Hinweis auf Adornos frühe thematische Affinität zu Kierkegaard gibt ein Brief an Alban Berg von 1926, in dem er beiläufig meint, er sei auf der „Personalität und Innerlichkeit des ‚Einzelnen‘ […] jahrelang kierkegaardisch herumgeritten“ (BW 2, 88). Nun ist diese Problemstellung an sich nicht ungewöhnlich, es ist vielmehr die Art und Weise, wie er diese Zentralkategorie über die existenzielle Fragestellung hinaus in Bezug setzt zum Ästhetischen in seinen verschiedenen Bedeutungen – das macht er übrigens bereits in besagtem Brief, in dem es um die „formkonstruktive Phantasie“ (BW 2, 87– 88) der Musik geht – und sozialphilosophisch, d. h. unorthodox-materialistisch interpretiert. Dazu gehört auch, dass er Kierkegaard nicht einfach als Alternative zum idealistischen, systemphilosophischen Denken versteht, als jemanden der radikal mit ihm bricht, sondern als einen, der ihm ebenso noch verhaftet bleibt. Gleichwohl ist dessen Existenzdialektik gerade für die Entwicklung von Adornos eigenem Dialektikverständnis eine bisher wenig beachtete Anregung. Auch hierzu ist seine Korrespondenz aufschlussreich. In einem Brief an Kracauer aus der Zeit der Arbeit an seiner Habilitationsschrift gilt die Kritik nicht mehr Hegel allein, sondern einem dogmatischen Marxismus, dessen „geschlossener Dialektikbegriff […] kraft der Totalitätskategorie als einer bloßen Denkbestimmung noch idealistisch sei“, wogegen er mit Kierkegaard die methodisch intermittierende, „nicht sich einfügende Realität“ geltend macht (BW 7, 218). Überhaupt kann dieses frühe Werk als Keimzelle von Adornos reiferem Denken gelten. Methodische Konzepte werden hier ebenso erprobt, wie bedeutende thematische Zusammenhänge und Motive entwickelt. Das hat bereits Walter Benjamin in seiner Rezension vermutet: „In diesem Buch liegt viel auf engem Raum. Leicht möglich, daß die
So nannte Adorno seine Habilitationsschrift von Beginn an selbst. Vgl. Müller-Doohm 2011, 185.
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Einleitung
späteren des Verfassers einmal aus diesem hier entspringen werden. In jedem Fall gehört es zu der Klasse jener seltenen Erstlingswerke, in denen ein beflügelter Gedanke in der Verpuppung der Kritik erscheint“ (Benjamin 1972b, 383). Wenn sich die Forschung zu Adorno schon nicht mit dessen Verhältnis zu Kierkegaard beschäftigt hat, so hätte sie sich zumindest in dieser Hinsicht, also im Hinblick auf die Werkgenese, mit dem Buch über ihn auseinandersetzen können. Das ist aber bisher kaum geschehen. Die Philosophin Vanessa Vidal Mayor spricht in einem Aufsatz zu Recht von einer „Forschungslücke“: „In den letzten Jahrzehnten ist zwar die Dialektik der Aufklärung unter Berücksichtigung einiger Frühschriften – vor allem der Vorträge ‚Die Aktualität der Philosophie‘ (1931) und ‚Die Idee der Naturgeschichte‘ (1932) – ausgelegt worden, allerdings wurde dabei das Kierkegaard-Buch als Zwischenschritt zwischen diesen Vorträgen und der Dialektik der Aufklärung fast immer außer Acht gelassen“ (Vidal Mayor 2017, 210 – 211).⁶ Das ist umso bemerkenswerter, als Adorno doch in der „Notiz“ von 1966, zur zweiten Auflage des Kierkegaardbuchs selbst anmerkt: „Hinweisen darf er vielleicht darauf, daß das Motiv der Kritik von Naturbeherrschung und naturbeherrschender Vernunft, das der Versöhnung mit Natur, des Selbstbewußtseins des Geistes als eines Naturmoments in dem Text bereits explizit ist“ (GS 2, 262). Mit Blick auf das philosophische Gesamtwerk ist aber noch etwas anderes auffällig: Es beginnt mit der Konstruktion des Ästhetischen und schließt mit der posthum erschienenen Ästhetischen Theorie. Für Schulz (2011b, 17) belegt das „nicht nur die Zentralstellung kunsttheoretischer Fragestellungen in Adornos Denken; vielmehr dokumentiert dieser Umstand trotz Adornos früher Polemik gegen Kierkegaards Verklärungsästhetik […] zumindest untergründig Kierkegaards Präsenz im Kontext des Adornoschen Leitprojektes einer ,Rettung des Nichtidentischen‘“. Auch der Theologe Hermann Deuser (1983, 102) sieht grundsätzliche Entsprechungen zwischen beiden Werken, die Anfangs- und Endpunkt einer Philosophie markieren, die sich erst im Hinblick auf die Ästhetik erschließe. Es verwundert daher, dass man der Einladung Adornos, sich eingehender mit seinem Erstlingswerk auseinanderzusetzen, in der Forschung zu ihm bisher so selten nachgekommen ist: „Soviel Unzulängliches an dem einst Geschriebenen ihn später stört, es mag dafür auch Möglichkeiten enthalten, die er in seiner Entwicklung nicht einlöste und die ihm selber gar nicht offenbar sind. Jedenfalls glaubt der Autor, daß in dem Kierkegaardbuch wenig sich findet, was nicht, unter dem Aspekt seiner gegenwärtigen Position, durchdacht zu werden verdient, anstatt daß er es als bloßes Vorstadium verwürfe“ (GS 2, 262). Wie sehr sich Adorno zu dieser Arbeit bekannte, zeigt auch der Umstand, dass er sie zu Lebzeiten zweimal, jeweils ergänzt um einen weiteren Beitrag zu Kierkegaard, neu aufgelegt hat. Es stellt sich nun die Frage nach den Gründen für jene doppelte Ausblendung in der Forschung zu Adorno – also in Bezug auf sein Verhältnis zu Kierkegaard und das Buch Allerdings scheint es mir übertrieben, hier von einem „Zwischenschritt“ zu sprechen, da der zeitliche Abstand dafür zu gering ist und die Habilitationsschrift – auf die Differenzen zur Veröffentlichung von 1933 werde ich im dritten Kapitel eingehen – schon vor den Vorträgen verfasst wurde. Ein Beispiel für besagte Nichtbeachtung ist Gunzelin Schmid Noerr (1981).
2 Das Anliegen der Arbeit
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über ihn. Für die erste Phase der Rezeption der Konstruktion des Ästhetischen spielt zunächst, wie Adorno selbst bemerkt, der problematische Veröffentlichungszeitpunkt eine Rolle. Als Grund für die andauernde Nichtbeachtung des Kierkegaardbuchs vermutet Vidal Mayor (2017, 210) zudem die „Schwierigkeit der Darstellung“, die schon zeitgenössische Stellungnahmen hervorheben. Tatsächlich ist die Untersuchung, wie sich zeigen wird, wohl die am schwersten zugängliche von allen Arbeiten Adornos. Beides sind aber keine Gründe, die die heutige Adornoforschung von einer Beschäftigung mit ihr abhalten sollten. Es handelt sich dabei immerhin um seine erste philosophische Veröffentlichung. Ich meine, dass dafür nicht zuletzt die je unterschiedlichen (ideengeschichtlichen) Herkunftswelten – der Rezipienten wie der Rezipierten – verantwortlich sind, was zugleich erklärt, warum sich die (theologische) Kierkegaardforschung oft schwer mit Adorno getan hat. Denn auf den ersten Blick scheint ihn und Kierkegaard viel mehr zu trennen, als zu verbinden. Überzeichnet könnte man sagen: auf der einen Seite der kritische, marxistische Gesellschaftstheoretiker, auf der anderen Seite der Vater der Existenzphilosophie, religiöse Schriftsteller und Denker der Innerlichkeit. Während Letzterer seine Bedeutung in einer neuen „anthropologischen Besinnung“ (T I, 229 / SKS 27, 234) sah, hat man Adorno gerade eine „Anthropologieferne“ und „überzogene Gesellschaftsnähe“ unterstellt (Heidbrink 2004, 108). Kierkegaard hat man umgekehrt den Standpunkt eines „sich von der geschichtlich-gesellschaftlichen Realität abspaltenden Einzelnen“ zugeschrieben und an diesem Gegensatz das „ambivalente Verhältnis Th. W. Adornos zu Kierkegaard“ festgemacht (H. Anz 1983, 9).
2 Das Anliegen der Arbeit Die gängigen Typisierungen in Bezug auf Adorno und Kierkegaard deuten bereits an, warum meine Erörterung dieser ideengeschichtlichen Konstellation durch das Problem der Entfremdung systematisch angeleitet wird. Denn in einem solchen Spannungsfeld von grundlegenden, aber nicht unbedingt überzeitlichen anthropologischen Bestimmungen einerseits und der geschichtlichen Konkretion des Menschen und seiner gesellschaftlichen Verhältnisse andererseits, bewegt sich stets auch die Entfremdungstheorie. Zudem verortet, wie sich zeigen wird, Adorno seine Deutung Kierkegaards selbst vor diesem Hintergrund. Damit ist durchaus jene Entfremdung von der gesellschaftlichen Realität gemeint, die allerdings von Adorno zugleich als Gegenentfremdung verstanden wird. Doppelsinnig ist seine Untersuchung aber vor allem deshalb, weil er das ins Verhältnis setzt zur hegelschen Auffassung von Entfremdung und Versöhnung. Darin gleicht er wiederum Kierkegaard, der doch bei seiner Sozialkritik stets auch den Hegelianismus im Blick hat. Den inneren Zusammenhang von Idealismus und Entfremdung bei Adorno bringt Philipp Schwab in seinem Handbucheintrag zur Konstruktion des Ästhetischen auf den Punkt: „Das Anliegen seiner Habilitationsschrift besteht wesentlich in einer Kritik des idealistischen Subjektbegriffs und der Analyse von dessen Entfremdungsdialektik“ (Hühn u. Schwab 2019, 396). Diese Kritik, das macht die Argumentation des Buchs so verwickelt, gilt aber sowohl Hegel und seinen Weggefährten als
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Einleitung
auch Kierkegaard. Eine wesentliche Aufgabe der vorliegenden Arbeit besteht daher darin, auseinanderzuhalten, wo Adorno den Dänen selbst noch als späten Idealisten deutet – sowie zu hinterfragen, ob er das zu Recht tut – und wo er ihm zufolge diesen Theoriezusammenhang hinter sich lässt. Ohnehin liegt ja in Kierkegaards Kritik der Spekulation der offensichtlichste Anknüpfungspunkt Adornos. Seine Hegeldeutung und sein Begriff von Dialektik verdanken ihm wichtige Impulse. Die Konstruktion des Ästhetischen entfaltet so eine weitgefasste Diskussion, die auf die Negative Dialektik vorausweist und Kierkegaard nicht nur in Bezug setzt zu Hegel, sondern auch zu Kant und Fichte.⁷ Dabei geht Adorno von Kierkegaards eigener Deutung aus. In vielen Abschnitten kommt er vor lauter Zitaten – manche mehr als eine Seite lang – kaum selbst zu Wort. Das zeigt, wie ernst er ihn als Kritiker des Deutschen Idealismus nimmt. Es gibt im Buch keine einzige Passage, in der diese philosophiegeschichtliche Konstellation nicht gegenwärtig ist. Dass das Verhältnis Adornos zu Kierkegaard derart voraussetzungsreich ist, mag auch ein Grund sein, warum sich die Forschung mit ihm bisher so schwergetan hat. Entfremdung dient mir angesichts solcher Unübersichtlichkeit als thematische und systematische Klammer. Freilich könnte man hierfür etwa auch die Kategorie des Einzelnen oder die der Innerlichkeit nehmen. Das Problem der Entfremdung scheint mir aber deshalb geeigneter, weil es nicht vorweg schon die vordergründige Differenz zwischen Adorno und Kierkegaard betont, sondern für jeden von ihnen einen Bezugsrahmen setzt, der es ermöglicht, ihre Texte wechselseitig sich erhellend aufeinander zu beziehen. Auch erlaubt es dieser thematische Zuschnitt, gewissermaßen die zeitliche Distanz zu überbrücken, bzw. beide hierbei ins rechte Verhältnis zu setzen. Denn Entfremdung bezeichnet wesentlich auch eine historische Bewegung, die mit dem Übergang zur Moderne in Gang gesetzt wird. Darüber hinaus hat der Entfremdungsbegriff aufgrund seiner irreduziblen Mehrdeutigkeit und der Vielgestaltigkeit der Phänomene, die er bezeichnet, den Vorzug, sämtliche Dimensionen der Kritik, von der Soziologie der Innerlichkeit bis zur Ästhetik als „Kunstlehre“, in ihrem Zusammenhang zu erfassen, ohne sich in Vieldeutigkeiten zu verlieren. Derart als Leitfaden kann der Entfremdungsbegriff jedoch nur dienen, wo er vorab schon ein Stück weit formalisiert wird – so unangemessen das auch im Hinblick auf Adorno und Kierkegaard scheinen mag. Darauf werde ich zurückkommen, wenn es um das Verfahren der Untersuchung geht. Wenngleich sich in Bezug auf die Idealismuskritik oft eine große Nähe zum Dänen einstellt, darf darüber die Distanz nicht vergessen werden, die Adornos materialistischer Standpunkt markiert. Er ist in der jüngeren Literatur nicht selten in den Hintergrund getreten – und damit auch das daran geknüpfte gesellschaftskritische Anliegen –, so dass das Bild von Adorno bisweilen selbst ins Theologische oder Metaphysische kippt, oder sich die Ästhetik verselbständigt. Für diese Untersuchung heißt es daher, Kierkegaard in Bezug zu setzen zu Marx und seiner Rezeption durch Adorno – im-
Schelling, Jacobi und andere spielen, wie sich zeigen wird, dabei nicht die Rolle, die ihnen ideengeschichtlich angemessen wäre.
2 Das Anliegen der Arbeit
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merhin waren beide Zeitgenossen. Dabei spielt nicht mehr nur die nachidealistische Hegelkritik eine Rolle. Vor diesem Hintergrund gilt es auch aufzuklären, warum Adorno Kierkegaards Sozialkritik aus der Perspektive des Einzelnen zumindest ein partikulares Recht – auch gegenüber Marx – zuspricht. Das ist nur zu verstehen im Verhältnis zur Transformation, die der historische Materialismus und der marxsche Begriff von Entfremdung bei Adorno erfahren. So erweist sich auch die zeitliche Distanz zu Kierkegaard nicht, wie oft behauptet, als das Trennende. Ganz im Gegenteil: Er steht zusammen mit Marx an einem historischen Wendepunkt, den Adorno auf die „Zeit um 1848“ datiert, in der sich das Klassenverhältnis noch als „Konflikt“ manifestierte (GS 8, 17). Die Bedeutung dieser Revolutionsjahre für ihn kann kaum überschätzt werden, worauf zuerst Friedemann Grenz (1974, 172) aufmerksam gemacht hat: „Adorno unterstellt die Möglichkeit der Einheit von Theorie und Praxis in jener Zeit.“ Mit der damals versäumten Chance auf umwälzende gesellschaftliche Veränderung sieht er – freilich mit diversen Verschiebungen und Ungleichzeitigkeiten – jenen Umschlag sich ereignen, in dem die regressiven Tendenzen der Dialektik der Aufklärung zunehmend die Oberhand gewinnen. Das vollzieht Adorno auf verschiedenen Ebenen nach, nicht zuletzt musikphilosophisch. Deuser verweist, im Anschluss an Grenz (1974, 191), besonders auf Adornos Deutung der Musikdramen Richard Wagners – dieser ist zwei Wochen nach Kierkegaard geboren – und stellt fest: „Konsequenterweise finden sich markante Parallelen in Adornos Auslegung von Wagner und Kierkegaard, beide werden als Zeugen des bürgerlichen Verfalls im ohnmächtigen Widerstand der sich aufbäumenden Subjektivität interpretiert“ (Deuser 1980, 27). Kierkegaard kommt hierbei insofern eine besondere Bedeutung zu, als er diese Entwicklung in ihren Anfängen und unter vergleichsweise provinziellen Bedingungen registrierte.⁸ Gemeint ist damit vor allem die Dynamik der Massengesellschaft, ihrer
Die gerne angeführte Provinzialität Dänemarks bzw. seiner Hauptstadt in jener Zeit trifft nur zum Teil auf die damaligen Verhältnisse zu. Kierkegaard selbst prägte das geläufige Bild vom „Genie in einer Kleinstadt“, das sich der Kopenhagener Harald von Mendelssohn mit seiner Biografie über ihn knapp 150 Jahre später zu eigen machte. Klein war Kopenhagen mit mehr als 125 000 Einwohnern in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts, im Vergleich etwa zu bedeutenden Städten des Deutschen Bundes, sicherlich nicht. Beengt allerdings durchaus – die Lebenserwartung war gering und das Elend groß. Einen Eindruck davon gibt die umfassende Biografie Joakim Garffs (2005) und in aller Kürze ein Artikel Aldo Keels (2013) zu Kierkegaards 200. Geburtstag in der Neuen Zürcher Zeitung. Dabei wird die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts wegen ihrer kulturellen Leistungen auch als goldenes Zeitalter Dänemarks bezeichnet, wenngleich sich das Land damals wirtschaftlich und außenpolitisch vielmehr im Niedergang befand. Die Märzrevolution von 1848 hatte auch in Dänemark erhebliche Auswirkungen – mit der Einführung der konstitutionellen Monarchie und der Verabschiedung des dänischen Grundgesetzes, wie es im Wesentlichen bis heute in Kraft ist. Allerdings hatte sie tatsächlich einen provinziellen Charakter. So fehlten in Dänemark einerseits weitgehend radikale linke, d. h. republikanische Stimmen, die Forderungen nach Reformen kamen weniger aus dem Volk als vielmehr aus der bestehenden Regierung, und die Revolution, die im Übrigen völlig unblutig verlief, wurde letztlich als notwendige Reaktion auf die Schleswig-Holsteinische Erhebung gedeutet. Andererseits kam es im Gegensatz zum Rest Europas in der Folge auch nicht zu einer Phase der Reaktion. Dabei spielten die Bauernschaft und ihre parlamentarische Vertretung eine ungewöhnlich bedeutende Rolle. Das übliche Schema einer Opposition von konservativen und
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Einleitung
Medien und Kommunikationsstruktur, die die „Liquidation des Individuums“, von der Adorno spricht, bereits vorausahnt. Garff (2005, 545) bringt es in seiner Kierkegaardbiografie auf den Punkt: „Über die Presse sagt Kierkegaard vielleicht nichts, was andere nicht auch gesagt haben, aber er sagt es, bevor jemand anderes darauf kommt, es zu sagen. Seine Zeitkritik ist insofern unzeitgemäß, als sie erst viel später ihre Berechtigung erfahren sollte.“ Das bestätigt die Rezeptionsgeschichte. Kierkegaards Denken ist die Flaschenpost des 19. Jahrhunderts. Historisch orientiert ist die vorliegende Arbeit in zweifacher Weise: in Bezug auf den philosophiegeschichtlichen Übergang zum Nachidealismus einerseits und den gesellschaftlichen Wandel, der ihm entspricht, andererseits. Bei beiden Aspekten und in ihrem Verhältnis zueinander gibt es massive Ungleichzeitigkeiten. Vor diesem Hintergrund, so lässt sich das Anliegen der Untersuchung in einem Satz zusammenfassen, gilt es zu erörtern, wie und warum sich Adorno so intensiv und anhaltend mit Kierkegaard auseinandergesetzt hat und wo er durch ihn geprägt ist. Denn das ist im Hinblick auf den materialistischen Standpunkt eben erklärungsbedürftig. Ich meine, dass sich diese Frage gerade anhand der Konturen von Adornos Entfremdungsbegriff und jener Gestalt von Dialektik, die davon nicht zu trennen ist, einer Klärung zuführen lässt. Mir geht es also nicht bloß darum, nachzuvollziehen, wie er Motive und Methoden seiner späteren Philosophie in seinem Erstlingswerk entwickelt. Wo sich die Aufmerksamkeit allein darauf richtet, wie Adorno das sozusagen am Material Kierkegaard tut, wird der Kopenhagener zu einem bloßen Vehikel degradiert. Als ideengeschichtlicher Bezugspunkt für ihn kann er so kaum in den Blick kommen. Derart will ich die doppelte Lücke in der Adornoforschung, in der ich auch meine Arbeit verorte, ein Stück weit füllen. Sie betrifft wie gesagt ebenso Adornos Verhältnis zu Kierkegaard wie das Buch über ihn. Freilich hoffe ich, damit auch zur Wirkungsgeschichte des Dänen noch etwas beitragen zu können. Denn die Kierkegaardforschung hat es, was seinen Einfluss auf den Frankfurter angeht, meist bei Andeutungen belassen und sich stattdessen auf die Frage nach der Angemessenheit der Interpretation versteift. Immerhin ist dort Adornos Erstlingswerk auf Resonanz gestoßen – und sei es als empörendes Ärgernis und Torheit.
3 Übersicht der Literatur zu Adorno und Kierkegaard Die Literatur, die sich mit beiden Denkern beschäftigt oder ausführlicher mit der Konstruktion des Ästhetischen auseinandersetzt, ist immer noch leicht zu überblicken – zumindest im Verhältnis zur großen Zahl an Veröffentlichungen zu jedem Einzelnen. Auch fällt auf, dass die meisten Untersuchungen erst in jüngster Zeit erschienen sind. progressiven Kräften greift für Dänemark deshalb kaum. Auch Keel (2013) stellt fest: „Dass die Modernisierung der zweiten Jahrhunderthälfte auf der Landwirtschaft beruhte, war eine dänische Besonderheit.“ Das ländliche Leben als „Gegenpol der bürgerlichen Kultur“ (Keel 2013) zu profilieren, ist nicht zuletzt ein Verdienst von Grundtvigs Volkshochschulbewegung. Kierkegaard hatte für ihn und seine Provinzialität nur Spott übrig.
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Eine frühe Ausnahme aus den 1970er Jahren ist Susan Buck-Morss – was wohl daran liegt, dass sie vor allem auf Adornos Verhältnis zu Benjamin abhebt. Einerseits war dieser ja selbst ein Kenner Kierkegaards, andererseits verdankt Adorno ihm einige Denkfiguren und Motive, die er gerade in seiner frühen Kritik am Dänen erprobt. Das nennt sie: „The Method in Action“ (Buck-Morss 1970, 96). Dabei ist der Abschnitt zum Kierkegaardbuch eingebunden in ein Kapitel, das mit der Überschrift „Liquidating Idealism“ (111– 121) schon anzeigt, worum es thematisch geht. Die erste Monografie, die sich schwerpunktmäßig dem Verhältnis beider widmet, ist die bereits erwähnte von Hermann Deuser aus dem Jahr 1980: Dialektische Theologie: Studien zu Adornos Metaphysik und zum Spätwerk Kierkegaards. Wie der Titel vermuten lässt, verfolgt er allerdings eine spezielle Stoßrichtung und zielt letztlich auf die Begründung einer kritischen dialektischen Theologie jenseits von Karl Barth ab. Zwar ist der Arbeit Deusers meines Erachtens immer noch am meisten zu entnehmen, was die geistige Nähe Adornos zu Kierkegaard angeht, der systematische Zuschnitt bedingt dennoch eine gewisse Einseitigkeit. Das gilt umso mehr für Elke Becks Dissertation Identität der Person: Sozialphilosophische Studien zu Kierkegaard, Adorno und Habermas. Sie bewertet von einer bestimmten Problemstellung ausgehend deren „theoriegeschichtliche Leistung“ (Beck 1991, 136), argumentiert aber im Gegensatz zu Deuser weniger werkimmanent und blendet Adornos Kierkegaardrezeption weitgehend aus. Das kann man von Annette Simonis’ Habilitationsschrift Literarischer Ästhetizismus von 2000 nicht behaupten. In ihrem Kapitel über Adorno widmet sie alleine dem Kierkegaardbuch immerhin dreißig Seiten (543 – 573).Wohl durch den literaturtheoretischen Rahmen wurde sie aber von der Adornoforschung kaum wahrgenommen. Dabei nimmt sie den Titel „Konstruktion des Ästhetischen“ auch in Bezug auf die Form der Darstellung als Erste wirklich ernst. Für meine Untersuchung ist das deshalb interessant, weil dadurch deutlich wird, wie Adornos eigenes Verfahren den Gehalt seiner Kritik an Kierkegaards ästhetischer Schriftstellerei bisweilen unterläuft. Die bewusste Missachtung der Pseudonymität und der Logik indirekter Mitteilung ist nicht nur ein offensichtlicher Zug seiner Deutung, der ihm unter Kierkegaardkennern Unverständnis eingebracht hat – wer mit Adornos Philosophie vertraut ist, dem muss auch die Nähe in der Methode und deren literarästhetischer Durchformung auffallen. Ebenfalls recht ausführlich und thematisch ähnlich orientiert widmet sich Britta Scholzes im selben Jahr erschienene Arbeit Kunst als Kritik: Adornos Weg aus der Dialektik seiner „Studie über Kierkegaard“ (242– 263). Auch ihr geht es dabei nicht um die Auseinandersetzung mit dem Dänen selbst. Sie zitiert stets nur, was Adorno über ihn behauptet – ähnlich wie Simonis, bei der Kierkegaard nur ein einziges Mal selbst zu Wort kommt. Für die Literatur, der es vorrangig um Adorno geht, ist das durchaus repräsentativ. Sein Erstlingswerk interessiert Scholze vielmehr als – noch stärker an Benjamin orientierte – Grundlegung seiner in der Ästhetischen Theorie ausgearbeiteten Konzeption der Allegorie. Geoffrey A. Hales Untersuchung Kierkegaard and the Ends of Language von 2002 macht sich – anders als es der Titel vermuten lässt – im entsprechenden Kapitel (37– 72) ebenfalls hauptsächlich Adornos Perspektive zu eigen. Es ist ohnehin sein ausdrückliches Anliegen, Kierkegaard indirekt über zentrale Autoren des 20. Jahrhunderts zu er-
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schließen – neben Adorno sind das vor allem Kafka und Rilke. Wie Hale zu Recht feststellt, entsprechen sie, im Gegensatz zu den vorherrschenden Rezeptionsweisen ihrer Zeit, der irreduziblen Uneindeutigkeit von Kierkegaards Werk. In der literaturtheoretischen Ausrichtung seiner Arbeit gleicht er Annette Simonis. Bei beiden verselbständigen sich bisweilen die ästhetische Chiffriertheit der Schrift, das Fragmentarische und der Rätselcharakter der Texte, die Adornos Kierkegaardlektüre zweifellos herausarbeitet, gegenüber ihrer philosophischen Relevanz – etwa als Kritik idealistischer Einheit und Kontinuität oder der Forderung nach Eindeutigkeit. Vor allem aber fällt an ihren Studien eine nahezu vollständige Abwesenheit der im Buch enthaltenen Sozialkritik auf. In der 2005 erschienenen Arbeit von Asunción Herrera Guevara steht die Zeitdiagnose dagegen im Zentrum, sie geht jedoch nur vereinzelt auf Adornos Erstlingswerk ein. Das ist umso erstaunlicher, als sie im Grunde sein Verfahren anwendet, um ihn über den Dänen vermittelt zu verstehen: „[W]enn wir Kierkegaard materialistisch läsen, würden wir viele der adornoschen Überlegungen erhalten. Ich werde Adorno als den materialistischen Kierkegaard des 20. Jahrhunderts vorstellen.“⁹ Eine weitere Einschränkung ihrer Untersuchung liegt aber darin, dass sie eher einführenden Charakter hat und primär nach der Aktualität solchen Denkens fragt. Beides deutet der Untertitel an: Cómo leer a Kierkegaard y Adorno – es geht darum, wie beide zu lesen seien. Sie versucht, marginalisierte Denkformen Kierkegaards und Adornos, die im „beschädigten Leben“ ihren gemeinsamen Nenner haben, zu rehabilitieren und, ähnlich wie Beck, vor allem gegenüber Habermas und der Diskursethik zu profilieren.¹⁰ Auch sie bewegt sich also, wenngleich sie den Begriff meidet, im Rahmen der Entfremdungsproblematik und trifft dabei durchaus, was beide verbindet – nur lotet sie ihr Verhältnis eben nicht in der Tiefe aus. Zu erwähnen ist ferner Kierkegaard and Critical Theory von Marcia Morgan (2012), die im Abstract von einer Forschungslücke spricht: „Kierkegaard’s impact on the development of critical theory has received scant study; it is the aim of the book to fill this scholarly lacuna.“ Mit einem Umfang von wenig mehr als hundert Seiten bei einer Untersuchung, die auch die jüngste Kritische Theorie miteinbezieht und auf aktuelle Fragestellungen abzielt, kann sie diesen Anspruch allerdings kaum einlösen. Zudem ist ihr die Kierkegaarddeutung Adornos dabei eher ein Hindernis und wird als verfehlt verworfen.¹¹ Für meine Untersuchung relevanter ist die Ende 2013 erschienene Dissertation Asaf Angermanns: Beschädigte Ironie: Kierkegaard, Adorno und die negative Dialektik kritischer Subjektivität. Auch er beschäftigt sich thematisch, nicht aber begriffsgeschichtlich, mit dem Problem der Entfremdung. Ohnehin beabsichtigt er aus-
Eigene Übersetzung. Vgl. Herrera Guevara 2005, 14: „[S]i hiciésemos una lectura materialista de Kierkegaard obtendríamos muchas des las reflexiones adornianas. Presentaré a Adorno como el Kierkegaard materialista del siglo XX.“ Überhaupt wird eine große Anzahl an aktuelleren Bezügen hergestellt, etwa zu Rorty – seinem Ironiebegriff und der Debatte, die er in der Kritischen Theorie mit seinem Buch von 1989 ausgelöst hat: Herrera Guevara 2005, 98 – 101. Vgl. auch Morgans kurzen Aufsatz aus dem Jahr 2003, „Adorno’s Reception of Kierkegaard: 1929 – 1933“, der diese Interpretation in den intellektuellen Diskursen ihrer Zeit verortet.
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drücklich keine „philosophiehistorische Untersuchung“, sondern will das Verhältnis beider darauf befragen, was es zur „Klärung des systematischen Sachverhalts selbst“ beiträgt (Angermann 2013, 20).¹² Letztlich geht es ihm darum, zu zeigen, wie die Konstitution negativer Subjektivität, die er an Kierkegaard und Adorno abliest, ebenso Grundlage einer (ideologie‐)kritischen Einstellung, wie ihrer Anfälligkeit für Ideologie ist. Darin bindet er auch die Kritik Adornos an Kierkegaard ein, die sich durch ebensolche Doppelsinnigkeit auszeichnet (Angermann 2013, 125 – 195). Im Hinblick auf die Resonanz, die sie erfahren hat,¹³ ist Peter E. Gordons Untersuchung Adorno and Existence von 2016 zweifellos die wichtigste der letzten Jahre. Sie widmet sich Adornos lebenslanger Auseinandersetzung mit der Existenzphilosophie und Phänomenologie, vor allem mit Kierkegaard, Husserl und Heidegger, in ihrer ganzen Breite, von den frühen philosophischen Schriften bis zur posthum erschienenen Ästhetischen Theorie. Dabei wird auch Randständiges berücksichtigt, kleinere Schriften, wie Adornos Rezensionen zu Neuerscheinungen über Kierkegaard, etwa von Jean Wahl, und selbst musiktheoretische Arbeiten, die für das Thema der Untersuchung zunächst nicht von Belang zu sein scheinen. Die beeindruckende Vollständigkeit der Darstellung begrenzt andererseits ihr Potential, da eine tiefergehende Erörterung zentraler Probleme und Begriffe im Rahmen dieser Studie, wie Gordon selbst bekennt, nicht möglich ist: „[I]t is important to note that my purposes in this book are largely expository“ (Gordon 2016, 7). Ebenso ist er sich der anderen Beschränkung bewusst: „It is an acknowleged limitation of this present book, that it confines itself to Adorno’s own perspective“ (Gordon 2016, 8). Nicht nur, dass er sich explizit auf dessen Standpunkt stellt, es fällt auch auf, dass zumindest Kierkegaard durchgehend allenfalls indirekt zitiert wird, d. h. anhand der Schriften Adornos. In dreierlei Hinsicht will ich in meiner Arbeit andere Wege gehen: indem die Perspektive Kierkegaards auch in ihrer Eigenständigkeit berücksichtigt wird, in der thematischen Schwerpunktsetzung sowie in der Beschränkung auf das Verhältnis Adornos zu Kierkegaard – was aber die ideengeschichtlichen Voraussetzungen beider einschließt. Das Anliegen Gordons ist es vor allem, nachzuvollziehen, wie sich Adornos eigenes Denken – sein Begriff des Materialismus, der „Vorrang des Objekts“ – in der Auseinandersetzung mit Phänomenologie und Existenzphilosophie herausbildet. Auch er geht aber davon aus, dass er sich mit diesen doch zumindest das Anliegen einer
Eine andere Beschränkung liegt in seiner Auswahl und Gewichtung der Schriften Kierkegaards. Den Schwerpunkt bilden, bedingt durch den Ausgang vom Begriff der Ironie, die Magisterdissertation und Entweder/Oder sowie in geringerem Umfang Die Wiederholung und Furcht und Zittern. Spätere Werke spielen dagegen, von der Nachschrift abgesehen, kaum eine Rolle. Unberücksichtigt bleibt die für Adorno so wichtige Krankheit zum Tode. Der Angstabhandlung widmet er lediglich drei Seiten (104– 106). Damit beschränkt er sich einerseits weitgehend auf die Periode der ästhetischen Schriftstellerei und lässt andererseits die beiden philosophisch wohl wirkmächtigsten und für Kierkegaards Konzeption des Selbst wie das Entfremdungsproblem zentralen Schriften nahezu außer Acht. Axel Honneth, J. M. Bernstein, Martin Jay und Seyla Benhabib haben sich anerkennend geäußert. 2019, zum 50. Todesjahr Adornos, hielt Gordon die Frankfurter Adornovorlesungen.
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Überwindung von Idealismus und Identitätsphilosophie teilt. Wo dieser Versuch scheitert – indem, wie Adorno sagt, der Idealismus nach innen schlägt – spricht Gordon (2016, 46) treffend von „Crypto-Idealism“. In gewisser Weise setze ich da an, wo er aufhört. Seine Untersuchung mündet in die Erkenntnis, dass Adornos auch affirmative Bezugnahme auf Kierkegaard diesem eine Sonderstellung gegenüber den anderen Adressaten der Kritik einräumt, indem er ihn – im Gegensatz zum Tenor der Habilitationsschrift – als Kritiker idealistischen Denkens wie auch der Gesellschaft seiner Zeit ernst nimmt. Diese Erkenntnis muss bei Gordon gleichwohl ein Ausblick bleiben, ebenso wie seine originelle These, dass Adornos auf Kierkegaard bezogenes Konzept einer inversen Theologie mit seinem Materialismusbegriff selbst nahezu konvergiert – gerade weil beide das Verhältnis von entfremdeter, verkehrter Wirklichkeit und Utopie in analoger Weise fassen.¹⁴ Eine Sonderstellung in der Kierkegaardliteratur kommt Karin Pulmer zu, weil ihre Arbeit von 1982 ausdrücklich bei der Deutung Adornos ansetzt. Schon der Untertitel Gesellschaft und Geschichte in der ästhetischen Konstruktion von Kierkegaards ‚Entweder-Oder‘ verweist darauf. Einerseits nimmt sie ernst, „was Adorno, bezogen auf das Ganze des Werks, in seiner abschließenden Auseinandersetzung mit Kierkegaard darlegt: daß Geschichte unwiderruflich den Wahrheitsanspruch seiner Philosophie zunichte gemacht habe“ (Pulmer 1982, 16). Andererseits geht auch sie in ihrer literarästhetischen Untersuchung von der „Wörtlichkeit der Mitteilung“ (GS 2, 20) in Kierkegaards Erstlingswerk aus, weist aber in diesem Zusammenhang Adornos Missachtung der Pseudonymität und Mitteilungsform entschieden zurück. Es gibt darüber hinaus noch einige Monografien zu Kierkegaard, die aufgrund ihrer thematischen Ausrichtung Exkurse enthalten, die über vereinzelte Anmerkungen hinausgehen. Zunächst ist hier Lore Hühns Habilitationsschrift Kierkegaard und der Deutsche Idealismus von 2009 zu nennen. Sie widmet Adorno nicht nur einen eigenen Abschnitt, in dem sie zwischen beiden eine Nähe im Verständnis von Dialektik feststellt, sondern identifiziert bei Kierkegaard eine über Schelling vermittelte Entfremdungskritik, die auf jene der Dialektik der Aufklärung vorausweist.¹⁵ Ebenfalls im Kontext der Diskussion um den Idealismus einerseits und Entfremdung andererseits bewegt sich die Arbeit Sebastian Soppas zum unglücklichen Bewusstsein bei Hegel und Kierkegaard. Damit greift er einen Topos auf, der wiederholt dazu gedient hat, diesen durch jenen zu kritisieren. Dass auch Adorno das versucht, erwähnt er nicht, sondern behandelt seine Auseinandersetzung mit dem Dänen unter der Überschrift einer „objektiven Verzweiflung“ (Soppa 2010, 253 – 259). In dieser Formel Adornos – die sich bei ihm zeitlebens erstaunlich oft findet – sieht er zu Recht vielmehr eine Übereinstimmung mit Kierkegaard. Schließlich ist noch Hans Fegers Arbeit Poetische Vernunft: Moral und Ästhetik im Deutschen Idealismus zu erwähnen. Er zeichnet dort, ausgehend vom idealistischen Binnendiskurs, über Kierkegaard eine Traditionslinie nach, die ihr Ende in „Adornos
Vgl. Gordon 2016, 173 – 182, sowie die Schlussbetrachtung „Adorno’s inverse theology“, 194– 198. Hühn 2009, 182– 184, 236 – 239; „Exkurs zu Adorno“: 105 – 109.
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These von der negativ-dialektischen Verfasstheit der Moral“ (Feger 2007, 24) findet und stellt fest: „Nicht zuletzt deshalb ist für Adorno Kierkegaards Idealismuskritik […] von einer wichtigen Brückenfunktion“ (Feger 2007, 25). Feger macht damit auf einen Aspekt aufmerksam, der den meisten Arbeiten entgangen, für mich aber zentral ist und widmet allein der Konstruktion des Ästhetischen deshalb immerhin gut vier Seiten.¹⁶ Die Dissertation Ivan Alexander Muñoz Criollos beschäftigt sich dagegen mit der Rezeption Kierkegaards bei Jaspers und Heidegger. Hier liegt aus anderen Gründen der Bezug zu Adorno nahe: Muñoz Criollo liest dessen Erstlingswerk als „Kritik an der Existenzphilosophie“ überhaupt, wobei er sich klar auf die Seite Heideggers schlägt.¹⁷ Sein Fazit ist in dieser Hinsicht typisch: Es sei schwierig zu beantworten, ob Adorno dieses Denken missverstanden habe, weil er es „nicht immanent“, sondern „in einen sozialen Komplex gestellt“ kritisiere (Muñoz Criollo 2013, 260). Hermann Mörchen dagegen kommt in seiner äußerst umfangreichen Studie zu Adorno und Heidegger nur vereinzelt auf den gemeinsamen Bezug zu Kierkegaard und das Buch über ihn zu sprechen, was er allerdings auch begründet. Er sieht darin vorrangig den Versuch, seine Inanspruchnahme für die „Existenzialphilosophie“ abzuwehren und meint, dass Adorno hierbei bisweilen nicht nur Jaspers gleicht. Er hätte auch „getrost mit Heideggers Zustimmung rechnen dürfen“, weil sich dieser der Distanz zum Dänen wohl bewusst war (Mörchen 1981, 139). Auch die Zahl der bisher erschienenen Aufsätze ist überschaubar. Das zeigt der bereits erwähnte Beitrag Peter Šajdas von 2012, dem eine vollständige Bibliographie der Sekundärliteratur, die sich auch nur ansatzweise mit Adornos Verhältnis zu Kierkegaard beschäftigt, beigefügt ist. Sie umfasst lediglich zwei Seiten und enthält überwiegend Arbeiten jüngeren Datums. Von Šajda (2013) stammt zudem ein kurzer Text, der einen ausgewogenen Gesamteindruck von „Adorno’s Critique and Defense of Kierkegaard“ vermittelt und insbesondere auf das Spannungsfeld von Religion und (politischem) Irrationalismus abhebt. Einen ausgezeichneten, allerdings ebenfalls weitgehend auf rezeptionsgeschichtliche Fragen beschränkten Überblick, bieten auch die genannten Studien von Heiko Schulz. Eine Zusammenschau ganz anderer Art, nämlich ein Resümee des Kierkegaardbuchs, stellt der Beitrag zum Band Schlüsseltexte der Kritischen Theorie von Romano Pocai dar. Ihm geht es vor allem darum, die Unangemessenheit der Deutung Adornos herauszustellen – und zwar in einer Weise, die auch für den Mainstream der Kierkegaardliteratur typisch ist. So ist ihm dieses Buch nur von werkgenetischem Interesse und vermag „als kritische Darstellung der Philosophie Kierkegaards letztlich nicht zu überzeugen“: „Dies liegt vor allem daran, dass es seinen Gegenstand zu stark mit externen Perspektiven – den Ansätzen von Benjamin, Bloch und Lukács – überformt“ (Pocai 2016, 18). Auffällig ist hier allerdings schon, dass sich alle drei selbst intensiv mit Kierkegaard beschäftigt haben. Adorno tue das nun, „ohne Kierkegaards eigenes Darstellungsverfahren, die perspektivische Brechung, zu berücksichtigen, die mit
Feger 2007, 589 – 593. Vgl. den Anhang zu Adorno: Muñoz Criollo 2013, 244– 260.
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der Konstruktion dieses Buches [Entweder/Oder, M. K.] gegeben ist. Damit bleibt jedoch der Maßstab der Kritik dem Kritisierten äußerlich“ (Pocai 2016, 18). Wie angedeutet, verhält es sich hier jedoch komplizierter. Auch lässt ein solches Verdikt die Frage gar nicht mehr aufkommen, welche Spuren Kierkegaard bei Adorno hinterlassen haben könnte. Dazu finden sich bei Schulz und Šajda zumindest Ansätze. Von den sonstigen kleineren Arbeiten zu Adorno und Kierkegaard sind zunächst die erwähnten Textbeiträge zur Kontroverse zwischen Deuser und Kodalle auf dem Kopenhagener Kierkegaardkolloquium 1982 hervorzuheben, weil sie so exemplarisch sind. Beachtenswert ist außerdem die Untersuchung David Shermans von 2001, „Adornos Kierkegaardian Debt“¹⁸, weil er tatsächlich Stellung hinsichtlich der Frage bezieht, welche von Kierkegaards Leitgedanken Adorno in seine Philosophie aufgenommen hat. Sherman argumentiert dort, dass Adorno sich Kierkegaard in seinem Verständnis von Subjektivität gerade in seiner späteren Schaffensphase wieder annähere, während er in der Habilitationsschrift noch vorrangig darauf bedacht sei, sich von ihm abzusetzen. Das Verhältnis in seiner ganzen Ambivalenz umreißt auch der Beitrag von Lore Hühn und Philipp Schwab aus dem Adorno-Handbuch von 2011 bzw. 2019, der ebenfalls, allen Differenzen zum Trotz, „die Nähe zwischen Kierkegaard und Adorno“ bezeugt (Hühn u. Schwab 2019, 394). Im bereits genannten Aufsatz von Vanessa Vidal Mayor„Dichtung und dialektische Bilder in den Kierkegaard-Büchern Adornos“ aus dem Jahr 2017 geht es zwar nicht um die Auseinandersetzung mit Kierkegaard als solche, ihr Verdienst ist es aber, erstmals die ursprüngliche Habilitationsschrift anhand zweier im Adorno Archiv in Frankfurt aufbewahrten Typoskripte ausgewertet und mit der publizierten Fassung verglichen zu haben. So ist der Plural im Titel ihres Aufsatzes zu verstehen. Ich werde darauf zu Beginn des dritten Kapitels ausführlicher eingehen. Wenngleich die Differenzen für meine Untersuchung nur von untergeordneter Bedeutung sind, vermeide ich es im Folgenden, wie in der Literatur sonst üblich, stellvertretend von der Habilitationsschrift zu sprechen.
4 Die Rückkehr der Entfremdungsdiagnosen und die Abwesenheit Adornos Es ist vielleicht kein Zufall, dass es gerade der Entfremdungskritik in den letzten Jahrzehnten ähnlich ergangen ist, wie der Popularität Adornos. War es seit den Achtzigerjahren – auch bedingt durch zahlreiche Versuche einer theoretischen Aufhebung der Entfremdung, bzw. die Behauptung, dass sie praktisch bereits vollzogen sei¹⁹ – still um sie geworden, so lässt sich etwa seit der Jahrtausendwende eine Renaissance der Entfremdungsdiagnosen beobachten, wenngleich die Liste an Neuerscheinungen zumindest in der akademischen Philosophie noch immer recht überschaubar ist. Auf-
Als Kapitel enthalten in: Sherman 2007, 17– 36. Vgl. Henning 2015, 170 – 188.
4 Die Rückkehr der Entfremdungsdiagnosen und die Abwesenheit Adornos
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schlussreich ist, dass Adorno auch heute in der einschlägigen Literatur zwar allgegenwärtig ist, jedoch kaum mehr denn als Stichwortgeber fungiert.²⁰ Er scheint in jüngere theoretische Entwürfe nur schwer zu integrieren zu sein.²¹ Grundsätzlich ist eine Theorie der Entfremdung in der zeitgenössischen Debatte stets dem Verdacht ausgesetzt, einem Essentialismus oder Paternalismus das Wort zu reden.²² Dabei ist sich Adorno gerade des ersten Problems wohl bewusst gewesen (vgl. GS 6, 274), das schließlich seine Kritik an positiver oder „arrivierte[r] Anthropologie“ (GS 6, 130) motiviert und ihn auf einen negativistischen Ansatz verpflichtet hat. Er hat sich deshalb schwer damit getan, sich überhaupt affirmativ auf diesen Begriff zu beziehen. Diese Zurückhaltung ist jedoch für den Diskurs über die darunter gefassten Phänomene seit Marx typisch. Gerade in den ideengeschichtlichen Zusammenhängen, um die es mir geht, ist aber durchaus von Entfremdung die Rede. Für eine Diagnose seiner Gegenwart spricht Adorno lieber von Verdinglichung. Vollends falsch ist es hingegen, gleich beide Begriffe, vermeintlich im Sinne Adornos und wegen besagter pauschaler Unterstellungen dem Entfremdungsdenken gegenüber, zu verabschieden, wie das etwa Dirk Braunstein im Anschluss an Démirovic und andere tut: Adorno übernehme nicht „das authentische Individuum“ – das tut er tatsächlich nicht –, sondern halte „Entfremdung und Verdinglichung […] für einer kritischen Theorie der Gesellschaft unangemessene Begriffe“ (Braunstein 2016, 31).²³ Dagegen gilt auch hier, was Deuser für Adornos Auseinandersetzung mit Kierkegaard anmahnt: nicht zwischen den Widersprüchen dieses ärgerlich dialektischen Denkens hängenzubleiben. Die unzureichende Auseinandersetzung mit Adornos Entfremdungsbegriff – und das schließt den der Verdinglichung mit ein²⁴ – hat jedoch noch andere, wohlbekannte Gründe, die nicht nur diesen Aspekt seines Denkens betreffen. Dessen Rezeption war
Ausnahmen sind: Demmerling 1994, Trebeß 2001 und Weiss 2015. Henning (2015, 161) wendet sich daher bezeichnenderweise an „didaktisch aufgeschlossenere Vertreter der Kritischen Theorie wie Herbert Marcuse oder Erich Fromm“. Dass er mit Adorno wenig anfangen kann, zeigt auch der betreffende Abschnitt in seinem Monumentalwerk Philosophie nach Marx (Henning 2011, 355 – 361). Vgl. Axel Honneths Vorwort zu Rahel Jaeggis vielbeachtetem Buch von 2005 Entfremdung: Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems. Diese Problematik zieht sich wie ein roter Faden durch die philosophiegeschichtliche Rekonstruktion Hennings (2015), der, von Rousseau bis in die Gegenwart, die allzu leichtfertige Unterstellung eines Angewiesenseins der Entfremdungstheorie auf einen vorgängigen, nichtentfremdeten Zustand infrage stellt. Er gibt hier Demirović (2004, 21) wieder. Auch handle es sich dabei für Adorno, wie er Perry Anderson (1978, 209) zitierend fortfährt, um „eine modische Ideologie, die vor einer religiösen Indienstnahme nicht gefeit sei“. Das Verhältnis beider Begriffe werde ich im ersten Kapitel erörtern. Was ich hier in rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht von Entfremdung behaupte, gilt jedenfalls auch für Verdinglichung. Zwar verdankt Axel Honneths viel beachtete Arbeit Verdinglichung: Eine anerkennungstheoretische Studie von 2005 (2015 erweitert) Adorno einiges. Die bekannte Sentenz aus der Dialektik der Aufklärung, dass alle Verdinglichung ein Vergessen sei (GS 3, 263), ist ihr vorangestellt. Doch geht es ihm, ähnlich wie Jaeggi, eben um den Versuch einer Aktualisierung, während ich den Begriff auf seine (geistes‐)geschichtlichen Voraussetzungen bei Adorno hin befrage.
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einerseits durch eine politische Polarisierung und andererseits durch das Interesse Habermas’ und anderer seiner Schüler geprägt, in einer Absetzbewegung von Adorno die eigene Position zu profilieren. Hinzu kommt die Überlagerung durch philosophische Moden, die meist auch dem tradierten Entfremdungsbegriff ablehnend begegneten – in den achtziger Jahren war es die Rezeption des französischen Poststrukturalismus in den Vereinigten Staaten²⁵ und etwas zeitversetzt in Deutschland. Jedenfalls scheint auch in dieser Hinsicht erst in jüngster Zeit eine unvoreingenommenere Auseinandersetzung möglich. Sowohl im deutschen als auch im englischen Sprachraum schlägt sich dieser Trend – den man, ähnlich wie bei Kierkegaard als „akademisches Theater“ kritisieren mag – in einer Reihe von Neuerscheinungen nieder, die sich nicht etwa marginalen, sondern den zentralen Themen von Adornos Schaffen widmen. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass bereits nach acht Jahren eine Neuauflage des Adorno-Handbuchs nötig war.²⁶ Es verhält sich hierbei also ähnlich wie in ideengeschichtlicher Hinsicht in Bezug auf das Verhältnis zur Existenzphilosophie: Die große Zahl an Arbeiten zu Adorno der vergangenen 50 Jahre täuscht darüber hinweg, dass vielfach noch Aufklärungsbedarf besteht. Auch eine umfassende Erörterung seines Entfremdungsdenkens bleibt weiterhin ein Desiderat. Nun habe auch ich nicht den Anspruch, es in seiner Gänze zu umreißen – dem steht schon die ideengeschichtliche Ausrichtung auf Kierkegaard und den Deutschen Idealismus entgegen. Ich meine aber, dass es sich so in seiner Eigentümlichkeit erschließt. Derart verbindet sich mit meiner Arbeit auch ein Erkenntnisinteresse, das über eine rein rezeptionsgeschichtliche Fragestellung hinausgeht. Es zielt darauf ab, zu erörtern, welche Bedeutung die Auseinandersetzung mit Kierkegaard für die Konstitution von Adornos Entfremdungsbegriff hat.
5 Das Problem der Entfremdung als Folie der kritischen Interpretation Kierkegaards Hinsichtlich der Relevanz der systematischen Schwerpunktsetzung für die philosophiebzw. rezeptionsgeschichtliche Konstellation, lautet meine These, dass das Problem der
Vgl. Zwarg 2017, insbesondere 273 – 318. Interessanterweise fällt ihm zufolge die Auseinandersetzung mit der „French Theory“ dort zeitlich zusammen mit der endgültigen Etablierung der „Perspektive auf Habermas als fortgeschrittenstem Vertreter der kritischen Theorie“ (38). Vgl. das Vorwort zur zweiten Auflage (2019): „Mit der Rezeption Theodor W. Adornos hat sich in letzter Zeit mehr getan, als wir uns während der Planung zu diesem Handbuch vorstellen konnten. In bemerkenswerter Differenz zu anderen Vertretern der Kritischen Theorie wie Max Horkheimer oder Herbert Marcuse hat sich Adorno nach seinem Centenarium zunehmend zu einem Klassiker gewandelt, an dem man nicht vorbei kommt, wie immer man diese Philosophie verstehen und bewerten mag.“ Beispielhaft unter den Neuerscheinungen sind, auch weil sie die Gründe für die Nicht(be)achtung oder Umdeutung zentraler Gehalte seines Denkens ausführlich reflektieren, neben der erwähnten Arbeit von Braunstein (2016) über Adornos Kritik der politischen Ökonomie, Philip Hogh (2015), Kommunikation und Ausdruck: Sprachphilosophie nach Adorno, sowie Marc Nicolas Sommer (2016), Das Konzept einer negativen Dialektik: Adorno und Hegel.
5 Das Problem der Entfremdung als Folie der kritischen Interpretation Kierkegaards
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Entfremdung den Hintergrund von Adornos Kritik an Kierkegaard von der Habilitationsschrift bis zur Negativen Dialektik bildet. Das spricht er in seinem Erstlingswerk deutlich aus: „Was Kierkegaard den Zerfall mit den Grundverhältnissen menschlichen Daseins nennt, heißt in der philosophischen Sprache seiner Zeit Entfremdung von Subjekt und Objekt. Von ihr hat die kritische Interpretation Kierkegaards auszugehen“ (GS 2, 42). Damit ist zunächst die Streitfrage angesprochen, inwiefern sich Kierkegaards Entwurf im Ganzen als spätidealistisch verstehen lässt. Insofern sich auch der Einspruch Adornos vor allem gegen die „Grundthese des nachkantischen Idealismus, die spekulative Identität von Subjekt und Objekt“ (Sommer 2016, 37) richtet, muss zumindest in dieser Hinsicht die Antwort negativ ausfallen. Bei Kierkegaard gebe es kein SubjektObjekt im hegelschen Sinne, stellt Adorno fest (GS 2, 45). Diese Konstellation der Kritik liegt noch, bei allen Unterschieden in der Bewertung, seiner späten Auseinandersetzung mit dem Dänen in den sechziger Jahren zugrunde: „Kierkegaard hat die Klammer der Identitätsphilosophie zerbrochen […]. Im Kierkegaardschen Subjektbegriff schlägt jenes nichtidentische Reale durch, das die Konzeption des reinen Subjekts als Geist im Idealismus eskamotiert“ (GS 2, 250). Dabei umschreibt diese Feststellung letztlich nur Kierkegaards zentralen Einwand gegen die spekulative Systemphilosophie aus der Abschließenden Unwissenschaftlichen Nachschrift und zeugt damit von der Nähe der Hegelkritik beider: „Die systematische Idee ist das Subjekt-Objekt, die Einheit von Denken und Sein; Existenz dagegen ist gerade die Trennung“ (AUN I, 116 / SKS 7, 118). Entscheidend ist nun, dass Adorno Kierkegaards Absage an den Idealismus explizit als Ergebnis eines Entfremdungsgeschehens deutet: „Wächst Fichtes Idealismus aus dem Zentrum der subjektiven Spontaneität, so wird bei Kierkegaard das Ich von der Übermacht der Andersheit auf sich selber zurückgeworfen. Weder ist er ein Identitätsphilosoph noch erkennt er positives, bewußtseins-transzendentes Sein an. Weder ist ihm die Dingwelt subjekt-eigen noch subjekt-unabhängig.Vielmehr: sie fällt fort“ (GS 2, 45). Damit ist nicht nur eine geistesgeschichtliche Entfremdung vom idealistischen Denken, das Adorno wie Kierkegaard eben selbst als entfremdetes gilt, gemeint. Es geht um die Frage nach dem Sinn von Dasein nach der Erfahrung seines Verlustes – „[d]as hält jeder Satz Kierkegaards fest“ (GS 2, 45). Darüber hinaus bedeutet Entfremdung vom Objekt, als die eine Seite des Problems, hier nicht zuletzt eine von gesellschaftlicher Objektivität, die Adorno an Kierkegaard, mit ihm – etwa in seiner Hegelkritk – und gegen ihn analysiert. Zentral ist dabei die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem. Kierkegaards Kategorie des Einzelnen versteht Adorno einerseits als Ausdruck von Entfremdung, etwa in seinen Überlegungen zu einer „Soziologie der Innerlichkeit“ (GS 2, 70) und im Bild des „Intérieurs“. Andererseits wird sie ihm gerade in seiner späteren Schaffenszeit zu einer Instanz von Gegenentfremdung. Zeugnis dieser veränderten Bewertung gibt „Kierkegaard noch einmal“, ging es Adorno in diesem Beitrag doch gerade darum, „seine nichtkonformistischen Züge bestimmter herauszuarbeiten“ (GS 2, 263). Überhaupt fällt auf, dass die Passagen in den Schriften des Frankfurters, die Entfremdung auch dem Begriff nach entfalten – untergründig durchzieht das Problem ohnehin das ganze Werk – oftmals einen bürgerlichen Nonkonformismus zum Gegenstand haben. Bei-
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spielhaft hierfür ist der Aphorismus 58 der Minima Moralia über Ibsens Hedda Gabler, der für sein Verständnis von Entfremdung, zumindest in ihrer sozialphilosophischen Dimension, paradigmatischen Charakter hat. Die Distanziertheit des Einzelnen, seine selbstgewählte Fremdheit, ist hier „das Gegengift gegen Entfremdung“ (GS 4, 105). Dieser Nonkonformismus ist das Komplement zu Adornos Konzept von Entfremdung als „[r]adikale[r] Vergesellschaftung“ (GS 3, 81). Die Bedeutung, auch von Kierkegaards Widerstand dagegen, erschließt sich jedoch erst vor dem Hintergrund seiner kritischen Anverwandlung der marxschen Gesellschaftstheorie und ist insofern relativ zu ihr: „Darum fallen in der Tat die Motive der unnachgiebigen bürgerlichen Selbstkritik zusammen mit den materialistischen, welche jene zum Bewusstsein ihrer selbst bringen“ (GS 4, 107). Ich sehe aber gerade darin das Eigentümliche von Adornos Entfremdungsbegriff begründet und meine, dass sich das insbesondere an seiner Auseinandersetzung mit Kierkegaard erschließt. Denn jene Insistenz auf der Bewahrung von Fremdheit, die er im Zusammenhang mit der „bürgerlichen Selbstkritik“ äußert, muss zunächst überraschen. Soziale Entfremdung bedeutet doch – beispielsweise als eine der Dimensionen, die Marx in den Pariser Manuskripten unterscheidet – stets auch eine Entfernung der Menschen voneinander. In jüngster Zeit hat Jaeggi (2005, 19) Entfremdung entsprechend als „Beziehung der Beziehungslosigkeit“ definiert, was auf den ersten Blick jener Distanziertheit gleicht, die Adorno am bürgerlichen Nonkonformismus affirmiert. Das „Gegengift“ zu Entfremdung wurde vielmehr, theoretisch wie praktisch, zumeist in einer Überwindung jener Distanz in der modernen Gesellschaft, einer wiederzugewinnenden Nähe oder neuen Unmittelbarkeit gesucht. Das gilt für die ältere Kritische Theorie, Marcuse und Fromm etwa, wie für die jüngste, beispielsweise Hartmut Rosa. Dafür stehen klassischerweise Begriffe wie Solidarität, Assoziation (der Arbeiter), Resonanz sowie natürlich (Nächsten‐)Liebe. Der vermeintliche Widerspruch zwischen Adorno und jener Hauptströmung der Entfremdungskritik klärt sich auf, wo Marx und Kierkegaard von ihm miteinander ins Gespräch gebracht werden – eine Unterhaltung unter Zeitgenossen, die so ja nie stattgefunden hat. Entfremdung wird aber noch in anderer Weise zum Hintergrund von Adornos Kierkegaarddeutung. Er unterstellt ihm, sich gegen die Verdinglichung der Menschen – ihrer Beziehungen untereinander wie ihres Verhältnisses zu sich selbst – zu verblenden. Und das geschieht gerade dort, wo sich der Kopenhagener anschickt, solche Entfremdung und das (vermeintliche) Defizit seiner sich vereinzelnden Perspektive zu überwinden, oder zumindest zu kompensieren.²⁷ Doch nicht nur in der Studie „Kierkegaards Lehre von der Liebe“, sondern auch in seinem Erstlingswerk ist Adornos Theorie der Verdinglichung – zweifellos der Kern seines Entfremdungsdenkens – allgegenwärtig. In einem Brief an Kracauer von 1930 meint er, es gehe ihm in seiner Habilitationsschrift insgesamt darum, Lukács und Benjamin „durch einander zu korrigieren“ (BW 7, 207–
Dass schon seine Zeitgenossen das so gesehen haben und inwiefern sie damit in bestimmter Hinsicht auch richtig liegen, reflektiert er selbst: DSKE 4, 96 / SKS 20, 86.
6 Gliederung und Verfahren der Untersuchung
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208). Das bedeutet, dass er die Theorie der Verdinglichung aus Geschichte und Klassenbewusstsein mit der benjaminschen Dialektik des Umschlags in Natur bzw. Mythos zusammendenkt.
6 Gliederung und Verfahren der Untersuchung Adornos und Kierkegaards Texte gehören wohl zu den ergiebigsten und gleichzeitig undankbarsten Gegenständen, mit denen sich eine wissenschaftliche Arbeit beschäftigen kann – und zwar aus demselben Grund: Sie sperren sich einer akademischen Aneignung. Beide aufeinander zu beziehen, macht es nicht einfacher. Bei Kierkegaard besteht die Schwierigkeit zunächst darin, dass sich die einzelnen Schriften erst im Verhältnis zueinander – bisweilen muss gar von einer Arbeitsteilung gesprochen werden – und in Bezug auf das Ganze wirklich erschließen. Dabei gehört laut Deuser (1983, 103) „Adornos Interpretation zu den ganz wenigen, die sich einen Reim auf das Ganze dieses Lebens und Schriftstellers machen wollen und die damit nichts Geringeres tun, als zu befolgen, was Kierkegaard selbst mit der ‚Total-Wirkung‘ seines Lebens und Werkes verlangt hatte“. Anders verhält es sich mit einer darüber noch hinausgehenden Zugangsbeschränkung: der Pseudonymität und Mitteilungsform, die Adorno ja – nicht aus Ignoranz, sondern mit Methode – missachtet. Wo es mir nicht darum geht, die Differenz auszuweisen, werde auch ich im Folgenden meist darauf verzichten, den pseudonymen Verfasser zu nennen. Dieses für die heutige Kierkegaardforschung skandalöse Vorgehen Adornos soll im dritten Kapitel, in der Erörterung der Funktion der Pseudonyme, wenigstens teilweise eine Legitimation erfahren. Bei Adorno selbst stellen sich nun ähnliche Probleme wie bei Kierkegaard, insofern auch hier eine gewebehafte Darstellung in eine lineare Argumentation auseinandergelegt werden muss²⁸ – während er fordert, es „sollten alle Sätze gleich nahe zum Mittelpunkt stehen“ (GS 4, 79). Philip Hogh (2015, 16 – 17) hat dieses Dilemma treffend beschrieben: „Da es Adorno aber in jedem Satz ums Ganze geht, sind in meiner interpretatorischen Arbeit Wiederholungen unvermeidlich […]. Statt wie Adorno selbst den Versuch zu unternehmen, alles auf einmal zu sagen und verschiedene Argumente immer weiter ineinander zu schieben, versuche ich jedoch das von Adorno Geschriebene zu entzerren.“²⁹ Es ist ein Verfahren der Verdichtung, das der Frankfurter nicht zuletzt an Kierkegaard ablesen kann. Auch bei mir sind nun gewisse Wiederholungen unvermeidbar, da bestimmte Aspekte des Buchs über ihn, etwa die berüchtigte „objektlose Innerlichkeit“, nur in mehreren Durchläufen zu erhellen sind, die sich je unterschied-
So stellt er zu seiner Arbeit an der Ästhetischen Theorie fest, „daß die einem Buch fast unabdingbare Folge des Erst-Nachher sich mit der Sache als so unverträglich erweist“ („Editorisches Nachwort“, GS 7, 541). Dass er das allerdings im Kontrast zur Negativen Dialektik formuliert, ist erklärungsbedürftig. Dort meint er von der Philosophie: „[W]as in ihr sich zuträgt, entscheidet, nicht These oder Position; das Gewebe, nicht der deduktive oder induktive, eingleisige Gedankengang“ (GS 6, 44; vgl. GS 11, 20). Vgl. auch Grenz 1974, 15.
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lichen Aspekten widmen. Eine solche ausgiebige, sich vertiefende Textinterpretation steht aber nicht wie bei Hogh (2015, 17) in einem komplementären Verhältnis zur „transzendente[n] Interpretation“, also dem Bezug auf aktuellere Theorien. Bei mir leistet das der Rückbezug auf die ideengeschichtliche Konstellation des Deutschen Idealismus. Er macht es mir einerseits einfacher, weil in diesem Kontext die Problematik der Mitteilung bei Kierkegaard zurücktritt. Andererseits führt das zu einer Schwierigkeit, die einer Matroschka gleicht: So geht es beispielsweise um Adornos Deutung einer Passage bei Kierkegaard, die wiederum ein Kommentar zu Fichte ist, der wesentlich durch Hegels Kritik an diesem geprägt ist. Einer solchen Unübersichtlichkeit will ich mit einem systematischen Vorbegriff von Entfremdung begegnen. Er ist auch durch die gegenwärtige Debatte informiert, wo diese zu einer stärkeren Systematisierung und Formalisierung beigetragen hat. Darum geht es im ersten Kapitel, das zunächst die grundsätzliche Problematik des Entfremdungsdenkens im Verhältnis zur Anthropologie umreißen und verschiedene Modelle von Entfremdung unterscheiden soll. Diese haben vorrangig eine heuristische Funktion – ähnlich wie auch Henning (2015, 13) seiner historischen Rekonstruktion ein „heuristisches Modell von Entfremdung“ zugrunde legt. Bereits die spezifische Problematik der Geschichte des Entfremdungsbegriffs erfordert das, insofern dort, wo es offensichtlich um Entfremdung geht, von ihr nicht ausdrücklich die Rede ist und umgekehrt der Begriff aber auch für Phänomene einsteht, die mit dem hier behandelten philosophischen Problem bestenfalls indirekt zu tun haben. Das betrifft, angefangen mit Rousseau, zahlreiche Denker, die in kaum einer Darstellung fehlen, und Kierkegaard ohnehin – in der beschriebenen Weise aber eben auch Adorno. Entfremdung verstehe ich gewissermaßen als Oberbegriff, dem sich verwandte und spezifischere Ausdrücke subsumieren lassen. Sie bezeichnen besagte Modelle von Entfremdung und sollen in ihrem Zusammenhang aus den begrifflichen Differenzierungen bei Hegel verstanden werden: Entäußerung, Entzweiung, Entbindung, Wiederkehr des Verdrängten und Umschlag ins Gegenteil. Zu erörtern gilt es darüber hinaus, was Adorno unter Verdinglichung versteht. Ihr Begriff wird nach dem Modell der Dialektik der Aufklärung in einer Weise anthropologisch erweitert, die zahlreiche Bezüge zu Kierkegaard offenlegt, während doch die Verdinglichungskritik überwiegend gegen ihn gewendet wird. Das zweite Kapitel hat eine ähnliche Funktion, wie sie das erste in systematischer Hinsicht erfüllt. Es soll ideengeschichtliche Zusammenhänge erläutern, die zum Verständnis der weiteren Erörterung vorausgesetzt werden müssen. Dabei geht es mir vor allem um zweierlei: Erstens gilt es zu klären, inwiefern sich berechtigterweise davon sprechen lässt, dass Kierkegaard Entfremdung auch gemäß ihrem modernen, aus der Aufklärung tradierten philosophischen Begriff zum Gegenstand macht. Damit wird zugleich der Anspruch eingelöst, Kierkegaard vorab schon gegenüber der Deutung Adornos zu Wort kommen zu lassen – was die meisten Beiträge aus der Adornoforschung wie gesagt nicht tun. So zeigt sich erst, wo er an ihn anschließen kann, insbesondere wie weit eine Dialektik der Aufklärung schon in der Angstabhandlung angelegt ist. Die Übereinstimmung ist hier eine untergründige bzw. eine der Sache nach, im Gegensatz zur expliziten Auseinandersetzung Adornos mit Kierkegaard, von der das
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nachfolgende Kapitel meiner Arbeit ausgeht. Zweitens gilt es zu erörtern, inwiefern sich bestimmte Formen des Denkens selbst als entfremdete charakterisieren lassen. Das betrifft vor allem das spekulative Systemdenken, gegen das sich Kierkegaards Polemik richtet. Gleichwohl lässt sich auch an dessen Thesen aufzuzeigen, welcher Begriff von Entfremdung sich nicht vertreten lässt, entweder weil er theologisch tendenziös ist oder weil er aufgrund seiner inneren Logik bereits eine uneigentliche Form der (Selbst‐) Entfremdung beschreibt. Auf dieser systematischen und ideengeschichtlichen Basis widmet sich das dritte Kapitel nun der ausführlichen Textanalyse des Kierkegaardbuchs – im Kontext anderer Schriften Adornos. Dabei werden zentrale Themenkomplexe erörtert, die hier nur erwähnt seien: Innerlichkeit und Handlung, das Verhältnis von Theorie und Praxis bei Kierkegaard, sein (sprachtheoretischer) Nominalismus und die „verstellte Ontologie“ als Komplement objektloser Innerlichkeit. Als Leitfaden dient mir in diesem Teil der Arbeit das titelgebende Wort der Konstruktion. Dass es doppelsinnig gemeint ist, hat schon Adornos Habilitationsvater Paul Tillich (1999, 338) in seinem Gutachten erkannt: „Es bedeutet zugleich die Struktur, die bei Kierkegaard vorliegt, und die Art, wie sie vom Verfasser dargestellt wird.“ Dieser Doppelcharakter lässt sich nachvollziehen am Leitfaden der „Äquivokationen“ des Ästhetischen, ihrer divergierenden, aber stets aufeinander verwiesenen Bedeutungsebenen, die Adorno zu Beginn der Untersuchung unterscheidet: Kunstlehre, das Ästhetische als Haltung, Existenzform oder Stadium sowie die Form der subjektiven bzw. indirekten Mitteilung. In ihren Auffächerungen geht es jedoch stets um „Hegelisch gesprochen, eine Stellung des Gedankens zur Objektivität“ (GS 2, 262), die bei Kierkegaard die des subjektiven Denkers ist. Wollte man in einer Bestimmung zusammenfassen, was alle drei Bedeutungen eint, so ist es Adorno zufolge ein Primat der „philosophischen Konstruktion“ (GS 2, 20), worin Kierkegaard den Idealismus beerbt. Das tritt aber erst in dieser Deutlichkeit zutage, weil Adorno den „methodischen Grundzug von Kierkegaards Philosophie zurückstellt“ (Hühn u. Schwab 2019, 397) – also die letztgenannte Bedeutung des Ästhetischen. Mit dem Problem indirekter Mitteilung ist daher anzufangen. Zum Ende soll schließlich deutlich werden, wozu Adorno sie derart missachtet und Kierkegaard stattdessen bei seiner „verräterischen Wörtlichkeit“ (GS 2, 21) nimmt. An seinen (sprachlichen) Bildern liest er, insbesondere im Schlusskapitel seiner Untersuchung, das Andere der Entfremdung ab – in Form einer „Wendung der Schwermut“³⁰. Weshalb Adorno, einer in verschiedener Hinsicht gemeinsamen Absicht zum Trotz, dessen Mitteilungsform einer derart scharfen Kritik unterzieht, erschließt sich genauer erst aus der Sprachähnlichkeit der Kunst, der Art ihrer Mitteilung. Sie steht im Kontrast zu Kierkegaards eigenen kunsttheoretischen Exkursen, vor allem aber zu einer verdinglichten Sprachpraxis, die auch dieser beklagt. Eine weitere Perspektive, nicht nur auf das Problem der Entfremdung, sondern auch auf Adornos Verhältnis zu Kierkegaard, eröffnet schließlich die implizite Analogie von autonomem Individuum und au-
So ist der betreffende Abschnitt überschrieben: GS 2, 175 – 180.
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tonomer Kunst. Sie verweist darauf, dass nicht nur die Bewertung des Nonkonformisten Kierkegaard, sondern auch die der – tatsächlichen oder vermeintlichen – Selbstbezüglichkeit seines „Einzelnen“ grundlegend doppelsinnig ist. Eine solche Analogie rechtfertigt sich aus dem „Doppelcharakter der Kunst als autonom und fait social“ (GS 7, 16). Sie ist daher ebenso Ausdruck gesellschaftlicher Entfremdung, wie sie als autonome sich konstituiert durch ihre „Absage an Gesellschaft“ (GS 7, 335). Neben der Sprachähnlichkeit der Kunst kommt auch deren Scheincharakter im dritten Kapitel eine tragende Rolle zu, wenn es darum geht, die Anverwandlung von und den Abstand zu Kierkegaard zu bestimmen. Schließlich wirft Adorno diesem wiederholt vor, eine „scheinlose“ theologische Wahrheit zu beanspruchen, die ihm zufolge auch die Bilder- und „Kunstfeindschaft“ des Spätwerks bedingt (GS 2, 193). Von der Ästhetik her wird so die Gestalt von Dialektik bei Adorno als „Genese der Wahrheit aus dem falschen Schein“ (Grenz 1974, 57) nachgezeichnet. Inwiefern er hierbei im Begriff einer „intermittierenden“ Dialektik an Kierkegaard anschließt und worin die Differenzen bestehen, erhellt sich gerade im Vergleich mit dem benjaminschen Konzept des „dialektischen Bildes“, das sich Adorno ausdrücklich als Folie der Deutung zu eigen macht (vgl. GS 2, 80). Im vierten Kapitel gilt es, die Auseinandersetzung mit dem Deutschen Idealismus zu vertiefen und die Frage zu beantworten, inwieweit Kierkegaard von Adorno berechtigterweise als später Idealist bezeichnet werden kann. Dabei wird aber nicht nur dessen Auseinandersetzung mit Kierkegaards Anverwandlung und Distanznahme von Hegel, Fichte und Schelling erörtert. Oft unterschätzt wird der Rückgriff beider auf Kant und damit die Initialzündung des Idealismus in der Diskussion um das Ding an sich und den intelligiblen Charakter. Er dient sowohl Adorno als auch Kierkegaard einerseits dazu, diesen Theoriezusammenhang von innen heraus aufzubrechen. Andererseits geht es ihnen darum, schon bei Kant Tendenzen aufzuzeigen, die sie als idealistisch verstehen. Darin ist sich Adorno mit Kierkegaard oft erstaunlich einig, er hält ihm aber vor, in die gleichen Denkmuster zurückzufallen, bzw. sie in ihrer spiegelbildlichen Verkehrung zu reproduzieren. Dieser ideengeschichtlichen Auseinandersetzung im Ganzen verdankt sich die Formel vom „Vorrang des Objekts“, die Adornos materialistischen Standpunkt beschreibt. Deshalb, und weil sie auch als Kontrastfolie zu Kierkegaards Position des „subjektiven Denkers“ dient, schließt eine Auffächerung ihrer Bedeutungsdimensionen die Überlegungen zum Verhältnis des Dänen zum Deutschen Idealismus ab. Als Differenzkriterium zum im weitesten Sinne idealistischen Denken führt Adorno wiederholt die Totalitätsbestimmung an. Er wendet sie jedoch – und das unter ausdrücklicher Berufung auf Kierkegaard – auch gegen Marx und marxistische Theoretiker wie Lukács. Sie wird bei ihm aber nicht einfach verabschiedet, sondern zu einer kritisch-hermeneutischen Kategorie. Das gilt es im letzten Kapitel der Untersuchung zunächst nachzuvollziehen, denn ihre Bestimmung setzt die provozierende These einer allumfassenden Entfremdung und Verblendung ins rechte Licht. Adorno spitzt Marx’ Diagnose dabei einerseits zu, wie er andererseits der Theorie Freiräume eröffnet, indem er jene in einer paradoxen Dialektik der Individualisierung über sich hinaustreibt und dem Materialismus eine subjektive Wendung gibt. Vor diesem Hintergrund wird auch
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seine Haltung zu Kierkegaards Kategorie des Einzelnen erst verständlich. Mich leitet dabei die Frage, warum er ihn von seinem materialistischen Standpunkt aus als Sozialkritiker ernst nehmen kann – und sei es nur relativ zu Marx – und ihm auch eine dessen eigene Epoche übersteigende Relevanz zuspricht. Die Stellung des Einzelnen zu den geschichtlich-gesellschaftlichen Verhältnissen, an der man in der Literatur meist die Differenz zwischen Adorno und Kierkegaard festgemacht hat, soll hier am Verhältnis von individueller Selbstverwirklichung und gesellschaftlicher Allgemeinheit erörtert werden. Ihre Entzweiung – die Hegel noch spekulativ aufzuheben versuchte, aber in der Rechtsphilosophie schon als Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft als einem „System der Bedürfnisse“ erkannte – ist auf dieser Ebene der Ausdruck jener Entfremdung von Subjekt und Objekt, die Adorno im Ganzen seiner Deutung Kierkegaards zugrunde legt. Die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem betrifft insbesondere das Verhältnis von (individualistischer) Ethik und substantieller Sittlichkeit. In der Weise, in der Adorno und Kierkegaard sich hier positionieren, sehe ich eine der größten, gleichwohl auch am wenigsten offensichtlichen Übereinstimmungen zwischen beiden. Sie wird aber bereits durch Adornos affirmative Bezugnahme auf den Dänen in der Hegel- und Kantkritik angezeigt. In diesem Zusammenhang deutet sich schließlich auch das Andere der Entfremdung an – und wenngleich nicht ein Ausweg aus ihr, so doch eine Möglichkeit, mit Entfremdung umzugehen. Dieser Modus lässt sich als einer der Statthalterschaft der „verstellten“ besseren Praxis bestimmen. Was darunter zu verstehen ist, erschließt sich bei Kierkegaard in der Nächstenliebe, bei Adorno vor allem an den Kunstwerken, bzw. am Verhalten zu ihnen. Aber auch für ihn erübrigt sich dadurch keinesfalls die Ethik im engeren Sinne. Sie wird sogar in einer bestimmten, Kierkegaard vergleichbaren Weise gegenüber der hegel-marxschen Tradition rehabilitiert. Die Haltung, die solchem stellvertretenden Leben entspricht, ist die der Hoffnung wider die Verhältnisse, die Adorno an Kierkegaard mehr als alles andere beeindruckt hat. Der „Idealismus“ im Titel meiner Arbeit ist insofern auch in Richtung auf den alltäglichen Sprachgebrauch zu verstehen³¹ und als solcher Gegenmittel nichtseinsollender Entfremdung. Die Untersuchung eröffnet damit zum Ende hin eine positive Perspektive, die ich auch als Angebot sehe, weiterzudenken. Denn hier stellt sich die ansonsten in meiner Untersuchung meist ausgesparte Frage nach der Aktualität des Entfremdungsdenkens von Kierkegaard und Adorno.
Also in der Weise, wie Bischof Mynster Kierkegaard seinen „Idealismus“ zum Vorwurf gemacht hat und meinte, dass er ihm vom „praktischen Leben“ noch ausgetrieben werde (Garff 2005, 686).
I Ein Vorbegriff von Entfremdung Gegenwärtig ist zwar selbst im akademischen Diskurs wieder vermehrt von Entfremdung die Rede, ausgegangen wird dabei aber oft von geradezu disparaten Phänomenen des Entfremdetseins. Das mag auch daran liegen, dass Selbstentfremdung bisweilen in einer Weise zum Thema wird, die weniger mit dem tradierten philosophischen Begriff, sondern vielmehr, als Depersonalisation oder Derealisation etwa, mit psychischen Störungen zusammenhängt, von denen sie eigentlich abzugrenzen wäre. Auch spricht man außerakademisch viel häufiger in einem (philosophisch) unproblematischeren Sinn davon, dass sich beispielsweise zwei Menschen voneinander entfremdet hätten, oder einer von seiner Herkunft. Das ist nun aber etwas ganz anderes als die Entfremdung des Menschen bzw. der Menschen voneinander, oder die „Heimatlosigkeit“ in der Existenzphilosophie. Zwar besteht das Gemeinsame all dieser Phänomene stets in einer Entfernung oder Distanznahme. Sie ist es, die überhaupt je von Entfremdung zu sprechen erlaubt. Auch etymologisch entspricht das Fremde ja dem Fernen, was sich im englischen from noch erhalten hat.¹ Der Unterschied liegt jedoch auf der Hand: Eine philosophische Entfremdungstheorie in der Tradition der Aufklärung setzt, wie Trebeß (2001, 4) in seiner begriffsschriftlichen Studie feststellt, stets „einen Universalismus voraus (den der Arbeit, des Menschen, der Technik, der Natur)“. Das Christentum verlasse bereits den Partikularismus und strukturiere den modernen Begriff vor. Bei allen Differenzen, die auch er ansonsten betont, erlaubt gerade dieser Aspekt einen philosophischen Zugriff auf theologische Denkfiguren etwa bei Kierkegaard.² Solch ein Universalismus hat dem Entfremdungsdenken freilich den Vorwurf des Essentialismus einerseits und des Paternalismus andererseits eingehandelt.Wo aber der Ausgangspunkt einzig die Phänomenanalyse ist, die sich womöglich noch auf die Betroffenenperspektive beschränkt, also auf die Selbstdiagnose, entfremdet zu sein – oder eben nicht –, besteht die Gefahr, das Problem lediglich symptomatisch und nicht ätiologisch anzugehen. Die historische und anthropologische Tiefendimension kommt so kaum noch in den Blick. Ich versuche sie dagegen im Ausgang von einer Begriffsgeschichte einzuholen, die überhaupt erst das Verhältnis von Anthropologie und Geschichte zu bestimmen hat und auch die Frage nach der Historizität der Entfremdung und des Begriffs von ihr stellt.
Vgl. Landmann 1975, 169. Das gilt selbst für die theologische Variante des Entferntseins von Gott. Freilich ist dieser Zusammenhang in manchen Fällen nicht so offensichtlich: dort wo Entfremdung ein falsches Eingebundensein meint. Hier ist aber in der einen oder anderen Weise eine Entfernung des individuellen Subjekts von sich selbst gemeint. Das zeichnet ebenso die existenzphilosophische Variante aus wie Entfremdung als totale Vergesellschaftung bei Adorno. Wie sich im folgenden Kapitel zeigen wird, sind insbesondere die hamartiologischen Lehren hier Vorbild, bringen sie doch im Verhältnis von Gattung und Individuum, ausgehend von Adam als erstem Menschen, das für das säkulare Entfremdungsdenken grundlegende Prinzip der Verselbständigung deutlich zur Geltung. https://doi.org/10.1515/9783111010342-003
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Dreh- und Angelpunkt ist dabei Hegel, und zwar sowohl in historischer wie in systematischer Hinsicht. In ihm laufen die Stränge der früheren Entfremdungskritik – der theologischen wie der aufklärerischen – zusammen, und aus ihm speisen sich die Ansätze von Feuerbach und Marx über Lukács bis hin zur Kritischen Theorie. Hegel stiftet aber auch systematisch einen Zusammenhang, wo die Rede von Entfremdung in verschiedene konkurrierende Modelle auseinanderzufallen scheint. Auch deshalb zeigt sich in der Literatur eine erstaunliche Einstimmigkeit darüber, was zum Kanon des Entfremdungsdenkens, zumindest von Rousseau bis Marx, zu zählen ist: Herder, Humboldt, Schiller und natürlich Fichte, Hegel und die Junghegelianer fehlen in kaum einer Untersuchung. Es erübrigt sich deshalb meines Erachtens, einen Abriss der Geschichte bzw.Vorgeschichte des Entfremdungsbegriffs der Untersuchung voranzustellen, wurde das doch andernorts schon erschöpfend getan.³ Wenn Hegel den Begriff der Entfremdung für die nachfolgende Diskussion prägt, so tut er das vor dem Hintergrund eines philosophischen Diskurses, dem dieser Begriff längst Gemeingut geworden war. Das gilt mehr noch für Marx, der auch deshalb meint, er gebrauche ihn nur, „um den Philosophen verständlich zu bleiben“ (MEW 3, 34). Ihren Höhepunkt aber erreicht die Diskussion um Entfremdung zweifellos im westlichen Marxismus nach der Entdeckung von Marx’ Ökonomisch-philosophischen Manuskripten durch Dawid Borissowitsch Rjasanow und Siegfried Landshut Ende der 1920er Jahre und mit der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre.⁴ Sie fällt also zusammen mit den Phasen der Entstehung und der größten (Nach‐)Wirkung der älteren Kritischen Theorie. Dieser Umstand hat allerdings die Beschäftigung mit der Frage, mit welchem Begriff von Entfremdung je gearbeitet wird, nicht unbedingt befördert. Worin besteht überhaupt das Problem? An der aktuellen Debatte fällt zunächst auf, dass Entfremdung beinahe ausschließlich unter dem Aspekt einer Pathologie – beispielsweise des Sozialen oder der Vernunft⁵ – zum Thema wird. Dabei ist keineswegs im Voraus ausgemacht, dass der Prozess der Entfremdung stets als nichtseinsollender verstanden werden muss. Das zeigt sich etwa bei Arnold Gehlen, der von einer „Geburt der Freiheit aus der Entfremdung“⁶ spricht. Schon am Beginn des modernen Diskurses bei Rousseau wird Entfremdung zwar als Übel aufgefasst, das sich jedoch als im Wort-
Beispielhaft sind hier in jüngerer Zeit Henning und – am ausführlichsten – Trebeß, wobei sie, zumindest was die Entwicklung des Begriffs bis Hegel angeht, im Wesentlichen nur rekapitulieren, was Nicolaus, auf den sich beide beziehen, bereits 1995 in seiner Untersuchung zu Hegels Theorie der Entfremdung erörtert. Zugleich zeigten sich in jener Zeit die Konfliktlinien des Kalten Krieges auch im Entfremdungsdiskurs, wobei der westliche Marxismus sowohl in Opposition zum bürgerlichen Denken als auch zum real existierenden Sozialismus stand – in dem Entfremdung ja nicht sein sollte, bzw. deren Kritik mit dem späteren Marx selber als bürgerlich verdächtigt wurde. Vgl. hierzu die Einführung von Heinz-Horst Schrey (1975) zum von ihm herausgegebenen Sammelband Entfremdung. Vgl. den von Axel Honneth herausgegebenen Sammelband Pathologien des Sozialen von 1994 und seinen darin enthaltenen gleichnamigen Aufsatz (9 – 69) sowie seine Monografie von 2007 Pathologien der Vernunft. So der Titel eines Aufsatzes von 1952: Gehlen 1963, 232– 246.
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sinn notwendiges erweist. In gewisser Hinsicht gilt das auch für Hegel, insofern Entfremdung als Begriff durchweg eine zu bejahende Bewegung des Geistes meint, die auf die Aufhebung von Entzweiung als nichtseinsollende Entfremdung zuläuft. Paradigmatisch zeigt es sich aber an Kierkegaards bekannter Formel, dass Verzweiflung sowohl ein Vorzug als auch ein Mangel sei. Und freilich gilt das ebenfalls für die kapitalistische Produktionsweise überhaupt, wie sie Marx in den Blick nimmt. Wo immer die Entfremdungstheorie aufs Ganze geht, muss sie ihre Kritik unter der Voraussetzung eines solchen Sowohl-als-auch entsprechend dialektisch formulieren.⁷ Zugleich setzen sich Adorno und Kierkegaard in der Totalitätsbestimmung von Hegel und Marx gerade ab – insbesondere in der Perspektive der ebenso totalen Überwindung von Entfremdung. Schon Rousseau (2003, 17) fordert im Gesellschaftsvertrag nicht weniger als eine „völlige Entäußerung“ (aliénation totale) des Individuums an das Gemeinwesen. Unübersichtlich wird die ohnehin weitverzweigte Begriffsgeschichte gerade durch eine solche Dialektik.
1 Negative Anthropologie Entfremdung kann freilich auch dann nicht als durchweg nichtseinsollend bestimmt werden, wenn sie mit Anthropologie zusammengedacht wird, oder mit ihr, wie bei Gehlen und in anderer Weise bei Plessner, zusammenfällt.⁸ Ganz anders dort, wo ihrer Theorie die Anthropologie derart vorausgesetzt wird, dass sie ein essentialistisches, nichtentfremdetes Bild des Menschen zeichnet und insofern zugleich als Ideal fungiert, im Sinne einer „perfektionistische[n] Orientierung an einer Vorstellung von ‚Wesen‘ oder Natur des Menschen oder an einem objektivistisch gefassten Ideal des guten Lebens“ (Jaeggi 2005, 19). Über die Tragfähigkeit einer Theorie der Entfremdung entscheidet also ihr Verhältnis zur Anthropologie bzw. ihr Begriff von derselben. Henning (2015, 13) führt gar sämtliche „falsche Aufhebung“ oder „Verharmlosung“ der Entfremdung auf eine Vereinseitigung zugunsten einer der beiden Dimensionen, der anthropologischen oder der gesellschaftstheoretischen, zurück. Letzteres hat man gerade Adorno unterstellt. Bei ihm seien „die Individuen vollständig durch die gesellschaftlichen Strukturen bestimmt“, argumentiert etwa Christian
Wie sich zeigen wird, ist bei Hegel die Entfremdungslehre seiner Dialektik fast gleichzusetzen. Zwar kann man der Philosophischen Anthropologie bisweilen zu Recht eine Enthistorisierung vorwerfen und auch eine Tendenz zur politischen Beschwichtigung. Zur Entfremdungstheorie unterhält sie aber ein ambivalentes Verhältnis, dass sich kaum auf den Begriff ihrer Neutralisierung bringen lässt. Bei Gehlen ist Entfremdung in die Anthropogenese selbst eingeschrieben, wird damit aber nicht schon positiviert, sondern in ein dualistisches Modell überführt, in dem sie, als im Subjekt nicht aufzuhebende, durch Institutionen stabilisiert wird. Plessner, zeitlebens ein Kritiker der Entfremdungskritik, beschreibt den Kern seiner Anthropologie, die „exzentrische Positionalität“, in den Begriffen des Entfremdungsdiskurses und stellt diesen damit weniger still, als vielmehr auf Dauer. Christoph Henning (2015, 144) erwägt daher gar, ob es sich bei ihm nicht um den „Versuch einer Bannung des äußeren Schreckens durch eine Verdopplung ins Innere handelt“. Er bezieht sich dabei auf Adorno: jene „Mimesis […] in der das Denken der Welt sich gleichmacht“ (GS 3, 42).
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Thies (2004, 27), der von einer „externen Reduktion“ anthropologischer Problemstellungen spricht und ihn damit in eine Linie mit Luhmann stellt, weil beide die Prämisse von der Verselbständigung sozialer Systeme teilten.⁹ Richtig ist, dass Adorno eine Philosophische Anthropologie im Sinne ihrer Protagonisten – Scheler, Plessner und sein konservativer Gegenspieler Gehlen – als gesellschaftstheoretisch unreflektiert abgelehnt hat. Und das begründet er gerade entfremdungstheoretisch: Sie rechnen nicht mit der „Entmenschlichung“ und „Entsubjektivierung“. Der Mensch heute sei „Funktion, unfrei redigiert hinter alles, was als invariant ihm zugeschlagen wird“ (GS 6, 130). Dabei gilt diese Kritik mittelbar auch der Existenzphilosophie, um die es ihm in diesem Abschnitt eigentlich geht – die „Funktion des Existenzbegriffs“ gleicht jener der Rede vom Menschen in seiner Unbedingtheit. Dem schließt sich eine der ausführlichsten Erörterung zu Kierkegaard und seiner Rezeption durch Heidegger in der Negativen Dialektik an. Selbst wo nun die „arrivierte[r] Anthropologie“ sich als historische bestimmt, oder Unbestimmtheit als das ausgibt, was den Menschen vor allem auszeichne, gaukelt sie das Adorno zufolge nur vor: „Daß nicht sich sagen läßt, was der Mensch sei, ist keine besonders erhabene Anthropologie sondern ein Veto gegen jegliche“ (GS 6, 130). Solche Polemik hat Adorno aber nicht davon abgehalten, den Begriff der Anthropologie wiederholt für seine eigene Philosophie in Anspruch zu nehmen, wenngleich eben als eine dialektische oder negative (vgl. GS 4, 190) – so auch in der Vorrede zur Negativen Dialektik, wo er auf die Nähe zum gleichnamigen, damals noch unveröffentlichten Hauptwerk Ulrich Sonnemanns verweist (GS 6, 11). Stefan Breuer (1985, 34) meint gar, sie sei das „Kernstück“ negativer Dialektik: „Die negative Anthropologie […] ist kein peripheres Element, das sich ohne größere Folgen aus Adornos Oeuvre herauslösen ließe, sie ist vielmehr das organisierende Zentrum dieses Werkes, das den verschiedenen Teilen Rang und Bedeutung zuweist und als Adornos eigentlicher Beitrag zur Fortentwicklung der dialektischen Gesellschaftstheorie angesehen werden muß.“ Worin besteht nun aber die Differenz zur arrivierten Anthropologie? Dass sie vom Menschen als je schon vergesellschaftetem ausgeht, impliziert nicht, wie Breuer (1985, 35) behauptet, eine „völlige Abwesenheit der ersten Natur“. Adornos Rede vom „Eingedenken der Natur im Subjekt“ (GS 3, 58) würde so wohl schlechthin unverständlich.¹⁰ Mir scheint gerade das Trennende in dieser Behauptung undialektisch zu sein. Wo philosophische Anthropologie ins Tendenziöse kippt, liegt das vielmehr an
Thies hat sich auch mit der Kontroverse zwischen Adorno und Gehlen auseinandergesetzt: Die Krise des Individuums: Zur Kritik der Moderne bei Adorno und Gehlen (1997). Ähnlich argumentiert Sebastian Edinger in Negative Anthropologie bei Adorno und Plessner (2022) – eine Arbeit, die hier aufgrund des Veröffentlichungszeitpunkts jedoch nicht mehr angemessen berücksichtigt werden konnte. Hinweisen möchte ich nur darauf, dass auch er (vgl. 194– 208) bei Adornos dynamischer Subjekt-Objekt-Dialektik ansetzt, die er als eine Transformation der üblichen statischen Auffassung als Relation in der Erkenntnistheorie versteht und zudem ideengeschichtlich aus dessen Auseinandersetzung mit dem hegelschen Subjekt-Objekt entwickelt. Dabei bestimmt eben der Naturbegriff das Objekt-Moment darin.
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ihrer „Vermittlungsvergessenheit“, wie Gerhard Gamm (2004, 11) zu Recht feststellt: „Die Ein- oder Rückbeziehung menschlicher Natur – sei es der inneren, sei es der äußeren – in den Naturzusammenhang nimmt eine Denkfigur in Anspruch, die vorkritisch ist, sie spricht offen oder verdeckt im Namen eines Totums.“ Das kann man Adorno kaum vorwerfen. Gleichwohl waren sich seine Nachfolger in ihrer Ablehnung gerade dort oft erstaunlich einig, wo er anthropologisch zu argumentieren schien, wenn es etwa um die Emanzipation des Menschen von der ersten Natur ging. Beispielhaft ist hier Habermas (1995, 505 – 513). Und auch Breuer (1985, 38), der diesem ansonsten eine „Depotenzierung der Kritischen Theorie“¹¹ vorwirft, meint, man könne Adornos urgeschichtliche Argumentation getrost ausblenden. Ich will im Folgenden hingegen diese vermeintliche „Spekulation“ vielmehr als hermeneutisches Prinzip verstehen. Diese von Emil Angehrn (2008, 282– 283) vorgeschlagene Lesart kann sich auf Adorno selbst berufen, der das Konzept einer„Philosophie als Deutung“ an seiner Theorie einer„Vermittlung von Natur und Geschichte“ entfaltet (NL 4/13, 179) – und zwar wie gesagt zuerst in der Habilitationsschrift. Die Aphorismen der Minima Moralia versteht Adorno, wo sie den „engsten, privaten Bereich“ seiner Überlegungen überschreiten, ausdrücklich als „Erwägungen weiteren gesellschaftlichen und anthropologischen Umfangs“ (GS 4, 16 – 17). Zwischen beiden Perspektiven vermittelt eine Theorie der Entfremdung, weshalb er der „Wahrheit übers unmittelbare Leben […] in dessen entfremdeter Gestalt nachforschen“ (GS 4, 13) muss. Es ist also vom Menschen als einem je schon entfremdeten und im weitesten Sinne vergesellschafteten auszugehen. Dadurch wird die Anthropologie in verschiedener Hinsicht zu einer negativen. 1. Negativität meint in einem (zunächst) nicht normativen Sinn eine grundlegende Unbestimmtheit¹² – hier der menschlichen Lebenswirklichkeit –, die einerseits als solche anerkannt, andererseits als Negativität festgehalten wird, insofern sie doch eine Bestimmung fordert: eine Forderung, die sich in der Frage nach dem Menschen und dem Drang nach Verständigung über das je eigene Leben ausdrückt.¹³ Auch vom plessnerschen homo absconditus (Plessner 1983, 353 – 366) unterscheidet sich diese negative Anthropologie in der Bedeutung, die sie im theoretischen Entwurf dem Selbstbezug des Individuums im Verhältnis zum Allgemeinen einräumt.¹⁴
So der Titel eines Aufsatzes über Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns von 1982. Siehe hierzu den von Andreas Hetzel herausgegebenen Sammelband Negativität und Unbestimmtheit: Beiträge zu einer Philosophie des Nichtwissens (2009). Hetzel versteht in der Einleitung Unbestimmtheit als eine der „Gestalten der Negativität“, die in den „aktuellen Selbstverständigungsdiskursen“ – nicht nur den philosophischen –, auf das „ihr korrespondierende[s] Nichtwissen“ insistiert (11). Das Buch enthält eine Rubrik zur „Negative[n] Anthropologie“ und zahlreiche Bezüge sowohl zu Kierkegaard als auch zu Adorno. Vgl. Wesche 2003, 86 – 91. Die Anthropologie Kierkegaards kulminiert also in ihrem „Fragecharakter“ (91). Darin liegt zugleich eine philosophiegeschichtliche Pointe. In Der Begriff Angst heißt es: „[J]eder Mensch, der auf sich selbst achtgibt, weiß, […] wer er selbst ist, und dies ist das Tiefsinnige des griechischen Satzes γνῶϑι σαυτόν, den man lange genug deutsch verstanden hat als das reine Selbstbe-
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2. In der Art, wie diese Unbestimmtheit gefasst wird, ist eine Anthropologie im Sinne Adornos und Kierkegaards zudem auf ihre Entgegenstellung zum Deutschen Idealismus bezogen. Darunter ist eine „undenkbare Wirklichkeit“ (Wesche 2003, 17) zu verstehen, deren Recht die nachidealistische Philosophie in ihrer Hinwendung zum konkreten Menschen einfordert. Das ist ihr gemeinsamer Nenner und Impetus. Daher meint auch Jaeggi, die sich hier auf Löwith beruft: „Mit Kierkegaard und Marx treffen sich die beiden nachhegelschen Stränge der Entfremdungstheorie im Projekt einer Anthropologisierung Hegels“ (Jaeggi 2005, 29).¹⁵ Darüber hinaus steckt aber in der Hinwendung Adornos zur anthropologischen Fragestellung nicht nur eine Spitze gegen Hegel, sondern auch gegen Marx: Während die geschichtsphilosophische Perspektive der Anthropologie das Dogmatische austreibt, sorgt diese dafür, jene nicht als Weltgeschichte zu verabsolutieren und zu totalisieren. 3. Negativität bedeutet aber auch, von einem Nichtseinsollenden auszugehen – aller Ambivalenz, wie sie Entfremdung und Verzweiflung zu eigen ist, zum Trotz. Das wirft die Frage nach der Begründung dieser Position auf, die sich ebenfalls, zumindest dem Anspruch nach, als eine negative ausweisen lassen soll. 4. Die Negativität der Methode fordert, zur Begründung der Negativität im normativen Sinne kein Positives vorauszusetzen, an dem sie sich messen ließe – wodurch das der Entfremdungskritik üblicherweise unterstellte Begründungsverhältnis umgekehrt wird. Damit sperrt sie sich jeglichem deduktiven Verfahren, worin auch der grundlegende Unterschied zu positiven philosophischen Anthropologien anzusetzen ist, wie Wesche in Bezug auf Kierkegaard argumentiert: „Der Beweis eines Sachverhalts wird hier aus einer Grundgewissheit […] abgeleitet. […] Negative Anthropologie lässt sich gewissermaßen als ein Gegenentwurf hierzu begreifen“ (Wesche 2003, 145). Das gilt selbst für vermeintlich ähnliche Ansätze wie Plessners Konzept der exzentrischen Positionalität. So gesehen wäre auch die Unbestimmtheit, welche die arrivierte Anthropologie nach Adorno nur vorgaukle, nicht Ausgangspunkt im Sinne negativer Anthropologie, sondern vielmehr ein Abgeleitetes. Dagegen handelt es sich bei der Verzweiflung, von der Kierkegaard seinen Ausgang nimmt, um „die Erfahrung, sich keiner Bestimmung versichern zu können“ (Wesche 2003, 144). Jedenfalls ist der Philosophischen Anthropologie die Tendenz nicht abzusprechen, Aspekte des heutigen Menschen aus seiner Präformation zu erklären.¹⁶ Dagegen gilt es, von den entwickelten wußtsein, die Luftigkeit des Idealismus“ (BA, 93 / SKS 4, 381). Uta Eichler (1992, 224) stellt daher im Nachwort fest, seine Konzeption des Selbst sei der „Versuch, das Bewußtseinsparadigma in bezug auf die Menschenbestimmung zu sprengen“. Man könnte auch sagen, er versucht es in dessen anthropologischer Verortung zu unterlaufen. Interessanterweise ging auch Scheler später von einer ähnlichen Problemstellung aus. Er wollte, dabei kritisch bezogen vor allem auf Husserl und den Neukantianismus, die „reductio ad hominem, die sich in der Neuzeit zum transzendentalen Weltbezug, zum weltlosen Cogito verdünnt hatte, unverkürzt zur Geltung bringen“ (Arlt 2001, 76 – 77). Während Adorno und Kierkegaard sich für die dem Menschen vorausliegende Heranbildung seiner selbst schlicht nicht interessieren, greift in der Philosophischen Anthropologie das Entwicklungsschema über ihn hinaus, teils bis zum Anfang des Lebens oder dem Phänomen des Lebendigen überhaupt, das
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Formen her, etwa der Subjektivität oder der Vernunft, deren Vergangenheit zu begreifen. Dieser Grundsatz prägt das Verfahren der Dialektik der Aufklärung ebenso wie Adornos Zugang zur Kunst, die er mit der Moderne schlechthin engführt (vgl. Wesche 2002). Schließlich entzieht sich auch der Ursprung menschlicher Entfremdung. Subjektivität und Verdinglichung sowie Freiheit und Schuld sind nach Adorno und Kierkegaard gleichursprünglich und verweisen auf ein unverfügbares Anfangsgeschehen, das im Mythos und insbesondere im biblischen Sündenfall verbildlicht wird. 5. Darüber hinaus stellt der negativistische Ansatz den Versuch dar, dem Negativen – im Sinne des Nichtseinsollenden – eine Perspektive aufs Positive zu entwinden, also auf nichtentfremdetes Menschsein. Diesen Anspruch vertritt auch die Negative Anthropologie Ulrich Sonnemanns (1969) als „Sabotage des Schicksals“. Es ist gerade diese positive Spur, die „Urschrift der individuellen, humanen Existenzverhältnisse“ (GS 2, 38), die Adorno an Kierkegaard zu entziffern versucht und die seine Auseinandersetzung mit ihm motiviert. In einer immanenten Kritik methodisch positiv formulierter Menschenbilder versuchen beide, das Sosein des Menschen auf ein mögliches Anderssein hin zu unterlaufen: „Würde aus seiner gegenwärtigen Beschaffenheit das Menschenwesen entziffert, so sabotierte das seine Möglichkeit“ (GS 6, 130). Der Versuch, diese transzendierende Perspektive offenzuhalten, ist das, was Adornos anthropologische Überlegungen eigentlich bestimmt und ihn, wie sich zeigen soll, am meisten an Kierkegaard beeindruckt hat – mag dessen Anthropologie auch theologisch grundiert und überformt sein. Das ist die andere Seite der vorhin behaupteten Inversion des Begründungsverhältnisses von Anthropologie und Entfremdungskritik. Sie findet – samt der Übereinstimmung mit Kierkegaard – ihre Entsprechung in Adornos Kritik des absoluten Idealismus. Mit Marc Nicolas Sommer (2016, 112) lässt sich diese als „Umkehrung des Fundierungsverhältnisses zwischen Negativität und Spekulation“ verstehen: „Das Spekulative als Versöhnung, Absolutes, Utopie wird von der bestimmten Negation nicht vorausgesetzt, sondern konstituiert sich erst in ihr; sie ist gleichsam negative Spekulation, deren Inhalt und Ausgang offen ist.“ Hegels Denken münde dagegen – so sehr er selbst ein Kritiker nicht zuletzt eines anthropologischen Positivismus war – in einer„von Anfang an gesetzten Geschlossenheit“ (Sommer 2016, 112).
2 Entäußerung und Verselbständigung Die meisten Theorien der Entfremdung setzten bei einer Bewegung der Entäußerung an. Auch hier hat die von Hegel geprägte Mehrfachbedeutung des Begriffs als Neuschöp-
Plessner (1975, 129) in seinem Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch von 1928 in Abgrenzung zum Anorganischen über die Positionalität bestimmt. So ist für Adorno an eine Herleitung aus vorangehenden Stufen im Sinne einer positiven Aufgipfelung nicht zu denken. Das verbindet ihn mit Gehlen (2014, 20 – 31), der Schelers Stufenschema aus ähnlichen Gründen abgelehnt hat. Dass Scheler (2010, 27) in Die Stellung des Menschen im Kosmos das Prinzip des Geistes als ein schlechthin dem Leben entgegengesetztes begreift, ändert daran letztlich auch nichts.
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fung, Selbstenteignung und -öffnung nach Außen – die zugleich eine Vergegenständlichung bedeutet – ihren Ursprung im theologischen Denken, insbesondere im Begriff der Kenosis, der im Neuen Testament für die Selbstentäußerung Gottes in der Menschwerdung steht.¹⁷ Er verweist aber ebenso auf die früher geläufige Verwendung des Entfremdungsbegriffs im ökonomischen oder juristischen Kontext – so wie wir auch heute noch davon sprechen, etwas zu ver- oder entäußern. Marx knüpft an Hegels Modell an, überträgt es jedoch auf die tatsächliche gesellschaftliche Arbeit. Der Vorgang der Entäußerung kann als anthropologische Grundlage einer Theorie der Entfremdung angesehen werden, insofern es sich um einen von der jeweiligen Kultur oder Epoche unabhängigen Grundzug menschlichen Daseins handelt. Die eigentliche Entfremdung – dem Wortsinn nach – ereignet sich jedoch in der anschließenden Entfernung und Verselbständigung des Entäußerten. Als Gegenbewegung korrespondiert ihr konsequenterweise eine Wiederaneignung. Und erst deren Misslingen ist das Problem, ist Entfremdetsein als nichtseinsollender Zustand. Jaeggi (2005, 19) fasst daher zusammen: „Entfremdung ist die Verkennung und Stilllegung dieser Aneignungsbewegung.“ Dieses für Adorno fundamentale Prinzip der„institutionellen Verselbständigung des vom Menschen Gemachten“ (NL 4/15, 140), das auch die Theorie der Verdinglichung in ihrem Ursprung in Marx’ Analyse des Fetischcharakters der Ware begründet, kann ungeachtet aller Differenzen als allgemeines Bewegungsprinzip von Entfremdung gelten.¹⁸ So macht es sich selbst Adornos konservativer Gegenspieler Gehlen positiv gewendet für seine eigene anthropologische Entfremdungstheorie und Institutionenlehre zu eigen: „Es war eine wesentliche und insbesondere von Marx verbreitete Einsicht diese, daß die eigenen Werke und Produkte der menschlichen Tätigkeit und Zusammenarbeit sich sozusagen verselbständigen, daß sie die Übermacht gewinnen und nun eher von sich aus das Verhalten der Menschen beherrschen, als daß sie von ihnen beherrscht werden“ (Gehlen 1963, 232). Der moderne, aus der Philosophie der Aufklärung hervorgegangene Begriff der Entfremdung hält dabei zweierlei in aller Deutlichkeit fest: Erstens setzt er wie gesagt einen Universalismus voraus. Zweitens ist Entfremdung zumindest in (gattungs‐)geschichtlicher Perspektive selbstverschuldet. Marx spricht vom „Aufeinanderwirken der bewußten Individuen“, das jene scheinbar „über ihnen stehende, fremde, gesellschaftliche“ und „verselbständigte Macht“ produziere (MEW 42, 127). Für die Einzelsubjekte heißt das, dass Entfremdung die „von ihnen mitverschuldete Form ihrer Beziehungen“ (GS 6, 363) ist. Ihre Wiederaneignung erfordert daher zunächst die Einsicht, dass die bestehenden Verhältnisse ein Produkt menschlicher Tätigkeit sind und insofern grundsätzlich wandel- und veränderbar. Entfremdetsein bedeutet gerade die Verblendung dagegen. Das heißt aber nicht, dass ihre Überwindung auch beim Individuum stünde. Sie ist ihrer Möglichkeit nach Resultat eines historischen Prozesses, d. h. von
Vgl. Phil 2, 7. Vgl. auch GS 8, 369. Siehe dazu Grenz 1974, 20 – 31.
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veränderten Verhältnissen, in denen jenes sich wiederfinden kann, die aber grundsätzlich im Zusammenwirken mit anderen gestaltet werden können. Im gegenwärtigen Diskurs jedoch zeigt sich einerseits die Tendenz, zumindest das Moment der Wiederaneignung auf eine des individuellen Subjekts zu reduzieren. Das führt entweder zu dessen Überforderung, oder, sofern nur die richtige Einstellung den Verhältnissen gegenüber gefordert ist, zu einer unkritischen Affirmation des Bestehenden.¹⁹ Andererseits birgt der Ausgang vom Prozess der Entäußerung die Gefahr einer Externalisierung des Problems der Entfremdung, die die historisch sich wandelnde Konstitution des Subjekts selbst unhinterfragt lässt. So setzt zwar Henning (2015, 13 – 17) einen Dualismus von Innen und Außen voraus, dieser entzieht aber sozusagen die Binnenperspektive des Subjekts der Kritik, insofern er auf eine „Anthropologie des Ausdrucks“ baut, die als überzeitliche, unbedingte Grundlage seiner Entfremdungsdiagnose fungiert. Damit bleibt er hinter der Komplexität des Problems im Begriff der Innerlichkeit bei Kierkegaard zurück. Die eigentliche Schwierigkeit beginnt ja, wo diese selbst affiziert wird und die Kategorie des Einzelnen zu verschwinden droht. Beide Tendenzen verfehlen zugleich, was eine Theorie der Entfremdung klassischerweise zu erklären beansprucht: wie und weshalb Individuen in Verhältnisse eingebunden sind, die als ein Zwangszusammenhang wirken, obwohl sie nicht schlechterdings unabänderlich im Sinne eines So-und-nicht-anders-sein-Könnens sind. Hier trifft sich die Entfremdungs- mit der Ideologiekritik.
3 Vorbemerkungen zum Subjekt des Entfremdungsgeschehens Die Frage nach dem Subjekt ist daher für den systematischen Schwerpunkt meiner Untersuchung zentral. Und sie ist es ebenso für den ideengeschichtlichen Zusammenhang. Das ist allerdings nicht in der Weise zu verstehen, dass es mir um eine Theorie der Subjektivität ginge. Adorno gebraucht die überkommenen Begriffe Subjekt und Objekt vielmehr in kritischer Absicht. Das deutet er auch dort an, wo er meint, dass die kritische Interpretation Kierkegaards von der Entfremdung von Subjekt und Objekt auszugehen habe: so heiße es „in der philosophischen Sprache seiner Zeit“ (GS 2, 42). Stattdessen bringt er die Begriffe in eine Konstellation, in der sie sich wechselseitig durcheinander korrigieren. So versucht er das dualistische Modell, das solchem Denken zugrunde liegt, aufzubrechen. Dieses Anliegen verbindet ihn mit Heidegger, von dem ihn doch sein dialektischer Negativismus trennt, der an der tradierten Terminologie festhält: „beide Begriffe sind […] kein Positives, keine primären Sachverhalte, sondern negativ durchaus, Ausdruck einzig der Nichtidentität. […] Würde der Dualismus von Subjekt und Objekt als Prinzip zugrunde gelegt, so wäre er, gleich dem Identitätsprinzip, dem er sich weigert,
Interessant ist in diesem Zusammenhang Christoph Hennings (2015, 193) Kritik an Jaeggi – ob sie berechtigt ist, sei hier dahingestellt. Er spricht von einer„subjektivierten Rückkehr zu Hegel“: „Es geht um das richtige Denken, nicht länger um Kritik an Gesellschaft“.
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abermals total, monistisch; absolute Zweiheit wäre Einheit“ (GS 6, 176). Darüber hinaus wird ihr Verhältnis von ihm grundsätzlich entfremdungstheoretisch gedacht: An der Zweiheit von Subjekt und Objekt ist kritisch festzuhalten, wider den Totalitätsanspruch, der dem Gedanken inhäriert. Zwar ist die Trennung, die das Objekt zum Fremden, zu Beherrschenden macht und es aneignet, subjektiv, Resultat ordnender Zurüstung. Nur bringt die Kritik des subjektiven Ursprungs der Trennung das Getrennte nicht wieder zusammen, nachdem es einmal real sich entzweite. Das Bewußtsein rühmt sich der Vereinigung dessen, was es erst mit Willkür in Elemente aufspaltete; daher der ideologische Oberton aller Rede von Synthese. (GS 6, 177)
Adorno will damit also einerseits die vorgängige Spaltung der Momente treffen, andererseits deren bewusstseinsphilosophische Vereinigung. Dass Letztere misslingt, obwohl doch der Urheber prinzipiell derselbe scheint, begründet er damit, dass hier das Prinzip der Verselbständigung – nach der noch zu erörternden Logik der Verdinglichung – dazwischentritt. Dass er diesen Vorgang aber als reale Entzweiung auffasst, bedeutet, dass diesem ein nicht bloß ideengeschichtliches, sondern ein sozioökonomisches Entfremdungsgeschehen zugrunde liegt – der Fortgang der Argumentation belegt das. Ich meine, dass ihn gerade diese entfremdungstheoretische Reformulierung des Subjektbegriffs und freilich auch der hier nur angedeutete Negativismus²⁰ mit Kierkegaard verbindet, wenngleich der historisch-materialistische Rahmen das zunächst verdeckt. Offensichtlich ist, dass sich beide in der Kritik am idealistischen Subjekt-Objekt, am Versuch, die großen (philosophie‐)geschichtlichen Entzweiungen aufzuheben bzw. zu versöhnen, treffen. Wenn Kierkegaard in der Nachschrift auf der Trennung der Momente beharrt, so formuliert er das als Kritik an Hegel bzw. dem Hegelianismus und begründet es formal ganz ähnlich durch den Rekurs auf ein reales Entfremdungsgeschehen. Darum wird es im folgenden Kapitel gehen. Auch er hält wie Adorno an jener Zweiheit in kritischer Absicht fest. Dass Kierkegaard dort vom „Spatiieren“ der Momente spricht, scheint mir vielsagend und treffend. Denn es geht tatsächlich vielmehr darum, Leer- oder Zwischenräume offenzuhalten, als darum, jene erkenntnistheoretische Grundstruktur zu restituieren. Sie sind nicht zuletzt Rückzugsräume vor dem zurichtenden „Identitätsprinzip“. Ohnehin kann in Bezug auf Kierkegaard kaum von einer Subjektivitätstheorie im strengen Sinne die Rede sein, wenngleich sich sicherlich Motive einer solchen finden, darin sind sich die meisten Autorinnen und Autoren einig (vgl. Rasmussen 1998). Das gilt auch für die Konzeption des Selbst in Die Krankheit zum Tode. Sie lässt sich eher als anthropologische Grundstruktur verstehen, die Existenz, d. h. den Selbstvollzug, zugleich ermöglicht und bedingt – was sie in die Nähe der heideggerschen Ebene der Existenzialität rückt. Ist der Selbstvollzug ein Misslingender, so lässt sich schließlich sagen, dass es sich hierbei nicht um „Thesen über die Subjektivität, sondern […] Hypothesen über, oder Möglichkeitsbedingungen für Verzweiflung handelt“, wie Anders
Siehe hierzu insbesondere den Abschnitt 3.4 des folgenden und den Abschnitt 5 des vierten Kapitels.
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Moe Rasmussen (1998, 356) resümiert.²¹ Daher stellt auch er zum Ende seiner Überlegungen die entscheidende Frage: „Bedeutet Negativität den status corruptionis oder ist Negativität eher als Entzweiung im Sinne der idealistischen Subjektphilosophie zu verstehen? Ist Positivität als Heilung oder eher als Vereinigung zu deuten?“ (Rasmussen 1998, 357). Beides ist in Kierkegaards Denken nicht ohne Vereinseitigungen zu trennen, zumal die Bedeutungsebenen – bei aller Abgrenzung von Hegel gerade im Begriff der Verzweiflung als existenzieller – nicht im Gegensatz zueinander stehen müssen. So scheint es mir letztlich wenig aussichtsreich, einer Untersuchung zu Adorno und Kierkegaard einen explizit subjektivitätstheoretischen Ansatz zugrunde zu legen, wie es nach eigenem Bekunden Angermann versucht. Dem entgegen stehen die Äquivokationen des Begriffs der Subjektivität bei Kierkegaard. Grundsätzlich versteht Angermann das Selbst bzw. Selbstverhältnis als Subjektivität – gleichwohl ohne sich dabei auf die Anfangspassage der Krankheit zum Tode zu beziehen. In seinem knappen Exkurs zur Selbstkonzeption der Angstabhandlung spricht er, in Übereinstimmung mit meiner Deutung, von „Feststellungen anthropologischen Charakters“ (Angermann 2013, 102). Die Existenzstadien wiederum sieht er als Subjektivitätsformen an, und schließlich wird ihm beides noch kommensurabel mit dem Begriff des subjektiven Denkers und der Bestimmung der Subjektivität als (Un‐)Wahrheit aus der Nachschrift. Indem er Subjektivität durchweg als negative bestimmt, kann er zudem nur einen Aspekt dessen fassen, was eine Theorie der Subjektivität gemeinhin auszumessen beansprucht, wenn sie das Ganze der Erfahrung und Tätigkeit des Subjekts, dessen einheitsstiftende Funktion und letztlich das Ganzwerden als Telos in den Blick nimmt. Das ist vor allem durch den Ausgang vom Begriff der Ironie bedingt. Angermann bezieht sich insbesondere auf eine der Magisterdissertation vorangestellte These: „Die Ironie als die unendliche und absolute Negativität ist die leichteste und unscheinbarste Bezeichnung der Subjektivität“ (BI, 3 / SKS 1, 65). Daher stellt sich auch bei ihm letztlich die Frage, ob es sich überhaupt um einen subjektivitätstheoretischen Ansatz handelt, zumal er selbst bereits in der Einleitung deutlich macht, dass von der Negativität der Subjektivität in dreifacher Weise die Rede sei: „als Kritik, Transzendenz und Verfall“ (Angermann 2013, 2). Dem kann ich uneingeschränkt zustimmen. Zugespitzt heißt das, dass „subjektive Wahrheit“ gerade die Einsicht in die „Unmöglichkeit von Subjektivität selbst“ zur Voraussetzung hat (Angermann 2013, 167). Adrián Navigante (2009) kommt in seiner Rekonstruktion einer „neuen Semantik des Subjektbegriffs“ nach Adorno zu ähnlichen Erkenntnissen. Richtig ist zunächst, dass er den Subjektbegriff in die Bewegung bringt, in der er sich bei Adorno immer schon befindet. Auch weist er unmissverständlich den entfremdungs- bzw. verdinglichungstheoretischen Hintergrund seines Subjektivitätsdiskurses aus. Die Aufgabe besteht entsprechend in einer „Subjektivierung“, die wesentlich als eine „Ent-Unterwerfung“ zu verstehen ist (Navigante 2009, 20). Unterworfen ist auch die Objektseite: „Das Objektive hätte dabei nichts zu tun mit einem Korrelat dessen, was ein erkennendes Subjekt sich
Er beruft sich dabei auf Michael Theunissen (1991a).
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vorstellt, sondern eher mit dem, was durch die Gesellschaft als Gesamtsubjekt erzeugt wird, nämlich eine Ordnung, in der alles, was aus seiner ontologischen Nichtigkeit heraustreten will, sich an die Logik der Allgemeinheit anpassen muss“ (Navigante 2009, 19). Gerade in dieser Perspektive könnte das Verhältnis zu Kierkegaard in den Blick kommen. Wo es um das „Subjekt“ bei Adorno geht, macht sich seine Abwesenheit bemerkbar – zumal Navigante ausführlich das Verhältnis zu Kant, Hegel, Marx, Nietzsche, Freud und Heidegger erörtert. Kierkegaard wird in der üblichen Weise in einen Gegensatz zu Adorno gebracht, da sein „Sprung“ mit dem „dia-noetischen Charakter des dialektischen Verfahrens“ (Navigante 2009, 14)²² unvereinbar scheint: „bei ihm ist das Qualitative nicht (wie z. B. bei Kierkegaard, der auch über eine negative Dialektik spricht) an der Stelle zu suchen, wo der ontologische Maßstab auf die Entwicklung des Begrifflichen als Weg zur realisierten Subjektivität verzichtet und sich für den Sprung aus der verzweifelten Selbstgewissheit in die Durchsichtigkeit des Glaubens entscheidet“ (Navigante 2009, 25). Der Subjektbegriff zeichnet sich also durch eine irreduzible Mehrdeutigkeit aus, was in dieser Untersuchung in verschiedener Hinsicht erörtert werden soll: Erstens entscheidet sich anhand der Differenzen die Stellung Kierkegaards zum Deutschen Idealismus. Das Subjekt ist hier einmal als Substanz zu verstehen, als hypokeimenon, dann als Selbstverhältnis und schließlich als Tätigkeit. Zweitens ist dabei Hegels Kritik des Subjekts als Substanz insofern von Bedeutung, als er ihr in seiner Realphilosophie nicht gerecht wird. Aber auch Marx fällt, indem er sich von ihr absetzt, doch wieder in eine substanzhafte Auffassung zurück – das unterscheidet ihn von Adorno. Drittens geht es um „die Kantische und Fichtesche Dichotomie von – transzendentalem – Subjekt und – empirischem – Individuum“ (GS 6, 343). Adorno sieht dabei ebenso die philosophiehistorische Relevanz und das erkenntnis- und gesellschaftskritische Potential, wie auch das Problematische darin, dass bei Kierkegaard „Subjektivität der einzelnen Person, dem Individuum gleichgesetzt“ wird (GS 2, 250).²³ Viertens stellt sich die Frage nach dem „Verhältnis zur Ontologie“, die ebenso zentral wie verwickelt ist, da die Kritik hier natürlich vorrangig Heidegger gilt, aber wie gesagt auf Kierkegaard zurückprojiziert wird. Zudem muss hierbei eine Verschiebung der Perspektive berücksichtigt werden (vgl. Thomä 2006, 31, 44– 45). Sie ist sicherlich durch die „Kehre“ in Heideggers Seinsauffassung beeinflusst, wirkt aber auch auf Adornos Verständnis von Sein und Zeit zurück.Während er in der Negativen Dialektik die „Unterwerfung des Subjekts unters Sein“ (GS 6, 76) in den Mittelpunkt rückt, kritisiert er in seiner Antrittsvorlesung von 1931 noch eine Reduktion von Ontologie „auf den Bereich der Subjektivität“ (GS 1, 329) bei Hei-
Gerade dieser Charakter seiner Dialektik wurde aber wiederholt infrage gestellt. Navigante setzt sich hierbei ab von: Herbert Schnädelbach (1983). Rasmussen (1998) diskutiert Kierkegaards Denken, zumindest zur einen Seite hin, vor dem Hintergrund einer ähnlichen Entwicklung wie Adorno, wobei er sich auf Heidegger und Habermas bezieht: unter dem Gesichtspunkt der Verendlichung und Detranszendentalisierung der Subjektivität als einer der beiden Haupttendenzen der Gegenwartsphilosophie. Die andere ist die der Verwissenschaftlichung von Subjektivität, die im hier diskutierten Zusammenhang aber nicht von Bedeutung ist.
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degger, die er zudem auf den Vater der Existenzphilosophie zurückführt. Das stützt zunächst die von Sherman (2007) vertretene These einer Hinwendung zur„Subjektivität“ im späteren Werk. Dabei ist aber Adornos Kritik an Kierkegaard insofern stets doppeldeutig, als er das Verhältnis von Subjektivität und Ontologie in dessen Kategorie des Einzelnen nach der noch zu erläuternden Entfremdungsfigur eines Umschlags ins Gegenteil deutet.
4 Bindung und Entbindung Wenngleich das Modell der Entäußerung nicht inkompatibel ist mit dem Verständnis von Entfremdung, wie es hier zugrunde gelegt wird, so ist es doch unzureichend, um dem Denken Kierkegaards und Adornos im Ganzen gerecht zu werden. Ich möchte es daher um ein zweites, nicht konkurrierendes, sondern komplementäres Modell ergänzen, das in verschiedener Hinsicht umfassender bzw. grundlegender ist: 1. Sowohl Adorno als auch Kierkegaard setzen zunächst früher an und verstehen, darin Gehlen nicht unähnlich, Entfremdung als wesentlichen Faktor der Anthropogenese selbst. Es geht also um die primäre Entbindung²⁴ des Menschen aus der Natur. Ihr Resultat kann als grundlegendes Außersichsein²⁵ verstanden werden, das den Menschen als Menschen vor allem auszeichnet. Plessner hat hierfür die Formel der „exzentrischen Positionalität“ geprägt und spricht in einer Weise, die an Kierkegaard erinnert, von einer „Zerfallenheit mit sich“ (Plessner 1975, 299).²⁶ Diese Exzentrizität ist ihm zugleich „Existenzfundament der Kultur“ (Plessner 1975, 316) und damit der Sphäre, in der sich das Entfremdungsgeschehen dann abspielt. Kultur im weitesten Sinne, also im Gegensatz zur ersten Natur, verstehe ich als ein Eingebundensein zweiter Ordnung. Sie zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie erst im Nachgang als solche, das heißt als selbstgeschaffene, erkannt wird. Primär ist das „Entlastungsprinzip“ (Gehlen 2014, 62), dass also in zunächst prärationalen Formen jene ängstigende Naturentbundenheit kompensiert wird. Darin gleichen sich Gehlen und Adorno durchaus, auch wenn die Gemeinsamkeiten bei den gesellschaftstheoretischen Konsequenzen der Institutionenlehre schnell aufhören.²⁷ Jedenfalls ermöglicht dieses Außersichsein erst die Entäuße-
Die Assoziation zur Geburt ist beabsichtigt und findet sich auch bei Adorno (vgl. GS 4, 126). Wird Entfremdung als Außersichsein des Menschen aufgefasst, so ist damit meist ein Ausnahmezustand gemeint – vgl. Henning 2015, 35. Hier geht es dagegen um eine unhintergehbare Abständigkeit des Menschen zu sich, im Sinne einer anthropologischen Grundbestimmung. Auf die Nähe zu Kierkegaard weist Christian Thies (2004, 43) hin. Die Übereinstimmungen betont Daniel Kipfer (1998, 100 – 105). Die Differenzen zeigen sich exemplarisch im „Streitgespräch“ zwischen Adorno und Gehlen: Grenz 1974, 225 – 251. Adorno beharrt auf den unüberbrückbaren Verschiedenheiten der Institutionen im Laufe der Geschichte, entgegen einer prinzipiellen Invarianz bei Gehlen, und erschließt das Phänomen der Entlastung von der Gegenwart aus (244). Eine Belastung durch die Institutionen treibe die Menschen erst in die Entlastung. Das sei, tiefenpsychologisch betrachtet, eine „Identifikation mit dem Angreifer“, zudem ein „Urphänomen der Anthropologie“ und eine Art „metaphysische Verzweiflung“ (250 – 251).
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rung, ist also grundlegender. Das gilt selbst für Marx’ Modell der Entäußerung in der Arbeit. Er versteht sie in dieser Hinsicht als Folge einer Entbindung aus einer ursprünglichen Einheit des Menschen mit der Natur, genauer einer „Einheit“ von subjektiver Tätigkeit und objektiven Reproduktionsbedingungen im „Stoffwechsel mit der Natur“ (MEW 42, 397). Das bedeutet allerdings auch, dass das resultierende Verhältnis noch nicht das Missverhältnis selbst ist – entfremdete Arbeit, Verzweiflung etc. –, sondern ihr Ermöglichungsgrund. 2. Auch in der Geschichte lässt sich eine ähnlich umstürzende Veränderung feststellen, die wie die Entbindung aus der Natur einen qualitativen Sprung bedeutet und einen Schritt, der irreversibel ist: die Herauslösung aus der vormodernen Ordnung. Charles Taylor spricht in dieser Weise von der „großen Entbettung“.²⁸ Die in der Dialektik der Aufklärung in den Blick genommenen regressiven Tendenzen widersprechen dieser These nicht, sondern bestätigen sie vielmehr. Als Kompensationsversuche einer solchen radikalen Entbindung bleiben sie auf diese angewiesen. So wird zugleich eine Charakterisierung historischer Umbrüche in Kategorien möglich, die ebenso die mit ihnen einhergehende Krise des Subjekts beschreiben. Diese Analogie findet sich auch bei Marx – in der Entfesselung der Produktivkräfte aus ihrem vormaligen ständischen und zünftigen Gebundensein einerseits und der Freisetzung des „egoistischen Individuums“ (MEW 1, 370) andererseits. Im Hinblick auf die Krise des Subjekts kommt Kierkegaard, auch gegenüber Marx, für Adorno eine exponierte Stellung in der Geistesgeschichte zu. 3. Ohnehin ereignet sich eine Herauslösung aus einem ursprünglichen oder geschichtlich vorgängigen Eingebundensein nicht nur in phylogenetischer bzw. gattungsgeschichtlicher Hinsicht, sondern auch – und zwar in analoger Weise – aus ontogenetischer bzw. individualgeschichtlicher oder entwicklungspsychologischer Perspektive. Das hier diskutierte Modell von Entfremdung ermöglicht es also, beide Perspektiven zusammenzudenken und folglich die Dynamik der Verselbständigung nicht nur an einem objektiven Entfremdungsgeschehen zu verfolgen. Paradigmatisch ist dabei Kierkegaards philosophische Deutung der Erbsünde in der Angstabhandlung. Der Übergang im individuellen Leben ereignet sich in ähnlicher Weise als ein qualitativer Sprung, der es dem Menschen ermöglicht, sich überhaupt zu sich und seiner Geschichte zu verhalten. Nun bedeutet aber diese Entbindung, Kierkegaard spricht auch von „Transzen Vgl. insbesondere Taylor 2009, 251– 274. Er ist hier zu nennen, weil er diese These am prominentesten vertritt. Auf eine Diskussion seiner komplexen und äußerst weitschweifigen Argumentation – sein Buch Ein säkulares Zeitalter umfasst knapp 1300 Seiten – muss aber verzichtet werden, zumal ich mir einige seiner religions- und kulturphilosophischen Implikationen nicht zu eigen machen will. Davon abgesehen drängt sich die Frage auf, ob der Ausdruck der Ein- bzw. Entbettung oder der der Ein- bzw. Entbindung als Oberbegriff für das entfremdungstheoretische Modell besser geeignet ist. Ersterer hat dabei m. E. den Nachteil, dass er eindeutig positiv konnotiert ist, im Sinne von Geborgen- oder zumindest Verortetsein. Ich sehe hier durchaus einen Zusammenhang mit dem dezidiert katholischen Standpunkt Taylors. Seine Diagnose der Säkularisierung formuliert er aus konfessioneller Perspektive und die der sozialen Entbettung aus der Sicht des Kommunitaristen. Gebundenheit kann dagegen auch in Richtung eines Gefangenseins verstanden werden. Mir geht es um beide Aspekte.
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denz“ (BA, 60 / SKS 4, 355), zur anderen Seite hin einen Eintritt in den „historischen Nexus“ (BA, 86 / SKS 4, 376), also eine Einbindung zweiter Ordnung im zuvor umrissenen Sinne. Wenn Kierkegaard aber diesen Übergang als einen zugleich schuldhaften und unvermeidlichen bezeichnet, so heißt das, dass bereits am unverfügbaren Anfang der (individuellen) Geschichte das Entfremdende unmittelbar als Gegenbewegung zum Befreienden hinzutritt (vgl. BA, 72 / SKS 4, 365 – 366) und beide folglich als gleichursprünglich verstanden werden müssen. Damit ist jene paradoxe Figur seines Entfremdungsdenkens bezeichnet, dass zwar durchaus von einem Nichtseinsollenden die Rede ist, aber nicht von einem, dem man sich versagen könnte. Dass auch Adorno dieser Logik folgt, wird sich in der Diskussion seines Verdinglichungsbegriffs zeigen. 4. Während Entfremdung nach dem Modell der Entäußerung meist als Prozess der Entfernung von etwas oder sich selbst verstanden wird, so soll sie hier als eine beide Momente – Nähe und Ferne, Einbindung und Entbindung – umfassende Dialektik dargestellt werden. Sie ermöglicht es, die für das Denken der Entfremdung bei Adorno und Kierkegaard charakteristischen Umschlagsfiguren zu fassen und Entfremdung nicht einfach als Distanz und Trennung von sich, den Mitmenschen und der Welt zu verstehen. Letzteres scheint ohnehin oft ein problematisches Verständnis eines vorgängigen Verhältnisses eines Subjekts zu seiner (Objekt‐)Welt zu implizieren, an dem sich wie gesagt nicht nur Heidegger stößt. 5. Darüber hinaus lässt sich das für das Entfremdungsdenken zentrale Verhältnis von Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit bzw. Reflexion sowie der gerade den nichtakademischen Diskurs prägende Gedanke einer Überwindung von Entfremdung als Wiedererlangung von Unmittelbarkeit, auch im Sinne eines bergenden Eingebettetseins, wohl kaum nach dem Modell der Selbstentäußerung fassen. Schließlich entäußert man sich nicht der Unmittelbarkeit – das ist allenfalls Sache des absoluten Geistes –, man löst sich von bzw. aus ihr. Ebenso wenig wird sie im Sinne eines Vorhandenen wieder angeeignet, sondern erfordert ein Einlassen im Wortsinn. Das gilt ungeachtet der Richtung – die bei Adorno und Kierkegaard als Selbsttranszendierung dem Versuch einer Rückeinbindung in einen wie auch immer gedachten vorgängigen, nichtentfremdeten Zustand gerade gegenläufig ist. 6. Damit zusammen hängt ein Problem, dass sich nach der Logik der Entäußerung ebenso wenig fassen lässt. Nach ihrer phänomenalen Seite macht sich Entfremdung vor allem als Nichtinvolviertsein, Desinteresse oder Teilnahmslosigkeit geltend, also als Ausdruck von Entbundenheit. So beschreibt auch Lukács die Art und Weise, wie sich Verdinglichung im Alltag zeigt, während er ihre Genese nach dem Prinzip der Verselbständigung des Entäußerten versteht. Bei Kierkegaard sind solche Bestimmungen ebenso in der Kritik am Hegelianismus wie an der Gesellschaft seiner Zeit zentral. Das ist der Mehrdeutigkeit des Begriffs „Inter-esse“ geschuldet, der erstens sowohl die konzeptuelle wie die pathische Seite einschließt und zweitens Bindung und Entbindung in eins denkt – als Entzweit- und als Dazwischensein.
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4.1 Positive und negative Freiheit Entbindung gibt sich bereits begrifflich als Negation von Gebundenheit zu erkennen. Und gerade darin liegt das Doppelsinnige: sie bedeutet einerseits eine Befreiung, andererseits einen Verlust von Bindung – auch im Sinne von Geborgenheit. Das ist nicht nur eine Frage des Gefühls, sondern ebenso eine ökonomische. Der doppelt freie Lohnarbeiter bei Marx ist ja in geradezu zynischer Weise frei – von allem, insbesondere von Privateigentum. Die historische Betrachtung möchte ich aber zunächst hintanstellen. In individualgeschichtlicher bzw. entwicklungspsychologischer Perspektive ereignet sich diese Freisetzung je in Angst, wie Kierkegaard vorführt. Freiheit kommt dabei zunächst nur als „Möglichkeit für die Möglichkeit“ (BA, 50 / SKS 4, 348) ins Spiel. Das bedeutet, dass sie selbst keine zu verwirklichende Möglichkeit, keine Freiheit zu etwas ist, sondern vielmehr deren Ermöglichungsgrund. Sie ist daher als negative Freiheit bestimmt – durchaus in dem Sinne, wie sie, etwa bei Rousseau und in der Philosophischen Anthropologie als Freiheit von Natur- und insbesondere Instinktgebundenheit verstanden wird. Sie entspricht also besagter grundlegender Unbestimmtheit und Abständigkeit des Menschen, seinem Nichtfestgestelltsein, und ist in dieser Weise ebenso Mangel wie Vorzug. Da sie aber in Angst erfahren wird, fängt sich diese Freiheit selbst, indem sie Halt sucht in Bestimmtheit und Endlichkeit (BA, 72 / SKS 4, 365). Sie ist daher in einem motivationalen Sinne durchaus wirklich, und zwar zunächst in ihrer Verkehrung in Unfreiheit. Es tritt somit, analog zur Gattungsgeschichte, bereits am Ursprung jener Entbindung ihr Gegenmoment hinzu. Nach Hühn (2009, 184) ist diese sich verfehlende Freiheit „unhintergehbare[s] Faktum unserer menschlichen Existenz“. Auffällig ist, dass Freiheit bei Kierkegaard als Subjekt fungiert. Das zeigt zweierlei an. Zum einen, dass sie als subjektives Nichtfestgestelltsein grundlegender ist als ihre objektivierende Negation, da diese jene voraussetzt. Auch als in sich befangene bleibt sie daher Freiheit. Zum anderen verweist das auf ihr positives Gegenstück: Diese Freiheit wird von Kierkegaard mit dem Selbst schlechthin gleichgesetzt, bedeutet also, wie in anderer Weise bei Hegel, Selbstübereinstimmung (vgl. Hass 1980) – aber eine solche, die mit jener fundamentalen Unbestimmtheit rechnet. Verwirklicht wird sie als beständige Negation von Unfreiheit. Das ist ein Negativismus, der Kierkegaard allen Differenzen zum Trotz mit Adorno verbindet: „Freiheit ist einzig in bestimmter Negation zu fassen, gemäß der konkreten Gestalt von Unfreiheit. Positiv wird sie zum als ob“ (GS 6, 230). Die Frage wird sein, ob sich darüber hinaus auch eine positive Freiheit zu etwas im Sinne beider formulieren lässt. Bei Kierkegaard scheint die Antwort in gewisser Weise einfach: Geborgen ist der Mensch in Gott. Entsprechend wird Religion bzw. Religiosität in der Theologie gerne auf das lateinische religare zurückgeführt und folglich als Rückbindung an Gott verstanden – eine etymologische Ableitung, die allerdings umstritten ist. Auch Schelling macht sie sich in den für Kierkegaard so wichtigen Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit derart zu eigen. Heidegger (1971, 106) unterscheidet in seinen Vorlesungen zu dessen Freiheitsschrift entsprechend „Ungebundenheit, Freiheit von (negative Freiheit)“ und „Sichbinden an, libertas determinationis, Freiheit zu (positive Freiheit)“.
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Dieses Modell ist jedoch ebenso im gesellschaftstheoretischen Kontext geläufig. Das gilt bereits für den Anfang des modernen Entfremdungsdiskurses bei Rousseau. Während er negative Freiheit als Entbundensein von der Natur versteht, bedeutet die erwähnte völlige Entäußerung an das Gemeinwesen, die Aufhebung von Entfremdung, eine Einbindung, die einem Selbstverlust gleicht: „Der Verlust, den der Mensch durch den Gesellschaftsvertrag erleidet, besteht in der Aufgabe seiner natürlichen Freiheit und des unbeschränkten Rechtes auf alles, was ihn reizt und er erreichen kann“ (Rousseau 2003, 22).²⁹ Ein solches Verständnis nähert sich dualistischen Modellen von Entfremdung an, die deren Überwindung einzig als totalisierende Negation fassen können. So ist in der theologischen, genauer gnostischen Variante, die Bindung zu Gott nur noch als Herauslösung aus allen weltlichen Bindungen zu denken. Dagegen gilt es – mit Adorno und Kierkegaard – beide Momente in einem (negativ‐)dialektischen Wechselverhältnis zueinander zu verstehen.
4.2 Selbsttäuschung Auch das für Adorno und Kierkegaard gleichermaßen zentrale Problem der Verblendung gegen Entfremdung kann aus subjektiver Perspektive, als Selbsttäuschung, aus dem Verhältnis der Momente Bindung und Entbindung zueinander erklärt und dabei zugleich in den anthropologisch-gattungsgeschichtlichen und historischen Rahmen des Entfremdungsgeschehens integriert werden. Dagegen birgt das Modell der Entäußerung und Verselbständigung die Gefahr, diese Binnenperspektive selbst zu externalisieren. Freiheit als negative, als grundlegende Unbestimmtheit der Lebensrealität, ist im beschriebenen Sinn prinzipiell nicht zu fassen und wird daher in einseitig identifizierenden Selbstbestimmungsversuchen ausgeschlossen.³⁰ Darin besteht die Verblendung. Das Anliegen, misslingende Selbstdeutung als Ausschluss von Unbestimmtheit auszuweisen, lässt sich, wie Wesche gezeigt hat, geradezu als philosophischer Schlüssel zu Kierkegaards Denken verstehen. Der Anspruch gesicherter Lebensdeutung kann dabei als partikularer oder allgemeiner völlig unterschiedliche Formen annehmen, wie die Analyse der Verzweiflung in Bezug auf die Synthesemomente demonstriert (vgl. Wesche 2003, 39). Ähnliches gilt für die Bandbreite der von Adorno beschriebenen Phänomene, von der Orientierung an einem universalistischen Ideal wissenschaftlicher Beschreibbarkeit und technischer Beherrschbarkeit bzw. deren Übertragung auf existenzielle Fragen bis hin zu partikularistischen identitätsstiftenden Welt- und Selbstbildern, die
Vgl. hierzu: Müller 2012, 60 – 61. In ähnlicher Weise versucht Angermann (2013) zu zeigen, dass die Konstitution negativer Subjektivität, die er an Kierkegaard und Adorno abliest, ebenso Grundlage einer (ideologie‐)kritischen Einstellung wie ihrer Anfälligkeit für Ideologie ist. Nur kommt bei ihm die übergeordnete Perspektive der Ausrichtung auf Selbstübereinstimmung, die die Verfallsformen der Subjektivität erst zu erklären ermöglicht, allenfalls implizit in den Blick.
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alle aus demselben Prinzip erklärt werden können: Sie suggerieren eine prinzipiell nicht erreichbare Sicherheit und Einheit der Selbstdeutung.³¹ Das erklärt jedoch noch nicht, wie es möglich ist, sich selbst zu täuschen. Kierkegaard meint, dass darunter – er spricht explizit von selvbedraget – ja keine bewusste Täuschung verstanden werden könne, sondern dass es sich vielmehr um eine Unredlichkeit handle.³² Es stellt sich insbesondere das Problem, dass das, was abgewiesen werden soll – und das ist eben nichts Geringeres, als die Erkenntnis der eigenen Lebenswirklichkeit selbst –, zugleich als Abzuweisendes erschlossen sein muss, ohne in seiner Bestimmtheit erkannt zu sein. Ermöglicht wird Selbsttäuschung also durch eine (negative) „präreflexive Erschließungskraft“³³. Das meint Kierkegaards berühmte Formel von der „psychologische[n] Zweideutigkeit“ der Angst: Sie ist „eine sympathetische Antipathie und eine antipathetische Sympathie“ (BA, 51 / SKS 4, 348). Es wirkt hier subliminal eine Angst vor besagter Unbestimmtheit, die die jeweilige, gesicherte Selbstdeutung sowie das Selbstwertgefühl gefährdet, und die letztlich eine „Angst vor sich selbst“ (KT, 24 / SKS 11, 138) ist. Diese Erkenntnis hat Adorno, oft unter Rückgriff auf die Psychoanalyse, insbesondere die Abwehrmechanismen des Ich, ähnlich formuliert. Das Selbst macht sich dabei jene Asymmetrie zunutze, dass seine Freiheit nur im Übergang und zudem in der Angst offenbar ist. Motivational entspringt also das Feststellende dem Freisetzenden, insofern Letzteres mit Angst einhergeht und eine Flucht weg von der Erkenntnis des grundsätzlichen Nichtfestgestelltseins des Selbst, des ängstigenden Nichts, bedingt.
4.3 Existenziale Heimatlosigkeit Dass Adornos Entfremdungsdenken die in der einschlägigen Literatur gerne unterbreitete Alternative zweier mehr oder weniger disparater entfremdungstheoretischer Hauptstränge – der Hegel-Marxschen und der existenzphilosophischen, mit Kierke-
So lässt sich die „Verzweiflung des Trotzes“ (KT, 77– 85 / SKS 11, 181– 187) mit Günter Figal (1984, 17) gerade als der aussichtslose Versuch verstehen, sich selbst als Einheit zu realisieren, d. h. „sein Sein ohne alle Entzogenheit zu vollziehen“, während sich die je andere Bestimmung doch stets entzieht, worin ja die Unbestimmtheit gründet. Daher gilt es festzuhalten, dass diese Freiheit in ihrer Negativität eben doch Freiheit ist und auf ihre positive Bestimmung als Selbstübereinstimmung verweist, die für Kierkegaard eine Annahme der grundlegenden Unvollständigkeit des Selbst als werdendes zu sich bedeutet. Hierfür steht ein Glaube ein, der einheitsstiftend und zugleich sich selbst bescheidend wirkt, weil er am Maßstab absoluter Freiheit und vollendeter Präsenz ausgerichtet ist. Er betont damit die Differenz ebenso, wie er in seiner Ausrichtung auf Gott als Ziel und Grund der Bewegung diese als Doppelbewegung von „Verunendlichung“ und „Verendlichung“ (KT, 32 / SKS 11, 146; vgl. FZ, 40 / SKS 4, 135) austragen und ertragen lässt und insofern eine Einheit im Werden stiftet. Zumindest soweit ist die Bewegung des Glaubens philosophisch nachzuvollziehen, trägt doch Kierkegaard, so Figal (1984, 22), „mit seinem Freiheitsbegriff die Philosophie in den Glauben hinein“. SKS 27, 415. Dieser Abschnitt fehlt in der Auswahl und Übersetzung der„Tagebücher“ von Hayo Gerdes. Wesche 2011, 129; vgl. auch Wesche 2003, 66 – 67.
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gaard entspringenden Variante – unterläuft, ist eine der Grundannahmen meiner Arbeit. Eine Anknüpfung an beide Traditionen zeichnet auch die Versuche der Aktualisierung des Entfremdungs- bzw.Verdinglichungsbegriffs bei Jaeggi und Honneth aus, die sich hierbei insbesondere an Heidegger orientieren. Rahel Jaeggi ist sich der nicht nur rezeptionsgeschichtlichen Überschneidungen durchaus bewusst. Gleichwohl sieht sie die Hauptdifferenz darin, „dass im einen Fall Entfremdung als Entfremdung von der sozialen Welt gedacht wird, während hier das Faktum des Eingelassenseins in eine öffentliche Welt gerade die Quelle der Entfremdung – des Authentizitätsverlusts der Subjekte angesichts der als ‚Nivellierung‘ (Kierkegaard) oder ‚Herrschaft des Man‘ (Heidegger) beschriebenen öffentlichen Welt – zu sein scheint“ (Jaeggi 2003, 27). Daher begreift sie auch „Entfremdung als Uneigentlichkeit“ (Jaeggi 2003, 37), eine, wie sie zugibt, in der Heideggerforschung umstrittene Deutung, sofern darunter eine „pejorative Beschreibung der Sphäre der Sozialität“ (Jaeggi 2003, 39) verstanden wird. Schließlich ist das Man ein Existenzial und bezeichnet das Dasein in seiner Alltäglichkeit, d. h. den Modus, in dem es sich zunächst und zumeist befindet. Das ergriffene, „eigentliche Selbstsein“ ist dagegen dessen „existenzielle Modifikation“ (Heidegger 2006, 129 – 130). Ich verstehe im Folgenden jene Verfallenheit, im Sinne eines nivellierenden Eingebundenseins, durchaus als Entfremdung. Sie ist jedoch nur ein Moment des Entfremdungsgeschehens, das mit seinem Anderen zusammengedacht werden muss, der konstitutiven aber ängstigenden Freiheit des Menschen, die es ihm erst ermöglicht, sich selbst zu ergreifen, zumeist aber die Gegenbewegung bewirkt. Gerade hier zeigt Heidegger sich bekanntermaßen als Nachfolger des Dänen: „Die Abkehr des Verfallens gründet […] in der Angst“ – und zwar gerade weil sie als Grundbefindlichkeit erschließt, was er „den existenzialen ‚Modus‘ des Un-Zuhause“ nennt (Heidegger 2006, 186). Daher konstatiert er: „Die verfallende Flucht in das Zuhause der Öffentlichkeit ist Flucht vor dem Unzuhause“ (Heidegger 2006, 189). Letzteres müsse dabei existenzial-ontologisch als das ursprünglichere Phänomen begriffen werden. Erst so wird die von Jaeggi nicht berücksichtigte Tiefendimension des existenzphilosophischen Entfremdungsdenkens offenbar, das bei aller Vielgestaltigkeit der unter diesem Etikett subsumierten Positionen doch in einem radikalen Entbundensein des modernen Menschen gründet. Aufschlussreich ist hierzu auch der umfangreiche Artikel zum Begriff Entfremdung aus dem Lexikon Existenzialismus und Existenzphilosophie, der vor allem auf „Heimatlosigkeit“ in jenem existenzialen Sinne abhebt und darunter Positionen von Kierkegaard bis Sartre vereint (Großheim 2007). Nicht nur, weil der Begriff ursprünglich ein Wort der Kritik an der Existenzphilosophie war, kommt ihm eine explizit historische Bedeutungsdimension zu. Er bezeichnet eine Krise im Zeitbewusstsein, wie sie etwa in Heideggers Auseinandersetzung mit dem Nihilismus im Verständnis Nietzsches zu Tage tritt, die zugleich auf jene existenziale Tiefenstruktur des „Un-Zuhause“ verwiesen ist, die ich im Rahmen dieser Arbeit als anthropologische Tiefendimension fasse.
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4.4 Zur Obdachlosigkeit in der Moderne Entfremdung als historisches Geschehen gilt einem real- wie geistesgeschichtlichen Bruch, der ganz allgemein als Herauslösung aus einer hierarchischen, Diesseits und Jenseits umfassenden Ordnung, verstanden werden kann, für die der scholastische Begriff ordo steht. Dieser Umbruch, die soziale Individualisierung und die Herausbildung des freien, sich selbst bestimmenden Subjekts, sowie seine Folgen, sind wohl am prominentesten von Charles Taylor erörtert worden.³⁴ Er betont dabei stets die Differenzen, die sich zum vormodernen, durchlässigen Selbst ergeben, während sich unser gegenwärtiges Selbst vor allem durch eine Autonomisierung und eine – entfremdungstheoretisch zentrale – Distanznahme zu bzw. Abschottung von seiner Welt auszeichnet. Das bedeutet zugleich eine wirklichkeitsentleerende Tendenz, in der es auf einen bloßen Bezugspunkt zusammenschrumpft. Aus dieser Perspektive erweist sich die zentrale Kategorie der Kierkegaarddeutung Adornos, „objeklose Innerlichkeit“, geradezu als Signum der Moderne. Ähnlich verhält es sich schon mit der Diskussion ums fichtesche Ich, die er in seinem Erstlingswerk auf komplexe Weise mit der um Kierkegaards „abstraktes Selbst“ verknüpft. Es kann hier nicht darum gehen, den umstrittenen Begriff der Moderne überhaupt zu diskutieren. Er bezieht im englischen Sprachraum mit ein, was im deutschen gewöhnlich als frühe Neuzeit bezeichnet und damit von jener abgegrenzt wird. Taylor setzt bereits am Vorabend der Reformation an. Mir geht es um die Umbruchphase Ende des 18. Jahrhunderts und ihre Nachwirkung Mitte des darauffolgenden: die französische Revolution und die von 1848, Idealismus und Nachidealismus. Vorbereitet wird sie geistesgeschichtlich von der Aufklärung. Nach ihrer wohl bekanntesten, von Kant geprägten Formel ist sie explizit als Ausgang aus einem Zustand der Entfremdung zu verstehen – denn was ist selbstverschuldete Unmündigkeit anderes? Die Entbindung in historischer Hinsicht ist dabei nicht nur in der beschriebenen Weise ambivalent – als Zugewinn von Freiheit und als Verlust von Sicherheit –, sondern vollzieht sich grundsätzlich auf zwei Ebenen. Im Verhältnis zur sozialen Ordnung zeigt sie sich als Individualisierung, Emanzipation, Autonomisierung etc. Das gilt es im letzten Kapitel zu erörtern. Zunächst geht es mir um etwas anderes. Solche Entbindung bedeutet stets auch eine aus einem Sinnzusammenhang: „Wenn es überhaupt ein Bild vom Europa der beginnenden Moderne gibt, so ist es für Kierkegaard das des nach einem Selbstver-
Sie lässt sich wie gesagt als „Entbettung“ verstehen: „Was den durch die Moderne vollzogenen Bruch kennzeichnet, ist die Ablehnung der in den vormodernen Gesellschaften generell verbreiteten Auffassung, daß die Menschen und ihre Gesellschaften in eine größere kosmische Ordnung eingebettet waren, die ihre paradigmatischen Ziele bestimmte und definierte, was gut für sie war“ (Taylor 1994, 74). In seinem Hauptwerk von 2007 differenziert er diese „Einbettung“ in ein dreistufiges, hierarchisches Modell: Das Individuum ist eingebettet in die Gesellschaft, diese in den Kosmos und der wiederum ins Göttliche (Tayor 2009, 262). Dort finden sich (passim) die Schemata des „porösen“ (porous) und des modernen „abgepufferten Selbst“ (buffered), auf die ich im Folgenden anspiele. Vgl. auch: Quellen des Selbst: Die Entstehung der neuzeitlichen Identität (Taylor 1996).
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ständnis suchenden Menschen“ (Wesche 2003, 21). Der frühe Lukács (1981) bezeichnet diesen Umbruch als Verlust der „urbildlichen Heimat“ (25), ihr Resultat als eine „transzendentale Obdachlosigkeit“ (32). Dabei kann der Einfluss, den Die Theorie des Romans auf Adorno hatte, kaum überschätzt werden, gerade im Hinblick auf das Kierkegaardbuch, wo er etwa zum Konzept der „zweiten Natur“ auf die Studie verweist (GS 2, 197). Auch der Begriff der Verdinglichung wird dort erstmals von Lukács entfaltet. Das ist nun im Hinblick auf die Umrisse und die Herkunft von Adornos Entfremdungsbegriff durchaus aufschlussreich. Man kann etwa erwägen, ob nicht bei ihm Lukács’ spätere Verdinglichungstheorie vielmehr von dessen früherer, durch Kierkegaard, Dilthey und den hegelschen Idealismus geprägten Arbeit überlagert wird, wie Buck-Morss (1977, 44) meint: „It is no accident that Adorno’s concept of history owed far more to Lukács’s preMarxist aesthetic writings than to History and Class Conciousness.“ Die Nähe zum existenzphilosophischen Entfremdungsdenken im zuvor umrissenen Sinne liegt bei Lukács bekannter Formel jedenfalls auf der Hand. Inwiefern die Rede von der Transzendentalität gerechtfertigt ist, sei dahingestellt. Entscheidend sind zunächst die darin ausgedrückte Unhintergehbarkeit und die paradoxe Vorgängigkeit dieses Zustands, das heißt die Unverfügbarkeit des Ursprungs solcher Heimatlosigkeit. Für einen derart unverfügbaren Anfang bietet erneut Der Begriff Angst ein Modell.³⁵ Es liegt nicht nur nahe, die historische Entbindung mit Angst zusammenzudenken. Kierkegaard selbst setzt die, wie es im Untertitel heißt, „psychologisch-hinweisende Überlegung“ ins Verhältnis zu geschichtlichen Zusammenhängen, und zwar spätestens im dritten Kapitel, das auch eine – gerne überlesene – Geschichte der Angst bzw. des Geistes entwirft. Grundsätzlich ist das Selbstverhältnis des Menschen ein „deriviertes“, insofern in ihm eben die verselbständigte „Geschichte der Gattung mitgesetzt“ ist (BA, 62 / SKS 4, 357). Jedoch ist deren Fortschreiten ein rein quantitatives, während sich die Freisetzung, in der ein Sich-ins-Verhältnis-Setzen zu ihr erst möglich wird, als qualitativer Sprung ereignet (vgl. BA, 40 / SKS 4, 340). Das bedeutet allerdings zugleich ein mehr an Angst im späteren Individuum, sie ist, wie Kierkegaard sagt, „reflektierter“ (BA, 63 / SKS 4, 358). Dass die Geschichte der Angst eine des Geistes ist, heißt, dass ihr ein wachsendes Maß an möglicher Freiheit entspricht, die in ihrer Verkehrung in Geistlosigkeit und Unfreiheit gleichwohl nicht verwirklicht wird. Es handelt sich um eine Möglichkeit der Freiheit, die in den historischen Formen bzw. Stadien der Angst nicht gegeben ist – besonders offensichtlich dort, wo die Angst auf das Schicksal bezogen ist (BA, 113 – 121 / SKS 4, 399 – 405). Hier offenbart sich ein Widerspruch: dass der Sprung in der Geschichte (des Individuums) zugleich das Resultat einer Entwicklung, also eines quantitativen Fortschreitens ist und zumindest aus der Außenperspektive als augen-
Er beschreibt in dieser Weise in gattungsgeschichtlicher Hinsicht die Menschwerdung, in entwicklungspsychologischer das „Erwachen“ erstens des Geistes – also die Konstitution des Selbst- und Weltverhältnisses als Entbindung aus einem Zustand undifferenzierter Einheit –, zweitens der Sexualität in der Pubertät sowie drittens und vor allem der Schuld bzw. Sünde: „sie setzt sich voraus, indem sie gesetzt ist“ (BA, 73 / SKS 4, 366).
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blickshafte Zäsur kaum auszumachen ist.³⁶ Entscheidend ist – ich folge hierin Arne Grøn (1999, 28 – 49, v. a. 42) –, dass erst im Rückblick, mit der Bewusstwerdung, alles verändert wirkt und die Entwicklung überhaupt als solche zu erkennen ist. Das verstehe ich unter einer paradoxen Vorgängigkeit. Sie zeigt sich in besonderer Weise am qualitativen Sprung, den die Moderne für das Subjekt bedeutet – dass sich darin ja eigentlich erst konstituiert. Denn hier gilt der Prozess der Aufklärung der Aufdeckung jener anthropologischen Tiefendimension selbst, also des Nichtfestgestelltseins des Menschen.³⁷ Trotz seiner anthropologischen Ausweitung bleibt ein solcher Entfremdungsbegriff daher ein spezifisch moderner und kann entsprechend Grundlage der Diagnose von Pathologien der gegenwärtigen Gesellschaft sein. Diese Auffassung legitimiert zudem Adornos hermeneutisches Vorgehen, das zeitlich Frühere von seiner entwickelteren Form her zu verstehen. Diese Entbindung ist eine je schon im Menschen angelegte und zugleich historisch verwirklichte Möglichkeit der Möglichkeit, die im Resultat einen Schritt bedeutet, der schlechterdings unumkehrbar ist. Hier setzt freilich die Dialektik der Aufklärung ein, die auch die offensichtlichen Ungleichzeitigkeiten zu erklären hilft. Gerade vor dem Hintergrund der Angstabhandlung erschließt sich in der zuvor umrissenen Weise, warum diese Freiheit nicht wahrgenommen wird. Nichtseinsollende Entfremdung macht sich hier auf zwei gegensätzliche Weisen geltend: einmal als eine sich gegen diese Freiheit verschließende Rückeinbindung, zum anderen, indem Außersichsein und Bindungslosigkeit „auf Dauer gestellt“³⁸ werden – analog zur Stilllegung der Aneignungsbewegung nach dem Modell der Entäußerung. Ich möchte die Dialektik dieser Momente vorab am Aphorismus „Asyl für Obdachlose“ aus den Minima Moralia verdeutlichen, der mit Adornos wohl bekanntester Sentenz schließt: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ (GS 4, 43). Bei aller Vielfalt der Interpretationsmöglichkeiten – etwa, dass vom Wohnen nicht nur im übertragenen Sinne die Rede ist, oder dass auch Adornos eigene Erfahrung des Exils durch diese Zeilen spricht³⁹ – wird hier die Entfremdung des Menschen in dreifacher Weise zum Gegen-
Beispielhaft ist hier die Schuld(‐fähigkeit), die mit der bereits als Freiheitsverlust beschriebenen primären Verfehlung eintritt, also in einem Schuldigwerden, für das man doch eigentlich noch nicht verantwortlich gemacht werden kann. Dieser Schritt kann aber aus der Betroffenenperspektive nur als Widerspruch gedacht werden. Von außen ist lediglich eine psychologische Annäherung möglich, oder juristisch die, wie es so treffend paradox heißt, unwiderlegliche gesetzliche Vermutung der Schuld(un)fähigkeit. Auffällig ist, wie sehr sich etwa bei Plessner anthropologische Bestimmungen und die Beschreibung des spezifisch modernen Subjekts gleichen. Auch wirkt sein gesellschaftskritisches Plädoyer für Distanz in der Öffentlichkeit von 1924 wie eine Konsequenz des grundlegenden Außersichseins des Menschen, das er in seinem anthropologischen Hauptwerk von 1928 beschreibt. Henning 2015, 141. Das wirft er Plessner vor, dass er Entfremdung auf anthropologische Bestimmungen übertrage und damit verewige – womit er gewissermaßen Adornos Generalvorwurf gegen die Philosophische Anthropologie reformuliert. Seiner Gesellschaftskritik stimmt er dagegen zu. Hier sei die Fremdheit notwendig. Das Problem liegt für Henning also in der Entgrenzung bereichs- und zeitspezifischer Formen von Entfremdung. Dass das sein Ausgangspunkt in den Aphorismen ist, stellt er in der Zueignung heraus (GS 4, 16).
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stand: Erstens im besagten Sinn als Obdach- bzw. Heimatlosigkeit, zweitens in einer Reflexion auf das Eigene, die Enteignung und mögliche Wiederaneignung und drittens als Verdinglichung, insofern das Verhältnis zum (dinglichen) Eigentum „als lieblose[n] Nichtachtung für die Dinge […] auch gegen die Menschen sich kehrt“ (GS 4, 43). Meine Deutung lautet nun in aller Kürze, dass das entfremdete Verhältnis zum (Wohn‐)Eigentum als Versuch, sich zu behausen, erst ermöglicht und motiviert wird durch die Tiefendimension der Entfremdung, die hier in mehrdeutiger, aber an Lukács anschließender Weise, als Obdachlosigkeit angesprochen wird. Der angemessene Umgang mit jener Entfremdung zweiter Ordnung, der feststellenden Rückeinbindung, wird durch die moralische Forderung gefasst, „nicht bei sich selber zu Hause zu sein“ (GS 4, 43), sich nicht einzurichten.⁴⁰ Das bedeutet positiv gewendet ein offenes Verhältnis – frei von Selbsttäuschung – zur Entfremdung erster Ordnung, also der primären Entbindung, die das Nichtfestgestelltsein offenbart. Daraus ist gleichwohl nicht die Schlussfolgerung zu ziehen, aus der Not eine Tugend zu machen und sozusagen die existenziale Heimatlosigkeit in der existenziellen zu spiegeln.
4.5 Nihilismus Was gemeinhin als Nihilismus bezeichnet wird, lässt sich vor diesem Hintergrund als eine Haltung verstehen, in der die Entbindung aus dem vormodernen Sinnzusammenhang als Sinnlosigkeit auf Dauer gestellt wird und daher eine nichtseinsollende Entfremdung bedeutet. Entsprechend unterstellt Adorno Kierkegaard ja eine „verewigte Sinnlosigkeit“ (GS 2, 120), die seine Existenzlehre nur als dünne, trügerische Schicht verberge – was freilich eine Umkehrfigur der hegelschen „Verklärung“ (GS 2, 134) ist. Später bezeichnet er ihn dann, Lukács’ Deutung zustimmend, ausdrücklich als „Nihilisten“ (GS 2, 168). Auch Theunissen verortet ihn vor diesem Hintergrund. Nur stellt sich dabei die Frage, ob „Kierkegaard den Nihilismus, den er als Verzweiflung deutet, in deren eigener Deutung reproduziert“ (Theunissen 1993, 65). Er kommt zu dem Schluss, dass sein Verzweiflungsbegriff auf einen „geschichtlich vorgegebenen Nihilismus reagiert“ (Theunissen 1993, 67) und eine Grunderfahrung seiner Epoche artikuliert: sich keiner Bestimmung versichern zu können. So ist auch die Angst in der Moderne nach Kierkegaard im Kern als eine Angst vor der Sinnlosigkeit bzw. dem Nihilismus zu verstehen und unterscheidet sich von den historischen Formen, die dem Schicksal oder der Schuld gelten, durch ihren Bezug zur Freiheit als historisch gegebener Möglichkeit.⁴¹ In dieser Weise ist die zuvor umrissene Selbsttäuschung, die aus dem Anspruch auf Sicherheit bzw. Gewissheit und motivational aus der Angst vor Unbestimmtheit hervorgeht, auf einen geschichtlichen Ort verwiesen. Entsprechend verbirgt sich diese Er-
Diese Formulierung kehrt im Aphorismus „Goldprobe“ wieder (GS 4, 177). Das führt er wie gesagt im zentralen dritten Kapitel der Angstabhandlung aus. Siehe hierzu: Bösch 1994, v. a. 111– 200.
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fahrung meist in einer „in Wahrheit bodenlosen Selbstgewissheit derjenigen, die zu wissen vorgeben, was Menschsein heißt“ (Wesche 2003, 21; Hervorhebung M. K.). Diese Einsicht findet ihr Echo in Adornos Behauptung, dass die Angst vor dem Nihilismus letztlich Angst vor der Aufklärung selbst sei (GS 3, 57– 58). Denn meist besteht das Übel vielmehr in der Flucht vor dem Nihilismus in Form einer voreiligen, ungerechtfertigten Aufhebung seiner radikalen Negativität in ein Positives: „Nihilisten sind die, welche dem Nihilismus ihre immer ausgelaugteren Positivitäten entgegenhalten, durch diese mit aller bestehenden Gemeinheit und schließlich dem Prinzip selber sich verschwören“ (GS 6, 374). Deshalb sind die Gemeinsamkeiten in der Haltung zum Phänomen des Nihilismus größer, als es die vordergründige Abstandnahme Adornos von Kierkegaard vermuten lässt. Nichtseinsollende Entfremdung beginnt dort, wo dieser geschichtlich vorgegebene Nihilismus nicht mehr als historisch entstanden aufgefasst wird und als Herausforderung, die es zu bewältigen gilt, sondern selbst als Gegebenheit, quasi als Schicksal, hingenommen wird. Man ist sozusagen im Entbundensein gefangen. Seinen Ursprung hat der Begriff des Nihilismus in der Diskussion um den Deutschen Idealismus, wie sie sich aus der Reaktion auf Jacobis Sendschreiben an Fichte von 1799 entwickelt.Was nach Jacobi die Philosophie nihilistisch werden lässt ist ihre Selbstreferentialität, ein „Wissen, das allein in der Gewißheit seiner selbst die letzte Rechtfertigung findet und so zu einem unbedingten Sichwissen wird“ (Pöggeler 1974, 315).⁴² Dabei ist der Nihilismus aber keineswegs nur ein Wort der Kritik, sondern ebenso Aufgabe der Philosophie. So versteht ihn Hegel bereits in seiner Abhandlung „Glauben und Wissen“ von 1803, in der er einen falschen Nihilismus, der, wie bei Jacobi, in Dualismen von Endlichkeit und Unendlichkeit etc. verhaftet bleibe, von einem wahren Nihilismus unterscheidet, der in der recht verstandenen Vermittlung über das Allgemeine seinen Weg findet (Pöggeler 1974, 321). Das nihilistische Moment macht sich auch als Vorwegnahme der potentiellen Negation jeglicher positiven Bestimmung geltend, wie sie Hegel in der totalisierenden Bewegung des Negativ-Unendlichen denkt. Sie ist die Voraussetzung idealistischer „Gewissheit“ bzw. der spekulativen Affirmation. Was das bedeutet, gilt es im fünften Kapitel in Bezug auf die Urteilslehre der Logik zu erörtern. An ihr sollen die Differenzen zu Adorno sichtbar werden. Hegel wirft Fichte nun vereinfacht gesagt vor, auf halbem Wege stehen geblieben zu sein und somit tatsächlich in einem falschen Nihilismus festzustecken. Das ist deshalb interessant, weil sich einerseits Kierkegaard diese Kritik zu eigen macht, sie aber auch von Adorno gegen diesen gewendet wird. Die geistesgeschichtliche Bewegung in Folge der Aufklärung, der Jacobis Kritik ebenso gilt, wie ihrer realpolitischen Entsprechung in der französischen Revolution, hat letztlich ihren Ursprung im Verlust „eines sicheren Wissens von der Bestimmung des Menschen“ (Theunissen 1993, 66).⁴³ Damit wird erst die Frage nach seiner anthropolo-
Vgl. auch Hühn 2009, 199 – 201. Die Bestimmung des Menschen ist der Titel einer Schrift Fichtes von 1800, die als Antwort auf den sogenannten Atheismusstreit entstand.
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gischen Verfasstheit im beschriebenen Sinne virulent – also als eine, die im Fragecharakter schon die Selbstbezogenheit solcher Bestimmung enthält. Dem Begriff der Bestimmung ist dabei eine charakteristische Doppeldeutigkeit eigen, meint er doch einerseits etwas als etwas zu bestimmen, andererseits zu etwas bestimmt zu sein. Ist das nicht mehr weitgehend vorgegeben, so geht es eben um Selbstbestimmung und -verwirklichung, wobei beide Momente nicht voneinander zu trennen sind. Sie können aber für sich genommen die Leerstelle nicht kompensieren, die sich mit der „großen Entbettung“ auftut, da sie sich in bloßer Selbstbezüglichkeit gerade einer möglichen Rückeinbindung verschließen. Gefordert ist also eine Bindung der Selbstverständigung in ihrer Besonderheit an eine sie übersteigende Allgemeinheit.
4.6 Allgemeinheit als progressive Rückeinbettung Die Kluft, die sich mit der beschriebenen Entbindung aufgetan hat, begreift der junge Hegel um 1800 in seiner Einleitung in die Verfassungsschrift als „immer sich vergrößernde[r] Widerspruch zwischen dem Unbekannten, das die Menschen bewußtlos suchen, und dem Leben, das ihnen angeboten und erlaubt wird, und das sie zu dem ihrigen machten“ (TW 1, 457). Theunissen (1982b, 30) meint dazu, er beschreibe „eine Lage, in der Selbstbestimmung keine unmittelbar gegebene Realität sein kann, weil die Individuen ein ihnen fremdes Leben exekutieren“.Von Entfremdung ist hier also im Hinblick auf die Verhältnisse die Rede, in die die Menschen notgedrungen eingebunden sind. Dass sie ein solches Leben aber „zu dem ihrigen machten“, bedeutet, dass der Widerspruch auch durch sie selbst geht. Das Unbekannte ist nun für Theunissen (1982b, 29) die „aus dem Bewußtsein verschwundene[n] Bestimmung des Menschen“, das Gesuchte selbst dagegen die gesellschaftliche Allgemeinheit. Sie zeigt sich erst als Problem mit der Erfahrung ihres Verlusts in Form der vormodernen Sittlichkeit, die das bergende Eingebettetsein ja idealtypisch verkörpert. Der Allgemeinheit, um die es nun zu tun ist, geht solche (Vor‐)Gegebenheit gerade ab, weshalb sie (subjektiv) erst zu realisieren ist. Sie soll jene Kluft überbrücken, kann sie aber meines Erachtens nicht schließen. Hegel affirmiert zumindest dem Anspruch nach das Recht des Einzelnen auf seine Individualität und Eigenständigkeit. Konkrete Allgemeinheit ist selbst ein Verhältnis von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit und bedeutet eine Einbindung der Momente in einen Zusammenhang, der sich auf sich selbst bezieht und darin dem (einzelmenschlichen) Subjekt gleicht. Nicht zuletzt deshalb kann eine solche Allgemeinheit ihrem Begriff nach leisten, was sich im Nihilismus als Aufgabe stellt. Dabei soll – Hegels frühe Äußerung zu jener Krise Ende des 18. Jahrhunderts impliziert das bereits – Allgemeinheit das in der Entbindung Verlorene auf beiden zuvor unterschiedenen Ebenen kompensieren: hinsichtlich der sozialen Ordnung und Bindung sowie im Hinblick auf den Sinnzusammenhang. Spätestens wo aber der reife Hegel seinem eigenen Anspruch nicht gerecht wird, setzt die Kritik Adornos und in je anderer Weise die von Marx und Kierkegaard an.
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5 Entzweiung, Verdrängung und Umschlag ins Gegenteil Zwei Modelle von Entfremdung sind für den philosophischen Diskurs meines Erachtens grundlegend, das der Entäußerung, Verselbständigung und (misslingender) Wiederaneignung einerseits und das von Entbindung und (entfremdender) Rückeinbindung andererseits. Nun ist zwar die Verdinglichungstheorie wie gesagt offensichtlich dem ersten Modell zuzuordnen, sie gibt aber bereits bei Lukács doch eine charakteristische Zwischenstellung zu erkennen. Das gilt auch für weitere, bei Adorno und Kierkegaard zentrale Entfremdungsfiguren: 1. Zunächst ist hier die Entzweiung zu nennen – ob als innere Entzweiung oder als die der bürgerlichen Gesellschaft. Ihr entspricht die Entbindung des Subjekts. Sie ist aber insofern nicht mit dieser gleichzusetzen, als es im einen Fall um die Desintegration aus einem Zusammenhang geht – der Natur, der vormodernen Ordnung etc. –, im anderen Fall um die Desintegration eines sich zu sich selbst verhaltenden Zusammenhangs an sich, also etwa des einzelmenschlichen Subjekts oder der bürgerlichen Gesellschaft. Die Entzweiung mit sich – oder allgemeiner die Auflösung eines Ganzen in seine Teile – ist nun ihrerseits Voraussetzung der beiden anderen Formen. 2. Entfremdung kann auch als Verdrängung bzw. Wiederkehr des Verdrängten beschrieben werden. Die Bewegung gleicht hier durchaus jener der Verselbständigung des Entäußerten, nur dass das Verdrängte stets Teil des Verdrängenden bleibt. Das entspricht auch der psychoanalytischen Herkunft des Begriffs.⁴⁴ Im Folgenden geht es aber vor allem darum, die Linie dieser Entfremdungskritik von Schelling über Kierkegaard bis zur Dialektik der Aufklärung nachzuzeichnen. Was dabei Adorno zufolge zurückkehrt, ist vor allem die ausgeschlossene Natur und das vermeintlich überwundene Mythische. 3. Eng verwandt damit ist die Figur des Umschlags ins Gegenteil, die Adorno im Wesentlichen Benjamin verdankt, aber mit gewichtigen Verschiebungen übernimmt. Sie setzt ebenso offensichtlich die Selbstentzweiung eines Gesamtzusammenhangs voraus und bedeutet entsprechend eine Vereinseitigung, die in ihrer Zuspitzung über sich selbst hinausgetrieben wird – auf ihr vermeintliches Gegenteil hin, von dem sie sich zu entfernen glaubt. Es ist leicht einzusehen, was damit gemeint ist, liegt dieses Modell von Entfremdung doch der wohl berühmtesten These der älteren Kritischen Theorie überhaupt zugrunde: dass Aufklärung in ihr (vermeintliches) Gegenteil umschlägt. Solcher Umschlag setzt die Desintegration eines ganzheitlichen, emphatischen Vernunftbegriffs in dessen partikulare Formen voraus. Das selbst ist noch nicht das Problem, sondern bedeutet ja ebenso Aufklärung – etwa über die metaphysischen und insbesondere teleologischen Aspekte des logos als alles durchwirkendem und ordnendem Prinzip. Schwierig wird es, wo eine vereinseitigte instrumentelle Rationalität der Kritik der Sigmund Freud (1969) gebraucht den Ausdruck „Wiederkehr des Verdrängten“ in der kleinen Schrift „Die Verdrängung“ von 1915. Er versteht darunter die dritte „Stufe“ – nach der „Urverdrängung“ und der „eigentlichen“, diese gewissermaßen reproduzierenden Verdrängung, die er auch als „Nachdrängen“ bezeichnet. Sie äußert sich in „Ersatz- und Symptombildung“.
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Vernunft zugleich entzogen wird. Im Folgenden wird diese Denkfigur insbesondere als Dialektik von Nominalismus und Realismus entfaltet. Adorno verfolgt sie an Konzepten von Wissenschaftlichkeit, an der Kunst, legt sie aber auch seiner Deutung Kierkegaards zugrunde. 4. Auch diese Modelle von Entfremdung sind, ihrer Eigenständigkeit und teils anderen Herkunft zum Trotz, bei Hegel zumindest vorgebildet. Das ergibt sich schon aus dem Umstand, dass seine Philosophie sich überhaupt an den (ideengeschichtlichen) Entzweiungen abarbeitet, die sie über den Umweg der Entfremdung des Geistes aufzuheben trachtet. Sieht man vom spekulativ-systemphilosophischen Rahmen ab, so wird in der Wissenschaft der Logik Entfremdung in einer Weise zum Thema, die aufs Genaueste zur Dialektik der Aufklärung passt. Metaphysik und Positivismus schlagen hier „untergründig“ ineinander um: „Die Seinslogik entlarvt den Positivismus als Metaphysik, die Wesenslogik die Metaphysik als Positivismus“ (Theunissen 1994, 33). Doch damit nicht genug. Jenen Positivismus bezieht Hegel sowohl auf das moderne, aufgeklärte Denken, das die tradierte Metaphysik überwunden zu haben glaubt, wie auf das vormetaphysische Denken der frühen griechischen Philosophie und Lebenswelt. 5. Die Figur des Umschlags ist jedoch bei Adorno nicht nur Ausdruck von Entfremdung, sondern steht ebenso für jene Hoffnung, dass eine sich zuspitzende, nichtseinsollende Entfremdung sich in ihr ganz Anderes verkehrt. Inwiefern das aber die Konsequenz eines problematischen totalen Negativismus ist – oder verkappte Soteriologie –, gilt es zu erörtern. Verwickelt wird es auch dadurch, dass Adorno an Heidegger doch gerade ein solches Umschlagsmotiv kritisiert, das bei diesem in der Vorstellung eines rettenden Gottes gründet. Sie unterscheiden sich aber hinsichtlich der Frage, ob die Rettung – mag sie auch für beide weder willkürlich herbeizuführen sein noch einer Teleologie folgen – dem Handeln als nichtmenschliches „Geschick“ völlig entzogen bleibt (Wesche 2019b, 491). Diese und andere Differenzen lassen sich gerade an ihrer konkurrierenden Deutung Hölderlins nachvollziehen, dem sie die Figur des rettenden Umschlags der Extreme wesentlich verdanken – bei Adorno vermittelt über Benjamin (vgl. Kreuzer 2004, 367).
6 Verdinglichung Verdinglichung bedeutet, so Lukács (1986, 170) zu Beginn seiner berühmten Studie „Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats“, dass „eine Beziehung zwischen Personen den Charakter einer Dinghaftigkeit“ annimmt. Unabhängig von der umstrittenen, zurecht als einseitig bewerteten Erklärung ihrer Entstehung aus dem „Warentausch“, zeigen sich bei ihm bereits die drei Dimensionen der Verdinglichung: als Beziehung oder Verhältnis zwischen Menschen, zu sich selbst und zur Natur. Es handelt sich dabei jeweils nicht um eine epistemische Deutungskategorie, beziehungsweise um einen Kategorienfehler, sondern um bestimmte Formen von Praxis. Durch Habitualisierung und Institutionalisierung werden sie den Menschen, so seine Kernthese, schließlich zur „zweiten Natur“ (Lukács 1986, 260). Während Verdinglichung bei Lukács
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noch exklusiv in der Epoche des bürgerlichen, kapitalistischen Zeitalters zu Hause war, verschränkt Adorno sie mit der Genese der Subjektivität selbst. Das Moment ihrer Deformation – als einer Beherrschung, die auf die Beherrschenden zurückschlägt – ist bereits in ihrer ursprünglichen Emanzipation von der Herrschaft der Natur angelegt und insofern unabdingbar. Diese anthropologische Erweiterung bedeutet jedoch keine Neutralisierung, im Sinne einer Naturalisierung, oder eine Umwertung des Entfremdungs- bzw. Verdinglichungsbegriffs. Es handelt sich vielmehr um eine „Ausdehnung seiner Negativität“ (Landmann 1975, 204). Die Dialektik der Aufklärung – selbst Reaktion auf eine präzedenzlose historische Zäsur – stellt in dieser Weise auch für die Geschichte des modernen Entfremdungsbegriffs nach Trebeß (2001, 143) „einen kaum zu überschätzenden Einschnitt dar“. Es sei dieser Text, „in dem erstmals (nach Rousseau und radikaler als bei ihm) die Zweifel an der Überwindbarkeit universell gewordener Entfremdung die Oberhand gewinnen, in dem alles, was bisher als Weg zur Überwindung von Entfremdung entworfen wurde, selbst in den Entfremdungszusammenhang gestellt wird, als Instrument sich verschärfender Entfremdung erscheinen kann“ (Trebeß 2001, 156). Am allgemeinsten lässt sich Adornos Verdinglichungsbegriff fassen, wenn man von seinem Diktum ausgeht, Identität selbst sei „die Urform von Ideologie“. Sie nimmt in der Moderne eine doppelsinnige Bewegung an: „Identität wird zur Instanz einer Anpassungslehre, in welcher das Objekt, nach dem das Subjekt sich zu richten habe, diesem zurückzahlt, was das Subjekt ihm zugefügt hat. Es soll Vernunft annehmen wider seine Vernunft“ (GS 6, 151). Das heißt, dass der behauptete Primat des Subjektiven umschlägt in eine faktische Übermacht des gesellschaftlich Objektiven, als eines von diesem erzeugten, aber verselbständigten, das seinen eigenen Maßstab von Rationalität etabliert, nach dem das Subjekt zugerichtet, also verdinglicht wird. Das offenbart sich an der ökonomischen Rationalität, wie sie von Marx beschrieben wurde. Hier hat der Verdinglichungsbegriff, von der Vorgeschichte bei Hegel einmal abgesehen, auch seinen Ursprung, genauer in der Analyse des Fetischcharakters der Ware. Auch Adorno spricht wiederholt von einer Warenförmigkeit des Bewußtseins. Verdinglichung bedeutet, dass in den verselbständigten Produkten menschlicher Arbeit dingliche Objekte zu Subjekten werden, die menschlichen Subjekte aber zu ohnmächtigen Objekten: „Ihre eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, anstatt sie zu kontrollieren“ (MEW 23, 89). Ursprünglich entstammt der Begriff der Verdinglichung tatsächlich dem Kontext der Arbeitswelt: sich verdingen. Hegel erst denkt ihn mit Entäußerung und Objektivierung zusammen, was aber, gerade im Hinblick auf den Produktionsprozess, naheliegend ist. Gleichwohl lässt er sich bereits bei Lukács nicht umstandslos mit dem entfremdungstheoretischen Modell der Entäußerung verrechnen. Der Verdinglichungstheorie kommt eine eigentümliche Zwischenstellung zwischen diesem und dem Modell der Entbindung zu, die zudem die Überschneidungen zwischen der existenzphilosophischen und marxschen Traditionslinie offenbart. Das zeigt auch die vielbeachtete, zuerst 2005 veröffentlichte Studie von Axel Honneth, der die Diagnose Lukács’ nicht nur im Hinblick
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auf Adorno – hier ist die Verbindung ja offensichtlich – sondern auch auf Heidegger, Sartre und viele weitere Autoren auslegt.⁴⁵ Die Bezüge, die er zwischen Lukács und dessen Zeitgenossen Heidegger, vor allem Sein und Zeit ⁴⁶ (1927), sowie John Dewey, insbesondere den Studien „Affektives Denken“ (1926) und „Qualitatives Denken“ (1930), aufzeigt, sind nicht bloß einer zufälligen Übereinstimmung in der Sache geschuldet. Vielmehr stehen sie, wenngleich sie philosophiegeschichtlich von ganz anderen Voraussetzungen ausgehen, in einem gemeinsamen historischen Zusammenhang, der zwei Seiten hat: Lukács Studie von 1923 ist weniger die orthodoxe Marxinterpretation, als die er sie selbst verstanden hat, sondern eine Zeitdiagnose, die das gesamte Alltagsleben der damaligen kapitalistischen Gesellschaft in den Blick nimmt (vgl. Honneth 2015, 22). Insofern muss sich die Phänomenologie der Verdinglichung gleichen, wo die Beschreibung ihren Gegenstand trifft. Aber auch darüber hinaus formulieren alle drei, das ist die andere Seite, eine ähnliche Kritik an der zeitgenössischen Philosophie, die großenteils, wie die verdinglichte Alltagskultur, einem Dualismus von Subjekt und Objekt verhaftet sei, dem Modus der„Vorhandenheit“. Der traditionellen Ontologie,von der sich Heidegger abkehrt, gilt bereits bei Kierkegaard die Kritik: jener Tradition der theoria, die seit Aristoteles das Denken beherrscht und die das Selbst- und Weltverhältnis auf die Beobachterperspektive reduziert. Sein Konzept des „Inter-esse“ spatiiert zwar die Momente, setzt aber den Menschen zwischen sie, auch im Sinne eines existenziellen bzw. existenzialen Eingebundenseins, als Interessiertsein an sich und der (Mit‐)Welt. Die Polemik des „subjektiven“, „leidenschaftlichen“ Denkers wendet sich gerade gegen die von Hegel eingeforderte Gleichgültigkeit des „reinen Denkens“. Ob ihm Kierkegaard damit gerecht wird, gilt es zu diskutieren. Offensichtlich ist aber die gemeinsame Problemstellung, die er sich mit jenen Autoren der zwanziger Jahre des folgenden Jahrhunderts teilt und die Dewey (1998, 27– 28) auf den Begriff des „Zuschauermodell[s]“ bringt. Dieser Modus ist nun angewiesen auf eine ursprünglichere Form der Weltbeziehung, die Honneth als „Anerkennung“ bezeichnet,⁴⁷ Kierkegaard eben als „Inter-esse“, Heidegger als „(Für‐)Sorge“ und Dewey als „Involviertsein“. Verdinglichung bedeutet ihnen dagegen – ob dem Begriff oder der Sache nach –, ein Objektives in seiner Gegebenheit zu nehmen und von dessen Genese abzusehen. An einem solchen Positivismus arbeitet sich bereits Hegel ab – und Adorno würdigt ihn in dieser Hinsicht ausdrücklich als dessen Kritiker. Dass diese Denkfigur ebenso dem Referenztext Lukács’ zugrunde liegt, der Analyse des „Warenfetischismus“ bei Marx, bedarf kaum der Erwähnung. Adorno kann daher zu Recht sagen: „Alle Verdinglichung ist ein Vergessen“ (GS 3, 263) – was Honneth (2015, 61) umformuliert in eine „Anerkennungsvergessenheit“. Ähnliches wie eine solche neutrale Beobachterperspektive verlangt nun die kapitalistische Gesellschaft nach Lukács. Sie fordert von den Teilnehmenden des Waren In der der jüngsten Philosophiegeschichte sind das vor allem Stanley Cavell und Michael Tomasello. Dort ist tatsächlich von „Verdinglichung“ die Rede: Heidegger 2006, 437. Vgl. Honneth 2015, 59. Das bedeutet für ihn selbst zugleich eine Erweiterung seiner Theorie der Anerkennung um eine „existenzielle“, „elementarere Form“ (Anm. 19).
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tausches – an dem sie selbst als Ware Arbeitskraft teilhaben – die Einstellung der Teilnahmslosigkeit, Affektneutralität und Interesselosigkeit. Das heißt freilich nicht, dass sich die Einzelnen in solcher Weise gefühllos zeigen, sondern vielmehr, dass sie sich einen instrumentellen Zugang zu ihren Emotionen und Affekten aneignen, sie also entweder als gegeben oder manipulierbar betrachten, nicht aber als subjektiv. Adorno bringt es – samt der ideengeschichtlichen Bedeutungsebene, der Subjekt-Objekt-Spaltung – auf den Punkt: „Die Eigenschaften, von der echten Freundlichkeit bis zum hysterischen Wutanfall, werden bedienbar, bis sie schließlich ganz in ihrem situationsgerechten Einsatz aufgehen. […] Sie sind nicht mehr Subjekt, sondern das Subjekt richtet sich auf sie als sein inwendiges Objekt“ (GS 4, 263). Er bezieht sich dabei auf Lukács, den er ausführlich zitiert.⁴⁸ Entscheidend ist also eine Distanz zu sich selbst, die sich hier verselbständigt hat. Während Verdinglichung derart als soziale Pathologie der Moderne beschrieben wird, ist sie doch andererseits nach dem Modell der Dialektik der Aufklärung unabdinglich für die Konstitution von Subjektivität überhaupt und gleichursprünglich mit ihr – und zwar sowohl in onto- als auch phylogenetischer Hinsicht. Adorno hat entsprechend ebenso davor gewarnt, Verdinglichung als „radikal Böses“ aufzufassen, wie zur „reinen Aktualität“ zu dynamisieren (GS 6, 191). Denn darin liegt ihm zufolge eine Tendenz „zur Feindschaft gegen das Andere, Fremde, dessen Name nicht umsonst in Entfremdung anklingt“ (GS 6, 191), gegen jene „Nichtidentität“, die doch seine Verdinglichungskritik gerade freigeben möchte.⁴⁹ Das ist aber, wie er hier feststellt, keine Frage des Bewusstseins allein, sondern setzt die Befreiung und Versöhnung der Menschheit überhaupt voraus.Vorerst ist daher an Fremdheit als „Gegengift“ festzuhalten, um nicht Entfremdung erst recht zu besiegeln. Das gilt nicht nur im Hinblick auf die Angemessenheit des Denkens, sondern ebenso für die soziale Interaktion.Von Individuen in einer modernen, äußerst differenzierten und rationalisierten Gesellschaft, ist ein in hohem Maße distanziertes, strategisches Handeln gefordert. Das kann, im Gegensatz zur totalisierenden Tendenz bei Lukács, nicht grundsätzlich als Verdinglichung verworfen und durch den „Standpunkt des miterlebenden Subjekts“ (Lukács 1986, 190), durch Anteilnahme und Kooperation ersetzt werden. Der entscheidende Unterschied besteht im Verhältnis beider Einstellungen, nicht in den Einstellungen selbst. Nach Honneth sind die Modi der Beziehung beider Formen danach zu differenzieren, ob sie füreinander transparent oder intransparent, zugänglich oder unzugänglich sind. Das ist eine Erweiterung dessen, was ein zentrales Anliegen Kritischer Theorie überhaupt ist: die nichtepistemischen Voraussetzungen begrifflichen Denkens offenzulegen.⁵⁰
Vgl. Lukács 1986, 193 – 194. Dort heißt es: „Am groteskesten zeigt sich diese Struktur im Journalismus“. Braunstein (2016, 31) dient diese Stelle als Beleg für Adornos Ablehnung des Entfremdungs- und Verdinglichungsdenkens überhaupt, nicht für dessen Transformation. Vgl. Honneth 2015, 67: „Vor allem aber Theodor W. Adorno hat immer wieder betont, daß die Angemessenheit und Qualität unseres begrifflichen Denkens davon abhängig ist, in welchem Maße es sich in seiner ursprünglichen Bindung an ein Triebobjekt, also an geliebte Personen oder Dinge, bewußt zu bleiben vermag; für ihn war mit einer solchen Erinnerung an die vorgängig geleistete Anerkennung sogar
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Johann Kreuzer (2019b, v. a. 517– 519) hat darauf aufmerksam gemacht, wie sehr sich Adornos Theorie bzw. Kritik der Verdinglichung dem „Gespräch mit Benjamin“ verdankt – ein Umstand, der meist, wo es um Verdinglichung bei Adorno geht, außen vor bleibt. Dabei hat dort seine wohl bekannteste Sentenz hierzu, dass alle Verdinglichung ein Vergessen sei, ihren Ursprung (vgl. BW 1, 417). Dieser Hintergrund ist aber ohnehin, wo es um die Auseinandersetzung mit Kierkegaard geht, offensichtlich, meint er doch im bereits erwähnten Brief an Kracauer, es sei ihm in seinem Erstlingswerk darum zu tun, Lukács und Benjamin durcheinander zu korrigieren (BW 7, 207– 208). Dessen Idee der Naturgeschichte liegt, wie dem Kierkegaardbuch im Ganzen, auch seinem Denken von Verdinglichung zugrunde. Doch auch jenseits besagter urgeschichtlich-anthropologischen Rückeinbindung der Verdinglichungstheorie zeigt sich am Verhältnis zu Benjamin besonders deutlich, warum das dabei in den Blick genommene Phänomen nicht einfach per se als nichtseinsollende Entfremdung verurteilt wird. Tatsächlich spricht Adorno in einem Brief an ihn von „guter und schlechter Verdinglichung“ (BW 1, 418) – eine Unterscheidung, die auch das Vergessen entsprechend betrifft. Fundamentaler noch als zuvor angedeutet, bedeutet „Kritik der Verdinglichung […] eine Entfaltung der widersprechenden Momente, die im Vergessen gelegen sind“ (BW 1, 418). Denn Vergessen kann auch „erfahrungsbildend“ (BW 1, 417) sein, allein schon, weil sich beide Momente dialektisch voraussetzen. Im Gegensatz dazu steht das bloße Registrieren, Kopieren und Konservieren in Technik, Wirtschaft und Verwaltung, dem sich die Menschen, wie es ja auch Lukács bild- und variantenreich beschreibt, zunehmend angleichen. Lediglich darüber fällt die Verdinglichungskritik ihr Urteil, wie Kreuzer feststellt: „Nur im Hinblick auf dieses erfahrungszerstörende Vergessen bedeutet Verdinglichung jene Entfremdung, die es im Sinne Hegels (oder von Marx oder von Lukács) zu überwinden gelte“ (Kreuzer 2019b, 518). Allerdings beschränkt sich solche Kritik nicht auf Zeitdiagnose. Erfahrung ist Adornos Gegenbegriff nicht nur zur Verdinglichung, sondern auch zum Idealismus im weitesten Sinne: „Eine Theorie, die Verdinglichung – und darin zugleich das Vergessen – als unverzichtbares Moment intersubjektiver Erfahrungsbildung anerkennt, erfordert die Kritik an jenem neuzeitlichen Bewusstseinsparadigma, in dem ‚Geist‘ zu einer autarken Denksubstanz gemacht […] wird“ (Kreuzer 2019b, 518). Was Erfahrung im emphatischen Sinne bedeutet, formuliert Adorno in der Negativen Dialektik im Gegensatz zu einer „Kategorie von Verdinglichung, die inspiriert war vom Wunschbild ungebrochener subjektiver Unmittelbarkeit“ (GS 6, 367). Dieses scheint wie gesagt auch bei Lukács noch durch. Ebenso lastet Adorno Kierkegaard mehrfach an, einem solchen Wunschbild nachzuhängen. Er stelle sich der Verdinglichung entgegen „im Namen der verlorenen Unmittelbarkeit, die er in Subjektivität behütet“ (GS 2, 59). Von einer ungebrochenen Unmittelbarkeit kann aber bei ihm, wie sich zeigen wird, keine Rede sein. Dass die Deutung sich gerade dort, wo es um Verdinglichung geht, selbst zu widersprechen scheint, liegt nicht nur in der Ambivalenz des kierkegaardschen
die Gewähr verknüpft, daß die Erkenntnis ihren Gegenstand nicht zurichtet, sondern in allen Aspekten seiner konkreten Besonderheit erfaßt.“
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Denkens und seiner philosophiegeschichtlichen Stellung begründet. Es ist auch der beschriebenen Doppelsinnigkeit des adornoschen Begriffs von Verdinglichung geschuldet: er kritisiert nicht nur jene Entsubjektivierung, die der Ausdruck bereits impliziert, sondern auch die Selbstherrlichkeit des (idealistischen) Subjekts, die ihr freilich, nach der Logik der Rache des Objekts, zugrunde liegt. Letztere wird, wenn auch in Form einer Kritik an Kierkegaards „Ästhetik“, erstmals im Buch von 1933 formuliert (GS 2, 30).
7 Hegels Schema von Entfremdung und seine Kritik „Fremdheit ist Voraussetzung von Entfremdung – da es Fichte darum geht, alles Fremde, Äußere aus dem Subjekt selbst zu erklären, es mit ihm identisch bleibt, fehlt diese Voraussetzung. Fichte denkt die Identität von Subjekt und Objekt, die Bedingung des Hegelschen Entfremdungsbegriffs ist, kann aber selbst Entfremdung nicht beschreiben“ (Trebeß 2001, 39). Deshalb könne bei ihm nur von uneigentlicher oder romantischer⁵¹ Selbstentfremdung die Rede sein. Erst in seiner Transformation durch Hegel – die gilt es im Folgenden nachzuvollziehen – hat sein Ansatz die bis heute dominante Traditionslinie des Entfremdungsdenkens stiften können. Zwar denkt auch dieser Nichtidentität, echte Alterität im Rahmen einer übergreifenden Identitätsbeziehung. Bei Hegel lassen sich aber mindestens zwei Ebenen der Betrachtung unterscheiden. Eine, „in der als Subjekt der Mensch erscheint“ und die übergeordnete „Ebene Geist-Natur“, wo aufgrund der unterstellten Identitätsbeziehung, wie Trebeß (2001, 45) zu Recht meint, „Entfremdung nur spekulativ behauptet werden kann“. Das ist nun nicht nur sein Vorzug vor Fichte. In dieser Doppelbödigkeit gründet auch die Anschlussfähigkeit fürs nachidealistische Denken. Dagegen hat Franz Josef E. Becker versucht, Fichtes Modell als maßgebliches zu profilieren und einen Bogen zu Marx und verschiedenen Ansätzen der Kritischen Theorie geschlagen. Dass er dabei Fichtes Anverwandlung durch Hegel nicht gelten lassen will, hat freilich ebenso Konsequenzen für Marx, insofern er einerseits etwa den „Vorrang der Praxis“ in seinem Fall bezweifelt (Becker 1972, 4), andererseits aber gegen ihn und überhaupt die „nachidealistische Kritik“ behauptet, dass gerade Fichte einen Weg weise, „wie der Mensch unter den Bedingungen umfassender Herrschaft der Objektivität praktisch und frei sein könne“ (Becker 1972, 6). Ausdrücklich weist er auch die Kritik Hegels zurück, an der seine Nachfolger sich orientiert hätten und die teils wieder auf diesen zurückfalle. Zunächst ist es der „Idealismusvorwurf“ selbst: „Das idealistische Denken wird als der Exemplarfall einer Metabasis eis allogenos [sic] dargestellt, das das, worüber es nicht verfügen mag – das Objekt – der Logik nach verändert“ (Becker 1972, 40). Es akzeptiert seine Beschränkung nicht bzw. zieht sich vor
Darauf hebt – und im Gegensatz zu Trebeß affirmativ – Hermann Schmitz (1992) ab. Ihm wird in der Folge noch Hegel selbst zu einem Romantiker. Vgl. Trebeß 2001, 464, Anm. 65. Allerdings bezieht sich Schmitz bei Fichte v. a. auf Die Bestimmung des Menschen.
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ihr auf den „Vorrang des Denkens“ zurück. Was Becker hier im Anschluss an Marcuse formuliert, würde ebenso gut den Kern der adornoschen Idealismuskritik paraphrasieren. Interessanter noch sind aber die nächsten beiden „Vorwürfe“ an die Adresse Fichtes, entsprechen sie doch zumindest terminologisch dem, was man wiederholt Kierkegaard unterstellt hat: Der„Vorwurf der Innerlichkeit“ und, mit ihm einhergehend, der „Vorwurf der Abstraktheit“. Innerlichkeit heißt hier wesentlich „Entgegensetzung zur Realität“ und führt letztlich zum „schwerwiegendste[n] Vorwurf […], daß der Begriff der Wirklichkeit selbst unwirklich sei“ (Becker 1972, 42). Das hält nun, wie sich zeigen wird, auch Kierkegaard (mit Hegel) Fichte entgegen. Die Abstraktheit jedoch, die Adorno dem Dänen wiederum vorrechnet, führt er ja tatsächlich nicht zuletzt auf Fichte zurück. Über solche Anknüpfungspunkte und philosophiegeschichtlichen Korrekturversuche hinaus hat aber Fichte eine Wirkungsgeschichte entfaltet, die sich aus der hegelschen emanzipiert. Sie zeigt sich nachvollziehbarerweise vor allem in Versuchen der Psychologisierung der Entfremdungskritik – was man Becker so nicht anlasten kann. Auch Gehlen deutet Fichte in dieser Weise in Über die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung, ohne sich seinen Standpunkt zu eigen zu machen. Die „Fichtesche Formel von der verlorenen Freiheit“ sei in „psychologischer Anwendung“ mit Freud unbemerkt „weltpopulär“ geworden (Gehlen 1963, 234). Jegliches dem Ich Fremde, Äußere, auch Unbewusstes, dessen „Resultate es einfach vorgelegt erhält“, wird Fichte unerträglich: „Alles im Bewußtsein Vorfindbare […] sollte abgeleitet werden aus den Akten des Ich, und so wollte er ihm seine Freiheit wiedergeben“ (Gehlen 1963, 233). Gehlen bringt ihn nun in einen Gegensatz zur politisch-praktischen Aneignung entfremdeter Freiheit in der Französischen Revolution: „Nur daß Fichte, ein einzelner, handlungsloser Denker, kein Feld des Bastillesturms hatte, als seinen eigenen Kopf, in dem er nichts Entfremdetes und von außen Aufgedrängtes mehr dulden, in dem er allein regieren wollte“ (Gehlen 1963, 234). In ähnlicher Weise deutet Béla Hamvas Kierkegaard, nur dass es hier nicht die Revolution, sondern die ihr nachfolgende Eroberung der Welt ist. Kierkegaard ist auf paradoxe Weise Erbe solchen rastlosen Drangs, in der Außenwelt zu wirken. Bei ihm sei das Heldentum nach innen geschlagen: „Aus dem napoleonischen Ehrgeiz war Psychologie geworden“ (Hamvas 2006, 115). Doch auf einem solchen Schlachtfeld, das ist die Pointe Hamvas’, kann man sich nur selbst besiegen. Die Entsprechung trägt aber noch weiter, nimmt man die gehlensche Verortung ernst: „Daß der Bastillesturm in Deutschland nur gedacht werden konnte, während er anderswo historische Tatsache war, drückt genau die Problematik des Fichteschen Denkens aus. Fichte macht eine Voraussetzung – das handlungsfähige, wirklichkeitssetzende Subjekt –, die es in Deutschland nicht gab, die aber sein soll“ (Trebeß 2001, 38). Es gilt also zu erörtern, inwiefern Hegel dagegen diese geschichtlich-gesellschaftlichen Voraussetzungen soweit zum Gegenstand macht, dass er einerseits der materialistischen Wende vorarbeitet und andererseits doch Idealist bleibt. Hegel hat seinen Begriff von Entfremdung zwar nach dem Modell der fichteschen Wissenschaftslehre gebildet, aber derart modifiziert, dass in ihn Natur ebenso wie Geschichte eingehen konnten – und nicht zuletzt auch der bildungstheoretische Begriff von Entfremdung. Er hat damit die älteren Modelle von Rousseau, Herder, Humboldt
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und Schiller in seinen spekulativen Rahmen integriert und ihre jeweilige Differenz zum fichteschen Programm nivelliert.⁵² Zugleich hat er so konkrete Ansätze geboten, die die nachfolgende Generation, Ludwig Feuerbach, Moses Hess, Bruno Bauer und Karl Marx etwa, dankbar aufnahm und weiterverfolgte – ob nun als Entfremdung in der Religion, im Humanismus, der Geldwirtschaft oder der Arbeit bzw. allgemein in den sozioökonomischen Verhältnissen. Ob aber die idealistische „Konstruktion“, aus dem spekulativsystemphilosophischen Rahmen herausgelöst, den vermeintlich nachidealistischen Entfremdungsbegriff weiterhin als idealistisch qualifiziert, ist eine Frage, die es noch zu diskutieren gilt. Man kann jedoch bereits bei Hegel feststellen, dass er eine Fremdheit beschreibt, die seine theoretische Konstruktion aus sich heraus transzendiert. Zwar bedeutet die Selbstentäußerung des Geistes ja – das ist theologisches Erbe –, dass er sich selbst als fremd setzt. Es ist eine uneigentliche Fremdheit, die letztlich spekulativ aufgehoben wird. Doch bereits am Beginn des Geschehens muss das Entäußerte insofern als wirklich Fremdes behauptet werden, als sich die Tätigkeit des Geistes, seine Freiheit, nur an ihm zeigen kann und die Entwicklung hin zum absoluten Wissen, die als eine Rückkehr des Geistes in sich aufgefasst wird, Entäußerndes und Entäußertes zumindest in der Zeit spatiiert. Bei Hegel kommt also die Geschichte dazwischen. Und er ist deshalb bis heute so wirkmächtig. Trebeß (2001, 40) sieht hierin zugleich den entscheidenden Unterschied zu Fichtes Konzept: „Geschichte – unumgänglich für den Entfremdungsbegriff – kann darin nicht einbezogen werden. Ursprünglicher Zustand, entfremdeter Zustand und überwundene Entfremdung unterscheiden sich nicht: Alles ist gleichzeitig in Fichtes Konstruktion.“ Deshalb gebe es auch bei ihm, anders als bei Hegel, keine „Tätigkeit“, sondern nur „Tatbedürfnis“ (Trebeß 2001, 44– 45). Sein Streben bleibt ein bloßes Sollen. Von Bedeutung für die Konstellation von Entfremdung, um die es hier zunächst geht, sind vor allem die Phänomenologie des Geistes und die bekannte Gymnasialrede von 1809, die den dort entfalteten Zusammenhang in vereinfachter Form darlegt. Auch bei dieser „Rede zum Schuljahrabschluß“ geht es also nicht bloß um den partikularen bildungstheoretischen Aspekt. Er steht zwar im Vordergrund, bleibt aber stets auf das übergreifende Entfremdungsgeschehen angewiesen. Das gilt auch für Hegels Vorlesungen über die Ästhetik, die hinsichtlich der Entfremdung Gedanken entwickeln, die bereits in seinem frühen Hauptwerk von 1807 vorgebildet sind und kurz gesagt Kunst als Entfremdung des Geistes an die Sinnlichkeit verstehen. Auch hier handelt es sich um eine historisch notwendige Entfremdung als Durchgangsstadium der Aufhebung der umfassenden Entfremdung des Geistes in die Natur. Stephan Grätzel (2004, 85) spricht von „Kunst als Teilstrecke auf dem Weg zu einer Totalisierung der Geschichte des Geistes“. Begriffen wird Kunst in dieser Hinsicht allerdings erst in der Philosophie. Das bedeutet jedoch, dass Hegel das Verhältnis beider nicht nach jenem arbeitsteiligen Modell versteht, das Schellings Ästhetik bereits im System des transzendentalen Idealismus und dann in der Philosophie der Kunst leitet und das von Adorno später wei-
Darin sind sich die begriffsgeschichtlichen Rekonstruktionen von Nicolaus, Trebeß und Henning einig.
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tergeführt wird. Er setzt sich mit seiner Ästhetischen Theorie darin gerade von Hegel ab. Für Schelling fällt Kunst die Aufgabe der Darstellung des Nichtbegrifflichen und Unbewussten, genauer des unbewussten Naturprozesses zu, das Philosophie eben nicht auf den Begriff bringen kann – besonders deutlich in der Akademierede Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur von 1807. Grätzel (2004, 84) fasst daher zusammen: „Das, was also in der Kunst das Unbewusste ist, was in der Kunst zum Ausdruck kommt, was Schelling das Werk der Kunst nennt, das ist für Hegel der erste Beginn einer Versinnlichung des Geistes oder einer Vergeistigung des Sinnlichen. Diese kann aber nicht bei der Kunst aufhören, da die Kunst erst die Darstellung des Geistigen ist, nicht dessen Selbsterfassung.“ Allerdings ist auch hier Hegels Haltung durchaus ambivalent, stellt er doch den unwiederbringlichen Verlust der Einheit von Allgemeinheit und Besonderheit in der Kunst nicht ohne Wehmut fest: „Die schönen Tagen der griechischen Kunst wie die goldene Zeit des späten Mittelalters sind vorüber. Die Reflexionsbildung unseres heutigen Lebens macht es uns, sowohl in Beziehung auf den Willen als auch auf das Urteil, zum Bedürfnis, allgemeine Gesichtspunkte festzuhalten und danach das Besondere zu regeln, so daß allgemeine Formen, Gesetze, Pflichten, Rechte, Maximen als Bestimmungsgründe gelten und hauptsächlich Regierende sind“ (TW 13, 24– 25). Wie in der Gymnasialrede als fremd gewordene Bildungswelt, so ist auch hier die griechische Antike wesentlicher Referenzpunkt. Das gilt schließlich noch für seinen Begriff von Sittlichkeit und damit für seine Philosophie des objektiven Geistes. Zugleich stellt er hier ja unmissverständlich fest, dass die Wiederaneignung nur eine transformierende sein kann und dass die Herkunftswelten, auf die sie je bezogen ist, als solche unwiederbringlich verloren sind. In dieser Hinsicht gibt Hegel das Modell für eine progressive Entfremdungstheorie vor, die eben gerade nicht als Rückkehr in einen vorgängigen nichtentfremdeten Zustand misszuverstehen ist. Damit ist jedoch bereits eine Dimension von Entfremdung angesprochen, die jene Grundkonstellation, um die es mir zunächst geht, bereits ein Stück weit überschreitet. In den Grundlinien der Philosophie des Rechts spielt Entfremdung zumindest dem Begriff nach sogar eine prominentere Rolle als in Hegels frühem Hauptwerk – was schon insofern nicht verwundert, als der Ausdruck ja ursprünglich dem ökonomisch-juristischen Wortgebrauch entlehnt ist. Jenes berühmte Zitat aus den Vorlesungen über die Ästhetik verweist jedenfalls deutlich auf die etwa zeitgleich entstandene Rechtsphilosophie⁵³ und demonstriert damit den Gesamtzusammenhang, in dem beide stehen. Die besondere Entfremdung, die sie je entfalten, ist eine Variation des sich durchtragenden Entfremdungsthemas. Das gilt auch für die Phänomenologie des Geistes, die sich mit Entfremdung im engeren Sinne – also über den Gesamtprozess der Selbstentäußerung des Geistes und Rückkehr in sich hinaus –, insbesondere im Abschnitt „Der sich entfremdete Geist: Die Bildung“ auseinandersetzt, aber auch in der Dialektik der Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins (Herr und Knecht) sowie in anderer Weise im mit sich
Die erste Vorlesung zur Ästhetik hielt er 1818 – auf sie bauen die weiteren von 1823, 1826 und 1828 auf.
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entzweiten „unglücklichen Bewußtsein“. Darüber, dass dieses Werk Hegels das zentrale ist, wenn es um die Diskussion seines Entfremdungsbegriffs geht, herrscht in der Forschung nahezu Einigkeit. Während sich die Ästhetik und Rechtsphilosophie auf das dort entwickelte Modell beziehen lassen, ist die Wissenschaft der Logik diesem Zusammenhang entwachsen. Nicolaus (1995) beschränkt sich daher in seiner Darstellung der Hegelschen Entfremdungslehre auf die Schriften bis zur Bamberger Zeit.⁵⁴ Sommer (2016, 30) sieht nun aus denselben Gründen Adornos Rezeption wesentlich auf die Phänomenologie des Geistes bezogen, da sie sich noch an der Entfremdung von Subjekt und Objekt bzw. „am Gegensatz von Bewusstsein und Gegenstand abarbeitet“. Daher sei der „Standpunkt der Logik“ einer, „den negative Dialektik nie einnehmen kann“ – und wirkten Adornos Äußerungen zu diesem Werk „oft wenig gehaltvoll“ (Sommer 2016, 29). Trebeß wiederum erörtert Entfremdung ausführlich in Bezug auf die Phänomenologie und die Rechtsphilosophie und geht auch auf die Vorlesungen über die Ästhetik und die Gymnasialrede ein. Die Wissenschaft der Logik spielt bei ihm ebenso wenig eine Rolle. So nachvollziehbar diese Entscheidung auch ist, kann meine Untersuchung dieses Werk dennoch nicht ausblenden. Die dort und in der Enzyklopädie entfaltete Systemphilosophie steht schließlich bei Kierkegaard, nicht nur was die polemische Kritik etwa in der Nachschrift angeht, im Zentrum. Doch auch für Adorno ist sie mindestens als Negativfolie von Bedeutung, um sich selbst zu positionieren – und zwar bereits im Kierkegaardbuch. Es geht mir hier ohnehin nicht bloß darum, die Geschichte des Entfremdungsbegriffs bei Hegel zu rekonstruieren, sondern um die Frage, inwiefern sich – mit Adorno und Kierkegaard – die Form, die er ihm aufprägt, selbst als eine Entfremdung im Denken ausweisen lässt. Und hier ist die Logik ungleich relevanter. Sie ist zwar selbst Resultat des in der Phänomenologie dargelegten Entfremdungsprozesses. Ich meine aber, dass sich dessen Dialektik dort ebenso wiederfindet. Nachvollziehen lässt sich das etwa am Gang vom endlichen Urteil über das negativ-unendliche zum positiv-unendlichen. Darum wird es im Abschnitt zu Hegels Begriff von Totalität und seiner Kritik durch Adorno gehen. Hegel nimmt wie gesagt den früheren, aber noch partikularen bildungstheoretischen Entfremdungsbegriff in ein allumfassendes Entfremdungsgeschehen auf. Damit ist aber noch nicht ausgemacht, ob so auch Bildung im engeren Sinne in die Spekulation hineinschrumpft oder nicht vielmehr das bildungstheoretische Modell von Entfremdung universalisiert wird.⁵⁵ Die Behauptung aus der Rechtsphilosophie, dass sich „die Bildung als immanentes Moment des Absoluten“ (TW 7, 345) erweist, lässt sich in beide Richtungen deuten. Im Grunde ist diese Frage gar nicht mehr zu entscheiden, da in der Phänomenologie des Geistes Entfremdung und ihre Aufhebung ja als ein Erkenntnisprozess hin zum absoluten Wissen als dem Horizont der Entwicklung entfaltet wird. In dieser Weise ist nun Bildung auf allen Stufen gegenwärtig – aber nicht unterschiedslos. Lediglich auf die Geschichts- und die Rechtsphilosophie geht er im abschließenden Kapitel ein (insbesondere 255 – 265). Sie interessiert ihn aber vor allem im Hinblick auf ihre Rezeption durch Marx, dessen Entfremdungsbegriff er gegenüber dem Hegels als einen einseitigen darzustellen versucht. Letzteres behauptet Trebeß (2001, 45).
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I Ein Vorbegriff von Entfremdung
Jedenfalls ist es in den Grundlinien der Philosophie des Rechts nun konsequenterweise die allgemeine Bildung, die den Weg weist. In ihrer „absoluten Bestimmung“ ist sie „Befreiung“ im emphatischen Sinne, „nämlich der absolute Durchgangspunkt zu der nicht mehr unmittelbaren, natürlichen, sondern geistigen, ebenso zur Gestalt der Allgemeinheit erhobenen unendlich subjektiven Substantialität der Sittlichkeit“ (TW 7, 344– 345).⁵⁶ Hegel setzt sie dabei ausdrücklich von einer verdinglichten und funktionalisierten ab, die Adornos Bestimmung der Halbbildung vorwegnimmt: „wenn die Bildung dort als etwas nur Äußerliches […], hier als bloßes Mittel für jene Zwecke betrachtet wird“ (TW 7, 344). Sie ist, für Hegel wie für Adorno, in ihrer Partikularität gerade Ausdruck der Entzweiungen der Moderne und kann deshalb nicht einlösen, was jener der Bildung zumutet. Sie soll, auch auf der Ebene des Einzelsubjekts, letztlich nicht weniger als die Entfremdung von Subjekt und Objekt überwinden: „daß der subjektive Wille selbst in sich die Objektivität gewinnt, in der er seinerseits allein würdig und fähig ist, die Wirklichkeit der Idee zu sein“ (TW 7, 345). Zwar beerbt Adornos emphatischer Begriff von Kultur durchaus Hegel und den in ihn eingegangenen humanistischen Bildungsbegriff von Herder, Humboldt, Schiller und anderen. Bildung ist dabei, wie er in der Theorie der Halbbildung feststellt, „nichts anderes als Kultur nach der Seite ihrer subjektiven Zueignung“ (GS 8, 94). Gleichwohl kann er in sie, aufgrund der geschichtlichen Erfahrung, nicht mehr vertrauen. Die Halbbildung, die den vermeintlichen Widerspruch des kunstsinnigen Nazis erst ermöglicht (GS 8, 94), ist Ausdruck einer realen Entfremdung, die sich in einer ganzheitlichen Bildung nicht mehr aufheben lässt. Adornos Bildungsbegriff vertritt deren Ideal allenfalls, wie sich zeigen wird, in Form der Statthalterschaft. Bei Hegel dagegen dient der totalisierte Begriff von Bildung gerade dazu, Entfremdung als überwindbar darzustellen, indem sie in eine Dialektik der Erkenntnis überführt wird. Hier ist nun der Ansatzpunkt für Kierkegaard, das idealistische bzw. hegelsche Entfremdungsdenken selbst als entfremdetes auszuweisen. Er beseitige die Schwierigkeit der konkreten Existenz einfach, indem er sie im Medium des reinen Denkens verhandle. Auch Adorno beschreibt Entfremdung in dieser Hinsicht als Abstraktion im Dienste der Appropriation dessen, was sich nicht fügt. Und das ist eben jene ganz reale Entfremdung, die Hegel im Begriff der „Entzweiung“ durchaus erfasst, den dann Kierkegaard folgerichtig als existenzielle Verzweiflung gegen ihn wendet. Trebeß (2001, 65) bringt es auf den Punkt: „Die Entzweiung ist nicht aufzuheben – Entfremdung dagegen wohl: in der Philosophie.“ Im Abschnitt „Der sich entfremdete Geist: Die Bildung“ der Phänomenologie, wo sich Entfremdung auch dem Begriff nach findet, platziert Hegel ebenfalls die manifeste Kritik der Aufklärung, die untergründig ohnehin das ganze Werk durchzieht. Bildung im Verständnis Hegels ist hier nicht zuletzt das versöhnende Moment, das die Krise der
Hegel greift nun eindeutig auf die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft aus der Phänomenologie zurück, wenn er meint, dass diese Befreiung „harte Arbeit“ sei – und zwar nicht zuletzt „gegen die Unmittelbarkeit der Begierde“ (TW 7, 345).
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Aufklärung – als Entzweiung⁵⁷ des Menschen mit sich und seiner tradierten (sozialen) Welt – rückbindet in einen historischen Gesamtprozess. Damit wird Zeitkritik in eine Kritik der Geschichte überhaupt transformiert und neutralisiert – wogegen sich dann auch der Protest Kierkegaards richtet. Nicht zuletzt deshalb lässt sich Hegels spekulatives Konzept nicht mehr als Entfremdungskritik verstehen. Freilich lassen sich Ansätze hierzu in seinen oft sehr zeitspezifischen Einlassungen insbesondere der Vorreden finden, und es wird aus der Vogelperspektive seiner Dialektik der Geschichte die Kritik der Gegenwart zumindest als indirekte möglich. Indem sie der vorbürgerlichen Gesellschaft gilt, steht sie zugleich Versuchen ihrer Restauration entgegen. Mir geht es aber um etwas anderes. Während zunächst die Voraussetzung der Geschichtlichkeit des Entfremdungsgeschehens gegeben scheint, tendiert in der theologisierenden Deutung „der Weltgeschichte, als dem Weltgerichte“ (TW 7, 503) diese selbst wiederum dazu, ahistorisch zu werden. Sie wird als Weltgeist oder -seele zu einem metaphysischen⁵⁸ Prinzip, das letztlich, in der Sphäre des objektiven Geistes, die Versöhnung von Natur und Geist bzw. Geschichte stiften und damit dessen Selbstentfremdung aufheben soll. Gleichwohl antwortet Hegel ja auf die ganz reale Entfremdung in der Moderne – daher überhaupt das Bedürfnis, sie in der Philosophie aufzuheben. In dieser Perspektive kommt es zu der paradoxen Situation, dass seine übermächtige welthistorische Dialektik im Grunde eine Reaktion auf das Ende der Weltgeschichte als Kontinuität ist, womit zugleich besagte Enthistorisierung unterlaufen wird. Joachim Ritter (1957, 30) rückt das „Problem dieser geschichtlichen Diskontinuität“, das Auseinanderbrechen von „Herkunft“ und „Zukunft“ – wie es ja auch die Kritik der Aufklärung im Bildungsabschnitt der Phänomenologie zum Gegenstand hat – ins Zentrum seiner Untersuchung zu Hegel und der französischen Revolution. Er zeigt auf, dass sie das eigentlich motivierende ist. In dieser Diremtion der Zeitverhältnisse, die als das Charakteristische der Moderne überhaupt, ihre differentia specifica angesehen werden muss, spricht sich unmissverständlich eine Erkenntnis aus, die Hegel noch spekulativ bzw. bildungstheoretisch entschärft, der sich Kierkegaard und später – im Hinblick auf die gesellschaftliche Entwicklung ungleich reflektierter – die Dialektik der Aufklärung dann aber stellen müssen: dass sich die Moderne in einer Weise als mit sich entzweit erweist, dass diese Entfremdung schlechthin nicht mehr aufzuheben ist.
Vgl. Trebeß 2001, 45: „Vor allem im Terminus Entzweiung aber werden die Probleme der Moderne nach der französischen Revolution reflektiert.“ Zumindest gilt das, wenn man wie Kierkegaard bereit ist, Hegel das Etikett des Metaphysikers anzuheften.
II Entfremdung nach Kierkegaard Unter Rückgriff auf die zuvor unterschiedenen Modelle von Entfremdung geht das zweite Kapitel der Frage nach, inwiefern sich bei Kierkegaard Ansätze einer Theorie der Entfremdung finden, die ihrem modernen Begriff entsprechen. Darauf werden seine Deutung der Erbsündenlehre, sein Konzept von Verzweiflung und das des Dämonischen befragt. In zweierlei Weise bereitet das Kapitel so die Grundlage für die anschließende Analyse von Adornos Buch über Kierkegaard und den Theorievergleich zwischen beiden: indem es vorab den Anspruch einlöst, dessen Denken jenseits der Interpretationsschemata des Frankfurters in seiner Eigenständigkeit zur Geltung zu bringen und indem es die Anschlussfähigkeit bestimmter Entfremdungsmotive demonstriert. Zudem ist die zuletzt angesprochene Kritik Kierkegaards am hegelschen Denken, das von der konkreten Lebenswirklichkeit des Menschen abstrahiere und so dessen Entfremdung nur uneigentlich beschreibe, in Grundzügen zu umreißen. Sie ist schließlich auch von seiner Zeitdiagnose nicht zu trennen. An erster Stelle gilt es jedoch ein offensichtliches Problem zu erörtern: Bei Kierkegaard ist das Entfremdungsdenken religiös fundiert bzw. überformt, was ihn vorab in eine unüberbrückbare Distanz zu Adorno zu bringen scheint. Dabei eröffnet gerade dessen Konzept einer inversen Theologie neue Perspektiven auf den ambivalenten Charakter des Religiösen bei Kierkegaard.
1 Inverse Theologie und verkehrte Welt Wo es im Folgenden um die Anverwandlung theologischer Denkfiguren im Rahmen einer Theorie der Entfremdung geht, geschieht das ausdrücklich in philosophischer Perspektive. Das bedeutet für die Auseinandersetzung mit Kierkegaard, wie Theunissen (1996, 66) es ausdrückt, das, was „noch nicht argumentativ eingeholt ist“, zunächst in einer „cartesianischen Klammer“ einzuschließen. Wo sich der Däne selbst derart bescheidet, was eben nicht immer der Fall ist, spricht Adorno von „großer intellektueller Redlichkeit“ (GS 2, 253). Das bedeutet jedoch keineswegs, die theologischen Voraussetzungen seines Denkens auszublenden, was gerade für den systematischen Schwerpunkt dieser Untersuchung verzerrend wäre. Zudem erprobt Kierkegaard die Möglichkeiten des Religiösen ausdrücklich unter den Bedingungen einer säkularisierten Moderne – im Sinne jener „großen Entbettung“ – und ist darin auch für Adornos ambivalente Haltung zur Theologie Vorbild. Überhaupt handelt es sich selbst bei Kierkegaards Aneignung dogmatischer Gehalte – etwa der Lehre von der Erbsünde – oft um eine ausdrücklich philosophische Interpretation. Er ist darüber hinaus, wie Wilhelm Anz (1980, 58) argumentiert, gerade aufgrund seiner„Gebundenheit an die Subjektivität des Idealismus […] obwohl christlicher Denker, von der vorhergehenden christlichen Tradition geschieden. […] Kierkegaard ist kein lutherischer Theologe, der aus apologetischem Anlaß auch idealistische Begriffe verwendet, wie das Luther mit Aristoteles getan hat.“ Zwar hat Kierkegaard die Philosophie zu einem „untergeordneten Moment in einem Ganzen https://doi.org/10.1515/9783111010342-004
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relativiert“ (Theunissen 1993, 8), was allerdings nicht zum Missverständnis führen sollte, die religiöse Natur desselben mit Theologie gleichzusetzen: „Denn die Theologie degradiert Kierkegaard genauso zur Magd wie die Philosophie“ (Theunissen 1993, 8). Zumindest wahrte er durchweg eine Distanz zu ihrer universitären, kanonisierten Form, was seine Entsprechung auch in der Darstellung findet. Beides drückt sein Selbstverständnis des „religiösen Schriftsteller[s]“ (WS, 11 / SKS 13, 23) aus, der, so Markus Kleinert (2019, 13), „eine ästhetische Existenz religiös begründen und eine religiöse Existenz ästhetisch absichern will“. Was Adorno angeht, so fällt zunächst auf, dass in sämtlichen Untersuchungen, die sich mit der Herkunft und dem Geltungsanspruch theologischer Denkfiguren in seiner Philosophie auseinandersetzen, Kierkegaard bestenfalls am Rande eine Rolle spielt. Deuser bildet hier, neben Kodalle, freilich eine Ausnahme. Dabei sei, so stellt er zu Recht fest, „Kierkegaard der einzige Theologe, mit dem Adorno sich intensiver eingelassen hat“ (Deuser 1980, 106). Davon abgesehen wurde die konsequente Auseinandersetzung mit Adornos theologischen und insbesondere den eschatologischen Motiven bisher vor allem von Seiten der Theologie gesucht. Das führt, etwa bei Ulf Liedke (1997; 2002), bisweilen dazu, dass sein philosophisches Denken nun, konträr zu Adornos Verfahren, in den theologischen Rahmen reintegriert wird.¹ Dagegen orientiere ich mich an seiner Selbstzuschreibung einer „inverse[n] Theologie“ (BW 1, 90).² Den Begriff der Inversion verstehe ich gleichwohl nicht bloß im Sinne einer Transponierung und Säkularisierung. Für Adorno, der die Religionskritik, ganz im Sinne von Marx (vgl. MEW 1, 378), für beendigt hielt und Theologie schlicht für überholt,³ steht einerseits zwar fest: „Nichts an theologischem Gehalt wird unverwandelt fortbestehen; ein jeglicher wird der Probe sich stellen müssen, ins Säkulare, Profane einzuwandern“ (GS 10/2, 608). So äußert er sich in „Vernunft und Offenbarung“, einem kurzen Text, der auf einen Radiobeitrag von 1957 zurückgeht. Andererseits beharrt er im Brief an Benjamin vom 17. Dezember 1934 gerade auf der Differenz zwischen göttlicher und menschlicher Perspektive, die mit der Übertragung eben auch ins Profane einwandert. Damit unterläuft er aber die einfache Entgegensetzung zweier Welten. Es ist ein „Standort gegen naturale und supranaturale Interpretation zugleich“ (BW 1, 90), den er an dessen Kafka-Essay abliest.⁴ Allerdings verweist er darauf, dass es auch Kierkegaard um nichts anderes zu tun gewesen sei, als um einen solchen Standpunkt. Das ist durchaus bemerkenswert. Schließlich hält dieser René Buchholz (1991) wiederum möchte Adornos Philosophie als „Anstoß zu einer kritischen Fundamentaltheologie im Kontext der späten Moderne“ verstanden wissen. Weitaus häufiger spricht er schlicht von „negativer Theologie“ – ein Begriff, der ebenfalls auf den Aspekt der Verkehrung abzielt und nicht mit der gleichnamigen, dem Platonismus entstammenden theologischen Denktradition zu verwechseln ist (vgl. NL 4/9, 498). Vgl. Türcke 2004. Ähnlich argumentiert, unter besonderer Berücksichtigung seiner Aufnahme der feuerbachschen Religionskritik, Dimitrij Owetschkin (2008). Er äußert sich dort überschwänglich zu Benjamins Deutung – freilich nicht, ohne wie so oft anzumerken, ähnliche Gedanken schon zuvor entwickelt zu haben. Das lässt sich aber nicht mehr nachvollziehen. Seine eigenen „Aufzeichnungen zu Kafka“, an denen er seit 1942 gearbeitet hatte, erschienen erst 1953 (vgl. GS 10/2, 839).
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II Entfremdung nach Kierkegaard
doch am „unendlichen qualitativen Unterschied“ (EC, 135 / SKS 12, 143) in einer nicht invertierten Weise fest.⁵ Das Fortbestehen dieser Fundamentalunterscheidung in ihrer Inversion fasst Adorno im Brief an Benjamin in einem Bild, das hier auf Kafkas Licht- und Spiegelmetaphorik verweist, in der Philosophiegeschichte als Metapher für die menschliche Erkenntnis aber ohnehin geläufig ist: das der Camera Obscura, die das Abgebildete seitenverkehrt und auf dem Kopf stehend projiziert. Auch Marx und Engels bedienen sich dieses Bildes.⁶ Bei Adorno ist damit aber, wie bei Kafka, eine mehrfache Spiegelung gemeint, wie Daniel Weidner argumentiert: [E]r nutzt die Möglichkeit der Unterscheidung gerade dadurch, dass er ihr die Selbstverständlichkeit nimmt. Die ‚Inversion‘ der Theologie ist daher auch etwas anderes als ihre Anwendung, als die Profanisierung oder Übersetzung in philosophische oder politische Theorie. Denn auch wenn man sie vom Kopf auf die Füße stellt, aus der Theologie also etwa Psychologie macht, verschwindet jene Differenz nicht einfach. Die ‚Übertragung‘ theologischer Kategorien erweist sich daher als höchst komplexes Unternehmen. (Weidner 2012)
Tatsächlich bedeutet das –Weidner belässt es bei dieser Andeutung – gewissermaßen eine Umkehrung der ideologiekritischen Perspektive von Marx, die Religion als „richtigen“, d. h. adäquaten Ausdruck einer verkehrten Gesellschaft versteht (vgl. MEW 23, 86). Adorno wird, vereinfacht gesagt, die tradierte, nicht invertierte Theologie nun zum falschen Ausdruck des Richtigen. Die Konsequenz der Inversion ist jedenfalls ein Blick, der die Welt selbst als verkehrte offenbart. Sie ist der umfassendste Ausdruck universaler Entfremdung.⁷ Diese Denkfigur – samt ihrer der Optik entstammenden Metaphorik –, die am prominentesten wohl im Schlussaphorismus der Minima Moralia entfaltet wird, kann als eine der grundlegendsten Adornos gelten, gibt sie doch auch der negativen Dialektik und schließlich dem Übergang in ästhetische Theorie die Stoßrichtung vor. Erst in dieser verfremdenden Perspektive, „vom Standpunkt der Erlösung aus“ (GS 4, 283), tritt die Entstelltheit überhaupt ans Licht. In ähnlicher Weise ist bereits im Kierkegaardbuch vom „göttliche[n] Blick, der als intellectus archetypus auf die entfremdeten Dinge geht“ (GS 2, 60) die Rede. Andererseits ist es die verkehrte Welt selbst, die die Theologie zur Inversion nötigt und ihre Modernität begründet. Sie zeichnet gerade Kierkegaards religiöses Selbstverständnis aus, angesichts einer Gegenwart, die eben auch dort eine säkularisierte ist, wo sie sich noch als eine christliche versteht. Nicht
Karl Barth (2010, 63) verdankt diese bekannte Formel Kierkegaard Vgl. MEW 3, 26: „Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebensosehr aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen. Ganz im Gegensatz zur deutschen Philosophie, welche vom Himmel auf die Erde herabsteigt, wird hier von der Erde zum Himmel gestiegen.“ Vgl. Hühn 2009, 218 – 221. Der Ausdruck „verkehrte Welt“ findet sich übrigens, in Bezug auf das – mehrfach gespiegelte – Verhältnis von „wahrgenommener“ und „übersinnlicher Welt“, bereits bei Hegel: TW 3, 127– 131.
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nur ist diese als verweltlichte aus seiner Sicht verkehrt, die Gottesbeziehung des Einzelnen selbst ist dergestalt invertiert, dass die Anwesenheit Gottes einzig an seiner Abwesenheit sich erfahren lässt, also negativistisch zu erschließen ist. Hieraus folgen seine methodischen Versuche, als religiöser Schriftsteller diesem Umstand gerecht zu werden. Denn indirekte Mitteilung zielt nicht nur im Sinne eines im Mitgeteilten bzw. seiner literarischen Darstellung nicht Anwesenden auf ein Abwesendes, sondern auch in der Weise, dass es als Seinsollendes vom Adressaten erst praktisch hervorzubringen ist. Darum wird es im folgenden Kapitel gehen. Zunächst ist es aber wichtig, festzuhalten, was die Figur des abwesenden Gottes bei Kierkegaard impliziert. Es ist nicht der Deus absconditus der Tradition, der ja die prinzipielle Nichterkennbarkeit Gottes meint und bei Luther im Gegensatz zum Deus revelatus, als dem in der Geschichte sich offenbarenden, steht. Vielmehr erweist sich seine Abwesenheit selbst an der historischen Erfahrung. Kierkegaard steht somit vor der spezifisch modernen Herausforderung, diese Zeitdiagnose mit der theologischen Voraussetzung der Präsenz Gottes zusammenzudenken (vgl. Hühn 2009, 218 – 219), die als dessen Menschwerdung und als seine Wirksamkeit im heiligen Geist ja zum Kerngehalt des Christentums gehört. Das ist nun theologisch formuliert nicht weniger als das Prinzip der Dialektik im Sinne Hegels, die bekanntermaßen nicht zuletzt dort auch ihren Ursprung hat. Es ist somit kein Zufall, dass Adorno sich gerne theologischer Bilder bedient, um die vorgängige Anwesenheit des Seinsollenden im Zustand seiner (totalen) Entfremdung zu behaupten. Und mehr noch diagnostiziert auch er in der historischen Entwicklung des Christentums, in seinem Erfolg in der Welt, eine zunehmende „Neutralisierung“ des unendlichen qualitativen Unterschieds und damit seines Wahrheitsanspruchs (vgl. Owetschkin 2008, 33). Es ergeht diesem darin jedoch im Grunde nicht anders als der Sphäre des (absoluten) Geistes überhaupt, der in seinen verschiedenen Erscheinungsformen verdinglicht, d. h. letztlich auf funktional handhabbare, warenförmige Kulturund Bildungsgüter heruntergebrochen wird. Damit verliert Religion nicht nur faktisch, sondern auch ideengeschichtlich ihre herausgehobene Stellung. Diese Entwicklung lässt sich freilich in anderer Weise bereits Hegel anlasten, weshalb der Däne ihn ja so vehement attackiert. Adorno macht sich gleichwohl in sozialkritischer Hinsicht dessen Zentralbegriff der„Nivellierung“ zu eigen, was er offen bekennt.⁸ Kierkegaards Diagnose gilt sowohl gesellschaftlichen Erscheinungen, insbesondere den von ihm in ihrem Frühstadium beschriebenen Massenphänomenen, als auch dem spekulativen Systemdenken. Es ist, wie sich zeigen wird, ebenfalls dieser Doppelcharakter, den Adorno übernimmt. Der Unterschied besteht aber darin, dass seine Kritik an einer Einebnung jener Fundamentaldifferenz in einer allumfassenden Immanenz – der berüchtigte Verblendungszusammenhang –, die durch den (hypothetischen) Transzendenzbezug erst sichtbar wird, ohne diesen als solchen auskommt. Zu kritisieren sind gesellschaft-
Vgl. GS 2, 256. Der von ihm bevorzugte Ausdruck „Neutralisierung“ findet sich bei Kierkegaard nur selten. In der Magisterdissertation ist beispielsweise von einer „Neutralisierung des Gebets“ die Rede (BI, 182 / SKS 1, 224).
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II Entfremdung nach Kierkegaard
liche Verhältnisse nicht, weil sie verweltlichte sind, sich Gott entfremdet haben, sondern wegen des ihnen immanenten Anspruchs, in ihrem So-sein alles zu sein. Überhaupt soll im Folgenden der grundlegende Dissens zwischen Adorno und Kierkegaard nicht aus dem Blick geraten, der in der verkehrten Welt, der universalen Entfremdung, ebenso zutage tritt, wie sich darin die Nähe beider im Modus des Denkens bezeugt. So stellt sich für die Untersuchung letztlich die Frage, ob oder inwieweit nicht die Blickrichtung Kierkegaards, wie Adorno andeutet, doch eine andere ist: „Die Lichtquelle, welche die Schründe der Welt als höllisch aufglühen läßt, ist die optimale. Aber was der dialektischen Theologie Licht und Schatten war, wird vertauscht. Nicht wendet das Absolute dem bedingten Geschöpf seine absurde Seite zu – eine Doktrin, die schon bei Kierkegaard zu Ärgerem führt als bloß der Paradoxie […]. Sondern die Welt wird als so absurd enthüllt, wie sie dem intellectus archetypus wäre“ (GS 10/2, 284). Keine Frage allerdings, dass Adorno den theologischen Grundimpuls des Einspruchs gegen die „Verherrlichung des Allerabsurdesten“ (GS 4, 110), d. h. die Verklärung des faktisch Erkannten, mit Kierkegaard und hier gegen Nietzsche verteidigt. Darin liege, viel eher als im Gegenteil, also der Ausrichtung aufs Jenseits, das „Verbrechen der Theologie“ (GS 4, 110). Schon diese einleitenden Bemerkungen geben einen Eindruck davon, wie verwickelt Adornos Inversion der Theologie ist und dass es tatsächlich vor allem darum geht, der Unterscheidung immanent-transzendent das Selbstverständliche zu nehmen. Das heißt nicht zuletzt, den totaler Immanenz selbst inhärenten Anspruch auf Absolutheit infrage zu stellen, ohne sich auf die andere Seite zu schlagen: „Kein Absolutes ist anders auszudrücken als in Stoffen und Kategorien der Immanenz, während doch weder diese in ihrer Bedingtheit noch ihr totaler Inbegriff zu vergotten ist“ (GS 6, 399). Theologische Motive haben dabei für Adorno eine hermeneutische Funktion. Sie sollen jene Immanenz aufschließen und damit Perspektiven von Praxis im emphatischen Sinn erschließen. Deren behauptetes Verstelltsein kann so gesehen ebenfalls in einem hermeneutischen Sinn verstanden werden. Das führt Adorno, wie sich zeigen wird, nicht nur am Rätselcharakter der Kunst, sondern auch an der Chiffriertheit von Kierkegaards Schriften vor.
2 Die Lehre von der Erbsünde als anthropologisches Modell von Entfremdung Lange bevor dem Begriff der Entfremdung die heutige Bedeutung zukam, war er in der Theologie bereits in zwei verschiedenen Weisen geläufig, und zwar, wie auch im modernen philosophischen Diskurs, erstens in einer positiven – Entweltlichung als EntEntfremdung – sowie zweitens, und überwiegend, in einer negativen Form. Hier ist Entfremdung nichts anderes als Sünde, also ein negativer Zustand im Sinne eines Nichtseinsollenden. Sünde bedeutet Getrenntsein bzw. Entferntsein von Gott, damit aber zugleich – christlich-anthropologisch – eine Entfernung von oder einen Widerspruch mit sich selbst (vgl. Schwöbel 2006). In diesem Sinne taucht Entfremdung als Begriff im
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deutschen Sprachraum bereits in Luthers Bibelübersetzung wiederholt auf, wo es beispielsweise von den Heiden heißt, „sie sind entfremdet dem Leben, das aus Gott ist“⁹. Wenngleich hier noch der vormoderne Partikularismus mitschwingt, ist damit in theologischer Hinsicht beschrieben, was in philosophischer Entfremdung vom eigenen Wesen genannt wird. Bezeichnet Sünde den Zustand, so ist der Sündenfall und die aus ihm folgende Erbsünde die Erklärung ihrer Genese. Es ist „das dogmatische Problem“, das der Angstabhandlung laut Untertitel zugrunde liegt und einerseits die Herkunft der Sünde, andererseits die Anthropogenese aus christlicher Sicht beschreibt. Die Erzählung aus der Genesis wäre aber für eine philosophische Untersuchung nicht so interessant, wenn sich aus ihr nicht allgemeingültige anthropologische Bestimmungen ableiten ließen. Auch Hegel erkennt darin „die ewige Geschichte des Geistes […], den ewigen Mythus des Menschen, wodurch er eben Mensch wird“ (TW 12, 389).¹⁰ Kierkegaards Deutung verstehe ich darüber hinaus explizit als eine philosophische, nicht zuletzt da er sie in einer Kritik an „traditionellen Begriffen“ (BA, 36 / SKS 4, 336) der Theologie entwickelt, die insbesondere dem Verhältnis Adams zur Gattungsgeschichte gilt. Wichtigste Vorlage für sein Verständnis der Erbsünde im Hinblick auf die Entfremdungsdiagnose sind ihm Schellings Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit: Es ist, so Lore Hühn (2009, 183), der Versuch, „unter den spezifisch neuzeitlichen Bedingungen die klassische Sündentheologie und Hamartiologie für eine strukturelle Analyse heranzuziehen, um in aller Schärfe Entfremdungsphänomene als solche identifizieren zu können“. Charakteristisch für die Anthropologie Kierkegaards ist das Ineinanderblenden von onto- und phylogenetischer Perspektive – ausgehend von Adam, dem ersten Menschen, der als Individuum „gleichzeitig er selbst und die Gattung“ (BA, 35 / SKS 4, 336) ist. So bedeutet der Sündenfall gattungsgeschichtlich eine Herauslösung aus einem paradiesischen Zustand der Einheit mit sich und der Welt, der sich im Individuum in verschiedenen Stadien wiederholt. Dieses Heraustreten ist zugleich ein Auseinandertreten, eine Entzweiung mit sich selbst. Der Moment, in dem der Geist aus seinem „Traum“ erwacht, ist der, in dem sich der Mensch als „Synthese“, zu der er sich verhalten muss, konstituiert (BA 50 – 55 / SKS 4, 347– 351). Es handelt sich um einen Prozess der Freisetzung, der mit Angst einhergeht. Kierkegaards Ausführungen in den ersten beiden Kapiteln gelten jedoch lediglich der Möglichkeit der Freiheit – und sind als solche zugleich als eine „Theorie oder Logik der Freiheit“ (Eichler 1992, 218 – 219) zu lesen –, während ihre Wirklichkeit, d. h. der Zustand nach dem Sündenfall, erst im vierten Kapitel Gegenstand ist. Sie zeigt sich als in sich selbst befangene Freiheit, die Sünde ist, und aus der sich der Mensch je aufs Neue herausarbeiten muss. Entfremdung wird hier also als Freiheitsverlust verstanden, was im Prinzip für jede Theorie der Entfremdung gilt. Die Differenzen ergeben sich daher wesentlich aus dem
Eph 4,18, zitiert nach der Lutherbibel 2017. In der Vulgata heißt es: „alienati a vita Dei“. Er betont dabei die Differenz zur Beschränktheit insbesondere des griechischen Geistes (TW 12, 387).
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II Entfremdung nach Kierkegaard
zugrunde gelegten Begriff von Willensfreiheit, Handlungsfreiheit oder Freiheit als Selbstübereinstimmung (Authentizität). Letzteres ist für Kierkegaard das leitende Verständnis. Er identifiziert Freiheit mit dem Selbst schlechthin und übt zugleich Kritik an klassischen Vorstellungen der Willensfreiheit. Allerdings kann das Selbst nur Freiheit sein und mit sich selbst übereinstimmen, insofern es eben ein Verhalten zu sich ist. Das setzt eine grundlegende Nichtübereinstimmung mit sich und mehr noch eine Unverfügbarkeit der eigenen Bedingungen voraus. Wie Kierkegaard dieses komplexe Verhältnis versteht, gilt es nachfolgend in einem ersten Schritt an der berühmten Anfangspassage der Krankheit zum Tode zu erörtern.Vorerst ist aber entscheidend, dass er, was Freiheit konkret bedeuten kann, aus der Negation der Unfreiheit, d. h. ihrer entfremdeten Gestalt ableitet. Daher auch die Kritik an einem liberum arbitrium, das nirgends zu Hause sei (BA 131 / SKS 4, 424) – er bezieht sich dabei auf Leibniz’ Theodizee. Dass die Wirklichkeit der Freiheit in dieser Weise Sünde ist, meint zunächst eine Schuldverstricktheit in eine Vergangenheit, die der Einzelne in seiner unfreien Situiertheit übernehmen muss, auch wenn er sie nicht verschuldet hat. Kierkegaard steht in dieser Hinsicht späteren theologischen Deutungen der Erbsünde – etwa bei Paul Tillich¹¹ – ebenso nahe, wie existenzphilosophischen Bestimmungen des Verhältnisses von Faktizität bzw. Situation und Freiheit des Menschen. Dabei hat die so verstandene Wirklichkeit der Freiheit eine explizit historische, nicht bloß allgemein gattungsgeschichtliche Dimension. Nicht umsonst stellt Kierkegaard ihrer Behandlung das dritte Kapitel voran, das sein Verständnis von Zeitlichkeit und Geschichte entfaltet. Es enthält, wie schon erwähnt, einen in der Forschung wenig beachteten Entwurf einer Epochengeschichte des Geistes und der Angst, der in eine Kritik an der Geistlosigkeit seiner Zeit mündet. Kierkegaard konstatiert dabei einen Prozess der Entfremdung, als Abkehr von der Möglichkeit einer rückhaltlosen Erkenntnis der eigenen Daseinsbedingungen, die für ihn historisch mit dem Christentum gegeben ist, in der falschen Christenheit seiner Zeit jedoch verdrängt wird. Vor diesem Hintergrund lässt sich im Anschluss an Kierkegaard Entfremdung als anthropologische in Bezug auf ihre Geschichte und im Verhältnis zu individueller Selbsttäuschung erörtern. Letztere ist wiederum in ihrer historischen und gesellschaftlichen Dimension eingebunden in „kollektive Selbstverblendungsstrukturen“¹². Zur Dialektik der Aufklärung Aufschlussreich für das Anliegen dieser Untersuchung sind die Parallelen der Angstabhandlung zum ersten Kapitel der Dialektik der Aufklärung. Zwar bekunden dessen Thesen keinen direkten Bezug zu Kierkegaard, Adorno entwickelt aber in der Konstruktion des Ästhetischen bereits einige der zentralen Denkfiguren des gemeinsam mit
Vgl. Tillich 2017, 344– 358. Er spricht von einer „Neuinterpretation“, die sich als „Werkzeug“ des Entfremdungsbegriffs bediene (345) und knüpft dabei nicht nur an die Existenzphilosophie, sondern explizit auch an Marx’ Umdeutung des hegelschen Begriffs von Entfremdung an (344). Dietz 2006, 186. Bei ihm ist ausdrücklich von Formen der Verdinglichung die Rede.
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Horkheimer verfassten Werks – etwa den Begriff des Mythischen und die Dialektik von Naturbeherrschung, bzw. die Kritik an naturbeherrschender Vernunft. Wenngleich sich diese Kritik zunächst gegen Kierkegaard richtet, zeigt doch sein Modell einer Dialektik der Aufklärung zahlreiche Entsprechungen zu dessen philosophisch-psychologischer Deutung der Erbsünde bzw. des Sündenfalls.¹³ Im Rückgang auf die Urgeschichte der Subjektivität beschreiben Adorno und Horkheimer die Genese der Entfremdung bzw. Verdinglichung vor dem Hintergrund einer ursprünglichen Freisetzung aus einem naturhaften Gebundensein. Angst kommt dabei durchaus eine funktional ähnliche, wenngleich nicht so prominente Rolle zu wie bei Kierkegaard. In der Forschung hat man dem bisher wenig Beachtung geschenkt.¹⁴ Auf ihre Bedeutung verweist Kipfer: Der Prozess solcher Befreiung geht einher mit einer „Angst, welche in zunächst mythischen kognitiven Mustern aufgefangen und stabilisiert wird. Hier bricht die Rationalität ein als Instrument der Stabilisierung und setzt die als ‚Dialektik der Aufklärung‘ bezeichnete Dynamik in Gang“ (Kipfer 1998, 142). Gerade der Mythos, auch wenn er in seiner Rationalität bereits über sich hinausweist, zeigt paradigmatisch jenes (rück‐)einbindende Moment und ist insofern Vorbild des Umschlags ins Mythische in der Moderne. Er steht für das, was sozusagen von Natur aus Geltung hat bzw. beansprucht, sich also der Rechtfertigung entzieht und daher größtmögliche Sicherheit gewährt – und das betrifft dann eben auch die Rationalität selbst. Dabei ist Angst nicht nur im Moment ursprünglicher Entbindung gegenwärtig, sondern das, was die Dialektik der Entfremdung je antreibt. Adorno meint gar, Verdinglichung und „die mit ihr verkoppelte Entfremdung“ werde „von Angst reproduziert“ (GS 6, 191). Es ist also die anthropologische Verfasstheit des Menschen, selbst an historische Bedingungen der Möglichkeit ihrer Bewusstwerdung gebunden, die jene Fluchtbewegung ermöglicht, die als nichtseinsollende Entfremdung, eben als Selbstverlust zu verstehen ist. Gerade daran zeigt sich, wie eine solche anthropologische und urgeschichtliche Erweiterung des Entfremdungs- bzw. Verdinglichungsbegriffs nicht die Möglichkeit zur Zeitdiagnose und Kritik nimmt, sondern bestimmte Entwicklungen erst verständlich werden lässt. Angst ist für Adorno zugleich Index des Anderen der Entfremdung: „Die Kraft zur Angst und die zum Glück sind das gleiche“ (GS 4, 228).¹⁵ Dabei macht er sich die Doppelsinnigkeit des auf Freiheit bezogenen Angstbegriffs zunutze, der bei Kierkegaard aber eben nicht, wie bei seinen Nachfolgern, besonders bei Sartre, eine Positivierung als
Dabei ist auch die theologisch konventionellere Deutung, die im Sündenfall vor allem eine Selbstermächtigung bzw. ein Ungehorsam gegenüber Gott sieht, in bestimmter Hinsicht durchaus der ursprünglichen Emanzipation von der Herrschaft der Natur verwandt. Schließlich ist sie für Adorno doch eine Beherrschung, die, nach der Logik der Verdinglichung, als Rache des Objekts bzw. der Natur auf die Beherrschenden zurückschlägt. Nur ist sie nicht vermittelt über einen personalen (rächenden) Gott, sondern, worauf ja auch Kierkegaard vorrangig abhebt, über die Gattungsgeschichte. Es ist aber bemerkenswert, wie oft in der Dialektik der Aufklärung von Angst, Schrecken, Grauen oder Panik die Rede ist. Freilich kümmern sich Adorno und Horkheimer dabei nicht um die berühmte kierkegaardsche Begriffsunterscheidung. Was sie je meinen, ist aber keinesfalls mit Furcht zu verrechnen. Siehe hierzu den Aufsatz von Norbert Rath (1997), der sich diesen Satz zum Motto nimmt.
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Freiheitsbewusstsein erfährt (vgl. Wesche 2003, 63), sondern in seiner Negativität festgehalten wird. Adornos Begriff des Glücks ist nicht positiv auszumalen und steht doch für jenes Gegenbild ein, gerade wo er an Kierkegaard anschließt (vgl. GS 6, 347). Was vollendetes Glück wäre – das erinnert an den träumenden Geist der Angstabhandlung –, ist nicht weniger als eine Spiegelung des entfremdungstheoretischen Modells von Entbindung selbst: „Mit dem Glück ist es nicht anders als mit der Wahrheit: Man hat es nicht, sondern ist darin. Ja, Glück ist nichts anderes als das Umfangensein. Nachbild der Geborgenheit in der Mutter. Darum aber kann kein Glücklicher je wissen, dass er es ist. Um das Glück zu sehen, müßte er aus ihm heraustreten: er wäre wie ein Geborener“ (GS 4, 126). Er hätte aber damit, um es im Hinblick auf den Sündenfall zu formulieren, das Paradies unwiederbringlich verlassen. Mindestens ebenso deutlich ist die Strukturähnlichkeit der Kritik – bei aller theologischen Überzeichnung im Falle Kierkegaards –, wo sie dem Freisetzungsprozess der Moderne gilt, der, so Lore Hühn (2009, 237), „in geradezu pathologische Verzerrungen der Selbstgefährdung und Zerstörung unseres menschlichen Selbstseins von Anfang an überzugehen droht“. Indem sie Kierkegaard vor dem Hintergrund Schellings liest, verfolgt sie nicht weniger, als „den Ursprungsort einer negativistischen Entfremdungskritik freizulegen“ (Hühn 2009, 237). Wie gesagt lässt sich auch in der Angstabhandlung jenes allgemeine Motiv einer Aufklärung, die in ihr Gegenteil umschlägt, finden. Ihr Begriff ist die Geistlosigkeit, die im Gegensatz zur bloßen Geistabwesenheit, Geist historisch voraussetzt. Daher ist letztere „zum Geist hin“, erstere „in Richtung weg vom Geist“ bestimmt, oder ein „Stagnieren des Geistes“ (BA, 112 / SKS 4, 398). Dieser geschichtlichen Verfallsform entsprechen Subjekte, die nicht in der Lage sind, jene Vermittlungsleistungen zu vollbringen, die die Zuschreibung von „Geist“ rechtfertigen.¹⁶ Ähnlich heißt es in der Dialektik der Aufklärung zum Subjekt bzw. Ich in positivistischer ebenso wie in idealistischer Verzerrung: „Beide Male gibt es den Geist auf“ (GS 3, 214). Nur in der Vermittlung könne dessen jeweilige Isolation überwunden werden. Eine solche mangelnde Syntheseleistung zeichnet auch das psychoanalytische Theorem der Ich-Schwäche aus, auf das sich Adorno dabei gerne stützt. In seiner philosophischen Deutung demonstriert das „dogmatische Problem der Erbsünde“ in besonderer Weise den Zusammenhang der vorweg erörterten Modelle von Entfremdung – angefangen bei der ursprünglichen Entbindung im Moment der Menschwerdung bis hin zu jener Entbindung des Individuums im Übergang zur Moderne. Das Umschlagen des aufklärerischen Moments in sein gegenläufiges hängt zusammen mit besagter „Wiederkehr des Verdrängten“, ein Strukturmodell, das sich nach Hühn (2009, 236 – 239) von den Entfremdungskritiken des 18. Jahrhunderts über Schelling und Kierkegaard bis in die Gegenwart verfolgen lässt. Das Verdrängte ist dabei nicht weniger als das sündentheologische Erbe des neuzeitlichen Autonomieverständnisses, das in Form äußerster Entfremdung als Kehrseite jener „Idee unbedingter Selbstanfänglichkeit menschlicher Freiheit“ (Hühn 2009, 237) wiederkehrt. Darin liegt die mo-
Dazu mehr in der nachfolgenden Diskussion des kierkegaardschen Verzweiflungsbegriffs.
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ralkritische Funktion der Erbsündenlehre. Die Insistenz auf der überindividuellen Schuldverbundenheit der Menschen bedeutet eine kritische Rückeinbettung – im Gegensatz zu jenen Weisen entfremdender Rückeinbindung, die Kierkegaard „geistlos“ nennt und die sich vor allem dadurch auszeichnen, dass der Einzelne sich, sei es in der Menge oder im Determinismus bzw. Fatalismus, von der eigenen Verantwortlichkeit entlastet. Ich meine, dass auch Adornos Moralkritik untergründig von der durch Kierkegaard herausgestellten Janusköpfigkeit der Erbsündenlehre geprägt ist und jedenfalls nicht allein auf die aristotelische bzw. marxsche Wende von der Ethik zur Politik oder auf Denkfiguren Nietzsches und der Psychoanalyse zurückgeführt werden kann. Diese Vermutung soll sich im Folgenden, insbesondere im Zusammenhang mit der Kantdeutung beider, bestätigen. Es ist aber bereits vielsagend, dass an einer Schlüsselstelle hinsichtlich der Frage nach der Möglichkeit von Praxis in der Negativen Dialektik nicht nur von einem Schuldzusammenhang, sondern explizit von einer säkularisierten Erbsünde die Rede ist, womit Adorno gerade auf deren moralische Doppeldeutigkeit abhebt (GS 6, 241).¹⁷ Wird dem Einzelsubjekt die Schuldverstricktheit in eine unverfügbare Vergangenheit aufgebürdet, so ist ihm diese gerade deswegen eben auch nicht zur Gänze anzulasten. Es ist daher „mitschuldig“. Allerdings erkennt Adorno in der Moderne gerade den Versuch, von eben dieser Schuld in ihrer Zweideutigkeit loskommen zu wollen, was einerseits eine Potenzierung individueller Verantwortung bedeuten kann, andererseits und zumeist jedoch eine Entlastung von ihr – als Konsequenz jener Entbindung aus dem Schuldzusammenhang – durch Einbindung in einen anderen, amoralischen Bezugsrahmen. Dieser Prozess lässt sich als Dialektik der Aufklärung in moralphilosophischer Perspektive bezeichnen und ermöglicht als solcher in nicht unerheblicher Weise erst die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, um deren Verständnis es Adorno und Horkheimer zu tun war.
3 Verzweiflung als Entfremdung Was in Der Begriff Angst als individueller Sündenfall beschrieben wurde, bezeichnet den Moment, in dem sich der Mensch als Selbst konstituiert. In der berühmten Anfangspassage der Krankheit zum Tode erfährt seine Bestimmung als Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, eine Vertiefung, aus der sich bereits wesentliche Elemente einer Theorie der Entfremdung ablesen lassen. Die Entzweiung mit sich selbst – sie steckt
Aufschlussreich ist hier ein Seitenblick auf Adornos Habilitationsvater Tillich (2017, 356), der die moralphilosophische Bedeutung der Erbsünde in ähnlicher Weise fasst: „Die Lehre von der Universalität der Entfremdung hebt das menschliche Schuldbewusstsein nicht auf, aber sie befreit den Menschen von der unrealistischen Behauptung, dass er in jedem Moment die unbestimmte Freiheit habe, sich zu entscheiden wie immer er will, zum Guten oder Bösen, für Gott oder gegen Gott“. Seine Kritik gilt dabei deterministischen Theorien der Entfremdung verschiedenster Prägung ebenso wie protestantischen Positionen vor dem Hintergrund der Prädestinationslehre.
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schon im Begriff Verzweiflung und das gilt für das dänische fortvivlelse ebenso¹⁸ – drückt jene Entfernung von sich aus, die im theologischen Denken in einer Entfernung von Gott gründet, bzw. als solche aufgefasst wird und folglich als Sünde zu bezeichnen ist. Kierkegaard geht aber – und das legitimiert den philosophischen Zugang – argumentativ von einer Selbstentfremdung aus, die nachträglich als Sünde gedeutet wird, und leitet nicht etwa umgekehrt die Nichtübereinstimmung mit sich aus der Gottesferne als Ursache ab. Das motiviert den zweiteiligen Aufbau der Verzweiflungsabhandlung, der die rückwirkende Deutung als Sünde einem unvermittelt an den ersten anschließenden zweiten Abschnitt vorbehält. Charakteristisch für Kierkegaards Bestimmung der Verzweiflung ist zunächst ihre Universalität. Gerade dieser Umstand macht sie für eine entfremdungstheoretische Erörterung so fruchtbar. Schon die Differenzierungen zu Beginn der Abhandlung geben sich ausdrücklich als eine Bestimmung des Menschen aus: Der Mensch ist Geist. Doch was ist Geist? Geist ist das Selbst. Doch was ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder es ist in diesem Verhältnis jenes, dass dieses sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern dass sich das Verhältnis zu sich selbst verhält. Der Mensch ist eine Synthese aus Unendlichkeit und Endlichkeit, aus dem Zeitlichen und dem Ewigen, aus Freiheit und Notwendigkeit […]. Eine Synthese ist ein Verhältnis zwischen zweien. So gesehen ist der Mensch noch kein Selbst. Im Verhältnis zwischen zweien ist das Verhältnis als negative Einheit das Dritte, und die zwei verhalten sich zum Verhältnis und in dem Verhältnis zum Verhältnis; so ist das Verhältnis zwischen Seele und Körper unter der Bestimmung Seele ein Verhältnis.Verhält sich dagegen das Verhältnis zu sich selbst, dann ist dieses Verhältnis das positive Dritte, und dies ist das Selbst. (KT, 13 / SKS 11, 129)
Kierkegaard entwirft hier wie gesagt gerade keine Theorie der Subjektivität, auch wenn diese Passage bisweilen so missverstanden wurde. Es handelt sich vielmehr um anthropologische Strukturbestimmungen, vergleichbar denen aus der Nachschrift. Der Mensch wird als Existierender, d. h. wesentlich Werdender, „zwischen Sein und Denken, Leib und Selbstbewußtsein situiert“ (Kim 1980, 3).¹⁹ Daraus folgt nun, deutet man Verzweiflung als Entfremdung, eine Anthropologisierung der Entfremdungstheorie, die der beschriebenen Erweiterung des Verdinglichungsbegriffs bei Adorno gleicht. Sie wird aber, anders als bei Gehlen, der Entfremdung in ihrer Anthropologisierung zugleich positiviert, auch in ihrer Negativität festgehalten. Kierkegaard bringt diesen Doppelcharakter darin zum Ausdruck, dass er sie sowohl als „Vorzug“ wie auch als „Mangel“ bestimmt: „Rein dialektisch gesehen ist sie beides“ (KT, 15 / SKS 11, 130). Der Vorzug wird zunächst in einer klassisch anthropologischen Argumentation der Mensch-Tier Differenz entsprechend gedacht: „Die Möglichkeit einer solchen Krankheit ist der Vorzug des Menschen vor dem Tier, und dieser Vorzug zeichnet ihn ganz anders aus als der auf-
Vgl. z. B. Theunissen 1996, 69. Auch Christian Thies (2004, 43) versteht die Anfangspassage der Krankheit zum Tode ausdrücklich als anthropologische Bestimmung. Kierkegaard nehme gewissermaßen Plessners Theorie der „exzentrischen Positionalität“ vorweg, insofern er dort die Abständigkeit des Menschen zu sich beschreibt.
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rechte Gang, denn er deutet darauf hin, dass der Mensch Geist ist“ (KT, 15 / SKS 11, 130).²⁰ Dennoch bleibt Verzweiflung eine Krankheit. Und das gilt auch jenseits der theologischen Fundierung des Krankheitsbegriffs und besagter rückwirkender Deutung der Verzweiflung als Sünde, d. h. als Weigerung, glauben zu wollen. Nahegelegt wird das allein schon dadurch, dass Kierkegaard auch an den Phänomengehalt des Verzweifeltseins anschließt, also daran, dass es als Leid erfahren wird.Vor allem aber argumentiert er hier rein philosophisch im Hinblick auf dessen Modalität. Denn bloß die Möglichkeit, als Mensch „verzweifeln zu können“ (KT, 15 / SKS 11, 130), ist ein Vorzug, nicht aber, verzweifelt zu sein.
3.1 Die dreifache Bestimmung des verzweifelten Selbst Die Krankheit zum Tode zeichnet den Menschen in dreierlei Weise als Verhältnis aus: Erstens als „Synthese“, zweitens durch den Umstand, dass sich das Verhältnis zu sich selbst verhält, also die Bestimmung „Geist“ betreffend, sowie drittens durch das „Gesetztsein“ des ganzen Verhältnisses. Das erlaubt verschiedene Zugänge zum Problem der Entfremdung. 1. Der Mensch ist zunächst eine Synthese aus zwei gegensätzlichen Momenten. Entfremdung bedeutet hier die Vereinseitigung des einen Moments auf Kosten des anderen, was Kierkegaard im ersten Durchgang der Verzweiflungsanalyse in Bezug auf die Gegensatzpaare Endlichkeit und Unendlichkeit sowie Möglichkeit und Notwendigkeit demonstriert. Gerade hier kommt in der Krankheit zum Tode Entfremdung unter dem Aspekt von Zeitdiagnose und Gesellschaftskritik zur Geltung. Das gilt insbesondere für die Verzweiflung der Notwendigkeit, die der Sache nach ein größeres Gewicht hat, als ihr dem Aufbau der Abhandlung gemäß zukommen müsste. Theunissen (1993, 122) spricht gar von einer „universalisierten Verzweiflung“. Diese prominente Stellung der Verzweiflung der Notwendigkeit wird nicht zuletzt dadurch nahegelegt, dass sie in diesem Abschnitt der Krankheit zum Tode die einzige ist, die als Negativfolie für die Bestimmung des Glaubens dient – was ansonsten für die „einander entgegengesetzten Verfehlungen der Synthese“ (Theunissen 1993, 123) im Ganzen gilt. Theunissen nimmt in seiner Untersuchung Der Begriff Verzweiflung: Korrekturen an Kierkegaard, genauer in der zweiten darin eingegangenen Studie, auch insofern eine Korrektur an ihm vor, als er Verzweiflung als Hoffnungslosigkeit gegenüber ihrer Bedeutung als Entzweiung mit sich selbst profiliert.Verzweiflung meint auch die Totalisierung des Zweifels. Als solche steht sie im Gegensatz zum Glauben überhaupt und ist nicht, wie die lateinische desperatio – etwa in der thomistischen Tradition, auf die auch Kierkegaard bezogen ist – privativ zur spes, als Preisgabe der theologischen Tugend der Hoffnung bestimmt. Damit wird also Primär ist aber etwas anderes, wie Thies (2004, 43) meint: Philosophische Anthropologie beginne nicht mit der Mensch-Tier-Differenz, sondern mit dem Nachdenken „über mich als Menschen“. Die Art und Weise, wie Kierkegaard damit die Integration des Moments der Selbstbezogenheit für eine im weitesten Sinne anthropologische Theoriebildung einfordert, hebt ihn auch über Plessner hinaus.
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Hoffnungslosigkeit zunächst zu einem Moment der Verzweiflung degradiert, kehrt aber umso stärker im Fortgang der Untersuchung der Krankheit zum Tode wieder, als spezifisch moderne Form der desperatio: „Demgegenüber steigt aus dem Abgrund einer universalisierten Notwendigkeit die Verzweiflung par excellence auf“ (Theunissen 1993, 123). Wenn sie Kierkegaard ebenso deutlich als Mangel an Hoffnung darstellt, so weist das auf eine weitgehende Konvergenz von Hoffnung und Glauben in diesem Punkt hin. Denn wird der Glaube als das Vertrauen darauf, „dass bei Gott alles möglich sei“ (KT, 42 / SKS 11, 153) aufgefasst, so ist die Verzweiflung der Notwendigkeit, dass eben nichts mehr möglich ist. Allerdings erhält sie nach Theunissen (1993, 122) eine spezifische Wendung: „Wenn irgendwo in der Krankheit zum Tode der Nihilismus, der sonst in der Tiefe des Bildes erscheint, in den Vordergrund drängt, dann auf der letzten Station des Ganges durch die Defizienz des Selbstverhältnisses. Nirgends zeigt sich augenfällig wie hier, daß Verzweiflung als nihilistische Erfahrung einen objektiven Zustand des Weltganzen registriert.“ Sie lässt sich ihm zufolge sogar als „im stärksten Sinne geschichtlich“²¹ deuten und hat eine explizit gesellschaftsdiagnostische Dimension. Das zeigt allein schon der Umstand an, dass Kierkegaard der Verzweiflung der Notwendigkeit auch die wichtigste Figur seiner Zeitkritik, den Spießbürger, einschreibt. In ihr offenbart sich jene Grundstruktur der Entfremdung, als einer Verselbständigung von Objektivationen menschlicher Praxis, die dem Individuum im Resultat geradezu als Notwendigkeit erscheint. Dem in diesen Verhältnissen befangenen Spießbürger, der „geistlos“ in Konventionalität aufgeht, fehlt entsprechend der Möglichkeitssinn (vgl. KT, 45 / SKS 11, 156). Das ist nun auch bei Jaeggi (2005, 81) ein zentrales Kriterium, um entfremdete von nichtentfremdeten Zuständen zu unterscheiden: Unter dem Begriff „Erstarrung“ fasst sie solche Entwicklungen zusammen, die in eine „Einschränkung des Möglichkeitsspielraums, die Beschränkung von Alternativen“ münden – nicht aber soziale Konventionen als solche. Die Konsequenz sei eine „Verdeckung praktischer Fragen“ – ein Phänomen, das sich bereits an der Dialektik der Aufklärung in moralphilosophischer Perspektive gezeigt hatte: „Wenn alles so ist, als könnte es nicht anders sein, ist das Subjekt als handelndes überflüssig“ (Jaeggi 2005, 88). 2. Dass Kierkegaard das Selbst nicht einfach als Verhältnis auffasst, sondern derart, „dass sich das Verhältnis zu sich selbst verhält“, betrifft die Bestimmung Geist. Und das impliziert nun: „[D]ie Verzweiflung ergibt sich nicht aus dem Mißverhältnis, sondern aus dem Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält“ (KT, 18 / SKS 11, 133). Entsprechend ist der Mensch auch nicht zum Verzweifeltsein verdammt, sondern frei, sich dazu zu verhalten – jedoch nicht im absoluten Sinne einer Souveränität des Willens. Vielmehr gilt für ihn in dieser Perspektive: „Das Selbst ist Freiheit. Freiheit aber ist das Dialektische in den Bestimmungen Möglichkeit und Notwendigkeit“ (KT, 31 / SKS 11, 145). Kurz gesagt besteht also der Doppelcharakter des Selbst darin, dass es sich einerseits als Theunissen 1993, 67. Er erläutert dazu: „Wenn etwas überhaupt geschichtlich ist, so kann es dies entweder akzidentell oder substantiell, partial oder total sein. Ferner kann es an Geschichte so teilnehmen, daß es durchaus seit je existierte, nur immer auf andere Weise, oder so, daß es einmal schlechterdings nicht existierte und erst zu einem gewissen Zeitpunkt in Erscheinung trat.“
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Existenz ein vorgängig Gegebenes ist – davon abzusehen wäre keine Freiheit – und darin andererseits ja schon auf sich selbst bezogen ist, was wiederum noch einmal bewusst reflektiert werden kann. Daher bestimmen sich die „Erscheinungsformen“ der Verzweiflung im zweiten Durchgang der Analyse – „gesehen unter der Bestimmung Bewusstsein“ (KT, 47 / SKS 11, 157) – doch durch ein Mehr oder Weniger an Geist, das mit dem „Grad an Reflexion“ (KT, 61 / SKS 11, 169) korreliert. Dabei bedeutet die reflektiertere Verzweiflung ebenso ihre Potenzierung, wie sie andererseits ihrer Überwindung näher steht – ganz im Gegensatz zu jener Verzweiflung, die als bodenlose Selbstzufriedenheit und -gewissheit auftritt. Solchen quantitativen Bestimmungen zum Trotz kann aber der Mensch Verzweiflung als eine Krankheit des Geistes auf Ewigkeit nicht loswerden. Dabei ist schon dem Geist selbst ein grundsätzlicher Doppelcharakter zu eigen. Er ist eben, wie es in der Angstabhandlung heißt, eine „zweideutige Macht“, sowohl eine „freundliche“ als auch eine „feindliche“ (BA, 52 / SKS 4, 349). Geist ist das, was die Momente einerseits auseinanderhält und sie andererseits zusammenhält, das Verhältnis „konstituieren“ (BA, 53 / SKS 4, 349) will. So besteht das Feindliche des Geistes darin, dass er die Unmittelbarkeit von Leib und Seele unentwegt stört. Mit dem „Erwachen“ des Geistes – das Kierkegaard wie gesagt sowohl onto- als auch phylogenetisch beschreibt – wird der unmittelbare Lebensvollzug unmöglich, der freilich schon im Stadium des „träumenden Geistes“ keine reine Unmittelbarkeit ist, da dort der Geist als Vorausahnung bereits gegenwärtig ist. Der Mensch ist nun nicht mehr – etwa in seiner Triebstruktur – im naturhaft und psychosozial (Vor‐)Gegebenen befangen. Das ist zwar je seine Wirklichkeit, jedoch wird sie ihm in der Abständigkeit des Geistes zu seiner Möglichkeit, das heißt seiner möglichen künftigen Wirklichkeit. Dadurch wandelt sich die Sicherheit der Unmittelbarkeit in eine grundlegende Unsicherheit der Mittelbarkeit im Geist, die sich in der Angst offenbart. Dass derart die Geistigkeit des Menschen bei Kierkegaard weder, wie es bisweilen im außerakademischen Diskurs recht pauschal geschieht, als nichtseinsollende Entfremdung verdächtigt wird, noch zu reiner Geistigkeit erhöht, in der der Mensch seine Erfüllung fände, wird gerade durch die Art und Weise offenbar, in der sich Kierkegaard ideengeschichtlich – insbesondere, aber nicht nur, zum Deutschen Idealismus – positioniert. Richtig ist zwar, dass der Verlust der Unmittelbarkeit im Erkennen wurzelt. Das zeigt Kierkegaard in Der Begriff Angst unter Rückgriff auf den biblischen Mythos vom Baum der Erkenntnis. Allerdings ist Verzweiflung an sich gerade keine Kategorie der Erkenntniskritik – und folglich auch nicht durch Erkenntnis zu überwinden. Als existenzielle, „die gesamte Persönlichkeit betreffende“ (EO II, 226 / SKS 3, 204), scheidet Kierkegaard sie scharf von der bloßen Gedankenbestimmung des Zweifels, die der Ausgangspunkt der „neueren Philosophie“ (EO II, 224 / SKS 3, 203), d. h. der „Spekulation“ sei. Daraus folgt aber nicht, dass diese Bedeutungsdimension des Begriffs fortvivlelse damit verlorenginge.²² Vielmehr kann diese Position zugleich als eine Radikalisierung
Wie im Deutschen, so steckt auch hier der Zweifel, dänisch tvivl, im Wort.
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des Zweifels hinsichtlich des eigenen Selbstverständnisses begriffen werden. Worum es Kierkegaard dabei im Hinblick auf seine Idealismuskritik geht, führt bereits der an Schelling orientierte Einspruch gegen Hegel in Entweder/Oder vor.²³ Dessen Figur eines sich gegen sich selbst wendenden Zweifels bezichtigt er einerseits einer Sphärenvermengung und der Übertragung der christlichen Bestimmung der Selbstüberwindung ins Epistemologische, andererseits der Zirkularität der Begründung. Sie betrifft nicht weniger als die „Grundannahme seiner Dialektik […], wonach schon längst weit im Vorfeld besiegelt und ausgemacht ist, dass über und durch den Umweg der ganzen Entfremdung hindurch der Vollzug und die Aufhebung auf die zeitlos vollendete Präsenz ihrer Identität hin zurückgenommen wird“ (Hühn 2009, 126 – 127). So ist auch das Kapitel „Der sich entfremdete Geist“ der Phänomenologie des Geistes von einer Gewissheit getragen: „die Entfremdung wird sich selbst entfremden“ (TW 3, 366). Verzweiflung kann in dieser Rückbindung an ein das Gesamtgeschehen organisierendes Identitätsprinzip – gegen das Kierkegaard wie Adorno gleichermaßen opponieren – nicht mehr aufkommen. Dennoch ist auch bei Hegel Entfremdung in eingeschränkter Weise individuell zu überwinden, und zwar in ihrem bildungstheoretischen Aspekt, durch die eigene Arbeit der Erkenntnis – aber derart, dass sie einen Nachvollzug jener Bewegung der Versöhnung bedeutet.²⁴ 3. Die Differenz zu Hegel erweist sich gerade am Verhältnis zu der Macht, die das Verhältnis gesetzt hat. Dass Adorno, wie sich zeigen wird, das Gesetztsein des Selbstverhältnisses weitgehend übergeht bzw. umdeutet, ermöglicht es erst, dass die Bestimmung Geist einer idealistischen Selbstsetzung gleichen kann (vgl. Pocai 2006, 16). Daher gilt es vorab zu umreißen, was Kierkegaard darunter versteht. Zunächst lässt sich der Bezug zum Gesetztsein als solchem von dem zur Macht (Gott) unterscheiden, was zwei Aspekte offenbart, die für das Entfremdungsproblem relevant sind. Im Gesetztsein kommt das bereits angedeutete Moment des Entzogenseins zur Geltung, dass also das Selbst sich in seinem Anfang und seiner Grundlegung unverfügbar ist: „Der Setzende wird als Setzender im Verhältnis und durch das Verhältnis, weil das Verhältnis wohl sein Verhalten, aber nicht sein Sein (Leib und Seele) setzen kann“ (Holl 1972, 147).²⁵ Bereits der Umstand, dass sich das Selbst nicht nicht zu sich verhalten kann, ist ja unhintergehbar und insofern gesetzt. Tiefer noch greift das Gesetztsein als unhintergehbares Dasein des Menschen im Sinne eines „Immer-schon-Seins“ (Theunissen 1979, 505) – die Nähe zu Heideggers Begriff der „Geworfenheit“ liegt hier auf der Hand. Anschaulich kommt das in der Frage des „jungen Menschen“ in Die Wiederholung zum Ausdruck: „Wie bin ich in die Welt hineingekommen; warum hat man mich nicht vorher gefragt […]?“ (W, 71 / SKS 4, 68). Es ist eine Faktizität, die über jene der weltlichen Ver-
Siehe hierzu: Hühn 2009, 109 – 123. Unzweideutiger als der entsprechende Abschnitt der Phänomenologie, führt das die Gymnasialrede vom 29. September 1809 vor: Entfremdung offenbart sich hier als „notwendige Täuschung“ (TW 4, 321) insofern im Bildungsprozess, der als eine „Rückkehr zu sich selbst“ (323) aufgefasst wird, das Fremde schließlich als das Eigene begriffen wird. Vgl. KT, 18 / SKS 11, 133.
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hältnisse hinausgeht. Theunissen (1979, 505) spricht daher von einem „transmundanen Gesetztsein“, das sich in einem Ohnmachtsgefühl bekundet. Indem aber diese Faktizität des Selbst über die Welt hinausweist, zeigt sie für Kierkegaard Gott als den Setzenden an. Hieraus leitet er die prinzipielle Unüberwindbarkeit der Verzweiflung ab, sofern sich das Selbst dabei in sich selbst zu gründen versucht, während die beiden Durchgänge – nach den Synthesemomenten und unter der Bestimmung Bewusstsein – in unterschiedlicher Weise das Scheitern dieses Versuchs demonstrieren. Im nicht entfremdeten Zustand dagegen, bzw. in der Entwicklung auf diesen hin, „gründet das Selbst sich durchsichtig in jener Macht, die es setzte“ (KT, 15 / SKS 11, 130). Diese Glaubensformel lässt sich gleichwohl auch philosophisch deuten.²⁶ Kierkegaard selbst lädt gewissermaßen dazu ein, indem er in der Anfangspassage nicht von Gott spricht, sondern abstrakt vom Gesetztsein durch ein Anderes und von der Macht, die dieses Verhältnis gesetzt hat. Den Begriff ersetzte er in der Schlussfassung der Abhandlung bewusst, ging es ihm doch darum, zumindest anfangs die damit verbundenen theologischen Implikationen zu vermeiden, wie aus einer Aufzeichnung hervorgeht.²⁷ Auch hier ist seine christliche Überzeugungsabsicht noch von jenem kritischen Impuls getragen, der seine frühere Mitteilungslehre prägt. Er setzt auf eigentätige Aneignung durch die Adressierten, nicht auf Belehrung durch direkte Mitteilung eines objektiven Gehalts. Das zeigt sich in besagtem zweiteiligen Aufbau der Abhandlung aus philosophischer Analyse und sündentheologischer Deutung der Verzweiflung sowie im negativistischen Weg, den erstere beschreitet – auf ihn werde ich nachfolgend genauer eingehen. Er soll zwar zum Glauben führen, dieser Schritt selbst ist aber nicht zu vermitteln.
3.2 Nicht man selbst sein wollen? Der Verlust des Selbst nimmt bei Kierkegaard grundsätzlich zwei Formen an: Er ereignet sich einerseits in sozialen Beziehungen und andererseits als Selbstisolation. Die erste gilt wie gesagt als existenzphilosophische Variante des Entfremdungsdenkens überhaupt. Man hat sie Kierkegaards Diagnose der Nivellierung und – auf nicht weniger fragwürdige Weise – jener Heideggers von der Herrschaft des Man, bzw. der Uneigentlichkeit, zugeschrieben, insofern die Quelle der Entfremdung hier in einer Weise des „Eingelassenseins in eine öffentliche Welt“ (Jaeggi 2005, 27) verortet wird. Dafür steht bei Kierkegaard der Spießbürger. Er gibt gewissermaßen sein individuelles Selbst zugunsten eines Kollektivselbst auf. Was Kierkegaard unter der Überschrift einer „Verzweiflung der Notwendigkeit“ beschreibt, spiegelt sich im zweiten Durchgang der
Siehe dazu: Wesche 2003, 92– 93. Vgl. die Anmerkungen von Hirsch zu seiner Übersetzung der Krankheit zum Tode auf Seite 167. Auch scheint die Vermutung nicht ganz unberechtigt, dass Kierkegaard gerade deshalb theologische Vorbegriffe vermeiden wollte, weil sie seine Zeitgenossen zu falschen Schlussfolgerungen veranlasst hätten. Zwar gibt das Vorwort die christliche Richtung vor, allerdings in einer Weise, welche die sich christlich dünkenden Heiden, wie er sie nennt, vor den Kopf stoßen musste. Siehe hierzu: Ringleben 1995, 26.
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Analyse, nach dem Grad des Bewusstseins, in der Verzweiflung der „Schwäche“. Allerdings wird auch hier zum Ende hin, was schon auf die nachfolgende Verzweiflung des Trotzes verweist, eine „tiefere“, d. h. reflektiertere Verzweiflung beschrieben, die weit seltener auftrete. Kierkegaard bestimmt sie als „Verschlossenheit“ und meint, sie stehe „in direkte(m) Gegensatz zur Unmittelbarkeit“ (KT, 72 / SKS 11, 177). Betroffene sind sich hier ihrer Schwäche bewusst und haben ein „Bedürfnis nach Einsamkeit“ (KT, 73 / SKS 11, 178). Es ist kaum zu übersehen, dass Kierkegaard für sie geradezu Sympathien hegt, wenn er sie in Kontrast setzt zum „Ständig-Gesellschaftlichen unserer Zeit“ (KT, 73 / SKS 11, 178). Dennoch fasst er diese Verschlossenheit als Selbstverlust auf, hier in seiner sich vereinzelnden Form. Das gilt ebenso für die Verzweiflung des Trotzes, die in ähnlicher Weise auf ein halsstarriges Sichbehaltenwollen zurückzuführen ist. Jenseits der theologisch fundierten Kritik daran, dass sich das Individuum hier quasi als causa sui zu begründen versucht, verhält es sich darin aber auch zur sozialen Welt. Der Trotz ist „die am höchsten potenzierte Form jener Verzweiflung, die verzweifelt sie selbst sein will“ (KT, 84 / SKS 11, 187) und daher auch diejenige mit dem höchsten Grad an Bewusstsein und Geistigkeit. Kierkegaard bestimmt sie explizit als „dämonische Verzweiflung“. Das verweist auf die Bestimmung aus der Angstabhandlung, die es an späterer Stelle zu erörtern gilt. Auch wenn hier im Bewusstsein der Verzweiflung diese gerade berechnend vor der sozialen Welt verborgen werden soll und sie daher von außen betrachtet kaum von Formen eines konventionellen Umgangs mit der Mitwelt zu unterscheiden ist, ist diese Praxis als solche Gegenstück des entfremdeten Aufgehens in der Menge und ihrer nivellierenden Kommunikation. Sie scheint so gerade das eigene Selbst bewahren zu wollen, das im anderen Extrem an unreflektierte Konventionalität oder gar die „Menge“, bzw. die Massenexistenz verloren geht. Für Kierkegaard sind solche Bestimmungen entsprechend seiner These von der wechselseitigen Rückführbarkeit der beiden Grundformen der Verzweiflung, also man selbst sein zu wollen und nicht man selbst sein zu wollen, allerdings nur relativ. So bedeutet verzweifelt zu sein, ein Selbst sein zu wollen, dass man nicht ist und in diesem Sinne eigentlich sein Selbst los sein zu wollen, was die Form aller Verzweiflung ist. Diese uneigentliche Seinsweise zeichnet sich dadurch aus, dass der Verzweifelte „sein Selbst nämlich von jener Macht losreißen [will], die es setzte“ (KT, 22 / SKS 4, 136). Das verweist darauf, dass die Differenz zu einem authentischen Selbstverhältnis letztlich über das Glaubensverhältnis begründet wird, insofern das Ergebnis der Verzweiflungsanalyse(n) im ersten Teil der Krankheit zum Tode bloß ein negatives ist. Die Rückführungsthese lässt sich jedoch auch philosophisch-anthropologisch auflösen, indem, wie es Theunissen macht, vom theologischen Gesamtentwurf der Schrift vorerst abstrahiert wird. Und sie lässt sich zunächst in Bezug auf die Momente der Synthese umformulieren: In der synthesentheoretischen Betrachtung der Sache kehrt der Gegensatz von Seinwollen und Nichtseinwollen modifiziert auf der Ebene des Menschseins wieder: Wir wollen nicht sein, was wir als Menschen sind, zu denen sowohl Notwendigkeit (Faktizität) und Endlichkeit wie auch die Möglichkeit (Transzendenz) und Unendlichkeit gehören; und wir wollen sein, was wir nicht sind; ein bloß faktisches Dasein ohne Transzendenz oder ein bloß transzendierendes Dasein ohne Faktizität. (Theunissen 1996, 66)
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Weiter noch geht die Interpretation Wesches, der Verzweiflung unter dem Aspekt einer misslingenden Lebensdeutung betrachtet. Sie verfehlt entweder den Anspruch auf Selbstbezogenheit oder den auf Allgemeinheit bzw. Begründbarkeit. Ihr Misslingen lässt sich aus dem Bedürfnis nach einer Sicherheit der Selbstbestimmung verstehen, das jene beunruhigende Unbestimmtheit auszuschließen versucht.²⁸ Das ist bereits umrissen worden. Es ist leicht einzusehen, inwiefern die der Verzweiflung zugrundeliegende Struktur die Nichtfeststellbarkeit des Menschen impliziert, sobald sie mit der Prozessualität des Selbst zusammengedacht wird. Als Existierender müsste er aus dem zeitlichen Vollzug heraustreten, um die ihn konstituierenden Gegensatzbestimmungen zum Ausgleich zu bringen. Unbestimmt ist er durch das sich gegenwärtig jeweils entziehende andere Moment. Er existiert so gesehen in zeitlicher Hinsicht vielmehr je in den Synthesemomenten als zwischen ihnen (vgl. Figal 1984) – und hat sie daher in einer Doppelbewegung aufeinander zu beziehen, um beiden Aspekten gerecht zu werden. Was bedeutet das nun für eine Theorie der Entfremdung, die nicht nur bei Kierkegaard vordergründig in eine individuierende und eine kollektivierende Variante auseinanderfällt? Beide Ausprägungen lassen sich auf ein gemeinsames Bestreben zurückführen. Nicht weniger als die Winkelzüge des reflektierteren, sich verschließenden Individuums, wird das Aufgehen des Spießbürgers in Konventionalität, Kalkulierbarkeit und Vertrautheit oder schlicht in der „Menge“ – dem Grad an Bewusstheit nach „geistlose“ Formen von Verzweiflung – als Strategie der Absicherung lesbar. Der damit einhergehende Freiheitsverlust ist bereits als Suspension des Moralischen, als Verlust an Verantwortlichkeit beschrieben worden und gründet in ähnlicher Weise in einem Anspruch auf Sicherheit, der seinem Gegenstand unangemessen ist. Den Ausschluss von Unbestimmtheit gewährt jedenfalls auch Konventionalität auf ihre Weise. Wenngleich die individuierenden und kollektivierenden Formen von Selbstentfremdung nicht deckungsgleich sind mit den Grundformen der Verzweiflung, so erhellt doch die These ihrer Rückführbarkeit bereits, dass auch jene Dichotomie nur eine scheinhafte ist, da sie auf eine gemeinsame Operation bzw. die anthropologische Grundbestimmung der Unbestimmtheit zurückzuführen ist. Sie verweist auf eine Tiefenschicht von Entfremdung, von der in der gelebten Entfremdung der Einzelnen aber gerade abstrahiert wird. Darin liegt ihr Wert für die Diskussion um den Entfremdungsbegriff. Und sie stellt so zugleich die allzu leichtfertige Unterstellung zweier grundverschiedener Modelle – Entfremdung in und von der sozialen Welt – infrage. Dass aber überhaupt Verzweiflung bzw. Entfremdung (auch) als sozial induzierte, sozusagen von außen kommende, begriffen wird, bedeutet durchaus einen Widerspruch zur Bestimmung der Verzweiflung als „Krankheit im Geist“ zu Beginn der Abhandlung.
Wesche (2003, 38) spricht davon, dass „das Seinwollen in einem motivationalen Sinne auf das Nichtseinwollen und das Nichtseinwollen in einem ätiologischen Sinne auf das Seinwollen zurückgeführt“ werde.
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3.3 Verzweiflung und Widerfahrnis Wenn Verzweiflung allein als ein Missverhältnis, nicht der Synthese, sondern ausschließlich des Verhältnisses zum Verhältnis verstanden werden kann, dann lässt sich Verzweiflung streng genommen nur als das Verhältnis des Individuums zu sich selbst unter den Bedingungen der Massengesellschaft verstehen, diese aber in keinem Fall als kollektive Verzweiflung ausweisen. Das bedeutet letztlich, dass der Einzelne damit nicht an den gesellschaftlichen Verhältnissen, so bedrückend diese auch sein mögen – und das waren sie ja gerade für den Urheber dieser These eindeutig –, sondern letztlich an bzw. aus seinem Selbstverhältnis verzweifelt. Das Problem liegt nicht in der, wie Theunissen sagt, „fraglos vernünftigen Annahme, Verzweiflung sei immer auch eine Verzweifeltheit des Selbstverhältnisses“ (Theunissen 1996, 68), sondern in der Ausschließlichkeit, mit der Kierkegaard es (zunächst) auf dieses reduziert. Die Tatsache, dass er umgekehrt jede Defizienz des Sich-zu-sich-Verhaltens als Verzweiflung identifiziert, lässt seine Theorie interessanterweise sozusagen als eine existenzielle Version der hegelschen Lehre vom existierenden Widerspruch erscheinen, auf die sie, so Theunissen (1996, 76), vielleicht sogar zurückgeführt werden müsse, um die Unbedingtheit der Behauptung verstehen zu können.²⁹ Hier soll es nicht darum gehen, Kierkegaards Verzweiflungsbegriff, der, wie sich gezeigt hat, dem Alltagsverständnis kaum entspricht, als solchen zu hinterfragen. Theunissens „Rekonstruktion“ und „transzendierende Kritik“ in seiner Untersuchung von 1993, hat sicherlich einige Impulse hierzu gegeben – unter anderem der zuvor umrissene Vorschlag, gegen die innere Entzweiung, die der Begriff fortvivlelse impliziert, den Sinn der lateinischen desperatio, die bei Kierkegaard bloß auf bestimmte Verzweiflungsformen beschränkt bleibt, als Alternative geltend zu machen. In seinem Versuch, damit eine Diskussion in der Kierkegaardforschung anzuregen, war er jedenfalls erfolgreich, wie die Kontroverse im Jahrbuch der Kierkegaard Studies von 1996 zeigt, an der sich Grøn, Hannay und Deuser beteiligten. Dabei ging es nicht zuletzt um besagtes Problem, dass Verzweiflung ausschließlich auf ein Selbstmissverhältnis des Verzweifelten zurückgeführt wird und nicht als Erfahrung auch ein Widerfahrnis³⁰ ist.
In ähnlichen Bahnen bewegt sich die Deutung Alastair Hannays (1996, 27– 28), der die angestrebte Befriedigung des Geistes als ein Erbe Hegels ansieht Das ist durchaus im Sinne Wilhelm Kamlahs zu verstehen, der diesen Begriff prägte. Widerfahrnisse sind für ihn „Widerpart“ menschlicher Handlungen, Ereignisse die „uns gänzlich ohne eigenes Zutun“ treffen und als solche auch nicht zu beeinflussen sind (Kamlah 1976, 10). Sie sind also die eine Seite des aktiv-passiven Charakters des Menschen. Dabei schließen sie insofern eine Wertung ein, als sie sich ihm stets als zuträglich oder schädlich, erwünscht oder unerwünscht aufdrängen. Daher ist auch ein Naturereignis nicht notwendig ein Widerfahrnis, Geburt und Tod dagegen in jedem Fall. Das ist im Hinblick auf Kierkegaard durchaus aufschlussreich hinsichtlich der Ambivalenz seines Begriffs von Handlung und Innerlichkeit, die es zu erörtern gilt. Wird ihm von Theunissen etwa zur Last gelegt, den „Handlungsaspekt“ zu verabsolutieren, so formuliert er damit gerade jene Tendenz, gegen die Kamlah seine philosophische Anthropologie zu profilieren versucht. Dessen Konsequenz ist nun ein Plädoyer fürs Loslassen, das aber nicht schon Versöhnung mit dem Widerfahrenden bedeutet. Das hält in ähnlicher Weise Adorno Kierkegaard vor dem Hintergrund einer Kritik verfügender Subjektivität überhaupt entgegen – dass er
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So wurde z. B. zwischen Theunissen und Grøn verhandelt, ob Kierkegaard auf dieser Grundlage der Verzweiflung über den (totalisierten) Verlust eines geliebten Menschen gerecht werden kann.³¹ Was schon im Vorbegriff angelegt ist, holt Kierkegaard auch in der Phänomenanalyse ein, „ist es ihm doch darum zu tun, jede Verzweiflung über etwas, die im Bewusstsein der Verzweifelten nicht mehr ist als dies, das soll heißen: nicht als Verzweiflung über sich durchschaut wird, in Schein aufzulösen“ (Theunissen 1996, 69). Dass Kierkegaard herausstellt, dass der Mensch in einem Verzweifeln über etwas dieses letztlich selbst zum Ganzen der Verzweiflung macht, ist sicherlich berechtigt (vgl. KT, 68 – 69 / SKS 11, 174). Überhaupt lässt sich mit Theunissen (1996, 70) festhalten: „So besteht denn auch der Wahrheitsgehalt der in Sygdommen til Døden entworfenen Theorie darin, daß sie uns Verzweiflung als Handlung sehen lehrt. Doch schlägt ihre Wahrheit in Unwahrheit um, sobald sie den Handlungsaspekt verabsolutiert“. Dies führt letztlich dazu, dass bei Kierkegaard das Handeln mit dem Erleiden zusammenfällt³² – ähnlich wie in der „inwendigen Tat“ die Entscheidung mit der Handlung, was im Abschnitt „Innerlichkeit und Handlung“ noch erörtert werden wird. Es scheint sich hier um ein Grundproblem der kierkegaardschen Konzeption des Selbst zu handeln, das sich doch mit einer gewissen Berechtigung auf Adornos Formel der „objektlosen Innerlichkeit“ bringen lässt, da seine Verzweiflung kein „etwas“ außerhalb des Selbstverhältnisses (als Ursprung derselben) zulassen will. So lässt sich das Problem als eine Abstraktion von der „subjektiv-objektive(n) Doppelbestimmtheit der Verzweiflung“ (Theunissen 1996, 70) beschreiben, welche die ihr eigene Dialektik von Handeln und Erleiden sozusagen stillstellt. Jedenfalls muss bezweifelt werden, dass „Kierkegaard bereit wäre, Menschen, die etwa darüber verzweifeln, daß die Welt im Argen liegt, oder über Sachverhalte, in die sie persönlich nicht involviert sind, als wirklich verzweifelte anzuerkennen“ (Theunissen 1996, 77). Zudem ergibt sich aus der Einschränkung auf die Defizienz des Selbstverhältnisses die Gefahr eines Moralismus. Zwar ist hier mit Grøn festzuhalten: „Sein Gesichtspunkt ist der ethische, daß man gerade in solchen Situationen nicht sich selbst erlauben darf, zu verzweifeln. Die Hoffnung, die man nicht aufgeben darf, ist auch eine Hoffnung trotz der Situation“ (Grøn 1996, 59). Dagegen hätte wie gesagt Adorno am wenigsten etwas einzuwenden. Auch Kierkegaards Beharren auf der Verantwortung des Einzelnen für seine Situation ist sicherlich eine Stärke seiner Theorie, was Theunissen (1993, 90) als „Interesse an der moralischen Zurechenbarkeit“ würdigt. Dennoch besteht in einer einseitigen Betonung
eine solche Unverfügbarkeit, die doch, wie am Begriff des Gesetztseins erörtert, integraler Bestandteil seiner Theorie ist, in anderer Weise nicht zulassen kann. Insbesondere am Verhältnis zum Ästhetischen wird sich das im folgenden Kapitel zeigen. Auch die Dialektik von Macht und Ohnmacht, die er an Kierkegaard entwickelt, gleicht den Überlegungen Kamlahs, wenngleich sie bei Adorno vorrangig soziologisch begründet und im Hinblick auf eine Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse gedacht wird. Vgl. Grøn 1996, 57– 58. Er verweist auf die Unterscheidung von Trauer und Verzweiflung in Der Liebe Tun. Vgl. Theunissen 1993, 85 – 101
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derselben die Gefahr der „Tyrannei des ethischen Verzweiflungsverbots“³³. Dass Kierkegaards Denken den Gefährdungen, die sich aus seiner Grundannahme, dass Verzweiflung einzig dem Selbstverhältnis entspringe, ergeben, letztlich nicht oder nur teilweise zum Opfer fällt, liegt daran, dass er nicht mit der darin angelegten Konsequenz verfährt – es kommt, wie Theunissen (1996, v. a. 71– 72) meint, zu „Selbsttranszendierungen“ seiner Theorie, die einen Wahrheitsgehalt offenbaren, der nicht nur von der Möglichkeit der Integration in dieselbe abhängig gemacht werden sollte. Kierkegaard geht jedenfalls in der Phänomenanalyse der Verzweiflung über deren strengen Vorbegriff und dessen konsequente Entwicklung hinaus. Zudem transzendiert auch dieses wohl systematischste Werk Kierkegaards sich auf sein Denken als Ganzes hin, hier insbesondere in „Arbeitsteilung“ (Wesche 2003, 58) mit Der Begriff Angst, wo die Verantwortlichkeit des Einzelnen insofern relativiert wird, als seine Individualgeschichte dialektisch auf die der Gattung bezogen wird. Als reine Krankheit des Geistes lässt sich Verzweiflung aber durchaus gemäß dem Hauptvorwurf aus dem Kierkegaardbuch als „objektlose Innerlichkeit“ verstehen, d. h. als eine Selbstbeziehung, die von ihr unverfügbarer und inkommensurabler Objektivität abstrahiert. Als Widerfahrnis steht sie dagegen für jene „Objektivität, die auf dem Subjekt lastet“ (GS 6, 29). Das gilt jedoch wie gesagt nur für den Vorbegriff von Verzweiflung. Dass ihn gerade seine Inkonsequenz rettet, will auch Adorno zeigen, indem er ihn wiederholt beim Wort nimmt und nicht nur seiner philosophischen Konstruktion nach beurteilt.
3.4 Negativismus Wird Verzweiflung von Kierkegaard im beschriebenen Sinne als universal verstanden, so lässt sie sich selbst einzig negativ begründen, wenn man die Gefahr einer schlechten Anthropologisierung vermeiden will. Das hieße, allein bei der Defizienz anzusetzen, die ihr Begriff ausdrückt, und nicht einen Gegenbegriff eines nichtentfremdeten Zustands vorauszusetzen, was man ja dem Entfremdungsdenken gerne pauschal unterstellt hat. Dass Kierkegaard das einlöst, wurde aber wiederholt infrage gestellt. Was hier zur Debatte steht, hängt zugleich eng zusammen mit dem Problem des Anfangs in der Philosophie überhaupt. Denn gesucht ist ja gewissermaßen ein voraussetzungsloser Beginn, würde doch jede im doppelten Sinne positive Vorannahme zur Natur des Menschen den Negativismus auflösen – und je nach Standpunkt auch den Entfremdungsbegriff entwerten. Nun hat Kierkegaard selbst wiederholt gegen den vermeintlich voraussetzungsfreien Anfang bei Hegel polemisiert. Hier tut sich das Problem der Zirkularität der Begründung auf, dass also vorausgesetzt werden müsste, was sich erst als Ergebnis erweisen könnte, wie er bereits in der Ironieschrift ausführt: „Jede Philosophie, die mit Theunissen 1996, 78. Allerdings argumentiert Theunissen hier auch mit der seiner Ansicht nach problematischen Identifikation der Verzweiflung mit der Sünde im zweiten Teil der Krankheit zum Tode, die doch dem Einzelnen, in ihrem Fundiertsein in der Erbsünde, ebenso die Bürde uneingeschränkter Verantwortung abnimmt.
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einer Voraussetzung anhebt, endet natürlich bei der gleichen Voraussetzung“ (BI, 36 / SKS 1, 89). Man kann aber weder ohne Voraussetzungen beginnen, noch unmittelbar bei diesen. So meint er in Bezug auf Hegel: „Der Anfang dieses Systems, das mit dem Unmittelbaren beginnt, i s t a l s o s e l b s t d u r c h e i n e R e f l e x i o n erreicht“ (AUN I, 104 / SKS 7, 108). Der Anfang bei Kierkegaard ist für Theunissen, der die „Negativismus-These“ für Die Krankheit zum Tode geprägt hat, ein negativer, wenngleich nicht in einem strengen Sinn voraussetzungsloser und zeitigt durchaus eine zirkuläre Begründungsstruktur. Nur ist ihm jener Weg vom Selbst – zunächst als Vorbegriff – zur Verzweiflung und von jener zum entwickelten Selbst kein gewöhnlicher Zirkel. Man könne ihn in gewisser Weise als einen „hermeneutischen“ ausweisen (Theunissen 1991a, 28). Auch Kierkegaard gehe von einem Verfahren aus, das das Resultat der Forschung zum Anfang der Darstellung mache, was sich auf Hegel zurückführen lasse und in ähnlicher Weise auch bei Marx finde. In der kierkegaardschen Form, dass sich der Vorbegriff an der Phänomenanalyse, am „Material der Verzweiflung“ ausweisen lassen müsse und aus diesem seine endgültige Fassung empfange, ließen sich aber auch Parallelen zum „Anti-Dialektiker“ Heidegger aufzeigen. Entscheidend ist ihm, um seine Negativismusthese zu stützen jedenfalls, „daß für Kierkegaard die Angewiesenheit des Vorbegriffs auf das Material elementarer ist als die Angewiesenheit des Materials auf den Vorbegriff“ (Theunissen 1991a, 29). Diese These ist in der Kierkegaardforschung aus verschiedenen Gründen umstritten. Dietz (1993b, 87) würdigt zwar Theunissens Untersuchung zur „negativistischen Methode“ Kierkegaards als einen „bemerkenswerten Beitrag“,³⁴ doch kritisiert er die verfremdende Plakativität dieser Signatur und die Grundannahme, dass kein positives Selbstkonzept zugrunde gelegt werde und sich das Wesen der Freiheit, worin Theunissen mit Figal (1984, 22) übereinstimmt, nicht „aus der Struktur des Selbst zu entwickeln vermag“. Die Behauptung, dass der Vorbegriff rein negativer Natur sei, stellt er von einem theologischen Standpunkt aus infrage, indem er auf die kierkegaardsche Glaubensdefinition zu Beginn der Abhandlung verweist. Sie sei „positiv als unverstellte Transparenz des sich zugleich zu sich und Gott verhaltenden Selbst“ (Dietz 1993b, 87). Allerdings wird ja diese Perspektive erst nachträglich eingenommen und die Glaubensdefinition dort nicht als solche ausgewiesen, sondern bloß als jener Zustand, indem die Verzweiflung vollkommen getilgt sei (KT, 15 / SKS 11, 130). Immerhin gesteht auch Dietz Theunissen zu: „Das Wahrheitsmoment seiner plakativen Chiffre ‚Negativismus‘ liegt allerdings darin, daß gerade auch in der Analyse der Negativität, d. h. durch und an Verzweiflung, das Wesen des Glaubens zu erhellen ist“ (Dietz 1993b, 86). Mehr noch als dessen Wesen ex negativo zu bestimmen, geht es Kierkegaard darum, zum Glauben zu motivieren, d. h. die Lesenden durch die Verzweiflung, die Formen misslingender Lebensdeutung, an die Grenzen einer rationalen, bzw. hinreichend sicheren Lebensverständigung zu führen und dadurch zum Sprung in den Glauben. Dabei ist dem Negati-
Vor allem, weil er den engen Zusammenhang zwischen Selbst-Konzept, Synthesis-Struktur und Verzweiflungsanalyse sowie die Prozesshaftigkeit des Selbst als Selbstverhältnis herausgestellt habe
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vismus ein Doppelcharakter als methodischer und inhaltlicher zu eigen.³⁵ Zugespitzt zeigt er sich in jener nihilistischen Erfahrung, sich keiner positiven Bestimmung versichern zu können. Der Glaube soll nun als das Notwendige, weil die Not wendende, erscheinen, nur ist der folgende Schritt einer, der gewissermaßen motivational, nicht jedoch argumentativ zu vermitteln ist. Der Zustand überwundener Verzweiflung bzw. Entfremdung zeichnet sich in der Krankheit zum Tode, zumindest in konkreter Form, das heißt auch seinem Phänomengehalt nach, fast ausschließlich als Negativ ab.³⁶ In anderer Weise hat Habermas (1992) die Negativität des Anfangs in Frage gestellt – und die Behauptung, dass der Zirkel ein hermeneutischer, d. h, erkenntniserweiternder sei. Kierkegaard verfalle insofern in einen Zirkelschluss, als er eine positive Auffassung gelingenden Lebens voraussetze, die als Maßstab für das grundlegende Misslingen der Lebensdeutung herhalte, ohne als solcher ausgewiesen zu werden. Stattdessen werde das Misslingen als Begründungsanfang für die Ableitung eines positiven Lebensverständnisses ausgegeben. Daher meint Habermas in einer Kritik an Theunissen, dass sich der Ansatz nicht als durchgängig negativistisch ausweisen lasse und bemängelt die „Übertragung transzendentaler Fragestellungen auf anthropologische Tatsachen“ (Habermas 1992, 25), d. h. dass „die transzendentale Frage nach den Bedingungen des Selbstseinkönnens“ (Habermas 1992, 26) an den Nachweis der Universalität der Grundbefindlichkeit der Verzweiflung gebunden sei. Wesche macht dagegen Unbestimmtheit als voraussetzungsfreien Grund geltend, also als einen, dem kein anderer vorausgehen darf. Er sei aber nicht voraussetzungslos, insofern er keine unmittelbare Evidenz für sich beanspruchen könne, also der Begründung bedürfe. Hier setzt ein, was er als Kierkegaards „Widerlegungsverfahren“ bezeichnet: „Maßstab des Misslingens ist allein der Anspruch gesicherter Lebensdeutung“ (Wesche 2003, 145). Ungeachtet der Frage nach den Voraussetzungen referiert Theunissen mit seiner Negativismusthese³⁷ hinsichtlich der konkreten Durchführung größtenteils nur, was Kierkegaard selbst im Abschnitt „Möglichkeit und Wirklichkeit der Verzweiflung“ zum Ausdruck bringt, wo es heißt: „[W]enn es wahr sein soll, dass ein Mensch nicht ver-
Kurz gesagt meint er inhaltlich das Nichtseinsollende, methodisch die Negation einer Position, gleich wie sie inhaltlich bestimmt sein mag; vgl. Theunissen 1991a, 17: „Sein Negativismus hat, näher betrachtet, einen inhaltlichen, materialen und einen methodischen, formalen Aspekt.“ Der Erfahrung jenes Gelingens, als emphatische Lebendigkeit, wendet sich Kierkegaard andernorts durchaus zu, insbesondere in seinen erbaulichen Reden. Vgl. Theunissen 1991a, 54– 55: „Diese Wirklichkeit [des gelingenden Selbstseins, M. K.] hat zur Möglichkeit nach Kierkegaard einen ungewöhnlichen Bezug. Denn wirkliches Selbstsein ist keine ‚erfüllte‘ Möglichkeit wie Wirklichkeit sonst; es ist bloß ‚die zunichte gemachte Möglichkeit‘ der Verzweiflung. Die wird aber nur dann nicht zur konkurrierenden Wirklichkeit, wenn ihre Möglichkeit je und je vernichtet wird […] Mithin gelingt Selbstsein – und darin liegt ja seine Negativität – ausschließlich im ständigen Vollzug des Zunichtemachens der Möglichkeit von Verzweiflung. Erst mit dieser Einsicht holt Kierkegaard seinen Vorentwurf reiner Prozessualität ein. Seine scheinbar traditionalistische Deutung des Selbst als Tathandlung basiert in Wahrheit auf der Erfahrung, daß die Verzweiflung in jedem Augenblick aufbrechen kann. Sie formuliert nur eine notwendige Bedingung, die der Mensch erfüllen muß, will er der Verzweiflung nicht anheimfallen.“
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zweifelt ist, dann muss er die Möglichkeit in jedem Augenblick vernichten“ (KT, 16 / SKS 11, 131). Der Charakter reiner Prozessualität des kierkegaardschen Konzeptes von Selbstverwirklichung liegt letztlich darin begründet, dass sich Verzweifeln als eine Bestimmung des Geistes zum Ewigen im Menschen verhält, das dieser wie gesagt auf Ewigkeit nicht loswerden kann. Das Verzweifeltsein ist darin als allgegenwärtige Möglichkeit vorhanden. Was Kierkegaard hier als eine fortschreitende Negation beschreibt, bedeutet auf der anderen Seite, die Prozesshaftigkeit des Menschseins nicht zu negieren, sondern als Realität anzuerkennen, was aber nur im beständigen Vollzug möglich ist. Verzweiflung wird in den Phänomenbeschreibungen misslingenden Lebens schließlich gerade als ein Festgelegtsein auf eine bestimmte Wirklichkeit charakterisiert, als eine Verdinglichung, die von der menschlichen Existenz als einem beständigen Streben zu abstrahieren versucht. Somit lässt sich zwar die Negativität als ein Zunichtemachen einer bestimmten Möglichkeit, der Verzweiflung, positiv gewendet jedoch gerade als ein Offenhalten der Möglichkeit als solcher beschreiben – womit sich das Gelingen, wenngleich sehr abstrakt, schon in der Krankheit zum Tode in positiver Gestalt abzeichnet. Wie bei den verwandten Konzepten des guten, erfüllten oder auch richtigen Lebens³⁸ handelt es sich beim gelingenden um einen der gängigsten Gegenkandidaten zum Begriff der Entfremdung. Entsprechend der ontologischen bzw. ethischen Vorrangstellung der Idee des Guten oder des höchsten Guts, umfasst der Begriff des guten Lebens die anderen Bestimmungen als Teilaspekte, die insofern komplementär zueinander stehen, gleichwohl aber „grundverschieden“ sind.³⁹ Anders als in der Perspektive der positiven Erfüllung von (Lebens‐)Zielen, geht es beim gelingenden Leben gerade – wie es Wesche (2018, 48) analog zu Kierkegaard auch für Adornos „anthropologische[n] Negativismus“ formuliert – um den „richtigen Umgang mit Negativitäten“, d. h. mit „Übeln wie dem Tod“. In seinen Begriff ist also, obgleich er das Seinsollende bezeichnet, je schon die inhaltliche Negativität und methodisch die Negation eingeschrieben.
4 Dämonie und Entfremdung Im Abschnitt zur Verzweiflung des Trotzes bezeichnet Kierkegaard das Dämonische als „eine Innerlichkeit […], die übergeschnappt ist“ (KT 83 / SKS 11, 186). Adorno zitiert diese Passage ebenfalls, wendet die Kritik aber gegen den Dänen selbst (GS 2, 66 – 67).⁴⁰ Er scheint die Bestimmung des Dämonischen auf die kierkegaardsche Innerlichkeit überhaupt zu übertragen, die ihm so in Gänze problematisch wird. Zugleich gebraucht er den Begriff des Dämonischen in einer Weise, die seinem Sinn bei Kierkegaard offenbar Siehe zum guten Leben in einem ethischen und außerethischen Sinne: Theunissen 1991b, v. a. 32– 35. Wesche 2018, 48. Er unterscheidet als „Bestandteile“ des guten Lebens das erfüllte, gelingende und selbstbestimmte Leben. Der Begriff des Dämonischen findet sich im Kierkegaardbuch ganze 45-mal – die beiden Beilagen nicht mitgerechnet.
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widerspricht.Wiederholt ist etwa von „Naturdämonie“ die Rede, worunter er nach jener Logik der Verdinglichung das fasst, was als ausgeschlossene Natur auf den „Idealismus der objektlosen Innerlichkeit“ (GS 2, 173) zurückschlägt. Und schließlich wird sie ihm gar selbst zur mythischen Figur – etwa, wo er Kierkegaards Erläuterung des Dämonischen anhand der Sage von Agnete und dem Wassermann kommentiert: „Objektlose Innerlichkeit muß schweigend beharren gleich dem trotzigen Naturdämon.“⁴¹ Zu erörtern gilt es also vorab, was Kierkegaard selbst unter dem Dämonischen versteht.⁴² Seine ausführlichste Bestimmung erfährt der Begriff in der Angstabhandlung. Zunächst meint er – als übergeschnappte Innerlichkeit – das „Verschlossene“ (BA, 144 / SKS 4, 424). Verschlossenheit bedeutet hier aber nicht das Verschließen einer Innenwelt gegenüber dem Äußeren, sondern eine Auflösung in der Horizontalen: Ein Kreisen um sich selbst, ein leeres Reden mit sich, ohne sich dabei zu sich selbst und zu Gott zu verhalten. Hier ermangelt es also kurz gesagt gerade der Innerlichkeit, die beide Verhältnisbestimmungen umfasst. Das Dämonische wird insgesamt mit der „Angst vor dem Guten“ identifiziert. Das Gute meint wesentlich Freiheit, was die im engeren Sinne ethische oder sündentheologische Dimension einschließt. Zunächst ist aber auch hier Freiheit mit dem Selbst gleichzusetzen. Daher ist das Dämonische, wie alle Formen der Angst, eine in sich selbst befangene Freiheit. Es bedeutet einen Selbstverlust, wie er eben auch in Gestalt der Verzweiflung des Trotzes auftritt, und untergräbt zugleich als Unfreiheit die Bedingungen der Möglichkeit ethisch verantwortlichen Handelns. Es ist kaum eine Übertreibung zu behaupten, dass alles, was Kierkegaard andernorts an Entfremdungsphänomenen beschreibt, im Begriff des Dämonischen bereits enthalten ist. So lässt sich das Dämonische auch ausdrücklich als Verdinglichung ausweisen, d. h. als Verlust von Subjektivität – „es wird der Objektivität eine Macht eingeräumt, wie sie das Haupt der Medusa besaß: Sie kann die Subjektivität versteinern, und die Unfreiheit will nicht, daß der Zauber gelöst wird“ (BA, 164 / SKS 4, 440). Das erinnert nun auf eigentümliche Weise an jene Logik der Verdinglichung, die Adorno Kierkegaard unter der Überschrift mythischer „Naturdämonie“ entgegenhält, fast als ob er sie bei diesem selbst abgelesen hätte. Dass Kierkegaard hier vom „Aberglauben“ spricht, also gewissermaßen dem Glauben an die Macht des Dämonischen im gängigen Sinne, tut der Allgemeinheit dieser Feststellung keinen Abbruch. Denn im Kern geht es ihm ja darum, zu zeigen, wie der Einzelne sich von einer anspruchsvollen Freiheit, die er selbst ist, seiner Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit, entlastet. Das ist das große Thema der Angstabhandlung. Daher führt er Innerlichkeit hier auch mit Handlung eng (BA, 162 / SKS 4, 439).
GS 2, 173. Die betreffende Passage findet sich in Furcht und Zittern: FZ, 106 – 113 / SKS 4, 183 – 189. Dass Kierkegaard überhaupt den Begriff des Dämonischen gebraucht, der, wie er selbst zugesteht, aus der Zeit gefallen zu sein scheint, hat vorrangig seinen Grund darin, dass er ihn in christlicher Hinsicht der Offenbarung gegenüberstellt (BA, 148 – 149 / SKS 4, 428 – 429). So versteht er ihn auch zunächst als Verschlossenheit ihr gegenüber. Offenbarung hat dabei jedoch einen Doppelsinn, denn sie ist auch Selbstoffenbarung – im Falle des Dämonischen eine „unfreiwillige“ (BA, 151 / SKS 4, 430). Nicht zuletzt das rechtfertigt den philosophischen Zugriff.
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Allerdings fasst Kierkegaard unter der Überschrift des Dämonischen auch Formen berechnender und ausdrücklich manipulativer Handlungsstrategien. Wie ist dieser Widerspruch aufzulösen? Sämtliche Phänomene des Dämonischen versteht Kierkegaard nach einem Schema, das auch seiner Theorie der Selbsttäuschung zugrunde liegt, als eine „aktive Passivität“ (Wesche 2011, 93). Damit löst er aber zugleich den Gegensatz von Aktivität und Passivität auf – was, wie sich im folgenden Kapitel zeigen wird, typisch und nicht unproblematisch für seine Auffassung von Innerlichkeit ist und eben nicht nur für ihr Gegenbild im Dämonischen gilt. So stellt er in einer deutlich an Fichtes Bestimmung der Tathandlung erinnernden Weise fest: „Dieses Selbstbewußtsein ist daher Tat, und diese Tat wiederum ist die Innerlichkeit, und immer wenn die Innerlichkeit diesem Bewußtsein nicht entspricht, gibt es eine Form des Dämonischen, sobald sich das Ausbleiben der Innerlichkeit als Angst vor ihrem Erwerben äußert“ (BA, 168 / SKS 4, 443 – 444). Es nimmt nun, wie er weiter ausführt, zwei Gestalten an, die sich danach unterscheiden, ob sie mit einer Aktivität oder mit Passivität beginnen. Diese Unterscheidung ist aber, ähnlich der wechselseitigen Rückführbarkeit der beiden Grundformen der Verzweiflung, nur eine relative, da ihnen letztlich eine Tätigkeit zugrunde liegt, die beiden gemein ist – eben dass die Freiheit sich in sich selbst fängt. So beginnt nun der „Unglaube“ in der„Aktivität der Freiheit“, der Aberglaube hingegen in der„Passivität der Unfreiheit“ (BA, 169 / SKS 4, 444). Letzterer lässt sich eben deshalb als Verdinglichung ausweisen, weil er der Objektivität vorweg eine Macht über sich selbst als Subjekt einräumt und insofern bei der Passivität ansetzt, auch wenn es sich dabei ja ebenso um eine Tätigkeit handelt. Nicht weniger typisch für die Diskussion um Entfremdung ist, um nur eine weitere der vielen möglichen Perspektiven zu nennen, die Charakterisierung des Dämonischen als „das Inhaltslose, das Langweilige“ (BA, 155 / SKS 4, 433) Sie ist auf die vorangehende Bestimmung des Dämonischen in zeitlicher Hinsicht bezogen: „Das Dämonische ist das Plötzliche“ (BA, 152 / SKS 4, 430) – im Gegensatz zur Kontinuität in Innerlichkeit, die für Kierkegaard erst in ihrem Bezug zur Ewigkeit Halt findet. Das Plötzliche als Bestimmung des Dämonischen zeigt sich allerdings gerade in einer „Schein-Kontinuität“ – „das traurige Perpetuum mobile eines Einerlei“ (BA, 152 / SKS 4, 431). Daher meint Kierkegaard: „Die Langweiligkeit, die Ausgestorbenheit ist eine Kontinuität im Nichts. […] Die Freiheit befindet sich ruhig in Kontinuität, der Gegensatz dazu ist das Plötzliche, aber auch jene Ruhe, die sich der Vorstellung beim Anblick eines Menschen aufdrängt, der aussieht, als wäre er schon längst gestorben und begraben“ (BA, 156 / SKS 4, 434). Daher ist es auch kein Widerspruch, dass sich das Dämonische ebenso im Desinteresse oder in der intellektuellen „Bequemlichkeit“ zeigt, wie in der „Neugierde, die nichts weiter als Neugierde bleibt“ (BA, 161– 162 / SKS 4, 438). Auch hier mag er Heidegger eine Anregung gewesen sein. Derartige Bestimmungen – der Stillstand in Bewegung, das Immergleiche im Neuen, wie dessen pathische Seite, der Verlust an Lebendigkeit – werden im weiteren Verlauf der Untersuchung in verschiedener Hinsicht als Phänomene von Entfremdung eine Vertiefung erfahren. Eine gänzlich andere Richtung schlägt die Arbeit Jan Cattepoels, Kierkegaard als Kommunikationsanalytiker und Sozialkritiker, ein. Sie ist vor allem deshalb auf-
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schlussreich, weil sich an ihr die Differenzen zum hier zugrunde gelegten entfremdungstheoretischen Ansatz in Bezug auf die Deutung des Dämonischen und die Sozialkritik Kierkegaards im Allgemeinen aufzeigen lassen. Dass er wie erwähnt zu denen gehört, die Adornos Deutung am entschiedensten zurückgewiesen haben, ist kein Zufall. Seiner Untersuchung legt er ein zweipoliges Modell von Kommunikation zugrunde, das im weiteren Sinne als „dialogisch“ (Cattepoel 2011, 121) bezeichnet werden kann und soziale Beziehungen auf der Ebene der Intersubjektivität in den Blick nimmt. Gesellschaftliche Objektivität im hegelschen Sinne bleibt dagegen weitgehend außen vor – sie fungiert allenfalls als unbefragter Hintergrund dämonischer Akteure. Dass er mit Kierkegaard auch Institutionen thematisiert, allen voran natürlich die dänische Staatskirche und die Presse seiner Zeit, ändert daran wenig, insofern sie gewissermaßen personalisiert und wie die Bürger, an die sie sich als Adressaten richten, zu „Gesprächspartnern“ (Cattepoel 2011, 184) werden. Das markiert die Differenz zur entfremdungs- und insbesondere verdinglichungstheoretischen Betrachtung, die an der Diagnose der Verselbständigung von Objektivationen menschlicher Praxis und eben auch der Kommunikation ansetzt. Schon die Leitfragen, die Cattepoel zu Beginn seiner Untersuchung stellt, geben die Richtung vor. Von der Frage nach dem Dämonischen geht er umstandslos zu den Dämonischen über, weshalb die Aufgabe nun darin besteht, „die typische Kommunikationsform zwischen Dämonischen und ihren Opfern zu bestimmen“ (Cattepoel 2011, 9). Allerdings versteht er den Dämonischen hierbei insofern nicht als Täter, als dieser, wie er fortfährt, „in der Regel bona fide“ handle. Beiden fehle es aber an Verantwortungsbewusstsein. Das gilt in gewisser Weise auch für den entfremdungstheoretischen Blick, da sich die Betroffenen ja von Eigenverantwortung entlasten. Dieses Verhalten ist jedoch eingebunden in eine übergreifende Bewegung der Entsubjektivierung. Was nun aber die Frage nach der Verantwortung für diese Entwicklung angeht, so müsste man im Sinne selbstverschuldeter Unmündigkeit die Entfremdeten als Täter und Opfer zugleich bestimmen. Das Verhalten der Betroffenen lässt sich wie gesagt als eine aktive Passivität beschreiben. Cattepoel (2011, 116) jedoch unterscheidet ausdrücklich eine aktive und passive Seite in der Kommunikation: „Alle bisher dargestellten Beziehungen dämonischer Menschen zu ihren Opfern kann man radikal einseitig nennen: Auf der Seite der Dämonischen liegt alle Aktivität, sie allein sind diejenigen, die fordern und herrschen. Und auf Seiten der Opfer sehen wir nur totale Hingabe und Unterwerfung.“ Sie sind, wie er gerne sagt, die „Verführten“. Andererseits muss er in Übereinstimmung mit Kierkegaard einräumen, dass zumindest im Selbstverhältnis des Dämonischen beides in eins fällt – darin besteht ja dessen Unfreiheit, als eine in sich selbst befangene Freiheit –, behauptet aber, dass sich diese aktive Passivität in der intersubjektiven Dynamik in jene beiden Pole aufteile.⁴³ Nicht nur, dass Cattepoel (2011, 10) in sozialen Beziehungen eine solch radikale Unterscheidung vornimmt, er identifiziert auch explizit einzelne Akteure und „mächtige gesellschaftliche Gruppen“, denen eine „diffuse Menge der Spießer“ gegen-
Vgl. Cattepoel 2011, 61 bzw. 117.
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überstehe. Der Konservativismus einer solchen Analyse der Massengesellschaft ist Kierkegaard vielleicht angemessen, der Partikularismus darin jedoch nicht. Denn vom Spießbürger heißt es bei ihm: „er mag im Übrigen Bierzapfer oder Staatsminister sein“ (KT, 45 / SKS 11, 156). Kierkegaard ist weit davon entfernt, eine solche Spießigkeit nur bestimmten gesellschaftlichen Gruppen, sei es nach ihrem Berufsstand oder ihrem (mangelnden) Einfluss, zuzurechnen. Ohnehin ist es problematisch, jene zentralen Figuren der kierkegaardschen Gesellschaftskritik dem Dämonischen einzuschreiben, wie Dietz (1993b, 82) in seiner Rezension zu Recht kritisiert, und dieses „zum interpretatorischen Universalschlüssel zu machen“.⁴⁴ Schließlich verhält es sich doch gerade umgekehrt: „Zwar findet sich bei Kierkegaard durchaus ein Ansatz zu einer umfassenden Ideologiekritik (vor allem im Blick auf Medien, Demokratie und Massenbewegung), aber der Schlüssel hierzu liegt im Begriff der Nivellierung, nicht dem Dämonischen. Zentral für seine Kritik der bürgerlichen Existenz ist vor allem die Figur des Spießbürgers“ (Dietz 1993b, 82). Cattepoel leitet die Nivellierung aus einer Macht- bzw. Herrschaftsstrategie ab, was sie geradezu als gesteuert erscheinen lässt: „Diese Fehlentwicklung in der Kommunikation beabsichtigt der Dämonische, sie ist sein Herrschaftsinstrument; der Widerspruch in seiner Ansprache ist deshalb kein Zufall, er stellt vielmehr eine vorsätzlich konstruierte ‚Falle‘ für die Mitmenschen des Dämonischen dar.“⁴⁵ Damit steht er Adornos verdinglichungstheoretischer Deutung dieses Phänomens (vgl. GS 2, 256) diametral entgegen. Die Tendenz zur Nivellierung ist erstens nicht primär intentional von Akteuren verursacht und betrifft zweitens grundsätzlich sämtliche Mitglieder der Gesellschaft. Daher sind die „Verfügenden“, mögen sie auch andere ausbeuten und manipulieren, selbst in bestimmter Hinsicht noch Opfer, wie Adorno feststellt (GS 8, 370). Dass Kierkegaard einen derart umfassenden Begriff von Nivellierung als Entfremdung hat, legt auch die Überschneidung seiner Sozialkritik mit der Kritik an der Spekulation nahe. Sie lässt sich ebenfalls auf den Begriff der Nivellierung bringen. Sein „Einzelner“ hat in seiner Polemik gegen den „Mainstream“, wie Dietz (2006, 200, Anm. 28) es ausdrückt, ein „doppeltes Gesicht“: „Erstens als Nein zum Hegelianismus, zweitens als Nein zur modernen Massengesellschaft und ihrem Nivellierungsorgan, der Presse. Beide Konfrontationslinien können natürlich nicht zur Deckung gebracht werden, wenngleich sie einen abstrakten Schnittpunkt haben, nämlich im Begriff des Allgemeinen, das als ein Absolutes gesetzt wird.“
Er bezieht sich hier auf die erste Veröffentlichung von 1992. Einen Überblick über die Kritik an seinem Buch gibt Cattepoel (2011, 39 – 40) selbst. Cattepoel 2011, 132. Wohlgemerkt geht es ihm hier um eine „soziale Beziehung außerhalb von dämonisierten Zweierbeziehungen“ (124), d. h. in größeren, auch institutionellen Zusammenhängen.
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5 Vorbemerkungen zu Kierkegaards Kritik der Spekulation 5.1 Wer ist der Adressat der Polemik? Die in der Forschung bisweilen diskutierte Frage, ob Kierkegaards Polemik nicht vielmehr der „Hegelei“ seiner Zeit gilt als Hegel selbst, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Zumindest weisen vereinzelte Bemerkungen darauf hin, dass er sich des Unterschieds durchaus bewusst war. Die Einleitung zur Angstabhandlung – einer der aufschlussreichsten Texte hinsichtlich seiner Haltung zum Deutschen Idealismus und zu Kant – lässt beide Deutungen zu. Ausdrücklich ist jedenfalls von Hegel und der Wissenschaft der Logik die Rede⁴⁶, aber auch von „Hegel samt Schule“ (BA, 15 / SKS 4, 319). Und ohnehin ist damit ja noch nichts darüber ausgesagt, ob der Bezug auf ihn nicht doch ein vermittelter und ob die Kritik nicht eine stellvertretende ist – ähnlich wie Adorno bisweilen auf Heidegger abzielt, wo er den Dänen kritisiert. Am entschiedensten hat Jon Stewart 2003 die These vertreten, dass Kierkegaards Polemik eigentlich dem Hegelianismus insbesondere seiner Landsleute galt. Er widerspricht dabei ausdrücklich Thulstrups Untersuchung von 1972. Dessen Arbeit ist insofern charakteristisch für die ältere Literatur zu Kierkegaards Auseinandersetzung mit Hegel, als sie das Trennende betont – um das es mir hier zunächst ebenfalls geht. Während Thulstrup meint, dass sie schlechthin nichts gemein hätten, neigt Stewart dazu, bisweilen einseitig das Verbindende hervorzuheben. Davon abgesehen hat man in der jüngeren Literatur aber zu Recht die durchaus auch affirmative Bezugnahme Kierkegaards auf Hegel berücksichtigt. Bekanntermaßen konnte dieser außerhalb Deutschlands zuerst in den nordischen Ländern eine breite Wirkung entfalten. Das war in Dänemark vor allem Johan Ludvig Heiberg geschuldet, dessen Einfluss auch auf den jungen Kierkegaard kaum unterschätzt werden kann, sowie Hans Lassen Martensen (vgl. Stewart 2003, v. a. 50 – 69). Beide haben bis zum Schluss ihre Spuren in Kierkegaards Schriften hinterlassen, und Letzterer motivierte ihn 1854 als Bischof von Seeland mit der Leichenpredigt für seinen Amtsvorgänger Mynster zum finalen Angriff auf die dänische Staatskirche. Schon das lässt erahnen, warum Kierkegaards Gesellschafts- und Kirchenkritik nicht von der am Hegelianismus zu trennen ist. Bevor sich Kierkegaard mit Hegels Werk auseinandersetze, war seine Kenntnis eine aus zweiter Hand. Dabei zeigt sich bereits in seiner frühesten Äußerung zu ihm, in einem (fiktiven) Brief aus dem Jahr 1835, wie Thulstrup (1972, 48) meint, „ein charakteristischer Sachverhalt“ auch für seinen späteren Umgang mit diesem Denken, „nämlich daß Kierkegaard offenbar von einer ganz flüchtigen Bekanntschaft mit Hegels Philosophie her keineswegs gezögert hat, ein bestimmtes Verhältnis als einen Ausdruck Hegelscher Dialektik zu charakterisieren“. Das ist sicherlich richtig, egal welcher Art die Bekanntschaft war. Unstrittig ist aber auch, dass er sich bald schon mit Hegel selbst beschäftigt. Thulstrup (1972, 319 – 320) kommt zum Ende seiner Untersuchung zu dem
Er gibt einzelne Satzfragmente auf Deutsch wieder.
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Fazit, dass Kierkeggard sich später zwar durchaus eine umfassende Kenntnis von dessen Werken angeeignet hatte, ohne sich jedoch systematisch mit ihnen auseinandergesetzt zu haben. Eine akribische Untersuchung dazu – etwa welche Schriften Hegels der Däne besaß – findet sich bei Stewart.⁴⁷ Er weist darüber hinaus nach, wie sehr sich Kierkegaard dessen Gedanken zu eigen macht – wenngleich sicher nicht „systematisch“. Offensichtlicher ist das in der frühen Schaffensphase. Die direkte Bezugnahme auf Hegel samt Quellenangaben nimmt, allein schon aufgrund des akademischen Zuschnitts, in seiner Magisterdissertation den größten Raum ein. In der weiteren Entwicklung von Kierkegaards Denken steht nun die entschiedene Abwehr der Spekulation im Vordergrund. Ihren Höhepunkt und Abschluss findet die Polemik in der Nachschrift von 1846. Sieht man von der Frage ab, wer dabei der eigentliche Adressat ist, sind sich Stewart und Thulstrup in dieser Chronologie größtenteils einig. Auch darin, dass eine nachweisbare Auseinandersetzung mit Hegel zu dem Zeitpunkt weitgehend zum Erliegen kommt, wo Kierkegaards eigenes Denken ein klares Profil gewonnen hatte – was natürlich viel über sein Interesse dabei aussagt. So ist Die Krankheit zum Tode von 1849, die also jenseits dieser Phase liegt, nicht nur seine systematischste, sondern in dieser Hinsicht auch hegelschste Schrift.⁴⁸ Er sieht sich wohl nicht mehr genötigt, sich von Hegel oder dessen Anhängern abzusetzen. Für diese Untersuchung sind solche Fragen ohnehin von untergeordneter Bedeutung – und das weniger, weil Adorno etwa umstandslos einer Passage der Magisterdissertation eine aus der Nachschrift an die Seite stellt (GS 2, 42– 44). Vielmehr setzt er Kierkegaard in Bezug zu Hegel selbst und nicht zum Hegelianismus und nimmt ihn als dessen Kritiker ernst. Würde sein Einspruch allein die Modephilosophie betreffen, so wäre das eher von allgemein geistesgeschichtlicher oder von philologischer Relevanz und brächte die Gefahr mit sich, die auf den ersten Blick allzu pauschale und ungerechtfertigte Kritik umzulenken auf einen Stellvertreter und damit in bequemer Weise zu neutralisieren. Das aber ist gerade nicht im Sinne Adornos, weil er sich in seiner eigenen Anverwandlung Hegels an entscheidenden Stellen kierkegaardsche Gedanken zu eigen macht. Und darum, das nachzuvollziehen, geht es mir schließlich.
5.2 Abstraktion als Entfremdung „Mit der Abstraktion geht es leicht genug, aber man entfernt sich auch immer mehr von der Existenz, und das reine Denken ist der Existenz am fernsten“ (AUN II, 34 / SKS 7, 302), stellt Kierkegaard in der Nachschrift fest. Die Abstraktion beschreibt für ihn also in-
Siehe hierzu auch seinen Aufsatz: „Hegel: Kierkegaard’s Reading and Use of Hegel’s PrimaryTexts“ von 2007. Vgl. Stewart 2003, 551: „I wish to argue that while the content of Hegel’s philosophy is wholly absent from the discussions of The Sickness unto Death, his dialectical methodology is at least in part taken up here.“ Joachim Ringleben (1995, 24– 25) spricht in Bezug auf die Verzweiflungsschrift gar von einer„streng spekulativen ‚Begriffsentwicklung‘“.
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sofern eine Bewegung der Entfremdung, als sie sich vom leibhaftigen, existierenden Menschen abkehrt. In diesem Sinn ist die Kritik am spekulativen Denken selbst „Entfremdungsdiagnose und Entfremdungskritik“, wie Lore Hühn (2009, 182) argumentiert.⁴⁹ Das kann nun aber je nach Perspektive zweierlei bedeuten. Einerseits wird darin etwas vom ganzen Menschen abgezogen, er wird gewissermaßen eindimensional und ist in dieser Weise entfremdet. Andererseits entäußert er sich selbst – sozusagen spiegelverkehrt zur Selbstentfremdung des Geistes bei Hegel – an die Sphäre des „reinen Denkens“. Dass dieses von der Existenz abstrahiert, mag man ihm in einem bestimmten Sinn zugestehen. Wenn er aber meint, es abstrahiere „also von dem, was es erklären sollte“ (AUN II, 31 / SKS 7, 300), so drängt sich sogleich die Frage auf, ob Kierkegaard nicht schlicht die Kategorien verwirrt – was Adorno ihm, wie sich zeigen wird, auch wiederholt vorhält. Sprechen er und Hegel nicht von Verschiedenem, d. h. geht es Letzterem überhaupt um individuelle, existierende Subjektivität, will er sie „erklären“? Dieses Problem stellt sich umso mehr, wenn man bedenkt, auf welche Passagen welcher Werke Hegels sich seine zumeist impliziten Verweise beziehen. In der Nachschrift stammen sie fast ausschließlich aus der Wissenschaft der Logik und der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Es scheint beinahe, als würde er den Hegel bis zur Phänomenologie des Geistes von der Kritik ausklammern und allein den wissenschaftlichen Standpunkt – nicht den Weg dorthin, auf dem das Subjekt in gewisser Weise noch mit dabei ist – in den Blick nehmen. Ohnehin ist bei ihm oft, wo es um Hegel geht, schlicht von „Wissenschaft“ die Rede. Wenngleich Hegel – „samt Schule“ – zweifellos sein Hauptgegner ist, so zielt doch Kierkegaard auch über ihn hinaus auf eine ganze Theorietradition, die ihm, wie überhaupt dem Nachidealismus, zum Problem wird und die er manchmal, darin Marx nicht unähnlich, mit der Philosophie schlechthin gleichsetzt. Hühn (2009, 188) resümiert dazu: Es ist die von Aristoteles ausgehende Hauptströmung abendländischen Philosophierens jener – in einem terminologisch signifikanten Sinne – theoria, welcher Kierkegaard massiv zusetzt und den Prozess macht, gerade weil er mit ihr einen Reflexionstyp ins europäische Denken gekommen sieht, bei dem sich schon anfangs die Tendenz jener Selbsttäuschungen ankündigt, deren Linien der Däne bis zu Hegels System der vollendeten Metaphysik nachzeichnet.
Daher ist auch der immer wieder gegen ihn erhobene Einwand, Hegel bloß missverstanden zu haben, vorab schon insofern zu relativieren, als es ihm darum geht, eine echte Alternative zu unterbreiten – und zwar eine, die bei diesem gar nicht in den Blick kommt, da sie auf ebenso subtile wie komplexe Weise in der Behauptung, sie sei bereits
Abstrahiert wird ihr zufolge von der Existenz als eines „praktisch-individuellen Selbstvollzugs“, was sie ausdrücklich als „Selbstentfremdung“ bezeichnet (Hühn 2009, 182). Der Begriffsgebrauch ist auch dadurch gerechtfertigt, dass die Bewegung der „allbekannten Logik“ der Verselbständigung folgt: Auf das „Subjekt“ schlägt „von außen, zudem in verselbständigter, anonym gesteuerter Form jene repressive Gewalt zurück, welche es in seinem Verhältnis zu sich ohnehin schon von sich aus, wenn auch beileibe nicht aus eigener Vollmacht unentwegt exekutiert“ (Hühn 2009, 182– 183). Vgl. hierzu auch ihren Aufsatz von 2004.
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bedacht, unterschlagen wird. Hühn spricht daher zu Recht von „Selbsttäuschungen“. Kierkegaards Polemik gegen das reine Denken Hegels ist erst vor diesem Hintergrund zu begreifen – und nicht als philologisch unangemessene Auslegung misszuverstehen. Diese Konstellation steht im Zentrum seiner Kritik, insofern sich alle anderen Vorwürfe daraus ergeben – die im Folgenden erörterte Verkehrung von Wirklichkeit und Möglichkeit, die auf dem Kopf stehenden (existenziellen) Zeitverhältnisse und die Unterwanderung der Geschichte durch ein metaphysisches Prinzip. Am offensichtlichsten aber zeigt sich die Einstellung der theoria in der von Hegel eingeforderten Gleichgültigkeit. Und auch die Kritik der „Wissenschaft“ – die Adorno dann ganz zu Beginn des Kierkegaardbuchs aufgreift – erhält so ihren Zusammenhang, da sie wesentlich dem „theoretischen Selbstzweckcharakter des Wissens“ (Hühn 2009, 189) bzw. der Selbstreferentialität seiner Begründung gilt.⁵⁰ Allerdings bedeutet doch Hegels Bestimmung der „reinen Wissenschaft“ zugleich eine Kritik der tradierten Metaphysik aristotelischer Prägung. Er charakterisiert sie in bestimmter Hinsicht ähnlich wie später Heidegger, der von „vor-stellendem Denken“ spricht.⁵¹ Zumindest gilt das nach Hegel für die eine Seite jener „älteren Metaphysik“, nicht aber ihre Einsicht, „daß das Denken und die Bestimmungen des Denkens nicht ein den Gegenständen Fremdes“ sei (TW 5, 38). So heißt es in der Einleitung der Wissenschaft der Logik: „Die reine Wissenschaft setzt somit die Befreiung von dem Gegensatze des Bewußtseins voraus“ (TW 5, 43).Von diesem Gegensatz, sozusagen der „Entfremdung von Subjekt und Objekt“, ist die Phänomenologie des Geistes eben noch nicht befreit. Sie ist, wie er hier sagt, deshalb die „Deduktion“ dieses Standpunkts. Das reine Denken ist nicht eines, das transzendentalphilosophisch von allem Gegenständlichen darin abstrahiert und so „rein“ wird, sondern eines, dass sich als Einheit der darin ausgesprochenen Unterscheidung begreift. Das bedeutet aber für Hegel, dass es „objektives Denken“ ist. Insofern kann sich der subjektive Denker dagegen tatsächlich als Alternative profilieren. Doppeldeutig wird diese Bestimmung aber dadurch, dass Hegels Logik schließlich der Begriff „das Subjekt selbst ist“ (TW 5, 62). In diesem Sinne ist ja auch die Begriffslogik „subjektive Logik“. Und aus diesem Grund gilt Adorno das Subjekt-Objekt eben vorrangig als Ausdruck eines Primats des Subjekts, wenngleich er das objektive, ja materialistische Moment darin nicht verkennt. Je nachdem auf welcher Ebene der Argumentation er sich befindet, wird ihm auch deshalb Kierkegaard zum Korrektiv daran, oder erscheint als Rückschritt hinter Hegel. Klar ist aber, dass die konstituierende Subjektivität, die Adorno auch dem Dänen unterstellt, von solcher, wie sie dem spekulativen System zugrunde liegt, kategorial verschieden ist.
Letzteres ist der im Spinozastreit und später im Sendschreiben an Fichte geäußerte Hauptvorwurf Jacobis – den Kierkegaard sich zu eigen macht –, dass „der philosophische Verstand“ sich letztlich immer nur selber auslege (vgl. Hühn 2009, 199 – 201). Vgl. Michael Theunissen (1994, 23), der – allerdings ohne sich auf Heidegger zu beziehen – in Bezug auf Hegels Kritik vom „Vorstellungscharakter“ metaphysischen Denkens spricht.
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5.3 Allgemeinheit und Konkretion Von welcher Abstraktion ist nun bei Kierkegaard die Rede? Es geht ihm im Grunde weniger um das Abstrakte als vielmehr das Allgemeine – zwei Begriffe, die er, das verbindet ihn mit Hegel, aber zusammendenkt. Gerade am Verhältnis zum Allgemeinen lässt sich besagte Radikalisierung der Kritik am spekulativen Idealismus seit Kierkegaards Erstlingswerk nachvollziehen. In der Nachschrift wird, wie Schwab resümiert, deutlich, „dass das Ethische und die Wirklichkeit nun nicht mehr – wie im Frühwerk – als ‚Versöhnung‘ des Einzelnen mit dem Allgemeinen gedacht werden. Vielmehr stößt sich das Interesse der Existenz gerade vom Allgemeinen ab, das nun als ‚existenzfernes‘ Medium des Begriffs und der Abstraktion verstanden wird“ (Schwab 2014, 102). Kierkegaard steht damit auf den ersten Blick einem intuitiven, alltagsverbundenen Begriff von Entfremdung nahe und auch dem gängigen Vorurteil nicht nur dem Idealismus, sondern der Philosophie überhaupt gegenüber – dass sie entfremdet vom konkreten Menschen sei. Freilich ist es so einfach nicht. Denn Kierkegaard macht sich zwar die hegelsche Logik nicht zu eigen, wohl aber in einem bestimmten Sinn die Logik seiner Begriffe, und sei es auch in ihrer Umkehrung. Zunächst ist ja für Hegel das Konkrete nicht das einfache, bloß Besondere oder Unmittelbare, sondern vielmehr dem Wortsinn gemäß das Zusammengesetzte, Komplexe, Vermittelte. In dieser Hinsicht ist Abstraktion bei Hegel ein Wort der Kritik.⁵² Besonderheit ist ihm zufolge nun durchaus als Besonderung zu verstehen, und drückt so entfremdungstheoretisch das Moment des Getrenntseins aus. Wie sich im Verhältnis zu ihr Allgemeinheit bestimmt, formuliert besonders verdichtet ein Abschnitt aus der Enzyklopädie: „Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit sind abstrakt genommen dasselbe, was Identität, Unterschied und Grund. Aber das Allgemeine ist das mit sich Identische ausdrücklich in der Bedeutung, daß in ihm zugleich das Besondere und Einzelne enthalten sei. Ferner ist das Besondere das Unterschiedene oder die Bestimmtheit, aber in der Bedeutung, daß es allgemein in sich und als Einzelnes sei“ (TW 8, 314). Das scheint zunächst durchaus „verwirrend, ja sogar irreführend“, wie Friedrike Schick (2006a, 121) zu Recht im Eintrag zum Stichwort „Allgemeinheit“ im Hegel-Lexikon meint. Dass das Allgemeine das Identitätsprinzip ausdrückt, ist zwar nachvollziehbar,
Das führt in polemischer Form seine berühmte Schrift „Wer denkt abstrakt?“ vor: TW 2, 575 – 581. Hegel knüpft hier an landläufige Vorurteile gegen das vermeintlich abstrakte Denken an und kehrt den Spieß um. Abstrakt ist das, was von einem Gegenstand etwas abzieht, in der Hoffnung, dabei nur Wesentliches zurückzubehalten. Gerade das misslingt aber dem scheinbar konkreten, vermittlungslosen Denken. Gelingende Abstraktion ist für Hegel erst im Begriff möglich. Dennoch wird die Abstraktion in besagtem, gängigen Verständnis keineswegs von ihm verworfen. Sie ist vielmehr, als Abstraktion vom bloß Anschaulichen, unabdingbare Voraussetzung jener höheren Form begrifflicher Abstraktion. Als solche begreift sie Hegel ausdrücklich als notwendiges Moment eines Entfremdungsprozesses: „Der Jugend muß zuerst das Sehen und Hören vergehen, sie muß vom konkreten Vorstellen abgezogen, in die innere Nacht der Seele zurückgezogen werden“ (TW 4, 414). Dass, wie es weiter heißt, das „Abstrakte das Einfachere“ ist, ist eben mehrdeutig. Und schon für dieses vermeintlich Einfachere ist ja Bildungsarbeit nötig.
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sofern darunter ja gemeinhin das Verbindende, im Sinne einer verschiedenen, sich gegeneinander unterscheidenden besonderen Entitäten je zukommenden Eigenschaft verstanden wird. Dass aber das Besondere in ihm enthalten sein soll, im Sinne einer Implikation, widerspricht einer solchen Auffassung. Damit kommt einerseits die Einzelheit ins Spiel, die über eine derartige Beziehung der Subsumption einen Überschuss hat, andererseits ist damit bereits die Unterscheidung zwischen abstrakter und konkreter Allgemeinheit angesprochen. Erstere nennt Hegel auch die „Allheit“. Sie ist als „Gemeinsamkeit Verschiedener“ (F. Schick 2006a, 122) im Verhältnis zu Letzterer eine defizitäre Vorstufe – und als solche Teil der dialektischen Bewegung. Wie ihr voller Begriff zu denken ist, fasst Schick treffend zusammen: „[M]it der Allgemeinheit einer Bestimmung verbindet sich der Anspruch, eine die ganze Sache übergreifende Bestimmung und nicht nur einen herausgreifbaren Aspekt unter anderen gefunden zu haben“ (F. Schick 2006a, 122). Das ist durchaus das, was man üblicherweise als Allgemeinheit versteht – insbesondere wo eine gesellschaftliche gemeint ist. Und die bestimmt nun auch das Verhältnis zur Besonderheit, das ein notwendiges ist. Wenngleich jedes der Momente nach Hegel die anderen in sich enthalten soll, so denkt er doch das Allgemeine als das übergreifende. Und dass das Moment der einzelnen Besonderheit, die als Moment des Besonderen vom dem der Besonderung des Allgemeinen unterschieden ist, nun wieder dessen Spezifikation sein soll, muss die Kritiker des Identitätsdenkens auf den Plan rufen, lässt sich darin doch eine sehr subtile Aneignung des Nichtidentischen sehen. Daher würdigt Adorno Hegel einerseits ausdrücklich als Denker des Besonderen, wie er ihn andererseits für dessen Liquidation verantwortlich macht. Kierkegaard nimmt dabei oft – und bisweilen zu Unrecht – die Rolle des Gegenspielers ein. Wo Adorno dem einen zustimmt, widerspricht er dem anderen. Soviel vorab zu dieser komplexen Diskussion. In einer derartigen Dialektik von Allgemeinem und Besonderem wird nun spekulativ bereits einiges vorausgesetzt. Es ist nicht nur der darin schon enthaltene Anspruch auf eine Totalität der Erkenntnis, der dem Antisystematiker Kierkegaard so suspekt ist. Denn solche Konkretion ist nur möglich, sofern Allgemeinheit als Selbstbeziehung gedacht wird, die sich im Bezug auf Bestimmtes auf sich selbst bezieht, bzw. in sich zurückkehrt. Er liest sie also an der menschlichen Subjektivität ab, genauer an der Selbstbeziehung des Denkens, d. h. sie ist reflexive Allgemeinheit im doppelten Sinne. Aber diese Beziehung denkt Hegel als eine der Unendlichkeit, d. h. als anfangs- und endlose Kreisbewegung. Darin liegt die problematische metaphysische Prämisse: „Seine Bestimmung der Allgemeinheit basiert letztlich auf der Annahme einer strukturellen Identität des absoluten und des subjektiven Geistes, als den er das menschliche Individuum vom absoluten her begreift“ (Theunissen 1982b, 24). Und das heißt: „Infolge seiner Identitätsthese verfälscht Hegel vor allem die Einzelheit des menschlichen Individuums“ (Theunissen 1982b, 24). Hieraus erschließt sich im Grunde schon die ganze Kritik an Hegel in ihrem Recht. Auch sämtliche problematischen Identifizierungen, die Adorno in den Blick nimmt, leiten sich aus dieser übergeordneten Identität ab. Deshalb ist auch das Subjekt-Objekt – das doch so, wie Hegel es in der Differenzschrift entwickelt,
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selbst eine Kritik des Identitätsdenkens impliziert – ein Problembegriff und untersteht doppelsinnig dem Primat des Subjekts. Es handelt sich bei der Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit um Bestimmungen des Begriffs überhaupt, und zwar derart, dass ihre Einheit ihn als Begriff bestimmt. Wie nun der Begriff – den Hegel selbst als Subjekt bestimmt – und seine Momente im Verhältnis stehen zum realen, individuellen und menschlichen Subjekt, ist wohl eine der schwierigsten Fragen der Deutung. Ihre Beziehung zeitigt gerade in der Rechtsphilosophie durchaus Widersprüche. Kurz gesagt ist die spekulative Einzelheit nicht mit der Individualität gleichzusetzen, die wiederum nicht allein die menschliche umfasst. Erstere gibt aber letzterer das Prinzip vor (vgl. Lu De Vos 2006). Kierkegaard scheint bisweilen, so sehr auch sein Einspruch aus besagten Gründen berechtigt sein mag, schlicht das eine mit dem anderen zu verwechseln. Jedenfalls vertritt er im Ausgang von der konkreten Existenz des Einzelnen einen gänzlich anderen Begriff von diesem. Adorno hält ihm mit Hegel dessen Unzulänglichkeit wiederholt vor als „scheinbare Konkretion“ (GS 2, 249). Gleichwohl meint Adorno wenig später: „Im Kierkegaardschen Subjektbegriff, als dem der Existenz, schlägt jenes nichtidentische Reale durch, das die Konzeption des reinen Subjekts als Geist im Idealismus eskamotiert“ (GS 2, 250). Und schließlich: „Dem Erfahrungsgehalt nach ist solche Konkretion, das Eingedenken der leibhaftigen Menschen anstelle der Konstruktion geistig reinen Menschenwesens, wahrscheinlich das, was Kierkegaard eigentlich bewegte“ (GS 2, 251). Adorno stimmt Kierkegaard zum Teil also durchaus zu. Aber die Partikularität des Einspruchs gegen Hegel hat selbst wiederum Methode. Wenn er Kierkegaard zugesteht, diesem gegenüber ein „Korrektiv“ (GS 2, 251) zu sein, so knüpft er an dessen Selbstzuschreibung an. In einem Journaleintrag heißt es etwa, es gehe ihm als ein solches Korrektiv darum, „einseitig das Gegenteil zur Geltung [zu] bringen; tüchtig einseitig“ (T III, 275 / SKS 22, 194). Darin zeigt sich eine gewisse Nähe zu Adornos hermeneutischem Prinzip der Übertreibung und er verteidigt ihn auch entsprechend gegen den Vorwurf der Abstraktheit (vgl. GS 2, 255). In dieser Perspektive – die andere behält dennoch ihr Recht – erweist sich der Existenzbegriff weniger als Unverständnis oder als bewusstes Missverständnis in Bezug auf Hegel, sondern vielmehr als Umkehrung der Hierarchie der Begriffsordnung. Er ist schon 1843 in dem Anspruch formuliert, „daß der Einzelne als Einzelner höher ist denn das Allgemeine, ihm gegenüber im Rechte ist, ihm nicht untergeordnet ist“ (FZ, 59 / SKS 4, 149 – 150). Wenngleich er dabei nur „durch das Allgemeine hindurch ein Einzelner wird“ (FZ, 59 / SKS 4, 150), so meint das doch bereits hier etwas kategorial anderes, als das Allgemeine subjektiv zu realisieren. Das bedeutet nun aber, nicht nur in dieser Hinsicht, dass die Existenzdialektik darauf zielt, als Einzelner konkret zu werden. Und in solcher Inversion ist Kierkegaard dem hegelschen Sinn des Begriffs doch nicht so fremd, wie es zunächst scheint. Denn sich zu konkretisieren bedeutet, zu einem Ganzen zusammenzuwachsen – allerdings ohne, dass darin die Gegensätze versöhnt wären.
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5.4 Wirklichkeit und Möglichkeit „Ein System des Daseins kann es nicht geben“ – so lautet der wohl bekannteste Satz aus der Nachschrift. In dem so überschriebenen Abschnitt (AUN I, 111– 117 / SKS 7, 114– 120) wirft Kierkegaard der Philosophie seiner Zeit, also dem Hegelianismus, pauschal vor, dass sie vergessen habe, was es heißt, Mensch zu sein. Es geht ihm dabei um die wohl grundlegendste philosophische Annahme, „daß nämlich überhaupt Wirklichkeit im Denken sei“ (T I, 229 / SKS 27, 234). Zu diesem Ergebnis, das die vorhergehende Philosophie unmittelbar als Anfang nahm, sei man in der hegelschen in tieferer Gestalt gekommen, meint er lakonisch. Doch sei dies im Grunde „nur eine Einleitung […] zu einer Ermöglichung des Philosophierens“, während man mit der „eigentlich anthropologische[n] Besinnung“ noch gar nicht angefangen habe (T I, 229 / SKS 27, 234). Indem er diese Grundannahme umkehrt, versucht er ein konkretes Denken in der Wirklichkeit zu entwickeln und damit die Frage nach dem Menschen neu zu stellen, durchaus ähnlich wie Feuerbach und andere seiner Zeitgenossen: „Die undenkbare Wirklichkeit einzufordern war es, was die nachidealistische Philosophie verband“ (Wesche 2003, 17). Existenz ist für Kierkegaard zwar nicht das schlechthin dem Denken Entgegengesetzte und schlichtweg Unzugängliche, denn das Denken ist ja selbst ein Moment der Existenz.⁵³ Doch ist der Ausgangspunkt nun die Existenz, sie ist das Primäre, nicht das Denken, weshalb er gegen Descartes einwendet: „Hier gilt wohl umgekehrt: weil ich da bin und denkend bin, deshalb denke ich, daß ich da bin“ (AUN II, 33 / SKS 7, 301). Weiter heißt es dort: „Die Existenz scheidet hier die ideelle Identität von Denken und Sein, ich muss existieren um denken zu können, und ich muß denken können (z. B. das Gute), um darin zu existieren“ (AUN II, 33 / SKS 7, 301). Es ist zweifellos richtig, dass der einzelne existierende Mensch etwas anderes als die „Gedankenexistenz der Idee“ (AUN II, 32 / SKS 7, 301) sei. Damit drängt sich aber die erwähnte Frage wieder auf, ob nicht Hegel und Kierkegaard schlicht von Verschiedenem reden. Dieser selbst gesteht das gewissermaßen zu, wenn er sich affirmativ auf eine Replik Hegels in der Enzyklopädie bezieht: „Man hat also richtig eingewandt: daß Denken und Sein eins seien, dürfe nicht in bezug auf die unvollkommenen Existenzen so verstanden werden, als ob ich z. B. durch das Denken einer Rose ebendiese hervorbrächte“ (AUN II, 32 / SKS 7, 300). Das Problem sei jedoch vielmehr, wie er weiter ausführt, dass dies zwar, sofern man einer „vollkommneren Existenz“ diese Identitätsbeziehung zugestehe, richtig sein möge, sich das Denken damit aber eben auf den Bereich der Ideen einschränke, die Kraft ihrer Abstraktheit gegen Existenz gleichgültig seien: „Hegel hat ganz recht; und doch sind wir nicht einen Schritt weiter gekommen. […] Der Grund also, weshalb es da mit der Identität von Denken und Sein seine Richtigkeit hat, ist der, daß hier unter Sein nichts anderes als Denken verstanden werden kann“ (AUN II, 32 / SKS 7, Vgl. hierzu auch AUN II, 9 / SKS 7, 281: „Mit der Existenz umgehen ist eine überaus schwierige Sache, ebenso wie mit der Bewegung. Denke ich sie, so hebe ich sie auf, und damit denke ich sie nicht. Da könnte es wohl richtig scheinen zu sagen, daß es etwas gibt, was sich nicht denken läßt: das Existieren. Aber da ist die Schwierigkeit wiederum, daß die Existenz es dadurch zusammen setzt, daß der Denkende existiert.“
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300). Dieses Argument ist nicht so einfach von der Hand zu weisen und entspricht wie gesagt dem Generalvorwurf des Nachidealismus überhaupt. Allerdings wären hier einige Binnendifferenzierung nötig, zumal der Einwand Kierkegaards in bestimmter Hinsicht dem Hegels gegen Fichte in der Differenzschrift gleicht. Denn unter der Identität von Denken und Sein, Subjekt und Objekt kann je sehr Verschiedenes begriffen werden. Darum wird es in der Auseinandersetzung mit dem idealistischen Binnendiskurs im vierten Kapitel gehen. Nun ist es aber nicht nur so, dass bei Hegel unter Sein nichts anderes als Denken verstanden werden kann. Was Kierkegaard ihm darüber hinaus vorwirft ist vielmehr, dass die Logik auf die Wirklichkeit übergreift. „Die reine Vernunftwissenschaft ist nun bloß negativ, hat nichts mit Existenz zu tun“ (DSKE 3, 341 / SKS 19, 312), schreibt er in seinen Notizen zu Schellings Berliner Antrittsvorlesung. Aber Hegel gebe ihr „die Richtung hin auf ein Existenzialsystem“ (DSKE 3, 344 / SKS 19, 314). Es ist kein Geheimnis, dass Kierkegaards Neubestimmung des Begriffs der Wirklichkeit wesentlich durch die Philosophie der Offenbarung inspiriert ist. Die darin enthaltene Kritik an Hegel lässt sich mit Hühn unter der Überschrift einer „Sphärenvermengung“ zusammenfassen. Sie macht ihm gewissermaßen zum Vorwurf, was man dann ironischerweise Kierkegaards Polemik gegen die Spekulation spiegelbildlich vorgehalten hat – eben dass sie die Sphären oder Kategorien verwirre. Es geht um die Schellings Spätphilosophie im Ganzen zugrundeliegende Unterscheidung „zwischen der Wirklichkeit in der Zeit und einem im Möglichkeitsmodus des Denkbaren angesiedelten Vernunftdiskurs, aus welchem es keinen gültigen Schluss auf diese Wirklichkeit gibt, da sie diesem Diskurs zuvorkommt und ihm in unvordenklicher Weise zugrunde liegt“ (Hühn 2009, 138). Das hält Kierkegaard bereits in der dritten Berliner Notiz zu Schelling fest und ordnet dort der Sphäre der potentia die Bestimmung der Washeit, im Gegensatz zum Dass-Sein des Wirklichen, zu. Wird im Denken Möglichkeit in Wirklichkeit überführt, so ist der Übergang ebenso ein uneigentlicher wie die Wirklichkeit darin. Sie ist eigentlich Möglichkeit: „Die Potenz des Seins Seynkönnen geht also über in Seyn und also in Denken, aber die ganze Bewegung ist in Richtung auf quidditas nicht auf quodditas, und diese Wirklichkeit ist doch bloß Möglichkeit in einem anderen Sinn“ (DSKE 3, 335 / SKS 19, 307). Wie lässt sich nun für Kierkegaard Existenz anders denn als Gedankenexistenz denken? In der Nachschrift von 1846, die am deutlichsten jene Überlegungen im Anschluss an Schelling wieder aufgreift, versucht er, den Menschen zwischen Sein und Denken zu situieren und bestimmt ihn als „Zwischenwesen“: „Die systematische Idee ist das Subjekt-Objekt, die Einheit von Denken und Sein; Existenz dagegen ist gerade die Trennung“ (AUN I, 116 / SKS 7, 118). Existieren bedeutet also einerseits das Scheiden dieser „ideellen Einheit“, andererseits aber die praktische Verschränkung jener widersprüchlichen Momente – denn „ich muss existieren um denken zu können, und ich muß denken können […], um darin zu existieren“ (AUN II, 32 / SKS 7, 301). So gilt es für den existierenden Denker, den Übergang von Wirklichkeit in Möglichkeit bzw. Abstraktion und deren erneute Konkretion bzw. Verwirklichung als eine unaufhebbare Dialektik zu vollziehen. Dies ist die Bestimmung des Einzelnen und das, was Kierkegaard unter konkretem Denken im Gegensatz zum reinen Denken versteht, weshalb Victor Guarda
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(1975, 11) prägnant formuliert: „Konkretes Denken ist also letztlich nichts anderes als der bewußte Vollzug des Menschseins“. Die Modalkategorien von Notwendigkeit und Möglichkeit werden, entgegen ihrer „metaphysischen“ Bedeutung im hegelschen System, bei Kierkegaard zu unaufhebbar gegensätzlichen, konstitutiven Momenten des Daseins. Dass das reine Denken die Existenz nicht erfassen kann, begründet er mit Schelling damit, dass es nur die Möglichkeit des Seins erfassen kann, d. h. was es ist, nicht jedoch, dass es ist, also existiert. Vom Standpunkt des Denkens des Absoluten jedoch – das jede wahre Erkenntnis nach Hegel in sich trägt – hebt sich dieser Gegensatz von Möglichkeit und Wirklichkeit in der Einheit von Denken und Sein auf. Vom Standpunkt des Existierenden gilt dagegen unbedingt: „Jedes Wissen um Wirklichkeit ist Möglichkeit; die einzige Wirklichkeit, um die ein Existierender mehr als wissend ist, ist seine eigene Wirklichkeit, daß er da ist“ (AUN II, 17 / SKS 7, 288). Streng genommen bedeutet das, dass man Wirklichkeit nur als Einzelner für sich erfahren kann. Und das hat freilich auch sprach- bzw. mitteilungstheoretische Konsequenzen: „Alles was in der Sprache der Abstraktion innerhalb der Abstraktion über die Wirklichkeit gesagt wird, wird innerhalb der Möglichkeit gesagt. In der Sprache der Wirklichkeit verhält sich nämlich die ganze Abstraktion wie eine Möglichkeit zur Wirklichkeit, nicht zu einer Wirklichkeit innerhalb der Abstraktion (AUN II, 16 / SKS 7, 287– 288). Wie aber soll eine solche „Sprache der Wirklichkeit“, die in der Lage ist, diesen Widerspruch als wirklichen und nicht nur als einen möglichen festzuhalten, beschaffen sein? Grundsätzlich wird hier ja infrage gestellt, ob man sich überhaupt darüber verständigen kann, was der Mensch konkret ist. Dass eine solche Mitteilung nur als indirekte möglich ist, formuliert Kierkegaard in der Nachschrift entsprechend auch ausdrücklich modalkategorisch: „Existenzmitteilung“ ist eine Darstellung in der„Form der Möglichkeit“ (AUN II, 62 / SKS 7, 372). Das muss zunächst irritieren, wie Philipp Schwab (2012a, 141) zu Recht feststellt, insofern damit doch die Existenzwirklichkeit in der falschen Sphäre behandelt würde. Kierkegaard verweist hier aber darauf, dass sich die Mitteilung ihr gegenüber selbst zurücknehmen muss, um ihr als Wirklichkeit gerecht zu werden. Zugespitzt heißt das, dass die Mitteilung notwendig misslingen muss und sie dieses Misslingen auch zur Darstellung bringen soll, da nur so der Grundwiderspruch zwischen Denken und Sein, Möglichkeit und Wirklichkeit, sichtbar wird.
5.5 Interesse und Gleichgültigkeit Wenn Kierkegaard sagt, die Wirklichkeit sei „ein Inter-esse zwischen der Abstraktion hypothetischer Einheit von Denken und Sein“ (AUN II, 15 / SKS 7, 286), so meint er nicht nur besagtes Dazwischen-Sein, sondern auch, dass sich der Mensch – gemäß der alltagssprachlichen Bedeutung – für seine Wirklichkeit interessiert: „Für den Existierenden ist das Existieren sein höchstes Interesse und die Interessiertheit am Existieren die Wirklichkeit“ (AUN II, 15 / SKS 7, 286). Damit richtet sich Kierkegaard erneut vor allem gegen das „reine Denken“, das abstrakt und interesselos sei. Für Hegel bedeutet es tatsächlich wesentlich Interesselosigkeit und ist die Vollendung eines historischen Pro-
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zesses der „Abstraktion“. Die zweite Vorrede zur Wissenschaft der Logik führt das exemplarisch vor: „[D]as Bedürfnis, sich mit den reinen Gedanken zu beschäftigen [setzt] einen weiten Gang voraus, den der Menschengeist durchgemacht haben muß“, erfordert „Bedürfnislosigkeit“ (TW 5, 23). Nun „schweigen die Interessen, welche das Leben der Völker und der Individuen bewegen“ (TW 5, 23). Hier ist für Hegel „der Ort der Gewißheit seiner selbst, der reinen Abstraktion, des Denkens“ (TW 5, 25). Abstraktion wird nun also affirmativ gewendet und mit „Allgemeinheit“ zusammengedacht, „in der wir unsere Freiheit haben“ – während wir in den „Besonderheiten“ des „Gemüts“ befangen seien und von ihnen beherrscht würden (TW 5, 24– 25). Dieser Aspekt der Spekulation forderte, auch wegen der theologischen Implikationen, vielleicht mehr als jeder andere den Widerspruch des Dänen heraus: „Kierkegaards leidenschaftlicher Kampf gegen Hegels Identitätsphilosophie gilt nicht zuletzt der geistigen Einstellung, die sie erzeugt: dieser als christlich bezeichneten Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit den Daseinsfragen, den konkreten Bedürfnissen und Nöten gegenüber“ (Guarda 1975, 7– 8). So verlangt Hegel in der Logik gar vom Menschen, dass es ihm „gleichgültig sei, ob er sei oder nicht, d. i. im endlichen Leben sei oder nicht“ und fügt hinzu: „[S]i fractus illabatur orbis, impavidum ferient ruinae, hat ein Römer gesagt, und der Christ soll sich noch mehr in dieser Gleichgültigkeit befinden“ (TW 5, 91). Kierkegaard hält dagegen, dass „das Christentum dieses unendliche Interesse bei dem einzelnen Subjekt fordert“ (AUN I, 54 / SKS 7, 61). Da das logische System gegen das Dasein gleichgültig ist und keinen Begriff von der „Not des Existierenden“ (AUN II, 1 / SKS 7, 274) hat, kann es auch das Ethische in seinem Sinne nicht beinhalten. Kierkegaards zugespitzte Behauptung, dass es nur eine ethische Betrachtung gebe, die Selbstbetrachtung (AUN II, 21 / SKS 7, 291), macht zum einen darauf aufmerksam, dass wie beschrieben moralisches Handeln unvertretbar ist. Darüber hinaus ist damit aber auch gemeint, dass ihm das Interesse für sich selbst, die Selbstverantwortung, dessen Voraussetzung ist. Interesse bedeutet ethisch-praktisches Verhalten zur Welt, im Gegensatz zu ihrer ästhetisch-intellektuellen Betrachtung. Dabei ist aber die Opposition gegen die Interesselosigkeit durchweg eine entfremdungskritische, nicht nur, wo sie dem Deutschen Idealismus bzw. der theoria gilt. Gleichgültigkeit – d. h. insbesondere eigenes und fremdes Leiden nicht wahrhaben zu wollen bzw. zu können –, ist ein geradezu allgegenwärtiger phänomenaler Ausdruck von Entfremdung. Sie ist das Resultat jener Nivellierung, die bei Kierkegaard eben meist in der besagten Weise als Begriff einer doppelten Kritik am Hegelianismus und der Gesellschaft seiner Zeit auftritt.
5.6 Ewigkeit, Weltgeschichte und die Zeitlichkeit der Existenz Wesentlich für Kierkegaards Bestimmung der konkreten Existenz des Menschen ist sein Bestehen auf dessen Zeitlichkeit: „In der Existenz ist das Individuum eine Konkretion, die Zeit ist konkret“ (AUN II, 236 / SKS 7, 478). Die anthropologische Strukturbestimmung des Dazwischenseins wird hier praktisch zu einem „Inzwischen“. Das heißt, dass
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„während das Individuum überlegt“, je „schon etwas vergeudet, weil inzwischen existiert worden ist“. In dieser Weise „ist es für den Gebrauch der Zeit ethisch verantwortlich“ (AUN II, 236 / SKS 7, 478). An der spekulativen Philosophie kritisiert er dagegen: „Gerade weil das abstrakte Denken vom Standpunkt der Ewigkeit her (sub specie aeterni) betrachtet, sieht es ab von dem Konkreten, von der Zeitlichkeit, vom Werden, von der Not des Existierenden: daß dieser nämlich aus dem Ewigen und dem Zeitlichen, hineingestellt in die Existenz zusammengesetzt ist“ (AUN II, 1 / SKS 7, 274). Dass dieser Vorwurf nicht unbegründet ist, hatte sich bereits daran gezeigt, dass Hegel einerseits die Selbstbeziehung vom Denken, der Reflexion her bestimmt und andererseits Unendlichkeit vom Absoluten her denkt.⁵⁴ Darüber hinaus ist aber der Umstand, dass Kierkegaard Sein und Denken so konsequent scheidet, vor allem ein Ergebnis der Erkenntnis – worin er durchaus mit Schelling übereinstimmt –, dass im Vollzug der Existenz die jeweilige konkrete Situation zu einem Zeitpunkt nicht begrifflich erfasst, also gedacht werden kann, wozu Denken zu einem Nachdenken im strengsten Sinne des Wortes wird.⁵⁵ Es kommt also, wie in anderer Weise bei Hegel, immer schon zu spät. Kierkegaard ist damit klar der für den Nachidealismus charakteristischen Bewegung einer Detranszendentalisierung und Verendlichung des – nun subjektiven – Geistes zuzuordnen. Dabei teilt er sich, wie Habermas im zweiten Band von Auch eine Geschichte der Philosophie demonstriert, mit seinen Zeitgenossen nicht nur zentrale Motive, die Kritik an Hegels Spekulation mache ihn vielmehr selbst zum Junghegelianer (Habermas 2019, 670). Allerdings wird diese Verortung insofern doppeldeutig, als sich Hermann Schweppenhäuser (1967, 93) hält dagegen Kierkegaard vor, auf seine Weise vom Gedanken Gottes auszugehen und daher die Existenz sub specie aeternitatis zu denken, denn sein Denken sei letztlich ein „System sub specie dei“. Das bedeutet, dass sich die Behauptung, dass es kein System des Daseins geben könne, dadurch selbst aufhebe, dass das Dasein ein System für Gott sei, wenngleich nicht für irgendeinen existierenden Geist (H. Schweppenhäuser 1967, 90). Damit gibt er fast wortwörtlich Kierkegaard wieder (AUN I, 111 / SKS 7, 114) und umreißt dessen Intention, den unendlichen qualitativen Unterschied zwischen Gott und Mensch festzuhalten. Grundsätzlich hat die Kritik an jenen theologischen Voraussetzungen seines Denkens, die weder mit dem endlichen Verstand noch der spekulativen Vernunft einholbar sind, ihre Berechtigung. Allerdings betont Kierkegaard hier ja gerade die Inkommensurabilität gegenüber der Perspektive der endlichen Existenz. Auch bekommt der Vorwurf etwas Mehrdeutiges, da die prominente Formel „sub specie aeternitatis“ aus Spinozas Ethik stammt und dort tatsächlich die Forderung meint, die Dinge sub specie dei zu betrachten, d. h. ganzheitlich, gewissermaßen als Weltsystem, wie es sich dem göttlichen Blick darstellt. Dass nun bekanntermaßen der Idealismus von Jacobi (2004, 195) im berühmten Sendschreiben an Fichte von 1799 als „umgekehrter Spinozismus“ bezeichnet wird – ein Ausdruck, den er übrigens wiederum dem dänischen Dichter Jens Baggesen verdankt – macht die Sache noch verwickelter. Denn er versteht Idealismus und Materialismus tatsächlich als zwei Seiten einer Medaille, also nicht als einfachen Gegensatz (vgl. S. Schick 2006, 158 – 200). Dabei hebt Jacobi ja tatsächlich auf deren Gemeinsamkeit ab, eben alles auf ein Prinzip zurückführen und ein einheitliches System stiften zu wollen. Er ist dagegen seinerzeit wohl derjenige Denker, der sich am radikalsten von diesem Anliegen verabschiedet. Die Philosophie selbst zerlegt sich schließlich bei ihm in eine wissenschaftliche und eine „Unphilosophie“ – ein Ausdruck, den er ebenfalls zuerst im Sendschreiben gebraucht (Jacobi 2004, 194). Kierkegaard ist darin, bis hinein in die Konsequenzen der literarischen Darstellung, sein Erbe. Vgl. Holl 1972, 5.
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besagte Tendenz, wie zum Ende des letzten Kapitels erörtert, bereits bei Hegel geltend macht – und zwar insbesondere in der Einbindung des subjektiven Geistes in die Geschichte. Die wiederum wird Kierkegaard zum Anstoß, sieht er doch seinerzeit, nicht nur im Hegelianismus als Modephilosophie, eine „welthistorische Distraktion“ (AUN I, 113 / SKS 7, 116) am Werk, wie es in der Nachschrift heißt. Dagegen macht er sich in der Magisterdissertation Hegels Standpunkt noch ganz zu eigen, indem er die Formen der Ironie unter dem weltgeschichtlichen Blickwinkel je analysiert und wertet. Und auch im zweiten Band von Entweder/Oder ist diese Perspektive keineswegs verschwunden. Geschichte zeigt sich dort aber in ihrem Doppelcharakter, wobei der Ethiker nun vorrangig auf die „innere Geschichte“ des Menschen abhebt. Sie sei die „wahre Geschichte“, denn sie „ringt mit dem, was in der Geschichte das Lebensprinzip ist, – mit der Zeit“ (EO II, 142– 143 / SKS 3, 133). Er behauptet hier also erneut die Endlichkeit gegen den „Standpunkt der Ewigkeit“. Zugleich kommt nun ein anderer Aspekt in den Blick: das Verhältnis der individuellen Geschichte zur Gattungs- oder eben Weltgeschichte. Er entdeckt damit, so Habermas (2019, 671), die „Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz als der Art und Weise, wie der Mensch seine Einbettung in den Kontext des geschichtlichen Verlaufs erfährt“. Sie habe „ein ähnliches philosophisches Gewicht, wie Kants Entdeckung der Autonomie, Hegels Verwicklung dieser vernünftigen Freiheit in den objektiven Geist und Marxens nachmetaphysisch ernüchtere Übersetzung dieses Begriffs in die historische Naturwüchsigkeit der Gesellschaft“ (Habermas 2019, 682). Hegel versteht die Weltgeschichte als Bewegung des Weltgeistes, der höchsten Stufe des objektiven Geistes. Dieser kommt dabei zu sich selbst, d. h. zum absoluten Bewusstsein seiner selbst, indem er „sein Bewußtsein von der Form der natürlichen Unmittelbarkeit“ befreit, weshalb er vom „Gange seiner Befreiung“ spricht (TW 7, 508). Sie bedeutet für den Geist also ausdrücklich den Ausgang aus einem Zustand der Entfremdung infolge seiner Selbstentäußerung. In diesem Prozess ist das Besondere, sind Individuen wie auch Völker, als Gestaltungen des subjektiven und objektiven Geistes, gleichsam bloße Werkzeuge, die vor dem „Gericht“ (TW 7, 508) der Weltgeschichte stehen. Unter Berufung auf diese berüchtigte Sentenz kann Kierkegaard mit Recht behaupten – und Hegel hätte ihm wohl sogar zugestimmt: „Für eine welthistorische Dialektik schrumpfen die Individuen in die Menschheit hinein“ (AUN II, 54 / SKS 7, 320). Nur sieht der Däne darin eben eine entfremdende Einbindung in diesen Kontext, keine Befreiung. Es bedarf kaum der Erwähnung, dass sich in solcher Kritik – im Verhältnis zu der von Marx und Adorno an Hegel – zugleich eine Beschränkung der Perspektive ausspricht, dass Kierkegaard sowohl der Blick fürs Große und Ganze als auch für die historische Entwicklung von Gesellschaften in ihrer Konkretion fehlt. Das liegt aber daran, dass ihn die Weltgeschichte als solche gar nicht interessiert, sondern vielmehr die „Distraktion“ in Bezug auf das Menschliche, die deren Betrachtung zur Folge hat. Er moniert insbesondere, dass „doch in letzter Instanz unentschieden gelassen wird, welches die Grenze ist zwischen dem Individuellen und dem Welthistorischen“ (AUN I, 144 / SKS 7, 143). Für Hegel gebe es sie schlicht nicht, da „das Welthistorische spekulativ zusammenläuft, so daß alle mitkommen und die Weltgeschichte die Geschichte der Indi-
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viduen ist“ (AUN I, 144 / SKS 7, 143). Damit übergehe er die Schwierigkeit der Bestimmung dieses Verhältnisses, wie Kierkegaard feststellt: „Hier liegt nun ein Problem, das nach meiner Auffassung eins der allerschwierigsten ist: Wie und wieweit das Geschlecht aus Individuen resultiert, und wie das Verhältnis der Individuen zum Geschlecht ist“ (AUN I, 144 / SKS 7, 144). Dabei ist dieses Problem ja auch eines der schwierigsten für eine jede Theorie der Entfremdung, die ihrem durch den tradierten Begriff gesetzten universalen Anspruch gerecht werden will. Kierkegaard bezeichnet es als das Wesentliche der Existenz, dass „[i]n jedem Augenblick […] das Individuum es selbst und die Gattung ist“ (BA, 35 / SKS 4, 335). Von diesem Standpunkt aus rekonstruiert er nun den Begriff des Weltgeschichtlichen, indem er vom Individuum ausgeht. Nähme man jene Abstraktion als Ausgangspunkt und bestimmte von dort aus die Aufgabe des Individuums, geriete man ins „Phantastische“. Bei ihm ist dagegen die Gattung im Einzelnen vermittelt, nicht umgekehrt. Das ist einerseits die „Vollkommenheit des Menschen“, andererseits der grundlegende Widerspruch, „daß das Allgemeine als das Einzelne gesetzt ist“ (BA, 92 / SKS 4, 381).⁵⁶ Für Kierkegaard besteht er nicht zuletzt darin, dass die Zeit des Menschen und die Zeit der Weltgeschichte gerade nicht kommensurabel sind. Sie müssen, wenngleich sie im Augenblick in eins fallen, mit zweierlei Maß gemessen werden. Dies ist das Anspruchsvolle an seiner Perspektive, die er einem Paar Brillen vergleicht, „dessen eines Glas in ungeheuerlichem Maßstabe vergrößert, dessen andres Glas im gleichen Maßstabe verkleinert“ (EO I, 25 / SKS 2, 32). Und dennoch sei die Vollendung des Individuums „die vollkommene Partizipation am Ganzen“ (BA, 35 / SKS 4, 335). Dieser Satz mag zunächst befremden und lässt womöglich eher an Hegel denken. Doch versteht Kierkegaard darunter etwas anderes. Es geht ihm um die Solidarität mit der Menschheit überhaupt in ihrer historischen Dimension. So deutet er auch die Erbsünde in Bezug auf Adam, der als erster Mensch ebenfalls schon er selbst und gleichzeitig die Gattung ist, als eine Form von Solidarität, „um ihn, als den Schuldigen an allem, gewissermaßen nicht im Stich zu lassen“ (BA, 35 / SKS 4, 335 – 336). Das ist für ihn der Weg, mit dem eigenen Verstricktsein in eine Schuldigkeit, die den individuellen Maßstab übersteigt, umzugehen. Sie beschreibt, wenn auch im sündentheologischen Gewand, die Möglichkeit, sich zu einer Entfremdung zu verhalten, die doch vom Einzelnen nicht zu überwinden ist, insofern sie ja nicht nur mit der Weltgeschichte sondern bereits mit der Anthropogenese des Menschen selbst verwoben ist. Das bedeutet aber, dass sie weder in dieser, im Sinne einer schlechten Anthropologisierung ihres Begriffs, noch spekulativ in jener aufgeht. Denn so löst sich je die Verantwortlichkeit des Einzelnen auf. Darum geht es Kierkegaards Entfremdungskritik vor allem.
Zwar ist der Hintergrund dort die Diskussion des „Selbstischen“ als Sünde, was aber, wie Adorno zu Recht feststellt, für die Allgemeingültigkeit der Aussage kaum von Belang ist. Der „Egoist“ sei durch kein evidentes Kriterium von Kierkegaards positiver Vorstellung von Existenz zu sondern (GS 2, 108). Das gilt auch deshalb, weil dieser das ausdrücklich als Kritik am „Idealismus“ formuliert (BA, 93 / SKS 4, 382).
III Konstruktion des Ästhetischen Die bisherigen Erörterungen hatten vornehmlich die Aufgabe – zum einen systematisierend in Bezug auf den Entfremdungsbegriff, zum anderen ideengeschichtlich im Hinblick auf Kierkegaard und seine Voraussetzungen – die vertiefende Textinterpretation von Adornos Kierkegaardbuch vorzubereiten. Ihr widmet sich das dritte Kapitel, das hermeneutische Herzstück der vorliegenden Untersuchung. Es orientiert sich am Untertitel „Konstruktion des Ästhetischen“, wobei der Mehrfachsinn beider Ausdrücke als Leitfaden dient. Was die durchaus divergierenden Bedeutungsebenen eint, ist die Kritik am Primat einer philosophischen Konstruktion, die Adorno als idealistisches Erbe versteht und die das Ästhetische je in seiner Eigengesetzlichkeit entwertet. Dabei geht es mir nicht zuletzt darum, bestimmte erklärungsbedüftige Deutungsansätze des Frankfurters auf ihre Berechtigung hin zu befragen, anstatt sie im Vorhinein, wie das in der Kierkegaardforschung oft geschehen ist, als unangemessen abzutun. Das gilt insbesondere für Adornos zentrale These der „objektlosen Innerlichkeit“, die sich letztlich als wesentlich zweideutig erweist. Dass er die Indirektheit der Mitteilung und die Funktion der Pseudonyme von Kierkegaards „ästhetischen“ Schriften missachtet, ist wohl die offensichtlichste Unangemessenheit im Zugang Adornos. Sie gründet gleichwohl nicht in einem mangelnden Verständnis. Ihr Recht erschließt sich aus Adornos eigener Bestimmung des Ästhetischen – insbesondere was den Sprach- und Scheincharakter des Kunstwerks angeht –, wobei die Auseinandersetzung mit Kierkegaards scheinbar marginalen kunsttheoretischen Überlegungen und den verstreuten sprachphilosophischen Ansätzen durchaus erhellend ist. Auch Adornos Auffassung von Dialektik als „Genese der Wahrheit aus dem falschen Schein“ (Grenz 1974, 57) wird von der Ästhetik her erschlossen. So zeigen sich ebenso die Differenzen zu Kierkegaard, dem er doch gerade in der Absetzbewegung von Hegels spekulativer Dialektik Wesentliches verdankt. Besonders im letzten Kapitel seines Erstlingswerks, ebenfalls „Konstruktion des Ästhetischen“ betitelt, transzendiert schließlich Adornos Kritik sich selbst in zweifacher Hinsicht: Er rekonstruiert dort eine untergründige Ästhetik des Dänen, die seiner „Oberflächenintention“ (GS 2, 178) zuwiderlaufe, und legt damit zugleich, in Form einer „Wendung der Schwermut“¹, Perspektiven auf das Andere der Entfremdung frei. Bevor jedoch eine Interpretation einzelner Textpassagen das Verhältnis Adornos zu Kierkegaard im Detail erhellen kann, muss sein Buch über ihn zunächst mit einer gewissen Distanz als das betrachtet werden, was es auch ist: ein Kind seiner Zeit. Es speist sich aus den Diskursen von damals und antwortet auf vorherrschende Rezeptionsweisen Kierkegaards. Deshalb spitzt Adorno manche Thesen derart zu, dass sie noch heute vielen wie eine Provokation erscheinen müssen.
So ist der betreffende Abschnitt überschrieben: GS 2, 175 – 180. https://doi.org/10.1515/9783111010342-005
1 Adornos Kierkegaardbuch im Kontext seiner Zeit
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1 Adornos Kierkegaardbuch im Kontext seiner Zeit Kierkegaard: Konstruktion des Ästhetischen erschien 1933 beim Verlag Mohr-Siebeck, „am selben Tag, an dem Hitler die Diktatur ergriff“ (GS 2, 261), wie Adorno in der „Notiz“ von 1966 bemerkt – er meint damit offenbar das Ermächtigungsgesetz vom 24. März. Daher sei „die Wirkung des Buches […] von Anfang an überschattet vom politischen Unheil“ (GS 2, 261) gewesen. Es hat in jener Zeit allenfalls eine untergründige Rezeption erfahren können. Adorno spricht dabei explizit die Kritik an Heidegger bzw. der „Existenzialontologie“ an, die „oppositionelle Intellektuelle in Deutschland“ möglicherweise erreicht habe (GS 2, 261). Es handelt sich dabei um seine erste philosophische Veröffentlichung. Sie geht zurück auf die Habilitationsschrift, mit der er im Februar 1931 die venia legendi für Philosophie an der Universität Frankfurt erhielt.² Allerdings wurde sie von Adorno für die Publikation „völlig umgearbeitet“: „Es seien, wie er sich Krenek gegenüber äußerte, alle Steine verwendet worden, dennoch sei bei der Buchfassung kein Stein auf dem anderen geblieben“ (Müller-Doohm 2011, 196). Erstmals auseinandergesetzt mit der ursprünglichen Habilitationsschrift hat sich Vidal Mayor, doch auch die Dokumentation der Publikationsgeschichte des Kierkegaardbuchs beim Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) durch Friedrich Wilhelm Graf (2014) gibt einen Eindruck von den Differenzen zur veröffentlichten Fassung. Die Habilitationsschrift als solche liegt allerdings gar nicht vor. Es existieren zwei Typoskripte aus dem Frankfurter Adorno Archiv, die dort als „Fassung“ von 1929/30 bezeichnet werden. Eine davon ist nach Einschätzung von Vidal Mayor (2017, 214) „höchstwahrscheinlich eine Kopie der originalen Habilitationsschrift von 1931“. Was nun deren Unterschiede zum späteren Buch angeht, so behauptet sie, diese seien durchaus „nicht nur von editorischer oder archivarischer, sondern auch von philosophischer Relevanz“ (Vidal Mayor 2017, 212). Wie bedeutsam aber sind diese Ergebnisse für die vorliegende Untersuchung? Angesichts der kurzen Zeit zwischen der Habilitation im Februar 1931 und der Überarbeitung des Manuskripts im Herbst 1932, die selbst wiederum nur zwei Monate dauerte (vgl. Müller-Doohm 2011, 196), kann meines Erachtens kaum von einer wesentlichen Entwicklung im Denken Adornos gesprochen werden.³ Die Unterschiede zwischen den Fassungen, die auch der bisher unveröffentlichte Briefwechsel Adornos mit Paul Siebeck dokumentiert, betreffen vor allem die formale Durchgestaltung, inhaltliche Schwerpunktsetzungen und darüber hinaus vereinzelt Fragen der Methode, die für Vidal Mayors Untersuchung von Interesse sind. Die Motive der Kritik an Kierkegaard dagegen stimmen, wie sich zeigen wird, auch über die Jahrzehnte meist erstaunlich überein. Mit der Arbeit über ihn bemühte sich Adorno bereits zum zweiten Mal um die venia legendi, nachdem der erste Versuch bei seinem Doktorvater Hans Cornelius gescheitert war, der ihm 1928 in einem Gespräch nahegelegt hatte, das Gesuch zurückzuziehen, und zwar ausgerechnet wegen mangelnder Originalität. Zwar ist eine „strikte terminologi-
Siehe hierzu: Müller-Doohm 2011, 196. Das deutet Vidal Mayor (2017, 208 – 209) zumindest an.
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sche Anpassung“ (Müller-Doohm 2011, 156) an den Ordinarius nicht zu leugnen, so wenig innovativ, wie dieser behauptet, ist die Arbeit Der Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelenlehre aber keineswegs. Müller-Doohm (2011, 160) vermutet vielmehr, dass es die Stellen waren, an denen Adorno „über die Grenzen einer rein erkenntnistheoretischen Beweisführung hinaus“ in die Analyse und Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse übergeht, die ihn zu diesem Entschluss bewogen hatten. Adornos Enttäuschung über den misslungenen ersten Habilitationsversuch spricht noch aus seinen späteren Briefen, in denen er aus seiner Abneigung gegenüber den akademischen Zwängen einer solchen Qualifikationsschrift keinen Hehl macht. So schreibt er an Alban Berg im Januar 1931, dass sich die Habilitation „nur als Nebenzweck“ aus der Arbeit über Kierkegaard ergeben solle und dass sie, „trotzdem sie als Habilitationsschrift dienen muss, etwas taugt und etwas Neues und Originales ist“ (BW 2, 250) – was freilich auch davon zeugt, welche Bedeutung er der Untersuchung als solcher einräumt. Mit ihr habilitierte er sich erfolgreich beim Theologen Paul Tillich, der Adorno selbst das Angebot gemacht hatte, nachdem er 1929 in Frankfurt auf einen philosophischen Lehrstuhl berufen worden war. Die Gründe hierfür liegen weniger in einer geistigen Nähe beider als vielmehr in ihrem freundschaftlichen Verhältnis – und wohl dem Umstand, dass sich Adorno vor Ort ohnehin keine Alternative bot.⁴ Zweitgutachter war Max Horkheimer. Mangelnde Eigenständigkeit konnte man dieser Arbeit nicht mehr vorwerfen. Sie ist – und das gilt für beide Fassungen – die wohl am schwersten zugängliche von allen Schriften Adornos. So berichtet er selbst in einem Brief an Kracauer vom 24. Juli 1930: „Horkheimer hat das ganze vierte Kapitel gelesen und ist entzückt, findet es allerdings unerhört schwierig, schwieriger als das Barockbuch“ (BW 7, 235) – d. h. als Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels. Dabei ist die Unzugänglichkeit der Arbeit nicht allein, wie er dort meint, „den Sachen“ geschuldet, also dem kierkegaardschen Denken.⁵ Tillich gibt davon in seinem Gutachten zur Habilitationsschrift eine treffende Beschreibung.⁶ Der darin ausgesprochene „Gegensatz zur Definition“ bringt freilich spezifische Probleme mit sich, wie Schwab feststellt: „Oft genug führt Adorno Begriffe ein, die erst sukzessive in späteren Kapiteln zur Klarheit
Vgl. Buck-Morss 1977, 21 u. 268 (Anm. 22). Zumindest politisch gab es aber eine gewissen Nähe. BuckMorss (1977, 23) bezeichnet Tillich als „antiauthoritarian teacher with prosocialist leanings“. „Ich kann da nicht helfen, es liegt an den Sachen, ich habe den mythisch-dämonischen Charakter von Kierkegaards Existenzbegriff aufgedeckt, wenn sich das nicht ins Suebo-Marxistische [Anspielung auf Horkheimers Herkunft, M. K.] übersetzen läßt, so vermag ich nichts dagegen zu tun“ (BW 7, 235). Tillich 1999, 339 – 340: „Wiesengrund denkt nicht topologisch, sondern gewebehaft. Er lehnt darum ausführliche Inhaltsangaben, Dispositionen, Urteile und dergleichen ab; der Gedanke wird ohne wesentliche Einschnitte vom Anfang bis zum Ende durchgesponnen. Dem entspricht ein Stil, der immer bis zum Äußersten durchgeformt ist, so daß in jedem Satz das Ganze des Gefühls mitklingt. […] Der Gewebecharakter der Arbeit macht die Heraushebung bestimmter Fragen unmöglich. Man findet am Anfang Ergebnisse und am Ende Fragen. Aber selbst die Unterscheidung von Frage und Ergebnis ist kaum durchführbar. Herausgearbeitet werden können nur einzelne Motive, die häufig wiederkehren und deren wechselnder Ausdruck Resultate im gewöhnlichen Sinne ersetzen muß.“
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kommen“ (Hühn u. Schwab 2019, 395). Wirklich erhellen sie sich aber erst im Lichte seines späteren Werks. Horkheimer schließt sich zwar dem Urteil Tillichs in verschiedener Hinsicht an, bemerkt aber, dass ihm die theologischen Motive, insbesondere in den Kategorien von Hoffnung und Versöhnung, fremd seien (Müller-Doohm 2011, 195). Er nimmt damit gewissermaßen vorweg, was man Adorno angelastet hat: in letzter Konsequenz eine ins Theologische kippende Erlösungsphilosophie zu betreiben. Ironischerweise trifft dieser Vorwurf aber genauso Horkheimer selbst, der sich überdies zu den theologischen Motiven seines Denkens weitaus offener bekannt hat.⁷ Tillich (1999, 337– 338) dagegen hebt gerade hervor, dass er einen dezidiert philosophischen Ansatz verfolgt, während die meisten Kierkegaarddeutungen jener Zeit entweder einen biografischen, theologischen oder psychologischen Zugang suchen. Das Buch wurde 1962 und 1966 neu aufgelegt, dabei jeweils ergänzt um einen weiteren Beitrag Adornos. „Kierkegaards Lehre von der Liebe“, bereits 1951 in der Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte erschienen, ist die deutlich überarbeitete Fassung eines auf Englisch in der Zeitschrift für Sozialforschung (Studies in Philosophy and Social Science), Jahrgang 8, 1939/40, veröffentlichten Aufsatzes, den er auch als Vortrag an der Columbia University hielt. „Kierkegaard noch einmal“ wurde ursprünglich 1963 als Gedenkrede zu Kierkegaards 150. Geburtstag gehalten und im selben Jahr in den Neuen Deutschen Heften publiziert. Der Essay ist nicht zuletzt als Retrospektive, als Bewertung seiner früheren Auseinandersetzung mit Kierkegaard aus der Perspektive der Zeit seiner Arbeit an der Negativen Dialektik, aufschlussreich. Das gilt natürlich auch für Adornos „Notiz“ zur Neuauflage von 1966: Er glaubt, Hegel, und dadurch Kierkegaards Kontroverse mit diesem, heute besser zu kennen und zu begreifen; metaphysische Intentionen würde er nicht mehr derart affirmativ bekunden, und der Ton klingt ihm häufig feierlicher, idealischer, als zu verantworten ist. Was seit 1933 geschah, dürfte am letzten eine Philosophie unberührt lassen, die stets sich der Gleichsetzung von Metaphysik mit einer Lehre vom geschichtslos Unveränderlichen entgegengesetzt wußte. (GS 2, 261)
Gleichwohl fällt auf, dass die Hauptkritikpunkte, die er damals gegen Kierkegaard anführt, in späteren Arbeiten im Wesentlichen wiederholt werden. Daher wohl auch das ausdrückliche Bekenntnis zu diesem frühen Werk. Um die Frage nach den sprachphysiognomischen Unterschieden soll es im Folgenden nicht gehen, aber gerade der Entwurf einer kritischen Rettung der Metaphysik ist dort im letzten Kapitel angelegt und verbindet es – auch im durchaus „feierlichen“ Ton – über die Jahrzehnte mit den abschließenden Passagen der Minima Moralia und der Negativen Dialektik.
Vgl. Brumlik 2019, 361. Beispielhaft für die Abwehr in jüngster Zeit ist Christoph Henning (2005), der bei der Kritischen Theorie überhaupt eine „Auflösung der Kritik in Religion“ erkennt: 343 – 410; zu Horkheimer im Speziellen: 344– 349; zu Adorno: 355 – 361.
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Bei den beiden späteren Beilagen zum Kierkegaardbuch handelt es sich weniger um eine Neubewertung des Kierkegaardschen Denkens⁸ – dass Adorno von einem „Korollar“ (GS 2, 263) spricht, ist im Hinblick auf die Bedeutung des Begriffs in der Logik vielsagend. Sie stellen vielmehr eine inhaltliche Erweiterung dar: „Seiner Thematik gemäß hat das Buch nicht mit den sogenannten religiösen Reden Kierkegaards sich beschäftigt, jenen positiv-theologischen Schriften, welche die negativ-philosophischen – die Negation der Philosophie – begleiteten. […] Der Autor hielt sich darum für verpflichtet, wenigstens an einem Modell auch die religiösen Reden in den Kreis seiner Spekulation hereinzuziehen“ (GS 2, 262). Und zur zweiten Beilage merkt Adorno nachfolgend an: Auch sie ergänzt das Buch thematisch, indem sie sich auf Aspekte konzentriert, die in der ‚Konstruktion des Ästhetischen‘ nur gestreift waren: Kierkegaards letzte Publikationen, seine Polemik gegen das offizielle Christentum und deren politische Implikationen. Nach dem geschichtlichen Triumph des Schriftstellers Kierkegaard forderte Gerechtigkeit ebenso, die Problematik jenes Triumphs zu entfalten wie seine nichtkonformistischen Züge bestimmter herauszuarbeiten. (GS 2, 263)
Insgesamt herrscht in der Literatur die Auffassung vor – lediglich Annette Simonis bildet hier eine Ausnahme –, bei Adornos späteren Aussagen zu Kierkegaard handle es sich um eine wohlwollendere Deutung von dessen Denken. Bei näherer Betrachtung verhält es sich allerdings komplizierter und es wäre wohl zutreffender, zu sagen, dass er dort (vernichtende) Kritik und Würdigung, die in seinem Erstlingswerk oft ineinander verwoben sind, klarer auseinanderzuhalten versucht. So meint auch Šajda (2012, 25): Compared to Adorno’s monograph from 1933, the essay ‚On Kierkegaard’s Doctrine of Love‘ presents the reader with a markedly different balance of criticism and appreciation of Kierkegaard. A large part of the essay is dedicated to Kierkegaard’s strikingly accurate and insightful diagnosis of the societal trends of his age. Although Adorno had already praised Kierkegaard’s critical reaction to early high-capitalism in his 1933 monograph, in ‚On Kierkegaard’s Doctrine of Love‘ his appreciation is much more outspoken and nuanced. Nevertheless this positive verdict on Kierkegaard’s philosophical nonconformism is intrinsically linked with the thesis that Kierkegaard’s response to the corruption of his age is selfcontradictory and ultimately misses his own target.
Das gilt umso mehr für „Kierkegaard noch einmal“. Entsprechend meint auch MüllerDoohm, dass Adorno dort, „[f ]ast im Sinne einer persönlichen Identifikation“ (MüllerDoohm 2011, 198) zu folgendem Schluss komme: „War ihm das Ganze, als Totalität und System, der absolute Trug, so hat er es mit dem Ganzen aufgenommen, in das er eingespannt war wie alle. Das ist exemplarisch an ihm“ (GS 2, 258). Kierkegaard wurde ihm zumindest in dieser Haltung selbst zum Vorbild.
So auch Hermann Deuser (1980, 137). Sie seien eine „Bestätigung der Interpretation des Buches in veränderter Umgebung“ – womit er vorrangig, aber nicht nur, die „Textbasis seiner Arbeit“ meint. Dabei kritisiert er allerdings, dass Adorno auch hier das Defizit der Habilitationsschrift nicht wirklich behebt, dass er – mit Ausnahme der Augenblickschriften – „das Spätwerk, vor allem auf Basis der Tagebücher, kaum berücksichtigt und wohl auch nicht ausreichend kannte“.
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Andererseits zeigt Adorno doch für dessen Polemik gegen die Spekulation nun oft weniger Verständnis. Zwischen beiden Texten liegt eine Phase intensivierter Auseinandersetzung mit Hegel, den er entsprechend aus der Perspektive der sechziger Jahre besser zu kennen und zu begreifen meint – „und damit Kierkegaards Kontroverse mit diesem“ (GS 2, 261). Das bedeutet aber zugleich, dass er auch die Eigenständigkeit von Kierkegaards Ansatz eher zu würdigen weiß, anstatt ihn bloß als Verlängerung und Inversion des Idealismus zu verstehen. Auch in dieser Hinsicht ist seine späte Deutung also differenzierter. Sherman meint daher, Adorno habe sich später weniger genötigt gesehen, Hegel gegen Kierkegaards Angriff zu verteidigen – wie es in aller Ausführlichkeit ja sein Schüler Hermann Schweppenhäuser in den sechziger Jahren unternahm. Das liegt ihm zufolge daran, dass er der Position des Einzelnen später ein größeres Potential auch gegen Hegel zugesteht. Zwar argumentiert Sherman dabei oft weniger theorieimmanent als vielmehr biografisch-historisch. Zweifellos ist aber die Zäsur, die die nationalsozialistische Herrschaft, die Shoah und der Zweite Weltkrieg bedeuteten, selbst für die Einschätzung dieser ideengeschichtlichen Konstellation nicht ohne Wirkung geblieben. Auch deshalb hebt Adorno rückblickend den Zeitpunkt der Veröffentlichung 1933 so sehr hervor. But, during the war years, when it became increasingly clear that ‚the abstract universal‘ (namely, advanced capitalist society, both in its fascist and its liberal forms) was tending to wholly assimilate individuality with its homogenizing impulse, Adorno turns his attention to the individual’s standpoint so as to revivify his or her subjectivity – albeit, of course, without sacrificing his earlier criticisms of abstract subjectivity, which are the flip-side of the dialectical coin. […] [I]n both Dialectic of Enlightenment and Minima Moralia […] Adorno no longer feels compelled to show that the individual cannot escape world history. To the contrary, he seeks to expose world history so that he might at least open up spaces for critical thought to think against it. Accordingly, during this time period Adorno also advances a more favorable analysis of Kierkegaard in ‚On Kierkegaard’s Doctrine of Love‘ […]. (Sherman 2007, 28)
Gestützt wird diese Einschätzung durch Adornos bekannte These aus den Minima Moralia – geschrieben während des Krieges –, dass dem Individuum als Verurteiltem gegen den Sieger die Wahrheit zufalle (GS 4, 147). Nicht aufgrund seiner vorgängigen Konzeption etwa bei Kierkegaard, sondern aus der historischen Erfahrung heraus wird es – durchaus in seinem Sinne – zum Korrektiv: „Die Frage nach der Individualität muß im Zeitalter von deren Liquidation aufs neue aufgeworfen werden“ (GS 4, 147). Und das fällt nun doch auch auf Hegel zurück, den Adorno, wie sich zeigen wird, durchaus mitverantwortlich macht für die ihm nachfolgende Entwicklung. Das erklärt die durchgängige Ambivalenz in der Bewertung von Kierkegaards Kritik an ihm. Wo Adorno ihr widerspricht, tut er das insbesondere im Hinblick auf eine abstrakte Subjektivität, die er ihrem Gesamtcharakter nach selbst als idealistisch bestimmt. Gerade hierin zeigt sich die Kontinuität in den Motiven seiner Kierkegaarddeutung. Deren Abstraktheit und Verschlossenheit bildet aber nur einen Teilaspekt der Kategorie des Einzelnen. Dass sie sich Adorno zufolge nicht zu einem konsistenten Ganzen fügt, rettet sie gerade – und öffnet sie für die historische Konkretion.
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Rezensionen und Reaktionen Wenngleich Adornos Erstlingswerk – damals und auch später – wenig Beachtung gefunden hat, so sind doch die unmittelbar auf die Veröffentlichung folgenden Stellungnahmen aufschlussreich.⁹ Walter Benjamin würdigt die Arbeit in seiner Rezension „Kierkegaard. Das Ende des philosophischen Idealismus“ in der Vossischen Zeitung gerade wegen ihrer Originalität, und zwar nicht nur hinsichtlich der Methoden und Konzepte, die Adorno dort erprobt. Er lege die „verborgensten Elemente des Idealismus“ (Benjamin 1972b, 381) frei, die nicht zuletzt in der Vereinnahmung Kierkegaards durch Existenzphilosophie und Dialektische Theologie, Heidegger und Barth, verdeckt worden seien. Wenig begeistert äußert sich dagegen Gershom Scholem in einem Brief an Benjamin vom Oktober 1933 – und das nicht nur, weil er die Kierkegaardkritik des Buchs für voreingenommen und ungerechtfertigt hält: „[E]s verbindet, meinem Erachten nach, ein sublimes Plagiat Deines Denkens mit einer ungewöhnlichen Chuzpe, und wird, sehr im Unterschied von Deiner Analyse des Trauerspiels, für eine sachliche Betrachtung K’s künftighin nicht viel bedeuten“ (Scholem u. Benjamin 1980, 109). Ganz anders bewertet Benjamin in einem Brief an Adorno im Dezember 1932, also vor der Veröffentlichung, nach der Durchsicht der Umbruchbögen, den Einfluss, den er selbst auf die Entstehung des Buches hatte, wenn er mehr wohlwollend als ironisch meint: „Es gibt also doch noch etwas wie Zusammenarbeit“ (BW 1, 32). Die vielfältigen Bezüge aufzuzeigen wäre eine eigene Arbeit wert, ich werde darauf nur vereinzelt zurückkommen. Im Ganzen ist das Kierkegaardbuch insbesondere von Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels geprägt, ein Werk, auf das Adorno wiederholt ausdrücklich verweist.¹⁰ Jener entwickelt darin ein „allegorisches Erkenntnisprinzip“, das Adorno auf Kierkegaard überträgt: „Der Wahrheitsgehalt des Trauerspiels des Barocks sollte durch einen Deutungsprozess erschlossen werden, der bei scheinbar nebensächlichen Einzelelementen ansetzte“ (Müller-Doohm 2011, 188).¹¹ Kaum weniger bedeutend war für ihn das fragmentarisch gebliebene Passagen-Werk, das er aus Vorträgen kannte und das ihn nachhaltig beeindruckte (Müller-Doohm 2011, 186). In thematischer Hinsicht übernahm er vor allem das wechselseitige Aufeinanderbezogensein von Natur und Geschichte, in methodischer ist hier etwa Benjamins Konzept des dialektischen Bilds, einer „Dialektik im Stillstand“, von Bedeutung. Das ambivalente Verhältnis zu ihm zeigt jedenfalls durchaus Parallelen zur Diskussion des dialektischen Verfahrens bei Kierkegaard und stellt darüber hinaus Dialektik in den Kontext ästhetischer Reflexionen, eben als Bildlichkeit. Kein Zweifel auch, dass Adorno das Motiv des „bürgerlichen Intérieurs“ Benjamin verdankt. Es taucht in der 1928 veröffentlichten Schrift Einbahnstraße auf (Benjamin 1972a, 89). Im Manuskript „Aufzeichnungen und Materialien“ zum Passagen-Werk, an dem Benjamin mit Unterbrechungen vom Win Eine vollständige Zusammenstellung aller Stimmen zum Kierkegaardbuch aus der Zeit seiner Erstveröffentlichung bietet der Aufsatz von Peter Šajda (2012, v. a. 18 – 22). Vgl. GS 2, 40, 80, 91 – 94, 170, 187– 188 – die kursiv gesetzten Passagen enthalten zugleich Quellenangaben. Vgl. auch Müller-Doohm 2011, 195 sowie 775 (Anm. 181).
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ter 1927 bis zum Frühjahr 1940 arbeitete, finden sich noch ausführlichere Erörterungen zum „Interieur“.¹² Benjamin selbst zitiert dort aus Adornos Buch und gibt die betreffende kierkegaardsche Referenzstelle aus dem „Tagebuch des Verführers“ wieder (Benjamin 1982, 290 – 291).¹³ In einem Brief an Kracauer von 1930 bekennt er den Einfluss Benjamins und nennt den Essay Goethes Wahlverwandtschaften und das Barockbuch. Die Einleitung zu Letzterem kritisiert er jedoch wegen eines „ganz geschichtsfremden und schließlich wahrhaft mythologischen Platonismus“ und das „Pariser Tagebuch“ findet er gleich ganz „zum Kotzen, wie alle Dinge dieser Art“ (BW 7, 208 – 209). Die herablassende Art gegenüber Benjamin – sie gipfelt in dem Bild, er habe ihn „wie den leuchtenden Hubertushirsch gestellt“ (BW 7, 209) – ist charakteristisch für Adornos Umgang mit ihm. Sie steht in krassem Kontrast zur besagten, wohlwollenden Haltung Benjamins. Allerdings kommen in diesem Brief andere kaum besser weg. So verwirft er die gesamte zeitgenössische Kierkegaardliteratur – mit Ausnahme Haeckers und Guardinis – als „indiskutabel“. Ebenso zieht er über Lukács her. Sein Kierkegaardessay sei ganz schlecht und Geschichte und Klassenbewusstsein habe „erschreckend Haare gelassen“ (BW 7, 208). Diese Schärfe ist freilich dadurch motiviert, dass er in seiner Habilitationsschrift insgesamt versucht, Lukács und Benjamin „durch einander zu korrigieren“ (BW 7, 208). Sie rückt aber auch die Kritik an Kierkegaard ins rechte Licht, der so gesehen noch ganz gut dasteht – und selbst wiederum mit seinen Zeitgenossen oft nicht weniger schonungslos verfahren ist. Aus verschiedenen Gründen interessant ist die Rezension Kracauers, „Der enthüllte Kierkegaard“, die in der Frankfurter Zeitung erscheinen sollte, aber unveröffentlicht blieb. Zunächst hatte ihm Adorno das Buch gewidmet und er war es wie gesagt auch, der ihn damals mit Kierkegaard bekannt gemacht hatte. Dass er sich der persönlichen Beziehung zum Trotz an eine Besprechung wagt, rechtfertigt er damit, dass eine Einführung „niemand besser als der mit dem Material und seiner Durchführung ohnehin schon Vertraute leisten kann“ (Kracauer 1990, 263). Während er ebenso wie Benjamin – dessen Einfluss auf das Buch er auch hervorhebt – von der Deutung Kierkegaards als später Idealist ausgeht, so stellt er Adornos Buch deutlicher als die anderen Rezensionen in einen entfremdungs- bzw. verdinglichungstheoretischen Zusammenhang. Innerlichkeit, als Gegenposition zum idealistischen Subjekt, ist ontologisch der Objektwelt ebenso entfremdet wie sozialphilosophisch der gesellschaftlichen Objektivität, die allerdings ihrerseits als verdinglicht bestimmt wird: „Und zwar wird der Rückzug in diese [die Innerlichkeit, M. K.] aus dem Zustand der beginnenden hochkapitalistischen Epoche erklärt, in der alle Dinge und Inhalte mehr und mehr zu Waren werden, und an die Stelle ihres eigentümlichen Werts ihr Tauschwert tritt“ (Kracauer 1990, 264). Darüber Benjamin, 1982, 281– 300. Zur Entstehungsgeschichte des Manuskripts vgl. die „Einleitung des Herausgebers“ (39). Die Schilderungen der Innenräume aus Kierkegaards frühem Werk sind weit weniger plastisch und glanzvoll als bei Adorno, worauf Simonis (2000, 567) zu Recht aufmerksam macht. Er habe dessen Darstellung ergänzt und weitergesponnen. Hierbei war ihm Benjamin die wohl wichtigste Quelle.
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hinaus thematisiert er Entfremdung im Sinne einer Rückkehr verdrängter Natur und nicht zuletzt als Sinnverlust: Alle weiteren Gehalte von Kierkegaards Werk rücken ins Licht dieser Interpretationen. Wie Wiesengrund darlegt, daß die Affekte der Angst, der Verzweiflung usw. bei Kierkegaard Zeichen des verstellten, den Menschen abhanden gekommenen Sinnes sind, so arbeitet er, nicht minder einwandfrei, die Tatsache heraus, daß sämtliche Bemühungen Kierkegaards mit Hilfe des Selbstes den verlorenen Sinn wiederzugewinnen, von vornherein scheitern müssen. (Kracauer 1990, 265)
Interessant ist auch die vorsichtige Kritik an Adorno, die abschließend anklingt: „Gewiß gibt Wiesengrund dafür, daß er Probleme löst, neue wieder auf. So meldet sich die dringliche Frage nach den Gehalten und der Gültigkeit der Philosophie selber an, die hier in Form von Kritik am Werk ist und dem in sich undifferenzierten Begriff des Mythischen einen derart großen Spielraum gewährt“ (Kracauer 1990, 267). Was die Bestimmung des Mythischen angeht, so hat er sicherlich recht. Dass er dunkel bleibe, hat Adorno schließlich selbst in einem Brief an Kracauer eingestanden (BW 7, 304– 305). Sein Begriff erschließt sich voll erst rückblickend von der Dialektik der Aufklärung aus. Dass sich Kracauer als Kenner Kierkegaards Adornos Deutung so umstandslos anschließt und sich nicht bemüht, ihn in der kontroversen Rezeption seiner Zeit zu verorten, ist bemerkenswert. Von Löwith lässt sich beides nicht behaupten. Er stellt in seiner Rezension die Angemessenheit der Interpretation durchaus in Frage und diskutiert Adornos Buch zwar eigenständig, aber auch im Vergleich zu weiteren Beiträgen der Kierkegaardforschung, von denen er einen (Fischer 1933) im selben Band der Deutschen Literaturzeitung ebenfalls bespricht.¹⁴ Seine ausführliche Darstellung, die das Anliegen von Adornos Deutung insgesamt treffend wiedergibt, setzt bei dessen charakteristischer Ausblendung der kierkegaardschen Pseudonymität und Mitteilungslehre an, bzw. dem Versuch, ihn bei seiner verräterischen Wörtlichkeit zu nehmen. Auch betont er, dass Adorno dabei, anders als F. C. Fischer, nicht auf den „psychologischen Beweggrund“, sondern den „mythischen ‚Naturgrund‘“ abhebt (Löwith 1934, 167). Löwith geht ebenso auf die von den anderen Rezensenten ins Zentrum gerückte Deutung als späten Idealisten ein – und das ist deshalb so interessant, weil er doch die populäre Formel vom „revolutionäre[n] Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts“ (Löwith 1964) prägte und Kierkegaard dabei, zusammen mit so unterschiedlichen Denkern wie Marx und Nietzsche, wesentlich jenseits davon verortete, also primär im Gegensatz zum Deutschen Idealismus verstand. Gleichwohl stimmt er Adornos Interpretation von Kierkegaards Konzeption des Selbst als idealistisch, genauer hegelisch, stillschweigend zu, und behauptet, seine Deutung der Anfangspassage der Krankheit zum Tode sei ein „Zentralstück“ des Buchs.¹⁵ Ausdrücklich lobt er zudem Adornos Deutung des „Intérieurs“ als „subtile[n] Analyse“ (Löwith 1934, 171) und sieht in dessen „Soziologie der Innerlichkeit“
Eine weitere Untersuchung jener Zeit, auf die sich Löwith wiederholt bezieht, ist die von Martin Thust (1931). Löwith 1934, 169. Vgl. GS 2, 114– 117.
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eine Parallele zu Marx’ Kritik an Stirners „Einzigem“, die jener für Kierkegaard fruchtbar gemacht habe (Löwith 1934, 171– 172). Schließlich kommt Löwith zum Ende hin zu der Feststellung, dass eigentlich das Thema der „Selbstentfremdung“ im kierkegaardschen Sinne Adornos Untersuchung im Ganzen motiviert (Löwith 1934, 175). Er geht also anders als Kracauer nicht primär von einem (neo‐)marxistischen Entfremdungsbegriff aus, der ihm von außen gewissermaßen als Interpretationsschema übergestülpt wird – was Adorno zweifellos auch tut. Zwar lobt Löwith (1934, 176), dass dieser die „historische Umschlagsstelle“, an der Kierkegaard stehe und dessen „polemische Anhängigkeit von Hegel“ verschiedentlich herausarbeite, hält ihm aber vor, keine konsequente „g e s c h i c h t l i c h e Interpretation und Kritik des historischen K.“ zu unternehmen, da er immer wieder auf eine „vorzeitliche[n] N a t u r geschichte“ und Mythologie zurückgreife. Das ist dann Löwith selbst vorbehalten, ihn „im rechten geschichtlichen Licht, nämlich zwischen Hegel und Nietzsche“ zu verorten.¹⁶ Insgesamt aber prägt die Rezension vielmehr Zustimmung als Ablehnung. Sogar, dass die Kritik Heidegger treffe, gesteht Löwith einmal zu. Auch die politische Relevanz deutet er vorsichtig an, etwa wenn er Adornos Demontage der „zum Dogma gewordenen These von der ‚Entscheidung‘“ (Löwith 1934, 176) lobt. In summa lässt er keinen Zweifel am Wert des Buchs: „Trotzdem ließe sich W.s Anspruch aufrechterhalten: den Autor besser zu verstehen, als er sich selber verstand. W.s diktatorisch vorgetragene und manieriert geschriebene, aber stets geistvolle Interpretation ist eine Herausforderung an all jene – nun schon fast ausgestorbenen – Kierkegaard-Jünger, die ihren Meister schlechter verstehen, als er sich selber verstand“ (Löwith 1934, 176). Adornos Deutung ist auch für die fortgeschrittene Kierkegaardforschung eine Herausforderung geblieben. Interessant ist in diesem Zusammenhang die ausführliche Besprechung Helmut Fahrenbachs aus Anlass der zweiten Auflage 1962. Die neu hinzugekommene Beilage „Kierkegaards Lehre von der Liebe“ wird dabei allerdings nur erwähnt, es geht ihm um etwas anderes. Er behauptet, dass Adornos Interpretation „eigentlich erst jetzt ihre Aktualität gewinnt“ und das Buch „zweifellos zur ‚gegenwärtigen‘ Kierkegaard-Auslegung“ gehört (Fahrenbach 1962, 77). Dabei vergleicht er sie u. a mit den Arbeiten von Walther Rehm, Kierkegaard und der Verführer (1949), und Edo Pivčević, Ironie als Daseinsform bei Sören Kierkegaard (1960): „Beide teilen mit Adorno nicht nur den grundlegenden Ansatz beim ‚Ästhetischen‘, sondern vor allem den Grundzug der Interpretationsmethode: Kierkegaards Denken aus der inneren Dialektik seines Standpunktes (bzw. seiner Situation) zu entwickeln“ (Fahrenbach 1962, 77). Damit hebt er darauf ab, dass die Deutung Adornos zwar immanent verfährt, dieses Denken dabei aber transzendiert. Außerdem habe Adorno „die gegenwärtig maßgebende Hinsicht auf Kierkegaards Systematik (und ihr Verhältnis zum Idealismus) bereits entwickelt“ (Fahrenbach 1962, 77). Die Aktualität liegt ihm darüber hinaus gerade darin, dass er all das im Modus der Kritik unternimmt und somit die „Auseinandersetzung“ mit ihm
Löwith 1934, 176. Er verweist damit ja implizit auf seine ebenfalls 1933 erschienene Schrift Kierkegaard und Nietzsche oder theologische und philosophische Überwindung des Nihilismus.
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sucht, anstatt ihm in philologischer Hinsicht gerecht werden zu wollen. Dabei sieht Fahrenbach (1962, 80) aber einen Widerspruch zu besagtem Ansatz „immanenter Kritik“ darin, dass Adorno, wenn er bei der inneren Logik seines Denkens ansetzen wollte, sich eigentlich den Standpunkt der Pseudonyme zu eigen machen müsste: „Die Pseudonyme sprechen ihre je eigene Sprache und sie beim Wort nehmen müßte bedeuten, ihre Sprache aus ihrer Position und umgekehrt zu interpretieren.“ Adorno dagegen nimmt sie, wie er selbst sagt, einerseits ungebrochen in ihrer „Wörtlichkeit“, erschließt sie andererseits von ihrer „philosophischen Konstruktion“ aus (GS 2, 20). Das ist aber nur das Symptom eines Grundproblems seiner Deutung, die gewissermaßen die Widersprüchlichkeit des kierkegaardschen Denkens ungewollt in dessen Kritik reflektiert. In diesem verbinden sich philosophische Konstruktion bzw. spekulative Intention mit „pragmatischen Elementen“ (Fahrenbach 1962, 80). Adorno zerlegt sie, auch um sie durch einander zu korrigieren, und verbindet dabei selbst eine systematische Kritik, insbesondere auf die Idealismus-Konstellation bezogen, mit einer pragmatischen Interpretation, etwa wenn er auf den „historischen Grund objektloser Innerlichkeit“ (GS 2, 56), auf deren „Situation“ oder „Soziologie“, abhebt. Nur gelingt ihm das nach Fahrenbach nicht. Denn beide Perspektiven verselbständigten sich einerseits und verdeckten sich andererseits, ähnlich wie es der kritische Blick Adornos bei Kierkegaard offenlegt.
2 Das Problem indirekter Mitteilung Schon die zeitgenössischen Stimmen zu Adornos Buch zeigen, dass jede Untersuchung, die sich mit seinem Verhältnis zu Kierkegaard beschäftigt, dies vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung beider mit dem Deutschen Idealismus tun muss. Auch wenn dessen Deutung als später Idealist umstritten ist, so herrscht in der Literatur gleichwohl Einigkeit darüber, dass Kierkegaard idealistische Begriffe übernimmt. Damit ist allerdings noch nichts darüber ausgesagt, inwieweit er sich damit auch deren Bedeutungsgehalt und Bezugsrahmen aneignet, oder bloß eine Terminologie bzw. Denkfiguren rein formal, gleichsam als Instrument, in einen anderen, eben existenzphilosophischen Bezugsrahmen übersetzt. Zur Diskussion steht also der Status des Begriffs selbst. Die Frage wiederum, was Existenzbegriffe im Gegensatz zu spekulativen Begriffen auszeichnet, verweist auf Kierkegaards eigentümlichen methodischen Zugang. Das gilt vor allem, aber nicht nur, für sein Verfahren „indirekter Mitteilung“, das einen Großteil seiner pseudonym verfassten Schriften prägt. Die Indirektheit der Rede dient der Mitteilung der Existenz, oder, was für Kierkegaard fast dasselbe ist, der Innerlichkeit – also eines streng subjektiven und praktisch zu vollziehenden Gehalts, der sich nicht verallgemeinern, objektivieren oder entprozessualisieren lässt, ohne ihn dabei gänzlich zu verzerren. Er entwickelt sie wie gesagt als methodisches Komplement des „subjektiven Denkers“ und insofern aus einer Kritik der Spekulation – wobei eine Scheidung von Gegenstand und Methode hier natürlich unangemessen ist, Kierkegaard versucht sie mit der Dialektik indirekter Mitteilung ja zu unterlaufen. Dass deren bewusste Missachtung Adornos Auseinandersetzung mit ihm prägt, hat entsprechend Konsequenzen für die
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Frage nach der Übernahme idealistischer Begriffe: „Indem Adorno diesen methodischen Grundzug von Kierkegaards Philosophie zurückstellt, treten gerade zwangsläufig die Motive und Versatzstücke idealistischer Subjektphilosophie in den Blick, auf die Kierkegaard in seinem paradoxen Versuch, die denkerisch nicht einzuholende Singularität der Existenz als ‚existierende Subjektivität‘ begreiflich zu machen, zweifelsohne zurückgreift; und vornehmlich diesen gilt die Kritik“ (Hühn u. Schwab 2019, 397). Nun steht einerseits die Angemessenheit seiner Deutung hier wie gesagt nicht vorrangig zur Debatte. Andererseits hat die Unangemessenheit in Bezug auf Kierkegaards Methode tiefgreifende Gründe, die mit dem vieldeutigen und für das Kierkegaardbuch titelgebenden Begriff des Ästhetischen zusammenhängen und sich eben nicht auf eine Kritik an einer Übernahme bloßer Begrifflichkeiten idealistischer Prägung reduzieren lassen. Zunächst ist wie gesagt Adornos Programm der „Konstruktion des Ästhetischen“ selbst durchaus dialektisch zu verstehen, mit Kierkegaard und gegen ihn: Während er dessen Begriff des Ästhetischen einer umfassenden Kritik unterzieht und die Konstruktion seiner „Logik der Sphären“ demontiert, versteht Adorno Philosophie selbst als ästhetische Konstruktion.¹⁷ Wie die Negative Dialektik in der„Einleitung“, so beginnt auch das Kierkegaardbuch mit einer Erörterung zu Begriff und Aufgabe der Philosophie.Wollte man deren grundlegendstes Problem in einem Satz fassen, so könnte man mit den wohl bekanntesten Worten aus der „Skoteinos“-Studie sagen: „Philosophie ließe, wenn irgend, sich definieren als Anstrengung, zu sagen, wovon man nicht sprechen kann; dem Nichtidentischen zum Ausdruck zu helfen, während der Ausdruck es immer noch identifiziert“ (GS 5, 336). Gerade hier liegt der Bezug zu Kierkegaard auf der Hand: In dessen Auseinandersetzung mit Hegel hat der Gedanke des Nichtidentischen seinen ideengeschichtlichen Ursprung. Beiden gilt es, wenn auch auf je unterschiedliche Weise, das Besondere, Nichtidentische von seiner stillschweigenden Subsumption unter das Allgemeine und Identische des Begriffs – wie auch der Diktatur des Allgemeinen in der sozialen Welt – zu befreien. Dies bedingt, neben der spezifisch „negativen“ Dialektik bei beiden Denkern, eine besondere Reflexion der Mitteilungsform, bei der der Ausdruckscharakter kaum vom Sachgehalt zu lösen ist. Sie bedeutet entfremdungstheoretisch eine Wiederaneignung des, nicht nur im spekulativen Systemdenken, Unterschlagenen. Wenn Adorno die Nichtreferierbarkeit von Philosophie betont (GS 6, 44), so hätte ihm Kierkegaard sicherlich zugestimmt. Das für seine Auseinandersetzung mit ihm so typische Ineinander scharfer Kritik und gedanklicher Nähe tritt am Problem der Mitteilung offen zutage. Denn er würdigt ihn ja auch in dieser Hinsicht ausdrücklich: „Niemals erreichen die pompösen Konflikte des Allgemeinen den eigentlichen Sachverhalt. Er ist zu gewinnen einzig in den konkreten Zellen der Dialektik, wie Kierkegaards Werk selber sie austrägt. Die Unschärfe der Kategorie läßt nicht mit umfassender Methode, sondern bloß durch geschärfte Anschauung einzelner Phänomene sich verändern“ (GS 2, 26).
Insbesondere in Analogie zur Komposition – vgl. GS 6, 44.
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III Konstruktion des Ästhetischen
Indirekte Mitteilung ist das Projekt der von Kierkegaard selbst so bezeichneten Periode der „ästhetischen Schriftstellerei“. Dass er aber 1849 rückwirkend „sein gesamtes pseudonymes Werk vor den ‚Brocken‘, auch manifest-theologische Schriften wie ‚Furcht und Zittern‘ und den ‚Begriff der Angst‘ als ästhetisch deklarierte“, findet Adorno zu Recht fragwürdig (GS 2, 24– 25).¹⁸ Das lässt sich wohl tatsächlich nur so verstehen, dass, wie er meint, dem „reifen Kierkegaard“ das Ästhetische im engeren Sinne mit der Bestimmung des Dichterischen als einem Reden ohne Autorität, also dem Standpunkt des religiösen Schriftstellers, verschmolz. Die Krankheit zum Tode zählt dieser nun explizit nicht dazu, obwohl sie, ebenso wie die Nachschrift, unter einem Pseudonym veröffentlicht wurde. Die Pseudonymität ist also mit dem Projekt indirekter Mitteilung nicht deckungsgleich und erfüllt bei Kierkegaard unterschiedliche Funktionen.¹⁹ Sie drückt zunächst bloß den bereits mehrfach angesprochenen Umstand aus, dass sich in seinem Werkganzen die einzelnen Schriften wechselseitig erhellen – sei es arbeitsteilig, oder auch, indem sie ihre Position gegeneinander negieren bzw. unterlaufen. So wird die Pseudonymität zur „Polyonymität“ (AUN II, 339 / SKS 7, 569). Dessen ist sich Adorno wie gesagt wohl bewusst, auch wenn er die Autorenschaft Kierkegaards scheinbar ungebrochen über die Pseudonyme stellt. Nun kommt ihnen bei den späteren Schriften ohnehin nicht die Funktion von sokratischen Masken wie in jener ersten „ästhetischen“ Folge zu. Das legt die Annahme nahe, dass hier sozusagen Kierkegaard selbst spricht. Für die Verzweiflungsabhandlung wählt er ein Anti-Pseudonym – zum Johannes Climacus der Philosophischen Brocken und der Nachschrift zu denselben. Dennoch gilt diese Behauptung nur bedingt, weil dort der Standpunkt des „außergewöhnlichen Christen“ eingenommen wird, den Kierkegaard für sich selbst nicht reklamieren konnte. Das AntiPseudonym ist in dieser Hinsicht doch als Pseudonym ernstzunehmen.²⁰ Allerdings sei Die Krankheit zum Tode – das Buch ist im Aufbau sicherlich sein systematischstes –, wie er selbst meint, „zu dialektisch und streng, als daß es das Rhetorische richtig anwenden könnte“, während das Rhetorische ja das primäre Moment der „ästhetischen“ Schriften ausmache.²¹ Das gilt nun auch für Der Begriff Angst, der von ihm retrospektiv ja ausdrücklich zu dieser Folge gerechnet wird. Das ist weniger wegen des von Adorno angeführten theologischen Charakters eine fragwürdige Zuordnung, sondern vielmehr,
Besagte Einteilung seines Werks nimmt Kierkegaard in einer Fußnote im Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller vor. Zur zweiten „F o l g e “ gehört lediglich die Nachschrift, die dritte – „rein religiöse Schriftstellerei“ – umfasst die Reden inklusive Der Liebe Tun (G, 25 / SKS 16, 15). Philipp Schwab (2012a, 32– 34), der die mit Abstand umfassendste Untersuchung zur indirekten Mitteilung vorgelegt hat, unterscheidet vier Funktionen. So heißt es in der Rechenschaft: „Anti-Climacus. Aber gerade daß es ein Pseudonym ist, bedeutet, was auch der Name (A n t i -Climacus) andeutet, dass es, in umgekehrter Richtung, Halt gebietet. […] das neue Pseudonym ist eine höhere Pseudonymität. Jedoch auf die Art wird ja ,Halt geboten‘: es wird ein Höheres aufgewiesen, dass mich gerade in meine Schranke zurückzwingt, über mich das Urteil aussprechend, dass mein Leben einer so hohen Forderung nicht entspreche, und daß also die Mitteilung dichterisch sei“ (WS, 4 / SKS 13, 12; Anm.). „Kritischer Rückblick auf die Krankheit zum Tode Mai 1848“ – in der Hirsch-Übersetzung: Gesammelte Werke 17, 164.
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weil sich dort keine indirekte Mitteilung findet, wie Kierkegaard selbst einräumt: Vielmehr sei „seine Form direkt und sogar ein wenig dozierend“ (AUN I, 264 / SKS 7, 226). Die Frage ob, oder inwieweit (auch) hier Kierkegaard seinen eigenen Standpunkt kundtut, möchte ich offenlassen.²² Sie lässt sich jedenfalls, wie Philipp Schwab argumentiert, gerade nicht durch den an eine wissenschaftliche Abhandlung erinnernden Charakter positiv beantworten. Vielmehr bewegt sich die Arbeit ja an der „Grenze der Wissenschaft“ (Schwab 2012a, 528). Dadurch kann sie zwar nicht im strengen Sinne jener Mitteilungsform zugeschlagen werden, ein „indirektes Moment“ ist ihr aber durchaus zu eigen: „Das Pseudonym Vigilius Haufniensis verfolgt einen spezifisch wissenschaftlichen Ansatz, zeichnet aber zugleich eine unübersteigbare Grenze dieses Vorgehens ein – und unterläuft angesichts dieser Grenze sein eigenes Verfahren, indem er sich selbst entgegenarbeitet“ (Schwab 2012a, 528). Der Text vollzieht insofern eine ähnliche Doppelbewegung der transzendierenden Selbstzurücknahme, wie die im Folgenden zu beschreibende, die der indirekten Mitteilung wesentlich ist. Das Spiel mit den Pseudonymem wirft freilich die Frage auf, wie überhaupt das Werk zum Menschen Kierkegaard steht. Adorno diskutiert sie im Abschnitt „Masken und Methode“. Er spricht dort von einem „radikale[n] Personalismus“ Kierkegaards, als der „Identität von Person und Sache“ (GS 2, 22), der sich im Widerspruch zur irreduziblen „Vielstimmigkeit“ (J. Schmidt 2008) der Pseudonyme geltend macht. Auch wenn er dessen frühe Methode im Ganzen ablehnt, setzt er doch diese Masken als persona in ihr Recht, gegen die Phase nach der „ästhetischen“, auf die er sich hier bezieht. Dem Personalismus gilt nun gerade als Deutungsmuster in der Literatur seine Kritik. Damit wehrt er einen biografischen Reduktionismus ab, der sich bei Kierkegaard wie bei kaum einem anderen Denker findet. Anschließend an eine Diskussion der von ihm geschätzten Biographie Christoph Schrempfs von 1927/28 meint er: „Aber die Person ist einzig im Gehalt des Werkes zu zitieren, der so wenig in ihr aufgeht, wie sie im Werke“ (GS 2, 23). Dessen „Wahrheit“ müsse aus dem „Bann“ seiner Person gelöst werden. Gleichwohl positioniert er den seines Erachtens angemessenen Zugang zu Kierkegaard ebenso gegen die „Verfahrungsart einer objektiven Philosophie, deren erbitterter Widersacher er nicht umsonst war“ (GS 2, 23) und die meint, sich der Person ganz entledigen zu können. Das verweist auf Adornos Verständnis einer Kritischen Theorie, die die subjektiven, d. h. wesentlich biographischen Voraussetzungen nicht im Dienste umfassender Erkenntnis ausschließen möchte, sondern vielmehr (selbst‐)kritisch zu eben diesem Zweck in der Theorie reflektiert. Nicht ohne Grund spricht er dort auch die Nähe und Distanz der Psychoanalyse zu Kierkegaards Methode an. Noch offensichtlicher tritt Kierkegaard als Person freilich im Abschnitt „Zur Soziologie“ in den Vordergrund, nun aber aus anderen Gründen. Adorno stellt dort die Parallelität der Verschlechterung seiner finanziellen Situation und der Wende zum Das wurde nicht zuletzt deshalb behauptet, weil die Pseudonymsetzung vermutlich erst nach Abschluss der Reinschrift erfolgte (vgl. Liessmann 1999, 85 u. 121). Für die Krankheit zum Tode gilt das ohnehin. Hier entschied sich Kierkegaard für das Pseudonym, nachdem er das Manuskript bereits an die Druckerei gegeben hatte – vgl. Schwab 2012a, 558.
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Spätwerk fest. Auch vermutet er, dass Kierkegaards dadurch veranlasstes Stellengesuch bei Bischof Mynster, das ihn in einen Selbstwiderspruch brachte, die spätere Haltung zu ihm nicht weniger beeinflusst habe als theologische Motive.²³ Zu Recht meint Adorno nun: „So wenig sonst aus solchen Zusammenhängen philosophische Kritik ihre Argumente ziehen dürfte: vor Kierkegaards Anspruch der Identität von Wahrheit und Person sind sie nicht zu übersehen“ (GS 2, 72). Um die Problematik seines Kirchensturms und die Direktheit der späten Schriften soll es zunächst aber nicht gehen. Am deutlichsten kommt die indirekte Mitteilungsform wohl im frühen Hauptwerk Entweder/Oder zum Tragen. Es kann deswegen als radikalste Umsetzung dieser Methode gelten, weil die eigentliche Zielsetzung, die religiöse Existenz zur Geltung zu bringen, bloß indirekt in der Beschreibung der ästhetischen und der ethischen Lebensanschauung – und noch dazu aus deren eigener Sichtweise bzw. Selbstdarstellung heraus – versucht wird. Adorno übersieht das keineswegs und er erkennt auch, dass das Übersteigen der ethischen Sphäre einen Rückbezug auf die transzendierenden Potentiale der ästhetischen erfordert (vgl. GS 2, 148). Sein (scheinbar) unangemessener Zugang zu Kierkegaard ist eben nicht das Ergebnis von Unwissenheit oder mangelnder Einsicht. Doch auch darüber hinaus weisen die frühen Arbeiten, vor allem Entweder/Oder, eine komplexe Binnenstruktur auf, in der nicht nur der pseudonyme Herausgeber mehrere fingierte Verfasser wiedergibt, sondern diese – wie der Ästhetiker A in Bezug auf das „Tagebuch des Verführers“ – auch selbst als Herausgeber fungieren können. Das könnte man eine Intrapseudonymität oder vielmehr -polyonymität nennen.²⁴ Solche auf Vorbilder wie Cervantes’ Don Quijote ²⁵ zurückgehenden metafiktionalen bzw. -textuellen Strategien machen selbst nicht unwesentlich den literarischen Charakter von Kierkegaards Frühwerk aus. Gerade in diesem Spiel mit der Dichterschaft behauptet sich nach Adorno der dichterische Anspruch, den der Däne ja von sich weist – wobei er den
Eine Kränkung war der Umgang Mynsters mit ihm zweifellos – vgl. Garff 2005, 686. Jochen Schmidt (2008) unterscheidet eine „Intrapseudonymität“ im Einzelwerk – die sich nicht bloß auf die fiktiven Verfasser, sondern überhaupt auf das Ineinander verschiedener literarischer Motive darin bezieht – von einer „Vielstimmigkeit/Interpseudonymität“, die im Wechselspiel der frühen Schriften von 1843 untereinander besteht. Erstere ist ihm primär eine „Mehrstimmigkeit“, d. h. eine „überschaubare oppositionelle Struktur“, die der Darstellung „eines Gedankens“ dient, während Letztere als „Vielstimmigkeit“ ihr Wesen in der „Negativität“ hat, darin, dass sich die Texte gegeneinander „aufreiben“ (195 – 196). Man könnte auch sagen, dass sie somit unterschiedliche Formen von Dialektik verkörpern. Der Einfluss des Don Quijote auf Kierkegaard ist nicht zu unterschätzen. Vereinzelt äußert er sich in seinen Aufzeichnungen selbst dazu. Der Roman gehörte seinerzeit zu den meistgelesenen überhaupt und hat nicht zuletzt die deutsche (Früh‐)Romantik geprägt – Ludwig Tieck übersetzte ihn Ende des 18. Jahrhunderts. Die dort entwickelten metatextuellen bzw. -fiktionalen Elemente finden ihr Echo im Konzept romantischer Ironie. Gerade Friedrich Schlegel gibt hiervon Zeugnis, insbesondere im Gespräch über die Poesie. Eine ausführliche Untersuchung dieses eher untergründigen und vermittelten Einflusses auf den Dänen findet sich bei Eric Ziolkowski (2011, 127– 183), der neben zahlreichen Arbeiten zu Kierkegaard auch eine Monografie zum Don Quijote veröffentlicht hat. Er spricht von „Don Quixote’s Sallies in Kierkegaard’s Authorship“.
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„Novellisten Kierkegaard“ insbesondere auf die deutsche Romantik bezogen sieht (GS 2, 13). Kierkegaards Verfahren ist kurz gesagt eine Mitteilung an den Einzelnen und durch den Einzelnen. Bereits in der Pseudonymität seiner Schriften zeigt sich dieses Bemühen, wählt er sie doch, wie er selbst bekundet, „um der psychologisch variierten Individualitätsverschiedenheit willen“ (AUN II, 339 / SKS 7, 569), d. h. zwecks einer kompromisslosen dichterischen Darstellung des Guten und Bösen, sämtlicher menschlicher Stimmungen und Leidenschaften in ihrer Konkretheit. Überhaupt macht Kierkegaard mit der Pseudonymität laut Schwab (2012a, 33) darauf aufmerksam, dass hier „jemand spricht“ und betont damit den „existenziellen Zug“ der „Mitteilungssituation“.²⁶ Dass sie sich an den Einzelnen richtet, bringt darüber hinaus aber ein Anliegen zur Geltung, das auch die Schriften prägt, die sich nicht zur ästhetischen Periode zählen lassen: Kierkegaard geht es um die Selbsttätigkeit der Lesenden, d. h. dass die Lebensverständigung von jedem Einzelnen selbst zu leisten ist. Er hat also etwas beizutragen, und zwar, im Falle der indirekten Mitteilungsform, das, worauf sie eigentlich zielt. Dem Text prägt das notwendig eine fragmentarische Gestalt auf und auch das (pseudonyme) Werk selbst zergliedert sich in Bruchstücke eines Ganzen, das es je erst individuell zu konstituieren gilt. Die Opposition zum Systemdenken darin ist eine doppelte, wobei sich die Konsequenz der Form nicht vom inhaltlichen Anliegen trennen lässt, das ja der diagnostizierten schwindenden Eigenverantwortlichkeit und -tätigkeit selbst gilt. Auch seine Dialektik der Mitteilung hat also eine eminent ethische Stoßrichtung. Gerade in dieser Hinsicht steht Adorno ihm, aller Abwehr zum Trotz, unübersehbar nahe, wie Sherman (2007, 36) argumentiert: „For Adorno too, the objective is to communicate in a fashion that forces the recipients to contribute something to their assimilation of the communication (which is precisely what mass society tends to discourage), and it is this objective that motivates the complex and fragmentary nature of his works.“ In der Art und Weise, wie er sich an die Lesenden wendet, versteht sich Kierkegaard ausdrücklich als Mäeutiker, nach dem Vorbild Sokrates’ (vgl. WS, 6 / SKS 13, 14– 15). Auch dieser richtet sich stets an den Einzelnen, und in seiner Gesprächskunst wird besagter Anspruch eingelöst, dass der Gesprächspartner selbst die Einsicht zu vollziehen hat. Er zeigt sich im aporetischen, oder wie Kierkegaard selbst sagt „n e g a t i v e n E r g e b n i s “ (BI, 55 / SKS 1, 115) von Platons frühen Dialogen.²⁷ Auch Kierkegaard versucht nun die Lesenden in die Wahrheit hineinzubetrügen: „Man kann einen Menschen täuschen über das Wahre, und man kann, um an den alten Sokrates zu erinnern, einen Menschen hineintäuschen in das Wahre“ (G, 48 / SKS 16, 35). Wie er weiter ausführt, sei das wohl sogar die einzige Möglichkeit, wenn der Mensch „in seiner Einbildung befangen ist“ (G, 48 / SKS 16, 35). Daher geht diese Methode, als eine der Täuschung, gerade von dem Das ist bei ihm die zweite Funktion der Pseudonymität. Vgl. auch DSKE 2, 311 / SKS 18, 299: „Dass mehrere von Platos Dialogen ohne Resultat enden, hat einen weit tieferen Grund, als ich früher gedacht habe. Es ist nämlich eine Widerspiegelung von Sokrates’ mäeutischer Kunst, die den Leser od. den Zuhörer selbsttätig macht und deshalb nicht im Resultat, sondern mit einem Stachel endet.“
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aus, was Kierkegaard, auch in den Schriften, die nicht dem Programm indirekter Mitteilung folgen, voraussetzt: dass die Menschen in einer Selbsttäuschung befangen sind, die eben diese Täuschung selbst verbirgt. Nach Wesche (2003, 176 – 177) liegt hierin auch eine wesentliche Differenz zu Sokrates, der dagegen von einer ursprünglichen, nicht einer intendierten Unwissenheit ausgehe, bzw. von einem noch nicht entfalteten Wissen.²⁸ Aus diesem aktiven Selbstbetrug jedenfalls kann der Mensch sich wiederum nur durch eigene Tätigkeit befreien. Kierkegaard fasst daher an anderer Stelle zusammen: „Alle indirekte Mitteilung ist darin von der direkten unterschieden, daß sie indirekt an erster Stelle einen Betrug hat, gerade weil es ein Betrug wäre, das Ethische unmittelbar mitteilen zu wollen“ (T II, 125 / SKS 27, 397).²⁹ Er versucht nun ähnlich wie Sokrates bei dem bereits vorhandenen Selbstverständnis der Lesenden anzusetzen. Die Mitteilung beginnt daher mit dem „Negativen“, der (Selbst‐)Täuschung: Es will sagen, daß man nicht u n m i t t e l b a r mit dem beginnt das man mitteilen will, sondern damit beginnt die Einbildung des anderen für bare Münze zu nehmen. Man beginnt also […] nicht so: ich bin Christ, du bist kein Christ; sondern so: du bist Christ, ich bin kein Christ. Oder man beginnt nicht so: es ist das Christentum, was ich verkündige, und du lebst in bloß ästhetischen Bestimmungen, nein, man beginnt so: laß uns vom Ästhetischen reden. (G, 49 / SKS 16, 36)
Es geht also zunächst darum, dass die Lesenden sich in dem Geschriebenen wiederfinden, sich sozusagen in Sicherheit wiegen – anstatt ihnen eine Sichtweise aufzudrängen, die sie (noch) nicht anerkennen, gegen die sie sich sperren. Um jedoch hinter dem Dargestellten das erkennen zu können, was eigentlich vermittelt werden soll, muss eine fast spiegelbildliche Verkehrung dieser Position erreicht werden. Zur Durchführung seines elenktischen Verfahrens setzt Kierkegaard eine Vielzahl an ästhetischrhetorischen Mitteln ein, die eine Verfremdung des Textes bewirken und damit die Lesenden in ihrem Selbstverständnis irritieren und zu einer gewissen Distanz nötigen. Seine Methode bezeichnet Kierkegaard auch als Doppelreflexion: „Da es ethisch kein unmittelbares Verhältnis gibt, so muß alle Mitteilung durch eine doppelte Reflexion hindurchgehen; die erste ist die, in der sie mitgeteilt wird, die zweite ist die, in der sie zurückgenommen wird“ (T II, 125 / SKS 27, 397). Diese Bewegung lässt sich mit Liessmann (1999, 35) resümieren als eine, „die das Unmittelbare erst ästhetisch verschlüsselt (Täuschung), um es dann in einem zweiten Schritt zu überbieten und seinem eigentlichen Zweck (Ethos, Wahrheit) zu entbinden“. Damit wird verständlich, weshalb Kierkegaard das Verfahren der indirekten Mitteilung auch explizit als ein dialektisches bezeichnet (vgl. G, 48 / SKS 16, 35). Die Rede vom Betrug lässt sich leicht dahingehend missverstehen, dass Kierkegaard den Lesenden auf suggestive Weise das eigene Verständnis des Wahren unterschieben Auf eine weitergehende Erörterung der Differenzen zur sokratischen Gesprächskunst, wie sie Kierkegaard auch selbst insbesondere in den Philosophischen Brocken reflektiert, muss hier verzichtet werden. Nach Wesche (2003, 178) wird sein Sokratesbild grundsätzlich „von dem allzu scharfen Kontrast verzerrt, den er zwischen griechischem Wissen und christlichem Glauben sieht“. Hier ist nicht vom Ethischen im Sinne des ethischen Stadiums die Rede.
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wolle, und zwar in einer fast entmündigenden Weise. Das ist nicht Adornos Meinung. Dennoch ist ihm das Rhetorische Kierkegaards suspekt, weil er es als persuasiv und nicht als „antipersuasiv“ versteht.³⁰ Letztlich ist das eine Frage des Standpunkts. Denn natürlich sind Kierkegaards Schriften in der zuvor umrissenen Weise aufs Genaueste auf ihre Wirkung bei den Adressierten hin angelegt, nur dass eben das, wovon überzeugt werden soll, selbst nicht Gegenstand der sprachlichen Vermittlung werden kann, die diese Überzeugung erreichen soll. Entscheidend ist aber, dass der bewusste Betrug an den Lesenden diese doch gerade in ihrer Autonomie ernst nimmt, da sie ihnen nicht von einem übergeordneten Standpunkt aus eine Sichtweise aufdrängt und die bereits vorhandene Lebensdeutung in dieser Perspektive als eine falsche bzw. misslingende abwertet. Adorno missversteht diese Strategie jedoch, weil er meint, das Verfahren setzte Autonomie als aktualisierte und nicht (auch) als potentielle, in Selbsttäuschung befangene voraus (vgl. GS 2, 190). Daher ist ihm die Täuschung, die an erster Stelle steht, nichts weiter als eben eine solche und nicht eine, die sich selbst auf ihre Aufhebung hin transzendiert. Darum kann er Kierkegaards Reflexionen zur Methode hinsichtlich ihrer Relevanz für den Entfremdungsdiskurs nicht angemessen würdigen. Wesentlich für den Akt des antipersuasiven Überzeugens ist, wie bereits angedeutet, dass sich der Mitteilende dabei zugleich als solcher selbst zurücknehmen muss, und zwar auch hinsichtlich des Resultats. Denn gerade der Ausgang vom vorweggenommenen Resultat ist, wie Kierkegaard mit Blick auf Hegel feststellt, der Kern des Problems. Er kann die Lesenden nur – eine ähnlich zwiespältige Formulierung, wie die vom Betrug an ihnen – zwingen, aufmerksam zu werden.³¹ Die Wahrheit der Innerlichkeit, die Kierkegaard vermitteln will, hängt jedoch davon ab, ob jene sie selber einsehen wollen, dazu gibt es keine Alternative. Die Lesenden sollen auf die Möglichkeit des Selbstbetruges in ihrem Verständnis bzw. Selbstverhältnis aufmerksam werden, nicht auf eine objektive Wahrheit, einen Inhalt oder ein Wissen im eigentlichen Sinne. Daher meint Kierkegaard auch, „daß ebenso, wie sich der existierende subjektive Denker durch die Doppelheit selbst frei gemacht hat, der springende Punkt der Mitteilung gerade darauf beruht, den anderen frei zu machen“ (AUN I, 66 / SKS 7, 74). Dies nennt er „Selbsttätigkeit der Aneignung“, die er der Ausrichtung seiner Zeit auf Wissen, auf Resultate entgegensetzt, was
Vgl. Tim Hagemann (2001). Bei ihm ist allerdings das Antipersuasive an eine spezifisch christliche Form der Rhetorik gebunden, d. h. auf die Aneignung des Glaubens bezogen und eben dadurch negativ bestimmt. Quelle sind Hagemann entsprechend vor allem die erbaulichen Schriften – die in Adornos Erstlingswerk, wie er selbst bemerkt (GS 2, 262– 263), allenfalls am Rande Berücksichtigung finden und ohnehin nicht zu den von indirekter Mitteilung geprägten Texten zählen. Gleichwohl findet sich bei Hagemann aus dieser Perspektive eine ausführliche Bestimmung des Mitteilungsproblems auch der ästhetischen Periode. Beide Werkteile verbindet eine Rhetorik, die in besagter Weise auf Irritation und Verfremdung setzt und die Lesenden damit auf sich selbst zurückwerfen will. Vgl. G, 44 / SKS 16, 32: „Einen Menschen zwingen zu einer Meinung, einer Überzeugung, einem Glauben, das kann ich in alle Ewigkeit nicht; aber eines kann ich […], ihn zwingen aufmerksam zu werden. […] Indem ich ihn zwinge aufmerksam zu werden, komme ich dazu ihn zum Urteilen zu zwingen. Nun urteilt er. Aber wie er urteilt, steht nicht in meiner Macht. Vielleicht urteilt er gerade umgekehrt als ich es wünsche.“
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er als seinen „Hauptgedanken“ bezeichnet (AUN I, 242 / SKS 7, 226). Er spricht auch schlicht von „Innerlichkeit“, was hier eine praktische Wahrheit als zu vollziehende meint (AUN I, 234 / SKS 7, 220). Indem auf mitteilbare Ergebnisse verzichtet wird, nötigt Kierkegaard die Lesenden, selbst tätig zu werden, selbst zu urteilen. Damit wird er auch der unabschließbaren Prozessualität des Selbstvollzugs gerecht. In der eigenen Lebensdeutung gibt es keine Resultate im strengen Sinn – sie wären dort ebenso „unnatürlich“ wie im „Verkehr zwischen Mensch und Mensch“ (AUN I, 234 / SKS 7, 220). Aneignung ist also existentielle Selbstverständigung. Darüber hinaus hat der Begriff ebenso eine durch Luther geprägte theologische Bedeutung. Nach Joachim Ringleben ist aber beides nicht voneinander zu trennen. Zwar werde Aneignung „bei Kierkegaard offenkundig zum geistlichen Kennzeichen des eigentlich Christlichen“, doch gewinne der Begriff bei ihm – „im Zuge der konsequenten Ausbildung einer Subjektivitätstheorie“ – eine Bedeutung, die sich auch einer theologische Implikationen vermeidenden, philosophischen Betrachtung erschließe (Ringleben 1983, 138). Überhaupt sei sein Glaubensbegriff durch sie, genauer eine neuzeitliche Wirklichkeitsauffassung, die Rezeptivität und Spontaneität vereint, je schon geprägt: „In Kierkegaards Aneignungsbegriff werden das theologische Anliegen, den Glauben im unverwechselbar christlichen Sinne zu denken, und das philosophische, ihn als solchen zugleich als Grundbegriff einer Freiheitstheorie überhaupt in Anspruch zu nehmen, zu wechselseitiger Erhellung systematisch aufeinander bezogen“ (Ringleben 1983, 153).
3 Innerlichkeit und Handlung Indirekte Mitteilung zielt auf Innerlichkeit, bzw. eine Wahrheit, die Kierkegaard mit ihr gleichsetzt und jenem fixierbaren Wissen, das auf Resultate geht, entgegensetzt. Aneignung bedeutet Verinnerlichung. Was aber versteht er darüber hinaus unter jener zentralen Kategorie? Ich meine, dass sie sich gerade in Verbindung mit seinem Begriff der Tat erschließen lässt, der doch vermeintlich in die entgegengesetzte Richtung weist. Es hatte sich aber schon in der Diskussion der Mitteilungsform gezeigt, dass Kierkegaard darunter gerade den Existenzvollzug und die Selbsttätigkeit (der Adressierten) versteht. Auch die erschöpfende Untersuchung zur Innerlichkeit von Matthias Engmann (2017) nimmt daher diesen Weg und will „praxistheoretische Perspektiven auf Kierkegaards Existenzdenken“ gewinnen. Dass er sich dabei kaum mit Adorno beschäftigt, hat nachvollziehbare Gründe, die keineswegs, wie bei anderen, in einer pauschalen Ablehnung seiner Deutungskategorie „objektlose Innerlichkeit“ gründen.Vielmehr sei „die Innerlichkeitsdiskussion Adornos nicht von seinem eigenen Denkgebäude zu trennen“ (Engmann 2017, 9).³² Der Begriff der Innerlichkeit als solcher ist wesentlich vieldeutig
Und das bedeutet natürlich: „Es bedürfte einer genauen Betrachtung von Adornos eigener Philosophie, was zu weitab führen würde“ (Engmann 2017, 9).
3 Innerlichkeit und Handlung
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und lädt geradezu zu Missverständnissen ein. Das gilt besonders im Kontext seiner spezifisch deutschen Bedeutungsgeschichte.³³ Von ihr ist Kierkegaards Verständnis hier ausnahmsweise klar abzugrenzen. Gleichwohl wurde er gerade in dieser Weise, etwa durch den Nationalsozialisten Emanuel Hirsch, völkisch vereinnahmt.³⁴ Die nicht zuletzt politische Problematik der „deutschen Innerlichkeit“ ist im Grunde bereits in ihrer theologischen Vorgeschichte seit Luther angelegt. An die schließt natürlich auch Kierkegaard an, allerdings weit unverfänglicher – eben in der beschriebenen Weise, die mit Aneignung fast in eins fällt. Adorno reflektiert diese Zusammenhänge in einem Aphorismus der Minima Moralia, der den treffend doppelsinnigen Titel „Ringverein“ trägt. Innerlichkeit steht auch für ihn von vornherein in einem ambivalenten Verhältnis zur Praxis. Ihre Jünger „sind bereit, den Kampf mit dem inneren Feind wiederum in die Tat umzusetzen, die nach ihrer Meinung ohnehin am Anfang war. Ihr Prototyp ist Luther, der Erfinder der Innerlichkeit, der sein Tintenfaß dem leibhaftigen Teufel, den es nicht gibt, an den Kopf warf und schon die Bauern und Juden meinte“ (GS 4, 125). Das hat nun mit Kierkegaard wenig zu tun, wie Adorno feststellt, wenn er dort meint, jene Jünger würden sich zu Unrecht auf ihn berufen. Er versucht ihn also auch in dieser Hinsicht aus seiner späteren Vereinnahmung zu befreien. Das dänische Inderlighed entspricht nur scheinbar dem deutschen Wort. Theunissen (1958, 34) bemerkt dazu, es heiße vorzüglich: „‚Innigkeit‘ oder ‚Inbrunst‘, also Stärke der Teilnahme und des Bezogenseins“. Damit drückt es die gleiche Opposition aus, wie der leidenschaftliche, subjektive Denker im Gegensatz zur Teilnahms- und Interesselosigkeit des reinen Denkens der Spekulation. Das ist aber auch deshalb schon vielsagend, weil so von vornherein Innerlichkeit ein Eingebundensein insbesondere in die Mitwelt impliziert. Und in dieser Weise hat das Wort stets auch eine entfremdungskritische Spitze gegen soziale Beziehungen, die seltsam beziehungslos werden, eben verdinglicht – und nicht zuletzt gegen eine Gleichgültigkeit im ethisch relevanten Sinn. Gleichwohl bezieht sich Innerlichkeit – dem landläufigen Verständnis entsprechend – für Kierkegaard stets auf eine Wahrheit, die eben aus der Außenperspektive unzugänglich bleibt. Das heißt allerdings nicht, dass sie nicht kommunikativ sei. Vielmehr grenzt sie sich darin ja von ihrem negativen Gegenbild, dem Dämonischen, als
Der Ausdruck findet sich im Deutschen wohl zuerst 1779 bei Klopstock, in seiner Schrift Über Sprache und Dichtkunst, der Innerlichkeit ganz im Sinne der literarischen Strömung der Empfindsamkeit (vor‐) prägt. Mit der Epoche der Romantik wird sie dann wie kaum ein anderes Konzept assoziiert. Im Laufe des 19. Jahrhunderts schließlich bildet sich der stehende Begriff der„deutschen Innerlichkeit“ heraus – als ein Wort der Kritik. Nietzsche etwa überzieht sie in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben mit Polemik. Am prominentesten wohl ist im 20. Jahrhundert Thomas Manns Wiederaufnahme dieser Kritiklinie in seiner Rede Deutschland und die Deutschen von 1945. Innerlichkeit ist ihm der Ausdruck der Widersprüche des deutschen Geistes schlechthin, „dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug“ (Mann 1996, 280). Die zentrale Rolle, die der Begriff in Lukács’ Theorie des Romans spielt – hier treten seine negativen Konnotationen in den Hintergrund – ist für mich aus zwei Gründen interessant: durch den Bezug auf Kierkegaard und den Umstand, dass er dort Innerlichkeit eindeutig im Kontext eines übergreifenden Entfremdungsgeschehens reflektiert. Siehe hierzu: Engmann 2017, 55 – 56 (Anm. 271).
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dem in sich Verschlossenen ab. Innerlichkeit, heißt es in Der Begriff Angst, sei vielmehr ein Verstehen, in dem man sich selbst in dem Gesagten mit verstehe (BA, 166 / SKS 4, 442) – und drückt damit in ihrem Begriff gerade jene Doppelstruktur indirekter Mitteilung aus. Ihre Wahrheit besteht kurz gesagt in einer Korrespondenzbeziehung, die sich im Selbstverhältnis einstellt. Dieses Verhältnis ist aber ein Verhalten, also eine Handlung. Und insofern diese Wahrheit gerade nicht ein Resultat ist, wäre es vielleicht sinnvoller, hier von Wahrheitsorientierung zu sprechen. Jedenfalls kommt es nun zu einer Engführung von Innerlichkeit und Tat in einem doppelten Sinn. Einerseits ist „Gewissheit, die Innerlichkeit, nur durch die Handlung erreichbar und nur in ihr vorhanden“ (BA, 162 / SKS 4, 439), andererseits wird diese Handlung im Begriff der „inwendigen Tat“ (EO II, 185 / SKS 3, 170) geradezu in die Innerlichkeit zurückgenommen, wie auch Entscheidung und Handlung letztlich auf eine nicht unproblematische Weise zusammenfallen. Wie Kierkegaard in der Nachschrift schreibt, will er Handlung im „eminenten Sinn“ verstanden wissen, d. h. „nicht in Richtung auf rühmliche Tat, sondern in Richtung auf Innerlichkeit“ und er fügt hinzu: „Aber im eminenten Sinne zu handeln gehört wesentlich mit dazu, um als (qua) Mensch zu existieren“ (AUN II, 4 / SKS 7, 277). Wenn Handlung auf Innerlichkeit zielt, so ist damit zunächst nur angezeigt, dass wir uns in unserem Handeln nach außen wie gesagt stets zu uns selbst verhalten. Es ist die Grundstruktur seiner Existenzdialektik überhaupt: „Für Kierkegaard ist das Handeln in seiner höchsten Bedeutung Moment einer umfassenderen Tätigkeit des interessierten Individuums: der Aneignung und Verwirklichung von Wahrheit. Damit ist schon gesagt, daß die Handlung als Akt der Entäußerung („Verdopplung“) mit der Verinnerlichung („Erinnerung“) einen engen dialektischen Konnex bildet“ (Guarda 1975, 18). Das bedeutet nun aber, dass Handlung im „eminenten Sinn“ der beschriebenen Dialektik der Entfremdung entspricht. Verinnerlichung ist Wiederaneignung. Das Verbleiben im Äußerlichen wäre dagegen Entfremdung als „Verkennung und Stilllegung dieser Aneignungsbewegung“ (Jaeggi 2005, 19). Die Entäußerung im Handeln ist zunächst aber als eine Aufhebung des Denkens zu verstehen, die auf den ersten Blick dem durch Hegel bekannten Mehrfachsinn entspricht. Sie bedeutet wie erörtert einen Übergang von der Möglichkeit (als gedachter Wirklichkeit) zur Wirklichkeit, die wiederum in Möglichkeit aufgehoben wird, womit der Prozess von neuem beginnt. Das Denken stößt hier aber, wie Kierkegaard weiter ausführt, auf ein „verhärtetes Wirklichsein“ (AUN II, 4 / SKS 7, 277), das es nicht auflösen kann. Das ist das intermittierende Moment, das dem hegelschen Schema widerspricht. Es kommt also zu einer Suspension des Denkens. Zu einer solchen Wirklichkeit kann sich der Mensch nur paradox verhalten. Es gelte „ d i e o b j e k t i v e U n g e w i ß h e i t “ festzuhalten in „ l e i d e n s c h a f t l i c h e r I n n e r l i c h k e i t “ (AUN II, 23 / SKS 7, 293). Das bedeutet nun, dass Innerlichkeit eine paradoxe, weil antizipierte Gewissheit bedeutet, die objektiv keine Grundlage haben kann, aber gleichwohl nicht grundlos ist, da sie an eine „Idealität“ gebunden ist, die wiederum gedacht werden kann. In der Angstabhandlung wird Gewissheit gar mit Innerlichkeit gleichgesetzt. An ihr mangele es dem „Zeitalter“, wie an kaum etwas anderem, da „seine Diskrepanz und der Grund für seine
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Unruhe darin bestehen, daß auf der einen Seite die Wahrheit an Umfang, an Masse, teils auch an abstrakter Klarheit zunimmt, während andererseits die Gewißheit immerfort abnimmt“ (BA, 163 / SKS 4, 440). Damit ist zunächst auch schlicht eine Orientierungslosigkeit bezeichnet, das verzweifelte Bemühen um eine Lebensverständigung, die doch den Ansprüchen einer sicheren Erkenntnis nicht genügen kann. Es kommt zu einem Auseinanderklaffen des eigenen dunklen Selbstverhältnisses und der abstrakten, klaren Erkenntnis der Welt, bzw. dazu, dass man sie nicht mehr auf sich beziehen kann, ohne in ein entfremdetes Selbstverhältnis zu geraten, wie es Kierkegaard in den Formen der Angst und Verzweiflung in seiner ganzen Bandbreite beschreibt. Gewissheit wird hier zu einer Bestimmung zwischen Theorie und Praxis, die vielmehr als Entschlossenheit zu verstehen ist. Sie dient damit der Kontingenzbewältigung. Darin liegt auch für Engmann (2017, v. a. 161– 171) die zentrale „praxistheoretische“ Relevanz des kierkegaardschen Innerlichkeitsverständnisses. Über das bloße Gelingen des eigenen Lebens – d. h. den richtigen Umgang mit jener verhärteten Wirklichkeit und objektiven Ungewissheit – hinaus, erweist sich das kierkegaardsche Grundverständnis von praktischer Wahrheit nun auch in einer spezifischen Weise als ethisches im engeren Sinne. Es steht eben in einem Bezug zur Idealität, weshalb er auch sagen kann: „Das Ethische ist die Innerlichkeit“ (AUN I, 132 / SKS 7, 133).³⁵ Bedenkt man die Kritik an der abstrakten Idealität der „ersten Ethik“ in der Einleitung der Angstabhandlung so wird deutlich, dass Innerlichkeit als Gewissheit der Versuch ist, Idealität in der Wirklichkeit zu „gebären“, anstatt sie bloß zu fordern und ihre Bedingungen vorauszusetzen (BA, 21 / SKS 4, 324). Die terminologische Nähe zur mäeutischen Methode ist kein Zufall, zumal Kierkegaard dort die „griechische Ethik“ gegen die kantische Pflichtethik profiliert. Die kierkegaardsche Innerlichkeit hat sich bisher keineswegs als eine solipsistische, verschlossene Form des Selbstverhältnisses gezeigt. Dennoch erweist sich ausgerechnet der mit ihr verbundene Handlungsbegriff in seiner Selbstreflexivität als problematisch: „Die Wirklichkeit ist nicht die äußere Handlung, sondern ein Inneres, in welchem das Individuum die Möglichkeit aufhebt und sich mit dem Gedachten identifiziert, um darin zu existieren. Das ist Handlung“ (AUN II, 42 / SKS 7, 310). Daher meint Holl (1972, 142): „Die eigentlich ethische Handlung richtet sich nun nicht – wie bei Fichte – auf das Nicht-Ich, um es sich im unendlichen Sollen anzuverwandeln und so über seine Äußerungen zu sich zu kommen, sondern auf das endlich existierende Ich selber.“ Freilich hat er damit im Grunde zugleich formuliert – wenn man von dem entscheidenden Zusatz „endlich existierend“ absieht –, was man ebenso Fichte seinerzeit zum Vorwurf gemacht hat: ein handlungs- bzw. weltloses Ich zugrundezulegen, dass in seinem Streben doch nur auf sich selbst (rück‐)bezogen ist. Wie sich zeigen wird, entspricht auch die Kritik Kierkegaards an ihm weitgehend der Hegels. Vor diesem Hintergrund – wie er sich den
Der Begriff des Ethischen ist bei Kierkegaard, wie sich zeigen wird, grundsätzlich mehrdeutig. Hier geht es ausdrücklich um „Gut und Böse“, genauer um das Verschwinden ihres Unterschieds in der Weltgeschichte.
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Begriff der Tathandlung zu eigen macht – wird nicht nur die Frage nach seiner Zugehörigkeit zum Idealismus, sondern auch die nach der Reichweite seines Ethik- und Praxisbegriffs erst zu beantworten sein. Adorno gilt Kierkegaards Bestimmung des Selbst als Tätigkeit als Tautologie und sie bedeutet insofern auch keine Transzendenz der Innerlichkeit. Das ist aber doppelsinnig: „Aus der Tautologie führt erst die Fichtesche Wendung zur ,Tat‘ als Einheit von Theorie und Praxis heraus; würde Kierkegaard auf solcher Einheit insistieren, er wäre der Identitätsphilosophie überantwortet“ (GS 2, 111). Dass er ihre Differenz festhält, ist also sein Vorteil gegenüber dem Idealismus. Insbesondere in Opposition zur Spekulation bedenkt Kierkegaard die Schwierigkeit des Übergangs von der Theorie in die Praxis, die ihm zufolge in der Kategorie der Vermittlung verschwinde. Es ist jene Bewegung von der Möglichkeit des bloß als richtig Erkannten, d. h. Gedachten, zur Wirklichkeit der Tat. Dass die Tat aber eine „inwendige“ ist, bedeutet, dass die existenzielle Entscheidung, die im Zentrum seiner Überlegungen steht, mit der Handlung zusammenfällt. Sie ist bereits die Wirklichkeit als aufgehobene Möglichkeit des Denkens. So meint Kierkegaard etwa, dass Luthers Auftreten auf dem Reichstag zu Worms bloß das „Äußere“ der Handlung sei, das – im wahrsten Sinne des Wortes – Entscheidende jedoch etwas anderes: „[A]ber von dem Augenblick an, wo er mit der leidenschaftlichen Entscheidung seiner ganzen Subjektivität darin existierte, zu wollen; als jedes Möglichkeitsverhältnis zu dieser Handlung von ihm als Anfechtung betrachtet werden mußte: da hatte er gehandelt“ (AUN II, 44 / SKS 7, 311). Damit wird zweierlei deutlich. Zum einen, dass die Entscheidung aus der Wahl der ganzen Persönlichkeit hervorgeht, die dann in der Wiederholung realisiert bzw. reaktualisiert wird. Das bedeutet den wiederholten Anlauf gegen eine Faktizität, die es in Freiheit zu verwandeln gilt, sowie gegen die Trägheit des eigenen Willens. Zum anderen zeigt sich aber in den Ausführungen zur inneren Tat, dass Kierkegaard die äußere kaum als Problem wahrnimmt, weshalb er auch meint, die Entscheidung im Äußeren sei ein Scherz (AUN II, 45 / SKS 7, 311; Anm). Hierin liegt wohl eine Begrenztheit seiner Reflexionen zu Theorie und Praxis, die Guarda (1975, 26) treffend formuliert: Obwohl Kierkegaard weiß, daß die Sünde nicht nur einen subjektiven, sondern vor allem auch einen objektiven Aspekt hat – die ererbte Faktizität naturhafter und sozialer Prägung –, sieht er Praxis stets nur im Rahmen individueller Selbsthilfe: weil ihm die Selbstwerdung des Einzelnen als die Voraussetzung für die Revolutionierung des Bestehenden gilt. Wiederholung wird damit aber zum Versuch, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen! Daß dieser Versuch zum Scheitern verurteilt ist, hat Kierkegaard deutlich genug erfahren, freilich ohne die wahren Gründe zu erkennen. Wenn Interesse und Realität in keiner Relation stehen, liegt es auch nahe, das Scheitern als subjektives Versagen – oder aber religiös als Schickung zu interpretieren.
Es sind bekannte Vorwürfe an die Adresse Kierkegaards. Auch Adorno scheint sie ihm unter der Überschrift einer „objektlosen Innerlichkeit“ zu machen, insbesondere im Hinblick auf die geschichtlich-gesellschaftliche Objektivität, von der sich jener entfremde. Entsprechend kritisiert er auch in der Negativen Dialektik die bloße Entscheidung, die sich nun fast wie ein Gegenbegriff zum dialektischen Begriff der (objektiven
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und historischen) Erfahrung ausnimmt: „So vermittelt Sein durch den Begriff und damit durchs Subjekt, so vermittelt ist umgekehrt das Subjekt durch die Welt, in der es lebt, so ohnmächtig und bloß innerlich auch seine Entscheidung. Solche Ohnmacht läßt das dinghafte Unwesen über das Subjekt siegen“ (GS 6, 129). Nun spricht er hier von Sartre, der Kierkegaards Existenzbegriff „anachronistisch“ überhöht habe. Ob sich das Urteil auch auf diesen selbst beziehen lässt, wird zu diskutieren sein – es handelt sich dabei ja um nicht weniger als den Grunddissens der Kierkekaardrezeption und -forschung schlechthin, dem Adorno mit der „objektlosen Innerlichkeit“ nur ein weiteres Schlagwort hinzugefügt hat. Seine Haltung in Bezug auf das Verhältnis von Innerlichkeit und Handlung ist aber, soviel lässt sich schon sagen, äußerst ambivalent, da er in der von Guarda kritisierten Selbstbezüglichkeit der Praxis zugleich ihr widerständiges, gesellschaftskritisches Potential sieht. Und auch der Begriff der Ohnmacht erweist sich in der Formel von der „Macht der Ohmacht“ (GS 2, 258) schließlich als doppelsinnig. Darüber hinaus hat Adorno ja „den Gestus Münchhausens, der sich an dem Zopf aus dem Sumpf zieht“ (GS 4, 83), auch für sich selbst in Anspruch genommen. Er steht für die Situation des nachhegelschen kritischen Theoretikers schlechthin, dessen Erkenntnisanspruch sich mit „entweder Feststellung oder Entwurf“ nicht begnügen will, der aber„nicht mehr die Identität von Subjekt und Objekt sich vorgeben darf, in deren endlicher Annahme Hegel die antagonistischen Forderungen des Zusehens und Konstruierens noch zur Deckung brachte“ (GS 4, 83).
3.1 Wendung der Innerlichkeit und Vorsehung Freilich stellt sich, wo es um Kierkegaards Begriff von Innerlichkeit und Handlung geht, unweigerlich die Frage, wie das bisher Erörterte im Verhältnis steht zu seinem späten Schaffen.³⁶ So behauptet ja Adorno, Kierkegaard sei im Angriff auf die dänische Staatskirche, der eigentlich „dem Ganzen“ galt, „aus der Innerlichkeit herausgetreten“ (GS 2, 258). Interessant ist in diesem Zusammenhang Deusers (1980, 136 – 145) Auslegung der „objektlosen Innerlichkeit“. Er meint, dass Kierkegaard selbst diese Kritik in seiner
Es kann hier aber nicht der Ort sein, die in der Kierkegaardforschung gerne geführte Diskussion um die Eingrenzung seines Spätwerks aufzugreifen. Spätestens ist dessen Beginn mit dem Jahr 1848 anzusetzen, wobei die Zeit seit 1846 zumindest als Übergangsphase betrachtet werden kann. Der Nachschrift, die für die theoretische Bestimmung des subjektiven Denkers und des Programms indirekter Mitteilung – nicht aber dessen Durchführung – zentral ist, kommt dementsprechend gewissermaßen eine vermittelnde Rolle zu. Kierkegaards radikaler Wandel im Selbstverständnis fällt zwar mit dem Revolutionsjahr zusammen. Die Gründe hierfür sind jedoch vorrangig andere und zum Teil prosaischer Natur. Die Wendung ist nicht zuletzt – eine Steilvorlage für jeden Materialisten – den ökonomischen Zwängen geschuldet, die mit der Verschlechterung seiner finanziellen Situation nun von außen hereindringen. Auch Adorno geht darauf ein (GS 2, 72– 73). Vgl. hierzu Deuser 1980, 39 – 43. Eine akribische Aufstellung der Einnahmen und Ausgaben sowie des Vermögens Kierkegaards bis Ende 1847 und eine Antwort auf die Frage „Wo war das Geld geblieben?“ (596) findet sich in der Biografie von Joakim Garff (2005, v. a. 583 – 598).
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späten Wendung antizipiere, wobei Objektivität hier wesentlich das „Bestehende“, die gesellschaftlichen Verhältnisse bedeutet. Adorno sei aber insofern über ihn hinaus, „als er die Objektvermittlung, wie sie im Spätwerk Kierkegaards faktisch vorliegt, nachträglich begrifflich bestimmt und geschichtsphilosophisch resumiert“ (Deuser 1980, 145). Nun ist ja Innerlichkeit in der beschriebenen Weise je schon nach außen gewandt und wird nicht erst gewendet. Hier ist aber etwas anderes gemeint. Es war für Kierkegaard vom Frühwerk bis zuletzt eines der entscheidenden Probleme, wie sich die Innerlichkeit im Äußeren ausdrückt. Gerade darin offenbart sich besagte Schwierigkeit des Übergangs von Theorie in Praxis. Insofern die Bestimmung der Innerlichkeit als eine fürs Äußere inkommensurable mit der des Glaubens überhaupt untrennbar verbunden ist, konnte die Beziehung nur eine paradoxe sein (vgl. FZ, 75 / SKS 4, 161). Das gilt auch später. Deuser argumentiert aber, dass Kierkegaard sich von der theologischen Figur der „verborgenen Innerlichkeit“, wie sie von Bischof Mynster propagiert wurde, zunehmend distanzierte. Sie wurde ihm zu einer Verlogenheit, insofern sie den Transzendenzverlust in der real existierenden Christenheit auf bequeme Weise überspielen konnte. Innerlichkeit soll nun in Praxis sichtbar werden.³⁷ Damit vollzieht Kierkegaard gewissermaßen biographisch, was seiner Konzeption von Innerlichkeit je schon eingeschrieben ist. Adorno bestimmt sie als ein dialektisches Verhältnis von Subjekt und Objekt, wobei sich die Momente in einer solchen Weise unversöhnlich gegenüberstehen, dass sie ineinander umschlagen. Das ist jedoch ihr Vorteil dem idealistischen Subjekt-Objekt gegenüber. Deshalb wird hier jene Figur der Entfremdungskritik positiv gewendet. Deuser (1980, 137) folgt ihm darin ausdrücklich: „Adornos Begriff der ‚objektlosen‘ Innerlichkeit ist dialektisch, er meint letztlich die Objektbestimmtheit der Innerlichkeit, und darin ist Kierkegaard über Hegel zu Recht hinausgegangen.“ Ungleich problematischer ist aber eine andere Tendenz, die sich im Spätwerk verselbständigt. Guarda deutet sie in der vorhin wiedergegebenen Passage bloß an: Was er als „Schickung“ bezeichnet, verweist auf die für Kierkegaards Verständnis von Praxis wichtigen theologischen Begriffe der „Vorsehung“ und der „Lenkung“: „Sobald einer entscheidend handelt und in die Wirklichkeit hinauskommt, kann das Dasein ihn fassen, und die Lenkung ihn erziehen“ (T IV, 94 / SKS 23, 45). Philosophisch nachvollziehbar ist das insoweit, als er Lebensverständigung wie gesagt erst im Existenzvollzug verwirklicht sieht und eine praktische Wahrheit der beschränkten theoretischen gegenüberstellt. Es ist das Leben als ein Experiment – wenngleich nicht im Sinne des Ästhetikers –, welches das Scheitern miteinbezieht. Das ist sicherlich eine Stärke der kierkegaardschen Ansätze zur „Selbsthilfe“, die insbesondere in seinen diversen erbaulichen Schriften ihren Ort haben. Auch drückt sich darin der in die Realität rückwirkende Bezug zur Idealität aus, den Adorno hervorhebt: „Vorsehung“, er zitiert hier aus den Stadien, „stattet eine Individualität für das Verhältnis zur Wirklichkeit mit
Das zeigt sich etwa auch in einer positiveren Bewertung der „Klosterbewegung“, von der es in der Nachschrift noch heißt, sie wolle „die Innerlichkeit durch eine Äußerlichkeit ausdrücken, die die Innerlichkeit sein soll“ (AUN II, 115 / SKS 7, 372).
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ungewöhnlichen Kräften aus“.³⁸ Problematisch wird es jedoch, wo „subjektives Versagen“ unter Zuhilfenahme religiöser Kategorien umgedeutet wird. In Bezug auf Kierkegaards Leben tritt das besonders deutlich an einer rückblickenden Bewertung der aufgelösten Verlobung mit Regine Olsen aus dem Jahre 1849 hervor, wo deren Scheitern nicht nur seiner Schwermut zugeschrieben wird, sondern dieses noch, ausdrücklich unter Zuhilfenahme der „Vorsehung“, religiös überhöht und sein Leiden als Märtyrertum stilisiert wird.³⁹ Die Funktion seiner Schwermut – tungsind – ist dabei aber doppelsinnig. Wie er in jener Passage aus den Stadien feststellt, bindet und verbirgt sie einerseits die Vorsehung, damit sie sich gerade nicht verselbständigt.⁴⁰ Andererseits wird die Schwermut ihm zunehmend selbst zu einem Schicksal, dass er zu übernehmen hat. Wenn er nun 1852 meint, „die Lenkung rechnet stets richtig“ (T V, 112 / SKS 25, 95) und in einem Journaleintrag von 1854 feststellt, hinter allem sei „eine Macht, die doch wohl unendlich klüger ist als wir alle – die Lenkung“ (T V, 193 / SKS 25, 346), so erklärt das auf andere Weise, warum Kierkegaard der Praxis so viel zutraut und gibt der praktischen Wahrheit eine dezidiert religiöse Wendung. Es ist nicht bloß der Zufall im Leben, als für den Menschen nicht einholbare Größe, oder das Leben als Lehrmeister, sondern eben ausdrücklich eine Macht, die sich, so Wesche (2003, 162), „dem Menschen in der Praxis als ein vernünftig leitendes Geschehen offenbart“. Wenn Kierkegaard sein Leben – und prinzipiell das eines jeden anderen – vor diesem Hintergrund interpretiert, so wirft das die Frage auf, worin denn der Unterschied zum Fatalismus besteht, den er doch als eine Form der Verzweiflung kritisiert. Es kann hier nicht darum gehen, sein Verständnis von Vorsehung und Lenkung (theologisch) zu beurteilen, sondern vielmehr auf Brüche in seinem Denken hinzuweisen. Wesches Kritik ist jedenfalls berechtigt. Sie läuft darauf hinaus, dass eine solche tendenziöse Überhöhung des Praktischen Kierkegaards eigenem Anspruch jener zuvor umrissenen Dialektik von Denken und Handeln, bzw. von theoretischer und praktischer Vernunft, nicht mehr gerecht wird, indem sie letzterer eine Souveränität zugesteht. In der Tat besteht so auch die Gefahr, dass das bei Kierkegaard zentrale Paradox, als die Zwischenbestimmung von Theorie und Praxis, nicht nur, wie dieser selbst kritisiert, durch die Vernunftphilosophie, sondern ebenso durch
GS 2, 90; vgl. ST, 479 / SKS 6, 416. Die spätere Übersetzung weicht nur unwesentlich von der von Schrempf und Pfleiderer ab, die Adorno vorlag. Vgl. DSKE 6, 236 – 237 / SKS 22, 209 – 210. Die Vorsehung sei es auch gewesen, die dem Mann Kraft und der Frau Schwäche verliehen habe – eine Schwachheit, in der Regine ihn habe fangen wollen. Diese Selbstdeutung, die sich durch die gesamte Auseinandersetzung mit seiner Verlobten zieht, gibt der Rede von der Kraft durch Vorsehung eine problematische Wendung anderer Art. Vgl. auch DSKE 6, 245 – 247, 256 – 261 / SKS 22, 216 – 217, 226 – 229. Das entspricht übrigens der wenig erhellenden Zuordnung der Verzweiflungsgestalten der Schwäche und des Trotzes zur„Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ (KT, 56 / SKS 11, 165). Die genannten Journaleinträge stammen aus derselben Schaffensphase. Dass hier der pseudonyme Verfasser Frater Taciturnus meint, mit fremder Zunge zu reden, verweist darauf, dass nun Kierkegaard selbst durch diese Zeilen spricht, und zwar in Form einer, wie Hirsch im Anmerkungsteil meint, „höchst persönliche[n]“ Selbstdeutung (568). Vgl. hierzu auch eine Aufzeichnung von 1850: T IV, 211– 212 / SKS 23, 419. Dort ist vom „Pfahl im Fleische“ die Rede, dem Paulus ja eine ähnliche Bedeutung im Hinblick auf die Offenbarung zuspricht: dass er sich ihrer nicht überhebe (2. Kor. 12, 7).
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eine Überbetonung der praktischen Wahrheit entschärft wird. Damit setzt er in gewisser Weise fast den unaufhebbaren, existentiellen Widerspruch außer Kraft, den er gegenüber der Vermittlung behaupten will: „Indem Kierkegaard gegen Hegels spekulative Vernunft einseitig die des Existentiellen setzt, reproduziert er Hegels Gedanken einer souveränen Vernunftmacht“ (Wesche 2003, 161). Kierkegaard übernimmt dieses Problem Adorno zufolge auch in seine Liebesethik. Hier zeigt sich der Widerspruch, dass einerseits „eine Vorsehung, welche die menschlichen Verhältnisse regelt“ (GS 2, 224) postuliert wird, die geforderte Tat ihr andererseits aber entgegensteht. Daher gilt nun auch, dass „Liebe keine Kraft habe über die von der Vorsehung gegebene Realität“ (GS 2, 224). Der Einzelne ist gerade nicht mit „ungewöhnlichen Kräften“ von der Vorsehung ausgestattet. Und doch muss der Akt der Liebe sie paradoxerweise in Anspruch nehmen. In dieser Hinsicht erweist sich deren Tat als selbstbezüglich und „objektlos“, und zwar dadurch, dass sie sich in diesem Zwischenraum konstituiert. Durch die Vorsehung wird einerseits die Bedeutung des jeweiligen Gegenübers und der geschichtlich-gesellschaftlichen Situation entwertet, andererseits stößt sich Praxis von ihr als vermeintliches Schicksal⁴¹ ab, aber derart, dass sie sich auf sich selbst zurückwendet. Es dränge sich, so Adorno, der Einwand auf, „es lasse sich nicht der Begriff der Praxis des wirklichen Lebens als Maß der Nächstenliebe einführen, wenn von dieser Praxis in Wahrheit die Welt ausgeschlossen ist, an der sie sich betätigen könnte; daß keine Praxis überhaupt möglich sei, ohne daß der, welcher sie übt, selber etwas von dem übernimmt, was Kierkegaard der Vorsehung zuschiebt“ (GS 2, 224). Aber auch das ist wieder ambivalent. Denn unübersehbar gleicht das Paradoxe darin dem der (vermeintlich) verstellten Praxis bei Adorno. Dass Kierkegaard Nächstenliebe als ohnmächtige denke, sei ohnehin im Evangelium nicht vorgesehen und der Einsicht in die gegenwärtige Realität geschuldet, an die er nun die biblischen Gleichnisse anpasse – und nicht etwa umgekehrt. Hierin beweist sich in praxis- und entfremdungstheoretischer Hinsicht der durchgängige Doppelsinn seiner Rede von der objektlosen Innerlichkeit: „Reine Innerlichkeit wird im gleichen geschichtlichen Augenblick zum Maß des Handelns gemacht, in dem die verdinglichte Welt die unmittelbare Bewährung der Liebe zwischen den Einzelnen nicht mehr erlaubt“ (GS 2, 225).
3.2 Reduplikation in der Praxis Das Konzept indirekter Mitteilung bzw. seine „ästhetische“ Schaffensphase erfährt, wie sich gezeigt hat, erst rückwirkend, d. h. nach ihrer Durchführung, von Kierkegaard die Deutung, die dann maßgeblich geworden ist. So wird sie auch erst ab 1846 mit dem Mäeutischen zusammengedacht. Der Bedeutungswandel, der sich dabei je ergibt, kann hier nicht, wie in aller Breite bei Philipp Schwab geschehen, nachgezeichnet werden.
Denn wie Adorno richtig bemerkt, kehrt sich „im Namen der Gnade“ die „christliche Liebe“ gegen die „mythische Vorstellung des Schicksals als eines endlosen Schuldverhältnisses“ (GS 2, 221– 222).
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Der Begriff der „Reduplikation“, der in der Einübung von 1850 im Zentrum steht, ist allerdings besonders aufschlussreich, insofern er in ausgezeichneter Weise Kierkegaards späte Schaffensperiode charakterisiert. Ist er zunächst schlicht ein Synonym der beschriebenen Verdopplung der Mitteilung bzw. der Reflexion auf sie, so gilt er nun der christlichen Lehre selbst und wird von Kierkegaard daher auch als das eigentlich Christliche bezeichnet. Rhetorisch zeichnen sich die letzten Schriften durch eine Direktheit der Ansprache, bzw. des „Angriffs“ aus, die jede „mäeutische Vorsichtigkeit“ (DSKE 4, 95 / SKS 20, 86) vermissen lässt. Es scheint aus dieser Perspektive nur konsequent – und bezeugt die Einheit in der Differenz von Frühwerk und Spätwerk –, dass schließlich die Reduplikation an die Stelle der Doppelreflexion tritt und damit der Vorrang der Praxis verabsolutiert wird. Zielt indirekte Mitteilung in methodischer Verdopplung auf sie als Abwesendes, so bedeutet die Verdopplung nun die direkte Übersetzung des Lehrgehalts als eines mitteilbaren ins Praktische. Schwab (2012a, 78) fasst die Transformation darin folgendermaßen zusammen: „Der Maieutiker Kierkegaard muss sich unter christlichen Vorzeichen zu dem bekennen, was Ziel seines maieutischen Schaffens gewesen ist; der Maieutiker muss zum Zeugen werden.“ Damit kommt es auf den Lehrer selbst an, der ja im frühen Werk in charakteristischer Weise zurückgenommen wurde: „Alle Mitteilung die das Existieren betrifft, fordert einen Mitteilenden; der Mitteilende ist nämlich die Reduplikation der Mitteilung, in dem, was man versteht, existieren, heißt reduplizieren“ (EC, 128 / SKS 12, 138). Die Verdopplung ist damit letztlich auch eine in Person und Lebensvollzug: „Die eigene Existenz ist Auslegung des Denkens, der literarischen Arbeit“ (Deuser 1980, 34). Adorno wird, wie bereits angedeutet, gerade das zum Anstoß. Er möchte nicht nur die Person Kierkegaards aus seinem Werk verstehen, sondern stellt in seiner Kritik „gerade das Recht der vollkommenen, bis in die innerste Theologie wirksamen argumentatio ad hominem in Frage: das Recht der Identität von Person und Sache“ (GS 2, 22– 23). Das bedeutet nun eine implizite Restitution der Pseudonymität als Masken, als persona, gegen deren Negation im AntiPseudonym der späten Schriften – allerdings nicht im Sinne des Frühwerks. Wenn aber die Reduplikation in der Person deren Selbstzurücknahme in den frühen Schriften entgegensteht, was hat es dann mit der überraschenden Feststellung in jener Passage der Einübung auf sich, es handle sich dabei bloß um „eine andere Weise“ indirekter Mitteilung? Freilich zielen beide Wege auf das Christliche und setzen somit jenen unendlichen qualitativen Unterschied voraus. Er lässt zum einen jede reflektierende, sprachlich verfasste Bezugnahme aufs Göttliche indirekt werden, andererseits auch den Bezug zur (Mit‐)Welt in der Vermittlung über den zu Gott. Indirekt war das bisher beschriebene Verfahren aber, weil es auf ein in der Mitteilung selbst nicht Darzustellendes und zudem individuell Anzueignendes zielte. Man kann wohl behaupten, dass nun das erste Moment der Abwesenheit weitgehend verschwindet. Und das heißt letztlich, dass „die christliche Lebensanschauung den verworfenen Versuch, Leben in seiner Bestimmtheit zu erfassen, gewissermaßen ersetzt“ (Wesche 2003, 157). Damit droht auch das zweite Moment – das der Selbsttätigkeit in deren Aneignung und damit die Selbstbezogenheit der Lebensdeutung – verlorenzugehen. Es bleibt jedoch in anderer Weise erhalten, nur geht der Widerspruch, der bisher in den Texten der „ästhe-
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tischen Periode“ reflektiert wird, nun über auf den konkreten, handelnden Menschen selbst. Er liegt darin, dass sein Existenzvollzug selbst eine Reflexionsbestimmung enthält. Sie ist aber wiederum nur eine Verdopplung des christlichen Grundwiderspruchs, dass Gott Mensch wurde: Aber weil ein Mitteilender da ist, der selbst in dem existiert, was er mitteilt, deshalb kann doch diese Mitteilung noch nicht direkte Mitteilung genannt werden. Ist hingegen der Mitteiler selbst dialektisch bestimmt, sein eigenes Sein eine Reflexions-Bestimmung, dann ist alle direkte Mitteilung unmöglich. So mit dem Gott-Menschen. Er ist ein Zeichen, das Zeichen des Widerspruchs, er ist in Unkenntlichkeit, also ist alle direkte Mitteilung unmöglich. (EC, 128 – 129 / SKS 12, 138)
Als spezifisch christliche ist die Lehre eine zu lebende und zielt auf die Nachfolge Christi – Reduplikation bedeutet im Grunde nichts anderes.⁴² Adorno blendet aber gerade diesen zentralen Aspekt aus. Trotzdem, oder vielmehr deswegen, tritt eine eigentümliche Parallelität zwischen dem Übergang in Praxis und Adornos Wendung zur Kunst zutage, auf die Hermann Deuser aufmerksam gemacht hat: „Mit negativer Dialektik wie mit dem Paradox ist ein Übergang angedeutet. […] Wo die Kritik, diese Dialektik sei antinomisch, abschließt, da beginnt es erst; Beleginstanz für den Übergang ist bei Adorno die Kunst, theoretisch die Ästhetik, die darstellen können, was gemeint ist; bei Kierkegaard das Leben selbst, weil Gott Mensch wurde“ (Deuser 1980, 32).
4 Autonome Kunst und autonomes Individuum Über eine derart abstrakte Parallelität in der dialektischen Bewegung hinaus, zeigt sich eine sehr konkrete, gleichwohl untergründige Analogie zwischen der selbstreferentiellen Autonomie des Kunstwerks und der Position des kierkegaardschen Einzelnen und seiner selbstbezüglichen Praxisform. Allein schon im Ideal der Selbstübereinstimmung wird das deutlich: „Von sich aus will jedes Kunstwerk die Identität mit sich selbst“ (GS 7, 14).Weiter heißt es hier freilich von der Identität, dass sie ansonsten „in der empirischen Wirklichkeit gewalttätig allen Gegenständen als die mit dem Subjekt aufgezwungen und dadurch versäumt wird“ (GS 7, 14). Allerdings ist ja das zugleich, entsprechend der Logik der Verdinglichung, die Ursache für die Zurichtung des Subjekts durchs Objekt, die einer gelingenden Orientierung an jenem Ideal entgegensteht. Daher kann autonome Kunst dem Einzelsubjekt ein Beispiel geben. Dass aber umgekehrt auch Kierkegaard Adorno eine Vorlage liefert, beide derart aufeinander zu beziehen, hat in der Literatur bisher nur Annette Simonis (2000, 544) vermutet: „Kierkegaards Subjektphilosophie, die Adorno seit seinem wissenschaftlichen Frühwerk vertraut war, verdient im Zusammenhang der Problemstellung der Adornoschen Ästhetik eine eingehendere Berücksichtigung, als ihr bisher in der Forschung zu den späten Schriften des Autors zugekommen ist.“ Sie kam seinen „eigenen Vorstellungen entgegen, insofern sie seinem
Vgl. Schwab 2012a, 284– 291, sowie Schwab 2012b, v. a. 97– 100.
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ästhetischen ‚Nominalismus‘ sowie seiner Idee von der quasi-monadenhaften Abgeschlossenheit der Kunstwerke aufs genaueste entsprach“ (Simonis 2000, 544). Ob das Gewicht, dass sie dieser Entsprechung damit zuschreibt, so auch gerechtfertigt ist, hängt vom Blickwinkel auf diese Verhältnisbestimmung ab. Zunächst ist zuzugeben, dass es sich im Kierkegaardbuch um eine allenfalls implizite Analogie zur autonomen Kunst handelt, die erst, von einigen kleineren Schriften abgesehen, mit der Ästhetischen Theorie explizit wird. Wichtiger scheint mir aber etwas anderes zu sein: Simonis neigt dazu, die sozialphilosophische Dimension der Kategorie des Einzelnen hinter der innerästhetischen Erörterung zurücktreten zu lassen, während doch jene Analogiebeziehung gerade die Verschränkung beider bezeugt. Entsprechend wird solche Subjektivität vorrangig zeichentheoretisch ausgelegt.⁴³ Sie spricht von einer „kühnen Übertragung der Momente bzw. anthropologischen Eigenschaften des Subjekts auf ästhetische Strukturen“ bei Adorno und versteht die Analogiebeziehung als „isomorphes Verhältnis“ (Simonis 2000, 556). Dabei unterstellt sie ihm eine Doppelstrategie: Entgegen der auf Durchsichtigkeit zielenden Intention von Kierkegaards Subjekttheorie, der seine Kritik gilt, lese er sie zugleich als eine Theorie opaker Zeichenstrukturen – und zwar als eine, die in besagter Weise bei dessen verräterischer Wörtlichkeit ansetze. Meine Perspektive ist zunächst weniger die innerästhetische, als vielmehr die einer Soziologie autonomer Kunst – auch wenn freilich beide Reflexionsebenen bei Adorno nicht voneinander zu trennen und bisweilen auch kaum zu unterscheiden sind. Besagte Analogie erweist sich jedenfalls gerade im Verhältnis zur Gesellschaft: Wie das bürgerliche Individuum, so hat auch das autonome Kunstwerk als Bedingung der Möglichkeit seiner Existenz einen bestimmten Stand der Entwicklung der Gesellschaft, d. h. ihrer Produktionsweise, zur Voraussetzung. Auch ist es ganz Ausdruck der entfremdenden (Produktions‐)Verhältnisse. Adorno spricht daher vom „Doppelcharakter der Kunst als autonom und fait social“ (GS 7, 16). Dennoch ist sie zugleich (Gegen‐)Entfremdung – und zwar im Wortsinn als Entfernung und Fremdwerden gegenüber diesen Verhältnissen. Als autonome konstituiert sie sich ja gerade durch ihre „Absage an Gesellschaft“ (GS 7, 335), worin sie zugleich die das Bestehende transzendierenden Potentiale bewahrt. Solche Kunst ist „Statthalter einer besseren Praxis als der bis heute herrschenden“ und „Kritik von Praxis als der Herrschaft brutaler Selbsterhaltung in-
Simonis 2000, 560: „Die Besonderheit der Adornoschen Lesart besteht also darin, dass sie nicht bei den geläufigen, in der Kierkegaardforschung weit verbreiteten Topoi, bei den Kategorien der menschlichen Existenz und des (idealistischen) Subjekts ansetzt. Vielmehr erhebt der Autor den Zeichencharakter des menschlichen Selbst zum eigentlichen Thema seiner Erörterung.“ Vielleicht wäre es treffender, zu sagen, dass Adorno sich nicht mit diesen Topoi begnügt oder ihnen eine eigentümliche, vielleicht auch zeichentheoretische Wende gibt. Denn er setzt sehr wohl bei ihnen an. Dass Simonis auf Adornos Interesse an der Bildhaftigkeit und der „sinnlichen Konkretheit“ (560) in Kierkegaards Texten, auf die zentrale Stellung der Schriftmetapher sowie die zahlreichen Bezüge zur Ästhetischen Theorie aufmerksam macht, ist gerechtfertigt. Dabei vernachlässigt sie die philosophiegeschichtliche ebenso wie die geschichtsphilosophische Konstellation, die dem Erstlingswerk zugrunde liegt, stellenweise allerdings völlig. Außerdem scheint es bisweilen so, als wolle sie Adorno selbst zu einem Semiotiker machen. Sie beruft sich wiederholt explizit auf strukturalistische Zeichenmodelle (vgl. 557).
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mitten des Bestehenden und um seinetwillen“ (GS 7, 26). Ihren so bestimmten Status gilt es im Laufe der Untersuchung eingehender zu erörtern. Jedenfalls bedeutet er nicht schon, dass Adorno das „autonome Kunstverständnis“, wie Simonis meint, „zum utopischen Rettungsanker überhöht, der einen Ausweg aus dem gesamtgesellschaftlichen Zustand der Entfremdung verspricht“ (Simonis 2000, 477). Vielmehr muss die Betonung darauf gelegt werden, dass es sich um ein Versprechen handelt – nicht mehr, aber auch nicht weniger: „Promesse du bonheur heißt mehr als daß die bisherige Praxis das Glück verstellt: Glück wäre über der Praxis. Den Abgrund zwischen der Praxis und dem Glück mißt die Kraft der Negativität im Kunstwerk aus“ (GS 7, 26). Auch das „Verhalten zu den Kunstwerken“, ob kontemplativ oder nicht,⁴⁴ eröffnet nur einen Reflexionsraum, in dem Widerstand möglich wird, „als Kündigung unmittelbarer Praxis“, und ist dabei doch „selbst Praktisches, als Widerstand gegen das Mitspielen“ (GS 7, 26). Bemerkenswert ist die Parallelität des sprachlichen Ausdrucks, wo es um den Widerstand des Einzelnen geht: „Kierkegaard wollte nicht mitspielen“ (GS 2, 256). Ebenso wie dieser als „Korrektiv“ das Gegenteil des Bestehenden zur Geltung bringen wollte, ist die Praxisform des Kunstwerks für Adorno eben notwendig negativ, oder vielmehr wird sie es, „[s]obald aber das Verhalten des Kunstwerks die Negativität der Realität festhält und zu ihr Stellung bezieht“ (GS 7, 25). Indem es inhaltlich die Negativität des registrierten Zustands aufnimmt, stellt es sich methodisch negativ zur positiven Utopie, die von Adorno bekanntermaßen mit einem „Bilderverbot“ belegt wird. Dergestalt den Weg des Negativen zu gehen, bedeutet nicht zuletzt, dass Kunst sich einer jeglichen Inanspruchnahme, auch im Dienste einer bestimmten Vorstellung jenes besseren Anderen, verweigert. Daher Adornos Polemik gegen engagierte Kunst, die doch oft genug gerade das inhaltlich Negative, Nichtseinsollende zur Geltung bringt. In ihrer Zweckdienlichkeit lässt sie das widerständig Unzweckmäßige des autonomen Kunstwerks vermissen, das diesem aus seiner Selbstbezogenheit entsteht: „Denn die Theorie vom engagierten Kunstwerk, wie sie heute gang und gäbe ist, setzt sich über die in der Tauschgesellschaft unabdingbar herrschende Tatsache der Entfremdung zwischen den Menschen sowohl wie zwischen dem objektiven Geist und der Gesellschaft, die er ausdrückt und richtet, umstandslos hinweg. Sie will, daß die Kunst unmittelbar zu den Menschen spreche“ (GS 11, 120). Freilich geht die Kritik an einem derartigen Literaturverständnis an Sartres oft missverstandenem Konzept der littérature engagée meist vorbei und zielt letztlich auf den „extremen Subjektivismus von Sartres Philosophie“ (GS 11, 413), vor allem seine Kategorie der Entscheidung, wobei er auch deren Ursprung bei Kierkegaard anmerkt. Was Sherman in seiner Studie zu Sartre und Adorno gezeigt hat – dass beide keineswegs so weit auseinanderliegen, wie Letzterer behauptet, und dass sie sich in ihrer dialektischen Auffassung von Subjektivität zunehmend annähern –, das gilt auch für das Engagement der Literatur, ihr Verhältnis zur sozialen Realität. Bei aller Komplexität dieser Konstellation lässt sich wohl feststellen, dass es Sartre ebenso um eine durchweg indirekte oder paradoxe Verpflichtung des Schrift-
Adorno bezieht sich in der zitierten Passage auf Kants Kritik der Urteilskraft.
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stellers ihr gegenüber geht. Kunst spricht auch für ihn wesentlich mittelbar. Das hat anthropologische und sozialontologische Grundlagen, die eindeutig auf Kierkegaard verweisen, aber auch mit Adorno keineswegs inkompatibel sind. So heißt es in Sartres Vorwort zu seinem Monumentalwerk über Flaubert: „Ein Mensch ist nämlich niemals ein Individuum; man sollte ihn besser ein einzelnes Allgemeines nennen: von seiner Epoche totalisiert und eben dadurch allgemein geworden, retotalisiert er sie, indem er sich in ihr als Einzelnheit wiederhervorbringt“ (Sartre 1986a, 7). Das rückt nun nicht nur die Kritik Adornos daran, dass ihm „das Kunstwerk zum Aufruf von Subjekten [wird], weil es nichts ist als Kundgabe des Subjekts“ (GS 11, 413), in ein anderes Licht. Für Sartre spiegelt das (literarische) Kunstwerk den in sich dialektischen Anspruch des Individuums auf Totalität in seiner Fiktion, eine ganze Welt zu sein, bzw. in der unmöglichen Forderung an Literatur, alles sein zu wollen. In einer impliziten Erwiderung auf die Missverständnisse im Anschluss an Was ist Literatur?, wo er den Begriff engagierter Literatur erstmals entfaltet, meint er in einem Interview von 1971 über Flaubert: „Das literarische Engagement ist letztlich die Tatsache, daß er die ganze Welt, die Totalität auf sich genommen hat“ (Sartre 1986b, 167). Sie wird aber darin auch beim Realisten Flaubert ästhetisch konstruiert – nicht weniger als in der hermetischen Dichtung Mallarmés, den er dort dessen „Enkel“ nennt. Beiden ist eine spezifisch negative Haltung zur sozialen Realität zu eigen – „vom Gesichtspunkt des Nichts darüber Aufschluß geben, das ist ein tiefes Engagement“ (Sartre 1986b, 167) –, die gleichwohl literarästhetisch völlig unterschiedliche Konsequenzen zeitigt. Mit Tendenzliteratur hat das aber nichts zu tun. Auch gleicht die Idee, dass ästhetische Statthalterschaft eine Autonomie bewahrt und vorwegnimmt, für deren Verwirklichung gegenwärtig die sozialen Bedingungen fehlen, durchaus dem Konzept der Totalität bei Sartre. Es ist zudem bezeichnend, dass Adorno den Gedanken ästhetischer Statthalterschaft gerade an Paul Valéry, einem Schüler Mallarmés, entwickelt.⁴⁵ Und die Behauptung der Autonomie darin betrifft – ähnlich wie bei Sartre – nicht nur das Werk, sondern ebenso seinen Autor (vgl. GS 11, 116). Ich werde auf die hier umrissenen Probleme zum Ende dieser Arbeit noch einmal zurückkommen, wo es um Adornos Würdigung des (bürgerlichen) Nonkonformismus vor dem Hintergrund seiner Transformation der marxschen Entfremdungstheorie geht. Denn mit der Situation des sich aus seiner Opposition zur Gesellschaft definierenden Individuums – und damit der des kierkegaardschen Einzelnen – teilt sich das Kunstwerk auch das Dilemma von Eigenmacht und Ohnmacht. Wo es sich öffnet, wird es vereinnahmt, während es seine Eigenmächtigkeit gerade bewahrt, indem es sich vom gesellschaftlichen Verkehr nachdrücklich scheidet. Im (marginalisierten) Kunstschaffenden und im ästhetischen Nonkonformismus überschneiden sich beide Perspektiven.
Der Aufsatz über ihn (GS 11, 114– 126), ursprünglich ein Rundfunkbeitrag, trägt den Titel „Der Artist als Statthalter“.
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5 Der sich selbst entfremdete Nominalismus Der negierende Charakter der autonomen Kunst betrifft wesentlich ihr Verhältnis zum Allgemeinen in seiner sozial- wie erkenntniskritischen Dimension. Daraus ergibt sich eine gewisse Parallelität zu den Reflexionen zur Methode bei Kierkegaard. Denn Ästhetik definiert Adorno am kürzesten und prägnantesten als „allgemeine Theorie des radikal Besonderen“ (GS 16, 648) – im Anschluss an Kants Kritik der Urteilskraft, dessen Theorie erst mit der künstlerischen Praxis der Moderne ganz eingeholt werde. Die unvergleichliche epistemologische Relevanz von (autonomer) Kunst liegt aber umgekehrt auch darin begründet, dass sie das Allgemeine im radikal Besonderen des selbstreferenziellen Einzelwerks als scheinbar Unmittelbares vermittelt. Ebenso ist „die Objektivität des Kunstwerks qualitativ anders, spezifischer durchs Subjekt vermittelt […] als die von Erkenntnis sonst“ (GS 7, 245). Diese Grundtendenz wird von Adorno insbesondere im Begriff des „ästhetischen Nominalismus“ erörtert, den er als gleichwohl in sich widersprüchlich verfasste Gegenbewegung zum wesenhaft Allgemeinen, den ästhetischen Universalien, wie etwa den Konventionen von Gattung (GS 7, 296 – 302) und (geschlossener) Form (GS 7, 326 – 334) versteht. Dabei ist der ästhetische nach dem zeitlich früheren philosophischen Nominalismus gebildet,⁴⁶ wie überhaupt die kunstgeschichtliche Tendenz einbezogen in den nominalistischen „Gesamtprozeß“ (GS 7, 296 – 297) sei. Dieses für Adorno typische konstellative Verfahren hat Norbert Bolz ihm zum Vorwurf gemacht. Er spricht von „stereotyp wiederkehrenden Formeln“ die eine „vage Einheit von kunst-, philosophie- und gesellschaftsgeschichtlicher Dynamik“ suggerierten (Bolz 1987, 507). Sein Anspruch ist es dagegen, den Nominalismus in einer Kritik an Adorno ästhetisch immanent zu rekonstruieren, hält er ihm doch vor, ihn in letzter Instanz „abstrakt gesellschaftstheoretisch und geschichtsphilosophisch“ (Bolz 1987, 502) zu begründen – was wie gesagt durchaus zutrifft. Dabei geht es Adorno aber nicht etwa darum, selbstzweckhaft historische Großbegriffe zu universalisieren, sondern wie Harald Haslmayr (1997, 234) in seiner Replik auf Bolz treffend feststellt, bestimmte Kontinuitäten erst zu denken – und zwar in der Absicht, gerade nicht einfach „stillschweigend historische Kontinuitäten massiver Konsequenz“ vorauszusetzen. Nun stellt sich davon abgesehen die Frage, welches Gewicht dem Begriff des Nominalismus im Denken Adornos überhaupt zukommt. Insgesamt scheint er eher von marginaler Bedeutung – wenngleich er sich den Begriff auch in der Negativen Dialektik durchgängig zu eigen macht –, während er in der Ästhetischen Theorie fraglos zentral ist, jedoch in einer ungleich spezifischeren Bedeutung. Er ist aber wie angedeutet in besonderer Weise geeignet, historische und kategorienüberschreitende Zusammenhänge aufzuzeigen, vor allem weil er als Folie einer bestimmten Konstellation der Entfremdungskritik dient.
Vgl. GS 7, 302: „Der fortschreitende philosophische Nominalismus liquidierte die Universalien, längst ehe der Kunst die Gattungen und ihr Anspruch als gesetzte und hinfällige Konventionen, als tot und formelhaft sich darstellten.“
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Am bündigsten definiert Adorno den Nominalismus als „Bewußtseinsstand […], der das allgemeinbegriffliche Wesen bloß noch als eine vom Subjekt gesetzte Bestimmung erfährt“ (GS 16, 169). Diese Bestimmung spricht ihre geschichtsphilosophische Fundierung unmissverständlich aus. Philosophiegeschichtlich wiederum definiert, wie Schnädelbach (2007, 87) feststellt, „seit dem Beginn der Neuzeit der Nominalismus das metaphysische Normalbewusstsein“. Genau dagegen wendet sich Hegel. Er stellt den „Gegensatze des Bewußtseins“ infrage, d. h. dass es einem vorhandenen „Gegenstand“ entgegengesetzt ist, der „Gedanke“ einer „Sache an sich selbst“ gegenübersteht (TW 5, 43). Und das sind eben „die Bestimmungen, die die nominalistische Philosophie der Neuzeit an ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘ zu verteilen pflegt“ (Schnädelbach 2007, 89). Hegel wird damit freilich seinerzeit vielen zur Provokation, ähnlich wie Adorno später, wo er an dessen Begriff von Dialektik festhält: „Hegels Restitution des Begriffsrealismus, bis zur provokativen Verteidigung des ontologischen Gottesbeweises, war nach den Spielregeln unreflektierter Aufklärung reaktionär. Unterdessen hat der Gang der Geschichte seine antinominalistische Intention gerechtfertigt“ (GS 6, 59 Anm.).Wie sich zeigen wird, sind in bestimmter Hinsicht auch die spekulative und die historisch-materialistische Dialektik dabei Verbündete. Wie steht nun Kierkegaard dazu? Indem er gegen die Identität von Sein und Denken, das Subjekt-Objekt, die Trennung der Momente behauptet, vollzieht er gegenüber Hegel wiederum eine nominalistische Wende. Daher überwiegt auch in Adornos Erstlingswerk die Kritik an seinem „Nominalismus“. Er wendet sich aber gegen Hegel vom Standpunkt existierender Subjektivität aus. Und dem Begriff der Existenz ist eben wesentlich ein objektives und begriffsrealistisches Moment zu eigen. Das macht die Auseinandersetzung Adornos mit ihm ja so verwickelt. Eindeutiger ist da die Kritik an Sartres „extremem Nominalismus“, den er auf Fichtes „Kategorie der freien Tathandlung des Subjekts“ bezogen sieht (GS 6, 59). Gerade wo ihm in der Negativen Dialektik das Nominalismusproblem als Folie der Kritik an der Existenzphilosophie dient (vgl. GS 6, 128 – 132), wird zwar einerseits die Ontologisierung des Existenzbegriffs auf Kierkegaard zurückgeführt, andererseits aber nur als ein Moment eines wesenhaft widersprüchlichen Denkens verstanden. So ist auch folgende Behauptung zu verstehen: „Nominalismus, eine der Wurzeln der Existentialphilosophie des protestantischen Kierkegaard, verschaffte der Heideggerschen Ontologie die Attraktionskraft des nicht Spekulativen“ (GS 6, 131). Überhaupt fällt auf, wie er in dieser Passage versucht, Kierkegaard ein Stück weit aus seiner Rezeptions- bzw. Aneignungsgeschichte herauszulösen – was ja das erklärte Ziel der etwa zeitgleich entstandenen Gedenkrede Kierkegaard noch einmal ist. Jene Ontologisierung, die er Heidegger vorhält, bedeutet letztlich einen Umschlag der grundsätzlich nominalistischen, aber in sich widersprüchlichen Tendenz der Existenzphilosophie, die gerade an ihrem denkgeschichtlichen Ursprung offen zu Tage tritt: „Wahrend Kierkegaard, nominalistisch, die Existenz gegen die Essenz ausspielt, als Waffe der Theologie gegen die Metaphysik, wird von ihm, schon nach dem Dogma der Gottesebenbildlichkeit der Person, Existenz, der Einzelne unmittelbar, mit Sinnhaftigkeit bedacht. Er polemisiert gegen Ontologie, aber das Seiende, als Dasein ‚jener Einzelne‘, saugt deren Attribute auf“ (GS 6, 130 – 131).
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Am Begriff des Nominalismus lässt sich nun in ausgezeichneter Weise die Konstellation von Entfremdung beschreiben, die Adorno dem Kierkegaardbuch zugrunde legt. Dass er ihn sich weder kritiklos zu eigen macht, noch einfach verwirft, hat seinen Grund darin, dass seine Kritik vielmehr der Einseitigkeit jener „vom Subjekt gesetzten Bestimmung“ gilt. Das von dieser ausgeschlossene Andere verselbständigt sich und verschafft sich rückwirkend Geltung entgegen der ursprünglichen Intention ihres Urhebers. Diese „Wiederkehr des Verdrängten“ zeigt sich gerade im Kierkegaardbuch. So meint Adorno, dass die Sphären des Ästhetischen, Ethischen und Religiösen einen eigentümlichen „Objektivitätscharakter“ bekämen, der so gar nicht zum Anspruch des „subjektiven Denkers“ stimmen wolle (GS 2, 131). Ähnlich ergeht es auch der „Sprachtheorie“ Kierkegaards, die er als „nominalistische“ bestimmt (GS 2, 52). Er belegt das mit einer Passage der Stadien, wo sich „Rudimente“ einer solchen fänden. Sie reiße „Gedanken und Worte“ auseinander. Dort ist tatsächlich von einer „Zufälligkeit des Ausdrucks“ die Rede, die dem sozusagen innerlichen „Gedanken“ gegenübergestellt wird (ST, 442 / SKS 6, 385). Dennoch taugt die Stelle meines Erachtens kaum als Beleg, da hier keine derart grundsätzliche Überlegung angestellt, keine Abbildtheorie der Sprache formuliert wird. Vielmehr geht es um die nachgeordnete Ebene der „wissenschaftlichen Phraseologie“ und des „Jargon[s]“ (ST, 442 / SKS 6, 385). Gleichwohl gibt diese Charakterisierung einen Eindruck davon, was Adorno unter Kierkegaards sprachtheoretischem Nominalismus versteht – eine Zuschreibung, die im Großen und Ganzen nicht unberechtigt ist. Adorno denkt das Problem stets vom Horizont Hegels aus, der gewissermaßen zusammendenkt, was bei jenem auseinanderfällt. Christoph Demmerling bringt es auf den Punkt: „Ontologiekritisch ist er [Hegels Ansatz, M. K.] als Kritik an der Hypostasierung von Bedeutungen, antinominalistisch als Einsicht in die Wirkmächtigkeit unserer sprachlichen Praktiken, den unseren Unterscheidungen zugewiesenen Realitätsgehalt. Diese machen sich von uns unabhängig und entziehen sich unserem Zugriff“ (Demmerling 1994, 20 – 21). Letzteres wird von Kierkegaard Adorno zufolge nur unzureichend eingeholt. „Kierkegaards subjektivistisch-nominalistische Sprachtheorie […], wie sie seine Lehre von der Mitteilung fundiert“ (GS 2, 109) erfährt nun ebenfalls eine überraschende begriffsrealistische Wendung: „Die obersten Allgemeinbegriffe, vom Bewußtsein zur Ordnung seiner Mannigfaltigkeit gesetzt, stellen sich ihm entfremdet gegenüber als sinngebende Mächte, die ihre eigene Bahn beschreiben […], verwandeln sich kraft ihrer Abstraktheit gerade ins fern drohende Sternbild von Mythologie. Frucht seiner idealistischen Deduktionen ist ein archaischer Begriffsrealismus“ (GS 2, 131). Es ist eine, wie Adorno dort auch sagt, fortschreitende Abstraktion, eine Vereinseitigung, die den Umschlag ins realistische Gegenteil bedingt. Sie kann sich also der Eigenmächtigkeit einer Sprachpraxis nicht entziehen, die je schon eine verselbständigte ist. Und darin gründet das Recht jener Behauptung, Kierkegaards nominalistische Sprachtheorie sei die Voraussetzung seiner Mitteilungslehre. Denn grundsätzlich impliziert diese für Adorno ein verfügendes Verhältnis zur sprachlichen Mitteilung selbst, wenngleich das Mitgeteilte dadurch freigestellt und die Adressierten zur Aneignung befähigt werden sollen. Das beweist sich gerade darin, dass Kierkegaard, wie umrissen, geläufige sprachliche For-
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men und Stile seiner Zeit imitiert. Dieses instrumentelle Verhältnis wird sich im Folgenden spezifischer in der Inanspruchnahme einer dichterischen Sprache, des Ästhetischen, zeigen. Die Selbständigkeit von Kunst wie von Sprache verrät sich dagegen je in der Wörtlichkeit, der Adornos Aufmerksamkeit gilt. Und darin kommt zur Sprache, was als Bedeutungsgehalt tatsächlich oder vermeintlich von Kierkegaard verdrängt wird. Denn deren Verselbständigung ist mit der des Gesellschaftlichen überhaupt untrennbar verwoben.Was derart grundsätzlich als anthropologische Konstante verstanden werden kann, wird freilich als Verdinglichung der (Sprach‐)Praxis für Adorno zum Problem. Hierin erkennt auch er, wie sich zeigen wird, den verdinglichungskritischen Impuls seiner antinominalistischen Tendenz. Die Bezüge zur Dialektik der Aufklärung – dem Werk, wie dem Prinzip, das es entfaltet – sind in der Rede von Mythologie und archaischem Begriffsrealismus nicht zu übersehen. Grundsätzlich gilt Adorno im Odysseus-Exkurs – der hauptsächlich ihm zuzuschreiben ist – der Nominalismus als „Prototyp bürgerlichen Denkens“ (GS 3, 79). Allerdings ist Aufklärung als nominalistische eben selbst dialektisch verfasst. Und das bedeutet: „Das Verhältnis genuin kritischer Philosophie zum Nominalismus ist nicht invariant, es wechselt geschichtlich mit der Funktion der Skepsis“ (GS 6, 59 Anm.). Das betrifft nun gerade das Verhältnis zum unverfügbar Besonderen, Nichtidentischen. Während der Nominalismus das Recht des Nichtidentischen im Modus der Enthaltung bewahrt, ist er zugleich dessen Gefährdung, was sich in seiner Selbstüberbietung in den verschiedenen Spielarten des modernen Positivismus schließlich offenbart: „In der Unparteilichkeit der wissenschaftlichen Sprache hat das Ohnmächtige vollends die Kraft verloren, sich Ausdruck zu verschaffen, und bloß das Bestehende findet ihr neutrales Zeichen“ (GS 3, 39). Diese Konstellation kehrt auch in der Negativen Dialektik wieder, wo er von „Positivismus und unreflektierte[m] Nominalismus“ (GS 6, 357) spricht, oder davon, dass der Nominalismus in Ideologie übergehe (GS 6, 59 Anm.), bzw. als verabsolutierter in Mythologie zurückschlage (GS 6, 132). Entsprechend beantwortet auch Haslmayr (1997, 234) die zuvor aufgeworfene Frage, warum Adorno den Nominalismus so überraschend universalisiere: Die Uniformität instrumentellen Verstandes ist eben sehr gut als Umschlag des Nominalismus zu interpretieren, der ursprünglich auf die Dignität des Nicht-Identischen insistierte. Die Opposition gegen die mittelalterliche adaequatio der Wahrheit an einen geschlossenen, prästabilierten ordo ist eben durch die Geschichte zum totalitären ordo der instrumentellen technischen Vernunft geworden.
Nicht weniger dialektisch, allerdings spezifischer, ist der Begriff des „ästhetischen Nominalismus“ in der Ästhetischen Theorie zu verstehen. Auch hier spricht er vom „bürgerlichen Nominalismus“ (GS 7, 327). Das Motiv der Dialektik der Aufklärung eines Umschlags des Nominalismus in sein Anderes, das zu negieren er angetreten war – dort als Verkehrung des antimetaphysischen Impulses in eine neue Art von Metaphysik (GS 3, 39) –, findet sich nun in verwandelter Form wieder: als Rückkehr verabschiedeter ästhetischer Universalien von Gattung und Formbestimmung (GS 7, 308).
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In historischer Perspektive jedoch ist auch die Gesamttendenz des Nominalismus aus einem alternativen Modell von Entfremdung, einem von Bindung und Entbindung, zu verstehen. Das legt bereits ihr Verständnis als Emanzipationsbewegung, im Sinne einer Herauslösung aus dem vor- und frühneuzeitlichen ordo, nahe. Sie zeigt sich ebenfalls paradigmatisch an der Entwicklung hin zur autonomen Kunst, die ja, das impliziert bereits ihr Begriff, eine Freisetzung aus einem vormaligen Gebundensein bedeutet. Dieses drückt sich ästhetisch in den Konventionen von Gattung und Form, kunstsoziologisch in der Gebundenheit an bestimmte gesellschaftliche Funktionsbereiche und Auftraggeber aus. Besonders offen tritt aber die Entbindungsbewegung in der Neuen Musik zutage – und analog dazu in der abstrakten Malerei. Insofern die Funktion der Tonalität in der Musik und die Gegenständlichkeit in der bildenden Kunst „beide werkexterne Ordnungsreferenten darstellen“ (Haldemann 2006, 42), stehen sie als Universalien der Autonomie des Werks prinzipiell entgegen. Der Loslösung von der Grundtongebundenheit entspricht nach Adorno, der hauptsächlich am Ideal freier Atonalität⁴⁷ orientiert blieb, als Gegentendenz die Einbindung in die Zwölftonreihe als neuem Ordnungsprinzip und schließlich die serielle Technik. Die materialistische Komponente des Nominalismus Die Alternative zum Nominalismus wie zum Begriffs- oder Universalienrealismus ist nun keine andere als die materialistische – das deutet schon die Rede vom „bürgerlichen Nominalismus“ an –, wie sie Adorno mit der Formel vom Vorrang des Objekts beschreibt. Die „Dynamik“, die der Universalienstreit verhandelt, ist zwar nicht vorrangig die von Subjekt und Objekt, sondern die von Allgemeinem und Besonderem.⁴⁸ Es ist aber die Zurichtung des Nichtidentischen, als des unverfügbar Besonderen, ihm nicht Kommensurablen, durch das Subjekt, die beide Gegensatzpaare verbindet. Nominalismus und Realismus zeitigen dabei für Adorno in der beschriebenen Weise verschiedene Modi der Aneignung des Nichtidentischen: zum einen als einstweilige Enthaltung, die dann, so die These, in eine umso wirkungsvollere Bemächtigung umschlägt, zum anderen als vorgängige Subreption. Freilich würde man zumindest Hegel – gerade seiner Entfremdungsdialektik, die ihr Resultat bereits vorwegnimmt – den zweiten Modus zuschreiben, und Adorno spricht ja auch von seiner „Restitution des Begriffsrealismus“ (GS 6, 59 Anm.). Allerdings zieht sich das Problem durch den Binnendiskurs des Idealismus selbst. Es wird virulent in der Art und Weise, wie dessen Protagonisten je versuchen, die Spaltung von Subjekt und Objekt, die der Nominalismus als „metaphysisches Normalbewusstsein“ ja voraussetzt, zu überwinden – und wie Kierkegaard und Adorno deren Vereinigung wieder in kritischer Absicht spatiieren.
Dass er den Begriff der atonalen Musik gleichwohl meidet, verbindet ihn mit Berg, Schönberg und Webern, die ihn alle aufgrund seiner Missverständlichkeit ablehnten. Schließlich ist auch atonale Musik noch an Töne, nicht mehr aber an Grundtöne bzw. Tonalität gebunden. Vgl. den Abschnitt „Dynamik von Allgemeinem und Besonderem“ der Negativen Dialektik (GS 6, 307– 309).
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Jedenfalls sind aus dem unorthodox-materialistischen Blickwinkel Adornos Nominalismus und Begriffs- oder Universalienrealismus keine unbedingten Gegensätze, sondern relativ zu ihrem je anderen in seiner historischen Konkretion. Während der Nominalismus aus seiner inneren Logik heraus in sein positivistisches Gegenteil umschlägt, steht der Materialismus für das Andere jener Dialektik der Immanenz, d. h. ihre unverfügbaren Bedingungen. Er ist ihm aber deswegen als (verdrängtes) Moment bereits eingeschrieben: „[W]ie der Nominalismus von je, hatte auch der Kierkegaardsche seine materialistische Komponente“ (GS 2, 251). Adorno ist sich durchaus bewusst, dass Kierkegaard den vermeintlich „selbstherrlichen“ und „supranaturalen“ Geist von den Bedingungen her denkt, unter denen er im Leben steht. Die Differenz von Idealismus und Nachidealismus liegt also quer zu der des Universalienstreits. Entsprechend stellt Adorno auch fest: „Jegliches fundamentum in re der Begriffe dem Subjekt zuzurechnen, ist Idealismus. Mit ihm entzweite der Nominalismus sich nur dort, wo der Idealismus objektiven Anspruch erhob“ (GS 6, 59 Anm.). Dieser objektive Anspruch aber ist in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft angelegt, die bereits materialistisch über sich hinausweist. Und das ist es, worauf die ganze Diskussion des Nominalismus eigentlich zielt. Denn er fährt fort: „Der Begriff einer kapitalistischen Gesellschaft ist kein flatus vocis“ (GS 6, 59 Anm.). Darin liegt natürlich auch eine erkenntniskritische Spitze gegen die Soziologie seiner Zeit. In ihr „ging der Nominalismus seinerseits in Ideologie über, die des augenzwinkernden Das gibt es doch gar nicht, dessen die offizielle Wissenschaft gern sich bedient, sobald peinliche Entitäten wie Klasse, Ideologie, neuerdings überhaupt Gesellschaft erwähnt werden“ (GS 6, 59 Anm.). Das heißt also, dass das reale Allgemeine, um das es Adorno geht, das gesellschaftliche ist, womit er Hegel folgt und in dieser Hinsicht klar eine begriffsrealistische Position vertritt. Real ist es, weil dessen Rationalität – als emphatisch-ganzheitliche wie als vereinseitigte, d. h. instrumentelle, ökonomische – sich in Institutionen im weitesten Sinne je schon verkörpert, also objektiviert. Hierbei entspricht die Logik der Verselbständigung ganz jener der sprachlichen Praktiken. Ein solches gesellschaftliches Allgemeines wird nun subjektiv realisiert, auch wenn die Rationalitätsstandards in besagtem Sinne objektive Geltung beanspruchen. Der nominalistische „Bewußtseinsstand“ zeigt sich im Einzelnen entsprechend als Verlust von gesellschaftlicher Allgemeinheit als einer subjektiv realisierten gemäß ihrem hegelschen Begriff (vgl. GS 6, 344), wobei Kierkegaard nach Adorno diese Tendenz nicht nur befördert – was er ihm sicher vorrangig anlastet –, sondern ihr zugleich widersteht. Sein Fazit zu Kierkegaard in den sechziger Jahren lautet nun: „Sein Existentialismus ist doppelten Charakters: Metaphysik des nominalistisch aufs Individuum zurückgebildeten absoluten Subjekts und schneidender Angriff auf die Ideologie des Profitsystems“ (GS 2, 251– 252). Kierkegaard vollzieht also eine nominalistische Wende gegenüber Hegel, die aber selbst in Metaphysik umzuschlagen droht und erkennt zugleich die falsche Allgemeinheit des „Profitsystems“, die Hegel schon als solche beschreibt, aber noch in der wahren Allgemeinheit des Staates aufhebt. Er durchdringt das aber nicht theoretisch wie Marx, sondern registriert es aus der Erfahrung der Entfremdung des Einzelnen vom
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gesellschaftlichen Allgemeinen heraus, die durch die im Ganzen religiös motivierte Kritik hindurchscheint. Das gilt es im letzten Kapitel zu erörtern. Adornos materialistische Position findet ihre Entsprechung in den sprachphilosophischen Reflexionen, insbesondere wo es um die Sprache der Kunst geht. Hier bekommt auch der nominalistische Modus der Enthaltung eine dialektische Wendung in der Perspektive der Transzendenz des Bestehenden, was er in der Ästhetischen Theorie auf die treffende Formel einer ontologischen Askese der Sprache bringt. Adorno bezieht sich damit nicht nur auf Benjamin, sondern auch affirmativ auf den frühen Wittgenstein, wenn er an den berühmten Schlusssatz des Tractatus anschließt.⁴⁹ Er sei „übertragbar auf die Kunst, freilich mit dem entscheidenden Zusatz, daß die ontologische Askese der Sprache der einzige Weg sei, das Unsagbare gleichwohl zu sagen“ (GS 7, 305). Die Analogie stellt sich insoweit ein, als die Selbstbeschränkung der philosophischen Sprache bei Wittgenstein das Unsagbare zumindest indirekt zur Geltung bringt: „Sie wird das Unsagbare bedeuten, indem sie das Sagbare klar darstellt“ (Wittgenstein 1966, 42/4.115). Auch die Kunst sagt es nicht aus. Adorno grenzt sie als „intentionslose“ Sprache gerade von der „meinenden“, propositionalen ab.⁵⁰ Vielmehr verweist sie in ihrer Beredtheit nur auf die Grenze und das, was darüber hinausgeht. Insofern ereignet sich in solcher Enthaltung aber der Umschlag des Nominalismus: „In Kunst sind Universalien am kräftigsten, wo sie der Sprache am nächsten kommt: etwas sagt, das, indem es gesagt wird, sein Jetzt und Hier übersteigt; solche Transzendenz aber gelingt der Kunst nur vermöge ihrer Tendenz auf radikale Besonderung“ (GS 7, 305).
6 Abstraktes Selbst und verstellte Ontologie Adornos dem Materialismus verpflichtete negative Dialektik stößt sich nicht nur vom Nominalismus des (logischen) Positivismus oder dem nominalistischen Ideal der „Unparteilichkeit der wissenschaftlichen Sprache“ (GS 3, 39) ab, sondern ebenso von Heidegger, wie er bereits in seiner Antrittsvorlesung von 1931 verdeutlicht: „Nicht bloß das szientifische Denken, sondern mehr noch die Fundamentalontologie widerspricht meiner Überzeugung von den aktuellen Aufgaben der Philosophie“ (GS 1, 342). Nicht ohne Grund ist es die vordringliche Aufgabe der Negativen Dialektik, ihr ist der erste Teil gewidmet, deren „Verhältnis zur Ontologie“ (GS 6, 67) zu bestimmen. Die Fundamentalontologie scheint zunächst von einer deutlich antinominalistischen Intention bestimmt, die sich bereits im ihr vorausgehenden „Übergang der Phänomenologie aus der formalidealistischen in die materiale und objektive Region“ (GS 1, 328) ausdrückt – er diskutiert hier Scheler. Während der Nominalismus, insbesondere das „szientifische Denken“, das Nichtidentische im Modus der Enthaltung neutralisiert, eignet es sich das heideggersche
Das bedeutet auch eine Korrektur seiner früheren Polemik gegen „Wittgenstein und seine Anhänger“ (GS 5, 336). Vgl. hierzu: Kreuzer 2004, 381. Vgl. dazu den Abschnitt 8.3 dieses Kapitels.
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Denken im Modus der Bemächtigung als eine ebendiese Besonderheit beanspruchende Ontologie an. Dahinter verbirgt sich freilich eine komplexe Diskussion, die das Verhältnis von „objektiver“ bzw. „materialer“ und der auf Kierkegaard zurückgeführten „subjektive[n] Ontologie“ (GS 1, 329) bei Heidegger zu bestimmen und den Wandel im Verständnis nachzuvollziehen hätte.⁵¹ Sie interessiert mich hier aber nur insoweit, als er ihre Konstellation auch dem Vater der Existenzphilosophie unterschiebt: „Die Lehre vom absoluten Einzelnen schlägt bereits in Kierkegaard in Ontologie, einem sei’s auch verzweifelten Entwurf der Existenzialien um“ (GS 2, 245). Sein Vorzug vor Heidegger liegt aber darin, dass dieser Entwurf eben zerbrochen ist. Adorno erkennt bei Kierkegaard eine Entzweiung der nominalistischen, ontologiekritischen und der realistischen Intention, was die Voraussetzung solchen Umschlags ist. Dessen subjektive Ontologie findet entsprechend ihren Ausdruck als „objektive Verzweiflung“ (GS 1, 329). Die ganze Doppelsinnigkeit, die Adorno Kierkegaards Verhältnis zur Ontologie zuschreibt, bringt ein Satz seines Erstlingswerks auf den Punkt: „Gegen Kant verfolgt er den Plan konkreter Ontologie; gegen Hegel den einer solchen, die nicht dem bloß Seienden erliegt, indem sie es in sich aufnimmt“ (GS 2, 107). Er spricht dabei auch von der „materiale[n] Ontologie“ Hegels, was meines Erachtens darauf verweist, dass es auch hier untergründig um den zuvor umrissenen Diskurs geht. Der Vorwurf ist nun jedoch ein anderer und betrifft den Kern von Kierkegaards Kritik der Spekulation: „daß die Identität des Wirklichen und des Vernünftigen Ontologie verflüchtigt, indem sie sie übers Daseinsganze ausbreitet und damit jedes bündigen Maßstabes sowohl fürs erhöhte Dasein als auch für einen ‚Sinn‘ sich begibt, dessen Überall in Nirgends umzuschlagen droht“ (GS 2, 107). Bei Heidegger dagegen suche die Ontologie in der Tiefe der Subjektivität, „was sie in der offenen Fülle der Wirklichkeit nicht aufzufinden vermag“ (GS 1, 329). Kierkegaards mit sich selbst zerfallene Subjektivität opponiert jedoch beiden: „Die Frage nach dem ‚Sinn‘ von Dasein ist ihm nicht die, was Dasein eigentlich sei. Sondern vielmehr die: was dem Dasein, sinn-leer für sich selber, einen Sinn gebe“ (GS 2, 99). Entsprechend stellt auch Buck-Morss fest, dass Kierkegaard Adorno zufolge Heidegger gegenüber den Vorzug habe, dass er keine positive Ontologie formuliere. Negativ bzw. verstellt ist sie vor allem im Hinblick auf den Sinn von Dasein: „Kierkegaard’s was a negative ontology in that the uncertainity of meaning was itself the meaning“ (BuckMorss 1977, 269, Anm. 27). Diese Ungewissheit ist aber nicht alles. Bestimmtheit erreicht Kierkegaard gegen Hegel zunächst, indem er „der Zufälligkeit der äußeren Erfahrung das besondere Bewußtsein des einzelnen Menschen als konkret [kontrastiert]. Er wird ihm zum Träger eines materialen Sinnes, den die Identitätsphilosophie im kontingenten sinnlichen Material nicht realisieren konnte“ (GS 2, 107). Nun unterstellt Adorno aber auch seinem Versuch, dieses Dilemma zu überwinden, in Abstraktion umzuschlagen, und zwar ge Vgl. dazu den Abschnitt 3 im ersten Kapitel. Auch wären die unübersehbaren Gemeinsamkeiten im Anliegen beider zu erklären, die sich insbesondere im Konzept des Nichtidentischen aussprechen, das Adorno selbst in eine auffällige Nähe zur heideggerschen ontologischen Differenz rückt – vgl. Wesche 2019b, insbesondere 487– 488.
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wissermaßen spiegelverkehrt zu Hegel. Der Grund besagter Zweideutigkeit liege im „abstrakten Selbst“: „Dessen Abstraktheit bildet den Gegenpol zu der des Allgemeinen. Es ist die des Besonderen. […] Das Selbst, Hort aller Konkretion, zieht derart in seine Einzigkeit sich zusammen, daß nichts mehr von ihm prädiziert werden kann: es schlägt in die äußerste Abstraktheit um“ (GS 2, 108). Eine solche Abstraktion im Besonderen behauptet Adorno auch vom Existenzbegriff Kierkegaards, wo er subjekttranszendente Objektivität beansprucht. Das vermeintlich Konkreteste schrumpft zum „pure[n] Diesda“ (GS 2, 113). Schließlich, und hier erreicht die Kritik Adornos ihren vorläufigen Höhepunkt, schlägt Subjektivität kraft ihrer Abstraktheit selbst in einen „Schauplatz“⁵² einer ihr entfremdeten Ontologie um. Das sei bereits angelegt in „der Ursprungsintention seiner philosophischen Frage. Denn diese zielt ab nicht auf die Bestimmung von Subjektivität, sondern von Ontologie, und Subjektivität erscheint nicht als deren Gehalt sondern als deren Schauplatz“ (GS 2, 38). Er führt das insbesondere an der Dialektik der Sphären vor: „Nicht das Subjekt und sein konkretes einzelmenschliches Leben vermittelt zwischen ihnen: im Subjekt als ihrem Schauplatz vergehen Sphären, eröffnen sich andere“ (GS 2, 138). Der Begriff des abstrakten Selbst, den Adorno Kierkegaard unterschiebt, bleibt zunächst ebenfalls merkwürdig abstrakt, konturlos.⁵³ Er gewinnt erst an Bestimmung, wo er (nachträglich) auf die Konzeption des Selbst aus der Anfangspassage der Krankheit zum Tode und ihre Vorstufe aus der Angstabhandlung bezogen wird (GS 2, 114– 117), dessen Deutung Löwith (1934, 169) in seiner Rezension ja als „Zentralstück“ des Buchs bezeichnet hat. Noch in der zweiten Beilage macht Adorno an der von ihm dort diagnostizierten Selbstbezüglichkeit, die als Ausschluss der fremden Objektwelt eben abstrakt ist, die Zugehörigkeit Kierkegaards zum Idealismus fest: „Der eindringlichste Beleg dafür ist die Theorie vom Selbst als einem sich zu sich selbst verhaltenden Verhältnis am Anfange der ‚Krankheit zum Tode‘“ (GS 2, 251). Wie sich gezeigt hat, ist dieser Vorwurf nicht ganz unberechtigt, wo er sich auf den Vorbegriff von Verzweiflung bezieht. Auch belegt die Passage vielleicht am deutlichsten, ich werde darauf im vierten Kapitel zurückkommen, wie sehr er noch zumindest formal und terminologisch durch Fichte und Hegel geprägt ist. Es ist allerdings vielsagend, dass Adorno gerade nicht an Kierkegaards eigene Bestimmung des abstrakten Selbst anknüpft, die dieser bisweilen fast in Übereinstimmung
Die Metapher des Schauplatzes, die sich Adorno im Kierkegaardbuch wiederholt und in unterschiedlichen Kontexten zu eigen macht, verdankt er ebenfalls Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels. Dass er zur Erklärung jene Passage aus der Angstabhandlung ausführlich zitiert (GS 2, 108), wo es heißt, „dass das Allgemeine als das Einzelne gesetzt ist“ (BA, 92 / SKS 4, 381), ist vielmehr verwirrend, geht es dort doch um das Verhältnis der Gattungsallgemeinheit zur unvertretbaren Selbstbezogenheit des Einzelnen im Sinne einer anthropologischen Bestimmung – vgl. dazu den letzten Abschnitt des vorigen Kapitels. Adorno deutet sie dagegen in der besagten Weise und meint gar, Husserls Bestimmung des Subjekts als „das pure x in Abstraktion von allen Prädikaten“ in den Ideen zu einer reinen Phänomenologie treffe Kierkegaards „Selbst“ genau (GS 2, 109; vgl. Husserl 1950, 321).
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mit ihm formuliert. Gemeint sind die „Verzweiflung der Unendlichkeit“ und die der „Möglichkeit“, die allein schon, wie auch ihre jeweiligen Gegenstücke, durch ihre Einseitigkeit als Abstraktion von ihrem je anderen bestimmt sind. Abgesehen von ihrer Stellung in der Existzendialektik lassen sie sich auch als implizite Idealismuskritik lesen. Ausdrücklich findet sich dabei ein Verweis auf Fichte. Von der ersten Form heißt es nun: „Das Selbst führt dann eine phantastische Existenz in abstrakter Verunendlichung oder in abstrakter Isolation“ (KT, 35 / SKS 11, 148). Zur anderen ist etwa zu lesen: „Ein solches Selbst wird eine abstrakte Möglichkeit“ (KT, 39 / SKS 11, 151). Damit drängt sich erneut die Frage auf, ob er nicht doch Kierkegaard eine Figur seiner Kritik, bzw. die Auffassung eines seiner fiktiven Verfasser, unterschiebt und von dieser Position aus seine Konzeption des Selbst gewissermaßen rekonstruiert. Das behauptet Fahrenbach (1962, 80), der sich hier auf den Ästhetiker aus Entweder/Oder bezieht, den er aber in einer Weise beschreibt, die aufs Genaueste zu jenen Verzweiflungsgestalten passt: Es sei mit der „abstrakt unendliche[n] Form des Selbst […] zwar die Möglichkeit, aber eben noch nicht die konkrete Wirklichkeit des Selbst-seins bezeichnet“. Diese Nähe ist freilich der thematischen Verwandtschaft zwischen seinem frühen Hauptwerk und der Verzweiflungsabhandlung geschuldet.⁵⁴ Er meint nun: „A[dorno] setzt im Grunde bei der abstrakten Reflexionsinnerlichkeit des Ästhetikers (!) an. Aus deren privativer Form läßt sich aber die Existenzdialektik nicht entwickeln“ (Fahrenbach 1962, 80). Dass dieser Verdacht nicht unbegründet ist, wird sich daran zeigen, dass er die Figur des abstrakten Selbst in die Spiegelwelt des Intérieurs überträgt, die er ja wiederum wesentlich den Beschreibungen im „Tagebuch des Verführers“ entnimmt. (Un‐)Durchsichtigkeit Die Kritik an Kierkegaards abstraktem Selbst und der in ihr gründenden verstellten Ontologie verbindet Adorno mit der insbesondere in der Krankheit zum Tode zentralen Kategorie der Durchsichtigmachung. Dort bezeichnet sie ja gerade das Verhältnis zu dem, was sich der Erkenntnis entzieht, also nicht durchsichtig ist, der setzenden Macht. Theologisch gedeutet wird sie dann zu Kierkegaards Glaubensformel schlechthin und meint später auch das „Gewissens-Verhältnis“ vor Gott (KT, 142 / SKS 11, 325). Adorno dagegen versteht sie weniger als Redlichkeit sich selbst und der Welt gegenüber, sondern versucht sie auf ein scheiterndes idealistisches Ideal einer sich selbst transparenten Erkenntnis zurückzuführen, das sich ihm bei Kierkegaard in eine resignierende, epistemologische Verzweiflung – im Sinne der Entzweiung und des potenzierten Zweifels – verkehrt. Seiner „subjektivisch-nominalistische[n] Sprachtheorie“ und der Lehre von der Mitteilung, die sie fundiere, wohne die „Resignation der Erkenntnis inne, die vor ihrem Gegenstand als blindem, unerhellbarem, verschlossenem ratlos beharrt“ (GS 2, 109). Dieser „widersteht aller Durchsichtigkeit“ (GS 2, 109). Dadurch entzieht sich, das entspricht ganz der Logik der Dialektik der Aufklärung, dem trotzig sich behauptenden „selbstherrlichen Geist“ (GS 2, 84) in seiner Durchsichtigkeit sein eigener Grund, der sich Vgl. Wesche 2003, 49 – 57, insbesondere 50 – 51.
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als mythischer Gehalt zu emanzipieren droht. Entsprechend stellt sich nach Adorno die immanente Dialektik Kierkegaards in einer zweifachen Bewegung dar – einerseits als ein in ganzer Breite im Werk entfalteter„Prozeß von Spiritualisierung, […] den das Selbst in Kraft seines freien Geistes inauguriert“, andererseits als theoretisch nicht entfaltete, aber„sachlich“ nachzuweisende „Dialektik im mythischen Naturgrund selber“ (GS 2, 86). Es ist also ein wesentliches Anliegen seiner Interpretation – und paradigmatisch für seine kritische Theorieaneignung überhaupt –, den mythischen Gehalt dessen aufzudecken, „was bei Kierkegaard als Geist und Freiheit supranatural“ (GS 2, 86) auftritt. Durchsichtigkeit meint nach Kierkegaard aber eben keine unbedingte Selbsttransparenz, zumal es hier, was Adorno zu missachten scheint, um Existenzerhellung, also eine Deutung des je eigenen Lebens in der Zeit geht: „Leben hebt sich als solches von dem ab, was dunkel ist: Es hellt sich allein auf dunklem Hintergrund auf“ (Wesche 2003, 94). Adorno dagegen versteht einen solchen nicht einholbaren Grund als von der Deutung ausgeschlossenen. Als solcher wird er ihm per se zu einem mythischen – ein Begriff, der in seinem Erstlingswerk ohnehin problematisch undifferenziert bleibt, wie schon Kracauer in seiner Rezension anmerkt. Durchsichtigkeit gäbe es erst als absolute im Wortsinn, d. h. jenseits des Selbstverhältnisses. Aber das meint das Außersichsein des Geistes gerade nicht, sondern vielmehr, dass ihm seine eigenen Bedingungen unverfügbar sind. Erreicht wäre das in jenem Standpunkt sub specie aeterni als Auflösung der Widersprüche, die der existenzdialektische Vollzug zeitigt. Das unterstellt ihm auch Adorno nicht einfach. Seine Kritik erreicht ihren Kulminationspunkt⁵⁵ in seiner Deutung des „paradoxen Opfers“ als ein „Opfer von Bewußtsein als Vollzug ontologischer Versöhnung“ (GS 2, 152). Er versteht es als Inversion des archimedischen Punkts des systematischen Idealismus, dem „Recht von Denken, als Gesetz seiner selbst Wirklichkeit zu begründen“, die sich als Bewegung „unendlicher Resignation“ des Geistes entfaltet (GS 2, 152). Nur wird dabei das Opfer des Bewusstseins mit dessen eigenen Kategorien, d. h. rational vollzogen, so wie Adorno grundsätzlich von einem „Primat rationaler Paradoxie“ (GS 2, 152) über die überlieferte theologische ausgeht.⁵⁶ Kierkegaards Theologie scheitere zuletzt aus der Konsequenz der ihr immanenten philosophischen Systematik heraus – und nicht umgekehrt. Dass Adorno Kierkegaards Begriff des Gesetztseins nicht gelten lassen will, was ja erst die offensichtliche Unangemessenheit der Auslegung seiner Kategorie der Durchsichtigkeit erklärt, ist nicht den (vermeintlichen) theologischen Implikationen geschul-
Auch in dem Sinne, dass dem vorletzten Kapitel „Vernunft und Opfer“ die Würdigung der selbsttranszendierenden Elemente seines vermeintlich idealistischen Gesamtentwurfs im letzten Kapitel folgt. Wenn Dietz (1993a, 36 – 37) sämtlichen „neomarxistischen“ Kierkegaardinterpretationen vorwirft, dem Dänen einen „tendenziellen Irrationalismus“ unterzuschieben, so trifft das, trotz seiner teils berechtigten Kritik, auf Adorno keineswegs zu. Bei diesem ist Kierkegaard vielleicht gar zu rational geraten. Gerade deshalb räumt er auch dem Mythischen jene Bedeutung ein – durchaus im Sinne der Dialektik der Aufklärung.
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det. Er (miss‐)versteht ihn nun weniger als idealistische Selbstsetzung,⁵⁷ sondern vielmehr als Ausdruck einer Selbstbespiegelung: „Als ‚Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält‘ ist es aber die ‚Macht, die es setzte‘ selber, und so ist seine Durchsichtigkeit Spiegelung nur wie in den Bildern des Intérieurs, als solche aber Schein. Kierkegaards ‚Selbst‘ bleibt mythisch-zweideutig zwischen der Autonomie als immanenter Erzeugung von Sinn und einer Reflexion, die sich selbst im Schein von Ontologie gewahrt“ (GS 2, 116 – 117). Hier setzt nun Simonis (2000, 556) in ihrer zeichentheoretischen Deutung an, indem sie der Durchsichtigkeit die Opazität der Zeichenstrukturen gegenüberstellt: „Die Kierkegaardsche Subjekttheorie ist gemäß der Adornoschen Perspektivierung nämlich zugleich – und das ist entscheidend – eine Theorie opaker Zeichenstrukturen.“ In Adornos Lektüre werde die Geschichte der individuellen Existenz Schritt für Schritt in „hermetische écriture“ verwandelt. Das heißt, dass sich ihm zufolge in den Texten Kierkegaards eine der Existenzdialektik der Durchsichtigmachung untergründig zuwiderlaufenden Bewegung der Chiffrierung und Verrätselung feststellen lässt, wodurch sich die Texte selbst in ihrer Autonomie behaupten: „Wie der versprengte, chiffrenhafte Buchstabe dem totalen, ‚existentiellen‘ Ausdruck des Schriftstellers sich nicht unterwirft, so stehen noch in Kierkegaards Theologie chiffrierte Bilder gegen das existentielle Opfer und gewähren inmitten der abstrahierenden Vernichtung den Trost ihrer Konkretion“ (Simonis 2000, 560). Dem „subjektiven Idealismus“ opponiert nach Adorno der „ontologische Charakter eines ‚Textes‘, für dessen Wahrheit der Mensch als bloßes Zeichen eintritt“ (GS 2, 189). Das bedeutet nun, dass die Analogie von Individuum und Kunstwerk hier in anderer Weise wiederkehrt: Die Struktur des Kierkegaardschen Subjekts in seiner besonderen, vereinzelten Existenz ist für Adorno vornehmlich insofern interessant, so läßt sich aus dem bisher Gesagten erkennen, als sie in vielfacher Hinsicht seiner eigenen Leitvorstellung von der Autonomie der ästhetischen Form entspricht. Es bedarf dazu in Adornos Argumentation allerdings einer kühnen Übertragung der Momente bzw. anthropologischen Eigenschaften des Subjekts auf ästhetische Strukturen. (Simonis 2000, 556)
Zu Recht meint Simonis, seine Lektüre riskiere eine Überinterpretation (Simonis 2000, 565). Aber gilt das nicht auch für ihre eigene Deutung? Sicherlich tritt unter dem Blick der Literaturwissenschaftlerin manches, auch die zentrale philosophiegeschichtliche Konstellation des Spät- oder Nachidealismus, in den Hintergrund. Sie macht damit aber aufmerksam auf eine Eigentümlichkeit, die von der Adornoforschung bisher weitgehend übersehen worden ist und die nicht nur die Auseinandersetzung mit Kierkegaard betrifft. Adornos Verständnis des kierkegaardschen Existenzbegriffs als schriftgleich, des „Lebens als Schrift“ (GS 2, 17), ist das stärkste Argument für ihre zeichentheoretisch angeleitete Untersuchung. Die Schriftmetapher ist zentral für ein Verständnis der entfremdungstheoretischen Implikationen seiner Kierkegaarddeutung. Adorno wird damit
Das behauptet Romano Pocai (2006, 16). Zu Recht stellt er in seinem kurzen Artikel aber gerade Adornos Deutung der Durchsichtigkeit und des Gesetztseins als verfehlt heraus.
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aber auch dem Selbstverständnis des Dänen in einer Weise gerecht, die ihn von anderen Deutungen seiner Zeit abhebt und die Missachtung von dessen Mitteilungsform auf eigentümliche Weise unterläuft. Denn er versteht ihn ebenso als „Schriftsteller“ wie als „Schrift-leser, auch der eigenen Schrift“ (GS 2, 38).⁵⁸ Und darin versucht er nach Adorno nicht weniger als eine transformierende Neuaneignung der überlieferten „humanen Existenz“, in der Perspektive der Überwindung der gegenwärtigen entfremdeten. So beschreibt Kierkegaard im zweiten Anhang der Nachschrift das Programm indirekter Mitteilung, das damit eine ganz eigene Wendung bekommt. Der Begriff der Aneignung in seinem theologisch-philosophischen Doppelcharakter wird hier auf den Schriftleser Kierkegaard erweitert, der als Person zurücktritt. Die Bedeutung der Pseudonyme liege darin, „aus einem Abstand, der die Ferne der Doppelreflexion ist, solo die Urschrift der individuellen, humanen Existenzverhältnisse, das Alte, Bekannte, und von den Vätern Überlieferte noch einmal, womöglich auf eine innerlichere Weise, durchlesen zu wollen“ (AUN II, 344 / SKS 7, 573).⁵⁹ Der Verweis auf eine „Urschrift“ steht hier allerdings nicht für eine regressive Theorie von Entfremdung, die auf einen vorgängigen nicht entfremdeteten Zustand rekurriert. Die „humanen Existenzverhältnisse“ sind keine, die je existiert haben, sondern allenfalls nicht verwirklichte Möglichkeiten früherer Gesellschaften, das Zukünftige im Vergangenen. Dass sie vielmehr utopischen Charakter haben, wird gerade durch ihre Verstelltheit bestätigt und garantiert, durch die Unleserlichkeit der Schrift. Nun ist aber das Verständnis des Lebens oder der Existenz als Schrift, die es zu entziffern gilt, oder die sich auch, je nach Deutung, grundsätzlich nicht entziffern lässt, etwas kategorial anderes als eine zeichentheoretisch ausgelegte Subjektkonzeption. Das meines Erachtens zentrale Problem der Deutung Simonis’ bringt ihr abschließendes Resümee noch einmal auf den Punkt: „Die faszinierende Unlesbarkeit des kryptischen Selbst, das sich selbst unverständlich bleibt, wird von Adorno ungeachtet aller dialektischen Subtilität der Analyse in letzter Instanz in ihrer Opazität belassen und kann ihm daher als geeignetes Modell hermetischer Zeichensequenzen dienen, zu dem die ‚Ästhetische Theorie‘ (mehr als dreißig Jahre später) zurückfinden sollte“ (Simonis 2000, 572). Adornos Kritik an der Durchsichtigkeit bei Kierkegaard bezieht sich jedoch, wie sich gezeigt hat, nicht auf die reflexive Struktur des Selbstverhältnisses. Subjektivität selbst bleibt nicht opak, sondern vielmehr die ausgeschlossene Natur in ihr, die unverfügbare Objektivität. Adorno hat den Gegensatz in der Behauptung jener untergründigen „Dialektik im mythischen Naturgrund selber“ (GS 2, 86). deutlich ausgesprochen. Durchsichtigkeit wird erst dort zum Problem, wo sie zum „Name[n] für Ontologie“ (GS 2, 110). wird und damit einen uneinlösbaren Erkenntnisanspruch vertritt – ob das nun auf Kierkegaard zutrifft oder nicht. Ein „kryptisches Selbst“ wäre, Bei Kierkegaard heißt es etwa:: „[I]ch betrachte mich selbst am liebsten als einen L e s e r meiner Bücher, nicht als den Ve r f a s s e r “ (WS, 10 / SKS 13, 19). Adorno zitiert nach der Übersetzung von Hermann Gottsched aus dem Jahr 1910 (Gesammelte Werke, Bd. 7, 304). Die Unterschiede zur späteren, hier wiedergegebenen, von Hans Martin Junghans sind marginal.
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anders als es Simonis suggeriert, weder für den einen noch für den anderen eine zufriedenstellende Konsequenz, sondern vielmehr eine Selbsttäuschung anderer Art. Sie gleicht fast schon jener Verzweiflung, die nicht etwa darüber verzweifelt, sich nicht über sich selbst – zumindest nicht vollumfänglich und mit Gewissheit – verständigen zu können, sondern vielmehr behauptet, da gäbe es gar nichts zu verstehen. Und sie ist auf eigentümliche Weise der ästhetischen Existenz verwandt, die der praktisch misslingenden Selbstbestimmung durch eine Übertragung in den virtuellen Raum des Künstlerischen zu entkommen versucht und deren Gelingen gewissermaßen simuliert.⁶⁰ Die grundsätzliche Unerkennbarkeit des homo absconditus entbindet ebenso wenig von der Frage nach dem Menschen, wie die Unbestimmtheit der Lebensrealität von der Selbstverständigung. Das unterscheidet beide vom Rätselcharakter des Kunstwerks, das darin ja vielmehr für Adorno zum Anstoß einer solchen Verständigung wird, während es sich selbst ihr verschließt. Hier ist also von einem Wechselverhältnis – wie es die Analogie von Individuum und Kunstwerk in ihrer hermeneutischen Funktion durchspielt –, nicht aber von einer Übertragung zu sprechen. Wenn beispielsweise Ludwig II. von Bayern sich Schillers bekannte Sentenz aus Die Braut von Messina als Motto zu eigen macht, so ist das eine spätromantische Verrätselung der eigenen Existenz, die zu deren ästhetischer Chiffrierung aufs Genaueste passt: „Ein ewiges Räthsel will ich bleiben mir und anderen.“⁶¹ Kierkegaards Anthropologie kulminiert dagegen nicht in ihrem Rätsel-, sondern in ihrem „Fragecharakter“: „Ein Gelingen stellt sich ein, wo dem Einzelnen sein Leben als ein solches zu begegnen vermag, das gedeutet sein will.“⁶² Sofern aber die Frage eben als solche erfasst wird, verweigert sie eine sichere Antwort, wie sie andererseits die Forderung nach (rationaler) Selbstverständigung festhält. Es bleibt dabei der Grund des Verstehenwollens opak, während die geforderte Durchsichtigkeit sich darauf bezieht, zu erkennen, dass man verstehen will. Diese Differenz übergeht Simonis, während Adorno sie in der bloßen Selbstbezüglichkeit, der Spiegelwelt des Intérieurs einzieht, wo sie sich leerläuft.
7 Konstruktion des Ästhetischen vs. ästhetische Konstruktion 7.1 Zum Mehrfachsinn der Begriffe Das Wort Konstruktion ist in Adornos Erstlingswerk zunächst in einer offensichtlichen Weise „doppelsinnig gemeint“, wie schon Tillich (1999, 338) in seinem Gutachten feststellt: „Es bedeutet zugleich die Struktur, die bei Kierkegaard vorliegt, und die Art, wie sie vom Verfasser dargestellt wird.“ Kritisiert wird kurz gesagt die Konstruktion des Äs Vgl. Wesche 2003, 52. Brief an die Schauspielerin Marie Dahn-Hausmann vom 25. April 1876, zitiert nach Gottfried von Böhm (1924, 438). Wesche 2003, 91. Entsprechend lautet seine Definition des kierkegaardschen Transparenzbegriffs: „Durchsichtigkeit heißt demnach die Einsicht des Verstehenwollens“ (93).
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thetischen bei Kierkegaard, etwa als Stadium oder „Sphäre“, während die Darstellung bei Adorno selbst als ästhetische Konstruktion zu verstehen ist. Ganz so einfach verhält es sich freilich nicht, das gilt es im Folgenden in zwei Schritten zu zeigen. Denn erstens greift das konstruktive Moment bei Adorno tiefer, wie auch Tillich (1999, 338) andeutet: „Das Wort Konstruktion hat bei ihm nicht den gegenwärtig üblichen negativen Sinn, sondern bedeutet das Einordnen eines Begriffs in die Konstellation der ihm verwandten und der ihm entgegengesetzten Begriffe.“ Zweitens ist das Ästhetische bei Kierkegaard wesentlich mehrdeutig. 1. Gerade im Begriff der Konstruktion weist das späte, Fragment gebliebene Hauptwerk auf Adornos Erstlingswerk zurück. Der ästhetischen Konstruktion widmet sich insbesondere der letzte, ebenso überschriebene Abschnitt des Kapitels „Allgemeines und Besonderes“, das seine Theorie des ästhetischen Nominalismus entfaltet. Dort heißt es: „Konstruktion ist die Form der Werke, die ihnen nicht länger fertig auferlegt ist, die aber auch nicht aus ihnen aufsteigt, sondern die ihrer Reflexion durch subjektive Vernunft entspringt“ (GS 7, 330). Das konstruktive Moment scheint hier also der subjektiven, nominalistischen Intention, die „auf keine Objektivität von Universalien mehr sich verlassen kann“ (GS 7, 330), zu entsprechen – und insofern der subjektiven, rationalen Konstruktion des Ästhetischen, die Adorno Kierkegaard unterstellt. Als Formbestimmung wird das „Konstruktionsprinzip“ aber gerade zum Ausdruck eines Widerspruchs. Es zeitige die „Nötigung, das nominalistische Moment zur Objektivation zu verhalten, der es zugleich widerstrebt“ und bedinge den „Prozeßcharakter eines jeglichen Werks“ (GS 7, 330). Unschwer ist zu erkennen, wie es darin einzelmenschlicher Subjektivität gleicht. Und das gilt auch für besagten „Doppelcharakter der Kunst“ als „fait social und Autonomie“, dem sich der anschließende Abschnitt widmet. Die „Dynamik der Kunstwerke“ bildet beides ab und birgt zugleich ein utopisches Potential: „Daher die Ambivalenz ästhetischer Konstruktion. Ebensowohl vermag sie die Abdankung des geschwächten Subjekts zu kodifizieren und absolute Entfremdung zur Sache der Kunst zu machen, die das Gegenteil wollte, wie die imago eines versöhnten Zustands zu antizipieren, der selber über Statik und Dynamik wäre“ (GS 7, 333 – 334). Der Begriff der Konstruktion trifft insofern den Kern jener vielschichtigen „Entfremdung von Subjekt und Objekt“, die Adorno seiner „kritischen Interpretation“ Kierkegaards im Ganzen zugrundelegt. Er steht aber ebenso für die Bestimmung einer Philosophie jenseits von reiner Wissenschaft und bloßer Dichtung. Das spricht Adorno in der Anfangspassage seines Erstlinsgwerks deutlich aus – „sie konstruiert“ (GS 2, 10). Auch in seiner Antrittsvorlesung ist von Philosophie als „Konstruktion der Figur des Wirklichen“ (GS 1, 338) die Rede. Dabei steht ihm natürlich vor allem die Komposition Modell. In der Negativen Dialektik heißt es „hätte Philosophie nicht sich auf Kategorien zu bringen sondern in gewissem Sinn erst zu komponieren“ (GS 6, 44). Den musikalischen Charakter des Kierkegaardbuchs betont er in einem Brief an Alban Berg vom 16. Januar 1931: Wenn Sie Lust haben, sich in das absonderliche Dickicht des Buches zu begeben, das sicherlich von meinen bisherigen literarischen Arbeiten am tiefsten mit meiner und wie ich wohl sagen darf
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unserer Musik zusammenhängt – dann hoffe ich Ihnen in wenigen Wochen ein Exemplar senden zu können. Vielleicht macht es Ihnen Spaß zu hören, daß dagegen ungefähr dieselben Argumente gemacht werden, an die wir von der Musik her so gut gewöhnt sind: Überintellektualität, Unverständlichkeit, Verrücktheit, Zersetzung. (BW 2, 250)
Wie sich im Folgenden zeigen soll, wird Adorno die Musik so zum Modell der Kritik gegenwärtiger Sprachpraxis und einer „Erneuerung der philosophischen Sprache“ (Kogler 2019, 206). Allerdings folgt der tatsächliche Modus ästhetischer Konstruktion in seinem Erstlingswerk weniger der Musik. Schließlich geht es ihm ja darum, in der von Kierkegaard per philosophischer Konstruktion ausgeschiedenen Bilderwelt deren Wahrheit jenseits des Entwurfs zu retten. Dabei ist diese Welt nicht nur eine der Ästhetik im engeren Sinne und auch keine, die sich vorrangig aus sprachlichen Bildern zusammensetzt. Sie speist sich ebenso etwa aus Bildern der Geologie. Das passt freilich zum Anspruch Adornos, darin das Naturhafte aufzudecken. Vor allem aber zeigt sich auch dabei eine Tendenz, dem Visuellen einen gewissen Vorrang einzugestehen. Das war bereits in der Diskussion seiner These der „inversen Theologie“ und der Kafkarezeption Adornos, in deren Kontext sie steht, angesprochen worden. Dort bedient er sich ja der Bilderwelt der Optik selbst (vgl. BW 1, 90). Auch Simonis (2000, 561), der es in ihrer Untersuchung vor allem um das Bild der Schrift geht, stellt zu Recht fest, wo sie die „ausgeprägte visuelle Orientierung“ des Lektüreprozesses beschreibt: „Es erfolgt in diesem Zusammenhang eine bemerkenswerte Bevorzugung des Optischen und eine Konzentration auf das Auge als Medium des Sehens und privilegiertes Sinnesorgan, die um so mehr überrascht, als Adornos unbestrittene Faszination durch die Musik und sein schon früh sich abzeichnendes musiktheoretisches Interesse hinreichend bekannt sind.“ Jenseits der hier eröffneten Alternative von Bild und Ton ist es allerdings der konstruktive Charakter selbst, auf den es ankommt. Er eignet Sprachbildern ebenso wie (abstrakter) Malerei oder (atonaler) Musik – das offenbart gerade die Konvergenz der Kunstformen in der Moderne.⁶³ Das wirft nun die Frage auf, wie der Begriff der Konstruktion – bzw. die ihm verwandten der Komposition oder Konfiguration – im Verhältnis steht zum erst später explizierten Verfahren der Konstellation. Dass Adorno beide engführt ist offensichtlich. So meint er schon in der Antrittsvorlesung: „Bei der Handhabung des Begriffsmaterials durch Philosophie rede ich nicht ohne Absicht von Gruppierung und Versuchsanordnung, von Konstellation und Konstruktion“ (GS 1, 341). Es liegt darin aber meines Erachtens zugleich eine gerne übersehene Differenz, die sich über die Wortherkunft erschließen lässt. Insofern constellatio die Stellung der Gestirne bezeichnet, verweist der
Den konstruktiven Charakter frei-atonaler Musik beschreibt er in einem anderen, bereits erwähnten Brief an Alban Berg vom 28. Juni 1926 – nun, indem er sich von Kierkegaard absetzt: „[I]ch bin überzeugt, daß nichts heute in Musik schwerer wiegt als die formkonstruktive Phantasie – schwerer in der Tat als jene Personalität und Innerlichkeit des ‚Einzelnen‘ selbst (die sie freilich dialektisch voraussetzt!), auf der ich jahrelang kierkegaardisch herumgeritten bin“ (BW 2, 87– 88). Merkwürdig ist aber, dass er ihn in diesem Kontext überhaupt nennt.
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Ausdruck auf etwas, was sich dem menschlichen Zugriff schlechterdings entzieht.⁶⁴ Ich meine, dass dieser Unterschied den Kern dessen trifft, was sich Adorno von der Kunst erhofft. In ihr soll subjektive Konstruktion in eine Konstellation umschlagen, die sich aus ihrer eigenen materialen Verfasstheit heraus kundtut – und das heißt für Adorno nicht zuletzt, dass darin Natur selbst spricht. Das wird insbesondere an seiner Hölderlininterpretation deutlich. 2. Inwiefern die Konstruktion des Ästhetischen als Kritik an Kierkegaard zu verstehen ist, lässt sich am Leitfaden der „Äquivokationen“ des Ästhetischen, ihrer divergierenden, aber stets aufeinander verwiesenen Bedeutungsebenen, die Adorno zu Beginn der Untersuchung unterscheidet, nachvollziehen – denn ihre Synthesis „kann der Konstruktion erst aus ihren gesäuberten Elementen geraten“ (GS 2, 24). Gleichwohl, so schickt er vorweg, haben die verschiedenen Bedeutungen ihren gemeinsamen Grund im Verständnis des Ästhetischen als einer Kategorie der Erkenntnis, bzw., wie es in der „Notiz“ zum Kierkegaardbuch mit Hegel heißt, als „Stellung des Gedankens zur Objektivität“ (GS 2, 262). Aus dieser Perspektive ist auch die erste und naheliegendste Bedeutung des Ästhetischen als „Bereich der Kunstwerke oder kunsttheoretischen Erwägung“ (GS 2, 24) philosophisch bedeutsamer, als es zunächst scheint. Die zweite und, wie Adorno meint, zentrale Bedeutung gehört wohl zu Kierkegaards bekanntesten Denkfiguren überhaupt: Das Ästhetische als Haltung oder Existenzform, bzw. als „Stadium“ oder„Sphäre“. Als dritte Bedeutung schließlich bezieht sich das Ästhetische auf die Form der subjektiven bzw. indirekten Mitteilung bei Kierkegaard. Die Pseudonymität aber liegt zwischen diesen beiden Ebenen, die Bestimmung des Dichterischen wiederum betrifft alle drei, ist ihr doch selbst eine charakteristische Mehrdeutigkeit zu eigen. In diesem Zusammenhang drängt sich erneut jene Frage nach dem Verhältnis zur religiösen Natur des Werkganzen auf, die eine philosophische Untersuchung zu Kierkegaard redlicherweise nicht umgehen kann. Ist nicht die Konstruktion vielmehr als theologische aufzufassen? Seine Selbstdarstellung als religiöser Schriftsteller – sich weder als Philosoph, noch als Theologe ausgeben zu wollen – dient nach Adorno letztlich dazu, das Spekulative der eigenen Thesen in Zweideutigkeit abzufangen. Daher sein Reden ohne Autorität und Auftrag – eine Darstellung, die er gleichwohl im Gesichtspunkt in der rückwirkenden Deutung seines Werks als von göttlicher Vorsehung geleitet unterläuft.⁶⁵ Adorno ist mit dieser Problematik vertraut, er verbindet sie aber mit der von Kierkegaards Zugehörigkeit zum Spätidealismus: Sein Schwanken klärt sich auf mit der Einsicht in die spezifische Funktion des dichterischen Anspruchs bei ihm selber. Dichterisch heißen ihm durchweg die Thesen seiner Theologie, wofern sie nicht apodiktisch aus dem Lehrgehalt des Christentums entwickelt sind. […] Die Dichterschaft des Ohne Autorität Redens rückt ihn ins Bereich religionsphilosophischer Spekulationen, wie er sie an Hegel und Schelling bekämpft – von welchen sie freilich durch die Ironie einer Methode sich un-
Adorno ist sich dieser „astrologischen“ Herkunft des Ausdrucks wohl bewusst: GS 1, 335. Siehe hierzu den Abschnitt „Dämonie und Erratum: Kierkegaards Schriftstellerei als Imitatio Christi“ bei Mariele Nientied (2003, 311– 318).
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terscheidet, die nichts meint beweisen zu können als was ihr geheim als Glaube bereits innewohnt. Dichtung ist ihm das Mal des Trugs an aller Metaphysik im Angesicht der positiven Offenbarung. (GS 2, 12)
Das heißt, dass das Dichterische seiner Schriften zwar gewissermaßen in theologischer Intention konstruiert wird, insofern Adorno die Selbstzurücknahme Kierkegaards als eine bloß strategische versteht. Seine Dichtung aber arbeitet dieser Absicht zugleich entgegen und offenbart ihren idealistischen Charakter, der ihr als philosophischer Konstruktion zukommt – seiner „Endabsicht“ zum Trotz: „Kierkegaards fruchtloser Versuch, Dichter zu dichten, die autonom sich weiterbewegten, verwirrt Schöpfertum mit Künstlertum und stimmt besser zu seinen idealistischen Ursprüngen als zu seiner theologischen Endabsicht“ (GS 2, 20).
7.2 Sphärendialektik und Pseudokonkretion Was Adorno als Konstruktion in Kierkegaards (Früh‐)Werk versteht, lässt sich an der Sphärendialektik wohl am leichtesten nachvollziehen. Dabei ist die Konstruktion des Stadiums bzw. der „Haltung“ der ästhetischen Existenz als solche in seiner Kritik weniger zentral, als es Adorno zunächst behauptet. Es geht ihm vielmehr um die philosophische Gesamtkonstruktion, die „Logik der ‚Sphären‘“ (GS 2, 124– 150). Noch vor der Binnenstruktur der Werke, die die Sphärendialektik austragen, setzt Adorno bei deren Pseudonymität an, die er im Hinblick auf ihre Absicht durchdringt, das „philosophische Schema“, das sie zum Ausdruck bringen: „Kritik muss zuerst die Aussagen der Pseudonyme nach ihrer philosophischen Konstruktion verstehen“ (GS 2, 20). Diese Konstruktion sei eine von „abstrakt-repräsentierenden Figuren“ und „den konkreten Motiven gegenüberzustellen, die vom Rahmen der Pseudonymität eingefaßt werden“ (GS 2, 20). Er kritisiert also die sozusagen konstruktionsbedingte Abstraktion der „Einheit des philosophischen Oberflächenzusammenhangs“ die, so seine These, im Gegensatz steht zur Konkretion des Gehalts: „Was dann die Pseudonyme mehr sagen als das philosophische Schema ihnen zuteilt: ihr geheimer und konkreter Kern, fällt der Interpretation zu in der Wörtlichkeit der Mitteilung.“ (GS 2, 20). Freilich meldet sich hier wie erörtert die Frage an, ob nicht das gerade Kierkegaards Absicht war und die Selbstzurücknahme des Verfassers bei ihm eine solche ist, wie sie Adorno selbst ja rückblickend den Motiven des eigenen Erstlingswerks zugesteht: dass sie sich verselbständigen und (Deutungs‐) möglichkeiten bergen, die ihm selbst nicht offenbar sind (GS 2, 262). Ich meine, dass sich das gerade an Kierkegaards Selbstverständnis als Leser seiner Schriften bestätigt, die Adorno ja wohl bewusst war. Wenn es nun die durchgängige Doppelstrategie der Konstruktion des Ästhetischen ist, im Dienste einer Rettung⁶⁶ Kierkegaards die „Selbst-
Solche „rettende Kritik“ ist freilich nicht im Sinne Benjamins misszuverstehen. Gerade darin scheiden sich beide (vgl. BW 1, 336 – 337). Siehe hierzu: Kreuzer 2019b, 515 – 517.
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transzendierungen“⁶⁷ seiner Schriften und Konzepte zu berücksichtigen, dass also „Phänomene nicht mehr aus der formalen Systemeinheit als solcher deduzibel“ (GS 2, 147) sind, so ist das gewissermaßen – vom Ansatz her, nicht aber in der Durchführung – durchaus im Sinne des religiösen Schriftstellers. Diese Strategie führt Adorno auch an der Dialektik der Sphären oder Stadien vor: Transzendierend erst werden die Phänomene losgerissen von den Bedeutungen, die ihnen die Sphärenlogik als Schema autonomer Bewegung zuerteilte; werden inkommensurabel und konkret. Solche Konkretion ihnen zu verwehren war aber das oberste Anliegen der ‚Ethik‘ des Allgemeinen wie des sphärenlogischen Systems: ‚Ich sitze da und beschneide mich selbst, nehme all das Inkommensurable weg, um kommensurabel zu werden.‘ So zerfällt endlich das Sphärensystem über der Frage nach der Konkretion, die es im Ursprung der Hegelschen systematischen Allgemeinheit kontrastierte. Labyrinthisch verschlungen, läßt die Sphärendialektik dem Eintritt von Konkretion in ihren intermittierenden Zäsuren, in den Lichtschächten konkreter Erhellung je und je Raum.⁶⁸
Adorno versteht eine solche Dialektik zunächst also als Gegenentwurf zur spekulativen, und zwar indem sie deren Begriff des Allgemeinen ein ihm Inkommensurables, die menschliche Existenz als konkrete, entgegenhält. Daraus zieht Kierkegaard wie erörtert die radikale Konsequenz, dass sie auch der Darstellung inkommensurabel und nur indirekt mitzuteilen ist. Dagegen behauptet Adorno aber an früherer Stelle eine Verwandtschaft der „Stadien, dialektischen Stufen des Daseinsprozesses […] mit der hegelschen Systematik“ (GS 2, 126). Das kann jedoch zweierlei bedeuten. Wo die Aussage das dialektische Verhältnis der Stadien zueinander meint – so liest sich das ja zunächst – ist sie unzutreffend, was nach dem bisher Gesagten kaum einer weiteren Begründung bedarf. Kierkegaard selbst hat schließlich schon den Titel von Entweder/Oder als „indirekte Polemik […] gegen die Spekulation“ (AUN I, 146 / SKS 7, 229) verstanden. Recht hat Adorno allerdings – und darum geht es ihm im Folgenden vorrangig – dass er „bis in die Sprachform Hegel festhält“ (GS 2, 127) und die Binnenlogik der einzelnen Stücke seiner Dialektik folgt. Er demonstriert das überzeugend sowohl an den „unmittelbaren erotischen Stadien“ und dem „Tagebuch des Verführers“ im ersten Teil von Entweder/Oder, wie auch an den Ausführungen über die „aesthetische Giltigkeit der Ehe“ aus dem zweiten. Jon Stewart (2003, 225 – 237) argumentiert hier ganz ähnlich und bezieht sich dabei ebenfalls insbesondere auf jenes letztgenannte Kapitel aus Kierkegaards Erstlingswerk. Er führt aber auch vor, wie sehr die Ästhetik des Dänen von Hegel geprägt ist – und gerade das hat, wie sich zeigen wird, Adorno bereits erkannt.
Theunissen 1996, v. a. 71– 72. Vgl. den Abschnitt 3.3 des zweiten Kapitels der vorliegenden Arbeit. GS 2, 149. Dass Adorno hier gerade aus einem Brief des „jungen Menschen“ aus der Wiederholung zitiert (vgl. W, 83 – 84 / SKS 4, 81– 82) illustriert zwar, worum es ihm geht, ist aber im Hinblick auf Kierkegaards „Sphärendialektik“ nicht besonders erhellend. Kommensurabel zu werden bezeichnet hier den scheiternden Versuch, sich „zum Ehemann zu bilden“, also den Konventionen zu entsprechen. Er vergleicht es der täglichen Rasur. Am nächsten Morgen ist das Barthaar wieder so lang wie zuvor. Vielmehr ist das hier m. E. ein Beispiel dafür, dass Kierkegaards Bilder auch in seinem Sinne oft ganz für sich selbst sprechen und nicht erst, wie Adorno meint, bei ihrer verräterischen Wörtlichkeit zu nehmen sind.
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Dass er ihn auch hinsichtlich des „Sphärensystems“ beerbt, hat für Adorno näher betrachtet weniger damit zu tun, dass dort ebenfalls eine spekulative Begriffsentwicklung nachzuweisen sei. Es ist vielmehr die konstruktive Abgeschlossenheit der Sphären selbst, die er nun auch dafür verantwortlich macht, dass Kierkegaard die Konkretion verfehlt, die er zu Recht gegen Hegel einklagt. Erst in den Brüchen, vor allem aber den Räumen zwischen ihnen werde diese Konkretion erreicht. Bemerkenswert ist das deshalb, weil Adorno sich Kierkegaards Konzept einer qualitativen Dialektik, die er vor allem als „intermittierende“ bezeichnet (GS 2, 142– 145), und seine Kritik an der quantitativen Hegels selbst zu eigen macht. Intermittenz bezeichnet hier den Umstand, dass es zwischen den Sphären bei Kierkegaard keine Vermittlung im hegelschen Sinne gibt,⁶⁹ ja eigentlich überhaupt keinen Übergang, sondern „Umschlag“ und „Diskontinuität“: „Der ‚Sprung‘ als Bewegung ist keiner sphären-immanenten mehr kommensurabel“ (GS 2, 142). Nun sind es aber eben die von Kierkegaard ausgeschlossenen Übergänge zwischen den Sphären, die nach Adorno seine Sphärendialektik retten – „so kommt gerade Hegelsche Mediation Kierkegaards Bemühung ums unterschieden Konkrete zuhilfe“ (GS 2, 142). Er spielt also beide gegeneinander aus. Die Pseudokonkretion, die Adorno Kierkegaards Sphärendialektik in der einen oder anderen Weise unterstellt, ist ein Generalvorwurf an die Adresse der Existenzphilosophie und Phänomenologie überhaupt. Er bildet daher auch den roten Faden der Arbeit Gordons, die dieses Verhältnis ja in seiner ganzen Breite in den Blick nimmt. Die Kritik gilt dem idealistisch-konstruktiven der (vermeintlichen) Konkretion im Existenzbegriff oder den „Sachen selbst“ – und konvergiert also fast mit dem Vorwurf des Kryptoidealismus (Gordon 2016, 46). Dabei geht es Adorno aber vor allem um eine ganz bestimmte Konkretion, die Hegel ihm voraushat. Kierkegaard habe „die historische Konkretion – die einzig echte – verfehlt, ins blinde Selbst gezogen, in die leeren Sphären verflüchtigt“ (GS 2, 133). Konkret wird eine Theorie also durch den geschichtlichen Erfahrungsgehalt, der sich keiner vorgängigen Konstruktion fügt.⁷⁰ Und das muss sich in anderer Weise auch Hegel vorhalten lassen.
Adorno stellt aber nicht zu Unrecht verschiedentlich fest, dass es sich bei Kierkegaards Einspruch gegen „Mediation“, wie dieser bevorzugt sagt, um ein plattes Missverständnis handle: „Kierkegaard jedoch verkannte simpel die Hegelsche Vermittlung als ein Mittleres zwischen den Begriffen, einen moderantistischen Kompromiß. Denkbar, daß er unter dem Einfluß Trendelenburgs den Aristotelischen Begriff der rechten Mitte, der μεσότης in Hegel hineinlas“ (GS 2, 247). Ähnlich auch in seiner Hegelstudie „Aspekte“, wo er vom „verhängnisvollste[n] Mißverständnis seit Kierkegaard“ spricht: „die Vermittlung ereignet sich durch die Extreme hindurch in ihnen selber; das ist der radikale, mit allem Moderantismus unvereinbare Aspekt Hegels“ (GS 5, 257). Entsprechend betitelt Karin Pulmer ihre Untersuchung von 1982: Die dementierte Alternative: Gesellschaft und Geschichte in der ästhetischen Konstruktion von Kierkegaards ‚Entweder-Oder‘.
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7.3 Mitteilungsgehalt und ästhetische Darstellung bei Kierkegaard und Adorno Es ist weniger der erörterte strategische Betrug an den Lesenden, der Adorno nötigt, sich von Kierkegaards Verfahren indirekter Mitteilung zu distanzieren. Den eigentlichen Betrug begeht Kierkegaard aus seiner Sicht am Ästhetischen. Er besteht in der Entwertung der Eigengesetzlichkeit des in ästhetischer Verschlüsselung mitgeteilten: „das Gesetz, das dem Gebilde selbst innewohnt, ist durch Mitteilung entwertet“ (GS 2, 190 – 191). Denn wenngleich das zunächst Mitgeteilte zurückgenommen wird, und das, worauf die Mitteilung zielt, das prinzipiell nicht Mitteilbare ist, eben die singuläre Existenz, die Innerlichkeit, so wird ja doch etwas mitgeteilt. Es ist die „Wörtlichkeit“, der Adorno entgegen der Absicht Kierkegaards eine Eigenständigkeit einräumt. Um nun diese doppelte Reflexion im Mitgeteilten zu spiegeln, muss sie „sich auch in der Form der Mitteilung äußern, d. h., der subjektive Denker muß sofort darauf aufmerksam werden, daß die Form künstlerisch ebensoviel Reflexion enthalten muß, wie er selbst existierend in seinem Denken davon hat“ (AUN I, 65 – 66 / SKS 7, 74). Adorno gibt die Passage ausführlich wieder (GS 2, 25). An diesem Aspekt der Doppelreflexion, dass die Form „künstlerisch“ wird, entzündet sich seine Kritik an Kierkegaards Konstruktion des Ästhetischen. Dass sich in ihr der subjektive Denker in der Form reflektiert, widerspricht aus seiner Sicht bereits der behaupteten Selbstzurücknahme: „Es hat also die Interpretation des pseudonymen Kierkegaard die flüchtig vorgetäuschte dichterische Einheit in die Polarität seiner eigenen spekulativen Intention und der verräterischen Wörtlichkeit zu zerlegen“ (GS 2, 21). An diesen beiden Polen, seiner als idealistisch gedeuteten Absicht und unbeabsichtigten Beredsamkeit, orientiert sich Adornos Kritik durchgängig. Damit verschwindet nun in anderer Weise der Mitteilende im Mitgeteilten. Benjamin (1972b, 383) hat das in seiner Rezension treffend beschrieben, wenn er meint, dass Adorno „die Schablonen der Kierkegaardschen Philosophie mißachtend, in deren unauffälligsten Relikten, den Bildern, Gleichnissen, Allegorien den Schlüssel sucht. Es ist die aus chinesischen Märchen überlieferte Bewegung eines Verschwindens (des Malers) in dem (selbstgemalten) Bilde, das er als letztes Wort dieser Philosophie erkennt“. Die Frage, ob nicht auch Kierkegaard selbst diese „unfreiwillige Offenbarung“ (BA, 151 / SKS 4, 430) bewusst inszeniert, den Figuren seiner Werke einschreibt, ist aber berechtigt und im Hinblick auf den Einzelfall je zu prüfen. Es handelt sich dabei schließlich um ein Gestaltungsprinzip, das die pseudonyme Darstellungsweise prägt bzw. überhaupt erst motiviert. So meint Mariele Nientied (2003, 355): „Das für das Dämonische charakteristische unfreiwillige Offenbarwerden passiert den pseudonymen Autoren, es ist nur gespielt und effektiver Bestandteil der Stilisierungen.“ Es ist jedenfalls nicht ohne Ironie, dass Adorno die Pseudonymität der Schriften Kierkegaards aus demselben Grund ignoriert, aus dem jener sie überhaupt einsetzt. Allerdings ist die subjektive Inszenierung einer verräterischen Wörtlichkeit eben etwas anderes als eine, die gewissermaßen objektiv in der Eigengesetzlichkeit des Sprachkunstwerks gründet – Adorno denkt das Problem hier wie gesagt durchaus schon von der Ästhetik her. Grundsätzlicher noch lässt sich aber die Frage stellen, ob besagte Zurücknahme des Mitteilenden und des Mitgeteilten in indirekter Rede nicht überhaupt Kommunikation
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unmöglich machen müsste, würde sie konsequent durchgeführt. Mariele Nientied versucht eben das in ihrer Untersuchung, die stellenweise auch an Adornos Deutung anknüpft, zu zeigen: [D]aß sich das Kierkegaardsche Programm der ‚indirekten Mitteilung‘ als paradoxale Konstellation herausstellt, die dem performativen Widerspruch einer sich selbst abschaffenden Mitteilung ausgesetzt ist: Einerseits geht es um die Propaganda einer religiösen Botschaft als verbindlich für jeden Menschen, andererseits ist genau das eine höchstpersönliche Angelegenheit, die sich allen Äußerungsformen mit kriterieller Ausweisbarkeit und intersubjektiver Kenntlichkeit entzieht. (Nientied 2003, 2– 3)
Das hat seinen Grund eben im Ausgang von einer „vollkommen unkenntlichen ‚verborgenen Innerlichkeit‘, die sich nie zuverlässig äußert“ (Nientied 2003, 7) und letztlich jegliche Art von Kommunikation ad absurdum führe. Denn aus ihr resultiert eine unerreichbare Alterität der Adressierten, die den Autor dazu nötigt, sich selbst als Mitteilenden ebenso wie seine Botschaft in einem Maße zurückzunehmen, dass sie zu einer umfassenden Indifferenz bloßer Enthaltung tendieren müsste. Das ist nicht Kierkegaards Absicht. Nientied (2003, 12) führt vor, wie sich als Korrektiv dazu bereits in seinen pseudonymen Schriften „das religiöse Anliegen textuell zeigt und zu vereindeutigenden Maßnahmen führt“. Damit bleibt er ihr zufolge in einer Ambivalenz, die sein Projekt gerade deshalb rettet, weil es sich nicht zu einem stimmigen Gesamtzusammenhang fügt, also weder zu einer ästhetisch noch theoretisch bzw. theologisch konsequenten Durchführung gerät. Das gilt für das frühe ebenso wie das späte Werk. Auch Adorno findet diese Brüche nicht nur etwa im ersten Teil von Entweder/Oder, sondern, unter anderen Vorzeichen sozusagen, auch in der Einübung im Christentum und den erbaulichen Reden beider Schaffensphasen. Erst die jüngere Kierkegaardforschung⁷¹ hat jedoch erkannt, dass selbst den literarästhetisch weniger anspruchsvollen und vermeintlich direkt argumentierenden Texten eine doppelte Reflektiertheit und Ironie zu eigen ist, „daß die erbaulichen Reden eine eigene Art der Indirektheit aufweisen, die einerseits in Kontinuität mit den anderen Texten steht, aber andererseits die Indirektheit auf die Spitze treibt und ad absurdum führt, weil sie mit (fremder) Explizitheit ineinsfällt“ (Nientied 2003, 63). Das Künstlerische versteht Adorno als Konsequenz der Position des subjektiven Denkers, die Kierkegaard gegen die Vereinnahmung durch die spekulative Systemphilosophie setzt: Danach heißt ästhetisch geradewegs die Weise, nach der die Innerlichkeit als Wie der subjektiven Mitteilung in Erscheinung tritt, weil sie nach seiner Lehre nicht ‚objektiv‘ werden kann: ‚Überall, wo beim Erkennen das Subjektive von Wichtigkeit, die Aneignung also die Hauptsache ist, da ist die Mitteilung ein Kunstwerk‘, oder kurz: ‚je mehr Kunst, desto mehr Innerlichkeit‘. – Kierkegaards Kategorie des Ästhetischen umgreift die disparaten Verwendungsweisen.⁷²
Nientied führt als Beispiele George Pattison (1993 u. 1996) und Michael Strawser (1995) an. GS 2, 26. Er zitiert hier aus dem ersten Teil der Nachschrift: AUN I, 71 bzw. 69 / SKS 7, 79 bzw. 78.
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Sie tut das, indem sie je „eine Stellung des Gedankens zur Objektivität“ ausdrückt und insofern, wie Adorno auch sagt, eine Kategorie der Erkenntnis ist. Das bedingt aber wiederum das Verhältnis der Philosophie zur Dichtung, also zum Ästhetischen im engeren Sinne. Die Frage, wie sich ihr Bedeutungs- oder Wahrheitsgehalts zur künstlerischen Darstellung verhält, ist bekanntlich so alt wie die abendländische Philosophie selbst. So beginnt das Kierkegaardbuch direkt mit der Feststellung: Wann immer man die Schriften von Philosophen als Dichtungen zu begreifen trachtet, hat man ihren Wahrheitsgehalt verfehlt. Das Formgesetz der Philosophie fordert die Interpretation des Wirklichen im stimmigen Zusammenhang der Begriffe. Weder die Kundgabe der Subjektivität des Denkenden noch die pure Geschlossenheit des Gebildes in sich selber entscheiden über dessen Charakter als Philosophie, sondern erst: ob Wirkliches in die Begriffe einging, in ihnen sich ausweist und sie einsichtig begründet. Dem widerspricht die Auffassung von Philosophie als Dichtung. (GS 2, 9)
Damit verortet Adorno sich selbst vorweg bereits jenseits der spekulativen Systemphilosophie und ihrer kierkegaardschen Antithese – allerdings nicht, ohne beide sogleich zu verteidigen gegen ihre Abwertung als dichterisch durch ein reduktionistisches Wissenschaftsideal. Vielmehr knüpft er selbst an die hegelsche Konzeption der Philosophie als Wissenschaft an, die ihm als Folie der Kritik an Kierkegaard dient. Zwar bezeichnet er ihn hier ausdrücklich als Erben seiner Dialektik, aber ausgerechnet die Verabschiedung des hegelschen Begriffs der Totalität – die doch Adorno gerade mit ihm verbindet – durch den subjektiven Denker soll ihm nun „den fragwürdigen Ruf des Dichterischen“ (GS 2, 10) einbringen. Das steht in merkwürdigem Kontrast zur Kritik an der Gesamtkonstruktion der Sphären bei Kierkegaard, deren Wahrheit ihm zufolge durchs Fragmentarische gerade gerettet wird. Verständlich wird das erst vor dem Hintergrund seines eigenen, kritisch-hermeneutischen Begriffs von Totalität, den es im fünften Kapitel zu erörtern gilt. Für ihn steht gerade das Wort der Konstruktion als Antizipation eines sich entziehenden Ganzen ein. Dennoch – und obwohl Adorno wie gesagt solche Konstruktion gerade in Analogie zur musikalischen Komposition versteht – wird das Dichterische von Philosophie konsequent geschieden. Ihr Verhältnis zur Kunst denkt er hier wie später als komplementäres. Weder soll Philosophie das Künstlerische für sich einspannen, noch soll sie von diesem korrumpiert werden: „Selbst mit Hinblick auf eine endliche Konvergenz von Kunst und Philosophie wäre alle Ästhetisierung des philosophischen Verfahrens abzuwehren. Je reiner vielmehr die philosophische Form als solche auskristallisiert ist, je härter sie alle Metaphorik ausschließt, die sie äußerlich der Kunst annäherte, desto besser vermag sie kraft ihres Formgesetzes künstlerisch zu bestehen.“ (GS 2, 23 – 24) Sie gleichen sich also in der Autonomie ihrer Form. Allerdings hat man gerade eine solche Ästhetisierung der Philosophie Adorno wiederholt zum Vorwurf gemacht.⁷³ Das heißt freilich nicht, dass er das Ästhetische darin in den Dienst einer ihm fremden Absicht
Einen Überblick dazu gibt Scholze (2000, 290).
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stellen würde und insofern unter der Oberfläche die Differenz festhält – was er ja von Kierkegaard behauptet –, sondern dass es zu einer Konvergenz von Kunst und Philosophie kommt, die nicht nur die Darstellung betrifft und jene Komplementarität aufzuheben droht. Die Form der Auseinandersetzung mit Kierkegaard, der das Metaphorische und Allegorische geradezu wesentlich ist, steht jedenfalls in einer Weise jener Bestimmung zu Beginn des Buchs entgegen, dass man von einem performativen Selbstwiderspruch sprechen muss. Er gleicht jenem, den Adorno (GS 2, 12) an Kierkegaard aufzuzeigen meint: „[I]ch bin kein Dichter und gehe rein dialektisch zu Werk“ (FZ, 101 / SKS 4, 180). Schließlich bedient er sich im selben Satz, in dem er für einen Ausschluss der Metaphorik plädiert, ausgerechnet einer Kristallmetapher. Für die Konstruktion des Ästhetischen ist nicht zuletzt das Ästhetische an Adornos eigener Methode charakteristisch: Er nähert sich noch den tiefsten Schichten kierkegaardschen Denkens in Bildern, Metaphern, Allegorien, Topographien oder Architekturen. Und das ist eben auch dem eigentümlich ästhetischen Charakter von Kierkegaards Schriften selbst geschuldet. Adorno vergleicht sie nicht selten einer weniger musikalischen, als vielmehr bildlichen oder plastischen Komposition – und gleicht sich ihnen fast schon an. Das zeigt sich etwa an seiner Beschreibung des „Gefüge[s] der Sphären“, wenn er zur „Lehre von den ‚Confinien‘“ meint: „Diese ist durchgebildet in einem System von allegorischen Gleichnissen. Eingegrenzt wird das Sphärensystem von unerreichbarer Objektivität: seitlich der kontingenten Dingwelt, an den vertikalen Gegenpunkten von Ewigkeit und Verdammnis. Dazwischen schichtet sich das subjektive Dasein“ (GS 2, 136). Es handelt sich hier jedenfalls um eine wechselseitige Entsprechung der Verfahrensweise beider, die Kierkegaards Einfluss bezeugt – aber freilich über Benjamin vermittelt ist. Auch Simonis (2000, 554) spricht von einem Widerspruch „zwischen der eher abschätzig behandelten literarästhetischen Durchformung von Kierkegaards Werken und der extensiven Nutzung ganz ähnlicher rhetorischer Strategien“. Dabei stellt sie im Fortgang des Kierkegaardbuchs eine „Wende und grundlegende[n] Revision jener Ausgangsthese, welche noch die kategoriale, erkenntnislogisch begründete Kluft zwischen Philosophie und ästhetisch-fiktionaler Schreibweise behauptete“ (Simonis 2000, 555) fest: „So wird noch in Adornos Frühschrift die Abwertung des ästhetischen Moments und, damit verbunden, des Scheincharakters der Werke schrittweise wieder zurückgenommen, ja schließlich sogar in eine ebenso gewagte wie ungewöhnliche Apotheose des ästhetischen Scheins und des Rätsels verkehrt“ (Simonis 2000, 555 – 556). Allerdings ist es Adornos Strategie, die ästhetische Schicht in Kierkegaards Werken in ihrer Eigengesetzlichkeit ernstzunehmen und damit wider dessen Absicht bzw. philosophische Konstruktion zu verstehen. Daher baut sie doch auf jener Ausgangsthese von der Trennung der Bereiche auf, die wie gesagt auf das genuine Recht beider abzielt. So wird auch die Metapher in dieser Perspektive ihrer Verweisfunktion entbunden, was natürlich nicht heißt, dass sie in einer direkten, nicht übertragenen Bedeutung genommen werden sollte. Es wäre schließlich absurd, die Forderung, ihn beim Wort zunehmen, so zu verstehen, als ginge es etwa in einer von Kierkegaard geschilderten Szene aus einem Märchen tatsächlich um die darin beschriebene Handlung. Vielmehr soll ein
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Bild – wie das des Kobolds, der in einem Spalt verschwindet, das für die sich verbergende, vergeistigte Verzweiflung steht – vertikal auf ihre tieferliegenden Motive, hier die „mythisch-leibhaft[en]“, durchdrungen werden.⁷⁴ Dazu müssen die Metaphern jedoch zuerst einmal aus dem horizontalen Verweisungszusammenhang der Konstruktion „dichterische[r] Einheit“ gelöst werden: „Das exegetische Verfahren hat gegenüber dem Exegetiker Kierkegaard vorab an der Metaphorik sich zu betätigen. Während die von Kierkegaard metaphorisch gemeinten Gegenstände durch die Logik seiner ‚Sphären‘ klarzustellen sind, kommt den wörtlichen Metaphern Selbständigkeit zu.“ (GS 2, 21) Darüber hinaus ist das Literarisch-Ästhetische, Metaphorische in Adornos eigener Darstellung für sich genommen ohnehin ein Oberflächenphänomen. Interessanter ist die Erkenntnisfunktion, die er sprachlichen Bildern zugesteht. Sie sind darin weit mehr als bloß rhetorische Figuren. Das gilt insbesondere für die Allegorie, die nicht einfach als erweiterte Metapher zu verstehen ist. Wenngleich er Kierkegaards sprachlichen Bildern mitunter „allegorische Starrheit“ vorhält, so bezieht er sich doch affirmativ auf seine „allegorische[r] Intention“ (GS 2, 80)⁷⁵, erst recht, wo sie dessen idealistisch-philosophischer Konstruktion zuwiderläuft. Im Ursprung des deutschen Trauerspiels, dem Adorno wie gesagt vieles verdankt, ist die Allegorie gerade nicht als bloß ästhetisches Verfahren der Philosophie äußerlich. Es geht Benjamin (1974, 366) vielmehr ebenso um die „philosophische Erkenntnis der Allegorie“ wie die Allegorie als Erkenntnismethode der Philosophie. Damit ist sie aber nicht mehr nur eine Fortsetzung der Metapher mit anderen Mitteln. Sie wird selbst zu einer dialektischen Figur, die auf das in Adornos Erstlingswerk zentrale Konzept des dialektischen Bildes vorausweist. Nicht zuletzt daran wird deutlich, dass seine Abwehr des Missverständnisses, Philosophie als Dichtung zu begreifen, gerade darauf abzielt, eine vorgängige Trennung der Bereiche des (Literar‐) Ästhetischen und des Philosophischen infrage zu stellen, wie Geoffrey Hale (2002, 39) betont: „Adorno does not intend to establish an absolute distinction […], one that would allow the true assessment of their respective purposes, functions, uses, meanings, and so on […]. There is no point at which one would be able to delimit and know a work’s philosophical intentions, beyond which its expressions would be free of any adherence to
GS 2, 22; vgl. KT, 84 / SKS 11, 186 – dort ist der Kobold ein Troll. Solche Stellen zitiert Adorno mit Vorliebe. Es ist ohnehin auffällig, wie oft sich bei ihm nicht nur Exkurse zur antiken Mythologie, sondern auch zur Welt der Märchen und (Volks‐)Sagen finden. So verdeutlicht er in einer Schlüsselstelle der Negativen Dialektik noch den Gedanken – den er nicht zuletzt Kierkegaard verdankt –, dass immanente Dialektik eines Anstoßes von außen bedarf, an Hauffs Zwerg Nase (GS 6, 183 – 184). Das muss man schon eine Idiosynkrasie nennen. Mir ist jedoch nur eine Arbeit bekannt, die das bisher eigens zum Thema gemacht hat (Mengaldo 2012). Derartige Eigentümlichkeiten hebt nun Adorno wiederholt auch an Kierkegaard hervor, etwa wenn von Bergtrollen – hier bezogen auf ein Stück von Heiberg – die Rede ist (GS 2, 254– 255). Er kommentiert dazu: „Dagegen, gegen die eigene Mythologie, war er mythisch verblendet. […] Er hat zu den Erdgeistern sich gesellt, deren Stimme den Nachlebenden zum Sturz in den Abgrund verlockt. Kierkegaards unwiderstehliche Stimme äfft den, er [sic] ihm sich anvertraut: er wußte, warum er keine Nachfolger wollte.“ Vgl. auch GS 2, 15.
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philosophical rigor.“ Das bedeutet ebenso eine Entgrenzung des Ästhetischen. Es ist nicht – was er Kierkegaard vorhält (GS 2, 36) – als Schicht vom Gehalt abzulösen.
7.4 Kierkegaards explizite Ästhetik Kunsttheoretische Überlegungen finden sich bei Kierkegaard vor allem im ersten Band von Entweder/Oder. Bei dieser „expliziten Ästhetik“ setzt auch Adorno an, stellt aber sogleich fest, in der Ganzheit seines Denkens stehe sie isoliert: „Vom echten Kierkegaard distanziert sie sich bereits durch die Neutralität, mit der sie der Kunst und deren Forderungen zuschaut, ohne nach ihrem gründenden Recht die Frage nur ernstlich zu stellen“ (GS 2, 26). Dem schwer zu entwirrenden Ineinander pseudonymer Herausgeberund Verfasserschaft zum Trotz, spricht durch den Ästhetiker „A“ eben auch Kierkegaard: „Im ersten Band von ‚Entweder/Oder‘ ist die pseudonyme Maske allein schmale Larve, die nirgends die Züge teils naiv-ästhetischer Spekulation, teils positiv christlicher Lehrmeinung zureichend verdeckt“ (GS 2, 26 – 27).⁷⁶ Schließlich nennt er „A“ den „offiziellen Repräsentanten der Kierkegaardschen Ästhetik“ (GS 2, 27). Seine Person scheint besonders deutlich in den Ausführungen zu Mozarts Don Giovanni im umfangreichen Essay „Das Musikalisch-Erotische“ durch (EO I, 47– 145 / SKS 2, 53 – 136). Die ambivalente Begeisterung Kierkegaards für den Komponisten und insbesondere diese Oper ist wahrlich kein Geheimnis. So wird ihm das Werk auch zum Fluch, es habe ihn diabolisch ergriffen, meint er 1839. Garff (2005, 159) zeichnet in seiner Biographie diese Beziehung nicht nur nach, sondern bemerkt auch – hier ist er ganz bei Adorno –, Kierkegaard imitiere die Musik sprachlich so genial, dass der Don Juan aus der Rhetorik herauszuhören sei. Mag die Auseinandersetzung mit der Ästhetik im engeren Sinne, also als Kunstlehre, im Gesamtwerk auch randständig sein, so ist sie doch für Adorno philosophisch keineswegs von marginaler Bedeutung. Davon zeugt bereits die Heftigkeit seiner Polemik gegen Kierkegaards Kunst- und insbesondere sein Musikverständnis, worauf auch Gordon hinweist: „Indeed, it is worth noting that only once in the book does Adorno betray overt disdain for Kierkegaard; this is when he pauses to write that the religious philosopher’s opinions about music were ‚absurd‘ and that the Dane would have been incapable of appreciating ‚a single phrase of Beethoven‘“ (Gordon 2016, 21). Er habe daran persönlich Anstoß („personal umbrage“) genommen. Das ist der Sache nach nicht falsch, die von ihm unter anderem herangezogene Stelle meint aber geradezu das Gegenteil. Adorno unterscheidet dort zwischen Kierkegaards musikalischer Intuition, die er in den höchsten Tönen preist – also jenes Einfühlungsvermögen, das auch Garff hervorhebt – und seiner musikästhetischen Theorie, für die er tatsächlich nur Ver-
Er schließt sich hier Schrempfs Urteil an, „dieser frivole Mensch [A] denke eigentlich merkwürdig christlich“ – im Nachwort zu seiner Übersetzung von Entweder/Oder 1911/1913 (Gesammelte Werke, Bd. 2, 319).
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achtung hat.⁷⁷ Es handelt sich dabei um eine Variante der Grundthese von den „Selbsttranszendierungen“ in seinem Werk, dass also konkrete Einzelmomente und -erfahrungen in Widerspruch zum Ganzen seines (idealistischen) Entwurfs treten. Die Ausführungen zur expliziten Ästhetik Kierkegaards sind auch deshalb nur vermeintlich marginal, weil Adorno sie als Ausdruck der idealistischen Grundkonstellation von Subjekt und Objekt deutet, bzw. als Zeichen von deren Entfremdung. Sie gibt ja ohnehin der thematischen Vielgestaltigkeit des Buchs ihren Zusammenhang. Zum Vorwurf macht er Kierkegaard – hierin sieht er einen Widerspruch zu den künstlerischen Vorbildern, auf die er bezogen ist –, dass er durch seinen rigiden Dualismus von Inhalt und Form „als ästhetischer Theoretiker […] oft genug einen reaktionären Klassizismus“ (GS 2, 13) vertrete.⁷⁸ Dabei ist bemerkenswert, dass die in seinem Erstlingswerk entfaltete Konstellation ohne wesentliche Korrekturen in der Ästhetischen Theorie wiederkehrt, wo von der „Hegelschen und Kierkegaardschen Inhaltsästhetik“ (GS 7, 18) die Rede ist. Tatsächlich spielt der Ästhetiker A in der Einleitung zum Don-Juan-Essay explizit das Gewicht, dass der „Bedeutung des Stoffes“ (EO I, 52 / SKS 2, 58) in ästhetischer Hinsicht bei Hegel zukommt, gegen die „formal-ästhetische Tradition“ (GS 2, 28) aus – eine Position, die Adorno, aus den genannten Gründen, Kierkegaard selbst zuschreibt. Das Problem ist nun nicht die Inhaltsästhetik selbst, sondern dass die Korrektur des Formalismus nur scheinbar gelinge. Kierkegaard halte den Dualismus von Inhalt und Form undialektisch fest, sehe von ihrem „wechselfältige[n] Durch-einanderproduziert-Sein“ (GS 2, 28) ab. Dadurch setze sich, zumindest in der Theorie, notwendig der Vorrang des Formalprinzips durch. Zurückzuführen ist das letztlich auf das außerästhetische Selektionsprinzip konstituierender Subjektivität selbst. Inwiefern bei Kierkegaard Ästhetik als Theorie mit dem Verständnis des Ästhetischen als Stadium oder Sphäre konvergiert, also die erste mit der zweiten von Adorno angeführten Bedeutung, bedarf daher kaum noch einer Erklärung. Die Kunstlehre transzendiere eben zur „ästhetischen Haltung“. Die starre Divergenz der Formen und Inhalte wird allein vom Primat der Form gemeistert, und er ist es, der das anerkannte Eigenrecht der Inhalte sogleich wieder bricht. Und zwar durch ein Prinzip der Auswahl. Kierkegaard unterscheidet zwischen ästhetischen und nicht-ästhetischen Inhalten. Das nimmt den Inhalten alle spezifische Substanz: in der Auswahl wird Subjektivität zum herrschenden Moment bereits mit der Prädisposition des Materials, und es entfallen die Inhalte, die dagegen ihren eigenen Anspruch erheben würden. Trotz des vorgeblich dialektischen Verfahrens begibt damit Kierkegaard in Wahrheit hinter Kant und Schiller sich zurück. Unter deren unge-
GS 2, 36: „Der gleiche Kierkegaard, der oft genug im Bilde Mozarts die Konturen der kommenden Geschichte von Musik zu gewahren scheint; der aus dem Don Giovanni die Dämonie der bloßen Naturmacht heraushörte, wie sie erst bei Wagner musikalisch frei ward, und die Opera buffa nach einem romantisch-hermeneutischen Schema auslegte, das nach ihm sich erfüllte – der gleiche Kierkegaard hätte nach der Doktrin seiner Musikästhetik keinen Satz Beethovens billigen dürfen. Seine musikalischen Intuitionen, wie die Beschreibung der Don Juan-Ouverture, die allein in Nietzsches Sätzen über das Meistersinger-Vorspiel ihr Seitenstück fand, wurden ihm der eigenen Theorie zum Trotz gegeben.“ Er bemerkt dazu, dass diesen „reaktionären Klassizismus“ auch „seine eigenen literarischen Unternehmungen selbst hinter sich gelassen haben“.
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schmälertem Formalprinzip nämlich können der Möglichkeit nach alle Gegenstände solche der Kunst werden, wofern nur Form sie durchdringt; und so wenig das Formalprinzip ihre eigene Substanz zu erwecken vermag, so wenig doch verbaut es ihr dafür den Zugang. Das macht verstehen, warum bei Hebbel, Flaubert, Ibsen unter der Hülle des Formalprinzips realistische Motive durchbrechen durften. (GS 2, 29)
Die Konsequenz ist also eine Einengung dessen, was der Kunst überhaupt zum Gegenstand werden kann. Sie verwehrt Kierkegaard die Einsicht in das, was der „beginnende[n] Realismus der vierziger Jahre“ in sich aufnimmt und nach Adorno seinerzeit am dringlichsten der künstlerischen Bearbeitung bedarf: „gesellschaftliche[n] Erfahrung“ (GS 2, 29). Auch bringt sie ihn – was zu Kierkegaard so gar nicht passen will – um die Möglichkeit psychologischer Analyse mittels der Kunst. Jenseits von Armut, Krankheit, Leid und Hässlichkeit – die von Adorno angeführten Passagen sind hier tatsächlich nicht misszuverstehen – wird Kunst zu dem, was sie einem überkommenen Vorurteil nach sein soll: eine bloße „Lehre vom Schönen“ (GS 2, 26). Dennoch nimmt sich Adornos Verteidigung des aufkommenden Realismus gegen Kierkegaard vor dem Hintergrund seiner eigenen Autonomieästhetik, selbst in dieser frühen Phase, merkwürdig aus – gerade wenn er dabei aus der Nachschrift zitiert: „Die Poesie macht einen Versuch nach dem anderen, als Wirklichkeit zu wirken, was ganz und gar unpoetisch ist“ (AUN II, 20 / SKS 7, 290). Der Widerspruch ist jedoch nur ein vordergründiger. Einerseits gelten Adornos Analysen hier einer spezifischen historischen Konstellation, ist doch vermeintlich zeitloser Kunst stets ein Zeitkern zu eigen. Das spricht er auch in seinem Erstlingswerk deutlich aus.⁷⁹ Andererseits ist die ästhetische Autonomie, die Kierkegaard beschreibt, eine der inhaltlichen Bestimmung, die nicht der Eigengesetzlichkeit des Kunstwerks, sondern vielmehr der autonomer Subjektivität entspringt. Unschwer lässt sich hier die zuvor umrissene Dialektik des Nominalismus erkennen: „Die ästhetischen Ideen sind ihm universalia post rem, gewonnen durch Ausscheidung der historisch-spezifischen Elemente. Damit verfängt seine Ästhetik sich in einem Nominalismus, der ihr schließlich den Gegenstand raubt“ (GS 2, 34). Hegelisch ist seine Kunstlehre, aller Berufung auf dessen Inhaltsästhetik zum Trotz, auch deshalb nur bedingt. Vielmehr lese er aus ihm Thesen des achtzehnten Jahrhunderts heraus, eben einen „reaktionären Klassizismus“: „Mit der Gleichsetzung von ‚Stoff‘ und ‚Idee‘ zitiert er eine natürlich-rationale, vordialektische Ontologie der Künste“ (GS 2, 31).⁸⁰ Hier, im
GS 2, 34: „Nicht was abstrahierend der Zeit entzogen ist, dauert wahrhaft in Kunstwerken – in seiner Leere verfällt es ihr am ehesten. Es behaupten sich die Motive, deren verborgene Ewigkeit am tiefsten der Konstellation des Zeitlichen eingesenkt, am treuesten in deren Chiffren bewahrt ist.“ Im Aphorismus „De gustibus est disputandum“ der Minima Moralia findet sich der Vorwurf des Klassizismus in ähnlicher Weise, nun aber im Hinblick auf die Kanonisierung von Kunst und ihre Verdinglichung in der Halbbildung: „Die Vorstellung eines ‚Pantheons der Klassizität‘, wie noch Kierkegaard sie hegte, ist eine Fiktion der neutralisierten Bildung“ (GS 4, 84). Auch dort geht es Adorno im Ganzen um eine Kritik an einer undialektischen Kunstauffassung, was in der Forderung gipfelt, die Werke, ja „Kunst
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ersten Kapitel der Konstruktion des Ästhetischen, zeichnen sich also die zentralen Motive der Kritik Adornos in Gestalt ästhetischer Überlegungen schon ab. Kierkegaards Nominalismus verstellt ihm konkrete Ontologie ebenso, wie seine Ästhetik in ihrer Abstraktion vom eigentlich ästhetischen, d. h. materialen Gehalt objektlos bleibt. Auch das zentrale Motiv der Selbstspiegelung findet sich dabei und nicht zuletzt die Logik der Verdinglichung als Rache des Objekts, die hier wohl erstmals von Adorno so formuliert wird: „Wenn autonome, auswählende Subjektivität das Recht der Gegenstände bricht, muß sie sich selber als Preis dafür zahlen. Sie darf sich nicht in ihrer Konkretheit als künstlerischen Gegenstand formen: in den Gegenständen findet sie sich bloß als Schema vorgegebener und überkommener Ideen wieder, die so wenig ihr entspringen, wie sie nun wahrhaft an ihnen sich erprobt“ (GS 2, 30). Das zeigt sich auch an der Klassifikation des „Stoffs“ seiner Ästhetik: „Hier wird, als ‚Größe‘, am Gegenstand gemessen, was doch als ‚Idee‘ und ‚Totalität‘ das transzendentale Subjekt ihm erst aufprägte“ (GS 2, 33). Die Hierarchisierung, die sie mit sich bringt, zeugt vom Primat des Religiösen. Er mache erst die „stoffästhetischen Exzesse“ begreiflich, wobei, wie Adorno bemerkt, das „theologische Motiv“ auch bei Hegel anklinge (GS 2, 32). Eine andere Hierarchie ist hier zunächst aber von größerer Bedeutung: die von Abstraktion und Konkretion. In dieser steht die Musik am höchsten, insofern sie das abstrakteste Medium ist und als solches einzig die abstrakteste Idee, die „sinnliche Genialität“ (EO I, 59 / SKS 2, 64), auszudrücken vermag. Ihre Vollendung findet die Kunst deshalb freilich in Mozarts Don Giovanni, womit, wie Adorno zu Recht feststellt, seine Kunstlehre „absurde“ hegelsche Konsequenzen zeitigt. Aus jener Bestimmung werde „‚Don Juan‘ als das einzige und ausschließende Meisterwerk der Musik deduziert, nicht anders als bei Hegel der preußische Staat als Realisierung der Weltvernunft“ (GS 2, 35). Hier kommt der „ästhetische Idealismus“ Kierkegaards ins Ziel: „[V]or der Einheit der ‚Idee‘, des inhaltsleeren Allgemeinbegriffs von ‚sinnlicher Genialität‘ schrumpfen alle qualitativen Differenzen zusammen, in denen Kunst ihren Bestand hat, und traurig einsam bleibt ein Meisterwerk als geschlossene und abschließende Totalität kanonisch übrig“ (GS 2, 35). So hoch er dieses Werk kraft seiner Abstraktheit in Inhalt und Form ansetzt, so wenig gesteht er Kunst aus eben diesem Grund eine Erkenntnisfunktion zu. In dieser Hinsicht steht die Sprache, das Medium der Konkretion, höher (vgl. EO I, 73 – 74 / SKS 2, 75 – 76). Adorno meint daher: „Seine dualistische Form-Inhalt-Ästhetik findet denn auch in der Sprachphilosophie ihren verbindlichsten Ausdruck: jene Lehre von der ‚Mitteilung‘ […]. Hier erreicht der Idealismus der Kierkegaardschen Ästhetik seinen philosophischen Grund“ (GS 2, 36). Erst aus ihr wird das Verhältnis von Inhalt und Form verständlich, also der vermeintliche Primat des Stoffes, der sich doch eigentlich aus dem Formprinzip begründet. Schließlich stellt Kierkegaard in der Nachschrift fest, das Künstlerische sei die „Reduplikation des Inhalts in der Form“ (AUN II, 36 / SKS 7, 304).
selber“, müssten dem „Untergang“ preisgegeben werden, um sie vor ihrer Neutralisierung als Kunst zu bewahren.
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Adorno hält dagegen: „Als bloße Reduplikation aber ist ‚das Ästhetische‘ vom Gehalt ablösbar und überflüssig; Zutat der Subjektivität zu einem Sein, das fremd ihr gegenüber verharrt und das sie anders nicht zu erreichen vermag, als indem sie es in der Mitteilung äußerlich mit ihrem Siegel versieht“ (GS 2, 36). Erklärt wird Kierkegaards „theoretische Ästhetik“ von Adorno in letzter Konsequenz aus „der Konstellation, in welcher die Grundelemente aller idealistischen und somit auch der Kierkegaardschen Philosophie auftreten: Subjekt und Objekt“ (GS 2, 37). Sie sei aus dieser Relation „konstruierbar“. Entsprechend findet sich die Logik der Pseudokonkretion auch hier: „Als Moment des ‚Existentiellen‘ ist ihm die Form subjektiv. Wie alle Konkretion denkt er die des Kunstwerkes als bloßes Produkt zweier abstrakter Momente: des abstrakten Selbst und der abstrakten Idee; zumindest nach Analogie von Subjekt und Objekt, von Form und Inhalt“ (GS 2, 37). Damit schließt das erste Kapitel. Es ist das kunsttheoretische Vorspiel seiner Kritik, die hier jedoch besonders plastisch wird.
8 Scheincharakter und Sprachähnlichkeit der Kunst „Beredt sind Werke vermöge ihres Formgesetzes in der rücksichtslosen Darstellung von Wahrheit durch deren Schein“ (GS 2, 191). In diesem Satz, der so auch aus der Ästhetischen Theorie stammen könnte, ist die ganze Distanz Adornos zu Kierkegaard im Hinblick auf die Relevanz des Ästhetischen für sein philosophisches Programm ausgesprochen – und ebenso das Grundprinzip von Dialektik überhaupt. Wahrheit, der klassische Gegenbegriff zum Schein, geht hier in letzteren ein, ohne in ihm aufzugehen. Als Wahrheit weist sie stets über ihre jeweilige scheinhafte Gestalt hinaus, kann aber zugleich nur in dieser erscheinen. Kierkegaard bleibe hinter einem solchen Begriff von ihr zurück und verfehle damit „gleichermaßen das Anliegen von Philosophie und Kunst“ (GS 2, 192). Adornos Kritik lässt sich in fünf Aspekte differenzieren. Nach dem bisher Erörterten ist leicht einzusehen, inwiefern er erstens Kierkegaards Programm indirekter bzw. existenzieller Mitteilung als „scheinlos“ und deshalb „monologisch“ versteht und zweitens vor allem dessen Spätphilosophie anlastet, eine scheinlose Darstellung von Wahrheit zu beanspruchen, die in einer problematischen theologischen Position gründet und eine Bilderfeindschaft zur Folge hat. Neben ihrem Scheincharakter ist es drittens die spezifische Sprachlichkeit von Kunst, insbesondere ihre Intentionslosigkeit, die die Differenz im methodischen Zugang bedingt. Nicht weniger fundamental – und, was das Verhältnis zu Kierkegaard angeht, ambivalenter und komplexer – ist viertens die Frage nach dem Verhältnis von Wahrheit und Schein als Grundbestimmung von Dialektik, ohne die auch jene nach dem Scheincharakter von Kunst unverständlich bliebe. Sie ist für das Problem der Entfremdung, wie es sich Adorno und Kierkegaard stellt, von unvergleichlicher Relevanz. Schließlich ist fünftens die Beziehung zwischen Sprache und Kunst dahingehend zu erörtern, inwiefern Adornos Verständnis von poetischer Sprache eine Differenz zu Kierkegaards Stellung zum Dichterischen markiert, auch wenn beide zu ihren methodischen Versuchen durch die Diagnose einer verdinglichten Sprache motiviert werden.
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8.1 Die Subjektivität der Mitteilung Adorno würdigt Kierkegaards Standpunkt des subjektiven Denkers, wie er in der Nachschrift formuliert wird, in seiner denkgeschichtlichen Stellung durchaus – und zwar explizit als Kritik der philosophischen Sprache (GS 2, 191). Dass er dem „Wie“ der Mitteilung die zumeist verwehrte Aufmerksamkeit zuteilwerden lässt, hat sein Recht deshalb, weil er damit „Wahrheit“ an die Art und Weise ihres Erscheinens im Mitgeteilten bindet, vom dem sie nicht einfach als Gehalt abzulösen ist. Dabei sieht er darin sogar eine Gegenposition wider den an seiner Kunstlehre ansonsten diagnostizierten „planen Form-Inhalt-Dualismus“ (GS 2, 191). Allerdings wird diese Einsicht in der Zurichtung durch auswählende Subjektivität von Kierkegaard zugleich unterlaufen, indem nun Wahrheit als ein „Neues“ und Äußerliches der „Sache“, in der sie erscheinen soll – d. h. hier insbesondere dem (Sprach‐)Kunstwerk – hinzutritt. Damit streicht sie aber ebenso die Indirektheit der Mitteilung durch, die doch an einen Schein gebunden bleibt, zumindest im Sinne des ästhetischen Betrugs, dem es die Wahrheit in individueller Aneignung zu entbinden gilt. Hierin besteht das Paradoxon indirekter Mitteilung nach Adorno, deren abschließende Beurteilung im letzten Kapitel des Kierkegaardbuchs aber zumindest ambivalent bleibt. Er verwirft sie nicht einfach. Dafür ist, wie eingangs umrissen, die Übereinstimmung im philosophischen Anliegen zu groß. Wo Wahrheit aber bloße Reduplikation von Subjektivität wäre, verschwände sie ganz, da ihr jede Korrespondenzbeziehung abginge, die doch, gemäß ihrer klassischen Bestimmung als adaequatio rei et intellectus, ihr Wesen ist. Daher wird die Mitteilung monologisch. Dieses Problem betrifft, wie Adorno in seiner Studie zur Liebesethik anmerkt, auch „Kierkegaards Produktion insgesamt: die Redseligkeit eines unendlichen Monologs, der gewissermaßen keinen Einspruch von außen zuläßt und ohne Zäsur, ja eigentlich ohne Artikulation in sich selber kreist“ (GS 2, 218). Es ist dieser Mangel an Kommunikation, bzw. wie beschrieben eine Kommunikation, die sich selbst ad absurdum führt, die Sprache zugleich derart freisetzt, dass sie eben nicht in bloßer Mitteilung aufgeht, sondern sich als verräterische Wörtlichkeit verselbständigen kann. So kommt es, dass „Sprache bei Kierkegaard allen Konzeptualisierungsversuchen trotzt und ohne substantielle Bedeutung zu erlangen, Funktionen zu erfüllen oder Gewichtungen vorzunehmen, leerläuft und im freien Spiel allerhand anrichtet, was sich durch keine Intention des Sprechenden mehr decken läßt“ (Nientied 2003, 345, Anm. 91).⁸¹
8.2 Scheinlose Wahrheit und Bilderfeindschaft Zwar entwertet Adorno zufolge das Programm indirekter Mitteilung die Kunst als eigengesetzliche, Kierkegaards „Kunstfeindschaft“ sei aber „vom Theologen schlagender
Sie resümiert hier die Grundthese von Peter Fenves (1993). Geschwätz, monologische Beredsamkeit, wird von ihm positivwertig umgedeutet als methodisch negativer Modus der Wahrheitsfindung.
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formuliert als vom Existentialphilosophen; nicht mit dem Begriff subjektiver Entscheidung, sondern der Forderung von Nachfolge, im Gedächtnis an das Bildnisverbot des Dekalogs“ (GS 2, 192). Als Beleg für seine Behauptung zieht er ein mehr als eine Seite langes Zitat aus der Einübung heran, das die Nachfolge Christi in einen merkwürdigen Kontrast zur„christlichen Kunst“, sowohl ihrer Produktion als auch ihrer Bewunderung, bringt: „mitten in der Christenheit ein neues Heidentum“ (EC, 247 / SKS 12, 246). Das ist deshalb so bedeutsam, weil ja in bestimmter Hinsicht, wie Deuser argumentiert, in der dialektischen Gesamtbewegung bei Adorno die Kunst bzw. Ästhetik den Ort einnimmt, der bei Kierkegaard der Nachfolge zukommt, bzw. „dem Leben selbst, weil Gott Mensch wurde“ (Deuser 1980, 32).⁸² Besagter Gegensatz impliziert für Adorno aber noch etwas, das dem theologischen Motiv bei Kierkegaard eine entscheidende Wendung gibt aus: Die Nachfolge sei eine im Leben, nicht im Tode, ihr werde Kunst „als Abbild des Lebendigen“ geopfert (GS 2, 192). Damit untergräbt er die von Deuser behauptete Analogie, indem er sich jenen Vorwurf zu eigen macht, der gerade vonseiten der dänischen Theologie erhoben wurde: dass Kierkegaard in freiwilliger Resignation das Leben zum Tod verwandle (Løgstrup 1971, 453). Adorno kann somit die Kunst sowohl gegen ihn wie den Verlust an emphatischer Lebendigkeit in verdinglichten Praxisformen als Gegenbild profilieren. Aufschlussreich ist die Passage aus der Einübung aber auch, weil sie noch einmal die umrissene Aporie ästhetisch durchgestalteter, indirekter Mitteilung aus einer dezidiert christlichen Perspektive vorführt. Nientied bringt das Problem auf den Punkt: Gelingt ein Text ästhetisch, so steht er für sich und verliert die Verweisungsfunktion auf ein Höheres, dessen er nicht habhaft werden kann. Ein Werk, das den Meister lobt, lobt nicht Gott. […] Wenn schließlich Jesus Christus selbst, wie Kierkegaards Schriften, zum ‚Zeichen des Widerspruchs‘ stilisiert wird, gibt Kierkegaard seine Aktivität des Schreibens dezidiert als seinen Modus der Nachfolge aus. Indem er das macht, privilegiert er eine Lesart, beeinträchtigt damit die Authentizität der imitatio und verrät paradoxerweise das eigentliche Anliegen genau dadurch, daß er es bekennt. (Nientied 2003, 12– 13)
Der „Bildersturm“ des späten Kierkegaard, der das Schwebende, Uneindeutige der frühen Schriften vermeintlich hinter sich lässt, bleibt jedoch nach Adorno aus zwei Gründen doppelsinnig. Erstens sei paradoxerweise noch die „originäre Erfahrung des Christentums ans Bild gebunden […]; wie sein Name besteht sein Bild als irreduzibler mythischer Rest. Aber dialektisch“ (GS 2, 188 – 189). Dialektisch deshalb, weil es als letztes Bild, dass Kierkegaard übrigbleibe, sich selbst opfere und darin zugleich alle Kunst aufhebe. Es ist das Bild des Gekreuzigten. Adorno parallelisiert also im Schlusskapitel das Opfer des Ästhetischen in Kierkegaards Spätwerk dem paradoxen Opfer der Vernunft, das er im vorletzten Kapitel verhandelt. Er verweist damit in negativer Form implizit auf ihr komplementäres und nicht gegensätzliches Verhältnis zueinander, das es im Folgenden eingehender zu bestimmen gilt. Zweitens behält aber auch dieses
Vgl. den Abschnitt 3.2 dieses Kapitels.
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Selbstopfer nicht das letzte Wort. In der Abstraktion, die es beschreibt, drückt sich zugleich eine Sehnsucht nach Konkretion aus: „Aber die Kunstfeindschaft des späten Kierkegaard ist nicht umstandslos auf die Opferkategorie zu reduzieren. In ihr spricht, als letzte Antwort der Dialektik des Scheins, Sehnsucht nach der scheinlosen Gegenwart selber sich aus. Kierkegaards Stoff-Ästhetik schon deutet auf den theologischen Symbolbegriff als die Idee der scheinlosen Selbstdarstellung von Wahrheit“ (GS 2, 193). In erkenntnistheoretischer Hinsicht kritisiert Adorno damit, so Simonis (2000, 569), dass Kierkegaard „sich der Illusion hingegeben habe, er könne eine unvermittelte Erkenntnisform erreichen“. Das wäre in jeder Hinsicht eine Absage an Dialektik, die doch Adorno in seiner wohl griffigsten und weitgreifendsten Formel als „Insistenz auf der Vermitteltheit eines jeglichen Unmittelbaren“ (GS 5, 160) bestimmt. Genau diesen Vorwurf macht er ihm, hier noch wesentlich grober als in seinem Erstlingswerk, in „Kierkegaard noch einmal“: „Während nämlich Kierkegaard als Dialektiker sich betrachtet und scheinbar dialektisch verfährt, verfehlt er die Methode, auf die er sich selbst vereidigt hat, indem er sie ohne Vermittlung handhabt“ (GS 2, 248). Bilderfeindschaft und Abkehr vom dialektischen Verfahren sind also Adorno zufolge miteinander verschränkt, weil sie beide auf ein schlechthin Unmittelbares zielen. Das ist aber insofern erklärungsbedürftig, als gerade Kunst doch eine Unmittelbarkeit verspricht, die der begrifflichen Vermittlung versagt bleiben muss, ebenso wie sie eine Konkretion erreicht, die der hegelschen im Begriff zumindest als Korrektiv entgegensteht. Sie verspricht kurz gesagt, Nichtidentität im Sinne des unverfügbar Besonderen anders als bloß sprachlich in jener negativen Form zu fassen, die ja bereits ihr Begriff ausdrückt. Allerdings ist auch das Bild, wie das Kunstwerk überhaupt, in verschiedener Hinsicht sowohl historisch-gesellschaftlich als auch innerästhetisch vermittelt. Noch grundsätzlicher aber behauptet es sich gerade in seinem Scheincharakter gegen die Adorno gerne unterstellte Aufhebung bzw. Stilllegung der Dialektik und Gesellschaftskritik in Kunst bzw. ästhetische Theorie.⁸³ Da das Bild bzw. Werk nicht bloßer Schein, also Trug und Unwahrheit ist, weist es über sich hinaus. „Bei Kierkegaard hingegen leistet Kunst immer nur eine Pseudo-Transzendenz, die ihrer Scheinhaftigkeit wegen für den Vollzug des Glaubens als wahre Transzendenz preisgegeben werden muß“, stellt Nientied (2003, 29) zu Recht fest, allerdings ohne sich an dieser Stelle auf Adorno zu beziehen. Überhaupt wird ihr dieser Transzendenzanspruch „in einem letztlich religiösen Sinn“ (Nientied 2003, 29) zu einem Merkmal der Kunst des nachfolgenden Jahrhunderts. Selbst in seinem negativen Verhältnis zur Kunst ahmt Kierkegaard in gewisser Weise nach, was die Ästhetik des 20. Jahrhunderts zum Prinzip hat, indem er der Geschlossenheit der Form eine von Brüchen und Vielgestaltigkeit bzw. -stimmigkeit geprägte literarische Darstellung in religiöser Absicht entgegensetzt. Daher meint auch Nientied (2003, 356) zur Ästhetischen Theorie Adornos, dass „die Qualifizierung des Religiösen bei Kierkegaard dort ein vielleicht nicht nur unfreiwilliges Echo findet“.
Vgl. zu solchen Rezeptionsweisen seines posthum veröffentlichten Werks: Ritsert, 1996, 21– 26.
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Das gilt noch in anderer Hinsicht. Denn was der Glaube einlösen soll, ist nicht weniger als eine zweite oder neue Unmittelbarkeit, für die in zeitlicher Hinsicht der Augenblicksbegriff steht. Sie ist von der ersten qualitativ verschieden, insofern sie durch die Reflexion gegangen ist – reflektiert auch im Sinne einer Um- oder Rückwendung. Diese Bestimmung des Religiösen als reflektierte oder vermittelte Unmittelbarkeit findet nun tatsächlich in einem sehr spezifischen Sinne ihr Echo in Adornos Ästhetik. Darauf hat Deuser aufmerksam gemacht. Sie ist ihm als Dialektik der „Stellung des Gedankens zur Objektivität“ analog zu Kierkegaards „Dialektik der Mitteilung“, wobei er sich vor allem auf seine Rede von der „zweiten Reflexion“ in der Ästhetischen Theorie beruft, die er nicht zu Unrecht in Bezug setzt zur„Doppelreflexion“ Kierkegaards (Deuser 1980, 111). Adorno versteht sie als Wiederherstellung der „Naivetät“, und zwar in dem Sinne, dass sie sich dem Verständnis zunächst entzieht: „Die Wahrheit im Neuen, als des nicht bereits Besetzten, hat ihren Ort im Intentionslosen. Das setzt sie in Widerspruch zur Reflexion […] und potenziert sie zur zweiten. […] Zweite Reflexion ergreift die Verfahrungsweise, die Sprache des Kunstwerks im weitesten Verstand, aber sie zielt auf Blindheit. Die Parole des Absurden⁸⁴, wie immer unzulänglich, bekundet das“ (GS 7, 47).⁸⁵ Gesteigerte Reflexion bedeutet nun gerade eine Verdunkelung des „Gehalts“ eines Kunstwerks. Es wäre aber ein gängiges Missverständnis des Absurden, dabei stehen zu bleiben. Die Dunkelheit selber sei zu interpretieren, „nicht durch Helligkeit des Sinnes zu substituieren“ (GS 7, 47). Bei Adorno tritt damit gewissermaßen eine weitere Reflexionsebene hinzu, die selbst wieder zu überbieten, oder je nach Perspektive zu unterlaufen ist. Das komplementäre Verhältnis von Kunst und Theorie bedingt eine unabschließbare Dialektik. Wo Kierkegaard an jener Doppelbewegung von Verunendlichung und rückkehrender Verendlichung festhält, entspricht er ihr durchaus. Er lässt die Dialektik hinter sich, wo die Dunkelheit des Absurden nicht zu ihrem Anstoß, sondern sozusagen zum Platzhalter der Heiligkeit des Sinns wird.
8.3 Musik und Sprache Der Abstand zwischen Adorno und Kierkegaard wird nun gerade, auch diesseits der Wendung im Spätwerk, durch das „Intentionslose“ der Kunst angezeigt, das doch bei Adorno die „zweite Reflexion“ erst anstößt und in der Formulierung vom Ort „des nicht bereits Besetzten“ auf die Denkfigur des Nichtidentischen verweist. Freilich fehlt auch in der zitierten Passage aus der Ästhetischen Theorie die Kritik am idealistischen Identitätsdenken nicht. Beide verbindet der Versuch einer Mitteilung des direkt, in propositionaler, assertorischer Form nicht Mitteilbaren. Jedoch unterscheidet sie das zugleich, Freilich geht es hier nicht um die religiöse Bedeutung des Begriffs, schließlich bezieht er sich in der Passage auf Beckett. Sie spielt allenfalls mit hinein. Vgl. auch die „Frühe Einleitung“, GS 7, 528 – 529, sowie folgenden, durchaus programmatischen Satz aus der Negativen Dialektik: „Denken bricht in zweiter Reflexion die Suprematie des Denkens über sein Anderes, weil es Anderes immer in sich schon ist“ (GS 6, 201).
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insofern indirekte Mitteilung „das Gesetz, das dem Gebilde selbst innewohnt, […] entwertet“ (GS 2, 190 – 191). Der spezifische Sprachcharakter der Kunst, der darin gründet, wird so intentional überformt.⁸⁶ Dabei droht sowohl deren Abstand zur „meinenden Sprache“ (GS 16, 254) verloren zu gehen, wie auch die Verwandtschaft beider: „Ihre Sprachähnlichkeit erfüllt sich, indem sie von der Sprache sich entfernt“ (GS 16, 656). An der Musik, von der hier die Rede ist, wird das offensichtlich. Kierkegaard sind derartige Überlegungen fremd, wie der musiktheoretische Exkurs zu Mozart in Entweder/Oder vorführt, und zwar weil er Musik und Sprache einerseits in einen unversöhnlichen Gegensatz bringt und andererseits ein Verhältnis der ontologischen Kontiguität behauptet. Damit stimmt er zwar formal mit Adornos Behauptung einer Ähnlichkeit der Kunst zur Sprache, die zugleich ihren Abstand bezeichnet, überein, nur dass dieser das Verhältnis gerade nicht als eines der Angrenzung und des Übergangs bestimmt. Ihre Distanz drückt sich bei Kierkegaard darin aus, dass er der Musik fast exklusiv eine Fähigkeit zum Ausdruck zuspricht, die er der Sprache – im Gegensatz zu Adorno – vorenthält. So meint er etwa polemisch: „Der Begriff der Sprache ist der Gedanke, und man soll sich nicht dadurch verwirren lassen, daß einige empfindsame Menschen meinen, es sei der Sprache höchste Bedeutung, unartikulierte Laute hervorzubringen“ (EO I, 69 / SKS 2, 71– 72). Dass ihre Beziehung andererseits eine der Kontiguität ist, formuliert Kierkegaard in dem Gedanken, dass Musik die Sprache „umgrenzt“, „daß ich überall, wo die Sprache aufhört, dem Musikalischen begegne“ (EO I, 73 / SKS 2, 76).Wenn Sprache sich in Musik auflöst – was er den Dichtern als „Mißverständnis“ vorhält –, so bedeute das nicht, dass Musik ein „vollkommeneres“ oder „reicheres Medium“ sei, sondern bringe vielmehr einen Sinnverlust mit sich, den er hier mit dem Lallen eines Kindes vergleicht. Man gehe dabei nicht vorwärts, sondern zurück (EO I, 74 / SKS 2, 76). Insofern ist die Nachbarschaft der Musik zur Sprache letztlich auf denselben Grundgedanken zurückzuführen, der auch ihren Gegensatz begründet. Das heißt aber nicht, dass Kierkegaard der Musik nicht ihr eigenes Recht zuspricht, aber dieses lässt das Recht der Sprache, anders als bei Adorno, unberührt. Sie kann ihr nicht etwa, darum wird es in den folgenden beiden Abschnitten gehen, als Modell einer verdinglichungskritischen Erweiterung dienen. Zu Recht hat Adorno darauf aufmerksam gemacht, dass andersherum auch die Eigengesetzlichkeit der Musik von Kierkegaard durch eine gewissermaßen übergriffige Sprache eingeschränkt wird (GS 2, 35 – 36). Er bezieht sich dabei auf jene Passage, in der der Verfasser eben auch bekundet, dass er „niemals Sympathie gehabt habe für die erhabenere Musik, die da meint, des Worts nicht zu bedürfen“ (EO I, 74 / SKS 2, 76). Nicht nur, dass derartige Überlegungen in Kontrast zu Kierkegaards treffenden musikalischen Analysen stehen, von denen Adorno meint, sie seien ihrer Zeit voraus (GS 2, 36) – hier tut sich tatsächlich ein Wi-
Neben dem Ausdruck einer „intentionslosen Sprache“ (GS 7, 274) verwendet Adorno zur Bestimmung der Differenz zur propositionalen Sprache verschiedene Formulierungen, die das damit gemeinte je bloß negativ zu jener andeuten können. So ist etwa von einer „nichtbegrifflichen“, „bedeutungsferne[n]“, „nicht signifikative[n]“ oder „nicht-diskursiven Sprache“ die Rede (GS 7, 121, 123, 172, 251).
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derspruch auf zur Bestimmung der Musik hinsichtlich ihres Ausdruckscharakters, die er darin ja von der Sprache absondert. Musik hat als tonales System eine Syntax und Semantik eigener Art hervorgebracht, wobei ihre Bedeutung gerade nicht in der Form eines propositionalen Gehaltes zu verstehen ist. Sie ist in diesem Sinne abstrakter als die anderen Kunstformen – daran hat auch Kierkegaard keinen Zweifel (vgl. EO I, 59 – 60 / SKS 2, 64) – und war bekanntermaßen für die gegenstandslose Malerei nicht nur Impulsgeber, sondern ausdrücklich Modell. Prominentestes Beispiel ist die Grammatik abstrakter Malerei, die Kandinsky nach der Tonsprache der Musik, d. h. den Klängen als Farbe und Form sowie als Bedeutungsträgern von Gefühlszuständen bildete. Dabei ist die Abkehr von der Gegenständlichkeit in der Malerei in Analogie zur Loslösung von der Grundtongebundenheit in der Musik zu sehen.⁸⁷ Bei aller Abstraktion ist beiden – nicht umsonst spricht man von Klangfarbe – zugleich größte sinnliche Konkretion zu eigen, die der Dichtkunst in solcher Weise abgeht. Kierkegaard spricht diesen Zusammenhang, wie zuvor im Abschnitt zu seiner „expliziten Ästhetik“ umrissen, nicht nur deutlich aus, es handelt sich dabei um eine zentrale These des Don-Juan-Essays – zugespitzt in der überraschenden Behauptung, die „abstrakteste Idee“ sei die „sinnliche Genialität“ und entsprechend nur darzustellen im abstraktesten Medium, der Musik. Und gerade diesen Gedanken würdigt Adorno – allerdings nicht im Kierkegaardbuch, sondern in den Minima Moralia: „Symbol der Einheit des Sinnlichen und Abstrakten, ist Don Juan. Wenn Kierkegaard sagt, in ihm sei die Sinnlichkeit als Prinzip aufgefaßt, so rührt er ans Geheimnis der Sinnlichkeit selber“ (GS 4, 54). Sinnlichkeit ist schon insofern abstrakt, als sie wesentlich nicht gegenständlich ist. Kierkegaard führt damit aber, dem landläufigen Verständnis zuwider und erneut recht hegelisch, Abstraktion und Unmittelbarkeit eng und stellt sie derart dem „konkretesten“ aller Medien, der Sprache, gegenüber. Sie ist Mitteilung eines selbst vermittelten und deshalb konkreten propositionalen Gehalts. Was das vor allem bedeutet, formuliert er hier in einer Weise, die ganz zu Adorno passt: Konkret werde die Idee dadurch, dass sie vom Geschichtlichen durchdrungen ist (EO I, 58 / SKS 2, 62). Ihren Ausdruck findet sie folglich innerhalb des Bereichs ästhetischer Formen in den erzählenden. Er führt hier die epische Dichtung Homers an. Dass dagegen die Unmittelbarkeit des Sinnlichen ihren angemessenen Ausdruck einzig in der Musik finden kann, liegt wiederum an ihrer spezifischen, eben unmittelbaren Zeitlichkeit, die außerhalb der in sich vermittelten Zeit als Geschichtlichkeit sei und folglich als solche, d. h. streng prozessual darzustellen ist (vgl. EO I, 60 / SKS 2, 64). Dass er Musik derart in einen Abstand zu den anderen Kunstgattungen und Medien bringt, kritisiert Adorno. Für ihn ist schließlich „Konkretion in jeglicher Kunstübung gefordert und keinesfalls auf die Sprache beschränkt“ (GS 2, 34). Zugleich aber ist sie in Vgl. Haldemann 2006, insbesondere 25 – 40. Das ist nicht bloß eine formale Übereinstimmung. Schönberg, der selbst malte, war für bildende Künstler seiner Zeit, wie eben Kandinsky, ein Vorbild – „als Komponist und Theoretiker“, aber auch als „kompromisslose[r] Revolutionär“ und „visionäre[r] Utopist“ (11).
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ihrem Sprachcharakter je durch Unmittelbarkeit bestimmt und insofern immer auch „abstrakt“. Das offenbart sich in der besagten Konvergenz ihrer Formen in der Moderne. Und schließlich stößt sich Adorno an der Behauptung, dass jene geschichtliche Konkretion in die Musik als Medium prinzipiell keinen Eingang finden kann. Zu Recht kritisiert er den zugrundeliegenden Form-Inhalt-Dualismus Kierkegaards, der in einer solchen Schlussfolgerung besonders offen zutage tritt. Er verwehrt diesem die Einsicht, dass sich historische Umbrüche genauso in der musikalischen Form darstellen. Beethoven und Wagner sind hier für Adorno paradigmatisch – und zwar nicht nur was das Verständnis ihrer Werke durch die Geschichte angeht, sondern auch umgekehrt das ihrer Zeit durch die Musik. Gerade hinsichtlich der historischen Stellung der Subjektivität, die er an ihnen abliest, lassen sich wie gesagt in Adornos Deutung Kierkegaards und Wagners – beide geboren 1813 – deutliche Parallelen erkennen (vgl. Deuser 1980, 27– 28). Die andere Konsequenz ist aber, dass Kierkegaard Sprachkunst theoretisch-literarästhetisch nicht in der Weise zu würdigen vermag, wie er ihr praktisch-performativ gerecht wird, weil sie in ihrem Ausdruckscharakter der Musik gegenüber defizitär ist. Die Einsicht, dass Sprache ein wesentlich mittelbares Medium ist, bringt ihn dazu, den Weg indirekter Mitteilung zu beschreiten und führt zugleich ins Zentrum der vorgetäuschten Alternative, die Entweder/Oder unterbreitet: „[S]innlich-erotische Genialität“ verlangt „in ihrer Unmittelbarkeit ausgedrückt und dargestellt zu werden […]. In ihrer Mittelbarkeit, in ihrem in anderem Reflektiertsein fällt sie in den Bereich der Sprache hinein und kommt unter ethische Bestimmungen zu stehen. In ihrer Unmittelbarkeit kann sie allein in der Musik ausgedrückt werden“ (EO I, 68 / SKS 2, 71). Die Art und Weise, wie sich in Entweder/Oder das Ethische und das Ästhetische wechselseitig negieren, findet durchaus eine Entsprechung in der Kunstlehre des ersten Teils. Musik ist die Korrektur der allzu vernünftigen Rede des Ethikers. Adorno kann ihm darin zustimmen, dass sie sich aufgrund ihrer Unmittelbarkeit der meinenden Sprache sperrt und ebenso darin, dass sie sich der Verbindlichkeit des Ethischen entzieht, die jener entspricht. Er leitet daraus aber ganz andere Konsequenzen hinsichtlich der Bedeutung der Kunst im Verhältnis zu ihrer philosophischen, begrifflichen Durchdringung ab. Intentionslose und propositionale Sprache nähern sich wie gesagt an, indem sie sich voneinander entfernen. Wesche (2004, 137) stellt dazu fest: „Die unmittelbare Beredtheit selbst ist es, die einerseits ein Nachdenken anfangen läßt, die andererseits aber verhindert, dieses Nachdenken als ein verbindliches wirklich begreifen zu können.“ Es stößt damit nicht zuletzt eine Reflexion über ethisch verantwortliche, vernünftige Praxis an, bzw. einen Diskurs über die Begründung bestehender Normen. Bei Kierkegaard ist es dagegen das Mitteilungsganze seiner (ästhetischen) Schriften, das zwar auch ein Nachdenken (über sich selbst) in Gang setzt, das aber seine Erfüllung erst im praktischen Vollzug findet⁸⁸ – auch wenn dieser ans Denken in Form einer Doppelbewegung zurückgebunden bleibt.
Adorno gilt, wie sich zum Ende der Untersuchung zeigen wird, noch das kontemplative Verhalten zu den Kunstwerken, ebenso wie das Denken selbst, als eine Form von (stellvertretender) Praxis.
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Zudem ist es weniger das Werk als solches, das verstanden sein will, sondern das Selbstverständnis, das durch es irritiert werden soll. Und schließlich leistet das nicht ein der theoretischen Durchdringung in seiner Eigengesetzlichkeit entzogenes (literarisches) Kunstwerk, sondern vielmehr eine gebrochene Mitteilungsform. Sie suggeriert den Adressierten zunächst eine trügerische Verständlichkeit und Vertrautheit, um diese anschließend auf den Brüchen des Textes auflaufen zu lassen. Dass Kierkegaard die Musik derart unversöhnlich gegen die Sprache stellt, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide ihm zufolge auch manches teilen. Adorno meint, er denke ihr Verhältnis als „bloße Analogie“ (GS 2, 34), die einzig darin gründe, dass sich auch die Sprache ans Ohr wendet (EO I, 72 / SKS 2, 74). Er blendet dabei aber etwas Wichtigeres aus: Beide Medien sind vor allem zeitgebunden, sie entfalten sich wie gesagt prozessual. Im Falle der Musik wird jedoch die Zeitlichkeit noch zugespitzt, und zwar als Vergänglichkeit. Sie ist allein deshalb schon „Verneinung des Sinnlichen“ (EO I, 72 / SKS 2, 74) – deren ausgezeichneter Ausdruck sie doch in anderer Hinsicht ist –, aber auch weil ihre zeitliche Bestimmung nicht ebenso eine räumliche ist. Das unterscheidet sie von den anderen Gattungen: „Was die übrigen Künste hervorbringen, deutet eben dadurch, daß es sein Bestehen im Raum hat, ihre Sinnlichkeit an“ (EO I, 72 / SKS 2, 74). Zudem liegt im Charakter der ausschließlichen Zeitlichkeit auch die Differenz zur Prozessualität von Vorgängen in der Dingwelt – Kierkegaard erläutert das am Beispiel eines Bachs –, die alle zugleich „räumlich bestimmt“ (EO I, 72 / SKS 2, 74) seien. Hier ließen sich womöglich durchaus interessante Parallelen zu Adorno ziehen. Das gilt wie gesagt weniger für die Differenzbestimmung zu den anderen Künsten. Schließlich weist die Musik den prozessualen Charakter eines jeglichen Kunstwerks auf, und zwar als Zerfall, entgegen ihrer Bestimmung als Synthesis (vgl. GS 7, 209). Es ist vielmehr der Ausschluss des Räumlichen in der Bestimmung der Musik, der an Adorno erinnert. Das zeigt seine Kritik an deren Tendenz zur „Verräumlichung“ in der Philosophie der neuen Musik, die er an Debussy und Strawinsky diagnostizierte. Hier gleiche sich Musik der Malerei wiederum an – eine „Pseudomorphose“ (GS 12, 174). Schon der Begriff des musikalischen Impressionismus erinnert daran. Was nun neben ihrer Zeitlichkeit Musik mit Sprache verbindet, ist nicht allein die Struktur des Tonsystems, sondern auch die Schriftlichkeit seiner Notation – wiederum im Gegensatz zu Kierkegaard, der meint, dass das Musikalische darin „nur in uneigentlichem Sinne vorhanden sei“ (EO I, 72– 73 / SKS 2, 75). Albrecht Wellmer (2005, 261) argumentiert, dass gerade die Gebundenheit an „die Praxis der Verschriftlichung der Musik“ die Neue Musik in ihrer Atonalität mit der älteren Tradition verbinde – und mitverantwortlich sei für Adornos Blindheit gegenüber „musikalischen Phänomenen […], die auf alternative Produktions- und Rezeptionsweisen angelegt waren“ (Wellmer 2005, 263). Sofern aber die Sprachähnlichkeit der Musik wie gesagt in ihrer Tonalität gründet, bedeutet bereits der Bruch mit ihr eine Herausforderung. Sie steht im Zentrum von Adornos Philosophie der neuen Musik – jedoch derart, dass Neue Musik auf eine allgemeine „Sprachkrise“ reagiert, auf „verfestigte[r] Sprachstrukturen“ (Kogler 2019, 210), die Ausdruck eines umfassenderen Verdinglichungsgeschehens sind. In dieser Reaktion wird ihre Sprache gewissermaßen unverständlich, wie die zuvor zitierte Pas-
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sage aus der Ästhetischen Theorie deutlich vorführt. Schon für die tradierte Kunst gilt aber, dass sie in ihrem Sprachcharakter wesentlich intentionslos ist. Hierin besteht ihre Kontinuität allen (historischen) Brüchen zum Trotz: „Aus den großen Dramen Shakespeares ist so wenig herauszupressen, was sie heute Aussage nennen, wie aus Beckett“ (GS 7, 47).
8.4 Verdinglichte Sprache Dass sprachphilosophische Überlegungen Adornos Denken nicht nur in Bezug auf die Ästhetik stets begleiten, zeigt bereits sein Erstlingswerk – etwa im Zusammenhang mit den Ansätzen zu jener nominalistischen Sprachtheorie, die er wie erörtert bei Kierkegaard als Voraussetzung von indirekter Mitteilung zu erkennen meint. Warum dieser Aspekt seines Denken in der Forschung bisher wenig gewürdigt wurde, bedarf kaum einer Erläuterung. Einerseits finden sich bei ihm keine sprachphilosophischen Erörterungen in zusammenhängender Form, sondern als im gesamten Werk verstreute Fragmente. Andererseits wurde der Blick auf sie durch die Rezeptionsgeschichte verstellt, da Adorno hierin, angesichts des linguistic turns und der kommunikationstheoretischen Wende der Kritischen Theorie, in seinem vermeintlichen Festhalten am Paradigma der Bewusstseinsphilosophie überholt schien. Das kritisiert auch Philip Hogh (2015, 9), der allerdings zu Recht davor warnt, sich damit Habermas’ gleich ganz zu entledigen – so würden wiederum die Übereinstimmungen zwischen beiden verdeckt. Anders verhält es sich natürlich mit seiner Auseinandersetzung mit Sprache in einem explizit ästhetischen oder kunsttheoretischen Rahmen. Hier blieb Adorno stets eine wichtige Referenz. Allerdings lässt sich diese nicht ohne Verluste aus dem Gesamtzusammenhang seines Denkens lösen. Das Defizitäre gegenwärtiger (Sprach‐)Praxis verweist Sprache schließlich auf die Kunst. Eine Erörterung der Grundelemente seiner Sprachphilosophie, etwa des Verhältnisses von Urteil und Begriff, kann hier zunächst nicht geleistet werden. Mich interessieren die Konsequenzen für Adornos Verhältnis zu Kierkegaard einerseits und seinen Begriff von Entfremdung andererseits. Er betreibt Sprachphilosophie nicht als Selbstzweck, weshalb ihm auch gängige Erwartungshaltungen und Maßstäbe der Kritik oft nicht gerecht werden können. Adornos Einspruch gilt einer Verdinglichung der Sprache, die der gesamtgesellschaftlichen Dynamik, mit der sie verschränkt ist, der Warenförmigkeit des sozialen Verkehrs, aufs Genaueste entspricht. Das betrifft die Identitäts- und Subsumptionslogik, die ihr zugrunde liegt und zeigt sich im Charakter ihrer vermeintlich naturhaften Gegebenheit sowie am „Vergessen“, das nach Adorno solche Verdinglichung je impliziert. Auch muss folglich das Subjekt ebenso aus der Sprache verschwinden, wie es überhaupt „liquidiert“ wird. Wenngleich hierin die wohl offensichtlichste thematische Nähe zu Kierkegaard besteht, tritt die Abstandnahme Adornos zu ihm an seiner Sprachkritik deutlicher zutage als anderswo. Die Verdinglichung der Sprache wird wiederum durch eine theoretische Betrachtung abgebildet, die diese Entwicklung als Zustand gewissermaßen festschreibt und
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dabei von dessen Genese und faktischen Reproduktion in der Praxis abstrahiert. Ähnlich wie schon Demmerling 1994 Adorno mit Wittgenstein ins Gespräch brachte, betrachtet auch Hogh dessen Kritik nicht isoliert, sondern als Moment einer Gegenbewegung zu Positionen der frühen Phase sprachanalytischer Philosophie, wie etwa denen Rudolf Carnaps, sowie zum frühen linguistischen Strukturalismus.⁸⁹ Er diagnostiziert dabei eine Tendenz zur Autonomisierung und Formalisierung der Sprache als Zeichensystem, ihre Ablösung von der „nichtsprachlichen Realität“ und dem konkreten Sprachgebrauch, in dem sich die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit sedimentiert – was sich etwa in der Differenz von langue und parole bei Saussure ausdrückt.⁹⁰ Diese Bewegung stimmt mit dem entfremdungslogisch grundlegenden Prinzip der Verselbständigung von Objektivationen menschlicher Praxis überein. Hogh (2015, 13) spricht diesen Zusammenhang deutlich aus. Besagte Formalisierung sei „sprachphilosophischer Ausdruck einer verselbständigten Gesellschaft“. Adornos Diagnose betrifft meist weniger die Alltagssprache als vielmehr die Sprache der Philosophie. Dabei ist sein Horizont der Hegels – nicht zuletzt „wofern sein Versuch scheiterte“ (GS 6, 16). Die defizitäre Sprachpraxis, die er dabei im Blick hat, lässt sich vorläufig mit einem Ausdruck beschreiben, der sich schon im Kierkegaardbuch findet. Sie versteht Begriffe als „Merkmaleinheiten“ (GS 2, 9 – 10 u. 113). Hogh (2019, 465) meint dazu: „Der Gebrauch des Begriffs als Merkmalseinheit stellt den klassischen Fall dessen dar, was Adorno unter identifizierendem Denken und Sprechen versteht: ein Besonderes wird durch ein Urteil als Fall eines Allgemeinen bestimmt.“ Das trifft sicherlich die Absicht Adornos. Allerdings ist hier eine Differenzierung angebracht. Begriffe als Gesamtheit ihrer Merkmaleinheiten zu bestimmen, beschreibt lediglich die gängigste Auffassung dessen, was als ihre Intension bezeichnet wird. Gleichzeitig denkt Adorno das mit ihrer Extension zusammen – „Merkmaleinheiten der darunter befassten Gegenstände“ (GS 2, 9). Das wiederum verbindet er mit der Forderung nach „eindeutiger Gegebenheit“ (GS 2, 9), auf die seine Kritik eigentlich zielt. Denn diese Eindeutigkeit der Zuordnung ist sprachpraktisch nicht gegeben, sondern kann erst idealsprachlich (re‐)konstruiert werden. Adorno geht es vorrangig jedoch um etwas anderes. Es ist überhaupt schon die „Analysis des isolierten Einzelbegriffs“ (GS 2, 10) das Problem, wie sie Hegel zum Anstoß wird. Dagegen hat sowohl der besondere Gegenstand einen Überschuss über das, was von ihm prädiziert wird, wie auch der Begriff, der sich als allgemeiner nicht durch seine extensionale Individuation bestimmen lässt. Darüber hinaus suggeriert schon eine beliebige Aussage in Subjekt-Prädikat-Form, dass hier einer Entität Eigenschaften zugeschrieben werden, so dass letztlich die Fiktion eines schlechthin „Gegebenen“ entsteht – was gewissermaßen die Voraussetzung ist, dass es
Er bezieht sich hierbei insbesondere auf: Bertram, Lauer, Liptow und Seel 2008. Hogh (2015, 15) stellt Adorno somit in den Kontext einer „Kritik am Formalismus, die sich Bertram et al. zufolge bei so unterschiedlichen Autoren wie (dem späten) Wittgenstein, Davidson, McDowell, Derrida oder MerleauPonty findet“. Hogh 2015, 11– 12; zu Saussure: 223 – 230.
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auch eindeutig gegeben sein soll. Diese Einsicht Deweys⁹¹ macht sich Honneth (2015, 43) in seiner Studie zum Verdinglichungsbegriff zu eigen. Sie geht zurück auf die hegelsche Kritik solchen Positivismus’, die ich in Bezug auf seine Urteilslogik im fünften Kapitel eingehender erörtern werde. Trotzdem ist nun die gewöhnliche Begriffsverwendung, bzw. die traditionelle Form des Urteils „S ist P“, nicht einfach zu verwerfen. Schließlich trifft noch der so (miss‐) verstandene Begriff etwas an der Sache, auf die er sich bezieht, auch wenn er es bloß als Fall eines Allgemeinen bestimmt – zumal er dabei stets nur in einer bestimmten Hinsicht Identität behauptet.⁹² Trotzdem kommt „das Mehr, welches Sprache zur Sprache macht“ (GS 6, 112), darin nicht nur nicht zur Geltung, sondern nivelliert es, wo diese Praxis zur einzigen sprachlichen Weltaneignung zu werden droht, beinahe zur Gänze. Einen emphatischen Begriff zeichnet dagegen nach Hogh (2015, 115 – 118) sowohl ein semantischer als auch ein ethischer Überschuss aus.⁹³ Er steht zum besonderen Einzelnen derart in Beziehung, dass nicht nur jener über dieses semantisch wie ethisch hinausweist, sondern auch das Besondere für sich mehr ist, als das, was jeglicher, auch emphatische Begriff über es aussagen könnte. Diese Wechselseitigkeit entgeht dem instrumentellen Begriffsgebrauch. Der dem emphatischen eigene Überschuss aber zeigt seine geschichtsphilosophische Fundierung an: „Der ethische Überschuss des Begriffs verweist somit auf noch nicht verwirklichte Möglichkeiten der empirischen Einzelnen. Als Merkmalseinheit umfasst der Begriff diese empirischen Einzelnen und wird ihnen als je Besonderen so wenig gerecht wie er auf noch nicht verwirklichte Möglichkeiten von ihnen verweist. Als emphatischer Begriff meint er dagegen das Einzelne in seiner Geschichte und mit seinen noch nicht realisierten Möglichkeiten“ (Hogh 2019, 466).⁹⁴
Vgl. Dewey 1998, 106 – 107. Dass Adorno hier nicht differenziert, ja nicht einmal zwischen „Etwas identifizieren mit“ und „als“ unterscheidet, ist ein zentraler Vorwurf von Herbert Schnädelbach (1983, 71– 72). Freilich entspricht die Logik des Überschusses zunächst dem Grundprinzip der spekulativen Bewegung Hegels. Theunissen (1994, 441) meint dazu treffend: „Das ist das im guten Sinne Spekulative an seiner Urteilslehre, gut deshalb, weil darin Realität begreiflich wird. Die Annahme, das allergewöhnlichste Urteil, das seinem Gegenstand bloß eine beliebige ‚Eigenschaft‘ beilegt, schieße im ‚ist‘-Sagen über sich hinaus, auf den Begriff hin, der eigentlich auszudrücken wäre, ist jedenfalls dann nicht phantastisch, wenn man zugleich seine Faktizität anerkennt.“ Und das tut Hegel durchaus. Er erläutert das am emphatischen Begriff von Freiheit, wie er in der Negativen Dialektik bestimmt wird: „Das Urteil, jemand sei ein freier Mann bezieht sich, emphatisch gedacht, auf den Begriff der Freiheit. Der ist jedoch seinerseits ebensowohl mehr, als was von jenem Mann prädiziert wird, wie jener Mann, durch andere Bestimmungen, mehr ist denn der Begriff seiner Freiheit. Ihr Begriff sagt nicht nur, daß er auf alle einzelnen, als frei definierten Männer angewandt werden könne. Ihn nährt die Idee eines Zustands, in welchem die Einzelnen Qualitäten hätten, die heut und hier keinem zuzusprechen wären“ (GS 6, 153 – 154).
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8.5 Sprachkunst als Korrektiv und Utopie Inwiefern kann nun Sprachkunst dem inkommensurabel Besonderen gerecht werden? Zunächst ist dieser Anspruch nach Adorno zentral für jegliche Kunst, ja gerade das, was sie als solche auszeichnet. Es ragt jedoch eben in ihrem Sprachcharakter Allgemeines und Konventionelles in die autonome, nominalistische Kunst (vgl. GS 7, 308). Wo die Sprache selbst ihr Medium ist, wird dieses Problem noch zugespitzt. Sie lässt sich aber nicht auf Semantik im engeren Sinne reduzieren, wie Hogh (2015, 118) argumentiert: „Begriffe haben […] auch eine sinnliche und ästhetische Seite, die den Ausdruckscharakter des Begriffs in der Sprache meint.“ Ein solcher Überschuss kann zum Beispiel im rhetorischen, d. h. im Wortsinn emphatischen Gebrauch von Begriffen zum Tragen kommen. Er richtet sich auf das Spezifische des besonderen Gegenstands, indem er es betont, nicht spezifiziert. Denn dadurch bliebe es immer noch Fall eines Allgemeinen, wenngleich mit größerer Intension und geringerer Extension. Mehr noch als der rhetorische Gebrauch des Begriffs zeigt die Dichtkunst gerade das Unbestimmte als ein grundsätzlich sich entziehendes Moment begrifflicher Sprache auf, dem durch größere Exaktheit der Bestimmung, im Sinne des Begriffs als „Merkmaleinheit“, nicht beizukommen ist. Nicht nur dass ein solcher Zugang beansprucht, das Bezeichnete zumindest tendenziell treffen zu können, der Akt des Bezeichnens selbst ist einer, der je eine Bestimmung bzw. Identifikation erfordert – und ist darin „abschlusshaft“ (GS 11, 477). Ästhetische Sprachpraxis stellt das in Frage, was Adorno beispielhaft an der späten Lyrik Höderlins demonstriert. Ihr Ausdruck ist stets ein Transzendieren, das Sprechen des Kunstwerks eines, das über sich hinausweist. Dichtung ist in diesen Aspekten „Sprachkritik“ (GS 11, 477). In ihr erfüllt sich nach Hogh besagter ethischer Überschuss des Begriffs. Die vorherrschende Sprachpraxis aber ist eine andere und dass sie ästhetisch defizitär ist, hat für Adorno weitreichende Konsequenzen. Kommt dem Begriff der Ausdruckscharakter abhanden, so schwinden damit auch die Ausdrucks- und Erfahrungsmöglichkeiten des Subjekts. Interessanterweise findet sich jene in der Literatur so gerne gebrauchte Wendung von der unreglementierten Erfahrung, die sich auch Hogh zu eigen macht, in der Negativen Dialektik nur an einer Stelle, die sich mit Kierkegaards Existenzbegriff auseinandersetzt: „Wahr am Existenzbegriff ist der Einspruch gegen einen Zustand von Gesellschaft und szientifischem Denken, der unreglementierte Erfahrung, virtuell das Subjekt als Moment von Erkenntnis austreibt. Kierkegaards Protest gegen die Philosophie war auch der gegen das verdinglichte Bewußtsein, in dem, nach seinem Wort, die Subjektivität ausgegangen ist: er nahm gegen die Philosophie auch deren Interesse wahr“ (GS 6, 129).⁹⁵ Dieser Problemkomplex hat natürlich einen eminent sprachphilosophischen Aspekt, eben in der Frage nach den Ausdrucksmöglichkeiten von Subjektivität gegenüber dem verdinglichten Sprachgebrauch, die Adorno wie Kierke-
Andernorts spricht er vom „unregelmentierte[n] Gedanken“ (GS 6, 42) oder „unreglementierte[r] Einsicht“ (GS 6, 82).
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gaard gleichermaßen umtreibt. Die naheliegende Frage nach den Konsequenzen jener Verdinglichung der Sprache für ihre intersubjektive Dimension, also Sprache unter dem Aspekt der Kommunikation, soll dagegen zunächst ausgeklammert werden. Auf dieser Ebene wäre auch besagte Auseinandersetzung mit Habermas’ Adornodeutung zu führen. Vorerst ist das widersprüchliche Verhältnis der Subjektivität zur Sprache – als Inbegriff des Allgemeinen und als objektive Ordnung, in die das Subjekt gewissermaßen eingespannt ist – zu erörtern. Trotz der vordergründigen Nähe zeigt sich gerade hier eine grundlegende Differenz zu Kierkegaard. Um nun das Subjekt zur Sprache zu bringen, gilt es nach Adorno „Sprache selbst zum Sprechen zu bringen“ (GS 11, 478), und das gelingt nur in der Kunst. Ihr Sprachcharakter besteht im Ausdruck selbst, den er als „Widerpart des etwas Ausdrückens“ (GS 7, 171) begreift – also des zweck- und zeichengebundenen Mitteilens von etwas durch ein Subjekt. Ihm dient Sprache als „Medium“ – was bereits darauf verweist, dass auch Adorno Sprachkunst tendenziell als defizitär bestimmt: „Die wahre Sprache der Kunst ist sprachlos, ihr sprachloses Moment hat den Vorrang vor dem signifikativen der Dichtung, das auch der Musik nicht ganz abgeht“ (GS 7, 171). Allerdings zeigt sich die Übereinstimmung in der Form, die zunächst eine Zurücknahme des Subjekts erfordert. Ästhetischer Ausdruck „geht auf das Transsubjektive, ist die Gestalt der Erkenntnis welche, wie sie einst der Polarität von Subjekt und Objekt vorherging, so jene als Definitivum nicht anerkennt“ (GS 7, 170). Das ist aber nur die eine Seite, ist doch der Ausdruck als Formbestimmung des Kunstwerks zugleich auf das Subjekt angewiesen, das die Eigengesetzlichkeit des Ästhetischen überhaupt erst zur Geltung bringen kann. Ebenso ist in ihm der subjektive Ausdruck objektiv vermittelt, wie seine Objektivität subjektiv: „Andererseits bedarf gerade die Objektivation des Ausdrucks, die mit der Kunst koinzidiert, des Subjekts, das sie herstellt und seine eigenen mimetischen Regungen, bürgerlich gesprochen verwertet. Ausdrucksvoll ist Kunst wo aus ihr, subjektiv vermittelt, ein Objektives spricht: Trauer, Energie, Sehnsucht“ (GS 7, 170). Sprachkunst reflektiert dieses Problem auf besondere Weise, wie Adorno exemplarisch an Hölderlin demonstriert: „Indem die Sprache die Fäden zum Subjekt durchschneidet, redet sie für das Subjekt, das von sich aus – Hölderlin war wohl der erste, dessen Kunst das ahnte – nicht mehr reden kann“ (GS 11, 478). Adornos Auseinandersetzung mit seiner späten Lyrik soll hier nur insofern interessieren, als sie den Abstand zu Kierkegaard aufzuzeigen in der Lage ist. Das wäre freilich auch deshalb eine weitergehende Erörterung wert, weil die Kritik wesentlich der konkurrierenden Interpretation Heideggers gilt, aber auch diesem selbst. Philosophisch zentral ist Hölderlins Denken für beide – bei Heidegger vor allem als paradigmatische Kritik der Metaphysik, bei Adorno als eine des Idealismus. Hier treffen sie sich durchaus, wie Johann Kreuzer (2004, 369) feststellt: „Was dabei als Idealismus oder Metaphysik kritisiert wird, meint die Trennung von mundus sensibilis und intelligibilis, eine Trennung, die zu einer Dichotomie führt, die den Geist des mundus intelligibilis zur allein wahrheitsfähigen Instanz macht, einer Instanz, der dann (durch Synthesis) das Nichtidentische oder Negative oder Sich-Entziehende bloß unterworfen […] wird.“ Es ist also jene Subjekt-ObjektSpaltung, die Hegel (im Hinblick auf Kant) überwinden will und die er sich doch in eben
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dieser Weise überbietend zu eigen macht. Deshalb meint ja Adorno, sein absoluter Idealismus bleibe unter dem Primat des Subjekts. Hölderlin zeige nun in seiner Dichtung den „Doppelcharakter“ (GS 11, 477) auf, der Sprache in Bezug auf das Verhältnis von Subjekt und Objekt ohnehin zukomme. Denn einerseits ist das Subjekt „gesetzgebend“, indem es die begriffliche Synthesis vollzieht. Andererseits reglementiert Sprache in ihrer Allgemeinheit⁹⁶ dessen Ausdrucksmöglichkeiten. Als begriffliche und prädikative steht Sprache dem subjektiven Ausdruck entgegen, nivelliert das Auszudrückende auf ein je schon Vorgegebenes und Bekanntes vermöge ihrer Allgemeinheit. Dagegen begehren die Dichter auf. Ohne Unterlaß möchten sie der Sprache, bis zu deren Untergang hin, das Subjekt und seinen Ausdruck einverleiben. Ohne zur Sprache sich zu entäußern, wäre die subjektive Intention überhaupt nicht. Das Subjekt wird erst durch Sprache. (GS 11, 477)
Das heißt nun nicht weniger, als dass der subjektive Ausdruck gerettet wird, indem das Subjekt der Sprache geopfert wird. Diese Bewegung beschreibt auf der Ebene der Form die für den Aufsatz titelgebende „parataktische Sprache“ Hölderlins. Adorno versteht sie ausdrücklich nach dem Modell der Sprache der Musik, die freilich allein schon in der erörterten Prozessualität, der „Reihung“, zum Vorbild „begriffslose[r] Synthesis“ wird (GS 11, 471). Eine Entsprechung sieht er insbesondere zum späten Beethoven.⁹⁷ Freilich ist die Musik hierin freier und die Dichtung gerät, wo sie ihr folgt, stets in einen Selbstwiderspruch: „Anders als in Musik, kehrt in der Dichtung die begriffslose Synthesis sich wider das Medium: sie wird zur konstitutiven Dissoziation“ (GS 11, 471). Das bedeutet aber nicht, dass sich beide Medien wie bei Kierkegaard wechselseitig ihr Defizitäres vorrechnen. Primär ist nach Adorno das Gemeinsame ihrer Sprache, das sich im Abstand zur „Form von Urteil und Satz“ (GS 11, 471) bewährt. Parataxis bedeutet nun ein „Opfer der Periode bis zu einem Äußersten. Es vertritt dichterisch das des gesetzgebenden Subjekts selbst“ (GS 11, 477). Preisgegeben wird damit auch die Kontinuität des Sinns, die durchs Subjekt, genauer „den sprachlichen Ausdruck synthetischer Einheit“ (GS 11, 477), konstituiert wird. Es zeigt sich somit erneut, dass im weitesten Sinne ästhetische, hier poetologische Erwägungen bei Adorno stets auf ein philosophisches Grundproblem verweisen und so selbst philosophisch zentral sind. Hölderlins „sprachliche Verfahrungsweise“ korrigiere den „Vorrang des Subjekts als des Organons solcher Synthesis“ (GS 11, 478). Eine derartige Kunst ist implizit Kritik des Idealismus. Man kann auch deshalb durchaus eine Parallele ihrer „musikhaften“, parataktischen Sprache zur intermittierenden Dialektik sehen, die Adorno an Kierkegaard abliest. Sie ist ebenso eine „Kritik idealistischer Kontinuität“ (GS 2, 143) und Synthesis.
Auch die Allgemeinheit und Objektivität der Sprache ist eine doppelte, da stets ihr Bezug auf die gesellschaftliche Allgemeinheit und Objektivität mitzudenken ist. Sie stellt, wie Adorno in seiner „Rede über Lyrik und Gesellschaft“ festhält, als „Medium der Begriffe […] die unabdingbare Beziehung auf Allgemeines und die Gesellschaft“ her (GS 11, 56). Vgl. Kreuzer 2019a, 226 u. 232– 233.
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III Konstruktion des Ästhetischen
Auch darüber hinaus ist das Verhältnis von (dichterischer) Sprache und Subjekt ähnlich aufschlussreich wie das von autonomer Kunst und autonomem Individuum. Es gibt den Blick frei auf ein nicht zwanghaftes Modell von Subjektivität.Wenn Adorno vom Doppelcharakter der Sprache spricht, so verbirgt sich dahinter im Grunde ein vierfaches Verhältnis. Sie ist für ihn mit Subjektivität grundsätzlich nicht in Übereinstimmung zu bringen, aber diese findet in der Sprache ihren objektiven Ausdruck als gesetzgebende. Es ist gerade ihre Objektivität, die den instrumentellen bzw. verdinglichenden Gebrauch durchs Subjekt ermöglicht. Gemeinsam ist beiden ihr herrschaftsförmiger Charakter, der sich den subjektiven Ausdruck unterwirft. Die objektive Allgemeinheit der Sprache hat ihr Komplement in der Allgemeinheit als unendlicher Selbstbeziehung des Subjekts. Allerdings zeichnet sich das Subjekt ebenfalls durch einen Doppelcharakter aus, daher ist das Verhältnis ein vierfaches. Es ist ebenso allgemeines⁹⁸, wie „leibhafter Impuls“ oder „Drang“ (GS 6, 202) – also Natur im Subjekt und das, in einem unkonventionellen Sinne, Objektive in ihm. Dieser Seite entspricht der Ausdruckscharakter der Kunst, der wie gesagt zugleich ihren Sprachcharakter ausmacht: „Der Ausdruck der Kunstwerke ist das nicht Subjektive am Subjekt“ (GS 7, 172). Daher die überraschende Behauptung in der zuvor zitierten Passage der Ästhetischen Theorie, dass gerade im Gefühlsausdruck subjektiv vermittelt ein Objektives spreche (GS 7, 170). Kunst ist darin von eminenter erkenntnistheoretischer Relevanz, dass, wie es Adorno in der „frühen Einleitung“ zur Ästhetischen Theorie auf den Punkt bringt, kraft künstlerischer Gestaltung der latente objektive Gehalt des Subjekts hervortrete (GS 7, 528). Im Kunstwerk zeigt sich ein Subjekt im Objekt, das spiegelbildlich das Objekt im Subjekt entbirgt – was sich dieses als konstitutives und verfügendes ansonsten nicht zuzugestehen bereit ist. Es ist das utopische Bild einer nicht herrschaftsförmigen Gestalt von Subjektivität: als paradoxe Einheit der subjektiven Beherrschung des Materials und des Aufgehens in dessen objektiver Eigengesetzlichkeit sowie als zwangloses Ineinander von (Selbst‐)Disziplin und Leidenschaft, wie es die musikalische Praxis und die darstellende Kunst anschaulich demonstrieren. Adorno folgt bekanntlich der kantischen Bestimmung der Kunst als zweckloser Zweckmäßigkeit. Das gilt auch für die Dichtung als Kritik instrumentellen Sprachgebrauchs. Die Korrektur am Vorrang des Subjekts in sprachkritischer Hinsicht, von der er im Hölderlin-Aufsatz spricht, besteht grundsätzlich darin, dass sprachlicher Ausdruck zum Selbstzweck wird. Wie Hogh (2019, 469) betont, geschieht sie folglich „weder allein um der Sprache noch allein um des Subjekts willen, sondern um beide von den Einschränkungen zu befreien, denen sie durch die gewöhnliche Sprache ausgesetzt sind“. Auch in der Konstruktion des Ästhetischen fundiert die Kritik des konstituierenden Subjekts die an der Mitteilung. Kierkegaard gebraucht Sprachkunst, wie sich gezeigt hat, durchaus als Mittel zum Zweck des „etwas Ausdrückens“ – wenngleich nicht, um täuschend die eigene Position ästhetisch verschleiert den Adressierten unterzuschieben. Es kann bei ihm nicht die Rede davon sein, dass Sprache, ihrer Eigengesetzlichkeit über-
Allgemeines Subjekt bedeutet bei Adorno oft, aber nicht nur, transzendentales: vgl. GS 6, 98, 178 – 184.
8 Scheincharakter und Sprachähnlichkeit der Kunst
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antwortet, für das Subjekt spricht. Die Zurücknahme des Mitteilenden in der Mitteilung bedeutet etwas kategorial anderes als die beschriebene des Subjekts im Dienste des ästhetischen Ausdrucks – Adorno spricht dabei ja explizit von Objektivation. Was Hogh mit Blick auf die politische Instrumentalisierung meint, ließe sich auch von Kierkegaards Indienstnahme für eine religiöse Innerlichkeit behaupten. Aus Adornos Sicht geschehe die Realisierung des Subjektiven in der Sprache absichts- bzw. intentionslos: „Sie lässt sich nicht als subjektiver Zweck setzen und dann durch die Kunst realisieren“ (Hogh 2019, 471). Es geht Kierkegaard ohnehin nicht darum, dem Subjekt in einem dichterischen Sinne zum Ausdruck zu verhelfen, sondern vielmehr auf die Perspektive der Subjektivität, d. h. der Innerlichkeit, mittels Sprache – und zwar als eine in ihr nicht realisierte – aufmerksam zu machen. Das bedeutet aber, dass sich Adorno und Kierkegaard zumindest darin durchaus einig sind, dass diese Perspektive – die unreglementierte Erfahrung des Subjekts in seiner Besonderheit bzw. die Kategorie des Einzelnen – ebenso durch soziale Entfremdung zunehmend nivelliert wird, wie sie im alltäglichen, instrumentellen Sprachgebrauch auch gar keinen angemessenen Ausdruck finden kann bzw. könnte. Beide misstrauen dem „Schein, die Sprache wäre schon dem Subjekt angemessen, oder es wäre die sprachlich erscheinende Wahrheit identisch mit der erscheinenden Subjektivität“ (GS 11, 478). Nur traut Kierkegaard der Sprachkunst nicht zu, eben das doch einlösen zu können⁹⁹ und sei es nur als ästhetische Vorwegnahme einer erkenntnistheoretischen Utopie. Das liegt daran, dass er der Sprache per se einen instrumentellen Charakter zuspricht – und sich ihr selbst wiederum in dieser Weise bedient. Die Werkzeuganalogie im Don-Juan-Essay formuliert das deutlich: Während in den bildenden Künsten die Idee im Medium „gebunden“ sei, setze die Idee in der Sprache das sinnliche Medium „zu einem bloßen Werkzeug“ herab (EO I, 71 / SKS 2, 73 – 74). Dass aber sein literarisches Schaffen diese Position zugleich unterläuft, versucht Adorno in seinem Erstlingswerk ja zu zeigen. In einer solchen „Selbstvergessenheit“ spricht Sprache und darin die ganze Erfahrung des Beobachters Kopenhagens, die in seiner expliziten Theorie und seinem Programm von Mitteilung nicht aufzugehen vermag. Besonders pointiert formuliert Adorno ein solches zwangloses Opfer¹⁰⁰ des Subjekts in der Sprache in seiner„Rede über Lyrik und Gesellschaft“ – wobei die Kritik hier Heidegger gilt: „Der Augenblick der Selbstvergessenheit, in dem das Subjekt in der Sprache untertaucht, ist nicht dessen Opfer ans Sein. Er ist keiner der Gewalt, auch nicht der Gewalt gegen das Subjekt,
Das hat seinen Grund sicherlich auch darin, dass er wie erörtert Sprache gerade in einen Gegensatz zur Musik bringt und dieser exklusiv Ausdrucks-, aber eben nicht in Adornos Sinn Sprachcharakter zugesteht. Ob sich eine solche zwanglose Selbstaufgabe für Adorno womöglich nur an der Kunst als Modell erschließt und er dabei andere Formen von (sprachlicher) Praxis ausblendet, gilt es zu diskutieren. Kierkegaard bringt hier die Nächstenliebe ins Spiel, die wesentlich eine radikale Selbstzurücknahme erfordert, damit aber gelingende Selbstverwirklichung erst ermöglicht. Adorno kann sie aufgrund seines Verdikts über die Voraussetzungen von „Kierkegaards Lehre von der Liebe“ nicht als Alternative in Betracht kommen.
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III Konstruktion des Ästhetischen
sondern einer von Versöhnung: erst dann redet die Sprache selber, wenn sie nicht länger als ein dem Subjekt Fremdes redet sondern als dessen eigene Stimme“ (GS 11, 57). Das ist ihm deshalb möglich, weil der subjektive Ausdruck der „Objektivität“ der Sprache vorab eben nicht äußerlich ist, deren „eigenem Gehalt“ also nichts hinzufügt, sondern diese selbst mit konstituiert. Zwar taucht auch Odysseus in der Deutung Adornos gewissermaßen in der Sprache unter, wenn er sich in der Polyphem-Episode zum Zweck der Selbsterhaltung strategisch verleugnet. Er tut sich damit aber – und sei es auch notwendigerweise – gerade Gewalt an, indem er die ihm von außen drohende internalisiert, so wie er sich auch dem Beherrschtwerden durch die (Trieb‐)Kräfte der Natur durch Selbstbeherrschung entzieht und Sprache als Mittel zu diesem Zweck gebraucht. Sprachkunst ist dagegen Versöhnung von Objekt und Subjekt, von Spontaneität und Disziplin im zuvor umrissenen Sinne. Und dadurch kann auch überhaupt erst unreglementierte Natur zu Wort kommen. Im Bereich des Ästhetischen ist ihre Freisetzung mit der des Subjekts verschränkt. Es scheint deshalb nur auf den ersten Blick widersprüchlich, dass Adorno andererseits dessen Unterwerfung unter eine objektive Ordnung beklagt. Denn die Bewegung entspricht ganz der Logik der Verdinglichung als Herrschaft, die auf das Subjekt zurückschlägt. Das verdeutlicht Adorno nicht zuletzt am verfügenden Gebrauch der Sprache, als Mittel etwas auszudrücken und zu kommunizieren. Dieser ist ihm Ausdruck der herrschaftsförmigen Seite des Subjekts. So wie er mit Horkheimer in den urgeschichtlichen Spekulationen der Dialektik der Aufklärung Verdinglichung als gleichursprünglich mit der Geburt der Subjektivität begreift, verläuft ihm auch die Entwicklung der Sprache parallel zu ihr.¹⁰¹ In den „frühsten bekannten Stadien der Menschheit“, in der der namenlose Schrecken der Natur durch das Belegen mit einem Namen gebannt wird, ist Sprache „Echo der realen Übermacht der Natur“, nicht etwa Produkt einer Projektion (GS 3, 31). Interessant ist, dass dort ihrer Urform bereits die hegelsche Figur der Identität von Identität und Nichtidentität eingeschrieben wird, vor der sich die zeitlich spätere, einseitige, verdinglichende Auffassung von Sprache zunächst tatsächlich wie eine Verfallsform ausnimmt. Das bedeutet, dass in diesem frühen Stadium ebenso der emphatische Begriff des Begriffs und der ihm eingezeichnete Überschuss präfiguriert ist. Entsprechend behaupten Adorno und Horkheimer vom Präanimismus: „In ihm […] drückt die Sprache den Widerspruch aus, daß nämlich etwas es selber und zugleich etwas anderes als es selber sei, identisch und nicht identisch. […] Der Begriff, den man gern als Merkmalseinheit des darunter Befaßten definiert, war vielmehr seit Beginn das Produkt dialektischen Denkens, worin jedes stets nur ist, was es ist, indem es zu dem wird, was es nicht ist“ (GS 3, 31– 32).
Vgl. hierzu das Kapitel „Eine Naturgeschichte der Sprache als zweite Natur“: Hogh 2015, 19 – 66.
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9 Wahrheit und Schein – Umrisse einer anderen Dialektik Die Logik der Verhältnisbestimmung von Wahrheit und Schein prägt jeden Begriff Adornos, der sich als „emphatischer“ ausweisen, d. h. von seinem einfachen Gebrauch absetzen lässt. Offensichtlich wird das etwa in seiner Rede von der Kultur oder der Freiheit. Diese Differenz bestimmt aber, wie sich gezeigt hat, wesentlich auch seine Sprachphilosophie und drückt sich im semantischen, ethischen und ästhetisch-rhetorischen „Überschuss“ aus. Gerade das hat man aber Adorno zum Vorwurf gemacht, dass er damit grundsätzlich alles, was seiner Betrachtung zum Gegenstand werden kann, vorab mit einer erkenntnisutopischen Perspektive überzeichnet bzw. überzogene Forderungen ans Denken stellt. Schlägt nicht etwa die Adäquationstheorie von Wahrheit, die Adorno durchaus vertritt, um in eine tendenziell problematische Evidenztheorie der Wahrheit? Dies würde eine Auflösung jener zweistelligen Relation in eine „zwang- und opferlose Identität von Subjekt und Objekt“ (Kipfer 1998, 159) bedeuten.¹⁰² In ähnlicher Weise konstatiert Figal (2004, 21) einen Bruch zwischen dem aufklärerischen Anliegen der Identitätskritik und dem regressiven Schritt, der das Nichtidentische zu einem selbst Wesenhaften, als der „wahren Identität“ der Sache werden lässt. Tatsächlich beansprucht Adorno ja eine solche zwang- und opferlose, wahre Identität – aber meines Erachtens nur in Bezug auf das Kunstwerk. Was faktisch möglich ist, wird dadurch gerade in einen Abstand gebracht zur dort – im Doppelsinn des Wortes – virtuell vollzogenen Versöhnung: „Von sich aus will jedes Kunstwerk die Identität mit sich selbst, die in der empirischen Wirklichkeit gewalttätig allen Gegenständen als die mit dem Subjekt aufgezwungen und dadurch versäumt wird. Ästhetische Identität soll dem Nichtidentischen beistehen, das der Identitätszwang in der Realität unterdrückt“ (GS 7, 14). Es kann hier nicht darum gehen, die Problematik von Adornos Wahrheitsbegriff als solche zu diskutieren, beispielsweise ob er „sich über eine Abwertung der ‚einfachen Wahrheiten‘, wie sie in den positivistischen Wissenschaften gesucht werden, konstituiert“ (Lehmann 2006, 345). Etwaige Probleme erbt er von Hegel. Das betrifft die Verschränkung mit der Geschichtsphilosophie und die Verknüpfung von Wahrheit mit dem Absoluten – „daß das Absolute allein wahr, oder das Wahre allein absolut ist“ (TWA 3, 70) – sowie mit einem Erkenntnisanspruch, der auf Totalität zielt: „Das Wahre ist das Ganze“ (TWA 3, 24). Nun ist aber in der Verschränkung mit dem Absoluten nicht eine Metaphysik beansprucht, die eine Adäquationstheorie der Wahrheit hinter sich lässt. Vielmehr wird darin die Korrespondenzbeziehung als solche gerade festgehalten und die Bedingung für eine mögliche Entsprechung von Begriff und Gegenstand formuliert (vgl. Wesche 2009). Zudem ist, wie Hegel feststellt, das Ganze „nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen“ und das Absolute deshalb „wesentlich Resultat“ (TWA 3, 24). Diese Entwicklung stellt die Phänomenologie des Geistes dar. Die Konsequenzen kann sich Adorno freilich nur noch bedingt zu eigen machen. Er trennt, darin gleicht er bisweilen Kierkegaard, die Momente, die Hegel zusammenzwingt. Das heißt
Kipfer verweist auf den Positivismusstreit (vgl. GS 8, 309).
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hier, dass er das Absolute von der Totalitätsbestimmung sondert. Er hält aber an beiden Begriffen, die so für sich freigesetzt werden, in kritischer Absicht fest. Und das transformiert seinen Begriff von Wahrheit. Gleiches gilt für die geschichtsphilosophischen Voraussetzungen, die sich in der bekannten These aussprechen, dass aller Wahrheit ein Zeitkern zu eigen sei.¹⁰³ Sie ist zu diskutieren vor dem Hintergrund der materialistischen Wende der hegelschen Geschichtsphilosophie und der Frage, inwiefern etwa auch Marx noch deren Hypotheken übernimmt. Kein Zweifel aber, dass Adorno, wenn er von Wahrheit im emphatischen Sinne spricht, stets die gesellschaftsutopische Perspektive zumindest mitdenkt: „Im emphatischen Begriff von Wahrheit ist die richtige Einrichtung der Gesellschaft mitgedacht, so wenig sie auch als Zukunftsbild auszupinseln ist“ (GS 6, 187). Dass er damit ans Bilderverbot des Dekalogs anknüpft, hat ihm jedoch den Vorwurf eingebracht, einen theologischen Wahrheitsbegriff zu vertreten (vgl. Türcke 2004, 92). Er tut das aber gerade nicht in der Weise, wie er sie Kierkegaard zum Vorwurf macht. Hier ist die Auseinandersetzung mit ihm besonders erhellend. Wahrheit soll sich bei Adorno schließlich scheinhaft im Bild darstellen, während zumindest der späte Kierkegaard ihm zufolge an der Idee einer scheinlosen Selbstdarstellung von Wahrheit, d. h. der Selbstoffenbarung Gottes orientiert ist, die den ästhetischen Schein und die einfachen Wahrheiten tatsächlich tendenziell abwertet.¹⁰⁴ Das „Prinzip der Genese der Wahrheit aus dem falschen Schein“ (Grenz 1974, 57), das Adorno, wie sich gezeigt hat, bereits im Kierkegaardbuch entfaltet und dort wohl auch am klarsten formuliert (vgl. GS 2, 191), organisiert nicht nur seine ästhetische Theorie. Darin ist das Grundprinzip der Dialektik überhaupt ausgesprochen. Der Schein ist als solcher Index von emphatischer Wahrheit, behält aber auch die konventionelle, negativwertige Bedeutung bei, Privation von realer Wahrheit zu sein. Dadurch ist er jedoch zugleich das Treibende des dialektischen Prozesses. Diese Ambivalenz des Scheinbegriffs ist charakteristisch für eine Theorie der Entfremdung, die kein nichtentfremdetes Bild dem gegenwärtigen als Korrektiv voraussetzen mag oder kann, sich also sowohl seiner Vorgängigkeit wie seiner Setzung sperrt. Die Alternative zum Ausgang vom falschen gesellschaftlichen Schein wäre – angesichts der Unmöglichkeit, einen Standpunkt außerhalb von ihm einzunehmen – einzig die dogmatische Position. Sie diskreditiert den Schein nach einem der Kritik entzogenen Maßstab als bloß falsch und rekonstruiert damit die Welt als Erscheinung zugleich, anstatt sich auf sie einzulassen – den Schein also ernstzunehmen (vgl. Grenz 1974, 74). Was das konkret bedeutet, wird sich in der Diskussion des Totalitätsbegriffs zeigen. Mit seiner These vom universalen Verblendungszusammenhang und dem Konzept einer Ideologie, die mit dem Bestehenden nahezu in eins fällt, behauptet Adorno vor allem, dass damit ein Schein eingezogen wird,
Vgl. GS 5, 141 sowie GS 6, 364. Zu Missverständnissen kann freilich Adornos Kritik der Abbildtheorie führen, wie er sie etwa im Anschluss an Husserl formuliert (vgl. GS 5, 141). Sie liest sich tatsächlich wie eine Kritik der Adäquationstheorie der Wahrheit. Und hier scheint er sich auch das „Bilderverbot“ selbst im Dienste „bilderlose[r]“ Wahrheit zu eigen zu machen. Das ist aber dem Kontext geschuldet. Abbild meint etwas kategorial anderes als das Bild im Sinne der Ästhetik.
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der auch als falscher noch eine normative Differenz impliziert und ein transzendierendes Potential birgt. Besagten Doppelsinn entlehnt Adorno der Phänomenologie des Geistes. Hegel nimmt hier selbst eine Neubestimmung des Scheins gegenüber der seinerzeit vorherrschenden Bedeutung als Trug vor, die insbesondere durch Johann Heinrich Lamberts Neues Organon geprägt war, der wiederum den Begriff der Phänomenologie einführte (vgl. Schnädelbach 2007, 47– 52). Zwar entwickelt auch dieser darin eine genetische Wahrheitstheorie. Diese versucht allerdings gerade „den Schein zu vermeiden, um zu dem Wahren durchzudringen“¹⁰⁵. Hegel dagegen geht in der Darstellung des erscheinenden Wissens vom bloßen Schein aus und durch ihn und alle weiteren scheinhaften Formen hindurch. Insofern aber das absolute Wissen das erscheinende Wissen ja hinter sich lässt, beansprucht es selbst einen Begriff scheinloser, absoluter Wahrheit, der sich als solcher allerdings der Darstellung entzieht. Anders verhält es sich beim Wissen, das über seinen Status als bloß „erscheinendes“ hinausgehoben ist und für das die Phänomenologie lediglich die Propädeutik liefert: „Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein“ (TWA 3, 14). Das leistet die Wissenschaft der Logik. Auch dort büßt der Schein seine doppelte Funktion aber keineswegs ein. Die Logik einer Ideologie, die in die Verhältnisse selbst eingewandert ist, findet sich dort bereits angelegt in Form einer kritischen Darstellung der Metaphysik.¹⁰⁶ Die in dieser Weise ideologiekritische Rettung des Scheins ist jedoch vor allem „Gegenstand der Ästhetik“ (GS 6, 386), wie Adorno im Schlusskapitel der Negativen Dialektik bemerkt. Und das gilt bereits für seine frühe Publikation zu Kierkegaard, deren Anliegen Müller-Doohm (2011, 190) als „Programm einer Rettung des ästhetischen Scheins“ versteht: „Die provokante Frage lautete, ob nicht gerade das Ästhetische jener Bezirk sei, in dem Wahrheit in Erscheinung tritt.“ Und das ist nun eine Frage, die so nicht mehr in Hegels Sinne ist – und erst recht nicht die Antwort, die Adorno mit seiner ästhetischen Theorie gibt. Denn er räumt dem Ästhetischen im engeren Sinne damit ja eine privilegierte Stellung ein, während Kunst bei Hegel gewissermaßen nur ein Durchgangsstadium auf dem Weg des Geistes bildet. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob Adorno in dieser Transformation nicht auch besagte Probleme des spekulativen Denkens erbt. Albrecht Wellmer (2005, 245) hat völlig Recht, dass „Adorno den Hegelschen Scheinbegriff uminstrumentiert im Sinn einer emphatisch-utopischen Deutung der Kunstwerke“. Das lässt nun aber entgegen der verbreiteten „erlösungsphilosophischen“
Zitiert nach Schnädelbach 2007, 48. Vgl. Theunissen 1994, 144: „In ihrer Entgegensetzung gegen Schein meint ‚Wahrheit‘ bei Hegel im Sinne Platons […] wirkliche Wirklichkeit. Als Gegenteil dieser Wirklichkeit ist Schein aber, platonisch gedacht, ihr zugleich verbunden. Denn er ist als ‚Nichtsein‘, als mē on, durchaus ein ‚Sein‘, ein on, das seine Nichtigkeit nur im Lichte des ‚wahren Seins‘, des ontōs on, offenbart. Anders ausgedrückt macht der Schein einen Bestandteil der Realität aus, wenn auch nur jenen, den der metaphorische Begriff der Oberfläche veranschaulichen möchte. Indem spekulative Logik auf die Wahrheit der wahren Wirklichkeit abzielt, muß sie diese zunächst dort aufsuchen, wo sie in ihr Gegenteil, in Schein, verkehrt ist.“
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auch die von Wellmer vorgeschlagene „postmetaphysische“ Lesart zu. Als „Inbegriff möglicher Kritik“ seien die metaphysischen Ideen „maßlos transzendierend“ – allen voran die der Wahrheit als „oberste“.¹⁰⁷ Während sie sich ihrer geschichtlichen Einlösung sperren, blieben sie „zugleich gesellschaftlich immanent wirksam“ (Wellmer 2005, 239). Die Orientierung an emphatischer Wahrheit zeigt anders gesagt nicht trotz, sondern wegen ihrer metaphysischen Implikationen, dass es Adorno eben vor allem um eine Wahrheitsorientierung geht, die in praktischer Hinsicht die Bedingung der Möglichkeit realer Wahrheit ist. Anlass zu Missverständnissen hat Adornos bisweilen schwer nachzuvollziehendes „Durchdialektisieren“ des Wahrheitsbegriffs gegeben – sein beständiges Ineinanderblenden von Wahrheit und Unwahrheit im Begriff des Scheins, der in seinem Verweis auf emphatische Wahrheit Vorschein desselben ist. Das hatte sich bereits in der Diskussion seines Begriffs inverser Theologie angedeutet. Im Grunde ist ja die Folge der Umkehrung nichts anderes als jenes zweistufige Konzept von Wahrheit selbst – und nicht zuletzt in dieser Herkunft gründet die Kontroverse um Adornos Wahrheitsbegriff. Dabei bedeutet die Inversion aber wie erörtert, dass die Differenz mundan-transmundan bzw. immanent-transzendent derart ins Säkulare einwandert, dass die tradierte Theologie zum falschen Ausdruck des Richtigen, d. h. der Wahrheitsorientierung wird. Den theologischen Grundimpuls des Einspruchs gegen die „Verherrlichung des Allerabsurdesten“ (GS 4, 110), d. h. die Verklärung des faktisch Erkannten, verteidigt er in Übereinstimmung mit Kierkegaard und dem „protestantischen Prinzip“ (Tillich) – also der Absage an jeden absoluten Anspruch, der für ein Bedingtes erhoben wird. Darin liege, viel eher als im Gegenteil, der Ausrichtung aufs Jenseits, das „Verbrechen der Theologie“ (GS 4, 110). Die Probleme aber, die sich angesichts der Äquivokationen des Begriffs Wahrheit bei Adorno ergeben, liegen in eben jener Zweistufigkeit begründet, der Differenz real/emphatisch, die begrifflich tatsächlich nicht immer klar ausgewiesen wird und ansonsten zumeist in paradoxen Formulierungen ihren Ausdruck findet. An seiner Auseinandersetzung mit der Geschichte der Philosophie zeigt sich das besonders deutlich. Denn in Bezug auf Hegel spricht er sowohl von der Wahrheit des Unwahren wie auch der Unwahrheit des Wahren. Wahrheit meint hier zunächst, dass die Gesellschaft seiner Zeit ihrem Begriff bei Hegel entspricht und umgekehrt – nicht zuletzt hinsichtlich der falschen, d. h. voreiligen Versöhnung von Allgemeinem und Besonderen, die sich darin faktisch vollzieht. Sie beschreibt „spiegelbildlich die Erfahrung des übermächtigen Zwanges, der allem Seienden durch seinen Zusammenschluß unter der Herrschaft innewohnt. Das ist das Wahre an Hegels Unwahrheit“ (GS 5, 324). Die Unwahrheit dieses Wahren ist die Totalisierung des Systems und die damit einhergehende Affirmation des Bestehenden. Analog zum Begriffspaar emphatisch/real hat Guzzoni (1975) in Bezug auf die Negative Dialektik vom spekulativ und geschichtlich Wahren bei Hegel gesprochen. Dabei ist das Recht des Besonderen in seiner Vermittlung mit dem Allgemeinen, insofern
Wellmer 2005, 239. Vgl. GS 6, 394.
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es auch Hegel theoretisch einzuholen verspricht, das spekulativ Wahre. Die Darstellung seiner faktischen Verfehlung ist das historisch Wahre. Dass auf diesen Widerspruch Kierkegaard in seinem Einspruch gegen die Spekulation aufmerksam gemacht hat, ist nach Adorno die Wahrheit seines „Einzelnen“, während die Unwahrheit der theoretischen Konzeption desselben, fast spiegelbildlich zu Hegel, in einer mangelnden Korrespondenz mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit besteht. Sie ist allerdings als Schein in besagtem Doppelsinn in sie eingegangen. Ohnehin gilt ja in Bezug auf die untergründige Wahrheit, die Adorno an Kierkegaard herausarbeitet: „seine Illusion ist der Widerschein von Hoffnung“ (GS 2, 182). Simonis (2000, 566, Anm. 120) beschreibt diese Ambivalenz des Scheins am Beispiel des Intérieurs, das ihn in seinen mehrfachen Spiegelungen, eben als Widerschein, bildhaft vorführt: „Das Intérieur ist für Adorno, so paradox es klingen mag, beides zugleich, Zeichen der Täuschung und heuristisches Instrument der Wahrheitsfindung, Symptom der Befangenheit in bürgerlicher Innerlichkeit und historische Kategorie, durch die die Analyse hindurchgehen muß, um angemessene Erkenntnisse zu erlangen.“¹⁰⁸ Mehr noch als bloß Mittel der Erkenntnis zu sein, erfährt das Intérieur nun eine verdinglichungskritische Wendung – und zwar durchaus in Form einer Ästhetisierung. Die Entfremdung der Dinge, wie auch die Kierkegaards von den gesellschaftlichen Verhältnissen, verändert sich in ihrer „Anordnung“ als „Einrichtung“. Die Gegenstände konfigurieren sich zu einem „Stilleben“, das nicht aufgeht in seiner Bestimmung, nature morte zu sein. Vielmehr soll nun gar Verdinglichung über sich selbst hinausgetrieben werden – eine Idee, die die Ästhetische Theorie dann am Kunstwerk entfaltet: „Was Verdinglichung heißt, tastet, wo es radikalisiert wird, nach der Sprache der Dinge“ (GS 7, 96). In Bewegung gebracht wir das Verfestigte, indem in solcher Konstellation die transzendierenden Potentiale des Scheins der Gegenstände entbunden werden. So heißt es im Kierkegaardbuch: „Deren Scheincharakter ist geschichtlich-ökonomisch produziert durch die Entfremdung von Ding und Gebrauchswert. Aber im Intérieur verharren die Dinge nicht fremd. Es entlockt ihnen Bedeutung. Den entfremdeten wandelt Fremdheit gerade sich zum Ausdruck, die stummen reden als ‚Symbole‘“ (GS 2, 65).¹⁰⁹ Während Adorno doch andernorts meint, dass, wo jener Innerlichkeit gegen das Ästhetische ausspielt, idealistisch „autonome, auswählende Subjektivität das Recht der Gegenstände bricht“ (GS 2, 30), so wird ihm Kierkegaard hier beinahe (unfreiwillig) zum „Anwalt des Nichtidentischen“¹¹⁰.
Buck-Morss (1977, 119) unterscheidet wegen solcher Doppelsinnigkeit eine erste, ästhetisch konfigurierte Innerlichkeit, die sich als historische Konstellation lesen lässt, eben das Intérieur, von einer zweiten, die sie mit dem „existential subject himself“ identifiziert und die dann zum Schauplatz religiöser Selbstentsagung wird – vgl. GS 2, 84. Symbole sind sie im nachfolgend zu erörternden Sinne – als Figuren von Versöhnung. So nennt Albrecht Wellmer (1985, 135 – 167) Adorno.
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Dialektik im Stillstand – der Einfluss Benjamins Von der spezifischen Wendung, die Hegels Dialektik bei Adorno erfährt, gibt das Intérieur als Stilleben bereits einen Eindruck. Sie zieht sich zurück auf die „konkreten Zellen der Dialektik, wie Kierkegaards Werk selber sie austrägt“ (GS 2, 26). „Die Unschärfe der Kategorie“, die die dialektische Bewegung in Gang setzt, lasse „nicht mit umfassender Methode, sondern bloß durch geschärfte Anschauung einzelner Phänomene sich verändern“ (GS 2, 26). Entscheidend sind dabei die „Zäsuren“ zwischen den Zellen der Dialektik, die dadurch zu einer „intermittierenden“ wird, was eine „Kritik idealistischer Kontinuität“ bedeutet, als die sie von Kierkegaard ausdrücklich formuliert werde (GS 2, 143). Der für sich scheinhafte Phänomenbereich wird nicht in eine andere Form aufgehoben, sondern in sich reflektiert. Von der „Ausdauer des Verweilenkönnens beim Einzelnen“ hängt für Adorno die „Wahrheit selber“ ab (GS 4, 86), während das „Weitergehen“ ihm zum eigentlichen Problem der spekulativen Dialektik wird (GS 4, 82). Denn darin wird irreduzible Besonderheit erst eingezogen, so sehr Hegel sie je auch einzuholen verspricht. Darauf werde ich in der Diskussion seines Totalitätsbegriffs im fünften Kapitel zurückkommen. Es ist vielleicht die wichtigste Differenzbestimmung zu Hegel in methodischer Hinsicht, die freilich auch eine realdialektische Entsprechung hat. Dass die Dialektik bei Kierkegaard zur „Bewegung auf der Stelle“¹¹¹ wird, ist entsprechend weniger als Kritik an einer in sich befangenen Sphärendialektik des auf sich selbst zurückgeworfenen Einzelnen zu lesen, sondern als methodische Inspiration für Adornos eigenes Denken. Er formuliert das auch hier als „Innehalten“ in Opposition zum idealistischen „Weitergehen“. Solche Dialektik stellt als „Einspruch transsubjektiver Wahrheit, der mythischen All-Herrschaft des spontanen Subjekts sich entgegen“ (GS 2, 143). Das deutet schon an, dass das Verweilen über sich hinaustreibt und nicht einen Abbruch der dialektischen Bewegung bedeutet. Vielmehr ist hier erneut die Logik eines doppelten Umschlags am Werk. Denn die spekulative Kontinuität erreicht letztlich selbst einen toten Punkt. Diese Denkfigur verdankt Adorno nun nicht bloß Kierkegaard, sondern ebenso Benjamins Konzept des dialektischen Bildes als einer „Dialektik im Stillstand“, das er im Passagen-Werk entwickelt.¹¹² Es entspricht ganz dem der Konstellation (vgl. BW 1, 157). Aufschlussreich ist hier deren Diskussion in der „Skoteinos“-Studie. Auch sie übt Kritik an einem der Totalität geschuldeten Stillstand, der jene Kontinuität der Bewegung zur Voraussetzung hat. Allerdings führt Adorno dort vor, inwiefern sich die „konkreten
GS 2, 143. Adorno zitiert hier allerdings gerade nicht aus einer Schrift der ästhetischen Periode, die seine Stadienlehre durchführt, sondern aus der Krankheit zum Tode (KT, 39 / SKS 11, 151), die aber – wie erwähnt mit implizitem Verweis auf Entweder/Oder – in ähnlicher Weise eine Existenzdialektik defizitärer Lebensanschauungen bzw. -formen entfaltet. Wenn Kierkegaard dort meint, das Selbstwerden sei eine Bewegung auf der Stelle, so ist diese Aussage jedoch allgemeiner Art und nicht exklusiv auf die „Verzweiflung der Möglichkeit“ bezogen. Dass Adorno sie sich derart zu eigen macht, ist insofern durchaus berechtigt. Benjamin 1982, 577 u. 578 (zwei Fassungen). Vgl. hierzu: Buck-Morss 1993, Großheim 1997 u. R. Koch 1988.
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Zellen“ bereits aus dieser herauspräparieren lassen: „Seiner Mikrostruktur nach ist das Hegelsche Denken, und dessen literarische Gestalt, bereits das, was Benjamin Dialektik im Stillstand nannte, vergleichbar der Erfahrung des Auges am Wassertropfen unter dem Mikroskop, der zu wimmeln beginnt“ (GS 5, 364). Er verweist dabei sowohl auf die Phänomenologie als auch auf die Logik. Um die Differenzen zu Benjamin im Verständnis dieser Denkfigur soll es im Folgenden nicht gehen. Mich interessieren vielmehr die Anknüpfungspunkte zu Kierkegaard und der Diskussion um Entfremdung, die sich aus dessen Rezeption durch Adorno ergeben. Überhaupt kann das ambivalente und durchaus asymmetrische Verhältnis beider hier nicht näher beleuchtet werden.¹¹³ Adorno hat Benjamin – ähnlich wie Kierkegaard – wiederholt vorgeworfen, sich undialektisch zu verhalten, am prominentesten wohl im Hornberger Brief an ihn von Anfang August 1935 (BW 1, 139). Das betrifft auch Benjamins Idee, dass Wahrheit sich bloß im flüchtigen Moment des Umschlags der Extreme ineinander – wie der ins Extrem gesteigerten Logik von Theologie einerseits und Materialismus andererseits – einzustellen vermag. Adorno ist ihm darin zunächst gefolgt, hat sich später jedoch von einer solchen Wahrheitsauffassung distanziert, ohne allerdings die Umschlagsfigur selbst zu verabschieden. Den dialektischen Bildern kommt, wie Vidal Mayor (2017, 222) gezeigt hat, in der ursprünglichen Habilitationsschrift noch eine deutlich prominentere Rolle zu als in der Veröffentlichung von 1933, wo sie durch den Ausdruck „Ideen“ ersetzt werden. Allerdings knüpft Adorno damit ebenfalls an Benjamin (1974, 214) an, der im Trauerspielbuch von der „Idee als Konfiguration“ spricht. Doch auch der Ausdruck des dialektischen Bildes findet sich, durchaus nicht nur beiläufig und mit Quellenangabe, an einer Stelle der publizierten Fassung. Benjamin (1982, 575 – 576) wiederum gibt diese im Manuskript „Aufzeichnungen und Materialien“ zum Passagen-Werk wieder, was wohl als Akt der Zustimmung gewertet werden kann: Dialektik hält im Bild inne und zitiert im historisch Jüngsten den Mythos als das Längstvergangene: Natur als Urgeschichte. Darum sind die Bilder, die gleich dem des Intérieurs Dialektik und Mythos zur Indifferenz bringen, wahrhaft ‚antediluviale Versteinerungen‘. Sie dürfen dialektische Bilder heißen mit einem Ausdruck Benjamins, dessen schlagende Definition der Allegorie auch für Kierkegaards allegorische Intention als Figur historischer Dialektik und mythischer Natur gilt.¹¹⁴
Siehe dazu: Kreuzer 2019b u. van Reijen 2006. GS 2, 80. Der Ausdruck „antediluviale Versteinerungen“ bezieht sich auf eine von ihm zuvor angeführte Stelle aus der Magisterdissertation Kierkegaards. Adorno zitiert aus der Übersetzung von Hans Heinrich Schaeder (1929, 84). Solchen in der Beschäftigung mit der Ironieschrift ansonsten vernachlässigten Aspekten – dass man, wie es bei Kierkegaard selbst heißt „vom Bildlichen ausgeht“ (BI, 105 / SKS 1, 157) – widmet sich, allerdings ohne Bezugnahme auf Adornos Deutung, Kalle Sorainen (1966). Interessant ist sein abschließendes Fazit, da es gewissermaßen als Rechtfertigung für Adornos Zugang aufgefasst werden kann: „Er [Kierkegaard, M. K.] gebraucht Analogien, Symbole, Vergleiche, oft aus dem erotischen Leben, Personifikationen, Kontrastwirkung, wie z. B. Oxymoron, um seine abstrakten Spekulationen humoristisch oder ironisch zu beleben, um den Gedankeninhalt deutlicher zu machen, und darin glückt es ihm oft auch besser als mit Definitionen. Nur als stilistischer Schmuck kommt die Bildersprache seltener vor“ (Sorainen 1966, 50).
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III Konstruktion des Ästhetischen
Was sich hier zunächst zeigt, ist die Verschränkung der Methode mit ihrem Gegenstand, dem Thema des wechselseitigen Verwiesenseins von Natur und Geschichte, das ja auch ein hermeneutisches Aufeinanderbeziehen ist.¹¹⁵ Benjamins eigene Auseinandersetzung mit Hegel hat jüngst Georgios Sagriotis untersucht. Anknüpfend an dessen Inanspruchnahme Heraklits für seine eigene Seinslogik in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie ¹¹⁶ stellt er fest: „Dialektisches Denken in der Tradition Heraklits ‚vergleicht die Dinge mit dem Strome eines Flusses […]. Doch diesem ‚natürlichen Verlauf der Dinge‘ will die Dialektik Benjamins ‚Einhalt gebieten‘. Er nennt sie eine Dialektik im Stillstand. Die Dialektik des Flusses wird hier zum Gerinnen gebracht. Nicht die Dialektik kommt jedoch zum Erstarren, sondern das Erstarren selbst ist dialektisch. Der Stillstand ist somit das Medium eines Umschlags.“¹¹⁷ Es ist eine Beschreibung, die so auch zur Intermittenz der kierkegaardschen Form von Dialektik passt. Nun steckt in dem Einhaltgebieten zugleich, wie es Sagriotis (2019, 125 – 126) für Benjamin formuliert, „die Intention, was ruht in Bewegung zu bringen. Als Dialektisierung versteht er die Verflüssigung der Grenze zwischen Ruhe und Bewegung“. Letzteres ist aber in anderer Weise auch das Anliegen der hegelschen Philosophie. Der Stillstand als Prinzip der Dialektik Benjamins bewirkt jedoch nach dem Modus des Umschlags das In-Bewegung-setzen gerade deshalb, weil er darin eine Verkehrung einer selbst verkehrten Welt ist. Sie lässt sich mit der populären Formel Paul Virilios’ (1997) als „rasender Stillstand“ bezeichnen. In jenem Fragment des Passagen-Werks, das die These einer Dialektik im Stillstand enthält, geht es um das Spannungsverhältnis von Vergangenheit und Gegenwart, wobei im Bild „das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt“ (Benjamin 1982, 576). Die Beziehung beider sei „nicht Verlauf“, sondern „sprunghaft“ (Benjamin 1982, 577). Nun ist ja das Blitzhafte auch eine Zeitbestimmung, die in merkwürdigem Kontrast zum Stillstand steht, aber eben den Moment des Umschlags beschreibt. Aufschlussreich ist das, wenn man es zum vorangehenden Fragment in Bezug setzt, in dem Benjamin selbst von der Beschleunigung in der Moderne spricht: „Die Merkwelten zersetzen sich schneller, das Mythische in ihnen kommt schneller, krasser zum Vorschein, schneller muß eine ganz andersartige Merkwelt aufgerichtet und ihr entgegengesetzt werden. So sieht unter dem Gesichtspunkt der aktuellen Urgeschichte das beschleunigte Tempo der Technik aus“ (Benjamin 1982, 576). Dass der Umschlag im Einhaltgebieten als eine Figur der Ent-Entfremdung zu verstehen ist, die das entfremdende Prinzip spiegelverkehrt ihr entgegensetzt, hatte sich bereits am ambivalenten Charakter autonomer Kunst gezeigt, die dieses Moment des Umschlags in ihrer eigenen Konfiguration birgt. So werden im ästhetischen Nominalismus zunächst „Gedanke wie Kunst […] dynamisiert“, in der Konstruktion aber schlage schließlich die Dynamik vollends in Statik um (GS 7, 330). Dennoch vermag es Kunst, „die Siehe dazu: Angehrn 2008. Er versteht negative Dialektik insgesamt als radikalisierte Hermeneutik. TWA 18, 320: „[E]s ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommen.“ Vgl. auch den Zusatz zum § 88 der Enzyklopädie, TWA 8, 192– 193. Sagriotis 2019, 125. Das Hegelzitat findet sich in: TWA 18, 324. Das andere Zitat bezieht sich auf: Benjamin 1977, 1103.
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imago eines versöhnten Zustands zu antizipieren, der selber über Statik und Dynamik wäre“ (GS 7, 333 – 334). Wie das Kunstwerk ist auch das dialektische Bild eine Konstruktion. In der ursprünglichen Habilitationsschrift wird das deutlich, wenn Adorno von den „dialektischen Bilder[n]“ als dem „echte[n] Instrument von Philosophie“ spricht und meint, dass ein solches „die erschliessenden Ideen konstruiert, mit denen die Wirklichkeit interpretiert werden kann“.¹¹⁸ Mehr jedoch als im üblichen Sinne nur zu interpretieren, sollen sie dem Schein, der ihnen als Bildern des Verkehrten zukommt, letztlich ihre jeweilige Gestalt emphatischer Wahrheit negativistisch entwinden. Das dialektische Bild ist, wie die Allegorie, mehr als eine bloße Metapher – nicht umsonst verschränkt Adorno beide in der zuvor zitierten Passage aus dem Kierkegaardbuch (GS 2, 80). Sie verweisen nicht auf anderes in dem Sinne, dass es auch von ihnen abzulösen wäre, übertragen keine Bedeutung. Vielmehr eröffnen sie in ihrem konstruktiven Charakter selbst Perspektiven. Dabei ist die Rehabilitierung der barocken Allegorie gegenüber der klassizistischen Bevorzugung des Symbols, die Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels unternimmt, von besonderer Bedeutung für die Profilierung eines Dialektikbegriffs jenseits des spekulativen¹¹⁹ – und zwar, indem sie die Entfremdung der Momente festhält, die jener zusammenzwingt. Sie entspricht also der Konstellation, die Adorno seiner Deutung Kierkegaards im Ganzen zugrundelegt. Auch führt sie noch einmal in anderer Weise vor, inwiefern jener „reaktionäre[n] Klassizismus“ (GS 2, 13), den er ihm unterstellt, nicht nur im Widerspruch steht zu dessen ästhetischem Einfühlungsvermögen, sondern auch zum dialektischen und antiidealistischen Anspruch seines Existenzdenkens. Das Symbol ist Ausdruck der Versöhnung der Gegensätze von Form und Inhalt, zeichenhaftem Bild und Bedeutetem sowie nicht zuletzt von Individualität und Allgemeinheit. Die Allegorie beharrt dagegen gerade auf deren Differenz, dem „Abgrund zwischen bildlichem Sein und Bedeuten“ (Benjamin 1974, 342) und wird darin selbst zu einer dialektischen Figur.¹²⁰ Darüber hinaus beansprucht der „profane[n] Symbolbegriff des Klassizismus“ (Benjamin 1974, 336) eine Totalität, die ein Erbe seiner theologischen Herkunft ist. In dessen undialektischer Säkularisierung – anders als in der beschriebenen Inversion der Theologie – kann sie jedoch bloß ästhetisch-scheinhaft behauptet werden. Diese Totalität ist selbst eine von Immanenz und Transzendenz:
Zitiert nach: Vidal Mayor 2017, 223. Das heißt aber keineswegs, dass der Abstand zum Symbol mit dem zum Idealismus deckungsgleich wäre. Vielmehr ist ja die Allegorie selbst dialektisches oder, wie Benjamin auch sagt, „spekulatives Gegenstück“ (Benjamin 1974, 336) des klassizistischen Symbolbegriffs. Die Differenz ist also innerhalb der dialektischen Spannung der Allegorie zu suchen. Davon abgesehen bezieht sich Benjamin gerade nicht auf Hegels komplexe Bestimmung des Symbolischen in den Vorlesungen über die Ästhetik (TWA 13, v. a. 393 – 407). „Wie gewaltig in diesem Abgrund der Allegorie die dialektische Bewegung braust, das muß unterm Studium der Trauerspielform deutlicher als bei jedem andern an den Tag treten“ (Benjamin 1974, 342).
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Die Einheit von sinnlichem und übersinnlichem Gegenstand, die Paradoxie des theologischen Symbols, wird zu einer Beziehung von Erscheinung und Wesen verzerrt. […] Als symbolisches Gebilde soll das Schöne bruchlos ins Göttliche übergehen. […] Deutlich genug geht die Tendenz der Klassik auf die Apotheose des Daseins im nicht nur sittlich vollendeten Individuum. […] Demgegenüber ist die barocke Apotheose dialektisch. Sie vollzieht sich im Umschlagen von Extremen. (Benjamin 1974, 336 – 337)
Die Allegorie ist darin von unvergleichlicher Relevanz, dass sie den unversöhnlichen Gegensatz zwischen dem irdischen Jammertal und einem dem Jenseits vorbehaltenen Heil zum Ausdruck bringt. Indem sie darauf insistiert, wird sie auch Adorno zu einem Modell von Rettung über die Erfahrungswelt des barocken Menschen hinaus. Die Allegorie steht in dieser Hinsicht ebenso im Gegensatz zur Spekulation, die diese Differenz nach Kierkegaard sub specie aeternitatis eingezogen hat, wie zur bloßen, Totalität beanspruchenden Immanenz der weltlichen Verhältnisse bzw. ihrer Verklärung. Das heilige Bild ist, wie Adorno zu Recht sagt, Symbol „im genaueren Sinne“ (GS 2, 32), insofern es eben Versöhnung und Erlösung verspricht. Dagegen ist es die Aufgabe des dialektischen Bildes bzw. der Allegorie, die utopische bzw. messianische Perspektive überhaupt erst offenzuhalten. Es scheint vor diesem Hintergrund nicht mehr so abwegig, dass Adorno in dem mit „Barock“ überschriebenen Abschnitt meint, dass Kierkegaards „pragmatische[n] Motive mit denen des literarischen Barock korrespondieren“ (GS 2, 91). Er stellt aber zu Recht fest, dass der Nachweis literarischer Abhängigkeiten nicht weit führe.¹²¹ Die Referenztexte Kierkegaards sind andere. Adorno versucht daher vielmehr mit einer Unmenge an Textnachweisen zu zeigen, dass sich bei ihm „allegorische Bilder“ häufen (GS 2, 92) – auch dort, wo es der Sache nach um die „Klassik“ geht. Unter diesem Blickwinkel verändert sich ebenso die zentrale Deutungskategorie der „objektlosen Innerlichkeit“. Ihre „Isolierung“ verweist ihm nun „auf die barocke Verlassenheit der Kreatur in der Immanenz des Diesseits“ (GS 2, 92). Freilich bleibt die Frage, wie dagegen die utopische Dimension zu denken ist. Britta Scholze (2000, 263) meint in Bezug auf Adorno, die Auslegung sei gewissermaßen umzukehren, „so daß Allegorien nicht auf ein Transzendentes oder ‚ganz Anderes‘ weisen […], sondern das Eigene darstellen“. Gemeint ist damit insbesondere das „geschichtsbildende Potential der Menschen, das ihrer Freiheit entspricht“, was sie zu der durchaus treffenden Feststellung führt, Adorno versuche in seinem Erstlingswerk, Kierkegaards Philosophie überhaupt als eine „Allegorie menschlicher Freiheit“ (Scholze 2000, 263) darzustellen – d. h. als eine Allegorie ihrer unversöhnten Dialektik im Verhältnis zur Natur und zum Mythos.
GS 2, 93. Das hat nun weniger mit der Frage zu tun, ob er etwa Calderón kannte oder nicht. Ich halte das – wegen seiner Wiederentdeckung im deutschen Sprachraum Anfang des 19. Jahrhunderts und Übersetzungen, wie denen von August Wilhelm Schlegel – anders als Adorno, nicht für unwahrscheinlich.
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10 Wendung der Schwermut Die vielen Perspektiven auf Kierkegaard, die disparaten Bedeutungen des Ästhetischen, welche das erste Kapitel, die „Exposition des Ästhetischen“, eröffnet hatte, führt Adorno im letzten, wie das Buch „Konstruktion des Ästhetischen“ betitelten, zusammen. Wie die Linien der Kritik an ihm, so schießt auch die „Rettung“ von Kierkegaards Konzeption des Selbst hier in einem Punkt zusammen, was er bildhaft beschreibt: „So müßte das autonome Selbst ‚verschwinden‘ in der Wahrheit, von deren Spur es erreicht wird mit dem ästhetischen Schein, an dessen ephemeren Bildern seine mächtige Spontaneität machtlos abprallt. Wird das expansive Selbst in seiner totalen Ausdehnung durch Opfer gesprengt, so wird es als verschwindendes gerettet durch Verkleinerung“ (GS 2, 182). Es ist eine Verkleinerung, die sowohl räumlich als auch im Sinne einer Selbstzurücknahme zu verstehen ist. Die Logik gleicht jener einer Rettung des Subjekts durch sein Verschwinden in der Sprache. Nun wird sie aber zugespitzt als Erniedrigung. Die untergründige Ästhetik Kierkegaards entfaltet sich somit als eine des Hässlichen, Armen und Kleinen – das heißt im Bereich dessen, was der „Lehre vom Schönen“ (GS 2, 26) in Entweder/Oder unwürdig war. Diesen Doppelcharakter drückt bereits Adornos Rede vom „ausgeschiedenen Bodensatz des Ästhetischen“ (GS 2, 183) aus. Er verschafft sich wider Kierkegaards Intention Geltung im Sinne einer „Wiederkehr des Verdrängten“ – hier allerdings in der Perspektive der Wendung von Entfremdung. Jene Kategorien des Niederen entsprechen dabei ganz der Ambivalenz der Zentralbegriffe bei Kierkegaard, dass also Angst und Verzweiflung ebenso Vorzug wie Mangel sind: Ist die Geschichte der schuldhaften Natur die des Zerfalls ihrer Einheit, so bewegt sie zerfallend der Versöhnung sich zu, und ihre Fragmente tragen die Risse des Zerfalls als verheißende Chiffren. Darum bewährt sich Kierkegaards Meinung, daß durch die Sünde der Mensch höher stehe als zuvor; darum seine Lehre von der Ambivalenz der Angst, von der Krankheit zum Tode als Heilmittel. Mit seiner negativen Geschichtsphilosophie als dem Ausdruck bloßer ‚Existenz‘ bietet ohne sein Zutun eine positiv-eschatologische dem trauernden Blick des Idealisten in Verkehrung sich dar. (GS 2, 198)
So ist die Bewegung des Zerfalls eine von Entfremdung und Ent-Entfremdung zugleich. Das gilt sowohl für Kierkegaards philosophische Gesamtkonstruktion wie für den von ihm diagnostizierten „Zerfall mit den Grundverhältnissen menschlichen Daseins“ (GS 2, 42). Adorno deutet die Passage aus den Stadien auf dem Lebensweg, die ihm nun erneut zu einer Schlüsselstelle wird, als eine „fragmentarisch[e] […] Konzeption der Geschichte des Geistes“ (GS 2, 41) und, wie er später sagt, als „Geschichte von Wahrheit selber“ (GS 2, 178). Die Deutung und Bedeutung dieses Satzes bei Adorno – der ironischerweise im dänischen Original selbst gar nicht vorkommt, sondern eine Ausschmückung der Übersetzer Schrempf und Pfleiderer (1914) ist¹²² – lässt vermuten, dass er darin eine Bei ihnen heißt es: „Denn vor der Öde, in die er sich hinausgewagt hat und wo mehr zu verlieren ist als das bloße Leben, bebt jeder noch menschlich empfindende Mensch zurück. Er ist zerfallen mit den Grundverhältnissen menschlichen Daseins, und so werden sie, die ihn sicher durchs Leben tragen sollten, für ihn zu feindseligen Mächten“ (159). An Stelle des zweiten, für Adorno so zentralen Satzes steht bei
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Parallele zur eigenen „Idee einer Logik des Zerfalls“ erkennt, die er als „älteste seiner philosophischen Konzeptionen“ bezeichnet (GS 6, 409), und die im Grunde schlicht ein anderer Ausdruck für negative Dialektik ist. Dass sich die „negative[n] Geschichtsphilosophie“ Kierkegaards, Negation der hegelschen, in eine „positiv-eschatologische“ verkehrt, bezeichnet Adorno als „Wendung der Schwermut“ (GS 2, 175 – 180).¹²³ Sie ereignet sich im „ästhetischen Schein“, den „ephemeren Bildern“ – die Kierkegaard in der Fluchtlinie scheinloser Wahrheit ihm zufolge nicht gelten lassen will. Der Mehrfachsinn des Scheins, als Widerschein im Bild, als Täuschung sowie als Vorschein ihrer Überwindung, d. h. in Richtung auf emphatische Wahrheit, wird hier besonders deutlich: „In Schwermut kommunizieren Natur und Versöhnung; aus ihr erhebt dialektisch sich der ‚Wunsch‘, und seine Illusion ist der Widerschein von Hoffnung. Illusion: denn ihm ist nicht Seligkeit selber, bloß Bilder sind ihm gegeben“ (GS 2, 180). Weiter heißt es, dass „der Erkennende im Schein Anteil an Wahrheit [hat], den scheinlose Existenz in ihrer leeren Tiefe niemals erlangte“ (GS 2, 181). Schwermut ist „Verdichtung der Möglichkeit“¹²⁴. Darin gründet die Aussicht auf Überwindung von Entfremdung, deshalb ist ihm Schwermut eine Gestalt von Hoffnung. Sie entspricht damit in gewisser Weise der Bedeutung der Kunstwerke. Nicht nur ist für Adorno das, was an ihnen erfahrbar wird – er knüpft hier an Benjamin an – „immer Ausdruck von Trauer“ (Kogler 2019, 208). Kunst verdichtet ihrem Wesen nach Möglichkeit auf analoge Weise: „Drängt eine Musik die Zeit zusammen, faltet ein Bild Räume
Emanuel Hirsch (1958) in Übereinstimmung mit dem dänischen Originaltext lediglich: „Er ist ein Empörer wider das Irdische“ (ST, 189 / SKS 6, 167). Allerdings ändert das nichts an der entfremdungstheoretischen Relevanz des ganzen Abschnitts. Dass es hier konkret um den „Bruch“ mit der Institution Ehe geht, widerspricht der Allgemeinheit der Aussage insofern nicht, als Kierkegaard bzw. der fiktive Verfasser, „ein Ehemann“, diesen Bruch als einen Verlust von „Sicherheit im Dasein“ deutet. Das ist hier eindeutig nach dem Modell der Entbindung aus Geborgenheit zu verstehen: „[D]er beste Zufluchtsort ist hinter den heiligen Mauern der Ehe“ (ST, 188 / SKS 6, 167). Die vermeintliche Partikularität der Aussage wird ohnehin durch den Gesamtzusammenhang der Stadien relativiert. Trotz der Heterogenität der darin zusammengestellten Schriften unterschiedlicher Verfasser, die wiederum selbst Exkurse enthalten, beschreiben sie durchaus eine Entwicklungsgeschichte des Geistes. Sie ist schon deshalb „fragmentarisch“, weil der „Weg der Individualität von Unmittelbarkeit zu Geist“ (ST, IX), wie Hirsch in der Einleitung betont, nicht missverstanden werden sollte als Abfolge über die verschiedenen Stadien. Vielmehr zeigen sie für sich – als „konkrete[n] Zellen der Dialektik“ (GS 2, 26) – unterschiedliche Wege auf, die gegeneinander in je anderer Weise defizitär sind. Ob es sich bei der Deutung der Schwermut im dritten Kapitel (GS 2, 77) um eine Fehlinterpretation handelt, sei hier dahingestellt. Denn nun geht es um deren „Wendung“ in „Bildern“, die Adorno zudem anderen Schriften Kierkegaards entnimmt. Vgl. Pocai 2006, 16: „Adorno schließt dessen Konzeption von Schwermut in Orientierung an Benjamins Trauerspielbuch mit der barocken Melancholie kurz […], übersieht dabei jedoch, dass die Schwermut in ENTWEDER/ODER explizit in der pneumatologischen Tradition der christlichen Acedia und nicht in der stark somatologisch ausgerichteten Melancholietradition steht.“ Adorno zitiert hier erneut aus den Stadien (Schrempf u. Pfleiderer 1914, 392). Bei Hirsch heißt es, abermals näher am dänischen Original: „Fortsetzung der Möglichkeit“ (ST, 452 / SKS 6, 393).
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ineinander, so konkretisiert sich die Möglichkeit, es könnte auch anders sein“ (GS 7, 208). Diese wird aber von Adorno zugleich in eine unüberwindbare Entfernung gebracht, als unmögliche Möglichkeit. Damit ist noch nicht darüber entschieden, ob die zahlreichen Stimmen, die Adorno ein aporetisches und deshalb in ästhetische Theorie übergehendes Entfremdungsdenken unterstellen, Recht behalten. Es zeigt sich hier zunächst, wie er an Kierkegaard eine Gestalt von Entfremdung abliest, auf die er sich affirmativ bezieht. Die Unerreichbarkeit der „entfremdeten Objekte“ (GS 2, 177), das Verwehrtwerden der Erfüllung des Wunsches ist nur scheinbar romantisch. Dieser Linie des Entfremdungsdenkens gilt wie gesagt noch in der Negativen Dialektik die Kritik.¹²⁵ Von Kierkegaard dagegen meint er: „Mögen immer die Wunschmotive der Diapsalmen literargeschichtlich von der Romantik sich herleiten: sie sondern sich von ihr ebensowohl durch ihre Bestimmtheit wie durch ihre genaue Unerfüllbarkeit, deren Figur eben das Schema von Hoffnung bei Kierkegaard ausmacht“ (GS 2, 177). Die komplexe Analogiebeziehung zwischen Kunstwerk und Individuum bzw. Subjekt zeigt sich nun in der Entsprechung der ästhetischen Fragmente zu denen des Selbst. Es spiegelt sich also jener „Zerfall mit den Grundverhältnissen menschlichen Daseins“ ebenso in der literarischen Form, wie diese umgekehrt auch jene erhellt. Nicht umsonst erläutert Adorno den Charakter des Fragmentarischen an den Reflexionen des Ästhetikers A zum Eigentümlichen nachgelassener Schriften, die er in Analogie zu ihrem Urheber setzt: „Ruinen sind für Abgeschiedene der rechte Aufenthaltsort“ (GS 2, 198).¹²⁶ Das gilt nicht weniger für den Vergleich der eigenen Existenz mit den Buchstaben des hebräischen Alphabets (EO I, 23 / SKS 2, 31– 32) oder andernorts die Übertragung des „brüchigen, fragmentarischen Menschen auf die des rätselhaft disparaten Textes“ (GS 2, 197– 198) sowie weitere Schriftgleichnisse, aus denen Adorno ausführlich zitiert: „Entgegen der Oberflächenintention seines Systemganzen gehen die Diapsalmata auf die ‚Urschrift der humanen Existenz‘ und nirgends sind deren Gleichnisse mächtiger als hier“ (GS 2, 178). Das Bild der Schrift als Resultat einer Objektivation menschlicher Praxis – ebenso individuell, im literarischen Schaffensprozess, wie gattungsgeschichtlich als Kulturleistung – beschreibt geradezu paradigmatisch eine Bewegung der Entäußerung und Verselbständigung. Hier aber erfährt noch misslingende Wiederaneignung, ansonsten gerade das Kriterium nichtseinsollender Entfremdung, eine positive Wendung. Sie garantiert nun als Verstelltheit die Integrität der Hoffnung. Die Chiffriertheit der Schrift entspricht dabei funktional dem „Stillstand“ des dialektischen Bildes, insofern sie jeweils einen Umschlag bewirken soll, auf dessen Gelingen gleichwohl nur gehofft werden kann. Sie wird daher zur„Spiegelschrift ihres Gegenteils“ (GS 4, 283), wie es im letzten Aphorismus der Minima Moralia heißt. Doch auch die Parallelen zu Adornos philosophischem Hauptwerk sind bemerkenswert, wo er sich im Schlusskapitel dem „Geringsten und Schäbigsten“ (GS 6, 394) zuwendet. An den „Brüchen“ des Seienden, am „Fragment“, sollen sich „Spuren des Anderen“ entziffern lassen (GS 6, 396).
Vgl. GS 6, 174, 191– 192, 216. Vgl. EO I, 163 – 164 / SKS 2, 151– 152.
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Die Bedeutung der abschließenden Reflexionen seines Erstlingswerks für die Entwicklung von Adornos (Entfremdungs‐)Denken bezeugt gerade das Echo, dass sie – bisweilen fast wortgleich – zum Ende der Minima Moralia und der Negativen Dialektik finden. Die Texte entfalten alle den „Zusammenhang von Fragment und Utopie“ (Hühn u. Schwab 2019, 400) bzw. Hoffnung. Dem zugrunde liegt freilich ein theologisches Modell, das Adorno bekannter- wie umstrittenermaßen auf intramundane Utopievorstellungen überträgt. Gerade die Schriftmetaphorik, die in der Konstruktion des Ästhetischen ja besonders prominent ist, legt es aber nahe, diese Übertragung mit Angehrn als hermeneutischen Auslegungsprozess zu verstehen: „Es ist eine transformierende Aneignung des Transzendenzmotivs, die im Deuten stattfindet“ (Angehrn 2008, 284). Dieses Prinzip wendet Adorno nun auf Kierkegaard an und liest es zugleich an ihm ab, wenn er feststellt: „Die theologische Wahrheit aber – und hier ist jenseits des paradoxen Opfers Kierkegaards eigentlicher ontologischer Ansatz zu vermuten – wird von ihrer Chiffriertheit und Verstelltheit gerade garantiert“ (GS 2, 178). Dahinter verbirgt sich eine verwickeltere Konstellation als es zunächst scheint. Sicherlich folgt dieser Begriff von Wahrheit dem theologischen, der das Verbot, bildlich dazustellen oder auszusprechen, was in der „Hoffnung des Namens“ (GS 6, 62) liegt, begründet. Er entspricht aber gerade nicht dem Bildersturm des späten Kierkegaard und seinem Begriff scheinloser Wahrheit, dem ja wie erörtert Adornos Kritik gilt. Vielmehr liest er dieses theologische Modell an den Bildern seiner „ästhetischen“ Schriftstellerei ab, wodurch es vorweg schon ein invertiertes ist.¹²⁷ Besonders interessant ist nun der Einschub in jenem Satz, wenn man bedenkt, dass Adorno im vorangehenden Kapitel Kierkegaard einen „Primat rationaler Paradoxie“ über die theologische unterstellt und sein Opfer zugleich als „ontisches“ deutet – spiegelverkehrt zu Hegels Verklärung des Seienden (GS 2, 164). Kurz gesagt wird die theologische Wahrheit, die sich im Bilderverbot ausspricht, bei Kierkegaard von einer vernünftigidealistischen überformt, die sich selbst aufhebt. Adorno wiederum versucht sie freizulegen ausgerechnet durch Rekurs auf den Bereich des Ästhetischen. Dadurch soll gegen die trügerische Schicht selbstherrlicher Durchsichtigkeit¹²⁸ die Verstelltheit wieder in ihr Recht gesetzt werden. Damit ist aber endgültig auch der vermeintliche Vorwurf verstellter Ontologie – Korrelat objektloser Innerlichkeit – ins Positive gewendet. Der Vorrang des Objekts beweist sich gerade an der Schwermut. Denn der Wunsch als unerfüllbarer treibt nicht subjektiv sein Bild aus sich hervor, sondern entspringt „aus den Bildern, die dem Wunsch erscheinen, nicht aber von ihm erzeugt sind“ (GS 2, 181). Schwermut verkörpert zudem paradigmatisch, was Adornos materialistische Formel doppelsinnig auch bedeutet: „Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet“ (GS 6, 29). Gerade deshalb ist es zugleich Garant der „Objektivität“ der Erfahrung. Und das versucht Adorno eben an den „ephemeren Bildern“ (GS 2, 182) Kierkegaards zu de Ähnlich doppelsinnig ist aber bereits der auf die Septuaginta verweisende Titel „Diapsalmata“, den Kierkegaard bzw. Victor Eremita jener Aphorismensammlung geben, an der sich Adorno dabei vorrangig abarbeitet – vgl. hierzu die Anmerkung von Hirsch (EO I, 485 – 486). Wie gesagt missversteht Adorno diesen Zentralbegriff Kierkegaards als idealistisches Erbe.
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monstrieren, dass sie eine historisch-gesellschaftliche Konkretion erreichen, die ihm ansonsten oft entgeht. Eine solche Ohnmacht den objektiven Verhältnissen gegenüber spricht sich gerade in einem Aphorismus der „Diapsalmata“ aus, den Adorno im Ganzen wiedergibt: „Es gehört doch eine große Naivität dazu, zu glauben, daß man mit Rufen und Schreien irgend etwas ausrichte in dieser Welt. Als ob das Schicksal sich dadurch im geringsten beeinflussen ließe! Man nehme doch hin, was es bringt, und enthalte sich aller Umstände!“¹²⁹ Adorno braucht dieser Passage im Grunde keine materialistische Wendung mehr zu geben, geht es dort doch darum, ein gutes Stück vom Braten abzubekommen, was ja nicht zuletzt im Hinblick auf soziale Verteilungskämpfe ein beliebtes Sprichwort ist. Interessanter ist aber die Resignation, die sich in der Vermutung geltend macht, es sei am ganzen Braten womöglich kein gutes Stück. Adorno sieht darin weniger einen Fatalismus als vielmehr eine „Seligkeit“ in negativer Konfiguration, die der Verdinglichung feind sei (GS 2, 180). Sie entzieht sich in solcher vom Eigeninteresse absehenden Selbstzurücknahme der über die Tauschverhältnisse vermittelten Konkurrenz und vermag dadurch den Blick freizuhalten auf das, was wirklich wert wäre, sich zu wünschen. Deshalb erkennt er in der Unerfüllbarkeit des Begehrens ein transzendierendes Moment. Diese Lesart werde ich im letzten Kapitel, im Ausgang von der Liebesethik, eingehender erörtern. Materialistisch ist sie zunächst aber in der Hinsicht, dass sich in der Schwermut für Adorno auch Kierkegaards ambivalente Stellung zum Idealismus konzentriert: „Was vorm Herrschaftsanspruch seines systematischen Idealismus, irreduzibel aufs spontane Zentrum von Subjektivität, in disparate, untereinander unvergleichliche Bestimmungen des Ästhetischen zerbröckelt, das schießt vorm Blick der Schwermut unregelmäßig zwar, doch sinnvoll zusammen“ (GS 2, 181). Schwermut als eine Form des Selbst- und Weltverhältnisses, die den Herrschaftsanspruch und das Einheitsideal „autonome[r] Subjektivität“ (GS 2, 178) zurücknimmt – und damit das, was nach Adorno seine Konzeption noch als idealistisch qualifiziert –, schafft es somit auf andere Weise wieder, eine Einheit zu stiften, die Kierkegaard ansonsten zerfällt. Ein solcher antisystematischer Zusammenhang findet seinen adäquaten Ausdruck im Fragmentarischen des Textes. Das deutet aber schon an, dass die Nähe Adornos zu ihm größer ist, als er zugeben mag. Er muss die Übereinstimmung nicht erst im „ausgeschiedenen Bodensatz des Ästhetischen“ (GS 2, 183) seiner Schriften suchen. Er kann auch, darum soll es im Folgenden gehen, direkt an Kierkegaards explizite Idealismuskritik anschließen.
GS 2, 180; zitiert nach der Übersetzung von Pfleiderer und Schrempf (1911, 30); vgl. EO I, 35 – 36 / SKS 2, 42.
IV Spät- oder Nachidealismus? Die bisweilen recht formelhafte Charakterisierung Kierkegaards als später Idealist wird im Folgenden dessen eigener Kritik der Klassischen Deutschen Philosophie gegenübergestellt, die Adorno in seinem Erstlingswerk sehr ausführlich wiedergibt. Dabei gilt es die Frage zu beantworten, wo der Däne diesem Theoriezusammenhang bereits entwachsen ist, also dem Nachidealismus angehört. Verwickelt ist diese Konstellation deshalb, weil sich die Brüche innerhalb des Deutschen Idealismus bereits abzeichnen. Bekannt ist Kierkegaards Bezugnahme auf den späten Schelling, die Adorno aber weitgehend außer Acht lässt. Vielmehr interessiert er sich für die Anverwandlung des fichteschen Konzepts der Tathandlung durch Kierkegaard und dessen selbst wieder durch Hegel geprägte Kritik an Fichte. Sie ist relevant für die Frage, inwieweit der Däne Elemente einer idealistischen Selbstsetzung in seinen Begriff von existierender Subjektivität überträgt. Ertragreicher für die Leitfrage der vorliegenden Arbeit nach Kierkegaards Einfluss auf Adorno ist aber noch ein anderer Aspekt, der im Hinblick auf beide oft unterschätzt wird: Der Rückgriff auf Kant und damit die Initialzündung des Deutschen Idealismus in der Diskussion um das Ding an sich. Er dient sowohl Adorno als auch Kierkegaard einerseits dazu, diesen Theoriezusammenhang von innen heraus aufzubrechen. Andererseits geht es ihnen darum, schon bei Kant Tendenzen aufzuzeigen, die sie als idealistisch verstehen. Darin ist sich Adorno mit Kierkegaard oft erstaunlich einig. Besonders interessieren darüber hinaus aber die moralphilosophischen und gesellschaftstheoretischen Konsequenzen, die sich für den Frankfurter aus dem intelligiblen Charakter ergeben. Er formuliert sie noch im Abschnitt „Wahrheitsgehalt der Lehre vom Intelligibeln“ der Negativen Dialektik in einer Weise, die meines Erachtens eine untergründige Anwesenheit Kierkegaards bezeugt. Was im Grunde die gesamte Idealismusdiskussion eint, bis hinein in die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Ethik im Ausgang von Kant, ist die Bestimmung des Subjekt-Objekts. Sie zeitigt auch die Differenzen zwischen Hegel, Fichte und Schelling. Insofern sie alle auf ihre Weise für Adorno noch unter dem Primat des Subjekts bleiben, kann er seine eigene materialistische Position, gewissermaßen im Sinne eines transformierenden Nachvollzugs des Übergangs zum Nachidealismus im 19. Jahrhundert, als Alternative dagegen profilieren. Was Adorno unter einem solchen „Vorrang des Objekts“ versteht, soll am Ende des Kapitels resümiert werden – im Kontrast zu Kierkegaards Position des „subjektiven Denkers“, die er in ihrer Ambivalenz durchaus richtig erfasst. Entscheidend ist, dass dem zur Debatte stehenden Objekt echte Alterität zukommt. Darin besteht auch das Differenzkriterium zu einem Denken, das Entfremdung aufgrund der unterstellten Identitätsbeziehung nur uneigentlich beschreibt, sodass sich das Entfremdete als Eigenes im starken Sinne erweist. Das kann Adorno Kierkegaard trotz allem nicht vorwerfen.
https://doi.org/10.1515/9783111010342-006
1 Zum epochenübergreifenden Idealismusbegriff Adornos
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1 Zum epochenübergreifenden Idealismusbegriff Adornos Es ist kaum eine Übertreibung zu behaupten, dass sich das, was überhaupt als Materialismus im unkonventionellen Verständnis Adornos gelten kann, einzig in dessen Kritik an der philosophischen Gegenposition, eben dem Idealismus im weitesten Sinne, erschließen lässt. Was er darunter versteht, ist ähnlich weitgreifend wie das von Heidegger in den Blick genommene metaphysische Denken, das bei diesem mit der Denkund Seinsgeschichte nahezu vollständig zusammenfällt – von den vorsokratischen Anfängen bis zur modernen technischen Seinsauffassung – und somit über ihr herkömmliches Verständnis hinaus vor- und rückprojiziert wird. Jene Metaphysik gelte es aber, so Heidegger (1996, 416) in „Zur Seinsfrage“ (1955), nicht einfach zu überwinden – so bliebe man erst recht in ihrem Bann –, sondern, indem sie ihrem Wesen nach erst erschlossen werde, zu „verwinden“. Es ist eine Haltung, die formal Adornos Auseinandersetzung mit dem idealistischen Denken gleicht. Gerade Heidegger aber unterstellt er – vor und nach der Kehre – auf solche Weise einen Kryptoidealismus (Gordon 2016, 46). Dieser Vorwurf betrifft den Kern seiner Kritik in der Tiefe, jenseits der Polemik gegen die „sprachphysiognomischen und soziologischen Elemente“ (GS 6, 524). Er bildet darüber hinaus, wie Peter Gordon in aller Breite gezeigt hat, den gemeinsamen Nenner seiner Abarbeitung an unterschiedlichen Positionen der Phänomenologie und Existenzphilosophie, mit denen er sich doch zumindest das Anliegen einer Überwindung von Idealismus und Identitätsphilosophie teilt. Selbst der Hegel-Gegenspieler Schopenhauer ist ihm ein „Idealist malgré lui-même“ (GS 6, 370). Das macht die leichtfertige Unterstellung idealistischer Motive – nicht nur im Falle Kierkegaards – so erklärungsbedürftig. Als idealistisch lässt sich nach Adorno ein Denken ausweisen, dem ein bestimmtes, im Folgenden näher zu charakterisierendes Subjekt-Objekt-Verhältnis zugrunde liegt.¹ Auch das erinnert an Heideggers Zuschreibung des Attributs „metaphysisch“. Deshalb wird diese Konstellation der Kritik von Adorno gar über die Anfänge der abendländischen Philosophie hinaus bis in die Urgeschichte der Subjektivität zurückverfolgt. Was derart die Dialektik der Aufklärung entfaltet, ist wie gesagt bereits im Kierkegaardbuch angelegt. Dass diese ausufernde Kritik am idealistischen Denken stets auch an die des Idealismus im (historisch) engeren Sinne rückgebunden werden muss, daran hat zuletzt Marc Nicolas Sommer (2016) erinnert. Er demonstriert in aller Ausführlichkeit, dass Adornos Materialismus mitunter weniger eine Anverwandlung der marxschen Position, sondern vielmehr das Ergebnis einer eigenständigen Kritik Hegels ist. In gewisser Weise ist das Anliegen seiner frühen Kierkegaarddeutung somit das gleiche, das auch seine intensivierte Auseinandersetzung mit Hegel in den fünfziger Jahren motiviert: eben in Form der Kritik dem eigenen Denken Kontur zu geben. Inwiefern Kierkegaard und andere Hegelkritiker hierbei Ideengeber gewesen sein könnten, spielt bei Sommer jedoch allenfalls am Rande eine Rolle. Auch liegt es ver-
Die andere Bestimmung, sie liegt der Charakterisierung Schopenhauers als Idealist zugrunde, ist die der Totalität. Sie soll zunächst ausgespart bleiben, da sie im folgenden Kapitel ausführlich erörtert wird.
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ständlicherweise außerhalb des Horizonts seiner Arbeit, zu erörtern, in welchem Maße der Idealismusvorwurf, der oft mit dem des Identitätsdenkens konvergiert, die Folie seiner Kritik an den unterschiedlichsten ideengeschichtlichen Positionen bildet. Kierkegaard kommt dabei aber in zweifacher Weise eine Scharnierfunktion zu – durch seine Zwischenstellung im Übergang zum nachidealistischen Denken und als Vater der Existenzphilosophie. Ausgangspunkt der Überlegungen im vorangehenden Kapitel war die Feststellung, dass Adorno den spezifischen methodischen Zugang Kierkegaards bewusst ausblendet und so „zwangsläufig die Motive und Versatzstücke idealistischer Subjektphilosophie in den Blick“ (Hühn u. Schwab 2019, 397) geraten. Dass Kierkegaard in den Begriffen dieser Tradition denkt, ist jedoch keine Äußerlichkeit, wie Wilhelm Anz (1980, 57) zu Recht feststellt: „Diese Tatsache wird nicht dadurch aus der Welt geschafft, daß man die Terminologie des Idealismus zu einem bloßen Instrument herabsetzt, das den Kern seiner Sache nicht betrifft.“ Kierkegaards „Sache“ ist der Standpunkt des subjektiven Denkers, der nur als Kritik am spekulativen Denken wirklich zu verstehen ist: „Existenzbegriffe sind als Gegenbegriffe immer Gegenpositionen zu den entsprechenden idealistischen Kategorien; aber eben deshalb entsprechen sie zugleich der Vorzeichnung, die diese in einem entfremdeten Medium gegeben haben“ (W. Anz 1980, 58). Kierkegaard kommt somit philosophiegeschichtlich einerseits eine Zwischenstellung zu, wie er andererseits mit seiner Existenzlehre auch einen Neuanfang schafft. Die Identitätsphilosophie, der Adornos Kritik gilt, gründet in der idealistischen These vom Subjekt-Objekt, die für ihn unter dem Bann des Subjekts bleibt. Die Behauptung, dass Denken und Sein, Begriff und Gegenstand, Idealität und Realität etc. eins seien, erhellt je unterschiedliche Aspekte dieses „subjektivitätstheoretischen Paradigmas“ (Hühn 2009, 7). Solcher Identität gilt, wie im zweiten Kapitel erörtert, ebenso die Kritik Kierkegaards. Gleichwohl unterstellt Adorno auch ihm einen Vorrang des Subjekts, der sich nicht zuletzt in dessen Reflexionen zur Methode, zur Sprachphilosophie und zum Ästhetischen im engeren und weiteren Sinne geltend macht. Stets sieht er darin verfügende Subjektivität walten, die das „Recht der Gegenstände bricht“ (GS 2, 30). Dem entgegen steht die Einsicht, dass Kierkegaard Geist bzw. Selbst wesentlich von seinen unverfügbaren Bedingungen her denkt und dass er im Begriff der Existenz (des Einzelnen) die unterstellte vereinnahmende oder ausschließende Subjektivität hinter sich lässt. So meint Wilhelm Anz (1980, 57): „Die subjektive Reflexion des existierenden Denkers ist negative Dialektik. Sie nimmt der spekulativen Reflexion ihren Gegenstand weg und zeigt, daß die Denkbewegung, in der er hervorgebracht wurde, eine Voraussetzung außerhalb ihrer hat, die sie prinzipiell nicht einholen kann: die Existenz. Diese aber schließt durch ihre spezifische Endlichkeit den Idealismus aus“. Das gesteht ihm trotz allem auch Adorno zu, wenn er in „Kierkegaard noch einmal“, die vorangehende Apologie Hegels konterkarierend, feststellt: „Im Kierkegaardschen Subjektbegriff, als dem der Existenz, schlägt jenes nichtidentische Reale durch, das die Konzeption des reinen Subjekts als Geist im Idealismus eskamotiert“ (GS 2, 250). Er gleicht in dieser Selbstbescheidung des Denkens den materialistischen Theoriealternativen, die den objektiven Voraussetzungen von Subjektivität ein Primat zusprechen. Adorno unterstellt
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Kierkegaard ja gar eine Tendenz zum Positivismus (GS 2, 250). Diese Ambivalenz gründet ihm zufolge im Existenzbegriff selbst, der gerade deshalb eine solche Anziehungskraft entfalten konnte, „weil er Divergierendes zu verbinden schien: die Reflexion auf das Subjekt, das jegliche Erkenntnis und damit jegliches Seiende konstituiere, und konkrete, jedem Einzelsubjekt unmittelbare Individuation seiner Erfahrung“ (GS 6, 129). Ähnlich argumentiert zunächst auch Anz. Das Interesse des Nachidealismus gelte der Aufdeckung der „empirische[n] Vorgeschichte des gegenwärtig gegebenen gesellschaftlichen, historischen, psychischen Zustandes“ (W. Anz 1980, 59). Diese trete „an die Stelle der transzendentalen Vorgeschichte des idealistischen Selbstbewußtseins“, in der es „als absolutes Subjekt in dialektischer Argumentation sich als die Voraussetzung des Systems“ hervorbringe (W. Anz 1980, 59). Der Existenzbegriff Kierkegaards sperrt sich ihm zufolge aber beidem, besetzt also gar nicht die Lücke, die das absolute Subjekt samt Vorgeschichte hinterlassen hat. Ob das nun ein Nachteil ist und ob es berechtigt ist, ihn derart in einen Gegensatz zur nachidealistischen Bewegung zu bringen, gilt es zu diskutieren.
2 Kierkegaards Einzelner und das unglückliche Bewusstsein Dass Adorno Kierkegaard letztlich in entscheidender Hinsicht als dem Idealismus entwachsen deutet, hat seinen Grund darin, so die These meiner Arbeit, dass er ihn als geistes- und sozialgeschichtliche Schwellenfigur entfremdungstheoretisch deutet. Das widerspricht seinem vordergründigen Anliegen, Kierkegaards Denken im Ganzen als Entwurf einer in sich verschlossenen, spätidealistischen Subjektivität zu rekonstruieren und zeigt sich gerade in der Art und Weise, wie Adorno im Schlusskapitel der Konstruktion des Ästhetischen an seinem Existenzbegriff eine Gestalt von Entfremdung abliest, die zum Konzept Fichtes und Hegels in deutlichem Gegensatz steht. In ihrer Schwere – und letztlich ihrer von Adorno nobilitierten Schwermut – holt Existenz eine Objektivität ein, die, wie Kierkegaard selbst sagt, dem „reine[n] Selbstbewußtsein“ in der „Luftigkeit des Idealismus“ entgeht (BA, 93 / SKS 4, 381). Andererseits sieht sich Adorno bisweilen geradezu genötigt, Hegel gegen Kierkegaard zu verteidigen, ähnlich wie es sein Schüler Hermann Schweppenhäuser (1967) später unternahm – was zunächst davon zeugt, dass er seinen Angriff auf die Spekulation durchaus ernst nimmt. Auf dessen damals noch unveröffentlichte Arbeit bezieht er sich in seiner Gedenkrede von 1963, wenn er feststellt: „Der gesamte Prozeß Kierkegaard contra Hegel ist […] neu aufzurollen“ (GS 2, 247). Konkret versucht er Kierkegaard nun wie Schweppenhäuser (1967, 147) dem „unglücklichen Bewusstsein“ Hegels einzuschreiben: Hegel schlug seinen nachgeborenen Todfeind, indem er ihn bis in die idiosynkratischen Züge hinein aus der Bewegung seiner eigenen Philosophie prophetisch erfand. Wirft Hegel dem unglücklichen Bewußtsein, als einem dem Zusammenhang gegenüber sich blind Machenden, Abstraktheit vor, so wird der Kierkegaardsche Einzelne abstrakt, noch weit buchstäblicher. Was sein möglicher Inhalt
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sein könnte, stammt aus der Welt, zu der der absolut Einzelne in absolutem Gegensatz sein soll. (GS 2, 249)
In der Kierkegaardforschung ist der Versuch, seinen Einzelnen als Verwirklichung des hegelschen unglücklichen Bewusstseins zu begreifen, beinahe durchweg auf Ablehnung gestoßen, nicht zuletzt, da Kierkegaard ja selbst solche Figuren beschreibt und sich dabei deren Standpunkt gerade nicht zu eigen macht. Man kann daher auch argumentieren, dass das, was Hegel lediglich seiner Logik nach umreißt, von Kierkegaard als existenzielles Problem ausgeführt wird. So deutet Sebastian Soppa (2010, 15 – 42) Kierkegaards Werk im Ganzen im Ausgang von diesem Theorem Hegels, wobei auch er dessen „Vorgeschichte“ miteinbezieht – das Thema der Zerrissenheit mit sich selbst in den theologischen Jugendschriften. Auch Soppa (2010, 8) hinterfragt kritisch, ob es sich beim „religiösen Bewusstsein“ im Sinne Kierkegaards tatsächlich um eine Überwindung des unglücklichen handelt, nicht zuletzt weil jenes noch durch eine spezifische Art des Leidens bestimmt bleibt. Jedenfalls beschreibt der Däne nicht nur Formen des Selbstverhältnisses, die dem Vorbild bei Hegel gleichen, sondern bezieht sich auch ausdrücklich auf ihn. Für beides ist die Rede „Der Unglücklichste. Eine begeisterte Ansprache an die Symparanekrômenoi“ aus Entweder/Oder das prominenteste Beispiel. Wenn er dabei seine Zustimmung zu Hegel bekundet und den Eindruck, den die Lektüre hinterlassen hat, bezeugt, so ist er hier wohl, jenseits der übergreifenden Mitteilungsabsicht, tatsächlich beim Wort zu nehmen. Adorno zitiert aus besagter Rede eher beiläufig an einer Stelle im Kierkegaardbuch und ohne Bezug zu Hegel (GS 2, 146). Auch das unglückliche Bewusstsein wird in seinem Erstlingswerk mit keinem Wort erwähnt. Dass der kierkegaardsche Einzelne ihm entspricht, formuliert Adorno ausdrücklich erst in der zweiten Beilage aus den sechziger Jahren. Allerdings ist das unglückliche Bewusstsein insofern mit dabei, als es zentralen Denkfiguren Kierkegaards entspricht, die Adorno ausführlich diskutiert. Die Parallelität liegt gerade im Begriff der Verzweiflung auf der Hand – und ebenso die entfremdungstheoretische Relevanz des Problems. Schließlich geht es in beiden Fällen um eine innere Entzweiung mit sich selbst. Hegel versteht darunter ein Bewusstsein, das von der Wahrheit, in der es leben könnte, getrennt ist. Kierkegaard selbst paraphrasiert das an besagter Stelle treffend: „Der Unglücklichste nun ist einer, der auf die eine oder andere Weise sein Ideal, seines Lebens Inhalt, seines Bewußtseins Fülle, sein eigentliches Wesen außerhalb seiner selbst hat“ (EO I, 236 / SKS 2, 216). Nach Hegel tut sich auf dieser Stufe die Kluft zwischen dem „wandelbaren“ und „Unwesentlichen“ bzw. Endlichen einerseits und dem „unwandelbaren“, dem „Wesen“ bzw. Unendlichen anderseits auf (TWA 3, 164). Kierkegaard bildet dieses Dilemma in den Synthesemomenten der Verzweiflung ab. Das heißt freilich, dass hier die Analogie zu Hegel sogleich insofern eingeschränkt werden muss, als Kierkegaard damit ja keine Bewusstseinsstufe beschreibt, sondern vielmehr das Bewusstsein der Entzweiung mit sich gerade nicht voraussetzt und erst im zweiten Durchgang der Verzweiflungsanalyse graduell differenziert. Hegel dagegen geht es darum, dass hier das Bewusstsein der Fremdheit als solches festgehalten und damit zugleich die Selbstentfremdung fixiert wird. „Beide sind für es einander
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fremde Wesen; es selbst, weil es das Bewußtsein dieses Widerspruchs ist, stellt sich auf die Seite des wandelbaren Bewußtseins und ist sich das Unwesentliche; aber als Bewußtsein der Unwandelbarkeit oder des einfachen Wesens muß es zugleich darauf gehen, sich von dem Unwesentlichen, d. h. sich von sich selbst zu befreien“ (TWA 3, 164). Es befindet sich also in einem Kampf gegen sich selbst, den es nur verlieren kann. Auf die Bedeutung des Abschnitts als einer Darstellung von Entfremdung im Sinne misslingender Wiederaneignung verweist Hegel ganz zu Beginn und dabei zugleich ausdrücklich auf das Geistkapitel voraus. Dort wird eingelöst, was hier verwehrt bleibt: „Seine wahre Rückkehr aber in sich selbst oder seine Versöhnung mit sich“ (TWA 3, 163). Mit Hegel teilt sich Kierkegaard grundsätzlich die Einsicht, dass es sich um eine „scheiternde Subjektivität“² handelt, die sich keine Einheit oder Kontinuität zu geben vermag und stets nur im einen Moment, in der Ermangelung des anderen sein kann. In Entweder/Oder hebt Kierkegaard dabei vor allem auf das Misslingen, Gegenwart herzustellen, ab. Der „Unglücklichste“ lebt „entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft“ (EO I, 237 / SKS 2, 216). Es handelt sich also, wie auch in der Krankheit zum Tode, um eine Form der Selbstentfremdung, die zum Gegenstand der Kritik wird und nicht etwa eine, die sich Kierkegaard zu eigen machen würde – allenfalls, wie ja auch Hegel, als Moment in der Perspektive ihrer Überwindung. Gleichwohl liegt eine gewisse Entsprechung darin, dass die Dialektik des unglücklichen Bewusstseins auf dessen Selbstaufgabe hinausläuft und Erlösung gänzlich dem Jenseits überantwortet wird. Und es ist auch die ausschließende Selbstbezüglichkeit des kierkegaardschen Vorbegriffs von Verzweiflung, die diese in eine Nähe zu jener Bewusstseinsstufe der Phänomenologie des Geistes bringt. Schließlich sind beides „Formen des Unglücks, die im Menschen selbst liegen und nicht auf externe Umstände zurückzuführen sind. Dem Scheitern an der Welt steht das Scheitern an sich selbst gegenüber; das eine ist Widerfahrnis, das andere selbsterzeugtes Leid“ (Soppa 2010, 1). Zumindest in dieser Hinsicht, die aber wie erörtert nur die eine Seite von Kierkegaards Denken ausmacht, ist nachvollziehbar, weshalb Adorno ihn derart vom unglücklichen Bewusstsein Hegels her versteht. Es klingt wie ein Echo seiner These vom abstrakten Selbst Kierkegaards, die er ja vor allem aus dessen Bestimmung zu Beginn der Krankheit zum Tode begründet. Allerdings ist es Adorno in seinem Erstlingswerk ja weniger darum zu tun, Hegel gegen Kierkegaard zu verteidigen, als vielmehr auch diesen einer idealistischen Subjektkonzeption zu überführen, die sich seiner Deutung zufolge in ihrer Gegensätzlichkeit, als Inversion des Idealismus, gerade bestätigt. Vor diesem Hintergrund scheint mir aber der Versuch, Kierkegaard dem unglücklichen Bewusstsein einzuzeichnen, gerade anzudeuten, dass und weshalb sich sein Denken dem hegelschen Schema von Entfremdung nicht fügt. Es wird sich zeigen, dass Adorno in der Negativen Dialektik diesbezüglich eine eigentümliche Umdeutung vornimmt. Er versteht nun weniger Kierkegaard als eine von Hegel begriffene, partikulare Bewusstseinsgestalt, sondern erkennt darin vielmehr eine Form von Entfremdung, die spekulativ nicht mehr
So ist die Untersuchung von Soppa (2010) betitelt.
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aufzuheben ist und einen Wahrheitsgehalt, der Kierkegaard über das idealistische Denken hinaushebt. In anderer Weise werden im letzten Kapitel der vorliegenden Untersuchung die ideengeschichtlichen Trennlinien an der Frage nachgezeichnet, wie eine subjektive Verwirklichung von objektiver gesellschaftlicher Allgemeinheit zu denken und inwieweit sie praktisch möglich ist. Sie allein erlaubt es jedenfalls dem Bewusstsein, diesseits seiner religiösen Überwindung aus seinem Unglück herauszutreten. Und es wird zu diskutieren sein, ob das gängige Vorurteil zutrifft, Kierkegaard würde diese Perspektive nicht einholen. Deshalb hat man ihn ja jener hegelschen Bewusstseinsgestalt eingeschrieben.
3 Differenzen über Differenzen: Kierkegaard und der idealistische Binnendiskurs Bisher ging es fast ausschließlich um Kierkegaards Kritik an Hegel bzw. der „Hegelei“ seiner Zeitgenossen. Ihnen gilt seine Polemik, während er Fichte vergleichsweise schont. Mit ihm macht er gegenüber der „systematischen Abgeschlossenheit“ bei Hegel das „fortgesetzte Streben“ des Selbst geltend (AUN I, 114 / SKS 7, 116 – 117). Andererseits wendet er sich zugleich gegen die bloß abstrakte Bestimmung des Ich als reines Selbstbewusstsein und dessen Unendlichkeit. Und damit nähert er sich, wie sich zeigen wird, wieder Hegel an, mit dessen Kritik er terminologisch und inhaltlich erstaunlich übereinstimmt. Auch Adorno verweist im Kierkegaardbuch wiederholt auf jene Nähe und Distanz zu Fichte, auf den er„in gewissem Sinn und hinter Hegel zurückgreift“ (GS 2, 250). Fichte ist insofern von kaum zu unterschätzender Bedeutung, als er wie gesagt das subjektivitätstheoretische Modell vorgibt, das Schelling kritisiert und das Hegel, an diesen Grunddissens anknüpfend, weiterdenkt. Es organisiert so auch die Idealismuskritik Adornos und ist gewissermaßen das Paradigma dessen, was er pauschal als Vorrang des Subjekts den unterschiedlichsten philosophischen Entwürfen vorrechnet. Schelling wiederum war, nicht nur mit seiner Spätphilosophie, ein wichtiger Impuls für die Hegelkritik Kierkegaards. Diese Bedeutung kommt ihm aber überhaupt für die Überwindung des Deutschen Idealismus zu. Entsprechend kontrovers wird seine Stellung darin in der Forschung bis heute diskutiert. So spricht etwa Walter Schulz (1955) – ebenfalls ein Kenner Kierkegaards – von der Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, Theunissen (1976) dagegen von der Aufhebung des Idealismus in der Spätphilosophie Schellings. Nun impliziert ja der Begriff Aufhebung bereits, dass der Idealismus, wenn überhaupt, so von innen heraus überwunden wird (vgl. Günther 2012, 103) im Sinne einer Selbstaufhebung. Das gilt in anderer Weise auch für die Junghegelianer und Marx. Pointierter noch äußert sich Adorno, der ausdrücklich vom „materialistische[n] Moment in Schelling“ (GS 6, 184) spricht, dessen Interesse er gegen Hegel wahrgenommen habe – und zwar in jener Passage der Negativen Dialektik, in der er kritisiert, dass Kierkegaard den Sprung aus der Immanenz der Denkbewegung selbst wieder hypostasiert habe. Schelling nimmt in gewisser Weise die Absetzbewegung des Nachidealismus von Hegel vorweg, indem er in den verschiedenen Phasen seines
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Schaffens einen je anderen Weg zur Objektivität im Sinne einer nicht im Denken aufzulösenden weist, ohne dabei in das andere Extrem eines transsubjektiven, realistischen Dogmatismus zu geraten. Es sind solche Figuren der „Selbstaufhebung des Begriffs“ und der „Selbstabstraktion des Denkens von sich“, ³ die Hühn an der Kontroverse zwischen Fichte, Schelling und Hegel in ganzer Breite nachvollzieht und im Hinblick auf Kierkegaard erörtert. Der frühe Versuch einer„Abstraktion von dem Anschauenden in dieser Anschauung“⁴, den Schelling 1801 in Über den wahren Begriff der Naturphilosophie unternimmt, ist gleichwohl gescheitert, wie er selbst später einsah. Er steht im Zentrum seines Streits mit Fichte über die objektive oder subjektive Fassung intellektueller Anschauung und weist in vielem auf spätere Problemkonstellationen voraus. Dort heißt es: „Denn was ich N a t u r nenne, ist mir eben nichts anderes als das rein-Objektive der intellektuellen Anschauung, das reine Subjekt-Objekt, was jener = Ich setzt, weil er die Abstraktion von dem Anschauenden nicht macht, die doch notwendig ist, wenn eine rein-objektive, d. h. wirklich theoretische Philosophie zu Stande kommen soll“ (Schelling 1859, 90). Es zeigt sich hier zunächst, dass das im Folgenden zur Debatte stehende „Subjekt-Objekt“ sich nicht umstands- bzw. unterschiedslos dem von Adorno oft recht pauschal behaupteten Vorrang des Subjekts subsumieren lässt. Freilich läuft auch Schellings zunächst anders anmutendes Unterfangen gerade darauf hinaus – und das hält ihm auch Fichte entgegen. Hühn (2009, 10) stellt entsprechend fest, dass damit ein „bewusstseinsimmanentes Selbstverhältnis“ als Einheitsstiftendes des Wissensganzen vorausgesetzt ist und seine Figur der Selbstaufhebung letztlich dazu geeignet ist – viel mehr als Fichtes Konzept – „die Reichweite der Geltung des subjektivitätstheoretischen Paradigmas über alle Gebühr hinaus auszudehnen und ins Unermessliche zu steigern“ (Hühn 2009, 20). Das geschieht dann wiederum bei Hegel in seiner „Verklärung durchs System der Vernunft“ (GS 2, 134), die sich ja gerade Schellings Gedanken einer „integrativen Aufhebung des Subjektiven“ (Hühn 2009, 20) zunutze macht.⁵ Adorno wirft das aber insofern noch Kierkegaards paradoxem Selbstopfer der Vernunft vor, als dort jenes Paradigma „in seiner totalen Ausdehnung […] gesprengt wird“ (GS 2, 182). Dennoch ist er bereits in entscheidender Hinsicht über diese Konstellation hinaus. Kierkegaard geht es – und sei es auch im Modus der für Adorno nicht weniger idealistischen Umkehrung – um etwas gänzlich anderes als jener „inneridealistische[n] Kontroverse um die Einstiegsmöglichkeiten zu einer absoluten Vernunfterkenntnis“ (Hühn 2009, 21). So meint Schelling (1859, 114) ja schon im ersten Paragraphen seiner Darstellung meines Systems der Philosophie, dass Vernunft als „absolute“ zu verstehen sei, d. h. als „totale Indifferenz
Hühn 2009, 1; im Original kursiv. Schelling 1859, 87. Hegel greift diesen Gedanken, wie Hühn (2009, 7– 8) bemerkt, an prominenter Stelle zu Beginn der Wissenschaft der Logik wieder auf, und zwar in der dritten Anmerkung zur „Einheit des Seins und Nichts“ (TWA 5, 104– 105). Indem er vorführt, wie das Prinzip einer doppelten Abstraktion – als einer von der Bestimmtheit alles Seienden und der von eben diesem Abstraktionsprozess selbst – scheitert, verweist er implizit auf Schelling. Wie dieses Motiv zum Kern seines spekulativen Denkens wird, das führt Hühn (2009, 17) auch im Hinblick auf den berühmten Mehrfachsinn des Ausdrucks „Aufheben“ vor.
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des Subjektiven und Objektiven“. Die Identitätsbeziehung des Subjekt-Objekts, die sowohl Anfangs- als auch Endpunkt seiner Philosophie ist, stellt sich also als eine von Indifferenz dar und ist insofern – auch im herkömmlichen Sinne – als überwundene Subjektivität objektiv. Kierkegaard indes versteht wie erörtert Subjektivität als Interesse im Doppelsinn und setzt sie ausdrücklich der „Interesselosigkeit“ der hegelschen Spekulation entgegen. Damit sprengt er, das erkennt auch Adorno an, das Subjekt-Objekt auf. Seine Selbstaufhebung ist eine der Vernunft, nicht aber des Subjektiven. Die Aufhebung ist daher wesentlich desintegrativ im Verhältnis zum absoluten Vernunftdiskurs. Auch lässt sich Kierkegaard keineswegs dem von Kant behaupteten Primat praktischen Vernunftgebrauchs einschreiben, der selbst wiederum zum Ausgangspunkt der frühen idealistischen Systementwürfe wird, die ihn über sich hinaustreiben.Wie sich im Folgenden zeigen wird, ist Kierkegaard zwar unzweideutig auf diese Problemstellung bezogen, seine Bestimmung der Wirklichkeit des Ethischen ist jedoch ungleich radikaler. Und das gilt, wie bereits deutlich geworden ist, auch für sein Verständnis praktischer Wahrheit. Hühn (2009, 194) fasst den Dissens mit Kant und dem ihm nachfolgenden Idealismus unter der Überschrift einer „Kritik der Hypostasierung des praktischen Selbstvollzugs“ zusammen. Auch hier ist nämlich das Interesse ein ganz anderes. Jene Entwürfe zielen darauf, dem Denken durch „epistemische Selbstbegründung“ und „apriorische[r] Einheitsstiftung“ ein neues Fundament zu geben, nachdem die überkommene Metaphysik durch Kant endgültig diese Stellung verloren hatte (Hühn 2009, 195). Kierkegaard verabschiedet derartige Begründungsansprüche, sieht er darin doch eine Verzerrung und Hypostasierung der „ursprüngliche[n] Intention auf ein genuin praktisches Selbstverhältnis des Menschen“, die in ihr Gegenteil verkehrt und „auf eine ein für alle Mal fixierte, transzendentale Möglichkeitsbedingung objektiver Wahrheit ausgerichtet“ werde (Hühn 2009, 195). Insofern steht dieser Einspruch im Rahmen der übergreifenden, im zweiten Kapitel umrissenen Kritik an der theoria im Sinne Aristoteles’, der dominanten Weise abendländischen Philosophierens überhaupt, als deren Vollendung er Hegel sieht und die ihm als eine Verkehrung des Wirklichen schlechthin gilt. Es ist gleichwohl nicht ohne Ironie, dass diese Kritik der Fichtes am frühen Schelling gleicht – also dem umrissenen Versuch, mittels der Selbstabstraktion von allem Subjektiven einen Einstieg zur absoluten Vernunfterkenntnis bzw. zur objektiven Seite des Geistes zu gewinnen. Er wirft ihm nicht weniger vor, als das für den Frühidealismus konstitutive Verhältnis von Theorie und Praxis zu verkehren (vgl. Hühn 2009, 10). Und wie vorhin zitiert, will Schelling selbst ja auf eine „rein-objektive, d. h. wirklich theoretische Philosophie“ hinaus. Kierkegaard dagegen betreibt, wie es Hühn (2009, 195) treffend formuliert, gegenüber solchen Begründungs- und Synthetisierungsabsichten eine „Exterritorialisierung des individuellen Selbstvollzugs“. Darin liegt aber, wie sie an dieser Stelle nur andeutet, die Gefahr, dass die dabei „faktisch vollzogene Abspaltung des Ortes unserer Selbsterfahrung gegenüber der diskursiven Praxis zu einer vollständigen Disjunktion gerät“ (Hühn 2009, 195). Exterritorialisiert ist Praxis, wie im dritten Kapitel beschrieben, derart, dass sie als der Ort, an dem sich praktische Wahrheit erweist, schlechthin jenseits jeder
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theoretischen Vorvergewisserung liegt, dabei aber auf diese auch dialektisch angewiesen bleibt. Allerdings droht einerseits beim späten Kierkegaard diese Dialektik von Theorie und Praxis in ihrer theologischen Überformung durch Begriffe wie „Vorsehung“ und „Lenkung“ einseitig zu Gunsten einer Lebenspraxis aufgelöst zu werden, die sich dann tatsächlich disjunktiv zur diskursiven Praxis der Vernunft verhält. Andererseits tendiert schon sein Begriff von Praxis selbst bisweilen dazu, in sein Gegenteil umzuschlagen, wie sich am Konzept der „inwendigen Tat“ und seiner Abwertung des „Äußeren“ der Handlung gezeigt hat. Freilich ist diese Verkehrung grundverschieden von der beim frühen Schelling. Kierkegaards Praxisbegriff lässt aber durchaus jene ausschließende Selbstbezüglichkeit erkennen, die Adorno ihm zum Vorwurf macht. Die These des Kierkegaardbuchs, dass sein paradoxes Selbstopfer der Vernunft nicht weniger idealistisch sei, weil es „Hegels Gedanken einer souveränen Vernunftmacht“ (Wesche 2003, 161) nicht überwinde, sondern vielmehr reproduziere, ist in dieser Hinsicht durchaus gerechtfertigt. In beiden Fällen wird das Paradox selbst, als die Zwischenbestimmung von Theorie und Praxis, entschärft. Das geschieht nicht bloß in jener Vernunftphilosophie, der sich Kierkegaard sicherlich nicht zuschlagen lässt. Insgesamt besteht aber kein Zweifel daran, dass er in seiner Grundtendenz der bereits in Kants Dualismus angelegten einheitsstiftenden Absicht des Idealismus entgegensteht. Denn seine Denkbewegung kann nur als eine von Entzweiung, Disjunktion, Desintegration oder Exterritorialisierung beschrieben werden, also in Begriffen des Entfremdungsdiskurses. Adorno hält das fest, wenn er meint, dass die Entfremdung von Subjekt und Objekt Folie der kritischen Interpretation Kierkegaards sein müsse. Ebenso wird aber, wie sich hier erneut zeigt, dadurch das spekulative Denken selbst als entfremdetes lesbar – d. h. als Abstraktion von der konkreten Existenz und als Verkehrung der Wirklichkeit. Jedenfalls entscheidet nach Adorno über Kierkegaards Zugehörigkeit zum Idealismus, wie Entfremdung begriffen wird.
3.1 Schellings Bedeutung – und seine Abwesenheit in Adornos Kierkegaardkritik Wie wichtig Schelling für Kierkegaards Hegelkritik war, ist allgemein bekannt.⁶ Davon zeugt die in seinen Notizen festgehaltene überschwängliche Begeisterung, nachdem er im Wintersemester 1841/42 Schellings Antrittsvorlesungen zur Philosophie der Offenbarung in Berlin gehört hatte. Dass er sich bald schon umso entschiedener von ihm distanzierte ist eher ein Beleg für die Wirkung seiner Gedanken als für das Gegenteil. Im Zentrum stand dabei der Begriff der Wirklichkeit als einer im Begriff nicht aufgehenden
Vgl. dazu aus jüngster Zeit – neben dem bereits erwähnten Aufsatz von Philipp Schwab (2014) und der Habilitationsschrift von Lore Hühn (2009) – den von Jochem Hennigfeld und Jon Stewart herausgegebenen Sammelband Kierkegaard und Schelling: Freiheit, Angst und Wirklichkeit (2003). Auch in Stewarts Untersuchung zum Verhältnis Kierkegaards zu Hegel aus demselben Jahr finden sich einige Seitenblicke auf Schelling.
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bzw. denkerisch nicht einzuholenden.⁷ Kierkegaard hält das zu Beginn seiner Notizen zu Schelling in aller Kürze fest: „[E]in Begriff ist nämlich ausgedrückt durch quid sit, aber daraus folgt nicht, dass ich erkenne: quod sit“ (DSKE 3, 333 / SKS 19, 305). Inwiefern er sich dessen Unterscheidung der Sphäre des bloßen Denkens als einer im Modus der Möglichkeit und der Sphäre der Wirklichkeit, auf die von jener nicht zu schließen sei, zu eigen macht, war bereits im zweiten Kapitel erörtert worden. Hegel wird vor diesem Hintergrund der Sphärenvermengung bezichtigt. Allerdings dürfen dabei auch die Unterschiede nicht aus dem Blick geraten. Denn Wirklichkeit steht bei Kierkegaard für den individuell zu leistenden Existenzvollzug selbst, während ihr Begriff bei Schelling sich auf alles Seiende bezieht und in einer „positiven Philosophie“ zum Tragen kommt, die letztlich den idealistischen Vernunftdiskurs doch nicht sprengt. Auch der Status des Begriffs selbst ist ja ein ganz anderer. Denn das Erkennen des Wirklichen, Faktischen offenbart sich für Schelling als ein Wiedererkennen dessen, was zumindest hinsichtlich seiner quidditas bereits im Begriff enthalten ist. Zwar besteht eine Gemeinsamkeit beider in der Inanspruchnahme einer Philosophie, die hinsichtlich ihrer Begründungskraft ein bloß negatives Resultat hat. Gerade die Zweiteilung der Krankheit zum Tode in einen negativ-philosophischen und positiv-sündentheologischen Abschnitt, der gewissermaßen auf dem Boden der Offenbarung steht, scheint – trotz des zeitlichen Abstands zu den Berliner Vorlesungen – auf den ersten Blick an Schelling zu erinnern.⁸ Allerdings geht es Kierkegaard ja um etwas völlig anderes. Im ersten Abschnitt wird schließlich keine Philosophie als „reine Vernunftwissenschaft“ entfaltet. Vielmehr soll den Lesenden ein Nachvollzug scheiternder Selbstdeutung(en) ermöglicht und sie über das negative Resultat zu einer Übernahme der rückwirkenden theologischen Deutung der Verzweiflung motiviert werden. Das geschieht eben deshalb, weil der Standpunkt des Glaubens weder vorausgesetzt noch vermittelt werden kann, sondern individuell angeeignet werden muss, um überhaupt Glaube sein zu können. Auch ist es Kierkegaard in seinem Denken insgesamt ja nicht darum zu tun, unter Aufnahme der Diskussion um den ontologischen Gottesbeweis zu zeigen, dass sich aus dem Gedanken Gottes seine Existenz nicht folgern lässt, um dann umgekehrt das Positive, Wirkliche als Entäußerung Gottes zu begründen und insofern als eines, das nicht Denken ist. Damit übt Schelling natürlich ebenso – aus theologischer Perspektive – Kritik am idealistischen Selbstbegründungsanspruch der Vernunft. Kier-
Es ist daher kein Zufall, dass neben preußischer Prominenz einige der einflussreichsten Denker des Nachidealismus gekommen waren, aber auch der von Kierkegaard so geschätzte Hegelkritiker Trendelenburg. Mehr noch gilt das vielleicht für die Einleitung zur Angstabhandlung. Allerdings findet sich bei Schelling ja nirgends eine Unterscheidung von erster und zweiter Ethik. Dass die eine die Metaphysik und die andere die Dogmatik zur Voraussetzung hat, erinnert gleichwohl an ihn. Der Einfluss lässt sich, wie Philipp Schwab (2014) vorführt, allein an der terminologischen Übereinstimmung – etwa dem Gebrauch der Begriffe Immanenz und Transzendenz – nachweisen. Ansonsten zeigt sich aber auch hier weniger das thematische Einverständnis, als „einmal mehr die ‚Richtung‘ von Kierkegaards Modifikation“ (Schwab 2014, 99).
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kegaard sind jedoch solche Begründungsabsichten überhaupt fremd, wie auch der Anspruch, darüber, wenngleich eben auf anderer Grundlage, ein philosophisches System zu stiften – was den späten Schelling nicht weniger motiviert als den von 1800. Sein Wirklichkeitsbegriff ist daher ungleich radikaler. Er ist, wie Philipp Schwab (2014, 78) es treffend und in impliziter Anlehnung an Kant formuliert, „der Grenzbegriff seiner Existenzphilosophie“. Das bedeutet: „‚Wirklichkeit‘ ist nicht im eigentlichen Sinne ein ‚Gegenstand‘, der in der Philosophie abzuhandeln wäre; sie ‚ist‘ vielmehr nur im praktischen Vollzug der jeweiligen und singulären Existenz selbst. Mit dieser Akzentverschiebung sprengt Kierkegaard die Klammer, die bei Schelling beide ‚Reiche‘ – trotz aller Insistenz auf ihrer Trennung – noch zusammenhält“ (Schwab 2014, 78). Wie er in seiner Analyse der Aufzeichnungen Kierkegaards zu den Vorlesungen weiter ausführt, speist sich das Interesse am Wirklichkeitsbegriff nicht aus dessen konkreter Entfaltung bei Schelling, sondern aus dem Thema – das der Däne vorab schon als Lebenswirklichkeit begreift. Das heißt natürlich nicht, dass er etwa von der Trennschärfe der schellingschen Grundunterscheidung zwischen dem, was etwas ist, „quid sit“, und dem Umstand, dass es ist, „quod sit“, in diesem Rahmen nicht auch profitieren würde. Schellings Bedeutung für Kierkegaard beschränkt sich ohnehin nicht auf die Hegelkritik. Wie bereits erwähnt, orientiert sich dessen philosophische Deutung des „dogmatische[n] Problem[s] der Erbsünde“ (BA, 5 / SKS 4, 309) an den Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit. ⁹ Schellings Freiheitsschrift ist dabei nicht nur für den historischen, sondern auch den systematischen Zusammenhang meiner Untersuchung von Bedeutung, da sie das „Strukturmodell einer Wiederkehr des Verdrängten“ (Hühn 2009, 236) und damit einer spezifisch modernen Form der Entfremdungskritik vorbildet, die ihre wohl prominenteste Fassung in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung findet. In Adornos Auseinandersetzung mit Kierkegaard wird Schelling gleichwohl nur am Rande erwähnt. Er ist damit ähnlich unterrepräsentiert wie in der Arbeit Holls, die sich ja, wie auch das Kierkegaardbuch, vorrangig an der Beziehung zu Fichte und Hegel in ihrem Spannungsverhältnis zum theologischen Fundamentaldualismus abarbeitet. Schelling spielt deshalb auch in meiner Arbeit nicht die Rolle, die ihm zukäme, wo es darum geht, Kierkegaard vor dem Hintergrund des Deutschen Idealismus im Ganzen zu verorten. Dass sich Adorno der ideengeschichtlichen Bedeutung Schellings für eine Überwindung des Idealismus von innen heraus aber bewusst war, beweisen ja wie erwähnt vereinzelte Passagen aus der Negativen Dialektik, in denen er seinen eigenen materialistischen Standpunkt formuliert – und wo er manchmal ausdrücklich und ansonsten zumindest implizit auch auf Kierkegaard verweist (vgl. GS 6, 184, 202). Wichtiger für die Überwindung des idealistischen Paradigmas ist für Adorno der Rückbezug auf Kant und damit den Ausgangspunkt des Deutschen Idealismus, der nicht erst in seinem späteren Hauptwerk, sondern bereits im Kierkegaardbuch eine bedeutende Rolle spielt. Das gilt ebenso, wie bereits angedeutet, für dessen Ästhetik. Auch hier
Siehe dazu Hennigfeld 2003.
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macht Kant den Anfang, indem er das Ästhetische als autonome Sphäre begründet. Er geht damit sowohl über Vorgänger wie Baumgarten, aber auch über Hegel hinaus, insofern er es nicht als eine partikulare Form der Erkenntnis begreift, die dann zudem bei Letzterem als ein für sich defizitäres Moment dem Entfremdungsprozess des Geistes untergeordnet wird. Vielmehr handelt es sich ja bei Kant um eine genuin eigenständige Erfahrungs- und Urteilsweise. Und selbstverständlich knüpft Adorno auch an seinen Begriff des Naturschönen und Erhabenen an. Allerdings begreift er das Kunstwerk wie gesagt in seinem „Doppelcharakter […] als autonom und fait social“ (GS 7, 16). Und hier kommt wieder Hegel als Gegenpart ins Spiel, aber auch Schelling. Adorno gebe, so Josef Früchtl (2019, 390), „im Konflikt zwischen Kant und Hegel letzterem insofern deutlich Recht, als er dessen Wahrheits- und Werkästhetik über die kantische Geschmacks- und Wirkungsästhetik stellt. Insofern will er Autonomie und Heteronomie zusammendenken, und das Modell hierfür liefert ihm, wenig beachtet, Schellings Philosophie der Kunst von 1802/03“. Ihm entnimmt er auch das Modell eines komplementären Verhältnisses von Philosophie und Kunst, wie es sich an der paradoxen „Sprachähnlichkeit“ der Kunst gezeigt hat. Schelling ist in dieser Hinsicht für Adornos Denken wichtiger, als es der meist im Vordergrund stehende Dissens zwischen Kant und Hegel – und in zweiter Reihe Fichte – vermuten lässt.
3.2 Identität und Nichtidentität des Subjekt-Objekts Dass die vermeintliche ideengeschichtliche Grenzlinie nicht einfach an der Schwelle zum Nachidealismus verläuft, sondern wesentliche Differenzbestimmungen bereits innerhalb jener Denktradition selbst angelegt sind, macht es auch Adorno so schwer, Kierkegaards Standort zu bestimmen. Der schillernde Begriff des Subjekt-Objekts ist ebenso wenig einfach einzuordnen, wenngleich er nicht nur das einheitsstiftende Prinzip des jeweiligen philosophischen Systems, sondern, allem Dissens zum Trotz, dieses Theoriezusammenhangs überhaupt ist. Denn mit solcher Identität ist nicht weniger als der Standpunkt der Vernunft bezeichnet. Und der ist, wie Hegel gleich in der „Vorerinnerung“ der Differenzschrift bemerkt, im Grunde bereits bei Kant erreicht: „In jener Deduktion der Verstandesformen ist das Prinzip der Spekulation, die Identität des Subjekts und Objekts, aufs bestimmteste ausgesprochen“ (TWA 2, 10). Nur werde diese Einsicht bei ihm dadurch nicht eingeholt, dass er in der Folge die Vernunft vom Standpunkt des Verstandes aus behandelt. Der Begriff des Subjekt-Objekts steht im Zentrum der Debatte um die intellektuelle Anschauung zwischen Fichte und Schelling und in diesem Kontext greift Hegel ihn in jener frühen Schrift auf, um die Unterschiede in der Konzeption beider aufzuzeigen. Er macht sich dabei noch überwiegend den Standpunkt Schellings zu eigen,¹⁰ auch wenn er sich bereits hier deutlich von ihm ab-
Das tut er allein deshalb schon, weil ihm Fichte zunächst in der Vermittlung durch Schelling bekannt wurde. Zwischen dessen Jugendschriften von 1794/95 – also aus der Zeit der Erstauflage der Wissen-
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setzt. Das gilt es im Folgenden in aller Kürze nachzuvollziehen, um so dem für sich genommen allzu pauschalen Begriff klarere Konturen zu geben hinsichtlich der Art der Identitätsbeziehung, die er impliziert. Vor diesem Hintergrund treten auch die Differenzen zwischen Adorno und Kierkegaard erst hervor, wo doch beide gleichermaßen gegen dieses Identitätsdenken argumentieren. Der Abschnitt „Darstellung des Fichteschen Systems“ aus der Differenzschrift beginnt mit den Worten „Die Grundlage des Fichteschen Systems ist intellektuelle Anschauung, reines Denken seiner selbst, reines Selbstbewußtsein Ich = Ich, Ich bin; das Absolute ist Subjekt-Objekt, und Ich ist diese Identität des Subjekts und Objekts“ (TWA 2, 52). Hegel stimmt ihm zunächst insoweit zu, als er darin einen Versuch der Überwindung jener Entzweiung sieht, die das empirische Bewusstsein bzw. die empirische Anschauung notwendig voraussetzt. Ist dieses wiederum „im reinen Bewußtsein vollständig begründet“ (TWA 2, 52), so eröffnet das die Möglichkeit, solche Trennung darin aufzuheben – und zwar in der Reflexion auf die Tätigkeit selbst, nicht das Resultat der Spaltung, was aber, Hegel deutet es hier schon an, eine Abstraktionsleistung bedeutet: „Dem Philosophen, entsteht dies reine Selbstbewußtsein dadurch, daß er in seinem Denken von allem Fremdartigen abstrahiert, was nicht Ich ist, und nur die Beziehung des Subjekts und Objekts festhält. In der empirischen Anschauung sind sich Subjekt und Objekt entgegengesetzt; der Philosoph faßt die Tätigkeit des Anschauens auf, er schaut das Anschauen an und begreift es hierdurch als eine Identität“ (TWA 2, 52– 53). Es ist eine Einsicht, die Kant insofern bereits in seiner Transzendentalphilosophie vorweggenommen hat, als sich das Subjekt in der Wendung auf sich selbst seiner konstitutiven Leistungen im Erkenntnisprozess inne wird. Er denkt sie aber nach Hegel nicht konsequent weiter, wenn er ihr das Ding an sich entgegensetzt und eine strikte Trennung von intelligibler und empirischer Welt, Vernunft und Verstand behauptet. Nun gerät aber auch Fichte in einen Dualismus anderer Art: „Ich = Ich ist insofern einer unendlichen objektiven Welt entgegengesetzt“ (TWA 2, 54). Eben das will Hegel in der Differenzschrift demonstrieren, dass es dessen System nicht gelingt, die behauptete Einheit zu stiften: „Ich findet sich nicht in seiner Erscheinung oder in seinem Setzen; um sich als Ich zu finden, muß es seine Erscheinung zernichten. Das Wesen des Ich und sein Setzen fallen nicht zusammen: Ich wird sich nicht objektiv“ (TWA 2, 56). Hegel beschreibt damit zugleich das Grundproblem seiner Entfremdungslehre, wie er sie dann in der Phänomenologie des Geistes in ähnlichen Begriffen ausführt: Das Ich, das sich nicht wiederfindet, das Bewusstsein bzw. der subjektive Geist, der sich das ihm vermeintlich Fremde nicht anzueignen vermag.Woran Fichte ihm zufolge hier scheitert, ist gerade die Absolutheit der Identitätsbeziehung. Die Selbstbezüglichkeit seines „subjektiven Monismus“ (Holl 1972, 87– 107) wird dabei aber nicht in Frage gestellt, sondern vielmehr, dass sie ihr Ziel, die Identitätsbeziehung von Subjekt und Objekt, nicht erreicht, bzw. Fichte aus ihr, wie Hegel sagt, wieder „heraus-
schaftslehre – und der Differenzschrift von 1801 zeigen sich deutliche Übereinstimmungen. Vgl. Schnädelbach 2007, 34.
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tritt“, indem er sie subjektiviert: „Die Identität hat sich im Fichteschen System nur zu einem subjektiven Subjekt-Objekt konstituiert“ (TWA 2, 94). Dagegen sei es nötig, dass „Subjekt und Objekt beide als Subjekt-Objekt gesetzt werden“ (TWA 2, 94). Adorno hat klar erkannt, dass er gerade darin, „die Subjekt-Objekt-Polarität […] nach beiden Seiten zu entwickeln“, seinen „Vorrang vor Fichte und Schelling“ sah (GS 6, 176). Letzterem wirft Hegel entsprechend vor, jene Identität nur objektiv zu denken. Die Entzweiung, die der Idealismus zu überwinden angetreten ist, reproduziert sich nun also als eine zwischen dem schellingschen und fichteschen Standpunkt. Beide vermögen Hegel zufolge die Differenz nicht in der Identitätsbeziehung aufzuheben, die er deswegen hier als „absolute“ im ursprünglichen Wortsinn bezeichnet. Entsprechend, aber weniger missverständlich, ist dann in der Wissenschaft der Logik (TWA 6, 39) – und wie sich zeigen wird, in Kierkegaards Fichtekritik – von „abstrakter Identität“ die Rede.¹¹ Das heißt aber nun, dass Hegel diesem Identitätsdenken gerade die Unterschiedenheit von Subjekt und Objekt entgegenhält – also das, was man auch gegen das vermeintlich monolithische idealistische Subjekt-Objekt gewandt hat. Welche Position bezieht er selbst damit? „[W]ahre Identität“ werde erst in besagtem „absoluten Indifferenzpunkt“ erreicht, den er auch als Standpunkt „absoluter Anschauung“ im Gegensatz zur „intellektuellen“ bezeichnet (TWA 2, 99).¹² Und das bedeutet eben, beide Seiten jenes Indifferenzpunkts als Subjekt und Objekt zu denken – woraus wiederum folgt: „beide haben also auch den Indifferenzpunkt in sich“ (TWA 2, 107). Nur so ist das Absolute als Werdendes zu denken – und darum geht es Hegel letztlich. Er spricht das, samt den theologischen Voraussetzungen, bereits in der Differenzschrift deutlich aus (TWA 2, 112– 113). Die dialektische Bewegung definiert sich ja gerade dadurch – wie es dann die Phänomenologie des Geistes vorführt –, dass sie auf beiden Seiten sich vollzieht, bzw. für das Bewusstsein nachzuvollziehen ist. Besagte Indifferenz ist die Bedingung hierfür. Fichtes absolute Identität kritisiert er gerade deshalb, weil sie ein solches Werden ausschließen muss, weshalb Hegel ihm sein Streben als schlecht-unendliches Kreisen in sich selbst vorhält. Hegels Subjekt-Objekt erweist sich also schon hier in seiner Binnenstruktur als äußerst komplex. Und dabei sind zahlreiche Unterscheidungen noch unberücksichtigt geblieben, wie etwa die von „ideeller“ und „reeller Entgegensetzung“, von „qualitativer“ und „quantitativer Differenz“ (TWA 2, 97– 100). Inwiefern ist daher der Vorwurf Adornos, indem er sich mit Kierkegaard grundsätzlich einig ist, dass es sich dabei um ein problematisches Identitätsdenken handle, weiterhin gerechtfertigt? Einen Hinweis gibt schon Hegels Einwand gegen Fichte, dass das Ich sich nicht objektiv werde. Deshalb bleibt für Adorno auch bei ihm die Bewegung eine selbstbezügliche und die Identitätsbeziehung unter dem Primat des Subjekts. Das ist aber in zweierlei Hinsicht dop-
Von absoluter Identität spricht Hegel in der Differenzschrift auch affirmativ. Was er kritisiert ist ja vielmehr, dass sie in ihrer defizienten fichteschen Fassung den ihr immanenten Anspruch, „Prinzip eines ganzen Systems“ zu sein, nicht verwirklichen könne (TWA 2, 94). Wie bereits angesprochen, ist dann in Schellings sogenannter Identitätsphilosophie, wohl auch unter dem Einfluss Hegels, ebenfalls von einer„totale[n] Indifferenz des Subjektiven und Objektiven“ (Schelling 1859, 114) die Rede. In der Differenzschrift geht es dagegen um seine frühere Naturphilosophie.
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peldeutig. Denn erstens wird in der Logik der Begriff ja selbst zum Subjekt – und zwar als das „freie selbständige, sich in sich bestimmende Subjektive“ (TWA 5, 62) sowie letztlich als Subjekt aller Wirklichkeit. Er tritt dort ausdrücklich an die Stelle des fichteschen Ich, das nun selbst schon Begriff ist und nicht Ausgangspunkt aller Begriffe. Zweitens scheint Adorno aber bisweilen zu behaupten, dass Hegel die Diskrepanz von Subjekt und Objekt in dieser Denkfigur zugleich festhält: „Die Konstruktion des SubjektObjekts ist von abgründigem Doppelcharakter. Sie fälscht nicht nur ideologisch das Objekt in die freie Tat des absoluten Subjekts um, sondern erkennt auch im Subjekt das sich darstellende Objektive und schränkt damit das Subjekt anti-ideologisch ein“ (GS 6, 343). Diese kritische Funktion macht er sich dann, insbesondere in gesellschaftstheoretischer Hinsicht, auch gegen Kierkegaard zu eigen.
3.3 Tathandlung: Fichte und Kant Im Vergleich zu Hegel und auch Schelling hat das Verhältnis Kierkegaards zu Fichte in der Forschung bisher weniger Beachtung gefunden.¹³ Dabei liegt der zentrale Anknüpfungspunkt in dessen prominentestem Konzept selbst, dem der Tathandlung.¹⁴ Kierkegaards Auffassung des Selbst als „reine Prozessualität“ ist wesentlich darauf zurückzuführen, wie Theunissen (1991a, 53) argumentiert: Mit Fichte, „an den mit der Sprachgebung auch die Gedankenführung des Textes sich anlehnt“, teile er die Skepsis gegenüber einer Auffassung des Selbstbewusstseins als eines reflexiven Bewusstseins. Wenngleich Fichte derart das absolute Ich beschreibt, so speist sich doch auch aus dieser Quelle „das gegenüber dem Idealismus Neue“ an Kierkegaards Ansatz – es liege im „Existenzcharakter des Selbstseins, das sich als solches nicht in ein Bewußtseinsphänomen auflösen läßt“ (Theunissen 1991a, 53). Allerdings sieht der Däne dieses Potential bei Fichte Theunissen (1991a, 53) zufolge nicht und konterkariert es durch die andere Bestimmung des Selbst als Reflexivität, die in dieser Form wesentlich auf Hegel zurückzuführen sei – „daß ein substratloser Prozess eo ipso ein selbstbezüglicher sein müsse“ und als solcher absolut. Auch er unterstellt also Kierkegaards Konzeption des Selbst, ähnlich wie Holl (1972), eine innere Widersprüchlichkeit oder zumindest Spannung, die in der Integration unterschiedlicher Versatzstücke des Deutschen Idealismus gründet. Allerdings handelt es sich, wie im zweiten Kapitel erörtert, bei der Gestalt, die ihm die Anfangspassage der Krankheit zum Tode gibt, wesentlich um einen „Vorent-
Ausnahmen sind etwa Anton Hochenbleicher-Schwarz (1984) und der Sammelband Kierkegaard und Fichte, hrsg. v. Jürgen Stolzenberg (2010). Die darin enthaltenen Beiträge zeigen insbesondere die Rolle auf, die Fichtes Denken für Kierkegaards Auseinandersetzung mit Hegel spielte. Und darum geht es auch mir vorrangig. Im „ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz“ aus der Wissenschaftslehre von 1794/95 heißt es zum Ich: „Es ist zugleich das Handelnde, und das Produkt der Handlung; das Tätige, und das, was durch die Tätigkeit hervorgebracht wird; Handlung, und Tat sind Eins und ebendasselbe; und daher ist das: Ich bin Ausdruck einer Tathandlung“ (Fichte 1997, 16).
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wurf“, den Adorno mit Recht als idealistisch bezeichnet. Es ist das, was er das „abstrakte Selbst“ nennt. Daher ist auch die Übertragung solcher Denkfiguren, wie Theunissen (1991a, 53) sagt, „ein hypothetisches Verfahren, zu dem wiederum das Bedürfnis zwingt, für die zuvor bereits gesichtete Wirklichkeit der Verzweiflung Bedingungen ihrer Möglichkeit anzugeben“. Das negativistische Verfahren eines unentwegten Zunichtemachens der Möglichkeit der Verzweiflung gibt schließlich der Prozessualität des Selbst sozusagen ihr erfahrungsgesättigtes Substrat, das sich in jenem Vorentwurf noch idealistisch entzieht: „Seine scheinbar traditionalistische Deutung des Selbst als Tathandlung basiert in Wahrheit auf der Erfahrung, daß Verzweiflung in jedem Augenblick aufbrechen kann“ (Theunissen 1991a, 55). Auch Adorno greift den fichteschen Begriff der Tathandlung im Kierkegaardbuch auf. Im Anschluss an eine Passage aus der Angstabhandlung, in der das Selbstbewusstsein als Tat und unendlich Werdendes im Gegensatz zur Kontemplation bestimmt wird, hält er ihm vor, sich notwendig in einer Tautologie zu verfangen: Aus der Tautologie führt erst die Fichtesche Wendung zur ‚Tat‘ als Einheit von Theorie und Praxis heraus; würde Kierkegaard auf solcher Einheit insistieren, er wäre der Identitätsphilosophie überantwortet. So stößt die Lehre von Existenz allerorten auf Aporien. Bald ist ihr Zentrum, das ‚Selbst‘, abstrakt und nur tautologisch definierbar; bald fällt es einer Praxis zu, die von ihm erst ihre Regel empfangen müßte; bald führt die Konzeption des Selbst zu verschwommenen Identitätssetzungen.¹⁵
Adorno trifft hier im Grunde sehr genau, was zuvor mit Theunissen umrissen wurde – dass sich das abstrakte Selbst auf eine Praxis hin transzendiert, die immer schon als Wirklichkeit vorausgesetzt ist und eben nicht von jenem die Regel empfängt. Allerdings klingt dabei auch die erörterte Kritik an der Verselbständigung von Praxis an. Jedenfalls bleibt zunächst offen, ob Adorno diese charakteristische Unentschiedenheit Kierkegaards als Mangel auslegt. Dass er die Identitätssetzungen als „verschwommene“ bezeichnet, ist aber vielsagend. Eingehender noch diskutiert er das Verhältnis zu Fichte an einer anderen Stelle im Kierkegaardbuch, wo er die seiner Arbeit im Ganzen zugrundeliegende These, dass eine kritische Interpretation Kierkegaards von der an ihm abzulesenden Entfremdung von Subjekt und Objekt auszugehen habe, formuliert (GS 2, 42– 43). Daher ist diese Verbindung auch für die vorliegende Untersuchung von solcher Bedeutung. Adorno begründet damit zugleich – indem er vorführt, wie dieser Fichte einerseits und Kant andererseits gegen Hegel wendet –, dass Kierkegaard kein „Identitätsphilosoph“ sei und mit dem „Subjekt-Objekt im Hegelschen Sinne“ breche (GS 2, 45). Wie sich zeigen wird, gibt es hierbei – zunächst wenig offensichtliche – Gemeinsamkeiten mit Adorno, der die Umrisse eines Vorrangs des Objekts in ideengeschichtlicher Hinsicht nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit Kants Ding an sich herausarbeitet. Die Negative Dialektik entfaltet, insbesondere im ersten „Modell“, was in Grundzügen bereits in der Kon-
GS 2, 110 – 111; vgl. die von ihm zitierte Stelle aus Der Begriff Angst: BA, 168 / SKS 4, 444– 445.
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struktion des Ästhetischen angelegt ist. Ich meine, dass erst aus dieser Motivlage heraus verständlich wird, warum Adorno derart ausführlich Kierkegaards Bemerkungen zu Kant und Fichte wiedergibt.Von der betreffenden Passage zur„Nachfichtische[n] Ironie“ aus der Magisterdissertation zitiert er mehr als eineinhalb Seiten ohne Auslassungen.¹⁶ Das allein bezeugt schon die Bedeutung, die er dem Problem beimisst. Kierkegaard beschreibt dort sehr plastisch das Ausgangsproblem der bloß formalen Bestimmung des Subjekts, das dem nachfolgenden Idealismus zum Anstoß wurde – und zwar als eine Abstraktions- bzw. Entfremdungsbewegung: „Je mehr im Kritizismus das Ich in die Betrachtung des Ich versank, umso magerer und dürrer wurde dieses Ich […].“¹⁷ Indem das Denken „beständig über die Reflexion reflektierte“ sei es auf einen Abweg geraten, der es „immer noch weiter fort von allem Gehalt“ führte.¹⁸ Hier setzt nun Fichte an: Aber das für die Erfahrung Äußere, […] das Ding an sich, das ständig dabei verharrte, das erfahrende Subjekt zu versuchen […], machte die Schwäche von Kants System aus. Ja es entstand die Frage, ob nicht das Ich selber ein Ding an sich wäre. Diese Frage warf Fichte auf und beantwortete sie. Er entfernte die Schwierigkeit dieses ‚An sich‘, indem er es in das Denken hineinverlegte, er machte das Ich im Ich-Ich unendlich. Das produzierende Ich ist dasselbe wie das produzierte Ich. Das Ich-Ich ist die abstrakte Identität. Hierdurch befreite er das Denken unendlich.¹⁹
Adorno kommentiert dazu: „Freie, handelnde Subjektivität ist für Kierkegaard Trägerin aller Wirklichkeit. In seiner Jugend hat er Fichtes Kantkritik akzeptiert, und obschon er kaum je wieder die Probleme formulierte, die die Vorgeschichte des Idealismus bis Hegel erfüllen, ist doch kein Zweifel, daß die Dissertation ausspricht, was als Hintergrund aller ‚existentiellen Mitteilung‘ schweigend vorausgesetzt bleibt“ (GS 2, 42). Adorno hat mit seiner Bemerkung wohl recht, dass Kierkegaard Fichte in seiner Kantkritik folgt, auch wenn er bald darauf ja scharfe Kritik an diesem übt. Das betrifft nicht nur den im Folgenden zu diskutierenden Umstand, dass Fichte das Ding an sich gänzlich verabschiedet, sondern auch den wie gesagt vorrangig gegen Schellings Selbstabstraktion des Denkens vom Denkenden angeführten Grundvorwurf einer Selbstvergessenheit oder Marginalisierung des tätigen Subjekts im Erkenntnisprozess. Er gilt, was zunächst überraschen mag, schon der transzendentalen Apperzeption als Resultat einer über Gebühr ausgedehnten Abstraktion, wie sie dann Kierkegaard so bildreich beschreibt.
Vgl. BI, 277– 278 / SKS 1, 308 – 309. Adorno zitiert aus der älteren Übersetzung von Schaeder (1929), der ich hier ausnahmsweise ebenfalls folge. Die spätere von Hirsch (1961) unterscheidet sich von ihr nur unwesentlich, ist aber manierierter und bisweilen missverständlich. Einmal steht dort „An = Sich“ statt wie bei Kierkegaard selbst „an sich“ – wohl eine versehentliche Übertragung des fichteschen „Ich = Ich“ (BI, 278). Nach der Übersetzung von Schaeder (1929, 228). Kierkegaard bietet dabei wieder einiges an Bildern auf: Das Ich wird einerseits ein „Gespenst“ – er gebraucht das deutsche Wort –, schrumpft zusammen wie „Auroras Gatte“, also der unsterbliche aber alternde Tithonos. Andererseits verliert es seinen Gegenstand wie der Rabe den Käse, bzw. es ergeht ihm, wie jemandem, der seine Brille sucht, während sie doch auf seiner Nase sitzt. Zitiert nach Schaeder (1929, 228). Übersetzung von Schaeder (1929, 228); vgl. BI, 277– 278 / SKS 1, 309.
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Zwar scheint sie als synthetisierende Einheit durchaus ein handelndes Subjekt zu sein, sie ist aber, so der einschlägige Einwand Jacobis, eben nur vorausgesetzte Einheit und nicht selbst der Vollzug der Synthesis.²⁰ Es ist dieser Vollzugscharakter, den Kierkegaard mit Fichte betont und gegen Kant wendet. Das gilt es zu erörtern, samt der weitreichenden Fragen, die hier aufgeworfen werden: inwiefern – auch bereits bei Kant – das Ich selbst Ding an sich sei und was es heißt, dass Fichte das An sich ins Denken verlegt. Adorno bringt nun diese Passage aus der Magisterdissertation mit einer aus der Nachschrift zusammen, die, ausgehend vom selben Grundproblem, den Blick auf Hegel erweitert. Allerdings lässt sich aus dieser Stelle – ganz im Gegensatz zu der aus der Ironieschrift – kaum herauslesen, dass, wie Adorno meint, Kierkegaard Fichte „theologisch“ gegen Hegel ausspiele. Fichte wir dort gar nicht erwähnt. Es ist einzig der Versuch, die Wirklichkeit dem Ethischen, d. h. dem praktischen Existenzvollzug, zuzuweisen, den Adorno auf diesen zurückführen kann. Dass Kierkegaard dabei aber die Verlagerung allen Sinnes in „pure Subjektivität“ (GS 2, 43) bestätige, wie Adorno behauptet, scheint im angeführten Zitat aus der Nachschrift gerade nicht der Fall zu sein: Anstatt dem Idealismus recht zu geben, aber wohlgemerkt so, daß man die ganze Frage nach der Wirklichkeit (nach einem sich entziehenden An-sich) im Verhältnis zum Denken als eine Anfechtung abwiese, die gleich allen anderen Anfechtungen unmöglich durch Nachgeben entfernt werden kann; anstatt Kants Mißweisung Halt zu gebieten, die die Wirklichkeit ins Verhältnis zum Denken brachte; anstatt die Wirklichkeit dem Ethischen zuzuweisen, ging Hegel wahrhaftig weiter, denn er wurde phantastisch und überwand die Skepsis des Idealismus mit Hilfe des reinen Denkens […]. (AUN II, 30 / SKS 7, 299)
Adorno fährt nun fort: „Hier aber springt bereits die Gegentendenz vor. Die Frage nach dem Ding an sich wird nicht mehr mit dem Identitätssatz und der absoluten Subjektivität positiv beantwortet, sondern als ‚Versuchung‘ abgewehrt und bleibt unentschieden“ (GS 2, 44). Zunächst stimmt Kierkegaard ja Fichte scheinbar darin in der Magis Ich folge hier Lore Hühn (2009, 65), die darauf verweist, dass dieser „Kardinaleinwand“ Fichtes sich in deutlicher Nähe zu Jacobi bewegt. Sie zitiert dazu aus Über das Unternehmen des Kriticismus, die Vernunft zu Verstande zu bringen, und der Philosophie überhaupt neue Absicht zu geben von 1802: „Das Ich in der transscendentalen Apperception ist keine Abstraction, aber wir gelangen nur durch Abstraction zu seiner Vorstellung. Es ist die Einheit in welcher alle Verknüpfungen vorgenommen werden, nicht die Handlung der Verknüpfung selbst. Abstrahiren wir daher von aller empirischen Synthesis, so bleibt nicht eine reine Synthesis als Handlung übrig, wie das Kantische System angiebt, sondern nur die Einheit, worin synthesirt wird; eine nicht durch Synthesis gewordene, sondern für die Synthesis bestehende Einheit. Alle Verknüpfung setzt ein zu Verknüpfendes voraus, jede Handlung des Verbindens, das ist, des Vereinigens, setzt Veruneinigtes zum voraus. Das Kantische Vorgeben eines reinen Bodensatzes der Synthesis ohne alles Empirische ist daher eben so sonderbar, als das Uebrigbleiben des Dinges an sich nach der Abstraction von jeder wirklichen Empfindung“ (Jacobi 2004, 287– 288, Anm.). Freilich ist in dieser Kritik an einer Abstraktion von allem Empirischen, das Jacobi ja im Wortsinn voraussetzt, auch die an Fichte schon angelegt. Es ist überhaupt der auch hier anklingende, bereits im zweiten Kapitel der vorliegenden Untersuchung angesprochene, unversöhnte Doppelcharakter seiner Philosophie im Allgemeinen und des individuellen Subjekts im Besonderen, der ihn mit Kierkegaard und dem Nachidealismus verbindet. Er klagt darin eine Alterität ein, die nicht in der (absoluten) Selbstbestimmung des Subjekts aufgeht.
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terdissertation und der Nachschrift zu, dass er die Frage nach der Wirklichkeit im Sinne eines sich entziehenden Dings an Sich als eine Anfechtung des souveränen Ich abgewiesen habe. Wenn er allerdings, wie Adorno sagt, die Klammer der Identitätsphilosophie zerbricht, geht er doch nicht nur mit Fichte hinter Hegel, sondern in einem bestimmten Sinne auch hinter jenen auf Kant zurück, wo er in seiner Scheidung von Sein und Denken selbst wieder in einen ontologischen und epistemologischen Dualismus gerät. Kierkegaards Verhältnis zu Fichte und Kant bedarf in dieser Hinsicht also einer Vertiefung. Die folgenden Abschnitte sind insofern als Kommentar zu jener erklärungsbedürftigen Stelle aus dem Kierkegaardbuch zu verstehen. Wie so oft verdichtet Adorno hier verschiedene philosophische Probleme auf engem Raum. Die Interpretation stellt das vor die Schwierigkeit, dass sie sich nicht Schritt für Schritt am Text abarbeiten kann, wo er keiner linearen Argumentation folgt. Eine solche muss vielmehr erst in der Rekonstruktion der Argumente entstehen und die Untersuchung daher einen Umweg nehmen. Ziel ist es, Kierkegaards ideengeschichtliche Zwischenstellung zu begreifen, die Adorno unmissverständlich feststellt, wenn er meint, dieser bleibe hinsichtlich der Frage nach dem Ding an sich unentschieden.
4 Ding an sich und Nichtidentität Kants Behauptung, dass Dinge „in ihrer Beschaffenheit an sich selbst“ (AA III, 209 / B 306) unserer Anschauung prinzipiell unzugänglich sind, wird für seine Nachfolger Fichte, Schelling und Hegel zum Stein des Anstoßes. Seine Lehre geht also einerseits dem Idealismus voraus, ist aber, das gilt es zu zeigen, andererseits ein Ansatzpunkt um diesen wiederum zu überwinden. Sie ist insofern relevant für die Beantwortung der Frage, inwieweit Kierkegaard nach Adorno noch in dessen Bannkreis bleibt. Entsprechend meint auch Hühn (2009, 193), dass „im Spiegel dieses Streits [um die Frage nach der Wirklichkeit, M. K.] sich in aller Klarheit aufzeigen lässt, wo die wirklichen Grenzen verlaufen“. Kierkegaard bezieht sich jedenfalls ausdrücklich auf Kant. Das geschieht jedoch in „strategischer Absicht“, da er auf die Kritik an Hegels „identitätsabsolutistische[r] Prämisse, dass nämlich Denken und Sein eins seien“ (Hühn 2009, 192) zielt – daher greift er auf ihre rigorose Scheidung bei Kant zurück. Das ist die Auseinandersetzung, „innerhalb welcher der Königsberger in den allerhöchsten Tönen gelobt wird“²¹. Habermas hat diesen in der Kierkegaardforschung immer noch unterbelichteten Einfluss, nun im Hinblick auf die praktische Vernunft, im zweiten Band von Auch eine Geschichte der Philosophie in einen größeren ideengeschichtlichen Zusammenhang gestellt, der den Dänen mit Feuerbach, Marx und anderen verbindet, aber auch der späteren Kritischen Theorie den Weg weist. Zur „verendlichenden Detranszendentali-
Hühn 2009, 192. Sie überschreibt den ganzen Abschnitt (191– 195) daher: „Affirmative Aufnahme des Kantischen Chorismos“.
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sierung eines Geistes, der sich bei Hegel in Natur und Geschichte verkörpert hatte“ trete eine Gegenbewegung, die das transzendental gesetzgebende Subjekt Kants ein Stück weit rehabilitiert und den aufklärerischen Impuls, der auf eine „Befreiung aus den Abhängigkeiten selbstverschuldeter Unmündigkeit“ zielt, von ihm übernimmt und transformiert (Habermas 2019, 597). Während sich bei Marx und Engels dieser Impuls schließlich als Kritik kapitalistischer Klassenverhältnisse und als Emanzipation des Proletariats und damit der Befreiung der Menschheit geltend macht, ist er bei Kierkegaard in der „Selbstwahl“, der Rückgewinnung von Freiheitsspielräumen im Kontext einer vorgegebenen, diese beschränkenden Lebensgeschichte zu finden. Diese existenzielle Freiheit, die letztlich noch einmal religiös überboten wird, birgt in sich aber mehr von der ethischen Freiheit im Sinne Kants, als es zunächst den Anschein hat. Habermas führt auf überzeugende Weise vor, dass Kierkegaard die kantische Autonomie und Gesetzesmoral voraussetzt und in Anspruch nimmt, allerdings meist, ohne dass sie als solche bei ihm zum Thema wird. Denn auch die ganzheitliche Perspektive der Selbstwahl kann Habermas (2019, 688) zufolge einzig in der Ethik im engeren Sinne, im Werturteil, ihren Maßstab haben. Kierkegaards Sokrates trage als säkularer Gegenspieler zu Christus „ganz moderne“, deutlich kantianische Züge (Habermas 2019, 672). Bei Adorno verhält es sich schon insofern ähnlich wie bei Kierkegaard, als er sich ebenfalls dort auf Kant bezieht, wo er in Abgrenzung zu Hegel die eigene Theoriealternative zu profilieren versucht. In den Vorlesungen zur ‚Kritik der reinen Vernunft‘ spricht er das offen aus. Nicht um die Deutung Kants selbst, sondern darum, das eigene dialektische Denken an diesem zu entwickeln, gehe es ihm (NL 4/4, 352). Das ist allerdings, wie sich an der Beschäftigung mit Kierkegaard gezeigt hat, charakteristisch für den Umgang mit seinen ideengeschichtlichen Referenzgrößen überhaupt. In dieser Hinsicht aber ist das Verhältnis zu Kant durchaus zentral. In der Forschung findet es jedoch nach wie vor wenig Beachtung, wenngleich zumindest dessen Relevanz im Kontext seiner Überlegungen zur Antinomie der Freiheit, einer „negativen Moralphilosophie“ (G. Schweppenhäuser 2016) und natürlich der Autonomieästhetik diskutiert wird – weniger aber die zugrunde liegende transzendentalphilosophische Fundamentaldifferenz selbst. Das hat freilich gute Gründe, wie Josef Früchtl (2019, 386) argumentiert: „In einer Essenzbeschreibung dessen, was man Frankfurter Schule oder, weiter gefasst, Kritische Theorie nennt, kommt der Name Kants zunächst nicht vor.“ Im Vordergrund steht noch immer und sicherlich nicht zu Unrecht ein psychoanalytisch informierter Hegelmarxismus – erweitert um Nietzsche, Weber und andere. Dass allerdings gerade in dieser „Überlagerung verschiedener Großtheorien“ (Früchtl 2019, 386) Kant eine bedeutende Rolle spielt, wird gerne übersehen.²² Er ist neben Kierkegaard und Benjamin eine der Quellen, aus der sich Adornos Behauptung der Nichtidentität gegen Verwunderlich ist das insofern, als allein biographisch, nicht zuletzt vermittelt durch seinen Doktorvater Hans Cornelius, Kant von Beginn an stets präsent war. Die Aufnahme jener Großtheorien ist, worauf Früchtl (2009, 386) zu Recht hinweist, auch zu verstehen vor dem Hintergrund des „akademisch tonangebenden Neukantianismus“, zu dem sich die anderen philosophischen Strömungen seiner Zeit eben als Gegenbewegungen verstehen.
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Hegels Modell von Dialektik speist und prägt wesentlich sein Verständnis des Materialismus als Vorrang des Objekts.²³ Die kaum zu überschätzende Bedeutung Kants für Adorno deutet auch Anke Thyen (1989, 200) an: „Die ‚Negative Dialektik‘ nimmt implizit, gegen Fichte, Schelling und Hegel, nochmals die Kantische Konzeption vom ‚Ding an sich selbst‘ auf. Man kann die ‚Ding an sich‘-Problematik als Schlüssel zur Objekt-Konzeption der Erkenntnis bei Adorno verstehen.“ Auch die Beantwortung der Frage, ob Adorno, wie Schnädelbach (1983, 75) behauptet, ein „Noetiker des Nichtidentischen“ sei, hängt davon ab, ob er die kritische Einsicht Kants, dass das Noumenon lediglich ein „Grenzbegriff“, bzw. nur von „negativem Gebrauche“ ist, in seiner Konzeption einholt.²⁴ Wie sehr das den Kern seines philosophischen Anliegens überhaupt trifft, bezeugt der Rekurs auf Kant an einer der prominentesten Stellen zum Ende der Negativen Dialektik: Es liegt in der Bestimmung negativer Dialektik, daß sie sich nicht bei sich beruhigt, als wäre sie total; das ist ihre Gestalt von Hoffnung. Kant hat in der Lehre vom transzendenten Ding an sich jenseits der Identifikationsmechanismen davon etwas aufgezeichnet. So stringent die Kritik an jener Lehre durch seine Nachfolger, so sehr verstärkten sie den Bann, regressiv gleich dem nachrevolutionären Bürgertum insgesamt: sie hypostasierten den Zwang selbst als Absolutes. Freilich hat Kant seinerseits, in der Bestimmung des Dinges an sich als des intelligibeln Wesens, Transzendenz zwar als Nichtidentisches konzipiert, aber mit dem absoluten Subjekt gleichgesetzt, vorm Identitätsprinzip doch noch sich gebeugt. (GS 6, 398)
Was für Adornos Beschäftigung mit Kierkegaard so charakteristisch ist, zeigt sich auch in Bezug auf Kant. Wo er seine Affinität zu ihm bekundet, lässt er sogleich ein „freilich“ als Relativierung folgen. Auch ihm schiebt er hier in fragwürdiger Weise das idealistische absolute Subjekt unter. Offensichtlich ist jedoch, dass der Begriff des Dings an Sich vorrangig positiv besetzt wird als Refugium vor den nicht bloß philosophischen „Identifikationsmechanismen“. Die Opposition zum Idealismus, die sich an ihm festmachen lässt, wird im Folgenden in vier Bedeutungsdimensionen entfaltet, die allerdings, das beweist ja die gerade zitierte Passage, bei Adorno stets zusammengedacht werden: Erstens geht es um Erkenntniskritik, zweitens die Freiheit des Subjekts als Voraussetzung moralischen Handelns, drittens um Anthropologie und schließlich viertens um die Gesellschaftskritik.
4.1 Das Grundproblem Kants Begriff des Dings an Sich ist selbst mehrdeutig und wird von ihm in der Kritik der reinen Vernunft in unterschiedlicher, wenn nicht gar sich widersprechender Hinsicht gebraucht. Das ist relevant für die Frage, von welcher Art der Dualismus, also die transzendentale Fundamentaldifferenz von Dingen an Sich und Erscheinungen, ei-
Hierbei ist Kant, auf der Bedeutungsebene der„Natur in uns“, zumindest als Negativfolie selbst für die Freudrezeption Adornos noch bedeutsam. Vgl. AA III, 211 / B 397– 399.
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gentlich ist, den der nachkantische Idealismus überwinden will. Insbesondere steht zur Debatte, ob es sich „um eine primär erkenntnistheoretische oder primär ontologische Unterscheidung“ handelt, wie Marcus Willaschek (2001, 679) feststellt. Ob Kant entsprechend eine „Zwei-Aspekte“ oder„Zwei-Welten-Interpretation“ gerecht wird, darüber herrscht bis heute in der Forschung eine vielsagende Uneinigkeit. Die abstrakteste Fassung erhält das Ding an sich als transzendentales Objekt, das ein gänzlich unbestimmtes „Etwas überhaupt“ (AA IV, 164 / A 252), bloßes „Correlatum der Einheit der Apperception“ (AA IV, 163 / A 250) ist. Bereits an diesem Begriff lässt sich aufzeigen, woher die besagte Mehrdeutigkeit rührt. Zumeist versteht Kant darunter zwar ein solches unbestimmtes, aber einheitliches Korrelat der Erscheinungen, das insofern mit diesen numerisch nicht identisch, sondern ihnen „einerlei“ ist. Allerdings verwendet er den Begriff bisweilen auch für den unserer Erkenntnis unzugänglichen Grund der Beschaffenheit einzelner empirischer Dinge. Deshalb ist selbst Adornos auffällige Rede vom „transzendenten“ Ding an sich ist nicht so unangemessen, wie es zunächst scheint. Kant spricht von einem transzendentalen Objekt, weil die bloße Gegenständlichkeit eine gedachte ist, eine Leistung des Verstandes. Transzendent ist es aber einerseits, insofern es sich als Noumenon in negativer Bedeutung der Erfahrung zur Gänze entzieht. Andererseits hält Kant den „transzendentalen Gegenstand“ der empirischen Welt nicht nur derart entgegen, sondern unterlegt in ihr gewissermaßen als „Grund“.²⁵ Er tut das auch, um sich gegen den Verdacht zu verwahren, einen subjektiven Idealismus zu vertreten.²⁶ Das macht die Ambivalenz dieses Begriffs aus, die Adorno durchaus richtig erkannt hat. Kierkegaards Inanspruchnahme des kantischen Dings an Sich scheint weniger doppelsinnig zu sein. Er macht sich die darin formulierte epistemologische Enthaltung insbesondere zwecks einer Widerlegung des objektiven bzw. absoluten Idealismus zu eigen, der ihm als die Vollendung der Metaphysik galt. Wenn er in der zuvor zitierten Passage aus der Ironieschrift von einer Versuchung des „erfahrenden Subjekts“ spricht, so ist damit die metaphysische gemeint. In der Nachschrift, in einer Passage, die der von Adorno zitierten folgt, verteidigt er Kant entsprechend auch ausdrücklich gegen Hegel. Dessen Weg des „sich vollbringende[n] Skeptizimus“ (TWA 3, 72) lehnt er mit der Begründung ab, dass einer Skepsis, die sich wie bei Kant auf das Denken selbst richtet, nicht innerhalb des Denkens Einhalt geboten werden kann. Jedoch demonstriert er sogleich, dass sein Bezugsrahmen ein gänzlich anderer als bei ihm ist, wenn er fortfährt: „Das einzige An-Sich, das sich nicht denken läßt, ist das Existieren, mit dem das Denken gar nichts zu tun hat“ (AUN II, 31 / SKS 7, 300). Auch das verbindet ihn aber mit Adorno. Beide machen sich das Ding an sich in den unterschiedlichsten Kontexten als Argumentationsfigur zu eigen.²⁷ Das ist gewissermaßen dem kantischen Begriff selbst ge-
Zum Ausdruck transzendentales Objekt bzw. transzendentaler Gegenstand vgl. u. a.: AA III, 207, 341 / B 304, 522– 523; AA IV, 129, 163 – 164 / A 191, 250 – 251. Willaschek (1998, 333 – 335) unterscheidet drei Bedeutungen dieses Begriffs. Vgl. hierzu seine „Widerlegung des Idealismus“, die sich gegen Descartes’ „problematischen“ und Berkeleys „dogmatischen“ Idealismus wendet: AA III, 190 – 193 / B 274– 279. So ist etwa in der Negativen Dialektik auch vom „Wert als Ding an sich, als ‚Natur‘“ die Rede (GS 6, 348).
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schuldet, dem Adorno vorhält: „[S]eine Unbestimmtheit erlaubt, ihn nach Bedarf zur Erklärung heranzuziehen“ (GS 6, 251). So positiv Adorno einerseits die erkenntniskritische Enthaltung, die Weigerung, „das Innere der Dinge zu erkennen“ (GS 6, 308), gegenüber Hegel bewertet, so stellt andererseits auch die transzendentale Fassung für ihn eine Form herrschaftsförmigen Primats des Subjekts dar – und zwar nun wegen ihres Formalismus: „Da […] die Einheit des Selbstbewusstseins kein inhaltliches Prinzip formuliert, beschränkt sie sich formal und funktional darauf, die Einheit oder notwendige Gesetzmäßigkeit aller Erscheinungen zu stiften. Letztlich werden die Erscheinungen dadurch doch auf Bestimmungen des Subjekts reduziert“ (Früchtl 2019, 387). Und es ist ja diese einheitsstiftende Absicht, die der nachfolgende Idealismus dann derart über sich hinaustreibt, dass er den kantischen Dualismus gleich ganz hinter sich lässt. Im Abschnitt „Dynamik von Allgemeinem und Besonderen“ der Negativen Dialektik nimmt Adorno konsequenterweise das Ding an sich mit hinein in den Gesamtprozess des „Nominalismus“, als einer Aufklärung, die schließlich in ihr Gegenteil kippt. Kants Konzept ist daher ähnlich ambivalent wie ein solcher Begriff des Nominalismus selbst, dem hier ebenfalls das „positivistische Erkenntnisideal“ eingeschrieben wird.²⁸ Auch ihm anzulasten, dass darin das Subjekt aus dem Erkenntnisprozess verschwindet, ist schon erklärungsbedürftig. Adorno bewertet seine ideengeschichtliche Leistung hier jedoch vom Standpunkt Hegels aus und denkt mit ihm das erkennende Subjekt von seinen (geschichtlich-gesellschaftlichen) Bedingungen her, womit der Perspektivwechsel zumindest formal dem kierkegaardschen im Hinblick auf die Existenzbedingungen gleicht. Sie machen gewissermaßen den inneren und keineswegs unzugänglichen Kern des Subjekts aus – als das Objekt und als das (gesellschaftliche) Allgemeine in ihm: „Das [aufklärerische, M. K.] Motiv kippt jedoch um, wo das von ihm der Erkenntnis Verbotene deren epistemologische und reale Bedingung ist; wo das erkennende Subjekt sich reflektieren muß als Moment des zu erkennenden Allgemeinen, ohne doch diesem ganz zu gleichen.Widersinnig, es daran zu verhindern, das von innen her zu erkennen, worin es selber haust und woran es allzuviel von seinem eigenen Innern hat; insofern war der Hegelsche Idealismus realistischer als Kant“ (GS 6, 308). Das ist nicht so abwegig oder zumindest Kant so unangemessen, wie es zunächst scheint, weil Adorno implizit auf eine Aporie in dessen dualistischer Konzeption antwortet, die sich vor allem der praktischen Philosophie als Herausforderung stellt. Von ihrem Standpunkt aus denkt er das Problem wohl auch hier. Bezüglich des intelligiblen Charakters als Ding an sich ergibt sich, wie sich zeigen wird, die Frage, wie die Vernunft das Wollen bestimmen können soll, wenn
GS 6, 308: „Die einstmals kritisch aufklärerische Rebellion gegen das Ding an sich ist zur Sabotage an der Erkenntnis geworden, obwohl noch in der verkrüppeltesten wissenschaftlichen Begriffsbildung Spuren der ihrerseits nicht minder verkrüppelten Sache selbst überleben. Der Refus des Kantischen Amphiboliekapitels, das Innere der Dinge zu erkennen, ist ultima ratio des Baconschen Programms. Es hatte als geschichtlichen Index seiner Wahrheit die Auflehnung gegen scholastische Dogmatik.“ Mit dem „Amphiboliekapitel“ meint Adorno offenbar nicht nur den Anhang „Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe“, sondern das ganze dritte Hauptstück.
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sie über diese Konstruktion als einerseits der Erkenntnis und andererseits der Zeit entzogen gedacht wird. Hier greift das hegelsche Modell, dem Adorno in dieser Hinsicht uneingeschränkt folgt, die Vernunft in die Zeit hineinzunehmen. Sie durchläuft einen Bildungsprozess, wie ihn Kant nur der Welt der Erscheinungen zugestehen will. Und mehr noch ist Adorno bei Marx, wenn er nicht nur die „reine Formalität der Subjektivität“, sondern auch „die Intention, gesellschaftliche Reflexion von ihr fernzuhalten“, kritisiert (Früchtl 2019, 387). Daher die wiederholten, oft unvermittelten Wendungen von der Erkenntniszur Gesellschaftstheorie, die ja eine Eigenart des adornoschen Denkens überhaupt ausmachen. Dass er Kant gar „soziologisch interpretiert“ (Früchtl 2019, 389), zeigt sich vor allem im Bereich der praktischen Vernunft, den Adorno ohnehin stets im Blick hat. Dabei überwiegt die Würdigung in der Negativen Dialektik doch die Kritik. Denn „durch die Etablierung der vernünftigen Einheit des Willens als alleiniger sittlicher Instanz“ (GS 6, 237) bringt Kant erst das autonome Individuum zur Geltung, und zwar – das gilt nun in theoretischer wie praktischer Hinsicht – gegenüber dem vormodernen ordo, in dem Moral gewissermaßen externalisiert und damit neutralisiert wird. Auch hier klingt also unüberhörbar die Dialektik der Aufklärung als eine des Nominalismus an, die wie bei Hegel und Kierkegaard so auch bei Kant als ideen- und realgeschichtliche Gesamtbewegung den Hintergrund der Deutung Adornos bildet: „Verinnerlichung der Gesellschaft als ganzer tritt anstelle der Reflexe einer ständischen Ordnung, deren Gefüge, je dichter es sich gibt, desto mehr das an den Menschen Allgemeine zersplittert. Die Relegation der Moral an die nüchterne Einheit der Vernunft war Kants bürgerlich Erhabenes, trotz des falschen Bewusstseins“ (GS 6, 237).²⁹ Adorno selbst verortet sich im zweiten Teil der Negativen Dialektik zwischen den beiden Extrempositionen der Enthaltung und der Vereinnahmung, zwischen Kant und der Aufhebung seines Dualismus im idealistischen Identitätsdenken. Im Anschluss an jene Passage (GS 6, 183 – 184), in der er sich Kierkegaards Konzept des qualitativen Sprungs gegen Hegels Dialektikverständnis zunutze macht, heißt es: Vorrang des Objekts bedeutet die fortschreitende qualitative Unterscheidung von in sich Vermitteltem, ein Moment in der Dialektik, nicht dieser jenseitig, in ihr aber sich artikulierend. Kant noch hat das Moment des Vorrangs von Objektivität nicht sich ausreden lassen. Er hat sowohl die subjektive Zergliederung des Erkenntnisvermögens in der Vernunftkritik aus objektiver Absicht gesteuert, wie hartnäckig das transzendente Ding an sich verteidigt. (GS 6, 185)
Hier wird Kant also, anders als an der zuvor zitierten Stelle, ausdrücklich gegen den Primat des Subjekts in Stellung gebracht. Das liegt daran, dass besagte kritische Funktion des Dings an sich eben selbst mehrdeutig ist. „Die Konstruktion von Ding an sich und intelligiblem Charakter ist die eines Nichtidentischen als der Bedingung der Möglichkeit Eine solche Ordnung „richtet, ohne daß deren Gesetz von seinem eigenen Bewußtsein zugeeignet wäre“. Das hat zwei Konsequenzen: Es gibt keinen „Schutz gegen die ihm [dem Subjekt, M. K.] von einer hierarchischen Gesellschaft angetane Gewalt“ und die „einzelnen Handlungen werden läßlich“ (GS 6, 237).
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von Identifikation, aber auch die dessen, was der kategorialen Identifizierung entschlüpft“ (GS 6, 286, Anm.). Dieser Doppelcharakter ist wie gesagt im Formalismus seines Subjektbegriffs selbst begründet, der innerhalb seiner Grenzen Identität zu stiften vermag. Dass dem subjektiven einheitsstiftenden Prinzip wie seinem objektiven Korrelat größtmögliche Indeterminiertheit zukommt, beutet Hegel dann aus zum Zweck völliger Bestimmtheit jenseits aller grenzbegrifflichen Zurückhaltung. Hinsichtlich des kantischen Dualismus und Hegels Antwort darauf, versucht Adorno mit seiner Konzeption negativer Dialektik nicht weniger als einen dritten Weg zu beschreiten, insofern der qualitative Unterschied – ein Begriff, den er Kierkegaards Kritik der Spekulation verdankt – nun in die dialektische Bewegung, die diese Gegensätze doch aufheben sollte, hineingenommen wird. Die Diskussion um das Ding an sich ist das Gegenstück jener um das idealistische Subjekt-Objekt, insofern beide wechselseitig durcheinander korrigiert werden, wie Andreas Pradler (2003, 88) resümiert: „Mit Kant anerkennt Adorno also die Schranke, die das erkennende Subjekt von dem zu erkennenden Objekt trennt, mit Hegel gegen Kant hält Adorno aber auch daran fest, daß diese Schranke, die dem Denken gesetzt ist, keine endgültige ist.“
4.2 Der intelligible Charakter und die Antinomie(n) der Freiheit Schon die Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft legt nahe, dass es Kant in der Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung vor allem darum geht, die (Denk‐)Möglichkeit menschlicher Freiheit und damit die Grundlage der Moral zu sichern, allerdings ohne sie darin schon rechtfertigen zu können. Letzteres ist der praktischen Philosophie vorbehalten. Gefordert ist zunächst lediglich Widerspruchsfreiheit. Sie begründet sich aus dem Umstand, „daß wir eben dieselben Gegenstände auch als Dinge an sich selbst, wenn gleich nicht erkennen, doch wenigstens müssen denken können“ (AA III, 17 / B XXVI). Und das gilt nicht zuletzt für die menschliche Seele bzw. den Willen: „Von eben demselben Wesen also, z. B. der menschlichen Seele, würde ich nicht sagen können, ihr Wille sei frei, und er sei doch zugleich der Naturnothwendigkeit unterworfen, d. i. nicht frei, ohne in einen offenbaren Widerspruch zu gerathen, weil ich die Seele in beiden Sätzen in eben derselben Bedeutung, nämlich als Ding überhaupt (als Sache an sich selbst), genommen habe und ohne vorhergehende Kritik auch nicht anders nehmen konnte“ (AA III, 17 / B XXVII). Darin sieht Kant der Negativität der Kritik zum Trotz, d. h. ihrer den Vernunftgebrauch bloß einschränkenden Verfahrensweise, ihren „positive[n] und sehr wichtige[n] Nutzen, so bald man überzeugt wird, daß es einen schlechterdings nothwendigen praktischen Gebrauch der reinen Vernunft (den moralischen) gebe“ (AA III, 16 / B XXV). Ausgangspunkt für Kants Wende zu einem solchen ist nun der „intelligible Charakter“. Er bietet einen Ausweg aus der dritten Antinomie, der Adorno freilich nicht zufriedenstellt. Vor allem, dass er ihn dem Ding an sich „kryptisch genug, in höchst formaler Analogie“ gleichsetze, das aber nicht erklärt werde, stört ihn (GS 6, 285). Denn daraus ergibt sich wiederum auch für den intelligiblen Charakter die Folge, dass er
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gänzlich unbestimmt bleibe. Er sei bloße „unbekannte Ursache“ und „von ihm zu reden so unmöglich wie über das Ding an sich“ (GS 6, 285). Adorno meint deshalb, dass er mit diesem Begriff einen platonischen Chorismos impliziere, der die behauptete Einwirkung auf die phänomenale Welt im Grunde unmöglich mache. Ein derart „radikal getrenntes Subjekt“, würde, wenn es denn einwirkte, „deren Bestimmungen, also der Kausalität“ unweigerlich unterliegen, ihr als „Moment“ einverleibt (GS 6, 285 – 286). Das ist sicherlich kein neuer Vorwurf an die Adresse Kants. Ganz ähnlich wurde dieses Paradoxon schon von Jacobi formuliert. Kant selbst spricht in der „Erläuterung der kosmologischen Idee einer Freiheit“ deutlich aus, dass wir zwar den intelligiblen Charakter als intelligible Ursache unserer Handlungen erkennen können – „daß sie frei, d. i. von der Sinnlichkeit unabhängig bestimmt, und auf solche Art die sinnlich unbedingte Bedingung der Erscheinungen sein könne“ (AA III, 376 – 377 / B 585). Ihre Wirkungsweise aber entzieht sich gänzlich der Erkenntnis. Auch der Ausweg, der „Kausalität nach Gesetzen der Natur“ eine „Kausalität aus Freiheit“, d. h. nach dem Sittengesetz, an die Seite zu stellen, ist in zweierlei Hinsicht problematisch. Einmal, weil sie jenes Paradoxon der Einwirkung in die Welt der Erscheinungen schlicht nicht aufzulösen vermag. Denn bei der Kausalität nach den Naturgesetzen handelt es sich um einen reinen Verstandesbegriff, der als solcher, wie Kant sagt, nur von empirischem Gebrauch ist. Im anderen Fall dagegen findet ein transzendentaler Gebrauch dieser in einem impliziten Analogieschluss übertragenen Kategorie statt, wogegen er sich im dritten Hauptstück doch ausdrücklich verwahrt. Zum anderen wird Adorno das kantische Konzept problematisch wegen seiner Konsequenzen für den (subjektiven) Freiheitsbegriff selbst. Denn dadurch, dass Kant Freiheit als „Spezialfall von Kausalität“ konstruiert und inhaltlich bloß nach ihrem Gesetzescharakter – und das heißt für Adorno zugleich Herrschaftscharakter – bestimmt, gerät auch sie zu einer „Identität, die alles Nichtidentische annektiert hat“ (GS 6, 248). Nun wird aber der „Kantische[n] Dualismus“ von seinem Urheber selbst „kontaminiert“ (GS 6, 286). Er weicht also in seiner praktischen Philosophie von der eigenen Vorgabe ab, dass sich vom Ding an sich schlechterdings nichts prädizieren ließe: Von der ‚intelligibelen Existenz‘, einem Dasein ohne die Zeit, welche Kant zufolge Daseiendes mit konstituiert, wird gehandelt, ohne daß ihn die contradictio in adjecto schreckte, ohne daß er sie dialektisch artikulierte, gar sagte, was irgend unter jener Existenz zu denken sei. Am weitesten wagt er sich vor mit der Rede ‚von der Spontaneität des Subjects als Dinges an sich selbst‘. Nach der Vernunftkritik wäre von dieser positiv so wenig zu sprechen wie von den transzendenten Ursachen der Phänomene des äußeren Sinnes, während ohne intelligiblen Charakter moralisches Handeln in der Empirie, Einwirkung auf diese unmöglich wäre und damit die Moral.³⁰
Für Adorno stellt sich daher zunächst die Frage, um welches Subjekt es hier überhaupt geht. Denn es ist zwar wie gesagt in Analogie zur transzendentalen Einheit der Apperzeption gebildet, zugleich soll es aber selbst Ding an sich sein. Jener Grunddissens in
GS 6, 284. Die Kantzitate finden sich in der Kritik der praktischen Vernunft: AA V, 99.
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der Interpretation des Dings an sich hinsichtlich der Zwei-Welten-Lesart transformiert sich nun, wo es um den intelligiblen Charakter geht, in die Frage, ob er wiederum dem Subjekt, gewissermaßen als Hypokeimenon zugrunde gelegt werde, oder ob er nicht vielmehr diesem, wie Adorno formuliert, „schroff entgegengesetzt“ (GS 6, 251) sei. Dann sei er, so meint er weiter, „nur durch uneinlösbare, von Kant denn auch nirgends ausgeführte Spekulation mit dem moralischen Subjekt als einem gleichfalls Ansichseienden zusammenzuwerfen“ (GS 6, 251). Allerdings ist im Fall des intelligiblen Charakters ja unbedingt von dessen Individuiertheit, d. h. seiner numerischen Identität mit dem empirischen auszugehen, weshalb es sich nur um zwei Betrachtungsweisen desselben Gegenstands handeln kann, also die zwei-Aspekte-Interpretation vorzuziehen wäre.³¹ Adorno reflektiert dieses Deutungsproblem ausdrücklich, wenn er meint, Kant erkläre nicht, ob der intelligible Charakter „‚ein‘ Ding an sich, eines in jeder Person“ oder etwas anderes sei (GS 6, 284). Jedenfalls geht es hierbei nicht bloß um numerische, sondern um personale Identität. Das sei dessen eigentliches Anliegen: „Woran Kant beim Begriff des intelligiblen Charakters dachte, ist trotz der asketischen Schweigsamkeit seiner Theorie nicht aller Mutmaßung entzogen: die Einheit der Person, Äquivalent der erkenntnistheoretischen Einheit des Selbstbewußtseins“ (GS 6, 287). Adorno hat sicherlich recht, dass das, was Kant sowohl in theoretischer wie praktischer Hinsicht vorrangig motiviert, seine Subjektivitätskonzeption derart auszugestalten, ihre einheitsstiftende Funktion ist – was dieser ja selbst in aller Deutlichkeit ausspricht. Adorno geht dabei aber insofern über eine bloße Feststellung hinaus, als seine Deutung Kants unübersehbar, wenngleich meist untergründig, durch Freud geprägt ist. Denn er fährt fort, dass das „Ichprinzip […] ebenso theoretisch Einheit stiftet wie praktisch Triebe bändigt und integriert“ (GS 6, 287). Früchtl (2019, 389) meint daher gar: „Was Kant den ‚intelligiblen Charakter‘ nennt, nennt Adorno mit Freud das ‚starke Ich‘, ‚das alle seine Regungen vernünftig kontrolliert‘, das sich den ‚Impulsen‘ hingibt, ohne ihnen zu erliegen, das sie also ‚zwanglos‘ integriert.“³² Allerdings wird mit dem Begriff der Zwanglosigkeit bereits die Differenz angezeigt. Das Zwanghafte als die Kehrseite der Freiheit sieht Adorno wie gesagt bereits darin, dass Kant sie in Analogie zur Kausalität nach den Gesetzen der Natur formuliert. Zwar verkennt er keineswegs das emanzipatorische Potential seines Autonomiebegriffs als einer Selbstbestimmung gegenüber naturhafter und gesellschaftlicher Fremdgesetzlichkeit. Doch fordert das moralische Gesetz eben unbedingten Gehorsam – daher ja auch der Ausdruck „kategorischer Imperativ“ –, weshalb ihm dem Charakter nach auch etwas von solcher Heteronomie anhängt. Das denkt Adorno nun mit der einheitsstiftenden Funktion des intelligiblen Charakters im Hinblick auf personale Identität zusammen. Denn mit sich selbst übereinzustimmen und sich als frei zu erfahren ist nach Kant nur möglich in der
So definiert Willaschek (2001, 680) den gemeinsamen Nenner der unter der Überschrift einer „ZweiAspekte-Interpretation“ zusammengefassten Deutungen. Vgl. GS 6, 289. Die Formel vom „starken ich“ findet sich mehrfach in seiner Auseinandersetzung mit Kant – u. a. GS 6, 237.
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Befolgung dieses Gebots. Anders gesagt ist, wer es nicht achtet, auch der Selbstachtung nicht fähig.³³ Der Mensch gerät dann notwendig in einen Widerspruch mit sich. Nun lässt sich durchaus infrage stellen, ob Adorno in seiner Kritik am Herrschaftscharakter der kantischen Bestimmung der Autonomie des Subjekts und seiner Moral – als „Identität, die alles Nichtidentische annektiert hat“ (GS 6, 248) –, ausreichend würdigt, dass Kant jenen gesetzestreuen, praktischen Vernunftgebrauch keineswegs in einen Gegensatz zur menschlichen Natur als der Gesamtheit aller seiner Beweggründe bringt, sondern nur „die Unabhängigkeit der Willkür von der Nöthigung durch Antriebe der Sinnlichkeit“ (AA III, 363 / B 562) einfordert. Das heißt, dass die „Natur des Menschen“ sich selbst als eine Verbindung von Kausalität und Freiheit darstellt – zwar nicht im Sinne Adornos oder Kierkegaards, ihnen aber auch nicht unversöhnlich entgegengesetzt – und dadurch von der Natur als solcher, dem Gesamtzusammenhang aller Erscheinungen nach dem Kausalprinzip, abgesetzt wird.³⁴ Zudem ist seine Vorstellung keineswegs die, dass je vernünftig abzuwägen wäre, was richtig ist, sondern vielmehr, dass dem Einzelnen das Sittengesetz selbst zur zweiten Natur und auch insofern Naturgesetzen im kantischen Sinne vergleichbar wird. Das ist also ein Aspekt, der sich nicht mit dem von Adorno kritisierten herrschaftsförmigen Gesetzescharakter verrechnen lässt. Allerdings ist die hiermit angesprochene Spontaneität der Handlung und die Übereinstimmung von Natur und moralischem Gesetz ein Ideal – also praktisch unerreichbar – und insofern nicht der vorausgesetzten Spontaneität unseres Freiheitsvermögens und der Einheit des intelligiblen Charakters als solcher gleichzusetzen, an denen die Kritik Adornos ja vorrangig ansetzt. In jedem Fall eignet der kantischen Konzeption eine nicht zu tilgende Ambivalenz, wie er im Abschnitt „Wahrheitsgehalt der Lehre vom Intelligibeln“ feststellt: Freiheit und intelligibler Charakter sind mit Identität und Nichtidentität verwandt, ohne clare et distincte auf der einen oder anderen Seite sich verbuchen zu lassen. Frei sind die Subjekte, nach Kantischem Modell, soweit, wie sie ihrer selbst bewusst, mit sich identisch sind; und in solcher Identität auch wieder unfrei, soweit sie deren Zwang unterstehen und ihn perpetuieren. Unfrei sind sie als nichtidentische, als diffuse Natur, und doch als solche frei, weil sie in den Regungen, die sie überwältigen – nichts anderes ist die Nichtidentität des Subjekts mit sich –, auch des Zwangscharakters der Identität ledig werden. Persönlichkeit ist die Karikatur von Freiheit. Die Aporie hat den Grund, daß Wahrheit jenseits des Identitätszwanges nicht dessen schlechthin Anderes wäre, sondern durch ihn vermittelt. (GS 6, 294)
Adorno denkt in dieser Schlüsselstelle verschiedenes zusammen. Die Identitätsbeziehung des Subjekts, die zugleich Freiheit ist, ist danach zu differenzieren, ob sie ihr anderes – d. h. Natur, ihr Triebleben – ein- oder ausschließt. Kant integriert es konzeptuell nur insoweit, als er es bändigt. Natur fungiert aber keineswegs, wie bei Adorno, als Korrektiv an jener Identität, die hier ausdrücklich als Zwang verstanden wird. Das
Vgl. AA V, 161. Das gilt jedenfalls, sofern man nicht radikal böse handelt. Vgl. hierzu die einschlägige Stelle in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, wo er auf die Frage eingeht, ob der Mensch von Natur aus gut oder böse sei: AA VI, 21.
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ist, darum soll es zunächst gehen, die Kehrseite von Kants Freiheitskonzeption. Sie enthüllt sich aus dieser Perspektive „als finsteres Wahrzeichen einer triebunterdrückenden protestantischen Pflichtethik“ (Früchtl 2019, 389). Nun wirft Adorno Kierkegaard ja bisweilen in ähnlicher Weise einen protestantischen Rigorismus vor, spricht etwa – hier allerdings im Kontext der Arbeitsmoral – von „puritanischen Forderungen“ einer Ethik „absoluter Innerlichkeit“ (GS 2, 73). Zumindest formal steht er ihm aber in der antinomischen Bestimmung des Subjekts und seiner Freiheit deutlich näher. Wenngleich Adorno Kant vordergründig vielmehr durch Nietzsche und Freud korrigiert, wird die Auseinandersetzung mit ihm auch in dieser Hinsicht nicht ohne Wirkung gewesen sein. Zwar identifiziert Kierkegaard das Selbst mit Freiheit, bestimmt es aber zugleich als eine „Synthese […] aus Freiheit und Notwendigkeit“ (KT, 13 / SKS 11, 129). Freiheit als ein beide Momente übergreifendes Selbstverhältnis ist deshalb dem kantischen, Einheit verbürgenden intelligiblen Charakter nicht vergleichbar. Sie ist praktisch zu vollziehen auf dem Grund einer unaufhebbaren Entzweiung, dem Widerspruch mit sich. Der Rückzug auf einen einseitigen Begriff von (Willens‐)Freiheit steht solcher paradoxen Selbstübereinstimmung gerade entgegen. Stets ist sie mit ihrem anderen zusammenzudenken und im Hinblick auf ihre Bedingungen zu reflektieren, die die kantische Pflichtethik schon als erfüllte voraussetze.³⁵ Er vergleicht sie in der Einleitung der Angstabhandlung deshalb mit einem „Zuchtmeister“ (BA, 21 / SKS 4, 324). Natur in Adornos Sinne wird in solchen Reflexionen freilich noch nicht eingeholt. Ausdrücklich meint dieser in der Konstruktion des Ästhetischen ja mehrfach, dass Kierkegaard sie ausschließe. Doch was gerade im Spätwerk „so puritanisch stilisiert wird“, birgt für Adorno zugleich „die reichste Dialektik“ – und das gilt auch für den Versuch, „Natur selber zu tilgen“ (GS 2, 175). Gerettet wird sie wie erörtert in der Schwermut, in der sie sich als nicht zu überwindender „Naturgrund“ geltend macht. Insofern ist schon die „Leidenschaft ihrer Vernichtung“ (GS 2, 175) ein Stück Natur. Adorno verschweigt dabei aber, dass Kierkegaard selbst das Sinnliche – nicht zuletzt das „Sexuelle“ (BA, 58 / SKS 4, 354) – als wesentlich in den theoretischen Entwurf integriert. Es sei dahingestellt, ob man, wie Cattepoel (2011, 141) meint, bei ihm gar Ansätze zu einer Kritik der „‚puritanischen‘ Sexualmoral“ finden kann und ob er „als einer der ersten sexuelle Aufklärung als eine Aufgabe der christlichen Seelsorge verstanden“ hat. Cattepoel weist aber zu Recht auf diesen meist marginalisierten Aspekt hin. In der Angstabhandlung heißt es etwa: „Zweifellos ist die ganze Frage nach der Bedeutung des Sexuellen und nach seiner Bedeutung in den einzelnen Sphären bislang höchst ungenügend und vor allem äußerst selten in der rechten Stimmung beantwortet worden. Darüber Witze zu erzählen, ist eine armselige Kunst; davor zu warnen, ist nicht
Faktizität – in der Existenzphilosophie überhaupt der Komplementärbegriff, nicht aber Gegensatz zur Freiheit im Sinne von (Selbst‐)Transzendenz – wird bei Kierkegaard vor dem Hintergrund der Erbsündenlehre ja derart radikalisiert, dass das Selbst je seinen Ausgang nehmen muss von einem vorgängigen, unvermeidlichen Scheitern des Versuchs, Freiheit bzw. das Gute zu realisieren.
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schwierig; davon zu predigen, ohne auf die Problematik einzugehen, ist auch nicht schwer“ (BA, 79 – 80 / SKS 4, 371). Ebenso wenig kann jedoch ein Zweifel daran bestehen, dass bei Adorno die „Natur“ im Subjekt weitaus positiver besetzt ist als bei Kierkegaard. Sie ist Freiheit als Impuls, d. h. als Spontaneität, aber eben nicht im Sinne des von Kant angesetzten Vermögens, eine Reihe von Erscheinungen von selbst in Gang zu setzen. Die „Regungen“, die das Subjekt „überwältigen“, sind aber auch nicht mehr: Sie offenbaren als unterdrückte zwar den „Zwangscharakter[s] der Identität“ (GS 6, 294) überhaupt erst, vermögen ihn aber nur momenthaft aufzubrechen. Deshalb gebührt trotz allem der sozusagen kantischen Seite des Modells bei Adorno klar ein Vorrang. Das beweist der Satz, der besagter Kritik am Zuchtmeister Kant unmittelbar nachgestellt ist. Hier mündet zugleich Adornos Frage nach der Freiheit (vorerst) in eine Aporie: „Die Aporie hat den Grund, daß Wahrheit jenseits des Identitätszwanges nicht dessen schlechthin Anderes wäre, sondern durch ihn vermittelt“ (GS 6, 294). Dass Adorno den Abschnitt zu Kants Freiheitsbegriff in der Negativen Dialektik dennoch so unversöhnlich ihm gegenüber abschließt hat andere Gründe, die sich erst im Anschluss an Marx verstehen lassen. Er richtet nun den Blick unvermittelt auf die nicht gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen moralischen Handelns: „Alle Einzelnen sind in der vergesellschafteten Gesellschaft des Moralischen unfähig, das gesellschaftlich gefordert ist, wirklich jedoch nur in einer befreiten Gesellschaft wäre“ (GS 6, 294). Das kommt bei Kant insofern nicht in den Blick, als „bei ihm der Gedanke der Autonomie mit dem der Allgemeinheit unproblematisch zusammenfällt“, wie Adorno in den Vorlesungen zur Moralphilosophie vom Wintersemester 1956/57 feststellt, und er „sich noch dessen versichert weiß, daß die […] Interessen der Klassen mit den Interessen der Einzelnen harmonieren“.³⁶ Darin sei Kant „Repräsentant des Bürgertums“. Allerdings wird die Frage nach der Moral noch aus einem anderen Grund zunächst vertagt. Das Modell einer zwanglosen Identitätsbeziehung ist natürlich ein paradoxes bzw. aporetisch im Ausgang. Es ist damit eine Utopie der Selbstbeziehung angesprochen, die sowohl stellvertretend wie auch als handlungsorientierendes Ideal im Kunstwerk verkörpert ist. In der Ästhetischen Theorie kommt dabei auch Kant wieder zur Geltung, und zwar nun, im Begriff des Naturschönen, als Korrektiv an einer Kunstauffassung, die unter der Herrschaft konstituierender Subjektivität steht – was Adorno Kierkegaard ja vorwirft – bzw. Kunst als Verherrlichung ihrer Freiheit versteht. Doch auch das ist als Moment in Kant bereits angelegt: [D]ie Befriedigung an der im Kunstwerk symbolisch erreichten Versöhnung zahlt für jene Verdrängung [der Natur, M. K.]. Das Naturschöne verschwand aus der Ästhetik durch die sich ausbreitende Herrschaft des von Kant inaugurierten, konsequent erst von Schiller und Hegel in die Ästhetik transplantierten Begriffs von Freiheit und Menschenwürde, demzufolge nichts in der Welt zu achten sei, als was das autonome Subjekt sich selbst verdankt. Die Wahrheit solcher Freiheit für es ist aber zugleich Unwahrheit: Unfreiheit fürs Andere. (GS 7, 98)
Noch unveröffentlicht, zitiert nach: G. Schweppenhäuser 2016, 222.
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Man kann darin durchaus ein Echo des ersten Modells der Negativen Dialektik sehen, das mit einer Reflexion auf den kantischen Begriff der„Achtung“ abschließt. Er bedeutet die Anerkennung der Würde des Menschen, zugleich aber, so Adorno, „Verachtung“ fürs Tier.³⁷
4.3 Homo noumenon Das erkenntniskritische Grundproblem spitzt sich, wo es um die „Natur des Menschen“ geht, noch zu. Adorno (GS 6, 250) zitiert aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: „Sogar sich selbst und zwar nach der Kenntniß, die der Mensch durch innere Empfindung von sich hat, darf er sich nicht anmaßen zu erkennen, wie er an sich selbst sei“ (AA IV, 451). Negativ ist diese Anthropologie zunächst, insofern Kant eben auch hier der Erkenntnis eine Grenze setzt, vergleichbar dem negativen Gebrauch des Noumenon. Und darin wird er Adorno ein Vorbild, anthropologische Fragen unter einem solchen Vorbehalt zu stellen, um die Möglichkeiten des Menschseins nicht zu sabotieren. Auch Kant spricht in seiner Vorrede zur Anthropologie in pragmatischer Hinsicht davon, dass es nicht darum gehe, „was die Natur aus dem Menschen macht“, sondern „was er als frei handelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll“ (AA VII, 119). Auch hier ist die Freiheit des Menschen also der Ausgangs- und Kulminationspunkt. Was sein Wesen in dieser Hinsicht ausmacht, war bereits umrissen worden. Mir geht es daher um die Frage, inwiefern sich die Aporie, die sich dabei gezeigt hat, nun wiederholt und ob auf dieser Grundlage eine philosophische Anthropologie überhaupt denkbar ist. Schleiermacher hat das verneint. Über das letzte von Kant selbst herausgegebene Werk urteilt er, es handle sich dabei um eine „Negation aller Anthropologie, als Behauptung und Beweis zugleich, daß so etwas nach der von Kant aufgestellten Idee durch ihn und bei seiner Denkungsart gar nicht möglich ist“³⁸. Die transzendentalphilosophische Fundamentalunterscheidung von Intelligiblem und Empirischem impliziert ihm zufolge – ähnlich wie für Adorno – einen Chorismos, der auch der ersten Unterscheidung von Kants Anthropologie zugrunde liegt. Das Motiv der Kritik stimmt hier mit dem des Deutschen Idealismus überein, wie Andreas Arndt (2013, 367) resümiert, und zielt auf die Überwindung von Entfremdung, d. h. der Entzweiung des Menschen mit sich: „Was Schleiermacher anmahnt, ist die Einheit von Natur- und Sittengesetz, physischer und moralischer Welt, theoretischer und praktischer Vernunft, und die Trennung von physiologischer und pragmatischer Anthropologie gilt ihm als Ausdruck eines Dualismus, den er in sachlicher Übereinstimmung mit Fichte und den Frühromantikern, wenn auch weitgehend unabhängig davon, bereits in seinen Jugendschriften kritisiert hatte.“ Welche Konsequenzen zieht aber Kant aus der Erblast seiner theoretischen Philosophie für eine mögliche Anthropologie? Ist vom Menschen als solchem die Rede, so geht
GS 6, 294; vgl. AA V, 76. Zitiert nach: Arndt 2013, 367.
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es um mehr als bloß den Teilaspekt, dass er Subjekt im Sinne der Einheit der Apperzeption oder des intelligiblen Charakters ist. Bereits in der Kritik der reinen Vernunft stellt Kant fest, „dass der Mensch freilich eines Theils Phänomen, anderen Theils aber […] ein bloß intelligibeler Gegenstand“ sei, und zwar deshalb, „weil die Handlung desselben gar nicht zur Receptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann“ (AA III, 371 / B 574– 575). Hieran macht Kant auch die Mensch-Tier-Differenz fest: „Bei der leblosen oder bloß thierisch belebten Natur finden wir keinen Grund, irgend ein Vermögen uns anders als bloß sinnlich bedingt zu denken“ (AA III, 370 – 371 / B 574). Somit stimmt er zumindest darin mit der cartesischen Tradition überein, dass er die Differenzbestimmung aus dem Dualismus ableitet, der sein Denken im Ganzen organisiert. Auch gleichen sich nach Adorno die Folgen für das Verhältnis zu den Tieren, die „Verachtung“ ihnen gegenüber. Allerdings ermöglicht die Sinnesfeindlichkeit, die er Kant durchaus unterstellt, in ungleich größerem Maße, dass solche Geringschätzung zurückschlägt auf das Tierische im Menschen.³⁹ Die kantische Doppelbestimmung des Menschen ist ohnehin nicht mehr eine von Leib und Seele im herkömmlichen Sinne, da die Unterscheidung zwischen ihm als empirischem und als intelligiblem Gegenstand in seine Erkenntnis von sich selbst fällt. Kant zieht daraus jedoch nicht den Schluss, dass sich vom Menschen in letzterer Hinsicht nichts aussagen ließe. Vielmehr spricht er in der Metaphysik der Sitten vom „homo noumenon“, also der Betrachtungsweise „nach seiner Menschheit, als von physischen Bestimmungen unabhängiger Persönlichkeit“, im Unterschied zum „homo phaenomenon“ (AA VI, 239). Damit soll der Mensch also Noumenon nicht nur in negativer, sondern auch in positiver Bedeutung sein, was gemäß seiner Definition aus dem dritten Hauptstück der Kritik der reinen Vernunft ein Widerspruch ist, der sich kaum auflösen lässt.⁴⁰
4.4 Gesellschaftstheoretische Konsequenzen Die angesprochene merkwürdige Anverwandlung des Dings an sich vor dem Hintergrund der hegel-marxschen Geschichtsphilosophie ist nicht so abwegig, wie es zunächst scheint. Denn die Verzeitlichung der Vernunft – und damit der „Instanz […], an der der
Die Folgen für Mensch und Tier sind nicht zuletzt deshalb andere, weil Descartes’ vermeintlich rigider Dualismus von res cogitans und res extensa bisweilen die Trennschärfe des transzendentalphilosophischen Konzepts vermissen lässt. So verläuft etwa die Grenzlinie innerhalb der Gefühlswelt des Menschen, nicht jenseits von ihr. Entsprechend unterscheidet Descartes Empfindungen und Emotionen. Diese seien allein auf die Seele bezogene „Wahrnehmungen“, die aber durch körperliche Prozesse, zumindest im Sinne einer mittelbaren Ursache, bedingt sein können (Descartes 1984, 43). Einen Vorschlag dazu macht Willaschek (2001, 686, Anm. 14): „Dieses Problem lässt sich zumindest teilweise dadurch lösen, dass man analog zur Unterscheidung zwischen Phaenomena und Noumena in positiver Bedeutung auch zwischen empirischen und intelligiblen Eigenschaften unterscheidet; letztere wären nur für eine nichtsinnliche Anschauung erkennbar, könnten aber auch empirischen Gegenständen zukommen. […] Der Mensch wäre demnach zwar kein Noumenon in positiver Bedeutung, verfügte aber über intelligible Eigenschaften“.
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intelligible Charakter befestigt wird“ (GS 6, 290) – bei Hegel und seinen Nachfolgern reagiert auf das zentrale Dilemma der kantischen praktischen Philosophie: Wie kann die Vernunft in der Welt der empirischen Beweggründe wirken, d. h. wirklich werden, von der sie doch durch jenen Dualismus getrennt ist? „Das reine, jeden empirischen Inhalts bare Ansichsein des Menschen, das in nichts gesucht wird als seiner eigenen Vernünftigkeit, läßt kein vernünftiges Urteil darüber zu, warum es hier gelungen sei, dort gescheitert“ (GS 6, 290). Dem versucht dialektisches Denken zu begegnen. Auch wenn die Antwort hinsichtlich der Bedingungen je unterschiedlich ausfallen mag, herrscht doch Einigkeit darüber, dass Vernunft „selbst ein Werdendes und insofern auch Bedingtes, kein absolut Bedingendes“ (GS 6, 290) ist. Wo sie außerhalb der Zeit als absolut gesetzt wird – darin sei Kant eine Antezipation des gleichen Fichte, den er befehdete – kann sie mit der „realen Unfreiheit“ zusammenstimmen (GS 6, 290). Die massiven Konsequenzen verdeutlicht Adorno, indem er den noch zu erörternden Gedanken, dass sich Vernunft, wo sie nicht durch Äußerlichkeiten daran gehindert wird, entweder spontan verwirklicht, oder beim „radikal Bösen“ eben nicht, mit dem theologischen Begriff der „Gnadenwahl“ zusammendenkt. Im Grunde hängt es dann nicht vom Tun des Menschen ab, ob er das Richtige tut. Und es ist nur ein kleiner Schritt zu „prästabilierter Erwähltheit“ (GS 6, 291). Letztlich liegt in diesem protestantischen Weltbild für ihn noch die Anfälligkeit Kants und seiner Moralphilosophie, wie überhaupt der „bürgerlichen Freiheitslehre“ – er nennt hier Goethe und Schiller –, für „Rassetheorie“ und Antisemitismus begründet.⁴¹ Allerdings ist der „eklatante Mangel der Kantischen Lehre, das sich Entziehende, Abstrakte des intelligiblen Charakters“ (GS 6, 293) zugleich sein Vorzug, was er unter Rückgriff auf eine andere theologische Denkfigur verdeutlicht: Er „hat auch etwas von der Wahrheit des Bilderverbots, welches die nach-Kantische Philosophie, Marx inbegriffen, auf alle Begriffe vom Positiven ausdehnte. Als Möglichkeit des Subjekts ist der intelligible Charakter wie die Freiheit ein Werdendes, kein Seiendes“ (GS 6, 293 – 294). Es zeigt sich nun, dass Adorno in der Passage zum „Wahrheitsgehalt der Lehre vom Intelligibeln“ bisweilen weniger eine Deutung Kants vorlegt, sondern über ihn hinaus versucht, den marxschen Standpunkt mit dem individueller Subjektivität zu vermitteln. Er lässt hier zunächst zwar offen, ob es sich dabei (auch) um einzelmenschliches Bewusstsein handelt.Wie erörtert liegt diese Unentschiedenheit ihm zufolge aber schon im intelligiblen Charakter selbst begründet, wobei er schließlich behauptet, dass es Kant letztlich um die Personalität des Einzelnen gegangen sei (vgl. GS 6, 285 – 287). Ich meine,
GS 6, 291. Dieser Zuspitzung zugrunde liegt freilich eine komplexe (theologische) Diskussion, die hier nicht berücksichtigt werden kann. Auch die Frage nach dem Verhältnis zur protestantischen Arbeitsmoral, wie sie von Max Weber beschrieben wurde – und deren Spuren Adorno wie gesagt auch bei Kierkegaard wiederfindet –, drängt sich dabei auf. Dort ist die als solche wirksame Forderung, etwas zu leisten, zugleich Rechtfertigung, es geschafft zu haben. Die eigene Erwähltheit dient aber nicht nur rückwirkend der Legitimation des eigenen Erfolgs, sondern ist paradoxerweise der Bestätigung vorauseilend die Motivation, etwas zu erreichen. Das unterläuft den Pflichtcharakter solcher Ethik ebenso wie die Möglichkeit, darüber – was Adorno ja auch Kierkegaard vorhält – soziale Ungleichheit zu rechtfertigen.
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dass in diesem Diskurs aber auch Kierkegaard untergründig anwesend ist. Das legt schon die terminologische Übereinstimmung nahe, etwa wenn er von Intermittenz, Konkretion und Möglichkeit spricht. In jedem Fall ist der Kontrast zur materialistischen Auffassung vom historisch erreichten Bewusstseinsstand höchst erklärungsbedürftig, wo dieser nur im Augenblick „aufleuchten“⁴² soll: Wollte man es wagen, dem Kantischen X des intelligiblen Charakters seinen wahren Inhalt zu verleihen, der sich gegen die totale Unbestimmtheit des aporetischen Begriffs behauptet, so wäre er wohl das geschichtlich fortgeschrittenste, punktuell aufleuchtende, rasch verlöschende Bewußtsein, dem der Impuls innewohnt, das Richtige zu tun. Er ist die konkrete, intermittierende Vorwegnahme der Möglichkeit, weder fremd den Menschen noch mit ihnen identisch. (GS 6, 292)
Was möglich wäre, macht sich hier in einer Weise geltend, die mit Marx nicht mehr zu verrechnen ist und die versäumte Verwirklichung der Philosophie zu ihrer Voraussetzung hat. Dadurch verkehrt sich die kantische Frage, was der Mensch als frei handelndes Wesen aus sich machen kann und soll, in die „schwermütig[e]“ – Adorno zitiert hier Karl Kraus –, was die Welt aus uns gemacht hat (GS 6, 292). Das zeitigt tatsächlich Konsequenzen, die an die „Wendung der Schwermut“ im Kierkegaardbuch erinnern. Sie wird zum negativem Index des Möglichen. Die Hoffnung auf eine Gestaltbarkeit der Verhältnisse, wie sie dem kantischen Freiheitsbegriff eingeschrieben ist – dort aber belastet mit der Hypothek einer doppelsinnigen Autonomie –, schlägt negativ durch „im Schmerz des Subjekts, daß alle Menschen in dem, was sie wurden, in ihrer Wirklichkeit, verstümmelt sind“ (GS 6, 292). In dieser Ohnmacht tut sich ebenso die Erfahrung vom Vorrang des Objekts kund, wie die, dass das was ist, nicht alles sein kann. Trotz allem kündigt sich hier eine paradoxe Rehabilitierung des (individuell) Ethischen gegenüber Marx an, die es im letzten Kapitel zu diskutieren gilt. Es ist ein „Impuls […], das Richtige zu tun“, der keinen Platz mehr zu haben scheint. Der „emanzipatorische Impuls der Aufklärung“ (Habermas 2019, 597) als solcher aber verbindet beide ebenso wie Kierkegaard und die Junghegelianer. Aus diesem übergeordneten philosophiegeschichtlichen Blickwinkel, wie ihn Habermas einnimmt, werden Adornos Überlegungen zum „Kantischen X des intelligiblen Charakters“ nachvollziehbar.
5 Die Wirklichkeit des Ethischen und der methodische Negativismus Wie Kant, wenngleich auf ganz andere Weise, vollzieht auch Kierkegaard in jener von Adorno ausführlich wiedergegeben Passage aus der Nachschrift ⁴³ eine Wendung von der theoretischen Philosophie in die praktische. Es stellt sich die Frage, was es über den erörterten Bezug zu Fichtes Konzept der Tathandlung hinaus damit auf sich hat, dass er
Auch hier klingt wieder jene Lichtmetaphorik an, die sich bei ihm so oft findet. AUN II, 30 – 31 / SKS 7, 299; GS 2, 42– 44.
5 Die Wirklichkeit des Ethischen und der methodische Negativismus
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dort die Wirklichkeit dem Ethischen zuweist und inwiefern das – Adorno äußert sich an dieser Stelle nicht dazu – als Kritik an Kant zu verstehen ist. Schließlich lässt sich doch auch von diesem gewissermaßen behaupten, dass er die Wirklichkeit (der Vernunft) dem Ethischen zuschlägt. Zunächst versteht Kierkegaard unter dem Ethischen nicht weniger, Adorno stellt das eher beiläufig fest (GS 2, 44), als eine Auffassung von Wirklichkeit als existierender Subjektivität. Inwiefern das eine Kritik an der theoria bedeutet, die sich ihm im spekulativen Denken vollendet, war ausführlich erörtert worden. Auch Kant nimmt er unübersehbar in diesen Zusammenhang mit hinein (vgl. BI, 277– 278 / SKS 1, 308 – 309). Er hält ihm vor, der Wirklichkeit gewissermaßen ein Subjekt gegenüberzustellen, dass zwar seine Welt präformiert, aber als vorausgesetztes weltlos ist. Diese Kritik betrifft die theoretische Philosophie ebenso wie die Rettung der Metaphysik in der praktischen Vernunft. Auch diesen Zusammenhang spricht Kierkegaard in der Einleitung zu Der Begriff Angst deutlich aus, wenn er gegenüber der ersten Philosophie und der ihr entsprechenden ersten Ethik eine neue, zweite fordert (BA, 26 / SKS 4, 328 – 329). Die Entfremdung zwischen Subjekt und Objekt, die Hegel dann antritt aufzuheben, zeigt sich nun als Trennung von Idealität und Wirklichkeit: „Sie will die Idealität in die Wirklichkeit bringen, dagegen ist ihre Bewegung nicht darauf gerichtet, die Wirklichkeit zur Idealität emporzuheben. Die Ethik zeigt ihre Idealität als Aufgabe und setzt voraus, daß der Mensch im Besitz der Bedingungen dafür ist.“ (BA, 21 / SKS 4, 324). Die Alternative dazu ist Kierkegaard, von der ethischen Wirklichkeit des Menschen selbst auszugehen. Und das ist für ihn die Sünde, im Sinne einer Schuldverstricktheit, die gerade keine Versöhnung bedeutet, sondern die qualitative Differenz in der Einheit von Subjekt und Welt, Seinsollendem und Seienden festhält. Es gilt die Idealität in der Wirklichkeit zuallererst zu „gebären“, anstatt sie bloß zu „fordern“ und zu „richten“ (BA, 21 / SKS 4, 324). Dazu muss man sich negativistisch aus der eigenen Verfehlung herausarbeiten, was nun eine Tathandlung anderer Art bedeutet: Der Mensch setzt mit jeder neuen Tat stets schon bei einer vollzogenen Handlung an – die ihm als solche zwar zuzurechnen ist, ohne dass er aber über ihre Bedingungen verfügen könnte. Auch das drückt der Begriff des Gesetztseins aus – den Adorno wie gesagt idealistisch missversteht. Das Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, kann lediglich sein Verhalten setzen, nicht aber sein Sein (Holl 1972, 147). Allerdings schließt Kierkegaard in der Einleitung zur Angstabhandlung auch unzweideutig an Kant an, und zwar zunächst an die erörterte epistemologische Enthaltsamkeit hinsichtlich der „Realität“, die das Ding an sich als Grenzbegriff zum Ausdruck bringt: „Die gesamte Philosophie der Antike und des Mittelalters setzte voraus, daß das Denken überhaupt Realität besitzt. Diese Voraussetzung wurde durch Kant in Zweifel gezogen“ (BA, 15 / SKS 4, 319). Das wendet er nun gegen die „Hegelsche Philosophie“, die „Kants Skepsis“ nicht wirklich durchdacht habe. Bei ihm sei untergründig am Werk, „was Schelling mit dem Stichwort ‚Intellektuelle Anschauung‘ und ‚Konstruktion‘ offener bekannte“ (BA, 15 / SKS 4, 319). Ähnlich argumentiert er, wie zuvor erwähnt, auch in der Nachschrift, wenn er die Idee eines sich selbst vollbringenden Skeptizismus deshalb ablehnt, weil sich eine Skepsis, die sich auf das Denken selbst richtet, nicht innerhalb des Denkens aufheben lasse (AUN II, 31 / SKS 7, 299 – 300). Hegels Versöhnung von Denken
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und Realität, die ihren Ausgang bei Kants transzendentalphilosophischer Fundamentaldifferenz nimmt, ist ihm im Grunde nur die Anfangsbestimmung der vorkantischen Philosophie „in einer höheren Form rekonstruiert“ (BA, 15 / SKS 4, 319). Dieses Argument findet sich bei Kierkegaard in verschiedenen Varianten in anderen Schriften und Aufzeichnungen.⁴⁴ Die Einleitung der Angstabhandlung ist aber deshalb so aufschlussreich, weil sie in recht verdichteter Form einen Eindruck vermittelt, wie Kierkegaard sich selbst – daran ändert in diesem Fall wie gesagt auch die pseudonyme Verfasserschaft nichts – im Gesamtzusammenhang der Klassischen Deutschen Philosophie verortet. Hauptgegner ist Hegel, während er Schellings System des transzendentalen Idealismus und implizit auch Fichte zumindest eine größere intellektuelle Redlichkeit zugesteht. Vor allem aber kommt dabei eine Affinität zu Kant zum Vorschein, dessen Skepsis auch ihm „ein neuer Ausgangspunkt war“ (BA, 15 / SKS 4, 319). Man könnte fast behaupten, dass Kierkegaard das transzendentalphilosophische Diskrimen ins existenzdialektische wendet: „Dasein ist das Spatiierende, das auseinanderhält“ (AUN I, 111 / SKS 7, 114). Axel Hutter (2014, 5) hat insofern völlig recht, wenn er ausgehend von der Einleitung zum Begriff Angst meint, dass auch dessen Denken „nur von diesem Wendepunkt her angemessen zu verstehen“ und seine Idealismuskritik in diesem Lichte zu betrachten sei.⁴⁵ Allerdings geht es Kierkegaard doch vorrangig um eine Skepsis, die sich aus dem Dogma der Erbsünde speist und die mit Kant nur schwer vereinbar scheint: „Ebenso wie alles Erkennen und Spekulieren der Antike zur Voraussetzung hatte, daß der Gedanke Realität besaß, setzt auch jegliche Ethik der Antike voraus, daß die Tugend realisierbar ist. Die Skepsis der Sünde ist dem Heidentum völlig fremd. Für das ethische Bewußtsein ist die Sünde, was der Irrtum für das Erkennen ist: die einzelne Ausnahme, die nichts beweist“ (BA, 24 / SKS 4, 326). Wenngleich er, wie sich gezeigt hat, den deontologischen Ansatz Kants mit ähnlichen Argumenten wie Hegel kritisiert, gewissermaßen dessen Formalismusvorwurf als Existenzferne reformuliert, so knüpft er selbst hier an ihn an. Jenseits der spezifischen Konkretion, die er im Begriff der Wirklichkeit des Ethischen beansprucht, gibt es durchaus Gemeinsamkeiten in Kierkegaards Bestimmung des ethischen Negativismus – allein schon deshalb, weil er ihn in Analogie zum epistemologischen setzt. Kant geht vom falschen, d. h. unrechtmäßigen Gebrauch der Vernunft aus und entwickelt die Erkenntnistheorie als Grenzwissenschaft insofern aus einem epistemologischen Misslingen. Bereits in der Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft spricht er das deutlich aus, wenn er die Herausforderung durch Fragen, die das Erkenntnisvermögen übersteigen, und die Metaphysik als „Kampfplatz […] endlose[r] Streitigkeiten“ (AA IV, 7 / A VIII) beschreibt. In ähnlicher Weise motiviert die Einsicht in die Unzuverlässigkeit moralischen Handelns den Versuch, dessen Prinzipien
Vgl. T I, 229 / SKS 27, 234. Vgl. Hutter 2014, 7: „Seine Nähe und Distanz zu den einzelnen Entwürfen der klassischen deutschen Philosophie ergibt sich also aus seiner Einschätzung, inwieweit es diesen Entwürfen jeweils konkret gelingt, den kritischen Geist Kants zu wahren und zu entfalten.“
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als Pflichtethik von empirischen Bedingungen gänzlich zu entkoppeln⁴⁶ – was eben nicht heißt, dass Kant diese einfach übergehen oder gar beide in einen Widerspruch zueinander bringen würde. Er scheidet nur, was der antiken eudaimonistischen Ethik eine Einheit war: das moralisch Gute und die Glückseligkeit. Würden die Menschen von sich aus zum Guten streben – was für Kant letztlich bedeuten würde, dass sie reine Vernunftwesen wären –, bräuchte es keinen Imperativ. Schon daran zeigt sich, dass auch er gewissermaßen vom Misslingen ausgeht. Dass Menschen tatsächlich auch moralisch handeln ist jedoch ebenso offensichtlich. Deshalb spricht er ja vom „Faktum der Vernunft“ – dass sich diese real als verpflichtend und auch als handlungsmotivierend erweist. Insofern ist zwar wie erörtert der intelligible Charakter epistemologisch unzugänglich. Freiheit als solche, die intelligible Ursache, wird aber aus eben diesem Handeln, ihrer Wirkung, erschlossen, nicht jedoch im strengen Sinne empirisch erfahren. Anders gesagt ist „Freiheit der Seinsgrund für das moralische Gesetz“ und dieses „Erkenntnisgrund der Freiheit“ (Wesche 2011, 72). Dass aber der „Begriff“ der Ethik an der Sünde „scheitert“ (BA, 22 / SKS 4, 324), schließt auch Kant mit ein. Kierkegaard ist hier ungleich radikaler, da er „diese Verfehlung in Form ursprünglicher Verschuldung als unhintergehbare[s] Faktum unserer menschlichen Existenz“ (Hühn 2009, 184) behauptet. Kant geht zwar durchaus von der Wirklichkeit des Ethischen im Sinne tatsächlichen menschlichen Handelns aus. Als negativwertiges, als Misslingen aber, ist diese Realität in der Theorie selbst wiederum nur, im Gegensatz zur Begründungsfunktion des faktischen Vernunftgebrauchs, in negativer Form präsent. Dass Menschen scheitern, ist ihm kein Einspruch gegen seine Pflichtethik, sondern motiviert ihn dazu, sie derart zu formulieren. Kierkegaard knüpft an Kants Kritik des „Eudämonismus“ an, spielt aber beide Modelle gegeneinander aus. Im Anschluss an besagte Kritik der Pflichtethik, die bloß fordere und richte, ohne zu gebären, gesteht er der „griechische[n] Ethik“, er nennt hier ausdrücklich Aristoteles’ Nikomachische Ethik, nun in anderer Weise eine größere Realitätsnähe zu, aber eben deshalb, „weil sie im eigentlichsten Sinne keine Ethik war“ (BA, 21 / SKS 4, 324). Wenn er kurz darauf meint: „Je idealer die Ethik ist, um so besser“ (BA, 21 / SKS 4, 324), so ist das nicht bloß ironisch zu verstehen. Kierkegaards eigene Ethik, die in der Angstabhandlung lediglich angedeutet und erst in Der Liebe Tun ausgeführt wird, ist im Grunde der Versuch einer Verbindung beider Konzepte unter theologischen Vorzeichen. Das drückt sich schon in der paradoxen Forderung des Gebots der Nächstenliebe aus, scheint doch eine Liebe, die sich an einzelmenschlicher Konkretion ausrichtet, einem unbedingten und allgemeinen Sollen gerade zu widersprechen. Während Kierkegaard den Pflichtcharakter, die Unbedingtheit des Gebots, von Kant übernimmt, setzt er sich in seinem ethischen Negativismus von ihm ab. Kant geht es primär um eine Negation empirischer Beweggründe – d. h. von sinnlich bestimmten Bedürfnissen und Neigungen, die im moralisch relevanten Sinne Eigeninteressen
Das Reich der Zwecke gehört der intelligiblen Welt an.Vgl. AA IV, 438 (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten).
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sind⁴⁷ –, denen abstrakt das Sittengesetz entgegengestellt wird, das sich seinerseits positiv und spontan als Ausübung der Vernunft verwirklicht. Derart unterscheidet er ja den positiven vom negativen Begriff der Freiheit: In der Unabhängigkeit nämlich von aller Materie des Gesetzes (nämlich einem begehrten Objecte) und zugleich doch Bestimmung der Willkür durch die bloße allgemeine gesetzgebende Form, deren eine Maxime fähig sein muß, besteht das alleinige Princip der Sittlichkeit. Jene Unabhängigkeit aber ist Freiheit im negativen, diese eigene Gesetzgebung aber der reinen und als solche praktischen Vernunft ist Freiheit im positiven Verstande. Also drückt das moralische Gesetz nichts anderes aus, als die Autonomie der reinen praktischen Vernunft […]. (AA V, 33)
Der ethische Negativismus macht also bei Kant nur die eine Seite moralischen Handelns aus. Kierkegaard dagegen versteht darunter wie erörtert die bestimmte Negation einer konkurrierenden negativwertigen Realität. Im Existenzvollzug wird diese in Möglichkeit überführt und fortwährend zunichtegemacht, damit sie sich nicht als eine solche Wirklichkeit etabliert. Darin ist Kierkegaard ungeachtet aller sonstigen (theologischen) Differenzen Dialektiker im nachkantischen Sinn. Auch wenn die damit beanspruchte Konkretion Kant unerreicht bleibt, ist für den Dänen die aristotelische Annahme, „daß die Tugend realisierbar ist“, nicht weniger problematisch und von „liebenswürdiger griechischer Naivität“ (BA, 21 / SKS 4, 324). Denn Aristoteles ist ebenso wenig ein Dialektiker wie Kant, was für die Metaphysik wie die Ethik gleichermaßen gilt. Kierkegaard hat diesen Zusammenhang in der Einleitung zur Angstabhandlung in aller Deutlichkeit, wenn auch ein wenig holzschnitthaft, erfasst und arbeitet sich nicht ohne Grund vor allem – wenn man von der anders gelagerten Hegelkritik absieht – an den genannten Denkern ab. Sie stehen exemplarisch für eine Tradition, die Negativwertiges nicht als eigenständige Realität oder„Kraft“, d. h. als „Widerspruch“, sondern als bloßen „Mangel“ begreift, wie Wesche (2012, 64) resümiert: Die „dialektische Philosophie von Platon über Hegel, Kierkegaard und Marx bis Adorno“ stehe darin „in einer Opposition zur aristotelischen Metaphysik und Kants Transzendentalphilosophie“. Für diese ist „das Negative eine akzidentiell verursachte Abweichung vom Wahren und Guten, nach dem alles strebt“ (Wesche 2012, 64– 65). Dass Kierkegaard einen negativistischen Weg einschlägt, kann nun aber leicht – und seinem Anliegen diametral entgegengesetzt – missverstanden werden als „simpler ‚AntiRealismus‘“, wie Hutter (2014, 6) zu bedenken gibt. Er versucht zu zeigen, dass es darum Kierkegaard in epistemologischer Hinsicht so wenig wie in ethischer geht. Dabei hat er durchaus recht, wenn er hier eine Gemeinsamkeit mit Kant sieht. Schließlich geht es ja auch bei diesem um eine Wirklichkeit, die sich zumindest als eine an sich Seiende positiv nicht fassen lässt. In diesem Sinne stimmt Kierkegaard „Kants Skepsis“ gegen Hegel ausdrücklich zu. Auch wurden gegen beide formal ähnliche Einwände erhoben, wenngleich in einem anderen theoretischen Bezugsrahmen. Kant hat man ja tatsächlich einen solchen Anti-Realismus unterstellt. Er sah sich deshalb in der zweiten Auflage der
Vgl. Wesche 2011, 68 – 72.
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Kritik der reinen Vernunft zu einer „Widerlegung des Idealismus“ (AA III, 190 – 193 / B 274– 279) genötigt. Bereits zuvor reagiert er in den Prolegomena auf jene Vorwürfe, wie sie in der anonymen, sogenannten „Göttinger Rezension“ vorgebracht wurden, die ihm einen Idealismus im Sinne Berkeleys unterstellen. Er spricht dort von „der wirklichen Existenz äußerer Dinge“ und stellt klar: „denn die Existenz des Dinges, was erscheint, wird dadurch nicht wie beim wirklichen Idealism aufgehoben, sondern nur gezeigt, daß wir es, wie es an sich selbst sei, durch Sinne gar nicht erkennen können“ (AA IV, 289). Hutter (2014, 6) hebt nun allerdings vor allem auf die kritikwürdige Wirklichkeit konventioneller Praxis ab, einen „naiven Realismus des Gelingens, der sich positiv an der vermeintlichen Realität des üblichen Denkens und an der vermeintlichen Tugend des üblichen Handelns orientiert und sie zum Maßstab des allgemeinen Realitätsverständnisses erhebt“. Das trifft auf Kierkegaard sicherlich zu, nimmt sich aber in Bezug auf Kant schon insofern merkwürdig aus, als dieser ja, ganz im Gegensatz zu Hegel, viel vom gesunden Menschenverstand hielt. Mehr noch aber muss in Bezug auf die „negativistischen“ Konsequenzen Einspruch gegen die unterstellte Verwandtschaftsbeziehung erhoben werden. Hutter fährt fort: „Dem setzt Kierkegaard mit Kant einen kritischen Realismus des Misslingens entgegen, der sich negativ am epistemischen Misserfolg des Irrtums und am ethischen Misserfolg der Sünde orientiert und ihn dialektisch als die Realität einer nichtseinsollenden Ausnahme begreift, die von einem unkritischen Realismus bloß als ‚vereinzelte Ausnahme, die nichts beweist‘, missverstanden wird“ (Hutter 2014, 6). Er differenziert hier meines Erachtens in zweierlei Hinsicht zu wenig. Erstens unterscheidet Kierkegaard den bloßen Irrtum, dem man unbeabsichtigt erliegt, ja gerade von einer eigenständigen, d. h. selbst- oder zumindest mitverschuldeten Form der Abweichung von der Wahrheit. Dafür steht im Hinblick auf die Selbsterkenntnis, das Gesagte impliziert ja bereits ihr Begriff, die Selbsttäuschung als zentrales Thema der Angstabhandlung. Zweitens lässt sich gerade Kierkegaards Begriff der Sünde, wie sich gezeigt hat, kaum noch mit Kants Verständnis eines ethischen Misslingens zusammenbringen. Nicht nur, dass sie bei jenem der Möglichkeit moralischen Handelns je schon zuvorkommt. Für Kant ist unmoralisches Handeln im Grunde nur eine akzidentielle Abweichung davon. Er ist eben, anders als Hutter andeutet, kein Dialektiker im Sinne Hegels und seiner Nachfolger. Kant unterscheidet zwei Möglichkeiten des Misslingens, das Gute, d. h. die Vernunft zu realisieren und damit aus Freiheit zu handeln. Bloßes unmoralisches Handeln führt unweigerlich zu einem Widerspruch mit der Selbstachtung der betroffenen Person – der „Achtung für uns selbst im Bewußtsein unserer Freiheit“, auf die „jede gute sittliche Gesinnung gepfropft werden“ könne (AA V, 161). Radikal böses, amoralisches Handeln unterscheidet sich davon gerade dadurch, dass hier eine solche Selbstachtung schlicht fehlt. Was Kant jedoch, wie Wesche (2011, 75 – 77) argumentiert, damit entgeht, ist der „Handlungstypus“ der „Unaufrichtigkeit“. Hier täuscht sich die Person insofern selbst, als sie meint, im Einklang mit der Selbstachtung aus Freiheit zu handeln – die sie als solche also affirmiert – während sie tatsächlich unmoralisch handelt. Sie beruhigt kurzum ihr Gewissen. Dass Kant dieses so alltägliche, ubiquitäre Phänomen nicht sehen will, führt Wesche auf besagte Konzeption des „Faktums der Vernunft“ zurück. Zwar sei
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an seiner Idee einer „Evidenzerkenntnis der Freiheit“⁴⁸ als solcher festzuhalten, d. h. dass sich uns Freiheit als faktisch wirksam und erstrebenswert zeigt. Sein Einwand zielt aber auf die Annahme, es komme „die Fähigkeit, den Wert der Freiheit zu erkennen, spontan zur Geltung“ (Wesche 2011, 76), sofern wir nicht durch äußere Umstände daran gehindert werden. Dass wir uns aber aus Freiheit von eben dieser Erkenntnis und der Ausübung des Freiheitsvermögens entlasten, kommt für ihn nicht in Betracht. Genau darum kreisen aber die Überlegungen in Der Begriff Angst. Die Diagnose einer in sich selbst befangenen Freiheit bedeutet, dass Kierkegaard Freiheit mit Kant als wirklich anerkennt, ihrer Erkenntnis und Verwirklichung aber keine Notwendigkeit zuschreibt. Es ist vor diesem Hintergrund durchaus problematisch, wenngleich nicht ohne Erkenntnisgewinn, dass Hutter hier eine Traditionslinie von Kant über Hegel zu Kierkegaard unter der Überschrift eines „methodischen Negativismus“ nachzeichnet. Denn der Begriff der Negativität, der die beiden letztgenannten – trotz aller, nicht weniger fundamentalen Unterschiede – durchaus verbindet, ist eben ein gänzlich anderer, als der Kants. Eine „Revolution der Denkungsart“ bedeutet nicht nur die kantische Philosophie, sondern auch die Art und Weise, wie sich das Denken nach ihm von ihr absetzt. Hutter sieht weniger die Brüche, bzw. erklärt die Distanznahme daraus, dass Hegel und Kierkegaard ihrem Vorgänger jeweils unterstellen, das Negative nicht konsequent genug zur Geltung gebracht zu haben.⁴⁹ Kants Negativismus besteht zunächst darin, den Vernunftgebrauch in der erörterten Weise einzuschränken. Wie er in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft ausführt – die Hutters Ausgangspunkt ist –, wird dieser anfangs lediglich negative Nutzen zu einem „positive[n] und sehr wichtige[n] Nutzen“, sobald man einsieht, dass die vermeintliche „Erweiterung“ des Vernunftgebrauchs eigentlich eine „Verengung“ ist, weil deren Grundsätze „die Grenzen der Sinnlichkeit, zu der sie eigentlich gehören, über alles zu erweitern und so den reinen (praktischen) Vernunftgebrauch gar zu verdrängen drohen“ (AA III, 16 / B XXIV – XXV). Die hier schon angedeutete Analogie von reinem und praktischem Vernunftgebrauch im Hinblick auf ihre Negativität entfaltet schließlich die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. ⁵⁰ Sie reformuliert, so Hutter (2014, 10), „die vernunftkritische Grundunterscheidung von empirischer Erscheinung und metaphysischem Ding an sich selbst anhand der Unterscheidung von Fremdbestimmung und Selbstbestimmung, Rezeptivität und Spontaneität“. Er erkennt hier eine Beziehung zwischen dem epistemologischen „Modell
Der Gebrauch des Begriffs Evidenz stimmt, wie Wesche (2011, 74) feststellt, nicht mit dem kantischen überein, ist aber der Sache nach gerechtfertigt Vgl. Hutter 2014, 21: „Hegels Kritik an Kant lässt sich zu einem großen Teil aus seinem Verdacht herleiten, Kant verderbe die Unendlichkeit der reinen Vernunft, indem er sie als ‚reine praktische Vernunft‘ moralisch fixiere und so dem neuen Aberglauben einer positiven Freiheit des Menschen den Weg bereite. […] Allerdings hat Kierkegaard wiederum Hegel im Verdacht, das radikal dialektische Vermittlungsdenken seiner Logik zu verderben, indem er am Ende die dialektische Bewegung des Begriffs selbst positiviert, weil sie zwar alles relativiert, doch gerade deshalb selbst durch nichts und niemanden relativiert wird.“ Vgl. AA IV, 450 – 451.
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der sinnlichen Rezeptivität“, das die Positivität der Wirklichkeit als eine passiv zu erleidende und hinzunehmende versteht, und einem Bewusstsein, „das die Negativität der eigenen Freiheit positivistisch verdirbt“ (Hutter 2014, 10). Kants Motivation, den Freiheitsbegriff derart zu bestimmen, ist letztlich eine gesellschaftskritische bzw. politische. Sie entspricht der Bewegung der Aufklärung, die als Ausgang aus einer selbstverschuldeten Unmündigkeit, d. h. einer Entfremdung der Freiheit von sich selbst, zu verstehen ist. Hinter der „typisch positivistische[n] Sorge, ein Unanschauliches […] könne auf die Menschen keine Wirkung haben“ (Hutter 2014, 12), stecke insgeheim die „absichtsvolle Entmündigung des ‚Untertanen‘, der massenhaft mit Bildern und anderem positiven Zubehör versorgt wird“ (Hutter 2014, 13). Es ist eine „planmäßige Abrichtung zu einer Passivität, die man politisch ‚leichter behandeln kann‘“⁵¹. Hutter bezieht sich hier auf einen religionsphilosophischen Exkurs der Kritik der Urteilskraft, in dem Kant „die Unerforschlichkeit der Idee der Freiheit“ mit dem Bilderverbot im Judentum vergleicht (AA V, 274– 275). Das ist auch insofern interessant, als sich Adorno ja auf das Gebot des Dekalogs ebenfalls gerne bezieht und zugleich wie beschrieben Kant vor eben diesem Hintergrund ins sozialutopische wendet. Es ist ein Verdienst Hutters, dass er den gesellschaftskritischen Subtext, der selbst die erkenntnistheoretischen Ausführungen stets begleitet und manchmal an die Oberfläche tritt, herausarbeitet. Auch rückt er den vermeintlich grenzenlosen Optimismus von Kants praktischer Philosophie in ein rechtes Licht, indem er vorführt, inwiefern auch Kant mit einem Misslingen der Vernunftausübung und der Gefahr einer „positivistischen Regression“ in einen neuen Zustand von Entfremdung rechnet (Hutter 2014, 13). Das verbinde ihn mit Hegel, mehr noch aber habe Kierkegaard diese Bedrohung in seinem zentralen Begriff der„Geistlosigkeit“ gefasst (Hutter 2014, 27). Zu Recht auch stellt er fest, dass der als Verzweiflung ausgewiesene Versuch, das eigene Leben in seiner Bestimmtheit fixieren zu wollen, zumindest eine Parallele in Hegels Kritik der vermeintlichen positiven Gewissheiten des natürlichen Bewusstseins in der Phänomenologie des Geistes findet (Hutter 2014, 22– 23).⁵² Sicherlich könnte man diese Ideengeschichte des Negativismus in Adorno hineinverlängern. Letztlich geht es auch Hutter – er kommt mit Heidegger schließlich ebenfalls im 20. Jahrhundert an – um die Kritik eines nicht bloß epochenspezifischen Positivismus.
Hutter 2014, 12– 13. Zumindest als historische Gestalt ist bei Kant also doch jene dialektische Figur in sich selbst befangener Freiheit anzutreffen. Im zweiten Satz seiner Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (AA VIII, 18 – 19) findet sich dann auch der Gedanke eines Fortschritts der Vernunftfähigkeit über die Generationen, im Sinne der Möglichkeit, das Potential, das im Menschen je schon angelegt ist, voll ausschöpfen zu können. Daraus aber den Schluss zu ziehen, dass Freiheit auch eine gewordene ist, bzw. sich Vernunft in der Zeit verwirklicht und dabei an geschichtliche Bedingungen geknüpft ist, dazu ist er, jedenfalls was das theoretische Fundament seiner praktischen Philosophie betrifft, nicht bereit. Dieser Impuls zeigt sich im Werk durchgängig, besonders auch in eher Abwegigem, wie den polemischen Ausführungen zu „Physiognomik und Schädellehre“ (TWA 3, 233 – 262).
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Die Differenzen dürfen dabei aber nicht aus dem Blick geraten. Denn Kants Negativismus, von einem epistemologischen oder ethischen Misslingen auszugehen, hat nicht den gleichen Status wie der von Adorno oder Kierkegaard, da er nicht aufs Ganze geht und einem unerschütterlichen Vernunftglauben gegenübersteht. Adorno hat darin das Charakteristische von Kants Denken überhaupt gesehen: „Das Geheimnis seiner Philosophie ist die Unausdenkbarkeit der Verzweiflung“ (GS 6, 378). Unausdenkbar im strengsten Sinne ist ein Zweifel am Faktum der Vernunft deshalb, weil es für Kant schlicht denknotwendig ist. Moralischem Handeln wäre anderenfalls der Boden entzogen, es bliebe dem Zufall überlassen, ob dieses oder sein Widerpart sich durchsetzt. Damit aber nimmt er die Bedingung seiner Möglichkeit als realisiert an, weshalb er ja von einem Faktum spricht. Es folgen jedoch, so Wesche (2012, 62), „aus transzendentalen Denknotwendigkeiten keine Konsequenzen für Realitätsaussagen“, d. h. „wir können nicht aus einer Bedingung, die für eine Erklärung anzunehmen erforderlich ist, auf das Erfülltsein dieser Bedingung schließen“. Diese Kritik wurde, wie er anmerkt, bereits von Hegel in der Phänomenologie des Geistes formuliert, wo dieser etwa feststellt: „Fordern drückt aus, daß etwas seiend gedacht wird, das noch nicht wirklich ist“ (TWA 3, 445). Kant aber behaupte nicht bloß „eine Forderung der Vernunft“, sondern mit ihrem Faktum zugleich die „unmittelbare Gewißheit und Voraussetzung derselben“ im Hinblick auf ihre Verwirklichung (TWA 3, 445). Kierkegaards Zweifel am Vernunftglauben ist wohl auch durch Hegels Kritik informiert, vor allem aber theologisch motiviert durch besagte „Skepsis der Sünde“. Ebenso ist es jedoch die Erfahrung der faktischen menschlichen Praxis, die ihn zu einer ernüchternden Einschätzung bringt – und zu einer ungleich radikaleren und abgründigeren Zeitdiagnose als Kant. Dialektischer Negativismus – Resümee und Ausblick Es hat sich herausgestellt, dass unter einem (methodischen) Negativismus, trotz der erläuterten vordergründigen Übereinstimmungen, sehr Verschiedenes verstanden werden kann, liegen doch den Alternativen gewichtige theoretische Weichenstellungen zugrunde, die mit dem Begriff der Dialektik angezeigt werden. Allein um sie geht es mir im Folgenden, nicht um die unzähligen Bedeutungsdifferenzierungen, die die Diskussion um den Negativismus mittlerweile hervorgebracht hat. Einen Überblick hierzu bietet Emil Angehrn (2014). Die grundlegendste Unterscheidung, die er zum Ausgang nimmt, ist die zwischen theoretischer und praktischer Negativität. Sie entspricht im Grunde der zwischen Nichtseiendem und Nichtseinsollendem, mit der auch Theunissen (1983) in seinem Beitrag zur „Negativität bei Adorno“ beginnt. Nun zeichnen sich negativistische Konzepte Angehrn zufolge gerade dadurch aus, dass sie die gängige Hierarchie beider Bereiche in einem Primat praktischer Verneinung ebenso infrage stellen, wie die Annahme ihrer wesensmäßigen Getrenntheit – dass also die deskriptive Feststellung und die auf sie bezogene höherstufige Wertung keine innere Beziehung hätten. Die Art ihrer Verflechtung – Angehrn spricht auch von Dialektik – zeitigt dann die Unterschiede zwischen den negativistischen Konzepten. Allerdings entstehen daraus auch die vielfältigen Begründungsprobleme solcher Ansätze – dass etwa das Nicht-
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seinsollende (vermeintlich) am Maßstab eines Nochnichtseienden als solches ausgewiesen wird. Wesche (2018, 35 – 36) wählt einen anderen Weg, indem er als erste Unterscheidung die zwischen einem normativen und einem ätiologischen Begriff des Negativen einführt. Ersterer meint die Verletzung berechtigter Ansprüche, wobei die Frage nach den Gründen ihrer Geltung von ihm zunächst eingeklammert wird. Der Negativismus antwortet alleine auf die Frage, weshalb sie verletzt werden, was die Ursachen von Unrecht sind. Wesche unterscheidet ihn deshalb gerade von seiner normativen Fehldeutung, die kurz gesagt die normative Geltung aus der Normverletzung ableiten will. Die Gestalt des Negativen, mit der es der Dialektiker Adorno zu tun hat, ist der (Real‐)Widerspruch, im Gegensatz zur erörterten Privationstheorie, wie sie von Aristoteles und eben Kant vertreten wird, die das Negative als Mangel begreift. Dass es nicht zur Ausübung der Vernunft und zur Verwirklichung von Freiheit kommt, ist für Letzteren doch nur einer akzidentiellen Verhinderung ihrer natürlichen Ausübung geschuldet. Es entgeht ihm damit wie gesagt ein ganzer Phänomenbereich „unaufrichtiger“ Handlungsweisen, dass sich also Menschen aus Freiheit, selbst bei günstigen Bedingungen, von ihrer Vernunftausübung entlasten. Wesche (2018, 37) spricht – wie in anderer Weise Honneth (2007) – von „Pathologien der Vernunft“, die als eigenständige Kraft in Widerspruch zur Vernunft, d. h. der Wahrheitsorientierung treten. Sie machen sich praktisch als Gleichgültigkeit gegenüber erfahrenem Unrecht – auch sich selbst gegenüber – geltend und stellen insofern paradigmatische Fälle von (Selbst‐)Entfremdung dar.⁵³ Dieser Aspekt wird im folgenden Abschnitt eine Vertiefung erfahren. Einer solchen Realität, die in sich widersprüchlich verfasst ist – auch am eigenen Anspruch, etwa besagter Selbstachtung im Sinne Kants, gemessen – versucht der dialektische Negativismus gerecht zu werden und ist deshalb auch kein unnötiger Umweg zum Positiven, wie Wesche betont. Das wäre er ja nur unter der Voraussetzung der privationstheoretischen Deutung. Allerdings ist bisher noch eine entscheidende Frage offengeblieben: Wie gelingt es, dass bei Adorno und Kierkegaard jene Verzweiflung, die für Kant unausdenkbar sei, nicht das letzte Wort behält und sich also Vernunft nicht bloß zufällig gegen ihr anderes durchsetzt? Die Antwort ist eine zweifache. Zum einen ist eine bestimmte Form der Kritik nötig, die die Immunisierung gegen sie, die „Realitätsleugnungen“ in der Lage ist aufzubrechen, was aber „nur scheinbar paradox, kraft ihrer Zurückhaltung“ gelingt (Wesche 2018, 54). Was das bedeutet, hat sich exemplarisch an der Diskussion um Kierkegaards, von ihm selbst als dialektisch bezeichnetes Verfahren indirekter Mitteilung gezeigt. Dafür steht bei ihm der ambivalente Ausdruck des „Betrugs“ an den Lesenden, der zugleich auf die Gewalt verweist, die solche Zurückhaltung zu entfalten vermag. Zumindest hinsichtlich der Funktion, die der spezifischen Form der Kritik zukommt, ergibt sich also eine Parallele zu Kierkegaard. Dass bei Adorno für sie aber insbesondere das Verhalten zu den Kunstwerken einsteht, bedingt die Unterschiede und
Siehe hierzu: Wesche 2018, 90 – 91.
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erklärt die Heftigkeit seiner Abwehr des kierkegaardschen Ansatzes. Ebenso ist es jedoch der Standpunkt des Materialismus, wie ihn Adorno als „Vorrang des Objekts“ formuliert. Er liefert den zweiten Teil der Antwort. Darum soll es im Folgenden gehen, wobei in diesem Rahmen auch die Bedeutung der existentiellen und historischen Erfahrung für die Überwindung besagter Pathologien der Vernunft zu verhandeln ist. Ein weitergehender Ausblick sei an dieser Stelle noch erlaubt. Adorno vertritt, wie schon Hegel, in Bezug auf die Vernunft eine realistische Position. Sie hat also „ihren Ort nicht im Ich, sondern in der Welt […] nicht im ‚subjektiven‘, sondern im ‚objektiven‘ Geist“ (Wesche 2018, 55). Solche Verankerung in der Weltbeziehung wird aber unter den Bedingungen gesellschaftlicher Entfremdung, wie sie im letzten Kapitel meiner Arbeit als Entfremdung von subjektiv zu realisierender und objektiver, sittlicher Allgemeinheit diskutiert wird, problematisch. Daher ist auch Adornos Rekurs auf die Kunst bzw. die Ästhetik als Erweiterung des Materialismus gewissermaßen aus der Not geboren. Erst vor diesem Hintergrund wird abschließend zu erörtern sein, welcher Status der Ethik im engeren Sinn bei Adorno und Kierkegaard noch zukommt. Sie lässt sich jedenfalls nur bedingt Theunissens (1991b, 31) Verständnis einer negativistischen Ethik einschreiben, die doch vor allem in dem Sinne negativ ist, dass sie „sich primär nicht an einzelne Subjekte, sondern an Gesellschaften und deren politische Organisation“ wendet – und sodann die Frage nach deren richtiger Einrichtung stellt, anstatt die Einhaltung von Vorschriften einzuklagen. Das beschreibt im Grunde, wie Patrick Engel (2020, 25) bemerkt, den Adorno zumeist zugeschriebenen Standpunkt. Eine solche Ethik scheint aber unter den angedeuteten Bedingungen ebenso notwendig, wie sie in eine prekäre Lage gerät, wo Institutionen im weitesten Sinne zu unzuverlässigen Ansprechpartnern werden. Das Konzept der Stellvertreter- oder Statthalterschaft möchte ich in diesem Zusammenhang als Vorschlag unterbreiten, die Möglichkeiten individueller Praxis vor dem Hintergrund dieser Einsichten zu reformulieren. Sie hat ihre Voraussetzung in der erörterten Kritik einer Ethik, welche in Abstraktion von der Realität bloß unbedingte, aber leere Forderungen stellt – und die Adorno und Kierkegaard grundsätzlich verbindet. Auch Theunissen (1991b, 29 – 30) geht es vor allem um die Abwehr eines solchen „Normativismus“ und er setzt dabei an besagter Kritik Kierkegaards am „Zuchtmeister“ Kant aus der Einleitung zur Angstabhandlung an. Zu Recht bezeichnet er sie als Karikatur, als Übertreibung, die aber, so seine Pointe, in der Gegenwartsphilosophie Wirklichkeit geworden sei.
6 Vorrang des Objekts Adorno formuliert seinen materialistischen Standpunkt als „Vorrang des Objekts“. Diese vielzitierte Wendung ist aber selbst wesentlich mehrdeutig. Früchtl (2019, 388) unterscheidet vier Bedeutungsebenen. Erstens ist damit das gesellschaftliche Sein gemeint, das das subjektive Bewusstsein bestimmt. Zweitens geht es um die innere Natur, die die Einheit des Subjekts (psychoanalytisch) in Frage stellt. Drittens ist damit freilich auch das Objekt in erkenntnistheoretischer Hinsicht angesprochen und schließlich viertens
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der „Vorrang des Noch-nicht-Seienden, des Utopischen“ (Früchtl 2019, 388). Es hat sich bereits gezeigt, dass Adorno in seiner These vom Vorrang des Objekts nicht zuletzt auf Kant bezogen ist. In der Auseinandersetzung mit ihm sind die genannten Aspekte allesamt zu finden. „Kant noch hat das Moment des Vorrangs von Objektivität nicht sich ausreden lassen“ (GS 6, 185), stellt Adorno in der Negativen Dialektik fest. Zunächst beharrt Kant mit seiner transzendentalphilosophischen Fundamentalunterscheidung auf einem Dualismus, der das zu erkennende Objekt vom erkennenden Subjekt als qualitativ verschiedenes festhält und damit dessen Alterität anerkennt. Daher meint Adorno auch, dieser habe die „subjektive Zergliederung des Erkenntnisvermögens in der Vernunftkritik aus objektiver Absicht gesteuert“ (GS 6, 185). Darauf beruft er sich ausdrücklich: „Vorrang des Objekts bedeutet die fortschreitende qualitative Unterscheidung von in sich Vermitteltem“ (GS 6, 185). Zugleich klingt das wie ein Echo jener ebenfalls auf Kant bezogenen Kritik Kierkegaards an Hegel, der diesem eine im Resultat bloß „quantitative“ Dialektik unterstellt. Der Königsberger wird also von beiden gegen die idealistische These vom Subjekt-Objekt in Stellung gebracht. In der mit dem Ding an sich formulierten epistemologischen Enthaltung wird das Nichtidentische vor dem aneignenden Zugriff des hegemonialen Subjekts bewahrt. Zudem ist hierin bereits die utopische Perspektive als eine der Bedeutungen vom Vorrang des Objekts begründet – und zwar nicht nur als Erkenntnisutopie. Allerdings ist für Adorno das Nichtidentische kein prinzipiell der Erkenntnis Entzogenes. Er folgt Hegel darin, dass jene „qualitative Unterscheidung“ selbst nur „ein Moment in der Dialektik, nicht dieser jenseitig“ (GS 6, 185) ist. Darüber hinaus erkennt er auch in Kant die Tendenz zu einem herrschaftsförmigen Primat des Subjekts, allerdings, quasi spiegelverkehrt zu Hegel, aufgrund seiner inhaltlich enthaltsamen, bloß formalen Bestimmung als transzendentales. In seiner einheitsstiftenden Funktion vermag es die Gesamtheit der Erscheinung doch auf bloße Bestimmungen des Subjekts zu reduzieren. Mehr noch aber ist es das Ding an sich im Subjekt selbst, das Adorno eigentlich bewegt, also der intelligible Charakter. Auch ihn deutet er entsprechend doppelsinnig. Hinsichtlich seiner einheitsstiftenden Tätigkeit wird er mit dem freudschen „starken Ich“ assoziiert. In seiner epistemologischen Entzogenheit wiederum ist ebenso die Möglichkeit begründet, Verdinglichung zu unterlaufen, wie sie anderseits durch sie erst zur Ausübung gelangt. Denn logisch setzt Identifikation eine Beziehung der Nichtidentität voraus: „Die Konstruktion von Ding an sich und intelligiblem Charakter ist die eines Nichtidentischen als der Bedingung der Möglichkeit von Identifikation, aber auch die dessen, was der kategorialen Identifizierung entschlüpft“ (GS 6, 286, Anm.). Darin liegt zugleich eine rezeptionsgeschichtliche Pointe. Denn die „totale Unbestimmtheit des aporetischen Begriffs“ (GS 6, 292) ermöglichte es Kants Nachfolgern, sie zum Zweck größtmöglicher Bestimmtheit auszubeuten. Gleich in welcher Weise nun das Objekt dem Einflussbereich des Subjekts einverleibt wird, rächt es sich an ihm, als auf es zurückwirkende Verdinglichung. Insofern wären die von Früchtl angeführten Bedeutungsebenen – inklusive der utopischen – um eine Bestimmung zu ergänzen, die sie je ambivalent werden lässt: „In Marx bereits spricht die Differenz zwischen dem Vorrang des Objekts als einem kritisch Herzustellenden und
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seiner Fratze im Bestehenden, seiner Verzerrung durch den Warencharakter sich aus“ (GS 6, 190).
6.1 Objektivität, die auf dem Subjekt lastet – Leiden Der „Vorrang des Objekts“ ist selbst nicht nur Unterscheidungsmerkmal innerhalb der theoretischen Diskussion um Entfremdung, sondern für Adorno zugleich deren Ausdruck – und zwar als ein „Leiden“, das er bestimmt als „Objektivität, die auf dem Subjekt lastet“ (GS 6, 29). Kierkegaard holt sie ihm zufolge insbesondere im Begriff der Schwermut ein, der eben darin den Idealismus hinter sich lässt. In dieser These kulminiert, wie im dritten Kapitel erörtert, Adornos kritische Würdigung im Kierkegaardbuch. Leiden ist darüber hinaus in der Phänomenanalyse zugleich das Kriterium, das Entfremdung als nichtseinsollende qualifiziert. Und das gilt nicht erst für Adorno. Bereits bei Marx ist in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten mehrfach von einer solchen Erfahrung die Rede, etwa wenn er meint: „Dies Verhältnis ist das Verhältnis des Arbeiters zu seiner eignen Tätigkeit als einer fremden, ihm nicht angehörigen, die Tätigkeit als Leiden“ (MEW 40, 515). Henning (2015, 29 – 30) diskutiert den Ausgang vom Leiden der Betroffenen zudem als Charakteristikum einer nichtpaternalistischen Entfremdungstheorie. Ihm zufolge lassen sich so die beiden Extreme hinsichtlich ihrer Begründung vermeiden: Dass man entweder für den Theoretiker eine privilegierte Erkenntnisposition voraussetzt – was man Adorno ja vorgehalten hat –, oder von Entfremdung nur dann sprechen mag, wenn Menschen ein „klares Bewusstsein davon, entfremdet zu sein“ (Henning 2015, 29) haben, was wiederum die Theorie von ihr erübrigt. Leiden hat hier deshalb einen Vorzug, weil es präreflexiv das Nichtseinsollen anzeigt, also dem „Bewusstsein“ vorausgeht. Es ist deshalb ein geradezu paradigmatischer Ausdruck des psychoanalytisch informierten Materialismus’ Kritischer Theorie, wie Alfred Schmidt (1983, 24) feststellt: „Der Schmerz des Negativen, Lust und Unlust stören die Reinheit angeblicher ‚Grundtatsachen des Bewusstseins’.“ Dabei ist Adorno jedoch nicht nur auf die psychoanalytische Tradition bezogen, sondern wohl auch auf Kierkegaard. Bei keinem Denker, mit dem er sich intensiver auseinandergesetzt hat, von Schopenhauer abgesehen, spielt Leiden eine derart zentrale Rolle. Die Einsicht in dessen störende Kraft hat Kierkegaard zu seiner Polemik gegen das „reine Denken“ motiviert. Doch auch Hegel meint noch in der Wissenschaft der Logik – es klingt wie ein Echo seiner Frühschriften –, der Widerspruch habe „im Schmerz des Lebendigen sogar eine wirkliche Existenz“ (TWA 6, 481). Leiden ist jedoch nicht zu positivieren, indem es auf einen höheren Sinn hin überschritten wird. Adorno ist hier eindeutig: „Das leibhafte Moment meldet der Erkenntnis an, daß Leiden nicht sein, daß es anders werden solle. ‚Weh spricht: vergeh‘“ (GS 6, 202). Andernfalls wäre es auch seiner Brauchbarkeit als Differenzkriterium beraubt und würde letztlich den Zustand nichtseinsollender Entfremdung selbst noch umwerten. Aber gerade diese Tendenz sieht Adorno bei Kierkegaard – der doch sei-
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nerseits Hegel ähnliches im Hinblick auf den Gang der Geschichte vorwirft. Sie scheint in den späten Schriften des Dänen die Überhand zu gewinnen, wenn er solchen Schmerz zum Kriterium von Wahrheit und sein Fehlen zum Maßstab kritikwürdiger Lebensformen macht. Das liegt daran, dass er Glauben mit Leiden schlechthin engführt. So meint er kurz vor seinem Tod, in der letzten von ihm veröffentlichten „Augenblicks“Flugschrift, dass sich an der Bereitschaft, für den Glauben zu leiden, die Stärke desselben erweise (A, 314 / SKS 13, 386). Darin zeigt sich nach Wesche (2003, 159) eine Abkehr vom „ursprünglichen, dialektischen Ansatz“. Hinzu kommt eine Selbststilisierung als Märtyrer, die „in sonderbarem Gegensatz zur Verhaltenheit seines pseudonymen Werks“ steht – nicht nur wegen der geforderten Zurücknahme seiner Person, sondern ebenso, weil darin ja „jegliche Spuren seines eigenen Christenverständnisses unkenntlich sein sollen“ (Wesche 2003, 160, Anm. 177). Allerdings wird auch der Status des Leidens im Denken Adornos kontrovers diskutiert. Ihm zum Ausdruck zu verhelfen, sei zwar „Bedingung aller Wahrheit“ (GS 6, 29), was aber nicht heißt, dass Leiden selbst schon, wie beim späten Kierkegaard, zu einem Wahrheitskriterium wird. Die Rede von der Bedingung ist hier wohl vielmehr materialistisch zu verstehen. Leiden ist zunächst ein dem Denken Vorgängiges. Kaiser (1974, 155) meint etwa, im Leiden erreiche Adornos Philosophie einen „letzten Grund“, an dem sie dann doch zum Stehen komme. Zugleich ist es als Quelle unmittelbar evidenter Erfahrung des Nichtseinsollenden Anstoß und Antrieb des Denkens, damit aber dem Rechtfertigungsdiskurs als solchem vorgelagert. Eingeklagt wird von Adorno einzig, Leiden nicht vorab aus der Theoriebildung auszuschließen. Umstritten ist in der Forschung aber die Frage, in welcher Weise es bei ihm zum Gegenstand des Denkens wird, ob also diese Unmittelbarkeit selbst noch eine dialektische Wendung erfährt. Mona Huber – die mit ihrem Aufsatz einen guten Überblick über die Relevanz des Leidens für Adornos reife Philosophie und die Literatur dazu bietet, aber im Gegensatz zu Schopenhauer und Nietzsche, Kierkegaard mit keinem Wort erwähnt – unterscheidet von diesem Problem ausgehend zwei Formen des Leidens.⁵⁴ Die erste steht stets im Verhältnis zur Erkenntnis und entspringt der „Inkongruenz von Begriff und Sache“ (Huber 2016, 47), die ja wiederum der Motor dialektischen Denkens unter dem Aspekt der Methode ist. Davon hebt sie eine gewissermaßen unvermittelte, ungleich fundamentalere „Materialität“ des Leids ab und resümiert: „Wo das Leiden im und am Denken noch einen dialektischen Umschlag haben könnte, kann das somatische Leid nicht dialektisch gewendet werden“ (Huber 2016, 66). Tatsächlich wird so Leiden in seiner unaufhebbaren Alterität auch zu einem entscheidenden Differenzkriterium einer nachidealistischen Dialektik, was Huber nur andeutet. Es steht in besonderer Weise – und ganz im kierkegaardschen Sinne – für jenes Intermittierende, die „nicht sich einfügende Realität“ (BW 7, 218), die die Immanenz der Denkbewegung aufbricht. In jener Passage der Negativen Dialektik, in der Adorno besagte Unterscheidung eines physischen Leidens von einem in der Erkenntnis einführt, kommt es auch zu einer eigentümlichen Umwertung
Sie bezieht sich dabei auf Früchtl (1986, 106 – 107).
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des unglücklichen Bewusstseins. Es dient nun gerade nicht, wie in Bezug auf Kierkegaard, als Folie der Kritik, sondern wird vielmehr gegen Hegel selbst gewendet: In der Erkenntnis überlebt es [das somatische Moment, M. K.] als deren Unruhe, die sie in Bewegung bringt und in ihrem Fortgang unbesänftigt sich reproduziert; unglückliches Bewußtsein ist keine verblendete Eitelkeit des Geistes sondern ihm inhärent, die einzige authentische Würde, die er in der Trennung vom Leib empfing. Sie erinnert ihn, negativ, an seinen leibhaften Aspekt; allein daß er dessen fähig ist, verleiht irgend ihm Hoffnung. Die kleinste Spur sinnlosen Leidens in der erfahrenen Welt straft die gesamte Identitätsphilosophie Lügen, die es der Erfahrung ausreden möchte: ‚Solange es noch einen Bettler gibt, solange gibt es noch Mythos‘; darum ist die Identitätsphilosophie Mythologie als Gedanke. (GS 6, 203)
Leiden steht also paradigmatisch für jene Natur, die eine idealistische Dialektik unterm Primat des Subjekts auszuschließen trachtet – und sei es auch durch ihre vermeintliche Aneignung – und ist daher für Adorno nicht etwa das schlechthin Subjektive, sondern vielmehr objektiv. Wo es als solches außen vor bleibt, verfällt Denken, wie er hier mit einem Benjaminzitat aus dem Passagen-Werk feststellt, dem Mythos. Das ist nun ein altbekannter Vorwurf auch gegen Kierkegaards paradoxe Existenzdialektik. Was das Leiden angeht, verfängt er jedoch nicht. Spätestens hier hat auch die ihm meist zu Unrecht unterstellte Leibfeindschaft ihre Grenze. Vielmehr gesteht Adorno jene „authentische Würde“ ausdrücklich auch Kierkegaards Einzelnem zu – und das nicht nur, indem er ihn dem „unglücklichen Bewusstsein“ Hegels einzuschreiben versucht (vgl. GS 2, 249).
6.2 Erfahrung Im Leiden zeigt sich in besonderer Weise die Bedeutung, die der Erfahrung für eine dialektische, nachidealistische Entfremdungskritik zukommt. Ihr Begriff steht insofern für den Vorrang des Objekts und damit den materialistischen Standpunkt negativer Dialektik ein, als sie wie gesagt dem „Bewusstsein“ der Entfremdung vorausgeht. Die Relevanz von Erfahrung überhaupt für das dialektische Denken Adornos lässt sich mit Wesche (2012, 67) folgendermaßen zusammenfassen: „Die vorgängige Präsenz eines Erfahrungsgegenstandes hat die Form eines vor-propositionalen oder vor-signifikativen Verstehens, das von der logischen Form der Aussage ebenso verschieden ist wie von einer nicht-sprachlichen Wahrnehmung außerweltlicher Entitäten. Kraft von Erfahrung wird ein Erkenntnisinteresse geweckt und öffnen sich Personen für eine Beurteilung, die dem Phänomen gerecht wird.“⁵⁵ Eine solche Erfahrung ist also nicht bloß sinnlich-
Ihm geht es hier darum, zu zeigen, dass in der Erfahrung eine Wahrheitsorientierung erworben wird, „die aller absichtsvollen Einstellung zuvorkommt“. Damit lässt sich der epistemische Zirkel vermeiden, der sich einstellt, wenn dieses „Wahrheitsinteresse“ etwa selbst über Gründe sich rechtfertigen soll: „Um für Gründe, die zu einem besseren Überlegen motivieren sollen, erreichbar zu sein, muss ein Interesse für ebendiese Gründe bereits bestehen“ (Wesche, 66 – 67).
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rezeptiv wie die kantische Anschauung, sondern vielmehr eine präreflexive Einsicht, die eine reflektierte Erkenntnisbildung zwar nicht ersetzt, aber erkenntnis- und handlungsleitend ist. In einer eingeschränkten Weise kommt ihr darin eine dem „regulativen Gebrauch“ der transzendentalen Ideen bei Kant vergleichbare Funktion zu, auch wenn ihr die einheitsstiftende Kraft fehlt, die die Ideen von Welt, Seele und Gott auszeichnet. Regulative Ideen dienen dazu, „den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten“, und zwar derart, dass „die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen Punkt zusammenlaufen“, der jedoch „nur eine Idee ( focus imaginarius )“ ist (AA III, 428 / B 672). Dieser Punkt liegt folglich „ganz außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung“ (AA III, 428 / B 672). Adorno kehrt nun gewissermaßen den Richtungssinn um, indem die reale und konkrete Erfahrung selbst der Ausgangspunkt ist und nicht in der Idee ein Fluchtpunkt gesucht wird, der als solcher ja grundsätzlich entzogen ist. Zu verstehen ist dieser Perspektivwechsel vor dem Hintergrund der Diagnose, dass diese Ideen ihre Verbindlichkeit, für die bei Kant der unerschütterliche Glauben ans Faktum der Vernunft einsteht, eingebüßt haben. Das geschieht durch die historische Erfahrung, die zugleich an ihre Stelle tritt. Exemplarisch zeigt sich das an Adornos These vom „neuen kategorischen Imperativ“, der den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit aufgezwungen worden sei: „dass Auschwitz nicht sich wiederhole“ (GS 6, 358). Dieser Erfahrung gegenüber wirkt der Anspruch auf Begründung bloß noch zynisch: „Die Forderung […] geht so sehr jeglicher anderen voraus, daß ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen“ (GS 10/ 2, 674), stellt er in Erziehung nach Auschwitz fest. Sie ist aus gutem Grund negativ formuliert, hat sich die Ohnmacht abstrakter Forderungen doch faktisch gezeigt. Adorno versteht darunter die bestimmte Negation des konkret begegnenden Geschichtlichen, das hier unmittelbar evident als Nichtseinsollendes erfasst wird. In seiner Formulierung als pädagogischer Imperativ wird die Opposition zu Kant besonders deutlich.⁵⁶ Es ist nun nicht mehr das Postulat⁵⁷ oder die Idee der Erziehung leitend, die in dessen Bestimmung als „Vervollkommnung der Menschheit“ (AA IX, 444) ihr hehres Vorbild hat. Sie ist für Adorno bloß noch eine „idealistische[n] Phrase“: „Jede Debatte über Erziehungsideale ist nichtig und gleichgültig diesem einen gegenüber, daß Auschwitz nicht sich wiederhole“ (GS 10/2, 674). Das ist die äußerste Zuspitzung einer Theorie, die aus der historischen Erfahrung Position zu den ideengeschichtlichen Alternativen bezieht – und nicht umgekehrt. Die Stellung zu Kant ist allerdings zweideutig. Denn der ihm nachfolgende Idealismus zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass er sich mit dem bloß regulativen und ausdrücklich nicht „constitutivem Gebrauche“ (AA III, 427 / B 672) nicht begnügt. Es fällt das bei Kant der Idee vorangestellte „nur“ fort, das jene Enthaltsamkeit anzeigt, die Adorno wiederum als Ansatzpunkt zur Überwindung des Idealismus dient. Vgl. Vogt 2019, v. a. 187– 188. So meint Adorno 1966 in einer Kritik des mit dem aufklärerischen Autonomieideal verbundenen Optimismus: „Man kann die Erziehung zum Individuum nicht postulieren. Es fehlen heute weitgehend soziale Möglichkeiten der Individuation“ (Adorno 1970, 123). Dennoch dient er einer solchen „Postulatepädagogik“ bis heute als Stichwortgeber (Gruschka 2004, 138).
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Sein Erfahrungsbegriff ist gleichwohl eindeutig auf Hegel bezogen. Die Art und Weise, wie er sich wiederum von ihm absetzt, lässt sich gerade über den Bezug zu Kierkegaard erschließen. Überhaupt billigt Adorno, wo der Begriff der Erfahrung in Opposition zu ihrem Verschwinden in einem entfremdeten Welt- und Selbstbezug steht, der Existenzphilosophie zu, zumindest Anteil an Wahrheit zu haben: „Wahr am Existenzbegriff ist der Einspruch gegen einen Zustand von Gesellschaft und szientifischem Denken, der unreglementierte Erfahrung, virtuell das Subjekt als Moment von Erkenntnis austreibt. Kierkegaards Protest gegen die Philosophie war auch der gegen das verdinglichte Bewußtsein, in dem, nach seinem Wort, die Subjektivität ausgegangen ist: er nahm gegen die Philosophie auch deren Interesse wahr“ (GS 6, 129). Gegenüber seinen Nachfolgern hat Kierkegaard ihm zufolge gerade deshalb einen Vorzug, weil er auf der Differenz von Erfahrung und Begriff – als einer Leistung konstituierender Subjektivität – beharrt: „Seinsweise von Sein, steht Existenz nicht länger antithetisch dem Begriff entgegen, ihr Schmerzhaftes ist entfernt“ (GS 6, 128). Adorno sieht darin einen Einspruch gegen „die Ontologisierung des Ontischen“, die er als Anliegen der „Lehre von der Existenz“ seiner Nachfolger versteht (GS 6, 128). Das wirft er insbesondere Heidegger vor, Jaspers nur bedingt und Sartre lediglich im Sinne eines Umschlags „der These der Nichtontologisierbarkeit des Ontischen“ (GS 6, 128). Alle hätten sie aber Kierkegaards Existenzbegriffs „erhöht“ und damit zugleich „entschärft“. Nicht zufällig ist hier wohl auch vom Schmerz die Rede. Das Leid, das ihm schon in der entfremdungstheoretischen Begründung aus der Entzweiung eingeschrieben ist und jederzeit erfahrbar werden kann, verhindert solche identifzierende Ontologisierung. Sie stellt sich dann ein, wenn der Existenzbegriff zu dem wird, „was nicht anders gedacht werden kann, weil es kein Gedachtes sondern einfach da sei“ und darin zugleich „die Würde der Platonischen Idee“ empfängt, also die eines Vollkommenen und Unveränderlichen (GS 6, 128). Adorno betont damit, dass auch die Realität als denkerisch nicht einzuholende als solche nicht zu verabsolutieren ist, sondern dass stets „Sein durch den Begriff und damit durchs Subjekt“ (GS 6, 129) vermittelt ist. Das wiederum ist die Wahrheit von Hegels Einspruch gegen die „Illusion der Unmittelbarkeit des Vermittelten“ (GS 6, 129), von der die Erfahrung des Bewusstseins in der Phänomenologie ihren Ausgang nimmt. Negative Dialektik versucht beiden Einsichten gerecht zu werden. Dabei wird Adornos Auseinandersetzung mit dem kierkegaardschen Einzelnen nicht ohne Wirkung gewesen sein, wenn er die Frage nach dem Subjekt des Vollzugs dialektischer Erfahrung neu stellt und damit Hegels Konzept transformiert. Denn gerade weil dieser hierfür das Bewusstsein überhaupt, ein allgemeines Subjekt ansetzt, degradiere „sogar die ‚Wissenschaft von der Erfahrung des Bewusstseins‘ die Inhalte zu Exempeln der Kategorien“ (GS 6, 25). Für Adorno muss sich Theorie – zumindest eine, die angesichts ihres Gegenstands keine bloße Beobachterperspektive einnehmen kann – daran messen lassen, inwieweit es ihr gelingt, Erfahrung aufzuheben, d. h. in „Erfahrungsgehalt“ zu verwandeln. Und das bedeutet nicht zuletzt: „Leiden beredt werden zu lassen“ (GS 6, 29). Denn man kann Leiden vor dem Hintergrund der Diagnose der Erfahrungsverarmung für eine Theorie der Entfremdung nicht derart unmittelbar als Kriterium ansetzen, einen Zustand als
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Nichtseinsollenden zu begründen – nicht weil eine solche Negativität im Leiden nicht angezeigt würde, sondern weil einem ansonsten ein ganzer Phänomenbereich von Entfremdung entgeht. Das ist der blinde Fleck Hennings, dass solche Phänomene, wie sie Adorno und Kierkegaard umtreiben, die auf eine (kollektive) Selbstverblendung zurückzuführen sind, sich seinem Ansatz entziehen. Dabei sind es doch gerade diese Fälle eines beziehungslosen Verhältnisses zu sich selbst, einer Gleichgültigkeit den eigenen Bedürfnissen und noch dem am eigenen Leib erfahrenen Unrecht gegenüber, die es verdienen, Selbstentfremdung genannt zu werden.⁵⁸ In diesem Zusammenhang scheint mir der Ausdruck weniger erklärungsbedürftig, als in der verschachtelten tradierten Begriffsgeschichte, die in der vorliegenden Untersuchung ansonsten zugegebenermaßen im Vordergrund steht. Wie sich zeigen wird, sind solche Weisen der Selbstbeziehung auch ethisch und sozialphilosophisch relevant.⁵⁹ Bei Adorno macht sich diese Verschränkung insbesondere im Begriff der „Kälte“ geltend. Er versteht sie als „Grundprinzip[s] der bürgerlichen Subjektivität, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre“ (GS 6, 356). Leiden ist wie gesagt nicht zu positivieren, aber dialektisch betrachtet durchaus Vorzug und Mangel zugleich. Hier wird nun deutlich, worin sein Vorzug in der Perspektive seiner Überwindung besteht. Es geht um eine größere Leidensfähigkeit, nicht im Sinne von Unempfindlichkeit, sondern größerer Empfindsamkeit, bis hin zur Idiosynkrasie. Denn sich dem Leiden aktiv-passiv zu entziehen, indem man sich aufgrund des widerfahrenen Schmerzes diesem gegenüber unempfänglich macht, verewigt den Zustand, der es erzeugt. Bei Adorno kommt nun eine Form von Leiden ins Spiel, die er auch an Kierkegaard, seinem Werk wie seiner Biographie, abliest und die der Erfahrungsverarmung selbst gilt. Die Betroffenen leiden hier an der Scheinhaftigkeit ihres eigenen Lebensvollzugs, d. h. gerade an einer wahrgenommenen, umfassenden Vermitteltheit mit der Welt und ihnen selbst, die einen Verlust von Unmittelbarkeit und Lebendigkeit bedingt. Nicht ohne Grund hat Adorno dem ersten Teil der Minima Moralia jenes Kürnberger-Zitat als Motto vorangestellt: „Das Leben lebt nicht“ (GS 4, 20). Es handelt sich dabei um die phänomenale Seite dessen, was Kierkegaard als Nivellierung bezeichnet. Er stellt ihr durchaus auch ihr anderes gegenüber, die „Erfahrung emphatischer Lebendigkeit“ (Wesche 2003, 109), die er insbesondere in den Reden einholt. Dabei ist aber das Charakteristische, dass diese Lebendigkeit für ihn das Ergebnis eines „Absterbens“ ist. Zentrale Bedeutung hat dieser Begriff in der Nachschrift – der Sache nach bereits in Entweder/Oder, und zwar im Übergang zum religiösen Stadium. Es ist ein „der Unmittelbarkeit Absterben“ (AUN II, 217 / SKS 7, 460), das sich zur anderen Seite hin als Bewegung des Geistwerdens darstellt, wobei der Glaube als neue oder zweite Unmittel-
So macht Wesche (2018, 91) allein in dieser Weise (Selbst‐)Entfremdung bei Adorno auch ihrem umstrittenen Begriff nach zum Thema. Es ist daher eine Verkürzung, wenn Henning (2015, 188 – 196) jüngeren Ansätzen zur Entfremdungstheorie pauschal vorhält, in ihrer Orientierung an philosophischen Theorien des Subjekts die Gesellschaftsdiagnose zu ersetzen, so berechtigt seine Kritik an Jaeggi (2005) in anderer Hinsicht, etwa was ihre Auswahl von Fallbeispielen angeht, auch sein mag.
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barkeit nach der Reflexion verstanden wird.⁶⁰ Der Durchgang durch den Prozess des Absterbens wird also getragen von der Aussicht auf einen neuen Anfang. Die kritische Funktion dieses theologischen Konzepts, wie auch die des kierkegaardschen Glaubensbegriffs überhaupt, besteht darin, dass er die falsche Vermitteltheit, die als zweite Natur ja selbst den Charakter einer Unmittelbarkeit annimmt, durch die Vermittlung über den Transzendenzbezug bricht. So gesehen garantiert gerade die absolute Alterität, dass das Denken für unreglementierte Erfahrung offenbleibt. Ob Adorno Kierkegaards Dialektik von Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit gerecht wird, wird im Zusammenhang mit dessen Liebesethik zu diskutieren sein. Bei ihm tritt jedenfalls an die Stelle der derart gebrochenen Lebenserfahrung des Einzelnen vor Gott die ästhetische Erfahrung und ihr Bezug auf ein sich als autonom behauptendes Kunstwerk. Sie hat selbst gegenüber der historischen Erfahrung noch einen Vorzug – und zwar aus demselben Grund, aus dem diese, wie zuvor erörtert, den Platz der kantischen Vernunftideen einnimmt. Auch die geschichtliche Erfahrung ist ja nicht notwendig erkenntnis- und handlungsleitend, wo sich Menschen gegen sie verschließen, also in Selbstverblendung befangen sind. Kunstwerke vermögen den Blick für eine unreglementierte Erfahrung erst zu öffnen, weil sie sich der gängigen und allzu vertrauten Praxis sperren. Das können sie nur, wenn sie sich ebenso unserem Verständnis in ihrem „Rätselcharakter“ entziehen, wie sie uns zugleich ansprechen und nicht einfach verschlossen bleiben. „Lebendig sind sie als sprechende“ (GS 7, 14), meint daher Adorno. Darin stellen sie zugleich die Bedingungen bereit, sich ihnen zu öffnen. Andernfalls bliebe die Aufgeschlossenheit für Kunstwerke kontingent und es käme der ästhetischen Erfahrung nicht die Sonderstellung zu, die Adorno ihr zuspricht: „Sie erzeugen die Empfänglichkeit für sie mit. […] Literatur, Musik und Kunst sprechen uns an, werden beredt, indem sie aus Wörtern, Tönen und Bildern anderes, Erfahrungen machen. […] Eine Erfahrung machen, die uns trifft und verwandelt, bedeutet, dass ein Erkenntnisinteresse an die Stelle von Selbsttäuschung tritt und dass die Augen für etwas aufgehen, das man nicht sehen, nicht wahrhaben will“ (Wesche 2012, 70).
6.3 Objektlosigkeit und Objektivation Dass Adorno „objektlose Innerlichkeit“, bzw. ihr Korrelat, die „verstellte Ontologie“, nicht einfach als Ausschluss von (geschichtlich-gesellschaftlicher) Objektivität versteht, hat sich bisher schon in verschiedener Hinsicht gezeigt, zuletzt etwa im Kontrast zur Kritik an Fichtes absolutem Ich und seiner Weltlosigkeit. Gleichwohl hat man ihm diese
Die erste Unmittelbarkeit ist hier in einer weit gefassten Bedeutung – und das gilt in anderer Weise auch für die neue im Glauben – zu verstehen als Eingebettetsein: Zum einen als Existenzweise, in der man sich zunächst und zumeist befindet – das weist auf Heidegger voraus – und zum anderen als nicht weniger als der Grund unserer Welterfahrung und Ermöglichungsgrund unseres Selbstverhältnisses, den der Mensch innerweltlich nicht hinter sich lassen kann. Siehe hierzu: Kirchbaum 2008, 351– 377; Schreiber 2010.
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wohl bekannteste und umstrittenste Deutungskategorie aus dem Kierkegaardbuch auf eben diese Weise ausgelegt, als „Fehlinterpretation“ zurückgewiesen und auf die „Subjektivismus-These“ zurückgeführt.⁶¹ Dabei offenbart der Rückbezug auf den idealistischen Binnendiskurs, dass für Adorno Kierkegaard diesem Theoriezusammenhang gerade in der Art und Weise, wie er Subjektivität denkt, nicht zuzurechnen ist. Dass der Einzelne von der „Dingwelt“ zurückgeworfen wird, sich ihr entfremdet, setzt deren Andersheit voraus und darin unterscheidet sich sein Ansatz vom fichteschen Rekurs auf den „Anstoß“. Zugespitzt könnte man sagen, dass objektlose Innerlichkeit so gerade Ausdruck von Alterität, und zwar im Sinne von Fremdheit ist. Freilich liegt es nahe, Adorno hier anders zu verstehen und sicherlich liegt in dieser Formel auch einiges an ablehnender Kritik und Unangemessenheit der Interpretation begründet. Diese Ambivalenz hat ihren Grund darin, dass sich Adorno zufolge in Kierkegaards Existenzbegriff zwei gegensätzliche Tendenzen ausmachen lassen: eine Abstraktion im Selbstverhältnis und die Konkretion in dessen unverfügbaren Bedingungen. Erstere liest er insbesondere an der Anfangspassage der Krankheit zum Tode ab und sie lässt sich für sich genommen nicht zu Unrecht als idealistisch bezeichnen, sofern man – was Adorno ja tut – das Gesetztsein des ganzen Verhältnisses nicht gelten lassen will. Die Pointe besteht meines Erachtens aber darin, dass noch die Abstraktion selbst die Voraussetzung für Konkretion ist – und sei es wider die theoretische Intention Kierkegaards. Sie ereignet sich als Umschlag der Extreme: „Daß der Begriff der Existenz auf dem Extrem von Abstraktion nicht verharren kann, zu welchem ihn die Kierkegaardsche Dialektik der Innerlichkeit treibt, und seinen Inhalt sich leihen muß von jenem Auswendigen, von dem Kierkegaard sich abwendet, wird zum Korrektiv an diesem. Die Antithesis zur Objektwelt konkretisiert den Existenzbegriff weit über das hinaus, als was die Spekulation ihn setzt“ (GS 2, 251). Daher ist auch für Adorno die Spiegel- und Abbildmetapher des Intérieurs nicht bloß Ausdruck ablehnender Kritik, sondern zugleich der Würdigung. Die vorrangige Distanznahme des Innenraums gegenüber dem Äußeren ist die Voraussetzung, diesem, wenn auch auf paradoxe Weise, gerecht zu werden, anstatt es sich einzuverleiben. Letzteres geschieht in der Inneneinrichtung als Abbild lebendiger Natur nur scheinbar.⁶² Sie gleicht vielmehr, spätestens wo sie zum „Stilleben“ wird, dem höchst artifiziellen Weltbezug autonomer Kunst, der paradoxen, für sie aber konstitutiven „Absage“ an ihre Bedingungen. Was Adorno in der Ästhetischen Theorie ausführt, liest sich bisweilen tatsächlich wie ein Echo mancher Überlegungen aus dem Kierkegaardbuch: „Kunstwerke sind Nachbilder des empirisch Lebendigen, soweit sie diesem zukommen lassen, was ihnen draußen verweigert wird, und dadurch von dem befreien, wozu ihre dinghaftauswendige Erfahrung sie zurichtet“ (GS 7, 14).
So argumentiert Walter Dietz (1993a, v. a. 38 – 42), der hier wie gesagt als exemplarisch gelten kann. Die „Subjektivismus-These“ wird ihm zufolge etwa auch von Jann Holl (1972) prominent vertreten. Vgl. hierzu den neunten Abschnitt des dritten Kapitels der vorliegenden Untersuchung.
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Im Spiegelbild – dass sich durch die Fenster in den Spiegeln des Innenraums die Stadt abbildet – kommt zudem die Außenwelt klarer zur Geltung, als wenn man als erkennendes Subjekt in sie verstrickt ist. Es gibt sie so zugleich aus den Verstrickungen der Verdinglichung frei. Ich denke, dass derart Adornos Rede von der Konkretion in der „Antithesis zur Objektwelt“ zu verstehen ist. Es ist gerade die vorgängige eigentümliche Entleerung des von der Außenwelt sich verschließenden Innenraums, die es ihm ermöglicht, deren Gehalt – und sei es widerwillig – in sich aufzunehmen. Spiegeln oder Abbilden kann nur, was selbst keinen Inhalt hat. Hier holt Kierkegaard Adorno zufolge die „Ontologie“ ein, um die es ihm eigentlich gehe, wodurch „Subjektivität“ zu deren „Schauplatz“ werde (GS 2, 38). Sie begründet sie nicht. Adornos Rede von der Konkretion in der„Antithesis zur Objektwelt“ ist freilich auch im Hinblick auf Kierkegaards Sozialkritik zu verstehen. Dessen Selbstverständnis als „Korrektiv“ verteidigt er dabei ausdrücklich gegen den Vorwurf der Abstraktheit (GS 2, 255). Dieser Aspekt soll im letzten Kapitel eingehend diskutiert werden. Zunächst verdient ein anderes Problem eine Erklärung. Wird Objektivität in der Gesellschafts- und insbesondere in der Entfremdungskritik verhandelt, so ist sie als Resultat von Objektivationen menschlicher Praxis im weitesten Sinne zu verstehen – und nicht als bloße Gegebenheit, als schlechthin transsubjektiven Ursprungs. Sie gründet somit in bestimmter Hinsicht doch im Subjekt. Es stellt sich daher die Frage, inwiefern sich hier noch von Alterität sprechen lässt und ob nicht die Bewegung von Entäußerung und Wiederaneignung letztlich doch wieder selbstreferentiell und damit idealistisch ist. Das hat in jüngster Zeit Henning (2015, 193) von Jaeggi behauptet, der er eine „subjektivierte[n] Rückkehr zu Hegel“ anlastet – insofern das, was bei ihm erst in der Sphäre des (objektiven) Geistes zu leisten wäre, nun dem individuellen Subjekt abverlangt wird. Es ist aber, wie im ersten Kapitel erörtert, das Moment der Verselbständigung, das eine Bewegung als eine von Entfremdung bestimmt, nicht die Entäußerung oder Vergegenständlichung selbst. Und auch diese Verselbständigung ist noch nicht das Problem, sondern vielmehr Ursprung sämtlicher Kulturleistungen des Menschen, angefangen bei der Sprache – und damit, wie Gehlen betont, die Geburt seiner Freiheit. Entfremdung als nichtseinsollende ist erst, wie Jaeggi (2005, 19) zu Recht feststellt „die Verkennung und Stilllegung dieser Aneignungsbewegung“. An der Frage nach der (Un‐)Möglichkeit einer Wiederaneignung lässt sich aber durchaus die Differenz von idealistischem und nachidealistischem Entfremdungsdenken festmachen. Dabei sind zwei Aspekte zu unterscheiden, die Henning zusammendenkt. Seine Kritik gilt einerseits einer individuellsubjektiven, unmittelbaren Wiederaneignung, im Kontrast zu einer kollektiven, bzw. über den objektiven Geist vermittelten. Hier sind sich Hegel und Marx grundsätzlich einig, dass nur der zweite Weg offensteht. Andererseits geht es um die Frage, ob diese Bewegung sich je in einer Wirklichkeit abspielt, die im Denken prinzipiell nicht aufgeht. Dass Hegel, wie sich im Folgenden zeigen wird, selbst in der Urteilslehre der Wissenschaft der Logik stets die Realphilosophie mitbedenkt, schützt ihn nicht vor dem berechtigten Einwand, seine Lehre stünde auf dem Kopf. Die Frage nach dem Unterscheidungskriterium stellt sich auch für den Fall der Objektivationen menschlichen Handelns weiterhin als eine nach der Alterität und damit zugleich nach der Art und
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Weise der Verselbständigung, die sie hervorbringt. Der Unterschied zum Nachidealismus liegt nun im Prinzip der hegelschen Spekulation bzw. in ihrem Ursprung bei Fichte selbst begründet. Kurz gesagt ist ja das Einzelne eine Entäußerung des ihm gegenüber an Bestimmungen reicheren Begriffs und nicht etwa umgekehrt der Begriff Resultat eines induktiven Prozesses. Das hat Lask (1902, 26) – auf den sich auch Adorno bezieht (GS 6, 23) –, im Ausgang von Kants „analytischer Logik“, als „emanatistische Logik“ bezeichnet, wobei die theologischen Konnotationen eben kein Zufall sind. Marx hat sein bekanntes Diktum von der verkehrten Welt des hegelschen Idealismus ganz ähnlich begründet, nur dass es ihm vorrangig um dessen Theorie der bürgerlichen Gesellschaft geht. In seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie hält er ihm vor, den Staat nicht aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit, sondern diese umgekehrt aus der Idee des Staates im Sinne einer Entäußerung und Vergegenständlichung hervorgehen zu lassen. Das ist nur möglich unter der Voraussetzung des Primats des Subjekts, d. h. dass die Idee des Staates versubjektiviert wird: „Wenn aber die Idee versubjektiviert wird, werden hier die wirklichen Subjekte, bürgerliche Gesellschaft, Familie, Umstände, Willkür etc. zu unwirklichen, anderes bedeutenden, objektiven Momenten der Idee“ (MEW 1, 206). Allgemein formuliert heißt das: „Er hat zu einem Produkt, einem Prädikat der Idee gemacht, was ihr Subjekt ist. Er entwickelt sein Denken nicht aus dem Gegenstand, sondern den Gegenstand nach einem mit sich fertig und in der abstrakten Sphäre der Logik mit sich fertig gewordnen Denken“ (MEW 1, 213). Nicht nur, dass Hegel derart Subjekt und Objekt vertauscht, sein Subjekt enthält als absoluter Geist zugleich alle seine Gegenstände als Emanationen in sich. Wenngleich sich Adorno dessen Logik der Alterität zunutze machen kann, bezeichnet der Vorrang des Objekts doch vor allem seine materialistische Gegenposition. Darin schließt er ebenso an Marx an, wie er diese Standortbestimmung auch in eigener Auseinandersetzung mit Hegel entwickelt – wobei ihm Kierkegaard zumindest eine Anregung war.
V Gesellschaftliche Entfremdung und individuelle Praxis Das letzte Kapitel wird von der Frage geleitet, warum und inwieweit Adorno von seinem materialistischen Standpunkt aus Kierkegaard, wie überhaupt der bürgerlichen Sozialkritik, zumindest ein partikulares Recht einräumen kann. Ausgangspunkt ist seine Behauptung einer Totalität gesellschaftlicher Entfremdung, von der auch Marx ausdrücklich spricht. Adorno spitzt diese Diagnose ihm gegenüber noch zu, eröffnet dabei aber zugleich Freiräume. Zunächst stellt er eine Verfestigung der Verhältnisse seit der Mitte des 19. Jahrhunderts fest. Sie ist nach ihrer subjektiven Seite einer paradoxen Dialektik der Individualisierung geschuldet. Damit einher geht nun eine Wendung in methodischer Hinsicht, die sich als Subjektivierung des Materialismus bezeichnen lässt. Das bedeutet zunächst schlicht, diesem Aspekt der gesamtgesellschaftlichen Dynamik mehr Aufmerksamkeit zu schenken, bezeichnet also das Anliegen Kritischer Theorie überhaupt. Die Pointe ist aber, dass Adorno nicht trotz, sondern vielmehr wegen einer solchen „radikalen Vergesellschaftung“ der subjektiven Erfahrung mehr zutraut, als Hegel und Marx das tun. Vor diesem Hintergrund kann Kierkegaards Standpunkt des Einzelnen überhaupt erst wieder in den Blick kommen. Das Interesse der Erörterung gilt nicht zuletzt einem bürgerlichen und insbesondere ästhetisch codierten Nonkonformismus, der keinen Ansatzpunkt mehr zu finden scheint. Die Entfremdung, von der sich dieser abstößt, lässt sich als Zurichtung des Subjekts nach Maßgabe des gesellschaftlichen Allgemeinen bezeichnen. Darin, wie überhaupt in der Kritik an einer Subsumption des Besonderen bei Hegel, liegt wohl die offensichtlichste Übereinstimmung Adornos mit Kierkegaard. Sie ist aber meines Erachtens auch die erklärungsbedürftigste, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen wendet Adorno ja Hegels Begriff gesellschaftlicher Allgemeinheit gegen Kierkegaard, meint etwa, dass er ihm gegenüber die Illusion der Autonomie des Individuums entlarvt habe. Zum anderen gebrauchen beide die Ausdrücke Allgemeinheit und Besonderheit in einer Weise, die Hegel schlicht unangemessen zu sein und hinter seinem Reflexionsniveau zurückzubleiben scheint. Am Verhältnis von individueller Selbstverwirklichung und gesellschaftlicher Allgemeinheit, deren Entzweiung die bürgerliche Gesellschaft ja für Hegel als solche auszeichnet, lassen sich die Differenzen zwischen Adorno und Kierkegaard besonders deutlich aufzeigen. Sie gleichen sich dennoch in der Bedeutung, die sie einer Ethik im engeren Sinne, dem eigenverantwortlichen Handeln des Individuums, gegenüber substantieller Sittlichkeit einräumen. Darin liegt zwar nicht ein Ausweg aus nichtseinsollender Entfremdung, aber doch eine Möglichkeit, mit Entfremdung umzugehen. Aufschlussreich ist hier Adornos Auseinandersetzung mit Kierkegaards Liebesethik. Dort stehen Würdigung und Abwehr des Dänen so dicht beisammen, wie nirgends sonst, wirft Adorno ihm doch vor, die Verdinglichung zwischenmenschlicher Beziehungen nicht wahrhaben zu wollen, nur um kurz darauf zu behaupten, deren Bann zu brechen. Letztlich geht es dabei um die Frage, wie sich im Angesicht einer als total postulierten https://doi.org/10.1515/9783111010342-007
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Entfremdung zu verhalten sei. Zwar trennt die Begründung ihrer Sozialdiagnose Adorno und Kierkegaard wie kaum etwas anderes, die Konsequenzen, die jener etwa mit seiner Ethik eines „stellvertretenden Lebens“ zieht, gleichen sich aber durchaus. Nicht nur die These einer derart universalisierten Entfremdung, sondern bereits der Begriff der Totalität muss Widerspruch hervorrufen und lädt zu Missverständnissen ein. Daher gilt es zunächst zu zeigen, wo Adorno an Kierkegaards Kritik systemphilosophischer, spekulativer Totalität anknüpfen kann – das spricht er ja ungewohnt offen aus – und warum er doch an diesem Begriff festhält als „kritische[r] Kategorie“ (GS 8, 292). Wie anspruchsvoll, oder womöglich gar aussichtslos sein Unterfangen ist, demonstriert die umstrittene These vom universalen Verblendungszusammenhang: Wäre er absolut total, würde er seinem Begriff nicht mehr entsprechen.
1 Totalität als kritisch-hermeneutischer Begriff Die jüngere Forschung hat die Auseinandersetzung mit Adornos Konzept von Totalität meist gemieden. Das hat gute Gründe. Einerseits schien der Ausdruck selbst diskreditiert zu sein, weshalb sich seine direkten Nachfolger ja gerade darin meinten, von ihm absetzen zu können. Er galt ihnen als untrennbar mit einem überzogenen und überholten Erkenntnisanspruch verbunden. Womöglich war es auch vom Totalen zum Totalitären prinzipiell nur ein kleiner Schritt, weshalb Popper Hegel ja direkt zum Feind der offenen Gesellschaft erklärte. Andererseits hatte sich doch auch Adorno selbst von einem solchen Totalitätsbegriff losgesagt, so dass sich die Beschäftigung mit ihm zu erübrigen schien. So einfach ist es freilich nicht. Für seine negative Dialektik, wie für dialektisches Denken überhaupt, bleibt er weiterhin konstitutiv. Darauf hat in der Forschung am prominentesten wohl Fredric Jameson (1990) insistiert. Mehrfach spricht Adorno deutlich aus, dass es gerade die Totalitätskategorie ist, die eine Theorie als idealistisch (dis‐)qualifiziert. Wie er in jenem Brief an Kracauer meint, in dem er Kierkegaards „intermittierende Dialektik“ gegen einen „geschlossenen Dialektikbegriff“ in Stellung bringt, gilt das selbst noch für den „Marxismus“ (BW 7, 218). Und das schließt ausdrücklich Lukács mit ein, wie er im Kierkegaardbuch feststellt (GS 2, 10). Andererseits ist es eben diese Kategorie, die im Zusammenspiel mit der des (Real‐) Widerspruchs ein Denken als dialektisches qualifiziert. Diese vordergründige Unvereinbarkeit erweist sich gerade im Hinblick auf eine Theorie der Entfremdung als Herausforderung. So ist ja zunächst der Blick Adornos auf Entfremdung einer, der in die Totale geht. Und das gilt für Kierkegaard, etwa seine Theorie der Verzweiflung, nicht minder. Entfremdung ist hier nicht nur universal in dem Sinne, dass sie sich auf jeden Menschen bezieht und auf das Allgemeinmenschliche. Sie wird total – was aber zu implizieren scheint, dass sie nicht zu überwinden ist. Dem erwähnten Einspruch gegen Lukács zum Trotz, kann sich Adorno zumindest dessen frühe Definition der Totalität in der für ihn so wichtigen Theorie des Romans zu
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V Gesellschaftliche Entfremdung und individuelle Praxis
eigen machen: „Totalität als formendes Prius jeder Einzelerscheinung“¹. Er teilt aber nicht deren Implikation, „daß etwas Geschlossenes vollendet sein kann“. Lukács (1981, 26) entwickelt sie hier aus der griechischen Gedanken- und Erfahrungswelt – Totalität sei der „tragende[n] und positive[n] Sinn ihres Lebens“. Die Idee der „Vollkommenheit“ darin ist eine ästhetische. Problematisch wird sie Adorno in der Verbindung mit dem systematischen Anspruch auf Geschlossenheit. Um diesen geht es ihm ja in jenem Brief an Kracauer. Aber auch der Begriff der Geschlossenheit ist nicht unzweideutig. Ich möchte im Folgenden vor allem den Unterschied herausarbeiten, dass etwas durch etwas in seiner Ganzheit und Eigentümlichkeit bestimmt sein kann, oder vor- und durchweg als etwas in allen Einzelaspekten determiniert. Die Teile des Ganzen wiederum können auf unterschiedliche Weise an einer Bestimmung partizipieren: Erstens genetisch, d. h. allgemein entstehungs- oder entwicklungstheoretisch, oder zweitens in Form ihrer Interaktion untereinander, vermittelt durch bestimmte Prinzipien, Regeln oder Institutionen innerhalb eines Strukturganzen. Ersteres betrifft etwa die anthropologische Perspektive als Zugehörigkeit zur Gattung. Inwiefern die Teilhabe des Individuums hier dialektisch zu verstehen ist, hatte sich am Ausgreifen der Dialektik der Aufklärung in die Urgeschichte des Menschen und an Kierkegaards philosophischer Deutung des Dogmas der Erbsünde in Der Begriff Angst gezeigt. Sofern von einer wie auch immer gedachten Freiheit² ausgegangen wird, ist es ja möglich, sich zu den Gattungsbedingungen in ein Verhältnis zu setzen. Ausgeschlossen ist das, wo alles, um es mit Kant zu sagen, einer Kausalität nach Gesetzen der Natur folgt. Die Position des harten Determinismus ist der klassische Fall eines herrschaftsförmigen Verständnisses von Totalität, die das Einzelne je durchgängig durch die Gesamtheit seiner Bedingungen bestimmt sieht. Darum geht es hier nicht. Adornos teils ungerechtfertigte Polemik gegen die arrivierte Anthropologie erklärt sich ja gerade aus dem Einspruch gegen Versuche, den Menschen durch anthropologische Konstanten auf ein bestimmtes Bild von ihm festzuschreiben. Und Habermas (1973, 107– 108) ist ihm hierin gefolgt, wenn er, insbesondere mit Blick auf Gehlen, vor einer Ontologisierung des Menschen und einem Dogmatismus warnt, der nur vermeintlich wertfrei ist und politische Konsequenzen mit sich bringt. Im Grunde bedeutet ein solches Verständnis von Totalität, im Ausgang von der Gattungsgeschichte die Historizität des Menschen selbst zu negieren. Die zweite Möglichkeit neben der genetischen Perspektive, das Verhältnis von Ganzem und Teil zu denken, betrifft die Aktualität der Interaktion, die freilich je auch eine Aktualisierung bedeutet. Sie beschreibt den Standpunkt der meisten soziologischen
Lukács 1981, 26. Er bezieht sich mit der Rede von einem „Prius“ auf Aristoteles’ Metaphysik. Anthropologisch wird sie meist aus der Emanzipation von der inneren und äußeren Natur des Menschen abgeleitet. Gehlen spricht daher ja von einer „Geburt der Freiheit aus der Entfremdung“. Auch Adorno ist hier keine Ausnahme, wenngleich er vor allem darauf abhebt, wie sie als Beherrschung in eine neue Unfreiheit mündet. Kierkegaard entwickelt eine solche Freiheit in der Angstabhandlung idealtypisch als Entbindung des Geistes.
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Theorien³, wobei das zur Debatte stehende Ganze schlicht den Begriff von Gesellschaft als soziologisch inklusivster Kategorie meint. In dieser Weise ist der Gebrauch des Ausdrucks Totalität wohl am unverfänglichsten. An den „etablierten“ soziologischen Theorien seiner Zeit, die sich positivistisch an der „Industriegesellschaft“ abarbeiten, kritisiert Adorno aber gerade, dass sie sich keinen Begriff mehr von ihr bilden: „Das Beste, das keineswegs das Beste zu sein braucht, wird vergessen, die Totalität, in Hegelscher Sprache der alles durchdringende Äther der Gesellschaft“ (GS 8, 364). Sie stand im Zentrum jener Debatte, die als Positivismusstreit in die Geschichte eingegangen ist. In seinem Beitrag „Zur Logik der Sozialwissenschaften“ antwortet Adorno als Korreferent auf Popper und besteht darauf, dass Soziologie „nicht über unqualifizierte Daten verfügt, sondern einzig über solche, die durch den Zusammenhang der gesellschaftlichen Totalität strukturiert sind“ (GS 8, 548 – 549). Was ein kritischer Begriff von ihr bedeutet, formuliert er anschließend in Abgrenzung zum Totalitären – in Bezug auf den Erkenntnisanspruch der Theorie wie auch ihren Gegenstand: Totalität ist in den demokratisch verwalteten Ländern der industriellen Gesellschaft eine Kategorie der Vermittlung, keine unmittelbarer Herrschaft und Unterwerfung. Das schließt ein, dass in der industriellen Tauschgesellschaft keineswegs alles Gesellschaftliche ohne weiteres aus ihrem Prinzip zu deduzieren ist. Sie enthält in sich ungezählte nicht-kapitalistische Enklaven. […] Die gesellschaftliche Totalität führt kein Eigenleben oberhalb des von ihr Zusammengefaßten, aus dem sie selbst besteht. Sie produziert und reproduziert sich durch ihre einzelnen Momente hindurch. (GS 8, 549)
Jede Teilhabe an Gesellschaft setzt auch eine an den Vergesellschaftungsprinzipien voraus. Daher ist eine Gesellschaft etwa umfassend als eine kapitalistische bestimmt und nicht nur zum Teil. Der Verwertungslogik und dem Konkurrenzprinzip kann sich zwar kein teilnehmender Akteur entziehen, sie bestimmen seine Handlungen aber nicht durchweg als allein motivierende. Wird dagegen der Systemcharakter verabsolutiert, so wird gewissermaßen nachgeahmt, was als Gefahr ohnehin droht: das Übergreifen des Systems und seiner Form von Rationalität auf alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens. Das bedeutet, wie Habermas (1995, 208) es im Anschluss an Max Weber formuliert, „eine Verdinglichung sozialer Verhältnisse, die die motivationalen Antriebe rationaler Lebensführung erstickt“. Vor dem Hintergrund dieser Diagnose profiliert er sein zweistufiges Gesellschaftskonzept von System und Lebenswelt, das der Theorie selbst wiederum Handlungsspielräume erschließt und gewissermaßen den Totalitätsbegriff aufsprengt. Darin steht er Adorno durchaus nahe. Er hat im Positivismusstreit dessen Verständnis von Totalität zunächst entschieden verteidigt und später auch nicht einfach verabschiedet, sondern vielmehr als einen uneingelösten theoretischen Anspruch vertagt. Zwar geht es ihm, wie er in der Einleitung zur Theorie des kommunikativen Han-
Mit Ausnahme jener, die, wie etwa die Akteur-Netzwerk-Theorie, den Strukturbegriff aufgegeben haben.
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delns eher beiläufig bemerkt, um ein „philosophische[s] Denken, das den Totalitätsbezug preisgibt“ (Habermas 1995, 16). Er sieht aber in Adorno als Anwalt des Nichtidentischen vor allem einen Kritiker eines überholten Begriffs in hegelscher Tradition: „Adorno hatte schon in den frühen 30er Jahren gesehen, daß die Philosophie lernen muß, ‚auf die Totalitätsfrage zu verzichten‘ und ‚ohne die symbolische Funktion auszukommen, in welcher bislang, wenigstens im Idealismus, das Besondere das Allgemeine zu repräsentieren schien‘“ (Habermas 1995, 515).⁴ Auch setzt er in seiner Kritik, wie Adorno, wesentlich bei Lukács an: „System- und Handlungstheorie sind die disjecta membra eines dialektischen Begriffs der Totalität, den Marx und selbst Lukács noch gebraucht haben, ohne daß sie ihn in Begriffen hätten rekonstruieren können, die ein Äquivalent für die Grundbegriffe der als idealistisch zurückgewiesenen Hegelschen Logik darstellen“ (Habermas 1995, 460). Die Rede von den disjecta membra trifft das Problem des Totalitätsbegriffs auch unabhängig von der eigenen theoretischen Verortung, die Habermas hier vornimmt, tatsächlich recht gut. Der von Horaz geprägte Ausdruck entstammt ursprünglich der Ästhetik und findet sich heutzutage etwa in der Kunstgeschichte als Fachbegriff. Es geht hierbei darum, dass die aus einem Ordnungszusammenhang (des Kunstwerks) gerissenen Bruchstücke diesen als solche immer noch voraussetzen. Er bleibt, um es mit Lukács zu sagen, weiter „formendes Prius“. Wie Totalität derart als ästhetische Kategorie zu verstehen ist, hat sich beispielhaft an Adornos Aufsatz zur späten Lyrik Hölderlins aufgetan, die dieses Prinzip ja in ihrer parataktischen Form reflektiert. Die Zersetzung von Rhythmus und Versmaß, die Horaz als „disiecti membra poetae“ bezeichnet, betrifft auch das Subjekt der Dichtung. Im Ausgang von der Ästhetik wird aber Adorno das Fragmentarische überhaupt zu einem Paradigma der Überwindung des hegelschen Totalitätsbegriffs. Und das zeigt sich bereits deutlich an seiner frühen Auseinandersetzung mit Kierkegaard.
1.1 Negative und positive Unendlichkeit bei Hegel Eng verwandt mit dem Begriff der Totalität ist der des Unendlichen. An ihm setzt Adorno an, um Hegel von innen, aus seiner eigenen Logik heraus zu überwinden: „Eine Idee ist umzufunktionieren, die vom Idealismus vermacht ward und mehr als jede andere von ihm verdorben, die des Unendlichen“ (GS 6, 24). Zu zeigen gilt es, in welcher Weise bei Hegel schon das negativ-unendliche Moment das totalisierende in der Gesamtbewegung ist. Nachvollziehen lässt sich dieser entscheidende Schritt insbesondere anhand der Urteilslehre im zweiten Teil der Wissenschaft der Logik, genauer an deren erstem Teilstück „Das Urteil des Daseins“. Die in sich komplexe Diskussion interessiert hier nur in dieser Hinsicht. Unberücksichtigt bleibt zunächst der im Hinblick auf Adorno ebenfalls wichtige Aspekt, dass seine Kritik der tradierten Urteilslehre wesentlich auch als
Vgl. Habermas 1995, 499, Anm. 87: Adornos „Kritik des identifizierenden Denkens“ nehme der Philosophie „den Totalitätsanspruch“.
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eine der Logik der Subsumption zu lesen ist, die in der Weise begründet liegt, wie das Subjekt das Prädikat klassifiziert.⁵ Urteile drücken stets eine Beziehung von Einzelnem und Allgemeinem aus. Die Art der Verknüpfung ist allerdings entscheidend. Gewöhnlich gilt dabei: „ein Besonderes wird durch ein Urteil als Fall eines Allgemeinen bestimmt“ (Hogh 2019, 465). Adorno formuliert die Kritik daran bereits im Kierkegaardbuch, und zwar ganz zu Beginn, wo er in affirmativer Bezugnahme auf Hegel eine Auffassung vom Begriff als „Merkmaleinheit“ darunter befasster Gegenstände ablehnt. Er kann hier an eine Einsicht der Urteilslehre anknüpfen. Einzelnes und Allgemeines können für Hegel nicht mehr, wie in der traditionellen Logik, Subjekt und Prädikat als invariant zugeordnet werden. Sie bestimmen sich vielmehr wechselseitig, weshalb Hegel von der „Wechselbestimmung des Subjekts und Prädikats im Urteile“ (TWA 6, 314) spricht. Er geht zunächst vom einfachen „positiven Urteil“ aus, also der Behauptung eines Sachverhalts, die entweder zutreffen kann, oder nicht. Inwiefern dieses Urteil zugleich negativ ist, lässt sich leicht einsehen, ohne sich in die Argumentation Hegels zu vertiefen, macht er sich hier doch Spinozas These Omnis determinatio est negatio zunutze.⁶ Das Subjekt ist nun ebenso „an ihm selbst das Allgemeine“, das Prädikat dagegen, insofern es „nur ein Moment der Totalität desselben mit Ausschluß der anderen“ enthält, wird „ein abstrakt Einzelnes“ (TWA 6, 314). Solche Totalität des Subjekts ist aber lediglich „die schlecht unendliche Vielheit“ der Bestimmtheiten, die es in sich vereint (TWA 6, 316 – 317). So wie das positive Urteil zugleich negativ ist, ist auch das negative Urteil, wie Hegel im darauffolgenden Passus erläutert, positiv – und zwar seiner Form nach: „Das negative Urteil ist also nicht die totale Negation; die allgemeine Sphäre, welche das Prädikat enthält, bleibt noch bestehen; die Beziehung des Subjekts auf das Prädikat ist daher wesentlich noch positiv“ (TWA 6, 321). Das bedeutet, dass die jeweilige „Sphäre“ von Eigenschaften selbst noch bejaht wird, und zwar als Voraussetzung der auf sie bezogenen partikularen Negation. Hat etwa die Rose nicht diese Farbe, so hat sie eine andere Farbe, aber eben nicht keine Farbe. Auf diese Weise kommt Hegel zur Unterscheidung zweier Formen der Negation, einer partikularen, die der bis hierhin umrissenen Urteilsform entspricht, und einer totalen, die dessen unendlicher Form gilt. Diese Differenzbestimmung verbindet er nun im dritten Abschnitt mit der Frage nach der Wahrheit des Urteils: „Das negative Urteil ist sowenig ein wahres Urteil als das positive. Das unendliche Urteil aber, das seine Wahrheit sein soll, ist nach seinem negativen Ausdrucke das Negativ-Unendliche, ein Urteil, worin auch die Form des Urteils aufgehoben ist“ (TWA 6, 324). Endliche Urteile – Endlichkeit ist hier ja im Sinne von Partikularität zu verstehen – sind als Tatsachenbehauptungen sowohl in der negativen als auch positiven Variante bloß inhaltlich wahr, oder wie Hegel sagt „richtig“, bzw. eben nicht. Der Form nach sind sie jedoch grundsätzlich unwahr. Was meint er damit? In-
Das gilt aber für vorrangig für das Reflexionsurteil, das hier unberücksichtigt bleibt – siehe hierzu: Theunissen 1994, v. a. 442– 444. Vgl. TWA 5, 121
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sofern es hier ja um Adäquation, die Übereinstimmung des Urteils mit seinem Gegenstand geht, entspricht das Problem im Grunde dem im dritten Kapitel diskutierten, vom Verhältnis einfacher, endlicher Wahrheit(en) zur Wahrheit im emphatischen Sinne.⁷ Die Differenz markiert er, indem er im ersten Fall von „Richtigkeit“ spricht. Letztere bezeichnet er hier mit Leibniz als „Vernunftwahrheiten“. Mehr noch bezieht Hegel sich damit aber auf Kant, ist doch die Unterscheidung von endlichen und unendlichen Urteilen in der von Verstand und Vernunft bereits angelegt. Der Verstand gewinnt innerhalb der Grenzen der Erfahrung positive Einzelerkenntnisse, die eine Totalität voraussetzen, die selbst nicht thematisch werden kann, aber ihre transzendentale Bedingung ist. Eine solche Ganzheit ist Sache der Vernunftideen Seele, Gott und, worum es hier geht, Welt. Die transzendentale Idee ist zwar nicht wie die Verstandesbegriffe „von constitutivem Gebrauche“ für die Erkenntnis, wohl aber von „unentbehrlich nothwendigen regulativen Gebrauch“, also erkenntnisleitend (AA III, 427– 428 / B 672). Sie richten „den Verstand zu einem gewissen Ziele“, das zwar „außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch aber dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen“ (AA III, 428 / B 672). Dieses Ziel ist also die Totalität der Erkenntnis. Wahre Wahrheit stellt sich für Hegel, der hier durchaus an Kant anschließen kann, erst im Hinblick auf ein Ganzes ein, das nicht nur als schlecht unendlich bestimmt ist. Dem Negativ-Unendlichen kommt dabei die Funktion eines, allerdings entscheidenden, Zwischenschritts zu, insofern sich darin eben die Totalisierung vollzieht. Denn negiert wird hier die Urteilsform als solche, nicht als diese oder jene. Derartige Urteile offenbaren die Unzulänglichkeit partikularer Urteile, indem sie vorführen, dass letztere zwar „richtig“, oder im landläufigen Sinne „wahr“ sein können, aber trotzdem „widersinnig“ (TWA 6, 324). Das geschieht dann, wenn nicht nur eine bestimmte Eigenschaft negiert wird, sondern auch der Bezug auf die „allgemeine Sphäre“ verloren geht, die das negierte Andere mit enthält und die im einfachen Urteil vorausgesetzt wird. Hegel gibt folgende Beispiele: „der Geist [ist] nicht rot, gelb usf., nicht sauer, nicht kalisch usf., die Rose ist kein Elephant, der Verstand ist kein Tisch“ (TWA 6, 324). Freilich ließe sich der Verwirrung hier leicht beikommen durch die Forderung, dass dem Subjekt nur der Status eines Eigennamens zukommen soll, anstatt beliebig Begriffe oder Klassen von Objekten bzw. Eigenschaften einander als Subjekt und Prädikat zuzuordnen. Hegel geht es jedoch um etwas anderes – und ohnehin nicht, ebenso wenig wie beim Begriff, um ein Urteil im herkömmlichen Verständnis, auch wenn er seine Überlegungen als Kritik an den Bestimmungen der traditionellen Logik formuliert. Er meint nun weiter, es ließe sich noch ein „reelleres Beispiel“ anführen – womit er eine unvermittelte Wendung in die Realphilosophie vollzieht. Daran stört sich Kierkegaard grundsätzlich, dass er also das Bewegungsprinzip umstandslos überträgt:
Die in dieser Unterscheidung ausgesprochene Opposition zu einer Korrespondenz- oder Adäquationstheorie der Wahrheit erweist sich allerdings, wie im dritten Kapitel erörtert, nur als relativer Gegensatz.
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„Verläßt man die Logik und geht zur Ethik über, dann begegnet man dem in der gesamten Hegelschen Philosophie unermüdlich tätigen Negativen abermals. Hier erfährt man zu seiner Verblüffung, daß das Negative das Böse sei. Jetzt ist die Konfusion im vollen Gange“ (BA, 17– 18 / SKS 4, 321). Freilich liegt hier schon das Missverständnis darin, dass er meint, Hegel formuliere überhaupt eine ethische Position. Auf dieses Problem und auch das Verhältnis der Logik zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts werde ich im Folgenden zurückkommen. Am weitesten vorgewagt hat sich hierbei Theunissen (1994, 448) mit seiner Behauptung, dass schon „die Urteilslehre eine chiffrierte politische Theorie ist“. Hegel stellt dort zunächst fest, dass der Widersinn auch ein Realwiderspruch⁸ ist und als solcher nicht nur dem Wahren, sondern zugleich dem Guten widerstreitet. Das geschieht nun dergestalt, dass in der „böse[n] Handlung“ ein „unendliche[s] Urteil“ gefällt wird, was ja bedeutet, dass die allgemeine Voraussetzung verneint wird, auf die sich die Negation des Prädikats bezieht (TWA 6, 325). Im „bürgerlichen Rechtsstreit“ wird nur das partikulare Interesse der unterlegenen Partei in einem endlichen Urteil verneint, während die andere ihres positiv „unter dem Titel des Rechtes in Anspruch“ nimmt, womit doch beiden die „allgemeine Sphäre, das Recht […] anerkannt und erhalten“ bleibt (TWA 6, 325). Das Verbrechen dagegen geht aufs Ganze, indem es „nicht nur das besondere Recht, sondern die allgemeine Sphäre zugleich negiert, das Recht als Recht negiert“ (TWA 6, 325). Dieser Widersinn ist aber das treibende, dialektische Moment. Das heißt er ist selbst negativwertig und zugleich die Negation, die den Widerspruch über sich hinaustreibt. Es zeigt sich hier, was zuvor als Grundprinzip dialektischen Denkens im Gegensatz zur konkurrierenden (aristotelischen) Theorietradition beschrieben worden war. Die Kraft des Negativen ist eine selbständige – im Gegensatz etwa zur unselbständigen, bedingten Negation im bürgerlichen Rechtsstreit. Dennoch kommt ihrem anderen, der allgemeinen Sphäre der „Sittlichkeit“, ein ontologischer Vorrang zu. Sie bewährt sich als Negation jener unendlichen Negation des Rechts. Mit dem Negativ-Unendlichen ist die Totalität, um die es Hegel geht, also noch nicht erreicht, aber perspektivisch eröffnet. Der Widersinn – ob logisch oder real – ist die potentielle Negation alles bloß Endlichen und Bedingten. Er verneint damit die bedingte Endlichkeit selbst, sofern diese – als Positivismus – einen unbedingten Geltungsanspruch erhebt, also sich selbst genügt. Denn es zeigt sich im Widersinn, dass das endliche Urteil insofern durch das Unendliche bedingt ist, als es stets bloß eine partikulare Negation des Unendlichen ist – etwas wird von einem Subjekt prädiziert aus einer unendlichen Reihe von Prädikaten. Das Unendliche hat folglich einen logisch-ontologischen Vorrang. In erkenntnistheoretischer Hinsicht hat das im Grunde bereits Kant mit der regulativen Idee der Welt behauptet. Darunter versteht er ja die „unbedingte Einheit“ der Reihe von Bedingungen der Erscheinungswelt (AA III, 281 / B 432– 433). Jedoch ist die „totale Negation“ bei Hegel, wie Hutter treffend feststellt, selbst bloß ein Vorgriff:
Besonders prägnant im Abschnitt zum „Lebensprozeß“: „Wenn man sagt, daß der Widerspruch nicht denkbar sei, so ist er vielmehr im Schmerz des Lebendigen sogar eine wirkliche Existenz“ (TWA 6, 481).
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„Sie negiert das Ganze des Urteils – und antizipiert gerade in dieser totalen Negation dialektisch eine positive Totalität, deren Positivität sich grundlegend von der partikularen Position des positiven Urteils unterscheidet.“⁹ Oder anders ausgedrückt: „Das Negativ-Unendliche ist die radikale Negation – und in dieser Hinsicht (als Negation der unwahren Form des undialektischen Positivismus) eine Vorform, ein negativer Statthalter des dialektisch vermittelten Positiven“ (Hutter 2014, 17). Damit scheint er allein schon terminologisch fast den Standpunkt einer Dialektik zu beschreiben, die sich durch ihre spezifische Negativität von der hegelschen abgrenzt. Adorno greift nicht aufs Positiv-Unendliche aus, sondern hält die Negativität als solche fest. Denn jenes zeichnet sich nach Hegel gerade durch eine Identitätsbeziehung aus, gegen die er das Moment des Nichtidentischen mobilisiert. So heißt es, die Erörterungen zum „Urteil des Daseins“ abschließend und vorausblickend, es sei „im Positiv-Unendlichen nur die Identität vorhanden“ – und wo kein Unterschied ist, gibt es auch „kein Urteil mehr“ (TWA 6, 325). Das Urteil ist wie der Schluss eine „Realisierung“ des Begriffs. Hegels Logik kennt aber noch andere: jene in der „Objektivität“ und der „Idee“. Diese ist erst der „adäquate Begriff“ (TWA 6, 462), der derart Subjekt ist, dass er seine Realität idealistisch selbst realisiert. Nun kann er auch die Totalität stiften, die die Urteilslehre nur negativ vorwegnehmen kann. Damit aber ist spätestens der Punkt erreicht, wo die kritische Einsicht seiner Logik ins Problematische kippt. In ihrer positiven Gestalt bezieht sich die Totalität auf das Resultat und das dieses vorwegnehmende Grundprinzip, welches das philosophische Gesamtgeschehen in der Tiefe organisiert. Was dazwischen geschieht, ist aber alles andere als irrelevant. Und so kann Adorno die Entwicklung, wie sie nicht nur die Phänomenologie des Geistes, sondern auch die Logik als Metaphysik- und Positivismuskritik beschreibt, mitvollziehen und sich eine Einsicht zunutze machen, die er selbst als „Insistenz auf der Vermitteltheit eines jeglichen Unmittelbaren“, dem „Modell dialektischen Denkens“, formuliert (GS 5, 160).
1.2 Totale und (anti‐)systematische Erkenntnis Freilich behauptet auch Hegel nicht, dass Totalität zum Gegenstand und in dieser Weise „positiv“ werden könnte. Es ist sein aufs Ganze gehender Erkenntnisanspruch, den Adorno und Kierkegaard kritisieren. Er bedeutet im Vergleich zu Kant ebenso eine Einschränkung wie eine Entgrenzung: „Für Hegel ist die Totalität im Unterschied zu Kant nicht Gegenstand der Vernunft, auch nicht als ihr vorausgesetztes Prinzip oder ihr Resultat, sondern die Bewegung der Vernunft selbst in ihrer Selbsterfassung, die zugleich die Erfassung ihrer Bedingungen ist. Jede Vergegenständlichung der Totalität Hutter 2014, 16. Er bezieht sich in seiner zuvor referierten ideengeschichtlichen Rekonstruktion des „methodischen Negativismus“ von Kant bis Kierkegaard im Wesentlichen auf die Urteilslehre, um Hegels Gestalt des Negativismus zu umreißen (13 – 19). Sein Aufsatz war mir insofern eine Anregung, thematisiert allerdings den Totalitätsbegriff nicht eigens, sondern hebt eben auf den Aspekt der alles verneinenden Negation ab.
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verbietet sich deshalb, weil das Ganze nur in den und durch die Teile existiert und diese nur in dem und durch das Ganze“ (Arndt 2006, 447).¹⁰ Er belegt das mit Verweis auf die Differenzschrift und die Phänomenologie. Allerdings gilt das meines Erachtens noch für den „Negativismus“, den Hutter (2014, 19) der Urteilslogik entnimmt: „Denn das PositivUnendliche des Geistes wird gerade daran kenntlich, dass sein Sinn nicht unmittelbar zu bezeichnen ist, sondern nur durch die Negation des Negativ-Unendlichen, das seinerseits die Negation aller unmittelbaren Positivität ist.“ Und in dieser unendlichen Negativität liegt auch „die Möglichkeit verborgen […], sich ins Gegenteil ihrer selbst zu wenden“ (Hutter 2014, 19). Das nimmt sich beinahe wie eine Paraphrase von Adornos negativer Dialektik aus – nur dass jene Möglichkeit eines Umschlags ins Positive bei ihm in bestimmter Hinsicht tatsächlich eine verborgene bleiben muss. Bei Hegel soll sie sich in der Negation der Negation erfüllen. Mit dieser Behauptung setzt die Vorrede der Negativen Dialektik ein: „Dialektik will bereits bei Platon, daß durchs Denkmittel der Negation ein Positives sich herstelle; die Figur einer Negation der Negation benannte das später prägnant. Das Buch möchte Dialektik von derlei affirmativem Wesen befreien“ (GS 6, 9). Es ist nicht so, dass er damit Hegel nicht treffen würde. Zumindest für das „Urteil des Daseins“ kann dieser Gemeinplatz aber infrage gestellt werden, wie Theunissen (1994, 451) argumentiert: „Hegel konstruiert die Bewegung des Daseinsurteils nicht nach dem Prinzip der durch Verdopplung sich bejahenden Verneinung; obwohl er das unendliche Urteil, dem er einen Grundzug seines Denkens entnimmt, als Negation des negativen auffaßt, gesteht er ihm keine Affirmation zu.“¹¹ Vielmehr „befreit er die Negation jetzt [d. h. nicht schon vorher oder nachher im Gang der Untersuchung, M. K.] vom Schein einer sich selbst verneinenden und dadurch in Bejahung umschlagenden Verneinung. Er gibt ihr den Tätigkeitssinn zurück“ (Theunissen 1994, 452). Zunächst mag das verwundern, spricht doch Hegel selbst ausdrücklich vom „Positive[n] des unendlichen Urteils, der Negation der Negation“ (TWA 6, 325). Aber dieses Positive fällt selbst ja nicht mehr ins Daseinsurteil, sondern ist wie gesagt vielmehr die Aufhebung des Urteils überhaupt in der wahren Identität, wie sie erst dem „Resultat“, dem „sich begreifende[n] Begriff“ (TWA 6, 572) zukommt. Somit ist das Resultat jenes Abschnitts eben selbst nur ein Vorgriff. Und gerade deshalb kann sich Adorno den dort paradigmatisch vorgeführten „Grundzug“ des hegelschen Denkens meines Erachtens eben zu eigen machen.¹² Dahinter verbirgt sich eine subtile Differenzbestimmung zu Hegel – die nun gewissermaßen an ihm selbst aufscheint – im
Letzteres entspricht ja exakt dem, was Adorno von gesellschaftlicher Totalität behauptet. Sie führe „kein Eigenleben oberhalb des von ihr Zusammengefaßten, aus dem sie selbst besteht“ (GS 8, 549). Er schließt sich hier Hermann Schmitz (1957, 105) an. Vgl. GS 5, 314– 315. Er würdigt in der Hegelstudie „Erfahrungsgehalt“ ausdrücklich dessen Urteilslehre bzw. -kritik – auch gegen Kant – und stellt fest: „Die Universalität der Negation ist keine metaphysische Panazee […], sondern einzig die zum Selbstbewußtsein gediehene Konsequenz aus jener Erkenntniskritik, welche die Panazeen zerschlug. Mit anderen Worten, Hegels Philosophie ist in eminentem Sinn kritische Philosophie, und die Prüfung, der sie ihre Begriffe, mit dem Sein angefangen, unterwirft, speichert immer zugleich in sich auf, was gegen sie spezifisch einzuwenden ist“ (GS 5, 315).
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V Gesellschaftliche Entfremdung und individuelle Praxis
Begriff der Negation, die hier nur angedeutet werden kann. Marc Nicolas Sommer hat darauf aufmerksam gemacht, dass Adorno mit seinen vermeintlich platten Einwänden vielmehr auf dem Unterschied zwischen bestimmter und positiver Negation besteht, die bei Hegel in der doppelten Verneinung letztlich in problematischer Weise zusammenfallen. Denn darin vollzieht sich nicht weniger als die „Aufhebung der Dialektik in Spekulation“ (Sommer 2016, 111). Das heißt in der Konsequenz: „Die Kraft des Negativen kann bei Adorno das Negative zwar nicht ins Sein umkehren, aber sie kann auf das Positive verweisen; dieses Positive ist bei Adorno nur ein normativ Positives, ontologisch dagegen ein Negatives“ (Sommer 2016, 101). Bei Hegel ist es beides zugleich, deshalb aber auch normativ im uneigentlichen Sinne. Tätigkeit ist nun ihm gegenüber nicht nur als Moment der Onto-Logik gefordert, sondern als Praxis. Hegel verbindet den Totalitätsbegriff mit einem Erkenntnisanspruch, dem systematischen, den so die meisten seiner Nachfolger, Kierkegaard und Adorno inklusive, nicht teilen können.¹³ Er versteht darunter, das zu leisten ist ja die Aufgabe der Wissenschaft der Logik im Ganzen, eine vollständige und notwendige Herleitung sämtlicher logisch-ontologischer Bestimmungen von Kategorien und Begriffen. In diesem Sinne meint er: „Die Bereicherung geht an der Notwendigkeit des Begriffes fort“ (TWA 6, 569). Diesem Fortgang entspricht zugleich eine „Reflexion-in-sich“ und ein Zurückkommen – alles schließt sich zusammen als „ein System der Totalität“ (TWA 6, 569).¹⁴ Möglich ist das erst vom „wissenschaftlichen Standpunkt“ aus, wie er im Anschluss an die Phänomenologie des Geistes erreicht ist. Wie gesagt verortet sich Adorno bereits in der Anfangspassage des Kierkegaardbuchs ausdrücklich zwischen dem (hegelschen) Anspruch, Philosophie als Wissenschaft zu betreiben, und ihrem Missverständnis als Dichtung. Zwar sei „die Kantische Konzeption der Philosophie als Wissenschaft von Hegel erstmals umfassend formuliert worden“ (GS 2, 9). Sie bereitet aber die „Gleichsetzung von Philosophie und Wissenschaft, die das neunzehnte Jahrhundert vollzog“ (GS 2, 9) nicht nur vor, sondern widerspricht ihr auch. Denn diese bedeutet einen Positivismus, den Hegel gerade überwinden wollte.Was Adorno dort formuliert, liest sich fast wie ein Echo jener Kritik positiver Einzelerkenntnisse, wie sie Hegels Urteilslehre formuliert. Die „Klärung der Einzelbegriffe“ bedarf der „Totalität des ausgeführten Systems“ (GS 2, 9 – 10). Das versteht er als das Wesen der „dialektische[n] Methode, der in aller Hegel-Feindschaft Kierkegaards Werk gänzlich zugehört“ (GS 2, 9). Gleichwohl stellt Adorno ja kurz darauf fest: „Selbst der ‚Totalität‘ bedarf es nicht, den dialektischen Begriffen ihre erschließende Funktion im Denkzusammenhang zu verleihen“ (GS 2, 10). Wie dieser vermeintliche Widerspruch zu verstehen ist, erschließt sich erst nach dem zuletzt Erörterten so richtig. Während er von Hegel den antipositivistischen Impuls der Dialektik übernimmt, schließt er in der antisystematischen Korrekturbewegung ausdrücklich an Kierkegaard an. Totalität als solche wird von ihm aber nicht aufgegeben, sondern erkenntnisleitend Vgl. NL 4/12, 188: „Nietzsche und Kierkegaard bestreiten die Möglichkeit von System. […] Alle bedeutende Philosophie nach Nietzsche ist Ablehnung des Systems.“ Auch Kant spricht zwar von der Idee einer „systematisch-vollständigen Einheit“, der aber wie gesagt nur eine regulative und nicht konstitutive Funktion für die Erkenntnis zukommt: AA III, 447 / B 705.
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antizipiert, da auch er ja einen „Denkzusammenhang“ methodisch voraussetzt. Darin steht er wiederum Kant nahe. Ähnlich wie er sich seinen Grenzbegriff des Dings an sich in kritischer Funktion zu eigen macht als Einspruch gegen die Vereinnahmung des Nichtidentischen im Gegenstand des Begriffs, hält er auch an der epistemologischen Enthaltung bezüglich der „Welt“ im Ganzen und einer möglichen Totalität der Erkenntnis fest. Dabei ist der Begriff des Nichtidentischen in Bezug auf Hegel – schließlich hebt dieser ja auf die Nichtidentität im Einzelbegriff bzw. im endlichen Urteil ab – ähnlich ambivalent wie der der Totalität. Allerdings geht im Hinblick auf die Totalität des Systems wohl die Rechnung nicht ganz auf, will man derart Kant gegen Hegel ausspielen. Die Unterscheidung von esprit systématique und esprit de système – die Adorno für ausschlaggebend hält (vgl. GS 6, 35) – ist mit der von kritischer, transzendentaler Methode und Spekulation nicht deckungsgleich. Der entscheidende Unterschied des Systemdenkens zum systematischen Denken besteht in besagter notwendiger Herleitung der Begriffe. Cassirer (2000, 370) hat das treffend formuliert: „Auch die transzendentale Methode verlangt eine vollständige, auf apriorischen Grundsätzen beruhende Systematik der Grundbegriffe; – aber sie enthält kein systematisches Ableitungsprinzip, kraft dessen sich ein Begriff aus dem anderen entwickelt.“ Es genüge Hegel nicht, „die ‚mögliche Erfahrung‘ – dies Wort in seinem weitesten Sinne genommen – zu umgrenzen und zu bedingen: sondern die wirkliche will begriffen, will aus der reinen Idee abgeleitet sein“¹⁵. Einer solchen konsistenten Ableitung widerspricht die Idee einer intermittierenden Dialektik. Die Konzeption von Philosophie, die das Kierkegaardbuch zwischen den Zeilen entwirft, „unterscheidet von Wissenschaften sich nicht sowohl als eine oberste, die die allgemeinsten Sätze der subordinierten systematisch zusammenfaßte. Sondern sie konstruiert Ideen, welche die Masse des bloß Seienden erhellen und aufteilen und um welche der Erkenntnis die Elemente des Seienden anschießen. Diese Ideen stellen in den dialektischen Begriffen sich dar“ (GS 2, 10 – 11). „Konstruktion“ oder „Komposition“ stehen im Frühwerk für die Alternative zu ihrer lückenlosen Herleitung ein. An den Begriffen selbst ist aber festzuhalten im Bewusstsein ihrer Unzulänglichkeit. Sie sind, Adorno zitiert hier Lukács¹⁶, notwendig einseitig, abstrakt und falsch und heben sich als solche vor dem Hintergrund einer negativen Unendlichkeit bzw. Totalität ab. Diese Einsicht ist das kritische Erbe der hegelschen Logik. Somit ist deutlich geworden, was Adorno damit meint, dass die Idee der Unendlichkeit einerseits vom Idealismus zu übernehmen und andererseits „umzufunktionieren“ sei. In der Einleitung der Negativen Dialektik resümiert er diesen Anspruch in einem Vorgriff auf seine Durchführung im Buch und zeigt dabei den Zusammenhang sämtlicher Bestimmungen auf, die bisher erörtert wurden: Abzulehnen ist die Totalität des Systems und zugleich daran festzuhalten, dass sich Philosophie als eine unendliche Cassirer 2000, 365. Siehe hierzu Pätzold 2002, v. a. 93. Aus dem ersten Vorwort zu Geschichte und Klassenbewußtsein (Lukács 1986, 56). Er verweist im Vorwort von 1967 übrigens auch auf seine frühe Beschäftigung mit Kierkegaard und dessen Hegelkritik, der er vor dem Ersten Weltkrieg einen Aufsatz widmen wollte (Lukács 1986, 6).
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Folge von Sätzen darstellen muss. Er sieht darin den wissenschafts- oder genauer reduktionismuskritischen Impuls der hegelschen Dialektik: „Nicht ist es an Philosophie, nach wissenschaftlichem Usus zu erschöpfen, die Phänomene auf ein Minimum von Sätzen zu reduzieren; Hegels Polemik gegen Fichte, der von einem ‚Spruch‘ ausgehe, meldet das an.Vielmehr will sie buchstäblich in das ihr Heterogene sich versenken, ohne es auf vorgefertigte Kategorien zu bringen“ (GS 6, 24). Daran sind Phänomenologie und Lebensphilosophie ihm zufolge gescheitert: „Beide Ausbruchsversuche gelangten nicht aus dem Idealismus heraus“ (GS 6, 21). Ihrem kritischen Anspruch stimmt er aber zu. Husserl (1996, 32) führt in der Krisisschrift – auf die sich auch die Dialektik der Aufklärung an prominenter Stelle beruft (GS 3, 41– 42) – vor, warum die mathematisierte Naturwissenschaft dort noch Erfolg hatte, wo Hegel mit seinem Programm der Philosophie als Wissenschaft scheitern musste: „Die Welt ,philosophisch‘, ernstlich wissenschaftlich erkennen, das kann nur Sinn und Möglichkeit haben, wenn eine Methode zu erfinden ist, die Welt […] von dem geringen Bestande des jeweils in direkter Erfahrung und nur relativ Festzustellenden aus systematisch, gewissermaßen im Voraus, zu konstruieren und diese Konstruktion trotz der Unendlichkeit zwingend zu bewähren.“ Zumindest dem Szientismus soll so die „Welt“, über Kant und auch Hegel hinaus, tatsächlich als solche zum Gegenstand werden. Was vorab bloße Konstruktion sein mag, lässt sich doch empirisch bewähren – allerdings je, das ist das Entscheidende, nur im Einzelnen und in einem Abschnitt des Zeitablaufs. Wird diese Beschränkung bzw. die Differenz, die ihr zugrunde liegt, eingezogen, wird der Erkenntnisanspruch totalitär. Der Begriff der Konstruktion hat bei Adorno wie beschrieben einen anderen Sinn: den einer Konstellation, die das Feld möglicher Erkenntnis nicht zur Gänze absteckt, sondern, wie er es im Kierkegaardbuch darstellt, vielmehr deren Kristallisationspunkt ist (GS 2, 10 – 11). Eine solche „Mikrologie“ erübrigt aber nicht die für Dialektik weiterhin konstitutive Totalitätsbestimmung. Vielmehr will sie nicht nur dem irreduzibel Besonderen, sondern auch dem Ganzen selbst im Einzelnen gerecht werden: „Erst Fragmente als Form der Philosophie brächten die vom Idealismus illusionär entworfenen Monaden zu dem Ihren. Sie wären Vorstellungen der als solchen unvorstellbaren Totalität im Partikularen“ (GS 6, 39). Dadurch verändert sich ihr Begriff, der nun lediglich als „hermeneutische[r] Vorgriff auf das Ganze“ (Schäfer 2004, 106) dienen kann. Allerdings ist es für Adorno nicht unproblematisch, überhaupt von einem Vorgriff zu reden, weil damit Totalität – er bezieht sich hier in der angedeuteten Weise auf Kant – als „prinzipiell durch Gegebenheiten zu erfüllendes“ (GS 8, 315) versprochen zu werden scheint. Einen im weitesten Sinne transzendentalen Begriff von Totalität macht sich auch Habermas (1996, 349) zu eigen, wenn er die Lebenswelt bestimmt, als „Totalität, die die Identitäten und lebensgeschichtlichen Entwürfe von Gruppen und Individuen ermöglicht“ und die als solche nur präreflexiv gegenwärtig sei, aber praktisch in Anspruch genommen werde.¹⁷ Adorno geht es um etwas anderes, was sich an der zweiten Be-
Die Lebenswelt bleibt den Beteiligten als „unzerlegbarer holistischer Hintergrund im Rücken“ (Habermas 1996, 348).
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stimmung, dem Hermeneutischen, erschließen lässt: „Deuten heißt primär: an Zügen sozialer Gegebenheit der Totalität gewahr werden“ (GS 8, 315). Darin liegt aber ein Dilemma. Denn einerseits sagt er damit aus, dass am Einzelphänomen das Ganze aufgetan und also nicht vorab jenes aus diesem als Moment abgeleitet werden soll. Gleichwohl setzt das die Vermitteltheit mit einer gesellschaftlichen Totalität voraus, die zumindest als solche schon erschlossen sein muss. Sommer (2016, 76 – 77) löst diesen vermeintlichen Widerspruch auf, indem er das Verhältnis als ein komplementäres, d. h. hermeneutisches von Mikrologie und umfassender soziologischer Analyse versteht. Ich belasse es hier bei diesen Andeutungen, da, was das konkret bedeuten kann, am Individuum und seinem Verhältnis zur gesellschaftlichen Allgemeinheit ausführlich erörtert werden wird. Adorno spricht in diesem Zusammenhang deutlich aus, dass solche „mikrologische Versenkung“ eine tendenziell totale Vergesellschaftung zur Bedingung hat (GS 6, 90). Sommer hat jedenfalls völlig recht, dass die Mikrologie nicht, wie in der Literatur gerne behauptet, zur dialektischen Bestimmung der Totalität im Widerspruch steht, sondern diese vielmehr ihre Voraussetzung ist.¹⁸ Er verweist auch darauf, dass Adorno vor diesem Hintergrund Benjamin kritisiert – ob nun zu Recht oder nicht sei hier dahingestellt –, dem er das Verfahren ja wesentlich verdankt: „Den Gedanken der universalen Vermittlung, der bei Hegel wie bei Marx die Totalität stiftet, hat dabei seine mikrologische und fragmentarische Methode nie ganz sich zugeeignet“ (GS 10/1, 247). Benjamin starre bloß unbeirrt auf „die kleinste Zelle angeschauter Wirklichkeit“ (GS 10/1, 247). Das Verweilen beim Einzelnen – das in der erörterten Weise auch der Dynamik dialektischer Bewegung gilt, die über dieses bei Hegel hinweggehe – hat für Adorno zum Ziel, dass darüber, schaut man nur lange genug hin, dessen „Isoliertheit“ zerfällt (GS 4, 83).
1.3 Zur Totalität des Verblendungszusammenhangs Was einen kritischen Begriff von Totalität ausmacht, zeigt sich insbesondere an dem von Adorno behaupteten allumfassenden Verblendungszusammenhang. Im Grunde impliziert das ja bereits sein in sich paradoxer Begriff. Denn die Verblendung kann insofern nicht total sein, als sie sich erst aus ihrem anderen, dem Wahren, als solche bestimmt. Mit der Totalität dieses Zusammenhangs behauptet Adorno nicht, dass eine Erkenntnis dessen, was jenseits davon liegt, ausgeschlossen wäre – und damit zugleich die Einsicht, dass es sich dabei um eine Täuschung handelt. So lautet ja das gängige Missverständnis. Beispielhaft ist hier aus jüngster Zeit etwa die Einschätzung Hennings. Zwar stimme ich ihm darin zu, dass die These als eine von umfassender Entfremdung gedeutet werden muss, schließlich spricht Adorno ausdrücklich von einem „universalen Verblendungszusammenhang von Verdinglichung“ (GS 7, 252). Auch ist es richtig, sie in der „marxistischen Theorielinie“ im Hinblick auf eine, wie Henning (2015, 20) es ausdrückt, um-
Am weitesten wagt er sich vor mit der Behauptung, dass Adorno Hegel mit den „Modellen“ der Negativen Dialektik auch im systematischen Anspruch noch beerbe (Sommer 2016, 80 – 85).
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fassende kapitalistische „Landnahme“ zu verstehen, die alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringt – und eben auch das Bewusstsein. Allerdings wendet er sogleich ein: „Das ist eine starke These. Sie hinkt schon insofern, als man von einer völligen Entfremdung gar nicht wissen könnte – denn wüsste man von ihr, wäre sie nicht allumgreifend“ (Henning 2015, 20). Diese Bemerkung ist in etwa so erhellend, wie der Vorwurf an Hegel, dass das spekulative Denken, das Identität als eine von Identität und Nichtidentität begreift, gegen den Satz vom Widerspruch verstoße. Ihm und Adorno geht es darum, Totalität zu denken. Aber die Frage ist eben, auf welche Weise das geschieht. Die Totalitätsbestimmung als solche diskreditiert einen theoretischen Entwurf noch nicht – auch wenn ehrlicherweise hinzugefügt werden muss, dass Adorno selbst ähnlich verfährt, wenn er über eben diese Bestimmung mitunter recht pauschal seinen (epochenübergreifenden) Idealismusvorwurf begründet. Ich meine, dass in Bezug auf den universalen Verblendungszusammenhang Adornos Kritik auf eben die Totalität zielt, die diesem selbst als Anspruch, alle Realität zu sein, innewohnt. Er ist insofern wesentlich Immanenzzusammenhang und die Denkfigur Ausdruck immanenter Kritik, die diese Totalität in der Perspektive ihrer Überwindung reflektiert. Im Verblendungszusammenhang zeigt sich das Prinzip der Verselbständigung: Die menschengemachten Verhältnisse erscheinen ihrer Geltung nach als notwendig oder quasi-natürlich, bzw. historisch als gottgegeben – und damit als nicht veränderbar. Allumfassend ist dieser Zusammenhang allein schon deshalb, weil er die menschliche Kultur als solche, d. h. im nichtemphatischen Sinne, inklusive sämtlicher Praxisformen, sprachlicher und nichtsprachlicher, umfasst. Die Täuschung bedeutet dabei vor allem eine Abstraktion davon, dass Gesellschaft – im Grunde eine Selbstverständlichkeit – je in Entwicklung begriffen ist. Das gilt im Hinblick auf die Genese des Gegenwärtigen und seinen Geltungsanspruch – Verdinglichung als Vergessen (GS 3, 263) –, aber auch für die Zukunft, also die (Un‐)Möglichkeit von Veränderung. Nun bedürfte es einerseits, wie Adorno meint, „nur einer geringen Anstrengung des Geistes, den zugleich allmächtigen und nichtigen Schein von sich zu werfen“ (GS 8, 477). Es wäre ja nur die Einsicht nötig, dass diese Verhältnisse unser Produkt sind. Andererseits sind sie eben auch transsubjektiv real als gesellschaftliche Objektivität und ganz real ist auch der heteronome Zwang, den sie als „Objektivität, die auf dem Subjekt lastet“ ausüben. Die individuelle Selbstverblendung ist aus dieser Perspektive eine Folge davon. Zwar täuschen sich die Einzelnen darin nicht notwendig, d. h. zwanghaft selbst. Ansonsten könnte Adorno ja nicht mehr von einem Schein sprechen und die Möglichkeit der Veränderbarkeit dessen was ist – und was wir je sind –, wäre schlicht undenkbar. Aber diese Täuschung nähert sich insofern einer Notwendigkeit an, als sie die Not wendet. Um dieses Problem, also die Tendenz zu einer schlechten Totalisierung, die es doch zu vermeiden gilt, soll es im Folgenden gehen. Sie kann die Form einer Psychologisierung, Anthropologisierung oder einer Entsubjektivierung im Sinne eines materialistischen Reduktionismus, also der Widerspiegelungstheorie, annehmen. Dass Verblendung unter dem Aspekt der Notwendigkeit psychopathologischen Fällen nahesteht, ist deshalb ein Problem, weil der Zwangscharakter gerade das Diffe-
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renzkriterium ist, das sie von Selbsttäuschung scheidet.¹⁹ Diese Schwierigkeit der Unterscheidung entspricht in gewisser Weise der grundlegenden Ambivalenz der Abwehrmechanismen des Ichs, auf die Adorno gerne zurückgreift. Darunter werden in der Psychoanalyse ja nicht per se pathologische oder dysfunktionale Prozesse bezeichnet. Vielmehr umfassen sie ein breites Spektrum mehr oder weniger reifer Reaktionsweisen. Das gilt auch für die von Anna Freud (1964, 85 – 94) eingeführte „Identifizierung mit dem Angreifer“, die bei Adorno besonders häufig anklingt und die als Abwehrmechanimus selbst wieder mehr oder weniger harmlose Formen annehmen kann. Die Verblendung, um die es ihm geht, ist in allen ihren divergierenden Formen auf einen Anpassungsdruck – nicht aber schon Anpassungszwang – zurückzuführen. Entsprechend kritisiert Adorno auch die Psychoanalyse hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Funktion, dass sie eben der Anpassung diene. Daher ist sie, für sich genommen, ungeeignet, eine Erklärung für die sozusagen subjektive Seite des universalen Verblendungszusammenhangs im Sinne Adornos zu liefern, zumal sie im Grunde keinen Begriff von der Autonomie des Menschen hat, was ja Selbsttäuschungen im eigentlichen Sinne ausschließt.²⁰ Er formuliert das als Entfremdungskritik: „Sie entäußert ihn seiner selbst, denunziert mit seiner Einheit seine Autonomie und unterwirft ihn so vollends dem Rationalisierungsmechanismus, der Anpassung“ (GS 4, 71). Selbsterhaltung und Selbsttäuschung Die Verblendung, von der Adorno spricht, erleichtert es nun den Einzelnen mindestens, in der als naturhaft affirmierten Gesellschaft Erfolg zu haben, sich also vom Bewusstsein ihres antagonistischen Charakters zu entlasten. Bei weniger glücklichen (psycho‐) sozialen Rahmenbedingungen ist sie aber schlicht nötig, um in ihr zu überleben – ohne dass damit die halbbewusst affirmierten Verhältnisse in irgendeiner Weise gerechtfertigt würden. Das muss aber nicht unbedingt im Zusammenhang mit einem niedrigen sozioökonomischen Status stehen. So kann paradoxerweise übermäßiger Leistungsdruck eine entsprechende Wirkung entfalten,²¹ obwohl dabei doch das Leid zunächst unmittelbar erfahren wird. Aber das ist, wie bereits angesprochen, eben das Charak Vgl. Wesche 2011, 122: „Freiheit ist ihre differentia specifica gegenüber Irrtümern und Zwangsvorstellungen.“ Wesche (2011, 92) kommt daher zu folgendem Schluss: „Das psychoanalytische Modell lässt die Frage unberührt, ob es möglich ist, aus Freiheit eine Bereitschaft zum Abbau von Täuschungen verweigern zu können.“ Nicht ohne Grund entwickelt Sartre (1994, 124– 132) seine Theorie der Selbsttäuschung – bzw. der Unaufrichtigkeit, „mauvaise foi“ – aus einer Kritik am Drei-Instanzen-Modell der Psychoanalyse. Vgl. Wesche 2018, 92– 93. Er grenzt allerdings solche Formen, die durch „sozioökonomische Faktoren verursacht werden“, ab von Selbsttäuschung im eigentlichen Sinne, von denen Adorno, wie er zu Recht feststellt, „keine tragfähige Theorie“ ausgearbeitet habe (95). Ich meine, dass eine systematisch befriedigende Grenzziehung in seinem Fall schwierig wird, da ja alles durch sozioökonomische Faktoren mitverursacht wird. Mir geht es ohnehin um etwas anderes: Das Konzept der Selbsttäuschung eignet sich in besonderer Weise dazu, einerseits verständlich zu machen, wie Adorno einen problematischen Begriff von Totalität aufbricht und andererseits, um Bezüge zu Kierkegaard aufzuzeigen. Dabei muss ich eine gewisse Unschärfe bisweilen in Kauf nehmen.
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teristische, dass hierauf durch ein sich Unempfindlichmachen dem eigenen Leid, wie dem Leid anderer gegenüber, reagiert wird – gewissermaßen als notwendige Überlebensstrategie. Sie bedeutet als solche immer eine Selbstverleugnung – d. h. wesentlich eine Verleugnung der eigenen Bedürfnisse, zumindest als unmittelbarer –, die sich „prototypisch“, wenn auch in weitaus heroischerer Form, bereits bei Odysseus zeigt. Das wirft jedoch die Frage auf, ob spezifische Anpassungsweisen und -erfodernisse damit nicht gleichsam anthropologisiert werden. Und besteht nicht darin eine möglicherweise problematische Totalisierung, die die Diagnose moderner Verhältnisse vielmehr entschärft? Im ersten Exkurs der Dialektik der Aufklärung, wo sich der Begriff der Selbsterhaltung wohl so oft wie nirgends sonst bei Adorno findet, blendet er ja nicht nur vormoderne, sondern „urgeschichtliche“ Verhältnisse und die entwickelten kapitalistischen ineinander. Auch der Mythos als Vorform von Rationalität ist bereits Mittel der Selbsterhaltung, allerdings in chiffrierter Form: „Die einfache Unwahrheit an den Mythen aber, daß nämlich Meer und Erde wahrhaft nicht von Dämonen bewohnt werden, Zaubertrug und Diffusion der überkommenen Volksreligion, wird unterm Blick des Mündigen zur ‚Irre‘ gegenüber der Eindeutigkeit des Zwecks seiner Selbsterhaltung, der Rückkehr zu Heimat und festem Besitz“ (GS 3, 64). Während Heimatlosigkeit, wie im ersten Kapitel erörtert, doch gerade die Situation des sich emanzipierenden mündigen Bürgers metaphorisch beschreibt, zielt dessen Bedürfnis zugleich aufs Gegenteil, auf Sicherheit und Bestimmtheit. Gerade in ihrer vermeintlichen Eindeutigkeit fällt Aufklärung in Mythos zurück – d. h., wo sie von dem der Selbsterhaltung zugrundeliegenden Widerspruch und seiner Genese abstrahiert. Nicht nur ist sie in ihrer konkreten Gestalt historisch geworden und reproduziert. Es bedarf ja kaum der Erwähnung, dass sich die Logik der Selbsterhaltung auf ganz unterschiedlichen Statusniveaus geltend macht. Dabei zeichnet sich die Moderne gerade dadurch aus, dass der Erhalt des gegenwärtigen Zustands, im Ganzen wie im Einzelnen, eine ständige Steigerung des Einsatzes dazu erfordert. Heimat und fester Besitz können als solche gerade nicht erreicht, sondern nur angestrebt werden. Die Irrfahrt setzt sich unentwegt fort. Wer in diesem Streben aber nachlässt, dem droht der Status quo minus. Marx hat diese Dynamik in der Einsicht formuliert, dass die gesellschaftliche Reproduktion unterm Primat einer Akkumulation und Expansion des Kapitals steht. Sie wurde nach ihm, in jüngster Zeit am prominentesten von Hartmut Rosa, ebenso verallgemeinert wie konkret auf sämtliche Bereiche des Sozialen angewandt. In dieser Perspektive ist Selbststeigerung Mittel zum Zweck der Selbsterhaltung und nicht umgekehrt. Aber das ist eben geschichtlich aufzufassen und nicht als anthropologisches oder metaphysisches, d. h. teleologisches Prinzip misszuverstehen und damit festzuschreiben. Damit entbindet es die Einzelnen auch nicht aus ihrer Mitverantwortung. Sich – insbesondere inmitten von Wohlstand – einzig auf Selbsterhaltung wie auf ein Naturgesetz zu berufen, um das eigene Verhalten zu legitimieren, ist weniger ehrlich als vielmehr zynisch. Adorno schlägt, wo er diese Steigerungslogik in der Einleitung der Negativen Dialektik besonders prägnant formuliert, eine Brücke zum spekulativen Systemdenken. Nicht nur ist wie erörtert die Unendlichkeit von der hegelschen Totalität des Systems zu
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befreien, dieses selbst scheint von einer schlechten Unendlichkeit versklavt, die der ökonomischen gleicht: Die Antinomie von Totalität und Unendlichkeit – denn das ruhelose Ad infinitum sprengt das in sich ruhende System, das doch der Unendlichkeit allein sich verdankt – ist eine des idealistischen Wesens. Sie ahmt eine zentrale der bürgerlichen Gesellschaft nach. Auch diese muß, um sich selbst zu erhalten, sich gleichzubleiben, zu ‚sein‘, immerwährend sich expandieren, weitergehen, die Grenzen immer weiter hinausrücken, keine respektieren, sich nicht gleichbleiben. Man hat ihr demonstriert, daß sie, sobald sie einen Plafond erreicht, nicht länger über nichtkapitalistische Räume außerhalb ihrer selbst verfügt, ihrem Begriff nach sich aufheben müßte. (GS 6, 37)
Hegel ahmt also die Kolonialisierung durch die Verwertungs- und Steigerungslogik in einer nicht weniger totalen Vernunft gewissermaßen nach. Dass der Grundwiderspruch zwischen Dynamik und Statik – darum geht es ja schon in der Konstruktion des Ästhetischen, wo Hegels Dialektik durch Benjamin und Kierkegaard korrigiert werden soll – derart im Zentrum seines Denkens steht, ist für Adorno aber sein Vorzug. Im Versuch ihn theoretisch zu bewältigen, hält Hegel ihn ja als solchen zunächst fest. In dieser Hinsicht intellektuell weniger redlich, bewältigt der „intransigente Nominalismus“ (GS 6, 215) das Problem, indem er den Widerspruch undialektisch ausschließt: „Daß er objektive Antinomien nach logischem Kanon ins Bereich der Scheinprobleme relegiert, hat seinerseits gesellschaftliche Funktion: Widersprüche durch Verleugnung zuzudecken. Indem man sich an Daten hält oder deren zeitgemäße Erben, die Protokollsätze, wird das Bewußtsein von dem entlastet, was dem Äußeren widerspricht“ (GS 6, 215). Und dieser gesellschaftlichen Funktion nach ist er eben Ideologie im klassischen Sinne – aber eine, die ihrerseits alles, was sich ihr nicht fügt, selbst als ideologisch diffamiert. Ideologie und bürgerliche Selbstkritik Am Ideologiebegriff zeigt sich insofern, dass sich die Kategorie der Totalität dort disqualifiziert, wo sie sich als widerspruchslose behaupten will. Von Ideologie als „gesellschaftlich notwendige[m] Schein“ kann Adorno zufolge „einzig im Hinblick auf das gesprochen werden, was kein Schein wäre und was freilich im Schein seinen Index hat“ (GS 6, 198). Und er fährt fort: „Das Alles des unterschiedslos totalen Ideologiebegriffs dagegen terminiert im Nichts. Sobald er von keinem richtigen Bewußtsein sich unterscheidet, taugt er nicht länger zur Kritik von falschem“ (GS 6, 198). Gerade deshalb kann auch der Verblendungszusammenhang immer nur tendenziell total sein.²² Ansonsten
Wie zentral überhaupt das Konzept der „Tendenz“ für Adornos Überlegungen im Spannungsfeld von (Geschichts‐)Philosophie, Psychologie und Gesellschaftstheorie ist, wird gerne übersehen. Von Tendenz lässt sich ihm zufolge erst dann sprechen, wenn eine Gesellschaft bereits den Charakter eines geschlossenen, alles in sich integrierenden Systems angenommen hat. Dabei eignet dem Begriff aber das Doppeldeutige, dass er eben auch impliziert, dass die Gesellschaft in ihrem Sosein nicht aufgeht. Vgl. hierzu NL 4/12, 37– 39.
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würde er seinen ideologischen, d. h. scheinhaften Charakter verlieren und in die real existierenden Verhältnisse eingehen. Das behauptet Adorno allerdings gerade vom spätkapitalistischen Ideologiebegriff: „Die Ideologie, der gesellschaftlich notwendige Schein, ist heute die reale Gesellschaft selber, insofern deren integrale Macht und Unausweichlichkeit, ihr überwältigendes Dasein an sich, den Sinn surrogiert, welchen jenes Dasein ausgerottet hat“ (GS 10/1, 26). Scheint so die für sie konstitutive Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit auch eingezogen zu sein, so bleibt sie Ideologie, indem sie – so widersinnig das auch sein mag – mangels Alternative eben zum Sinnsurrogat wird und fortwirkt in ihrer Über-Ich-Funktion, d. h. in ihrer Forderung nach Gehorsam. Daher führt Adorno ja die Verblendung mit Selbsterhaltung eng. Das Problem, dass Ideologie in den gesellschaftlichen Immanenzzusammenhang selbst einwandert, wird, wenngleich unter anderen ideen- und realgeschichtlichen Voraussetzungen, bereits von Kierkegaard reflektiert. Unter „Nivellierung“ versteht er – in theologischer, gesellschafts- und idealismuskritischer Perspektive – stets einen Verlust an Transzendenz. Jene Diagnose zeigt sich aber auch in der „Verzweiflung der Notwendigkeit“, wie sie idealtypisch der „Spießbürger“ verkörpert, der eben auf die Geltung eines Ideals keinen Anspruch mehr erhebt. Diese Übereinstimmung betont auch Deuser und weist dabei zugleich das Missverständnis zurück, die Totalität, von der Adorno spricht, sei totalitär aufzufassen: „Nicht Adorno hat eine deterministische Denkstruktur erfunden […], sondern die ideologiekritisch analysierten Verhältnisse wirken, als wären sie nicht mehr zu sprengen – und das war explizit Kierkegaards Meinung.“²³ Im Begriff des Verblendungszusammenhangs ist Adorno zwar offensichtlich auf die Analyse des Fetischcharakters im Kapital bezogen, er geht jedoch, ähnlich wie viele seiner Zeitgenossen und bereits Lukács vor ihm, entscheidend über Marx hinaus. Vor diesem Hintergrund bekommt auch Kierkegaards psychologische Durchdringung der Existenzverhältnisse eine besondere Bedeutung als Komplement der Kritik der politischen Ökonomie. Andererseits wird sie natürlich, aber das ist ohnehin offensichtlich, durch den Historischen Materialismus ebenso relativiert, wie erst hinsichtlich ihrer Erkenntnisfunktion offengelegt. Das gilt nun nicht nur für Kierkegaard, sondern überhaupt für die bürgerliche Sozialkritik des (langen) neunzehnten Jahrhunderts, die in Adornos Überlegungen oft einen erstaunlich großen Raum einnimmt. Entsprechend meint er etwa – wobei unklar bleibt, ob er sich hier auf Ibsen oder dessen fiktive Protagonistin bezieht – im Aphorismus über Hedda Gabler: „Darum fallen in der Tat die Motive der unnachgiebigen bürgerlichen Selbstkritik zusammen mit den materialistischen, welche jene zum Bewusstsein ihrer selbst bringen“ (GS 4, 107). Derart wird auch Kierkegaards Gesellschaftskritik ihr sozial- und ideengeschichtlicher Ort zugewiesen, indem er sozusagen mit Marx ins Gespräch gebracht wird. Darum soll es abschließend gehen. Dabei bekommt der Nonkonformismus nun eine ganz bestimmte Funktion im Hinblick auf den hier zur Diskussion stehenden Verblendungszusammenhang. Repro-
Deuser 1983, 103. Er bezieht sich mit dieser Kritik auf den Beitrag von Kodalle im selben Band.
1 Totalität als kritisch-hermeneutischer Begriff
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duziert er sich nach seiner subjektiven Seite wesentlich über den Anpassungsdruck, so sieht Adorno darin eine, wenn auch beschränkte, Möglichkeit, diesen vermeintlichen Mechanismus auszuhebeln – und zwar in einer Haltung, die die Gestalt einer „kontrafaktischen Hoffnung“²⁴ annimmt. Jedenfalls lässt Adorno keinen Zweifel daran, dass einerseits das, was Kierkegaard als Nivellierung bezeichnete, sich diesem in ähnlicher Weise zu einer totalen Immanenz zusammenzuschließen schien: „War ihm das Ganze, als Totalität und System, der absolute Trug, so hat er es mit dem Ganzen aufgenommen, in das er eingespannt war wie alle. Das ist exemplarisch an ihm“ (GS 2, 258). Andererseits meint er vor diesem Hintergrund, dass Kierkegaards Angriff auf die dänische Staatskirche vor allem einer Anpassungsdynamik gilt. Als Opportunismus und vorauseilender Konformismus ist sie subjektiv-moralisch zurechenbar. So stellt Adorno, wo er sein Engagement als „Deckbild von Revolution“ deutet, fest: „Sollte es schon so sein, so wollte er wenigstens nicht sich anpassen, wie unterdessen die Zauberformel lautet; Fähigkeit zur Anpassung war sein Hauptvorwurf gegen den verstorbenen Bischof Mynster.“²⁵ Das erklärt aber noch nicht, in welchem Verhältnis der gesamtgesellschaftliche Schein zu den Formen individueller Selbstverblendung steht. Zweifellos sind sie, wie bei Ibsen, in soziale Zusammenhänge eingebettet und seine Dramen, insbesondere unter dem Aspekt der „Lebenslüge“ (vgl. GS 4, 173), in der Tat eine reiche Fundgrube. Deshalb greift Adorno, ähnlich wie übrigens auch Ernst Bloch, so gerne auf sie zurück.²⁶ Dennoch widerspricht die Diagnose der Selbsttäuschung zunächst der materialistischen Ätiologie der Verblendung. Adorno müsse, so Wesche (2018, 108), „zwei Seiten zusammenführen, die scheinbar unvereinbar sind“.²⁷ Er führt ihn daher in ein zweistufiges Konzept über. In einem ersten Schritt untersucht er Verblendung in moralischer Hinsicht als Gleichgültigkeit. Darunter ist, wie zum Ende des vorherigen Kapitels erörtert, zu verstehen, dass man sich gegenüber der eigenen Not und den eigenen Bedürfnissen, mehr noch aber denen der anderen, verhält, als ob sie einen nichts angingen. Sofern diese Gleichgültigkeit selbstverursacht ist, kann sie auch berechtigterweise zum Gegenstand moralischer Forderungen werden. Wenn man das aber zugesteht, anstatt sie, etwa im Sinne der berüchtigten Widerspiegelungstheorie, allein aus den ökonomischen Verhältnissen abzuleiten, muss man diese Diagnose zusammenbringen mit der scheinbar
Wesche 2012, 50; vgl. Wesche 2018, 187– 204. GS 2, 256. Er verweist auf den Zeitungsartikel „Zwei neue Wahrheitszeugen“: A, 30 – 32 / SKS 14, 147– 148. Es ist kein Zufall, dass es kurz nach Adornos Tod zu einer wahren Ibsen-Renaissance kommt, während er noch in den 1960er-Jahren weitgehend als überholt galt.Vgl. hierzu: Kindermann 1978, 165.Versteht man sein Werk als „Kritik der bürgerlichen Lebenslüge“ überhaupt (168), so steht er in der Tat an der Schwelle zur materialistischen Perspektive auf den gesellschaftlichen Schein. Es ist ein Verdienst seiner Einführung und anderer jüngerer Arbeiten zu Adorno, dass sie klar differenzieren, was bei diesem ein schwer zu entwirrendes Geflecht unterschiedlicher Perspektiven bildet. Das hat freilich Methode. Sie sollen sich wechselseitig erhellen, indem sie, wie zuvor am Odysseus-Exkurs erläutert, direkt ineinander geblendet werden. Das führt aber dazu, dass die Selbsttäuschung bisweilen, in ihrer (anthropologisierenden) Engführung mit Selbsterhaltung, den Charakter einer Notwendigkeit annimmt, den ihr Adorno der Sache nach sicherlich nicht zugestehen will.
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ihr widersprechenden, Gleichgültigkeit werde „durch eine kapitalistische Gesellschaftsordnung bewirkt“ (Wesche 2018, 108). Das ist die zweite Seite. Die Lösung liegt nun darin, Erkenntnis- und Gesellschaftskritik zusammenzudenken: „Der Kapitalismus selbst erzeugt einen Schein, der seine sozialen Pathologien verhüllt“ (Wesche 2018, 108). Das hat freilich bereits Marx behauptet, am prominentesten in der Analyse des Fetischcharakters der Ware. Diese Einsicht wird aber bei Adorno in wesentlicher Hinsicht erweitert: Erstens in der besagten, bei aller Kritik auch psychoanalytisch geschulten Reformulierung des Ideologiebegriffs; zweitens im Ausgreifen auf die „Urgeschichte“ des Menschen, in seiner anthropologischen Erweiterung; drittens in der Ergänzung um die Analyse der Kulturindustrie²⁸ und viertens, worauf Wesche besonders abhebt, in der Aufdeckung der sinnstiftenden Funktion von Privateigentum für das Individuum – ein Aspekt, der in der Adornoforschung bisher kaum beachtet wurde. Fünftens erweitert Adorno den marxschen Ansatz aber ebenso, indem er, wie sich gezeigt hat, die Untrennbarkeit von Erkenntnis- und Gesellschaftstheorie an unterschiedlichen ideengeschichtlichen Modellen von Kant bis Kierkegaard demonstriert. Auch das hat gleichwohl schon ein Vorbild in der Kritik der Deutschen Ideologie. Totalität kann nun entsprechend jener doppelten Perspektive auf Verblendung ebenfalls zweierlei bedeuten. In gesamtgesellschaftlicher Hinsicht hat der Begriff bei Adorno einen ideologiekritischen und hermeneutischen Sinn. Damit das aber denkbar ist – und somit Veränderung im emphatischen Sinne –, muss eine Differenzbestimmung zum Totalitären eingeführt werden. Und die ergibt sich meines Erachtens aus der Abwesenheit von Totalität hinsichtlich der Täuschung, die sich im Selbstverhältnis der Einzelnen vollzieht. Hier wäre sie total, sofern sie eben nicht auch „selbstverursacht“ ist, d. h. aus Freiheit hervorgeht, sondern entweder psychopathologisch „durch innere Unverfügbarkeiten“ bewirkt, oder eben „durch äußere Umstände fremdverursacht“ wird (Wesche 2018, 93). Und nur ein solcher Fall von Selbsttäuschung ist auch moralisch zurechenbar. Das erklärt wohl die bedingte Rehabilitierung der Moralphilosophie gegenüber der marxschen Perspektive ihrer vernichtenden Kritik, die allerdings erst in jüngerer Zeit durch die Adornoforschung wirklich gewürdigt wurde.²⁹ Denn ohne ihr zumindest einen gewissen Spielraum zuzugestehen, wäre alles der schlechten Totalität überantwortet, die er – im Rückgriff auf Kierkegaard – an der Geschlossenheit der Dialektik bei Marx kritisiert.
Solche Verblendung zeigt sich hier exemplarisch: „Anpassung tritt kraft der Ideologie der Kulturindustrie anstelle von Bewußtsein“ (GS 10/1, 343). Gerade die Veröffentlichung seiner Vorlesung Probleme der Moralphilosophie (1963) im Jahr 1996 hat dazu beigetragen. Neben der bereits erwähnten Untersuchung Gerhard Schweppenhäusers von 1993 – hier zitiert nach der zweiten, überarbeiteten Auflage (2016) – sind die Arbeiten von Wischke (1993 u. 1994) zu nennen; außerdem: Kohlmann (1997). Ein Überblick über die Adornoforschung zu diesem Aspekt (11– 17) und eine Kritik der „Unangemessenheit der vorherrschenden Interpretationsmuster“ (17– 27) findet sich bei Knoll (2002).
2 Die Totalisierung der Entfremdung bei Marx und Adorno
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2 Die Totalisierung der Entfremdung bei Marx und Adorno 2.1 Entzweiung der bürgerlichen Gesellschaft und Entbindung des Individuums Die Zeitdiagnose, die Adorno und Kierkegaard mit der Behauptung eines totalen Verblendungszusammenhangs bzw. einer umfassenden Nivellierung stellen – dass die Verhältnisse so wirken, als seien sie nicht zu ändern –, soll im Folgenden um die Erklärung ihrer Genese erweitert werden. Das geschieht sowohl in ideen- als auch in realgeschichtlicher Hinsicht. Es geht darum, zu verstehen, wie Adorno Marx’ Beschreibung der Entbindung des Individuums im Übergang zur Moderne derart über sich hinaustreibt, dass sie in bestimmter Hinsicht in ihr Gegenteil umschlägt: als „radikale Vergesellschaftung“ (GS 3, 81), die Adorno ja mit Entfremdung identifiziert, d. h. als nivellierende Integration, die auch das Bewusstsein umfasst und Individualität „liquidiert“. Darüber darf aber nicht vergessen werden, dass sich der revolutionäre Bruch bereits vollzogen hat, der ihre Voraussetzung ist: „Selbst wenn man über deren Gravitation zu totalen Formen und über den Verfall des Individuums so wenig Illusionen hegt wie ich, entscheiden immer noch die Differenzen zwischen einer prä-individuellen und einer post-individuellen Gesellschaft“ (GS 8, 549). Zudem ist dieser Prozess für Adorno auch einer, der tatsächlich eine qualitative Individuierung³⁰ ermöglicht. Er ist eben dialektisch zu verstehen. Und das lässt sich ja von Marx’ Kritik der politischen Ökonomie überhaupt lernen: dass man die offensichtlichen Vorzüge des Kapitalismus, und damit die Gründe seines historisch einmaligen globalen Erfolgs, als solche erkennt und nicht gleich mit verwirft. Indem Adorno nun derart über ihn hinausgeht, wird erst verständlich, inwiefern er der Position des Einzelnen – und damit Kierkegaard und besagter radikaler bürgerlicher Selbstkritik – ungleich mehr Bedeutung beimisst. Was er in jenem Aphorismus über Hedda Gabler so apodiktisch formuliert, dass nur Fremdheit das Gegengift gegen Entfremdung sei, ist vom marxschen Standpunkt aus gelinde gesagt erklärungsbedürftig. Das war bereits im ersten Kapitel angesprochen worden: Entfremdung bedeutet nicht erst seit Marx wesentlich eine Entfernung der Menschen voneinander. Entsprechend wurde eben das Gegenmittel zu ihr, theoretisch wie praktisch, zumeist in einer Überwindung ihrer Distanz zueinander in der modernen Gesellschaft gesucht – hier vor allem als Solidarität und Assoziation der Arbeiter. Nach den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten von 1844 wird diese Entfremdung der Menschen voneinander – es ist die vierte der von Marx unterschiedenen Bedeutungsdimensionen – durch die Selbstentäußerung in der entfremdeten Arbeit produziert. Dabei folgt er wesentlich Hegels Modell, auf den er sich dort ausdrücklich beruft.³¹
Im Gegensatz zu einer quantitativen, die Individualität als in der Summe unverwechselbare Gesamtheit der Eigenschaften einer Person versteht – also ähnlich der von Adorno kritisierten Auffassung des Begriffs als Merkmalseinheit. Marx erkennt an, „daß Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß faßt, die Vergegenständlichung als Entgegenständlichung, als Entäußerung und als Aufhebung dieser Entäußerung; daß
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Entfremdung nach Marx will ich im Folgenden jedoch deutlich weiter fassen, als es die Pariser Manuskripte zulassen, da sie aus dieser Perspektive deren Totalisierung bei Adorno bereits vorbildet: Es ist ein Prozess zunehmender Entbindung und Entzweiung, der in der kapitalistischen Produktion kulminiert – und den die entfremdete Arbeit somit zur Voraussetzung hat. Dass allerdings Marx in der dritten und fundamentalsten der vier Dimensionen der Entfremdung des Menschen in der Arbeit diese als Entfremdung von seinem „Gattungswesen“ fasst, lässt sich ebenfalls kaum nach dem Modell der Entäußerung allein verstehen, steht aber auch nicht zu ihm im Gegensatz. Wie gesagt verstehe ich beide Modelle, dieses und das der Entbindung, als sich ergänzend. Während in den Pariser Manuskripten entfremdete Arbeit noch Privateigentum produziert, d. h. verursacht, wird sie wenig später in Die deutsche Ideologie ³² als Folge der Herausbildung von Privateigentum und Arbeitsteilung beschrieben. Allerdings ist diese Verhältnisbestimmung eine Frage der Perspektive, die im umfassenderen Rahmen der historischen Dialektik der Entfremdung an Bedeutung verliert, insofern sich beide wechselseitig bedingen im Sinne der Reproduktion jener Verhältnisse. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die in der Forschung gerne diskutierte Frage, ob Marx sich von seiner frühen, vermeintlich essenzialistischen Fassung des Entfremdungsbegriffs oder gar vom Entfremdungsdenken überhaupt losgesagt habe, dahingehend auflösen, dass Entfremdung den historischen bzw. zivilisatorischen Prozess im Ganzen umfasst – und, ähnlich wie dann bei Adorno, schon insofern total wird.³³ Was darunter zu verstehen ist, lässt sich sehr deutlich bereits in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts ablesen: „In seiner Analyse der bürgerlichen Gesellschaft erkannte er die selbstzerstörerische Dynamik des ‚Systems der Bedürfnisse‘, die Gefahr, die gesellschaftlichem Zusammenhalt durch Atomisierung der aus den tradierten Bindungen freigesetzten Individuen drohte.“³⁴ Gerade hierin wird Hegels bleibende Aktualität gerne verortet, wie sich jüngst zu seinem 250. Geburtstag gezeigt hat. Denn es sind „Desintegrationstendenzen, an denen moderne Gesellschaften bis heute laborieren“ (Bisky 2020). Er bringt sie auf den Begriff der „Entzweiung“ von Besonderheit und
er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eignen Arbeit begreift“ (MEW 40, 574). Die Rede ist hier vom dritten Band der MEW. Das Werk als solches hat es ja nie gegeben – nicht einmal in fragmentarischer Form. Es handelt sich dabei vielmehr um eine Zusammenstellung verschiedener, mit einer Ausnahme unveröffentlichter Manuskripte, die selbst durchaus ideologisch motiviert ist. Eine ausführliche Bestandsaufnahme dieser und anderer Probleme gibt die „Einführung“ der historischkritischen Gesamtausgabe (MEGA² I/5.2, 731– 791). Solche Fragen, die die Marxforschung zu Recht beschäftigen, können hier nicht verfolgt werden. Sie liegen außerhalb des Horizonts von Adornos Marxrezeption, um die es mir ja geht. Das entbindet natürlich nicht von einer Untersuchung der Entwicklung des marxschen Denkens und bestimmter Differenzen, etwa dem Verhältnis entfremdeter zu „abstrakter Arbeit“, einem Zentralbegriff des Kapitals. Siehe hierzu Ingo Elbe (2014). So Jens Bisky (2020) in seinem Leitartikel in der Süddeutschen Zeitung: „Der Zeitgenosse. Was ist schockierend, was ist gegenwärtig an Georg Wilhelm Friedrich Hegel? Ein Feuilleton zum 250. Geburtstag des Philosophen der Moderne.“
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gesellschaftlicher Allgemeinheit, die er auf sämtlichen Ebenen beschreibt.³⁵ Zu Beginn jenes Abschnitts der Rechtsphilosophie heißt es nun apodiktisch: „Die konkrete Person, welche sich als besondere Zweck ist […] ist das eine Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft“ (TWA 7, 339). Wie Hegel fortfährt, ist sie eine solche „Besonderheit“ aber nur „in Beziehung auf andere“ und vermittelt „durch die Form der Allgemeinheit“ (TWA 7, 339). Jedoch beschreibt er die Art dieser Beziehung im Folgenden in geradezu klassischer Weise als eine entfremdete: Die Privatpersonen gebrauchen nicht nur die anderen, sondern noch das Allgemeine selbst als Mittel für ihre partikularen Zwecke. Das liegt freilich schlicht daran, dass sie ihre Eigeninteressen, die ihr Zweck sind, je schon als „durch das Allgemeine vermittelt“ erfahren, „das ihnen somit als Mittel erscheint“ (TWA 7, 343). Sie können nicht anders als „sich zu einem Gliede der Kette dieses Zusammenhangs machen“ (TWA 7, 343). Das geschieht also nicht aus Freiheit im emphatischen Sinne, sondern Kraft ihrer bürgerlichen Freiheit, die wesentlich in ihrer Entbindung als Individuen bzw. eben als Privatpersonen besteht. Hegel spricht auch ausdrücklich davon, dass das „Interesse der Idee“ darin, sich „durch die Naturnotwendigkeit“ des individuellen Handelns, zu solcher „formellen Freiheit“ und „formellen Allgemeinheit“ erhebt (TWA 7, 343). Aber dieses ist „nicht im Bewußtsein dieser Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft als solcher“ (TWA 7, 343). Es wirkt hier also eine „List der Vernunft“, die tatsächlich hinsichtlich des Verhältnisses von Zweck und Mittel ihrer Beschreibung in der Wissenschaft der Logik entspricht.³⁶ Adorno wendet diese Figur in kritischer Absicht, d. h. er löst sie von ihrer affirmativen und teleologischen Funktion, und schiebt sie bereits der subjektiven List des Odysseus unter. So gesehen wird dieser in seiner sich selbst opfernden bzw. verleugnenden Selbsterhaltung tatsächlich zum Prototyp bürgerlicher Subjektivität. Denn was die Privatpersonen der Rechtsphilosophie zufolge tun, ist ja nichts weiter als dem Primat der Selbsterhaltung zu folgen, der freilich unter dem eines gesellschaftlichen Allgemeinen steht. Der Verblendungszusammenhang, von dem Adorno spricht, kommt insofern hinsichtlich seiner Universalität bei Hegel voll zur Geltung. Er lässt sich schließlich auch als Umkehrung der Zweck-MittelRelation beschreiben: Den Einzelnen erscheint das gesellschaftliche Allgemeine als Mittel ihrer subjektiven Zwecke, wo es doch eigentlich Selbstzweck ist.³⁷ Marx wiederum transformiert nicht nur Hegels theoretisches Modell, er macht sich auch seine Beschreibung der Entzweiung der bürgerlichen Gesellschaft selbst zu eigen. Dabei arbeitet er Marx, was hier nicht ausgeführt werden kann, in verschiedener Hinsicht vor und beschreibt auch schon sehr eindrücklich die „Abhängigkeit und Not“ der Arbeiterklasse: TWA 7, 389. TWA 6, 452: „Daß der Zweck sich unmittelbar auf ein Objekt bezieht und dasselbe zum Mittel macht, wie auch daß er durch dieses ein anderes bestimmt, kann als Gewalt betrachtet werden […]. Daß der Zweck sich aber in die mittelbare Beziehung mit dem Objekt setzt und zwischen sich und dasselbe ein anderes Objekt einschiebt, kann als die List der Vernunft angesehen werden.“ Vgl. hierzu die einschlägige Stelle aus dem Odysseus-Exkurs: „[D]ie Inthronisierung des Mittels als Zweck, die im späten Kapitalismus den Charakter des offenen Wahnsinns annimmt, ist schon in der Urgeschichte der Subjektivität wahrnehmbar. Die Herrschaft des Menschen über sich selbst, die sein Selbst begründet, ist virtuell allemal die Vernichtung des Subjekts, in dessen Dienst sie geschieht“ (GS 3, 73).
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Sie findet ihr Echo zunächst in Zur Judenfrage von 1843, einer Replik auf Bruno Bauer. Es handelt sich dabei um die erste Schrift, die sich ausdrücklich mit der Entfremdung des Menschen befasst. Sie bleibt hier jedoch – anknüpfend an Rousseau und selbstverständlich Hegel – auf die politische Dimension beschränkt. „Politischer Staat“ und „bürgerliche Gesellschaft“, „unwirkliche Allgemeinheit“ und „individuelles Leben“ sowie Gattungs- bzw. Gemeinwesen und „Privatmensch“ treten sich hier gegenüber (MEW 1, 354– 355).Vor allem aber beschreibt er dort, ganz ähnlich wie schon Hegel in der Rechtsphilosophie, die Entbindung des „egoistischen Individuums“ (MEW 1, 370). Besonders prägnant und verdichtet und nun im Ausgang von den jeweiligen ökonomischen Verhältnissen zeigt sich dieser historische Entfremdungsprozess aber beim reifen Marx in den Vorarbeiten zum Kapital. Gemeint ist der Abschnitt „Formen die der kapitalistischen Produktion vorhergehen“ aus den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie von 1857/1858, der, so Iring Fetscher (2004, 9), „am umfassendsten von allen Marxschen Arbeiten über die ökonomischen Formationen der vorkapitalistischen Zeit berichtet“. Doch nicht nur das. Solche Entfremdung, die er dann auch explizit als Verdinglichung bzw. „Vergegenständlichung“ auffasst, wird bis in die Urgeschichte der Menschheit zurückverfolgt, bzw. im Hinblick auf ihre anthropologischen Grundlagen gedacht – die aber, wie bei Adorno, eben in den historischen Prozess eingebunden, und nicht ihm vorausgesetzt sind. Ausgangspunkt ist die „Trennung“ der subjektiven Tätigkeit von den objektiven Reproduktionsbedingungen, die Marx als eine Entzweiung aus einer ursprünglichen „Einheit“ des Menschen mit diesen im „Stoffwechsel mit der Natur“ begreift (MEW 42, 397).³⁸ Daraus ergibt sich eine Dialektik der Entfremdung – ein Begriff den Marx sich hier übrigens durchaus (wieder) zu eigen macht –, die über den gesamten historischen Prozess entfaltet wird und schließlich in der Trennung von Arbeit und Kapital endet. Es ist, wie er wiederholt sagt, ein „Auflösen“ bzw. ein „Auflösungsprozeß“, der als Auseinandertreten zweier Momente sich auf verschiedenen Ebenen des Gesamtgeschehens verfolgen lässt: Gemein- und Privateigentum, Produktion und Konsumption, Gebrauchs- und Tauschwert. Diese Entwicklung mündet im Übergang zur Moderne in die Prozesse der Individualisierung und Industrialisierung, als der Entbindung jenes egoistischen Individuums und der Entfesselung der Produktivkräfte aus ihrem vormaligen ständischen Gebundensein. Die damit einhergehende Befreiung und unvergleichliche „Entwicklung aller menschlichen Kräfte als solcher“ (MEW 42, 396) hält Marx ganz unironisch fest. Sie schlägt aber um in eine „totale Entfremdung“, die er auf das Prinzip der Verselbständigung menschlicher Objektivationen zurückführt, das im Selbstzweckhaften der Profitorientierung bzw. der Akkumulation kulminiert: „In der
„Die ursprünglichen Bedingungen der Produktion“ – das ist hier keineswegs im Sinne eines paradiesischen, nichtentfremdeten Zustands zu verstehen – stellen sich derart dar, dass das Gemeinwesen in jeder Hinsicht primär ist. Es ist für den Einzelnen, der bloß dessen „Glied“ ist, die Bedingung seiner Selbsterhaltung. Es erscheint „das natürliche Gemeinwesen nicht als Resultat, sondern als Voraussetzung der gemeinschaftlichen Aneignung“ (MEW 42, 384) – und zwar schon vor dem Sesshaftwerden. Es geht daher auch historisch wie logisch dem Eigentum überhaupt voraus, bzw. ist auf dieser frühen Stufe mit dem Gemeineigentum praktisch identisch.
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bürgerlichen Ökonomie – und der Produktionsepoche, der sie entspricht – erscheint diese völlige Herausarbeitung des menschlichen Innern als völlige Entleerung; diese universelle Vergegenständlichung als totale Entfremdung und die Niederreißung aller bestimmten einseitigen Zwecke als Aufopferung des Selbstzwecks unter einen ganz äußeren Zweck“ (MEW 42, 396). Aus anderen Gründen aufschlussreich ist der erste Teil der Deutschen Ideologie. Zwar ist der Begriff der Entfremdung dort für die, wie es im Untertitel heißt, „Kritik der neuesten deutschen Philosophie“ reserviert – und kommt als solcher durchaus oft vor. Marx macht ihn sich also nicht mehr, wie in den Pariser Manuskripten, selbst zu eigen. Hier findet sich ja jenes berühmte Zitat, auf das auch Adorno zurückgreift: dass er und Engels den Ausdruck gebrauchen, „um den Philosophen verständlich zu bleiben“.³⁹ Das ist zunächst ein Hinweis, wie allgegenwärtig er in jener Zeit war. Dieser, wie Trebeß (2001, 481, Anm. 159) es nennt, „ironische Gebrauch des Begriffes“, ist eben auf die „bisherige (ideologische) Begriffsverwendung, geprägt durch Hegel“, bezogen.⁴⁰ Der Sache nach ist Entfremdung aber eindringlich beschrieben, und zwar auch hier als Entzweiung bzw. „Zersplitterung“⁴¹. Einer „Totalität von Produktivkräften“ stehen „abstrakte Individuen“ gegenüber, „die aber dadurch erst in den Stand gesetzt werden, als Individuen miteinander in Verbindung zu treten“ (MEW 3, 67). Solche Entfremdung ist also zugleich die Bedingung ihrer Überwindung. Ähnlich verhält es sich auch in Bezug auf die anthropologische Dimension entfremdeter Arbeit – die hier als „negative Form der Selbstbetätigung“ (MEW 3, 67) wiederkehrt. Die Aneignung der Produktivkräfte denken Marx und Hegels mit einer ihr entsprechenden „Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten in den Individuen selbst“ (MEW 3, 67) zusammen, die auf früheren Entwicklungstufen blockiert war. Hier klingt also das Ideal vom ganzen Menschen, im Sinne der allseitigen Entwicklung seiner Fähigkeiten, an. Wenn sich derart das Reich der Freiheit als zu realisierendes abzeichnet – was dann im dritten Band des Kapitals durch das der „Notwendigkeit“ relativiert wird –, so ist doch die ihr vorausgehende Entfremdung bzw. Entzweiung wie bei Hegel im doppelten Wortsinn notwendig. Dazu muss sie aber auf die Spitze getrieben werden. Denn die bornierte ist mitunter auch eine „gemütliche“ Entfremdung, während es mit ihrer To-
MEW 3, 34; vgl. GS 6, 274. Wenn er dazu bemerkt, sie verstelle die Tatsache, dass die fremden Mächte eigene sind und insoweit müsse der Begriff denunziert werden, so ist, was er damit meint, durchaus richtig, aber missverständlich, da es Hegel doch eben darum auch geht. Damit ist ja schlicht die Logik jeglicher Entfremdungsdialektik bezeichnet. Trebeß (2001, 114) hebt aber darauf ab, dass bei Hegel eben doch andere „Mächte“ am Werk sind als die einzigen beiden, die Marx anerkennt: „[d]ie Natur und die tätigen Individuen in ihrer jeweiligen Gemeinschaftlichkeit“. Richtig ist auch, dass der Begriff von Marx und Engels gleichzeitig gebraucht werde, um eben diese hegelsche Verkehrtheit bezeichnen zu können. Ausdrücklich ist etwa von einer „Zersplitterung zwischen Kapital und Arbeit“ (MEW 3, 66) und zwischen den Individuen, die „im Gegensatz gegeneinander existieren“ (MEW 3, 67), die Rede.
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talisierung in der Moderne eben ungemütlich wird.⁴² Sie muss ja, „eine ‚unerträgliche‘ Macht“ (MEW 3, 34) werden.⁴³ Als Gegenbeispiel dient Marx und Engels der mittelalterliche Handwerker, der ein „gemütliches Knechtschaftsverhältnis“ (MEW 3, 52) zu seiner Arbeit hatte und sich in diesem Rahmen auch in Selbstbetätigung ergehen konnte. Solche Borniertheit verurteilte „alle früheren revolutionären Aneignungen“ zum Scheitern (MEW 3, 68). Sie können erst erfolgreich sein, wenn auch die Entfremdung total wird: „Nur die von aller Selbstbetätigung vollständig ausgeschlossenen Proletarier der Gegenwart sind imstande, ihre vollständige, nicht mehr bornierte Selbstbetätigung […], durchzusetzen“ (MEW 3, 68). Nun ist aber nach der Deutschen Ideologie vormoderne Entfremdung in zweifacher Weise borniert: Sie ist ebenso real begrenzt, wie der Mensch ein beschränktes Bewusstsein von ihr hat. Erst unter kapitalistischen Verhältnissen wird Entfremdung total und damit, so die Annahme von Marx und Engels, notwendig bewusst. Das lässt sich im Gesagten schon zwischen den Zeilen lesen, bedarf aber ohnehin kaum der Erwähnung. Auch wenn man der kanonischen, staatsmarxistischen Deutung dieser Schrift nicht folgt, so formuliert sie doch erstmals das Grundprinzip des historischen Materialismus als Kritik an der Bewusstseinsphilosophie: „Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß“ (MEW 3, 26). Später ist dann auch ausdrücklich von der „Produktion des Bewußtseins“⁴⁴ die Rede. Das heißt aber, dass das Bewusstsein selbst im Grunde keine Rolle mehr spielt. Und das gilt nicht nur im Sinne der idealistischen und junghegelianischen Philosophie, sondern auch, was das Bewusstsein angeht, das Adorno und Kierkegaard voraussetzen müssen, um von (Selbst‐)Verblendung sprechen zu können. In diesem Sinne stellt Adorno fest: „Marx hat sich auf die Psychologie der Arbeiterklasse nicht eingelassen“ (GS 8, 389). Freilich kommt auch bei ihm und Engels die titelgebende Ideologie dazwischen. Sie ist aber weit harmloser gedacht als bei Adorno. Denn damit ist ja zunächst gemeint, dass das Interesse der herrschenden Klasse als allgemeingesellschaftliches verbrämt wird. Und das kann mittels Kritik durchschaut werden, wenngleich Ideologie als Produkt der Produktionsverhältnisse gänzlich erst mit deren Umwälzung aus der Welt geschafft werden kann. Je weniger die „abstrakte[n] Individuen“ (MEW 3, 67), die ausgeschlossenen Arbeiter, ihre Interessen und Gedanken noch mit den herrschenden in Einklang bringen können, d. h. je entfremdeter sie sind, desto leichter gelingt das. Während es bei Adorno und Kierkegaard wie erörtert gerade ein zentraler Aspekt der Selbsttäuschung bzw. des universalen Verblendungszusammenhangs ist, das eigene Leid
Die (sprichwörtliche deutsche) Gemütlichkeit ist ein Lieblingsausdruck von Marx und Engels in der Ideologie – nicht zuletzt, wenn es darum geht, die Positionen von Feuerbach, Bauer und Stirner zu charakterisieren. Dieser Gedanke findet sich dann auch in den Grundrissen wieder: „Daher erscheint einerseits die kindische alte Welt als das Höhere. Andrerseits ist sie es in alledem, wo geschloßne Gestalt, Form und gegebne Begrenzung gesucht wird. Sie ist Befriedigung auf einem bornierten Standpunkt; während das Moderne unbefriedigt läßt oder, wo es in sich befriedigt erscheint, gemein ist“ (MEW 42, 396). So ist ein ganzer Abschnitt überschrieben: MEW 3, 37– 50.
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wie das der anderen nicht wahrhaben zu wollen, so ist es dem Arbeiter in der Unerträglichkeit seiner Lebensverhältnisse eben notwendig bewusst – „gleichgültig“ ist ihm nur seine Arbeit (MEW 3, 52). Trotz allem kann solche Entfremdung von Marx und Engels daher ungleich positiver bewertet werden als von Adorno, wo sie in der Weise dialektisch wird, dass sie ihren Schein gleich miterzeugt.
2.2 Paradoxe Individualisierung und Subjektivierung des Materialismus Adorno macht gegenüber der Atomisierung, der Entzweiung der Gesellschaft in allen ihren Einzelaspekten und der Entbindung des Individuums, die Gegentendenzen geltend und beschreibt eine Verfestigung der Verhältnisse seit Mitte des 19. Jahrhunderts, die freilich auch Marx nicht entgangen ist. Damit verlagert sich die Aufmerksamkeit der Entfremdungsdiagnose von der Desintegration auf den ihr nachfolgenden Prozess der objektiven Integration und subjektiven Nivellierung. Gemeint ist eine zunehmende, wenngleich widersprüchliche Einbindung des Individuums – d. h. seines Seins und Bewusstseins – in als eigenmächtig erfahrene verselbständigte gesellschaftliche Strukturen. Integriert wird es nicht obwohl, sondern weil es dem gesellschaftlichen Allgemeinen derart abstrakt gegenübersteht. Und darin besteht ja die bereits von Hegel beschriebene „Entzweiung“. Bei allen Differenzen im Resultat ist also das dem Entfremdungsprozess zugrundeliegende Prinzip, eben das der Verselbständigung, bei Adorno und Marx das gleiche. Es trifft auf den doppelt „freie[n] Lohnarbeiter“ (MEW 42, 410) – frei vor allem von Eigentum – ebenso zu, wie auf das nahezu vollständig integrierte Individuum, an dem die Verselbständigung gesellschaftlicher Verhältnisse wohl noch augenfälliger ist. Daher kann Adorno zugespitzt auch sagen: „Radikale Vergesellschaftung heißt radikale Entfremdung“ (GS 3, 81). Denn eine solche Integration ist eben keine Aufhebung der Entzweiung, weder im hegelschen noch im marxschen Sinne. Auch das Proletariat – „zu Beginn des Hochkapitalismus gesellschaftlich exterritorial“ (GS 8, 100) – wird schließlich zunehmend eingebunden, was allerdings nicht schon eine Transformation der sozioökonomischen Machtverhältnisse bedeutet. Seine Integration betrifft primär das Bewusstsein. So bleibt Entfremdung zwar total – und eben auch im marxschen Sinne, d. h. durch den Fortbestand des Privateigentums –, die Einsicht in sie schränkt sich jedoch zunehmend ein. Und das geschieht nicht trotz, sondern wegen ihrer Ubiquität. Dass man derart den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht, zeichnet Adornos Ideologiebegriff ja gerade aus: „Der Schein wäre auf die Formel zu bringen, daß alles gesellschaftliche Daseiende heute so vollständig in sich vermittelt ist, daß eben das Moment der Vermittlung durch seine Totalität verstellt wird“ (GS 8, 369). Nun betrifft der falsche Schein der Nichtveränderbarkeit nicht nur die sozioökonomischen Verhältnisse, sondern auch die Individuen selbst. Ideologie ist aus dieser Perspektive der „gesellschaftlich notwendige und mit allen erdenklichen Mitteln verstärkte Schein, daß das Subjekt, die Menschen, unfähig seien zur Menschheit“ (GS 10/2, 612). Daher sind für Adorno „buchstäblich die Menschen selber, in ihrem So- und Nichtanderssein die Ideologie“ (GS 8, 18). Man kann diese Umwertung gegenüber Marx als eine Subjekti-
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vierung des Ideologiebegriffs verstehen – während einer solchen doch andererseits die Kritik gilt, insofern Ideologie gerade eine „Subjektivierung gesellschaftlicher Widersprüche“ (Krauß 1985, 127) bedeutet. Zweifellos erfährt die psychische Dynamik nicht nur bei Adorno ungleich mehr Aufmerksamkeit, sondern überhaupt in der Kritischen Theorie: „[D]aß das subjektive Moment einfach durch das quantitative Anwachsen der subjektiven sogenannten Integrationsfaktoren eine viel größere Bedeutung angenommen hat, als es früher zu besitzen schien“, hat eben auch Folgen für die „Theorie der Gesellschaft“ (NL 4/12, 105). Sie verliert ihre „Eindeutigkeit“, ihr „streng objektive[r] Charakter“ wird „außerordentlich kompromittiert“ (NL 4/12, 105). Was das bedeutet, war bereits hinsichtlich seines kritischen Totalitätsbegriffs als Einspruch sowohl gegen den sozialwissenschaftlichen Positivismus als auch gegen Hegel erörtert worden – und ebenso, inwiefern er in den methodischen Konsequenzen Kierkegaard nahesteht. Letztlich hat solche Integration die Aufgabe, die Gesellschaft zum System zusammenzuschließen. Sie verkörpert gegenüber ihrer Entzweiung jenes Identitätsprinzip, das der Idealismus aus der Struktur der Subjektivität entwickelt und verabsolutiert. Nun kehrt es sich gegen Subjektivität selbst. Und das spiegelt sich eben auch im Dilemma der soziologischen Theoriebildung, wie es Ulrich Ruschig (2019, 426) umreißt: „[W]ill sie das Wesen treffen, muss [sie] so weit systematisch sein, um jene Integration zum System zu verstehen, muss aber, will sie dem Schein nicht aufsitzen, zugleich jenes schlecht, falsch systematischen Charakters sich entäußern.“⁴⁵ Dem Einbruch des Subjektiven in die Theorie liegt bei Adorno nicht weniger als eine Transformation des Materialismusbegriffs selbst zugrunde. Es wird, so Grenz (1974, 54), die psychische Konstitution des Menschen, also „der Überbau, das Epiphänomen, zur Struktur der den Unterbau tragenden Subjekte“. Freilich wäre hier eine Differenzierung angebracht, insofern Marx unter dem „Überbau“ eigentlich bloß die politische und juristische Sphäre versteht, „der bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen“ (MEW 13, 8). Letztere sind also vom Überbau zu unterscheiden, aber im Modell mit ihm auf einer Ebene anzusiedeln. In jedem Fall ist mit besagter Subjektivierung keine Umkehrung der Widerspiegelungstheorie⁴⁶ gemeint – die man vielleicht
In Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft formuliert er seinen Begriff dieser Integration wohl am pointiertesten: Dass sie die Antagonismen nicht aufhebt, sondern verdeckt und zugleich, durch den Zwang zur Selbstverwertung, eine Desintegration in den Subjekten bedeutet sowie letztlich Theorie selbst zur Anpassung nötigt. Ruschig stellt die Vorlesung von 1964 daher zu Recht ins Zentrum seiner Beschreibung dieser Dynamik. Man hat die Spiegelmetapher in der Forschung nicht erst für den Materialismus herangezogen, sondern überhaupt, angefangen bei Platon, nach der Logik der Widerspiegelung Dialektik zu begreifen versucht – am prominentesten wohl Hans Heinz Holz in Dialektik und Widerspiegelung (1983) und zuletzt in Weltentwurf und Reflexion (2005). Er will gewissermaßen das diskreditierte Widerspiegelungsmodell retten, indem er es als komplexes Wechselverhältnis begreift – was ihm aber von Kritikern wiederum als Verfälschung des materialistischen Grundmodells vorgehalten wurde. Wesentlich ist dabei die an Leibniz anschließende Auflösung des tradierten Substanzbegriffs. In Bezug auf Hegel spricht er von einem „Spiegel, der einen Spiegel spiegelt“: „Die Spiegelung des Spiegelbilds zeigt dieses als Spiegelbild; der
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besser Ableitungstheorie nennen sollte, da sämtliche Bewusstseins- und Kulturformen aus sozioökonomischen Verkehrsformen abzuleiten sein sollen. Marx hat sie so, entgegen gängiger und durch Engels beförderter Missverständnisse, auch nie vertreten. Er denkt das Verhältnis von Sein und Bewusstsein als eine asymmetrische Wechselbeziehung. Allerdings wird das Modell bei Adorno insofern komplexer, als die Beziehung der Momente zueinander in ihnen sich jeweils noch einmal als solche darstellt. Das lässt sich in Analogie zur Konstellation von Subjekt und Objekt überhaupt verstehen. Die Subjekte „tragen“ einerseits die ökonomischen Verhältnisse, konstituieren sie also, während sie andererseits darin von deren gesellschaftlicher Objektivität ganz geprägt sind und ihren Inhalt empfangen. Damit wird deren Macht über die Menschen also keineswegs entschärft – ganz im Gegenteil. Die in dieser Hinsicht komplexere Dialektik der einzelnen Momente drückt nur in anderer Form die Grundeinsicht aus, dass ihr Zusammenspiel primär dem Erhalt der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse dient und widerspricht ihnen nicht selbst schon. Entscheidend ist aber, dass damit jene Zu- bzw. Festschreibungen methodisch in Bewegung gebracht werden – ähnlich, wie das Subjekt-Objekt-Modell bei Adorno eine kritisch-hermeneutische Funktion erhält und nicht auf eine Festschreibung invarianter Momente oder gar eine substantialistische Deutung zielt. Dagegen hat, wie er feststellt, die frühe Formulierung des Basis-ÜberbauModells durch Marx und Engels in der Deutschen Ideologie innerhalb des geschichtsphilosophischen Gesamtzusammenhangs die Aufgabe, die Notwendigkeit der Umwälzung der politischen Herrschaftsverhältnisse zu begründen und wird deshalb durchaus einseitig bestimmt.⁴⁷ Von dieser Deutung, die er eine „Vergottung der Geschichte“ (GS 6, 316) nennt, distanziert Adorno sich. Von einer Subjektivierung kann also nur in eingeschränkter Weise die Rede sein. Richtig ist aber, dass die Subjektseite bei Adorno selbst eine Dialektik von Basis und Überbau austrägt. Und das wiederum wird ermöglicht durch besagte „triebnaturalistische“ Ergänzung des Materialismus.⁴⁸ Darüber hinaus ist aber von einer anthropologischen Erweiterung zu sprechen, die Grenz (1974, 54) als „Zusammendenken von ‚anthropologischer Deformation‘ und ‚Überbau‘“ bezeichnet. Deshalb ist ja die Entzweiung der Gesellschaft in Arbeit und Kapital umso tiefer in der psychischen Konstitution verankert. Bei Marx dagegen stand wie gesagt, zumindest in den vierziger Jahren, der Arbeiter auf der einen Seite und verwechselte höchstens ideologisch, wenngleich „geBegriff des Begriffs begreift diesen als Begriff“ (Holz 2005, 421). Freilich eignet sich das Bild des Spiegels auch in besonderer Weise, um damit dann die „Umkehrung des Idealismus“ (Holz 2005, 199) zu beschreiben. Vgl. GS 6, 315 – 316. Adorno spricht dort von der „Intransigenz der Doktrin“. Das heißt aber nicht, dass Adorno eine Entsprechung des materialistischen Modells zu Freuds Strukturmodell der Psyche behauptet, auch wenn er das nicht explizit ablehnt. Dazu aus einem Brief an Erich Fromm von 1937: „Ich bin mehr und mehr der Überzeugung, dass die eigentliche Koinzidenz der marxistischen Theorie und der Psychoanalyse nicht in Analogien wie denen von Überbau und Unterbau mit Ich und Es u. s. w. liegt, sondern im Fetischcharakter der Waren und im fetischistischen Charakter der Menschen“ (BW 4/1, 540). Was Letzteres bedeutet, wird sich im Folgenden in Bezug auf den Individualismus als Ideologie zeigen.
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sellschaftlich notwendig“, die Interessen der anderen, herrschenden Seite mit den eigenen. Bei Adorno fällt diese Entzweiung auch ins Individuum selbst und das Herrschaftsprinzip – in seinem berühmten Dreifachsinn als Herrschaft über die äußere und innere Natur sowie von Menschen über Menschen – ist nicht nur internalisiert, sondern vielmehr mit der Herausbildung von Subjektivität, gewissermaßen der Anthropogenese selbst, verknüpft. Damit sind aber anthropologische Bestimmungen nichts einer Beschreibung der psychosozialen Dynamik Zugrundeliegendes, sondern als selbst gewordene lediglich die andere Seite der historisch-materialistischen Gesamtbetrachtung. Freilich wird so die Entfremdungskritik gegenüber Marx noch einmal mit größeren Hypotheken belastet. Sofern sie überhaupt noch die Forderung impliziert, dass Entfremdung aufzuheben ist, so ist diese kaum einzulösen. Allerdings ist ja auch im Begriff des Kommunismus als Aufhebung der Entfremdung, wie er in den Pariser Manuskripten formuliert wird, unmissverständlich die anthropologische Dimension mitgedacht. Das mündet in den Anspruch, dass er überhaupt die Versöhnung von Mensch und Natur sei (vgl. MEW 40, 536). Wie ist vor diesem Hintergrund überhaupt noch umstürzende gesellschaftliche Veränderung zu denken? Die Verschiebung gegenüber Marx ergibt sich hier aus der Bestimmung des Subjekts dieses Prozesses. Es ist nicht einfach so, dass Adorno sich vom Proletariat verabschiedet, wie das vielfach behauptet wurde. Buck-Morss (1977, 24– 42) bringt diese These auf die kürzest mögliche Formel: „Marx Minus the Proletariat“. Auch hebt Adorno nicht schlicht den Primat des Klassenantagonismus auf, also den alle anderen Widersprüche bedingenden und die Mehrwertproduktion selbst antreibenden Gegensatz von Arbeit und Kapital. Zwar liest sich das oft so und er wurde gerade deshalb zum Ideengeber für spätere postmarxistische Ansätze⁴⁹: „Die Abstraktheit des Tauschwerts geht vor aller besonderen sozialen Schichtung mit der Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere, der Gesellschaft über ihre Zwangsmitglieder zusammen“ (GS 8, 13 – 14). Diese Perspektive ist freilich für mich die wichtigere, da sich so Kierkegaards Standpunkt mit Adorno materialistisch verorten lässt, zumal er ja an dessen Kritik der Herrschaft des Allgemeinen bei Hegel anschließt. Dagegen steht allerdings eine ebenso entschiedene Betonung des Fortbestands der Klassenherrschaft. So erklärt er bisweilen – auch wenn er dabei Marx missversteht – das Tauschverhältnis ausdrücklich aus dieser und nicht umgekehrt (vgl. NL 4/12, 97). Überhaupt ist ja das, was verschwindet, nicht die Klassenherrschaft, sondern das Bewusstsein von ihr, bzw. die Möglichkeit dazu, es zu entwickeln: „Subjektiv verschleiert, wächst objektiv der Klassenunterschied“ und real wirke er auch „in die Existenz der einzelnen Menschen hinein“ (GS 8, 15). Deshalb bedarf die Theorie von ihm einer Subjektivierung. Indem das Einzelsubjekt in sich die gesamtgesellschaftliche Entfremdung ausdrückt, gleicht es als nicht mehr bloß partikulares der Arbeiterklasse. Zum Subjekt wird sie bei Marx ja gerade dadurch, dass sie nicht mehr nur die eigenen beschränkten Interessen gegenüber denen des Kapitals verkörpert, sondern sich zu einer Klasse bildet,
Ich denke hier vor allem an die unter dem Oberbegriff „Wertkritik“ zusammengefassten.
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die keine Klasse mehr ist, weil sie alle gesellschaftlichen Gegensätze in sich aufhebt (MEW 1, 390). Eine solche Universalität kann nach Adorno nun auch dem total vergesellschafteten und damit total entfremdeten Individuum – das ist der gesellschaftlich exterritoriale Arbeiter Mitte des 19. Jahrhunderts eben noch nicht – zugesprochen werden. Indem es geschichtlich-anthropologisch Herrschaft (über sich selbst) in seiner subjektiven Konstitution verkörpert, ist es ebenso eines mit „radikalen Ketten“ (MEW 1, 390), weil diese doch mit der Wurzel des Übels selbst zusammenhängen. Es ist daher nicht unberechtigt – höchstens etwas verkürzend und vor allem nicht im Sinne der Aufhebung des Klassenantagonismus misszuverstehen –, wenn Kipfer (1998, 121) zusammenfasst: „Bei Adorno tritt nun das beschädigte Individuum an die Stelle des Proletariats.“ Er argumentiert mit der analogen Begründung des gesellschaftskritischen Standpunkts bei Marx, der die reale Unterdrückung und die Erfahrung derselben zur Voraussetzung habe. Adorno drückt das implizit aus, wenn er feststellt, dass noch die „negative Einheit des Unterdrücktseins zerrissen wird, die im neunzehnten Jahrhundert sie zur Klasse macht“ (GS 8, 377). Denn das bedeutet, dass die „Massen so dissoziert“ (GS 8, 377) werden, dass eben nur noch Individuen übrigbleiben. Für beide gilt nun nach Kipfer, dass das Objekt der Unterdrückung durch die Reflexion seiner Lage zum Subjekt von Veränderung werde. Nur gestaltet sich diese Bewusstwerdung bei Adorno eben ungleich schwieriger. Denn an die Stelle eines möglichen Klassenbewusstseins tritt kurz gesagt „Konformität“. Darum wird für ihn der Typus des vereinzelten Nonkonformisten zumindest theoretisch wieder relevant, deshalb beschäftigt er sich so eingehend mit Kierkegaard, Ibsen, Baudelaire und anderen. Eine solche Haltung wird nicht einfach als bürgerliches Bewusstsein abgetan.
2.3 Individualismus als Ideologie und Ideal Adorno gesteht also dem Individuum nicht nur als Deutungskategorie in der sozialphilosophischen Analyse ein ungleich größeres Potential zu als Marx. Damit redet er aber keineswegs einem Individualismus im üblichen Verständnis das Wort – und auch nicht im anspruchsvolleren Verständnis Stirners. Der Individualismus gilt Adorno ebenso als Ideologie wie Marx, also als das, was der Erkenntnis der (eigenen) Verhältnisse gerade entgegensteht. Die Entbindung des Individuums – geistig, politisch und sozioökonomisch – schafft ja erst die Voraussetzung seiner Integration. Adorno betont deshalb stets, dass gerade der Individualismus die vielbeschworene „Liquidation des Individuums“⁵⁰ bewirkt und nicht im Widerspruch zu ihr steht: „Der Zustand, in dem das Individuum verschwindet, ist zugleich der fessellos individualistische, in dem ‚alles möglich‘ ist“ (GS 4, 170). Das ist dann möglich, wenn die Einzelnen sich umfassend verwendbar, d. h. bis in ihr Privatleben hinein verwertbar gemacht haben. Und das zeichnet sich bereits im Aufstieg des Bürgertums im Ancien Régime ab. Dessen Bedeutung „lag
Vgl. GS 4, 147, 153, 170; GS 3, 277– 278.
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keineswegs an seinem Charakter als Stand, sondern eben an der Verwendbarkeit der aus ihm losgelösten Individuen“ (Krauss 1997, 348). Adorno geht noch weit hinter diese Epochenschwelle zurück – das erinnert an Hegels Verweis auf Platon in der Rechtsphilosophie – und zugleich darüber hinaus: „Daß die Freisetzung des Individuums durch die ausgehöhlte Polis nicht etwa den Widerstand stärkt, sondern ihn, ja die Individualität selber eliminiert, wie es dann in Diktaturstaaten sich vollendet, ist das Modell eines der zentralen Widersprüche, die vom neunzehnten Jahrhundert in den Faschismus trieben“ (GS 4, 170). Dieser Verfall wird subjektiv verbrämt in einem Kult des Individualismus⁵¹, der ein Zerrbild des Autonomieideals ist: „Das antifeudale Ideal der Autonomie des Individuums, das dessen politische Selbstbestimmung meinte, verwandelte sich im Wirtschaftsgefüge zu jener Ideologie, deren es zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zur Steigerung der Leistung bedurfte. So wird dem total verinnerlichten Individuum Wirklichkeit Schein und Schein Wirklichkeit. Indem es seine vereinzelte, von der Gesellschaft abhängige, ja widerruflich tolerierte Existenz absolut setzt, macht es sich zur absoluten Phrase“ (Institut für Sozialforschung 1956, 49). Gerade das scheint Adorno doch auch Kierkegaard wiederholt in ähnlichen Worten vorzuhalten: „Solcher Primat des Einzelnen ist aber zugleich Schein.“ Allerdings ist diese Kritik in der für ihn typischen Weise einer Würdigung Kierkegaards unmittelbar nachgestellt: Gegenüber der Vergegenständlichung und Vergesellschaftung aller Beziehungen zwischen den Menschen in den hundert Jahren seit seinem Tode erwies sich die Position des Einzelnen, der er die höchste Würde verlieh, als Refugium vor dem herrschenden, der individuellen Bestimmung feindlichen Betrieb, der jeden zu seiner Rolle degradiert. Kierkegaard konnte populär werden, weil der absolut Einzelne, den er den damals eben sichtbar werdenden Massen des Hochkapitalismus entgegensetzte, unterdessen als Situation aller diesen sich darstellt. (GS 2, 244)
Diese Ambivalenz hat der Sache nach im Wesentlichen zwei Gründe: Erstens ist das Individuum eben Ausdruck der Verhältnisse, auch wo sein Selbstverständnis ideologisch verkehrt sein mag, und wird dadurch von Adorno in der besagten Weise methodisch aufgewertet. So ist auch der kierkegaardsche Einzelne eine Kategorie, die der Deutung seiner gesellschaftlichen Verhältnisse dient. Exemplarisch führt Adorno das im Kierkegaardbuch an der„Soziologie der Innerlichkeit“ vor. Das geschieht freilich meist wider dessen Intention. Aber noch Kierkegaards sozioökonomische Verortung als „Privatier“, die bisweilen heftige Ablehnung erfahren hat,⁵² ist doppelsinniger, als es auf den ersten Blick scheinen mag: „Unter der modernen Antithese des Groß- und Kleinbürgers ist der Privatier ebensowenig wie sein Widerpart, der von Kierkegaard stets befehdete ‚Spießbürger‘ zu denken. Nicht angewiesen auf fremdes Kapital, nicht genötigt, die ei Auch das sieht Adorno schon in der Verfallsform der Polis gegeben, wobei er Jakob Burckhardt (Griechische Kulturgeschichte) zitiert: „Vor allem feiert man jetzt Individuen statt Götter“ (GS 4, 170). Vgl. Cattepoel 2011, 19 – 20. Er hat jedoch recht, dass Adornos Darstellung der sozioökonomischen Situation Kierkegaards und seiner Motive einseitig und in manchem durch die neuere Forschung überholt ist.
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gene Arbeitskraft zu verkaufen, wahrt sich der Privatier den ‚offenen Blick‘. Seine Erkenntnis greift über die pure Unmittelbarkeit seines ‚Milieus‘ hinaus, an die der ‚Spießbürger‘ gebunden bliebe“ (GS 2, 71). Darin kann man nun zunächst die Beschreibung jenes Privilegs sehen, das im Grunde jeder Dichter und Denker für sich in Anspruch nehmen muss – und insbesondere der nonkonformistische Intellektuelle. Ein solches Privileg ist für Adorno aber schuldbeladen (vgl. GS 8, 107) – was ihm zufolge zumindest der frühe Kierkegaard dann doch nicht sehen will. Er wirft ihm wiederholt eine zynische und überhebliche Tendenz in der Bewertung sozioökonomischer Zwänge und Nöte vor, die mit einer ironischen Selbstzurücknahme einhergeht.⁵³ Seine Haltung sei „eitle Selbstironie“ (GS 2, 71). Die Doppelsinnigkeit ergibt sich daraus, dass Kierkegaard nicht über den Verhältnissen steht, oder zu stehen meint, sondern außerhalb. Er ist in der Gesellschaft kein Verfügender, sondern der „untätige, vom Produktionsprozeß der Wirtschaft abgeschiedene Private“ (GS 2, 63). Und das bedingt seinen „ohnmächtige[n] Haß gegen die Verdinglichung“, so kleinbürgerlich er auch bisweilen sein mag, und zwar weil in der Gesellschaft „nur der kapitalistisch Mächtige, nach dem Worte von Karl Marx, sich ‚wohl und bestätigt‘ fühlt, weil er ‚die Entfremdung‘ als seine ‚eigene Macht‘ versteht und ‚in ihr den Schein einer menschlichen Existenz‘ besitzt, den sie dem Privatier bloß widerruflich spendet“ (GS 2, 71). Mitunter gehen in Adornos Deutung Kierkegaards Einsicht und seine Verblendung unmittelbar ineinander über, und zwar gerade dort, wo es um Verdinglichung geht. Ganz gleich, wie weit diesen seine Einsicht getragen hat, behält meines Erachtens Deuser (1983, 103) mit seiner Feststellung recht: „Kierkegaards Radikalität ist ein Beleg für Adornos These vom Verlust des Individuums und den alles determinierenden Vermittlungen der Verdinglichung.“ Das verweist auf den zweiten Grund für Adornos ambivalente Haltung zum „Einzelnen“. Seine These von dessen Liquidation – die freilich auch die faktische Vernichtung der Individuen meint – zeigt in negativer Form bereits an, dass er am Ideal der Individualität weiterhin festhält.
2.4 Autonomie und Authentizität Solche Individualität im emphatischen Sinne bedeutet im Wesentlichen zweierlei: Autonomie bzw. Selbstbestimmung und Authentizität bzw. Selbstübereinstimmung. Beides gehört zum Versprechen der Moderne.⁵⁴ Dass Adorno aber für Letztere als Ideal wenig
Das ist nicht unzutreffend. Dass Adorno aber als Beleg (vgl. GS 2, 73 – 74) Stellen aus dem zweiten Teil von Entweder/Oder (EO II, 127– 128, 131 / SKS 3, 120, 123) sowie den „Epilog“ aus Furcht und Zittern anführt (FZ, 139 / SKS 4, 208), schränkt die Aussagekraft sogleich ein. Der Standpunkt, der sich darin ausspricht, ist nicht einfach der Kierkegaards. Das rigoristische Plädoyer für Arbeitsmoral und Sparsamkeit des Ethikers ist doch, selbst wenn er sich dabei auf Luther berufen kann, allzu überzeichnet und Johannes de Silentios Rechtfertigung des unumgänglichen ökonomischen Betrugs hat ohnehin die Funktion eines Gleichnisses. Siehe hierzu: Rosa 2010.
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übrighat, scheint offensichtlich, allein schon wegen der Nähe zum Problembegriff der „Identität“. Zeugnis hiervon gibt der Aphorismus „Goldprobe“. Authentizität erscheint dort als letzte Option einer verfallenden „bürgerliche[n] Moral“, als das Einzige, was noch „verbindlich […] vom Menschen gefordert werden könne“ (GS 4, 173). Und es überrascht auch nicht, dass hier – neben Nietzsche, Ibsen und Wagner – vor allem „Kierkegaards Existenzlehre“ angelastet wird, sie habe „das Echtheitsideal […] zum Hauptstück der Metaphysik gemacht“ (GS 4, 173). Adorno wiederholt dabei Hauptvorwürfe aus dem Kierkegaardbuch.⁵⁵ Allerdings verhält es sich aus zwei Gründen komplizierter. Zum einen ist dieses Ideal nur das Epiphänomen: „Die Unwahrheit steckt im Substrat von Echtheit selber, dem Individuum“ (GS 4, 174). Und dass Adorno von Metaphysik spricht, ist nicht im übertragenen Sinne zu nehmen. Denn er schließt hier unübersehbar an deren Kritik in Hegels Logik an, die nicht zuletzt darauf zielt, dem Subjekt jeden Schein von Substanzhaftigkeit zu nehmen. Zum anderen meine ich, dass auch Adorno einen bestimmten Begriff authentischer Individualität voraussetzen muss. Darum soll es zunächst gehen. In historischer Perspektive ist das Authentizitätsideal ein Versuch, die Defizite eines vereinseitigten Autonomiebegriffs zu kompensieren, die ja, wie sich an der Auseinandersetzung mit Kant gezeigt hat, auch Adorno feststellt.⁵⁶ Das deutet bereits an, dass beide Momente aufeinander verwiesen und gerade im Entfremdungsdiskurs bisweilen kaum voneinander zu trennen sind. Autonomie meint ebenso praktische, insbesondere politische Selbstbestimmung wie Eigenverantwortung. Im aufklärerischen Begriff der „Mündigkeit“ tritt das offen zu Tage.Wer für sich selbst sprechen kann, eben mündig ist, darf das auch – und nicht umgekehrt. Autonomie erfährt so zumindest implizit eine anthropologische, fähigkeitenbasierte Begründung. Damit kommen gewissermaßen die psychischen Voraussetzungen der Emanzipation in den Blick, die einen bestimmten Begriff von Selbstübereinstimmung einschließen – und die wiederum an soziale, d. h. institutionelle Bedingungen gekoppelt sind. Das eröffnet einen anderen Blick auf Adornos Feststellung, Marx habe sich auf die Psychologie der Arbeiterklasse nicht eingelassen. Denn er fährt dort fort: „Sie setzt Individualität, eine Art Autarkie der Motivationszusammenhänge im Einzelnen voraus. Solche Individualität ist selber ein gesellschaftlich produzierter Begriff, der unter die Kritik der politischen Ökonomie fällt. Schon unter den konkurrierenden Bürgern ist das Individuum weithin Ideologie, und denen drunten wird Individualität versagt durch die
Kierkegaards Alternative sei „gerade aufs Opfer des Einzelnen und auf dieselbe Abstraktheit hinausgelaufen, die er an den idealistischen Systemen diffamierte“ (GS 4, 175). Auch wird die „ganze Philosophie der Innerlichkeit“ hier mit dem „Anspruch der Weltverachtung“ zusammengedacht und ausdrücklich als objektlose kritisiert (GS 4, 176 – 177). All ihr Inhalt komme aus der Gesellschaft „oder schlechterdings aus der Beziehung zum Objekt“ (GS 4, 175). Vgl. Rosa 2010, 200: In der „ersten Phase der Moderne“ folgt der „romantisch-expressivistische Authentizitätsdiskurs“ auf einen kurz zuvor einsetzenden „auklärerisch-rationalistische[n] Autonomiediskurs“. Die Rede von der romantischen Expressivität geht auf Charles Taylor zurück und findet sich bereits in seinen frühesten Publikationen.
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Ordnung des Eigentums“ (GS 8, 389). Individualität ist also auch Bedingung der Möglichkeit der Arbeiter, sich zur Klasse zu bilden – und zwar eine, von der so gerade nicht ausgegangen werden kann. Das sprechen im Grunde bereits Marx und Engels selbst an, besteht doch die Entfremdung des Arbeiters in der Deutschen Ideologie gerade darin, dass die allseitige Entwicklung seiner Fähigkeiten, wie sie auf dem Stand der Produktivkräfte möglich ist, faktisch zu einer Einseitigkeit verkommt, wo sie dem einen Zweck der Mehrwertproduktion reell subsumiert ist. Nur schließt eben die mangelnde Einsicht in die „Psychologie“ aus, in solchen individuellen Voraussetzungen wirklich eine Bedingung zu sehen. Die Bedingungen dürfen für Marx und Engels, bei aller Bedeutung der Ideologie für den Erhalt des Status quo, einzig in den ökonomischen Verhältnissen der Gesellschaft zu finden sein, um auf die Notwendigkeit des Geschichtsverlaufs kraft der Dialektik von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften bauen zu können. Dabei setzen sie aber, so verstehe ich Adorno, stillschweigend einen Begriff von Individualität voraus, der selbst ein (ideologie‐)kritikwürdiger ist. Gewissermaßen spiegelt Adorno nun das Klassenverhältnis im Psychischen, denn der Verfall von Individualität zeigt sich ja in je divergierenden Formen: Einmal bürgerlich als Ideologie des Individualismus, zum anderen als „Entmenschlichung“ der von solcher Selbstverwirklichung Ausgeschlossenen (GS 8, 388). Individualität im emphatischen Sinne kommt beiden nicht zu. Im Spätkapitalismus allerdings stellt sich die Situation in verschiedener Hinsicht anders dar. Und das schränkt auch die These von der Liquidation des Individuums ein Stück weit ein. Die „Forderungen der Adaption und Autonomie“ widersprächen sich nicht nur, sondern seien real miteinander verflochten (GS 8, 161). Das galt einst für das sich emanzipierende Bürgertum, aber auch wieder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: „Selbst heute hängt der Erfolg von individuellen Qualitäten ab, die […] alles andere sind als Ichschwäche. Anpassung verlangt eine Wendigkeit, die von Individualität nicht zu trennen ist“ (GS 8, 161). Zugespitzt heißt das sogar, man „muß sich anpassen durch Nichtanpassung“ (GS 8, 162). Das Verhältnis ist zutiefst dialektisch. Denn Individualität konstituiert sich nur in dieser Bewegung, was ebenso ihre Nichtidentität mit den herrschenden Verhältnissen voraussetzt, wie anderseits Anpassung „Identifikation mit dem Nicht-Ich“ (GS 8, 162) bedeutet. „Individualität, emphatisch als solche genommen“ (GS 8, 162) – d. h. als eine dieser dynamischen Herausbildung in Gesellschaft vorausgesetzte Kategorie – sei dagegen objektlos und abstrakt. Freilich ist solche Individualität nicht Bedingung von Emanzipation oder Revolution, sondern ökonomisch funktionalisiert. Ihre Qualitäten bemessen sich am Erfolg. Dennoch geht das Vermögen dazu nicht in einer derartigen Anpassung auf. Es bleibt ein Potential für nicht instrumentalisierte Formen von Praxis. Deshalb kann Adorno zu Recht in das Individuum weiter seine Hoffnung setzen. Diese Doppelsinnigkeit wirft aber die Frage auf, ob nicht der Frankfurter an einer Epochenschwelle steht, deren Konsequenzen er bestenfalls vorausahnen konnte – ähnlich wie Kierkegaard in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Die Diagnose einer entfremdenden, umfassenden Integration des Einzelnen in eine „Totalität der Gesellschaft“ (GS 7, 353) schien jedenfalls nach Adornos Tod vielen veraltet – und mittelbar trifft das auch Kierkegaards These der Nivellierung, gerade wo sie ihr entspricht. Gilt sie
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nicht nur für die Phase der „organisierten“ Moderne des 19. und 20. Jahrhunderts,⁵⁷ die „verwaltete Welt“, nicht aber für die hyperdynamische Gegenwart? Ist nicht unsere (westliche) Gesellschaft und gerade die Arbeitswelt ungleich offener, vielfältiger, partizipativer und flexibler geworden und ermöglicht sie nicht dem Einzelnen auch authentische Selbstbetätigung? Selbst Adorno gesteht ihr ja wie gesagt zu, dass sie Individualität zumindest als ihre Voraussetzung gewissermaßen miterzeugt. Dagegen steht aber die heute allgegenwärtige Rede von der Selbstausbeutung des unternehmerischen Subjekts, dass darin auf zynische Weise immer noch die eigene Wirksamkeit erfährt. Sie treibt die These Adornos auf die Spitze, dass dadurch, dass der äußere Zwang zunehmend vermittels der Selbstbeherrschung und -kontrolle der Einzelnen sich geltend macht, er nicht mehr derart als heteronom erscheint. Und er beweist gerade für solche Tendenzen in ihrem Frühstadium eine große Sensibilität – ähnlich wie Kierkegaard seinerzeit etwa für die Kommunikationsstruktur der noch jungen Massenmedien im überschaubaren Kopenhagen.⁵⁸ Man hat aus besagten Veränderungen in jüngerer Zeit – eben in jener Phase in den Achtziger- und Neunzigerjahren, in der es zumindest in akademischen Kreisen still um die Entfremdungskritik geworden war – zwei gegensätzliche Konsequenzen gezogen: Einerseits wurde behauptet, dass sich die Aufhebung der Entfremdung darin praktisch schon vollziehe.⁵⁹ Andererseits wurde das als eine Potenzierung der Entfremdung bewertet, dabei aber der Kritik an ihr zumindest eine Mitschuld gegeben, und zwar weil sie an einem problematischen Begriff von Authentizität ansetze. Diese Variante der Entfremdungskritik wurde gerne als „Künstlerkritik“ bezeichnet und, im Gegensatz zu begründeter Sozial- bzw. Kapitalismuskritik, entweder als unzureichend, wirkungslos oder hoffnungslos überholt verworfen.⁶⁰ In jüngster Zeit haben sich besonders Boltanski und Chiapello (2003) als deren Kritiker hervorgetan. ⁶¹ Auch ihnen zufolge geht es ihr wesentlich um einen Mangel an Authentizität. Nun hat aber dieser vermeintlich ohnmächtige Einspruch, so ihre Kernthese, auf eine paradoxe Weise Erfolg gehabt, indem sich das zugrunde liegende Ideal in den „neuen Geist des Kapitalismus“ transformiert hat. Hier wird dem Einzelnen eben jene Selbstbetätigung und -bestätigung in der Arbeit gewährt, die dem Proletarier bei Marx und Engels nicht mal als Schein noch gestattet wurde. Daraus entsteht aber gerade eine neue Form der Entfremdung, die sich insbesondere in der Arbeitswelt als ein Wegfallen von Distanz gewährenden Rollengrenzen
Vgl. Rosa 2010, 201– 205. Jene Beschreibungen Adornos aus den „Reflexionen zur Klassentheorie“ stammen von 1942 und sind durch die Erfahrungen im Exil in den Vereinigten Staaten geprägt. Sie sind ihrer Zeit in Deutschland voraus und können insofern mit späteren Entwicklungen der Wirtschaftswunderjahre verglichen werden. Joakim Garff (2005, 545) meint etwa, dass Kierkegaard schon geahnt habe, „daß das zukünftige Proletariat kein organisiertes und aktives, sondern im Gegenteil ein unzusammenhängendes und betäubtes Medienproletariat sein werde, daß das Leichte und Schnöde vergöttere“. Vgl. Henning 2015, 170 – 188. Gegen solche Vorwürfe verteidigt sie Christoph Henning (2013). Zur Unterscheidung von Sozial- und Künstlerkritik siehe insbesondere: Boltanski u. Chiapello 2003, 81.
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zeigt und als Überforderung durch die paradoxe Forderung danach, man selbst zu sein. Dadurch wird zwar der Begriff der Rolle selbst aufgehoben, die mit ihr verbundene normative Erwartungshaltung aber übernommen und derart transformiert, dass sie von einer Entlastung zu einer Belastung wird. Beides entspringt einem Anspruch auf die ganze Person, die für sich auch je ganz einstehen muss, wo sie früher bloß partikular, in einem bestimmten sozialen Kontext und bezogen auf rollenspezifische Anforderungen sich verantworten musste. Entscheidend ist nun, dass die Distanzen nur scheinbar wegfallen. Die Vereinnahmung in falscher Nähe hat vielmehr als Praxis selbst eine ideologische Funktion, indem sie die Entzweiung (in) der Gesellschaft, die „Kälte“ und „Gleichgültigkeit“ zwischen den Menschen, von der Adorno spricht, gewissermaßen integriert und verdeckt. Richard Sennett (1986) hat hierfür 1977 die These von der „Tyrannei der Intimität“ geprägt, die ebenfalls vor dem Hintergrund einer, auch in seinen anderen Werken entfalteten Diagnose der Desintegration zwischen und in den Subjekten zu lesen ist. Die Flexibilisierung zeigt sich nicht zuletzt daran, dass gegenüber langfristigen sozialen Bindungen temporären Formen aus Nutzenkalkül der Vorzug gegeben wird. Der vertraute Umgang miteinander täuscht darüber hinweg. Adorno hat derartige Veränderungen in der Arbeitswelt in einem frühen Stadium im Exil in den Vereinigten Staaten studieren können: „Daß sie, anstatt den Hut zu ziehen, mit dem Hallo der vertrauten Gleichgültigkeit sich begrüßen, daß sie anstatt von Briefen sich anrede- und unterschriftslose Inter office communications schicken, sind beliebige Symptome einer Erkrankung des Kontakts. Die Entfremdung erweist sich an den Menschen gerade daran, daß die Distanzen fortfallen“ (GS 4, 45). Ich meine, dass Adorno hierin eine unverminderte Aktualität beweist und seine Diagnose nicht bloß für die „organisierte“ und „verwaltete“ Moderne zutrifft, sondern vielmehr im „neuen Kapitalismus“, den Sennett (2005) bezeichnenderweise mit dem Jahrzehnt nach dessen Tod beginnen lässt, erst so richtig angekommen ist.⁶² Noch bemerkenswerter ist aber, dass sich in der Gegenwart und in gänzlich anderen Verhältnissen eine ähnliche Konstellation wiederfindet, wie sie Adorno etwa an Ibsen und dem Justemilieu des späten 19. Jahrhunderts abliest und als Plädoyer für die Bewahrung der Fremdheit im Verhältnis der Menschen zueinander deutet. Deshalb beschäftigt er sich so ausführlich mit dem bürgerlichen Nonkonformismus jener Zeit.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass auch Helmuth Plessners Schrift, Grenzen der Gemeinschaft: Eine Kritik des sozialen Radikalismus von 1924, mit ihrem Plädoyer für die Bewahrung der Distanz in der Öffentlichkeit als schützender Grenze, erst zu Beginn der Achtzigerjahre wiederentdeckt wurde. Henning (2015, 170) versteht die falsche Aufhebung der Entfremdung in jüngerer Zeit ebenfalls als einen Verlust „sozialer Distanzierung“ und zitiert dabei bezeichnenderweise mehrfach Adorno, mit dem er ansonsten wie gesagt wenig anzufangen weiß (vgl. Henning 2015, 161).
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2.5 Nonkonformismus Vor allem in Kalifornien hat Adorno ebenfalls beobachten können, wie solcher Entfremdung durch Nonkonformismus nicht beizukommen ist. Er demonstriert das an der „colorful personality“: Als „erstarrtes Anderssein“ (GS 4, 154) wird ihr Widerstand letztlich zu einer Selbsterhaltungsstrategie im gesellschaftlichen Konkurrenzkampf und ihre Individualität zu einem Zerrbild – „ein Ausstellungsstück wie die Mißgeburten, welche einstmals von Kindern bestaunt und belacht wurden“ (GS 4, 153). Allerdings ist die Erstarrung, Zeichen von Verdinglichung, das Problem, nicht das Anderssein selbst. Und es scheint zwischen den Zeilen, den bitteren Worten zum Trotz, doch eine Sympathie für diese Menschen durch, angesichts des ihnen widerfahrenen Unrechts. Es ist aber ohnehin ein besonderer Typus des Widerständigen, der ästhetische Nonkonformismus, dem sich Adorno vorrangig widmet. Denn in der ästhetischen Erfahrung wird idealerweise eingeholt, was ihrer entfremdeten Form verwehrt bleibt: eine Alterität, die sich nicht vereinnahmen lässt, weder kulturindustriell noch durch verfügende Subjektivität. Die Möglichkeiten des Einzelsubjekts zu einer nicht herrschaftsförmigen Aneignung und einem nicht verdinglichten Ausdruck sind im Zusammenhang mit Adornos Kritik an Kierkegaards „ästhetischer Schriftstellerei“ und vor dem Hintergrund seiner Hölderlindeutung ausführlich erörtert worden. Authentischer subjektiver Ausdruck ist nur gebrochen möglich, d. h. durch einen Bruch mit dem Ideal verfügender Selbstübereinstimmung. Er erfordert eine Selbstaufgabe, die der strategischen bürgerlichen entgegensteht und die verinnerlichte Ideologie des Individualismus aufbricht. Der Vorzug des ästhetischen Moments besteht hinsichtlich des Nonkonformismus schließlich darin, dass es in sich ein spezifisches Verhältnis des nichtidentischen „radikal Besonderen“ (GS 16, 648) zum Allgemeinen ausdrückt und sich darin je schon als Einheit von Gesellschafts- und Erkenntniskritik konstituiert. Daher ist für Adorno auch der behauptete Gegensatz zwischen Künstler- und Sozialkritik viel zu abstrakt. Dieser theoretische Bezugsrahmen liegt ebenfalls seiner Deutung der Hedda Gabler als verzweifelter Revolte einer bis zur Idiosynkrasie sensiblen Ästhetikerin gegen die Enge einer bornierten Bürgerlichkeit zugrunde. Es behauptet sich nun – im Gegensatz zu Kierkegaard zwar, aber in gleicher Weise als Umkehrfigur – im Schönen das „undurchsichtig Besondere“ als „einzig Allgemeines“ gegen die schlechte Allgemeinheit (GS 4, 106). Die in Hegels Philosophie der bürgerlichen Gesellschaft doppelsinnig vollzogene Versöhnung von Besonderem und Allgemeinem wird hier von Adorno in realitate als eine gedeutet, welche die nicht aufgehobene Entfremdung, als Entfernung der Menschen voneinander, überdeckt. Dabei begegnen ihre Mitmenschen Hedda meist gerade mit Güte, die Adorno allerdings als „Deformation des Guten“ versteht – und ihren ästhetischen Amoralismus als deren „abstrakte Negation“ (GS 4, 105). Es verwundert daher auch nicht, dass dieser Aphorismus in Gerhard Schweppenhäusers (2016, 233) Rekonstruktion von Adornos ungeschriebener Moralphilosophie zu einem „Schlüsseltext“ wird. Er beschreibt ebenfalls jene scheinbare Umkehrung der tradierten Konstellation der Entfremdungskritik: „Unter Bedingungen des falschen Lebens wird Distanz, Merkmal gesellschaftlicher Entfremdung, zur letzten Zuflucht
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nonkonformistischer Individualität. […] Wird die Distanz zerstört, ist Entfremdung nicht behoben, sondern besiegelt“ (G. Schweppenhäuser 2016, 234). Das bedeutet, dass die Nähe, die Intimität, die Hedda aufgenötigt wird, ob in guter Absicht oder nicht, als falsche Unmittelbarkeit gerade nicht im Gegensatz zur Entfremdung in der Gesellschaft steht, sondern diese vielmehr verdeckt und eine nivellierende Wirkung entfaltet: „Wenn Nähe, Verbundenheit und Harmonie vorgetäuscht werden, ist den Menschen auch noch die Möglichkeit genommen, die Erfahrung der Vereinzelung und der individuellen Differenzen zu machen“ (G. Schweppenhäuser 2016, 234). Distanz ist, wie Adorno sagt, das Einzige, das „vor dem Angetastetwerden durchs Allgemeine […] zu schützen vermag“ (GS 4, 105). Diese Möglichkeit ist eben in besonderer Weise in der ästhetischen Erfahrung gegeben, die in ihrer Alterität als Gegenmittel fungiert und in der „ohnmächtige[n] Utopie des Schönen“ (GS 4, 106), die sich dieser Nivellierung widersetzt. Darüber hinaus scheint hier aber bereits Vereinzelung selbst Gegenentfremdung zu sein – und zwar in dem Sinne, dass sie als Entfernung tatsächlich einen Vorgang der Entfremdung beschreibt. Sie ist als solche eben „Gegengift“, also nicht etwa an sich gut, sondern nur ein Korrektiv. Entsprechend kann auch diese Distanznahme bestenfalls ein Bewusstsein umfassender Entfremdung offenhalten – im Falle Heddas ist es höchstens ein undurchsichtiges – und einen Rückzugsort bieten. Um die Möglichkeit einer Überwindung von Entfremdung, und sei es nur partiell und momenthaft, geht es hier nicht. Und es ist abzusehen, dass es mit Hedda, wie mit vielen anderen Protagonistinnen des Ästhetizismus jener Zeit, fiktiven wie realen, kein gutes Ende nehmen kann. Gerade der kunstschaffende Nonkonformist wird als Bohemien oder Dandy in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer beliebten Figur der Literatur und bisweilen auch der Selbstbestimmung. Baudelaire ist hierfür, wie Adorno sagt, das „Urbild“ (GS 2, 18). Doch auch Kierkegaard wird bis heute gerne als solcher (miss‐)verstanden, bezeichnete er sich selbst doch als „Flaneur“.⁶³ Jedenfalls überschneidet sich in dieser Figur die Entfremdung der Kunst als autonomer von der Gesellschaft mit der des Einzelnen – die von Adorno im besagten Sinne der Distanzierung als Gegenentfremdung gedeutet wird. Auch dessen eigene Hinwendung zur Kunst hat man dergestalt als eine Form der Entfremdung des kritischen Intellektuellen von der Gesellschaft begriffen (vgl. Zima 2014, 46) – was angesichts seines engagierten Wirkens in der Öffentlichkeit und seines Selbstverständnisses doch fragwürdig ist. Ein Spannungsverhältnis besteht hier aber sicherlich. Es ist im Falle Kierkegaards, der sich selbst in den von ihm verachteten
Zuletzt hat ihn Klaas Huizing (2003) einen Dandy genannt. Diese Zuschreibung greift wie gesagt auch Adorno im Kierkegaardbuch auf und stellt, im Anschluss an August Vetter (1928), fest: „[D]er zeitliche Phantasie-Horizont, vor welchem Kierkegaard sich abhebt, scheint der des literarischen Ästheten: weniger der deutschen Spätromantik, mehr der Baudelaires“ (GS 2, 18). Und das, obwohl er ihm unbekannt war. Phantasie-Horizont ist er aber vor allem deshalb, weil eben ihre konkrete geschichtlich-gesellschaftliche Situation eine ganz andere war. Daher ist Kierkegaard für ihn auch kein Dandy und sein „Ästhetizismus“ unauthentisch – was freilich ganz dessen Selbstverständnis im Hinblick auf den Gesamtzusammenhang seines Lebens und Werks entspricht.
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Medienzirkus wagte, noch einmal größer. Dietz (2006, 186) spricht daher von einem „performativen Selbstwiderspruch“. Mit der Situation des sich aus seiner Opposition zur Gesellschaft definierenden Individuums teilt sich das Kunstwerk nun auch das Dilemma von Eigenmacht und Ohnmacht. Wo es sich öffnet, wird es vereinnahmt, während es seine Eigenmächtigkeit gerade bewahrt, indem es sich vom gesellschaftlichen Verkehr nachdrücklich scheidet. Es handelt sich dabei jedoch um eine Autonomisierung, in welcher der Einzelne aufgrund seiner Wirkungslosigkeit zugleich ohnmächtig und dadurch handhabbar wird und die jener der Kunst in ihrer Stellung zur Gesellschaft gleicht: „Läßt sie von ihrer Autonomie nach, so verschreibt sie sich dem Betrieb der bestehenden Gesellschaft; bleibt sie strikt für sich, so läßt sie als harmlose Sparte unter anderen nicht minder gut sich integrieren. In der Aporie erscheint die Totalität der Gesellschaft, die verschluckt, was immer auch geschieht“ (GS 7, 352– 253). Der nonkonformistische Intellektuelle, auf seine gesellschaftliche Wirkung bedacht, kann sich damit freilich nicht abfinden. Adorno ist sich wohl bewusst, dass seine Sonderstellung eine widerruflich gewährte und zudem von seinem Standpunkt aus kaum zu rechtfertigen, sondern vielmehr zu kritisieren ist – er spricht wie gesagt vom „Schuldzusammenhang des Privilegs“ (GS 8, 107). Gleichwohl muss er dieses Privileg in Anspruch nehmen, um überhaupt Kritik üben zu können, womit er sich in einen performativen Selbstwiderspruch anderer Art verstrickt (vgl. Demirović 1999, 536). Was nun aber seine Wirkung angeht, so kann sich selbst der marginalisierte Intellektuelle – der er ja so nie war – nach Adorno noch Hoffnung machen, kann sich doch gerade seine Vereinzelung in eine „Macht der Ohnmacht“ (GS 2, 258) transformieren, selbst wenn er sie zu Lebzeiten nicht erfahren konnte. Das zeigt er an Kierkegaard: „Die bestürzende Gewalt Kierkegaards in seinem Nachleben aber hat zum tiefsten Grund, daß eine andere Position als die des Einzelnen, welche er bezog, den Protestierenden auch heute primär nicht sich darbietet; daß jede unmittelbare Identifikation mit dem Kollektiv sogleich die Unwahrheit ist, zu der die Position des Einzelnen stets erst wird“ (GS 2, 246 – 247). Dieser Identifikation mit dem Kollektiv – vor der bereits Kierkegaard so eindrücklich warnte – entgegenzuwirken, wird zum vielleicht vordringlichsten Anliegen von Adornos Wirken in der Öffentlichkeit. Ihm widmet er sich auch im bekanntesten seiner zahlreichen Rundfunkbeiträge, Erziehung nach Auschwitz: „Für das Allerwichtigste gegenüber der Gefahr einer Wiederholung halte ich, der blinden Vormacht aller Kollektive entgegenzuarbeiten“ (GS 10/2, 681). Und das heißt wesentlich, die „subjektiven Mechanismen“ (GS 10/2, 689) aufzuklären – und über sie aufzuklären –, die das Kollektiv dazu bringen, gegen jegliches Abweichende sich zu richten. Was Adorno hier unter dem Kollektiv versteht, ist eine Integration der Desintegrierten, ein Zerrbild jener Solidarität, die gerade die Rettung des Individuums wäre (vgl. GS 4, 153). Sie hat die Vereinzelung der Menschen und die Gleichgültigkeit in ihrem Verhältnis zueinander zur Voraussetzung – es ist die „lonely crowd“ (GS 10/2, 687). So gesehen ist zwar die Behauptung, „[d]ass die Menschen keine Bindung mehr hätten, sei verantwortlich für das, was da vorging“ (GS 10/2, 678) nicht falsch, doch die gutgemeinte Forderung nach Bindung – sie erinnert an den Begriff der „Güte“ im Aphorismus über Hedda Gabler – greift ebenso fehl, zu-
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mindest wo sie als unmittelbare Identifikation gedacht wird. Als solche besiegelt sie die Entfremdung der Menschen voneinander nur. Es zeigt sich also auch an Adornos meistgelesenem Text überhaupt (vgl. Gruschka 2004, 135), dass Entfremdung als Entbindung und Distanz als ihr Merkmal nicht im Gegensatz stehen zu einem Verständnis von Entfremdung als einem falschen Eingebundensein. Ich meine, dass es durchaus Parallelen gibt zwischen der Beschreibung solcher Kollektivierung und denen der „Menge“ bei Kierkegaard – die Adorno allerdings wegen der vermeintlich konservativkulturphilosophischen Implikationen solcher Kritik der Masse zumeist nicht einzugestehen bereit war.⁶⁴ Denn auch für Kierkegaard gilt: „Die Vereinzelung ist […] kein Gegensatz zur Vermassung, sondern deren soziologische Voraussetzung.“⁶⁵ Offener tritt die Gemeinsamkeit zu Tage in der Art und Weise, wie solche Dynamiken die Möglichkeit des Ethischen überhaupt untergraben, da „Menge entweder völlige Reuelosigkeit und Unverantwortlichkeit gewährt, oder doch die Verantwortung für den Einzelnen schwächt dadurch, daß sie diese zur Größe eines Bruchs herabsetzt“ (G, 100 – 101 / SKS 16, 87– 88). Allerdings sieht Adorno nicht, dass Kierkegaards Liebesethik eine Konsequenz aus dieser Diagnose ist. Auch sie rechnet mit der Gleichgültigkeit der Menschen untereinander und hält sie ihr nicht einfach abstrakt entgegen oder täuscht über sie hinweg – gleich der „Güte“ als Verfallsform des Guten. Darum soll es abschließend gehen. Ungeachtet solcher, teils auch vorgeschobener Differenzen, lässt sich Adornos anhaltende Beschäftigung mit Kierkegaard aber gerade aus dem Umstand erklären, dass dieser den Einzelnen gegen die „Identifikation mit dem Kollektiv“ profiliert, der entgegenzuarbeiten ihm als Konsequenz aus der Geschichte eben „das Allerwichtigste“ war.
3 Der Einzelne und das Allgemeine Entfremdung als radikale Vergesellschaftung bedeutet eine Zurichtung des Subjekts nach Maßgabe des gesellschaftlichen Allgemeinen. Dagegen stehen sowohl Adornos ästhetischer Nonkonformismus als auch die Kategorie des Einzelnen bei Kierkegaard als Korrektiv. Dass beide gegen die Subsumption des Besonderen unter das Allgemeine bei Hegel Einspruch erheben, ist eine der offensichtlichsten, aber auch eine der erklärungsbedürftigsten Gemeinsamkeiten. Aufklärungsbedarf besteht erstens deshalb, weil sich bei beiden die Begrifflichkeiten mit Hegels Bestimmung der Besonderheit und der Einzelheit offensichtlich nicht decken. Zweitens hält Adorno an dessen Verständnis von
So sollte etwa der Begriff der Masse oder Menge nicht mit einer bestimmten sozialen Schicht verwechselt werden, oder Kierkegaards Kritik pauschal als eine dünkelhafte, den einfachen Menschen abwertende, verworfen werden, wie er selbst deutlich macht: „Menge – nicht diese oder jene, die jetzt lebende oder ein dahingegangene, eine Menge von Geringen oder von Vornehmen usf., sondern begrifflich genommen“ (G, 100 / SKS 16, 87). Wie er in der Anmerkung dazu, in direkter Ansprache an die Lesenden, nochmals betont, ist sie zu verstehen als „das Numerische“ und seine Wirkung. Dietz 2006, 202. Er bezieht sich hier, in seiner Frage nach der Aktualität des kierkegaardschen Massenparadigmas, auf Peter Sloterdijk (2000).
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gesellschaftlicher Allgemeinheit fest und nimmt damit auf den ersten Blick eine Gegenposition zu Kierkegaard ein. Die Ambivalenz gründet darin, dass solche Allgemeinheit die Verwirklichung von Individualität im emphatischen Sinne erst ermöglicht. Wo sich diese ihr entfremdet, verliert sie sich folglich selbst: Hegels Philosophie reißt die Perspektive des Verlusts auf, den der Aufstieg von Individualität im neunzehnten Jahrhundert bis tief ins zwanzigste hinein involvierte: den an Verbindlichkeit, jener Kraft zum Allgemeinen, in der erst Individualität zu sich käme. Der mittlerweile evidente Verfall von Individualität ist solchem Verlust gekoppelt; das Individuum, das sich entfaltet und differenziert, indem es von dem Allgemeinen immer nachdrücklicher sich scheidet, droht auf die Zufälligkeit zu regredieren, die Hegel ihm vorrechnet. (GS 6, 344)
Dass Hegel den Blick hierfür erst öffnet, ist wörtlich zu nehmen. Kants Autonomiebegriff war noch untrennbar mit der Idee einer Allgemeinheit als „Menschheit in uns“⁶⁶ verbunden, doch er steht schon an der Schwelle zur Entbindung beider Momente, Selbstverwirklichung und Allgemeinheit.Vollends begreift sie aber erst Hegel. Wie sich gezeigt hat, ist ja seine Rechtsphilosophie im Ganzen der Versuch, dieser Entzweiung zu begegnen. Sie baut zugleich auf der Einsicht auf, dass Allgemeinheit und Vernunft überhaupt schon wirklich sind und nicht erst als (politische) Idee vom Einzelsubjekt zu verwirklichen. Es besteht zwischen beiden eine – allerdings asymmetrische – Wechselbeziehung, weswegen sie in ihrem Verfall eben, wie Adorno sagt, gekoppelt sind. Hegel hält er daher zugute, er habe die Illusion der Autonomie des Individuums entlarvt. Und das ist sein Recht gegenüber Kierkegaard. Bei diesem artikuliert sich Selbstverwirklichung als eine entbundene und deshalb wesentlich entzweite. Zwar hindern ihn, wie Theunissen (1982b, 2– 3) feststellt, „noch religiöse Motive […], Selbstverwirklichung auf eine Entfaltung der je eigenen Individualität zu reduzieren. Aber […] das Selbstwerden des ‚Einzelnen‘ […] geriet doch am Ende schon ihm zur Vereinzelung in dem Sinne, in welchem Heidegger diesen Terminus verwendet, d. h. zur Befreiung von den anderen“. Darin ist er jedoch auch „moderner“ und „adäquater“, sofern das eben „eine Verwirklichung von nichts ist, nämlich von nichts Vorgegebenem“ (Theunissen 1982b, 10). Allerdings tritt schon die Allgemeinheit, wie sie als reale und ideale der bürgerlichen Gesellschaft zugrunde liegt, selbst an die Stelle „metaphysisch“ begründeter „traditionale[r] Allgemeinheit“ und ihrer Vorstellung von einer „Bestimmung des Menschen“ (Theunissen 1982b, 11). Eine solche ist als bestimmt sein durch und zu etwas dem Vollzug der Selbstbestimmung vorausgesetzt. Dennoch ist auch Hegel nicht frei von vormodernen, teleologischen Elementen. Er versucht gewissermaßen, die verlorene Bestimmung geschichtsphilosophisch zu restituieren, was Kierkegaard in seiner Polemik gegen das Weltgeschichtliche in aller Schärfe in den Blick nimmt. Mehr noch aber kann Adorno im Dänen einen Verbündeten sehen, wo er Hegel dafür verantwortlich macht, theoretisch zu besiegeln, was sich praktisch ohnehin vollzieht, dass „die Individuen zu bloßen Ausführungsorganen des Allgemeinen relegiert sind“ (GS 6, 336). Hier
Die Metaphysik der Sitten: AA VI, 436; vgl. AA XXIII, 269 (Vorarbeiten zur MdS).
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fällt dem Einzelnen, und damit Kierkegaards Standpunkt, „als Verurteiltem gegen den Sieger die Wahrheit wiederum zu“ (GS 4, 147).
3.1 Allgemeinheit, Besonderheit, Einzelheit Hegel hätte da freilich widersprochen. Zum einen betont er im Begriff der Person durchaus das Recht des Individuums auf seine Besonderheit und affirmiert die soziale Individualisierung der Moderne auch in einem emphatischen Sinne. Zum anderen gestaltet sich das Verhältnis von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem bei Hegel komplizierter, als es – zumindest auf den ersten Blick – die Kritik Adornos und mehr noch die Kierkegaards einzuholen vermag. So hat man dem Frankfurter wiederholt unterstellt, die drei Momente der begrifflichen Vermittlung bei Hegel schlicht auf zwei zu reduzieren, so dass die Allgemeinheit der Besonderheit und Einzelheit gegenübersteht, wobei Letztere weitgehend austauschbar werden.⁶⁷ Tatsächlich argumentiert Adorno nicht immer terminologisch exakt im Sinne Hegels. Mir geht es im Folgenden aber um die Frage, inwiefern die Verkürzung möglicherweise schon diesem selbst anzulasten ist.⁶⁸ In der vorläufigen Explikation der Allgemeinheit im zweiten Kapitel war die Einzelheit noch unterbestimmt geblieben. Dass sie die Einheit von Allgemeinheit und Besonderheit bildet, scheint zunächst dem Alltagsverständnis zu entsprechen, dass von ihr als Gegenstand (der Logik) in unterschiedlicher Hinsicht eben beides ausgesagt werden kann. Dazu scheint auch zu passen, dass Hegel vom Einzelnen als „Grundlage“ spricht. Solches Denken ist aber undialektisch. Nun bereitet dieser Ausdruck in der einschlägigen Passage aus der Enzyklopädie dem Verständnis allein deshalb schon Schwierigkeiten, weil er dort von Hegel unmittelbar hintereinander in zwei divergierenden Bedeutungen gebraucht wird: „Ferner ist das Besondere das Unterschiedene oder die Bestimmtheit, aber in der Bedeutung, daß es allgemein in sich und als Einzelnes sei. Ebenso hat das Einzelne die Bedeutung, daß es Subjekt, Grundlage sei, welche die Gattung und Art in sich enthalte und selbst substantiell sei“ (TWA 8, 314). Im ersten Fall
Einen Überblick zu dieser Kritik bietet: Sommer 2016, 41– 43. Diesen Weg wählt in anderer Weise auch Sommer. Er demonstriert überzeugend, dass Adorno auf einer bei Hegel eingezogenen Differenz in der Vermittlung insistiert und deren „Hypostasis“ kritisiert. Auch bei diesem ist die Vermittlung zunächst eine zweigliedrige „ohne Mitte“, insofern das „Dritte“ ja nicht ein Äußerliches oder neu Hinzutretendes ist, sondern die „gesetzte Vermittlung“, d. h. das Ganze und nicht selbst ein Moment (Sommer 2016, 53). Diese Logik entspricht übrigens ganz der, die Kierkegaards berühmte Anfangspassage der Krankheit zum Tode trägt: Der Mensch ist eine Synthese und das heißt: „Im Verhältnis zwischen zweien ist das Verhältnis als negative Einheit das Dritte“ (KT, 13 / SKS 11, 129). Das positive Dritte ist dann das Selbst, aber das ist freilich auch kein hinzutretendes Moment, in dem die anderen vermittelt wären – bei solchen anthropologischen Strukturbestimmungen offenbart sich die Absurdität der Annahme –, sondern bedeutet, formal wie bei Hegel, dass das Verhältnis zum Selbstverhältnis wird. Schon das zeigt, dass Kierkegaard ihn bisweilen besser verstanden hat, als es die Polemik gegen die „Mediation“ vermuten lässt.
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entspricht die Einzelheit der vom Besonderen als Besonderung des Allgemeinen unterschiedenen Besonderheit, die eine hinzutretende Bestimmung und also in der Allgemeinheit nicht enthalten ist, sondern einen Überschuss über sie hat. Deshalb kann Hegel ja auch sagen, dass das Allgemeine im Besonderen enthalten sei und nicht nur dieses in jenem. Wenn aber das ganze Verhältnis als Allgemeines bestimmt sein soll, ist auch eine solche einzelne Besonderheit noch eine Spezifikation des Allgemeinen, da die Momente der Identität und der Differenz, die darin je enthalten sind, selbst noch aufeinander bezogen werden müssen. Anders gesagt ist das Unterscheiden nicht abstrakt zu nehmen, sondern selbst auch eine Beziehung, die über das bloße Trennen von nicht aufeinander Bezogenem hinausgeht. Das ist aus der Perspektive der klassischen Logik natürlich widersprüchlich, in der Weise, wie Popper es der Dialektik vorgerechnet hat. Allerdings entspringt hier die Notwendigkeit so zu denken meines Erachtens aus dem Anspruch auf Allgemeinheit selbst und ist nicht einfach Unsinn. Vielmehr wird die Bestimmung der Allgemeinheit selbst sinnlos, wo sie nur als eine unter anderen auftritt. Friedrike Schick (2006b, 155) fasst das treffend zusammen: „Ein Allgemeines, das […] nur eine von vielen partikularen Bestimmungen der Sache wäre, wäre in ihrem [sic] logischen Status nicht mehr von der mit ihr kombinierten Besonderheit unterschieden“. Deshalb ist auch der Begriff der Einzelheit nicht einfach ein aus Allgemeinem und Besonderen zusammengesetzter, in dem Sinne dass er die Einheit divergierender Bestimmungen wäre. Vielmehr ist er das derart – das ist die zweite Weise, in der hier vom Einzelnen die Rede ist –, dass er Subjekt ist. Nun ist der Subjektbegriff auch in diesem Zusammenhang wesentlich mehrdeutig. Zunächst ist damit „das Zugrundeliegende (subjectum, hypokeimenon)“ (TWA 6, 304) gemeint. Als bloß substanzhaftes Einzelnes korrespondiert es aber mit dem abstrakten Allgemeinen. Dem konkreten entspricht es als subjekthaftes auch im Sinne der Selbstbeziehung. Mehr noch fordert Hegel aber, dass es Subjekt sei als tätiges. In dieser Weise „bezeichnet ‚Einzelheit‘ nun auch den terminus ad quem, den Zielpunkt des Begreifens“ (F. Schick 2006b, 155). Und das ist der Begriff selbst.Was es heißt, dass er Subjekt ist, enthüllt sich erst jetzt. Zugleich ist hier der Punkt erreicht, an dem das kritische Potential der Dialektik jener Momente verschüttet wird und sich entsprechend Adorno ihre Logik nicht mehr zu eigen machen kann: „Wenn in diesem Zusammenhang von Selbstbestimmung oder Subjektivität die Rede ist, so geht es nicht mehr um die zum Zwecke des Begreifens unternommene Analyse und Synthese von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit, nicht mehr um die Formen der Adäquation des Denkens an die Sache, sondern umgekehrt um die – laut Hegels These – vom Begriff selbst zu organisierende Adäquation der Sache an den Begriff“ (F. Schick 2006b, 156). Das ist der auf dem Kopf stehende Idealismus, dem die Kritik gilt. Es handelt sich bei diesen Bestimmungen jedenfalls um solche des Begriffs derart, dass ihre Einheit ihn als Begriff bestimmt. Das heißt auch, dass diese Momente unabhängig davon sind, was darunter je begriffen wird. So ist etwa – nur um die Bandbreite anzudeuten – das „lebendige Individuum“ durch sie bestimmt, insofern es als lebendige Objektivität, wie Hegel sagt, „vom Begriffe beseelt [ist] und ihn zur Substanz hat“ (TWA 6, 478). Hier zeigen sich die Bestimmungen als „Sensibilität“, „Irritabilität“ und „Reproduktion“ (TWA 6, 478 – 480). Die Momente sind also, das zeichnet ja Dialektik über-
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haupt aus, ebenso Bestimmungen der Realität, wie solche ihrer Erkenntnis. Und ihre Logik soll sich – gemäß dem zuvor umrissenen epistemologischen Totalitätsanspruch – an allem erweisen, was überhaupt Gegenstand werden kann. Daher kann das, worum es der Philosophie Hegels insgesamt geht, als Versuch, die Allgemeinheit zu fassen, verstanden werden. Auch die Person im Sinne der Rechtsphilosophie ist als Einheit von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit zu denken, was dann seine Entsprechung in der Trias der drei Gewalten des Staates findet. Überhaupt ist gerade dieses Werk Hegels im Ganzen und in seinen Teilen nach den genannten Momenten organisiert. Das heißt, dass sich Allgemeinheit im abstrakten Recht unter dem Aspekt der Allgemeinheit als solcher zeigt, in der Moralität unter dem der Besonderheit und in der Sittlichkeit schließlich unter dem der Einzelheit. In Letzterer wiederum drücken Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat in dieser Reihenfolge je das Prinzip der Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit aus. Auf jeder Stufe ist aber die Einheit der drei Momente schon mitgedacht bzw. vorausgesetzt.⁶⁹ Es bedarf kaum der Erwähnung, dass Hegel Allgemeinheit mit Vernunft zusammendenkt. Versteht er darunter „die objektive Macht, die das Sein im ganzen durchdringt“ (Theunissen 1982b, 26), so wird deutlich, warum Allgemeinheit als Selbst- bzw. Identitätsbeziehung ubiquitär sein soll: „Man gewahrt die Allgemeinheit als die in sich vernünftiger Sachen“ (Theunissen 1982b, 26). Damit geraten aber, wie Theunissen argumentiert, die sich auf sich selbst und andere beziehenden menschlichen Subjekte aus dem Blick, denen Hegel nur abstrakte Allgemeinheit, d. h. die „Allheit“ gleicher Subjekte zugestehen will. Das ist wiederum durch seine Opposition gegen einen konsensualistischen Wahrheitsbegriff und die Dominanz kontraktualistischer Staatstheorien motiviert. Daher versucht er, „um eines möglichst starken Korrektivs willen der intersubjektiven Allgemeinheit die vernünftige polemisch entgegenzusetzen. Aber in der Substanz will er die Vernünftigkeit in sich vernünftiger Sachen gerade als Bedingung der Möglichkeit tragfähiger Konsensbildungen herausarbeiten“ (Theunissen 1982b, 26). Darin liegt der Vorzug seines Begriffs von gesellschaftlicher Allgemeinheit. Als reale, objektive bietet sie ein belastbares Fundament. Das Defizit besteht darin, dass sie deshalb ihr Komplement degradiert, d. h. sowohl die Konstitution der realen Subjekte wie ihre Beziehung zueinander. Dadurch leistet Hegel theoretisch der Entfremdung von gesellschaftlicher Allgemeinheit und individueller Selbstverwirklichung Vorschub. Von welchen Subjekten ist hier aber die Rede? Auch die Person als Rechtsbegriff ist ja nicht mit dem einzelmenschlichen Individuum zu identifizieren, wie überhaupt bisher das Verhältnis der Einzelheit als logischer Bestimmung zu ihm offengeblieben war. Dass die spekulative Einzelheit nicht mit dem Individuum gleichzusetzen ist und dass dieses nicht allein das menschliche meint, ist nach dem bisher Gesagten offensichtlich. Allerdings steht sie ihm ebenso wenig bloß abstrakt gegenüber. Die Einzelheit ist „das Prinzip der Individualität und Persönlichkeit“ (TWA 6, 297), aber derart, dass sie darin eben nicht begriffen ist. Das heißt, wie Lu De Vos (2006, 273) zusammenfasst, dass „das
Siehe dazu: Theunissen 1982a, 330.
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Individuum eine objektive oder reelle und damit selbstständig spezifizierte Einzelheit [ist], die sich ihrer Rechtfertigung in der begrifflich vorhandenen Einzelheit nicht mehr, oder noch nicht bewusst ist“. Ferner gilt: „Individuum heißt grundlegend ein Objekt, sofern seine Teile als seine fürsichseiende oder entfaltbare Bestimmtheit in eine eigene Einheit zusammengebracht und erhalten werden. Es zeigt damit Selbstständigkeit und ist durch solche Reflexion in sich ein konkretes Zentrum“ (De Vos 2006, 273). Das entspricht durchaus dem üblichen Verständnis, nicht nur von menschlicher Individualität. Allerdings sind solche Individuen als besondere selbst relativ gegenüber den absoluten. Als „objektiv allgemeine Einheit“ übergreifen sie die „relativen Individuen“ in ihrem Insichsein, die wiederum jenes „allgemeine Individuum“ realisieren, d. h. „zur äußerlichen Existenz bringen“ (De Vos 2006, 273 – 274). Auch hier lässt sich meines Erachtens unschwer erkennen, wie ein solches Verhältnis gerade die gesellschaftliche Allgemeinheit expliziert. Der Staat übergreift „als sich auf sich beziehender Organismus“ (TWA 7, 404) die Einzelindividuen, d. h. letztlich die Bürger als Personen, die ihn tätig realisieren. Nur versteht Hegel dieses Verhältnis als Entäußerung der„Idee des Staates“ (TWA 7, 404). Denn allein die Idee ist der „wirkliche Gott“: „[D]ies Wesen realisiert sich als selbständige Gewalt, in der die einzelnen Individuen nur Momente sind“ (TWA 7, 403, Zusatz). Und das betrifft auch den Staat, der als besondere Individualität andere solche Individuen ausschließt – bis hin zu ihrer Vernichtung im Krieg. Derart gibt sich erst „die allgemeine Idee als Gattung und absolute Macht gegen die individuellen Staaten, der Geist […] im Prozesse der Weltgeschichte seine Wirklichkeit“ (TWA 7, 405). Insofern können Kierkegaard und Adorno die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem in einer solchen Folge sich übergreifender Individualitäten zu Recht als eine der Subsumption begreifen. Als solche enthüllt sie sich aber erst am Ende der Bewegung vollends. Eine derartige weltgeschichtliche Spekulation als Endpunkt der Bewegung ist wohl der Aspekt, der Adorno vorrangig motiviert, seine Dialektik als negative zu entwerfen. Das gilt aber, wie im zweiten Kapitel erörtert, nicht minder für Kierkegaard. In den Vorlesungen Adornos tritt die Nähe zum Dänen oft deutlicher zutage. So stellt er in Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit fest, dass Hegel „eigentlich a priori jeder Kritik, also jeder konkreten Äußerung dessen, was unter Geist überhaupt vorgestellt werden kann, in die Parade fährt im Namen eines angeblich höheren Begriffs von Geist, – ohne daß er dabei aber darauf verfiele, daß dieser angeblich höhere Begriff des Geistes doch vor dem lebendigen und wirklichen Geiste der Menschen sich auszuweisen hätte“ (NL 4/13, 70). In dieser Hinsicht ist Kierkegaards vermeintlich unangemessener Einspruch eben doch berechtigt, weil in Hegels durchaus überzeugender Logik eine Immunisierungsstrategie steckt. Insbesondere an seiner Geschichtsphilosophie kritisiert Adorno eine „vollkommene Ablösung des Geistbegriffs als einer Objektivität von jeglicher Gestalt der subjektiven Vernunft“ (NL 4/13, 165). Das heißt, dass diese „von jeder Konfrontation mit der einzelmenschlichen Vernunft abgespalten wird, in der doch schließlich das Urteil über Vernunft oder Unvernunft des Ganzen wurzelt“ (NL 4/13, 165). Wenngleich Hegel solche subjektive Rechtfertigung auch als unabdingliches Moment einfordert, ist hier die Verselbständigung der Objektivation derart fortgeschritten, dass sie nicht mehr als solche erkennbar ist, eben weil sie in der übergreifenden Selbstent-
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fremdung des Geistes eingezogen wird. Und darin besteht auch das ganze Problem in der Frage nach dem Verhältnis des „Geistbegriffs“ zum existierenden menschlichen Subjekt. Es ist für Adorno im Grunde doch die einzige Quelle dieser Entfremdungsdynamik, auch wenn die Objektivität, die Hegel behauptet, als solche ernst zu nehmen ist.
3.2 Die abstrakte Allgemeinheit der bürgerlichen Gesellschaft In der Forschung wurde der Schlüssel zum rechten Verständnis der Grundlinien der Philosophie des Rechts oft in der Wissenschaft der Logik gesucht.⁷⁰ Schließlich lädt Hegel durch eindeutige Verweise selbst dazu ein. Darüber hinaus wurde aber die Rechtsphilosophie am Maßstab seiner Logik selbst als defizitär ausgewiesen – am prominentesten wohl durch Marx. Und schließlich hat man, wie Theunissen in seiner vielbeachteten Studie Sein und Schein, diese schon im Horizont einer Sozialtheorie – und auch der marxschen Kritik – ausgelegt.⁷¹ Gegen die behauptete zurichtende Unterordnung des Individuums unter ein gesellschaftliches Allgemeines in der Rechtsphilosophie wird dabei insbesondere die kritische Funktion von Hegels Urteilslehre ausgespielt, die sich ja wie erwähnt gerade gegen die tradierte Subsumptionslogik richtet. An diesem Spannungsverhältnis setzt auch Adorno an, was in vereinfachter Form die „Zueignung“ der Minima Moralia beschreibt. Dass er „das Individuelle traktiert“, geschehe „im Widerspruch zur eigenen Einsicht“ (GS 4, 15). Damit stellt er nicht bloß fest, dass „die im Begriff konstruierte Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem“ (GS 4, 15) geschichtlich nicht vollbracht wäre. Mehr noch behauptet er dort, dass Hegel die kritische Einsicht seiner Logik in der Gesellschaftstheorie nicht einhole: Indem Hegel die bürgerliche Gesellschaft sowohl wie deren Grundkategorie, das Individuum, hypostasiert, hat er die Dialektik zwischen beiden nicht wahrhaft ausgetragen. Wohl gewahrt er, mit der klassischen Ökonomik, daß die Totalität selbst aus dem Zusammenhang der antagonistischen Interessen ihrer Mitglieder sich produziert und reproduziert. Aber das Individuum als solches gilt ihm weithin, naiv, für die irreduzible Gegebenheit, die er in der Erkenntnistheorie gerade zersetzt. In der individualistischen Gesellschaft jedoch verwirklicht nicht nur das Allgemeine sich durchs Zusammenspiel der Einzelnen hindurch, sondern die Gesellschaft ist wesentlich die Substanz des Individuums. (GS 4, 15 – 16)
Dass Adorno von einer Hypostasierung spricht, ist gemäß der verwickelten Begriffsgeschichte mehrdeutig. Denn darunter ist einerseits durchaus in der von Kant geprägten Einen Überblick dazu bietet Hennning Ottmann (1982). Diese Deutung ist freilich nicht unumstritten, bleibt aber, wie Schnädelbach (2007, 82) feststellt, „noch weitgehend im Umkreis des Hegelschen Werkes“ und trifft also etwas, worum es auch diesem selbst ging. Aber was das je ist, lässt sich ohnehin nur schwer sagen, da man bei der Wissenschaft der Logik, wie Adorno – der in diesem Zusammenhang gern zitiert wird – feststellt, „buchstäblich zuweilen nicht weiß und nicht bündig entscheiden kann, wovon überhaupt geredet wird, und bei dem selbst die Möglichkeit solcher Entscheidung nicht verbrieft ist“ (GS 5, 326). Zur Debatte um Theunissens Thesen siehe: Fulda, Horstmann u. Theunissen 1980.
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Weise eine Erschleichung der Wirklichkeit zu verstehen, wie Marx sie an Hegels Rechtsphilosophie kritisiert. Gleichwohl klingt hier meines Erachtens die ältere griechische Bedeutung von hypóstasis an, wo der Begriff allgemein die Grund- oder Unterlage im Sinne eines Vorhandenen meinte und spezifischer den Bodensatz. Der letztgenannte Aspekt erklärt wohl die spätere Engführung mit dem Substanzbegriff. Adornos Rede von der irreduziblen Gegebenheit deutet gleichsam die Zwischenstellung an. Das Individuum ist folglich in zweifacher Weise nicht als bloße Vorhandenheit aufzufassen: Zum einen, weil es gewissermaßen eine Ablagerung der Gesellschaft ist, die insofern zu dessen Substanz wird. Zum anderen ist es darin zugleich Resultat einer Hypostasierung, in dem Sinne, dass Hegel es als „Grundkategorie“ der bürgerlichen Gesellschaft, wie auch diese selbst, aus der Idee des Staates hervorgehen lässt. Das gleicht der Dialektik von Bestehendem bzw. Positivismus und Idee respektive Idealismus im hegelschen Staat, die Marx als eine Mystifikation bezeichnet. Adorno unterstellt Hegel aber noch eine Doppelstrategie anderer Art: während er das Individuum einerseits als vergesellschaftetes an den realen Subsumptionsverhältnissen abliest, macht er sich andererseits die abstrakte Allgemeinheit eines Subjektbegriffs zunutze, den er bei aller Kritik paradoxerweise Kant verdankt. Nur so kann es zur Projektionsfläche solcher idealistischen Rekonstruktion werden. So sehr er auch dessen „abstrakten Formbegriff zu liquidieren trachtet, schleppt [er] gleichwohl die Kantische und Fichtesche Dichotomie von – transzendentalem – Subjekt und – empirischem – Individuum mit“ (GS 6, 343). Und das hat schwerwiegende Konsequenzen: „Der Mangel konkreter Bestimmtheit des Subjektivitätsbegriffs wird ausgebeutet als Vorteil höherer Objektivität eines von Zufälligkeit gereinigten Subjekts; das erleichtert die Identifikation von Subjekt und Objekt auf Kosten des Besonderen“ (GS 6, 343). Das Besondere meint hier das, was im Individuum nicht in seiner Bestimmung, Substanz der Gesellschaft zu sein, aufgeht, oder vereinfacht gesagt die Nichtidentität mit dieser. Im Resultat regrediert das vergesellschaftete Individuum durch solche Identifizierung bei Hegel auf das, was es seiner Logik nach gerade nicht sein soll, was er, wie Adorno sagt, „in der Erkenntnistheorie gerade zersetzt“: ein substrathaftes Subjekt. Wie es bei ihm in der Rechtsphilosophie dazu kommt, verdient allerdings eine genauere Betrachtung. Sie ist Adorno zufolge in entscheidender Hinsicht unterbestimmt, weshalb die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem, von Gesellschaft und Individuum „nicht wahrhaft ausgetragen“ wird. Zunächst ergibt sich dieser Mangel schon aus dem Umstand, dass Hegel den Staat seiner Gesellschaft abstrakt entgegensetzt – so auch der Hauptvorwurf in Marx’ Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie –, um ihn vor der nichtseinsollenden Entfremdung, d. h. der Entzweiung der bürgerlichen Gesellschaft, zu schützen. Das hat aber zur Konsequenz, dass auch die Bewegung im Ganzen, also die Rückkehr des entfremdeten Geistes in sich, sich in den Staat als die „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ nicht durchträgt. Die bürgerliche Gesellschaft, das „System der Bedürfnisse“, ist nur als formelle Allgemeinheit bestimmt. Sie ist gegenüber der Familie „die Stufe der Differenz“, in der sich die Momente der Allgemeinheit und Besonderheit entzweien und verselbständigen „müssen“ (TWA 7, 338). In der Enzyklopädie spricht Hegel auch vom abstrakten Geist, der sich besondert (TWA 10, 321). Zwar steht eine solche Besonderheit notwendigerweise in
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einem Verhältnis zu der ihr entsprechenden Allgemeinheit. Dieses ist aber nur ein „Reflexionsverhältnis“, wie er in der Rechtsphilosophie sagt, die Allgemeinheit scheine bloß in die Besonderheit, welche dadurch selbst scheinhaft wird.⁷² Darin ist nun unmissverständlich ein Bezug zur Reflexionslogik ausgesprochen, was Hegel noch bestätigt, indem er auf mehrere Paragrafen aus dem „Vorbegriff“ des Logikteils der Enzyklopädie verweist – unter anderem auf jene, welche die berühmte Definition der Dialektik enthalten. Dort heißt es prägnant: „Die Reflexion ist zunächst das Hinausgehen über die isolierte Bestimmtheit und ein Beziehen derselben, wodurch diese in Verhältnis gesetzt, übrigens in ihrem isolierten Gelten erhalten wird“ (TWA 8, 172). Darin wird also zum einen das seinslogische Getrenntsein und die Selbständigkeit der Momente vorausgesetzt und festgehalten – ihre Gleichgültigkeit gegeneinander. Zum anderen ist damit die Möglichkeit der Subsumption des Besonderen unter ein Allgemeines gegeben, die Adorno und Kierkegaard gleichermaßen kritisieren. Theunissen beschreibt deshalb die Reflexionsverhältnisse als Herrschaftsverhältnisse. In beiden Aspekten spiegelt sich nicht nur die Logik, sondern wird auch faktisch beschrieben, was ist: „Das ist das Wahre an Hegels Unwahrheit“ (GS 5, 324). Hegel liefert damit die Mittel der Kritik an ihm gleich mit. Er gibt, so Theunissen (1994, 477), „ein logisches Modell an die Hand, nach dem die Aufhebung der durch Gleichgültigkeit und Herrschaft gekennzeichneten bürgerlichen Verkehrsformen sich denken lässt“. Marx verfährt entsprechend in einer zweistufigen Weise. Einmal setzt er „den durch Mystifikation begriffslogisch überhöhten Staat auf die Reflexionsstufe herab“ (Theunissen 1994, 477) – also die, auf der die bürgerliche Gesellschaft angesiedelt ist. Zum anderen wird dadurch dessen Platz einer objektiven Allgemeinheit frei. Bei Marx tritt an diese Stelle zunächst sein Ideal von „Demokratie“, kurz darauf dann der Kommunismus. Konkret setzt er den Status des Staates derart herab, dass er Hegels Auffassung ständischer Repräsentation unterstellt, die im Parlament verkörperte Allheit, das empirische Allgemeine, nur als erweiterte abstrakte Einzelheit zu denken. Dagegen gelte es, die „objektive Allgemeinheit der Gattung in die subjektive Realität derer umzusetzen, die durch ihre Verwirklichung ihre abstrakte Einzelheit abarbeiten“ (Theunissen 1994, 482). In seiner frühen Schrift von 1843 wird deutlich, dass Marx die Voraussetzung dafür, dass die Individuen im Allgemeinen sie selbst sein können, darin sieht, dass deren Einzelheit – wie es auch Hegel in der Logik fordert –, sich selbst wandelt, und zwar in der Gattungsallgemeinheit. Damit kritisiert er an der Rechtsphilosophie das, was auch Adorno ihr vorhält: Einzelheit als unveränderte vorauszusetzen, d. h., wie dieser sagt, als „irreduzible Gegebenheit“. Denn Allgemeinheit subjektiv zu realisieren, bedeutet vereinfacht gesagt, sich von einer bloß substanzhaften in eine im vollen Sinne subjekthafte Einzelheit zu wandeln – worin unübersehbar der Anspruch der Aufklä TWA 7, 338: Es ist „die Bestimmung der Besonderheit, welche sich zwar auf die Allgemeinheit bezieht, so daß diese die – aber nur noch innerliche – Grundlage und deswegen auf formelle, in das Besondere nur scheinende Weise ist. Dies Reflexionsverhältnis stellt daher zunächst den Verlust der Sittlichkeit dar oder, da sie als das Wesen notwendig scheinend ist (Enzyklop. der philos. Wissensch. § 64 ff., § 81 ff.), macht es die Erscheinungswelt des Sittlichen, die bürgerliche Gesellschaft aus.“
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rung im Sinne Kants eingegangen ist. Besagtes Defizit betrifft natürlich auch den Zusammenhang der Einzelnen, der dadurch ebenso abstrakt, also äußerlich wird. Marx bringt es auf die griffige Formel: „Nicht Alle einzeln, sondern die Einzelnen als Alle“ (MEW 1, 322). Dass bei Hegel der gesellschaftliche Zusammenhang in dieser Hinsicht unterbestimmt bleibt, hat seinen tieferen Grund darin, dass ihm wie erörtert die entwickelte Allgemeinheit selbst in der Weise subjekthaft ist, dass sie ihre Momente in eine Selbstbeziehung einbindet: „[D]ie intersubjektive Allgemeinheit wird ihm nicht als konkrete begreiflich, weil die Assoziation der Individuen keine Integration in eine Selbstbeziehung ist“ (Theunissen 1982b, 21).⁷³ Diese Defizienz in der intersubjektiven Dimension verdankt sich allerdings einer realitätsgerechten Beschreibung der bürgerlichen Gesellschaft. Nur so kann ja das Individuum zum „Agenten des Allgemeinen“ kraft der „List der Vernunft“ werden (GS 6, 336) – ein Ausdruck, den Hegel in diesem Zusammenhang wie gesagt selbst gebraucht (TWA 6, 452). Das bedeutet aber, dass der abstrakte Geist, der die bürgerliche Gesellschaft als „System der Atomistik“ (TWA 10, 321) durchwaltet, tatsächlich zu einer Art Phantom geworden ist, eben der invisible hand. Er steht im Kontrast zur Konkretion – was nun auch im allgemeinsprachlichen Sinne zu verstehen ist – des natürlichen sittlichen Geistes in der Familie.⁷⁴ Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem Tauschprinzip zu, der, wie Adorno sagt, „objektiven Abstraktion“ (GS 8, 365), die das Spezifische solcher Allgemeinheit verkörpert. Es installiert eine Form von Allgemeinheit, die einerseits, das ist ja ihre Bestimmung, identifiziert, d. h. die Personen in den Zusammenhang integriert, indem es sie andererseits desintegriert. Die (Zwischen‐) Ebene der bürgerlichen Gesellschaft als abstrakt allgemein zu bestimmen, ist insofern „adäquat, weil das Prinzip der Tauschgesellschaft nur durch die einzelnen Kontrahenten hindurch sich realisierte, weil das principium individuationis buchstäblich […] ihr Allgemeines war“ (GS 6, 336). Das Tauschprinzip lässt dabei durchaus die Momente erkennen, die intersubjektive Allgemeinheit auszeichnen: Allheit und Gleichheit. So sehr es auch vereinzelt, werden doch die Einzelnen übermächtig in einer Allheit – „alle
Theunissen (1994, 483 – 486) skizziert in Sein und Schein abschließend, inwiefern Marx letztlich in ähnliche Schwierigkeiten gerät: Erstens fälscht er das Wechselverhältnis von Einzelheit und objektiver Allgemeinheit schon ein Jahr darauf in den Pariser Manuskripten in „Gattungsmetaphysik“ und später dann in „Geschichtsobjektivismus“ um; zweitens restauriert er aristotelisch den von Hegel in der Logik überwundenen Subjektbegriff als hypokeimenon und trägt zugleich das Subjekt als Tätigkeit auf ihn auf; drittens gerät ihm paradoxerweise als Folge der feuerbachschen Religionskritik die Selbstbeziehung des Subjekts zu einer unmittelbaren, d. h seine intersubjektive Vermitteltheit ausschließenden – was bei Hegel in der behaupteten strukturellen Identität von absolutem und subjektiven Geist wurzelt. Jedenfalls ist, was ihm ja ebenso Adorno vorhält, bei Marx das Subjekt in verschiedener Weise unterbestimmt. Deshalb lässt sich auch für Theunissen die Aufhebung der Selbstentfremdung des Menschen mit seinem Modell alleine kaum denken. „Die Substanz, als Geist sich abstrakt in viele Personen (die Familie ist nur eine Person), in Familien oder Einzelne besondernd, die in selbständiger Freiheit und als Besondere für sich sind, verliert zunächst ihre sittliche Bestimmung, indem diese Personen als solche nicht die absolute Einheit, sondern ihre eigene Besonderheit und ihr Fürsichsein in ihrem Bewußtsein und zu ihrem Zwecke haben“ (TWA 10, 321).
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einzeln“ – zusammengebunden. Und die Gleichheit verkörpert es ja ohnehin paradigmatisch als „ratio des freien und gerechten Tauschs“, der freilich diese Bestimmungen „infolge von seinen eigenen Implikationen“ in ihr Gegenteil wandelt (GS 8, 368). Ihre Entfremdung folgt also der Logik des Umschlags. Der Tausch ist zudem das Prinzip, das die Nivellierung der Einzelsubjekte vermittelt, was, wie sich zeigen wird, auch Kierkegaard schon in Ansätzen erkannt hat. An Individuellem wird nur zugelassen, was sich in Tauschwert überführen lässt, und damit der Begriff der Individualität selbst ad absurdum geführt. Adornos Kritik an solch „entqualifizierende[r] Tauschwertabstraktheit“⁷⁵ entspricht in vielem jener an reduktionistischer Wissenschaft und übergriffiger Technik. Dabei sind zwei Aspekte zu unterscheiden: Zum einen wird von allem, was sich der Quantifizierung vorerst entzieht, vorauseilend abstrahiert, um hernach das, was ist, am Resultat der Abstraktion messen zu können. Zum anderen wird durch die allgemeine Vergleich- und Berechenbarkeit alles verfügbar, d. h. potenziell Mittel zum Zweck. Und das betrifft auch die menschlichen Individuen, und zwar bis in deren Gefühlswelt hinein, die im Dienste „situationsgerechte[r]“ Anpassung „bedienbar“ wird (GS 4, 263). So sind schließlich auch die Menschen eben quantifizierbar, weshalb bei Adorno Identitäts- und Tauschprinzip fast in eins fallen: „Das allherrschende Identitätsprinzip, die abstrakte Vergleichbarkeit ihrer gesellschaftlichen Arbeit treibt sie bis zur Auslöschung ihrer Identität“ (GS 8, 13). Das Tauschverhältnis erweist sich derart für Adorno als „die Totalität, in Hegelscher Sprache der alles durchdringende Äther der Gesellschaft“ (GS 8, 364– 365). Als alles umfassendes Vergesellschaftungsprinzip, das sich auf verschiedenen Ebenen – subjektiv, intersubjektiv und objektiv – vollzieht, ist es selbstverständlich total.⁷⁶ Damit geht Adorno aber durchaus über Hegel hinaus. Denn dieser Status kommt bei ihm erst der objektiven Sittlichkeit selbst zu, die er als „Substanz“ bestimmt. Sie ist der „Kreis der Notwendigkeit, dessen Momente die sittlichen Mächte sind, welche das Leben der Individuen regieren und in diesen als ihren Akzidenzen ihre Vorstellung, erscheinende Gestalt und Wirklichkeit haben“ (TWA 7, 71). Das bedeutet, worauf Theunissen (1982a, 328) abhebt, eine „Rückführung intersubjektiver Verhältnisse auf das Selbstbewusstsein der Substanz“, wodurch auch die „Selbständigkeit der Personen“ verschwindet. Nun leisten das bei Adorno ja gerade jene Verkehrsformen, die bei Hegel nur eine defizitäre, aber notwendige Zwischenstufe bleiben. Wie sehr seine Sozialkritik diesen überbietet, kommt darin zum Ausdruck, dass er zumindest andeutet, dass das Tauschverhältnis, welches er zuvor noch als Abstraktum bezeichnet hatte, unter einem anderen Blickwinkel als „konkret Allgemeine[s]“ (GS 8, 365) aufgefasst werden könnte. Das widerspricht nun nicht nur der Rechtsphilosophie Hegels, sondern bedeutet, dass dessen Figur gelingender Allgemeinheit für Adorno selbst eine widersprüchliche Funktion erhält. Grenz 1974, 131. Die Allgemeinheit des Tauschverhältnisses ist eine verkürzte Formel dafür, dass Geld zum allgemeinen Wertmaßstab geworden ist – was Marx die Geldform nennt – und sich so die in einer Ökonomie real notwendige Anzahl der Tauschverhältnisse (verschiedener Güter gegeneinander) maximal reduziert. Vgl. GS 8, 369: „Totalität der Vermittlungsprozesse, in Wahrheit des Tauschprinzips“.
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Sie ist ihm ebenso eine erkenntnis- und gesellschaftstheoretische Utopie⁷⁷ wie Ausdruck dessen, was faktisch sich als Allgemeines vollzieht bzw. als solches aufgefasst wird – darin aber zugleich im marxschen Sinne Schein ist. In beiderlei Hinsicht nimmt er Abstand von Hegel. Er kritisiert, dass sich bei ihm mit jener Vermittlung – wenn man so will, dem Dritten im dialektischen Dreischritt – in problematischer Weise eine, von Hegel selbst so bezeichnete, zweite Unmittelbarkeit herstellt, in der das Werden im Gewordenen verschwindet (vgl. NL 4/13, 191). Dabei beruft er sich ausdrücklich auf Marx. Eine solche vermittelte Unmittelbarkeit ist eben das, was dieser als Fetisch bezeichnet.⁷⁸ Bedenkt man nun den im dritten Kapitel erörterten Doppelsinn des Scheins, so ist besagter Widerspruch freilich kein unbedingter. Denn dem falschen Schein soll sich doch das Wahre entbinden lassen. In Bezug auf das Tauschverhältnis ist ja geradezu offensichtlich, inwiefern ihm als freiem und gerechtem Tausch auch die richtige Einrichtung der Gesellschaft eingeschrieben ist.⁷⁹
3.3 Gesellschaft als Substanz des Individuums Auch Adornos Kritik am Individualismus und seinem „Echtheitsideal“ lässt sich erst vor dem Hintergrund der hegelschen Philosophie voll verstehen. Im Aphorismus „Goldprobe“ verwirft er essentialistische Vorstellungen vom Individuum als „Substrat“, von der „Substantialität des Ichs“ (GS 4, 174) bzw. vom Selbst als „ontologische[m] Grunde“ (GS 4, 176). Er folgt damit Hegels kritischer Darstellung der Metaphysik. Und er scheint auch dessen Behauptung von der Akzidenzialität des Individuums aus der Rechtsphilosophie zu akzeptieren bzw. die „spekulative These […], das Individuum sei nur die Erscheinung, nicht das Ding an sich“ (GS 4, 174). Zudem bringt er das zusammen mit der erörterten Kritik der sozioökonomischen Verhältnisse. Authentizität sei nur ein „Reflex der industriellen Massenproduktion“ (GS 4, 177), d. h. ihres nivellierenden Effekts. Es „bildet sich als Antithese dazu, doch nach den gleichen Kriterien, die Idee des nicht zu Vervielfältigenden als des eigentlich Echten“ (GS 4, 177). Und er fährt fort: „Der Trug der Echtheit geht zurück auf die bürgerliche Verblendung dem Tauschvorgang gegenüber.“ Darin gleicht sie dem Gold: „Beide werden behandelt, als wären sie das Substrat, das doch in Wahrheit ein gesellschaftliches Verhältnis ist, während Gold und Echtheit ge-
Vgl. Baumann 2011, 78 – 80. Sie rekonstruiert dort die „common grounds“ beider: zum einen in der (Erkenntnis‐)Kritik an abstrakter Allgemeinheit, zum anderen im „concrete universal as an aim or ideal“. Vgl. Sommer 2016, 61– 62. Er identifiziert entsprechend die zweite Unmittelbarkeit mit Verdinglichung und verweist zu Recht darauf, dass beide Begriffe bei Adorno doppelsinnig sind. Dass jene neue, gewordene Unmittelbarkeit aber vor allem Gegenstand der Kritik ist, mag auch erklären, warum er sich mit Kierkegaards Gebrauch dieses Begriffs, der bei ihm freilich ganz anderes meint, so schwertut. Vgl. hierzu: Ziermann 2004. Er argumentiert allerdings, dass Adorno jene „ideale Gestalt“ nicht wirklich freilegen konnte, „weil er den Tausch, auch als Äquivalenzprinzip immer in dem Horizont des kapitalistischen Warentausches gesehen, den Tausch daher immer als den identifizierenden im Sinne eines herrschenden gesehen hat“ (45).
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rade nur Fungibilität, die Vergleichbarkeit der Sachen ausdrücken“ (GS 4, 177). Dass das aber implizit mit der dort ebenfalls formulierten Kritik an Kierkegaard assoziiert wird, ist erklärungsbedüftig. Einerseits ist die generelle Unterstellung, seine Antithese sei auch nur ein Reflex und folge den gleichen Kriterien wie das, wogegen sie steht, zu abstrakt. Das wird sich abschließend noch einmal in der ambivalenten Deutung seiner Liebesethik zeigen. Andererseits lässt sich Kierkegaards Begriff individueller Subjektivität kaum jene Substrathaftigkeit unterstellen. Richtig scheint dennoch die These zu sein – der ich im Folgenden nachgehe –, dass er Individualität als Abstraktion von substantieller gesellschaftlicher Allgemeinheit denkt. Und damit besiegelt er deren Bedeutungsverlust in der Weise, wie es das Bild des Intérieurs vorführt. Das Individuum kann die gesellschaftliche Realität nur ohnmächtig – „nach den gleichen Kriterien“ – in seiner Innerlichkeit spiegeln. Es wird wegen seiner Abstraktheit zum Zugrundeliegenden. Sie wird aber nicht, wie bei Hegel, „ausgebeutet“ zum Zweck größtmöglicher Bestimmtheit, sondern Innerlichkeit wird darin „ohnmächtig“ zum „Schauplatz“ (gesellschaftlicher) Objektivität. Adornos Rede von der Gesellschaft als „Substanz des Individuums“ (GS 4, 16) – bzw., wie es in der Negativen Dialektik heißt, „der Substantialität des Allgemeinen im Individuellen“ (GS 6, 338) – ist zutiefst ambivalent, denn er gibt dem Individuum damit auch etwas von jener verlorenen Selbständigkeit zurück. In der Realphilosophie ordnet Hegel es dem Allgemeinen als Akzidens unter, wogegen Adorno ausgerechnet besagten „abgründigen Doppelcharakter“ des Subjekt-Objekts geltend macht: „Subjektivität als existierende Wirklichkeit der Substanz reklamierte zwar den Vorrang, wäre aber als ‚existierendes‘, entäußertes Subjekt ebenso Objektivität wie Erscheinung. Das jedoch müßte auch das Verhältnis von Subjektivität zu den konkreten Individuen affizieren. Ist Objektivität ihnen immanent und in ihnen am Werk, erscheint sie wahrhaft in ihnen, so ist die derart aufs Wesen bezogene Individualität weit substantieller, als wo sie dem Wesen nur untergeordnet wird. Vor solcher Konsequenz verstummt Hegel“ (GS 6, 343). Je vollständiger sich das Allgemeine nun in den Individuen durchsetzt, desto größer die Möglichkeiten objektiver Erfahrung im Subjektiven. Es ist „der individuellen Erfahrung unvergleichlich viel mehr zu entnehmen, als Hegel konzedierte“ (GS 4, 16). Bei diesem kamen ja die menschlichen Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft doch nur als „Ausführungsorgane[n] des Allgemeinen“ (GS 6, 336) in den Blick, die dieses bewusstlos in ihrer Bindung ans partikulare Interesse realisieren. Der Individualismus wiederum, den Hegel ebenso kritisiert, setzt das Einzelsubjekt als substanzhaftes, was die Einsicht in die Allgemeinheit, die es selbst expliziert, gerade verdeckt. Deshalb ist er Ideologie. Zugleich setzt er es damit einer möglichen Dialektik der Aneignung als undialektisches voraus, was vorab die Möglichkeit versperrt, sich entfremdete gesellschaftliche Allgemeinheit wiederanzueignen. Dass sich die unverkürzte Dialektik von Allgemeinem und Besonderem auch im Individuum zeigt und nicht nur in der Totalität der gesellschaftlichen Verhältnisse, ist gewissermaßen die erkenntnistheoretische Voraussetzung dafür. Das Allgemeine im Großen und Ganzen ist gerade am Einzelnen und Fragmentierten zu erschließen. Vor diesem Hintergrund lassen sich beispielsweise die
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Aphorismen der Minima Moralia, nach dem Motto „das Individuellste sei das Allgemeinste“ (GS 4, 50), als Miniaturen sozialer Pathologien lesen. Derart repräsentiert das Individuum freilich zunächst nur, wie es dort heißt, das „unterdrückende Prinzip der Gesellschaft“ (GS 4, 50) und fungiert als Kategorie der Erkenntnis bzw. der Analyse der Gesellschaft. Davon zu unterscheiden ist das Individuum als (sich) selbst Erkennendes, Denkendes und Handelndes. Adorno traut ihm hierbei doch wesentlich mehr zu: Seine Funktion ist die des Funktionslosen; des Geistes, der nicht einig ist mit dem Allgemeinen und darum ohnmächtig es vertritt. Nur als das von der allgemeinen Praxis Eximierte ist das Individuum des Gedankens fähig, dessen verändernde Praxis bedürfte. Das Potential des Allgemeinen im Vereinzelten hat Hegel gespürt: ‚Die Handelnden haben in ihrer Tätigkeit endliche Zwecke, besondere Interessen; aber sie sind auch Wissende, Denkende.‘ Die Methexis jedes Individuums am Allgemeinen durchs denkende Bewußtsein – und das Individuum wird es erst als Denkendes – überschreitet bereits die Kontingenz des Besonderen gegenüber dem Allgemeinen, auf der die Hegelsche wie nachmals die kollektivistische Verachtung des Individuellen basiert. Durch Erfahrung und Konsequenz ist das Individuum einer Wahrheit des Allgemeinen fähig, die dieses, als blind sich durchsetzende Macht, sich selbst und den anderen verhüllt. Nach herrschendem Consensus soll das Allgemeine seiner bloßen Form als Allgemeinheit wegen Recht haben. Selbst Begriff, wird sie dadurch begriffslos, reflexionsfeindlich; erste Bedingung von Widerstand, daß der Geist das an ihr durchschaut und nennt, ein bescheidener Anfang von Praxis. (GS 6, 337)
Diese Schlüsselstelle der Negativen Dialektik spricht im Grunde für sich. Ich möchte im Folgenden noch einmal kurz zusammenfassen, was ich als das Entscheidende für meine Argumentation ansehe. Funktionslos ist das Individuum hier in zweierlei Hinsicht: „Gegenüber Hegel und seiner Epoche“ ist es als Kategorie, wie als faktisch Einzelnes derart „unerheblich“ geworden, dass es selbst als Ausführungsorgan des Allgemeinen nicht mehr gebraucht wird (GS 6, 336). Es ist einerseits als Individuum völlig ersetzbar geworden, was sich als Verfallsform der Fungibilität verstehen lässt, die das Bürgertum im Übergang zur Moderne, hier noch in der Differenz zur Gebundenheit der (anderen) Stände, auszeichnete. So ist es allenfalls noch Träger, d. h. Substrat von Funktion. Andererseits ist es auch als normative Kategorie obsolet geworden, da die Internalisierung der Werte und Normen der Gesellschaft, ihrer Allgemeinheit, für das Funktionieren des Betriebs nicht mehr nötig scheint – d. h. psychoanalytisch gesprochen seine „Ichleistungen“ (vgl. Breuer 1985, 40). Dadurch aber wird das Individuum nach seiner ursprünglichen Entbindung im Übergang zur Moderne, die seine Verfügbarkeit einforderte, erneut freigestellt, eximiert. Es entfremdet sich damit der „allgemeinen Praxis“ der Gesellschaft derart, dass es das Allgemeine im emphatischen Sinn, wenn auch „ohnmächtig“, vertreten kann. Die Bewegung folgt auch hier der Logik eines Umschlags vollendeter Negativität ins Gegenteil, die sich nun aber weniger chiffriert zeigt als in der Metaphorik der Spiegelschrift. Vielmehr begründet sie sich aus dem Umstand, dass die umfassende gesellschaftliche Integration zugleich eine „Dissoziation“ bedeutet: „Diese bedroht sowohl das Leben der Gattung, wie sie den Bann des Ganzen, die falsche Identität von Subjekt und Objekt, dementiert. Das Allgemeine […] arbeitet gegen sich selbst, weil es seine Substanz hat am Leben des Besonderen“ (GS 6, 339). Das hat bereits
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Hegel erkannt: dass solche Fragmentierung die Realisierung des Allgemeinen selbst gefährdet, und zwar auch als eines, das „als blind sich durchsetzende Macht“ über die Partikularität individueller Interessen sich vollzieht. Während die Arbeiter wie das verelendete Subproletariat – dem Hegel nur empfehlen konnte, auszuwandern – seinerzeit schlicht ausgeschlossen waren, so hat nach Adorno im Spätkapitalismus die „Verselbständigung des Systems gegenüber allen, auch den Verfügenden“, kraft des tendenziell total vermittelnden Tauschprinzips, mittlerweile derart einen „Grenzwert“ erreicht, dass man nach den „Nutznießern“ fast ebenso vergeblich forsche, wie die Proletarier unsichtbar geworden seien (GS 8, 369). Das heißt, es wird zunehmend schwierig, die Interessen auch als die eigenen wahrzunehmen. Der Interessenzusammenhang, in den das Individuum eingelassen ist, dissoziiert sich. Dagegen sollte er doch in Hegels Rechtsphilosophie die Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem leisten – vom Eigeninteresse, über Interessenkonflikte zur Interessengemeinschaft –, für die eine konstruktionsmäßig ausgeschlossene Intersubjektivität nicht in Frage kommt. So sehr es, folgt man dieser Diagnose Adornos, auch nahe liegt, sich der „falschen Identität“ nun nicht mehr zu „opfern“, so geschieht das nicht notwendig. Gefordert ist, was Hegel ein Skandal gewesen wäre, eine aktive Verweigerung, die wiederum Einsicht voraussetzt.
3.4 Bewahrung von Allgemeinheit in der Vereinzelung Das Individuum soll also nun positiv gewendet funktionslos werden. Und das geschieht im Medium eines Denkens, das sich nicht nützlich macht. Adorno greift in jener Passage der Negativen Dialektik (GS 6, 337) die Stellung des Denkens in der Rechtsphilosophie auf, wo Hegel das Potential darin aufscheinen lässt, nur um es sogleich zu verdecken. Bildung als „Hervortreiben der Allgemeinheit des Denkens“ (TWA 7, 71) wird der Anpassung an eine Allgemeinheit untergeordnet, die sich hinter dem Rücken der Menschen vollzieht. Daher zitiert Adorno auch aus den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (vgl. TWA 12, 44), wo jenes „aber“ interveniert und anzeigt, dass das Denken ein Medium des Allgemeinen ist, das in einen Gegensatz zur bloßen Besonderheit tritt und damit die des Individuums schon überschreitet. Hegels Position ist deshalb so ambivalent, weil er wie erörtert einerseits die Allgemeinheit an der Selbstbeziehung des Denkens abliest und sie andererseits objektiv als ein Verhältnis in sich vernünftiger Sachen behauptet. Letzteres ist der „herrschende Consensus“, von dem Adorno spricht, und der freilich in dieser Form keines Konsenses mehr bedarf. So vernünftig es ist, für das Allgemeine eine unabhängige Geltung zu beanspruchen, d. h., dass ihm an sich Wahrheit zukomme, so sehr muss es auch der individuellen Rechtfertigung zugänglich sein. Deren „geschichtlich zunehmende Verschränkung“ (Wesche 2011, 199), die Hegel behauptet, und die ja auch die Dialektik der vorangehenden Teile der Rechtsphilosophie bestimmt, wird durch ihre Auflösung in bloß formelle Allgemeinheit auf der Stufe der bürgerlichen Gesellschaft gerade gefährdet. Soweit kann Adorno Hegel gegen ihn selbst wenden. Das Po-
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tential im Vereinzelten konnte dieser so nicht sehen, scheint es doch bereits seiner Prämisse von der Wirklichkeit des Vernünftigen zu widersprechen.⁸⁰ Im Medium des Denkens haben Denkende je schon Teil an einem übergreifenden Allgemeinen. Deshalb ist der Mensch nach Kierkegaard ein Zwischenwesen, ein Interesse zwischen Sein und Denken – mit all den (methodischen) Konsequenzen, die er daraus zieht. Es ist auch aus diesem Grund nicht so skandalös zu behaupten, dass Allgemeinheit in der Vereinzelung aufbewahrt werden könne. Das gilt erst recht, wenn man das zusammendenkt mit der komplementären Diagnose, dass ein Sicheinlassen mit der objektiven Allgemeinheit (des Tauschprinzips) eine nivellierende, das Allgemeine „verhüllende“ Wirkung entfaltet. Jene integriert schließlich, indem sie desintegriert. Das vereinzelte Individuum desintegriert sich, um in der Selbstbeziehung des Denkens die Integrität des Allgemeinen bewahren zu können. Darüber darf aber nicht vergessen werden, dass das nicht schon dessen Realisierung bedeutet. Sie käme erst einer Praxis zu, die hier nur, wie Adorno ausdrücklich sagt, vertreten wird – und zudem „ohnmächtig“. Denken kann allenfalls ein „bescheidener Anfang“ sein. Wie es aber überhaupt dazu kommt, darüber äußert sich Adorno hier nicht. Es versteht sich jedoch von selbst, dass ein solches Denken eines Anstoßes von außen bedarf, um aus dem Funktionszusammenhang heraustreten zu können. Dazu reicht allein die Erfahrung einer zunehmenden Entfremdung von subjektiver Praxis und objektiver Allgemeinheit nicht aus. Adorno fährt deshalb fort: „Nach wie vor stehen die Menschen, die Einzelsubjekte unter einem Bann“ (GS 6, 337). Hier kommt wie erörtert ästhetischer Erfahrung als einer von Alterität eine unvergleichliche Bedeutung zu. Wir machen sie an autonomen Kunstwerken, die im Sinne Kants Funktionslosigkeit exemplarisch verkörpern. Zugleich entsprechen sie in ihrer inneren Zweckmäßigkeit auch der hegelschen Auffassung einer Allgemeinheit in sich vernünftiger Sachen. Allerdings kann Adorno noch in anderer Hinsicht auf Kant zurückgreifen. Gerhard Schweppenhäuser (2016, 222) hat darauf aufmerksam gemacht, dass jenes Potential der Verweigerung im Autonomiebegriff seiner Ethik – den Hegel ihm als Formalismus zum Vorwurf gemacht hat – begründet ist: „Denn der stellt sich, im Namen eines vernünf-
Adornos konservativer Gegenspieler Gehlen, der sich manchmal eher als Verbündeter erweist, hat es gesehen. Institutionen ist eine Doppeldeutigkeit zu eigen: Während sie das Individuum einerseits entlasten und ihm Eigenverantwortung abnehmen, sind sie andererseits ein Mittel, gegenüber dem freien Spiel der (ökonomischen) Kräfte die Kontrolle zu behalten, und bedeuten somit zugleich einen Autonomiegewinn, zumindest in gattungsgeschichtlicher Perspektive. Daher rührt wohl auch die eigentümliche Sympathie Gehlens für die Sowjetunion und das Interesse, das ihm marxistische Denker wie Wolfgang Harich und der späte Lukács entgegenbrachten. Institutionen sind also ebenso Produkt jenes historischen Prozesses der Verselbständigung, wie sie ihm entgegenwirken. Die erneute, spätmoderne Auflösungsbewegung fasste er entsprechend im Begriff eines Institutionenzerfalls, der wesentlich eine Ersetzung durch Organisationen bedeutet, die deren integrative und Autonomie ermöglichende Leistung nicht übernehmen können (Gehlen 1969, 116). Dieser Zerfall bedeutet zugleich eine Desintegration in den Subjekten, die ihre Autonomie untergräbt. Dagegen stellt er kontrafaktisch den Einzelnen, die „Persönlichkeit“ als „Institution in einem Fall“ (Gehlen 1969, 118). Freilich ist diese Option, ähnlich wie bei Adorno, aus der Not geboren und folgt einer Logik der Stellvertreterschaft.
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tigen Allgemeinen, dem falschen gesellschaftlichen Allgemeinen entgegen, welches von Normen verkörpert wird, die nicht aufgrund ihrer objektiven Vernünftigkeit, sondern bloß kraft ihrer Faktizität in Geltung sind.“ Er zitiert dazu aus den Vorlesungen zur Moralphilosophie vom Wintersemester 1956/57: „Das Moment des Widerstands ist hier insofern mitgesetzt, als alle konventionellen Momente, das, was nicht im strengen Sinne vom Subjekt selbst bestimmt wird, als Rechtsgrund des Sittlichen von Kant ausgeschlossen wird. Sich selbst das Gesetz geben, heißt, das Gesetz nicht von der äußeren Realität empfangen, sondern es im Widerstand dagegen überwinden.“⁸¹ Allerdings schränkt er das sogleich ein – und zwar nicht wegen der erörterten repressiven Momente des Autonomiegedankens, sondern weil dieser „mit dem der Allgemeinheit unproblematisch zusammenfällt“, was Kant das Potential im Vereinzelten ebenso wenig sehen lässt: „Es ist ihm noch nicht beigekommen, daß die Vernunft, die zum richtigen Verhalten bringt, im Gegensatz stehen könnte nicht nur zu den Institutionen, sondern auch zu all dem, was allgemein überhaupt für vernünftig gehalten wird, und daß dadurch gerade die Allgemeinheit, um die es ihm geht, in der hoffnungslosen Vereinzelung kann aufbewahrt werden.“⁸² Das liest sich nun fast wie das Programm Kierkegaards. So wird nicht nur nachvollziehbar, inwiefern er dessen Kategorie des Einzelnen unter den veränderten Bedingungen zu würdigen weiß und methodisch seiner Dialektik der Subjektivität und seiner Diagnose der Nivellierung ein größeres Gewicht im materialistischen Gesamtentwurf zugestehen kann. Sie teilen sich in dieser Zuspitzung, für die der Begriff der Vereinzelung steht, das methodische Dilemma, wie Deuser (1980, 28) festellt, „aus dem polemischen Einzelnen einen Sinn entwickeln zu müssen, der allgemein verbindlich gar keine Basis mehr haben kann“. Das heißt: „Methodisch gesehen muss auch dieses dialektisch gesinnte Denken konstruktionsmäßig ein Allgemeines vorwegnehmen, von dem es sich als negativ Bestehendes abstößt und auf das es sich als wahre Vermittlung tendenziell richtet“ (Deuser 1980, 28). Das schwierige Verhältnis dieser Aspekte des Allgemeinen, als des negativ Bestehenden einerseits und der wahren Vermittlung andererseits, gilt es im Folgenden genauer zu bestimmen. Zunächst artikuliert sich darin aber ein Verlust realer Allgemeinheit, bzw. die Haltung, die bestehende nicht mehr als allgemeinverbindlich anerkennen zu können. Im Aphorismus „Zur Moral des Denkens“ vergleicht Adorno – vor diesem Hintergrund und der Kritik an Hegels „Subsumption“ des Besonderen – die Situation des Kritikers mit der Münchhausens⁸³, der sich samt Pferd am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht: „Vom Denkenden heute wird nicht weniger verlangt, als daß er in jedem Augenblick in den Sachen und außer den Sachen sein soll“ (GS 4, 83). Genau das ist es ja, was Hegel in der Phänomenologie einzuholen verspricht. Nur wird das zum Problem, darin ist er sich mit Kierkegaard einig, „wenn
Noch unveröffentlicht. Zitiert nach G. Schweppenhäuser 2016, 222. Zitiert nach G. Schweppenhäuser 2016, 222. Kierkegaard gilt das spekulative Denken als Münchhausenstück: AUN I, 85 / SKS 7, 92.
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man nicht mehr die Identität von Subjekt und Objekt sich vorgeben darf“ (GS 4, 83). Und die ist in Bezug auf die gesellschaftliche Allgemeinheit erst recht aufgekündigt. In den Sachen zu sein, heißt, wie Adorno hier sagt, beim Einzelnen zu verharren. Zugleich außer den Sachen zu sein, bedeutet, über eine solche vermeintliche Unmittelbarkeit in einer Folge von Sätzen hinauszugehen, was er in der Anfangspassage seines Erstlingswerks als „Wesen“ der dialektischen Methode bezeichnet, der auch Kierkegaard gänzlich zugehöre. Sie hat ihr Recht gegenüber der unzulänglichen „Analysis des isolierten Einzelbegriffes“ (GS 2, 9), die das Besondere in dem Sinne subsumiert, wie es auch die hegelsche Urteilslogik kritisiert. Allerdings ist in der Spekulation eine nicht weniger potente Unterordnung am Werk: „Es ist eben jenes Weitergehen und nicht Verweilenkönnen, jene stillschweigende Zuerkennung des Vorrangs ans Allgemeine gegenüber dem Besonderen, worin nicht nur der Trug des Idealismus besteht, der die Begriffe hypostasiert, sondern auch seine Unmenschlichkeit, die das Besondere, kaum daß sie es ergreift, schon zur Durchgangsstation herabsetzt“ (GS 4, 82). Diese Unmenschlichkeit bestimmt Adorno in der Folge als Indifferenz gegenüber dem Leid der Einzelnen, als „die bürgerliche Kälte, die das Unausweichliche allzu gern unterschreibt“ (GS 4, 83). Hegel hat sie gewissermaßen theoretisch besiegelt. Gefordert ist deshalb ein Verweilen, das sich, wie im dritten Kapitel erörtert, als eine „Dialektik im Stillstand“ verstehen lässt, die sich wesentlich Kierkegaard und Benjamin verdankt. Dialektik aber kann sie nur sein, wenn sie den erkenntniserweiternden Impuls der hegelschen darin aufnimmt, der sich nur dort einstellt, „wo sie beim Einzelnen so verharrt, daß über der Insistenz seine Isoliertheit zerfällt. Das setzt freilich auch eine Beziehung zum Allgemeinen voraus, aber nicht die der Subsumtion, sondern fast deren Gegenteil“ (GS 4, 83). Das bedeutet aber auch, dass das Individuum eben die Gesellschaft zur Substanz hat, ohne mit ihr identisch zu sein. Nur so kann es sich ja von deren Allgemeinheit als dem negativ Bestehenden abstoßen. Jenes „Gegenteil“ bringt der kierkegaardsche Anspruch zum Ausdruck, dass der Einzelne höher als das Allgemeine sei. Aber das ist für Adorno eben nur „fast“ die wahre Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem.
3.5 Subjektiv realisierte Allgemeinheit bei Kierkegaard und Adorno So stellt sich abschließend die Frage, in welcher Weise der Einzelne bei Kierkegaard eine Dialektik von Allgemeinem und Besonderem austrägt. Die pauschale Behauptung, dass dieser von gesellschaftlicher, d. h. objektiver Allgemeinheit nichts wissen wolle, trifft nicht zu. Diese Ansicht war früher in der Forschung weit verbreitet. So behauptet etwa Wilhelm Anz (1956, 75), „daß Kierkegaard das eine große Anliegen Hegels im Grundsatz ausschließt: Geist ist Innerlichkeit, aber eben deshalb gibt es keinen objektiven Geist“. Dass er das Allgemeine, um das es ihm geht – und das das Individuum zu realisieren hat – vom im „Bestehenden“ verwirklichten Allgemeinen absondert, liegt nicht daran, dass er ein in Institutionen und Praktiken verkörpertes objektives Allgemeines und Vernünftiges per se nicht anerkennen will. Vielmehr ist diese vereinzelte Allgemeinheit, die ja wie gesagt auch Adorno reklamiert, als Korrektiv an seiner Zeit und dem hegel-
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schen Begriff substantieller Allgemeinheit aufzufassen – und daher, wie er selbst bemerkt, notwendig einseitig. Seine Alternative setzt sich aus verschiedenen Gründen von Hegel ab: Er betont, dass das Ideal des Allgemeinen als solches nur ein gedachtes, nicht ein realisiertes sein kann, und greift hier wie erörtert auf die Kritik des späten Schelling zurück. Allerdings stellt er es damit der bloß abstrakten Allgemeinheit der Menge entgegen, die er als quantitativ bestimmte durchaus in Entsprechung zur hegelschen Allheit fasst. Zugleich misstraut Kierkegaard daher grundsätzlich politischen Versuchen einer Verwirklichung des Ideals der „Menschlichkeit“ als „Menschgleichheit“,⁸⁴ das er gemäß der Zwei-Reiche-Lehre Luthers der religiösen Sphäre vorbehalten wissen will, die ihren „Ursprung von oben herleitend, das Irdische verklären und darnach himmelwärts heben will“ (G, 96 – 97 / SKS 16, 83 – 84). Das bedeutet aber, dass es auch ihm durchaus um eine Veränderung des Bestehenden geht, nur dass der Anfangs- und Endpunkt doch ein anderer ist. Dass Kierkegaard darauf besteht, dass, wie es in Furcht und Zittern heißt (FZ, 59 / SKS 4, 150 – 151) der Einzelne höher als das Allgemeine stehe, ist durch das absolute Verhältnis zum Absoluten begründet. Deshalb ist der Einzelne, nicht die substantielle Allgemeinheit, das Ziel. Das widerspricht aber nicht der Behauptung, dass er „durch das Allgemeine hindurch“ (FZ, 59 / SKS 4, 150) ein solcher werden soll. Vielmehr ist damit das ethische Moment angesprochen, dass als eine Entäußerung einer ersten Innerlichkeit zu verstehen ist, d. h. als Vermittlung über eine gesellschaftlich realisierte Allgemeinheit. Ihr schließt sich eine Rückkehr zu einer nun veränderten zweiten Innerlichkeit an. Sie erfordert eine „teleologische Suspension des Ethischen“ (FZ, 57 / SKS 4, 148), die nicht mehr zu vermitteln ist, sondern als Paradoxon auf der Inkommensurabilität der Perspektiven beharrt.⁸⁵ Philosophisch lässt sie sich wie gesagt deuten als Ausgreifen auf eine praktische Wahrheit, die sich erst im Existenzvollzug als solche bewährt. Die Suspension rettet damit auf paradoxe Weise auch das Recht des Ethischen, insofern sie dem Streben nach moralischer Sicherheit, das dieses ad absurdum führen würde, grundsätzlich einen Riegel vorschiebt. Dem Glauben kommt dabei die Aufgabe der Kontingenzbewältigung zu. Es ist die Hoffnung, dass die Innerlichkeit zum „Äußeren“, mögen beide auch grundsätzlich inkommensurabel sein, nicht in Widerspruch stehen muss und dass das eigene Handeln nicht vergeblich bleibt. Wie sehr sich Kierkegaard trotz alledem hegelsche Denkfiguren zu eigen macht, war bereits ausführlich erörtert worden – etwa in Bezug auf seine Fichtekritik in der Magisterdissertation. Er selbst hat später rückblickend den Hegelianismus seiner frühen Werke kritisiert, was darauf hinweist, dass diese Anverwandlung nicht als eine ironisch gebrochene zu verstehen ist.⁸⁶ Angermann (2013, 39) meint entsprechend zu jener Form
Dabei handelt es sich um ein Wortspiel mit der Aussprache des dänischen Menneskelighed. Vgl. FZ, 75 / SKS 4, 161: „Für die ethische Betrachtung des Lebens ist es also die Aufgabe des Einzelnen, sich der Bestimmung der Innerlichkeit zu entäußern und sie im Äußeren auszudrücken […]. Das Paradox des Glaubens ist dies, daß es eine Innerlichkeit gibt, die inkommensurabel für das Äußere ist.“ Damit ist die in der Kierkegaardforschung diskutierte Ironiethese gemeint, die Stewart (2003, 134) überzeugend zurückgewiesen hat, d. h. „the well-known claim that Kierkegaard’s apparently positive use of Hegel in The Concept of Irony is itself merely ironic and thus is to be understood as an attempt to
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der Ironie, die eine Vermittlung der sokratischen und der romantischen ist: „Die beherrschte Ironie zeigt sich für den jungen, ethisch und hegelianisch denkenden Kierkegaard als ein Mittel zur Einfügung des Individuums in die bestehende soziale Ordnung.“ Gleichwohl findet sich in den frühen Schriften, wie Schwab (2014, 95) feststellt, eine „Spannung“ zwischen der darin bereits formulierten Kritik an der „Existenzvergessenheit“ spekulativen Denkens und einer durchaus unironisch angenommenen Vermittlung von einzelner Subjektivität und substantieller Allgemeinheit im hegelschen Sinne. Das wird am Begriff des Ethischen selbst deutlich, der in Furcht und Zittern mit dem Allgemeinen überhaupt identifiziert wird – und zwar ausdrücklich unter Berufung auf Hegels Konzept der Sittlichkeit und die Rechtsphilosophie (FZ, 58 / SKS 4, 148 – 149). Wenngleich dieser Verweis im zweiten Teil von Entweder/Oder fehlt, so ist doch der Bezug zur substantiellen Sittlichkeit nicht zu übersehen.⁸⁷ Die „Wahl“, die scheinbar für das Ethische steht, macht als das vereinzelnde Prinzip nur ein Moment ihrer Dialektik aus: „Das Selbst, das das Ziel ist, ist nicht bloß ein persönliches Selbst, sondern ein soziales, ein bürgerliches Selbst. […] Das persönliche Leben als solches war eine Isolation und deshalb unvollkommen, aber indem es durch das bürgerliche Selbst zu seiner Persönlichkeit zurückkehrt, so zeigt sich das persönliche Selbst in einer höheren Gestalt“ (EO II, 280 / SKS 3, 250).⁸⁸ Den vollen Begriff der Vermittlung – wie ihn der Gerichtsrat schließlich von der Persönlichkeit als „Einheit des Allgemeinen und des Einzelnen“ (EO II, 281 / SKS 3, 252) behauptet – erreicht freilich bei Hegel die bürgerliche Zwischenstufe ebenso wenig wie das Individuum bzw. die Person. Einen solchen Begriff konkreter Einzelheit, die in einem Wechselverhältnis zur substantiellen Allgemeinheit steht, kann Kierkegaard allerdings durchaus dessen Logik entnehmen. Die Bewegung gleicht jener, die Hegel dort am Verhältnis von Individuum und Gattung paradigmatisch vorführt. Gerade in der Weise, wie der Ethiker B die Differenz zum Ästhetiker A bestimmt, zeigt sich das: „Die Ethik erklärt ihm das Allgemeine in dem Unterscheidenden, und er verklärt das Unterscheidende ins Allgemeine hinein“ (EO II, 325 / SKS 3, 288). Der Ästhetiker grenzt sich nur gegen die quantitativ bestimmte
criticize Hegel indirectly and to fool the Hegelian faculty members on Kierkegaard’s dissertation committee“. Ihm schließen sich Philipp Schwab und Markus Kleinert an. Letzterer bemerkt, dass diese These allein schon „mit einem auffallend trivialen Ironiebegriff“ hantiere (Kleinert 2005, 119). Das gilt im Übrigen auch für den Ästhetiker A. Im Essay „Der Widerschein des antiken Tragischen in dem modernen Tragischen“ aus dem ersten Teil von Entweder/Oder heißt es: „Unsre Zeit hat alle substantiellen Bestimmungen von Familie, Staat, Sippe verloren; sie muß das einzelne Individuum ganz ihm selber überlassen“ (EO I, 160 / SKS 2, 148). Das modern Tragische soll hier eine Vermittlung leisten, anknüpfend an eine Deutung der Antigone. Darin orientiert sich Kierkegaard wesentlich an Hegels Ästhetik, auf die er ausdrücklich verweist. Eine besondere Rolle kommt der Thematik auch in der Phänomenologie zu, wo sie gerade den unversöhnlichen „Gegensatz der Einzelheit und Allgemeinheit“, in den sich die substantielle Sittlichkeit entzweit hat (TWA 3, 328 – 329), an Antigone und Kreon veranschaulicht. Was für den Ästhetiker in der Vereinigung von antiker Trauer und modernem Schmerz eben ästhetisch zu bewältigen ist, kann für Hegel jedoch keine Lösung sein: „Hegels Theorie der Tragödie zielt auf eine Demaskierung des Tragischen“ (Wesche 2011, 244). Vgl. EO II, 255 / SKS 3, 229.
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Allheit ab, die er abstrakt negiert, und geht selbst nicht über diese Sphäre hinaus. Im ethischen Stadium dagegen erweist sich das Allgemeine als ein Zusammenhang Stiftendes, das jener bloß erweiterten Besonderheit zugrunde liegt und als solches ein substantielles Allgemeinmenschliches, eben die Gattungsallgemeinheit ist.⁸⁹ Der Gerichtsrat B kann in dieser Hinsicht auch behaupten, dass das „Allgemein-Menschliche“ höher als der Einzelne stehe. Dieser wiederum ist selbst eine Einheit von Allgemeinem und Besonderem, da „jeder Mensch das Allgemein-Menschliche sei und zugleich eine Ausnahme“ (EO II, 355 / SKS 3, 313). Es lässt sich für Kierkegaards Erstlingswerk daher feststellen: „Die Existenz erhält also für den Ethiker noch nicht die Verschärfung in Richtung der Singularität, die sie vom Allgemeinen radikal trennt“ (Schwab 2014, 96). Der Begriff Angst nimmt darin schon eine Zwischenstellung ein. Es sei ein „Widerspruch […], dass das Allgemeine als das Einzelne gesetzt ist“ (BA, 92 / SKS 4, 381), heißt es dort, wobei die Allgemeinheit hier zunächst die im Denken erschlossene überindividuelle Gattungsbestimmung meint. Kierkegaard überträgt nun die Kritik des späten Schelling – seine Unterscheidung „zwischen der Wirklichkeit in der Zeit und einem im Möglichkeitsmodus des Denkbaren angesiedelten Vernunftdiskurs“ (Hühn 2009, 138) – auf das Problem der Selbsterkenntnis und -verwirklichung im Verhältnis zur Allgemeinheit. Er verwahrt sich dort dagegen, das griechische γνῶϑι σαυτόν „deutsch“, d. h. idealistisch misszuverstehen als das „reine Selbstbewusstsein“, das voraussetzt, dass „Denken und Sein eins sind“ (BA, 93 / SKS 4, 382). Das wiederum impliziert ja, wie im zweiten Kapitel erörtert, auch eine strukturelle Identität von subjektivem und absolutem Geist – derart, dass die Allgemeinheit der Selbstbeziehung im Denken entspricht, also der Reflexion, als unendliche Kreisbewegung aber absolut ist. Kierkegaard bricht nun die Allgemeinheit jener Identitätsbeziehung dadurch auf, dass er sie als bloß gedachte behauptet: „Das Allgemeine dabei ist lediglich, dass es gedacht wird“ (BA, 93 / SKS 4, 382; Anm.). Es ist also die bloße Möglichkeit, dass es „sich denken läßt“, was für Hegel aber impliziert, dass es „so ist, wie es sich denken lässt“, dass also das Wirkliche vernünftig ist (BA, 93 / SKS 4, 382; Anm.). Und er fährt fort: „Die Pointe des Einzelnen ist gerade sein negatives Sich-Verhalten zum Allgemeinen, sein Abstoßen, doch sobald das weggedacht wird, ist es aufgehoben, und sobald es gedacht wird, ist es dergestalt verwandelt, daß man es entweder nicht denkt und es sich nur einbildet, oder es denkt und sich lediglich einbildet, es wäre beim Denken einbezogen“ (BA, 93 / SKS 4, 382; Anm.). Das ist nun aber gerade nicht in der Weise zu verstehen, dass dem Allgemeinen Kierkegaard zufolge eine bloße Gedankenexistenz zukommt. Entscheidend ist das Abstoßen, das meines Erachtens ein dreifaches ist: Erstens stößt sich der Einzelne von der Gattungsallgemeinheit ab, um ein solcher zu werden. Zweitens stößt er sich von der bloß zu denkenden Allgemeinheit jener Identitätsbeziehung ab, um sich zu realisieren, d. h. die Momente als qualitativ verschiedene in sich zu konkretisieren. Drittens stößt er sich auch von der Allgemeinheit des Bestehenden ab, das als solches freigestellt wird durch die Behauptung, dass die Versöhnung von Idealität und Realität nur im Denken voll-
Vgl. Kim 1980, 107. Sie nennt es ein „Wesensallgemeines“.
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zogen sei. Dadurch kann es erst in einen Gegensatz zum Einzelnen treten und zum Gegenstand von praktischer Kritik werden. Was diese Abstoßbewegung im Gegensatz zur hegelschen Reintegration in die Selbstbeziehung des Geistes jeweils impliziert, ist eine veränderte Zielbestimmung. Bei aller formalen Übereinstimmung mit dem Bildungsgang in der Phänomenologie, die sich bei Kierkegaard etwa auch in der Stadienlehre findet,⁹⁰ geht es Hegel ja nicht um Selbstverwirklichung. Das „besondere Individuum ist der unvollständige Geist“ (TWA 3, 32) und es bleibt auch unvollständig im Nachvollzug der Entwicklung des „allgemeinen Geistes“, da es sich vielmehr als dessen Besonderung begreift, d. h. letztlich „als aufgehobenes Einzelnes oder als Allgemeines“ (TWA 3, 272). Es ist insofern stets nur, wie Adorno sagt, „Durchgangsstation“ (GS 4, 82). Und in letzter Konsequenz wird es „liquidiert“ – was im Hinblick auf das weltgeschichtliche Ziel der Rechtsphilosophie nicht nur im übertragenen Sinne zu nehmen ist. Die Angstabhandlung formuliert eine solche Bewegung der Desintegration und Repulsion vor allem in Bezug auf die Dialektik der ethischen Allgemeinheit. Wenn Kierkegaard dort eine „zweite Ethik“ gegenüber einer „ersten“ profiliert, so kritisiert er ja gerade – und wie erörtert in Übereinstimmung mit der späteren Kritik Adornos – den kantischen Begriff von Allgemeinheit und die Logik seiner Herrschaft über die individuelle Wirklichkeit des Ethischen. Insofern er den verantwortlich Handelnden von den Bedingungen her denkt, unter denen er im Leben steht, gleicht er nicht erst Hegels Nachfolgern, sondern schon diesem selbst. Nur geht es ihm um etwas anderes: um das individuelle Misslingen der ethischen Selbstverwirklichung, aus dem es sich je herauszuarbeiten gilt. Und das bedeutet stets auch einen Überstieg über die bloß konventionelle Sittlichkeit – das ist die Gemeinsamkeit mit Kant. Sie kommt hier wesentlich, wie dann in der Verzweiflungsabhandlung, hinsichtlich ihrer nivellierenden Wirkung in den Blick und ist die „Endlichkeit“, an die sich das Selbst klammert und in der es „schuldig“ wird (BA, 72 / SKS 4, 365 – 366). Damit ist nicht die Faktizität der Existenz selbst gemeint, sondern vielmehr jene Haltung des Spießbürgers, der das Gegebene so nimmt, als könnte es nicht anders sein und keinen Begriff mehr vor der für den ethischen Standpunkt konstitutiven Idealität hat. Wenngleich Hegels Rechtsphilosophie aller Beschränkung der Vorrede zum Trotz noch im Staat, als der „Wirklichkeit der sittlichen Idee“, ein transzendierendes Moment enthält, so kommt es keinesfalls dem Einzelnen und seiner ethischen Selbstverwirklichung zu. Nicht einmal im Moralitätskapitel ist ja von einer solchen die Rede. Die existenzielle Wahl, und sei sie auch nur ein Moment, müsste sich nach Hegel ebenso den Vorwurf der Unsittlichkeit einhandeln wie die kantische Frage, was zu tun sei: „Was der Mensch tun müsse, welches die Pflichten sind, die er zu erfüllen hat, um tugendhaft zu sein, ist in einem sittlichen Gemeinwesen leicht zu sagen, – es ist nichts anderes von ihm zu tun, als was ihm in seinen Verhältnissen vorgezeichnet, ausgesprochen und bekannt
Es handelt sich dabei aber gerade nicht um eine mit Notwendigkeit sich vollziehende und nachzuvollziehende Entwicklung, sondern vielmehr um jederzeit zu verwirklichende Existenzmöglichkeiten des Selbst.
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ist“ (TWA 7, 298). Das nennt Hegel die „Rechtschaffenheit“⁹¹, die er als das Allgemeine nach seiner subjektiven Seite bestimmt. Das bedeutet aber nicht etwa eine Aneignung, sondern vielmehr, dass „das Sittliche“ sich im Individuum „reflektiert“ (TWA 7, 298). Die Rechtschaffenheit zeigt nichts „als die einfache Angemessenheit des Individuums an die Pflichten der Verhältnisse, denen es angehört“ (TWA 7, 298). Das impliziert aber bereits, dass dieses Gemeinwesen und seine Institutionen als sittliche bestimmt sind. Diese Voraussetzung wird Kierkegaard zunehmend fragwürdig – insbesondere im Hinblick auf die Institution der dänischen Staatskirche. Er wirft ihr nicht zuletzt vor, keinen Begriff mehr von der für das Christentum – zumal das protestantische – wesentlichen individuellen Aneignung des Glaubens zu haben. Die Logik solcher Infragestellung verdankt sich aber bereits der sokratischen Ironie, die darin „das Bestehende nur unernsthaft bestehen ließ“ (BI, 276 / SKS 1, 307). Denn für Sokrates war es ein ungültiges Allgemeines, von dem er sich negierend abstieß. Das „gesamte substantielle Leben des Griechentums“ – das Urbild der (hegelschen) Sittlichkeit – hatte für ihn „seine Giltigkeit verloren“ (BI, 276 / SKS 1, 307).⁹² Und Kierkegaard verallgemeinert die Diagnose hier bereits, wenn er die „zu einer gewissen Zeit gegebene Wirklichkeit, die der Substantialität“ in Kontrast bringt zu dem, „was seine Ironie heischte“: „die Wirklichkeit der Subjektivität, der Idealität“ (BI, 276 / SKS 1, 307). Eine solche Entfremdung von gesellschaftlicher Allgemeinheit unterbindet die Möglichkeit einer reinen Institutionenethik im Sinne der Rechtsphilosophie. Und ich meine, dass gerade hierin eine grundsätzliche Übereinstimmung mit Adorno liegt, bei dem es wie gesagt zu einer Rehabilitierung der Moralphilosophie⁹³ im engeren Sinne gegenüber der kollektivistischen hegel-marxschen Wende kommt. Aus der Diagnose, dass das „Einzelsubjekt“ derart „eingespannt“ ist, dass es über die sozialen Bedingungen seiner Entscheidungen kaum etwas vermag – Adorno spricht hier bezeichnenderweise davon, dass „die Erbsünde sich säkularisiert“ habe (GS 6, 241) –, zieht er nicht die Konsequenz, dass sich damit auch die Moral erübrigt habe. Ganz im Gegenteil wird so erst ihr Kern, das unvertretbar vom Einzelnen zu leistende Werturteil,⁹⁴ wieder virulent. Das bedeutet gewissermaßen eine wechselseitige Umkehrung hinsichtlich der Stellvertreterschaft des gesellschaftlichen Allgemeinen. Kann sich das Individuum mit dessen substantieller Sittlichkeit identifizieren, so lässt es sich – wie bei Hegel – hinsichtlich dessen, was zu tun ist, von seinen Institutionen vertreten. Ist es solcher All-
Im Original durch Kursivschrift hervorgehoben. Dem zugrunde liegen Auflösungstendenzen der Polis seinerzeit, die wie gesagt sowohl Adorno (GS 4, 170) als auch Hegel (TWA 7, 340) reflektieren. Quer zur heute üblichen Terminologie bevorzugt Adorno diesen Ausdruck für eine reflektierte, philosophische Begründung der Moral. Das hat u. a. damit zu tun, dass er den Begriff der Ethik einerseits, so wie er seinerzeit gebraucht wurde, naturalistischer Tendenzen verdächtigt, und andererseits der Ethos-Begriff im Sinne eines sich durchhaltenden, verdinglichten Charakters darin mitschwingt (vgl. G. Schweppenhäuser 2016, 13 – 15). Das erörtert ausführlich, allerdings ohne Bezugnahme auf Adorno: Wesche 2011, insbesondere 47– 57 sowie 115 – 131.
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gemeinheit, wo sie ihrem Begriff nicht entspricht, entfremdet, muss es diese selbst vertreten, und zwar paradoxerweise, weil seine Entscheidung darin keine objektive Begründung mehr hat: „Moralische Sicherheit existiert nicht; sie unterstellen wäre bereits unmoralisch, falsche Entlastung des Individuums von dem, was irgend Sittlichkeit heißen dürfte. Je unbarmherziger die Gesellschaft bis in jegliche Situation hinein objektiv-antagonistisch sich schürzt, desto weniger ist irgendeine moralische Einzelentscheidung als die rechte verbrieft“ (GS 6, 241). Adorno wendet sich damit insbesondere gegen das in der Nachkriegszeit populäre „apologetische[s] Instrument“, die „Überforderung“ des moralischen Subjekts zum Zweck seiner Entlastung vorzuschieben (GS 6, 241).⁹⁵ Es ist gewissermaßen die moralische Legitimation dessen, was ohnehin geschieht: „In der durchvergesellschafteten Gesellschaft sind die meisten Situationen, in denen Entscheidungen stattfinden, vorgezeichnet, und die Rationalität des Ichs wird herabgesetzt zur Wahl des kleinsten Schritts“ (GS 8, 59). Dabei ist das Kriterium solcher Entscheidung im Grunde das der bestmöglichen Anpassung. Sie ist dann „korrekt“, wenn sie – Adorno setzt das in Anführungszeichen – „realistisch“ ist (GS 8, 59). Kierkegaard hat den Verlust der Verantwortlichkeit des Einzelnen Mitte des 19. Jahrhunderts in ähnlicher Weise beschrieben und ihn einerseits auf die nivellierenden Mechanismen der Massengesellschaft zurückgeführt, die „die Verantwortung für den Einzelnen schwächt dadurch, daß sie diese zur Größe eines Bruchs herabsetzt“ (G, 101 / SKS 16, 88). Andererseits hat er das in der beschriebenen Weise Hegel angelastet.
3.6 Verdinglichung und Nächstenliebe Der Liebe Tun, eine Sammlung erbaulicher Reden aus dem Jahr 1847, ist wohl das, was einer Ethik Kierkegaards am nächsten kommt.⁹⁶ Bisher war eine solche ja nur indirekt Gegenstand, insofern einerseits die Kategorie des Einzelnen ihre Voraussetzung ist und deren Verschwinden zugleich den Verfall des Ethischen bedeutet. Anderseits war davon bisher nur indirekt im Modus der Moralkritik die Rede – auch darin zeigen sich deutliche Parallelen zu Adorno. Kierkegaards Lehre von der Liebe ist aber mehr: Vollendung der Selbstverwirklichung des Einzelnen, als solche subjektive Realisierung von Allgemeinheit, sowie überhaupt die praktische Konsequenz der anthropologischen Strukturbestimmungen des Menschen als Zwischenwesen bzw. Synthese. Auch scheint sie auf ein charakteristisches Defizit seiner sonstigen Schriften zu reagieren, bzw. auf jenen bis heute erhobenen Generalverdacht, den Kierkegaard selbst in einem Journaleintrag folgendermaßen fasst: „dass ich das Nächste nicht weiß, nichts von der Sozialität weiß“ (DSKE 4, 96 / SKS 20, 86). Doch gesteht er ein, dass er sich das aufgrund der bewussten Darum geht es auch in der Diskussion mit Arnold Gehlen: „Ist die Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen? Ein Streitgespräch“ (1965), in: Grenz 1974, 225 – 251. Vgl. hierzu: Deuser 1993 u. Grøn 1998. Inwieweit Kierkegaard damit tatsächlich eine tragfähige Moralphilosophie vorlegt, soll hier – über die Kritik Adornos hinaus – ebenso wenig interessieren, wie der theologische Hintergrund, die paulinische Liebe.
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Einseitigkeit seiner Methode auch selbst zuzuschreiben habe: „dass sich nämlich immer dann, wenn ich die eine Seite erst recht deutlich und scharf hervorgezogen habe: die andere umso stärker geltend macht“ (DSKE 4, 96 / SKS 20, 86). Und das ist nun die Nächstenliebe, die dem Umstand, dass der Mensch durch Faktizität und Transzendenz, Notwendigkeit und Freiheit bestimmt ist, gerecht werden soll. Sie ist im Grunde nichts anderes als der Vollzug jener Doppelbewegung, die Kierkegaards Denken im Ganzen prägt. Wesche (2003, 126) meint gar: „Liebe ist das Phänomen, welchem Kierkegaard den Gedanken der übersteigenden Verunendlichung und der rückkehrenden Verendlichung entnimmt. In der Liebe werden alle an Selbstverwirklichung gebundenen Absichten überstiegen, und diese Transzendierung ist es, die hinter dem Begriff der Verunendlichung steht.“⁹⁷ Allerdings steht dabei Selbstlosigkeit bzw. Uneigennützigkeit nicht in einem Widerspruch zur Selbstliebe bzw. Eigennützigkeit. Vielmehr ist darin ihr Gegensatz aufgehoben. „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“⁹⁸ ist auch in dieser Hinsicht zu verstehen. Ähnlich wie für Kierkegaard in der Wahl des Guten nicht mehr zwischen Gut und Böse gewählt wird, ist im Akt der Liebe die Entscheidung für das eigene Interesse oder das des Anderen schon überschritten. Nächstenliebe trägt so – als Tätigkeit – in verschiedener Hinsicht Widersprüche aus, die theoretisch nicht aufzuheben sind. Darin liegt ihre unvergleichliche entfremdungstheoretische Bedeutung. Sie ist überhaupt das Verbindende – zuallererst „das Band der Ewigkeit“ (LT, 9 / SKS 9, 14– 15), das diese mit dem Zeitlichen vereint. Kierkegaard versteht Liebe dabei als eine Rückeinbettung des Einzelnen, und zwar ausdrücklich vor dem Hintergrund seiner historischen Entbindung. Das heißt nicht, dass es ihm um eine Restitution der alten Ordnung geht. Dass die „abscheuliche Zeit der Leibeigenschaft“ (LT, 128 / SKS 9, 118) vorbei ist, begrüßt auch er. Nur kritisiert er, dass man von dort aus weitergehe: „Wie man heutzutage die Menschen von allen Bindungen, auch von den nützlichen freizumachen sucht, ebenso versucht man auch das GefühlsVerhältnis zwischen Mensch und Mensch freizumachen von dem Band, das ihn an Gott bindet und ihn in allem, in jeder Lebensäußerung bindet“ (LT, 127– 128 / SKS 9, 118). Insofern Kierkegaard aber den Menschen durchaus in einer Leibeigenschaft zu Gott sieht und er Liebe, so ist diese Rede überschrieben, als „des Gesetzes Erfüllung“ begreift, außerdem dem Glauben im Gegensatz zum Verstand und dem weltlichen Gesetz „Gewissheit“ zuspricht (LT, 117 / SKS 9, 109), bekommt diese Forderung nach Rückbindung offenbar einen tendenziösen und undialektischen Charakter. Vor allem aber scheint sie jener nach moralischer Autonomie vorab zu widersprechen.⁹⁹ Der Glaube wird dabei allerdings ebenso in einen Gegensatz zum endlosen Zählen und Berechnen des Verstandes und dem Bestimmen des Gesetzes, d. h. seiner abstrakten und unbedingten Forderung gebracht. Beide erreichten im Gegensatz zur Liebe nicht die „Hauptsumme
Wesche (2003, 130) verweist auch darauf, dass Kierkegaard die Auffassung der Liebe als Einheit von Freiheit und Notwendigkeit womöglich Schellings Freiheitsschrift verdankt (vgl. Schelling 1860, 408). Mt 22, 39, zitiert nach der Lutherbibel 2017. Vgl. Lev 19, 18. Vgl. dazu Westphal (1998).
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des Gebotes“¹⁰⁰. Und darin steckt nun eine Moral- und Sozialkritik, die es nach Adorno nichtdestoweniger ernstzunehmen gilt. Das soll im Folgenden an den verschiedenen Widersprüchen nachvollzogen werden, die Kierkegaards Begriff der Liebe vereint. 1. Zunächst betrifft das den Gebotscharakter selbst – dass Liebe den „scheinbaren Widerspruch enthält: zu lieben sei Pflicht“ (LT, 28 / SKS 9, 31). Damit bringt sie das Individuum, in der Bindung ans Gebot, zunächst in ein Abhängigkeitsverhältnis, macht es zugleich aber „frei in seliger Unabhängigkeit“, insofern der Einzelne aus den Bindungen der selbstischen „unmittelbare[n] Liebe“ – die einen zunächst frei und dann abhängig macht – herausgelöst wird (LT, 44– 45 / SKS 9, 45 – 46). Die Dialektik entspricht dabei, dem theologischen Hintergrund zum Trotz, durchaus jener der Autonomie bei Kant, mit dem sich Kierkegaard hier implizit auseinandersetzt. Ich meine, dass er ihm in der erörterten Absolutheit der Begründung der Ethik, samt ihrer nonkonformistischen Stoßrichtung, folgt. Das sieht auch Adorno, bezichtigt Kierkegaard deshalb aber derselben Defizite: „Jede ‚Vorliebe‘ wird mit einem Rigorismus, der nur mit der Kantischen Pflichtethik verglichen werden kann, ausgeschlossen. Christlich ist für Kierkegaard Liebe einzig als Brechung der Natur“ (GS 2, 220). 2. Kierkegaard übernimmt zwar derart die Unbedingtheit der Pflicht, versucht ihr aber die Abstraktheit zu nehmen, indem er sie verendlicht. In solcher Konkretion ist ein Widerspruch ausgedrückt, den Adorno auf den Punkt bringt: „an jedem Menschen das diesem Eigentümliche zu lieben, aber unterschiedslos an jedem Menschen“ (GS 2, 220). Der „Sinn von Liebe“ ist daher, „daß sie das Allgemeine jeweils in der Form seiner Individuation ergreift“ (GS 2, 220). Dieses Moment der Allgemeinheit im Sinne des ethischen Universalismus kommt insbesondere im Begriff der „Liebe des Geistes“ (LT, 51 / SKS 9, 51) zum Ausdruck. Das schließt, in Übereinstimmung mit Kant, eine Anerkennung des Anderen als Selbstzweck, seiner Würde als Mensch ein, und bedeutet praktisch eine Nichtbevorzugung, dass also das Individuelle nicht zum Maßstab der Liebenswürdigkeit gemacht wird. Ob das nun eine geradezu unmenschliche Forderung ist, was ihm vielfach und auch von Adorno vorgehalten wurde, sei hier dahingestellt. 3. Eine weitere, ebenso grundlegende Bestimmung der Liebe ist, dass sie „erbaut“. Und das heißt, dass sie nicht weniger als ihre eigenen Voraussetzungen schafft, also „d a ß d i e L i e b e z u g e g e n i s t “ (LT, 247 / SKS 9, 225). Zunächst bedeutet das, „bei anderen Liebe voraussetzen“ (LT, 247 / SKS 9, 225). Kierkegaard kompensiert damit – dass nun erneut vom „Zuchtmeister“ als Gegenbild die Rede ist, verweist darauf ¹⁰¹ –, was er in der Angstabhandlung als ein Defizit der kantischen Pflichtethik bestimmt, ihren reinen Gesetzescharakter: „Sie ist ein Zuchtmeister und richtet fordernd mit ihrer Forderung, ohne etwas zu gebären“ (BA, 21 / SKS 4, 324). Mehr noch aber löst seine Lehre von der Liebe darin den Anspruch der Stellvertreterschaft vernünftiger Allgemeinheit ein, wo sie auf ihr gesellschaftlich realisiertes Komplement, das eigentlich ihre Vor-
LT, 117 / SKS 9, 109. Er bezieht sich mit damit auf Paulus (1Tim 1, 5). In der Lutherbibel (2017) ist vom „Ziel der Unterweisung“ die Rede. Vgl. LT, 241– 242 / SKS 9, 220.
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aussetzung wäre, nicht mehr bauen kann. Anders gesagt verwirklicht die Liebe praktisch, was theoretisch als Dilemma erscheint, so, wie es zuvor mit Deuser (1980, 28) umrissen wurde: Sie nimmt kontrafaktisch ein Allgemeines vorweg – „d a ß d i e L i e b e z u g e g e n i s t “ –, an dem sie sich als wahrer Vermittlung von Gleichheit und Individualität ausrichtet. 4. In dieser Erbaulichkeit ist das „Handlungsprinzip der Inäquivalenz“ (Wesche 2003, 127) schon impliziert. Damit ist gemäß dem Vorbild Christi gemeint, dass Liebe nichts fordert, jeglichen Anspruch auf (gleichwertige) Entgeltung ignoriert, weder in Bezug auf die jeweilige Handlung noch im Ganzen des Lebens auf einen Lohn hofft. Sie ist kein Geben und Nehmen. Ebenso wenig ist sie ein Vergelten mit Gleichem. Adorno würdigt zunächst, dass die christliche Liebe damit „dem mythischen Sühnerecht Einhalt“ gebiete – sie ist der Einspruch gegen das „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (GS 2, 222). Er sieht im Inäquivalenzprinzip darüber hinaus aber auch eine Kritik am Tauschverhältnis. Und das ist keine Überinterpretation. Es ist auffällig, wie oft Kierkegaard seine Bilder und Begriffe der ökonomischen Sphäre entlehnt und etwa von „Tausch“, „Geldschuld“ oder „Verrechnung“ spricht.¹⁰² Ausdrücklich heißt es auch, dass „die Welt sich nur aufs Geld versteht – und Christus nur auf Barmherzigkeit“ (LT, 350 / SKS 9, 315). In dem Abschnitt geht es fast nur ums Geld: darum, dass Geld der „Gott der Welt sei“, um den uneigentlichen „Ernst“ des Geldverdienens, oder auch die „Erziehung in der GeldVerehrung“ (LT, 352– 353 / SKS 9, 316 – 318). Adorno stellt dazu fest: „Kierkegaards Lehre von der Hoffnung legt Einspruch ein gegen den Ernst der bloßen Reproduktion des Lebens, an der Leben selber zugrunde geht: Einspruch gegen eine Welt, die von der wägenden Vernunft des Tausches determiniert wird und nichts gibt ohne Äquivalente“ (GS 2, 233). 5. Überhaupt stößt sich Nächstenliebe vom negativ Bestehenden, der falschen Allgemeinheit, in entgegengesetzter Richtung ab: vom Tauschverhältnis eben kraft des Inäquivalenzprinzips, vom ausschließlichen Eigeninteresse und der Konkurrenz als Motor der bürgerlichen Gesellschaft in der Uneigennützigkeit, schließlich vom Selbstzweckcharakter des Profitstrebens in der Abstraktion von jeglicher Zweckgerichtetheit und in der Anerkennung der Anderen als Selbstzweck. Liebe erscheint so bisweilen als das exakte Gegenbild der sozialen Realität und Kierkegaards „Ethik“ erweist sich untergründig als treffende, sensible Zeitdiagnose. 6. Bisher offengeblieben war noch, wie genau Kierkegaard das übersteigende Moment bestimmt. Liebe realisiert, was in Bezug auf das Transzendente möglich ist: die Gleichheit aller Menschen vor Gott. Nur so kann ihm zufolge das weltliche Ideal der Menschgleichheit verwirklicht werden – das war die Konsequenz, die sich bereits in der Unzulänglichkeit des ethischen Stadiums in Entweder/Oder andeutete. Damit ist auch das Allgemeine erst in einer nichtentfremdeten Weise im Einzelnen gegeben. Für Adorno ist freilich die individualistische Beschränkung, die darin liegt, ebenso wenig hinnehmbar, wie Kierkegaards christlich-konservative Skepsis gegenüber politischen
Vgl. LT, 195 – 197 / SKS 9, 177– 179.
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Versuchen seiner gesellschaftlichen Verwirklichung. In dieser Hinsicht transzendiert auch die Liebe den Standpunkt des Vereinzelten nicht. Was er aber anerkennt ist die kontrafaktische Kraft, die sich aus dem absoluten Verhältnis zum Absoluten ergibt, und die seine Lehre von der Liebe durchweg prägt. Sie hat Adorno wohl mehr als alles andere an Kierkegaard beeindruckt. Seine „ohnmächtige Barmherzigkeit“ sei ein „großartiger Widerstand gegen den Weltlauf“ (GS 2, 220).¹⁰³ Und so sieht Adorno in der Liebe auch das utopische Potential. Dass es „anders sein könnte“, sei ihr Maß (GS 2, 231). „Der Gegenbegriff, den er dem Weltlichen gegenüberstellt, das er nach einem Wort an anderer Stelle ‚wegschneidet‘, ist der der Möglichkeit, die gegenüber dem bloß Daseienden festgehalten werden soll“ (GS 2, 231). Die Haltung, die ihr entspricht, ist die Hoffnung. Sie ist „der Sinn für die Möglichkeit“, wie Adorno zustimmend aus der Rede „Liebe hoffet alles“ zitiert.¹⁰⁴ Das gibt nun ihm zufolge auch der tendenziösen Theologie eine Wendung: „Das Weltliche, das er fortnehmen will, ist der Stand der Hoffnungslosigkeit“ (GS 2, 232). 7. Dass wie angedeutet Kierkegaard die Vereinzelung auch in der Liebe nur im Hinblick auf das ethische Prinzip transzendiert, nicht aber bezüglich der Konstitution des Subjekts, bringt Adorno dazu, hier auch seinen Vorwurf der objektlosen Innerlichkeit zu wiederholen, der freilich schon in seinem Erstlingswerk eben nicht bloß Vorwurf ist: „Ein großartiger Widerstand gegen den Weltlauf ist darin so deutlich wie die Transformation von Liebe in bloße Innerlichkeit. Indem nach Kierkegaards Auffassung christliche Liebe eigentlich gar nicht enttäuscht werden kann, weil sie um des Gottesgebots der Liebe willen geübt wird oder, nach seinem Sprachgebrauch, sich in sich selber reflektiert, wird für den Rigorismus der Liebe, den er vertritt, der Geliebte nicht nur als Objekt, sondern als Subjekt entwertet“ (GS 2, 220 – 221). Schuld daran ist weniger die theologische Forderung, wider die Vernunft zu glauben, sondern vielmehr die ethische in ihrer Unbedingtheit und die entqualifizierende und entsubjektivierende Allgemeinheit, dass ein jeder der Nächste sei: „Allmenschlichkeit überschreitet die Schwelle zur Menschenverachtung“ (GS 2, 221). Stärkster Beleg dafür ist ihm, dass das Buch in der Rede „Der Liebe Tun, eines Verstorbenen zu gedenken“ (LT, 378 / SKS 9, 339) gipfelt. Für Kierkegaard ist diese Form der Liebe tatsächlich das beste Beispiel für ihre „Geistigkeit“, d. h. ihre Allgemeinheit, die allerdings auch im Totengedenken immer noch auf eine bestimmte Person bezogen bleibt. Auch verkörpert sie paradigmatisch das Prinzip der Inäquivalenz und Uneigennützigkeit – von Toten können wir schließlich nichts mehr erwarten. Zudem schafft der Tod „alle Verschiedenheiten ab“ und exemplifiziert die Gleichheit aller Menschen vor Gott (LT, 71 / SKS 9, 69). Die Liebe zu den Toten vermag das zu antizipieren in einer Transzendenz, die über alles, das endliche Leben selbst, hinaus ist. Während für Kierkegaard aber die rückkehrende Verendlichung eine Verlebendigung bedeutet, sieht Adorno hier eine Mimesis „ans Tote“ (GS 3, 76) am Werk, was er tatsächlich analog zum Odysseus-Exkurs als Dialektik von mythischer Naturbe-
Vgl. NL 4/10, 250. Vgl. LT, 276 / SKS 9, 250.
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herrschung und Opfer beschreibt. Daher lautet für ihn die Forderung der Liebe nun, „daß sie allen Menschen gegenüber sich verhalte, als wären sie Tote“ (GS 2, 221). Sie reproduziert so die Verdinglichung, der sie sich doch in anderer Hinsicht entgegenstellt. 8. Adornos Auseinandersetzung mit Der Liebe Tun ist insofern symptomatisch, als hier die offensichtliche Widersprüchlichkeit seiner Deutung, das Ineinander von Würdigung und vernichtender Kritik, so offen zutage tritt, wie wohl nirgends sonst. So sehr Kierkegaard auch die entfremdende Macht der Tauschverhältnisse registriert, so sehr erliegt er ihr ihm zufolge auch. Bereits in seinem Erstlingswerk hatte Adorno ja behauptet, Kierkegaard analysiere „weder Notwendigkeit und Recht der Verdinglichung noch die Möglichkeit ihrer Korrektur“ und beharre stattdessen auf einer „verlorenen Unmittelbarkeit“, nur um gleich drauf einzuräumen, dass er „das Verhältnis von Warenform und Verdinglichung“ in einem Gleichnis der Einübung notiert habe (GS 2, 59). Schließlich meint er gar, Innerlichkeit breche den Bann der Verdinglichung, als den er das „Gesetz der Gleichgültigkeit“, von dem in Furcht und Zittern die Rede ist, deutet.¹⁰⁵ Dagegen heißt es später, Liebe sei „unmöglich, wenn die Menschen kraft der gesellschaftlichen Voraussetzungen ihrer Beziehungen selbst Gegenstände geworden sind wie heute. Kierkegaard aber protestiert nicht gegen das Grauen der Verdinglichung, sondern will sie nicht wahrhaben. Darum hält er krampfhaft am Begriff des Nächsten fest“ (GS 2, 225). Kurzum: „Es gibt den Nächsten nicht mehr“ (GS 2, 225). Nicht nur für Adorno scheint ja die Liebesethik eine Unmittelbarkeit zu implizieren, die die (tausch- und warenförmige) Vermitteltheit zwischenmenschlicher Beziehungen vorab ausblendet und davon abstrahiert, dass die Gesellschaft die Substanz des Individuums ist. Der Widerspruch in seiner Deutung ließe sich dahingehend auflösen, dass Kierkegaard ihm zufolge zwar die Verhältnisse adäquat erfasst – wenngleich er einer Theorie der Gesellschaft ermangelt –, dabei aber übersieht, wie sehr sie auch das Subjekt in seiner Konstitution prägen. Das aber würde ja der bisher vertretenen These widersprechen, dass gerade in der Dialektik solcher Verinnerlichung, in der Beschreibung der Mechanismen (kollektiver) Selbsttäuschung, der Däne über den marxschen Standpunkt hinausgeht und zumindest untergründig Adornos (subjektive) Erweiterung des Materialismus beeinflusst hat. Sie bestätigt sich auch in „Kierkegaards Lehre von der Liebe“ – nicht zuletzt wegen der Diagnose einer nivellierenden Kommunikationsstruktur. Die folgende Stelle resümiert im Grunde die ganze Bedeutung, die Adorno Kierkegaard als Sozialkritiker und in Bezug auf jene historische Wegscheide, die das Jahr 1848 für ihn markiert, beimisst: Kritik des Fortschritts aber heißt bei Kierkegaard, ob auch bloß implizit und theologisch getönt, wie bei der Hegelschen Linken Kritik der Zivilisation als der Entmenschlichung. Seine Empörung gilt freilich weniger den Verhältnissen als den Subjekten, die jene zurückspiegeln. Er gehört mit wenigen Denkern seiner Epoche wie E. A. Poe, Tocqueville und Baudelaire zu denen, die etwas von den wahrhaft chthonischen Veränderungen verspürt haben, die zu Beginn des Hochkapitalismus mit den Menschen selber, mit menschlichen Verhaltensweisen und mit der inneren Zusammensetzung
GS 2, 60; vgl. FZ, 23 / SKS 4, 123.
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menschlicher Erfahrung sich zugetragen haben. Das verleiht seinen kritischen Motiven ihren Ernst und ihre Dignität. Das Buch über die Liebe enthält dafür ein außerordentliches Zeugnis. Er hat darin eine Tendenz der heutigen Massengesellschaft bezeichnet, die zu seiner Zeit noch sehr latent gewesen sein muß: die Ersetzung spontanen Denkens durch automatisierte Anpassung, wie sie im Zusammenhang mit den modernen Formen der Information sich vollzieht. In Kierkegaards Massenfeindschaft, so konservativ er sich gebärdet, steckt ähnlich wie bei Nietzsche etwas von der Einsicht in die Verstümmelung des Menschen durch die Beherrschungsmechanismen, die ihn zur Masse machen. ‚Es ist als wäre die Zeit der Denker vorbei!‘ Er erklärt den Denkverlust durch Information und bedingten Reflex: ‚Alle Mitteilung soll in dem bequemen Tone der leichten Flugschrift geschehen oder von Unwahrheit über Unwahrheit unterstützt werden. Ja, es ist so, als müßte zuletzt alle Mitteilung so eingerichtet werden daß man sie in Zeit von höchstens einer Stunde in einer Versammlung vortragen kann, die wiederum die eine halbe Stunde mit lauten Bezeugungen des Beifalls und Widerspruchs hinbringt und in der andern halben Stunde vor Betäubung die Gedanken nicht mehr sammeln kann.‘ In den Versammlungen der achtundvierziger Zeit hat er das Echo der Lautsprecher antezipiert, die erst hundert Jahre später die Sportpaläste füllten.¹⁰⁶
Ich meine, dass Adorno damit en passant auch Kierkegaards methodische Konsequenzen würdigt, die er in der Konstruktion des Ästhetischen noch so entschieden verwirft. Denn solcher Kommunikation der Selbstdarstellung und Bewunderung, die durch „Beifall“ – das ist ihr Wertmaßstab – entlohnt wird, stellt Kierkegaard die „Selbstverleugnung“ (LT, 399 / SKS 9, 358) entgegen. Sie ist nicht zu verwechseln mit jener strategischen Selbstverleugnung nach dem Modell des Odysseus, die auf Selbsterhaltung durch Anpassung zielt. Vielmehr entspricht sie dem, was ethisch die Uneigennützigkeit ist und in der Dialektik indirekter Mitteilung das Moment der Selbstzurücknahme. Solche Kommunikation versucht nicht zu überzeugen, erwartet nichts zurück, aber vermag gerade deshalb den Verblendungszusammenhang des bloßen Eigeninteresses, des Tausches und der Konkurrenz zu unterlaufen. Nur so kann von der Liebe überzeugt werden. 9. Setzt aber Kierkegaard überhaupt eine Unmittelbarkeit im Nächsten voraus, wie es der Begriff zu implizieren scheint? Seine Bestimmung des Menschen als Geist behauptet, ebenso wie die Geistigkeit der Liebe, gerade eine unüberwindbare Mittelbarkeit. Auch spricht er ja wiederholt von einer neuen oder zweiten Unmittelbarkeit. Der Glaube selbst ist „die Unmittelbarkeit nach der Reflexion“ (T II, 230 / SKS 20, 363). Das bedeutet, ungeachtet der theologischen Voraussetzungen, etwas kategorial anderes als die verlorene erste, bzw. die „zweite[n] trügerische[n] Unmittelbarkeit“ von der Adorno spricht und die Produkt der „Totalität der Vermittlungsprozesse […] des Tauschprinzips“ ist (GS 8, 369).¹⁰⁷ Das Festhalten am Schein der Unmittelbarkeit wird dagegen von Kierkegaard gerade als Selbsttäuschung beschrieben. Das bedingt ja auch die Indirekt-
GS 2, 229 – 230. Er zitiert nach der Übersetzung von Dorner und Schrempf (1924, 377).Vgl. LT, 403 / SKS 9, 361– 362. Sie ist auch kategorial verschieden von jener Unmittelbarkeit der absoluten Idee am Ende der Logik, die ebenso „Herstellung der ersten Unmittelbarkeit, der einfachen Allgemeinheit“ ist, weil hier der Unterschied zur zweiten oder dritten usf. nicht mehr „zählt“ (TWA 6, 564). Bei Hegel stellt sich nichts Neues ein.
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heit der Mitteilung. Er ist schließlich „gezwungen, der Ambivalenz des Ästhetischen sich auszusetzen, weil jede unmittelbare Mitteilung nach dem Beispiel des Ethikers in einer durch und durch in sich vermittelten Welt sogleich der Unwahrheit verfiele“ (Pulmer 1982, 232). Auch seine Ethik der Nächstenliebe verstehe ich als eine, die gerade mit der Entfremdung der Menschen rechnet, weil ihm, wie Deuser (1980, 27) feststellt, „das Bestehende […] mehr und mehr einem Nebel unwahrer Vermitteltheit von Allgemeinem und Besonderem glich“. Deshalb gilt es den anderen mittelbar zu lieben, in einem Dritten, wie er bereits 1837 ausführt – was er auf „[a]lle wahre Liebe“ bezieht, nicht nur die „Lehre des Christentums: daß die Brüder einander in Christo lieben sollen“ (ES, 131 / SKS 17, 136). In Der Liebe Tun ist dann abstrakter nicht nur vom „Gottesverhältnis“, sondern auch von diesem „Dritten“ als der „Idee“, dem „Wahren“ oder „Guten“ die Rede. Jeweils „schiebt der Liebende etwas Höheres zwischen sich und den Lieblosen ein“ (LT, 372 / SKS 9, 334). Kierkegaard stellt nun apodiktisch fest: „Wenn es im Verhältnis zwischen Mensch und Mensch nicht ein solches Drittes gibt, wird jedes solche Verhältnis ungesund“ (LT, 372 / SKS 9, 334). Dass Adorno nicht sehen will, dass diese Auffassung auch durch seine Entfremdungsdiagnose motiviert ist, zeugt von einer charakteristischen Blindheit gegenüber Kierkegaard, die sich sowohl hinsichtlich der Dialektik der Mitteilung wie jener der Nächstenliebe offenbart. 10. Solche Vermitteltheit der Liebe ist für Adorno vielmehr der Grund ihrer Objektlosigkeit, da sie alle Vermittlungen in der Horizontalen dem Transzendenzbezug opfert. Jedoch ist es entscheidend, wie dieses Dritte gedacht wird. Denn in Christus ist der Gottesbezug noch einmal vermittelt, da Gott Mensch geworden ist. Und Nächstenliebe bedeutet zugleich Nachfolge und ist darin immer schon konkret. Das heißt, dass es das Leben Christi praktisch nachzubilden gilt und so in einer verdoppelten Weise zu wiederholen, was in Bezug auf das Transzendente möglich ist. Es ist daher auch ein Hauptkritikpunkt Deusers (1980, 234), dass Adorno in dieser Hinsicht das Selbstverständnis Kierkegaards übergehe, insofern dessen „Begriff der richtigen Praxis die des nachfolgenden Christen meint, der im Konflikt mit dem Bestehenden das Kriterium des Negativen als Leiden selbst erfährt“. Das will er ausdrücklich als Alternative zu Adorno verstehen. Dessen umstrittener These von der verstellten Praxis¹⁰⁸ folgt Deuser zwar durchaus. Er argumentiert aber, dass Adorno, anders als Kierkegaard, ihr kein bloßes Korrektiv, sondern vielmehr eine andere, nicht entfremdete Welt entgegenhält, indem er auf die „Erfahrungen der Kunstwerke als metaphysische Instanzen“ (Deuser 1980, 234) rekurriert. Er erfahre das „Kriterium gelebter Praxis […] nur an sekundären Ausdrucksformen“ und drohe es daher zu verlieren (Deuser 1980, 234). Dagegen lässt sich mit Adorno einwenden, dass der kierkegaardsche Negativismus stets in Gefahr ist, leerzulaufen – und sei es wider die eigene Absicht. Auch kann er wie erörtert der herausgehobenen Stellung des Leidens bei Kierkegaard – die sich ja wesentlich der Christologie verdankt – nur bis zu einem bestimmten Punkt folgen: Es ist negativer Index von Wahrheit. Daher gilt es, „Leiden beredt werden zu lassen“ (GS 6, 29), nicht
Vgl. GS 2, 224.
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aber zu positivieren als Kriterium von Wahrheit selbst. Bei Adorno dagegen kommt als hegelsches Komplement seines Negativismus ein „robustes Konzept der ‚metaphysischen‘ oder ‚geistigen Erfahrung‘“¹⁰⁹ zum Tragen. Sie ist ebenso materialistisch auf ein negativwertiges Objekt bezogen, das „höchst real“ (GS 6, 22) sei, wie auf das Kunstwerk, in dem stellvertretend ein vernünftiges Allgemeines realisiert ist, und das als positiver Index des Anderen fungiert, dabei aber ein diesseitiges Objekt bleibt. Gerade deshalb vermag es ja solche Erfahrung anzustoßen und die Immanenz der Dialektik zu brechen (GS 6, 183). Diesen Gedanken entnimmt er auch Kierkegaard, der aber bisweilen zurückfalle in ein Kreisen um sich, das dieser selbst als das Dämonische bezeichnet. Auch der Nächstenliebe gibt er Adorno zufolge derart „eine Wendung, die es schwer fällt anders zu bezeichnen denn als dämonisch: die Überspannung der Transzendenz der Liebe droht in jedem Augenblick in ein Finsteres umzuschlagen“ (GS 2, 221). 11. Allerdings stimmt Deuser Adornos Kritik an der Verzerrung des Christlichen in anderen Punkten durchaus zu. Auch macht dieser ja, wo er ihm das Defizitäre seiner Lehre von der Liebe vorrechnet, dafür oft weniger die Theologie, als vielmehr die Idealität des Ethischen, das Allgemeinmenschliche verantwortlich – oder dass beide sich nicht mehr vereinbaren lassen: „Kierkegaard nimmt den allgemeinen Begriff vom Menschen aus seiner eigenen Zeit, der des entfalteten Bürgertums, und unterschiebt ihn dem Christlichen. Dadurch bringt er beide um ihren Sinn: der christliche Nächste verliert die Konkretheit, die allein es erlaubte, unmittelbar zu ihm sich zu verhalten, und dem gegenwärtigen Menschen wird die Liebe entzogen, indem man sie an dem Maß frugaler Verhältnisse orientiert, die nicht mehr gelten“ (GS 2, 226). Adorno argumentiert hier streng historisch-materialistisch, dass sich die jeweilige sozioökonomische Lebenswelt, die in die Begriffe eingegangen ist, soweit von diesen entfremdet hat, dass sie nicht mehr mit ihnen zusammengedacht werden kann.¹¹⁰ Denn das Evangelium setzt ihm zufolge durchaus eine Unmittelbarkeit zwischenmenschlicher Beziehungen voraus, die unwiederbringlich verloren ist. Wenn aber Kierkegaard diese Diagnose akzeptiert und mit der hochgradigen Vermitteltheit zwischenmenschlicher Beziehungen in der Moderne rechnet, müsste er dann nicht die eine Seite des Doppelgebots der Liebe schlicht aufgeben? Es bliebe nur noch der Einzelne in seiner Beziehung zu Gott übrig.¹¹¹
Wesche 2019a, 378. Vgl. GS 6, 22, 41, 55, 57, 64. Ausführlicher heißt es dort: „Die Nächsten des Evangeliums, das waren die Fischer und Landbauer, die Hirten und Zöllner eines Lebens einfacher Hauswirtschaft. Man kann sich nicht vorstellen, daß in den Evangelien der Schritt von diesen konkreten, vertrauten, als selbstverständlich erfahrenen Nächsten zur abstrakten Idee des Nächsten schlechthin gemacht worden wäre.“ Interessant ist in diesem Zusammenhang Mariele Nientieds Kritik. Sie setzt sich zunächst von Adorno ab, der das Problem auf der Ebene gesellschaftlicher Objektivität verhandle – was ja durchaus zutrifft –, während sie es in der Sphäre der Intersubjektivität diskutiert (Nientied 2003, 340 – 341). Vor diesem Hintergrund greift sie einen bekannten Vorwurf an die Adresse Kierkegaards aus religionsphilosophischer Perspektive auf: „Das menschliche Gegenüber werde als Konkurrent zu Gott verstanden und müsse deshalb zum unwesentlichen degradiert werden“ (Nientied 2003, 340). Dagegen gelte es nach Buber, Lévinas, und Derrida, „in der ethischen Dimension des Zwischenmenschlichen eine religiöse
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Dass sein Denken gerade dazu tendiert, wurde ihm von (dänischen) Theologen als dezidiert unchristlicher Zug vorgehalten – und zwar ebenso seinerzeit wie im 20. Jahrhundert.¹¹² Hier drängt sich zugleich die Frage auf, ob damit nicht nur der Liebesethik, sondern der Ethik überhaupt das Fundament entzogen wird, insofern sie, im zuvor erörterten Sinne, ein hinreichendes Maß an Selbstbestimmung und -übereinstimmung ihrer Subjekte zur Bedingung hat. Dass Liebe erbaut, heißt nicht zuletzt, dem anderen eine Individualität zu unterstellen, die infolge seiner Verdinglichung faktisch keine Voraussetzung mehr zu haben scheint. Das ist aber in moralphilosophischer Perspektive gewissermaßen alternativlos, sofern man diese nicht gleich mit aufgibt. Denn andernfalls müsste aus der Verdinglichung der Menschen der Schluss gezogen werden, sie ebenso in einem ethisch relevanten Sinne zu entmenschlichen. Auch für Adorno müssen sie aber Adressaten moralischen Handelns bleiben. In den noch unveröffentlichten Vorlesungen zur Moralphilosophie von 1956/57 entwickelt er das Konzept eines „stellvertretenden Lebens“. Gerhard Schweppenhäuser hält dazu fest: Es mag überraschen, wenn der oft als ‚Negativist‘ gescholtene Adorno vorschlägt, ‚in den engsten Beziehungen der Menschen so etwas wie Modelle eines richtigen Lebens zu erstellen‘. […] In Beziehungen zwischen Subjekten, die reflektiert und immerhin doch partiell frei und selbstbestimmt gestaltet werden können, müsste es möglich sein, wenigstens ein Stück weit auszubrechen aus dem Zwangsmechanismus des verabsolutierten Selbsterhaltungsinteresses, das nach wie vor gesellschaftlich bestimmend ist. Das bedeutet: Sofern es irgend möglich ist, sollte man so miteinander umgehen, ‚wie man dem eigenen Erfahrungsbereich nach sich vorstellen könnte, daß das Leben von befreiten, friedlichen und miteinander solidarischen Menschen beschaffen sein müßte‘. (G. Schweppenhäuser 2016, 208)
Damit ist er von der Ethik der „erbaulichen“ Nächstenliebe nicht mehr so weit entfernt, wie es zunächst den Anschein hat. Schweppenhäuser (2016, 209) bezeichnet diese „Denkfigur“ treffend als „die des Paradoxes“. Auch Adorno muss im moralischen Handeln voraussetzen, was im Gegenüber womöglich keine Entsprechung mehr findet. Freilich weiß dieser Entwurf eines „fragilen, fragwürdigen Lebens“ um die „Ohnmacht eines solchen Versuchs“ (G. Schweppenhäuser 2016, 208). Aber Kierkegaard ging es da doch nicht anders, er hat sie selbst in seinem Engagement erfahren. Adorno versucht sich zu Beginn beider Vorlesungen zur Moralphilosophie aus den fünfziger und sechziger Jahren in Bezug auf seinen wohl berühmtesten Satz gewissermaßen zu rechtfertigen, warum ein richtiges Leben im falschen, das es nicht geben könne, nun doch eingeschränkt möglich sein soll.¹¹³ Für ihn gilt es durchaus, was ihm Kodalle (1983, 83) Qualität zu verorten und die Trennschärfe zwischen diesen beiden Sphären nicht hermetisch zu konzipieren“ (Nientied 2003, 340). Prägend war hier sein Zeitgenosse Grundtvig. Knud Ejler Løgstrup (1971, 453) folgt ihm ein Jahrhundert später nach, wenn er Kierkegaard unterstellt, was Adorno in Bezug auf seine Liebesethik ausdrücklich behauptet: um der Ewigkeit willen in freiwilliger Resignation das Leben zum Tod zu verwandeln. Vgl. NL 4/10, 9.
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mit Kierkegaard entgegenhält, „als selbst Schuldverstrickter das Gute in Praxis zu repräsentieren“. Tatsächlich ist bei Adorno, ähnlich wie andernorts¹¹⁴, auch in den Vorlesungen die Rede von einer „Verstrickung in den universalen Schuldzusammenhang“¹¹⁵. Er befreit aber diesen Gedanken, ebenso wie den der Transzendenz, so Schweppenhäuser (2016, 210), „aus seiner theologischen Hülle“. Bemerkenswert ist auch, dass Adorno seine Überlegungen zur Ethik aus den fünfziger Jahren mit dem Problem der Mitteilung verbindet, und zwar in Bezug auf Sokrates, dessen dialogische Methode „eingeht auf den spezifischen Menschen, an den sie gerichtet ist, während das geschriebene Wort alle Menschen gleich anblickt, nicht zu differenzieren vermag“¹¹⁶. Auch Kierkegaard hat sich bekanntermaßen in seinem Programm indirekter Mitteilung – das er ja als „mäeutisches“ bezeichnet und das ganz im Dienst solcher „Individualitätsverschiedenheit“ (AUN II, 339 / SKS 7, 569) steht – auf ihn berufen. Das bestätigt erneut den Verdacht, dass Adorno auch seinen methodischen Bemühungen, dem unvertretbar Besonderen im allgemeinen Medium schriftlicher Mitteilung gerecht zu werden, nähersteht, als es deren entschiedene Ablehnung vordergründig bekundet.
Vgl. GS 6, 241; GS 8, 107. Zitiert nach G. Schweppenhäuser 2016, 210. Zitiert in der editorischen Nachbemerkung zur Vorlesung aus den Sechzigerjahren: Adorno, NL 4/10, 305.
Schlussbetrachtung: Stellvertretend leben Die Radikalität, mit der Adorno und Kierkegaard die Entfremdung der Menschen zu ihrer Zeit als allumfassende beschreiben, scheint sie auf den ersten Blick zu verbinden. Was sie trennt ist aber die Begründung ihrer Diagnose. Zwar betonen beide die Ambivalenzen, die aus der Aufklärung und der Herausbildung des autonomen Individuums erwachsen, Kierkegaard mangelt es aber an einer Theorie gesellschaftlicher Entwicklung, die in der Lage ist, die zugrundeliegende sozioökonomische Dynamik zu begreifen. Zum Verständnis der subjektiven Mechanismen allerdings, wie sich Menschen gegen die Erkenntnis ihrer Lebenswirklichkeit verblenden, hat er einiges beigetragen. Er war deshalb nicht nur Adorno, sondern zahlreichen Denkern des „westlichen Marxismus“ – Lukács, Bloch, Benjamin, Marcuse und Sartre etwa – auf je unterschiedliche Weise zumindest eine Anregung. Bei keinem der genannten Autoren kann daraus jedoch eine stimmige Synthese entstehen. Insofern bestätigt sich die Vermutung aus der Einleitung, dass der Abstand zwischen den geistigen Herkunftswelten doch zu groß ist. Adorno wird Kierkegaard aber auf eine paradoxe Weise gerade darin gerecht, dass er sich sein Denken nicht ohne Weiteres zu eigen machen kann. Der Standpunkt des religiösen Schriftstellers, auch was seine ideengeschichtliche Zwischenstellung angeht, ist einer von „sokratischer Ortlosigkeit“, umschreibt damit aber eine Atopie, die ebenso als Utopie verstanden werden kann (Kleinert 2019, 16). Darum geht es Adorno und deshalb stößt er sich daran, dass Kierkegaard anderswo in der Philosophie und Theologie des 20. Jahrhunderts eine Heimat gefunden zu haben schien. Die Kluft zwischen beiden hat die Forschung meist davon abgehalten, sich näher auf diese ideengeschichtliche Konstellation einzulassen. Eine Gesamtschau auf der Grundlage einer tiefergehenden, textnahen Analyse von Adornos Kierkegaardbuch ist bisher jedenfalls noch nicht unternommen worden.¹ Darin sehe ich meinen eigentlichen Beitrag – bei allem systematischen Interesse, das sich auch damit verbinden mag. Dieses Interesse gilt vor allem dem Problem der Entfremdung, das seit einigen Jahren als Thema von Gesellschaftsdiagnosen eine Renaissance erlebt. Kierkegaard und Adorno scheinen jedoch im totalisierenden Zug ihrer Thesen – wie der Behauptung einer Universalität der Verzweiflung oder einer Verdinglichung, die sich geradezu in die anthropologische Verfassung des Menschen selbst einschreibt – unzeitgemäß und wenig anschlussfähig. Die Herausforderung liegt dabei aber weniger in der tatsächlichen oder vermeintlichen Ausweglosigkeit eines maßlosen Negativismus. Vielmehr werden solche Bestimmungen, wie sich gezeigt hat, dadurch grundsätzlich dialektisch. Verzweiflung ist eben für Kierkegaard Vorzug und Mangel zugleich. Adorno wiederum hat sich deshalb schon mit dem Ausdruck Entfremdung schwergetan, schien er ihm doch undialektisch auf einen vorgängigen nichtentfremdeten Zustand zu verweisen – oder gar auf eine
Das ist entweder, wie bei Gordon (2016), der Einbindung in einen größeren ideen- bzw. rezeptionsgeschichtlichen Bezugsrahmen geschuldet, oder, wie bei Deuser (1980) und Angermann (2013), dem systematischen Zuschnitt. https://doi.org/10.1515/9783111010342-008
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wahre Natur des Menschen. Darin ist er sicherlich ein Zeitgenosse. Solche Dialektik trägt aber nicht nur maßgeblich zur verwirrenden Unübersichtlichkeit der tradierten Begriffsgeschichte bei. Ist Entfremdung – selbst die der Menschen voneinander in der bürgerlichen Gesellschaft – nicht einfach eine nichtseinsollende, droht ihr Begriff auch seine Schärfe als Instrument der Kritik zu verlieren. So stellt es sich zumindest aus der Vogelperspektive der übergreifenden (historischen) Gesamtbewegung dar. Es ist aber nicht so, dass sich bei Kierkegaard und Adorno im Konkreten, etwa in der Beschreibung des Phänomens sozialer Kälte, nicht auch ein klar zu benennendes Leiden an Entfremdung artikuliert. Und dieses Leiden gilt es gerade als solches festzuhalten und nicht, darauf hat insbesondere Adorno – auch gegenüber Kierkegaard – insistiert, in einen höheren Sinnzusammenhang aufzuheben und damit zu positivieren. Darin liegt ebenso die idealismuskritische Pointe des Problems. Es führt direkt ins Zentrum von Kierkegaards Kritik der Spekulation, scheidet er doch deshalb die existenzielle Verzweiflung scharf von der bloßen Gedankenbestimmung des Zweifels. Leiden als solches sperrt sich der denkerischen Aneignung, ist für Adorno unhintergehbarer Grund im materialistischen Sinne. Es steht in ausgezeichneter Weise für jenes Moment, das in der idealistischen Kontinuität der Dialektik, wie er unter ausdrücklicher Berufung auf Kierkegaard meint, „intermittiert“ und das zugleich die Bewegung in Gang setzt. Was Adorno und Kierkegaard zu Recht als Entfremdung kritisieren, ist eine Haltung der Gleichgültigkeit gegenüber Leid und Unrecht.² Eng damit zusammen hängt ein Aspekt, der in der ohnehin überschaubaren Literatur zum Verhältnis beider besonders vernachlässigt wurde. Bei aller Distanz zwischen ihnen, stellt sich in der Kritik und Verteidigung des ethischen Standpunkts eine eigentümliche Übereinstimmung ein. Es handelt sich dabei nicht um eine Zufälligkeit, sie ist vielmehr der Auseinandersetzung mit Kant und dem Deutschen Idealismus geschuldet.Wenngleich sich der Däne nicht mit dem marxschen Denken versöhnen lässt, so offenbart sich gerade aus dieser ideengeschichtlichen Perspektive doch eine klare Entsprechung, auf die jüngst Habermas (2019, 688) im zweiten Band von Auch eine Geschichte der Philosophie aufmerksam gemacht hat: Marx und Kierkegaard seien darin „ganz analog“. Zunächst verbindet sie die Bewegung einer verendlichenden Detranszendentalisierung des Geistes, die nicht allein Charakteristikum der nachidealistischen Bewusstseinsstellung ist, sondern die Hegel bereits mit seiner Verzeitlichung der Vernunft einleitet.³ Sie decken derart aber nicht nur die vorgegebenen biographischen bzw. sozialgeschichtlichen Beschränkungen ihrer Verwirklichung auf. Nicht minder übernehmen sie den gegen die selbstverschuldete Unmündigkeit gerichteten „emanzipatorische[n] Impuls der Aufklärung“ und behalten einen „Kern von transzendental weltentwerfender und gesetzgebender Spontaneität“ zurück – das sind Habermas (2019, 597) zufolge die beiden junghegelianischen Quellen, aus denen sich auch die kritische Gesellschaftstheorie des 20. Jahrhunderts speist. In Eine solche Indifferenz bewegt sich, wie vor allem im fünften Abschnitt des vierten Kapitels im Anschluss an Kant erörtert, jenseits der Differenz von Gut und Böse und ist deshalb auch kein Thema der Ethik im klassischen Sinne.Vielmehr trifft sich hier die Moralphilosophie mit der Entfremdungsdiagnose. Vgl. hierzu insbesondere den letzten Abschnitt im ersten Kapitel dieser Arbeit.
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aller Deutlichkeit hat sich das in der vorliegenden Untersuchung daran gezeigt, wie Adorno Kant und Hegel gegeneinander ausspielt. Das tut er nicht erst in der Negativen Dialektik, sondern bereits in seinem Erstlingswerk, gewissermaßen in einer Montage von Zitaten Kierkegaards. Freilich stellen sich die Bedingungen, ethische, politische und existenzielle Freiheit zu verwirklichen, mit der Zeitdiagnose Adornos noch einmal ganz anders dar, als in den 1840er-Jahren. Der Einfluss Kierkegaards auf den Frankfurter erschöpft sich dabei aber nicht in Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Beschreibung der subjektiven Dynamik gesellschaftlicher Entfremdung. Er ist ebenso zu finden in den Schlussfolgerungen, die sie je aus der Behauptung totaler Entfremdung – und zwar ungeachtet der Frage, wie sie begründet sein mag – für die Möglichkeiten verantwortlicher Praxis ziehen. Ich fasse diese Konsequenzen unter dem Begriff der Statthalter- oder Stellvertreterschaft zusammen. Deren doppelt paradoxe Logik lautet: Wenn es so wäre, wie befürchtet, dann müsste man so handeln, als ob es nicht so wäre. Im Irrealis antizipiert stellvertretende Praxis, dass es noch schlimmer sein könnte – aber um es besser zu machen. So verstehe ich das Bradley-Zitat, das dem zweiten Teil der Minima Moralia vorangestellt ist: „Where everything is bad it must be good to know the worst“ (GS 4, 94). Es geht also um den Versuch, so gut wie möglich, d. h. ethisch verantwortungsvoll, mit Entfremdung zu leben.⁴ Darum bemühen sich auch die Modelle eines stellvertretenden Lebens, wie sie Adorno in den Vorlesungen zur Moralphilosophie aus den Fünfzigerjahren entwirft. So will ich abschließend, in der Auffächerung unterschiedlicher Bedeutungsdimensionen von Statthalterschaft, die im Laufe der Untersuchung herausgearbeitete Nähe und Distanz Adornos zu Kierkegaard noch einmal umreißen. Wie sich im letzten Kapitel gezeigt hat, muss eine solche stellvertretende Praxis sich aufgrund ihrer Entfremdung von substantieller gesellschaftlicher Allgemeinheit kontrafaktisch ihre eigenen Voraussetzungen schaffen. Das tut Kierkegaards Liebesethik, indem sie „erbaut“. Die Einstellung, die ihr entspricht, ist die einer Hoffnung wider die Verhältnisse.⁵ Adorno spricht offen aus, dass ihm der Däne gerade in dieser Hinsicht stets eine Inspiration war. Hoffnung lässt sich im Sinne beider als „kontrafaktische Erwartungshaltung“ (Wesche 2012, 50) verstehen. Das heißt aber, dass die faktische Erfahrung sie geradezu zu untergraben droht, wie Adorno feststellt: „So sagt uns eine Stimme, wenn wir auf Rettung hoffen, daß Hoffnung vergeblich sei“ (GS 4, 138). Ande Achim Trebeß (2001, 114– 115) beschreibt diese Alternative – ausgehend von der Behauptung, dass gesellschaftliche Entfremdung nicht aus der Welt zu schaffen sei – treffend, sieht aber nicht das Potential, das dabei Adorno zukommt: „Damit aber schließen sich zwei Wege aus: der von Marx – völlige Überwindung von Entfremdung als Kommunismus – und der von Adorno – Suche nach einer neuen Praxis fern von Naturaneignung. Auch diese Lösung beharrt noch darauf, Entfremdung überwinden zu können. […] Allgemein muss es darum gehen, kulturelle Formen zu finden, in denen mit Entfremdung gelebt werden kann, Möglichkeiten zu suchen, ihre historisch (und nicht zwangsläufig) gewordenen katastrophischen, zerstörerischen Folgen zu beherrschen.“ Dabei stellt er die Möglichkeit der Überwindung von Entfremdung in Bezug auf die Dialektik der Aufklärung doch gerade infrage, weshalb ihm das Buch gar zu einem Wendepunkt in der Geschichte des Begriffs wird: Trebeß 2001, 156. Vgl. LT, 272– 291 / SKS 9, 246 – 262.
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rerseits bedeutet das, dass sich Hoffende über ihre Situation auch nicht täuschen – was Hoffnung von Wunschdenken unterscheidet. Kierkegaard beschreibt das besonders plastisch in der Dialektik von Möglichkeit und Notwendigkeit. Hoffnung zu schöpfen ist dem Luftholen zu vergleichen. Aber der Mensch könne weder Sauerstoff allein (Möglichkeit) noch Stickstoff (Notwendigkeit) atmen (KT, 45 / SKS 11, 155 – 156). Vielmehr beruht Hoffnung auf der „Einsicht in die menschliche Kontingenz und die Grenzen der eigenen Handlungsfähigkeit“ (B. Schmitz 2012, 98).⁶ Zugespitzt lässt sich gar sagen, dass sie dem Gelingen von Praxis gilt, unter Bedingungen, die diesem entgegenstehen. Hoffen kann man aber nur, was – wie prekär auch immer – vom eigenen Handeln abhängt. Dieser Haltung kommt daher eine kaum zu unterschätzende Bedeutung für die Ethik zu. Bei Kant überbrückt sie die Kluft, die sich zwischen der Pflicht und der Glückseligkeit auftut. Überhaupt vermittelt sie zwischen Idealität und Faktizität, und zwar ganz im Sinne jener kierkegaardschen Doppelbewegung der Liebe, also in Form von „Idealisierungen, die auf unsere Praxis zurückwirken“ (Wesche 2012, 50). Handelnde schaffen sich damit – auch emotional – ihre eigenen Bedingungen. Deshalb „erbaut“ ja die Liebe. Nach einer ähnlichen Logik werden aber ebenfalls von Kant die Vernunftpostulate eingeführt. Adorno und Kierkegaard verabschieden sich von derartigen Denknotwendigkeiten, doch auch ihre Hoffnung ist nicht grundlos. Bei Kierkegaard findet sie Halt im Gottesbezug bzw. in der Nachfolge Christi, bei Adorno vor allem in der Kunst, der ästhetischen Erfahrung. Zu unterscheiden ist eine solche Gestalt von Hoffnung von einer, die die Totalität der Entfremdung auch in der Perspektive ihrer Überwindung spiegelt und die einer Logik des Umschlags der Extreme folgt – dass also, wie es in den Minima Moralia heißt, „die vollendete Negativität, einmal ganz ins Auge gefaßt, zur Spiegelschrift ihres Gegenteils zusammenschießt“ (GS 4, 283).⁷ Die Stellvertreterschaft bewährt sich dagegen am Vereinzelten und Bruchstückhaften: „Fragmente als Form der Philosophie […] wären Vorstellungen der als solchen unvorstellbaren Totalität im Partikularen“ (GS 6, 39), d. h. sie vertreten im Einzelnen das Ganze als Ganzes. Dabei tun sich zugleich die Bruchlinien jenes Immanenzzusammenhangs auf, der total-negativistisch in sein Gegenteil umschlagen soll. Dem Fragmentarischen der Form entspricht methodisch das Moment der Intermittenz, wo Dialektik, das behauptet ja Adorno, sich nicht zur Totalität zusammenschließen kann. In jenem letzten Aphorismus der Minima Moralia, in der Schlusspassage der Negativen Dialektik, aber auch bereits in ganz ähnlichen Worten zum Ende des Kierkegaardbuchs ist beides in der Perspektive der Transzendenz zusammengedacht: „Fragmente tragen die Risse des Zerfalls als verheißende Chiffren“ (GS 2, 198). Hier zeigt sich durchaus eine Spannung im Denken Adornos. Mikrologie und Totalitätsbestimmung stehen aber wie erörtert nicht in einem unversöhnlichen Widerspruch zueinander. Theologisch begründet sie sich aus der Abhängigkeit von der Gnade Gottes. Verräterisch ist hier allerdings schon die Schriftmetaphorik, die gerade im Kierkegaardbuch so präsent ist. Sie führt die Totalitätskategorie, von der hier die Rede ist, in eine spezifisch negative Hermeneutik über. Vgl. dazu insbesondere den letzten Abschnitt des dritten Kapitels der vorliegenden Untersuchung.
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Der totalisierenden Perspektive entspricht die umstrittene These einer verstellten Praxis. Unter diesen Vorzeichen hat man auch die Kierkegaarddeutung des Frankfurters zurückgewiesen bzw. beide gegeneinander ausgespielt: „[W]eil Adorno das Sich-Einlassen auf ein Handeln jetzt scheut, Praxis für ‚verstellt‘ erklärt und die Lösung des Bannes sich von einer endgültigen Revolution verspricht, deren Subjekt gegenwärtig natürlich nicht auszumachen ist, fehlt ihm jedes Verständnis für den Ernst gesellschaftlichen Handelns, für den Opfermut, der bei Kierkegaard in der Korsar-Affäre ja nicht zu übersehen ist“ (Kodalle 1983, 73). Mir ging es in dieser Untersuchung nicht zuletzt darum, zu zeigen, dass es sich nicht so verhält. Dem gängigen Missverständnis in Bezug auf Adorno selbst widersprechen schon, sozusagen performativ, seine konkreten Interventionen, etwa gegen die Notstandsgesetze. Auch zeigen vereinzelte Äußerungen von 1968, dass er die Gegentendenzen zum Verfall der Individualität durchaus wahr- und ernst nimmt als „Möglichkeit von Veränderung“ (GS 8, 368). Den stärksten Beleg dafür sehe ich aber in der ambivalenten Stellung des Individuums innerhalb der materialistischen Dialektik, die ihn Kierkegaard zumindest annähert. Statthalterschaft bedeutet wie gesagt, in einer anderen Praxisform eine solche zu vertreten, die (noch) nicht möglich ist. Gemeint ist damit zunächst eine gemeinschaftliche Praxis. Diese ist zu verstehen als intersubjektive Realisierung von Allgemeinheit. Dass ihr die Bedingungen fehlen, führt Adorno wie erörtert auf die objektive Allgemeinheit des Tauschverhältnisses zurück, die als reale Abstraktion die Menschen voneinander im Wortsinn entfremdet. Der Einzelne vertritt daher eine substantielle Sittlichkeit, die schon bei Hegel dem „System der Bedürfnisse“ nicht zukommt, aber auch nicht mehr mit Notwendigkeit eine Entsprechung im Staat und seinen Institutionen findet, weil dieser selbst vom defizitären Allgemeinen der bürgerlichen Gesellschaft affiziert ist. Deshalb hatte ihn ja Marx in seiner Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie auf bloß formelle Allgemeinheit reduziert. Kierkegaard trägt derartige Konflikte gewissermaßen stellvertretend mit der dänischen Staatskirche aus.⁸ Was nun aus der Vertretung substantieller Sittlichkeit folgt, ist eben nichts anderes als die Rehabilitierung der Ethik. Sie erübrigt sich in entfremdeten Verhältnissen – wie auch immer sie je bestimmt werden – gerade nicht. Adorno und Kierkegaard gleichen sich aber vor allem darin, dass bei ihnen an erster Stelle deren Kritik steht. Sie weist die Moralphilosophie in ihre Schranken, indem sie die Grenzen und Bedingungen ihrer Begründung als autonome aufzeigt. Das teilt der Ethik eben ihren Status der Stellvertretung zu. Dass Manuel Knoll (2002, 21) vom „Primat der Ethik“ bei Adorno spricht, meint etwas anderes. Er versteht darunter vielmehr das Motiv, das alle (theoretischen) Bemühungen antreibt und orientiert.⁹ Für das Verhältnis von Theorie und Praxis zieht er daraus die Konsequenz, dass sich praktische Philosophie in den Bereich der theoretischen verlagere und die neue moralische Fragestellung laute, wie wir denken Diesen Vergleich zieht auch Habermas (2019, 599 – 600) ausdrücklich. Die Argumentation ist ähnlich basal – und insofern nicht falsch, sondern bisweilen wenig erkenntniserweiternd – wie bei den Versuchen, Marx’ wissenschaftliches und praktisches Projekt, bei aller Kritik am moralischen Standpunkt etwa der Frühsozialisten, als ethisch fundiert ausweisen zu wollen.
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sollten. Und er meint apodiktisch: „Richtiges Denken verbleibt für Adorno als letzte Möglichkeit und Form richtigen Handelns“ (Knoll 2002, 20 – 21). Das ist meines Erachtens eine Verkürzung. Richtig ist aber, dass das Denken eine der Praxisformen ist, die Adorno dabei in den Blick nimmt. Schließlich ist die Philosophie eben nicht „überholt“ nach ihrer versäumten Verwirklichung (GS 6, 15). Adorno steckt mit dieser Feststellung, die die Einleitung der Negativen Dialektik eröffnet, deren Horizont ab. Marx treibt Hegels anmaßendes Erkenntnisziel praktisch über sich hinaus. Was jener damit aber Theorie in ihrem Praktischwerden abverlangt, ist nicht weniger anspruchsvoll. Eine Theorie, die sich in Stellvertreterschaft übt, bescheidet sich nach beiden Seiten. Interessant ist, dass für Honneth (1994, 49) die Sozialphilosophie, wo er ihre Aufgabe und Aktualität bestimmt, unter den Bedingungen der Entfremdung zum „Statthalter einer ethischen Perspektive“ wird. Das ist sie auch bei Adorno. Zugleich vertritt jedoch ethische Praxis, was wegen der Erosion ihrer sozialen Bedingungen als Gemeinschaftsprojekt nicht mehr möglich erscheint. Ihr nun idealerweise selbstbewusstes „Ausführungsorgan“ (GS 6, 336) ist das Individuum, weshalb beide sowohl in der Rehabilitierung, die sie durch Adorno erfahren, als auch in ihrer Einschränkung auf bloße Stellvertretung, aneinandergekoppelt sind. Bedeutsamer noch ist für Adorno aber die Kunst, sowohl als „Statthalter einer besseren Praxis als der bis heute herrschenden“ als auch als „Kritik von Praxis als der Herrschaft brutaler Selbsterhaltung inmitten des Bestehenden und um seinetwillen“ (GS 7, 26). Dass er ihr gegenüber das Potential der anderen „Praxisformen der Sprache“¹⁰ weitgehend missachtet – etwa die mit Habermas in den Fokus gerückte Kommunikation bzw. diskursive Rationalität –, wurde ihm wiederholt zum Vorwurf gemacht und ist vielleicht mitverantwortlich dafür, dass er die Reflexionen Kierkegaards dazu, gerade das dialogische Element, nicht angemessen zu würdigen weiß. Und es ist auch keine Frage, dass Adorno der kritischen Funktion verschiedener (pop‐)kultureller Praktiken nicht gerecht wird. Bei aller Kritik der Kulturindustrie warnt er jedoch ebenso vor dem Rigorismus materialistischer Kulturkritik, die sich der Kultur dabei gleich mit entledigt, also das „Kind mit dem Bade“ ausschüttet (GS 4, 48 – 49). Das ist typisch für seinen Umgang mit bürgerlichen Kategorien überhaupt, der auch die Würdigung Kierkegaards erst nachvollziehbar werden lässt. Adornos Dialektik der Aufklärung nimmt deren Ideale eben ernst, die sich insbesondere in der humanistischen Auffassung von Bildung noch bewahrt haben. Entsprechend hält er fest an jener „Autonomie, die der Bildungsbegriff ideologisch konserviert“, weil ihrer Verwirklichung „die realen Voraussetzungen“ fehlen (GS 8, 101).¹¹ Solche Formen der Statthalterschaft, die sich unter dem Oberbegriff der Kultur subsumieren lassen, leiten nun die ethische Praxis – inklusive des „richtigen Denkens“ – Wesche 2011, 325 – 354. Diese Zuschreibung begründet sich aus der erörterten Beredtheit und Sprachähnlichkeit der Kunst. Inwiefern Adornos Pädagogik nur vor dem Hintergrund seiner Entfremdungsdiagnose zu verstehen ist, habe ich erörtert in: Krämer 2018.
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weniger an, als dass sie vielmehr zu ihr erst hinführen.¹² Sie brechen jenen Verblendungszusammenhang der Indifferenz auf, der für Kierkegaard und Adorno die Negation des Ethischen ist. Dazu sind sie in der Lage, weil sie selbst eine vernünftige Allgemeinheit verkörpern. Die ethische Praxis des Einzelnen bleibt aber in der prekären Situation, ihre eigenen Voraussetzungen schaffen zu müssen, da sie nicht gleichermaßen auf eine substantielle Sittlichkeit bauen kann. Ihr Status der Stellvertreterschaft ist ein doppelt vermittelter: Sie bleibt hinsichtlich ihrer Ermöglichungsbedingungen auf solche transsubjektiven Formen von Statthalterschaft angewiesen. Das erklärt auch die herausgehobene Stellung des Kunstwerks bei Adorno, insbesondere im Verhältnis zum autonomen Individuum, dem es doch wie erörtert in bestimmter Hinsicht auch analog sein soll. Es hat dem Einzelnen voraus, dass es virtuell einen unverkürzten Begriff von Allgemeinheit realisiert, der an diesem nur momenthaft aufscheint. Daher hat die erörterte Analogie beider insofern eine hermeneutisch-transzendierende Funktion, als sie am Individuum dessen Potential aufzeigt – und überhaupt den Blick für Möglichkeit im Sinne Kierkegaards öffnet und nicht nur vorführt, was aktuell je möglich ist. Es ist dem Subjekt zugleich materiales Objekt der Erfahrung und nicht die bloße Idee des Schönen und Guten. Das gibt auch der Allgemeinheit, die es verkörpert, ihre unvergleichliche Gestalt. Das Allgemeine ist im radikal Besonderen des selbstreferenziellen Einzelwerks als scheinbar Unmittelbares vermittelt. Damit nimmt es einen vollen Begriff konkreter Allgemeinheit zumindest vorweg, da es alle seine Momente, Besonderheit und Einzelheit, in eine Selbstbeziehung integriert. Dass es aber als ein solches Verhältnis zugleich – ähnlich dem Individuum – „autonom und fait social“ (GS 7, 16) ist, bedingt seinen stellvertretenden Status. Kunst ist somit Statthalterin eines unverkürzten Begriffs von Freiheit, der erstens alle Instrumentalisierung (unter dem Selbstzweck des Profits) und zweitens die Gebundenheit an Selbsterhaltung bzw. Eigeninteresse überstiege. Das sind die beiden Momente, die die „falsche“ Praxis nach Adorno ausmachen. Gelungene Kunstwerke zeichnen sich für Adorno, im Anschluss an die Kritik der Urteilskraft, ebenso durch eine sozusagen äußere Zwecklosigkeit aus wie durch das Zusammenstimmen der Zwecke in ihrer inneren Konfiguration. Deshalb können sie ihrer Instrumentalisierung Widerstand leisten und dem Individuum als Impuls und Leitbild dienen. Noch das kontemplative Verhalten zu ihnen sei „selbst Praktisches, als Widerstand gegen das Mitspielen“ (GS 7, 26).¹³ Nun ist das ja eine Formel, die Adorno ebenso in Bezug auf Kierkegaard und den Einzelnen gebraucht (vgl. GS 2, 256). In solcher Bestimmung der Kunst liegt aber auch der Punkt, an dem er sich in der Konstruktion des Ästhetischen am entschiedensten von dem Dänen distanziert. Denn er wirft ihm, wie im dritten Kapitel erörtert, in verschiedener Hinsicht vor, das Ästhetische zu instrumentalisieren. Das heißt erstens, dass er es für seine Dialektik der Mitteilung in Dienst Vgl. Wesche 2011, 338: „Kultur umfasst alle Medien der Selbstvergewisserung, die eine Befähigung zur Selbst- und Welterkenntnis verkörpern […], indem sie eine Empfänglichkeit schaffen, die ohne sie nicht vorausgesetzt werden kann.“ Vgl. GS 6, 356.
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nimmt und darin zu einem bloßen Moment degradiert. Zweitens wird das Ästhetische, auch in der Dialektik der „Sphären“, einer von Adorno als gesamtidealistisch verstandenen philosophischen Konstruktion untergeordnet. Drittens geschieht ihm das aber auch in der theologisch begründeten „Kunstfeindschaft“ des Spätwerks, die der naiven, absichtsvollen Darstellung – etwa des Nürnberger Bilderbogens – den Vorzug gibt (GS 2, 196 – 197). Dort kommt für Adorno zudem eine Tendenz ins Spiel, die er in ähnlicher Weise in seiner Liebesethik am Werk sieht: „Als Abbild des Lebendigen wird Kunst der Nachfolge im Tod geopfert“ (GS 2, 193). Damit ist tatsächlich eine entscheidende Differenz angedeutet, auf die Deuser (1980, 32) aufmerksam gemacht hat, der freilich Kierkegaard hier verteidigt. Zu Recht stellt er fest, dass bei ihm der Nachfolge Christi in der dialektischen Gesamtbewegung dieselbe Stellung zukommt, wie der Ästhetik bzw. Kunst bei Adorno. Dass dieser jenen zentralen Aspekt im Selbstverständnis des Dänen entweder missachtet oder übergeht, macht Deuser (1980, 234) ihm zum Vorwurf. Kierkegaard tendiert seinerseits aber dazu, darüber besagte Angewiesenheit der einzelmenschlichen, stellvertretenden Praxis auf objektive Formen der Statthalterschaft, nicht nur in der Kunst, geringzuschätzen, wodurch ebenso die Handlung beziehungslos und selbstreferenziell zu werden droht. Daran ändert Adorno zufolge auch der verabsolutierte Gottesbezug nichts, der Kierkegaards Widerstand gegen das Mitspielen trägt – und das weniger, weil er Theologie nur in ihrer Inversion gelten lassen will. Vielmehr erscheint dem Frankfurter der unendliche qualitative Unterschied bei Kierkegaard bisweilen selbst nur als gedachter, weshalb ihm, wie es Holl (1972, 65) formuliert, „das Gottesverhältnis zum absoluten Selbstverhältnis tendiert“. Nicht zuletzt darin gründet der zur Debatte stehende idealistische Charakter seines Denkens. Dass in der Kunst Selbsterhaltung suspendiert ist, bedeutet, dass die Werke das Modell eines zwanglosen Opfers – im Gegensatz zu dem des Odysseus – und einer nicht herrschaftsförmigen Selbstbeziehung verkörpern. Das war im dritten Kapitel an Adornos Auseinandersetzung mit der späten Lyrik Hölderlins erörtert worden. Subjektiver Ausdruck erfordert paradoxerweise eine Selbstaufgabe. Zu ihr ist Kierkegaard – der ihm deshalb kein Dichter ist – nicht uneingeschränkt bereit. Adorno demonstriert diese Dialektik an dessen bildhafter Sprache, die er für sich nimmt, d. h. in ihrer „verräterischen Wörtlichkeit“ (GS 2, 21), die die subjektive Intention dahinter bricht. Insbesondere im letzten Kapitel des Kierkegaardbuchs erschließt er sie als Bilder von Gegenentfremdung, in denen Herrschaftsanspruch und Einheitsideal autonomer Subjektivität suspendiert sind (GS 2, 178). Das spiegelt sich thematisch darin, dass es sich dabei um Darstellungen von „Ohnmacht“ und „Schwermut“, im Sinne einer Objektivität, die auf dem Subjekt lastet, handelt. Damit liest er an der ästhetischen Oberfläche der Schriften des Dänen gewissermaßen deren materialistische Unterströmung ab. Bei Kierkegaard bekommt die Idee des stellvertretenden Lebens etwas zutiefst ambivalentes – erst recht in der Deutung Adornos. Zwar gesteht er ihm zu, in seinem Engagement, jenem „großartige[n] Widerstand gegen den Weltlauf“ (GS 2, 220), der ihn so beeindruckt hat, tatsächlich die Idee der Statthalterschaft des Besseren einzulösen. Das und insbesondere der (publizistische) Angriff der letzten Jahre steht aber in einem merkwürdigen Kontrast zu einem Leben, das bemerkenswert arm an äußeren Ereig-
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nissen war. Es war oft ein Leben in bloßer Möglichkeit, was ihm doch selbst eine Form der Verzweiflung war. Man mag hier zuerst an die aufgelöste Verlobung mit Regine Olsen denken, vielleicht auch an merkwürdige Gewohnheiten, wie die, bei seinen Spaziergängen zum Frederiksberger Park am Eingang umzukehren und nur den Duft der Blumen einzuatmen, den Rest aber seiner Phantasie zu überlassen.¹⁴ Das ist wohl ein Reflex seiner Kindheit. Im autobiographisch gefärbten Romanfragment De omnibus dubitandum est unternimmt der kleine Johannes Climacus im Inneren des Hauses mit seinem Vater vermittels dessen Erzählung jenen Spaziergang, der ihm im Äußeren verwehrt wird (PB, 113 / SKS 15, 18 – 19). Adorno hatte in seiner Kritik der Innerlichkeit auch derartiges vor Augen, schließlich gibt er jene Passage ausführlich wieder und kommentiert lakonisch: „So geht der Flaneur im Zimmer spazieren“ (GS 2, 62).¹⁵ Innerlichkeit bedeutet in dieser Hinsicht eine Statthalterschaft des Äußeren, und zwar im Wortsinn. Die wohl prominenteste Formel aus der Konstruktion des Ästhetischen, die objektlose Innerlichkeit, ist in der Forschung meist auf Ablehnung und Unverständnis gestoßen, scheint sie doch ihrer Bestimmung bei Kierkegaard diametral entgegenzustehen und ins Dämonische zu kippen – ein Begriff, den Adorno ja ebenfalls gegen ihn wendet. Das verkennt aber erstens, dass dieser sich sehr wohl darüber im Klaren ist, dass der Däne damit eine Verschränkung von Innen und Außen meint, und zweitens, dass er mit dem Prädikat ‚objektlos‘ nicht nur seine Zurückweisung zum Ausdruck bringt. Diesen Doppelsinn verdeutlicht der Begriff der Statthalterschaft, der sich zwischen dem des Surrogats, als einem Ersatz fürs Echte und Reale – was auch immer man darunter verstehen mag¹⁶ – und der Transzendenz des Bestehenden bewegt. Das zeigt sich gerade im Bild des Intérieurs, das ja so objektlos gar nicht ist. Es ist ein großes Verdienst der Deutung Adornos, dass er auf vermeintlich Marginales, wie die bei Kierkegaard ubiquitäre „Metaphorik des Wohnungsinneren“ (GS 2, 61), aufmerksam macht. Zentral ist dabei der Reflexionsspiegel. Er „zeugt für Objektlosigkeit – nur den Schein von Dingen bringt er in die Wohnung“ (GS 2, 63). Darin liegt das Moment der Selbstbezüglichkeit, aber auch die stellvertretende Wiedergabe der ausgeschlossenen geschichtlich-gesellschaftlichen Realität. Deshalb ist wie gesagt auch Kierkegaards Stellung als Privatier – er ist es, „der in den Reflexionsspiegel hineinschaut“ (GS 2, 63) – nicht bloß der ökonomische Grund einer Verblendung gegen die Verhältnisse. Ausgeschlossen bleibt zunächst auch die Natur, die im Floralen der In-
Vgl. Wesche 2003, 11. Bei Benjamin, dem er das Motiv des Intérieurs wie gesagt verdankt, erscheint das Revier des Flaneurs, die Häuserzüge und insbesondere die Ladenpassagen, ohnehin bloß als eine Erweiterung des bürgerlichen Innenraums. Vgl. Buck-Morss 1977, 270 – 271, Anm. 49. So ist etwa psychoanalytisch betrachtet die Sentimentalität ein Surrogat vollen Gefühlslebens, d. h. Ausdruck von „Entfremdung“. Erich Fromm (1991b, 247) beschreibt sie als „Gefühl unter der Voraussetzung völliger Distanziertheit“. Entsprechend ist auch die „sentimentale Liebe“ nur eine „Ersatzbefriedigung“ (Fromm 1991a, 499). Kierkegaard kann man derartiges bei aller Distanziertheit sicher nicht vorwerfen.
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neneinrichtung, als „Stilleben“, bloß ungenügender Ersatz der „verlorenen“ ist (GS 2, 65). Das ist jedoch im Hinblick auf das Einzelsubjekt doppelsinnig. Denn das Verhältnis von Innen- und Außenwelt, wie es über den Reflexionsspiegel vermittelt ist, gleicht „Kierkegaards Philosophie“ in ihrer charakteristischen Stellung zwischen Spät- und Nachidealismus, in der „die ‚Situation‘ der Subjektivität unterworfen ist und sie doch begrenzt“ (GS 2, 65). Man überliest ohnehin leicht, dass Adorno in Kierkegaards Beschreibungen stets auch das sie übersteigende Moment findet, das ebenso über verabsolutierte Subjektivität wie über das Bestehende hinausweist. Damit wird der Innenraum zur„Zufluchtsstätte des Scheins“ (GS 2, 68) – und zwar in jenem Mehrfachsinn, der ihm im dialektischen Denken seit Hegel zukommt. Die Abgrenzung zum Außenraum, den entfremdeten Objektverhältnissen, ist die Voraussetzung, die Möglichkeit eines versöhnten Zustands – und sei es auch illusorisch und vereinzelt – zu bewahren. Das gilt noch für die entfremdeten Gegenstände des Intérieurs selbst, die ja in ihrer Konfiguration als Stillleben über die ihnen eingeschriebene Verdinglichung hinausweisen. In diesem Aspekt wird es wie erörtert zum Modell einer Dialektik, die innehält, um das Erstarrte in Bewegung zu bringen. Im Bild des Intérieurs verdichten sich all die widerstrebenden Tendenzen, die Adorno an Kierkegaard diagnostiziert und die sich aus seiner real- wie ideengeschichtlichen Zwischenstellung ergeben. Freilich überwiegt in seiner umstrittenen Formel der objektlosen Innerlichkeit die Missbilligung von jenem materialistischen Standpunkt aus, den der „Vorrang des Objekts“ bezeichnet. Er mag ihm hier und anderswo damit nicht gerecht werden, trifft aber im Ganzen durchaus die Ambivalenz seines Denkens und Handelns. So hatte sich etwa gezeigt, dass bei Kierkegaard auf eigentümliche Weise Innerlichkeit in Tat umschlägt – nicht erst biographisch mit dem späten Kirchensturm – und sich die Handlung wiederum auf sich selbst zurückwendet. Adorno entnimmt aber auch den abseitigen Aspekten stets ein Moment des Umschlags und Überstiegs. Das gilt selbst noch für jene Theologie der Hölle, die sich nun ebenfalls in das Bild des Innenraums einschreibt, als „Traum von der Hölle, die bei Lebzeiten der Verzweifelte gleichwie ein Haus bewohnt“ (GS 2, 69). Das wirft hinsichtlich des Entfremdungsproblems erneut eine Frage auf, die zu den wichtigsten gehört: Wie verhält sich eine solche Verzweiflung des Vereinzelten zum Grauen der Nivellierung draußen vor der Tür? Für Kierkegaard soll ja die Verzweiflung einzig dem Selbstverhältnis entspringen und sie tut es doch nicht, wo sie in der „Verzweiflung der Notwendigkeit“ objektiviert und universalisiert wird. Bisweilen bekommt sie so, in der Deutung Adornos und Theunissens, einen ähnlich robusten Charakter wie die Entfremdungstheorie der hegel-marxschen Tradition. Der Historische Materialismus scheint es mit solchen Problemen ja zunächst nicht zu tun zu haben. Im Gegensatz zum heute üblichen Diskurs über Entfremdung oder dem diffusen Gefühl, dass etwas nicht stimmt, hat doch die Entzweiung (in) der bürgerlichen Gesellschaft, Produkt von Privateigentum und Arbeitsteilung, reproduziert durch Tausch und Konkurrenz, etwas sehr Handfestes. Aber auch das entbindet nicht von der Frage nach einer möglichen Verzerrung der Perspektive der Kritikübenden. Je radikaler die Entfremdung des Menschen gefasst wird, desto weniger ist sie noch vom eigenen „Wahn“ zu unterscheiden (vgl. GS 4, 138). Adorno
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könnte man, wo er derart einen totalisierenden Blick auf sie einnimmt, selbst bei seiner „verräterischen Wörtlichkeit“ nehmen, zumal er seine Bilder hier wie so oft – und in bemerkenswerter Übereinstimmung mit Kierkegaard – der Welt der Märchen entnimmt. Ich möchte es anderen überlassen, darüber ein abschließendes Urteil zu fällen. Weniger, weil es sich bei einem solchen Denken an der Grenze verbietet, sondern vielmehr, weil es mir um etwas anderes ging: Wie sich zu verhalten sei, wenn die Dunkelheit, die Kierkegaard beschreibt, den Verhältnissen entspräche. Dass er ihr eine paradoxe Hoffnung entgegenstellt, überwiegt für Adorno doch das Düstere, ist aber von ihm nicht zu trennen. Diese Einsicht kann wohl als Angelpunkt seiner Auseinandersetzung mit Kierkegaard gelten. Sie spricht auch durch jenen Aphorismus – geschrieben 1945 –, in dem vom Wahn scheinloser Rettung die Rede ist: „So sagt uns eine Stimme, wenn wir auf Rettung hoffen, daß Hoffnung vergeblich sei, und doch ist es sie, die ohnmächtige, allein, die überhaupt uns erlaubt, einen Atemzug zu tun“ (GS 4, 138).
Werkübersicht und Siglenverzeichnis Theodor W. Adorno GS Gesammelte Schriften NL Nachgelassene Schriften BW Briefwechsel
I Gesammelte Schriften Herausgegeben von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Zitiert wird mit dem Kürzel GS und der Angabe von Band- und Seitenzahl: z. B. GS 2, 244, die Doppelbände zusätzlich mit der Angabe der jeweiligen Hälfte: z. B. GS 10/2, 608. Bd. 1: Philosophische Frühschriften. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003. Bd. 2: Kierkegaard: Konstruktion des Ästhetischen. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003. Bd. 3: Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente. Mit Max Horkheimer. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003. Bd. 4: Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003. Bd. 5: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Drei Studien zu Hegel. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003. Bd. 6: Negative Dialektik: Jargon der Eigentlichkeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003. Bd. 7: Ästhetische Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003. Bd. 8: Soziologische Schriften I. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003. Bd. 10/1: Kulturkritik und Gesellschaft I: Prismen. Ohne Leitbild. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003. Bd. 10/2: Kulturkritik und Gesellschaft II: Eingriffe. Stichworte. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003. Bd. 11: Noten zur Literatur. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003. Bd. 12: Philosophie der neuen Musik. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003. Bd. 16: Musikalische Schriften I – III: Klangfiguren (I). Quasi una fantasia (II). Musikalische Schriften (III). Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003.
II Nachgelassene Schriften Abteilung 4: Vorlesungen. Herausgegeben vom Theodor W. Adorno Archiv. Zitiert wird mit dem Kürzel NL sowie der Angabe von Abteilungs-, Band- und Seitenzahl: z. B. NL 4/13, 179. Bd. 4: Kants „Kritik der reinen Vernunft“ (1959). Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1995. Bd. 9: Philosophische Terminologie (1962/63). Hrsg. v. Henri Lonitz. Berlin: Suhrkamp, 2016. Bd. 10: Probleme der Moralphilosophie (1963). Hrsg. v. Thomas Schröder. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1996. Bd. 12: Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft (1964/65). Hrsg. v. Tobias ten Brink und Marc Phillip Nogueira. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2008. Bd. 13: Zur Lehre von der Geschichte und der Freiheit (1964/65). Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2006. Bd. 15: Einleitung in die Soziologie (1968). Hrsg. v. Christoph Gödde. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1993.
https://doi.org/10.1515/9783111010342-009
Søren Kierkegaard
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III Briefe und Briefwechsel Herausgegeben vom Theodor W. Adorno Archiv. Zitiert wird mit dem Kürzel BW und der Angabe von Band- und Seitenzahl, bei Doppelbänden zusätzlich mit der Angabe der jeweiligen Hälfte: z. B. BW 4/1, 540. Bd. 1: Theodor W. Adorno, Walter Benjamin. Briefwechsel 1928 – 1940. Hrsg. v. Henri Lonitz. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1994. Bd. 2: Theodor W. Adorno, Alban Berg. Briefwechsel 1925 – 1935. Hrsg. v. Henri Lonitz. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1997. Bd. 4/1: Theodor W. Adorno, Max Horkheimer. Briefwechsel 1927 – 1969, 1. Teil: 1927 – 1937. Hrsg. v. Christoph Gödde u. Henri Lonitz. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003. Bd. 7: Theodor W. Adorno, Siegfried Kracauer. Briefwechsel 1923 – 1966. Hrsg. v. Wolfgang Schopf. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2008.
IV Weitere Texte Adorno, Theodor W. 1970. Erziehung zur Mündigkeit: Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959 – 1969. Hrsg. v. Gerd Kadelbach. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Institut für Sozialforschung. 1956. Soziologische Exkurse: Nach Vorträgen und Diskussionen. Frankfurt/M. Europäische Verlagsanstalt.
Søren Kierkegaard An erster Stelle wird stets die deutsche Übersetzung mit den unten angeführten Siglen genannt, an zweiter Stelle die seit 1997 erscheinende dänische Gesamtausgabe: Søren Kierkegaards Skrifter (SKS), hrsg. v. Søren Kierkegaard Forschungszentrum v. Niels Jørgen Cappelørn, Joakim Garff, Johnny Kondrup, Alastair McKinnon u. Finn Hauberg Mortensen. Kopenhagen: Gads Forlag. Bei den Übertragungen ins Deutsche wird überwiegend auf die von 1950 bis 1969 erschienenen Gesammelten Werke, hrsg. u. übers. v. Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes u. Hans Martin Junghans, sowie die von Gerdes besorgten Tagebücher (1962 – 1974) zurückgegriffen. Lediglich die Angaben zu Der Begriff Angst und Die Krankheit zum Tode verweisen auf die Übersetzung von Gisela Perlet (1992 u. 1997). Soweit sie bereits vorliegen, werden aber die Bände der seit 2005 erscheinenden Deutschen Søren Kierkegaard Edition (DSKE) bevorzugt, hrsg. v. Niels Jørgen Cappelørn, Hermann Deuser, Joachim Grage und Heiko Schulz. Zitierbeispiele: AUN I, 116 / SKS 7, 118; DSKE 3, 341 / SKS 19, 312. Adorno bezieht sich in der Habilitationsschrift und anderen frühen Arbeiten auf ältere Übersetzungen, die ich stellenweise ebenfalls angebe.
Im Text verwendete Siglen A:
Der Augenblick: Aufsätze und Schriften des letzten Streits (Gesammelte Werke, Bd. 24). Übers. v. Hayo Gerdes. Düsseldorf u. Köln: Diederichs, 1959.
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Werkübersicht und Siglenverzeichnis
AUN I: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken, Bd. 1 (Gesammelte Werke, Bd. 10). Übers. v. Hans Martin Junghans. Düsseldorf u. Köln: Diederichs, 1957. AUN II: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken, Bd. 2 (Gesammelte Werke, Bd. 11). Übers. v. Hans Martin Junghans. Düsseldorf u. Köln: Diederichs, 1958. BA: Der Begriff Angst. Übers. v. Gisela Perlet. Stuttgart: Reclam, 1992. Über den Begriff der Ironie: Mit ständiger Rücksicht auf Sokrates (Gesammelte Werke, Bd. 21). Übers. BI: v. Emanuel Hirsch. Düsseldorf u. Köln: Diederichs, 1961. EC: Einübung im Christentum (Gesammelte Werke, Bd. 18). Übers. v. Emanuel Hirsch. Düsseldorf u. Köln: Diederichs, 1951. EO I: Entweder/Oder: Erster Teil (Gesammelte Werke, Bd. 1). Übers. v. Emanuel Hirsch. Düsseldorf u. Köln: Diederichs, 1956. EO II: Entweder/Oder: Zweiter Teil (Gesammelte Werke, Bd. 2). Übers. v. Emanuel Hirsch. Düsseldorf u. Köln: Diederichs, 1957. ES: Erstlingsschriften (Gesammelte Werke, Bd. 20). Übers. v. Emanuel Hirsch. Düsseldorf u. Köln: Diederichs, 1960. FZ: Furcht und Zittern (Gesammelte Werke, Bd. 3). Übers. v. Emanuel Hirsch. Düsseldorf u. Köln: Diederichs, 1950. „Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller.“ In Die Schriften über sich selbst (GeG: sammelte Werke, Bd. 23). Übers. v. Emanuel Hirsch. Düsseldorf u. Köln: Diederichs, 1951. KT: Die Krankheit zum Tode. Übers. v. Gisela Perlet. Stuttgart: Reclam, 1997. LT: Der Liebe Tun: Etliche christliche Erwägungen in Form von Reden (Gesammelte Werke, Bd. 14). Übers. v. Hayo Gerdes. Düsseldorf u. Köln: Diederichs, 1966. PB: Philosophische Brocken: De omnibus dubitandum est (Gesammelte Werke, Bd. 6). Übers. v. Emanuel Hirsch. Düsseldorf u. Köln: Diederichs, 1952. ST: Stadien auf des Lebens Weg (Gesammelte Werke, Bd. 9). Übers. v. Emanuel Hirsch. Düsseldorf u. Köln: Diederichs, 1958. T I – V: Die Tagebücher, Bd. 1 – 5. Übers. v. Hayo Gerdes. Düsseldorf u. Köln: Diederichs, 1962 – 1974. W: Die Wiederholung (Gesammelte Werke, Bd. 4). Übers. v. Emanuel Hirsch. Düsseldorf u. Köln: Diederichs, 1955. WS: „Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller.“ In Die Schriften über sich selbst (Gesammelte Werke, Bd. 23). Übers. v. Emanuel Hirsch. Düsseldorf u. Köln: Diederichs, 1951.
Deutsche Søren Kierkegaard Edition Bd. 2: Journale und Aufzeichnungen: Journale EE, FF, GG, HH, JJ. Berlin u. New York: De Gruyter, 2008. Bd. 3: Journale und Aufzeichnungen: Notizbücher 1 – 15. Berlin u. Boston: De Gruyter, 2011. Bd. 4: Journale und Aufzeichnungen: Journale NB–NB5. Berlin u. Boston: De Gruyter, 2013. Bd. 6: Journale und Aufzeichnungen: Journale NB11–NB14. Berlin u. Boston: De Gruyter, 2018.
Zitierte ältere Übersetzungen Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift: Zweiter Teil (Gesammelte Werke, Bd. 7). Übers. v. Hermann Gottsched. Jena: Diederichs, 1910. Leben und Walten der Liebe. Übers. v. Albert Dorner u. Christoph Schrempf. Jena: Diederichs, 1924. Entweder/Oder: Erster Teil (Gesammelte Werke, Bd. 1). Übers. v. Wolfgang Pfleiderer u. Christoph Schrempf. Jena: Diederichs, 1911. Entweder/Oder: Zweiter Teil (Gesammelte Werke, Bd. 2). Übers. v. Wolfgang Pfleiderer u. Christoph Schrempf. Jena: Diederichs, 1913.
Immanuel Kant
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Stadien auf dem Lebensweg (Gesammelte Werke, Bd. 4). Übers. v. Christoph Schrempf u. Wolfgang Pfleiderer. Jena: Diederichs, 1914. Über den Begriff der Ironie. Übers. v. Hans Heinrich Schaeder. München u. Berlin: Oldenbourg, 1929.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel Zitiert wird nach der Theorie-Werkausgabe in 20 Bänden, herausgegeben von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, unter Angabe des Kürzels TWA, der Bandnummer und Seitenzahl, z. B. TWA 3, 70. Bd. 1: Frühe Schriften. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1986. Bd. 2: Jenaer Schriften 1801 – 1807. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1977. Bd. 3: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1986. Bd. 4: Nürnberger und Heidelberger Schriften 1808 – 1817. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1996. Bd. 5: Wissenschaft der Logik I. Erster Teil: Die objektive Logik: Erstes Buch. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1983. Bd. 6: Wissenschaft der Logik II. Erster Teil: Die objektive Logik: Zweites Buch. Zweiter Teil: Die subjektive Logik. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1983. Bd. 7: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1986. Bd. 8: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Erster Teil: Die Wissenschaft der Logik. Mit den mündlichen Zusätzen. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1983. Bd. 10: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Dritter Teil: Die Philosophie des Geistes. Mit den mündlichen Zusätzen. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1983. Bd. 12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1986. Bd. 13: Vorlesungen über die Ästhetik I. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1986. Bd. 18: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1982.
Immanuel Kant Zitiert wird, wie bei Adorno, aus der Akademieausgabe, herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Zusätzlich werden wie üblich zur Kritik der reinen Vernunft die Seitenzahlen nach der Originalausgabe angegeben: A = 1. Aufl. Riga: Hartknoch, 1781; B = 2. Aufl. Riga: Hartknoch, 1787. Zitierbeispiel: AA III, 209 / B 306. AA III: Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl. Hrsg. v. Benno Erdmann. Berlin: Reimer, 1904. AA IV: Kritik der reinen Vernunft, 1. Auf., Prolegomena, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten u. a. Hrsg. v. Benno Erdmann, Paul Menzer u. Alois Höfler. Berlin: Reimer, 1903. AA V: Kritik der praktischen Vernunft, Kritik der Urteilskraft. Hrsg. v. Paul Natorp u. Wilhelm Windelband. Berlin: Reimer, 1908. AA VI: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Die Metaphysik der Sitten. Hrsg. v. Georg Wobbermin u. Paul Natorp. Berlin: Reimer, 1907. AA VII: Der Streit der Facultäten, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Hrsg. v. Karl Vorländer u. Oswald Külpe. Berlin: Reimer, 1907. AA VIII: Abhandlungen nach 1781. Hrsg. v. Paul Menzer, Heinrich Maier, Max Frischeisen-Köhler. Berlin: Reimer, 1912. AA IX: Logik, Physische Geographie, Pädagogik u. a. Hrsg. v. Max Heinze, Paul Gedan u. Paul Natorp. Berlin u. Leipzig: De Gruyter, 1923. AA XXIII: Vorarbeiten und Nachträge. Hrsg. v. Gerhard Lehmann. Berlin: De Gruyter, 1955.
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Werkübersicht und Siglenverzeichnis
Karl Marx Zitiert wird nach den vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED herausgegebenen Marx-Engels-Werken (1956 – 1990) unter Angabe des Kürzels MEW, der Bandnummer und Seitenzahl: z. B. MEW 3, 34. Bd. 1: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Zur Judenfrage u. a. Berlin: Dietz, 1981. Bd. 3: Die deutsche Ideologie u. a. Berlin: Dietz, 1978. Bd. 23: Das Kapital, Bd. 1. Berlin: Dietz, 1962. Bd. 40: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844 u. a. Berlin: Dietz, 1983. Bd. 42: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie u. a. Berlin: Dietz, 1968. Daneben wird auch auf einen Band der historisch-kritischen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA²) verwiesen, seit 1999 herausgegeben von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung: MEGA² I/5.2: Gesamtausgabe, Abt. 1: Werke, Artikel, Entwürfe. Bd. 5: Deutsche Ideologie, Manuskripte und Drucke, Teil 2: Apparat. Berlin u. Boston: De Gruyter, 2017.
Weitere Quellen Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung: Revidiert 2017. Mit Apokryphen. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2016.
Sonstige zitierte Literatur Anderson, Perry. 1978. Über den westlichen Marxismus. Frankfurt/M.: Syndikat. Angehrn, Emil. 2008. „Kritik und Versöhnung: Zur Konstellation negativer Dialektik bei Adorno.“ In Wozu Adorno? Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhundert, hrsg. v. Georg Kohler u. Stefan Müller-Doohm, 267 – 291. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Angehrn, Emil. 2014. „Dispositive des Negativen: Grundzüge negativistischen Denkens.“ In Die Arbeit des Negativen: Negativität als philosophisch-psychoanalytisches Problem, hrsg. v. Emil Angehrn u. Joachim Küchenhoff, 13 – 36. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Angermann, Asaf. 2013. Beschädigte Ironie: Kierkegaard, Adorno und die negative Dialektik kritischer Subjektivität. Berlin u. Boston: De Gruyter. Anz, Heinrich. 1983. „Einleitung.“ In Die Rezeption Søren Kierkegaards in der deutschen und dänischen Philosophie und Theologie: Vorträge d. Kolloquiums am 22. u. 23. März 1982, hrsg. v. Heinrich Anz, Poul Lübcke u. Friedrich Schmöe, 7 – 10. Kopenhagen u. München: Fink. Anz, Wilhelm. 1956. Kierkegaard und der deutsche Idealismus. Tübingen: Mohr. Anz, Wilhelm. 1980. „Selbstbewusstsein und Selbst: Zur Idealismuskritik Kierkegaards.“ In Kierkegaard und die deutsche Philosophie seiner Zeit: Vorträge des Kolloquiums am 5. und 6. November 1979, hrsg. v. Heinrich Anz, 47 – 61. Kopenhagen u. München: Fink. Arlt, Gerhard. 2001. Philosophische Anthropologie. Stuttgart u. Weimar: Metzler. Arndt, Andreas. 2006. „Totalität.“ In Hegel-Lexikon, hrsg. v. Paul Cobben, Paul Cruysberghs, Peter Jonkers u. Lu De Vos, 446 – 447. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Arndt, Andreas. 2013. Friedrich Schleiermacher als Philosoph. Berlin u. Boston: De Gruyter. Barth, Karl. 2010. Der Römerbrief: Zweite Fassung 1922. Gesamtausgabe, Bd. 47. Hrsg. v. Cornelis van der Kooi u. Katja Tolstaja. Zürich: Theologischer Verlag Zürich. Baumann, Charlotte. 2011. „Adorno, Hegel and the concrete universal.“ Philosophy and Social Criticism 37(1): 73 – 94. DOI: 10.1177/0191453710384362. Beck, Elke. 1991. Identität der Person: Sozialphilosophische Studien zu Kierkegaard, Adorno und Habermas. Würzburg: Königshausen und Neumann. Becker, Franz Josef E. 1972. Freiheit und Entfremdung bei Fichte, Marx und in der kritischen Theorie. Köln: Universität zu Köln. Benjamin, Walter. 1972 a. Kleine Prosa: Baudelaire-Übertragungen. Gesammelte Schriften, Bd. 4.1. Hrsg. v. Tillman Rexroth. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Benjamin, Walter. 1972 b. „Kierkegaard: Das Ende des philosophischen Idealismus.“ In Kritiken und Rezensionen: Gesammelte Schriften, Bd. 3, hrsg. v. Hella Tiedemann-Bartels, 380 – 383. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Benjamin, Walter. 1974. Abhandlungen: Gesammelte Schriften, Bd. 1.1. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Benjamin, Walter. 1977. Aufsätze, Essays, Vorträge: Gesammelte Schriften, Bd. 2.3. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Benjamin, Walter. 1982. Das Passagen-Werk: Gesammelte Schriften, Bd. 5.1. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Benjamin, Walter u. Gershom Scholem. 1980. Briefwechsel 1933 – 1940. Hrsg. v. Gershom Scholem, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Bertram, Georg W., David Lauer, Jasper Liptow u. Martin Seel. 2008. In der Welt der Sprache: Konsequenzen des semantischen Holismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Bisky, Jens. 2020. „Der Zeitgenosse: Was ist schockierend, was ist gegenwärtig an Georg Wilhelm Friedrich Hegel? Ein Feuilleton zum 250. Geburtstag des Philosophen der Moderne.“ Süddeutsche Zeitung, 27. 08. 2020. von Böhm, Gottfried. 1924. Ludwig II. König von Bayern: Sein Leben und seine Zeit. 2. Aufl. Berlin: Engelmann. https://doi.org/10.1515/9783111010342-010
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Sonstige zitierte Literatur
Boltanski, Luc u. Ève Chiapello. 2003: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK. Bolz, Norbert. 1987. „Die Utopie des Besonderen: Zum ästhetischen Nominalismus Th. W. Adornos.“ In Die unvollendete Vernunft: Moderne versus Postmoderne, hrsg. v. Dietmar Kamper u. Willem van Reijen (Hrsg.), 497 – 513. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Bösch, Michael. 1994. Søren Kierkegaard: Schicksal – Angst – Freiheit. Paderborn: Schöningh. Braunstein, Dirk. 2016. Adornos Kritik der politischen Ökonomie. 2. Aufl. Bielefeld: transcript. Breuer, Stefan. 1982. „Die Depotenzierung der Kritischen Theorie: Über Jürgen Habermas’ ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘.“ In Leviathan: Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft 10(1): 132 – 146. Breuer, Stefan. 1985. „Adornos Anthropologie.“ In Aspekte totaler Vergesellschaftung, 34 – 51. Freiburg/Br.: Ça-Ira. Brumlik, Micha: „Theologie und Messianismus.“ In Adorno-Handbuch, hrsg. v. Richard Klein, Johann Kreuzer u. Stefan Müller-Doohm, 361 – 371. Berlin: Metzler. Buchholz, René. 1991. Zwischen Mythos und Bilderverbot: Die Philosophie Adornos als Anstoß zu einer kritischen Fundamentaltheologie im Kontext der späten Moderne. Frankfurt/M.: Lang. Buck-Morss, Susan. 1977. The Origin of Negative Dialectics: Theodor W. Adorno, Walter Benjamin and the Frankfurt Institute. New York: The Free Press. Buck-Morss, Susan. 1993. Dialektik des Sehens: Walter Benjamin und das Passagen-Werk. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Cassirer, Ernst. 2000. Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 3: Die nachkantischen Systeme. Gesammelte Werke Bd. 4, hrsg. v. Birgit Recki. Hamburg: Meiner. Cattepoel, Jan. 2011. Kierkegaard als Kommunikationsanalytiker und Sozialkritiker. 2. Aufl. Saarbrücken: VDM. Demirović, Alex. 1999. Der nonkonformistische Intellektuelle: Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Demirović, Alex. 2004. „Freiheit und Menschheit.“ In Vereinigung freier Individuen: Kritik der Tauschgesellschaft und gesellschaftliches Gesamtsubjekt bei Theodor W. Adorno, hrsg. v. Jens Becker u. Heinz Brakemeier, 18 – 33. Hamburg: VSA. Demmerling, Christoph. 1994. Sprache und Verdinglichung: Wittgenstein, Adorno und das Projekt einer kritischen Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Descartes, René. 1984. Die Leidenschaften der Seele. Übers. von Klaus Hammacher. Hamburg: Meiner. Deuser, Hermann. 1980. Dialektische Theologie: Studien zu Adornos Metaphysik und zum Spätwerk Kierkegaards. Mainz u. München: Grünewald. Deuser, Hermann. 1983. „Kierkegaard in der kritischen Theorie: Korreferat zu K.-M. Kodalle: Adornos Kierkegaard: Ein kritischer Kommentar.“ In Die Rezeption Søren Kierkegaards in der deutschen und dänischen Philosophie und Theologie: Vorträge d. Kolloquiums am 22. u. 23. März 1982, hrsg. v. Heinrich Anz, Poul Lübcke u. Friedrich Schmöe, 101 – 113. Kopenhagen u. München: Fink. Deuser, Hermann. 1993. „Die Taten der Liebe: Kierkegaards wirkliche Ethik.“ Marburger Jahrbuch Theologie 5 (= Marburger theologische Studien 34): 117 – 132. De Vos, Lu. 2006. „Individuum.“ In Hegel-Lexikon, hrsg. v. Paul Cobben, Paul Cruysberghs, Peter Jonkers u. Lu De Vos, 273 – 276. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Dewey, John. 1998. Die Suche nach Gewissheit: Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Dietz, Walter. 1993 a. Sören Kierkegaard: Existenz und Freiheit. Frankfurt/M.: Hain. Dietz, Walter. 1993 b. „Neuerscheinungen zur Philosophie Kierkegaards.“ Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 18 (3): 79 – 88. Dietz, Walter. 2006. „Verzweiflung en masse: Kierkegaards Einzelner und die Kritik der Masse.“ In Vernunft der Aufklärung – Aufklärung der Vernunft, hrsg. v. Konstantin Broese, Andreas Hütig, Oliver Immel und Renate Reschke, 185 – 205. Berlin: Akademie. Edinger, Sebastian. 2022. Negative Anthropologie bei Plessner und Adorno: Theoretische Grundlagen – Geschichtsphilosophie – Moderne-Kritik. Berlin u. Boston: De Gruyter. Eichler, Uta. 1992. „Nachwort.“ In Der Begriff Angst, von Søren Kierkegaard, 203 – 233. Stuttgart: Reclam.
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Personenregister Anderson, Perry 15 Angehrn, Emil 28, 190, 196, 240 Angermann, Asaf 10 f., 34, 40, 313, 329 Anz, Heinrich 5 Anz, Wilhelm 62, 200 f., 312 Aristoteles 52, 62, 71, 92 f., 155, 206, 235 f., 241, 256, 261, 304 Arlt, Gerhard 29 Arndt, Andreas 229, 263 Barth, Karl 3, 9, 64, 110 Baudelaire, Charles 285, 293, 323 Bauer, Bruno 57, 278, 280 Baumann, Charlotte 306 Beck, Elke 9 f. Becker, Franz Josef E. 55 f. Beckett, Samuel 169, 174 Beethoven, Ludwig van 162, 172, 179 Benjamin, Walter 3 f., 9, 13, 18, 49 f., 54, 63 f., 106, 110 f., 142, 144, 153, 156, 159 f., 188 – 192, 194, 218, 267, 271, 312, 329, 337 Berg, Alban 3, 106, 140, 150 Berkeley, George 220, 237 Bisky, Jens 276 Bloch, Ernst 13, 273, 329 Böhm, Gottfried von 149 Boltanski, Luc 290 Bolz, Norbert 136 Bösch, Michael 46 Braunstein, Dirk 15 f., 53 Breuer, Stefan 27 f., 308 Brumlik, Micha 107 Buchholz, René 63 Buck-Morss, Susan 9, 44, 106, 143, 187 f., 284, 337 Cassirer, Ernst 265 Cattepoel, Jan 2, 87 – 89, 227, 286 Chiapello, Ève 290 Christus 167, 218, 321, 325 De Vos, Lu 96, 299 f. Demirović, Alex 15, 294 Demmerling, Christoph 15, 138, 175 Descartes, René 97, 220, 230 Deuser, Hermann 1, 4, 7, 9, 14 f., 19, 63, 80, 108, 127 f., 131 f., 167, 169, 172, 272, 287, 311, 318, 321, 325 f., 329, 336 https://doi.org/10.1515/9783111010342-011
Dewey, John 52, 176 Dietz, Walter 1, 68, 83, 89, 146, 251, 294 f. Edinger, Sebastian 27 Eichler, Uta 29, 67 Elbe, Ingo 276 Engel, Patrick 242 Engels, Friedrich 64, 218, 279 – 281, 283, 289 f. Fahrenbach, Helmut 113 f., 145 Feger, Hans 12 f. Fenves, Peter 166 Fetscher, Iring 278 Feuerbach, Ludwig 25, 57, 63, 97, 217, 280, 304 Fichte, Johann Gottlieb 6, 17, 20, 22, 25, 35, 43, 47, 55 – 57, 87, 93, 98, 101, 125 f., 137, 144 f., 198, 201, 204 – 206, 209 – 217, 219, 229, 231 f., 234, 250 f. 253, 266, 302 Figal, Günter 41, 79, 83, 183 Fischer, Friedrich Carl 112 Flaubert, Gustave 135, 163 Freud, Anna 269 Freud, Sigmund 35, 49, 56, 219, 225, 227 Fromm, Erich 15, 18, 283, 337 Früchtl, Josef 210, 218, 221 f., 225, 227, 242 f., 245 Fulda, Hans Friedrich 301 Gamm, Gerhard 28 Garff, Joakim 7 f., 23, 118, 127, 161, 290 Gehlen, Arnold 25 – 27, 30 f., 36, 56, 72, 252, 256, 310, 318 Gordon, Peter E. 11 f., 155, 161, 199, 329 Graf, Friedrich Wilhelm 105 Grätzel, Stephan 57 f. Grenz, Friedemann 7, 19, 22, 31, 104, 184, 282 f., 305 Grøn, Arne 45, 80 f., 318 Großheim, Michael 42, 188 Grundtvig, Nikolai Frederik Severin 8, 327 Gruschka, Andreas 247, 295 Guarda, Victor 98, 100, 124, 126 – 128 Guardini, Romano 1, 111 Günther, Gotthard 204 Guzzoni, Ute 186 Habermas, Jürgen 9 f., 16, 28, 35, 84, 101 f., 174, 178, 217 f., 232, 256 – 258, 266, 330, 333 f.
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Personenregister
Hagemann, Tim 121 Haldemann, Matthias 140, 171 Hale, Geoffrey A. 9 f., 160 Hamvas, Béla 56 Hannay, Alastair 80 Haslmayr, Harald 136, 139 Hass, Jørgen 39 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 2 f., 5 f., 12, 16, 20, 22 f., 25 f., 29 – 35, 39, 41, 47 f., 50 – 52, 54 – 61, 64 f., 67, 76, 80, 82 f., 90 – 104, 107, 109, 113, 115, 121, 124 f., 127 f., 130, 137 f., 140 f., 143 f., 152 – 155, 158, 162, 164, 175 f., 178, 183, 185 – 191, 196, 198 – 223, 228, 231, 233 f., 236 – 240, 242 – 246, 248, 252 – 255, 258 – 268, 271, 275 – 279, 281 f., 284, 286, 288, 292, 295 – 318, 324, 330 f., 333 f., 338 Heiberg, Johan Ludvig 90, 160 Heidbrink, Ludger 5 Heidegger, Martin 2 f., 11, 13, 27, 32, 35 f., 38 f., 42, 50, 52, 76 f., 83, 87, 90, 93, 105, 110, 113, 137, 142 f., 178, 181, 199, 239, 248, 250, 296 Hennigfeld, Jochem 207, 209 Henning, Christoph 14 f., 20, 25 f., 32, 36, 45, 57, 107, 244, 249, 252 f., 267 f., 290 f. Heraklit von Ephesos 190 Herrera Guevara, Asunción 10 Hetzel, Andreas 28 Hirsch, Emanuel 77, 116, 123, 129, 194, 196, 215 Hochenbleicher-Schwarz, Anton 213 Hogh, Philip 16, 19 f., 174 – 177, 180 – 182, 259 Hölderlin, Friedrich 50, 152, 178 – 180, 258, 336 Holl, Jann 76, 101, 125, 209, 211, 213, 233, 251, 336 Holz, Hans Heinz 282 f. Honneth, Axel 11, 15, 25, 42, 51 – 53, 176, 241, 334 Horkheimer, Max 16, 69, 71, 106 f., 182, 209 Horstmann, Rolf-Peter 301 Huber, Mona 245 Hühn, Lore 5, 12, 14, 21, 39, 47, 64 f., 67, 70, 76, 92 f., 98, 107, 115, 196, 200, 205 – 207, 209, 216 f., 235, 315 Huizing, Klaas 293 Husserl, Edmund 11, 29, 144, 184, 266 Hutter, Axel 234, 236 – 239, 261 – 263 Ibsen, Henrik
18, 163, 272 f., 285, 288, 291
Jacobi, Friedrich Heinrich 6, 47, 93, 101, 216, 224 Jaeggi, Rahel 15, 18, 26, 29, 31 f., 42, 74, 77, 124, 249, 252
Jameson, Fredric 255 Jaspers, Karl 2 f., 13, 248 Kafka, Franz 10, 63 f. Kaiser, Gerhard 245 Kant, Immanuel 6, 22, 35, 43, 90, 102, 134, 136, 143, 162, 178, 198, 206 f., 209 – 211, 213 – 243, 247, 253, 256, 260 – 266, 274, 288, 296, 301 f., 304, 310 f., 316, 320, 330 – 332 Keel, Aldo 7 f. Kim, Madeleine 72, 315 Kindermann, Heinz 273 Kipfer, Daniel 36, 69, 183, 285 Kirchbaum, Andreas 250 Kleinert, Markus 63, 314, 329 Knoll, Manuel 274, 333 f. Koch, Rainer 188 Koch, Traugott 1 Kodalle, Klaus-Michael 1, 14, 63, 272, 327 f., 333 Kogler, Susanne 151, 173, 194 Kohlmann, Ulrich 274 Kracauer, Siegfried 2 f., 18, 54, 106, 111 – 113, 146, 255 f. Krämer, Maximilian 334 Krauß, Thomas 282 Krauss, Werner 286 Kreuzer, Johann 50, 54, 142, 153, 178 f., 189 Landmann, Michael 24, 51 Lask, Emil 253 Lehmann, Harry 183 Leibniz, Gottfried Wilhelm 68, 260, 282 Liedke, Ulf 63 Liessmann, Konrad Paul 117, 120 Løgstrup, Knud Ejler 167, 327 Löwith, Karl 29, 112 f., 144 Ludwig II. von Bayern 149 Lukács, Georg 13, 18, 22, 25, 38, 44, 46, 49 – 54, 111, 123, 255 f., 258, 265, 272, 310, 329 Luther, Martin 62, 65, 67, 122 f., 126, 287, 313 Mallarmé, Stéphane 135 Mann, Thomas 123, 129, 176 Marcuse, Herbert 15 f., 18, 56, 329 Martensen, Hans Lassen 90 Marx, Karl 2, 6 f., 15, 18, 22 f., 25 f., 29, 31, 35, 37, 39, 48, 51 f., 54 f., 57, 59, 63 f., 68, 83, 92, 102, 112 f., 141, 184, 204, 217 f., 222, 228, 231 f., 236, 243 f., 252 – 254, 258, 267, 270, 272, 274 – 285, 287 – 290, 301 – 306, 330 f., 333 f.
Personenregister
Mengaldo, Elisabetta 160 Mörchen, Hermann 13 Morgan, Marcia 10 Mozart, Wolfgang Amadeus 161 f., 164, 170 Müller, Friedrich 40 Müller-Doohm, Stefan 3, 105 – 108, 110, 185 Muñoz Criollo, Ivan Alexander 13 Mynster, Jacob Peter 23, 90, 118, 128, 273
359
Rasmussen, Anders Moe 33 – 35 Rath, Norbert 69 Rehm, Walther 113 Reijen, Willem van 189 Ringleben, Joachim 77, 91, 122 Ritsert, Jürgen 168 Ritter, Joachim 61 Rosa, Hartmut 18, 270, 287 f., 290 Rousseau, Jean-Jacques 15, 20, 25 f., 39 f., 51, 56, 278 Ruschig, Ulrich 282
Schiller, Friedrich 25, 57, 60, 149, 162, 228, 231 Schleiermacher, Friedrich 229 f. Schmid Noerr, Gunzelin 4 Schmidt, Alfred 244 Schmidt, Jochen 117 f. Schmitz, Barbara 332 Schmitz, Hermann 55, 263 Schnädelbach, Herbert 35, 137, 176, 185, 211, 219, 301 Scholze, Britta 9, 158, 192 Schönberg, Arnold 140, 171 Schopenhauer, Arthur 199, 244 f. Schreiber, Gerhard 250 Schrey, Heinz-Horst 25 Schulz, Heiko 2, 4, 13 f. Schulz, Walter 204 Schwab, Philipp 5, 14, 21, 94, 99, 106 f., 115 – 117, 119, 130 – 132, 196, 200, 207 – 209, 314 f. Schweppenhäuser, Gerhard 218, 228, 274, 292 f., 310 f., 317, 327 f. Schweppenhäuser, Hermann 1, 101, 109, 201 Schwöbel, Christoph 66 Sennett, Richard 291 Sherman, David 14, 36, 109, 119, 134 Simonis, Annette 9 f., 108, 111, 132 – 134, 147 – 149, 151, 159, 168, 187 Sloterdijk, Peter 295 Sokrates 116, 119 f., 218, 314, 317, 328 Sommer, Marc Nicolas 16 f., 30, 59, 199, 264, 267, 297, 306 Sonnemann, Ulrich 27, 30 Soppa, Sebastian 12, 202 f. Sorainen, Kalle 189 Spinoza, Baruch de 101, 259 Stewart, Jon 90 f., 154, 207, 313 Stirner, Max 113, 280, 285 Stolzenberg, Jürgen 213 Strawser, Michael 157
Sagriotis, Georgios 190 Šajda, Peter 2, 13 f., 108, 110 Sartre, Jean-Paul 42, 52, 69, 127, 134 f., 137, 248, 269, 329 Schäfer, Alfred 266 Scheler, Max 27, 29 f., 142 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 6, 12, 22, 39, 49, 57 f., 67, 70, 76, 98 f., 101, 152, 198, 204 – 210, 212 f., 215, 217, 219, 233 f., 313, 315, 319 Schick, Friedrike 94 f., 298 Schick, Stefan 101
Taylor, Charles 37, 43, 288 Theunissen, Michael 34, 46 – 48, 50, 62 f., 72 – 74, 76 – 85, 93, 95, 123, 154, 176, 185, 204, 213 f., 240, 242, 259, 261, 263, 296, 299, 301, 303 – 305, 338 Thies, Christian 27, 36, 72 f. Thomä, Dieter 35 Thulstrup, Niels 90 f. Thust, Martin 112 Thyen, Anke 219 Tillich, Paul 21, 68, 71, 106 f., 150, 186
Navigante, Adrián 34 f. Nientied, Mariele 152, 156 f., 166 – 168, 326 f. Nietzsche, Friedrich 35, 42, 66, 71, 112 f., 123, 162, 218, 227, 245, 264, 288, 324 Odysseus 139, 182, 270, 273, 277, 322, 324, 336 Ottmann, Henning 301 Owetschkin, Dimitrij 63, 65 Pattison, George 157 Pätzold, Detlev 265 Pivčević, Edo 113 Platon 119, 185, 236, 263, 282, 286 Plessner, Helmuth 26 – 30, 36, 45, 72 f., 291 Pöggeler, Otto 47 Pradler, Andreas 223 Pulmer, Karin 12, 155, 325
360
Personenregister
Trebeß, Achim 15, 24 f., 51, 55 – 57, 59 – 61, 279, 331 Trendelenburg, Friedrich Adolf 155, 208 Türcke, Christoph 63, 184 Valéry, Paul 135 Vetter, August 293 Vidal Mayor, Vanessa Virilio, Paul 190 Vogt, Jürgen 247
4 f., 14, 105, 189, 191
Wagner, Richard 7, 162, 172, 288 Weber, Max 218, 231, 257 Weidner, Daniel 64 Weiss, János 15
Wellmer, Albrecht 173 f., 185 – 187 Wesche, Tilo 28 – 30, 40 f., 44, 47, 50, 70, 77, 79, 82, 84 f., 87, 97, 120, 129 – 131, 143, 145 f., 149, 172, 183, 207, 235 – 238, 240 – 242, 245 f., 249 f., 269, 273 f., 309, 314, 317, 319, 321, 326, 331 f., 334 f., 337 Westphal, Merold 319 Willaschek, Marcus 220, 225, 230 Wischke, Mirko 274 Wittgenstein, Ludwig 142, 175 Ziermann, Christoph 306 Zima, Peter V. 293 Ziolkowski, Eric 118 Zwarg, Robert 16
Sachregister abstrakte/formelle Allgemeinheit 95, 277, 298 f., 301 – 306, 309 f., 313 – 315, 333 abstraktes Selbst 43, 144 f., 165, 203, 214 Absurde, das 66, 169, 186 Abwehrmechanismus 36, 41, 269 Adäquation 139, 166, 183 f., 260, 298 Allegorie 9, 110, 156, 159 f., 189, 191 f. Angst 39, 41 f., 44, 46 f., 67 – 69, 75, 86 f., 112, 125, 193 Anpassung 35, 51, 269 f., 273 f., 282, 289, 305, 309, 318, 324 Apperzeption 215, 224, 230 Arbeiter, Proletariat 18, 39, 218, 275 – 277, 280 f., 283 – 285, 288 – 290, 309 Ästhetik 4, 6, 22, 57 f., 104, 132–136, 150 f., 156– 169, 171–174, 178, 185, 190–193, 209 f., 228, 242, 258, 335 f. – Autonomieästhetik siehe autonome Kunst – Form-Inhalt-Ästhetik 162–166, 168, 172, 191 ästhetische Existenz, Ästhetiker 63, 118, 128, 145, 149, 153 f., 161 f., 195, 314 f. Aufklärung 7, 20, 24 f., 31, 37, 43 – 50, 53, 60 f., 68 – 71, 74, 137, 139, 145, 182 f., 218, 221 f., 232, 239, 247, 270, 288, 303 f., 329 f., 334 Auschwitz 247, 249, 294 Außersichsein 36, 45, 146 Authentizität 15, 42, 68, 78, 287 – 292, 306 autonome Kunst 21 f., 132 – 136, 140, 147, 150, 158, 163, 177, 180, 190, 210, 218, 250 f., 293 f., 310, 335 Autonomie, Selbstbestimmung 43, 48, 56, 70 f., 102, 121, 132, 135, 150, 180, 193, 197, 218, 222, 225 f., 228, 232, 236, 238, 247, 254, 269, 286 – 289, 293 f., 296, 310 f., 319 f., 327, 330, 334 – 336 Barock 110, 191 f., 194 Bilderverbot 134, 167, 184, 196, 231, 239 Bildung 56 – 61, 76, 94, 163, 309, 334 – Halbbildung 60, 163 Bürgerlichkeit, bürgerliche Gesellschaft 7 f., 17 f., 23, 25, 49, 51, 88 f., 133, 139, 141, 219, 222, 228, 231, 249, 253 f., 261, 270 – 279, 285 – 289, 291 f., 296, 299, 301 – 309, 312, 314, 321, 326, 330, 333 f., 337 f.
https://doi.org/10.1515/9783111010342-012
Chiffre (siehe auch Opazität) 10, 66, 147 f., 163, 193, 195 f., 332 Christenheit 64 f., 68, 128, 167 Christentum, christlich 24, 62, 64 – 68, 76 f., 86, 100, 108, 120 – 122, 130 – 132, 152, 161, 167 f., 194, 227, 317, 320 – 322, 325 – 327 Dämonie 78, 85 – 89, 106, 123 f., 156, 162, 326, 337 Dandy, Bohemien 293 dänische Staatskirche 88, 90, 127, 273, 317, 333 dialektisches Bild 22, 110, 160, 188 – 192, 195 Dichtung, Dichter 101, 135, 150, 152 f., 158 f., 160, 170 – 172, 177 – 182, 258, 264, 336 Ding an sich 22, 198, 211, 214 – 217, 219 – 225, 230, 233, 238, 243, 265, 306 Don Giovanni (Mozart) 161 f., 164, 171 Doppelbewegung 41, 79, 117, 169, 172, 319, 332 Doppelreflexion 120, 131, 148, 156 f., 169 Durchsichtigkeit 35, 77, 133, 145 – 149, 196 Eigeninteresse 197, 235 f., 277, 309, 321, 324, 335 Emanzipation 28, 43, 51, 69, 140, 218, 225, 232, 256, 270, 288 f., 330 emphatischer Begriff, emphatische Wahrheit 49, 54, 60, 66, 141, 176 f., 182 – 186, 191, 194, 260, 287 – 289, 296 f., 308 Entäußerung 26, 30 – 32, 36 – 38, 40, 49, 51, 57 f., 92, 102, 124, 179, 195, 208, 252 f., 269, 275 f., 300, 313 Entbettung 37, 43, 48, 62 entfremdete Arbeit 37, 244, 275 f., 279 f. Entlastung 36, 71, 86, 88, 238, 241, 269, 271, 291, 310, 318 Entscheidung, Wahl 81, 86, 113, 124, 126 f., 134, 167, 218, 314, 316 – 319 Entzweiung 20, 23, 26, 33 f., 49 f., 60 f., 67, 71–73, 80, 143, 145, 202, 207, 211 f., 227, 229, 248, 254, 275 – 279, 281 – 284, 291, 296, 302, 338 Erfahrung 46, 54, 60, 65, 74, 80, 84, 109, 127, 141, 143, 163, 167, 177, 181, 186, 196, 201, 214 f., 220, 232, 240, 242, 244 – 252, 254, 260, 265 f., 292 f., 307 f., 310, 323 – 326, 331 f., 335 Ethik, Moralphilosophie 23, 71, 81 f., 85 f., 100, 125 f., 198, 218, 226 – 228, 231 – 237, 242, 254 f., 261, 274, 292, 295, 310 f., 316 – 328, 330 – 335 – Pflichtethik 125, 225 – 227, 234 f., 316 f., 320, 332 – Suspension des Ethischen 313
362
Sachregister
– zweite Ethik 125, 208, 233 – 236, 316 ethische Existenz, Ethiker 102, 118, 120, 154, 172, 287, 314 f., 321, 325 Existenzphilosophie, Existenzialismus 2 f., 11, 13, 24, 27, 35 f., 41 f., 44, 51, 68, 77, 110, 114, 137, 142 f., 155, 199 – 201, 209, 227, 248 exzentrische Positionalität 26, 29, 36, 72 fait social 22, 133, 150, 210, 335 Faktizität 68, 76 – 78, 126, 176, 227, 311, 316, 319, 332 Faktum der Vernunft 235, 237 f., 240, 247 Fetischcharakter 31, 51 f., 272, 274, 283, 306 Flaneur 293, 337 Formalismus 162, 175, 221, 223, 234, 310 Fragment 10, 119, 158, 174, 193 – 197, 258, 266 f., 307 f., 332 Gattung, Gattungsgeschichte 24, 31, 37, 39 f., 44, 67 – 69, 82, 102 f., 144, 195, 256, 276, 278, 297, 300, 303 f., 308, 310, 314 f. Geist 4, 17, 26, 30, 44, 50, 54 f., 57 f., 60 f., 65, 67 f., 70, 72 – 76, 80, 82, 85, 92, 95 f., 101 f., 141, 145 f., 178, 185, 193 f., 200, 210, 217 f., 246, 249, 256, 260, 263, 300 – 302, 312, 315 f., 320, 324, 330 – absoluter Geist 38, 65, 95, 253, 304, 315 – objektiver Geist 58, 61, 102, 134, 252, 242, 300 – 302, 304, 312 – subjektiver Geist 95, 101 f., 211, 242, 304, 308, 315 Geistlosigkeit 44, 68, 70 f., 74, 79, 239 Geschichtlichkeit 24, 61, 74, 102, 171, 256 Gesetztsein 73, 76 f., 81, 146 f., 233, 251 Glaube 35, 41, 73 f., 77 f., 83 f., 120 – 122, 128, 145, 153, 168 f., 208, 245, 249 f., 313, 317, 319, 324 Gleichgültigkeit 52, 93, 99 f., 123, 157, 241, 249, 273 f., 280 f., 291, 294 f., 303, 312, 323, 330, 335 Glück 69 f., 134, 235, 332 Gott, Gottesverhältnis, das Göttliche 24, 31, 39 – 41, 43, 50, 63 – 67, 69, 71 f., 74, 76 f., 83, 86, 101, 131 f., 137, 145, 167, 184, 192, 208, 247, 250, 260, 300, 319, 321 f., 325 f., 332, 336 Heimatlosigkeit 24, 41 – 46, 270 Hermeneutik, hermeneutisch 22, 28, 45, 66, 83 f., 96, 149, 158, 190, 196, 266 f., 274, 283, 332, 335 Hoffnung 23, 50, 73 f., 81, 107, 187, 194 – 196, 219, 232, 246, 273, 294, 313, 321 f., 331 f., 339 Humanismus 57, 60, 334
Hypokeimenon 35, 225, 298, 304 Hypostasierung 138, 204, 206, 219, 297, 301 f., 312 Ideologie, Ideologiekritik 11, 32, 40, 51, 64, 89, 139, 141, 184 f., 213, 271 – 274, 279 – 283, 285 f., 288 – 292, 307, 334 immanente Kritik 30, 114, 268 Immanenz 65 f., 141, 186, 191 f., 208, 245, 268, 272 f., 326, 332 indirekte Mitteilung 9, 21, 65, 104, 114 – 122, 124, 127, 130 f., 148, 152 – 154, 156 f., 165 – 167, 169 f., 172, 174, 241, 324 f., 328 Individualisierung 22, 43, 254, 275 – 279, 281, 285, 297 Individualismus 283, 285 f., 288 f., 292, 301, 306 f. Individualität 48, 109, 119, 275, 286 – 290, 292 f., 296, 299 f., 305, 307, 321, 327 f., 333 Institution 26, 31, 36, 50, 88 f., 141, 242, 256, 310 – 312, 317, 333 intellektuelle Anschauung 205, 210 – 212, 233 intelligibler Charakter 22, 198, 221 – 227, 230 – 232, 235, 243 Inter-esse 38, 52, 99, 206, 310 Intérieur 17, 110 – 112, 145, 147, 149, 187 – 189, 251 f., 307, 337 f. intermittierende Dialektik 3, 22, 124, 154 f., 179, 188, 190, 232, 245, 255, 265, 330, 332 Intersubjektivität 54, 88, 157, 178, 299, 304 f., 309, 326, 333 inverse Theologie 12, 62 – 66, 151, 186, 191, 336 Ironie 10 f., 34, 102, 118, 152, 157, 279, 287, 313 f., 317 Junghegelianer
25, 101, 204, 232, 280, 330
Kälte 249, 291, 312, 330 kategorischer Imperativ 225, 235, 247 Klasse, soziale (siehe auch Arbeiter) 7, 141, 218, 228, 277, 280, 284 f., 288 f. Klassizismus 162, 163, 191 Kollektiv, Kollektivismus 68, 77, 79 f., 294 f., 308, 317, 323 Kommunismus 284, 303, 331 konkrete Allgemeinheit (siehe auch abstrakte Allgemeinheit) 48, 95, 298 – 300, 304 – 306, 312 – 314, 335 Kontingenzbewältigung 125, 313, 332 Korrektiv 93, 96, 109, 134, 168, 179 f., 226, 228, 251 f., 293, 295, 312, 325
Sachregister
Kultur 31, 36, 60, 183, 268, 283, 334 f. Kulturindustrie 274, 292, 334 Leib Leid
72, 75 f., 180, 230, 244, 246, 249 73, 100, 129, 163, 196, 202 f., 244 – 246, 248 f., 269 f., 280 f., 312, 325, 330 Liebe (Nächstenliebe) 18, 23, 130, 181, 197, 235, 254, 295, 318 – 327, 331 f., 336 f. List der Vernunft 277, 304 Mäeutik 119, 125, 130 f., 328 Märchen 156, 159 f., 339 Märtyrertum 129, 245 Masse, Massengesellschaft 7 f., 65, 71, 78 – 80, 88 f., 285 f., 290, 295, 313, 318, 324 Materialismus 6 – 8, 10 – 12, 18, 22 f., 56, 93, 101, 127, 137, 140 – 142, 184, 189, 196 – 200, 204, 209, 219, 232, 242 – 246, 253 f., 268, 272 – 274, 280 – 285, 311, 323, 326, 330, 333 f., 336, 338 Merkmaleinheit (Begriff ) 175 – 177, 182, 259, 275 Metapher, Metaphorik 64, 133, 144, 147, 159 f., 191, 196, 232, 251, 308, 332, 337 Metaphysik 49 f., 61, 92 f., 95, 97 – 99, 107, 137, 139 – 141, 153, 178, 183, 185 f., 199, 206, 208, 220, 233 f., 236, 238, 262 f., 288, 296, 306, 325 f. Mimesis 26, 178, 322 Musik 3, 7, 150 f., 158 f., 161 f., 164, 170 – 173, 178 – 181, 194, 250 – Neue Musik, Atonalität 140, 151, 173 Mystifikation 302 f. Mythos, das Mythische 19, 30, 49, 67, 69, 75, 86, 112 f., 130, 138 f., 146, 160, 167, 189 f., 192, 246, 270, 321 – 323 Nachfolge Jesu Christi 132, 167, 325, 332, 336 Natur, Naturbeherrschung 4, 26 – 30, 36 f., 39 f., 49 – 51, 55 – 58, 61, 69, 72 f., 75, 82, 86, 112, 146, 148, 151 f., 180, 182, 192 – 194, 205, 218 f., 223 – 230, 242, 246, 251, 256, 278 f., 283 f., 320, 322 f., 337 f. Naturgeschichte (Benjamin, Adorno) 19, 54, 110, 113, 182, 189 f. negative Anthropologie 26 – 30 negative Freiheit 39 f., 236, 239 Negativismus 15, 30, 32 f., 39, 50, 65, 70, 77, 82 – 85, 191, 214, 233 – 242, 262 f., 325 f., 329, 332 Nichtidentität, das Nichtidentische 4, 17, 32, 53, 55, 95 f., 115, 139 f., 142 f., 168, 170, 178, 182 f.,
363
187, 200, 210 – 213, 217 – 219, 222 – 224, 226, 243, 262, 265, 289, 292, 302 Nihilismus 42, 46 – 48, 74, 84 Nivellierung (Kierkegaard) 42, 65, 77 f., 89, 100, 181, 249, 272 f., 275, 289, 293, 305 f., 310 f., 316, 318, 323, 338 Nominalismus 50, 133, 136 – 143, 145, 150, 163 f., 177, 190, 221 f., 271 Nonkonformismus 17 f., 22, 135, 254, 272 f., 285, 287, 291 – 295 Noumenon 219 f., 229 f. objektlose Innerlichkeit 19, 21, 81 f., 86, 104, 114, 122, 126 – 128, 130, 192, 196, 250 – 252, 288 f., 322, 325, 337 f. Ohnmacht 7, 51, 77, 81, 127, 130, 135, 139, 197, 232, 247, 287, 290, 293 f., 307 f., 327, 336, 339 Ontologisierung 137, 248, 256 Opazität (siehe auch Chiffre) 133, 147 – 149 Opfer 146 f., 167 f., 179, 181, 193, 196, 205, 207, 277, 288, 323, 325, 336 ordo 43, 139 f., 222 Pädagogik (siehe auch Bildung) 247, 334 Paradox, Paradoxie 38, 44 f., 61, 66, 124, 128 – 130, 132, 146, 157, 166 f., 180, 186 f., 192, 196, 205, 207, 224, 227 f., 232, 235, 251, 254, 267, 281, 290 f., 313, 327, 331 Phänomenologie (philosophische Strömung) 11, 142, 144, 155, 199, 266 Philosophische Anthropologie (20. Jahrhundert) 26 – 31, 36, 39, 45, 72 f., 80, 256 positive Freiheit (siehe auch negative Freiheit) 39, 41, 236, 238 Positivismus 30, 50, 52, 139, 141 f., 176, 183, 201, 221, 239, 257, 261 f., 264, 282 Positivismusstreit 183, 257 praktische Vernunft 129, 206, 217, 222 f., 226, 229, 231, 233, 236, 238 praktische Wahrheit 122, 124 f., 128 – 130, 206 f., 313 Privatier 286 f., 337 Prozessualität 79, 84 f., 122, 172 f., 179, 213 f. Pseudonymität 1, 9, 12, 19, 104, 112, 114, 116 – 119, 129, 131, 148, 152 f., 156 f., 161, 245 Psychoanalyse 36, 41, 49, 56, 70 f., 117, 218, 225, 227, 242 – 244, 269, 274, 283, 308, 337 Psychologie 24, 37, 39, 41, 44 f., 56, 64, 69, 107, 112, 119, 163, 268 f., 271 f., 274, 280, 288 f.
364
quidditas
Sachregister
98, 208
Rätselcharakter 10, 66, 147 – 149, 156, 250 Reduktionismus 29, 117, 158, 266, 268, 305 Reduplikation 130 – 132, 164–166 regulative Idee, regulativer Gebrauch 247, 260 f., 264 Revolution 2, 7, 43, 47, 56, 61, 127, 273, 280, 289, 333 Romantik 55, 118 f., 123, 149, 195, 229, 288, 314 Schicksal, Fatalismus 30, 44, 46 f., 71, 129 f., 197 Schuld 30 f., 44 – 46, 68, 71, 103, 130, 233, 235, 287, 294, 328 Schwermut 21, 104, 129, 193 – 197, 201, 227, 232, 244, 336 Seele 72, 75 f., 223, 230, 247, 260 Selbsterhaltung 133, 182, 269 f., 272 f., 277 f., 292, 324, 327, 334 – 336 Selbsttäuschung 40 f., 46, 68, 87, 92 f., 120 f., 149, 237, 249 f., 268 f., 273 f., 280, 323 f. Selbstverhältnis 34 f., 44, 71 – 82, 88, 121, 124 f., 146, 148, 202, 205 f., 227, 250 f., 274, 297, 336, 338 Selbstverwirklichung 23, 85, 181, 254, 289, 296, 299, 316, 318 f. Sinnlichkeit 57 f., 164, 171 – 173, 177, 181, 224, 226 – 228, 230, 235, 238 f. Sittengesetz 224 – 226, 229, 236 Sittlichkeit (Hegel) 23, 48, 58, 60, 254, 261, 299, 303, 305, 314, 316 – 318, 333, 335 Skeptizismus 220, 233 Spießbürger 74, 77, 79, 88 f., 272, 286 f., 316 Spontaneität 17, 122, 182, 188, 193, 197, 224, 226, 228, 231, 236, 238, 330 Sprachähnlichkeit, Sprachcharakter der Kunst 21 f., 165, 169 – 174, 177 – 182, 210, 334 Sprachphilosophie 104, 138 f., 142, 164, 174 – 178, 183, 200 Sprung 35, 37, 44 f., 83, 155, 204, 222 Staat 141, 164, 253, 278, 286, 299 f., 302 f., 314, 316, 333 Statthalterschaft, Stellvertretung 23, 60, 133 – 135, 228, 242, 255, 262, 310, 317 f., 320, 326 f., 331 – 338 Stillleben 187 f., 251, 338 Stillstand 88, 110, 188 – 190, 195, 312 Subjekt-Objekt 17, 27, 33, 53, 93, 95, 98, 128, 137, 178, 198 – 200, 205 f., 210 – 214, 223, 243, 307
Substanz, Substantialität 35, 54, 60, 162 f., 288, 297 f., 301 – 308, 312 – 315, 317, 323 Sünde (siehe auch Schuld) 44, 66 – 68, 72 f., 82, 103, 126, 193, 233 – 235, 237, 240 – Erbsünde 37, 62, 66 – 71, 82, 103, 209, 227, 234, 256, 317 – Sündenfall 30, 67, 69 – 71 Symbol 168, 171, 187, 189, 191 f. Szientismus (siehe auch Reduktionismus) 142, 177, 248, 266 Tathandlung 84, 87, 126, 137, 198, 213 f., 232 f. Tausch, Tauschwert, Tauschverhältnis 50, 52 f., 112, 134, 197, 257, 278, 284, 304 – 306, 309 f., 321, 323 f., 333, 338 Theologie 2, 24 f., 31, 39 f., 62 – 70, 72 f., 77 f., 83, 100 f., 107, 122 f., 128, 131 f., 137, 145 – 147, 152 f., 164, 166 – 169, 184, 189, 191 f., 196, 208, 231, 250, 318 – 328, 336, 338 – Dialektische Theologie 3, 9, 66, 110 – inverse Theologie 12, 62 – 66, 151, 186, 191 theoria 52, 92 f., 100, 206, 233 Tod 80, 85, 167, 193, 322 f., 327, 336 Totalität, Totalisierung 3, 22, 33, 47, 50, 53, 57, 66, 73 f., 95, 108, 135, 139, 158, 164 f., 188, 191 – 193, 199, 205, 219, 255 – 274, 301, 307 – totale/universale Entfremdung 26, 40, 51, 72, 254, 275 – 281, 285, 289, 294, 305, 309, 329, 331 – 333, 339 – Totalität des Systems, der Erkenntnis 95, 183 f., 186, 260 – 266, 270, 282, 299 transzendentale Idee, Vernunftidee (siehe auch regulative Idee) 247, 250, 260 transzendentales Subjekt 35, 164, 180, 215, 218, 224 f., 230, 243, 249, 302, 318 Umschlag ins Gegenteil, Umschlag der Extreme 7, 19 f., 36, 38, 49 f., 69 f., 128, 137 – 139, 142 f., 152, 155, 188 – 190, 192, 195, 245, 248, 251, 263, 305, 308, 332, 338 Unbestimmtheit 27 – 29, 39 – 41, 46, 79, 84, 149, 177, 220 f., 224, 232, 243 Unendlichkeit, Verunendlichung 47, 64 f., 72 f., 78, 95, 101, 125, 131, 145 f., 169, 180, 202, 204, 211 f., 214 f., 238, 258 – 263, 265 f., 270 f., 315, 319, 336 unglückliches Bewusstsein 12, 59, 201 – 204, 246 Universalien 136, 139 – 142, 150, 163 Universalismus, Universalität 24, 31, 40, 71 – 73, 84, 103, 320
Sachregister
Unmittelbarkeit 38, 54, 60, 75, 78, 83, 94, 102, 120, 134, 168, 171 f., 245, 247 – 250, 263, 287, 293, 312, 323 – 326 – neue/zweite Unmittelbarkeit 18, 169, 249 f., 306, 324 f. Urgeschichte 28, 69, 182, 189 f., 199, 256, 270, 274, 277 f. Urteilslogik (Hegel) 47, 59, 175 f., 253, 258 – 265, 301, 312 Utopie 12, 30, 134, 148, 150, 180 f., 183 – 185, 192, 195 – 197, 228, 243, 293, 306, 322, 329 Verblendungszusammenhang 65, 184, 255, 267 – 275, 277, 280 f., 324, 335 Verdinglichung 15, 18 – 21, 30 f., 33 f., 38, 44, 46, 50 – 55, 68 f., 85 – 89, 111, 123, 130, 132, 139, 163 f., 173 – 182, 187, 197, 243 f., 248, 252, 254, 257, 267 f., 278, 287, 292, 323, 327, 329, 338 Verdrängung 49, 68, 70, 138 f., 193, 209, 228 Vergegenständlichung, Objektivation 31, 74, 88, 150, 175, 178, 181, 195, 252 f., 262, 275, 278 f., 286, 300 Vermittlung (Dialektik) 28, 47, 70, 94 f., 103, 126 – 128, 136, 155, 168 f., 171, 178, 222, 243, 248 – 250, 257, 262, 267, 277, 281, 297 f., 305 f., 309, 311 – 314, 321, 323 – 326 Verselbständigung 24, 27, 31, 33, 37 f., 49, 51, 74, 88, 92, 138 f., 141, 153, 166, 175, 195, 252 f., 268, 278, 281, 300, 309 f.
365
Versöhnung 4 f., 30, 33, 53, 60 f., 76, 94, 107, 146, 150, 182 f., 186 f., 191 – 194, 203, 228, 233 f., 284, 292, 301, 315, 338 verstellte Ontologie 143 – 145, 164, 196, 250 verstellte Praxis 23, 66, 130, 325, 333 Verzweiflung 26, 29, 33 f., 36 f., 40, 46, 72 – 85, 87, 112, 125, 129, 144 f., 149, 160, 193, 202 f., 208, 214, 239 – 241, 255, 329 f., 337 f. – desperatio 73 f., 80 – objektive Verzweiflung 12, 143 – Verzweiflung der Notwendigkeit 73 f., 77, 272, 338 – Verzweiflung des Trotzes 41, 78, 85 f., 129 Vorsehung 128 – 130, 152, 207 Weltgeschichte 29, 61, 102 f., 125, 296, 300, 316 Widerfahrnis 80 – 82, 203 Wiederaneignung 31 f., 46, 49, 58, 115, 124, 195, 203, 252 Willensfreiheit 68, 71, 223 – 228, 235 – 239 Wunsch, Wunschbild 54, 194 – 196, 332 Zerfall, Zerfallenheit 17, 36, 143, 173, 193 – 195, 310, 332 Zweifel (siehe auch Skeptizismus) 73, 75 f., 145, 233, 240, 330 zweite Natur 44, 50, 182, 226, 250