Wahn und Wahrheit: Kants Auseinandersetzung mit dem Irrationalen 9783050061375, 9783050043005

Die Untersuchung stellt die Psychologie und Psychiatrie des jungen Kant vor, die im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit

292 103 22MB

German Pages 377 [380] Year 2007

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Table of contents :
Erster Teil. Die kritische Wende 1759 bis 1781.
1. Die Idee der kritischen Wende
2. Rezeptionsprobleme der kritischen Wende
3. Textualisierung und Periodisierung der kritischen Wende
4. Der Zusammenbruch von Kants Rationalismus
5. Methode und Gedankengänge der kritischen Wende
6. Der systematische Verlauf der kritischen Wende
7. Der Schimmer des Wahns im dialektischen Schein der Vernunft
Zweiter Teil. Die Psychologie 1763 bis 1766.
8. Die Notiz über den Abenteurer Jan Pawlikowicz Komarnicki - 1764
9. Der Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen - 1763
10. Der Versuch über die Krankheiten des Kopfes - 1764
11. Die Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik - 1766
Dritter Teil. Die Anwendung der Psychologie auf die Logik 1768 bis 1770.
12. Die Parallelität zwischen dem psychologischen Projektionsgedanken und dem Projektionsbegriff der analytischen Geometrie im ‚Ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume‘ - 1768
13. Die Anwendung des psychologischen Projektionsgedankens auf die Projektionsverhältnisse der Philosophie in der ‚Inaugural-Dissertation‘ - 1770
14. Unio mystica – Swedenborgs Gespenster, Leibnitz’ Monaden, Pythagoras’ Zahlenmystik und Platons Ideenlehre
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Wahn und Wahrheit: Kants Auseinandersetzung mit dem Irrationalen
 9783050061375, 9783050043005

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Constantin Rauer

Wahn und Wahrheit Kants Auseinandersetzung mit dem Irrationalen

Constantin Rauer

WAHN

UND WAHRHEIT

KANTS

Auseinandersetzung mit dem Irrationalen

Akademie Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein Einbandgestaltung unter Verwendung einer Fotografie von Sabine Gabriel (Marktleuthen): Gefangen, 2006

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-05-004300-5 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2007 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Petra Florath, Berlin Lektorat: Mischka Dammaschke Satz: Frank Hermenau, Kassel Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Zitier- und Schreibweise S igei und Abkürzungen Einleitung

11 12 17

Erster Teil Die kritische Wende 1759 bis 1781 1. Die Idee der kritischen Wende 2. Rezeptionsprobleme der kritischen Wende

29 33

a) Der Hume-Mythos b) Die Spezialisierungsfalle, die Zurückrechnung und die Anwendung c) Die logische und die psychologische Kant-Rezeption, eine Chronik der wechselseitigen Ignoranz

48

3. Textualisierung und Periodisierung der kritischen Wende

52

4. Der Zusammenbrach von Kants Rationalismus

58

5. Methode und Gedankengänge der kritischen Wende

68

6. Der systematische Verlauf der kritischen Wende

77

a) Die drei klassischen Typen der Psychose in der Psychoanalyse und der Psychiatrie b) Kants Beschreibung und Analyse der Schizophrenie c) Die Anwendung des psychologischen Wahnbegriffs auf die Projektionsverhältnisse der Rationalität d) Der Wahn als der eigentliche Gegenstand der Kritik 7. Der Schimmer des Wahns im dialektischen Schein der Vernunft

33 46

80 86 92 100 106

6

INHALT

Zweiter Teil Die Psychologie 1763 bis 1766 8. Die Notiz über den Abenteurer Jan Pawlikowicz Komarnicki - 1764

113

9. Der Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzufiihren - 1763 a) Der Begriff der negativen Größen b) Die Gegenstände der negativen Größen c) Die Verneinung als die negative Größe der Psyche d) Das Scheitern des Rationalismus am Begriff der Negativität. .

117 120 122 124 127

10. Der Versuch über die Krankheiten des Kopfes - 1764 a) Wahnsinn und Gesellschaft b) Onomastik - Klassifikation der psychischen Störungen . . . . c) Gemütsschwächen - Neurosen d) Gemütskrankheiten - Psychosen e) Das äußere Zerbrechen des Rationalismus am Wahn f) Der Wahn und die Philosophie

132 132 134 136 137 141 146

11. Die Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik-Π66 Vorbemerkung

149 149

A. Zum Kontext des Textes

154

a) Das Gerücht - ein gewisser Herr von Swedenborg b) Swedenborgs ekstatische Reise durch die Geisterwelt c) Eine wirkliche Krankheit - Swedenborgs Psychose

154 160 164

B. Die empirisch-psychologische Wahntheorie

171

d) Focus imaginarius - Projektion und Wahrnehmung I. Die Geschichte der Bettvorhänge II. Die Halluzinationstheorie e) Ideas materiales - Neurologie und Verstandestätigkeit f) Dunkle Vorstellungen - Unbewußtsein und Spaltung I. Die Darstellung des Unbewußten in der , Anthropologie'... II. Die Anwendung des Unbewußten auf das Wahnsystem . . . III. Bewußtsein, Unbewußtsein und Schizophrenie IV. Obskurantismuskritik des Unbewußten g) Mundus intelligibilis - Über-Ich und Paranoia I. Der Begriff eines mundus intelligibilis II. Die Erziehungsbegriffe von Geistergestalten

172 174 177 180 182 183 186 189 194 197 198 200

7

INHALT

III. Physische, moralische und pneumatische Anziehungskraft in Anbetracht des Über-Ichs . IV. Projektion und Paranoia . . . . V. Kant - ein Mystiker? VI. Zur Triebfeder des Intelligiblen VII. Narzißmus und Paranoia . . . VIII. Normativität des Intelligiblen und Regulativst des Über-Ichs IX. Kants Anti-Neuplatonismus X. Die Lehrverfassungen von Geistergestalten C. A priori - das letzte Wort der ,Träume'

202 206 210 213 215 217 220 226 234

Dritter Teil Die Anwendung der Psychologie auf die Logik 1768 bis 1770 12. Die Parallelität zwischen dem psychologischen Projektionsgedanken und dem Projektionsbegriff der analytischen Geometrie im Ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Räume - 1768

249

13. Die Anwendung des psychologischen Projektionsgedankens auf die Projektionsverhältnisse der Philosophie in der Inaugural-Dissertation - 1770 a) Zum Kontext des Textes b) Logik und Projektion c) Die Grenzen des Logos d) Die Projektionen in logischen Urteilen e) Die drei Projektionstypen in logischen Urteilen

257 257 259 263 267 276

14. Unio mystica - Swedenborgs Gespenster, Leibniz' Monaden, Pythagoras' Zahlenmystik und Piatons Ideenlehre

280

Anhang Exkurse Glossar der zentralen psychologischen Begriffe Strittige Datierungsfragen Literatur Bildnachweise Personenregister

287 322 333 338 371 372

für Andrea Hemminger

Zitier- und Schreibweise

Soweit kein Autor angegeben wird, handelt es sich um Immanuel Kant. In der Regel wird Kant nach der von Wilhelm Weischedel herausgegebenen Werkausgabe zitiert. Die Referenz beginnt dann mit dem Sigel der Kant-Schrift, es folgt in römischen Ziffern die Bandangabe sowie alsdann in arabischen Ziffern die Seitenangabe, wobei auf Zeichensetzungen zwischen den Angaben verzichtet wird. Beispiel (KdK II 888) bedeutet: Kants Versuch über die Krankheiten des Kopfes, Band II der Weischedel-Ausgabe, Seite 888. In jenen Fällen, in denen auf die Akademieausgabe oder auf die von Gustav Hartenstein herausgegebene Ausgabe zurückgegriffen wurde, beginnt die Referenz mit dem entsprechenden Kant-Ausgaben-Sigel. Beispiel (A.A. VrPsy XXVIII, 1 280) bedeutet: Kants Vorlesung über rationale Psychologie, Akademieausgabe, Band 28,1, Seite 280. Prinzipiell werden die Bandangaben in römischen Ziffern ausgedrückt, auch dann, wenn die Ausgaben selbst arabische Bandangaben verwenden. Beispiel A.A. 28,1 wird zu A.A. XXVIII, 1. Ferner werden bei allen Kant-Zitaten die Seitenangaben der Originalausgabe (A) bzw. die der zweiten Auflage (B) mitangegeben; diese Angaben dienen jedoch zur Konkordanz und bezeichnen nicht den verwendeten Text! Beispiel (KdK II 888 A15). Mit Sigel wird auch Sigmund Freud zitiert, wobei die Jahresangabe (1919 oder 1919a) als Sigel fungiert. Alle anderen Quellen werden nur mit dem Autorennamen, der Jahreszahl, ggf. der Bandangabe sowie der Seitenzahl zitiert, wobei auch hier auf Zeichensetzungen zwischen den Angaben verzichtet wird. Beispiel (J. Derrida 1993 77). Die Jahreszahl fungiert hier als Sigel und bezeichnet in der Regel die Erstausgabe, wobei diese nicht notwendig mit der verwendeten Ausgabe übereinstimmen muß. Beispiel: (R. Descartes 1637) meint die Schrift der Meditationes de prima philosophia und nicht die verwendete Ausgabe von 1953, wobei sich die Seitenangaben nichtsdestotrotz auf die verwendete Ausgabe beziehen. Letztere findet sich jeweils unter dem Datum der Erstausgabe im chronologisch geordneten Literaturverzeichnis, welches mit dieser Ordnung auch die Rezeptionsgeschichte widerspiegeln soll. Für Kant und Freud sei auf das (ebenfalls chronologisch geordnete) Sigel- und Abkürzungsverzeichnis zu Beginn dieser Schrift, fur alle anderen Quellen auf das Literaturverzeichnis im Anhang verwiesen. Mit der Kursiv-Schrift sind prinzipiell Schriften, ggf. auch Kapitelüberschriften von Autoren gemeint. Mit der G e s p e r r t - S c h r i f t werden U n -

12

ABKÜRZUNGEN UND SIGEL

t e r s t r e i c h u n g e n gekennzeichnet, wobei in der Regel Β e g r i f f e unterstrichen werden, und zwar dann, wenn sie ausdrücklich als Begriffe gekennzeichnet sein sollen. Beispiel: Kritik bedeutet Kants Schrift: Kritik der reinen Vernunft, wohingegen K r i t i k den Kantischen K r i t i k - B e g r i f f meint. Mit eckigen Klammern werden Zitatauslassungen [...], Subjektwiederholungen aus dem Vorsatz „wie er [Kant] meinte", oder Einschübe des Verfassers [Kommentare - C. R.] gekennzeichnet. Im Anhang befinden sich 1. die Exkurse, 2. ein Glossar der verwendeten zentralen psychologischen Begriffe sowie 3. eine Klärung der strittigen Datierungen der Texte der 60er Jahre.

Abkürzungen und Sigel Sigel und Abkürzungen der verwendeten Kant-Ausgaben und -Schriften, nach Erscheinungsj ahr Kant-Ausgaben: G.H.

Immanuel Kants sämtliche Werke. In chronologischer Reihenfolge hrsg. von Gustav Hartenstein, Leipzig 2 1867

KS

Kant-Studien,

A.A.

1895ÍF

(= Akademieausgabe) Kants gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff

R.M.

Kant: Träume eines Geistersehers,

erläutert durch Träume der

Metaphysik, textkritisch herausgegeben und mit Beilagen versehen von Rudolf Malter, Stuttgart 1976 [ohne Sigel] Immanuel Kant Werkausgabe in 12 Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1977 Br.

Briefwechsel, I. Kant. Ausw. u. Anm. von O. Schöndörffer. Mit e. Einl. von R. Malter u. J. Kopper, 3. erw. Aufl., bearb. von R. Malter, Hamburg 1986

ABKÜRZUNGEN UND SIGEL

13

Kant-Schriften: 1759

Opti.

Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus von M. Immanuel Kant, wodurch er zugleich seine Vorlesungen auf das bevorstehende Jahr ankündigt. Den 7. Oktober 1759 (Π 587-594)

1762

Syllo.

1763

Bg.

Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren (II 599-615) Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Gottes (II 621-738)

1763

DdG

Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral (II 743-773)

1763

NG

Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (II 779-819)

1764

Kom.

Notiz über den Abenteurer Jan Pawlikowicz Komarnicki (GH. II 2070

1764

SE

Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (II 825-884)

1764

KdK

Versuch über die Krankheiten des Kopfes (II 887-901 )

1762/4

VM

Vorlesung über Metaphysik (A.A. XXVIII. 1 1 -166)

1765

NEV

Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765- 66 (II 907-917)

1765

VrPsy

Vorlesung über rationale Psychologie (A.A. XXVIII.l 262-301)

1766

Τ

Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (II 923-989)

1768

GR

Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Räume (II 992-1000)

1770

ID

(= Inaugural-Dissertation) De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (Von der Form der Sinnen- und Verstandeswelt und ihren Gründen) (V 7-107)

1781A 1787B

KrV

Kritik der reinen Vernunft (III u. IV)

1783

Prol.

Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (V 109-264)

1784

Idee

Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (XI 51-61)

1785

R.v.H.I.

Rezension von Herders ,Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit ' (XII 781-806)

1785

GMS

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (VII 7-102)

14

ABKÜRZUNGEN UND SIGEL

1786

Do

Was heißt: sich im Denken orientieren? (V 267-283)

1788

KpV

Kritik der praktischen Vernunft (VII 103-302)

1788

MdG

Von der Macht des Gemüts, durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein (in: Fak. XI 371-373)

1790 1790

Schwärm. Entd.

Über die Schwärmerei und die Mittel dagegen (GH. VI 69-73) Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll (V 293-372)

1791

FA

(= sog. Fortschrittsabhandlung) Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht hat? (VI 583-676)

1793

Rei.

Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (VIII 645-879)

1793

Gs.

Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht fur die Praxis (XI 125-172)

1794

EaD

Das Ende aller Dinge (XI 173-190)

1795

EF

Zum ewigen Frieden (XI 191 -251 )

1796

VT

Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (VI 375-397)

1796

MS

Ausgleichung eines auf Missverstand beruhenden mathematischen Streits (VI 401-402)

1796

Sömm.

Aus Sömmering: Über das Organ der Seele (XI 255-259)

1798

Fak.

Der Streit der Fakultäten (XI 261-393)

1798

Anthr.

Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (XII 395-690)

1800

Log.

Logik, ein Handbuch zu Vorlesungen (in Kants Auftrag hrsg. von G Β. Jäsche, VI 417-567)

Op

Opus postumum

Refi.

Reflexionen (in: Op)

Sigel der verwendeten Sigmund Freud-Ausgabe sowie der Freud-Schriften, nach Erscheinungsjahr. Die Jahreszahl fungiert als Sigel. Freud-Ausgabe:

Gesammelte Werke, chronologisch geordnet in 19 Bänden, unter Mitwirkung von Marie Bonaparte, Prinzessin Georg von Griechenland, hrsg. von A. Freud, E. Bibring, W. Hoffer, E. Kris, O. Isakower, neu: Frankfurt a. M. 1999.

ABKÜRZUNGEN UND SIGEL

15

Freud-Schriften: 1900

Die Traumdeutung (1M11)

1901

Über den Traum (II/III 693-700)

1906 1911

Metapsychologische Erörterung zur Traumlehre (X 411 -426) Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia Paranoides) (VIII 289-320)

1913

Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker (IX )

1919

Das Unheimliche (XII227-268)

1919a

Vorrede zu ,Probleme der Religionspsychologie'von Dr. Theodor Reik (XII 325-329)

1921

Massenpsychologie und Ich-Analyse (XIII 71-161)

1923

Das Ich und das Es (XIII 235-289)

1924

Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose (XIII 361 -368)

1924a

Neurose und Psychose (XIII 385-391)

1925

Die Verneinung (XIV 9-15)

1930

Das Unbehagen in der Kultur (XIV 419-506)

1933

Neue Folge der Vorlesungen zur Einfiihrung in die Psychoanalyse (XV)

1939

Der Mann Moses und die monotheistische Religion (XVI 101246)

1970

Aus den Anfängen der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1970

Einleitung

Alles braucht seine Zeit.

Voltaire Die vorliegende Schrift untersucht Immanuel Kants Denkentwicklung während der 60er Jahre des 18. Jahrhunderts. In diese Zeit fallen drei Ereignisse, aus denen sich die Thematik der Recherche ergibt. Erstens: Kants psychologische Phase; zweitens: Kants erste Entwürfe einer transzendentalen Logik, drittens: Kants sogenannte kritische Wende, d. h. die Transformation des vorkritischen Kant der 50er Jahre in den kritischen Kant der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts. Die Abhandlung vertritt die These, daß Kants transzendentale Logik wie überhaupt sein kritisches Denken aus seiner empirischen Psychologie der 60er Jahre hervorgegangen ist, indem Kant seine psychologische Wahnkritik in eine rationale Vernunftkritik übertragen hat. In dieser Anwendung der Psychologie auf die Logik liegt der eigentliche Dreh der kritischen Wende. Zwar ist die Kant-Swedenborg-Problematik sowie der Zusammenhang zwischen Kants früher W a h n - und seiner späteren V e r n u n f t k r i t i k bereits von Kuno Fischer (31882) erkannt und seither von etlichen anderen Forschern in dem einen oder anderen Punkt weiterverfolgt worden - so u. a. von Richard A. Hoffmann (1909), Julius Ebbinghaus (1943), Ernst Benz (1947), Alexandre Philonenko (1969), Norbert Hinske (1970), Giorgio Tonelli (1975), Rudolf Malter (1976), Jean Brun (1981), Josef Schmucker (1981), Gernot und Hartmut Böhme (1983), Monique David-Ménard (1990), Gottlieb Florschütz (1992) sowie Gerhard Götz (1993); bis heute ist es jedoch im Grunde noch niemand gelungen, den s y s t e m a t i s c h e n W e r d e g a n g von Kants kritischer Wende nachzuvollziehen, geschweige denn zu belegen. Diese Forschungslücke ist größtenteils darauf zurückzuführen, daß sich die Erforschung der kritischen Wende bislang auf Einzelfallstudien beschränkte; Detail-Recherchen, denen die Gesamtbewegung von Kants Transformation der Denkungsart während der 60er Jahre letztendlich entgehen mußte. Mit der hier vorgelegten Untersuchung wird erstmals der Versuch unternommen, Kants Umänderung der Denkungsart während dieser 60er Jahre in i h r e r G e s a m t h e i t zu erfassen und zu begreifen. Aus dieser panoramaartigen Sicht ergibt sich - wie hiermit behauptet wird - das erste in sich schlüssige Gesamtbild der kritischen Wende.

18

EINLEITUNG

Insofern Kants R e v o l u t i o n d e r D e n k u n g s a r t aus seiner empirischen Psychologie hervorging, ist diese für das Verständnis der Entstehung der Kantischen K r i t i k unerläßlich. Tatsache ist jedoch, daß Kants Psychologie bislang selbst Kant-Forschern und Psychologen entweder gänzlich unbekannt oder doch zumindest unzugänglich geblieben ist. Daher legt diese Abhandlung großen Wert darauf, Kants Psychologie zunächst einmal vorzustellen, und zwar in allgemeinverständlicher Weise. Hierbei wird ausfuhrlich auf den Primärtext der Kantischen Psychologie selbst zurückgegriffen, um diesen somit publik zu machen. Zu diesem Zweck mußte der Primärtext erst einmal zusammengestellt werden, da Kants Schriften zur Psychologie in den Kantischen Werkausgaben in sehr unterschiedlichen Abteilungen verstreut liegen, mitunter schwer zu finden sind und bislang nur von wenigen Fachleuten als einheitliches Textkorpus erkannt wurden. Mit der Erstellung und Darstellung des Textes wird versucht, Kants Psychologie zu verstehen. Dies ist insofern nicht ganz einfach, als Kant zwar sehr ähnliche Theorien wie die heutigen verhandelt, diese jedoch in einem ganz anderen - für uns heute nicht mehr unmittelbar verständlichen - Vokabular vorträgt. Daher wird die Studie immer wieder bemüht sein, Kants Begriffe in die heute übliche Begrifflichkeit zu übersetzen und seine psychologischen Analysen mit den heutigen Theorien der Psychologie, der Psychoanalyse sowie der Psychiatrie zu vergleichen. Ist diese Übersetzungsarbeit geleistet, die Hieroglyphensprache der Kantischen Psychologie entschlüsselt und damit der Text von Kants Seelenlehre überhaupt erst einmal lesbar gemacht, so wird man feststellen können, daß Kant selbst zur heutigen Schizophrenieforschung noch Erstaunliches beizutragen hat. In der Tat wird sich im Folgenden herausstellen, daß Kant in den Jahren 1763 bis 1766 eine P s y c h o s e t h e o r i e ausgearbeitet hat, bei der er sich offensichtlich aufbereite existierende klinische Befunde stützen konnte. Dabei entwickelte er zunächst eine Klassifikation der schizophrenen Störungen (d. h. eine Nosographie), indem er die Psychose (welche er Verkehrtheit nennt) in drei Unterabteilungen gliedert, nämlich in die V e r r ü c k u n g , den W a h n w i t z und den W a h n s i n n . Es wird sich zeigen, daß diese Klassifikation mit der noch heute üblichen Einteilung der Schizophrenie in K a t a t o n i e , H e b e p h r e n i c und P a r a n o i a in den Grundzügen übereinstimmt. Kant interessiert sich allerdings nicht nur für die ordentliche Klassifikation der verschiedenen Wahnformen, sondern auch für die Funktionsmechanismen des Wahns. So gelangt er von der Beschreibung der Verrückung zu einer A n a l y s e d e r H a l l u z i n a t i o n , von der Beschreibung des Wahnwitzes zu einer A n a l y s e d e r B e w u ß t s e i n s s p a l t u n g und von der Beschreibung des Wahnsinns zu einer A n a l y s e d e r P a r a n o i a . Gerade an den Fehlfunktionen des Denkens werden nun aber für Kant die logischen Funktionen des Denkens sichtbar, indem er an der V e r r ü c k u n g die i m a g i n a t i v e F u n k t i o n d e s V e r s t a n d e s , am W a h n w i t z die s y n t h e t i s i e r e n d e F u n k t i o n d e r V e r n u n f t und am W a h n s i n n die r e g u l a t i v e F u n k t i o n d e r U r -

EINLEITUNG

19

t e i l s k r a f t erkennt. Just in dieser Ableitung, die von den Fehlfunktionen des Wahns zu den logischen Funktionen des Denkens führte, ist der entscheidende Dreh zu sehen, der Kant zu seiner Kritik der reinen Vernunft brachte. Im einzelnen wird die Studie zeigen, daß Kant seine Erkenntnistheorie einer Analyse der Halluzination, seine Theorie der ursprünglich-synthetischen Einheit des Bewußtseins einer Analyse der Bewußtseinsspaltung und seine Theorie eines allgemeinen Reichs der Zwecke, seine Theorie einer reinen Verstandeswelt sowie jene der regulativen Ideen einer Analyse der paranoidgrößenwahnsinnigen Allmachtsphantasien verdankt. Alsdann stellt Kant die Kausalität zwischen Wahn und Vernunft abermals auf den Kopf, indem er in der Kritik der reinen Vernunft sogar so weit geht, der Vernunft selbst - zumindest der Tendenz und Versuchung nach - einen ihr notwendig anhaftenden Wahn zuzuschreiben: eine Illusion der Vernunft (zu verstehen als genitivus objectivus). Diesem Schein der Vernunft sind gerade die „faulen Philosophien" erlegen (ID V 69, im Text: A2 23), wenn auch - je nach Ausrichtung - in unterschiedlicher Weise. So müssen sich die Empiristen und Materialisten vorhalten lassen, daß sie projizieren (d. h. einem Wahn verfallen), wenn sie meinen, in der Materie Gesetze am Werk zu sehen; Kant nennt diese Projektion der Philosophie: eine Amphibolie. Umgekehrt müssen sich Idealisten und Kognitionswissenschaftler den Vorwurf gefallen lassen, daß sie das Subjekt schizoid spalten (und damit ebenso einem Wahn erliegen), wenn sie das Bewußtsein auf Substanzen, nenne man diese nun ,Seele' oder Nervenzellen', zurückführen möchten; Kant nennt diese Schizophrenie der Philosophie: einen Paralogismus. Schließlich erliegen selbst die Rationalisten einem Wahn, wenn sie Prädikate substantialisieren und beispielsweise vom Prädikat des Unendlichen auf eine Ewigkeit der Welt oder vom Prädikat des Allmächtigen auf den Allmächtigen schließen; Kant nennt diese Paranoia der Philosophie: eine Antinomie. Somit beruhen alle „Blendwerke von Wissenschaft" (NEV II 909 A 6) auf projektiven Substantialisierungen der Vernunft: Die einen vergeistigen die Materie, die anderen materialisieren den Geist, und jene, die weder dem ersten noch dem zweiten Wahn erliegen, verwandeln prädikative Relationsbestimmungen in verfolgungs- und größenwahnsinnige Allmächte. Und, was noch erschreckender ist: Mehr als diese drei Ansatzpunkte, die Gegenwart unserer Vernunft in der Welt zu begreifen, hat die Geschichte der Philosophie - zumindest bis zu Kant - nicht anzubieten; so oder so vertreten alle philosophischen Schulen den einen oder anderen Wahn. Nun sollte man den Kontext nicht außer acht lassen, in den die Kantische Irrationalitätskritik sich stellt. Weder zielt Kants Wahnkritik auf den Aberglauben eines dunklen Mittelalters noch auf gewisse Verirrungen der neuzeitlichen Metaphysik; worauf seine Wahnkritik abzielt, ist ein spezifisch neuer, moderner Irrationalismus. Tatsächlich wird die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts - gerade in deutschen Landen und gerade während jener 70er und 80er Jahre, in denen Kant an seiner Vernunftkritik arbeitet - von gewaltigen irrationalen Bewegungen begleitet. Dieser neue Irrationalismus wird allgemein

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EINLEITUNG

unter dem Begriff der Schwärmerei verhandelt; eine deutsche Übersetzung der englischen und französischen enthousiastes', deren Begeisterung sich bezeichnenderweise auf zwei anscheinend sehr verschiedene Sachverhalte bezieht. Da ist zum einen die Begeisterung für die moderne Wissenschaftswelt; eine empiristische und materialistische Welt, die nur noch das glaubt, was sie sieht, und nur noch das sieht, was sie experimentell nachvollziehen bzw. pragmatisch umsetzen kann. Mit ihren neuen Methoden hat sie erstaunliche technologische Fortschritte und mit diesen die industrielle Revolution ermöglicht. Das Problem der modernen technologischen Wissenschaft beruht alleine in ihrer Alles-Machbarkeit sowie in den Mondkälbern, die ihr mitunter entspringen - Frankenstein, or: The modern Prometheus, wie Mary Shelley bereits 1818 argwöhnte. Problematisch sind ferner die modernen Wissenschaftstheorien, der Empirismus und Materialismus sowie der Positivismus und Pragmatismus, die die Legitimation ihrer Theorien alleine in deren Verwirklichung sehen und sich dann wundern, welche Ungeheuer dem Schlaf ihrer Vernunft entspringen. Da ist zum anderen die Begeisterung für den modernen Spiritismus; eine Geister- und Geistapologie bislang unbekannten Ausmaßes, belegt durch die unzähligen Gespensterinszenierungen der Scharlatane, bewiesen oder widerlegt durch eine unendliche philosophische Geist(er)debatte, beflügelt von spiritistischen, theosophischen, kabbalistischen sowie überhaupt mystischen Geistesströmungen. S z i e n t i s m u s u n d S p i r i t i s m u s , dies sind d i e b e i d e n S c h w ä r m e r e i e n , die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Spannungsverhältnis bilden. Beide Geistesströmungen - das Wissenschaftsdenken und die Mystik sind in der Renaissance wiederentdeckt worden, seit der Neuzeit im ständigen Vormarsch und seit der Aufklärung zu den allgemein vorherrschenden Paradigmen geworden. Die ganze Neuzeit hindurch standen beide in einem erbitterten Streit mit dem klassisch theologisch-metaphysischen Denken; eine Auseinandersetzung, aus der sie letztlich siegreich hervorgegangen sind. Von Anfang an, spätestens jedoch seit der Aufklärung, gingen Wissenschaft und Mystik eigenartige Allianzen ein. So ist es eine Eigenart des spezifisch modernen Spiritismus, daß dieser sich wissenschaftlich legitimiert und sogar in der Wissenschaft seine eigentliche Existenzberechtigung sieht. Umgekehrt meinen mitunter die Szientisten (Empiristen, Materialisten, Positivisten und Pragmatisten), die Objektivität der menschlichen Sozialverhältnisse, beispielsweise in der Bienensprache, erkennen zu können. Damit aber vertreten sowohl die pneumatischen Spiritisten als auch die materialistischen Szientisten die irrationalsten aller Metaphysiken, und dies gerade in einer Zeit, da der p r i m a p h i l o s o p h i a von eben dieser Wissenschaft sämtlicher Anspruch auf Rationalität abgesprochen wird. - Wie positioniert sich Kant in diesem janusköpfigen Wahn der Moderne? „Leibniz i n t e l l e k t u i e r t e die Erscheinungen, so wie Locke die Verstandesbegriffe [...] insgesamt s e n s i f i z i e r t " (KrV III 293 B327 A271). Es

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sind dies d i e b e i d e n G r u n d f o r m e n d e s W a h n s d e r M o d e r n e . Eigentümlicherweise laufen jedoch beide Richtungen, d. h. jene, die (mit Leibniz) die Materie intellektualisieren will, wie auch jene, die (mit Locke) das Intelligible materialisieren möchte, auf ein und dieselbe Illusion hinaus. Beide unterliegen nämlich dem Wahn, daß sich Intelligibles und Materielles an irgendeinem Punkt im Sein vereinigen müßten, wobei es dann freilich einerlei ist, ob man diese Schnittstelle (wie Spiritisten und Idealisten) in einem m a t e r i a l i s i e r t e n I n t e l l i g i b l e n oder umgekehrt (wie die Empiristen und Materialisten) in einer i n t e l l e k t u a l i s i e r t e n M a t e r i e sehen möchte. Zudem können beide Verfahren wiederum auf beides - Materielles und Intelligibles - bezogen werden, da man sowohl die Materie materialistisch oder spiritualistisch als auch den Intellekt spiritualistisch oder materialistisch zu erklären versucht sein kann. Es hilft indes nichts: Alle vier Erklärungsversuche beruhen auf ein und demselben Wahn einer vermeintlichen S y m b i o s e v o n I n t e l l i g i b l e m u n d M a t e r i e l l e m . „Also, wenn der M a t e r i a l i s m zur Erklärungsart meines Daseins untauglich ist, so ist der S p i r i t u a l i s m zu derselben eben sowohl unzureichend, und die Schlußfolge ist, daß wir auf keine Art, welche es auch sei, [...], irgend etwas erkennen können" (KrV IV 354 Β 420). Kants Umänderung der Denkungsart während der 60er Jahre beruht auf erstaunlichen Einsichten. Seine generelle Einschätzung ist, daß nicht so sehr die alte religiös-metaphysische Welt, als vielmehr die neue empiristische Wissenschaftswelt einem Wahn aufsitzt. Diese Idee, den Fortschritt als Regression zu betrachten, verdankt Kant sicherlich Rousseaus erstem Diskurs (1750). Wenn aber noch heute der Gedanke einer D i a l e k t i k d e r A u f k l ä r u n g (vgl. M. Horkheimer und T. W. Adorno 1947) vielen ein Dorn im Auge ist, so war er damals nicht nur unerhört, er stand auch in einem radikalen Widerspruch zum Selbstverständnis sowie zum Eigendünkel der Aufklärung, welche in den m o d e r n e s (d. h. in sich selbst) den Fortschritt, in der Dogmatik der a n c i e n s jedoch eine überkommene Irrationalität sehen wollte. Mit Rousseau ist Kant hier einer der ersten und bedeutendsten K r i t i k e r d e r M o d e r n e : einer, der die Aufklärung über ihre eigenen irrationalen Tendenzen aufklären möchte. Kants zweite erstaunliche Einsicht beruht darin, daß die moderne Wissenschaft und der moderne Spiritismus exakt dem gleichen e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e n W a h n verfallen, wenn sie - hier und da - ein mystisches Korrespondenzsystem zwischen Intelligiblem und Materiellem behaupten. Mit dieser Erkenntnis trifft Kant das eigentliche G e s p e n s t d e r M o d e r n e , nämlich den N e u p l a t o n i s m u s , auf den eigentümlicherweise nicht nur die moderne Mystik, sondern ebenso das moderne Wissenschaftsdenken zurückgeht. Zwar ist Kant in den 60er Jahren noch nicht in der Lage, die Schule des Neuplatonismus zu identifizieren und zu benennen. Wenn er aber sowohl in Leibniz' Monadenlehre als auch in Swedenborgs Gespensterlehre ein und denselben erkenntnistheoretischen Wahn am Werk sieht, so sind es just die

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neuplatonischen Symbiosebehauptungen von „Mitteldingfen] zwischen Materie und denkenden Wesen" (KrV III 251 Β 270 A 221), die er beanstandet. Tatsächlich hat der Wissenschaftsempirismus mit dem Geistspiritismus noch dieses gemeinsam, daß beide dem „ t h e o s o p h i s c h e n Traum" (KpV VII 253 A221) verfallen, das Sein der Wahrheit aus einer vermeintlichen Wahrheit des Seins beziehen zu können. Kants dritte erstaunliche Einsicht beruht in der Entschleierung des e t h i s c h e n W a h n s , den sich die moderne Wissenschaft mit dem modernen Spiritismus teilt. So wie den Spiritisten zufolge all unser Tun und Lassen auf die Manipulation von Geistern zurückzufuhren ist, so werden den EmpiroMaterialisten zufolge all unsere Beweggründe von Naturgesetzen bestimmt. Beiden ist auch die zwingende h ö h e r e W i r k l i c h k e i t gemeinsam, welche macht, daß wir von Tatsachen wie von Geisterhand b e s t i m m t w e r d e n , ohne hierbei in irgendeiner Weise noch b e s t i m m e n d wirken zu können. In diesem Subjekttausch, der die Objekte zum Agierenden und die Subjekte zum Agierten verklärt, diagnostiziert Kant den e t h i s c h e n W a h n d e r M o d e r n e ; ein Selbstentmündigungsunternehmen, welches letztendlich alles selbständige Denken, die Autonomie des Subjektes sowie selbst die Freiheit zur Disposition stellt. Vermeintliche wissenschaftliche Tatsachen, die wie vermeintliche spirituelle Einflüsse agieren, dies sind die p r o j e k t i v e n V e r d i n g l i c h u n g e n , d i e „der Vernunft ihre Ungeheuer aufdringen, und es wäre eben so gut, gar keine zu haben, als sie auf solche Weise allen Träumereien preiszugeben" (KpV VII 251 A 217Í). Den schlechten Wissenschaftsmetaphysiken der Moderne hält Kant, wie man weiß, eine w i s s e n s c h a f t l i c h e M e t a p h y s i k entgegen. Diese soll nun aber nicht - wie dies seit dem Neukantianismus so oft mißverstanden wurde - bedeuten, der Wissenschaft die Koffer metaphysisch hinterherzutragen, sondern umgekehrt mit einer neuen p r i m a p h i l o s o p h i a jene unterdessen maßlos gewordene Wissenschaft wieder zur Vernunft zu bringen. Den von Spiritisten und Empiristen gleichermaßen behaupteten mystischen Verschmelzungs- und Unmittelbarkeitstheorien stellt Kant ein S y s t e m d e r R e p r ä s e n t a t i o n entgegen. Letzteres beruht in der transzendentalen Erkenntnis, daß aufgrund unserer apriorischen Konstitution unsere Repräsentationen niemals mit dem Repräsentierten übereinstimmen können, weshalb unsere Vorstellungen eben nur die Phänomene der Dinge, nicht aber die Dinge an und für sich betreffen. Dem ethischen Entsubjektivierungswahn der Moderne hält Kant eine S u b j e k t t h e o r i e - programmatisch: den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit - entgegen. Damit soll dem Subjekt, welches von Spiritisten und Materialisten, Idealisten und Sensualisten, Neurologen und Kognitionswissenschaftlern gleichermaßen zur Marionettenfigur höherer Mächte erklärt und damit entmündigt wird, wieder zu einer Autonomie - programmatisch: zu einem Sapere aude! - zurückverholfen werden. Schließlich hat Kant auch ein feines Gespür für die praktischen und pragmatischen Auswirkungen eines Wahns, der sich durch die

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modernen Kommunikationsmittel zusehends als Massenwahn verbreitet. Wenn also Kant acht Jahre vor der Französischen Revolution, in einer Zeit, da allerorts nur noch von Geistern die Rede ist, ein zwischenzeitlich gänzlich in Vergessenheit geratenes Wort wieder neu einklagt - nämlich: d i e V e r n u n f t ! - , so richtet sich dies gerade gegen den Zeitgeist eines Weltgeistes, der als absoluter Geist die Subjekte zum Spielball „metaphysischer Gaukelwerke" (KrV III 106 Β 87 A 63) werden läßt. Der Meinung eines bedeutenden Philosophen der deutschen Nachkriegsgeschichte: „Kant war zweifellos ein ganz großer Philosoph, aber in den tiefen Fragen war er nicht eigentlich modern. Ich kann nicht sehen, wo er für uns heute von Bedeutung ist" (E. Tugendhat 2005 7), sei das Folgende erwidert: Was Kant am W a h n d e r M o d e r n e beanstandet, das ist auf der einen Seite ein Blendwerk von Wissenschaft, welches die Aufgabe der Philosophie etwa auf die analytisch exakte Beschreibung eines Stuhls reduziert (um dergestalt eine vermeintliche Wissenschaftlichkeit von Philosophie zu behaupten), ansonsten jedoch alle Fragen, die sich uns heute stellen, positivistisch ausklammert, sowie auf der anderen Seite eine Mystik, die all das von der Wissenschaft Ausgeschlossene - d. i. mehr und mehr - dankbar übernimmt, um es in höhere Spiritualität zu übertragen. Kommt beides in einem Werk, durch eine Spaltung von wissenschaftlichem Früh- und mystischem Spätwerk, bei noch so brillanten Denkern zusammen - wie dies bereits von Isaac Newton (vgl. von 1685 zu 1733), später von Auguste Comte (vgl. von 1830-1842 zu 1852) sowie zuletzt noch von Ernst Tugendhat (vgl. von 1976 zu 2003) exemplarisch vorgeführt und von etlichen anderen nachgemacht wurde - , so ist dies symptomatisch für jene S c h i z o p h r e n i e d e r M o d e r n e , die Kant mit dem Begriff der Verkehrtheit diagnostizierte. Mit seiner Wahnkritik der Moderne aber ist Kant - gerade für uns heute - a b s o l u m e n t m o d e r n e . Diese Modernität und Aktualität zeigt sich nicht nur anhand von Kants eigentlicher W a h n k r i t i k , sondern auch mit seiner V e r n u n f t k r i t i k , welche als AntiWahnkritik zu verstehen ist. Denn: Wenn die Vernunftkritik der 80er Jahre einen Lösungsversuch darstellt, so bildet die Wahnkritik der 60er Jahre, welche späterhin allerdings nie ganz abbricht, die hierzu gehörige Fragestellung. Hat man aber Kants Frage (die Wahnkritik) einmal begriffen, so wird auch die diesbezügliche Antwort (die Vernunftkritik) verständlicher. Die hier vorgelegte Untersuchung bedient sich einer Methode, die R e k o n s t r u k t i o n a l i s m u s genannt werden könnte (nicht zu verwechseln mit dem Rekonstruktivismus). Mag das Wort, aufgrund seiner Länge wohl, etwas hochgestochen klingen, so bezeichnet es doch einen einfachen Sachverhalt. So wie die Archäologen anhand von Ausgrabungen, freigelegten Grundrissen, wiedergefundenen Gebäudeteilen, alten Aufzeichnungen usw. befähigt sind, ganze antike Städte als Makette oder vollkommen virtuell wiederauferstehen zu lassen, so wird auch hier versucht, ein Gesamtmodell von Kants kritischer Wende zu rekonstruieren. Grundlegend für diese Rekonstruktion waren Kants Primärtexte, in erster Linie der 60er Jahre; Texte, die mitunter erst wiederent-

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deckt bzw. in ihren richtigen Kontext gestellt werden mußten. Nach der Klärung von strittigen Datierungsfragen, philologischen Fragen von Textzugehörigkeiten und ähnlichem konnte der Text der kritischen Wende erstellt werden. Hiernach begann das eigentliche hermeneutische Geschäft, die Textinterpretation. Dabei galt es zunächst, die tragenden Begriffe der kritischen Wende ausfindig zu machen, und dieser fanden sich drei. In heutiges Vokabular übersetzt: ein Projektionsbegriff, ein Spaltungsbegriff und ein Paranoiabegriff. Die Rekonstruktion zeichnet alsdann die Begriffsgeschichten dieser drei Begriffe sowie die sich hieraus ergebenden Theoriebildungen nach. Durch diese hindurch werden die Gedankengänge der kritischen Wende nachvollzogen, um somit die Generallinien von Kants Denkentwicklung während der 60er Jahre zu zeichnen. Aus alldem ergibt sich schließlich der G e s a m t g r u n d r i ß d e s s y s t e m a t i s c h e n V e r l a u f s d e r k r i t i s c h e n W e n d e und damit die nachfolgende M a k e t t e der R e k o n s t r u k t i o n . Diese teilt sich in drei Teile. Der erste Teil - Die kritische Wende 1759 bis 1781 - gibt eine A u ß e n a n s i c h t von Kants Umänderung der Denkungsart. Zweierlei wird damit versucht. Zum einen sollen die Kontextfragen geklärt werden; insbesondere die historischen Kontexte, die Periodisierungen und Textualisierungen sowie die Rezeptionsgeschichte der kritischen Wende. Zum anderen wird versucht, das Gesamtmodell der kritischen Wende darzustellen, ihre Systematik zu rekonstruieren und ihren Bezug zur Kantischen Vernunftkritik herzustellen. Mit beidem soll eine Art Stadtplan - d. i. in der Philosophie: ein Verzeichnis der Begriffe, der Gedanken sowie der Systematik der kritischen Wende dargelegt werden, so daß man mit diesem getrost in die kritische Wende selbst einsteigen kann. Der zweite und dritte Teil präsentieren eine I n n e n a n s i c h t der kritischen Wende, damit die eigentliche hermeneutische Arbeit am Kantischen Text. Dabei werden die fünf entscheidenden Schriften der kritischen Wende vorgestellt und einer Analyse unterzogen. Hierbei handelt es sich: 1. um den Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (1763), 2. um den Versuch über die Krankheiten des Kopfes (1764), 3. um die Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (1766), 4. um die Schrift Von dem ersten Grunde des Unterschieds der Gegenden im Räume (1768) sowie 5. um die Inaugural-Dissertation De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis; Von der Form der Sinnen- und Verstandeswelt und ihren Gründen (1770). Darüber hinaus wird diesen fünf entscheidenden Schriften noch eine kleine Schrift vorangestellt, nämlich die Notiz über den Abenteurer Jan Pawlikowicz Komarnicki von 1764. Die hier genannten Schriften bilden somit den zentralen Primärtext, alle anderen elf KantSchriften der 60er Jahre sowie Kants spätere kritische Schriften sind nicht eigentlich Gegenstand der Untersuchung, sondern werden nur zum Vergleich herangezogen. Der zweite Teil - Die Psychologie 1763 bis 1766 - verhandelt also den Versuch über die Negativen Größen (1763), den Versuch über die Krankheiten

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des Kopfes (1764) sowie die Träume eines Geistersehers (1766). Anhand dieser Schriften wird gezeigt, wie Kants Rationalismus zerbricht. Mit den Krankheiten des Kopfes (1764) wird die Nosographie - von Verrückung, Wahnwitz und Wahnsinn - vorgestellt, welche dann für den Dreh der kritischen Wende so entscheidend sein wird. Die größte Aufmerksamkeit kommt jedoch den Träumen eines Geistersehers (1766) zu. Hier wird in einem ersten Unterkapitel (A) der Gesamtkontext der K a n t - S w e d e n b o r g - P r o b l e m a t i k vorgestellt. In einem zweiten Unterkapitel (B) wird Kants e m p i r i s c h - p s y c h o l o g i s c h e W a h n k r i t i k präsentiert, indem es den drei Theorien nachgeht, die sich aus der Nosographie der Krankheiten ergaben - nämlich: der Projektionstheorie, der Spaltungstheorie sowie der Paranoiatheorie. Bei allen drei Begriffsdarstellungen wird jeweils versucht, den Bezug zur transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft (1781/87) deutlich zu machen. Schließlich wird in einem dritten Unterkapitel (C) gezeigt, daß und warum Kant den Wissenschaftsempirismus seiner Zeit für irrational hält und von daher bereits seit Mitte der 60er Jahre eine P h i l o s o p h i e d e s A p r i o r i anstrebt. Der dritte Teil - Die Anwendung der Psychologie auf die Logik 1768 bis 1770 - widmet sich dem Ersten Grunde des Unterschieds der Gegenden im Räume (1768) sowie der Inaugural-Dissertation von 1770. In beiden Schriften wird erstmals die Irrationalitätskritik in Vernunftkritik übertragen, indem aus den psychologischen Mechanismen Schlüsse für die Logik gezogen werden. Anhand der Schrift von 1768 wird gezeigt, daß Kant eine Parallelität entdeckt zwischen den psychologischen Projektionsmechanismen und den logischen Projektionskonstruktionen der analytischen Geometrie; ein Spiegelverhältnis von Irrationalität und Rationalität, bei dem ihm das vieldiskutierte g r o ß e L i c h t v o n 1769 aufgegangen ist. Schließlich wird anhand der Inaugural-Dissertation gezeigt, daß Kant dort die Lehrsätze der Leibnizschen Metaphysik als Projektionen behandelt und bei der Sortierung derselben drei Projektionstypen in logischen Urteilen entdeckt - nämlich: die Projektion von Subjektivem auf objektive Gegenstände, jene des Intelligiblen auf Sinnliches sowie schließlich jene der Prädikate auf ein grammatikalisches Subjekt. Dies sind zwar noch nicht die projektiv logischen Fehlschlüsse der reinen Vernunft d. h. Amphibolie, Paralogismus und Antinomie - , sie zeigen jedoch bereits, was man sich unter den P r o j e k t i o n e n d e r P h i l o s o p h i e vorzustellen hat. Wie jeder Text, so setzt sich auch das hier vorliegende Gewebe aus einem Geflecht von Kette und Schuß, Metapher und Metonymie, einem Horizontalen und einem Vertikalen der Schrift zusammen. Dabei stellt der horizontale fortlaufende Text, der sich durch die ersten drei Teile der Schrift zieht, den D i s k u r s , als den roten Faden der Argumentation, dar. Der vertikal verlaufende Text ist im Anhang angefügt und besteht aus drei Teilen: den Exkursen (auf die im fortlaufenden Text verwiesen wird), einem Glossar der zentralen psychologischen Begriffe (in dem die verwendeten Begriffe definiert bzw. er-

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läutert werden) sowie einer Klärung der strittigen Datierungsfragen von Kants Primärschriften der 60er Jahre. Letztendlich nimmt die hier vorgelegte Schrift auch so etwas wie fröhliche Wissenschaft für sich in Anspruch, indem sie auch auf das rekurriert, was Roland Barthes (1973) Le plaisir du texte nannte. Somit wird versucht, die Kunst der Philosophie sowie die Literatur der Wissenschaft wieder etwas näher zu bringen, um mit einer anderen Art der Kant-Darstellung auch ein anderes Kant-Bild zu vermitteln. Das heute nach wie vor weitverbreitete V o r u r t e i l , demzufolge es sich bei Kant um einen pedantischen und bornierten Kleingeist handeln soll, wird mit Kants Primärtext selbst widerlegt. Gerade anhand der Kantischen Philosophie wird sich zeigen, daß Denken durchaus auch Spaß machen und erheitern kann. Ferner wird man feststellen müssen, daß es sich bei dem Königsberger um einen Denker handelt, der wie kaum ein anderer sowohl über den Tellerrand der Philosophie als auch über jenen seiner Zeit hinauszublicken wußte. Schon in den Anfangszeiten des bürgerlichen Zeitalters hat er, und zwar als einziger, jenes Problem bereits erkannt, welches uns heute zusehends in Bedrängnis bringt: das Problem einer mangelnden Normativität im Zeitalter der positiven Wissenschaften. Mit seiner K r i t i k d e s m o d e r n e n W a h n s hat uns Kant heute mehr zu sagen als die meisten seiner philosophischen Vorgänger und Nachfolger. Mein Dank gilt in erster Linie Professor Otfried Höffe, der mir entscheidende Anregungen zu diesem Buch gegeben hat. Wertvolle Hinweise verdanke ich auch Professor Manfred Baum, Professor Maria de Lourdes Alvez Borges, Professor Anton Friedrich Koch, Professor Monique David-Ménard, Professor Alessandro Pinzani, Dr. Günther Rösch, PD Friedrike Schick sowie Professor Georg Wieland. Die Kollegen und Studenten der Freien Universität Berlin sowie der Universidade Federai de Santa Caterina in Florianópolis, Brasilien, haben mir in vielen Gesprächen und Debatten geholfen, meine Interpretationen weiterzuentwickeln. Danken möchte ich auch dem Akademie Verlag, insbesondere der Verlagsleiterin Dr. Sabine Cofalla und dem Lektor Dr. Mischka Dammaschke sowie dem Setzer Dr. Frank Hermenau und der Graphikerin Petra Florath. Ferner gilt mein Dank dem Kustor der Lepidopteren-Abteilung des Naturkundemuseums Berlin Dr. Wolfram Mey für die schönen Abbildungen des Falters Caligio prometheus. Der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften sei für den großzügigen Druckkostenzuschuß gedankt. Schließlich danke ich meinem Bruder Stephan sowie allen Freundinnen und Freunden, die mich während der Zeit des Schreibens bei Laune gehalten haben. Mein ganz besonderer Dank gilt indes Dr. Andrea Hemminger, der dieses Buch gewidmet ist.

Erster Teil Die kritische Wende 1759 bis 1781

1. Die Idee der kritischen Wende

Denn, wo Gespenster Platz genommen, ist auch der Philosoph willkommen. Mephisto in Goethes Faust, Zweiter Teil, Vers 7843f

„,Fürchten Sie sich nicht und glauben Sie nicht, daß ich ein Gespenst sei. Es ist eine Täuschung Ihrer Phantasie, wenn Sie mich als Gespenst zu sehen glauben. Was ist ein Gespenst? Geben Sie mir eine Definition? Deduzieren sie mir die Bedingungen der Möglichkeit eines Gespenstes? In welchem vernünftigen Zusammenhang stände eine solche Erscheinung mit der Vernunft? - ' Und nun schritt das Gespenst zu einer Analyse der Vernunft, zitierte Kants Kritik der reinen Vernunft 2ter Teil, Ister Abschnitt, 2tes Buch, 3. Hauptstück, die Unterscheidung von Phänomena und Noumena, konstruierte alsdann den problematischen Gespensterglauben, setzte einen Syllogismus auf den andern, und Schloß mit dem logischen Beweise: daß es durchaus keine Gespenster gibt." (H. Heine 1826 128) Bei dem hier dozierenden Gespenst handelt es sich nicht um Monsieur Teste (vgl. P. Valéry 1946), sondern um den Geist des verstorbenen Saul Ascher; ein großer Geist, der zu Lebzeiten ein Apologet der Vernunft war und der nun, post mortem zur Mitternachtsstunde, dem Protagonisten von Heinrich Heines Harzreise eine Rede hält, um also erstaunliche Wahrheiten zu verkünden. Tatsächlich behauptet das Gespenst, es läge ein Zusammenhang vor zwischen E r s c h e i n u n g e n wie seinesgleichen, einerseits und der W e l t a l s E r s c h e i n u n g , wie sie Kant unter anderem am Ende des 2. Buches der Transzendentalen Analytik der Kritik der reinen Vernunft darlegt, andererseits. Sollte diese mit gespenstischer Emphase vorgetragene V e r k ü n d u n g nicht nur auf dem simplen Wortspiel zwischen phänomenalen Erscheinungen und gespenstischen Erscheinungen beruhen, was könnte dann der Geist Saul Aschers mit dieser Verheißung gemeint haben? Wenn auch etwas verschoben, so verrät uns doch das Gespenst gleich im zweiten Satz seiner Rede diesen Zusammenhang: So wie die Gespenstererscheinungen auf einer Täuschung der Phantasie beruhen, ebenso basiert die Welt der Erscheinungen - wie sie sich Kant vorstellt - auf einer notwendigen Illusion der Vernunft, die die eigenen Verstandeskonstitutionen in die Welt der Gegenstände projiziert. Sind also die Ge-

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ERSTER TEIL: D I E KRITISCHE W E N D E

spensterillusionen auf Blendwerke, somit auf Wahn- und Halluzinationsmechanismen zurückzufuhren, so verfahrt auch die Transzendentalität der Vernunft nach eben dem gleichen Prinzip, wenn sie etwa dank ihrer produktiven Einbildungskraft ihre eigenen Grenzen überschreitet und mit selbstkreierten Verstandeskonstruktionen Realität tatsächlich produziert. Also „ s c h ö p f t " wie Kant reflektiert - „der V e r s t a n d s e i n e G e s e t z e (a priori) n i c h t a u s d e r N a t u r , s o n d e r n s c h r e i b t s i e d i e s e r v o r " (Prol. V 189 A 113). Vorgetragen von einem Geist, erscheint die Kantische Vernunftkritik eigenartig gespenstisch; gleich Saul Aschers Mitternachtsrede steht sie mutterseelenallein vor dem Spiegel des Universums. An dieser Stelle überschlägt sich nun das Gespenst in seiner weitergehenden Argumentation, indem es im zweiten Teil die paranoide These aufstellt, die Kantische Vernunftkonstruktion einer W e l t a l s E r s c h e i n u n g verfolge keinen anderen Sinn, als gerade Gespenster wie seinesgleichen vertreiben zu wollen. Folglich kann sich Saul Aschers Geist im Spiegel der Vernunft nicht als Gespenst erkennen, aus welcher Reflexion des Nichtreflektierbaren - dem sogenannten problematischen Gespensterglauben - logischerweise nur folgt, daß nicht nur Halluzinationen Wahngebilde hervorbringen, sondern daß auch die V o r s t e l l u n g e n der Gegenstandswelt auf A n s c h a u u n g e n beruhen, die nicht den Gegenständen, sondern unserer Vernunftkonstitution zuzuschreiben sind. Ergo - deduziert das Gespenst weiter - sind Vernunft und Geister, Wahrheits- und Wahnvorstellungen gar nicht so weit voneinander entfernt, wie man gemeinhin denkt: Sie unterscheiden sich nicht substantiell im Projektionsvorgang als solchem, sondern nur in der - richtigen oder falschen - Art des Projizierens. Wer also Gespenster wahrzunehmen glaubt, der reflektiert seine eigenen Projektionsmechanismen nicht mit; täte er dies, so würden die Blendwerke sogleich auch wieder verschwinden. Also - schlußfolgert das Gespenst - wird seinesgleichen von der Vernunft vertrieben. Mit diesem Syllogismus hatte sich der Geist denn auch schon verabschiedet; mit jener halluzinatorischen Geste, wie man sie wohl nur von Gespenstern kennt: Denn mit dem logischen Beweise, daß es durchaus keine Gespenster gibt, hatte sich Saul Aschers Geist performativ bereits in Luft aufgelöst. Kants Phaenomenon, hervorgegangen aus einer Gespenstererzählung? Ein scherzhafter Einfall, möchte man meinen - und dennoch: Diese intuitive Idee, die uns Heine als eine literarische Geistervorstellung vorgetragen hat, entspricht eigentümlicherweise haarscharf jener These, die mit der hier vorgelegten Recherche wissenschaftlich nachvollzogen werden wird. In der Tat soll mit der vorliegenden Schrift belegt werden, daß Kants V e r n u n f t k r i t i k der 80er Jahre aus seiner I r r a t i o n a l i t ä t s k r i t i k der 60er Jahre hervorgegangen ist. Im weiteren wird sich zeigen, wie der 40jährige Kant in den 60er Jahren zunächst eine empirische Psychologie entwickelt und diese alsdann in rationale Logik übertragen hat. Da hierbei d i e P r o j e k t i o n s i d e e jene Brücke darstellt, die die Irrationalitätskritik mit der Vernunftkritik verbindet, so wird

1. DIE IDEE DER KRITISCHEN WENDE

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deutlich, daß Kants „Revolution" oder „Umänderung der Denkungsart" (KrV III 25 Β XVI) aus seiner Analyse des Wahns, der Halluzination und Projektion hervorgegangen ist. Zweifelsohne war diese R e v o l u t i o n d e r D e n k u n g s a r t das Gewaltigste, was die Philosophie der Neuzeit hervorgebracht hat. Sie teilt nicht nur die Weltgeschichte der Philosophie in ein Davor und ein Danach, sondern sie teilt auch Kants Leben, Werk und Denken in eine Vor-, Während- und NachRevolutionszeit. Seit des Apostel Paulus Damaskus-Erlebnis und seiner sich hieran anschließenden U m k e h r (metanoia) wird es kaum weitere Denker gegeben haben, die binnen eines Lebens einen solch gewaltigen Perspektivwandel durchgemacht hätten wie Kant mit seiner Umänderung der Metaphysik. Er verglich sie selbst, wie man weiß, mit der kopernikanischen Wende: „Es ist hiemit eben so, als mit den ersten Gedanken des K o p e r n i k u s bewandt, der nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich derhen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ" (KrV III 25 Β XVI). Doch diese radikale Kehrtwende im Denken Kants geschah nicht über Nacht, sondern dauerte - zwischen seinem 35. und 57. Lebensjahr - immerhin 22 Jahre; 22 Jahre, in denen sich das Kantische Denken praktisch in einer ununterbrochenen Krise befand. Diese Krise begann mit dem Zusammenbruch von Kants Rationalismus um 1759, und sie fand ihr vorläufiges Ende mit der Veröffentlichung der Kritik der reinen Vernunft 1781. Eben während dieser Zeit vollzog sich das, was von der Forschung allgemein als Kants W e n d e z u r K r i t i k oder auch als Kants k r i t i s c h e W e n d e (engl.: t h e c r i t i c a l t u r n ; frz.: le t o u r n a n t c r i t i q u e ) bezeichnet wird. Wollen wir diese kritische Wende im Kantischen Œuvre zeitlich einordnen, so folgendermaßen. Kants Lebenswerk beginnt mit seiner ersten Publikation 1746 (Kant ist gerade 22 Jahre alt) und endet mit seinem Tod kurz vor seinem 80. Geburtstag 1804. Somit umfaßt das Lebenswerk eine beinahe 60jährige Geschichte, die sich in drei Epochen unterteilt. D i e e r s t e E p o c h e ist die sogenannte r a t i o n a l i s t i s c h e oder v o r k r i t i s c h e Zeit Kants; sie dauert 13 Jahre, beginnt 1746 und endet 1759. Gerhard Götz (vgl. 1993) läßt diese Epoche bis 1763 walten und unterteilt sie wiederum in zwei Phasen; die erste reicht von 1746 bis 1756, die zweite von 1758 bis 1763. In der zweiten Phase vollzieht sich allerdings bereits der Zusammenbruch von diesem Rationalismus, weshalb hier diese Phase, im Unterschied zu Götz, bereits der kritischen Wende zugerechnet wird. D i e z w e i t e E p o c h e ist die der sogenannten k r i t i s c h e n W e n d e ; sie dauert 22 Jahre, beginnt 1759, endet 1781 und unterteilt sich wiederum in zwei Hauptphasen: in d i e e i g e n t l i c h e k r i t i s c h e W e n d e 1759 bis 1770 und in die Ausarbeitung derselben 1770 bis 1781. Die eigentliche kritische Wende gliedert sich ihrerseits in drei Unterphasen: Die erste Phase ist die des Zusammenbruchs von Kants Rationalismus (1759 bis 1763), die zweite

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ERSTER TEIL: D I E KRITISCHE W E N D E

Phase die der Kantischen Psychologie (1763 bis 1766) und die dritte Phase die der Anwendung der Psychologie auf die Logik (1768 und 1770 sowie letztendlich denn auch 1781). D i e d r i t t e E p o c h e ist schließlich die k r i t i s c h e ; sie dauert 23 Jahre, beginnt 1781 und endet mit Kants Tod 1804. Die zuweilen in Erscheinung tretende Rede von einer ,nachkritischen' Epoche Kants scheint wenig sinnvoll. Denn von einer ,nachkritischen' Zeit Kants zu sprechen, würde nur dann einen Sinn ergeben, wenn Kant die Kritik in seinen späten Jahren widerrufen oder sich deutlich von ihr distanziert hätte, was - im Unterschied zu den nachträglichen Distanzierungen von der ersten sowie von der zweiten Epoche niemals geschehen ist. Mag Kants kritisches Potential in den späten 90er Jahren zuweilen auch nachgelassen und er sich anderen Gegenständen zugewendet haben, so rechtfertigt dies allenfalls eine Unterphase innerhalb der kritischen Epoche, nicht aber die Rede von einem eigenständigen ,nachkritischen Kant'. Auffallend ist, daß sowohl der vorkritische als auch der kritische Kant sich durch eine außerordentliche publizistische Aktivität auszeichnet; in seiner vorkritischen Zeit veröffentlicht Kant elf gewichtige Schriften, in seiner kritischen: zehn Bücher, fünf Vorlesungen und 24 Aufsätze. Alleine der Kant der kritischen Wende scheut die Öffentlichkeit: Sieht man von dem Jahr 1763 - in dem er nochmals forciert veröffentlicht - ab, so publiziert Kant in den nachfolgenden 17 Jahren so gut wie gar nicht mehr; zwischen 1764 und 1770 zwei kleine Bücher und drei kleinere Abhandlungen, zwischen 1770 und 1781 gerade einmal zwei Zeitungsartikel. Bereits an dieser Publikationskrise läßt sich das Ausmaß von Kants innerer U m k e h r ermessen; wobei der eigentliche Dreh dieser kritischen Wende eindeutig in die 60er Jahre fällt.

2. Rezeptionsprobleme der kritischen Wende

Alle, die sich mit diesem Thema näher befaßt haben, dürften sich darüber einig sein, daß noch nach 200 Jahren Kant-Forschung, d. h. bis zum heutigen Stand der Forschung, kein Kapitel des Kantischen Werks so undurchsichtig geblieben ist wie eben der Kant der 60er Jahre. Einigkeit unter den Fachleuten dürfte auch darüber herrschen, daß sich während diesen 60er Jahren die entscheidende Umkehr hin zu Kants R e v o l u t i o n d e r D e n k u n g s a r t , mithin die sogenannte kritische Wende, vollzogen hat. Da aber die Kritik der reinen Vernunft (1781/87) aus dieser kritischen Wende als deren Resultat hervorgegangen ist und der erste Dreh dieser Wende - also die 60er Jahre nach wie vor im dunkeln liegt, so muß geschlossen werden, daß damit auch der Ursprung der Kritik(en) als bislang nicht geklärt betrachtet werden muß. Zwar hat es Ansatzpunkte gegeben, den einen oder anderen Text dieser 60er Jahre zu erklären; keinem dieser Ansätze ist es jedoch bislang gelungen, in schlüssiger Weise zu zeigen oder überhaupt nur nachzuvollziehen, wie die kritische Wende insgesamt verlaufen ist. Es bleiben daher nicht nur gewisse Teile dieser kritischen Wende ungeklärt, sondern es läßt sich darüber hinaus die kritische Wende als solche bislang nicht erklären. Dieser Umstand scheint erklärungsbedürftig. Wie kann es sein, daß in einer Zeit, da praktisch jedes i-Tüpfelchen des Kantischen Œuvres durchleuchtet ist, gerade d i e E n t s t e h u n g s g e s c h i c h t e von Kants Revolution der Denkungsart noch immer ein Rätsel bleibt? Woher kommt es, daß sich die KantForschung mit dieser kritischen Wende so schwergetan hat, daß sie hierbei offenbar noch immer im dunkeln tappt? Mag es hierfür Hunderte von Gründen geben, so sollen im folgenden nur jene verhandelt werden, die maßgeblich dazu beigetragen haben, den Einblick in Kants kritische Wende zu versperren.

a) Der Hume-Mythos Das größte Hindernis einer Klärung von Kants Wende zur Kritik hat Kant selbst aufgestellt, indem er in späteren Jahren seinen „Jugendwahn" (Τ II 926, A 8), also die 60er Jahre, völlig aus seiner Erinnerung verdrängt und mit

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ERSTER TEIL: DIE KRITISCHE WENDE

Deckerinnerungen versehen hat. Die folgenschwerste dieser Deckerinnerungen war Kants eigene Erklärung für die Entstehung seiner Kritik der reinen Vernunft (1781): die berühmte Hume-Geschichte, die Kant erst nachträglich konstruierte, erstmals in der Vorrede zu seinen Prolegomena (1783) vortrug und später - 10 Jahre nach der 1. Auflage der Kritik}. - in der sogenannten Fortschrittsabhandlung (1791) mit der Theorie eines E m p i r i s m u s - R a t i o n a l i s m u s - S t r e i t e s untermauerte. Nichts hat jedoch die Kant-Forschung so sehr in die Irre geführt wie eben diese Hume-Geschichte. Zweihundert Jahre hindurch wurde die Kantische Kritik als eine Art Synthesis von Rationalismus und Empirismus verstanden; als Tertium datur, in dem der Dualismus zweier Geistesströmungen aufgehoben worden wäre. Damit schien die Entstehung der Kritik der reinen Vernunft ein für allemal geklärt; dermaßen, daß niemand überhaupt nur auf den Gedanken verfiel, diese Geschichte einmal zu hinterfragen. Denn, wer immer hierüber einmal näher nachgedacht hätte, hätte zwangsläufig zu dem Schluß kommen müssen, daß Humes Empiro-Skeptizismus weder die S y s t e m a t i k der Kritik noch deren Genese in irgendeiner Weise zu erklären vermag. Zunächst einmal wurde der berühmte Satz aus der Vorrede zu den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783): „Ich gestehe frei: die Erinnerung des D a v i d H u m e war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach, und meinen Untersuchungen im Felde der spekulativen Philosophie eine ganz andre Richtung gab" (Prol. V 118 A 13) allzuoft mißverstanden und fehlinterpretiert. Denn Kant behauptet in diesem Satz mitnichten, daß ihn Hume zur Kritik hingeführt habe, sondern er sagt nur, daß Hume seinen dogmatischen Schlummer „unterbrochen habe". Allerdings muß Kants W e n d e hin zur Kritik nicht zwangsläufig aus dieser Unterbrechung des Dogmatismus entsprungen sein - insofern nämlich, als es sich bei Kants Abwendung vom Rationalismus und bei seiner Hinwendung zur Kritik um zwei völlig voneinander getrennte Verfahren gehandelt haben könnte und tatsächlich auch gehandelt hat. Eben dies bekundet ja auch Kant sowohl in dem unmittelbar an die obige Textstelle anschließenden Satz wie auch mit der Gesamtaussage dieser Vorrede zu den Prolegomena: „Ich war weit entfernt" - heißt es da - , „ihm [Hume] in Ansehung seiner Folgerungen [nämlich: in Ansehung seines Empirismus - C. R.] Gehör zu geben", da „ich nunmehr versichert war, daß sie [die Verknüpfungen] nicht, wie H u m e besorgt hatte, von der Erfahrung abgeleitet, sondern aus dem reinen Verstände entsprungen sein" (V 119 A 14). Hume also, der den „entscheidenden Angriff auf die Metaphysik gemacht" (V 115 A 7) hatte, indem er die Existenz von Wahrheit prinzipiell bestritt, „brachte zwar kein Licht in diese Art von Erkenntnis, aber er schlug doch einen Funken" (ebd.) - jenen nämlich, daß infolge seiner skeptischen Angriffe die Metaphysik von Grund auf neu zu überdenken und zu überarbeiten war. Alleine in diesem „Wink, den H u m e s Zweifel geben konnten" (V 121 A 17), im ,,Humische[n] Problem" (V 119 A 15) - keines-

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wegs jedoch in dessen Lösungsversuch, dem Empirismus - lag für Kant das Verdienst dieses „scharfsinnigen Mannes" (V 119 A 13), denn Hume habe „sein Schiff, um es in Sicherheit zu bringen, auf den Strand (den Skeptizismus)" gesetzt, „da es denn liegen und faulen mag" (V 121 A17). Obgleich sich also Kant in dieser berühmten Hume-Passage der Vorrede zu den Prolegomena dezidiert gegen Hume ausspricht und dessen Empiro-Skeptizismus sogar als eine „zerstörende Philosophie" bezeichnet (V 116 A 10 Fn.), wird diese Textpassage immer wieder bemüht, um die Kritik aus einem vermeintlichen Empirismus-Rationalismus-Streit heraus zu erklären. Dabei hat man sich offenbar nicht einmal überlegt, was ein derartiger Empirismus-Rationalismus-Streit bezogen auf die Systematik der Kritik der reinen Vernunft überhaupt bedeuten könnte; denn wer immer hierüber nachgedacht hätte, hätte einsehen müssen, daß dieser Bezug schier unsinnig ist. Denn eine etwaige Rationalismus-Empirismus-Problematik steht in der Kritik der reinen Vernunft überhaupt nicht zur Debatte, und zwar alleine schon deshalb nicht, weil sie aus der von Kant gewählten Thematik, nämlich einer r e i n e n - d.h. per definitionem: n i c h t e m p i r i s c h e n - V e r n u n f t von vornherein ausgeschlossen wird! Zieht man einerseits in Betracht, welchen Platz Kant dem empirischen Korrelat seiner transzendentalen Erkenntnisse in der 1. Auflage der Kritik (1781) einräumt, so ist dieses Volumen dermaßen gering, daß man es als .quantité négligeable' fast ganz ignorieren könnte. Andererseits kommen jedoch die großen Thematiken der Kritik der reinen Vernunft in der Rationalismus-Empirismus-Problematik weder vor, noch sind sie auf diese überhaupt zu beziehen. Wie auch sollten etwa die Amphibolie, der Paralogismus und die Antinomie (als Problemstellung), wie sollten ferner die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich, die Einheit des Bewußtseins sowie die regulativen Ideen (als Problemlösungen) aus einer Apriori-/ Aposteriori-Problematik heraus zu erklären sein? Die besagten T h e m e n befinden sich allesamt und zwar von vornherein im apriorischen Vernunftbereich und haben deshalb mit dem Empirismus nicht das allermindeste zu tun! In der Preisschrift von 1791 Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht hat? stellt Kant allerdings die Kritik als Synthese von Dogmatismus und Skeptizismus dar. So heißt es dort (FA VI 595 A 21): „Es sind also drei Stadien, welche die Philosophie zum Behuf der Metaphysik durchzugehen hatte. Das erste war das Stadium des Dogmatism; das zweite das des Skeptizism; das dritte das des Kritizism der reinen Vernunft". Zu Beginn der ersten Abteilung der Abhandlung ordnet dann Kant Leibniz dem D o g m a t i s m u s , Hume dem S k e p t i z i s m u s und sich selbst dem K r i t i z i s m u s zu. Schließlich widmet Kant in der zweiten Abteilung diesen drei Stadien je ein Unterkapitel, in dem sich Leibniz' Dogmatismus als amphibolisch, Humes Skeptizismus als antinomisch, Kants Kritizismus jedoch als eine Überwindung von beiden herausstellt. Summa summarum: Thesis = Leibniz' Dogmatismus; Antithesis = Humes Skeptizismus; Synthesis = Kants Kritizismus - womit zwei Geistes-

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ERSTER TEIL: D I E KRITISCHE W E N D E

Strömungen ineinander aufgehoben worden wären. So schön und gut sich diese Entstehungsgeschichte der Kantischen Kritik auch anhören mag, so steht sie doch - was kaum beachtet wurde - in einem erheblichen Widerspruch zur Architektonik der Kritik der reinen Vernunft. Denn die Kritik (1781/87) ist bekanntlich nicht nur auf den zwei Säulen der Antinomie (des Rationalismus) und der Amphibolie (des Empirismus), sondern auch noch auf einer dritten, nämlich der des Paralogismus (des Idealismus) gebaut. Sei es, daß Kant die Jury der Preisschrift nicht auch noch mit Bewußtseinsfragen überfordern wollte, sei es, daß er die oben behauptete Dialektik von Dogmatismus und Skeptizismus nicht gefährden wollte, jedenfalls kommt die wichtigste Säule der Kritik der reinen Vernunft, also der Paralogismus als Fragestellung sowie die ursprünglich-synthetische Einheit des Bewußtseins als Antwort, in der Fortschrittsabhandlung gar nicht zum Tragen. Zwar streift Kant (FA VI 60lf A 35fï) die Frage nach der Unterscheidung von logischem und psychologischem Ich (Subjekt der Apperzeption und Subjekt der Perzeption), doch klammert er die Frage nach der Einheit des Bewußtseins aus der Entstehungsgeschichte der Kritik ganz aus und reduziert damit die Dreiteilung der logischen Fehlschlüsse der Kritik (nämlich: Amphibolie, Paralogismus und Antinomie) auf ein b i n ä r e s M o d e l l , mit welchem er dann leider sämtlichen neuplatonisch-dialektischen Mißverständnissen Tür und Tor geöffnet hat. Hiermit soll freilich der Kritik das Vermögen nicht abgestritten werden, sowohl Leibniz' Dogmatismus als auch Humes Skeptizismus widerlegen zu können - wobei wie gesagt die Widerlegung von Descartes' Idealismus hier noch hinzugefügt werden müßte - , nur handelt es sich bei diesen Widerlegungen eben nicht um die (chronologische) G e n e s e , sondern um einen (logischen) E r t r a g der Kritik. Wenngleich also - zehn Jahre nach der ersten Auflage der Kritik - die Fortschrittsabhandlung vorgibt, die Motive für Kants kritische Wende benannt zu haben, so bestätigt sie damit doch gerade, wie selbsttäuschend SelbstApprehensionen bisweilen sein können - mit Nietzsche zu sprechen: Leg ich mich aus, so leg ich mich hinein, ich kann nicht selbst mein eigener Interpret sein. Wenn aber Humes Empiro-Skeptizismus zur Erklärung der S y s t e m a t i k der Kritik kaum etwas hergibt, vielleicht taugt er dann für eine Erklärung der E n t s t e h u n g s g e s c h i c h t e der Kritik der reinen Vernunft? Viele Forscher haben daher die von Kant in der Fortschrittsabhandlung - aus systematischen Erwägungen heraus behauptete! - Stufenleiter von Dogmatismus, Skeptizismus und Kritizismus als tatsächliche historisch-chronologische Abfolge verstanden und also gemutmaßt, Kant sei zunächst Rationalist, sodann kurzfristig Empirist und schließlich, nach einer Abkehr von beidem, Kritiker geworden. Sollte dem so gewesen sein, so müßte eine diesbezügliche Empirismus- bzw. Hume-Phase in Kants Werk nachzuweisen sein. Folglich haben sich unzählige Forscherexpeditionen auf den Weg gemacht, um in den Tiefschichten der 60er Jahre archäologisch nach einer derartigen Phase zu suchen. Einige meinen

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sogar in dem einen oder anderen Text, an dieser oder jener präzisen Stelle, im mikroskopischen Textbereich einiger Randvermerke etwa, die besagte HumePhase des Empirismus entdeckt zu haben. Alleine, alle diesbezüglichen Entdeckungen beruhen auf i n t e r e s s i e r t e n L e k t ü r e n : Zu keinem einzigen Zeitpunkt während dieser 60er Jahre, ja nicht einmal zu irgendeinem anderen Zeitpunkt seines Lebens ist Kant jemals Empirist oder ein Anhänger Humes gewesen! Ganz im Gegenteil: Bereits ab 1765 - und von diesem Zeitpunkt ab, zusehends mehr-wendet sich Kant seiner Ρ hi lo s o p h i e d e s A p r i o r i zu. Eigentümlicherweise fehlt denn auch von diesem - angeblich durch Hume verursachten - Erwachen Kants aus dem dogmatischen Schlummer in jenen Schriftzeugnissen, die uns aus den 60er Jahren bleiben, jegliche Spur. Von Hume hatte Kant offenbar erstmals von Johann Georg Hamann erfahren, der Kant in einem Schreiben vom 27. Juli 1759 den Schotten schmackhaft machen wollte. Eine Reaktion Kants blieb aus. Karl Vorländers Meinung (K. Vorländer 1924 I 154), derzufolge Humes Einfluß in Kants Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (1763) deutlich spürbar sei, hat zugegebenermaßen einige Plausibilität für sich: Immerhin läßt sich nicht von der Hand weisen, daß man bei der R e a l r e p u g n a n z an das Prinzip der Kausalität denken muß. Wenn es überhaupt einen solchen ,HumeEinfluß' jemals gegeben haben sollte, dann in dieser Schrift von 1763, in welcher Kant erstmals radikal mit Leibniz' Rationalismus abrechnet. Dieser Meinung steht allerdings entgegen, daß Kant 1763 den Begriff ,Kausalität' nicht verwendet hat, und daß er als Ursprung und Paradigma für seine n e g a t i v e n G r ö ß e n ausdrücklich auf die Erkenntnisse der Mathematik verweist, wohingegen gerade die bornierte Philosophie von der Realrepugnanz noch nie etwas gehört habe. Wäre es Hume gewesen, der Kant auf die Realoppositionen gebracht hätte, so hätte Kant dies sicherlich nicht verschwiegen. Der erste explizite Hinweis auf Hume im Kantischen Werk befindet sich in der Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765 - 1766. Interessanterweise nennt Kant in dieser programmatischen Vorlesungsankündigung Hume neben Shaftesbury und Hutcheson und ordnet ihn daher - als Teil der Schottischen Aufklärung insgesamt - d e r E t h i k zu. Hieraus kann nur der Schluß gezogen werden, daß Kant von jenem vermeintlichen Rationalismus-Empirismus-Streit 1765 noch nichts gewußt haben konnte, weil er anderenfalls Hume sicherlich nicht wegen dessen Ethik, sondern aufgrund seiner Erkenntnistheorie erwähnt und dementsprechend zugeordnet hätte. Kein Wort also in den Jahren 1759 bis 1765 von einem durch Hume verursachten Wecken aus dem dogmatischen Schlummer. Alois Riehls Meinung, derzufolge „der Einfluß Humes" in Kants Träumen eines Geistersehers von 1766 „am größten sei", wobei besonders „die Schlußseiten auffallend an Hume erinnern" (K. Vorländer 1924 I 167), kann auch nicht geteilt werden. Obgleich Kant in dieser Schrift ausführlich auf Philosophen rekurriert und sie ausnahmsweise auch namentlich benennt, fallt der Name Hume nicht ein einziges Mal. Außerdem wendet sich Kant mit den Träumen

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ERSTER TEIL: DIE KRITISCHE WENDE

eines Geistersehers erstmals ausdrücklich seiner P h i l o s o p h i e d e s A p r i o r i zu. Und noch im Jahr darauf, als Herder 1767 den Versuch unternahm, Kant das Eingeständnis abzuringen, demzufolge es sich bei Hume um einen seiner Gewährsmänner handeln solle, reagiert Kant schroff abweisend: „Was mich betrifft, da ich an nichts hänge und mit einer tiefen Gleichgültigkeit gegen meine oder anderer Meinungen das ganze Gebäude öfters umkehre [...]" (Kant an Herder, 9. Mai 1767, Br. 56) - womit Kant seinem damaligen Schüler offenbar diskret bedeuten wollte, daß Hume bei diesen „Umkehrungen" gerade k e i n e R o l l e gespielt habe. Gerhard Götz' Versuch, die vermeintliche empiristische Phase in die Jahre 1770/71 zu setzen (vgl. ,Der Empirismus von 1770/71' in: G. Götz 1993 227236), kann auch nicht zugestimmt werden. Ist es ohnehin bedenklich, die von Kant aus dem Werk verbannten Textpassagen in erheblicher Weise gegen das Werk auszuspielen, so stehen die von Götz interpretierten Reflexionen und späteren Briefe in einem deutlichen Widerspruch zur Inaugural-Dissertation (1770). Obschon es richtig ist, daß die Erfahrungsgründe in jenen Jahren eine gewisse Rolle spielen, so dienen sie doch eher zur Bestätigung als fur die Normativität von Aussagen. Von daher scheint es überinterpretiert, hier von einem .Empirismus' oder gar von einer ,empiristischen Phase' zu sprechen. (Vgl. hierzu auch das Kapitel: A priori - das letzte Wort der, Träumer). Nach alledem bleibt doch erstaunlich, daß ein Einfluß von Humes Empirismus auf Kants Revolution der Denkungsart zwar für die unterschiedlichsten Zeiten und Schriften der 60er Jahre immer wieder hartnäckig behauptet wurde, jedoch in keinem einzigen Fall nachgewiesen werden konnte. So sehr nun auch die Forscher recherchierten, sie fanden, „ wie gmeiniglich, wo man nichts zu suchen hat ", sie fanden nichts (T II 924 A 6). Schließlich ließe sich noch das Argument vorbringen, daß es gar nicht Humes Empirismus, sondern vielleicht eine andere Erkenntnis Humes gewesen sein könnte, die Kants Erwachen aus dem rationalistischen Schlummer bewirkt hat. Eine solche Interpretation könnte ein sehr später Brief Kants an Christian Garve (vom 21. September 1798) nahelegen. Dort heißt es: „Nicht die Untersuchung vom Dasein Gottes, der Unsterblichkeit etc. [d. h. nicht Leibniz - C. R.] ist der Punkt gewesen, von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der r.V.: ,Die Welt hat einen Anfang - sie hat keinen Anfang etc. bis zum vierten: Es ist Freiheit im Menschen - gegen den: es ist keine Freiheit, sondern alles ist in ihm Naturnotwendigkeit'; dieses war es, w e l c h e s mich aus dem d o g m a t i s c h e n S c h l u m m e r zuerst aufw e c k t e und zur Kritik der Vernunft hintrieb, um das Skandal des scheinbaren Widerspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben" (Br. 779f, Herv. C. R.). Nun könnte zwar die Idee der Antinomie der Freiheit tatsächlich auf Hume zurückzuführen sein, nämlich auf den Achten Abschnitt - Über Freiheit und Notwendigkeit - von Humes Enquiry Concerning Human Understanding (1758). Eigenartig ist nur, daß bei Kant vom Antinomieproblem zumindest in den 60er Jahren zu keinem Zeitpunkt auch nur entfernt die Rede ist. Also

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kann sich die Aussage in dem besagten Brief an Garve nur auf die 70er Jahre beziehen. Damit hätte sich allerdings Kant - als 74jähriger nunmehr über dreißig Jahre von den Geschehnissen entfernt - erneut in seiner Erinnerung getäuscht; denn in der Entstehungsgeschichte der Kritik ist Kant nachweislich n i c h t z u e r s t , s o n d e r n e r s t g a n z z u m S c h l u ß - nach der Amphibolie und nach dem Paralogismus - auf das Antinomieproblem gestoßen. Doch dürfte in Kants getrübter Erinnerung aus dem Jahre 1798 immerhin soviel stimmen, daß die Problematik der Antinomie tatsächlich von Hume angeregt worden ist. Wenn aber die Hume-Geschichte weder zur Systematik noch zur Genese der Kritik etwas Substantielles beizutragen hat, wenn uns Kant mit dieser Hume-Geschichte gar einen Bären aufgebunden und uns auf eine völlig falsche Fährte gelockt haben sollte, so stellt sich freilich die Frage, weshalb Kant diese Hume-Geschichte dann überhaupt vorgebracht hat? Diese Frage verweist auf jene, warum die Menschen überhaupt im nachhinein ihre Erinnerungen verfälschen, warum sie die tatsächlich gemachten Erfahrungen nachträglich verdrängen und mit eingebildeten Erfahrungen, sogenannten D e c k e r i n n e r u n g e n , überschreiben? Hierzu bemerkte einmal der noch jüngere Kant: „Ich kann noch in gewisser Maßen zu der Verkehrtheit des Kopfes, so ferne dieselbe die Erfahrungsbegriffe betrifft, das gestörte E r i n n e r u n g s v e r m ö g e n zählen. Denn dieses täuschet den Elenden, der damit angefochten ist, durch eine chimärische Vorstellung wer weiß was vor eines Zustandes, der wirklich niemals gewesen ist. Deijenige, welcher von den Gütern redet, die er ehedem besessen haben will, oder von dem Königreiche, das er gehabt hat, und sich übrigens in Ansehung seines jetzigen Zustands nicht merklich betrügt, ist ein Verrückter in Ansehung der Erinnerung. Der bejahrte Murrkopf, welcher fest glaubt, daß in seiner Jugend die Welt viel ordentlicher und die Menschen besser gewesen wären, ist ein Phantast in Ansehung der Erinnerung." (KdK II 896f A 26) Warum also diese Phantasterei in Ansehung der Erinnerung? Nun, im allgemeinen verdrängt und überschreibt unsere Psyche die tatsächlich gemachten Erinnerungen mit eingebildeten Deckerinnerungen einerseits, weil die tatsächlichen Erinnerungen an das Reale zu schmerzhaft, zu peinlich oder aus sonstigen Gründen zu unangenehm sind, und andererseits, weil sie zu der gegenwärtigen Situation nicht mehr passen - in den meisten Fällen jedoch beides. Um also eine nachträglich korrigierte Erinnerung aufzudecken, bedarf es der Analyse von drei Momenten: 1. des Zeitpunkts der erstmaligen Äußerung dieser vermeintlichen Erinnerung, 2. des Zeitpunkts, auf den sich diese angebliche Erinnerung bezieht, sowie 3. jener Zeitspanne, die sich zwischen diesen beiden Zeiten befindet, und deren Bezug offenbar verdrängt werden soll. Bereits die Tatsache, daß die erste Erwähnung der Hume-Geschichte sich nicht in der Vorrede zur 1. Auflage der Kritik (1781), sondern in jener zu den Prolegomena (1783) befindet, deutet darauf hin, daß der Grund für diese Geschichte nicht aus der Kritik selbst entsprungen zu sein scheint, sondern

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offenbar auf äußere Umstände zurückgeführt werden muß. Diese Vermutung erhärtet sich dadurch, daß Kant für die Vorrede der 2. Auflage der Kritik (1787) die Hume-Geschichte offensichtlich nicht übernimmt (sondern an dieser Stelle die Entstehungsgeschichte der Kritik in den Zusammenhang der Entfaltung des menschlichen Vernunftbewußtseins überhaupt stellt) und erst wieder in der Fortschrittsabhandlung (1791) auf die Hume-Geschichte zurückkommt. Mit anderen Worten: Die Hume-Geschichte wird von Kant immer dann vorgetragen, wenn er ein breiteres Publikum im Auge hat. Es ist allgemein bekannt, daß die Kritik der reinen Vernunft nach ihrer Erstveröffentlichung 1781 auf ein allgemeines Unverständnis stieß und daß eben dieses Kant dazu bewogen hatte, eine Art Kritik für Anfänger, d. h. seine E i n f ü h r u n g e n (griech.: p r o l e g o m e n a ) zu schreiben (vgl. u. a. K. Vorländers Einleitung zu den von ihm 1905 herausgegebenen Prolegomena). Was in diesem Zusammenhang in der Regel nicht mitbedacht wird, ist, daß es sich bei dieser Ablehnung von seiten des Publikums um eine Wiederholung handelte, die - gerade aufgrund der Wiederholung - für Kant nahezu traumatisch gewirkt haben mußte. Denn bereits die Inaugural-Dissertation (1770) war allgemein auf Unverständnis und Ablehnung gestoßen, was bei Kant einen derartigen Schock verursacht hatte, daß er die ganzen 70er Jahre hindurch quasi gar nicht mehr publizierte und nur noch seinen einstigen Schüler und engsten Vertrauten Markus Herz in seine Pläne einweihte. Kant muß nun für sich selbst davon ausgegangen sein, daß die Publikumsablehnung von 1770 auf sein noch unausgegorenes Projekt zurückzuführen sei und daß eben dieses Problem sich mit der vollständigen Ausarbeitung der Kritik von selbst lösen würde. Als dann 1781 gerade das Gegenteil hiervon geschah, stellte dies für Kant einen erneuten - nunmehr traumatischen Schock - dar. Allerdings war diese erneute Ablehnung nicht nur auf die Schwierigkeit des Werkes, sondern vor allem auf den Geist der Zeit zurückzuführen. So eigenartig dies auch erscheinen mag, so wurde doch die Philosophie als Fachdisziplin im Zeitalter der Aufklärung völlig in den Hintergrund gedrängt. Von der letzten philosophischen Schule in Europa, dem deutschen Spätrationalismus (dem Kant selbst entstammte), lebte zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung der Kritik niemand mehr. Gottfried Wilhelm von Leibniz war bereits 1716, d. h. noch vor Kants Geburt, verstorben. 1754 verstarb Christian Wolff, 1762 Alexander Gottlieb Baumgarten, 1775 August Christian Crusius und 1777 Johann Heinrich Lambert. Selbst die Philosophen der Aufklärung - die man nur mit großen Abstrichen der Fachphilosophie zuordnen kann - waren mittlerweile nicht mehr am Leben: Francis Hutcheson verstarb 1746, David Hume 1776, Voltaire und Jean-Jacques Rousseau 1778, Bonnot de Condillac 1780. Als Kant 1781 seine Kritik erstmals veröffentlichte, hatte der Kontinent und damit die philosophische Welt - gerade einmal noch drei namhafte Philosophen vorzuweisen, und selbst von diesen erlebten zwei die 2. Auflage der Kritik (1787) nicht mehr: Denis Diderot verstarb 1784 und Moses Mendelssohn, im gleichen Jahr wie Friedrich der Große, 1786. Verblieb, als letzter

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philosophischer Kollege, Kants Widersacher Johann Georg Hamann, der 1788 verschied. Um es kurz zu sagen: Zum Zeitpunkt der Publikation(en) der ersten Kritik 1. Auflage 1781, Prolegomena 1783, 2. Auflage 1787, Entdeckung 1790 sowie die Fortschrittsabhandlung 1791 - gab es in Europa keine nennenswerten Philosophen und vor allem keine gepflegten philosophischen Traditionen mehr: das Fach war nahezu ausgestorben! Die philosophische Schule des deutschen Spätrationalismus war bereits seit nahezu 20 Jahren verschwunden, die zwei letzten Philosophen der neuen Aufklärungsgeneration, Mendelssohn und Hamann, vertraten völlig andere Positionen als Kant, und eine junge Generation von Rezipienten, wie Karl Leonhard Reinhold oder Johann Gottlieb Fichte, war noch nicht in Sicht. Dagegen herrschten in Europa und insbesondere in Deutschland ganz andere Töne. Seit Goethes und Herders legendärer Begegnung 1769 in Straßburg waren die sogenannten .Empfindsamen' - später auch als .Stürmer und Dränger' bezeichnet - in Deutschland vorherrschend. Spätestens nach Goethes epochemachenden Leiden des Jungen Werther (1774) befinden wir uns in der sogenannten ,Goethe-Zeit'; d. h. in einer Zeit, die sich vor allem belletristisch, lyrisch und theatralisch ausdrückte. Es war die Zeit der großen Gefühle, die Zeit des Geniekultes sowie überhaupt die eines allseits schwärmenden Irrationalismus. Während Goethe noch an seinem Urfaust arbeitete (ab 1772), tobte bereits der sogenannte Hexenkrieg in Bayern: die durch den Exorzisten Johann Joseph Gaßner um 1774/75 verursachten Massenbewegungen sowie die sich hieran anschließenden Gaßneriaden', Gaßner-Streitschriften, von denen alleine das bedeutendste Organ der deutschen Aufklärung, die Allgemeine Deutsche Bibliothek, im Jahre 1776 sage und schreibe 83 rezensierte. An diese Debatten knüpften die des Vampirismus, des Magnetismus sowie des Spiritismus an, welche ihrerseits von den entsprechenden Massenbewegungen begleitet wurden. Derweil predigte der Züricher Pfarrer Johann Caspar Lavater die Beförderung der Menschenliebe durch Physiognomik und Pathognomik (1774-78). Die Gothic-Novel hatte bereits Konjunktur und traf sich mit den okkulten Ritualen der klandestinen Geheimbünde. Im Jahre 1775 wurden alleine in Deutschland über 80 neue Freimaurerlogen gegründet. So abergläubig waren die Zeiten geworden, daß die neue Spezies der Scharlatane nur noch abzusahnen brauchte; so ruinierte Staint Germain die Oesterreichische Staatskanzlei, Cagliostro Versailles, Gougomos das Land Hessen, Universitätsprofessor Beireis den Ruf der Stadt Helmstedt und Doktor Perkins Zehntausende seiner Patienten. (Vgl. G. v. Francesco 1937) Gerade in jenen 70er Jahren also, da Kant sich aus der Öffentlichkeit völlig zurückgezogen hatte, um über die reine Vernunft nachzudenken, wurde Europa und insbesondere Deutschland von einer Esoterik-Welle überschwemmt, wie man sie in diesem Ausmaß kaum jemals zuvor gesehen hatte. Anachronistischer hätte da Kants Kritik der reinen Vernunft kaum erscheinen können. Zufall oder nicht, in jenen Jahren nach 1781, da Kants Kritik von „dem ge-

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lehrten Publikum [...] mit Stillschweigen [...] beehrt" wurde (Prol. V 259 A 216), machten zwei andere Werke viel von sich Reden: Franz Anton Mesmers Abhandlung über die Entdeckung des thierischen Magnetismus (dt. 1781) sowie Wolfgang Amadeus Mozarts ebenfalls 1781 in Wien uraufgeführte Gespensteroper mit dem Titel Don Giovanni. Man versteht vor diesem Hintergrund vielleicht besser, warum sich Kant 1783 genötigt sah, sich Gedanken über das Verhältnis von P h i l o s o p h i e u n d P o p u l a r i t ä t zu machen (vgl. Prol. V 121ff A 18ff). Doch selbst wenn Kant in jenen Jahren noch mit einem philosophisch geschulten Publikum hätte rechnen können, wäre die Vermittlung der Kritik alles andere als einfach gewesen. Denn „diese ganz neue Wissenschaft [...], von welcher niemand auch nur den Gedanken vorher gefaßt hatte, wovon selbst die bloße Idee unbekannt war" (Prol. V 121 A 17), hat die Eigentümlichkeit, daß sie sich auf keinerlei philosophische Tradition zurückführen läßt. Diese Besonderheit rührt daher, daß d e r G e d a n k e der Kritik gar nicht aus der Philosophie, sondern aus der Psychologie stammt und erstmals von Kant von der Psychologie auf die Logik übertragen wurde. Diese Anwendung eines psychologischen Gedankens führte jedoch in der Philosophie zu einem Gebilde, von welchem tatsächlich „selbst die bloße Idee unbekannt war" - in Ausmaß und Gestalt: zu einer philosophischen Monstrosität. Da jedoch im Lande der lutherischen Orthodoxie, scheinbar mehr noch als anderenorts, selbst für Philosophen jene Bauernregel zu gelten scheint, derzufolge man nur das als existent anzusehen bereit ist, was man bereits kennt, so wird man „sie [die Kritik] unrichtig beurteilen, weil man sie nicht versteht; man wird sie nicht verstehen, weil man das Buch zwar durchzublättern, nicht aber durchzudenken Lust hat; und man wird diese Bemühung darauf nicht verwenden wollen, weil das Werk trocken, weil es dunkel, weil es allen Begriffen widerstreitend und überdem weitläufig ist" (Prol. V 120 A 15). Somit befand sich Kant nach der Erstveröffentlichung der Kritik 1781 in einer fast auswegslosen Lage: Denn einerseits war er als letzter Fachvertreter der Philosophie - mit extrem hohen philosophischen Ansprüchen zudem - im literarischen Goethe-Zeitalter ohnehin völlig fehl am Platz, andererseits hatte er sich noch obendrein mit dieser „ganz neuen - allen [bekannten] Begriffen widerstreitenden - Wissenschaft" ins philosophische Abseits gestellt. Um aus dieser doppelten Isolation wieder herauszukommen, um überhaupt noch irgendeinen Anschluß an seine Zeit zu finden, bedurfte es daher 1783 einer p o p u l ä r e n E r k l ä r u n g ; einer griffigen Formel, welche die Kritik ebenso schlicht und anschaulich darzustellen vermochte, wie etwa Newtons Anekdote mit dem Apfel dessen Theorie der Schwerkraft. Nachdem die Z o l l f a h n d u n g des „gelehrten Publikums" sich der Kritik angenommen hatte und die Fragen: a) was das denn überhaupt für ein Ding sei? und b) wo das denn herstamme? und c) wozu es denn gut sein solle? einfach nicht nachlassen wollten, benötigte Kant eine Art Z o l l e r k l ä r u n g für die Kritik. Mit einer kurzen Angabe über die Art des Produktes sowie über

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dessen Herkunfts- und Bestimmungsort sollte diese Erklärung in erster Linie den Zweck verfolgen, dem noch ungeöffneten Paket der Kritik einen OkayStempel zu verpassen; auf daß die Kritik wenigstens im noch verpackten Zustand die bornierten Grenzen des gelehrten Publikums passieren könne. Und zu eben diesem Zweck diente die Hume-Geschichte. Mit ihr konnte Kant worauf es ihm in allererster Linie ankam! - deklarieren, daß die Kritik aus einer philosophischen Tradition stamme, was er auch mit immerhin nur zwei Worten („Empirismus-Rationalismus") begründen konnte. Zudem hatte Kant als Beleg für die tatsächlich philosophische Herkunft seiner Kritik noch eine glaubwürdige Rechnung vorzuweisen. Aus dieser ging hervor, daß die analytischen Urteile a priori des Rationalismus an der Erkenntnis, die synthetischen Urteile a posteriori des Empirismus aber am Denken scheitern mußten und daß - nach einer Dreisatzrechnung - alleine die synthetischen Urteile a priori des Kritizismus befähigt seien, den langen Weg vom Bewußtsein zum Erkenntnisprozeß aufzuzeigen. Damit schienen die Zollfahndungsfragen des gelehrten Publikums beantwortet, das Ding war scheinbar doch in Ordnung und durfte - zumindest verschlossen - passieren. Alleine, wer immer das Paket einmal geöffnet und dessen Inhalt mit der Deklaration verglichen hätte, hätte feststellen müssen, daß hier offenbar eine Verwechslung vorliegen muß. Gerade mit der angegebenen Herkunft kann man sich keineswegs zufriedengeben. Denn selbst wenn es zutreffen sollte, daß eine Hume-Lektüre in die Negativen Größen eingegangen sein und somit Kant tatsächlich 1763 aus dem dogmatischen Schlummer geweckt haben sollte (was, wie gesagt, noch zu beweisen bleibt), so war es nicht diese Unterbrechung des Rationalismus, sondern eine ganz andere Erfahrung, die Kants Wende hin zur Kritik bewirkt hatte. Alle, die sich mit dem Kant der 60er Jahre befaßt haben, werden darin übereinstimmen, daß Kant sich in jenen Jahren in erster Linie nicht mit Hume, sondern mit dem schwedischen Gelehrten, Visionär und Geisterseher Emanuel von Swedenborg (1688-1772) intensiv beschäftigt hat. Nach eigenem Bekunden hatte Kant erstmals 1762 von den vermeintlichen telepathischen Fähigkeiten des Visionärs erfahren, sofort Nachforschungen angestellt und sogar an Swedenborg geschrieben (Kants Brief ist verschollen, und Swedenborg hat wohl nie geantwortet). In dem Brief an Fräulein Charlotte von Knobloch vom 10. August 1763 äußert sich Kant noch geradezu emphatisch über den Visionär und noch in seiner Vorlesung über rationale Psychologie von 1765 ist sein Bild durchweg positiv. Dieses Bild ändert sich grundlegend nach der Lektüre von Swedenborgs achtbändigem Opus über die Geisterwelt, wobei nun Kant in seinen Träumen eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (1766) immer wieder aufs neue hervorhebt, wie außerordentlich peinlich ihm diese ganze Angelegenheit mittlerweile geworden ist: „In der Tat ist auch kein Vorwurf dem Philosophen bitterer, als der der Leichtgläubigkeit und Ergebenheit in den gemeinen Wahn" (T II 965 A 82), und eben diesem hatte sich Kant, wie mittlerweile ganz Königsberg wußte, über Jahre hinweg hingegeben. Auf diese Peinlichkeit reagiert Kant in seinen Träumen (1766) mit der

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Verwerfung des gesamten Gegenstandes: „Nunmehro lege ich die ganze Materie von Geistern, ein weitläufiges Feld der Metaphysik, als abgemacht und vollendet bei Seite. Sie geht mich künftig nichts mehr an" (Τ II 964 A 81); eine Selbstprophezeiung, an die sich Kant später offenbar gehalten hat. Denn obgleich er dem Geisterseher vier Jahre seines Lebens - und mindestens drei psychologische Schriften - geschenkt (oder verschenkt?) hatte, wollte er späterhin sowohl von der Geisterseherei als auch von der diesbezüglichen Psychologie nie etwas gehört haben. In seinem ganzen nachfolgenden Leben wird Kant Swedenborgs Namen nur noch ein einziges Mal, und zwar in Zusammenhang mit der Mystik, erwähnen (vgl. Rei. XI 312 A 65). Auch die Psychologie wird späterhin verworfen, insofern Kant im hohen Alter (in seinen postum veröffentlichten Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft) die Ansicht vertrat, daß die Psychologie seiner Zeit einen wissenschaftlichen Status noch nicht erreicht habe. Rückblickend war ihm diese ganze Angelegenheit von Psychologie und Geisterseherei sogar so peinlich, daß er mit Swedenborg und allem Diesbezüglichen die ganzen 60er Jahre aus seinem Gedächtnis verdrängen wird. So wird er 1797 für eine geplante Gesamtausgabe verfügen, daß in diese Ausgabe „nicht ältere [Schriften] als von 1770, darin aufgenommen würden, so daß sie [die Gesamtausgabe] mit meiner Dissertation: de mundi sensibilis et intelligibilis forma etc. anfange" (Kant an Tieftrunk, 13. Okt. 1797, Br. 753) - und die Zeit vor 1770 nie existiert haben wird. „Denn wovon man frühzeitig als ein Kind sehr viel weiß, davon ist man sicher, später hin und im Alter nichts zu wissen, und der Mann der Gründlichkeit wird zuletzt höchstens der Sophist seines Jugendwahnes" (T II 926 A 8); eines Jugendwahns, welchen der Kant der Gründlichkeit allerdings verdrängt haben wird. Dieser Verdrängungsprozeß beginnt bereits mit der besagten Passage aus den Prolegomena - und vielleicht ist die äußerst eigenartige Formulierung „Die Erinnerung des D a v i d H u m e war eben dasjenige, was mir zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach" - gerade ein Zeichen für eben diese Verdrängung. Denn abgesehen von dem merkwürdigen Genitiv - „des David Hume", gemeint ist wohl: ,des Humeschen Gedankens'- ist auffallend, daß hier von der „Erinnerung" an eine Lektüre anstatt von dieser selbst die Rede ist. Warum hat Kant nicht einfach geschrieben: ,David Hume war eben derjenige, der mir den dogmatischen Schlummer unterbrach'? Offenbar doch wohl deshalb, weil zwischen „David Hume" (bzw. dessen Gedanken) und der „Erinnerung" an diesen noch eine Zwischenzeit gelegen haben muß; eine Latenzzeit, in der sich doch noch etwas Signifikantes ereignet haben mußte, welches erst rückwirkend Hume zu seiner Bedeutsamkeit verhalf. Alleine, was dies gewesen sein könnte, verrät uns Kant nicht. Oder sollte das Wort „die Erinnerung" gerade als Ersatz dafür stehen, daß er sich hieran nicht, oder nicht mehr so genau, erinnern konnte? Schließlich schrieb Kant nicht: ,Ich erinnere mich', sondern machte „die Erinnerung des David Hume" zum Subjekt seiner Veränderung. Ebenso sonderbar wie diese „Erinnerung" ist die Wortwahl der

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„Unterbrechung" des dogmatischen Schlummers. Denn wenn Hume diesen Schlummer nur unterbrochen, nicht aber gänzlich abgebrochen hatte, so muß Kant hiernach noch weitergeschlummert haben, was wiederum bedeutet, daß er später noch öfters - und zwar von anderen - geweckt werden mußte. Diese Annahme wird zusätzlich von der Aussage unterstützt, derzufolge Humes Erinnerung Kants Schlummer „ z u e r s t " unterbrochen habe. Also: Eine Erinnerung ... unterbrach ... zuerst ... einen Schlummer. Oder schlummerte, bei dieser Erinnerung, gerade Kants Gedächtnis? Denn es ist sehr gut möglich, daß sich Kant 1783 vage an einen Satz e r i n n e r t hat, den er tatsächlich in jenen Jahren der Veränderung (nämlich um 1764) geschrieben hatte, und welcher in dem besagten Hume-Satz eigenartig mitzuschwingen scheint-der Satz nämlich: „ R o u s s e a u h a t m i c h z u r e c h t g e b r a c h t " (zit. nach K. Reich 1936 6). Mag sein, daß in jener „Erinnerung" das Zurechtgebracht· Werden (durch Rousseau) von dem Geweckt-Werden (durch Hume) überschrieben wurde; jedenfalls hat Kants Rousseau-Lektüre in den 60er Jahren deutliche Spuren hinterlassen, während dies von Hume nicht gesagt werden kann. Nicht zuletzt erinnert der Metapherngebrauch des „dogmatischen Schlummers" auffallend an die Träume der Metaphysik von 1766, mit welcher Verschiebung - v o n d e n „ T r ä u m e n d e r M e t a p h y s i k " z u m „ d o g m a t i s c h e n S c h l u m m e r " - allerdings Swedenborg durch Hume ersetzt worden wäre. Letztendlich ist die gesamte Formulierung des Satzes - angefangen bei der Bekenntnisrhetorik: „Ich gestehe frei" - so schräg, daß ein jeder Polizeipsychologe sofort den Verdacht hegen würde, daß hier nicht etwas offenbart, sondern etwas verdeckt bzw. jemand gedeckt werden soll. Man stelle sich einmal vor, was Kant angerichtet hätte, wenn er anstelle der Humeschen Deckerinnerung sich richtig erinnert und also geschrieben hätte: ,Die Beschäftigung mit Swedenborg war eben dasjenige, was mir den dogmatischen Schlummer unterbrach'? Er wäre sicherlich für ebenso verrückt erklärt worden wie der Geisterseher. Oder umgekehrt: In jenen extrem obskurantistischen Zeiten hätte man diese Aussage gerade zum Anlaß genommen, um seine Vernunftkritik mystisch auszulegen. So oder so hätte sich Kant mit einer solchen Aussage in eine sehr unangenehme Bedrängnis begeben: Denn er hätte alsdann nicht nur darlegen müssen, was die Kritik der reinen Vernunft mit dem Wahnsinn zu tun haben soll, sondern er wäre zudem in die bei weitem schlimmere Erklärungsnot geraten, erläutern zu müssen, warum seine apriorische transzendentale Logik ausgerechnet auf eine empirische Psychologie zurückzuführen sein soll. Vor dieser Verlegenheit verschob sich Kants „Erinnerung". Denn der Sinn und Zweck der Prolegomena sowie der Fortschrittsabhandlung bestand eben nicht darin, die ohnehin nur schwer zugängliche Kritik noch zusätzlich zu problematisieren, sondern darin, eine populärwissenschaftliche Vereinfachung zu finden, um ihr eine größere Akzeptanz zu verleihen. Dem ersten Anschein nach hat Kant dies mit der Hume-Erzählung auch erreicht. Das Problem ist nur, daß diese Hume-Erzählung bzw., um es hier

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altgriechisch auszudrücken, d e r H u m e - M y t h o s eine Plazebo-Erklärung darstellt: Er stellt das Herkunftsproblem der Kritik als gelöst dar, obgleich er, wie wir gesehen haben, nichts als heiße Luft ist. Ja man ist fast geneigt zu sagen: Gerade weil an der Geschichte so ganz und gar nichts dran ist, konnte sie auch nirgends auf Widerspruch stoßen; und gerade weil sie so widerspruchslos dastehen konnte, hat sie sich auch dermaßen unhinterfragt halten können. Nun ist diese Geschichte so oft abgeschrieben, nacherzählt oder - wie zumeist - aus dritter Hand referiert worden, daß sich im Laufe der Jahre aus der Erzählung eine Erzählung von der Erzählung und aus dieser eine Erzählung von der Erzählung der Erzählung, schließlich ein Mythos als unantastbares Gerücht gebildet hat - ein Mythos, der schließlich „selbst bei Vernünftigen Eingang" gefunden hat, „bloß darum, weil allgemein davon gesprochen wird" (Τ II 969 A 90). Wer also diese Erzählung in ihrer Version n+1 nochmals nachlesen möchte, vergleiche: Kant is the Bridge Between Rationalism and Empirism (M. Muthuraman 1974). Für die Erforschung der kritischen Wende aber hatte der Hume-Mythos verheerende Auswirkungen: Er hat bewirkt, daß die Herkunft der Kritik (weil angeblich geklärt) entweder gar nicht erst weiter untersucht wurde oder aber, wenn doch, in eine völlig falsche Richtung - nämlich in die der Selbstbestätigung des Mythos - geforscht wurde. So haben ganze Generationen von Forschern ihre Zeit damit verschwendet, nach einer (nicht existenten) empiristischen Phase Kants zu suchen, ohne sich hierbei auch nur die Frage zu stellen, wie diese empiristische Phase zu Kants P h i l o s o p h i e d e s A p r i o r i gefuhrt haben soll.

b) Die Spezialisierungsfalle, die Zurückrechnung und die Anwendung Ein weiterer Grund, weshalb das Rätsel der kritischen Wende bis zum heutigen Tag nicht gelöst werden konnte, liegt in einigen methodischen Problemen der diesbezüglichen Kant-Forschung, wobei die Spezialisierung eindeutig das größte Hindernis darstellt. Denn in kaum einer anderen Zeit ist Kant so zwischen den Disziplinen hin- und hergependelt wie in diesen 60er Jahren. Wenn sich aber die einen Forscher auf die Logik, die anderen auf die Psychologie und wieder andere auf den Raumbegriff jener Zeit spezialisiert haben, so wird ein jeder seinen Teil, keiner aber das Ganze, d. h. eben die kritische Wende verstehen können. Die Falle der Spezialisierung greift desto mehr, als die von Kant in jenen Jahren verwendete M e t h o d e d e r A n w e n d u n g bisher nicht erkannt wurde und man aus diesem Grund auch den roten Faden, der sich durch die kritische Wende zieht und diese ausmacht, nicht finden konnte. Insofern aber diese Methode der Anwendung den Dreh- und Angelpunkt der kritischen Wende darstellt, ist ohne ihre Kenntnis gar nichts zu verstehen.

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Ein sachliches Problem stellt bereits die Vielfalt von Kants Interessen und Thematiken während der 60er Jahre dar. Es war eine Zeit, in der er sich neu zu orientieren versuchte, indem er sich in den neuen Wissenschaften der Aufklärung kundig machte und das neue Wissen umgehend in seinen eigenen Schriften verarbeitete. Dies führte zu einem Sammelsurium von anscheinend zusammenhangslosen Betätigungsfeldern, die hier kurz dargestellt seien. (Dabei ist mit einem jeden einzeln aufgelisteten Thema jeweils eine Schrift gemeint.) 1762 befaßte sich Kant mit logischen Fehlschlüssen; 1763 mit Gottesbeweisen, mit Moralphilosophie, mit dem Realitätsbegriff; 1764 mit dem Sublimen, mit der Psychiatrie, mit Metaphysik; 1765 mit Logik und Ethik, mit der rationalen Psychologie; 1766 mit der Psychologie der Geisterseherei; 1768 mit der Rationalität des Raumbegriffs und 1770 mit den logischen Fehlschlüssen der Leibnizschen Metaphysik. Dieses Sammelsurium von Problematiken, Thematiken und Disziplinen hat dazu geführt, daß man die diesbezüglichen Schriften für flüchtige Gelegenheitsarbeiten gehalten und dabei völlig übersehen hat, daß Kant durch die wechselnden Themen hindurch kontinuierlich an ganz bestimmten Problemen gearbeitet hat. Der Dreh der kritischen Wende ist jedoch nur nachzuvollziehen, wenn man die Zusammenhänge zwischen all diesen Themen begreift und insbesondere den roten Faden, der sich durch sie hindurchzieht, erkennt. So müßte beispielsweise geklärt werden, was der Raumbegriff mit der Psychologie, was die Psychologie mit dem Realitätsbegriff, was dieser mit Moralphilosophie und was jene mit Gottesbeweisen zu tun haben könnte. Gerade solche Untersuchungen sind jedoch bislang aufgrund der Fachidiotie gar nicht erst zustande gekommen. Ein weiteres Forschungsproblem ist ebenfalls auf die Spezialisierungsfalle zurückzuführen. So wurden zwar die Schriften ab 1766 in jedem einzelnen Fall mit der Kritik der reinen Vernunft verglichen, doch hat man versäumt, diese Schriften untereinander, insbesondere in ihrem chronologischen Verlauf, zu vergleichen. Der Schlüssel zur kritischen Wende liegt aber nicht darin, wie die Träume eines Geistersehers (1766) zur Kritik stehen (vgl. u. a. K. Fischer 3 1882) oder wie die Gegenden im Räume (1768) zur Kritik stehen (vgl. u. a. K. Reich 1969) oder wie die Inaugural-Dissertation (1770) zur Kritik steht (vgl. u. a. W. Patt 1987), sondern der Schlüssel liegt darin, wie Kant von der einen Schrift zur nächsten gelangte. Genau diesem Ablauf ist jedoch die Forschung bislang nicht systematisch nachgegangen. Erst gar nicht in Betracht gezogen wurden in der Regel jene Schriften, die den Träumen unmittelbar vorausgingen und zu ihnen geführt haben. Die Träume eines Geistersehers (1766) basieren jedoch auf dem Versuch über die Krankheiten des Kopfes (1764) und sind ohne eine Kenntnis der dort vorgetragenen Nosographie nicht zu begreifen. Das nächste Problem liegt in der M e t h o d e der Z u r ü c k r e c h n u n g . Nach dieser Methode wird die Kritik der reinen Vernunft mit einem Text der

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60er Jahre derart verglichen, daß man beispielsweise - wie bereits Kuno Fischer ( 3 1882) - sagt: So wie in der Kritik (1781) von den G r e n z e n d e r V e r n u n f t die Rede ist, so hat Kant bereits in den Träumen eines Geistersehers (1766) „die Metaphysik" als „eine Wissenschaft von den G r e n z e n d e r m e n s c h l i c h e n V e r n u n f t " definiert (Τ II 983 A115). Von Kuno Fischer bis Josef Schmucker (vgl. u. a. 1981) haben sich fast alle Forscher der kritischen Wende dieser Methode der Zurückrechnung bedient, und dies aus gutem Grund. Sie gestattet es nämlich, eine Art Inventarliste darüber zu erstellen, wann und wo welche kritischen Begriffe in Kants Werk erstmals aufgetreten sind; ein Zeit- und Textverzeichnis der kritischen Begriffe, mit welchem allerdings viel gewonnen ist. Das Problem ist nur, daß der Weg, der sich aus diesen Zurückrechnungen ergibt, gerade mit dem Weg nicht übereinstimmt, den Kant mit der kritischen Wende tatsächlich gegangen ist. Dies mag zunächst seltsam erscheinen, denn warum sollte der Weg, der sich zeitlich zurückrechnen läßt, nicht mit dem Weg übereinstimmen, den Kant in umgekehrter Richtung gegangen ist? Der Grund hierfür liegt wiederum in der bereits erwähnten, von Kant verwendeten M e t h o d e d e r A n w e n d u n g . Denn da Kant mit dieser Methode ein Problem aus einer Disziplin A in einer ganz anderen Disziplin Β zu lösen versucht, so wird man zwar mit der Zurückrechnung zum Lösungsversuch B, nicht aber zu dem dahinter stehenden Problem A gelangen. Aus eben diesem Grund enden auch die Zurückrechnungen regelmäßig in Sackgassen. Hiermit soll nun nicht gesagt sein, daß die Methode der Zurückrechnung unsinnig wäre; als Organon für die Begriffsorientierung ist sie unvermeidlich - nur liegt man falsch in der Annahme, mit ihr alleine die kritische Wende erklären zu können.

c) Die logische und die psychologische Kant-Rezeption, eine Chronik der wechselseitigen Ignoranz Das größte Problem bei der Erforschung der kritischen Wende ist indes auf den Umstand zurückzuführen, daß die Lösung zwischen zwei Disziplinen, nämlich Psychologie und Logik, anzusiedeln ist. Seit der Moderne scheinen jedoch Logiker und Psychologen so unterschiedlichen Forschertypen anzugehören, daß sie nicht an einen Tisch zu bringen sind. Dieser Umstand ist historisch bedingt und daher erklärungsbedürftig. Zu allen Zeiten und in allen Kulturen sind die Menschen von einer Existenz der Seele ausgegangen; die Aufklärung hingegen stellt weltgeschichtlich die erste und einzige Episteme dar, die die Existenz der Seele prinzipiell in Frage stellt. Da das Wissen über die Seele nunmehr nicht mehr an die Philosophie oder Theologie, sondern an das medizinische Wissen gebunden ist, kommt diesem auch die Definitionsgewalt über die Seele zu. Wie die Episteme der Aufklärung insgesamt, so ist auch die Medizin des 18. Jahrhunderts

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w i s s e n s c h a f t l i c h , das heißt hier: sensualistisch, empiristisch und materialistisch und ganz konkret physiologisch, neurologisch und assoziationspsychologisch geprägt. Sie geht daher von der Annahme aus, daß alle körperlichen Funktionen von Organen geleitet werden. Da sich aber ein Organ der Seele nicht finden läßt, so folgt, daß es eine Seele nicht gibt. Folglich ist auch die diesbezügliche Wissenschaft, die Seelenlehre, nichts als abergläubiger Hokuspokus. Diese Meinung, derzufolge es sich bei der Psychologie nicht um Wissenschaft handelt, setzt sich mit der Aufklärung durch und hält sich das ganze 19. Jahrhundert hindurch; selbst Sigmund Freud hat noch die größte Mühe, die Psychologie als anzuerkennende Wissenschaft durchzusetzen. Die Logik hingegen geht genau den umgekehrten Weg. Seit dem Zeitalter der Aufklärung begreift sie sich mehr und mehr als Wissenschaft, formalisiert sich zusehends und artikuliert sich mit anderen Wissenschaften: im 19. Jahrhundert zunächst mit der Linguistik, im 20. mit der sprachanalytischen Philosophie. Wenn also die moderne Logik irgend etwas behauptet, so gerade exakte Wissenschaft; Logik, das ist modern gesprochen: die Philosophie als positive Wissenschaft. Seit der Antike (von den Vorsokratikern über Piaton und Aristoteles) bis hin zur Neuzeit (von Descartes bis Leibniz) war die Rede von d e a n i m a eine philosophische Selbstverständlichkeit. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ändert sich dies von Grund auf: P s y c h e wird nun auch aus dem philosophischen Diskurs verbannt, und zwar gerade darum, weil sich die Philosophie zusehends an der Wissenschaft orientiert. Diese moderne Verdrängung der Psychologie fällt just in Kants Zeit und Lebenswerk, insofern er in den 60er Jahren noch eine eigene Seelenlehre ausgearbeitet hat, späterhin der Psychologie jedoch die Wissenschaftlichkeit abspricht. Aus der hier skizzierten Epistemologie wird vielleicht der Streit verständlich, der sich durch das ganze 19. Jahrhundert zieht: der Streit zwischen Logikern und Psychologen um die Interpretation der Kantischen Kritik. Maßgeblich hierbei ist, daß sich dieser Streit nicht auf Kants eigentliche Psychologie der 60er Jahre - welche seinerzeit noch größtenteils unbekannt war - bezieht, sondern darauf, ob Kants Kritik der reinen Vernunft - darin insbesondere der psychologische Paralogismus und die reine Seelenlehre - psychologisch zu verstehen ist oder nicht. ,Ja', meinten die Psychologen, ,nein', sagten die neukantianischen Logiker. Zunächst noch stand die psychologische Interpretation im Vordergrund - so bei: Jacob Friedrich Fries (1807), Arthur Schopenhauer (1818 u. 1851), Jürgen Bona Meyer (1870), Leo Smolle (1876), Hermann von Helmholtz (1879) und J. Reinhold (1911). Mit Schopenhauer (1851 106) läßt sich die psychologische Deutung wie folgt auf den Punkt bringen: „Wie unser Auge es ist, welches Grün, Rot und Blau hervorbringt, so ist es unser Gehirn, welches Zeit, Raum und Kausalität (deren objektives Abstraktum die Materie ist) hervorbringt". ,Falsch', sagen hiergegen die positivistischen Neukantianer, allen voran Hermann Cohen (1871) sowie Alois Riehl, welcher (1908 15) folgendes erwidert: „Man war gewohnt, die Kritik der reinen Vernunft um des

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Namens willen und unter Verkennung der ihr eigentümlichen Methode als Kritik eines menschlichen Erkenntnisvermögens zu betrachten und faßte sie daher psychologisch oder anthropologisch auf. In Wahrheit ist sie gleich ihrem Vorbilde, der Logik, eine objektive Wissenschaft: reine Vernunft bedeutet in ihr Erkenntnis aus bloßer Vernunft, und der Maßstab, nach welchem sie diese Erkenntnis prüft, ist der Begriff der Erfahrung". Daß die Neukantianer mit dieser Position weder den psychologischen Interpreten (die j a gerade von einer Objektivität des Subjektiven ausgingen) noch Kant selbst (der sein ganzes Werk gegen den Empirismus und Positivismus geschrieben hat) in irgendeiner Weise gerecht werden und Cohens und Riehls Position insgesamt auf einer völligen Fehlinterpretation von Kants K r i t i k beruht, ändert nichts an der Tatsache, daß sie sich durchgesetzt und alle die Psychologie betreffenden Recherchen aus der Kant-Forschung verbannt haben. An diesem Sachverhalt haben leider auch die diesbezüglichen Versöhnungsversuche, wie ζ. B. der von Constanze Friedmann (1921), nichts ändern können. Wie so oft kehrt aber das Verdrängte über Umwege wieder zurück. So läßt sich feststellen, daß Kant im 20. Jahrhundert wie kein anderer Philosoph von Psychologen, Psychiatern und Psychoanalytikern rezipiert wurde. So ζ. B. von Sigmund Freud selbst, Jacques Lacan (u. a. 1966), Karl Jaspers sowie in neuerer Zeit auch Monique David-Ménard (1987), Jens Heinse (1989), Peter Widmer und Hans-Dieter Gondek (1994) sowie Slavoj Zizek (1998). Diese Rezeption hat ihren guten Grund, denn gerade die Genannten können am besten beurteilen, daß Kant für Psychologen tatsächlich von großem Interesse ist. Allerdings wissen die wenigsten von ihnen, daß Kant auch eine eigene Psychologie verfaßt hat; in den meisten Fällen wird auf die Kritik und die Anthropologie rekurriert. Ein ganz anderer Forschungszweig hat Kants Psychologie und Psychiatrie der 60er Jahre gewissermaßen wieder ausgegraben und auch interpretiert. Hierzu gehören: T. Mamiani (1878), Benno Erdmann (1883), leider auch Carl du Prel (1889), Arthur Apitzsch (1897), Richard Hönigswald (1913), Luise Cramer (1914), E. L. Ehrlich (1957), Karl Peter Kisker (1957), Wanda von Baeyer-Katte (1966), Vladimir Satura (1971), Oscar Meo (1982) sowie wiederum Monique David-Ménard (1990a und 1990b). Die Autoren und Autorinnen sind jedoch mit der Herausarbeitung der Kantischen Psychologie genügend beschäftigt, so daß sie in den seltensten Fällen dazu kommen, diese auf die Kritik zu beziehen. Läßt sich nach dieser Rezeptionsgeschichte kaum behaupten, daß Kants Psychologie ein unbeschriebenes Blatt wäre, worin liegt dann das Problem? Es besteht darin, daß die Literatur zu Kants Psychologie und die zu seiner kritischen Wende sich wechselseitig ignorieren. Weder haben die Psychologen eine Kenntnis der kritischen Wende, noch ist den Spezialisten der kritischen Wende die hier genannte Literatur bekannt. Daß man aber von den Psychologen kaum wird erwarten dürfen, daß sie das Problem der kritischen Wende lösen, versteht sich von selbst. Umgekehrt ist allerdings nur schwer nachzu-

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vollziehen, weshalb sich die Kant-Forschung der kritischen Wende nicht schon längst der Untersuchung von Kants Psychologie sowie der diesbezüglichen Literatur zugewandt hat: Immerhin ist kaum zu übersehen, daß die Psychologie den Kern von Kants theoretischen Anstrengungen der 60er Jahre darstellt. Daß die Bedeutung, die der Kantischen Psychologie in den 60er Jahren zukommt, trotzdem übersehen werden konnte, ist teilweise auch darauf zurückzuführen, daß die diesbezüglichen textgeschichtlichen und philologischen Vorarbeiten in vielen Fällen entweder gar nicht erbracht oder nicht aufgenommen wurden. So wird etwa ein Drittel der Schriften - und darunter mit die wichtigsten - , die der kritischen Wende zuzuordnen sind, gar nicht in diesem Zusammenhang gesehen. In einigen Fällen (wie ζ. B. bei der Vorlesung über rationale Psychologie 1765 sowie bei den entsprechenden Textpassagen der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht) liegt dies daran, daß die Schriften oder Textstellen falsch datiert, also nicht in ihren richtigen Kontext gestellt und folglich ignoriert wurden. In einigen anderen Fällen (etwa im Versuch über die Krankheiten des Kopfes) rührt dies daher, daß der Anlaß der Schrift falsch angegeben wurde, was ebenfalls dazu führte, daß sie bei der Untersuchung der kritischen Wende nicht mitberücksichtigt wurde. In allen anderen Fällen (wie ζ. B. bei den psychologischen Textpassagen in der Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze sowie in den Negativen Größen) beruht die Nichtberücksichtigung einfach auf Unkenntnis. Wie aber sollte die kritische Wende erfolgreich erforscht werden, wenn bis zum heutigen Tag nicht einmal der Text derselben einwandfrei erstellt worden ist?

3. Textualisierung und Periodisierung der kritischen Wende

E i n e n T e x t zu e r s t e l l e n bedeutet in der Hermeneutik, all jene Schriften, Parallelstellen und Parallelschriften ausfindig zu machen, die zu einem gewissen Themenkomplex gehören. Unabhängig von den Schriften und gewissermaßen quer durch diese besteht also der Text, zu deutsch das Gewebe, in einem Geflecht von Schriftteilen, die zusammengenommen eine in sich geschlossene Thematik ergeben. Den Text von Kants Psychologie der 60er Jahre zu erstellen, bedeutet beispielsweise: einsehen, daß zu den Träumen (1766) noch zwei andere Hauptschriften gehören, die Vorlesung über rationale Psychologie (1765 - welche von der Forschung allerdings bislang in die 70er oder 90er Jahre datiert wurde) sowie die Krankheiten des Kopfes (1764 welche bisher nicht in diesem Zusammenhang gesehen wurden); ferner, daß zu den Krankheiten (1764) Parallelstellen in der Anthropologie existieren (1798 - doch die besagten Stellen stammen aus den Jahren 1764/65), daß sich Kant bereits in Teilen der Schriften von 1763 mit der empirischen Psychologie befaßt u. s. w. u. s. f. Hieran sieht man deutlich, daß allein die philologischen Vorarbeiten darüber entscheiden, was zu einem Text zu zählen ist, und was nicht. Man sieht auch, wie ausschlaggebend diese Vorarbeiten für die Textanalyse sind: Betrachtet man die Träume isoliert und ohne Kenntnis der Vorlesung, der Krankheiten, der Parallelstellen in der Anthropologie etc., so wird man sicherlich zu anderen Ergebnissen gelangen, als wenn man den gesamten Text vorliegen hat. Hieraus erhellt auch, warum die Texterstellung die erste und bedeutendste Vorarbeit ist, die in einem Fall wie diesem ansteht. Nur, wie so oft bei wissenschaftlichen Abläufen, ist das, was zuerst gemacht werden müßte, gerade das, was erst ganz zum Schluß geleistet werden kann: Setzt doch die E r s t e l l u n g d e s T e x t e s eine sachliche Kenntnis der Schriften in diesem Fall eben nicht nur jener der 60er Jahre, sondern praktisch des ganzen Werkes - voraus. Auf der nachfolgenden Seite wird zunächst der Text der e i g e n t l i c h e n k r i t i s c h e n W e n d e zwischen 1759 und 1770 vorgestellt und sodann die mit dieser Textualisierung vorgenommene Periodisierung erläutert. Wenn man ein Werk in Epochen und die Epochen wiederum in Phasen unterteilt, so beruht eine solche Periodisierung freilich auf einer gewissen Werkkenntnis sowie auf Einordnungskriterien, die sich aus dem Werkverständnis

3. TEXTUALISIERUNG UND PERIODISIERUNG DER KRITISCHEN WENDE

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Textualisierung der eigentlichen kritischen Wende 1759 bis 1770

1. Phase Der Zusammenbruch von Kants Rationalismus 1759

Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus von M. Immanuel Kant, wodurch er zugleich seine Vorlesungen auf das bevorstehende Jahr ankündigt. Den 7. Oktober 1759

1762

Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren

1763

Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Gottes

1763

Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral (Preisschrift, publiziert 1764)

1763

Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen

2. Phase Die psychologische Irrationalitätskritik 1763

Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral (Preisschrift, publiziert 1764)

1763

Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen

1763

Brief an Fräulein Charlotte von Knobloch (10. August 1763)

1764

Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen

1764

Notiz über den Abenteurer Jan Pawlikowicz Komarnicki

1764

Versuch über die Krankheiten des Kopfes

um 1764

Parallelstellen zu den Krankheiten, ursprünglich um 1764 ,Von den Vorstellungen die wir haben, ohne uns ihrer bewußt zu sein' ,Von den Gemütskrankheiten', beides in: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 5 sowie §§ 47-51

1762 - Vorlesung über Metaphysik (Herder Mitschrift, im Opus postumum) 1764 1765

Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765-1766

1765

Vorlesung über rationale Psychologie (im Opus postumum)

1766

Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik

3. Phase Die Anwendung der Psychologie auf die Logik 1768

Von dem ersten Grunde des Unterschieds der Gegenden im Räume

1769

„Das Jahr 69 gab mir großes Licht" (Reflexion 5037)

1770

Inaugural-Dissertation: De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (Von der Form der Sinnen- und Verstandeswelt und ihren Gründen)

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ERSTER TEIL: DIE KRITISCHE WENDE

ergeben. Eine eigenständige E p o c h e d e r k r i t i s c h e W e n d e beispielsweise ist nur dann anzunehmen, wenn es sich bei Kants Umänderung der Denkungsart nicht um ein singuläres Ereignis, sondern um mehrere sich über einen Zeitraum hinziehende Ereignisse handelt. Anderenfalls könnte man tatsächlich Kants Werk in eine vorkritische und eine kritische Zeit teilen, die kritische Wende als Epoche ganz weglassen und Kants kritische Zeit mit der ersten kritischen Äußerung beginnen lassen. Geht man aber von einer Epoche der kritische Wende aus, so kann man diese nicht mit den ersten kritischen Äußerungen anfangen lassen, sondern muß noch weiter, bis zum Ende der vorhergehenden rationalistischen Epoche, zurückgehen. Da somit die Periodisierung je nach Einordnungskriterien gänzlich unterschiedlich ausfallen kann, soll kurz dargelegt werden, warum hier so und nicht anders geteilt wurde. Ist in dieser Sache so ziemlich alles fraglich und diskutierbar, so steht doch zumindest das Ende der kritischen Wende eindeutig fest; denn mit der Veröffentlichung der Kritik der reinen Vernunft (1781) ist Kants Wende hin zur Kritik abgeschlossen. Da sich allerdings die Kant-Forschung auch darüber einig ist, daß die Inaugural-Dissertation (1770) den ersten ausgearbeiteten kritischen Entwurf darstellt, ergibt sich daraus die hier vorgeschlagene Teilung in d i e e i g e n t l i c h e k r i t i s c h e W e n d e (bis 1770) und d i e A u s a r b e i t u n g d e r k r i t i s c h e n W e n d e (1770 bis 1781). Die letztere, welche die kritischen Entwürfe in den Briefen an Markus Herz enthält, ist ziemlich gut erforscht und nicht Gegenstand vorliegender Untersuchung, welche sich alleine auf den Zeitraum von 1759 bis 1770 bezieht. Bei weitem schwieriger als die Festsetzung des Endes ist die Frage nach dem Beginn der kritischen Wende. Setzt man hierfür das Ende von Kants rationalistischer Epoche an, so hat man damit auch noch keine Lösung; stellt sich doch auch hier die Frage: Wann beginnt und wann endet dieses Ende? Denn bereits in seinem Optimismusversuch von 1759 reagiert Kant auf die Angriffe der Aufklärung gegen die Metaphysik, um dann in seinen Syllogistischen Figuren (1762) den ersten eigenen Angriff auf die klassische Metaphysik zu wagen. Ab diesem Zeitpunkt werden seine Ausfälle und Tiraden gegen die formale Logik, gegen die Leibnizsche Metaphysik und selbst gegen die Philosophie von Jahr zu Jahr heftiger und affektgeladener. So qualifiziert Kant in seinen Träumen (1766) beispielsweise Leibniz' Philosophie als „ein Märchen aus dem S c h l a r a f f e n l a n d der Metaphysik" ab (T II 968 A 89) und in der Inaugural-Dissertation (1770) als „philosophia pigrorum" (faule Philosophie oder Philosophie der Faulen - ID V 69, im Text: A2 23). Zieht man also Kants Dekonstruktion von Metaphysik und Logik während der 60er Jahre in Betracht, so könnte man das Ende seines Rationalismus auch 1759 beginnen und 1770 enden lassen, denn im Prinzip dekonstruiert Kant die alte Dogmatik noch während der ganzen Zeit der Neukonstruktionen - und darüber hinaus sein ganzes Leben lang. Setzen wir den Beginn des Endes seiner rationalistischen Epoche 1759 an, so heißt dies nicht, daß diese Phase damit abgeschlossen wäre. Denn ausschlaggebend für die Feststellung des definitiven Endes seiner rationalisti-

3 . TEXTUALISIERUNG UND PERIODISIERUNG DER KRITISCHEN WENDE

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sehen Zeit ist nicht, ab wann oder wie lange Kant den Rationalismus dekonstruiert; entscheidend ist vielmehr, ab wann sich seine eigene Position grundlegend ändert, und dies geschieht eindeutig mit dem Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (1763). Erst nach dieser Schrift kann die rationalistische Zeit insgesamt als abgeschlossen gelten. Wenngleich auch Kant noch im Jahr darauf - wie zum Trotz offenbar - sowohl in seinen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen als auch in seinen Krankheiten des Kopfes zumindest formal zum Teil noch rationalistische Positionen vertritt, so ist doch nach den Negativen Größen nichts mehr so, wie es einmal war. Unwiderruflich stellt das Jahr 1763 eine Zäsur dar; ein Datum, nach dem Kants Vertrauen in die Logik sowie in die Leibnizsche Metaphysik zerbrochen ist. Mag er nun auch hiernach die klassische Dogmatik noch weiter dekonstruieren - und dieser Dekonstruktion später mit der Dialektik sogar einen festen Platz in seiner kritischen Philosophie einräumen - , so sind es doch gerade die Negativen Größen gewesen, die diesem Prozeß der Dekonstruktion - ohne welchen kein Neubeginn möglich gewesen wäre - einen Ort gegeben haben. Die zweite und die dritte Phase der e i g e n t l i c h e n k r i t i s c h e n Wende sind zeitlich sehr genau umrissen. Mit der empirischen Psychologie befaßte sich Kant nicht vor 1763 und nie mehr nach 1766. In den Jahren 1763 bis 1766 nahm die Psychologie allerdings den ersten Platz unter Kants wissenschaftlichen Interessen ein; an zweiter Stelle stand die Moralphilosophie und an dritter die Ethik. Ebenso fest umrissen ist die Anwendung der Psychologie auf die Logik, welche in den Jahren 1768 und 1770 sowie alsdann nochmals mit der Kritik der reinen Vernunft 1781 erfolgt. Hieraus ergibt sich das Schema zur T e x t u a l i s i e r u n g u n d P e r i o d i s i e r u n g der kritischen Wende zwischen 1759 und 1781 auf der nachfolgenden Seite. Auf eine Eigentümlichkeit bezüglich des Ablaufs dieser Phasen sollte noch hingewiesen werden. Eine jede dieser Phasen hat nämlich ihre H a u p t s c h r i f t ; eine Schrift, in welcher die jeweilige Phase ihren Höhepunkt findet und mit der sie abschließt. Der Zusammenbruch von Kants rationalistischer Epoche fuhrt zu den Negativen Größen (1763) und schließt mit diesen die erste Phase ab. Kants Psychologie mündet in seine Träume (1766) und schließt mit diesen wiederum die psychologische Phase ab. Das gleiche ließe sich auch noch für die Inaugural-Dissertation (1770) sagen, wäre da nicht die Kritik der reinen Vernunft (1781), welche gewissermaßen einen zweiten Anlauf der Dissertation darstellt. Die drei genannten Schriften (1763, 1766 u. 1770) stellen somit die Meilensteine der eigentlichen kritischen Wende dar: Hat man erklärt, wie Kant erstens von seiner rationalistischen Epoche zu den Negativen Größen, wie er zweitens von diesen zu seinen Träumen eines Geistersehers und wie er drittens von jenen zu der Inaugural-Dissertation gelangte, so hat man die kritische Wende erklärt.

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ERSTER TEIL: D I E KRITISCHE W E N D E

Textualisierung und Periodisierung der kritischen Wende 1759-1781 1. Phase 1759-1763

2. Phase 1763-1766

3. Phase 1768-1770, 1781

Zusammenbruch d. Rationalismus

Kants Psychologie

Anwendung der Psychologie auf Logik KrV 1781

/ Hauptschriften

NG 1763

Schwellenschriften

Anthr. 64/65?

VM 62-64

Br. Knobl. 1763

dekonstruktiv

dekonstrukiv u. konstruktiv

dekonstruktiv u. konstruktiv

Logik

Psychologie

Logik (Psy.)

3. TEXTUALISIERUNG UND PERIODISIERUNG DER KRITISCHEN WENDE

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Ferner sei erwähnt, daß zwischen diesen drei Phasen und ihren Hauptschriften jeweils S c h w e l l e n s c h r i f t e n stehen, welche in der Tat auch die Scharniere zwischen den Phasen darstellen. So stehen zwischen der rationalistischen Epoche und den Negativen Größen die Spitzfindigkeiten (1762), zwischen den Negativen Größen und den Träumen die Krankheiten des Kopfes (1764) und zwischen den Träumen und der Inaugural-Dissertation die Schrift Von dem ersten Grunde des Unterschieds der Gegenden im Räume (1768). Hat man die Bewegung zwischen den Hauptschriften und den Schwellenschriften verstanden, so ist wiederum der Dreh der kritischen Wende geklärt. Schließlich sei noch angemerkt, daß sich Kant in der ersten und in der dritten Phase mit den Fehlschlüssen in logischen Urteilen, und in der zweiten mit der Psychologie befaßt. Daher kann bereits hier auf die allgemeine Bewegung der kritischen Wende aufmerksam gemacht werden. Zwischen 1759 und 1763 hat Kant ein Problem mit den Fehlschlüssen in logischen Urteilen. Da ihm die Logik bei diesem Problem nicht weiterhilft, verläßt er 1764 die Philosophie und wendet sich der Psychologie zu. Da aber auch die Psychologie in einer Sackgasse endet, kehrt Kant ab 1768 wieder zur Philosophie und Logik zurück. Dabei wendet er das, was er zwischenzeitlich von der Psychologie gelernt hat, nunmehr auf die Logik an. So haben wir hier eine typische A-B-A(B)-Genese: Logik, Psychologie, Logik. Bemerkenswert hierbei ist auch die Bewegung von Dekonstruktion und Neukonstruktion: A) Dekonstruktion der Logik durch die Logik bzw. durch die neue Erkenntnistheorie, B) Dekonstruktion der Logik mit der Psychologie und vice versa sowie erste Neukonstruktionen, AB) Neukonstruktion der Logik unter Berücksichtigung der psychologischen Erkenntnisse.

4. Der Zusammenbruch von Kants Rationalismus

Wenn man Kants 39. Lebensjahr einen Obertitel geben sollte, so müßte man sagen: Das Jahr 1763 war das der großen Enttäuschungen: im Privaten eine Unmöglichkeit, im Beruf eine Erfolglosigkeit und in der Philosophie ein Desaster. Wie so oft kommt ein Unglück selten alleine; im Jahre 1763 kamen bei Kant offenbar alle zusammen. Man kennt den berühmten Ausspruch, den der 75jährige Kant in Gegenwart eines Durchreisenden scherzhaft geäußert haben soll: „Da ich eine Frau brauchte, könnt' ich keine ernähren; und da ich eine ernähren konnte, könnt' ich keine mehr brauchen" (zit. nach K. Vorländer 1924 I 194). 1763 hätte Kant eine Frau gebraucht, konnte jedoch keine ernähren - und eben diese Erkenntnis muß für den 39jährigen von äußerster Bitterkeit gewesen sein. Sollten (in den Jahren 1763 bis 66) all jene Anspielungen und Tiraden des Magisters auf den „Wahnsinn" der „verliebten Leidenschaft" (KdK II 897f A 28), auf die „Tollheit der Liebe" (vgl. Anthr. XII 533 BA 149) sowie auf jenen Wahn einer „mittelbaren Beherrschungskunst [...] des weiblichen Geschlechts durch Liebe" (Anthr. XII 610 BA 238) auf einen Realgrund des Wirklichen zurückzuführen sein, so muß Kant kurz zuvor tatsächlich eine nicht ganz unbedeutende Liebesaffäre genossen haben - wahrscheinlich im Sommer 1763, wahrscheinlich mit der seinerzeit 22jährigen Charlotte von Knobloch, wahrscheinlich die einzige Liebesgeschichte in seinem Leben. Bereits wenige Monate später muß jedoch die Liaison schon wieder aufgekündigt worden sein, da Kant noch im gleichen Jahr über die Verschmähung reflektiert, daß „in einem solchen Fall [...] n i c h t zu l i e b e n und zu h a s s e n nur eine Verschiedenheit in Graden" sei (NG II 796 A 29) - Fräulein von Knobloch heiratete im Sommer 1764 den Hauptmann Friedrich von Klingsporn. Nun einmal ganz abgesehen von dem - offenbar heftigen - Liebeskummer beruhte Kants Verdruß nicht so sehr darauf, daß er sich als Bürger in eine Adelige verliebt hatte - „Die Verliebung in eine Person von Stande, der die Ehe zuzumuten die größte Narrheit ist, war nicht die Ursache, sondern die Wirkung der Tollheit [...]" (Anthr. XII 533 BA 149) - ; seine Verbitterung bezog sich vielmehr auf den Umstand, daß er das Fräulein nicht ernähren konnte. Kant mußte sich daher in jenen Jahren vor eine existentielle Entscheidung gestellt gesehen haben: entweder das Fräulein und ein entsprechender bürger-

4 . DER ZUSAMMENBRUCH VON KANTS RATIONALISMUS

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licher Lohnerwerb, oder aber die Philosophie. Er entschied sich - wie freiwillig sei dahingestellt - für die Metaphysik, in die er „das Schicksal" hatte, „verliebt zu sein", obgleich er sich „nur selten einiger Gunstbezeugungen" von ihrer Seite rühmen konnte (Τ II 982 A 115). Freilich sei diese Geschichte hier nicht erwähnt, um Kant zum tragischen Frauenhelden zu stilisieren, sondern um seine Affektlage im Jahre 1763 fortfolgend zu schildern. In der Tat lagen Kants Nerven blank. Seine Empfindlichkeit hatte einen Grad von filigraner Gereiztheit erreicht, die nicht selten in offene Aggressivität umschlug. Da aber „das Denken zugleich affektvoll ist" (Τ II 932 A 22f Fn.) und sich Abhandlungen mitunter auch mit den Nerven schreiben, schlug diese Angespanntheit dementsprechend zu Buche. Kants Selbstanalyse zufolge mußte sein privates Debakel auf seine berufliche Situation - genauer: Stagnation - zurückzufuhren sein. Im Alter von 22 Jahren hatte er 1746 sein Studium abgeschlossen, 1755 promoviert und noch im gleichen Jahr habilitiert. Seither war er Privatdozent an der Königsberger Universität und verdiente sein Geld aus den Eintrittsgeldern seiner Vorlesungen, wobei er zwischen 16 und 28 Stunden wöchentlich lehrte (vgl. K. Vorländer 1924 I 84). Darüber hinaus hatte er seit seinem Studienabschluß insgesamt 13 Schriften publiziert, und gerade das Jahr 1763 hatte nochmals einen immensen Kraftakt bedeutet: Immerhin hatte er in diesem Jahr gleich drei gewichtige Schriften vorgelegt. Doch der philosophische Durchbruch blieb aus. Die noch 1763 eingereichte (doch erst 1764 publizierte) Preisschrift der Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral wurde nicht prämiert. Sondierungsgespräche um eine Professur an der Königsberger Universität führten zwar zu unzähligen Briefwechseln - zunächst (da Königsberg noch russisch war, 1758 bis 1762) mit der russischen und sodann mit der preußischen Regierung, und führten am Ende sogar zu einem Versprechen Friedrich II. - welches allerdings erst ganze sieben Jahre später (1770) eingelöst wurde. Kurzum: Zumindest von der beruflichen Perspektive aus betrachtet, schien das ganze Unternehmen - v a n i t a s p u r a . Die private und berufliche Erfolglosigkeit und die hiermit verbundenen Enttäuschungen wären sicherlich kompensierbar gewesen, hätte denn Kant von seinen philosophischen Anstrengungen selbst einen Erfolg erwarten dürfen. Hiervon war jedoch gerade nicht auszugehen - und zwar ganz unabhängig von Kants Fähigkeiten und Leistungen, alleine aufgrund der allgemeinen Situation der Philosophie im Zeitalter der Aufklärung. Um diese Situation nachvollziehen zu können, empfiehlt es sich, nochmals ein wenig in die Zeit zurückzublicken. Kant hatte bei dem Mathematiker und Rationalisten Martin Knutzen studiert; hatte vorwiegend Leibniz und Newton, doch auch viel Wolff und Baumgarten gelesen und zählte somit - neben Johann Heinrich Lambert - zu einem der letzten Vertreter des deutschen Spätrationalismus. Mit dieser Schule befand sich allerdings Deutschland - durch die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges nach wie vor in einem Rückstand von nahezu einem halben

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ERSTER TEIL: DIE KRITISCHE WENDE

Jahrhundert - nicht ganz auf der Höhe der Zeit. Denn in England und Frankreich hatten sich etwa seit 1730 - und seit dieser Zeit zusehends mehr - die empirischen, historischen und positiven Wissenschaften der Aufklärung Raum verschafft. Diese Wissenschaften - welche an die Experimentierfreudigkeit Francis Bacons sowie an den Sensualismus John Lockes anknüpften und diese Tradition weiterführten - standen allerdings in einer grundlegenden Opposition nicht nur zur Philosophie des Rationalismus, sondern zum philosophischen Denken überhaupt. Zwar bezeichneten sich die neuen Wissenschaften der Aufklärung als „philosophisch", doch handelte es sich bei dieser Adjektivierung der Philosophie um einen rhetorischen Coup, um gerade das positive Wissen gegen die Philosophie durchzusetzen. Sehr treffend bemerkte d'Alembert in seiner berühmten Einleitung zur Enzyklopädie: „das Zeitalter der Theologie und Philosophie ist dem Zeitalter der Wissenschaften gewichen". Bereits ab 1730 hatte man in ganz Europa für die Metaphysik nur noch Hohn und Spott übrig. Ab der Mitte des Jahrhunderts hatte sich die Aufklärung schlagartig durchgesetzt und den englischen Werken von Shaftesbury, Hume, Hutcheson und Burke sowie den französischen Werken von Voltaire, Montesquieu, Rousseau, Diderot, d'Alembert, Grimm, Turgot, Buffon, Maupertius usw. zum Durchbruch verholfen. Damit war der bedeutendste epistemologische Bruch seit der Renaissance und Reformation vollzogen. Hiernach stand nicht nur die Philosophie als Fachdisziplin zur Disposition, sondern es mußte gerade die Metaphysik des deutschen Spätrationalismus wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit erscheinen. Nun hätte dieser Widerspruch zwischen dem neuen Zeitalter der Wissenschaften und der prima philosophia von einst Kant in Königsberg nicht weiter berühren müssen, wäre es da nicht zum offenen Konflikt gekommen. Doch hat auch diese Geschichte ihre Vorgeschichte. Fünf Jahre nach dem Durchbruch der Aufklärung, am 1. November 1755, kam es zu jener Naturkatastrophe, die als Erdbeben von Lissabon in die Geschichte eingegangen ist. Ein Seebeben - mit Epizentrum kurz vor der Stadt - , mehrere Tsunamis sowie anschließende Feuer hatten nicht nur die Weltmetropole Lissabon über Nacht dem Erdboden gleichgemacht, sondern auch nahezu die gesamte Flotte der Großmacht Portugal vernichtet. Alleine in Lissabon zählte man über 20.000 Tote; unabsehbar waren die ökonomischen Folgen; die wirtschaftspolitische Vormachtstellung Portugals war wohl für immer dahin. Eine Katastrophe solchen Ausmaßes überstieg selbst die Vorstellungskraft des Zeitalters der Aufklärung. Durch das neu entwickelte Zeitungswesen und die damit verbundene bessere Informationslage hatte sich die schlechte Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitet: Allerorts wurde die Naturkatastrophe diskutiert, vielerorts jedoch auch als Zeichen gedeutet, mythisiert und mit Schuldgefühlen überlagert. Zur Beruhigung gab es auch wenig Anlaß: Noch bis weit ins Jahr 1757 hinein kam es immer wieder von neuem zu heftigen Beben, die in Nordafrika und in den meisten Gegenden Europas deutlich zu spüren waren.

4 . DER ZUSAMMENBRUCH VON KANTS RATIONALISMUS

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Zumindest kulturell machte das Ereignis auch vor Königsberg nicht halt. 1756 publiziert Kant gleich drei kleinere Abhandlungen in Folge - 1. Von den Ursachen der Erderschütterungen, bei Gelegenheit des Unglücks, welches die westlichen Länder von Europa gegen das Ende des vorigen Jahres betroffen hat; 2. Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens, welches an dem Ende des 1755sten Jahres einen grossen Theil der Erde erschüttert hat sowie 3. eine Fortgesetzte Betrachtung der seit einiger Zeit wahrgenommenen Erderschütterungen - ; physikalische Abhandlungen, welche allesamt die Einwohner Preußens beruhigen möchten. Die Metaphysik hätte all dies freilich nicht weiter berührt, wäre den Beben nicht ein philosophisches Nachbeben - und zwar auf höchster Ebene - gefolgt. Offenbar noch unter dem Schock der Naturkatastrophe stehend, verfaßte und veröffentliche Voltaire ein Poème sur le désastre de Lisbonne; ein philosophisches Gedicht, das seinerseits Wellen von Empörung nach sich zog. Der Grund: Voltaire nimmt in seinem Gedicht eine Generalabrechnung vor: mit dem Schöpfer und der Vorsehung sowie vor allem mit jenen Philosophen, die mit Gottesbeweisen und Harmonielehren eine Ordnung des Weltganzen behaupten - also mit Leibniz sowie vor allem mit dessen Popularisierer, dem englischen Dichter Alexander Pope. Auf Voltaires gnostische Klage gegen Gott und Welt(un)ordnung antwortete wiederum Rousseau in einem langen Schreiben (vom 18. August 1756) an Herrn Voltaire. Rousseaus These ist kurz gesagt jene, daß diese Katastrophe gar nichts mit göttlicher Vergeltung oder mit einer boshaften Absicht der Natur zu tun habe, sondern alleine auf die Dummheit des menschlichen Handelns zurückzufuhren sei. So schreibt er: „Ohne Ihren Gegenstand Lissabon zu verlassen, gestehen Sie mir zum Beispiel zu, daß nicht die Natur dort zwanzigtausend Häuser von sechs bis sieben Stockwerken versammelt hatte und daß, wenn die Einwohner dieser großen Stadt gleichmäßiger zerstreut und leichter beherbergt gewesen wären, die Verheerung weit geringer gewesen und vielleicht gar nicht geschehen wäre. Allein, man muß bleiben, man muß bei diesen Trümmern verweilen, man muß sich neuen Erschütterungen aussetzen, weil das, was man daselbst zurückläßt, kostbarer ist als das, was man mit sich nehmen kann. [...] Weiß man nicht, daß die Person jedes Menschen der geringste Teil seiner Selbst geworden ist und daß es beinahe nicht die Mühe lohnt, sie zu retten, wenn man alles übrige verloren hat?" (J.-J. Rousseau 1981 317f). Doch Voltaire ließ sich von Rousseaus Argumenten nicht beeindrucken, im Gegenteil: Er legte nach - und zwar mit seinem 1759 publizierten philosophischen Roman Candide ou l'optimisme. Man kennt die antonomasische Bedeutung der Figur: E i n C a n d i d e (etymologisch von , c a n d e u r ' : der in Weiß Gekleidete, d. h. der Unschuldige, Treuherzige und Gutmütige) ist ein Naivling, und zwar - nach Voltaires Konnotation - ein philosophischer Naivling! Man kennt auch die Geschichte: Aus rein touristischem Interesse - aus Neugierde, Zerstreuungslust und um Erfahrungen zu sammeln - begibt sich unser Romanheld auf Weltreise. Begleitet wird er bei seinen Abenteuern von

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ERSTER TEIL: DIE KRITISCHE WENDE

seiner Angehimmelten C u n é g o n d e (cu(l)-né-gond-e = Fräulein Hinterngerätnieausderfassung) sowie von seinem ehemaligen Professor für Philosophie P a n g l o s s (pan-gloss(e) = Herr Kommentarzuallem). Solcherart von Trieb und Verstand umworben, stürzt sich Candide von einer Katastrophe in die nächste: Bürgerkriege, Erdbeben, Piraten, unedle Wilde und wilde Tiere es wird nichts ausgelassen und durch die grenzenlose Naivität unseres Helden sogar noch erhebliches Unheil obendrauf gesetzt; man denke nur an Candides faustische Fehlleistung, versehentlich Cunégondes Bruder umgebracht zu haben. Jede neue Katastrophe aber kommentiert Philosophieprofessor Pangloss mit dem einen und einzigen Satz: „Alles ist bestens in der besten aller nur möglichen Welten!"; eine p a n - g l o s s e , der eine Kommentar zu allem, der sich scheinbar unbehelligt zwischen zynischer Weltverachtung und autistischer Idiotie in der Schwebe hält. Zu guter Letzt sind die Protagonisten heilfroh, wieder zu Hause zu sein, und ziehen aus dem sinnlosen Umhertreiben durch die Welt die ebenso stoische wie epikureische Lehre, sich nunmehr zu b e s c h e i d e n und t ä t i g zu w e r d e n - und zwar in dem wohlbegrenzten Bereich ihres Gartens. Der Roman schließt, wie übrigens sieben Jahre später Kants Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, mit Candides Antwort auf des Professors nach wie vor unveränderten Satz: „Wohl gesprochen [...], doch müssen wir unseren Garten bestellen [mais il faut cultiver notre jardin]." Damit gelangte Voltaire zu dem gleichen antiphilosophischen Schluß wie ehedem seine Vorbilder Francis Bacon und John Locke: von aller metaphysischer Spekulation abzusehen und das Wissen alleine auf seinen pragmatischen Nutzen zu beschränken. Die Welt hat sofort verstanden, daß sich hinter der Schlüsselfigur Pangloss kein Geringerer als Leibniz verbirgt - und Kant hat sofort begriffen, welch ungeheuerliche Sprengkraft dieser philosophische Roman von 1759 beinhaltet. Immerhin stellt Voltaire die Philosophie im Theoretischen als völlig weltfremd und im Praktischen als für das Wohl der Menschen im höchsten Maße schädlich dar. Hätte dieses vernichtende Urteil nur Voltaires Privatmeinung zum Ausdruck gebracht, wäre der Roman nicht zum Jahrhundertroman avanciert. Tatsächlich konnte Voltaire sicher sein, mit seiner Verspottung der Metaphysik die einhellige Meinung der ganzen neuen Aufklärungsgeneration auf den Punkt gebracht zu haben; denn daß Metaphysik soviel wie G l o s s o l a l i e bedeutet, war inzwischen Allgemeingut. Auf der Anklagebank saß daher mit P a n g l o s s nicht nur Leibniz, sondern hinter diesem auch Descartes, Malebranche sowie die gesamte Metaphysik der Philosophie des 17. Jahrhunderts. So sehr hatte sich der Konsens bezüglich der Verwerfung der Metaphysik gefestigt, daß eine philosophische Widerlegung der p r i m a p h i l o s o p h i a gar nicht mehr notwendig schien; alleine Voltaires bissiger Spott war hinreichend, um die gesamte Aufklärung zum Lachen zu bringen. Und auch diese Nachricht ging wie ein Lauffeuer um die Welt: Vier Jahre nach Lissabon hatte sich die Kontroverse um das Erdbeben längst in eine

4 . DER ZUSAMMENBRUCH VON KANTS RATIONALISMUS

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Voltaire-Leibnizsche Kontroverse um die Metaphysik sowie insbesondere in eine Debatte um die Gottesbeweise sowie um den Zweck des Weltganzen, d.h. (nach dem damaligen Sprachgebrauch:) in eine D e b a t t e um den O p t i m i s m u s verwandelt. Zehn Jahre nach dem Durchbruch der Aufklärung war diese Optimismusdebatte das allerorts vorherrschende Thema: Streit- und Preisschriften wurden ausgetragen, und alle Welt schien sich einig: Wer weiterhin noch Theodizee und Teleologie betreibt, der hatte offenbar noch nicht mitbekommen, daß die barocke Welt längst von gestern ist. Damit nicht genug, wurde mit der D o n q u i c h o t t e r i e der P h i l o s o p h i e gerade jene philosophische Schule der Lächerlichkeit preisgegeben, als deren bedeutendster - und vielleicht sogar letzter - Vertreter Kant sich sehen mußte. Immerhin hatte er gerade vier Jahre zuvor - 1755, also im Jahre des Erdbebens selbst - über Leibniz' Lehrsätze promoviert und dabei dem ,Satz vom zureichenden Grunde' einen guten Teil seiner Abhandlung eingeräumt. Folglich mußte sich Kant von Voltaires Generalangriff auf Leibniz und zwar auch ganz persönlich - angegriffen fühlen. Seine Reaktion ließ nicht lange auf sich warten und erfolgte noch im gleichen Jahr mit dem Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus von M. Immanuel Kant, wodurch er zugleich seine Vorlesungen auf das bevorstehende halbe Jahr ankündigt. Den 7. Oktober 1759. Wenn also Kants dogmatischer Schlummer von irgendjemand z u e r s t (!!) unterbrochen worden sein sollte, dann war es Voltaire mit seinem: „ é c r a s e z 1 ' i n f â m e ! ". So weiß man, daß mit dem „ N i e d e r t r ä c h t i g e n ! " - welches da zerschlagen und zertreten werden sollte - nicht nur die R e l i g i o n , sondern gleichermaßen die M e t a p h y s i k gemeint war. Die Aufklärung verstand sich als Erniedrigung von allem Übersinnlichen. Kants Antwort auf den - 1759 auch in Königsberg nicht mehr übersehbaren - Durchbruch der Aufklärung war zunächst außerordentlich ambivalent. Es folgen nun fünf Schriften: 1. der soeben erwähnte Optimismusversuch (1759), 2. Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren (1762), 3. Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Gottes (1763), 4. die (erst 1764 publizierte, doch schon 1763 eingereichte) Preisschrift der Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral sowie schließlich 5. der Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (1763). Mehr oder weniger offen beziehen sich alle fünf Schriften auf den oben genannten Konflikt zwischen Voltaire (stellvertretend für die Aufklärung) und Leibniz (stellvertretend für die rationalistische Metaphysik). In zwei Schriften, nämlich im Optimismusversuch (1759) sowie im Beweisgrund (1763), ergreift Kant Partei für Leibniz gegen Voltaire und wehrt damit zunächst die anmaßende Position der Aufklärung ab. In zwei anderen Schriften jedoch, nämlich in den Syllogistischen Figuren (1762) sowie in den Negativen Größen (1763), ergreift Kant genau die umgekehrte Partei, indem er Voltaire in seinem theoretischen Argument folgt und mit diesem Leibniz' Metaphysik an-

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ERSTER TEIL: DIE KRITISCHE WENDE

greift. Alleine die Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze (1763) bezieht in diesem Streit eine neutral-differenzierende Position. Man sieht an diesem Werdegang, daß der psychologische, der chronologische und der logische Verlauf dieses Prozesses nicht unbedingt übereinstimmen müssen. Psychologisch wehrt Kant zunächst - 1759 im Optimismusversuch und 1763 im Beweisgrund - das noch neue Fremde ab, um es sich alsdann jedoch anzueignen und mit diesem gegen das ehemals Eigene vorzugehen - so 1762 in den Spitzfindigkeiten sowie 1763 in den Negativen Größen. Dieser psychologische Werdegang entspricht allerdings nicht dem chronologischen Verlauf; denn im zeitlichen Ablauf pendelt Kant zwischen beiden Positionen, indem er 1759 für Leibniz, 1762 für Voltaire, 1763 wieder für Leibniz und hiernach abermals für Voltaire Partei ergreift. Letztendlich ist allerdings Kants eigene Position in bezug auf den Logos nochmals eine andere, indem der Beweisgrund (1763) bereits jene Stellung ankündigt, die die spätere Kritik einnehmen wird: nämlich die Ratio der Metaphysik vor dem Irrationalismus der positiven Wissenschaften der Aufklärung zu retten! Der Unterschied zwischen dem Beweisgrund und der Kritik besteht nur darin, daß es sich 1763 noch um eine simple Abwehrreaktion handelt, während Kant 1781 die Position der Aufklärung bereits aufgenommen hat, um ihr ihre Grenzen vorzurechnen. Wenn auch sehr unterschiedlich, so befassen sich doch alle fünf Schriften entweder mit L o g i k oder mit M e t a p h y s i k . Der Optimismusversuch, die Syllogistischen Figuren, der Beweisgrund sowie die Negativen Größen sind der Logik, die Deutlichkeit der Grundsätze der Metaphysik gewidmet. Dies ist in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert. Zunächst einmal ist festzustellen, daß Kant, der sich bislang in erster Linie mit Newtons Physik auseinandergesetzt hatte, erst jetzt 1759 - also erst nach Voltaires Angriff auf die Metaphysik - zu seinen eigentlichen späteren Themen Metaphysik und Logik gefunden hat. Damit nahm aber Kant gerade jene Fächer für sich in Anspruch, die nach der einhelligen Meinung der Aufklärung Hirngespinste von gestern waren. Diese scheinbar trotzige Reaktion erklärt sich allerdings aus Voltaires Vorgehensweise. Denn dessen Attacke auf Leibniz' Metaphysik erfolgte sowohl im Erdbebengedicht als auch mit Candide in einer - für die Aufklärung übrigens typischen - l i t e r a r i s c h e n F o r m . Nun konnte man Voltaires M e i n u n g einer Weltfremdheit der Philosophie als eine literarische Ansicht zulassen oder auch nicht; für einen Philosophen wie Kant mußte indes klar sein, daß philosophisches Wissen doch noch etwas anderes als eine literarische Meinung ist und sich Voltaires Behauptung - sie mag nun richtig oder falsch sein - p h i l o s o p h i s c h zumindest so nicht belegen oder widerlegen läßt. Kant hatte daher bereits seit 1759 ein Interesse daran, Voltaires literarische Meinung ins Philosophische zu übertragen und also die metaphysischen Lehrsätze mit den Mitteln der Logik zu überprüfen. Denn wenn die p r i m a p h i l o s o p h i a irgendeinen Bestand haben sollte, so müßte sie auch in der Lage sein, Voltaires These von sich aus, also mit philosophischen Mitteln, zu beurteilen.

4 . DER ZUSAMMENBRUCH VON KANTS RATIONALISMUS

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Eben diese Übertragung von Voltaires literarischer These in die Disziplin der Fachphilosophie war Kants erstes Anliegen in den Jahren 1759 bis 1763 und darüber hinaus. Als eine solche Übertragung müssen nicht nur die Schriften bis 1763 betrachtet werden; auch die drei Hauptschriften der kritischen Wende sind in diesem Sinne zu interpretieren. In der Tat ist bemerkenswert, daß die Negativen Größen (1763), die Träume eines Geistersehers (1766) ebenso wie die Inaugural-Dissertation (1770) allesamt Versuche darstellen, Voltaires literarische These philosophisch nachzuvollziehen. In allen drei Schriften wird Leibniz' Metaphysik aufs schärfste kritisiert, und in allen drei Schriften wird Leibniz' Lehrsätzen vorgehalten, an der Realität vorbeizugehen - alleine, daß dieser Beweis 1763 und 1770 formallogisch, in den Träumen 1766 jedoch psychologisch geführt wurde (doch hiervon später). Von Voltaire übernimmt Kant auch den Inhalt seiner weiteren Fragestellung. Wenn Voltaire behauptet, d e r M e t a p h y s i k f e h l e d e r G e g e n s t a n d - sie sei also, wie Leibniz es nannte: u n e n o t i o n d é c e p t r i c e (ein enttäuschender Begriff), oder wie Kant es später nennen wird: ein l e e r e r B e g r i f f - , so stellt sich philosophisch die Frage: Was das denn für Erkenntnisgegenstände sind, denen kein Ding entspricht bzw. die keinen Realitätsbezug haben; Gegenstände, deren Existenz behauptet wird, obgleich es sie anscheinend doch nicht gibt. Daß es Dinge gibt, die es nicht gibt, läßt sich kaum bestreiten: „Eingebungen, Erscheinungen, Anfechtungen. [...] Bedeutende Träume, Ahndungen und Wunderzeichen" (SE II 842 A 34) sind solche Dinge; doch - wie nunmehr die Aufklärung behauptet - sind auch Gott sowie die Konstruktionen der Metaphysik von ebensolcher Natur. Hieraus ergeben sich für Kant zwei Fragen, denen er sich in den nachfolgenden Jahren zuwenden wird. Erstens: Was unterscheidet ein Ding, das es gibt, von einem Ding, das es nicht gibt? Anders gesagt: Wie überhaupt läßt sich der Gegenstandsbezug eines Dings feststellen? Zweitens: Was für eine Art Dinge sind diese Dinge, die es nicht gibt, und warum gibt es sie denn überhaupt, wenn es sie doch nicht gibt? Anders gesagt: Wenn doch dem Begriff kein Gegenstand entspricht, welches sind dann die Gründe für seine Behauptung? Soviel jedenfalls steht fur Kant von vornherein, d. h. bereits 1759, fest: Mit den Erfahrungsgründen läßt sich die Frage nach der Existenz oder NichtExistenz eines Gegenstandes nicht beantworten. Denn die Frage, ob es z. B. Gespenster oder einen Gott gibt oder nicht, kann nicht auf die Frage zurückgeführt werden, ob Menschen Gespenster sehen oder an Gott glauben oder nicht. Wäre letzteres die Frage, so würde sie sich gar nicht erst stellen oder wäre schon beantwortet: Denn in allen Kulturen und zu allen Zeiten glaubte der überwiegende Teil der Menschheit an Geister oder an irgendeine Form höherer Kausalität. Demnach würde die Frage, wenn man sie empirisch beantworten wollte, auf eine bloße Tautologie hinauslaufen. Denn das ,es ist' kann hier nicht als Beleg herangezogen werden, weil die Existenz des Gegenstandes doch eben gerade das ist, was erst noch bewiesen werden soll. Ist aber die Empirie nicht zuständig, so können nur die Begriffe über das Sein oder Nichtsein von

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Dingen entscheiden. Begriffe aber zergliedern sich logisch in Subjekt und Prädikate. Also wird man bei der Frage nach der Existenz oder Nicht-Existenz eines Gegenstands auf die Prädikationen der diesbezüglichen Begriffe verwiesen. Aus dieser Einsicht ergeben sich Kants Recherchen während des Zusammenbruchs von seinem Rationalismus (1759 bis 1763); Untersuchungen, die allesamt der Frage nachgehen, inwiefern die Prädikationen etwas über die Existenz der Dinge aussagen. In seinem Optimismusversuch 1759 wirft Kant Voltaire zunächst vor, Leibniz' Satz nicht verstanden zu haben. Denn: „Leibniz hat auch damit nichts Neues vorzutragen geglaubt, wenn er sagte: Diese Welt sei unter allen möglichen die beste, oder welches eben so viel ist: der Inbegriff alles dessen, was Gott außer sich hervorgebracht hat, ist das Beste, was nur hervorzubringen war; sondern das Neue bestand nur in der Anwendung, um bei den Schwierigkeiten, die man von dem Ursprung des Bösen macht, den Knoten abzuhauen, der so schwer aufzulösen ist" (Opti. II 587 A 4). Kurzum: Voltaire ist philosophisch unlauter, bringt alles - wie das Übel und das Böse - durcheinander, um so seine gnostische Negativ-Theodizee legitimieren zu können. Hiergegen hält Kant die Logik: Ein Gott, der nur das Schlechtere wollte, würde seinen eigenen Prädikaten widersprechen: Denn warum sollte ausgerechnet der Allmächtigste, Allgegenwärtigste und Allumfassendste das Schlechtere dem Besseren vorziehen? Zudem stand Gott gar nicht vor der Alternative, zwischen einer besseren Welt hier und einer schlechteren Welt dort - wie aus zwei Töpfen - zu wählen, sondern nur vor der, die eine und einzige Welt zu verbessern oder nicht. Denn bessere oder schlechtere Welten gibt es nur dem Vollkommenheitsgrad nach, nicht aber als verschiedene Substanzen. Weltliche Vollkommenheit aber ist etwas anderes als die mathematische Unendlichkeit plus eins: Sie ist endlich und hat ihre Grenze gerade dort, wo die göttliche Allmacht ansetzt. Folglich - schließt Kant - kann man nur „einsehen lernen: d a ß d a s G a n z e d a s B e s t e s e i , u n d a l l e s um des G a n z e n w i l l e n g u t s e i " (Opti. II 594 A 8). So logisch Kant in diesem Schriftchen nun auch argumentiert, so redet er doch an Voltaire ebenso vorbei wie dieser an Leibniz. Voltaire behauptet das allumfassende Chaos in der Welt; Kant stellt die Ordnung der Begriffe dagegen. Hier liegt nun aber Voltaire eindeutig im Vorteil, da er doch gerade anführt, daß die Ordnung der Begriffe am Chaos der Welt vorbeiredet; denn da die Welt nicht täuschen kann, so muß das Trügerische in den metaphysischen Begriffen liegen. 1759 hat Kant diesem Argument kaum etwas entgegenzusetzen; sein Optimismusversuch bekundet die bloße Abwehr, wenn nicht gar eine Leugnung des von Voltaire gestellten Problems. Doch wie so oft sind Abwehr und Leugnung hier nur erste Anzeichen für eine bereits vorhandene, wenn auch freilich noch nicht selbst eingestandene Akzeptanz des Problems. In der Falschen Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren (1762) wendet sich erstmals Kants Verhältnis zum Rationalismus. Erstaunlich ist, daß diese erste Wende in den Syllogistischen Figuren fast unscheinbar und in

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gewisser Hinsicht sogar unfreiwillig geschieht. Anlaß war wiederum Voltaires These, die da lautete: Weil die Welt ein einziges Chaos ist, gibt es keinen Gott. Diese These verstand Voltaire offensichtlich als eine Antithese zu Leibniz' These, welche besagte: Weil es einen Schöpfergott gibt, ist Ordnung in der Welt. Nun war Kant bereits im Optimismusversuch auf die Vermutung gestoßen, daß es sich bei Voltaires Antithese um einen falschen Umkehrschluß handeln könnte: Denn ebensowenig wie die Prämisse, daß alle Menschen Tiere sind, den Umkehrschluß zuläßt, daß auch alle Tiere Menschen sind, ebensowenig kann von der Aussage, daß Gott die Welt erschaffen hat, umgekehrt von der Welt auf Gott zurückgeschlossen werden. Voltaires These beruht also auf einem logischen Trugschluß, indem sie vom Prädikat aufs Subjekt zurückschließt. Dieses Problem des logischen Tragschlusses veranlaßte Kant 1762 dazu, die logischen Funktionen in Urteilen selbst zu analysieren. Zu diesem Zweck untersuchte er die elementarsten logischen Grundschlüsse, welche sich zweifelsohne in den vier syllogistischen Grundfiguren befinden. Mag sein, daß Kant hierbei bereits 1762 das Standardwerk zu den logischen Fehlschlüssen, d. h. Aristoteles' Sophistische Widerlegungen, im Auge hatte; jedenfalls bezieht er sich auf die „Crusische Logik" (Syllo. II 607 A 20 Fn. sowie ebd. 608 A 21 - vgl. Chr. A. Crusius 1745), deren elementare logische Gliederung er widerlegen möchte. Hierbei kam es nun zur besagten unfreiwilligen Wende. Denn die ursprüngliche Absicht, Voltaires logischen Fehlschluß berichtigen zu wollen, führte Kant ausgerechnet dazu, die logischen Konstruktionen des Rationalismus in Frage zu stellen. Somit befand sich Kant - ohne dies so intendiert zu haben - unversehens auf Voltaires Seite: als ein Bezweifler von Logik und Metaphysik. Mit diesem unfreiwilligen Seitenwechsel war jedoch das entscheidende Tabu durchbrochen und die wichtigste Hemmschwelle überwunden: Denn mit einem Male war es für Kant kein Problem mehr, sich gegen die eigene Position des Rationalismus zu stellen.

5. Methode und Gedankengänge der kritischen Wende

Wenn nach den Initialzündungen gefragt wird, die für Kants Wende zur Kritik ausschlaggebend waren, so ist einerseits auf eine Methode sowie andererseits auf vier Einzelerkenntnisse hinzuweisen, die Kants Revolution der Denkungsart bewirkt und in Gang gesetzt haben. In seinem Optimismusversuch (1759) erhält Kants Rationalismus erstmals eine sensible Infragestellung. Mit seinen Negativen Größen (1763) verabschiedet sich Kant vom Rationalismus und damit zunächst einmal auch von der Philosophie, um sich der Psychologie zuzuwenden. Fünf Jahre später ist die psychologische Phase wiederum abgeschlossen, und er kehrt mit seinem Ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Räume (1768) zur Philosophie zurück. Somit handelt es sich bei den genannten Schriften insofern um Schwellenschriften, als Kant mit ihnen jeweils eine alte Welt verläßt und/oder eine neue betritt. Höchst interessant ist in diesem Zusammenhang ein Umstand, der in der Forschung kaum Beachtung gefunden hat, obgleich ohne ihn die kritische Wende Kants weder denkbar noch machbar gewesen wäre. In allen drei oben genannten Schriften - also in dem Moment, da sein Rationalismus erstmals erschüttert wird (1759), in dem Moment, da er die Philosophie verläßt (1763), sowie in dem, da er wieder zu ihr zurückkehrt (1768) - gebraucht und thematisiert Kant eine Methode, die er Anwendung nennt. So schreibt er im Optimismusversuch, das Neue in Leibniz' Theodizee habe „nur in der Anwendung" bestanden (Opti. II 587 A 3), mit welcher Leibniz den Satz von der besten aller nur möglichen Welten auf die Ursprungsproblematik des Bösen übertragen habe; ein Gedanke, der freilich nicht von Leibniz, sondern von Kant selber stammt und hier nur fur seine Leibnizinterpretation bemüht wurde. Vier Jahre später macht sich Kant diesen Gedanken für sich selbst zu eigen, indem er gleich zu Beginn der Negativen Größen von der „Anwendung ihrer [der Mathematik] Sätze auf die Gegenstände der Philosophie" (NG II 779 A 1) spricht. Dabei versteht Kant in den Negativen Größen unter ,Mathematik' die ,Logik' und unter den gegenständen der Philosophie' vornehmlich die .Psychologie', so daß also 1763 d i e L o g i k a u f d i e P s y c h o l o g i e a n g e w a n d t w u r d e . Umgekehrt schreibt er in seinem Ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Räume

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(1768): „Wir gehen jetzt zur philosophischen Anwendung dieser [empirischpsychologischen - C. R.] Begriffe" über (GR 11 999 ohne A-Angabe); wobei 1768 nun gerade andersherum die Psychologie auf die Logik angewandt wurde. Äußerst bemerkenswert ist daher nicht alleine der Umstand, daß Kant seine Anwendungsmethode präzise immer wieder alsdann thematisiert, wenn er zwischen zwei Phasen steht und von der einen in die andere übergeht; bemerkenswert ist auch, daß er mit diesen Übergangsmomenten der Anwendung zugleich den Phasenverlauf selbst beschreibt: nämlich zunächst (1763) von der Logik zur Psychologie sowie alsdann (1768) von der Psychologie zur Logik. Letztendlich ausschlaggebend für die kritische Wende war allerdings die e i g e n t l i c h e P h a s e der A n w e n d u n g , d.h. die Übertragung der empirischen Psychologie auf die rationale Logik, die Kant nach den Träumen eines Geistersehers (1766) zunächst in den Gegenden im Räume (1768) und sodann in der Inaugural-Dissertation (1770) vorgenommen hat. Bei der Methode der Anwendung handelt es sich also um ein Schwellenverfahren, in dem Erkenntnisse, die in einer Disziplin gewonnen wurden, in einer anderen eine Verwendung finden. Dieses Verfahren ist der m e t h o d i s c h e S c h l ü s s e l - man müßte fast sagen: der Generalschlüssel - zu einem jeglichen Verständnis der kritischen Wende. Denn Kant springt in den 60er Jahren nicht nur zwischen den Disziplinen hin und her, sondern er gebraucht diese Methode der Anwendung unentwegt, indem er mathematische Probleme psychologisch, psychologische Probleme geometrisch und die geometrischen logisch löst. Inhaltlich ist insbesondere auf folgende Anwendungen hinzuweisen. In dem Ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Räume (1768) kommt die Methode der Anwendung insofern zum Tragen, als hier ein psychologisches Problem - nämlich Swedenborgs halluzinatorische Desorientierung im Raum - eine Lösung aus der analytischen Geometrie erhält: nämlich den allgemeinen absoluten Raum als rational-objektives sowie die spiegelverkehrten Gegenstücke als rational-subjektives Unterscheidungskriterium. In der Inaugural-Dissertation (1770) kommt die Methode der Anwendung dadurch zum Tragen, daß hier die Lehrsätze der Leibnizschen Metaphysik wie psychologische Projektionen behandelt werden, was Kant verallgemeinernd zu den projektiven Fehlschlüssen in logischen Urteilen überhaupt führt. In der Kritik der reinen Vernunft (1781/87) schließlich kommt diese Methode dadurch zum Tragen, daß Kant die psychologische Typologisierung der Psychose aus den Krankheiten des Kopfes - Verdickung, Wahnwitz, Wahnsinn - auf die möglichen projektiven Fehlschlüsse in logischen Urteilen - d. h. Amphibolie, Paralogismi, Antinomie - überträgt. Das Verfahren der Anwendung betrifft jedoch nicht nur sämtliche entscheidenden Schwellenpassagen und Gedankenübergänge der kritischen Wende, Kant gebraucht es darüber hinaus in unzähligen anderen Zusammenhängen. So beispielsweise auch bei den Autoren sowie den ihnen zugehörigen Theorien, die in der Kritik verhandelt werden. Wenn Kant dort den Paralogismus

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sowie die ursprünglich-synthetische Bewußtseinseinheit an der Cartesischen res cogitans verhandelt, so ist diese für Kants Theoriebildung nicht ursächlich. Vielmehr war es auch hier wiederum Swedenborgs Schizophrenie, die Kant auf den Gedanken der Bewußtseinsspaltung brachte, welche er dann auf Descartes' cogito eben nur angewandt hat. Ähnliches ließe sich auch bei den anderen von Kant in der Kritik verhandelten Autoren - etwa bei Mendelssohn, Berkeley, Fichte, Leibniz, Locke sowie gerade auch bei Hume - zeigen: Sie dienen alle nur als Mittel zum Zweck, als Illustration des Problems, ohne eigentlich selbst das Problem zu sein. So ist beispielsweise auch die Amphibolie nicht ein Leibnizsches Problem, sondern Leibniz nur ein Beispiel für die Amphibolie. Man kann die Tragweite dieses V e r f a h r e n s d e r A n w e n d u n g gar nicht genug hervorheben; der Unterschied zwischen früheren und späteren Zeiten ist nur jener, daß Kant in den 60er Jahren noch auf seine Methode hinweist, während er sie später nur noch gebraucht, ohne sie zu erwähnen. Inhaltlich waren es verschiedene Aspekte der psychischen Erkrankung Swedenborgs - einer paranoiden Schizophrenie - , die Kant nachhaltig zum Umdenken veranlaßt haben. Da war zunächst der Umstand, daß der Geisterseher ganz offensichtlich unter akustischen und visuellen Halluzinationen litt. Dieser Umstand führte Kant zunächst zu einer Halluzinations- bzw. Projektionstheorie: zu dem Begriff der Verrückung, den er in seinem Versuch über die Krankheiten des Kopfes (1764) definiert und beschreibt und sodann in seinen Träumen eines Geistersehers (1766) mit der Theorie des vom Subjekt in die Welt der Gegenstände projizierten focus imaginarius analysiert. Bei der Anwendung dieses psychologischen Projektionsgedankens auf die Logik kommt Kant erstmals in der Inaugural-Dissertation (1770) auf jenen logischen Trugschluß zu sprechen, in welchem „die Schranken, von denen die menschliche Erkenntniskraft umschlossen wird, für diejenigen genommen werden, von denen das Wesen der Dinge selbst umfaßt wird" (ID V 19 im Text: A2 3), um dann von der Erkenntnis, daß das, was wir von der Welt wahrnehmen, nur das von uns in sie Hineinprojizierte ist, zu der Unterscheidung von P h a e n o m e n o n und N o u m e n o n zu gelangen. Später, in der Kritik, geht dieselbe Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich ebenso wie die Verwechslung von beiden, d i e A m p h i b o l i e , auf diesen Gedanken der Projektion zurück. Denn betrachtet man die Definition der Amphibolie, nämlich: „einer Verwechselung des reinen Verstandesobjekts mit der Erscheinung" (KrV III 292 A 270 Β 326), so sieht man sofort, daß es sich hier um den Gedanken der Projektion handelt, nämlich um „das Blendwerk [soll heißen: um die Projektion - C. R.], die logische Möglichkeit des B e g r i f f s [...] der transzendentalen Möglichkeit der D i η g e [...] zu unterschieben" (KrV ΙΠ 273 A 244 Β 302). Hier sei bereits darauf hingewiesen, daß der Projektionsbegriff den Kerngedanken der Kantischen Psychologie der 60er Jahre darstellt, ebenso wie später die A m p h i b o l i e (als Problemstellung) und die U n t e r s c h e i d u n g

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v o n P h ä n o m e n u n d N o u m e n (als Problemlösung) den Kerngedanken der Kritik der reinen Vernunft insofern darstellen, als auch die anderen beiden Problemstellungen der Kritik, der Paralogismus und die Antinomie, als s p e z i f i z i e r t e A m p h i b o l i e - zum einen einer Projektion des Subjektes auf sich selbst, zum anderen einer Wechselprojektion durch das Prädikat - verstanden werden müssen. A1 s o s t e l l t d i e P r o j e k t i o n j e n e n G e d a n k e n dar, v o n d e m aus s ä m t l i c h e P r o b l e m e der Kritik gestellt und gelöst werden. Es war sodann der Umstand, daß der Geisterseher offenbar an einer Spaltung des Bewußtseins litt, indem sich seine Psyche ganz allgemein in zwei voneinander getrennte Welten (in die sichtbar irdische und in die unsichtbare Geisterwelt) aufspaltete, der Kant zu zwei ganz entscheidenden Problemstellungen der späteren Kritik geführt hat. So hatte zunächst die Tatsache, daß Swedenborg in seiner Selbstwahrnehmung vermeinte, gleichzeitig an zwei Orten (z. B. in Göteborg und Stockholm) oder an einem Ort in zwei unterschiedlichen Zeiten (z. B. in der Jetztzeit und im Hellenismus) simultan verweilen zu können, Kant zu der Frage veranlaßt, worin denn die objektive Grundlage des Raumes respektive der Zeit bestehen könnte; eine Frage, die ihn später in der Transzendentalen Ästhetik der Kritik zu Raum und Zeit als den r e i n e n F o r m e n d e r s i n n l i c h e n A n s c h a u u n g geführt hat. Soweit ich sehe, ist dieser Zusammenhang bislang nicht beachtet worden: In der Entstehungsgeschichte der Kritik gelangte Kant nicht von den logischen Fragen zu denen der Ästhetik, sondern es war zuallererst die Frage nach Raum und Zeit, die die Umkehrung des Kantischen Denkens bewirkte. Erst in einem zweiten Schritt wurde dann diese im ästhetischen Bereich vollzogene Umkehr auf die logischen Fragen nach einem rationalen Objekt-, Subjekt- und Prädikatbezug angewandt. So fragte sich Kant bereits in den Träumen (1766), wie es zu erklären sei, daß Swedenborg derartigen Sinnestäuschungen von eingebildeten Raum- und Zeitreisen unterliegen könne. Zwei Jahre später, in dem Ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Räume, brachte die Swedenborgische Desorientierung in Raum und Zeit Kant zu der Frage nach den rationalen Kriterien einer Orientierung im Raum. In diesem Text nimmt Kant die kritische Wende erstmals überhaupt und zwar am R a u m b e g r i f f vor, indem er die objektive Grundlage des Raums im a l l g e m e i n e n a b s o l u t e n R a u m und die subjektive in der rationalen Grundfigur des i n k o n g r u e n t e n G e g e n s t ü c k s (d. h. im Spiegelbild) sieht, mit beiden aber den Raumbegriff erstmals als r e i n e V o r s t e l l u n g begreift. Diese 1768 zuallererst am Raumbegriff vollzogene Umkehrung wendet er in der Inaugural-Dissertation (1770) zunächst auf den Zeitbegriff, sodann aber auch schon auf logische Sätze an. Zum zweiten veranlaßte die p s y c h i s c h e S p a l t u n g Swedenborgs Kant dazu, sich Gedanken über die Schizophrenie zu machen. So verfügt Kant bereits in seinem Versuch über die Krankheiten des Kopfes (1764) über einen

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ausgeprägten Begriff der katatonen Schizophrenie, welche er seinerzeit den W a h n w i t z nannte. Im Jahr darauf reflektiert er in seiner Vorlesung über rationale Psychologie: „Da ich aber in dieser Welt noch eine sinnliche Anschauung habe; so k a n n i c h n i c h t z u g l e i c h e i n e g e i s t i g e A n s c h a u u n g h a b e n . Ich kann nicht zugleich in dieser und auch in jener Welt seyn"(VM A.A. Bd. XXVIII, 1 300 A 259), was Kant wiederum ein Jahr später in seinen Träumen dazu bewegte, Swedenborg eine „gewisse Art von zweifacher Persönlichkeit" (Τ II 947 A 50 Fn., Herv. C. R.) zu bescheinigen. Denn es ist „ z w a r e i n e r l e i S u b j e k t , was der sichtbaren und unsichtbaren Welt zugleich als ein Glied angehört, a b e r n i c h t e b e n d i e s e l b e P e r s o n , weil die Vorstellung der einen, ihrer verschiedenen Beschaffenheit wegen, keine begleitende Ideen von denen der andern Welt sind [...]" (Τ II 947 A 49, Herv. C. R.), so daß sich schließlich das Subjekt „in z w e i v e r s c h i e d e n e n W e l t e n z u l e b e n w ä h n e n w ü r d e " (Prol. V 54 A 67, Herv. C. R.). Auch in dieser Sache sind meines Erachtens die Bezüge bislang entweder gar nicht oder falsch gesehen worden. Denn das Neue der Kantischen Subjektphilosophie beruht ja nicht in seiner Bewußtseinsphilosophie als solcher (denn diese war mit Descartes' r e s c o g i t a n s bereits vorgegeben), sondern darin, daß sich Kant erstmals die Frage nach der E i n h e i t d e s B e w u ß t s e i n s gestellt hat. Kant wäre aber auf diese Frage der Bewußtseinsidentität nie gekommen, wenn er nicht zuvor mit Swedenborg ein g e s p a l t e n e s Β e w u ß t s e i n vor Augen gehabt hätte! Also entstammt d e r P a r a l o g i s m u s (als Fragestellung) sowie d i e u r s p r ü n g l i c h - s y n t h e t i s c h e E i n h e i t d e s B e w u ß t s e i n s (als deren Lösung) nicht Descartes, sondern Swedenborg, und wird dann erst in einem zweiten Schritt - ausgehend von Swedenborg - auf die Cartesianische Bewußtseinsphilosophie angewandt! Die dritte einschneidende Erkenntnis, die Kants Wende hin zur Kritik mit verursacht hat, war eine Einsicht, zu der in späteren Zeiten viele Psychologen gelangt sind, die jedoch zu Kants Zeit tatsächlich eine Revolution darstellte. Die Einsicht nämlich, daß die gesunde Psyche - zumindest strukturell - nicht anders funktioniert als die kranke; alleine, daß sich an den Verzerrungen und Überspitzungen der Gestörten die Funktionsmechanismen der Psyche besser beobachten lassen als bei den Gesunden. Diese Erfahrung macht Kant bereits zu Zeiten der Krankheiten (1764) insbesondere bei der Projektion, indem er immer wieder betont, daß „dieser Selbstbetrug [...] sehr gemein [ist], und so lange er nur mittelmäßig ist, er mit einer solchen Benennung [der Verrückung C. R.] verschonet [wird], ob zwar wenn eine Leidenschaft hinzukommt dieselbe Gemüthsschwäche in wirkliche Phantasterei ausarten kann. Sonsten sehen durch eine gewöhnliche Verblendung die Menschen nicht was da ist, sondern was ihnen ihre Neigung vormalt, der Naturaliensammler im Florentienerstein Städte, der Andächtige im gefleckten Marmor die Passionsgeschichte, jene Dame durch ein Seherohr im Monde die Schatten zweier Verliebter, ihr Pfarrer aber zwei Kirchtürme" (KdK II 895 A 24).

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Zu dieser allgemeinen Strukturähnlichkeit zwischen Erkenntnis und Wahn kam noch eine weitere, spezifische hinzu, die Kant um ein Haar selbst in den Wahnsinn getrieben hätte. Ihm ist nämlich aufgefallen, daß das Wahnsystem Swedenborgs und Leibniz' Erkenntnistheorie in ihrem ganzen Konstrukt nahezu deckungsgleich sind. Was Kant zu seiner Zeit nicht wissen konnte, ist, daß sich hinter beiden ein und dieselbe Schule, nämlich die des Neuplatonismus verbirgt. Jedenfalls, wenn Leibniz mit seiner s c h l u m m e r n d e n M o n a d e - derzufolge in den kleinsten Teilchen Intelligenzen hausen - recht haben sollte, so müßte man auch Swedenborg zugestehen, daß die Materie mit Geistern beseelt sei. Dieser Skandal, demzufolge die seinerzeit in Deutschland vorherrschende Philosophie von einer wahnsinnigen Geisterseherei nicht zu unterscheiden ist, führte Kant jedoch nicht dazu, den Wahn aus der Philosophie auszuschließen, sondern umgekehrt dazu, die vorherrschende Philosophie insgesamt für wahnsinnig zu erklären. Daher rührt auch der ironische und doppelsinnige Titel der Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, einer Schrift, in der die Leibnizsche Metaphysik mit der Swedenborgschen Geisterseherei in einen Topf geworfen und mit diesem gemeinsam über Bord gekippt wurde. Diese in den Träumen vollzogene Doppelliquidation von Swedenborg und Leibniz, Geisterseherei und Metaphysik, ist von der Forschung hinreichend bemerkt und zur Genüge analysiert worden. Was allerdings bislang unbemerkt und unanalysiert blieb, ist die Konsequenz, die sich hieraus für Kant im Anschluß an seine Träume ergab, d. h. die w i c h t i g s t e B r ü c k e f ü r den V o l l z u g d e r k r i t i s c h e n W e n d e ü b e r h a u p t , nämlich die zwischen den Träumen (1766) und der Inaugural-Dissertation (1770). Zwischen beiden Schriften stehen 1. der Erste Grund des Unterschiedes der Gegenden im Räume (1768) sowie 2. die berühmte spätere Aussage Kants: „Das Jahr 69 gab mir großes Licht" (Reil. 5037 in: A.A. Bd. XVIII). Nun ist oft gerätselt worden, worin dieses große Licht bestanden haben könnte; hiermit sei folgender Vorschlag gemacht. Es wurde dargelegt, daß Kant auf der Suche nach den rationalen Orientierungskriterien des Raumes in den Gegenden im Räume objektiv auf den allgemeinen absoluten Raum und subjektiv auf das inkongruente Gegenstück (d. h. das Spiegelbild) gestoßen war. Beides sind indes Figuren aus der analytischen Geometrie, und beide werden über den Begriff der Projektion gewonnen: der rechtwinklige dreidimensionale Raum wird konstruiert durch Projektionen des Punktes auf die Linie, der Linie auf die Fläche und der Fläche auf den Raum, und das Spiegelbild entsteht durch das Ziehen von Perpendikellinien im jeweils gleichen Abstand zur Spiegelfläche. Der erste Teil des großen Lichtes besteht nun in der doch bemerkenswerten Erkenntnis, daß das irrationalste, was die Psychologie zu bieten hat, nämlich die Halluzination, und das rationalste, was die analytische Geometrie zu bieten hat, nämlich die objektiven Kriterien des Raums, auf exakt dem gleichen Prinzip basieren: eben dem der Projektion! Der zweite Teil des großen Lichtes beruht alsdann in dem, was Kant aus dieser Erkenntnis macht.

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1769 erinnert sich Kant an jenes Problem, das er in den Spitzfindigkeiten (1762) sowie in den Negativen Größen (1763) verhandelt hatte, just jenes Problem, das ihn 1763 dazu bewogen hatte, der Philosophie den Rücken zu kehren: also das der l o g i s c h e n F e h l s c h l ü s s e . Nach dem ersten Teil des großen Lichtes kommt er auf die tatsächlich geniale Idee, die Leibnizschen logischen Lehrsätze der Philosophie so zu behandeln, als ob es sich um Swedenborgsche Halluzinationen handeln würde - ergo als Projektionen. Die logischen Lehrsätze bestehen in Subjekt-Prädikat- bzw. in Subjekt-PrädikatObjekt-Relationen. Wenn man sich vorstellt, daß bei den logischen Fehlschlüssen etwa vom Subjekt auf das Prädikat oder vom Subjekt auf das Objekt oder vom Prädikat auf das Subjekt usw. projiziert wird, so läßt sich mit diesem Verfahren eine ganze Menge anfangen. Und genau dieses Prozedere ist jenes, welches Kant in der Inaugural-Dissertation (1770) auf die Leibnizschen Sätze (den Satz des Widerspruchs, den Satz vom zureichenden Grunde, die Monadenlehre sowie auf den Zeit-, den Raum- sowie den Zahlenbegrifl) anwendet. Bei dieser Analyse der Projektionsverhältnisse in logischen Urteilen macht Kant drei Projektionstypen ausfindig: 1. des Subjektiven aufs Objektive, 2. des Intelligiblen aufs Sinnliche und 3. der Prädikate auf ein grammatikalisches Subjekt. Wenngleich Kant in der Inaugural-Dissertation noch in einer anderen Systematik arbeitet als in der späteren Kritik, so zeichnen sich hier bereits die drei möglichen Grundfehler in logischen Urteilen ab: 1. die fehlerhafte Projektion vom Subjekt aufs Objekt (Amphibolie), 2. die fehlerhafte Rückprojektion vom Subjekt aufs Subjekt (Paralogismus) sowie 3. die fehlerhafte Projektion vom Prädikat auf das Subjekt bzw. Objekt (Antinomie). Im übrigen sei diesbezüglich noch angemerkt, daß Kant nicht nur den Gedanken des l o g i s c h e n T r u g s c h l u s s e s als solchen, sondern auch die Wortbezeichnungen A m p h i b o l i e und P a r a l o g i s m u s sowie teilweise sogar deren exakte Bedeutung Aristoteles' Sophistischen Widerlegungen entlehnt hat (vgl. 340 v. Chr., siehe dort: Kap. 4 und 10). Hieraus wird klar, daß, wenn Swedenborg die Probleme gestellt hat, die zur kritischen Wende geführt haben, Aristoteles den ersten tragenden positiven Baustein zur Kritik geliefert hat. Alleine, wenn Aristoteles etliche Dutzend von logischen Trugschlüssen anführte, so reduziert Kant diese auf drei Grundformen, die er wiederum der empirischen Psychologie - der Nosographie von: Verrückung, Wahnwitz und Wahnsinn - verdankt, welche er dann mit der Amphibolie, dem Paralogismus und der Antinomie ins rein Rational-Logische übersetzt. Die vierte und letzte einschlägige Erkenntnis, die Kant zu seiner kritischen Wende bewogen hat, ist auf den Umstand zurückzuführen, daß Emanuel von Swedenborg auf den 17.000 Seiten seiner achtbändigen Abhandlung über die Geisterwelt - seinen in Latein verfaßten Arcana Coelestia (1747-1758 u. 1796) - sich fast auf jeder zweiten Seite ganz ausdrücklich auf s e i n e E r f a h r u n g e n m i t d e r G e i s t e r w e l t beruft, ja daß er sogar drei irdische (telepathische) Experimente anführen kann, um seine Erfahrungen mit der Geisterwelt quasi wissenschaftlich zu belegen.

5. METHODE UND GEDANKENGÄNGE DER KRITISCHEN WENDE

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Wenngleich Kant bereits zu Zeiten der Krankheiten des Kopfes (1764) einsehen mußte, daß es wenig Sinn macht und mitunter sogar kontraproduktiv sein kann, jemandem, der an Sinnestäuschungen leidet, seine vermeintlichen Erfahrungen ausreden zu wollen, so gelangt er in den Träumen zu dem Schluß, daß, wenn dergleichen Erfahrungen auch nur ansatzweise möglich wären, man mit dem Empirismus alles und jedes und noch den größten Unsinn rechtfertigen könnte. Diese Erkenntnis bewirkt mit den Träumen bei Kant zweierlei. Zum einen bewirkt sie die kritische Umkehrung in der Architektonik seiner nachfolgenden Schriften, indem Kant ab 1766 für alles Weitere die Problemlösungen den Problemstellungen voranstellen wird. So stellte er bereits in seinen Träumen den dogmatischen Teil vor den historischen Teil - womit er „die Vernunftgründe vor der Erfahrung voranschicke [η]" (Τ II 970 A 93) wollte - und gibt somit eine (anscheinende) Problemlösung (im 1. Teil), n o c h b e v o r das Problem (im 2. Teil) überhaupt benannt ist. Eben dieselbe Umkehrung vollzog Kant auch in der Inaugural-Dissertation (1770), indem er auch dort die Problemlösungen (in den Abschnitten I-IV) der Problemstellung (im Abschnitt V) vorausschickte. Dieselbe architektonische Umkehr vollzog Kant ferner in allen drei späteren Kritiken, bei denen stets die Problemlösung (welche Kant Analytik nennt) der Problemstellung (die Kant Dialektik nennt) vorangestellt wird. Zum anderen bewirkte Swedenborgs Berufung auf Gespenstererfahrungen bei Kant einen ausgeprägten Skeptizismus gegenüber allen Erfahrungswerten, was ihn zur V e r w e r f u n g d e s E m p i r i s m u s sowie umgekehrt zu seiner P h i l o s o p h i e d e s A p r i o r i bewogen hat. So führte ihn gerade der Umstand, daß Scheinerfahrungen das Maß m ö g l i c h e r E r f a h r u n g bei weitem übersteigen können, einerseits, sowie der hieraus zu ziehende Schluß, daß d i e G r e n z e n d e r m ö g l i c h e n E r f a h r u n g e n den tatsächlich gemachten Erfahrungen mitnichten zu entnehmen sind, andererseits, erstmals in den Träumen dazu, explizit d a s A p r i o r i zu thematisieren - „nämlich dasjenige zu beweisen, wovon man schon vorher wußte, daß es sollte bewiesen werden" (T II 972 A 95). Wenngleich Kant auch in seiner späteren Erkenntnistheorie noch versucht, sich seine apriorische Philosophie - die sich von allem Empirismus absetzt - wenigstens von der Empirie a posteriori bestätigen zu lassen, so steht doch seine spätere Ethik in einem notwendigen Widerspruch zu allen Erfahrungswerten. Denn „in Ansehung der sittlichen Gesetze ist die Erfahrung (leider!) die Mutter des Scheins, und es ist höchst verwerflich, die Gesetze über das, was ich tun soll, von demjenigen herzunehmen, oder dadurch einschränken zu wollen, was getan wird" (KrV III 325 A 318 Β 375). Daher ist auch „der Begriff der Freiheit der Stein des Anstoßes für alle Empiristen" (KpV VII 112 A 13), weil „Freiheit kein Erfahrungsbegriff [ist] und es auch nicht sein [kann], weil er immer bleibt, obgleich die Erfahrung das Gegenteil zeigt" (GMS VII 92 BA 113f). Eben darum räumt Kant seiner Ethik ein Primat vor aller Wissenschaft ein, weil wir, wenn wir die Ethik auf

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ERSTER TEIL: D I E KRITISCHE W E N D E

empirische Daten gründen wollten, „die Sittlichkeit in Gesinnungen [...] mit der Wurzel ausrotte[n] und [...] die Menschheit degradieren" würden, womit sich letztendlich der Empirismus als „weit gefährlicher, als alle Schwärmerei" erwiesen hätte (GMS VII 191 A 126). Nun zielt Kant mit seiner Empirismuskritik auf den Kern der modernen Wissenschaftsrhetorik: nicht nur auf die empiristischen Erkenntnistheorien als solche, sondern auch auf die gesamte sich auf Erfahrung berufende moderne Wissenschaftswelt; eine Welt, die „der Vernunft ihre Ungeheuer aufzwingt" (GMS VII 251 A 217f). Die wichtigsten Punkte seien hier nochmals rekapituliert. Es wurde dargelegt, daß Kant die zentralen Weichenstellungen für seine spätere Kritik nämlich: 1) Zeit und Raum als reine Formen der sinnlichen Anschauung; 2) den Erkenntnisprozeß als Projektionsvorgang, welcher sich später auch in der Theorie der produktiven Einbildungskraft niederschlägt; 3) die Amphibolie sowie die Unterscheidung von Noumenon und Phaenomenon, 4) den Paralog i s m i sowie die Einheit des Bewußtseins und schließlich 5) die Philosophie des Apriori - niemand anderem als Swedenborg und der auf Swedenborgs Psychose bezogenen empirischen Psychologie verdankt. Hieraus erhellt, warum Kant seit den 80er Jahren seine Swedenborg-Erfahrung der 60er Jahre völlig verdrängen und durch die (irreführende) Deckerinnerung der vermeintlichen Hume-Erfahrung ersetzen mußte. Denn hätte er, wie bereits dargelegt, zur Rechtfertigung seiner Kritik etwa geschrieben: „Swedenborg hat mich aus dem dogmatischen Schlummer geweckt", so wäre er sicherlich für ebenso verrückt erklärt worden wie der Geisterseher. Schlimmer noch: Wenn es zutreffen sollte, daß Kants rationale Vernunftkritik (der 80er Jahre) zumindest entstehungsgeschichtlich aus seiner empirischen Irrationalitätskritik (der 60er Jahre) hervorgegangen ist (wie hier dargelegt wird), so müßte die transzendentale Logik auf die empirische Psycho-Logik zurückzuführen sein, was der apriorischen, rein deduktiven Beweisführung der Kritik allerdings widersprechen würde. Alleine dieser Widerspruch ist nur ein scheinbarer, da es durchaus möglich ist, die rational-logischen Mechanismen aus den psychologischen zu abstrahieren, wenngleich es sich hierbei freilich in erster Linie um den subjektiven Weg der eigenen Erkenntnis und nicht um dessen rational-logische Begründung handeln kann. Eben diesen Rationalisierungsprozeß vollzog Kant bereits in der Inaugural-Dissertation, indem er von „etwas abstrahieren aus" (nämlich das Rationale aus dem Empirischen zu entnehmen) zu „gänzlich abstrahieren von" (nämlich beim Rationalen vom Empirischen ganz abzusehen) gelangte (ID V 35 A 2 10).

6. Der systematische Verlauf der kritischen Wende

Der inhaltliche Kerngedanke der kritischen Wende befindet sich nicht, wie man vermuten könnte, in den Träumen eines Geistersehers, sondern bereits in dem Versuch über die Krankheiten des Kopfes. Der Gedanke lautet: „Die Gebrechen des gestörten Kopfes lassen sich auf so viele Hauptgattungen bringen, als Gemütsfáhigkeiten sind, die hierdurch angegriffen worden." (KdK II 892 A 22). Obgleich der Gedanke zunächst einmal recht banal scheint, wird kein anderer so schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen wie er. 1764 hätte Kant sich dies wahrscheinlich selbst nicht träumen lassen - und tatsächlich ist dem Satz auf den ersten Blick auch nicht anzusehen, was sich aus ihm später noch entfalten wird: nämlich die gesamte nachfolgende Kritik. Mit dem zitierten Satz in dem Versuch über die Krankheiten des Kopfes wird erstmals 1764 ein Spiegelverhältnis zwischen W a h n k r i t i k und V e r n u n f t k r i t i k behauptet; , K r i t i k ' verstehen wir hier - mit Kant - im altklassischen Sinne des Wortes: als Unterscheidungslehre, von griech. k r i t ê i ο η. Die Unterscheidungsmerkmale des Wahns und die Unterscheidungsmerkmale der Vernunft werden somit wie zwei spiegelverkehrte Gegenstücke zueinander gedacht. Auf dieser Spiegelkonstruktion von Irrationalitätskritik und Rationalitätskritik beruht der gesamte weitere Verlauf der kritischen Wende. Dieses Spiegelverhältnis besteht nicht nur dadurch, daß Kant zunächst während der psychologischen Phase (1763-1766) eine Wahnkritik ausarbeitet, die er dann während der Phase der Anwendung (1768-1781) auf die Vernunftkritik überträgt. Das Spiegelverhältnis ist auch darin zu sehen, daß sich sowohl die psychologische Phase als auch die logische ihrerseits jeweils in einen irrationalitätskritischen und einen vernunftkritischen Teil gliedern. Der Unterschied zwischen beiden Phasen ist alleine einer der Gewichtung, indem in der psychologischen Phase die Wahnkritik und in der logischen die Vernunftkritik überwiegt; tatsächlich sind jedoch beide Kritiken in beiden Phasen vorhanden und ohne ihr Spiegelverhältnis in ihrer Entwicklung auch nicht zu begreifen. Die Bezeichnung einer „ K r i t i k d e r V e r n u n f t " fällt in Kants Werk erstmals in der Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalben Jahre 1765-1766 (NEV II 914 A 13, Herv. Kant). Bei dieser kurzen Vorlesungsankündigung handelt es sich wahrscheinlich um die programmatischste Schrift, die Kant jemals verfaßt hat. Prognostisch kündigt sie nicht nur

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ERSTER TEIL: DIE KRITISCHE WENDE

den Weg an, den er im Wintersemester 65/66 in seiner Vorlesung über rationale und empirische Psychologie (1765 f) beschreiten wird, sondern auch den Weg der kritischen Wende insgesamt: „Ich fange demnach [in meiner Vorlesung] nach einer kleinen Einleitung von der empirischen Psychologie an", um zum Ende der Vorlesung auf Gegenstände zu sprechen zu kommen, welche „also die rationale Psychologie" enthalten (NEV II 911 A 9 bzw. 912 A 9). Damit wird hier der Weg der 60er Jahre vorgezeichnet: nämlich v o m P s y c h o l o g i s c h e n z u m L o g i s c h e n , ebenso wie v o m E m p i r i s c h e n z u m R a t i o n a l e n . Im Unterschied zu späteren Zeiten gibt die Vorlesungsankündigung allerdings noch offen preis, welchem Ursprung sich die von ihr angekündigte „ K r i t i k d e r V e r n u n f t " verdankt, indem hier noch die Vernunftkritik, nämlich „eine Kritik und Vorschrift des gesunden Verstandes" (NEV II 912 A 10), jener Wahnkritik der kranken Köpfe gegenübergestellt wird, welche Kant im Jahr zuvor in dem Versuch über die Krankheiten des Kopfes erarbeitet hatte. Dabei geht bereits hier die Wahnkritik in die Vernunftkritik ein, indem die „ K r i t i k d e r V e r n u n f t " in einem „Wahn v o n W e i s h e i t " bzw. in einem „ B l e n d w e r k v o n W i s s e n s c h a f t " Ordnung schaffen soll (NEV II 908 A 5 bzw. 909 A 6, Herv. C. R.). Damit übernimmt die Vernunftkritik bereits 1765 die Aufgabe, die Vernunft von jenen Elementen des Wahns zu reinigen, die sich in sie eingeschlichen haben. Das Spiegelverhältnis von Wahnkritik und Vernunftkritik ist auch Grundlage für die Träume eines Geistersehers (1766), die Inaugural-Dissertation (1770) sowie für die Kritik der reinen Vernunft (1781/87). In den Träumen eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik wird ein Spiegelverhältnis reflektiert zwischen dem Wahnsinn Swedenborgs und Leibniz' Neuplatonismus. Dabei erweist sich die Philosophie als nicht minder wahnwitzig als die Geisterseherei. In der Inaugural-Dissertation (1770) zieht Kant die Konsequenz hieraus, indem er die Lehrsätze der Leibnizschen Philosophie insgesamt als einen Wahn betrachtet und dementsprechend analysiert. Wenngleich auch in der Kritik der reinen Vernunft (1781/87) die Wahnkritik zugunsten der Vernunftkritik deutlich in den Hintergrund tritt, so verschwindet sie darum doch nicht. Zum einen, weil nun die Wahnkritik selbst zum inhärenten Bestandteil der Vernunftkritik geworden ist, indem sich die Kritik in eine Deduktion des Rationalen (die transzendentale Analytik) sowie in eine Bestandsaufnahme des Irrationalen (die transzendentale Dialektik) der Vernunft aufteilt. Zum anderen, weil das Irrationale der Philosophie für den kritischen Kant einen philosophischen Ort, nämlich den der philosophischen Mystik, erhalten hat. Zum dritten, weil auch der Wahnsinn als solcher aus der Kritik nicht gänzlich verschwunden ist. Man denke beispielsweise nur an den Satz des roten Zinnobers, in welchem Kant die Gegenposition zur Kritik als einen allumfassenden Wahnsinn beschreibt. „Würde" - heißt es da - „der Zinnober bald rot, bald schwarz, bald leicht, bald schwer sein, ein Mensch bald in diese, bald in jene tierische Gestalt verändert werden, am längsten Tag bald das Land mit Früchten, bald mit Eis und Schnee bedeckt sein, so könnte

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6. DER SYSTEMATISCHE VERLAUF DER KRITISCHEN WENDE

meine empirische Einbildungskraft nicht einmal Gelegenheit bekommen, bei der Vorstellung der roten Farbe den schweren Zinnober in die Gedanken zu bekommen, oder würde ein gewisses Wort bald diesem, bald jenem Ding beigelegt, oder eben auch dasselbe Ding bald so, bald anders benannt, ohne daß hierin eine gewisse Regel, der die Erscheinungen schon von selbst unterworfen sind, herrschte, so könnte keine empirische Synthesis der Reproduktion statt finden." (KrV 163 A lOOf) Sicherlich rekurriert Kant bei dieser Beschreibung des allumfassenden Wahns nicht zufallig ausgerechnet auf den roten Zinnober - eine bereits im Mittelalter k ü n s t l i c h hergestellte Farbe, die nur in einer sprachlichen Analogie zum Metall des schweren Zinnobers steht - , ist doch der Zinnober seit alters her ein Sinnbild für alchemistische und mystische Verschmelzung. Tatsächlich begleitet der Wahnsinn - als das spiegelverkehrte Gegenstück zur reinen Vernunft - die gesamte kritische Epoche Kants. So bildet die Wahnkritik nicht nur einen elementaren Bestandteil der Vernunftkritik, sondern die Kritik der Vernunft ist selbst als eine Anti-Wahnkritik zu betrachten: psychologisch als Antipsychosetheorie, erkenntnistheoretisch als eine Antineuplatonismustheorie, ethisch als Antiparanoiatheorie und religiös als eine Antignosistheorie. So ist die transzendentale Deduktion der ersten Kritik damit befaßt, den Wahn bei der Erkenntnis auszuschließen, ebenso wie der kategorische Imperativ der zweiten Kritik damit beauftragt ist, den Wahn im Sozialen und Ethischen aus der Welt zu räumen. Während d e r p s y c h o l o g i s c h e n P h a s e 1763 bis 1766 (in den Krankheiten des Kopfes, der Vorlesung über empirische und rationale Psychologie, in den entsprechenden Parallelpassagen der Anthropologie sowie schließlich in den Träumen eines Geistersehers) entwickelt Kant eine Wahntheorie, die sich als eine Psychose- bzw. Schizophrenietheorie begreift. Grundlage für Kants Schizophrenietheorie sind die „kranken Köpfe des Hospitals", die er der klinisch-psychiatrischen Fachliteratur seiner Zeit entnommen hat. Das Kernstück dieser Wahntheorie besteht in einer Klassifikation der psychischen Krankheiten (d. h. einer Nosographie), die er in den Krankheiten sowie in den Vergleichspassagen der Anthropologie vornimmt. Dabei nennt Kant den Oberbegriff der Schizophrenie bzw. der Psychose: die V e r k e h r t h e i t . Diese Verkehrtheit umfaßt drei verschiedene Formen des Wahns - nämlich: Verkehrtheit (unterteilt sich in:) Verrückung Wahnwitz Phantasterei Träume im Wachen Mischmasch

Wahnsinn Verschwörung

Bei der V e r r ü c k u n g handelt es sich Kant zufolge um eine S t ö r u n g d e s V e r s t a n d e s (da sie auf Halluzinationen beruht), beim W a h n w i t z um eine S t ö r u n g d e r V e r n u n f t (da hier eine Ich-Spaltung vorliegt) und beim

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ERSTER TEIL: DIE KRITISCHE WENDE

W a h n s i n n um eine S t ö r u n g d e r U r t e i l s k r a f t (da hier Verfolgungsund Größenwahn vorliegen). Das somit von Kant aufgestellte Spiegelverhältnis von Wahnkritik und Vernunftkritik basiert zunächst noch auf einem klinischen und damit empirischen Befund: Es ist die Beobachtung, welche lehrt, daß der Halluzinationswahn sich auf die Verstandesfunktion, der IchSpaltungswahn sich auf die Vernunftfunktion und der Verfolgungs- und Größenwahn sich auf die Funktion der Urteilskraft beziehen. Kants Psychosetheorie läßt sich allerdings kaum verstehen, wenn man sie nicht mit den heutigen Schizophrenietheorien vergleicht. Aus einem solchen Vergleich ergibt sich, daß Kants Typologisierung des Wahns mit den heutigen Typologisierungen der Psychiatrie sowie der Psychoanalyse nahezu übereinstimmt. Von daher empfiehlt es sich, Kants Psychosetheorie anhand der entsprechenden heutigen Theorien zu veranschaulichen.

a) Die drei klassischen Typen der Psychose in der Psychoanalyse und der Psychiatrie Vergegenwärtigen wir uns, was einerseits die Psychoanalyse unter der P s y c h o s e versteht und was andererseits die Psychiatrie als S c h i z o p h r e n i e begreift, so finden wir in beiden Disziplinen die besagten drei Wahntypen Kants - die Verrückung, den Wahnwitz sowie den Wahnsinn - wieder, wenn auch freilich mit anderen Bezeichnungen. Unter einem P s y c h o t i k e r versteht die Psychoanalyse einen Kranken, der an einem erheblichen Realitätsverlust leidet, Wahnvorstellungen in die Welt der Gegenstände projiziert und somit halluziniert. Dieses ist die offensichtlichste und daher d i e e r s t e P o s i t i o n der Psychose (die d e s W a h n s ) , bei der eine S t ö r u n g im B e z u g z u m O b j e k t vorliegt. Von hier aus schließt die Psychoanalyse auf eine zweite Störung, nämlich auf eine Spaltung des Bewußtseins oder des Ichs, wobei der Wahn nunmehr jenem entspricht, was vom Ich abgespalten wird. Dies ergibt d i e z w e i t e P o s i t i o n der Psychose (d i e d e r S p a l t u n g ) , bei der e i n e S t ö r u n g im S e l b s t b e z u g d e s S u b j e k t s vorliegt. Von der Spaltung gelangt die Psychoanalyse zur dritten Position, nämlich zu den wiederkehrenden Dämonen, d. h. zu den von außen halluzinativ zum Subjekt wieder zurückkehrenden abgespaltenen Teilen. Dieses ist die d r i t t e P o s i t i o n der Psychose (die d e r P a r a n o i a ) , bei der e i n e S t ö r u n g d u r c h d i e P r ä d i k a t i v b e s t i m m u n g z w i s c h e n S u b j e k t u n d O b j e k t vorliegt. Von Bedeutung ist hierbei, daß die Psychoanalyse diese drei Positionen des Wahns nicht - wie die Psychiatrie - als drei verschiedene Krankheitsformen, sondern als die drei Funktionsformen ein und derselben Psychose betrachtet. Will man wissen, woher die Psychoanalyse ihr Wissen bezieht, so sei darauf verwiesen, daß sie ihre Erkenntnisse auf die (vorwiegend schriftlichen)

6. DER SYSTEMATISCHE VERLAUF DER KRITISCHEN WENDE

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Äußerungen der Psychotiker selbst stützt, indem sie versucht, vermittels der psychoanalytischen Methode, das Ungereimte dieser Berichte auf ihre Verdrängungen hin zu untersuchen und somit die Abspaltungen wieder auf Sinnzusammenhänge zurückzubeziehen. Hierin ist das Verdienst der Psychoanalyse in der Psychoseforschung zu sehen: Daß sie die einzige Wissenschaft ist, die den Wahn nicht nur zu beschreiben und zu klassifizieren, sondern auch auf Sinnzusammenhänge hin zu a n a l y s i e r e n weiß. Dieses Entschlüsselungsverfahren hat sich insbesondere bei der Analyse der Paranoia als ausgesprochen fruchtbar erwiesen, wohingegen die Psychoanalyse zu den zwei anderen Schizophrenietypen zugegebenermaßen recht wenig zu sagen weiß. Was die Psychoanalyse Psychose nennt, das bezeichnet die Psychiatrie bekanntlich als S c h i z o p h r e n i e . Diese charakterisieren Laplanche und Pontalis (1972 453f) folgendermaßen: „Von Eugen Bleuer (1911) geschaffener Ausdruck zur Kennzeichnung einer Gruppe von Psychosen, deren Einheit Kraepelin bereits gezeigt hatte, indem er sie unter der Bezeichnung D e m e n t i a p r a e c o x zusammenfaßte und drei klassisch gebliebene Formen unterschied: hebephrene, katatone und paranoide Form. - Mit der Einführung des Ausdrucks , Schizophrenie' (vom Griechischen σχίζω, spalten, teilen) beabsichtigt Bleuer, das seiner Ansicht nach grundlegende Symptom dieser Psychosen hervorzuheben: die Spaltung. Der Ausdruck hat sich in der Psychiatrie und Psychoanalyse durchgesetzt, welches auch immer die Meinungsverschiedenheiten [...] sein mögen. - Klinisch wird die Schizophrenie unterteilt in einander sehr unähnliche Formen, bei denen man gewöhnlich folgende Merkmale hervorhebt: Inkohärenz des Denkens, Handelns und der Affektiviät [...], Ablösung von der Realität mit Rückzug auf sich selbst und Vorherrschaft eines Innenlebens, das den Phantasieproduktionen preisgegeben ist (Autismus), eine mehr oder weniger intensive, schlecht systematisierte Wahnaktivität. Schließlich ist der chronische Charakter, der sich nach den verschiedensten Rhythmen im Sinne eines intellektuellen und affektiven ,Abbaus' entfaltet und oft zu demenzartigen Zuständen führt, für die meisten Psychiater ein Hauptzug, ohne den man die Diagnose der Schizophrenie nicht stellen kann." Da die Diagnose einer Schizophrenie Gewaltmaßnahmen von Seiten des Staates - mitunter eine Entmündigung sowie eine Zwangsinternierung des Patienten - nach sich ziehen kann und hierbei der staatliche Mißbrauch - z. B. der Versuch totalitärer Staaten, durch eine dementsprechende Diagnose Andersdenkende auszuschalten - nie gänzlich auszuschließen ist, stellt sich die Frage nach der Definitionsgewalt über den Begriff der Schizophrenie. Um Mißverständnisse auszuräumen bezieht sich vorliegende Studie auf die offiziellen Diagnoseschlüssel, wie sie von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie von der American Psychiatric Association erstellt wurden. Ihnen entstammen die nachfolgenden Definitionen und Beschreibungen der d r e i k l a s s i s c h e n F o r m e n d e r S c h i z o p h r e n i e , d. h. der K a t a t o n i e , der H e b e p h r e n i c sowie der P a r a n o i a .

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ERSTER TEIL: DIE KRITISCHE WENDE

Die erste Form ist die der k a t a t o n e n S c h i z o p h r e n i e . Sie wird folgendermaßen beschrieben: „Als wesentliche und beherrschende Merkmale stehen psychomotorische Störungen im Vordergrund, die zwischen Extremen wie Erregung und Stupor oder zwischen Befehlsautomatismus und Negativismus alterieren können. Zwangshandlungen und -Stellungen können lange Zeit beibehalten werden. Episodenhafte schwere Erregungszustände können ein Charakteristikum dieses Krankenbildes sein. - Die katatonen Phänomene können mit einem traumähnlichen (oreiroiden) Zustand mit lebhaften szenischen Halluzinationen einhergehen. - Aus unklaren Gründen kommt die Katatonie in den Industrieländern gegenwärtig selten vor, in anderen Ländern ist sie jedoch nach wie vor häufig." {Internationale Klassifikation psychischer Störungen,31999 107ff). Die zweite Form ist die der h e b e p h r e n e n S c h i z o p h r e n i e , welche folgende Merkmale kennzeichnet. „Bei dieser Form von Schizophrenie stehen die affektiven Veränderungen im Vordergrund. Wahnvorstellungen und Halluzinationen sind flüchtig und bruchstückhaft, das Verhalten verantwortungslos und unvorhersehbar und Manierismen häufig. Die Stimmung ist flach und unpassend, oft begleitet von Kichern oder selbstzufriedenem, selbstversunkenem Lächeln oder von einer hochfahrenden Umgangsweise, von Grimassieren, Manierismen, Faxen, hypochondrischen Klagen und immer wiederholten Äußerungen (Reiterationen). Das Denken ist ungeordnet, die Sprache weitschweifig und zerfahren. Der Kranke neigt dazu, sich zu isolieren; sein Verhalten erscheint ziellos und ohne Empfindung. [...] Eine oberflächliche und manieristische Vorliebe für Religion, Philosophie und andere abstrakte Themen kann es dem Zuhörer zusätzlich erschweren, dem Gedankengang zu folgen" (ebd.). Die dritte Form ist die der p a r a n o i d e n S c h i z o p h r e n i e , die folgendermaßen beschrieben wird. „Das Hauptmerkmal des paranoiden Typus der Schizophrenie ist das Vorhandensein von ausgeprägten Wahnphänomenen oder akustischen Halluzinationen bei weitgehend unbeeinträchtigten kognitiven Funktionen und erhaltener Affektiviät. Symptome, wie sie fur den Desorganisierten oder Katatonen Typus [der Schizophrenie - C. R.] charakteristisch sind (ζ. B. desorganisierte Sprechweise, verflachter oder inadäquater Affekt, katatones oder desorganisiertes Verhalten), stehen nicht im Vordergrund. Wahnthemen sind gewöhnlich die der Verfolgung oder der Grandiosität oder beides, es können aber auch andere Wahnthemen auftreten (ζ. B. Eifersucht, religiöser oder körperbezogener Wahn). Es können zahlreiche Wahnphänomene bestehen, sie sind aber üblicherweise um ein einheitliches Thema organisiert. Auch die Halluzinationen beziehen sich meist inhaltlich auf das Wahnthema. Nebenmerkmale sind Angst, Wut, Distanzierung und Streitsucht. Der Betroffene kann ein überlegenes und besserwisserisches Verhalten und eine steife, formale Art oder eine übermäßige Intensität im zwischen-menschlichen Kontakt an den Tag legen. Die Verfolgungsthemen können die Person zu suizidalem Verhalten prädestinieren, und das Zusammenwirken von Verfolgungs-

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6. DER SYSTEMATISCHE VERLAUF DER KRITISCHEN WENDE

und Größenwahn mit Wut kann zu Gewalttätigkeit prädisponieren. Die Störung beginnt in der Regel später als die anderen Schizophrenietypen und die charakteristischen Merkmale können im Langzeitverlauf stabiler sein. In neurophysiologischen oder anderen Untersuchungen der kognitiven Funktionen zeigen die Betroffenen nur geringe oder keine Beeinträchtigungen. Einiges weist darauf hin, daß die Prognose des Paranoiden Typus wesentlich günstiger sein kann als die der anderen Schizophrenietypen, insbesondere in Hinblick auf die berufliche Leistungsfähigkeit und die Fähigkeiten zur selbständigen Lebensführung." (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-IV,21998 342f) Mit diesen drei Positionen werden somit von der Psychiatrie drei verschiedene Krankheitstypen ontophänomenologisch beschrieben, zu Diagnosezwecken mit einem Schlüssel versehen und systematisch klassifiziert. Im Unterschied zur Psychoanalyse a n a l y s i e r t die Psychiatrie die Schizophrenie also nicht, sondern sie b e s c h r e i b t nur ihre verschiedenen Ausprägungen, um die Patienten der einen oder anderen (vornehmlich medikamentösen) Behandlung zuführen zu können. Dabei bezieht die Psychiatrie ihr Wissen zum einen aus der ihr alleine vorbehaltenen klinischen Praxis, zum anderen aus neurophysiologischen Untersuchungen. Vergleichen wir diese drei Schizophrenietypen der Psychiatrie mit den drei Charakteristika der Psychose seitens der Psychoanalyse, so ergibt sich folgendes Schema:

1. Position

2. Position

3. Position

Psychiatrie

Schizophrenie

Begriff

katatone Schizophrenie

hebephrene Schizophrenie

paranoide Schizophrenie

Begriff Störung gespaltene Gegenstände

Spannungsirrsinn Halluzinationen

Jugendirrsinn Dekomposition

Verfolgungsirrsinn Halluzinationen

Motorik

Denken/Affekte

Gedankeninhalt

Psychoanalyse

Psychose

Bezug der Störung

Projektion aufs Objekt

Spaltung im Subjekt

Paranoia durchs Prädikat

Obgleich die Psychoanalyse und die Psychiatrie ihre Erkenntnisse nicht auf die gleiche Weise gewinnen, obgleich sie auch ihre Gegenstände unterschied-

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ERSTER TEIL: DIE KRITISCHE WENDE

lieh benennen, so sind sie sich doch sowohl in der besagten Dreiteilung als auch in den diesbezüglichen Zuordnungen weitestgehend einig. Beide stimmen darin überein, daß bei Psychotikern oder Schizophrenen ein erheblicher Realitätsverlust vorliegt; ein W a h n , der auf S p a l t u n g e n sowie auf eine R ü c k k e h r d e s A b g e s p a l t e n e n schließen läßt. Beziehen wir diese Spaltungen auf jene Realitätsgegenstände, denen gegenüber eine wahnhafte Position bezogen wird, so ergibt sich, daß beim katatonen Typus (bzw. bei der Projektion) eine wahnhafte Beziehung zum Objekt, beim hebephrenen Typus (bzw. bei der Ich-Spaltung) ein Wahn in der Selbstbeziehung des Subjekts und beim paranoiden Typus (bzw. bei der Paranoia) eine wahnhafte Beziehung in der Prädikativrelation zwischen Subjekt und Objekt vorliegt. Hieraus könnte sich erklären, warum das, was die Psychoanalyse psychoprozessual an einem einzigen Typus analytisch zergliedert, auch den drei Krankheitstypen der Psychiatrie entspricht: weil im letzteren Fall das, was wohl allen Psychosen eigen ist, sich bei einem gegebenen Krankheitsbild auf die Objekt-, Subjekt- oder Prädikatposition fokussiert hat. Daß hierbei diese Störungen des Denkens offenbar auch mit den drei grammatikalischen Satzpositionen - Subjekt, Prädikat und Objekt - in Verbindung stehen, resultiert wiederum daraus, daß hier nur soviel Störungstypen anzutreffen sind, als es Denkfunktionen gibt, die hierdurch beeinträchtigt werden - und dieser gibt es eben drei. So läßt sich beim katatonen Typus (bzw. bei der Projektion) eine Spaltung der Motorik (Kant: des Verstandes), beim hebephrenen Typus (bzw. bei der Ich-Spaltung) eine Spaltung des Denkens und damit auch der Affektivität (Kant: der Vernunft) und beim paranoiden Typus (bzw. bei der Paranoia) eine Spaltung des Inhalts der Gedanken (Kant: der Urteilskraft) feststellen. Ferner läßt sich feststellen, daß ausgeprägte Wahn- und Halluzinationszustände sowohl beim katatonen als auch beim paranoiden Typus der Psychiatrie (ebenso wie bei der Projektion und bei der Paranoia der Psychoanalyse) anzutreffen sind, während diese bei dem hebephrenen Typus (d. h. der eigentlichen Dekomposition des Denkens) kaum noch oder gar nicht mehr vorhanden sind. Hieraus resultiert vermutlich auch die Differenz zwischen der psychoprozessualen Beschreibung der Psychoanalyse und der deskriptiven der Psychiatrie. Da, wo die Spaltung den Gedankeninhalt betrifft (in der Prädikativposition, d. h. in der Paranoia) stimmen die Analysen der Psychoanalyse mit den Deskriptionen und Krankheitsbeschreibungen der Psychiatrie bis hin zum Wortgebrauch (Paranoia, paranoide Schizophrenie) vollkommen überein. Da jedoch, wo die Spaltung den Signifikanten, d. h. die Form selbst des Denkens ergriffen hat (in der Dekomposition der Subjektposition, d. h. der Hebephrenic), läßt sich e i n e A n a l y s e d e r P s y c h e insofern nicht mehr erstellen, als die Spaltungen nicht mehr auf Verdrängungen und damit der Wahn nicht mehr auf Inhalte zurückzubeziehen ist. Hier, wo die Analyse der Psychose nicht mehr greift, müssen wir uns notgedrungen mit den psychiatrischen Beschreibungen von außen begnügen.

6. DER SYSTEMATISCHE VERLAUF DER KRITISCHEN WENDE

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Aus einer ähnlichen Erwägung erklärt sich auch, warum die Katatonie (bzw. Projektion) sich entweder mit der hebephrenen (gespaltenen) oder aber mit der paranoiden Form verbinden kann, eine Artikulation zwischen Paranoia und Hebephrenic hingegen nahezu ausgeschlossen ist. Erkennen wir in der K a t a t o n i e (dem gestörten Verstand in bezug aufs Objekt) die prozeßhafte Form selbst des Wahns, so kann dieser Wahnprozeß inhaltlich entweder auf eine P a r a n o i a (eine gestörte Urteilskraft in der Prädikativbestimmung zwischen Subjekt und Objekt) oder aber auf eine H e b e p h r e n i e (d.h. eine gestörte Vernunft im Subjekt selbst) zurückgeführt werden. Anders gesagt: Der Verstand wird entweder durch eine gestörte Urteilskraft oder aber durch eine gestörte Vernunft verrückt. Eine Verbindung zwischen Paranoia und Hebephrenie schließt sich dahingegen wechselseitig aus, weil, wenn das Denken selbst in seiner Form gespalten ist (Hebephrenie), die Gedankeninhalte nicht mehr gespalten sein können, insofern es nämlich ein Denken formal gar nicht mehr gibt. Umgekehrt: Sind die Gedankeninhalte (wie bei der Paranoia) gespalten, so setzt dies ein formal intaktes Denken (und daher: das Nichtvorhandensein einer Hebephrenie) voraus. Beobachten wir in der Paranoia eine leichtere Form, in der Katatonie eine mittelschwere Form und in der Hebephrenie die schwerwiegendste Form von Schizophrenie, so ist jene Beobachtung der Psychiatrie von Interesse, derzufolge die mittelschwere, rein prozessuale Form der Katatonie in den industrialisierten Ländern kaum noch - in anderen Teilen der Welt jedoch noch sehr wohl - anzutreffen ist. Dieses dürfte auf die Ächtung, Pathologisierung und Internierung der Psychose in den industrialisierten Ländern zurückzufuhren sein (vgl. G Deleuze u. F. Guattari 1977): daß sich die Schizophrenie selbst spaltet, den formal-prozeßhaften mittelschweren Typus der K a t a t o n i e ausschließt und sich nur noch auf die inhaltlichen Wahngründe, entweder in den Prädikativbestimmungen zwischen Subjekt und Objekt (in der gewöhnlich erst im fortgeschrittenen Alter ausbrechenden leichteren Form der P a r a n o i a ) oder aber im Subjekt selbst (in der gewöhnlich schon im Jugendalter ausbrechenden schweren Form der H e b e p h r e n i e ) fokussiert.

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ERSTER TEIL: DIE KRITISCHE WENDE

b) Kants Beschreibung und Analyse der Schizophrenie Im zweiten Teil dieser Schrift, dort in dem Kapitel über die Krankheiten des Kopfes, wird sich im Detail noch zeigen, daß die von Kant vorgenommene Onomastik mit der soeben beschriebenen psychiatrischen Nosographie vollkommen übereinstimmt. Diese Übereinstimmung betrifft nicht nur die Gliederung der P s y c h o s e (Kant: V e r k e h r t h e i t ) in ihre drei Subtypen, sondern auch das, was diesen Subtypen selbst subsumiert wird. So entspricht das, was Kant V e r r ü c k u n g nennt, ohne Zweifel der k a t a t o n e n S c h i z o p h r e n i e der Psychiatrie. Ebenso wie die letztere hebt auch Kant zum einen den zwanghaften, zum anderen den zwischen Extremen pendelnden Charakter dieser Psychosen hervor. Eben aufgrund der offensichtlichen Ambivalenz dieser heute auch als Spannungsschizophrenie bezeichneten Störung ordnet Kant die zwischen Extremen pendelnden schizoaffektiven Störungen der Depression und Manie dieser ersten Position zu. Auch die starken Halluzinationen sowie die traumähnlichen Zustände (Kant: das Träumen im Wachen - Psychiatrie: die oneiroiden Zustände), die der Verrückung zugeschrieben werden, finden sich sowohl bei Kant als auch noch heute in der Psychiatrie wieder. Nicht zuletzt ist bemerkenswert, daß Kant gerade an den Verrückten den ambivalenten Charakter des Wahns erkennt und die sich hieraus ergebenden Konsequenzen (nämlich: die der K r i t i k ) zieht. Was Kant den W a h n w i t z nennt, jener Mischmasch von unkluger Kopfbrecherei, bei dem das Denken sowie die Affektivität selbst angegriffen und zerstört werden (Unsinnigkeit, Raserei, Verzweiflung, Tobsucht), so entspricht diese Rubrik zweifelsohne dem h e b e p h r e n e n T y p u s von Schizophrenie. Auch der diesem Typus subsumierte Untertypus des A b e r w i t z e s (Kant: das Kopfzerbrechen über das Perpetuum mobile; Psychiatrie: die manieristische Vorliebe für Religion, Philosophie und andere abstrakte Themen) wird von beiden unterstrichen. Daß dieser Typus, wie Kant immer wieder betont, allergrößtenteils unheilbar ist, wird auch von der heutigen Psychiatrie bestätigt. Schließlich faßt Kant unter dem W a h n s i n n genau jene Subtypen zusammen, die auch die Psychoanalyse noch heute der P a r a n o i a zuordnet - nämlich: den V e r f o l g u n g s w a h n (Kant: eine allgemeine Verschwörung wider sich), die E r o t o m a n i e (Kant: die verliebte Leidenschaft) und den G r ö ß e n w a h n (Kant: den Hochmut). Vergleicht man Kants Begrifflichkeiten mit den heutigen, so ergibt sich folgende schematische Zuordnung:

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6. DER SYSTEMATISCHE VERLAUF DER KRITISCHEN WENDE 1. Position

2. Position

3. Position

Spaltung im Subjekt

Paranoia durchs Prädikat

Begriffe heute Psychoanalyse

Psychose

Bezug der Störung

Projektion aufs Objekt

Psychiatrie

Schizophrenie

Begriff

katatone Schizophrenie

hebephrene Schizophrenie

paranoide Schizophrenie

Begriff

Spannungsirrsinn

Jugendirrsinn

Verfolgungsirrsinn

Symptom gestörte Gegenstände

Halluzinationen

Dekomposition

Halluzinationen

Motorik

Denken / Affekte

Gedankeninhalt

Kants Begrifflichkeit Onomastik 1764 in den KdK

(Ii 892ff A22ff)

Verkehrtheit

Begriff Begriff

Verrückung Phantasterei

Wahnwitz

Wahnsinn

Symptom gestörte Denkfunktion

Träume im Wachen

Mischmasch

Verschwörung

Verstand

Vernunft

Urteilskraft

Ferner ist darauf hinzuweisen, daß Kant in der Parallelstelle der Anthropologie (XII 530f BA 144Í) seine Begriffe mit einem anderen Vokabular versieht als in den Krankheiten. Den Oberbegriff, die Psychose, nennt er dort anstatt V e r k e h r t h e i t : V e r r ü c k t h e i t . Die V e r r ü c k u n g indes (d. h. Projektion) behandelt er in der Anthropologie nicht eigenständig, sondern innerhalb des W a h n s i n n s (d. h. der Paranoia) - was wohl mit dem nahen Zusammenhang dieser beiden Krankheitstypen zu erklären ist. Die zwei anderen Typen, der W a h n w i t z (die Subjektspaltung - Kant nennt diese auch: i n s a n i a ) sowie der W a h n s i n n (die Paranoia, Kant nennt diese auch: d e m e n t i a ) , bleiben unverändert bestehen, werden jedoch in ihren Relationen zu den Vernunftvermögen - im Vergleich zu den Krankheiten - vertauscht: So wird in der Anthropologie der W a h n w i t z als eine Störung der Urteilskraft und der W a h n s i n n als eine Störung der Vernunft dargestellt. Zudem finden wir in der Anthropologie noch zwei zusätzliche Typen, nämlich die U n s i n n i g k e i t ( a m e n t i a ) , die Kant in den Krankheiten Blödsinnigkeit nannte, welche jedoch insofern nicht zur V e r k e h r t h e i t (d. h. Psychose) zu rechnen

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ERSTER TEIL: DIE KRITISCHE WENDE

ist, als es sich nicht um eine psychische Krankheit, sondern um ein körperliches Gebrechen handelt. Ferner den A b e r w i t z ( v e s a n i a ) , der jedoch ein Untertypus des W a h n w i t z e s ist. Insgesamt bleibt so in der Anthropologie die Typendreiteilung der Krankheiten erhalten, wobei allerdings offen ist, ob Kant in der Anthropologie den Wahnwitz und den Wahnsinn nicht doch als zwei Unterkategorien der Verrücktheit (d. h. der 1. Position) versteht. Letzteres hätte insofern seine Berechtigung, als man die Subjektspaltung und die Paranoia durchaus auch als zwei spezifische Formen der Projektion verstehen kann. Vergleicht man diese Typologisierung mit jener der Krankheiten und trägt sie wiederum in das Schema ein, so ergibt sich folgende Gegenüberstellung:

1. Position

2. Position

3. Position

Onomastik 1764 in den KdK

(Ii 892ff A22ff) Verkehrtheit Begriff

Verrückung Phantasterei

Wahnwitz

Wahnsinn

Symptom gestörte Denkfunktion

Träume im Wachen

Mischmasch

Verschwörung

Verstand

Vernunft

Urteilskraft

Wahnwitz insania fragmentarisch Urteilskraft

Wahnsinn dementia methodisch Vernunft

Nosographie 1765 in der Anthr. (XI 530f B A 144ft)

Verrücktheit

Charakteristisk gestörte Denkfunktion

Nun sollten wir uns hier von dem Umstand nicht weiter beirren lassen, daß Kant in der Anthropologie die Gebrechen anders benennt als in den Krankheiten-, mag auch die Wortwahl variieren, so bleibt doch die Sache, an der Kant arbeitet, dieselbe. Da die Abweichung jedoch Verwirrung stiftet und sich die Nosographie der Krankheiten gegenüber jener der Anthropologie in der Folgezeit bei Kant durchgesetzt hat, wurde die Typologie der Anthropologie hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt, um für alles Weitere den Text der Krankheiten zugrunde zu legen. Ebenfalls im zweiten Teil dieser Schrift wird darlegt, daß es sich bei der Beschreibung und Klassifikation der psychotischen Krankheiten in den Krankheiten des Kopfes noch um eine rationalistische Vorgehensweise handelt: um eine ontophänomenologische Onomastik (das ist: eine Namenkunde), bei der

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6. DER SYSTEMATISCHE VERLAUF DER KRITISCHEN WENDE

vom Begriff auf den Gegenstand, ebenso wie von der Definition aufs Definierte geschlossen wird. Also zergliedert Kant die Schizophrenie in ihre drei Untertypen, subsumiert diesen weitere Unteruntertypen, solange, bis schließlich eine jede psychotische Krankheit in ihre Abteilung eingeordnet ist. (Vgl. im 2. Teil dieser Schrift das Schema zur Onomastik in dem Kapitel über die Krankheiten des Kopfes) Ferner wird sich zeigen, daß dieses ontophänomenologische Klassifikationsdenken von Kant schnell wieder aufgegeben wird, da sich das Klassifizieren (insbesondere bei den Projektionen der Verrückten sowie bei der Ambivalenz des Wahnwitzes) als ineffizient erweist. Bereits schon mit den Träumen wendet sich Kant daher von jeglicher substantialistischer Vorgehensweise ab, um die besagten drei Typen der Schizophrenie nicht mehr (psychiatrisch) in ihren äußeren Erscheinungsformen zu beschreiben, sondern (psycho-analytisch) in ihren inneren Funktionsweisen zu analysieren. So wird Kant in den Träumen eine Wahntheorie entwerfen, die sich wiederum aus drei Komponenten zusammensetzt: 1. einer P r o j e k t i o n s t h e o r i e (des nach außen verschobenen focus imaginarius), 2. einer S p a l t u n g s t h e o r i e (der Bewußtseinsspaltung zwischen klaren und dunklen Vorstellungen) sowie 3. einer P a r a n o i a t h e o r i e (die sich auf das Marionettenspiel von Swedenborgs homo maximus bezieht). Zeichnen wir wiederum diese Wahnfunktionen in unser Schema ein, so ergibt sich folgendes:

2. Position

3. Position

Verrückung Phantasterei Träume im Wachen

Wahnwitz

Wahnsinn

Mischmasch

Verschwörung

gestörte Denkfunktion

Verstand

Vernunft

Urteilskraft

Kants Psychosetheorie 1766 in den Träumen

Phantasterei bzw. Verkehrtheit

1. Position Kants Onomastik 1764 in den KdK (II 892ff A 22ff) Begriff

Verkehrtheit

Projektionstheorie

Spaltungstheorie

Paranoiatheorie

focus imaginarius nach außen versetzt

zweifache Personlichkeit, da dunkle Vorstellungen

Marionettenspiel des homo maximus

An diesem Vergleich wird deutlich, daß Kant die psychiatrisch-nosographische Gliederung (Verrückung, Wahnwitz, Wahnsinn) der Krankheiten (1764) zwei Jahre später (1766) in den Träumen in eine theoretisch-analytische Drei-

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ERSTER TEIL: DIE KRITISCHE WENDE

teilung ü b e r s e t z t (Projektion des focus imaginarais nach außen, gespaltenes Bewußtsein, Marionettenspiel). Was aber bedeutet hier die Übertragung einer psychiatrisch-klassifizierenden Beschreibung in eine analytische Theorie der Psychose? Wir sagten bereits, daß Kant in den Krankheiten eine Symmetrie herstellt zwischen den Vernunftvermögen (Verstand, Vernunft und Urteilskraft) sowie deren Störungen (Verrücktheit, Wahnwitz, Wahnsinn) und daß eben diese Symmetrie in dem z w e i d e u t i g e n A n s c h e i n der P r o j e k t i o n nicht aufging. Kants Nosologie der Krankheiten scheiterte daran, daß zwischen g e s u n d e m V e r s t a n d und k r a n k h a f t e r V e r r ü c k t h e i t substantiell gar kein Unterschied festzustellen ist: daß die enthusiastischen Genies nicht weniger projizieren als die fanatischen Schwärmer. Und trotzdem produzieren die Schwärmer Blendwerke (d. h. Halluzinationen), wohingegen es sich bei den Produkten der Genies um geniale Einbildungskraft handelt. Eben dasselbe ließe sich auch vom zweiten Oppositionspaar (Vernunft und Wahnwitz) sowie vom dritten (Urteilskraft und Wahnsinn) zeigen: Auch bei ihnen liegt der Unterschied nicht in der Substanz der Sache. So ist auch der Vernünftige in seinem Bewußtsein geteilt, ebenso wie selbst ein ansonsten scharf Urteilender zuweilen überstrapazierte Kausalbeziehungen herstellen kann. Wenn aber zwischen Wahrheit und Wahn in der Natur der Sache kein Unterschied besteht, worin liegt er dann? Bereits zwischen den Krankheiten (1764) und den Träumen (1766) nimmt Kant eine ganz entscheidende Wendung vor. Anstatt zu sagen: Das System des Irrationalen funktioniert - wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen (Verrückung, Wahnwitz, Wahnsinn) - nicht anders als das der Rationalität (Verstand, Vernunft, Urteilskraft), stellt Kant nunmehr die Sache auf den Kopf, indem er zu der Einsicht gelangt, daß sich gerade anhand der Schizophrenie die Funktionen der Vernunft beobachten und erkennen lassen. Mag diese Umkehrung zunächst als eine Kleinigkeit erscheinen, so ist doch in diesem Dreh einer der bedeutendsten Wendepunkte hin zur K r i t i k zu sehen - und dies gleich in einem doppelten Sinne. Erstens geht es Kant seit den Träumen eines Geistersehers nicht mehr länger um eine Symmetrie in der ontophänomenologischen Differenz zwischen Rationalität und Irrationalität, sondern um eine Analogie im formalen Ablauf und Mechanismus der Sache. Nun ist es allerdings etwas anderes, ob ich sage: Wahrheit und Wahn sind substantiell dasselbe bzw. nicht dasselbe, oder ob ich sage, sie sind in ihren formalen Funktionsabläufen dasselbe bzw. unterschieden. Somit wird hier eine deskriptiv-psychiatrische Klassifikation in eine formal-analytische Theorie übertragen. Die zweite Umkehrung macht dann gerade dieses Formale zum Inhalt: indem nun - ansatzweise bereits schon in den Träumen - die V e r r ü c k u n g des n o r m a l e n V e r s t a n d e s , der W a h n w i t z der n o r m a l e n Vern u n f t sowie der W a h n s i n n der n o r m a l e n U r t e i l s k r a f t einer Untersuchung unterzogen und damit die W a h r h e i t s e l b s t z u m G e g e n s t a n d d e s W a h n s g e m a c h t w i r d . Anders gesagt: Wenn es ein Gebre-

6. DER SYSTEMATISCHE VERLAUF DER KRITISCHEN WENDE

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chen der Wahrheit gibt, welches man Wahn nennt, so kann der Grund für diese V e r k e h r t h e i t sicherlich nicht von einer äußeren Beeinträchtigung herrühren, sondern muß in der S t r u k t u r d e r W a h r h e i t selbst zu suchen und zu finden sein. Haben wir erst einmal den genuin r a t i o n a l e n Wahn - den „Wahn v o n W e i s h e i t " selbst (NEV II 908 A 5, Herv. C. R.) - erkannt, so werden wir dann in der Folge auch den empirischen Wahn besser verstehen lernen. So kommt schließlich Kant (ähnlich wie später Freud) dazu, von den Denkstörungen auf die Normalität des Denkens zu schließen, eben weil an den Fehlfunktionen des Denkens gerade das offensichtlich wird, was man an der Normalität des Denkens gewöhnlichenfalls verkennt - nämlich: wie das Denken überhaupt funktioniert. Diese Umkehrung von einer vernünftigen Wahnkritik zu einer Wahnkritik der Vernunft läßt sich anschaulich an jenem Gegenstand nachvollziehen, der diese Umkehrung erstmals bewirkte: also an der Untersuchung der Verstandesfunktion sowie deren Störung, der Verrückung. Betrachtet man nämlich den menschlichen V e r s t a n d , so wird man zu der Einsicht gelangen, daß „der Verstand in der Regel rein passiv sei". Zu diesem Schluß gelangte jedenfalls Leibniz in seinen Nouveaux essais sur l'entendement humain (1765 u. a. 134), womit der Rationalist in eigenartiger Weise die gleiche Meinung vertritt wie der gesamte Sensualismus der Aufklärung von Lockes An Essay concerning Human Understanding (1689) bis hin zu Hartleys Observation on Man (1750): Der Verstand ist ein Abdruck der wahrgenommenen äußeren Realität. Zu einem ganz anderen Ergebnis gelangte hingegen Kant, weil er anstelle einer Verstandesfunktion die Störung derselben, also die V e r r ü c k u n g , zum Gegenstand der Untersuchung machte. Dabei zeigte gerade die Untersuchung der Blendwerke, sprich der Halluzinationen, daß bei ihnen (vermittels der Verrückung) innere Vorstellungen in die Welt der Gegenstände geworfen und somit etwas aktiv von innen nach außen vorgestellt, d. h. vor- (die Gegenstände) gestellt wird. In einem weiteren Gedankenschritt ging Kant dann dazu über, von dieser neuen Erkenntnis aus dem Bereich der psychologischen Fehlfunktionen des Denkens auf die normalen logischen Funktionen des Denkens zu schließen. Und in der Tat: Analysiert man die logische Funktion des Verstandes, nämlich die reproduktive sowie die produktive Einbildungskraft, so wird man mit Kant zu dem Schluß kommen müssen, daß diese auch nicht anders funktioniert als die Verrückung: eben durch ein aktives Projizieren von innen nach außen. Unterliegt somit der Verstand selbst der Verrückung, so wohnt ihm damit auch selbst ein Wahn inne, indem er - beispielsweise durch hypertrophierende Einbildungskraft - seine eigenen Grenzen überschreitet und gewissermaßen zuviel verrückt. Von daher lag es für Kant nunmehr nahe, anhand der Verstandesfunktionen selbst die logischen Fehlfunktionen des Wahns zu untersuchen. Damit hat sich jedoch die ganze Sache gewendet, und aus der Wahnkritik ist eine Vernunftkritik - d. h. eine Kritik des der Vernunft selbst innewohnenden Wahns - geworden.

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ERSTER TEIL: DIE KRITISCHE WENDE

In eben dieser Wende, von e i n e r K r i t i k d e s e m p i r i s c h e n W a h n s zu e i n e r „ K r i t i k der V e r n u n f t " , ist der Dreh-und Angelpunkt während der psychologischen Phase zwischen 1763 und 1766 zu sehen. In den darauffolgenden Jahren 1768, 1769 und 1770 entwickelt Kant seine ersten Rationalitätskritiken, wobei sich die Vernunftkritik, wie sie sich 1781 präsentiert, erst peu à peu abzeichnet.

c) Die Anwendung des psychologischen Wahnbegriffs auf die Projektions Verhältnisse der Rationalität In die Zeit zwischen 1768 und 1770 fällt die eigentliche Phase der Anwendung des Psychologischen aufs Logische. Es sind die Sternstunden der kritischen Wende, in denen die neuen Gedanken wie ein Regen von Sternschnuppen fallen. Wie bereits erwähnt, hatten Swedenborgs Halluzinationen Kant zu der Frage geführt, aufgrund welcher rationalen Strukturen sich ein Subjekt im Raum orientieren könne. In der Schrift Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Räume (1768) beantwortet Kant diese Frage mit zwei Instanzen: Innerpsychisch ist es das Spiegelbild, welches es dem Subjekt ermöglicht, zwischen links und rechts zu unterscheiden, in der Welt der Gegenstände ist es der allgemeine absolute Raum, der eine Lokalisierung der Dinge im Raum ermöglicht. Beide Instanzen sind nur virtuell, d. h. Repräsentationen oder Vorstellungen, und beide werden rational durch Projektionen gewonnen: das Spiegelbild durch das Ziehen der Perpendikellinien im jeweils gleichen Abstand zur Spiegellinie, der allgemeine absolute Raum wird durch Projektion des Punktes auf die Linie, der Linie auf die Fläche sowie der Fläche auf den Raum gewonnen. Damit bildet der Projektionsbegriff nicht nur inner- wie außerpsychisch die rationale Grundlage des Raumbegriffs, sondern es ergibt sich hierdurch auch ein Spiegelverhältnis zwischen der apriorischen Rationalität des Raums und der empirischen Irrationalität (d. h. der Halluzination) in einer Raumerfahrung, insofern man die letztere nunmehr als eine Deregulierung der rationalen Projektionsmechanismen begreifen kann. Diese prinzipielle Überlegung - die Projektion als Rationalitätskonstruktion - wendet Kant zwei Jahre später (1770) in der Inaugural-Dissertation De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis ( Von der Form der Sinnen- und Verstandeswelt und ihren Gründen) zunächst auf den Leibnizschen Raumbegriff an. Denn Leibniz verstand den Raum als die Summe der sich in ihm befindenden Gegenstände, was Kants neuer Theorie zufolge eine projektive Sichtweise darstellt, und zwar gerade deshalb, weil Leibniz den Projektionsbegriff bei seinem Raumverständnis nicht mitdenkt. Den gleichen Gedanken wendet Kant dann auf Leibniz' Zeit- und Zahlenbegriff sowie auf

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6. DER SYSTEMATISCHE VERLAUF DER KRITISCHEN WENDE

die bekannten Leibnizschen Lehrsätze (den Satz des Widerspruchs, den Satz vom zureichenden Grunde, die Monadenlehre usw.) an. Bei alldem vermag er zu zeigen, daß es sich bei Leibniz' Rationalitätskonstruktionen um projektive Aussagen handelt, da hier eine Objektivität, die doch an die Rationalität des Subjekts gebunden ist, als den Gegenständen zugehörig gedacht wird. Wenngleich Kant etliche Projektionsarten in der Leibnizschen Philosophie ausfindig macht, so sind ihm dabei d r e i P r o j e k t i o n s t y p e n d e r f a u l e n P h i l o s o p h i e , wie er sie nennt, aufgefallen. Eingetragen in das vorhergehende Schema ergibt dies folgendes:

1. Position

2. Position

3. Position

Spaltung im Subjekt

Paranoia durchs Prädikat

Projektionstheorie

Spaltungstheorie

Paranoiatheorie

focus imaginarius nach außen

zweifache Persönlichkeit, da dunkle Vorstellungen

Marionettenspiel des homo maximus

Psychoanalyse

Psychose

Störung Bezug

Projektion aufs Objekt

Psychosetheorie

Phantasterei

in den , Träumen ' 1766

,De mundi' 1770

Faule Philosophie

Projektionsform

Subjektives auf objekt. Gegenstände

Intelligibles auf Sinnliches

Prädikate auf ein grammatikalisches Subjekt

Daß Kant diese drei Projektionstypen in der Leibnizschen Philosophie ausfindig macht, geht wahrscheinlich gar nicht so sehr auf Leibniz selbst, als vielmehr auf eine Anwendung der Nosographie aus den Krankheiten des Kopfes auf die Leibnizsche Philosophie zurück. Denn Kant stellt nicht nur fest, daß die faule Philosophie des Leibniz an allen Ecken und Enden projiziert, er überlegt sich auch, daß diesen Projektionen wiederum eine Metastruktur von Projektion als deren innere Systematik innewohnen müsse. Allerdings muß man einräumen, daß der oben hergestellte Bezug - verglichen mit dem späteren Bezug der Kritik - hier noch etwas hinkt. Zwar läßt sich in der Projektion des Subjektiven auf objektive Gegenstände umstandslos der Gedanke der Verrückung wiedererkennen, bei den anderen beiden Projektionstypen ist der Bezug indes eher assoziativ als tatsächlich. Der Grund hierfür ist wahrscheinlich folgender. In der späteren Kritik, wo der Bezug nicht mehr assoziativ, sondern ein tatsächlicher ist, geht Kant von den Verstandesfunk-

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ERSTER TEIL: DIE KRITISCHE WENDE

tionen aus. In der Inaugural-Dissertation unternimmt er jedoch nicht eine Kritik der Vernunft, sondern eine Kritik der Leibnizschen Lehrsätze, was die Dinge für Kant selbst etwas verzerrt. Offenbar schwebt ihm jedoch bereits 1770 vor, daß die Kritik der Leibnizschen Lehrsätze auch etwas mit einer viel allgemeineren Kritik der Vernunft zu tun haben müßte, weshalb er eben die oben aufgezeigte Typologisierung von möglichen logischen Fehlschlüssen bereits bei Leibniz vornimmt. Allerdings hat Leibniz seine Lehrsätze nicht zum Spaß aufgestellt, sondern um mit ihnen gewisse philosophische Probleme zu lösen. Bei diesen Problemen handelt es sich durchweg um erkenntnistheoretische: Wie kommt es zur Einheit des Mannigfaltigen einerseits im Begriff, andererseits in der Welt und zum dritten zwischen Begriff und Welt. Abgekürzt gesagt, beruhte Leibniz' rationalistische Repräsentation im Folgenden: Es gibt eine (göttliche) Vernunft im Sein und einen (göttlichen) Verstand in uns, und da nun beide gleichen (göttlichen) Ursprungs sind, kann der Verstand auch die Vernunft in der Welt begreifen. Nachdem aber Kant alle diesbezüglichen Leibnizschen Lehrsätze als Projektionen entlarvt hat, ist die barocke Philosophie am Ende, und die gesamte Rationalität - die Metaphysik, das Apriori, die Vernunft überhaupt sowie insbesondere die Einheit des Mannigfaltigen - steht wieder zur Disposition. Dieses ist ein Sachverhalt, dessen ganze Tragweite vielleicht nicht genügend gesehen wurde; doch mit der Entlarvung der Philosophie als Projektionsunternehmen hat Kant für sich selbst sämtliche Kriterien in der Philosophie zerstört - er steht tatsächlich vor einem Scherbenhaufen der Philosophie. Dieses ist die Situation, in der Kant sich 1770 befindet und die ihn letztendlich zur Kritik der reinen Vernunft führt. Vergleicht man die Kritik mit der Inaugural-Dissertation, so läßt sich ein entscheidender Unterschied feststellen. In der Kritik geht Kant nicht von philosophischen Lehrsätzen, sondern von den Funktionen des Denkens selbst aus, indem er Verstand, Vernunft und Urteilskraft auf die ihnen jeweils zugehörigen Projektionsmechanismen untersucht. Man kann es auch so ausdrücken: Wenn die Funktion des Verstandes in der Erkenntnis der Außenwelt, die Funktion der Vernunft in der Selbsterkenntnis des Subjektes und die Funktion der Urteilskraft in der Herstellung der Prädikatbezüge beruht, so kann es hier logischerweise nur soviel Projektionstypen wie Funktionen bzw. Bezüge geben - daher: eine Projektion des Verstandes auf Objekte, eine Projektion der Vernunft auf sich selbst sowie eine Projektion der Urteilskraft anhand der prädikativen Zuordnungen. Hiermit kehrt Kant in vollem Umfang zu jenem Spiegelverhältnis zwischen Rationalität und Irrationalität zurück, welches er bereits 1764 in den Krankheiten des Kopfes aufgestellt hatte; mit dem einzigen Unterschied, daß das Andere der Vernunft sich fortan nicht mehr auf die Verkehrtheiten des Kopfes (Verrückung, Wahnwitz, Wahnsinn), sondern auf die Projektionen der Denkfunktionen (von Verstand, Vernunft, Urteilskraft) selbst bezieht. Gibt es somit logischerweise nur drei Projektionstypen (nämlich: die Projektion aufs Objekt, die Rückprojektion vom Subjekt aufs Subjekt sowie die durch Prädikate), so

6. DER SYSTEMATISCHE VERLAUF DER KRITISCHEN WENDE

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beziehen sich diese drei Typen just auf jene Orte, in welchen die Philosophie Rationalität üblicherweise lokalisiert. So verorten Empiristen und Materialisten die Ratio im Sein, Spiritisten und Idealisten im Subjekt sowie Rationalisten in den prädikativen Zuordnungen. Jede dieser drei vermeintlichen Lokalitäten der Ratio wird von der Philosophie mit Theorien belegt, deren es Kant zufolge jeweils vier gibt. So sagen Empiristen und Materialisten (sowie auch Leibniz), im Sein bestünde Rationalität, weil man in diesem Identität und Differenz, die Nichtexistenz von logischen Widersprüchen, ein kleinstes Unteilbares und Formen antreffen kann. Falsch, sagt Kant: Denn all diese Begrifflichkeiten werden hier nur a m p h i b o l i s c h ins Sein hineinprojiziert. So behaupten Spiritisten und Idealisten (und so auch Descartes), die Rationalität würde sich im Subjekt selbst befinden, weil die menschliche Vernunft ein ,Ich', eine Identität, eine Person und eine Seele habe. Falsch, sagt Kant: Denn all diese Subjektidentitäten werden hier nur p a r a l o g i s t i s c h vom Subjekt aufs Subjekt projiziert. Schließlich gibt es noch die Schule der Rationalisten, welche die Ratio weder in einem substantialisierten Sein noch in einem substantialisierten Subjekt ansiedelt, dafür jedoch die Prädikate hochrechnet und zu Entitäten macht. So sagen die Rationalisten, es gäbe Rationalität, weil es eine Unendlichkeit im Raum, eine Ewigkeit in der Zeit, Gott und Freiheit gäbe. Auch bei dieser vermeintlichen Objektivität von Rationalität kann Kant den projektiven, in diesem Fall a n t i n o m i s c h e n Charakter aufzeigen: Denn wenn wir uns etwas Ewiges denken, so kann von diesem Prädikat nicht auf eine substantielle Ewigkeit geschlossen werden. In unser Schema eingetragen, ergibt sich damit folgendes:

KrV 1781/87 Begriff

1. Position

2. Position

3. Position

Projektion aufs Objekt

Spaltung im Subjekt

Paranoia durchs Prädikat

Transzendentale Dialektik Amphibolie

Logischer Fehler Intellektualisierung der Materie Gegenstände der Projektion

Objektbeziehung 1. 2. 3. 4.

Schulen

Identität / Diff. Satz d. Widerspr. Monaden Form

Empirismus Materialismus Spiritismus

Paralogismus

Antinomie

Materialisierung des Intelligiblen

Substantialisierung der Prädikate

Subjektselbstbeziehung l.Ich 2. Identität 3. Person 4. Seele

Prädikatbeziehung 1. Unendlichkeit 2. Zeitlosigkeit 3. Gott (4. Freiheit) Rationalismus

Idealismus Spiritismus

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ERSTER TEIL: D I E KRITISCHE W E N D E

Deutlich wird bei diesen Projektionstypen auch der Bezug zwischen der faulen Philosophie und den verkehrten Köpfen. So stellt die Amphibolie eine philosophische Projektion, der Paralogismus eine philosophische Subjektspaltung und die Antinomie eine philosophische Paranoia dar. Daher sind auch die Gegenstände der Amphibolie (1. Identität und Differenz, 2. der Satz des Widerspruchs, 3. die Monaden- sowie 4. die Formlehre) p r o j e k t i v e r N a t u r , die Gegenstände des Paralogismus (1. Ich, 2. Identität, 3. Person und 4. Seele) s c h i z o i d e r N a t u r und die Gegenstände der Antinomie (1. Unendlichkeit/ Endlichkeit, 2. Ewigkeit/Befristung, 3. Gottesexistenz/keine Gottesexistenz, sowie 4. Freiheit/Notwendigkeit) größenwahnsinniger und verfolgungswahnsinniger, d. h. p a r a n o i d e r N a t u r . Hierdurch läßt sich folgender schemati scher Bezug herstellen:

1. Position

2. Position

3. Position

Projektion

Spaltung

Paranoia

1764

Verrückung

Wahnwitz

Wahnsinn

1766

Proj ektionstheorie

Spaltungstheorie

Paranoiatheorie

1781

Amphibolie

Paralogismus

Antinomie

Alle drei möglichen Fehlschlüsse in logischen Urteilen beruhen auf Substantialisierung oder, wie Otfried Höffe (2003 224-229) es nennt, auf i l l u s i o n ä r e n V e r d i n g l i c h u n g e n der Vernunft. Das Eigenartige an diesen Verdinglichungen ist allerdings, daß sie die Vernunft an einem gewissen Ort - im Sein, im Subjekt oder im substantialisierten Prädikat - lokalisieren, dann aber diese vermeintlich ursächlichen Lokalitäten der Vernunft wieder aufgeben müssen, so daß sich diese Orte als transitiv und damit als nicht mehr ursprünglichursächlich herausstellen. Wenn beispielsweise die Materialisten behaupten, es gäbe (wie auch bei Leibniz' ,schlummernden Monaden') Vernunft im Sein, so spalten sie das Sein in Materielles und Intelligibles und müssen alsdann erklären, wie das Intelligible in die Materie hineingekommen sei; eine Frage, die sie oft mit einer anderen Welt beantworten. Dieselbe Verlegenheit widerfährt den Idealisten, wenn sie behaupten, es gäbe eine im Subjekt vorgeformte Rationalität (wie z. B. Piatons oder Descartes' Ideen), und dann nicht erklären können, wo diese herstammt; eine Frage, die auch sie oft auf eine andere Welt schließen läßt. Dieses Problem haben die Rationalisten zwar nicht, weil sie nicht ihre Vorstellungen in das Vorgestellte (Objekt oder Subjekt) projizieren, dafür unterliegen sie jedoch gerade dem umgekehrten Trugschluß, Vorstellungen und Vorgestelltes einem übergeordneten substantialisierten Prädikat entnehmen zu können.

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6. DER SYSTEMATISCHE VERLAUF DER KRITISCHEN WENDE

Man weiß, was Kant diesen Substantialisierungen der Vernunft entgegensetzt: gegen die Behauptung der Empiristen und Materialisten, dem Sein Vernunft entnehmen zu können, d. h. gegen die Amphibolie, stellt er die Unterscheidung von P h a e n o m e n o n (Ding für uns) und N o u m e n o n (Ding an sich); ein repräsentatives System, welches den Gegenstand letztendlich als t r a n s z e n d e n t a l e n G e g e n s t a n d X denkt und damit von allen in ihn hineinprojizierten Xen befreit. Gegen die Behauptung der Idealisten, die Vernunft im Subjekt auf einen abgespaltenen Teil desselben zurückführen zu können, s t e l l t K a n t d i e u r s p r ü n g l i c h - s y n t h e t i s c h e E i n h e i t d e s B e w u ß t s e i n s , welche nicht von einer Substanz, sondern von einem t r a n s z e n d e n t a l e n S u b j e k t X ausgeht. Gegen die Behauptung der Rationalisten schließlich, aus p r ä d i k a t i v e n R e l a t i o n e n auf eine substantielle Vernunft der Prädikate zu schließen, stellt Kant seine r e g u l a t i v e n I d e e n , seine r e i n e V e r s t a n d e s w e l t sowie sein a l l g e m e i n e s R e i c h d e r Z w e c k e . Schließlich folgt aus diesem Gegenentwurf die gesamte transzendentale Logik der reinen Vernunft. Schematisch ausgedrückt, ergibt dies wiederum folgendes:

1. Position

2. Position

3. Position

Amphibolie

Paralogismus

Antinomie

Transzendentale Analytik kritische Gegenbegriffe

Phaenomenon / Noumenon

ursprünglichsynthetische Einheit des Bewußtseins

regulative Ideen, reine Verstandeswelt, allg. Reich d. Zwecke

Werden schließlich alle Schemata, die in diesem Kapitel dargestellt wurden, aufeinander bezogen und in ein einziges Schema übertragen, so ergibt sich das auf den beiden nachfolgenden Seiten. Aus diesem Schema geht die gesamte Begriffsgeschichte sowie deren systematischer Verlauf vom Versuch über die Krankheiten des Kopfes bis hin zur Kritik der reinen Vernunft hervor. Zweierlei wird allerdings hierbei dogmatischen Kantianern nicht behagen. Erstens werden sie der hier vorgenommenen Aufteilung nicht zustimmen: Schließlich befinden sich die r e g u l a t i v e n I d e e n nicht in der transzendentalen Analytik, sondern in der transzendentalen Dialektik, ebenso wie umgekehrt sich die A mp h i b o 1 i e nicht in der Dialektik, sondern in der Analytik befindet. Zum ersten kann nur das Argument angeführt werden, welches Kant oft genug selbst vorgebracht hat: Daß er nämlich seine K r i t i k sehr unordentlich gegliedert habe; schließlich wird kaum jemand bestreiten, daß es sich beim t r a n s z e n d e n t a l e n I d e a l um den Gegenbegriff zur A n t i n o m i e handelt, und mehr soll hiermit auch nicht gesagt sein.

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ERSTER TEIL: D I E KRITISCHE W E N D E

1. Position

2. Position

Schizophrenie Begriff Begriff Phänomen Spaltung

Katatonie (Spannungsirrsinn) Halluzinationen Motorik

Psychose Störung Bezug

3. Position

— psychiatrische Nosographie des Wahns Hebephrenic (Jugendirrsinn) Dekomposition Denken /Affekte

Paranoia (Verfolgungsirrsinn) Halluzinationen Gedankeninhalt

— psychoanalytische Phänomenologie des Wahns

Projektion aufs Objekt

Spaltung im Subjekt

Paranoia durchs Prädikat

Kants Wahnkritik Die Logik des Wahns

Verkehrtheit -

Begriff Begriff

Verrückung Phantasterei

Wahnwitz insania

Wahnsinn dementia

Phänomen gestörtes Denkvermögen

Träume im Wachen Verstand

Mischmasch Vernunft

Verschwörung Urteilskraft

Phantasterei -

Onomastik der Krankheiten 1764

Psychosetheorie der Träume 1766

Proj ektionstheorie

Spaltungstheorie

Paranoiatheorie

focus imaginarius nach außen

zweifache Persönlichkeit, da dunkle Vorstellungen

Marionettenspiel des homo maximus

Kants Vernunftkritik Der Wahn der Logik

Faule Philosophie

-Inaugural-Dissertation

Projektionstypen Subjektives auf Intelligibles auf der Logik objekt. Gegenstände Sinnliches

1770 Prädikate auf ein grammatik. Subjekt

6. DER SYSTEMATISCHE VERLAUF DER KRITISCHEN WENDE

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Transzendentale Dialektik —Kritik der reinen Vernunft 1781/87 Begriff

Amphibolie

Paralogismus

Antinomie

Logischer Fehler Intellektualisierung der Materie

Materialisierung des Intelligiblen

Substantialisierung der Prädikate

Gegenstände der Projektion

Prädikatbeziehung

1. Identität / Diff. 2. Satz d.Widerspruchs 3. Monaden 4. Form

Subjektselbstbeziehung 1. Ich 2. Identität 3. Person 4. Seele

3. Gott (4. Freiheit)

Empirismus Materialismus Spiritismus

Idealismus Spiritismus

Leibniz, Swedenborg, Locke, Hume

Descartes, Mendelssohn, Berkeley, Fichte

Schulen

Kant-Autoren

Obj ektbeziehung

1. Unendlichkeit 2. Zeitlosigkeit

Rationalismus

Wolff, Baumgarten, Crusius

Transzendentale Analytik kritische Gegenbegriffe

Phaenomenon / Noumenon

ursprünglichsynthetische Einheit des Bewußtseins

regulative Ideen, reine Verstandeswelt allg. Reich d. Zwecke

Die Stellung der A m p h i b o l i e in der Kritik - wir erinnern Saul Ascher: 2ter Teil, Ister Abschnitt, 2tes Buch, 3. Hauptstück - hat sachliche Gründe. Niemand wird bestreiten, daß die Amphibolie der Reflexionsbegriffe das Kernproblem der Kritik sowie als Gegenbegriff die transzendentale Unterscheidung von Phaenomenon und Noumenon die Kernidee der Kritik darstellt. Vergleicht man jedoch die Definition der Amphibolie - „d. i. eine Verwechselung des reinen Verstandesobjekts mit der Erscheinung" (KrV III 292 Β 325 A 269 - mit der Definition des d i a l e k t i s c h e n S c h e i n s - welcher macht, „daß die subjektive Notwendigkeit einer gewissen Verknüpfung unserer Begriffe, zu Gunsten des Verstandes, für eine objektive Notwendigkeit, der Bestimmung der Dinge an sich selbst, gehalten wird" (KrV III 31 Of Β 353 A 297) - , so erhellt, daß beide nahezu deckungsgleich sind. Anders gesagt: Kant deduziert den dialektischen Schein aus der Amphibolie und subsumiert ihm alsdann den P a r a l o g i s m u s und die A n t i n o m i e . Dieses Vorgehen hat eine gewisse sachliche Berechtigung, da man den Paralogismus und die Antinomie auch als spezifizierte Amphibolien verstehen kann: Stellt die Amphibolie ganz allgemein die Projektion auf Objekte (eine Verwechslung der

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ERSTER TEIL: DIE KRITISCHE WENDE

Noumena mit den Phaenomena) dar, so ist der Paralogismus alsdann amphibolisch, wenn sich das Subjekt selbst als Gegenstand gegenübersteht und sein Synthetisierendes mit seinem Synthetisierten verwechselt. Das gleiche läßt sich auch von der Antinomie sagen, nur daß hier die Projektion vom Prädikat ausgeht und von diesem auf vermeintliche Substanzen geworfen wird. Erstaunlicherweise findet sich hier die gleiche Ambiguität wieder, die Kant zu den unterschiedlichen Nosographien zum einen in den Krankheiten, zum anderen in der Anthropologie geführt hatte. Denn wenn man (wie Kant in den Krankheiten) in Verrückung, Wahnwitz und Wahnsinn die drei Grundformen des Wahns sehen kann, so kann man auch (wie Kant in der Anthropologie) den Wahnwitz und den Wahnsinn als zwei spezifische Formen der Verrückung begreifen. Man muß jedoch aus dieser Differenz keine Prinzipiensache machen. Wenn man anstatt den dialektischen Schein aus der Amphibolie abzuleiten, letztere dem dialektischen Schein subsumiert, so hat man doch immerhin das Argument auf seiner Seite, daß es sich bei der Amphibolie um den dialektischen Schein par excellence handelt. Der zweite mögliche Einwand ist bei weitem schwerwiegender. Denn wenn die hier behauptete Deduktion, nach welcher die Amphibolie aus der Verrückung, der Paralogismus aus dem Wahnwitz und die Antinomie aus dem Wahnsinn gedanklich abgeleitet worden sein sollen, zutreffen soll, so würde dies bedeuten, daß Kants Transzendentalphilosophie aus einem empirischen Sachverhalt stammt. Dieser Sachverhalt muß indessen keineswegs einen logischen Widerspruch beinhalten. Denn man kann beispielsweise sehr wohl von einer seriellen komparativen Allgemeingültigkeit auf eine unbedingte Allgemeingültigkeit kommen, ohne dabei den Begründungszusammenhang mit dem Entstehungszusammenhang zu legitimieren. Ebenso verhält es sich auch hier: Die Gebrechen der kranken Köpfe können Kant auf den Gedanken gebracht haben, wie Rationalität funktioniert, ohne daß dies bedeuten muß, daß die Kantische Rationalität durch den Wahnsinn begründet sei.

d) Der Wahn als der eigentliche Gegenstand der Kritik Unter der Überschrift Von der Neigung des Wahnes als Leidenschaft definiert und beschreibt Kant in der Anthropologie das Folgende: „Unter dem Wa h η e, als einer Triebfeder der Begierden, verstehe ich die innere praktische Täuschung, das Subjektive in der Bewegursache für objektiv zu halten. - Die Natur will von Zeit zu Zeit stärkere Erregungen der Lebenskraft, um die Tätigkeit des Menschen aufzufrischen, damit er nicht im bloßen G e n i e ß e n das Gefühl des Lebens gar einbüße. Zu diesem Zwecke hat sie sehr weise und wohltätig dem von Natur faulen Menschen Gegenstände, seiner Einbildung nach, als wirkliche Zwecke (Erwerbungsarten von Ehre, Gewalt und Geld) vorgespiegelt, die ihm, der ungern ein G e s c h ä f t e unternimmt, doch genug

6 . DER SYSTEMATISCHE VERLAUF DER KRITISCHEN WENDE

101

zu s c h a f f e n machen und mit N i c h t s t u n viel zu tun geben; wobei das Interesse, was er daran nimmt, ein Interesse des bloßen Wahnes ist und die Natur also wirklich mit dem Menschen spielt und ihn (das Subjekt) zu ihren Zwecken spornt: indessen daß dieser in der Überredung steht (objektiv), sich selbst einen Zweck gesetzt zu haben. - Diese Neigungen des Wahnes sind, gerade darum, weil die Phantasie dabei Selbstschöpferin ist, dazu geeignet, um im höchsten Grade l e i d e n s c h a f t l i c h zu werden, vornehmlich wenn sie auf einen W e t t s t r e i t der Menschen angelegt sind. [...] - Neigungen des Wahnes machen den schwachen Menschen abergläubisch und den Abergläubigen schwach, d.i. geneigt, von Umständen, die keine N a t u r u r s a c h e n (etwas zu fürchten oder zu hoffen) sein können, dennoch interessante Wirkungen zu erwarten. Jäger, Fischer, auch Spieler (vornehmlich in Lotterien) sind abergläubisch und der Wahn, der zu der T ä u s c h u n g : das Subjektive fur objektiv, die Stimme des inneren Sinnes für Erkenntnis der Sache selbst zu nehmen, verleitet, macht zugleich den Hang zum Aberglauben begreiflich." (Anthr. XII 612f Β 239f A 240Í) Ferner definiert Kant 1793 in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft den Wahn, um dort den R e l i g i o n s w a h n näher zu bestimmen: „Wahn ist die Täuschung, die bloße Vorstellung einer Sache mit der Sache selbst für gleichgeltend zu halten. So ist es bei einem kargen Reichen der g e i z e n d e W a h n , daß er die Vorstellung, sich einmal, wenn er wollte, seiner Reichtümer bedienen zu können, für genügsamen Ersatz dafür hält, daß er sich ihrer niemals bedient. Der E h r e n w a h n setzt in anderer Hochpreisung, welche im Grunde nur die äußere Vorstellung ihrer (innerlich vielleicht gar nicht gehegten) Achtung ist, den Wert, den er bloß der letzteren beilegen sollte; zu diesem gehört auch die Titel- und Ordenssucht; weil diese nur äußere Vorstellungen eines Vorzugs vor andern sind. Selbst der W a h n s i n n hat daher diesen Namen, weil er eine bloße Vorstellung (der Einbildungskraft) für die Gegenwart der Sache selbst zu nehmen, und eben so zu würdigen gewohnt ist." (Rei. VIII 839 Β 256 A 242 Fn.) Mit dieser Definition des Wahns (der Täuschung, das Subjektive für objektiv, die bloße Vorstellung einer Sache mit der Sache selbst für gleichbedeutend zu halten) bringt Kant nochmals sein gesamtes kritisches Unternehmen auf den zentralen Begriff. Denn wenn man am Wahn vier Eigenschaften (1. den Realitätsverlust, 2. ein aufgrund des Realitätsverlustes mitunter aggressives und gewalttätiges Verhältnis zur Außenwelt, 3. eine gewisse Ansteckungsgefahr sowie 4. eine gewisse Affinität zur Religion) feststellen kann, so müßte gleichfalls auffallen, daß sich die Kantischen Kritiken auf exakt diese vier Eigenschaften des Wahns beziehen. So hat sich die erste Kritik offenbar die Aufgabe gestellt, eine Erkenntnistheorie zu entwerfen, die die wahnhaften (d. h. dialektischen) Bezüge zur Realität analysiert und aufgrund dieser Analyse eine Realitätstheorie entwirft, die diesem Wahn eine Vernunftkonstruktion entgegenhält. So geht die zweite Kritik von der Tatsache aus, daß die Vernünftigen in einer gemeinschaftlichen

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ERSTER TEIL: DIE KRITISCHE WENDE

Welt leben, wohingegen von den Wahnsinnigen ein jeder in seiner eigenen Welt lebt, was zur Folge hat, daß allerorts leidenschaftlich-wahnwitzige Positionen vertreten und Aggressionen und Gewaltakte ausgetauscht werden. Gegen diesen allgemeinen praktischen Wahn hat Kant ganz offensichtlich die über einhundert Formeln seines kategorischen Imperativs entworfen, um im Intelligiblen, Moralischen, Juristischen sowie im Politischen ein Einvernehmen erzielen zu können, welches den kriegerischen - seit der Moderne oftmals massenwahnsinnigen - Feindseligkeiten ein vernünftiges Miteinander entgegenstellt. Versteht man sowohl Kants Erkenntnistheorie als auch seine Ethik als K r i t i k e n d e s W a h n s , so wird auch deren Bezug zueinander verständlicher. So denkt Kant bereits 1763 (vgl. DdG II 770-773 A 96-100) über einen kategorischen Imperativ nach, kommt dann jedoch erst 22 Jahre später dazu, seine Moralphilosophie auszuarbeiten. In die Zwischenzeit fällt Kants erste Kritik. Folglich verläuft Kants Werdegang von der Ethik zur Erkenntnistheorie und von dieser wieder zurück zur Ethik. Bezogen auf den Wahn erhält dieser Werdegang eine Plausibilität. Denn eine ethische Antiwahntheorie macht nur alsdann Sinn, wenn man sich zuvor in der Erkenntnistheorie auf ein nichtwahnhaftes Realitätsverständnis geeinigt hat. Daher ist die Vernunftkritik eine logische Voraussetzung für eine ethische Wahnkritik, ebenso wie umgekehrt die ethische Wahnkritik den Zweck der Vernunftkritik darstellt, weshalb dann ja auch Kant später der zweiten Kritik ein Primat vor der ersten einräumt. Daß die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung, d. h. die objektiven Gesetzmäßigkeiten derselben, keinesfalls den empirischen Erfahrungen selbst entnommen werden können - weil diese mehr oder weniger immer Täuschungen unterliegen - , ist eine Erkenntnis, von der Kant bereits 1766 überzeugt ist und von der er seither auch nie wieder abrückt. Wenn dem jedoch so ist, so bedeutet dies auch, daß Rationalität der Welt des Empirischen nicht zu entnehmen ist - einerseits. Andererseits zeigt Kant, daß der Empirismus die „Mutter des Scheins" ist (KrV III 325 A 318 Β 375) und daß gerade der moderne Wissenschaftsempirismus einer Illusion aufsitzt, wenn er den Dingen das zu entnehmen glaubt, was er zuvor in sie hineinprojiziert, d. i. wenn er amphibolisch verfahrt. Diese Erkenntnis, wonach es sich bei der vermeintlichen Objektivität der empiristischen Erfahrung um nichts anderes als um projektive Substantialisierungen handelt, führte Kant bereits ab 1766 dazu, das Gegenstück zum Wahn nicht in irgendwelchen empirischen Daten, sondern alleine in d e r V e r n u n f t s e l b s t zu suchen. So wurde aus der Irrationalitätskritik eine Vernunftkritik, die allerdings immer noch den Wahn, als das zu vermeidende negative Gegenstück der Vernunft, zum Gegenstand hat. Hieraus ergibt sich auch die neue Bestimmung der Philosophie als Antiwahnwissenschaft: Denn wenn die neuen Wissenschaftstheorien (des Empirismus, Sensualismus, der Assoziationspsychologie ebenso wie des Materialismus) einem Wahn aufsitzen, so kann dieser letztendlich nur aus einem falschen Denken entsprungen sein. Insofern ist es konsequent, dem modernen Wissen-

6. DER SYSTEMATISCHE VERLAUF DER KRITISCHEN WENDE

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schaftswahn mit philosophischen Mitteln, also mit einer allgemeinen Vernunfttheorie zu begegnen. Seit Mitte der 60er Jahre hat der philosophische Wahn für Kant auch einen Namen sowie eine Adresse, nämlich: der G e i s t b e g r i f f . Ein flüchtiger Blick auf die Geistesströmungen seit 1770 (vgl. das Literaturverzeichnis) dürfte reichen, um klarzustellen, daß es sich beim Geistbegriff um den eigentlichen Wahn der Moderne handelt. Im zweiten Teil dieser Schrift wird noch gezeigt werden, daß sich hinter diesem Geist (hinter Locke und Newton, Swedenborg und Leibniz, Goethe und Lavater, Schelling und Hegel gleichermaßen) kein anderer als der neuplatonische, insbesondere der Plotinische Geist verbirgt. Zwar identifiziert Kant diesen neuplatonischen Geist in den 60er Jahren noch nicht; in den 80er Jahren wird jedoch immer deutlicher, daß sich Kants Vernunftkritik sowohl gegen die schizoide neuplatonische Zweiweltenlehre als auch gegen „der T h e o s o p h e n und M y s t i k e r schmelzende Vereinigung" richtet (KpV VII 51 A 217). Als Kant 1781 seine erste Kritik der Öffentlichkeit vorlegt, ist das Wort V e r n u n f t aus dem europäischen Wortschatz längst verschwunden; wo man auch hinsieht, es ist von nichts anderem als von Geist und Geistern die Rede. Daher sei hier nochmals die These aufgestellt, daß es sich bei Kants Vernunftkritik um eine gegen den Geistbegriff gerichtete Antiwahnkritik handelt. Ferner ist festzustellen, daß Kant seine einmal ausgearbeitete (erkenntnistheoretische und ethische) Vernunftkritik alsdann gerade auch dazu verwendet, gegen die S c h w ä r m e r e i des Zeitgeists, d. h. gerade gegen den modernen Wahn und Aberglauben, zu argumentieren. So analysiert er in der Schrift Über die Schwärmerei und die Mittel dagegen (1790) anhand des Mesmerismusphänomens die konvulsiven Übertragungsmechanismen des modernen Wahns. In den 90er Jahren identifiziert er deutlich den sich hinter den Geist(er)bewegungen verbergenden Neuplatonismus, indem er die „neuere mystisch-platonische Sprache" (VT VI 388 A 410 Fn.) „der Neuplatoniker" (VT VI 389 A 412 Fn.) und mit dieser den Irrationalismus des Sturm und Drang mit scharfer Polemik angreift. In seiner Schrift über Das Ende aller Dinge (1794) hat Kant zum einen die „Dualisten" (EaD XI 177 A 450) „der altpersischen Religion (des Zoroaster)" (ebd. Fn.), sodann wiederum „die Mystik" (EaD XI 184 A 513) sowie nicht zuletzt die Eschatologie und den modernen apokalyptischen Wahn im Visier. Im Gemeinspruch (1793) geht es um Kasuistiken und Rabulistiken, die Justiz und Politik zu amoralischen Instanzen werden lassen. Nicht zuletzt sollte nicht vergessen werden, daß Kant die Französische Revolution - als G e s c h i c h t s z e i c h e n - zwar gutgeheißen hat, zugleich aber auch einer der ersten war, der den hiermit verbundenen ideologischen Massenwahn sowie die hieraus folgenden modernen Vernichtungskriege - in der Kombination von Nationalkriegen und Bürgerkriegen - klar erkannt und analysiert hat; vgl. die Friedensschrift (1795) sowie den Streit der Fakultäten (1798). Schließlich untersucht Kant sowohl in seiner Ethik (vgl. z. B. KpV VII 191-212 A 126-160) als auch in seiner Religionsphilosophie

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ERSTER TEIL: D I E KRITISCHE W E N D E

(vgl. u. a. Rei. VIII 665-705 BA 3-A 58 u. Β 63) immer wieder die psychologischen Triebstrukturen des Wahns, um zu erklären, welcher Tricks sich die Psyche bedient, um individuell oder mit Berufung auf Kollektivitäten oder falsche Autoritäten die Stimme der Vernunft zu unterminieren. Mit alldem läßt sich kaum bestreiten, daß sich Kants Vernunftkritik gegen die - in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erstmals deutlich zum Vorschein kommenden typisch modernen irrationalen Strömungen richtete. Bemerkenswerterweise widmet sich Kant gerade in den 90er Jahren auch noch jenem anderen Wahn, nämlich der Religion. Dabei ist er - lange vor Freuds, lange vor Nietzsches, Marx' und selbst noch vor Feuerbachs Religionskritik - einer der wenigen, der deutlich zum Ausdruck bringt, daß in religiösen Vorstellungen e i n W a h n a m W e r k i s t . Im Unterschied zum erkenntnistheoretischen sowie zum ethischen Wahn stellt Kant dem religiösen Wahn jedoch keine Normativität gegenüber, weswegen dieser Wahn eben auch nicht von einer r e i n e n , d. h. gesetzmäßigen Vernunft, sondern nur von einer b l o ß e n Vernunft, d.h. einem allgemeinen Menschenverstand eingeschränkt werden kann. Kant glaubt somit nicht an die Möglichkeit einer Verobjektivierung der Religion - wie sie beispielsweise in der Französischen Revolution als Vernunftreligion mit einem dementsprechenden Vernunftkult praktiziert wurde; ja er scheint sogar den Wahn in den Religionen in gewisser Weise fur notwendig, jedenfalls für unvermeidbar zu halten. Allerdings kann er eingedämmt werden, und hierin beruht die regulative Aufgabe einer vernünftigen Religionskritik. Neu an der Kantischen Religionskritik ist auch, daß diese sich nicht so sehr gegen den Wahn der fremden, als vielmehr in erster Linie gegen den Wahn der eigenen christlichen Religion richtet. So schreibt Kant 1793 in der Religionsschrift·. „Der Wahn durch religiöse Handlungen des Cultus etwas in Ansehung der Rechtfertigung vor Gott auszurichten, ist der religiöse A b e r g l a u b e ; so wie der Wahn, dieses durch Bestrebung zu einem vermeintlichen Umgange mit Gott bewirken zu wollen, die religiöse S c h w ä r m e r e i . " (Rei. VIII 846 Β 267 A 252) „Es kann nämlich dreierlei Art von W a h n g l a u b e n [...] geben. E r s t l i c h der Glaube, etwas durch Erfahrung zu erkennen, was wir doch selbst, als nach objektiven Erfahrungsgesetzen geschehend, unmöglich annehmen können (der Glaube an W u n d e r ) . Z w e i t e n s der Wahn, das, wovon wir selbst durch die Vernunft uns keinen Begriff machen können, doch unter unsere Vernunftbegriffe [...] aufnehmen zu müssen (der Glaube a n G e h e i m n i s s e ) . D r i t t e n s der Wahn, durch den Gebrauch bloßer Naturmittel eine Wirkung, die für uns Geheimnis ist, nämlich den Einfluß Gottes auf unsere Sittlichkeit, hervorbringen zu können (der Glaube an G n a d e n m i t t e l ) . " (Rei. VIII 870 Β 301f A 283f). An anderer Stelle nennt Kant vier Formen des religiösen Wahns - nämlich „1) der vermeinten inneren Erfahrung (Gnadenwirkungen) S c h w ä r m e r e i , 2) der angeblichen äußeren Erfahrung (Wunder) A b e r g l a u b e , 3) der gewähnten Verstandeserleuchtung in Ansehung des Übernatürlichen (Geheimnisse) I l l u m i n a t i s m , Adeptenwahn, 4) den gewagten Versuche, aufs Übernatür-

6 . DER SYSTEMATISCHE VERLAUF DER KRITISCHEN WENDE

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liehe hin zu wirken (Gnadenmittel), T h a u m a t u r g i e , lauter Verirrungen einer über ihre Schranken hinausgehenden Vernunft, und zwar in vermeintlich moralischer (gottgefälliger) Absicht." (Rei. VIII 704 Β 64 Fn.) „Es ist abergläubischer Wahn, durch Handlungen, die ein jeder Mensch tun kann, ohne daß er eben ein guter Mensch sein darf, Gott wohlgefällig werden zu wollen (ζ. B. durch Bekenntnis statutarischer Glaubenssätze, durch Beobachtung kirchlicher Observanz und Zucht u. d. g.). Er wird aber darum abergläubisch genannt, weil er sich bloße Naturmittel (nicht moralische) wählt, die zu dem, was nicht Natur ist (d. i. dem sittlich Guten), für sich schlechterdings nichts wirken können. - Ein Wahn aber heißt schwärmerisch, wo sogar das eingebildete Mittel, als übersinnlich, nicht in dem Vermögen des Menschen ist, [...]; denn dieses Gefühl der unmittelbaren Gegenwart des höchsten Wesens [...] wäre eine Empfänglichkeit einer Anschauung, für die in der menschlichen Natur kein Sinn ist. - Der abergläubische Wahn [...] ist doch mit der Vernunft so fern verwandt, und nur zufalliger Weise [...] verwerflich; dagegen ist der schwärmerische Religionswahn der moralische Tod der Vernunft" (Rei. VIII 846f Β 267f A 252f). - Man sieht leicht, daß die vier hier herausgestellten religiösen Formen des Wahns - Gnadenwirkungen, Wunder, Geheimnisse und Gnadenmittel - , der Aberglauben und die Schwärmerei, keineswegs auf die Religion beschränkt sein müssen, sondern sich sehr wohl auch auf säkulare Bereiche wie Politik und Recht beziehen können. Somit soll gezeigt werden, daß K a n t s V e r n u n f t k r i t i k auch als eine K r i t i k d e s m o d e r n e n W a h n s zu verstehen ist: psychologisch als AntiPsychose-Theorie, erkenntnistheoretisch als Anti-Neuplatonismus-Theorie, ethisch als Anti-Paranoia-Theorie und religiös als Antignosis-Theorie. Jedenfalls: wenn die Mystik den direkten Sprung ins Heil verspricht (eine Art Salto mortale, wie Kant meint), so setzt Kant Grenzen (d. i. die Transzendentalität) g e g e n d i e T h e o r i e n d e r U n m i t t e l b a r k e i t . Der Wahn ist die eigentliche Herausforderung der Moderne, und gegen ihn wendet sich, in erstaunlich moderner Weise, die Kantische Vernunftkritik.

7. Der Schimmer des Wahns im dialektischen Schein der Vernunft

Um zu erfahren, wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft den r a t i o n a l e n W a h n kennzeichnet, sei auf die Einleitung der transzendentalen Dialektik (KrV III 308ff A 293ff Β 350ff) verwiesen, in welcher Kant bekanntlich ausfuhrt, daß es sich bei der Dialektik um eine „Logik des Scheins" handelt (KrV III 308 A 293 Β 350). Diesen t r a n s z e n d e n t a l e n , d.h. r e i n r a t i o n a l e n S c h e i n d e r V e r n u n f t - „Schein, als die Verleitung zum Irrtum" (ebd.) - unterscheidet Kant sowohl „vom empirischen Schein (ζ. B. dem optischen)" (KrV III 309 A 295 Β 351) als auch vom „logischen Schein [...], dem Schein der Trugschlüsse" (KrV III 310 A 297 Β 353). Sowohl beim e m p i r i s c h e n oder auch i m m a n e n t e n S c h e i n (der „sich in den Schranken möglicher Erfahrung hält" - KrV III 309 A 295f Β 351f) als auch beim l o g i s c h e n oder auch t r a n s z e n d e n t e n S c h e i n (der die empirischen „Grenzen überfliegen" will - KrV III 310 A 296 Β 352) haben wir es mit vermeidbaren Irrtümern zu tun, insofern bei ihnen falsche Verknüpfungen zwischen dem sinnlich Wahrgenommenen - oder Geträumten - und dem Verstand hergestellt werden. Ganz anders verhält es sich indes mit dem t r a n s z e n d e n t a l e n S c h e i n d e r V e r n u n f t , der eine „natürliche und unvermeidliche Illusion" darstellt, die zwar aufgedeckt werden, nicht aber verschwinden oder aufhören kann (KrV III 311 A 298 Β 354). Was den empirischen (ζ. B. optischen) Schein anbelangt, so reflektiert Kant: „Man kann also zwar richtig sagen, daß die Sinne nicht irren, aber nicht darum, weil sie jederzeit richtig urteilen, sondern weil sie gar nicht urteilen. Daher sind Wahrheit sowohl als Irrtum, mithin auch der Schein, als die Verleitung zum letzteren, nur im Urteile, d. i. nur in dem Verhältnisse des Gegenstandes zu unserm Verstände anzutreffen. In einem Erkenntnis [-Urteil C. R.], das mit den Verstandesgesetzen durchgängig zusammenstimmt, ist kein Irrtum. In einer Vorstellung der Sinne ist (weil sie gar kein Urteil enthält) auch kein Irrtum. [...] Daher würden weder der Verstand für sich allein (ohne Einfluß einer andern Ursache), noch die Sinne für sich, irren [...]. Weil wir nun außer diesen beiden Erkenntnisquellen keine andere haben, so folgt: daß der Irrtum nur durch den unbemerkten Einfluß der Sinnlichkeit auf den Ver-

7. DER SCHIMMER DES WAHNS

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stand bewirkt werde, [...], so wie ein bewegter Körper zwar für sich jederzeit die gerade Linie in derselben Richtung halten würde, die aber, wenn eine andere Kraft nach einer andern Richtung zugleich auf ihn einfließt, in krummlinige Bewegung ausschlägt. Um die eigentümliche Handlung des Verstandes von der Kraft, die sich mit einmengt, zu unterscheiden, wird es daher nötig sein, das irrige Urteil als die Diagonale zwischen zwei Kräften anzusehen, [...], die gleichsam einen Winkel einschließen [...]." (KrV III 308f A293ff Β 350ft) Mit dem hier aufgespannten Winkel bringt Kant noch eine andere Spannweite mit ins Spiel, nämlich die zwischen d e n D i n g e n , w i e s i e u n s e r s c h e i n e n , und d e n D i n g e n , w i e s i e an s i c h s i n d . Dabei denke man nur an das Paradebeispiel für optische Täuschung, also an jenen zur Hälfte ins Wasser eingelassenen Stab, der an der Schnittstelle zum Wasser gebrochen erscheint, obgleich er an sich gerade ist - wobei nach Kant hier nicht unsere Sicht, sondern nur unser Urteil über das Wahrgenommene (welches die verschiedenen Winkel der Lichteinfälle nicht mitberücksichtigte) betrogen wurde. Doch eben diesen sogenannten ,Betrug der Sinne' meint Kant nicht, wenn er vom transzendentalen, d. h. rein rationalen Schein der Vernunft spricht. Auch die logische Dialektik „in die sich etwa ein Stümper, durch Mangel an Kenntnissen, selbst verwickelt, oder die irgendein Sophist, um vernünftige Leute zu verwirren, künstlich ersonnen hat" (KrV III 311 A 298 Β 354), ist hier nicht gemeint, insofern auch dieser logische Schein „(der Schein der Trugschlüsse), lediglich aus einem Mangel der Achtsamkeit auf die logische Regel" entspringt (KrV III 310 A 296 Β 353). Was also meint Kant mit dem t r a n s z e n d e n t a l e n S c h e i n , wenn dieser weder in einem sinnlichen noch in einem logischen Blendwerk beruht? „Der transzendentale Schein dahingegen hört [im Unterschied zum logischen - C. R.] gleichwohl nicht auf, ob man ihn schon aufgedeckt und seine Nichtigkeit durch die transzendentale Kritik deutlich eingesehen hat. (Ζ. B. der Schein in dem Satz: die Welt muß der Zeit nach einen Anfang haben.) Die Ursache hievon ist diese: daß in unserer Vernunft (subjektiv als ein menschliches Erkenntnisvermögen betrachtet) Grundregeln und Maximen ihres Gebrauchs liegen, welche gänzlich das Ansehen [zu lesen: den Anschein - C. R.] objektiver Grundsätze haben, und wodurch es geschieht, daß d i e s u b j e k t i v e N o t w e n d i g k e i t einer gewissen Verknüpfung unserer Begriffe, zu Gunsten des Verstandes, f ü r e i n e o b j e k t i v e N o t w e n d i g k e i t , der Bestimmung der Dinge an sich selbst, gehalten wird [Herv. C. R.]. Eine Illusion, die gar nicht zu vermeiden ist, so wenig als wir es vermeiden können, daß uns das Meer in der Mitte nicht höher scheine, wie an dem Ufer, weil wir jene durch höhere Lichtstrahlen als diese sehen, oder, noch mehr, so wenig selbst der Astronom verhindern kann, daß ihm der Mond im Aufgange nicht größer scheine, ob er gleich durch diesen Schein nicht betrogen wird" (KrV III 31 Of A 297 Β 353f). Mit dem optischen Schein teilt also d e r t r a n s z e n d e n t a l e S c h e i n d e r V e r n u n f t den Umstand, daß er einmal aufgedeckt, doch nicht ver-

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ERSTER TEIL: DIE KRITISCHE WENDE

schwindet: Selbst wenn wir geschlossen haben, daß der ins Wasser eingelassene Stab gerade ist, so wird er uns doch nach unserem Urteil ebenso gebrochen erscheinen wie zuvor. Alleine die Ursache ist in dem einem und anderen Fall gänzlich verschieden: Während die Ursache für den gebrochen erscheinenden Stab in der Welt der Gegenstände - nämlich in den sich in der Luft und im Wasser unterschiedlich brechenden Lichtstrahlen - beruht, so ist die Ursache für den transzendentalen Schein - ebenso wie beim logischen Schein - in u n s e r e r V e r n u n f t s e l b s t zu suchen; alleine, daß diese Illusion im Unterschied zur logischen zwar durch Vernunft aufgedeckt, nicht aber aufgehoben werden kann. Der t r a n s z e n d e n t a l e S c h e i n d e r V e r n u n f t selbst beruht nun darin, d a ß w i r s u b j e k t i v e G r u n d r e g e l n u n d M a x i m e n u n s e r e s V e r n u n f t g e b r a u c h s f ü r eine o b j e k t i v e N o t w e n d i g k e i t der B e s t i m m u n g e n d e r D i n g e an s i c h s e l b s t h a l t e n - mit anderen Worten darin, daß wir unsere subjektive Vernunft auf objektive Gegenstände projizieren, d. h. in einer Amphibolie. - Ja, sollten wir hier einwenden, aber eben dies tun wir doch immer, wenn wir uns vernünftig einen Gegenstand vorstellen. Gerade in dieser Angewohnheit unserer Vernunft liegt das Problem: Wir wenden unsere Vernunftregeln nämlich mitunter selbst noch dann an, wenn wir - vernunftgemäß - hierzu keine Berechtigung mehr haben. Beispielsweise im Falle des Satzes: ,Die Welt muß der Zeit nach einen Anfang haben' - ein Satz, der gleich in zweierlei Hinsicht illusorisch ist. Einerseits ist es nicht d i e W e l t , sondern unsere Vernunft selbst, der wir die ästhetische Vernunftregel eines Maßstabes der Zeit verdanken (,Ästhetik' gebraucht Kant im wörtlich-altgriechischen Sinne: als das, was die Wahrnehmung betrifft). Mit Hilfe der Zeit nehmen wir d i e W e l t f ü r u n s wahr, ob aber d i e W e l t an s i c h so etwas wie Zeit kennt, übersteigt unsere Erkenntniskapazitäten. Wird hier jedoch beides miteinander verwechselt, so ist das Urteil a m p h i b o l i s c h , d. h. illusorisch projektiv: Indem wir eine subjektive ästhetische Verstandeskategorie (die Zeit) den Dingen an sich selbst unterschieben. Andererseits: Da unsere Vernunft ebenso die Angewohnheit hat, von einer Wirkung auf eine Ursache zu schließen, wird in diesem Falle einer vermeintlich objektiven Wirkung (der Zeit) eine Ursache (der Anfang) untergeschoben, obgleich es hierfür keinerlei - weder logische noch sinnliche - Belege gibt (wissen wir doch nichts von einer Zeit vor der Zeit). Hier ist das Urteil a n t i n o m i s c h , d.h. in einem paranoiden Bezug: Wir überstrapazieren die Kausalverknüpfung, wenn wir selbst noch dort Ursachen behaupten, wo wir keine mehr belegen können. Bemerkenswert am t r a n s z e n d e n t a l e n S c h e i n d e r D i a l e k t i k ist schließlich, daß Kant in diesem Kapitel die A m p h i b o l i e (d. h. eine falsche Projektion) mit der A n t i n o m i e (d. h. der Paranoia) verknüpft, wobei er offen läßt, ob wir in diesem Fall falsch projizieren, weil wir paranoid sind, oder ob wir paranoid sind und deshalb falsch projizieren. Vom d i a l e k t i s c h e n

7 . DER SCHIMMER DES W A H N S

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S c h e i n werden wir jedoch mit beiden hintergangen: Sowohl die Amphibolie als auch die Antinomie blenden uns mit dem Schein, der unsere in die Welt geworfenen Verstandesregeln auf den Projektionsflächen der Dinge erscheinen läßt. Mit diesem Trug wird aber eines - scheinheilig - ausgeblendet: nämlich die S u b j e k t h a f t i g k e i t d e s S u b j e k t s selbst, welche gerade dort verlorengeht, wo die vereinheitlichende dialektische Aufhebung ansetzt. In der Tat, da wo Kausalitäten prinzipiell verwechselt und das Empirische für gesetzmäßig wie das Gesetzmäßige für empirisch; da, wo die Wirkung für eine Ursache wie die Ursache für eine Wirkung gehalten wird, gerade bei diesem d i a l e k t i s c h e n S c h e i n - eben hierin liegt Kants Problem mit der Dialektik - ist das W i r k e n d e (welches unsere Vernunft doch sein sollte) v o m B e w i r k t e n (der animistischen Geister und Gespenster) nicht mehr zu u n terscheiden.

Zweiter Teil Die Psychologie 1763 bis 1766

8. Die Notiz über den Abenteurer Jan Pawlikowicz Komarnicki - 1764

In der Nummer vom 27. Februar 1764 konnte man in den Königsberger Gelehrten und Politischen Zeitungen (4.tes - 8.tes Stück) eine höchst sonderbare Geschichte über einen aus Polen eingereisten (und dorthin von der Polizei wieder zurückgeschickten) Landstreicher sowie über dessen jungen Begleiter, einen etwa achtjährigen Jungen, lesen. Diese Nachricht von dem sogenannten Ziegenpropheten Komarnicki besteht aus zwei Teilen: einem deskriptiven Teil, der von dem Herausgeber der besagten Zeitungen, Johann Georg Hamann, verfaßt wurde, und einem reflektiven Teil, der auf die Handschrift eines „scharfsinnigen und gelehrten Gönners" (J. G. Hamann, in A.A. II 489), nämlich auf Kant zurückgeht. Also vernehmen wir die sonderbare Geschichte: „Es ward aus dem sogenannten Baumwalde im Amte Alexen ein Abenteurer, ohngefähr 50 Jahre alt, - ein neuer Diogenes und ein Schaustück der menschlichen Natur, nach Königsberg gebracht. Er suchte das Lächerliche und Unanständige seiner Lebensart mit einigen Feigenblättern aus der Bibel zu bemänteln. Dieserwegen und weil er bis dahin, ausser einem kleinen Knaben, eine Herde von 14 Kühen, 20 Schafen und 46 Ziegen umherfuhrte, erhielt er hier den Namen eines Ziegenpropheten von der ihn angaffenden Menge. Ausser der Zierde eines langen Barts, wies er sich, in rauhe Thierhäute gekleidet, die er um den nackten Körper umschlug - ohne Unterschied der Jahreszeiten barfuss und mit unbedecktem Haupte. Eben so der Junge. Ein Paar Kühe dienten ihm zum Anspann; von der Milch der Schafe, wozu bisweilen Butter und Honig kam, nährten sich Beide. Nur an hohen Festtagen erlaubte er sich, das Fleisch seiner Herde zu kosten, welches er in Honig sott. Er genoss davon nichts, als die rechte Schulter und Brust, das uebrige verschenkte er oder verbrannte es nach 3 Tagen zu Asche. An der Verwandlung dieser menschlichen Gestalt war eine vor 7 Jahren erfahrene Krankheit Schuld, die in Unverdaulichkeit und Magenkrämpfen bestand. Nach einem zwanzigjährigen Fasten wollte er Jesum mehrere Male gesehen haben. Er hatte ihm das Gelübde einer siebenjährigen Wallfahrt gethan, an welcher nur noch zwei Jahre fehlten. Da man ihn bei Alexen im Walde antraf, hatte er bereits den grössten Theil seiner Herde verloren. Er kam mit seinem Buben und mit der Bibel in der Hand, aus welcher er Jedem, der ihm Fragen vorlegte, bald einen pas-

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ZWEITER TEIL: D I E PSYCHOLOGIE

senden, oft aber auch ganz unpassenden Spruch citirte. Jeder ging hin und betrachtete den Abenteurer und seinen Buben. Auch KANT, der sein Gutachten über die sonderbare Erscheinung zu geben von Mehreren aufgefordert ward, ging hin und machte folgendes Raisonnement bekannt: [Soweit Hamann, nun Kant - C. R.] In obiger Nachricht von unserm begeisterten Faunus möchte für Augen, welche die rohe Natur gerne ausspähen, die unter der Zucht der Menschen gemeiniglich sehr unkenntlich wird, das Merkwürdigste der kleine Wilde sein, der in den Wäldern aufgewachsen, allen Beschwerlichkeiten der Witterung mit fröhlicher Munterkeit Trotz zu bieten gelernt hat, in seinem Gesichte keine gemeine Freimühtigkeit zeigt, und von der blöden Verlegenheit nichts an sich hat, die eine Wirkung der Knechtschaft oder der erzwungenen Achtsamkeit in der feineren Erziehung wird, nun, kurz zu sagen, (wenn man dasjenige wegnimmt, was einige Menschen schon an ihm verderbt haben, die ihn lehren Geld fordern und naschen,) ein vollkommenes Kind in demjenigen Verstände zu sein scheint, wie es ein Experimentalmoralist wünschen kann, der so billig wäre, nicht eher die Sätze des Herrn ROUSSEAU den schönen Hirngespinnsten beizuzählen, als bis er sie geprüft hätte. Zum wenigsten dürfte diese Bewunderung, zu welcher nicht alle Zuschauer fähig sind, weniger zu belachen sein, als diejenige, darin jenes berufene schlesische Kind mit dem goldenen Zahn viele deutsche Gelehrte versetzt hat, ehe sie durch einen Goldschmied der Mühe überhoben wurden, mit der Erklärung dieses Wunders sich länger zu ermüden." (Kom. G.H. II 207f) Kant, von mehreren dazu aufgefordert, sein Gutachten über diese seltsame Erscheinung abzugeben, machte also, wie Hamann sehr richtig bemerkte, ein Raisonnement bekannt. Das R a i s o n n e m e n t besteht zunächst erst einmal in einem bestimmten Standpunkt, den Kant der seltsamen Erscheinung gegenüber einnimmt; in einem durchaus philosophischen Standpunkt. Bei seiner Begutachtung stellt sich Kant weder auf die Seite des Königsberger Publikums noch auf die Komarnickis, sondern, von einer gewissen Distanz aus, zwischen beide. Von dieser Warte aus betrachtet Kant zuerst Komarnicki, sodann das Publikum, wie es Komarnicki betrachtet - wobei er bei dieser Begutachtung sogleich eine dritte Figur, die gleich ihm offenbar ebenso zwischen dem Publikum und Komarnicki steht, entdeckt: Rousseau. Vor dem Hintergrund dieser Dreieckskonstellation - mit einem virtuell ihm gegenüberstehenden Rousseau, dem Königsberger Publikum zur Linken und Komarnicki zur Rechten - kann Kant sein Raisonnement anstellen. Zu Komarnicki, über den er doch sein Gutachten abgeben sollte, sagt Kant nichts: nicht mehr jedenfalls, als daß es sich bei diesem um einen Faunus, d. h. um einen mythischen Waldmenschen handelt. Indessen findet er den kleinen Buben, der in den Wäldern aufgewachsen ist, bemerkenswert. Der „kleine Wilde", wie ihn Kant nennt, zeigt nichts von den Wirkungen der Knechtschaft, die die Erziehung hervorbringt: Er bewegt sich ungezwungen, wie jemand, der frei geboren und frei aufgewachsen ist. Demzufolge wäre der

8. DIE NOTIZ ÜBER DEN ABENTEURER JAN PAWLIKOWICZ KOMARNICKI

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Junge ein vollkommenes, d. h. unschuldiges Kind und würde damit jenen Eigenschaften, die Rousseau seinem (frei geborenen, unschuldigen) e d l e n W i l d e n zuschreibt, voll entsprechen. Alleine, wie Kant sich an anderer Stelle ausdrückt (GMS VII 32 BA 22), „es ist eine herrliche Sache um die Unschuld, nur ist es auch wiederum sehr schlimm, daß sie sich nicht wohl bewahren läßt und leicht verführt wird": Der kleine edle Wilde hat bereits von der Zivilisation zu naschen gelernt und ist dementsprechend (im Rousseauschen Sinne) auch schon verdorben. So verändert die Wahrnehmung ihren Gegenstand, indem sie ihn berührt; so wissen wir vom unberührten, unbefleckten Gegenstand nicht viel mehr als vom Faunus im Walde: nämlich gar nichts. Einiges wissen wir hingegen von den Königsberger gelehrten Zuschauern, welche in diesem Waldmenschen (zumindest Kant zufolge) das sehen möchten, was sie kürzlich bei Rousseau gelesen haben: den edlen Wilden. Mehr noch: für einen sich präsumtiv unter den Zuschauern befindenden Experimentalpsychologen - heute würden wir sagen: für einen empirischen Psychologen scheint Komarnicki der empirische Beleg für Rousseaus Theorie vom edlen Wilden zu sein; eine Annahme, die ebenso lächerlich ist, wie in dem goldenen Zahn jenes berühmten schlesischen Jungen den empirischen Beweis für ein Wunder sehen zu wollen. Wenn Kant dies an dieser Stelle noch nicht explizit ausführt, so impliziert er doch, daß ein solcher Empirismus gleich dreierlei erkenntnistheoretische Fehler begeht: Er verkennt die Position des erkennenden Subjekts dort, wo dieses die Vorstellung in das Vorgestellte hineinprojiziert (in Komarnicki ist der edle Wilde zu sehen), er verkennt die Position des zu erkennenden Gegenstands dort, wo er glaubt, die Vorstellung dem vorzustellenden Gegenstand induktiv entnehmen zu können (der edle Wilde geht aus Komarnicki selbst hervor - wobei verkannt wird, daß dieser, auch ohne Rousseau gelesen zu haben, durchaus den edlen Wilden spielen könnte), ebenso wie dieser Empirismus überhaupt die Relation zwischen erkennendem Subjekt und zu erkennendem Gegenstand verkennt und somit anstelle einer Erkenntnis hier nur einen Wahn - ein Hirngespinst, das ist eine Halluzination - zum Ausdruck bringt. Bemerken wir, daß Kant schon an dieser Stelle - wenn freilich hier auch noch nicht an einem apriorischen, sondern an einem empirischen Gegenstand, wenn auch somit nur vom Gedankengang her - wohl zum ersten Mal überhaupt das vollzieht, was er später die kopernikanische Wende in der Philosophie, also die Vernunftkritik nennen wird: Gegenstand der Untersuchung ist hier nun nicht mehr länger das Wesen des Gegenstands oder auch nur der Gegenstand an und für sich (Komarnicki), sondern der Gegenstand, wie er von der Vernunft (hier: vom Königsberger gelehrten Publikum) aus angeschaut wird. Mit anderen Worten: die eigentliche Person des Komarnicki betrachtet Kant als ein N o u m e n o n , als ein Ding an sich, von dem wir nichts wissen können (insofern der unschuldige Gegenstand des Faunus, solange er im Wald verborgen ist, uns unzugänglich bleibt); wohingegen der Ziegenprophet als

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ZWEITER TEIL: DIE PSYCHOLOGIE

e i n P h a e n o m e n o n , das heißt als ein Ding für uns (so, wie Komarnicki dem Königsberger gelehrten Publikum e r s c h e i n t ) , sehr wohl zugänglich ist. Also handelt es sich bei Komarnicki, wie Kant ihn hier betrachtet, durchaus bereits um eine E r s c h e i n u n g - nicht im religiösen Sinne, wie bei Hamann, sondern im späteren Kantischen Verständnis. Das zweite Bemerkenswerte an dieser kurzen Notiz zu Komarnicki ist, daß diese kopernikanische Wende zur Vernunftkritik - zumindest vom Gedankengang her - sich bereits schon hier an einem Gegenstand vollzieht, den man im weitesten Sinne als irrational bezeichnen kann. Dabei wird gerade hier verständlich, warum sich Kants Wende zur Vernunftkritik viel leichter an irrationalen Gegenständen als etwa an Gegenständen der Physik vollziehen konnte, läßt sich doch d e r p r o j e k t i v e T e i l d e r E r k e n n t n i s viel deutlicher an irrationalen Gegenständen als an rationalen erkennen. So ist leicht einsichtig, daß es sich bei Komarnicki in dem Sinne um eine V o r s t e l l u n g handeln muß, als ,Komarnicki' nichts anderes als die von dem Königsberger gelehrten Publikum betriebene Projektion des Rousseauschen edlen Wilden in den Wald bei Alexen bedeutet. Ja, gerade an dem Beispiel Komarnicki läßt sich die erkenntnistheoretische Umkehrung, die Kant mit der Vernunftkritik betreibt, anschaulich nachvollziehen: ,Komarnicki', das ist erst einmal das Königsberger gelehrte Publikum, welches sich in den Wald begibt, um dort den edlen Wilden Rousseaus zu suchen; daß es diesen dann (anscheinend!) auch tatsächlich im Walde bei Alexen vorfindet, liegt nicht an Komarnicki, sondern am Publikum selbst: das Angebot .Komarnicki' deckt hier nur die Nachfrage des vom Königsberger Publikum Gesuchten und ist deshalb nichts anderes als ein Produkt der Hirngespinste dieses Publikums, nicht umgekehrt. Insofern läßt sich gerade an diesem Beispiel die von der Kantischen Vernunftkritik vollzogene Umkehr begreifen: daß nicht die Erkenntnis ein Produkt des Gegenstands, sondern umgekehrt der Gegenstand ein Produkt der Erkenntnis - wenn auch, wie in diesem Falle, einer wahnhaften, hirngespinstischen Erkenntnis - ist. Aus dieser Umkehrung ergibt sich dann allerdings eine weitere, folgenschwere Verschiebung. Wenn es nicht mehr um Komarnicki ,an und für sich' gehen kann, sondern um die Vorstellung gehen muß, die sich das Königsberger Publikum von der seltsamen Erscheinung Komarnicki macht, dann stellt sich doch die Frage, wo diese Vorstellung herkommt. Die Antwort wissen wir bereits: Die Herkunft der , Vorstellung von Komarnicki' ist weder auf Komarnicki selbst noch auf die Phantasie des Königsberger gelehrten Publikums zurückzuführen, sondern zeugt von der dritten Figur im Spiel: von Rousseau. Von daher verschiebt sich hiermit nochmals das Objekt der Untersuchung: Gegenstand der Erkenntnis ist nun weder Komarnicki noch das Königsberger Publikum, sondern das, was zwischen beiden steht: der Rousseauismus. Ja, es läßt sich sogar von hier aus nun wiederum der gesamte Sachverhalt umdrehen und sagen: daß sowohl der Waldspaziergang des Königsberger Publikums als auch der im Wald Alexen gesichtete Faunus E r s c h e i n u n g e n (sozusagen das Symptom) des seit neuerem umherziehenden Rousseauismus sind.

9. Der ,Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen' - 1763

Nachdem wir Kant auf seinem kleinen Ausflug zum schwärmenden Rousseauismus in den Wäldern bei Königsberg begleitet haben, werden wir uns in den folgenden Kapiteln mit zwei Formen der Erkenntnistheorie, nämlich mit L o g i k und P s y c h o l o g i e befassen. An beiden Disziplinen wird Kants Rationalismus zerbrechen. Dabei ereignet sich dieser Bruch sowohl sachlich als auch zeitlich in zwei Schritten. Bei einem ersten Schritt (1763, in dem Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzufiihren) zerbricht die Logik des Rationalismus v o n i n n e n h e r a u s , indem sie an den Selbstwidersprüchen der klassischen Metaphysik - nämlich: am Schließen vom Denken auf Erkenntnis scheitert. Bereits in diesem Text wird das Scheitern insbesondere am Logos der Psyche deutlich, indem dieser Logos - im Bruch des Rationalismus - die Philosophie in ein Innen und Außen spaltet, wobei nunmehr das psychologisch Irrationale zum schlechthin Anderen der philosophischen Ratio wird; eine Geisterstunde der Vernunft, in die sich dann Kant selbst mit einem zweiten Schritt (1764, mit seinem Versuch über die Krankheiten des Kopfes) mitten hineinbegeben wird. Doch auch bei diesem zweiten Versuch wird der Rationalismus, dieses Mal nicht an, sondern in der Psychologie zerbrechen. Nach dem doppelten Zusammenbruch seines Rationalismus - dem inneren (logischen) und dem äußeren (psychologischen) - wird Kant bereits schon mit der Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre 1765-1766 und mehr noch mit seinen Träumen eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (1766) vor einem Scherbenhaufen der Ratio stehen; vor einer Irrationalität, die ihn schließlich dazu zwingen wird, sein gesamtes Vernunftgebäude von Grund auf neu zu konstruieren. Bevor wir uns jedoch dieser Neukonstruktion seiner Architektonik der Vernunft zuwenden können, sollten wir hier erst einmal nachvollziehen, woran und wie sein altes rationalistisches Vernunftgebäude zerbricht. Noch in seinem 1763 publizierten (im Original 205 Seiten umfassenden) gewaltigen Werk über den einzig möglichen Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Gottes scheint für Kant „die Möglichkeit der Dinge selbst" „Einheit, Harmonie und Ordnung" anzuzeigen (Bg. II 654 A 48). Der Begriff der Möglichkeit gibt dabei einen ontologischen Beweisgrund für das

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ZWEITER TEIL: DIE PSYCHOLOGIE

Dasein Gottes, d. h. einen Beweis, „der vollkommen a priori geführt werden kann" (Bg. II 653 A 46). Hieraus folgt, daß wir „in dem unermeßlichen Mannigfaltigen" Einheit antreffen (Bg. II 654 A 49), d. h. Vernunft in der Welt erkennen können, weil sowohl die Gegenständlichkeit dieser Welt als auch die unserer Vernunft auf einen gemeinsamen Ursprung, auf ein schlechterdings notwendiges Wesen, d. h. auf Gott rückschließen lassen. Insofern bedarf es hier - wie im Rationalismus überhaupt - keiner weiteren Erkenntnistheorie: Sollte in dieser Einheit, Harmonie und Ordnung doch einmal etwas nicht oder falsch erkannt worden sein, so nur weil das „Formale der Möglichkeit", also „der Satz des Widerspruchs" (Bg. II 637 A 17), nicht mitberücksichtigt wurde, d. h. nur, weil ein logischer Fehler im Denken aufgetreten ist. Rationalistisch gibt es demnach Widersprüche nur aus „logischen Gründen", nicht jedoch aus einem „Real-Grund" des Wirklichen (Bg. II 640 A 2Ii). Kurzum: Kant befindet sich hier noch in der besten aller nur möglichen Welten. Vielleicht jedoch war diese Welt mehr noch als nur die beste aller möglichen, vielleicht war sie einfach zu perfekt, um wahr zu sein; jedenfalls sieht diese Welt schon ein paar Monate später für Kant ganz anders aus. Werden noch in dem Beweisgrund sämtliche Dinge, die moralischen nicht weniger als die mechanischen, Gott sowie dessen Harmonie und Ordnung subsumiert (Bg. II 663ff A 66ff), so legt Kant bereits in der Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral den Akzent auf alles, was in der Philosophie sowie vor allem in der Metaphysik an Dissonanzen und Unordnungen nur angetroffen werden kann. Dabei läßt sich, erstmals wohl im Kantischen Werk, ein deutlicher Paradigmenwechsel erkennen. Während noch im Beweisgrund der p r i m a p h i l o s o p h i a unanfechtbar die Verfügungsgewalt über die ihr obliegenden Themen (ζ. B. Gott, Seele und Unsterblichkeit) zukam, wird schon in der Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral die Metaphysik mit Themen konfrontiert, die aus anderen, ihr erst einmal völlig fremden Fachdisziplinen - insbesondere aus der Mathematik und der Physik, doch auch schon aus der empirischen Psychologie sowie aus der damaligen Soziologie (d. h. der sogenannten Moralphilosophie) - stammen. Mehr noch: Es sind nun die Themen eben dieser fachfremden Disziplinen, welche in einer Vergleichsstudie die metaphysischen Grundwahrheiten auf ihre Leistungsfähigkeit hin prüfen sollen. Das Fazit der Vergleichsstudie: Während insbesondere die Mathematik und die Physik gesicherte Erkenntnisse liefern können, hat die Philosophie nichts als Unsicherheiten und Ungewißheiten zu bieten; womit sie sich übrigens mit der Psychologie und der Soziologie in bester Gesellschaft befindet. Durch diese Paradigmenverschiebung ergibt sich hiermit zum ersten Mal in dieser Deutlichkeit bei Kant eine neue Fragestellung und mit dieser auch eine neue Disziplin für die Metaphysik: nämlich die Erkenntnistheorie sowie die Frage, wie zur höchstmöglichen Gewißheit in der Metaphysik zu gelangen sei. Denn daß die Metaphysik und mit ihr die Philosophie bislang nur Ungewißheiten zu bieten hat, stellt ihre Existenzberechtigung keineswegs

9 . D E R VERSUCH ÜBER DIE NEGATIVEN GRÖSSEN

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in Frage - denn: „Die Metaphysik ist ohne Zweifel die schwerste unter allen menschlichen Einsichten; allein es ist [der aristotelischen Tradition offenbar zum Trotz - C. R.] noch niemals eine [Metaphysik] geschrieben worden. Die Aufgabe der Akademie zeigt, daß man Ursache habe, sich nach dem Weg zu erkundigen, auf welchem man sie allererst zu suchen gedenkt" (DdG II 752 A 78f). Auf dem Weg, den Kant in der nachfolgenden, gleichfalls noch 1763 publizierten Schrift eingeschlagen hat, in dem (im Original 72 Seiten umfassenden) Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen, kommt es nun zu einem „Streit zweier Wissenschaften", nämlich wiederum zwischen Mathematik und Metaphysik, wobei man „leicht erraten [kann], auf welcher Seite der Vorteil sein werde" (NG II 779 A II) - nämlich wiederum bei der Mathematik. Gab bereits die Untersuchung ein Zeugnis davon gab, welche Aggressionen ein Philosoph bisweilen wider die Philosophie empfinden kann, so scheint Kant hiermit seinen Gegenstand vollends zerstören zu wollen. Denn der Philosophie, die ihre Sätze „aus Eifersucht gegen die Geometrie ausschmückte" (NG II 779 A I), ist nicht nur vorzuhalten, daß sie abgesehen von Eitelkeiten recht wenig zu bieten hat; die Aufgeblasene muß sich auch noch den Vorwurf gefallen lassen, hochgradig borniert zu sein, indem sie, anstatt neue Erkenntnisse anzunehmen, „sich öfters wider [die Mathematik] bewaffnet" (NG II 779 A II), aus Angst offenbar, es könne „von ihrem Wahne etwas hinweggenommen werden" (NG II 779 A 2). Also will Kant eben jenes in die Philosophie einführen, was offenbar der ganzen Welt bereits bekannt ist; eben jenes, wovon allein die Philosophen noch nichts gehört zu haben scheinen: d i e n e g a t i v e n G r ö ß e n . Ausschlaggebend und für alles Weitere noch von einer außerordentlichen Brisanz ist die an dieser Stelle von Kant erstmals verwendete Methode, Erkenntnisse aus einer anderen, fachfremden Disziplin „auf die Gegenstände der Philosophie" anzuwenden (NG II 779 A I), indem hier dieser „Begriff, der in der Mathematik bekannt genug, allein in der Weltweisheit noch sehr fremd ist, in Beziehung auf diese" betrachtet wird (NG II 781 A VI). Zieht dieses InBezug-Setzen schon methodisch weit mehr als nur die Veränderung des Gebrauchswertes eines Begriffs nach sich, so bedeutet in diesem konkreten Fall die Anwendung der negativen Größen auf die Weltweisheit des Rationalismus den Anfang vom Ende der rationalistischen Philosophie! So handelt es sich bei dem Begriff, den Kant hier in die Philosophie einfuhren möchte, nicht um einen beliebigen, etwa für die Weltweisheit pragmatisch nützlichen Begriff, sondern präzise um eben jenen Begriff, von dem einzig erwartet werden darf, daß er den „logischen Grund" des Rationalismus vernichten werde: „ d e r R e a l g r u n d " d e s W i r k l i c h e n nämlich (NG II 817 A 68 bzw. A 69, Herv. C. R.). Seinen Versuch teilt Kant in drei Abhandlungen, wobei die erste beabsichtigt, den Begriff der negativen Größen zu klären, die zweite dazu dient, diesen Begriff auf die Gegenstände der Metaphysik anzuwenden, und die dritte versucht, hieraus allgemeine Grundsätze für die Philosophie zu gewinnen.

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ZWEITER TEIL: DIE PSYCHOLOGIE

Diesen drei Abhandlungen fügt Kant noch zwei Anmerkungen hinzu; wobei die erste auf mögliche Einwände eingeht und die zweite die letztendliche Schlußfolgerung dieses Versuchs für die Philosophie ausarbeitet. Betrachten wir also das Ganze näher.

a) Der Begriff der negativen Größen In der ersten Abhandlung setzt Kant die reale oder „wahre Entgegensetzung", d i e R e a l r e p u g n a n z vom „logischen Widerspruch", der l o g i s c h e n R e p u g n a n z , ab (NG II 783ff A 3 u. 4ff). Der logische Widerspruch wird bekanntlich mit jenen Leibnizschen Sätzen gedacht, die Kant von Crusius bezogen hatte (DdG II 764 A 90); nämlich: dem S a t z d e r I d e n t i t ä t („einem jeden Subjekte kommt ein Prädikat zu, welches ihm identisch ist" - ζ. B. der Kreis ist rund) und dem S a t z d e s W i d e r s p r u c h s („keinem Subjekte kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht" - ζ. B. ein Kreis kann nicht eckig sein) (DdG II 765 A 91). Der logische Widerspruch besteht somit darin, „daß von eben demselben Dinge etwas zugleich bejahet und verneinet wird, [wobei] die Folge dieser logischen Verknüpfung gar nichts (nihil negativum, irrepraesentabile) ist, wie der Satz des Widerspruch es aussagt" (NG II 783 A 4). Anders als beim logischen Widerspruch verhält es sich mit jenen n e g a t i v e n G r ö ß e n , die in der Mathematik entweder durch eine Ziffer oder abstrakt durch einen Buchstaben sowie durch ein davor gesetztes Minuszeichen gekennzeichnet werden (zum Beispiel: -3 oder -a). Ein Widerspruch liegt bei einer derartigen negativen Größe gar nicht vor, weil ansonsten mit dieser auch nicht mathematisch operiert werden könnte. Daher sind die negativen Größen auch keine Negationen von Größen (vgl. NG II 781 A VI). Mit einem -Wind, womit wir hier einen beliebigen Gegen-Wind, gesetzt, den OstWind bezeichnen, kann nicht eine logische Verneinung des Windes (nihil negativum, das kontradiktorische Gegenteil) gemeint sein, insofern sich aus einer solchen Verneinung des Windes, aus einem Nicht-Wind-Sein eben gar nichts ergeben würde; ein Nicht-Sein, das sich logischerweise weder erkennen noch repräsentieren läßt (nihil non repraesentabile, non cogitabile). [Vgl. 1. Exkurs] Dementgegen bedeutet ein -Wind, daß hier ein durchaus positiver Wind (der Ost-Wind als -Wind) einem anderen durchaus positiven Wind (dem WestWind als +Wind) richtungsmäßig entgegengesetzt ist, und zwar so, daß deren Verhältnis zueinander tatsächlich etwas Seiendes, d. h. durchaus Erkennbares und Repräsentierbares (repraesentabile, cogitabile) ergibt: nämlich (bei gleicher Windstärke) ein Zero = 0 Wind. Demzufolge bedeutet die Verneinung (negatio) ,0 Wind' im Falle der negativen Größen also nicht ein ,Nichts' (bzw. ein Nicht-Sein von etwas = keine Windexistenz = W), sondern nur ein „verhältnismäßiges Nichts" (NG II 784 A 6) ±W = 0 Wind, d. h. ein Windstillstand, verursacht durch zwei diametral entgegengesetzte gleich starke Winde.

9. DER VERSUCH ÜBER DIE NEGATIVEN GRÖSSEN

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Daß es sich bei diesem verhältnismäßigen Nichts durchaus um ein verhältnismäßiges Etwas handelt, wird deutlich, wenn man deren numerisches Verhältnis verändert: Würden wir hier beispielsweise die gleiche Windstärke durch die ungleiche von -3W + 5W ersetzen, so würden wir tatsächlich ein Etwas, nämlich: +2 Windstärken des Westwindes erhalten. Somit wird mit der Realopposition (der negativen Größen) nur ein „Gegenverhältnis" (NG II 785 A 7) zwischen zwei „bejahenden Prädikaten A und B" (NG II 784 A 5) zum Ausdruck gebracht: Also stehen sich hier tatsächlich zwei positive Prädikate, und nicht, wie bei der logischen Verneinung, ein bejahendes Prädikat , WindSein' (W) und ein verneinendes ,Nicht-Wind-Sein' (W) gegenüber. Dabei handelt es sich bei diesem Gegenverhältnis um eine „gegenseitige Entgegensetzung" (NG II 785 A 6), bei der es dann nur vom Bezugsrahmen abhängt, ob man den Westwind als negativen Ostwind oder den Ostwind als negativen Westwind bezeichnen will. Hieraus folgt ferner, daß d i e n e g a t i v e n G r ö ß e n nicht wie die logischen Verneinungen durch Subtraktion, sondern generell durch Addition berechnet werden: Kommt in einer gleichen Windrichtung ein -Wind zu einem anderen -Wind hinzu, so ergibt dies nicht, wie bei der logischen Verneinung, eine ,doppelte Verneinung', d. h. im Ergebnis eine Bejahung = +1 Wind, sondern selbstverständlich -2 Winde. Während also bei der logischen Repugnanz eine Verneinung der Ursache, weil ein Widerspruch zwischen zwei Prädikaten vorliegt, finden wir in der Realrepugnanz, bei der generell kein Widerspruch anzutreffen ist, nur eine Verneinung der Folgen (vgl. NG II 784 A 6), insofern sich die Prädikate im Effekt ihrer Wechselwirkungen annullieren, d. h. wechselseitig „aufheben" (NG II 785 A 8). Zeigt somit die logische Opposition eine „Verneinung schlechthin", nämlich einen „ M a n g e l (defectus, absentia)" d e r U r s a c h e an, so bedeutet die Realopposition nur eine „ B e r a u b u n g (privatio)" d e r W i r k u n g (NG II 790 A 17f). Nicht zuletzt läßt sich dieser Unterschied auch anhand des Sprachgebrauchs verdeutlichen: Während die logische Verneinung , d i e N e g a t i o n v o n e t w a s ' , Sein A + Nicht-Sein A = gar nichts, also die Abwesenheit einer Ursache, anzeigt, so bedeutet die reale Verneinung , d i e n e g a t i v e ' „ ( S a c h e ) eines Dings von dem anderen" (NG II 788 A 12): +Sein A + -Sein Β = 0, was die Beraubung einer Wirkung kennzeichnet. Zum Beispiel: Ein Feuer, welches aufhört zu brennen, weil das Brennmaterial ausgegangen ist, wird durch eine logische Verneinung begriffen; wohingegen ein Feuer, welches aufhört zu brennen, weil es regnet, durch eine reale Verneinung qualifiziert wird; im ersten Fall findet man einen Mangel der Ursache, es gibt kein Feuer, weil das Brennmaterial verbraucht ist, im zweiten jedoch eine Beraubung der Wirkung, das Feuer brennt zwar an und für sich, zeigt jedoch, wegen des Wassers, keine Wirkung mehr. [Vgl. 2. Exkurs] Hieraus geht hervor, daß es mitunter gar nicht so einfach ist, die Realentgegensetzung von der logischen Entgegensetzung zu unterscheiden: Ist kein Wind zu messen, so ist erst einmal nicht klar, ob es sich hierbei um eine

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ZWEITER TEIL: DIE PSYCHOLOGIE

logische Verneinung (es gibt keinen Wind, d. h. der Gedanke ,Wind' ist logisch eine falsche Verknüpfung) oder um eine reale handelt (es herrscht Windstille, weil zwei Winde sich gegenseitig aufheben). Das Beispiel macht deutlich, daß, wenn die Realentgegensetzung mit der logischen verwechselt wird, sich hieraus folgenschwere Irrtümer ergeben: Nicht nur, daß man in diesem Fall einen Realgrund des Wirklichen schier ignoriert (nämlich: die in den meisten Fällen nicht so leicht erkennbare zweite Ursache, die der ersten ihre Wirkung raubt), die fälschlicherweise behauptete logische Verneinung nimmt hier auch eine Platzhalterfunktion ein; eine Schutzbehauptung, deren Sinn letztendlich einer Realitätsleugnung gleichkommt (anstelle der Erkenntnis zweier real existierender, jedoch sich in Opposition zueinander befindender Winde wird fälschlicherweise eine Nicht-Existenz von Wind behauptet). Hieran wird bereits der Skandal des Rationalismus deutlich: Mit den obersten Grundsätzen der Metaphysik, mit dem Satz der Identität und dem Satz des Widerspruchs, betreibt die Philosophie - borniert, ohne es selbst zu bemerken - offenbar nichts anderes als die Selbstbehauptung ihres eigenen Wahns - eben: einen „Wahn von Weisheit" (NEV II 908 A 4) durch ein „Blendwerk [das ist: durch eine Halluzination - C. R.] von Wissenschaft" (NEV II 909 A 6). Mag die Frage, ob es sich bei einer Verneinung um eine r e a l e oder um eine l o g i s c h e handelt, in Anbetracht der Winde noch belanglos erscheinen, so wird sie bei anderen, zumal metaphysischen Gegenständen allerdings brisant. Ist ζ. B. Unlust nur eine logische Verneinung der Lust (ein Mangel an Lust, ein Fehlen von Lust), oder ist Unlust e i n e r e a l e n e g a t i v e G r ö ß e (nur eine andere verborgene Lust, die in Zusammenhang mit der ersten Unlust erzeugt)? Besteht das Irrationale (der Wahn) nur in einem Mangel an Rationalität (an Weisheit), oder kommt ihm eine eigene Subsistenz zu, die in Kombination mit der Ratio die Vernunft wirkungslos werden läßt? Und, wenn letzteres, was wird dann aus der logischen Verneinung des Rationalismus? Um diesen Fragen näher zu kommen, gehen wir zu Kants Anwendung der negativen Größen auf die Gegenstände der Philosophie bzw. der Metaphysik über.

b) Die Gegenstände der negativen Größen Von Bedeutung ist hierbei zunächst, welche Gegenstände Kant eigentlich unter die „Gegenstände der Philosophie" subsumiert bzw. auf welche Art von Gegenständen diese negativen Größen nunmehr angewendet werden sollen - und da läßt sich sogleich sagen: auf sämtliche Gegenstände überhaupt! Mit der Ausnahme von Gott, auf den die negativen Größen offenbar keine Wirkung haben (vgl. NG II 815 A 64f) - auch nicht, wie man scherzeshalber einwenden könnte, durch die verneinende Größe eines Luzifers, an welchen Kant als Protestant ohnehin nicht glaubt, zumal er in jenen Jahren an Gott selbst zu zweifeln scheint, da es ihm mit dem Allmächtigen mehr und mehr

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erging wie Simonides, welcher bemerkt haben soll: ,je mehr ich über Gott n a c h d e n k e , desto weniger vermag ich ihn e i n z u s e h e n " (NG II 815 A 64, Herv. C. R.) - mit der Ausnahme also von Gott scheint es in dieser Welt nichts zu geben, was nicht den negativen Größen ausgesetzt wäre. Von den Kapitalanlagen bis hin zu den Begierden, vom Magnetismus bis hin zur Liebe, von der Anziehungskraft bis hin zur Tugend, ja selbst von der Summe der Realität bis hin zum Bewußtsein scheint es auf dieser Welt keinen Gegenstand zu geben, der nicht auch von seiner eigenen Negation betroffen wäre. So bedeutet die Solidität eines Körpers eine negative Anziehungskraft (d. h. eine Zurückstoßung als wahre tätige Kraft); so sind die Schulden ein negatives Kapital (da nur die Verhältaismäßigkeit von Soll und Haben über rote oder schwarze Zahlen entscheidet); so ist die Unlust eine negative Lust (d. h. nicht eine Negation von Lust, sondern die Realentgegensetzung von verschiedenen verborgenen Lüsten), der Haß ist negative Liebe, der Tadel negativer Ruhm, das Laster negative Tugend, das Strafen eine negative Belohnung usw. usf. So universell scheinen Kant diese negativen Größen zu sein, daß er in der dritten Abhandlung zu allgemeingültigen Sätzen übergeht - wovon wir hier nur jenen anführen wollen: „daß, wenn A entspringt, in einer natürlichen Weltveränderung auch -A entspringen müsse, d. i. daß kein natürlicher Grund einer realen Folge sein könne, ohne zugleich ein Grund einer anderen Folge zu sein, die die Negation von ihr ist"; beispielsweise „wie niemand aus einem Kahne einen andern schwimmenden Körper nach einer Gegend stoßen kann, ohne selbst nach der entgegengesetzten Richtung getrieben zu werden" (NG II 808 A 50 u. Fn.). Was Kant hier vorschwebt, ist vielleicht Newtons ,actio-reactio', eine Art von Dialektik ohne Hegeische Aufhebung, die nur in gegenseitigen Wechselwirkungen zum Ausdruck kommt; ein Gedanke, der allerdings keinerlei positiven, sondern allenfalls einen negativen Einfluß auf Kants weiteres Denken haben sollte: Wird doch d i e n e g a t i v e G r ö ß e d e r D i a l e k t i k schon zwei Jahre später keine geringere Bezeichnung tragen als:das A p r i o r i . Zählen wir die Fachdisziplinen auf, in denen Kant die negativen Größen am Werk sieht, so sind die folgenden zu nennen: die „ N a t u r w i s s e n s c h a f t [ e n ] " (NG II 797 A 30) (darunter namentlich die Physik, die Mechanik, die Temperatur-, Elektrizitäts- und Magnetlehren), sodann vor allem die „Seelenlehre" (NG II 792 A 21), sprich die Psychologie (Theorie der Lust und Unlust, Theorie des Begehrens und der Verabscheuung, Theorie des Bewußtseins und des Unbewußten), ferner die Moralphilosophie in Form der Gesellschaftswissenschaften (Theorie der wechselseitigen sozialen Wirkungen sowie des Gewissens) und schließlich die „praktische Weltweisheit", sprich die Ethik (Theorie der Tugend und des Lasters, der Gebote und Verbote). Wenn also Kant sagt, daß er hier einen mathematischen Gedanken auf die Gegenstände der Philosophie anwenden möchte, so muß man sich freilich im Zusammenhang dieser Disziplinen fragen, was hier eigentlich worauf angewandt wird? Auf die Naturwissenschaften wendet Kant die negativen Größen mit Sicherheit nicht (oder doch zumindest nicht als erster) an, da sie in diesen

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Fächern bereits seit längerem bekannt sind und Kant seine negativen Größen also nicht nur aus der Mathematik, sondern ebenso aus der angewandten Mathematik, d. h. aus den besagten Naturwissenschaften bezieht. Verbleiben als G e g e n s t ä n d e d e r P h i l o s o p h i e die folgenden: in erster Linie die P s y c h o l o g i e sowie die S o z i o l o g i e und die E t h i k , d. h. jene Fächer, die wir heute den ,Humanwissenschaften' zuordnen würden. Im Fazit läßt sich somit sagen, daß Kant mit den negativen Größen einen naturwissenschaftlichen Gedanken auf die ,Humanwissenschaften' anwendet. Dabei übersehe man nicht die deutliche epistemologische Verschiebung dessen, was Kant vor 1763 fachlich unter Philosophie verstand, zu dem, was er nach 1763 hierunter versteht: Ging es noch im Beweisgrund vor allem um die logische Relation von P h y s i k (ζ. B. Monadologie) und M e t a p h y s i k (ζ. B. Theologie), so treten bereits seit der Untersuchung die Psychologie, die Moralphilosophie und die Ethik mehr und mehr in den Vordergrund. Zwar bleibt hierbei die Fragestellung aus der Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral, d. h. die Frage nach der Möglichkeit von g e s i c h e r t e r E r k e n n t n i s erhalten, doch werden hierbei die negativen Größen nicht auf die Erkenntnistheorie selbst, sondern nur um der Erkenntnistheorie willen auf die Gegenstände der Philosophie (somit nunmehr: auf die Psychologie, die Soziologie und die Ethik) angewandt.

c) Die Verneinung als die negative Größe der Psyche Im folgenden werden wir uns vor allem auf d i e E i n f ü h r u n g d e r n e g a t i v e n G r ö ß e n in d i e P s y c h o l o g i e konzentrieren - zum einen, weil diese sowohl quantitativ wie qualitativ den größten Raum im Versuch einnimmt, zum anderen, weil die Psychologie in den nachfolgenden Jahren den entscheidenden Beitrag zu Kants Auseinandersetzung mit dem Irrationalen liefern wird. „Wir wollen - schreibt Kant - ein Beispiel aus der Seelenlehre nehmen. Es ist die Frage: Ob Unlust lediglich ein Mangel an Lust, oder ein Grund der Beraubung derselben, der an sich selbst zwar etwas Positives [...] ihr aber im Realverstande entgegengesetzt sei, und also ob die Unlust eine negative Lust könne genannt werden. Nun lehret gleich anfangs die innere Empfindung: daß die Unlust mehr als eine bloße Verneinung sei" (NG II 792 A 21). „Man bringt einer Mutter die Nachricht, daß ihr Sohn im Treffen vor das Vaterland heldenhaft gefochten habe. Das angenehme Gefühl der Lust bemächtigt sich ihrer Seele. Es wird hinzugefügt, er habe hiebei einen rühmlichen Tod erlitten. Dieses vermindert gar sehr jene Lust und setzt sie auf einen geringeren Grad" (NG II 792f A 22). „Es ist demnach die Unlust nicht bloß ein Mangel an Lust, sondern ein positiver Grund, diejenige Lust, die aus einem andern Grund statt findet, ganz oder zum Teil aufzuheben, und ich nenne sie daher eine n e g a t i v e

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L u s t . Der Mangel der Lust so wohl als der Unlust, in so ferne er aus dem Mangel der Gründe hiezu herzuleiten ist, heißt G l e i c h g ü l t i g k e i t (indifferentia). Der Mangel der Lust so wohl als Unlust, in so fern er eine Folge aus der Realopposition gleicher Gründe abhängt, heißt G l e i c h g e w i c h t (aequilibrium): beides ist Zero, das erstere aber eine Verneinung schlechthin, das zweite eine Beraubung" (NG II 793f A 23f). Eine ebensolche Realopposition liegt auch dann vor, wenn sich die Lust auf einen Gegenstand bezieht, d. h. beim Begehren. „Die Verabscheuung ist eben so wohl was Positives als die Begierde. Die erste ist eine Folge einer positiven Unlust, wie diese die Folge einer Lust ist. Nur in so ferne wir an eben demselben Gegenstande Lust und Unlust zugleich empfinden, so sind die Begierden und Verabscheuungen desselben in einer würklichen Entgegensetzung. Allein in so ferne eben derselbe Grund, der an einem Objekte Lust veranlaßt, zugleich der Grund einer wahren Unlust an andern wird, so sind die Gründe der Begierden zugleich Gründe der Verabscheuungen, und es ist der Grund einer Begierde zugleich der Grund von etwas, das in einer realen Opposition damit steht, ob diese gleich nur potential ist" (NG II 810 A 54). Überraschend ist, daß Kant diese Realoppositionen von Lust und Begierde, die ein Leser aus heutiger Sicht auf ein Unbewußtes zurückführen würde, auch tatsächlich auf d i e n e g a t i v e G r ö ß e d e s B e w u ß t s e i n s , daher auf ein U n b e w u ß t e s bezieht. Auf die Existenz eines derartigen Unbewußten hatte Kant bereits in der Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze hingewiesen, wo es hieß: „ D u n k l e Vorstellungen sind diejenigen, deren man sich nicht bewußt ist. Nun zeigen einige Erfahrungen: daß wir auch im tiefen Schlafe Vorstellungen haben, und da wir uns deren nicht bewußt sein, so sind sie dunkel gewesen" (DdG II 760 A 86). Da wir in dem Kapitel über die Dunklen Vorstellungen - Unbewußtsein und Spaltung selbige noch ausführlich ausarbeiten werden, sei es uns hier genug, darauf hinzuweisen, daß Kant bereits 1763 sowohl über eine Vorstellung als auch über einen Begriff des Unbewußten (nämlich eben: die d u n k l e n V o r s t e l l u n g e n ) verfugt - anderenfalls wäre auch all das nicht verständlich, was nun folgen wird. Kant schreibt: „Jedermann versteht leicht warum etwas nicht ist, in so ferne nämlich der positive Grund dazu mangelt, aber wie dasjenige, was da ist, aufhöre zu sein, dieses ist so leicht nicht verstanden. Es existiert ζ. E. anjetzo in meiner Seele die Vorstellung der Sonne durch die Kraft meiner Einbildung. Den folgenden Augenblick höre ich auf, diesen Gegenstand zu gedenken. Diese Vorstellung, welche war, hört in mir auf zu sein, und der nächste Zustand ist das Zero vom vorigen. Wollte ich zum Grunde hievon angeben: daß darum der Gedanke aufgehört wäre, weil ich im folgenden Augenblicke unterlassen hätte, ihn zu bewirken, so wäre die Antwort von der Frage gar nicht unterschieden; denn es ist eben hievon die Rede, wie eine Handlung, die wirklich geschieht, könne unterlassen werden, d. i. aufhören könne zu sein" (NG II 802 A40f). Hierbei ist die Art und Weise, wie Kant die Frage nach dem Bewußtsein von Vorstellungen stellt, bemerkenswert. Denn zum einen behauptet er schon

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hier, daß das Bewußtsein nicht notwendig Herr seiner Vorstellungen ist, zum anderen deutet er somit bereits an, daß, wenn eine Vorstellung aufhört zu sein, dies auf eine andere realopponierende Vorstellung verweisen müsse; auf eine Vorstellung allerdings, vom der das Subjekt, das sich zuvor die Sonne vorgestellt hatte, nicht das mindeste Bewußtsein hat. Und so heißt es denn auch weiter: „Ich gedenke ζ. E. anjetzo an den Tiger. Dieser Gedanke verliert sich und es fallt mir dagegen der Schakal ein. Man kann freilich bei dem Wechsel der Vorstellungen eben keine besondere Bestrebung der Seele in sich wahrnehmen, die da wirkte, um eine von den gedachten Vorstellungen aufzuheben. [C. R.: Was nicht bedeutet, daß eine solche, wenngleich nur unbewußt, nicht vorhanden wäre.] Alleine welche bewundernswürdige Geschäftigkeit ist nicht in den Tiefen unseres Geistes verborgen, die wir mitten in der Ausübung nicht bemerken, darum weil der [Geistes- - C. R.] Handlungen sehr viele sind, jede einzelne aber nur sehr dunkel [d. h. eben: unbewußt ist - C. R.] [...]. Und so ist zu urteilen, daß das Spiel der Vorstellungen und überhaupt aller Tätigkeiten unserer Seele, in so fern ihre Folgen, nachdem sie wirklich waren, wieder aufhören, entgegengesetzte Handlungen voraussetzen, davon eine die Negative der andern ist [...], ob uns gleich nicht immer die innere Erfahrung davon belehren kann" (NG II 804 A 43f). Von dem, was Kant hier beschreibt, zu Freuds Verneinung (vgl. Freud 1925 XIV 9ff) besteht somit nur noch ein winziger, wenn überhaupt ein Sprung. Denn: Wenn die dunklen, d. h. die unbewußten Vorstellungen die negativen Größen von klaren, d. h. bewußten Vorstellungen sind, so bedeutet dies - nach Kant - , daß es sich bei ihnen an und für sich um ebenso positive Vorstellungen handelt wie bei den bewußten (insofern sie nur im Zusammenhang mit diesen in einer Realopposition stehen und sich daher annullieren). Hieraus folgt logischerweise jedoch zweierlei - nämlich erstens, daß (wie Freud sagt) das Unbewußte an und für sich keine Verneinungen kennt (insofern eine Verneinung immer von einer Realopposition bewußter und unbewußter Vorstellungen zugleich, d. h. von einer Zensur oder Verdrängung zeugt); und zweitens, daß, wenn wir eine Verneinung in einer bewußten Vorstellung antreffen, wir auf eine andere - dem Bewußtsein nicht präsente, weil verdrängte oder zensierte - Vorstellung rückschließen müssen; was wiederum nichts anderes bedeutet, als daß alle verneinenden Sätze etwas anderes besagen als das, was sie vorgeben. Eben diesen psychologischen Mechanismus beschreibt hier auch Kant: „nämlich daß sie [die Akzidenzien der geistigen Naturen] niemals anders aufgehoben werden als durch eine wahre entgegengesetzte Bewegkraft eines andern, und ein inneres Akzidens, ein Gedanke der Seele, kann nicht aufhören zu sein, ohne eine wahrhaftig tätige Kraft e b e n d e s s e l b e n denkenden Subjekts" (NG II 804f A 44). Zum Beispiel: „Man empfindet es in sich selbst sehr deutlich: daß, um einen Gedanken voll Gram bei sich vergehen zu lassen und aufzuheben, wahrhafte und gemeiniglich große Tätigkeit erfordert wird.

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Es kostet wirkliche Anstrengung, eine zum Lachen reizende lustige Vorstellung zu vertilgen, wenn man sein Gemüt zur Ernsthaftigkeit bringen will. Eine jede Abstraktion [heute würden wir sagen: eine Zerstreuung - C. R.] ist nichts anders, als eine Aufhebung gewisser klarer [d. h. bewußter - C. R.] Vorstellungen, welche man gemeiniglich darum anstellt, damit dasjenige, was übrig ist, desto klarer vorgestellt werde. Jedermann weiß aber, wie viel Tätigkeit hiezu erfordert wird, und so kann man die A b s t r a k t i o n eine n e g a t i v e A u f m e r k s a m k e i t nennen, das ist, ein wahrhaftes Tun und Handeln, welches deijenigen Handlungen, wodurch die Vorstellung klar wird, entgegengesetzt ist, und durch die Verknüpfung mit ihr das Zero, oder den Mangel der klaren Vorstellung zuwege bringt" (NG II 803 A 42). Umgekehrt „ist [es] eben nicht nötig, daß, wann wir glauben in einer gänzlichen Untätigkeit des Geistes zu sein, die Summe der Realgründe des Denkens und Begehrens kleiner sei als in dem Zustande, da sich einige Grade dieser Würksamkeit dem Bewußtsein offenbaren" (NG II 813 A 60f) - Sic! Der Satz ist hundertfünfzig Jahre älter als Freuds Theorie und stammt von Kant! - Kehren wir somit von der psychologischen zur allgemein logischen Theorie der negativen Größen zurück.

d) Das Scheitern des Rationalismus am Begriff" der Negativität Nachdem wir somit einen anschaulichen Eindruck von den negativen Größen erhalten haben, können wir uns nun der Frage zuwenden, worin - nicht, wie eingangs bei der Begriffsunterscheidung, die 1 o g i s c h e , sondern vielmehr: die r e a l e D i f f e r e n z zwischen der realen Verneinung einerseits und der logischen Verneinung andererseits besteht? Halten wir uns das bisher Gesagte nochmals vor Augen und überprüfen wir die genannten Einzelfälle auf ihre Gemeinsamkeit, so fallt sogleich folgendes auf: Während die reale Verneinung gerade versucht, die „ n a t ü r l i c h e n V e r ä n d e r u n g e n d e r W e l t " (NG II 808 A 50), d. h. die Kausalität (handle es sich hierbei nun um physische oder um psychische) zu denken, so ist der Satz der Identität bzw. der des Widerspruchs in einer eigenartigen Weise statisch. Zwar ist der Satz des Widerspruchs befähigt zu sagen, ob - in bezug auf eine Existenz - e t w a s i s t o d e r n i c h t i s t (d. h. ob in einem Verstandesurteil die Prädikate eines Subjekts richtig gedacht wurden oder nicht); er ist jedoch völlig außerstande zu erklären, w i e d a r u m „ w e i l e t w a s i s t , e t w a s a n d e r e s s e i " (NG II 817 A 68), d. h. zu erklären, wie etwas entsteht oder „ w i e d a r u m w e i l e t w a s ist e t w a s a n d e r e s a u f g e h o b e n w e r d e " (NG II 819 A 71), d. h. zu erklären, warum etwas vergeht. Kurzum: Die Frage, wie Veränderung in der Welt überhaupt möglich sein soll, d. h. die Frage der Kausalität in einem Erfahrungsurteil, kann der Satz des Widerspruchs nicht nur nicht beantworten (da er sich dieser Frage auch gar nicht

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stellt), der Satz des Widerspruchs steht auch in einer eigenartigen Diskrepanz, in einer höchst seltsamen Beziehungslosigkeit zur Veränderung überhaupt. (Den Begriff der Kausalität oder den des , Satzes der Kausalität' verwendet Kant in diesem Text übrigens noch nicht; er trifft jedoch genau das, was hier gemeint ist.) Zwar muß man einräumen, daß die logische Verneinung nicht denselben Bezugsrahmen hat wie die Real Verneinung: Während die letztere Aussagen zur Realität, mithin Erfahrungsurteile behauptet, stellt die logische Verneinung nur sprachanalytische Sätze zu logischen Aussagen des Denkens, daher Verstandesurteile auf. Nichtsdestotrotz muß hier ein logischer Widerspruch zwischen der logischen Verneinung einerseits und der realen andererseits festgestellt werden - und zwar aus dem Grund, weil die Logik des Denkens nicht von einer ganz anderen Welt (mit ganz anderen Gesetzen) sein kann als die Logik des Seins (anderenfalls wir ja doch nicht die Möglichkeit hätten, überhaupt irgend etwas zu erkennen). Anders gesagt: Wenn die Sätze der logischen Verneinung in keinerlei Beziehung zu den Realrepugnanzen stehen, so sind diese Sätze entweder unbrauchbar (weil eben beziehungslos) oder falsch was letztendlich auf das gleiche hinausläuft. Noch anders ausgedrückt: Die Sätze der logischen und die der realen Verneinung stehen - logisch betrachtet in einer ausschließenden Disjunktion zueinander: Entweder es stimmen die einen oder aber die anderen; beide zusammen können nicht sein, weil sie sich logisch ausschließen. Da nun aber sowohl von den Naturwissenschaften her als auch, wie Kant aufgezeigt hat, von den Humanwissenschaften (der Psychologie, Soziologie und Ethik) her es als erwiesen anzusehen ist, daß alles sich in einer permanenten Veränderung befindet und eine jede Veränderung nach dem Satz der Kausalität, d. h. nach Ursache-Wirkungsbeziehungen geschieht, so ist zu schließen, daß an den logischen Sätzen der Philosophie (die eine nirgends einsehbare Unveränderbarkeit behaupten) irgend etwas nicht stimmen kann. Die Frage ist nur: was? Von hier aus kommt Kant nochmals auf die logischen Konstruktionen des Realgrundes einerseits und des logischen Grundes andererseits zu sprechen so in der abschließenden Allgemeinen Anmerkung. Zwar gibt Kant hier noch keine Antwort auf die oben gestellte Frage, da er „das Resultat dieser Betrachtungen dereinst ausführlich darlegen" will (NG II 819 A 71) — welche Darlegung dann allerdings noch gut 18 Jahre, bis zur Kritik der reinen Vernunft 1781, auf sich warten lassen wird; er stellt die Frage hier jedoch so präzise, daß man dem, was er hier beschreibt, die spätere Begrifflichkeit der Kritik zuordnen kann. Nehmen wir d i e l o g i s c h e V e r n e i n u n g , d. h. den S a t z d e s Wid e r s p r u c h s (Sein A + Nicht-Sein A = gar nichts), und fragen, um was für eine Art von logischem Urteil es sich hierbei handelt, so können wir sogleich die Antwort geben: Es ist ein a n a l y t i s c h e s U r t e i l - d. h. ein Urteil, bei dem das Prädikat im Subjekt bereits enthalten und folglich durch analytische

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Zergliederung diesem auch zu entnehmen ist. Beispiel: Das Rundsein wird im Kreis schon mitgedacht und kann daher diesem durch analytische Zerlegung des Begriffs ,Kreis' auch entnommen werden. Da bei dieser Art von Urteil das in einem Begriff schon Enthaltene durch Zergliederung nur näher beschrieben - d. h. im strikten Sinne gar keine (neue) Erkenntnis geschaffen wird, nennt Kant die analytischen Urteile später in der Kritik auch E r l ä u t e r u n g s u r t e i l e (vgl. KrV III 52ff A 6ff Β lOff). Wenn nun auch Kant die Sache hier in dieser Anmerkung nicht beim Wort benennt, so spielt er doch ganz ausdrücklich auf die analytischen Urteile an, wenn er über den Satz der Identität wie folgt reflektiert: „Ich verstehe sehr wohl, wie eine Folge durch einen Grund der Regel der Identität gesetzt werde, darum weil sie durch die Zergliederung der Begriffe in ihm enthalten befunden wird. So ist die Notwendigkeit ein Grund der Unveränderlichkeit, die Zusammensetzung ein Grund der Teilbarkeit, die Unendlichkeit ein Grund der Allwissenheit etc. etc. und diese Verknüpfung des Grundes mit der Folge kann ich deutlich einsehen, weil die Folge wirklich einerlei ist mit einem Teilbegriff des Grundes, und, indem sie schon in ihm befaßt wird, durch denselben nach der Regel der Einstimmung gesetzt wird. Wie aber etwas aus etwas andern, aber nicht nach der Regel der Identität, [sondern durch eine Realentgegensetzung - C. R.] fließe, das ist etwas, welches ich mir gerne möchte erklären lassen" (NG II 817 A 67). Denn bei der R e a l e n t g e g e n s e t z u n g , bei dem S a t z d e r K a u s a l i t ä t (+Sein A + -Sein Β = 0), handelt es sich gar nicht um ein analytisches, sondern um ein s y n t h e t i s c h e s U r t e i l , d. h. um ein E r w e i t e r u n g s u r t e i l , indem das Prädikat (-Sein B) mit dem Subjekt (+Sein A) nichts zu tun hat, diesem also auch nicht zu entnehmen ist, sondern vielmehr (von außen) zu ihm hinzukommt. Beispiel: „Ein Körper A ist in Bewegung, ein anderer Β in der geraden Linie derselben in Ruhe. Die Bewegung von A ist etwas, die von Β ist etwas anders, und doch wird durch die eine die andere gesetzt" (NG II 817 A 68f). Bereits in § 1 der Ersten Betrachtung der Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze hatte Kant die These aufgestellt, daß „die Mathematik zu allen ihren Definitionen synthetisch, die Philosophie aber analytisch" gelangt (vgl. DdG II 744ff A 71ff); hier in der abschließenden Allgemeinen Anmerkung zu den negativen Größen fugt er nun noch hinzu, daß es ganz und gar unmöglich ist, auf analytischem Wege zu synthetischen Sätzen zu gelangen bzw. diese auch nur zu erklären. So veranschlagt er beispielsweise: „Allein der Wille Gottes enthält den Realgrund vom Dasein der Welt. Der göttliche Wille ist etwas. Die existierende Welt ist etwas ganz anderes. [...] Ihr möget nun den Begriff vom göttlichen Wollen zergliedern so viel euch beliebt, so werdet ihr niemals eine existierende Welt darin antreffen, als wenn sie darin enthalten und um der Identität willen dadurch gesetzt sei, und so in den übrigen Fällen" (NG II 817 A 68 u. 818 A 69). Soll heißen: Von analytischen Urteilen (wie dem Satz der Identität) werdet ihr niemals zu synthetischen Urteilen (wie dem Satz der Kausalität) gelangen oder letztere auch nur erklären

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können. Wenn aber dem obersten Grundsatz der rationalistischen Philosophie, dem Satz der Identität, nicht einmal mehr ein Wahrheitsgehalt für die (rationalistische) Beziehung zwischen Gott und Welt zukommt, so stehen die Leibnizschen Sätze vollends im luftleeren Raum. Wie man sieht, ist von der gottgegebenen „Möglichkeit der Dinge selbst" sowie von der gottgegebenen „Einheit, Harmonie und Ordnung" der Welt (wie wir sie noch zu Beginn dieses Kapitels anhand des Einzig möglichen Beweisgrundes kurz beschrieben hatten) hier nicht mehr viel, um genau zu sein, eben: gar nichts (das ist weniger als: Zero), Übriggeblieben. Durch eine Verschiebung ihrer Aussagereferenz ist die logische Verneinung (ebenso wie die logische Bejahung) selbst logisch verneint, d. h. ad absurdum geführt worden. Da aber auch W i d e r l e g u n g e n gleichsam n e g a t i v e B e w e i s e sind (vgl. NG II 795 A 26), hat dies zur Konsequenz, daß Gott, dem noch im Beweisgrund zumindest die Möglichkeit sowohl von Sein als auch von Erkenntnis zugeschrieben wurde, von der Position eines Erkenntnissubjekts in die Position eines x-beliebigen Erkenntnisobjektes gerückt und damit unwiderruflich von seinem göttlichen Thron herabgestürzt worden ist; hiernach läßt sich Gott bekanntlich zwar noch denken, jedoch nicht mehr erkennen, geschweige denn demonstrieren. Mit Gott fallt wiederum die rationalistische Erkenntnistheorie in toto, die mit Sätzen wie dem von der Identität oder dem vom Widerspruch sowie mit jenem - weder von Kant noch von uns hier verhandelten - S a t z v o m z u r e i c h e n d e n G r u n d e die Einheit von Gott und Welt sowie die Ordnung der Dinge in der Welt in einer (Leibnizschen) Balance gehalten hatte. Kurzum: Nach der Einführung der negativen Größen in die Weltweisheit des Rationalismus befindet sich Kant, in der ärgsten aller nur erkennbaren Welten. Damit ist für Kant der Harmonieglaube der Weltweisheit des Rationalismus zerbrochen, der Bruch mit dem, was Michel Foucault das klassische Zeitalter der Philosophie genannt hatte, vollzogen. Deutlich läßt sich hierbei auch das nachvollziehen, was Foucault zufolge die Bruchstelle dieses Zusammenbruchs kennzeichnet (vgl. M. Foucault 1966, Kap. 9; A. Hemminger 2004, Kap. 2): d a s A u s e i n a n d e r b r e c h e n v o n S e i n u n d R e p r ä s e n t a t i o n , welches sich hier bei Kant in zwei Schritten vollzieht. Zunächst einmal brechen zwei Repräsentationsformen, die sich auf ein und dasselbe Sein beziehen, auseinander - nämlich: der Satz der Kausalität und der Satz des Widerspruchs in bezug auf Realität. In einem zweiten Schritt zerfällt der Zusammenhang von Sein und Repräsentation selbst: nämlich in eine R e p r ä s e n t a t i o n o h n e S e i n (den Satz des Widerspruchs) und in ein S e i n o h n e R e p r ä s e n t a t i o n (die Kausalbeziehungen bei einer Veränderung). Alleine dieser Bruch zwischen Darstellendem und Dargestelltem, sowie die hieraus resultierende Relativierung der Darstellungsformen selbst, legt bereits an dieser Stelle jenen konstruktivistischen Schluß nahe, den Kant sieben Jahre später (1770) in der Inaugural-Dissertation explizit ziehen wird: nämlich die Darstellung eines Dargestellten als solche als eine „ r e p r a e s e n t a t i o " zu

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betrachten (das ergibt, wenn man das Wort ins Deutsche übersetzt, später den zentralen Begriff der Kritik - nämlich e i n e V o r s t e l l u n g ) und also zwischen Ding fur uns (Phaenomenon) und Ding an sich (Noumenon) prinzipiell zu unterscheiden. Diese Entwicklung Kants zeigt indes, daß hier nicht einfach die eine Repräsentationsform des Rationalismus später durch eine andere, nämlich kritische Repräsentationsform abgelöst wurde, sondern daß sich diese kritische Repräsentation auch dadurch auszeichnen wird, daß die Vorstellungen in ihre Grenzen verwiesen werden, womit ihnen nur noch unter gewissen Bedingungen Gültigkeit zukommen wird. So wird später die Äquivalenz-Repräsentation des Rationalismus durch die Bruch-Repräsentation der Kritik ersetzt werden. Doch bis dahin wird es, wie gesagt, noch guter 18 Jahre sowie noch einiger Zwischenschritte bedürfen. Sprachen wir in diesem Kapitel vom inneren Zusammenbruch des Kantischen Rationalismus, so deshalb, weil sich all das hier Beschriebene trotz allem noch auf dem Boden der Philosophie abspielt. Sicherlich wurde hier ein nicht philosophischer Gedanke, die der Mathematik und den Naturwissenschaften entnommenen negativen Größen, auf die Gegenstände der Philosophie angewandt und durch diese Anwendung hindurch der Gattungsbegriff der ,Philosophie' dermaßen verändert, daß Psychologie, Soziologie und Ethik ins philosophische Zentrum gerückt sind; doch bleibt hierbei die Fragestellung , nämlich jene nach einer gültigen Logik bzw. Erkenntnistheorie, eine genuin philosophische Frage. Durch die inneren Widersprüche des Rationalismus aus seiner logischen Umlaufbahn herausgeworfen, wird sich Kant allerdings in den Jahren nach 1763 mit Gegenständen und Disziplinen befassen, die mit der Philosophie nicht mehr das allergeringste zu tun haben. Nachdem er bei einem Urlaub auf dem Lande bei Mittau mit seinen Beobachtungen über das Gefiihl des Schönen und Erhabenen (Ί764) sich gleichsam vom Schock der Erschütterung seines Rationalismus zu erholen gedachte (und wie zum eigenen Trotz, wenn auch nur im ästhetischen Bereich, die schöne - oder erhabene? - Welt des Rationalismus nochmals behauptet), wird er sich noch im gleichen Jahr, unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Königsberg, den n e g a t i v e n G r ö ß e n d e r R a t i o , also dem I r r a t i o n a l e n selbst zuwenden. Nun mag es eigenartig erscheinen, daß ein Philosoph - mit einem Versuch über die Krankheiten des Kopfes (1764) - sich ausgerechnet ins Irrenhaus begibt, um das wiederzufinden, was ihm abhanden gekommen zu sein scheint, nämlich: die Vernunft.

10. Der , Versuch über die Krankheiten des Kopfes' - 1764

Der Versuch über die Krankheiten des Kopfes (1764) kann als Kants erste öffentliche Reaktion auf den schwedischen Gelehrten und Seher Emanuel von Swedenborg angesehen werden. Zu diesem Text gibt es nun einen Paralleltext in der Anthropologie, nämlich die §§ 42, 43 sowie 46 bis 50 mit der Gesamtüberschrift Von den Schwächen und Krankheiten der Seele in Ansehung ihres Erkenntnisvermögens (Anthr. XII 512-517 BA 124-129 u. 524-537 BA 138-153). Die meisten Passagen des Anthropologie-Textes sind mit denen des Versuchs nahezu deckungsgleich; da aber der Versuch eindeutig die literarisch ausgearbeitetere Fassung darstellt, muß davon ausgegangen werden, daß die ursprünglichen Ausführungen, die später in den Anthropologie-Text eingeflossen sind, als Vorlage für den Versuch gedient haben. In einigen wenigen Passagen weicht jedoch der Text der Anthropologie deutlich von dem des Versuches ab - diese Passagen sind daher vermutlich von Kant erst später bei der Überarbeitung zur Erstellung der Druckfassung des Anthropologie-Textes Ende der 90er Jahre hinzugefügt worden.

a) Wahnsinn und Gesellschaft Vorab sei darauf hingewiesen, daß Kant die Krankheiten des Kopfes nicht als natürliche, sondern als Zivilisationskrankheiten betrachtet. Diese Einschätzung - hinter welcher sich sicherlich wiederum Kants Rousseau-Lektüre verbirgt - sagt nicht so sehr etwas über Kants Beziehung zu den Geisteskrankheiten, als vielmehr etwas über die Motivation seiner Beschäftigung mit den Krankheiten des Kopfes aus. Letztere sind gewissermaßen als das Symptom der Ambivalenz des Fortschritts oder als eine Form von Regression anzusehen, und zwar sowohl quantitativ wie auch qualitativ. Quantitativ gibt Kant zu bedenken, daß „der Mensch im Zustande der Natur nur wenig Torheiten und schwerlich einiger Narrheit unterworfen sein [kann]. Seine Bedürfnisse halten ihn jederzeit nahe an der Erfahrung, und geben seinem gesunden Verstand eine so leichte Beschäftigung, daß er kaum bemerkt, er habe zu seinen Handlungen Verstand nötig. [...] Gleichergestalt kann die Störung des

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Gemüts in diesem Stande der Einfalt nur selten stattfinden. Wenn das Gehirn des Wilden einigen Anstoß erlitten hätte, so weiß ich nicht wo die Phantasterei herkommen sollte, um die gewöhnliche Empfindungen, die ihn allein unablässig beschäftigen, zu verdrängen. Welcher Wahnsinn kann ihm wohl anwandeln, da er niemals Ursache hat, sich in seinem Urteile weit zu versteigen? Der Wahnwitz aber ist gewiß ganz und gar über seine Fähigkeit. Er wird, wenn er im Kopf krank ist, entweder blödsinnig oder toll sein, und auch dieses muß höchst selten geschehen, denn er ist mehrenteils gesund, weil er frei ist und Bewegung hat. In der bürgerlichen Verfassung finden sich eigentlich die Gärungsmittel zu allem diesem Verderben, die, wenn sie es gleich nicht hervorbringen, gleichwohl es zu unterhalten und zu vergrößeren dienen" (KdK II 898f A 29). Hierbei stellt sich heraus, daß der Fortschritt eine Menge nie gekannter Übel mit sich bringt, daß der quantitative Überhang - eine Supplementierung - die Ursache für die geistige Verwirrung ist. Hinter diesem quantitativen Überhang steckt auch eine bestimmte Qualität, nämlich: der sittliche Fall. Kant beginnt daher die Krankheiten des Kopfes mit den folgenden Sätzen: „Die Einfalt und Genügsamkeit der Natur fordert und bildet an dem Menschen nur gemeine Begriffe und eine plumpe Redlichkeit, der künstliche Zwang und die Üppigkeit der bürgerlichen Verfassung hecket Witzlinge und Vernünftler, gelegentlich aber auch Narren und Betrüger aus, und gebieret den weisen oder sittsamen Schein, bei dem man so wohl des Verstandes als der Redlichkeit entbehren kann, wann nur der schöne Schleier dicht genug gewebt ist, den die Anständigkeit über die geheime Gebrechen des Kopfes oder des Herzens ausbreitet. Nach dem Maße, als die Kunst hoch steigt, werden Vernunft und Tugend endlich das allgemeine Losungswort, doch so, daß der Eifer, von beiden zu sprechen, wohl unterwiesene und artige Personen überheben kann, sich mit ihrem Besitze zu belästigen. Die allgemeine Achtung, darin beide gepriesene Eigenschaften stehen, machet gleichwohl diesen merklichen Unterschied, daß jedermann weit eifersüchtiger auf die Verstandesvorzüge als auf die guten Eigenschaften des Willens ist, und daß in der Vergleichung zwischen Dummheit und Schelmerei niemand einen Augenblick ansteht, sich zum Vorteil der letzteren zu erklären; welches auch gewiß sehr wohl ausgedacht ist, weil, wenn alles überhaupt auf Kunst ankömmt, die feine Schlauigkeit nicht kann entbehret werden, wohl aber die Redlichkeit, die in solchem Verhältnis nur hinderlich ist" (KdK II 887 A 14). Es sind also die Kunst (nicht die der schönen Künste, sondern die Kunstfertigkeit, heute würden wir sagen: die Technik und Technologie) und die Üppigkeit (sprich: die Überflußgesellschafit) sowie gerade die Anständigkeit und Sittsamkeit, die Kultur der ,feinen Leute', die zu einer Pervertierung zunächst der Sittlichkeit, sodann aber auch des Verstandes führen. Hinter dem feinen Unterschied zwischen den Schlauen und den Redlichen verbirgt sich, Kant zufolge, der merkliche Unterschied zwischen den sozialen Schichten: „Ehrlich aber d u m m (wie einige ungebührlich den pommerschen Bedienten beschreiben) ist ein falscher und höchsttadelhafter Spruch. Er ist falsch: denn Ehrlichkeit (Pflichtbeob-

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achtung aus Grundsätzen) ist praktische Vernunft. Er ist höchsttadelhaft: weil er voraussetzt, daß ein jeder, wenn er sich nur dazu geschickt fühle, betrügen würde, und daß er nicht betrügt, bloß von seinem Unvermögen herrührt. Daher die Sprichwörter: ,Er hat das Schießpulver nicht erfunden, er wird das Land nicht verraten, er ist kein Hexenmeister' menschenfeindliche Grundsätze verraten: daß nämlich, bei Voraussetzung eines guten Willens der Menschen, die wir kennen, [wir - C. R.] doch nicht sicher sein können, sondern nur beim Unvermögen derselben. - So, sagt H u m e , vertraut der Großsultan seinen Harem nicht der Tugend deqenigen, welche ihn bewachen sollen, sondern ihrem Unvermögen (als schwarzen Verschnittenen) an" (Anthr. XII 516f BA 128f). Mit zunehmender gesellschaftlicher Verfeinerung und Künstlichkeit, mit Reichtum und Überfluß (sowie durch die hieraus entspringende Komplexität) nimmt also der gesellschaftliche Wahn zu - quantitativ. Qualitativ ergibt sich somit ein umgekehrt proportionales Verhältnis zwischen technischer Klugheit und praktischer (d. h. sittlicher) Vernunft, welches dann wiederum im gesellschaftlichen Wahn seinen Ausdruck findet. Weist Kant so von Anbeginn an auf die gesellschaftliche Bedingtheit des Wahns hin, so behandelt er doch den ethischen Wahn in der Zeit um 1764 noch nicht - hier in seinem Versuch über die Krankheiten des Kopfes geht es ihm erst einmal um eine ontologische Beschreibung und nosologische Einordnung des Wahns.

b) Onomastik - Klassifikation der psychischen Störungen Nach der Methode der Ärzte, „welche glauben ihrem Patienten sehr viel genutzt zu haben, wenn sie seiner Krankheit einen Namen geben", entwirft Kant „eine kleine Onomastik der Gebrechen des Kopfes" (KdK II 888 A 15). Eine Onomastik ist eine Namenskunde; es geht Kant in diesem Text somit nicht um eine empirische Untersuchung, sondern um die begriffliche Unterscheidung der jeweiligen Krankheiten voneinander. Diese Vorgehensweise ist noch rein rationalistisch, genauer ontophänomenologisch: Die verschiedenen Krankheiten werden definiert und beschrieben. Mehr: Kant entwirft hier das, was wir heute eine N o s o l o g i e nennen würden: eine K l a s s i f i k a t i o n d e r p s y c h i s c h e n S t ö r u n g e n (die im übrigen in erstaunlicher Weise, zumindest in den groben Zügen, mit den heute üblichen Klassifikationen übereinstimmt). [Vgl. 3. Exkurs] Auch die Gliederung selbst folgt hierbei dem rationalistischen Modell des Stammbaums. Ein Oberbegriff teilt sich in Unterbegriffe, welche sich ihrerseits wiederum in Unterunterbegriffe teilen usw. usf. - Ein Schema der Gliederung dieser Nosographie befindet sich auf der nächstehenden Seite. [Vgl. 4. Exkurs] Kant unterscheidet zuallererst die K r a n k h e i t e n d e s K o p f e s (Gebrechen der Erkenntniskraft) von der K r a n k h e i t d e s H e r z e n s (Verderben des Willens) - auf letztere geht er nicht näher ein (KdK II 900 A 30). Die

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10. DER VERSUCH ÜBER DIE KRANKHEITEN DES KOPFES

Kants Nosographie der .Krankheiten des Kopfes' von 1764 Krankheiten des Kopfes

normale Krankheiten (Neurosen)

Krankheiten des Herzen (Verderben des Willens)

Mangel

Überfluß Triebe/Leidenschaften

stumpfer Kopf (witzlos)

Tor (hat Verstand, doch zu starken Trieb)

Dummkopf (Intelligenzmangel)

Narr (triebhaft, doch ohne Verstand)

Krankheiten fürs Hospital

Einfaltspinsel (urteilsschwach) Hohlkopf (fehlt Schlauigkeit)

Blödsinnigkeit (organisch) Verkehrtheit (Schizophrenie)

Verrückung gestörter Verstand falsche Wahrnehmung Träumer im Wachen

depressiv Verrückte

Unglückliche Leidenschaft

Verrückte Erinnerung Murrkopf

Wahnsinn gestörte Urteilskraft

unkluge Kopfbrecherei Mischmaschproduzent

richtige Wahrnehmung Verfolgungswahn

Aberwitz I 1 1 Ambivalenz I I I 1 1 1

Melancholiker (Grübler)

Genie

pathologisch Verliebte

manisch Verrückte

Hypochonder

Melancholiker

Wahnwitz gestörte Vernunft

Enthusiasten I 1 j Ambivalenz ι ¡ I Fanatiker Visionär Schwärmer

Trübsinnige

Unsinnigkeit Hochmütige Raserei Verzweiflung Tobsucht

Katatonie

Hebephrenic

Paranoia

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ZWEITER TEIL: D I E PSYCHOLOGIE

Krankheiten des Kopfes gliedern sich grundsätzlich in zwei Oberabteilungen: Auf der einen Seite befinden sich die ,normalen' Krankheiten, „welche verachtet und verhöhnt werden" (KdK II 892 A 21), die aber „noch nicht ins Narrenhospital [gehören]" (Anthr. XII 513 BA 125); jene Krankheiten somit, die wir heute als n e u r o t i s c h bezeichnen würden. Auf der anderen Seite stehen solche Krankheiten, „deren sich die obrigkeitliche Vorsorge annimmt" (ebd.): jene Krankheiten also, die wir heute als p s y c h o t i s c h einstufen würden. Die ersten nennt Kant in der Anthropologie auch G e m ü t s s c h w ä c h e , die zweiten G e m ü t s k r a n k h e i t e n . Die Gemütsschwächen (Neurosen) teilt Kant wiederum in zwei: in solche, die auf einem Mangel beruhen - wie der s t u m p f e K o p f (der witzlos ist), der D u m m k o p f (der keine Intelligenz aufzuweisen hat), der E i n f a l t s p i n s e l (dem es an Urteilskraft mangelt) und der H o h l k o p f (dem es an Schlauigkeit fehlt) einerseits, und andererseits solche, bei denen „die Triebe der menschlichen Natur" (KdK II 889 A 17) stärker sind als der Verstand.

c) Gemütsschwächen - Neurosen Zu jenen, deren Triebe stärker sind als ihr Verstand, gehören die T o r e n (welche man als die eigentlichen Neurotiker ansehen kann) und die N a r r e n . „Ein T o r kann viel Verstand haben, selbst in dem Urteil über diejenigen Handlungen, darinnen er töricht ist" (ebd.), nur sind bei ihm eben die „Triebe [...], welche, wenn sie von viel Graden sind, Leidenschaften heißen", mächtiger als sein noch so starker Verstand. Der Tor „versteht die wahre Absicht seiner Leidenschaft sehr wohl, wenn er gleich ihr eine Stärke einräumet, welche die Vernunft zu fesseln vermag" (KdK II 890 A 17). Der Tor ist überempfindlich, ein ,,ausgeartete[r] Mensch" (ebd.), der an „Ausschweifungen" (KdK II 889 A 17), an mehr oder minder heftigen (neurotischen) „Neigungen" leidet (KdK II 890 A 17). Sei dies nun „der Baugeist, die Bilderneigung, die Büchersucht" (ebd.), die „verliebte Leidenschaft" oder das läppische Lob der müßigen Bürger von Athen, welches „den A l e x a n d e r an das Ende der Welt [schickte]" (ebd.), ein Tor ist jemand, dem es nicht an Verstand, sondern an Weisheit mangelt. Der N a r r indes ist ein Tor ohne Verstand; ihm ist seine Wirkung auf andere, die Außensicht seines Handelns, nicht bewußt; wie jenem „Possenreißer eines benachbarten Hofes, als er in Narrenkleidern durch eine polnische Stadt ritt, den Studenten zurief, die ihm nachliefen: ,Ihr Herren, seid fleißig, lernet etwas, denn wenn unser zu viel sind, so können wir nimmermehr alle Brot haben'" (KdK II 892 A 21). Auch „wer seinem eigenen rechtmäßigen Vorteil gerade entgegen handelt, wird bisweilen Narr genannt, ob er zwar nur sich allein schadet. Arouet, der Vater des Voltaire, sagte zu jemandem, der ihm zu seinen vorteilhaft bekannten Söhnen gratulierte: ,ich habe zwei Narren zu Söhnen,

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der eine ist ein Narr in Prosa, der andere in Versen' (der eine hatte sich in den Jansenism geworfen und wurde verfolgt, der andere mußte seine Spottgedichte mit der Bastille büßen)" (Anthr. XII 525 BA 139). Die neurotischen Verzerrungen scheinen Kant indes nur der Vollständigkeit halber zu interessieren; sein eigentliches Interesse, wie auch drei Viertel seines Textes, gilt dem Wahn.

d) Gemütskrankheiten - Psychosen Die Gemütskrankheiten (Psychosen) teilt Kant wiederum erst einmal in zwei wobei hier nicht diese erste Teilung, sondern die nächste, auf der nächstunteren Ebene, die entscheidende sein wird. Er unterscheidet die B l ö d s i n n i g k e i t („eine große Ohnmacht des Gedächtnisses, der Vernunft und [...] der sinnlichen Empfindung", welche „mehrenteils unheilbar" ist - ebd.) von dem g e s t ö r t e n G e m ü t bzw. der V e r k e h r t h e i t . Das gestörte Gemüt, die Verkehrtheit, welche sämtliche Formen des Wahns umfaßt, gliedert er ferner und diese Gliederung ist nun die wichtigste - in drei Unterabteilungen: die V e r r ü c k u n g , den W a h n w i t z und den W a h n s i n n . Kant geht bei dieser Teilung hier zunächst noch von einer Symmetrie zwischen den Vermögen des Denkens (Verstand, Vernunft und Urteilskraft) und deren Störungen aus, indem er veranschlagt, daß „die Gebrechen des gestörten Kopfes sich auf so viel verschiedene Hauptgattungen bringen [lassen], als Gemütsfähigkeiten sind, die dadurch angegriffen werden" (KdK II 892 A 22), so daß jedes Denkvermögen seine spezifischen Störungen aufweisen kann. Dementsprechend wäre die V e r r ü c k u n g eine „Verkehrtheit der Erfahrungsbegriffe", der W a h n s i n n eine „in Unordnung gebrachte Urteilskraft zunächst bei dieser Erfahrung" und der W a h n w i t z eine „in Ansehung allgemeinerer Urteile verkehrt gewordene Vernunft" (KdK II 892f A 22). Der Verrückte nimmt also nur falsch wahr, ohne daß dabei seine Urteilskraft und seine Vernunft beeinträchtigt wären; so kann er auch „aus falschen Vorstellungen [durchaus - C. R.] richtig schließen", wohingegen umgekehrt der Wahnsinnige, dessen Urteilskraft allerdings angegriffen ist, „aus richtigen Vorstellungen auf eine verkehrte Art schließt" (KdK II 899 A 29). Der Wahnwitzige indes, der auch graduell der Gestörteste von allen dreien ist, „verirret sich" durch seine „in Unordnung gebrachte Vernunft" „in eingebildeten feineren Urteilen über allgemeine Begriffe auf eine ungereimte Art" (KdK II 898 A 28). Vergleicht man diese Einteilung mit heutigen Klassifikationen, so läßt sich sagen, daß Kant unter die Verrückten die Depressiven (nämlich die Hypochonder, die Melancholiker und die unglücklich Verliebten) und die Manischen (die Enthusiasten und Fanatiker) zusammenfaßt, daß er mit den Wahnsinnigen vorwiegend die Paranoiden und mit den Wahnwitzigen die hebephren Schizophrenen meint.

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Da wir uns nun - mit Kant - in erster Linie für die Verrückten interessieren, sei auf die Krankheitsbeschreibung der letzten beiden nur kurz eingegangen. Von dem W a h n w i t z i g e n (d. h. dem Hebephrenen, dessen Vernunft in Ansehung allgemeiner Urteile verrückt ist) sagt Kant, daß „in dem höheren Grade dieser Störung durch das verbrannte Gehirn allerlei angemaßte überfeine Einsichten [schwärmen]: die erfundene Länge des Meeres, die Auslegung von Prophezeiungen, oder wer weiß was vor ein Mischmasch von unkluger Kopfbrecherei. Wenn der Unglückliche hiebei zugleich die Erfahrungsurteile vorbei geht, so heißet er a b e r w i t z i g " (KdK II 898 A 28). In der Anthropologie heißt es ferner von letzterem, dieser Seelenkranke überfliegt „die ganze Erfahrungsleiter und hascht nach Prinzipien, die des Probiersteins der Erfahrung ganz überhoben sein können, und wähnt das Unbegreifliche zu begreifen. - Die Erfindung der Quadratur des Zirkels, das Perpetuum mobile, die Enthüllung der übersinnlichen Kräfte der Natur, und die Begreifung des Geheimnisses der Dreieinigkeit sind in seiner Gewalt" (Anthr. XII 531 BA 146). Der Aberwitzige stellt im übrigen „nicht bloß Unordnung und Abweichung von der Regel des Gebrauchs der Vernunft, sondern auch p o s i t i v e U n v e r n u n f t , d. i. e i n e a n d e r e R e g e l " dar (ebd.). - Wir bemerken daher, daß schon beim Wahnwitzigen die Symmetrie zwischen Vernunft und Unvernunft durchbrochen wird; die Unvernunft des Wahnwitzigen mehr und etwas anderes als nur eine Störung seiner Vernunftqualitäten darstellt. „Der W a h n s i n n i g e [d. h. der Paranoide, der aus richtigen Wahrnehmungen falsch urteilt - C. R.] siehet oder erinnert sich der Gegenstände so richtig wie jeder Gesunde, nur er deutet gemeiniglich das Betragen anderer Menschen durch einen ungereimten Wahn auf sich aus und glaubet daraus wer weiß was vor bedenkliche Absichten lesen zu können, die jenen niemals in den Sinn kommen. Wenn man ihn hört, so sollte man glauben, die ganze Stadt beschäftige sich mit ihm. Die Marktleute, welche mit einander handeln und ihn etwas ansehen, schmieden Anschläge wider ihn, der Nachtwächter ruft ihm zum Possen, und kurz er siehet nichts als eine allgemeine Verschwörung wider sich" (KdK II 897 A 26). Ferner führt Kant in der Anthropologie (530 BA 145) weiter aus: Die Wahnsinnigen (d. h. die Paranoiker) „sind in ihrem unglücklichen Wahn oft so scharfsinnig in Auslegung dessen, was andere unbefangen tun, um es als auf sich angelegt auszudeuten, daß, wenn die Data nur wahr wären, man ihrem Verstände alle Ehre müßte widerfahren lassen. - Ich habe nie gesehen, daß jemand von dieser Krankheit je geheilt worden ist (denn es ist eine besondere Anlage, mit Vernunft zu rasen)". Unser - weil auch Kants - eigentliches Augenmerk gilt nun jedoch den V e r r ü c k t e n . Diese, welche Kant generell auch die „P h a η t a s t e η (Grillenfanger)" nennt, die bei ihren „Einbildungen die Vergleichung mit den Gesetzen der Erfahrung habituell unterlassen (wachend träumen)" (Anthr. XII 513 BA 124), d. h. falsch wahrnehmen bzw. halluzinieren, weisen im Vergleich zu den Wahnsinnigen und Wahnwitzigen gewiß noch den niedrigeren Grad von

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Störungen auf und wären somit für den Arzt sicherlich noch das geringere Problem. Für den Philosophen Kant indes werden die V e r r ü c k t e n ( P h a n t a s t e n ) - und zwar unerwarteterweise, ohne daß dieses hier mit dem Versuch von vornherein geplant und intendiert gewesen wäre - zu einem Problem, dessen Ausmaße und Konsequenzen sich kaum ermessen lassen. Wollte man in einem Gleichnis reden, so ließe sich sagen, daß Kant hier bei seinen Ausgrabungen in den Kellern der Unvernunft zufällig auf eine Gasleitung gestoßen ist, deren Explosion sein gesamtes damaliges Vernunftgebäude (die in diesem Versuch vorgenommene Nosologie, die Onomastik und die Ontophänomenologie sowie das gesamte rationalistische Gebäude) definitiv zu Fall bringt. Bevor wir uns jedoch diesem Zusammenbruch des Rationalismus, der sich bei der Behandlung der manischen Phantasten vollzieht, widmen, wenden wir uns erst einmal, der Vollständigkeit halber, der depressiven Seite der Phantasterei zu. In der Anthropologie, in welcher Kant anders klassifiziert als in dem Versuch, nimmt Kant in der Tat eine Teilung zwischen Manischen und Depressiven vor. „Die oberste Teilung ist [...] die in G r i l l e n k r a n k h e i t (Hypochondrie) und das g e s t ö r t e G e m ü t h (Manie)." (Anthr. XII 526 BA 140) Auf die depressive Seite der Verrückten stellt Kant den Hypochonder, den Melancholicus und den Murrkopf, (sowie zusätzlich in der Anthropologie.) den Selbstmörder und den phantastisch Liebenden. „Der Hypochondrist ist ein Grillenfänger (Phantast) von der kümmerlichsten Art: eigensinnig, sich seine Einbildungen nicht ausreden zu lassen, und dem Arzt immer zu Halse gehend, der mit ihm seine liebe Not hat, ihn auch nicht anders als ein Kind (mit Pillen aus Brotkrumen statt Arzneimitteln) beruhigen kann; und wenn dieser Patient, der vor immerwährendem Kränkeln nie krank werden kann, medizinische Bücher zu Rate zieht, so wird er vollends unerträglich; weil er alle die Übel in seinem Körper zu fühlen glaubt, die er im Buche liest" (Anthr. XII 527 BA 141). [Vgl. 5. Exkurs] „Die innere Phantasterei desselben [Menschen] anlangend, so bekommen die Bilder in seinem Gehirne öfters eine Stärke und Dauer, die ihm beschwerlich ist. Wenn ihm eine lächerliche Figur im Kopf ist (ob er sie gleich selbst nur vor ein Bild der Phantasie erkennt), wenn diese Grille ihm ein ungeziemendes Lachen in anderer Gegenwart ablockt, ohne daß er die Ursache davon anzeigt, oder wenn allerhand finstere Vorstellungen in ihm einen gewaltsamen Trieb rege machen, irgend etwas Böses zu stiften, vor dessen Ausbruch er selbst ängstlich besorgt ist, und der gleichwohl niemals zur Tat kömmt: alsdann hat sein Zustand viel Ähnlichkeit mit dem eines Verrückten, allein es hat keine Not" (KdK II 895 A 25). Es ist also auch hier, beim Hypochonder, alles eine Sache des Grades der Störung; ebenso wie beim Melancholicus und beim Liebenden, die sich im Versuch sowohl bei den Verrückten als auch bei den Wahnsinnigen wiederfinden. „Der M e l a n c h o l i c u s [ist] ein Phantast in Ansehung der Übel des Lebens" (KdK II 896 A 25). „Die T i e f s i n n i g k e i t (melancholia) kann auch ein bloßer Wahn vom Elend sein, den sich der T r ü b s i n n i g e (zum Grämen geneigte) Selbstquäler schafft. Sie

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ist selber zwar noch nicht Gemütsstörung, kann aber wohl dahin führen" (Anthr. XII 528 BA 143). - „Der bejahrte M u r r k o p f , welcher fest glaubt, daß in seiner Jugend die Welt viel ordentlicher und die Menschen besser gewesen wären, ist ein Phantast in Ansehung der Erinnerung" (KdK II 897 A 26). - „Der Selbstmord ist oft bloß die Wirkung von einem R a p t u s [einem plötzlichen Wechsel der Launen - C. R.]. Denn der, welcher sich in der Heftigkeit des Affekts die Gurgel abschneidet, läßt sich bald darauf geduldig sie wieder zunähen" (Anthr. XII 528 BA 143). Wenn Kant immer wieder die Liebe mit dem Wahn in Verbindung bringt „Die Liebe hat überaus viel phantastische Entzückungen" (KdK II 896 A 26), „und die verliebte Leidenschaft schmeichelt oder quälet sich mit manchen wunderlichen Deutungen, die dem Wahnsinn ähnlich sind" (KdK II 897f A 28); von „Italienern und Spaniern (auch Indiern und Chinesen)" wissen will, daß sie „in ihrer Liebe bis zum Wahnsinn beharrlich sind" (Anthr. XII 581 BA 205); meint, daß die „Leidenschaft als ein Wahnsinn" anzusehen sei, wenn der „der sich [...] verliebt, gegen die Fehler des geliebten Gegenstandes unvermeidlich blind [wird]" (Anthr. XII 582 BA 206), daß ferner von einer „mittelbaren Beherrschungskunst [...] des weiblichen Geschlechts durch Liebe" (Anthr. XII 610 BA 238) auszugehen sei, wobei es sich bei der Herrschsucht um eine „Neigung des Wahns" handelt (Anthr. XII 605 BA 233) - so mag dies, zumal in der Zeit um 1764, durchaus auch autobiographische Gründe (vielleicht den verbrieften Verkehr mit Fräulein Charlotte von Knobloch über den Gegenstand von Swedenborgs Wahn) haben, hat jedoch durchaus auch noch einen systematischen Grund; jenen nämlich, der der Wahrheit, dem Wahn und der Liebe gemeinsam ist; jenen, an dem der Kantische Rationalismus von außen zerbricht; nämlich: d i e P r o j e k t i o n . Zum Liebeswahn noch soviel: „Dem Verliebten, der (nach H e i v e t i u s ) seine Geliebte in den Armen eines anderen sah, konnte diese, die es ihm schlechthin ableugnete, sagen: ,Treuloser, du liebst mich nicht mehr, du glaubst mehr was du siehst, als was ich dir sage' " (Anthr. XII 441 BA 41). Im übrigen verläuft die Kausalität zwischen Liebe und Wahn nicht immer nur in eine Richtung, wie man denn nicht nur aus Liebe wahnsinnig werden, sondern auch aus einem Wahn heraus sich verlieben kann. „,Er ist aus Liebe toll geworden' sagt man von dem einen [...].- Die Verliebung in eine Person von Stande, der die Ehe zuzumuten die größte Narrheit ist, war nicht die Ursache, sondern die Wirkung der Tollheit [...]" (Anthr. XII 533 BA 149). So kann man sich freilich auch v e r r ü c k t m a c h e n . So könnte aus einem „gekünstelten Wahnsinn leicht ein wahrer werden", weswegen es gefahrlich ist, „sich selbst durch physische Mittel in einen Zustand, welcher der Verrückung nahe kommt" zu versetzen. - „So will H e l m o n t , nach Einnehmung einer gewissen Dosis Napell (einer Giftwurzel), eine Empfindung wahrgenommen haben, als ob er im M a g e n d ä c h t e . Ein anderer Arzt vergrößerte nach und nach die Dosis Kampfer, bis es ihm vorkam, als ob alles auf der Straße in großem Tumult wäre. Mehrere haben mit dem Opium so lange an

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sich experimentiert, bis sie in Gemütsschwäche fielen, wenn sie nachließen, dieses Hülfsmittel der Gedankenbelebung ferner zu gebrauchen" (Anthr. XII 532 BA 148). [Vgl. 6. Exkurs]

e) Das äußere Zerbrechen des Rationalismus am Wahn Nähern wir uns dem eigentlichen Problem des Versuchs über die Krankheiten des Kopfes-, jenem Problem, an dem der Kantische Rationalismus von außen zerbricht. Kant schreibt: „Man findet auch: daß Personen, die in andern Fällen genug reife Vernunft zeigen, gleichwohl fest darauf beharren, mit aller Aufmerksamkeit wer weiß was vor Gespenstergestalten [wie Swedenborg - C. R.] und Fratzengesichter gesehen zu haben, und daß sie wohl gar fein genug sind, ihre eingebildete Erfahrung mit manchem subtilen Vernunfturteil in Zusammenhang zu bringen. Diese Eigenschaft des Gestörten, nach welcher er ohne einen besonders merklichen Grad einer heftigen Krankheit im wachenden Zustande gewohnt ist, gewisse Dinge als klar empfunden sich vorzustellen, von denen gleichwohl nichts gegenwärtig ist, heißt die V e r r ü c k u n g . Der Verrückte ist also ein Träumer im Wachen. Ist das gewöhnliche Blendwerk seiner Sinne nur zum Teil eine Chimäre, größten Teils aber eine wirkliche Erfahrung, so ist der, so im höheren Grade zu solcher Verkehrtheit aufgelegt ist, ein Ρ h a η t a s t '" (KdK II 894 A 23). So weit, so gut: eine rationalistische Definition nebst ontophänomenologischer Beschreibung des Definierten. Zwei Seiten weiter (KdK II 896 A 25f) indes heißt es: „Wer durch eine moralische Empfindung als durch einen Grundsatz mehr erhitzt wird, als es andere nach ihrem matten und öfters unedlen Gefühl sich vorstellen können, ist in ihrer Vorstellung ein Phantast. Ich stelle den A r i s ti d e s unter Wucherer, den E p i k t e t unter Hofleute und den J o h a n n J a c o b R o u s s e a u unter die Doktoren der Sorbonne. Mich deucht, ich höre ein lautes Hohngelächter, und hundert Stimmen rufen: W e l c h e P h a n t a s t e n ! Dieser zweideutige Anschein von Phantasterei, in an sich guten moralischen Empfindungen, ist der E n t h u s i a s m u s , und es ist niemals ohne denselben in der Welt etwas Großes ausgerichtet worden. Ganz anders ist es mit dem F a n a t i k e r ( V i s i o n ä r , S c h w ä r m e r ) bewandt. Dieser ist eigentlich ein Verrückter von einer vermeinten unmittelbaren Eingebung, und einer großen Vertrautheit mit den Mächten des Himmels. [Gemeint ist, neben den Mystikern im allgemeinen, hier offenbar wiederum Swedenborg - C. R.] Die menschliche Natur kennet kein gefährlicheres Blendwerk. Wenn der Ausbruch davon neu ist, wenn der betrogene Mensch Talente hat und der große Haufe vorbereitet ist, dieses Gärungsmittel innigst aufzunehmen, alsdenn erduldet bisweilen so gar der Staat Verzückungen. Die Schwärmerei führet den Begeisterten auf das Äußerste, den M o h a m e t auf den Fürstenthron, und den J o h a n n v o n L e y d e n aufs Blutgerüst" (KdK II 896 A26).

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Dieser z w e i d e u t i g e A n s c h e i n v o n P h a n t a s t e r e i ist also Ausdruck einer Ambivalenz - genauer: einer nicht mehr hintergehbaren, zumindest mit dem rationalistischen Denken, sowohl onomastisch vom Begriff ausgehend als auch ontophänomenologisch von der Beschreibung der Sache her, nicht mehr auflösbaren Ambivalenz. Sicher ist - zumindest für Kant - , daß es sich bei den enthusiastischen Phantasten, allen voran bei Rousseau, der hier nicht nur als episodische Figur, sondern als Figuration fur die Ambivalenz des Fortschritts metonymisch, als Teil für das Ganze, steht, um moralisch gute Erscheinungen handelt: D i e e n t h u s i a s t i s c h e n P h a n t a s t e n v e r k ö r p e r n W a h r h e i t . Ebenso sicher ist, daß es sich bei den fanatischen, visionären, schwärmenden Phantasten, allen voran Swedenborg, den Kant hier zweifelsohne meint, ohne ihn indes im Versuch zu benennen, um moralisch verwerfliche Erscheinungen handelt, gewiß: D i e v i s i o n ä r e n , s c h w ä r menden Phantasten unterliegen einem Wahn. Worin liegt nun jedoch das Kriterium, welches die Enthusiasten von den Schwärmern, die Wahrheit vom Wahn, den Zustand des nüchternen Wachens vom Träumen im Wachen unterscheidet? Vom rationalistischen Denken her, mit den analytischen Deduktionen, die von Begriffsdefinition zu Begriffsdefinition hinabschreiten, läßt sich hierfür kein Unterscheidungskriterium mehr finden. Die quantitative, die größtmögliche Zahl oder gar „der große Haufen" der Massen vermag darüber, was Wahrheit und was Wahn ist, mit Sicherheit nicht zu entscheiden - insofern der Wahn auch ansteckend sein und so von einem Subjekt auf das andere übergehen kann; insofern nicht nur ganze philosophische Schulen (die mit „hundert Stimmen rufen") und ganze Religionen (wie die „Mohamets"), sondern sogar ganze Staaten einem , Hypertrophierungswahn' (vgl. H. Broch 1938-48) verfallen sein können, kann das Kriterium der Unterscheidung zwischen Wahrheit und Wahn die größtmögliche Zahl nicht sein. [Vgl. 7. Exkurs] Zwar schreibt Kant in den Träumen: „ A r i s t o t e l e s sagt irgendwo: W e n n wir w a c h e n , so h a b e n wir e i n e g e m e i n s c h a f t l i c h e W e l t , t r ä u m e n w i r a b e r , so h a t e i n j e d e r s e i n e e i g n e . Mich dünkt, man sollte wohl den letzteren Satz umkehren und sagen können: wenn von verschiedenen Menschen ein jeglicher seine eigne Welt hat, so ist zu vermuten, daß sie träumen" (T II 952 A 58), [vgl. 8. Exkurs]; sowie ferner in der Anthropologie: „Das einzige allgemeine Merkmal der Verrücktheit ist der Verlust des G e m e i n s i n n e s (sensus communis), und der dagegen eintretende l o g i s c h e E i g e n s i n n (sensus privatus), z. B. ein Mensch sieht am hellen Tage auf seinem Tisch ein brennendes Licht, was doch ein anderer Dabeistehende nicht sieht, oder hört eine Stimme, die kein anderer hört" - doch handelt es sich bei diesem quantitativen Votum n i c h t um ein o b j e k t i v e s K r i t e r i u m der Unterscheidung zwischen Wahrheit und Wahn, sondern nur um einen ,,subjektivnotwendige[n] Probierstein der Richtigkeit unserer Urteile überhaupt und also auch der Gesundheit unseres Verstandes: daß wir diesen

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auch an den V e r s t a n d a n d e r e r halten, nicht aber uns mit dem unsrigen i s o l i e r e n , und mit unserer Privatvorstellung doch gleichsam ö f f e n t l i c h urteilen" (Anthr. XII 535 BA 151). - Quantitativ läßt sich somit kein objektives Kriterium der Unterscheidung zwischen Wahrheit und Wahn benennen zumindest rationalistisch nicht. Doch auch qualitativ läßt sich rationalistisch, analytisch von der Begriffsdefinition ausgehend, dieser zweideutige Anschein von Phantasterei nicht mehr auflösen: Ein Philosoph kann ebenso wahnsinnig sein, wie ein Verrückter die Wahrheit sagen kann, weil - wie Kant später kritisch äußern wird - substantiell überhaupt kein Unterschied zwischen Wahrheit und Wahn, Wahrgenommenem und Geträumtem anzutreffen ist! So wird Kant knapp drei Jahrzehnte später, um hiermit die k r i t i s c h e Sichtweise schon etwas vorwegzunehmen, in den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783) schreiben: „Der Unterschied aber zwischen Wahrheit und Traum [oder zwischen Wahrheit und Wahn - C. R.] wird nicht durch die Beschaffenheit der Vorstellungen, die auf Gegenstände bezogen werden, ausgemacht, denn die sind in beiden einerlei [sic! - C. R.], sondern durch die Verknüpfung derselben nach den Regeln, welche den Zusammenhang der Vorstellungen in dem Begriffe eines Objekts bestimmen, und wiefern sie in einer Erfahrung beisammen stehen können oder nicht" (Prol. V 154 A 66f). Daß die Differenz zwischen Wahrheit und Wahn, Wachen und Träumen nicht durch die Beziehung einer Vorstellung zu ihrem Gegenstand, sondern durch die innere Kohärenz der Vorstellungen untereinander, demzufolge nicht durch eine empirische Erfahrung (d. h. subjektiv), sondern durch die apriorische B e d i n g u n g d e r M ö g l i c h k e i t v o n E r f a h r u n g (d. h. objektiv) bestimmt wird, macht Kant auch noch mit folgendem Satz anschaulich: „Würde es nicht beim Erwachen viele Lücken (aus Unaufmerksamkeit übergangene verknüpfende Zwischenvorstellungen) in unserer Erinnerung geben; würden wir die folgende Nacht da wieder zu träumen anfangen, wo wir es in der vorigen gelassen haben: so weiß ich nicht, ob wir nicht uns in zwei verschiedenen Welten zu leben wähnen würden" (Anthr. XII477 BA 82). Der Grund dafür, daß Wahrheit und Wahn, Wachen und Träumen sich von ihrer Substanz her nicht voneinander unterscheiden lassen, liegt für Kant schon 1764 in dem Versuch über die Krankheiten des Kopfes in einer Tatsache, die zwar auf den ersten Blick recht simpel erscheint, die sein weiteres Denken jedoch noch Jahrzehnte beschäftigen wird - in der Tatsache nämlich, daß auch der Enthusiast, wenn er denn einen Gegenstand erkennen will, gar nicht anders kann, als sich diesen Gegenstand vorzustellen. Eine V o r s t e l l u n g jedoch ist notgedrungen ein Produkt der Einbildungskraft, d.h. ein Produkt der Imagination. Imaginierte Vorstellungen haben sie also beide, der Enthusiast nicht weniger als der Schwärmer (Visionär); alleine, daß der erste etwa ein tatsächlich fliegendes Flugzeug (d. h. Erkenntnis) i m a g in i e r t , der zweite jedoch beispielsweise einen fliegenden Elefanten (d. h. einen Wahn) p h a n t a s i e r t bzw. halluziniert.

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So schreibt denn auch Kant in der Anthropologie: „Ehe der Künstler eine körperliche Gestalt (gleichsam handgreiflich) darstellen kann, muß er sie in der Einbildungskraft verfertigt haben, und diese Gestalt ist alsdann eine Dichtung, welche, wenn sie unwillkürlich ist (wie etwa im Traume), P h a n t a s i e heißt, und nicht dem Künstler angehört; wenn sie aber durch Willkür regiert wird, K o m p o s i t i o n , E r f i n d u n g genannt wird. Arbeitet ein Künstler nach Bildern, die den Werken der Natur ähnlich sind, so heißen seine Produkte n a t ü r l i c h e ; verfertigt er aber nach Bildern, die nicht in der Erfahrung vorkommen können (wie der Prinz Palagonia in Sizilien), so heißen sie abenteuerlich, unnatürlich, Fratzengestalten, und solche Einfälle sind gleichsam Traumbilder eines Wachenden (velut aegri somnia vanae finguntur species) [Wie Träume eines Kranken werden Wahngebilde erdichtet (Horaz), Übers. W. W.]. - Wir spielen oft und gerne mit der Einbildungskraft; aber die Einbildungskraft (als Phantasie) spielt eben so oft und bisweilen ungelegen auch mit uns" (Anthr. XII476 A 80 Β 81). Um den Zusammenhang zwischen erkennender Einbildungskraft und wahnhafter Phantasterei sowie deren Ambivalenz im zweideutigen Anschein der Phantasterei zu verdeutlichen, schreibt Kant bereits im Versuch über die Krankheiten des Kopfes: „Die Seele eines jeden Menschen ist, selbst in dem gesundesten Zustande geschäftig, allerlei Bilder von Dingen, die nicht gegenwärtig sein, zu malen [ p r o d u k t i v e E i n b i l d u n g s k r a f t , wenn wir ζ. B. etwas erfinden, das es vorher nicht gab - C. R.], oder auch an der Vorstellung gegenwärtiger Dinge einige unvollkommene Ähnlichkeit zu vollenden [ r e p r o d u k t i v e E i n b i l d u n g s k r a f t , wenn wir beispielsweise einen Bekannten auf der Straße wiedererkennen, obgleich wir nur einen Teil von ihm, ζ. B. nur seinen Gang in der Ferne wahrgenommen haben, wobei wir uns dann den Rest seiner Person vervollständigend dazu denken - C. R.], durch [den] einen oder andern chimärischen Zug, den die schöpferische Dichtungsfähigkeit mit in die Empfindung einzeichnet. Man hat gar nicht Ursache zu glauben: daß in dem Zustande des Wachens unser Geist hiebei andere Gesetze verfolge als im Schlafe [...]" (KdK II 893 A 22). Das gleiche Gesetz also, einerlei, ob wir im Schlafe etwas p h a n t a s i e r e n (träumen oder halluzinieren) oder ob wir im Wachen etwas richtig i m a g i n i e r e n (erkennen oder erfinden): In beiden Fällen projizieren wir eine Vorstellung auf einen Gegenstand - nur, daß in dem ersten Fall falsch, in dem zweiten jedoch richtig projiziert wird. Diesen V o r g a n g d e r P r o j e k t i o n , der aller Erkenntnis, der richtigen nicht weniger als der falschen, anhaftet, beschreibt Kant schon im Versuch sehr treffend mit jenem Schlüsselerlebnis, welches wir später als die Geschichte der Bettvorhänge bezeichnen werden: „Wenn wir nach dem Erwachen in einer lässigen und sanften Zerstreuung liegen, so zeichnet sich unsere Einbildung die unregelmäßige Figuren etwa der Bettvorhänge, oder gewisser Flecke einer nahen Wand zu Menschengestalten aus, mit einer scheinbaren Richtigkeit, welche uns auf eine nicht unangenehme Art unterhält, wovon wir aber das Blendwerk den Augen-

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blick wenn wir wollen zerstreuen. Wir träumen alsdann nur zum Teil und haben die Chimäre in unserer Gewalt. Geschieht etwas dem Ähnliches in einem höheren Grade, ohne daß die Aufmerksamkeit des Wachenden das Blendwerk in der täuschenden Einbildung abzusondern vermag, so läßt diese Verkehrtheit einen Phantasten vermuthen. Dieser Selbstbetrug der Empfindungen ist übrigens sehr gemein, und so lange er nur mittelmäßig ist, wird er mit einer solchen Benennung verschonet, ob zwar wenn eine Leidenschaft hinzukommt dieselbe Gemütsschwäche in würkliche Phantasterei ausarten kann" (KdK II 894f A 22f). Es ist somit auch hier wiederum nur eine fast unmerkliche Sache des Grades, ob wir es mit einer erkennenden Imagination oder mit einer halluzinierenden Phantasie zu tun haben. Um also den Verrückten (Phantasten), welcher falsch wahrnimmt und Blendwerken (d. h. Halluzinationen) unterliegt, von dem Erkennenden (Enthusiasten) unterscheiden zu können, entwickelt Kant schon in dem Versuch, wenn auch nur ansatzweise, eine T h e o r i e der P r o j e k t i o n ; eine Theorie, die er dann zwei Jahre später 1766 in den Träumen eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik mit seiner T h e o r i e d e s f o c u s i m a g i n a r i u s in vollem Umfang ausarbeiten wird; eine Theorie, die dann schließlich in der Kritik der reinen Vernunft (1781/87) zu der Theorie der produktiven Einbildungskraft fuhren wird; eine Theorie, welche bei der Unterscheidung zwischen dem nicht erkennbaren Noumenon (Ding an sich) und dem erkennbaren Phaenomenon (Ding als Erscheinung für uns) noch eine, wenn nicht überhaupt die entscheidende Rolle spielen wird. Entscheidend an dieser Stelle des Versuchs ist soweit nur, daß, insofern nicht nur der Wahn, sondern ebenso die Wahrheit prinzipiell projektiver Natur sind, eine Unterscheidung zwischen Wahrheit und Wahn von der Substanz der Sache her sich nicht mehr ausmachen läßt. Ausschlaggebend für eine Unterscheidung zwischen Wahrheit und Wahn ist hiernach für Kant nicht mehr, ob eine Vorstellung auf einen Gegenstand projiziert wird oder nicht, sondern in welcher Art und Weise und nach welchen Regeln sich diese Projektion vollzieht. Wahrheit und Wahn sind somit beide Projektionen, wenngleich auch bei der Wahrheit eine richtige Imagination vorliegt (d. h. tatsächlich etwas erkannt oder erfunden wird), wohingegen bei dem Wahn falsch phantasiert wird (d. h. die Vorstellung einem Blendwerk unterliegt). „Sonsten" - schließt Kant die oben angeführte Passage (KdK II 894f A 22f) mit einer sehr anschaulichen Beschreibung des Vorgangs der Projektion - „sonsten sehen durch eine gewöhnliche Verblendung die Menschen nicht was da ist, sondern was ihnen ihre Neigung vormalt, der Naturaliensammler im Florentinerstein Städte, der Andächtige im gefleckten Marmor die Passionsgeschichte, jene Dame durch ein Seherohr im Monde die Schatten zweier Verliebter, ihr Pfarrer aber zwei Kirchtürme. [Vgl. 9. Exkurs] Der Schrecken macht aus den Strahlen des Nordlichts Spieße und Schwerter und bei der Dämmerung aus einem Wegweiser ein Riesengespenst." Somit stellt sich auch hier nochmals, und zwar dieses Mal innerhalb des Vorgangs der Projektion selbst, die Frage nach dem „Wegweiser oder Kom-

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paß" (Do V 277 A 320), mit welchem sich die Vernunft im Denken orientieren kann, d. h. die Frage nach der Normativität zwischen dem (empirischen) Wahn und einer (apriorischen) Wahrheit. D e r z w e i d e u t i g e A n s c h e i n v o n P h a n t a s t e r e i , die rationalistisch nicht mehr auflösbare Ambivalenz zwischen Wahrheit und Wahn, imaginierenden Enthusiasten und phantasierenden Schwärmern (Visionären) findet sich im Versuch auch noch an einer anderen Stelle wieder - nämlich bei dem „großen Genie", mit welchem „öfters ein sehr schimmernder Anschein von Wahnwitz [...] zusammen bestehen kann" (KdK II 898 A 29), wobei Kant dann in der Anthropologie in Hinblick auf die Phantasie nochmals kritisch differenziert: „Die Originalität (nicht nachgeahmte Produktion) der Einbildungskraft, wenn sie zu Begriffen zusammenstimmt, heißt Genie; stimmt sie dazu nicht zusammen, Schwärmerei" (Anthr. XII 472 Β 76 A 74). [Vgl. 10. Exkurs]

f) Der Wahn und die Philosophie Die Tatsache allerdings, daß durch den zweideutigen Anschein der Phantasterei, durch die unhintergehbare Ambivalenz der produktiven Einbildungskraft, von der Sache selbst her sich keine Differenz zwischen Wahrheit und Wahn (oder Enthusiasten und Schwärmern) mehr bestimmen läßt, schlägt nun aber auf die Verfassung der Philosophie selbst zurück: namentlich auf den Leibniz-Wolffschen Rationalismus. Der Rationalismus, und dies betrifft just auch Kants Rationalismus im Versuch, arbeitete vornehmlich mit den analytischen Sätzen a priori, d. h. mit Begriffsdefinitionssätzen (im Stil: der Wahnsinn ist ...); Sätze, die er dann wiederum in Unter- und Unteruntersätze zergliederte, d. h. analysiert. Dieses analytische Verfahren scheitert jedoch im Versuch an dem zweideutigen Anschein der Phantasterei, der sich zwar (in Enthusiast / Wahrheit einerseits und Schwärmer / Wahn andererseits) noch zergliedern läßt, in dieser Zergliederung jedoch nicht mehr - nach der Deduktion durch Definition - begrifflich unterschieden werden kann. Mit anderen Worten: Der Rationalismus kann den Widerspruch, der beim Projizieren in der Ambivalenz der produktiven Einbildungskraft zum Vorschein kommt, nicht mehr erklären und wird daher, da im Rationalismus per definitionem kein Widerspruch auftreten darf, selber problematisch. Dieses Scheitern des Rationalismus am Vorgang der Projektion hat jedoch für Kant Konsequenzen in beiderlei Richtung. Insofern die Symmetrie zwischen Vernunft und Unvernunft (welche rationalistisch nur als eine Störung der Vernunftanlagen begriffen werden konnte) in sich selbst zerbricht, bedeutet dies nicht nur, daß die Philosophie ihr Verhältnis zum Wahn gänzlich neu zu überdenken hat, sondern auch, daß das philosophische Selbstverständnis so erschüttert worden ist, daß es von Grund auf neu überdacht werden muß. Denn: In dem Moment, da

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der rationalistische Glaube, demzufolge man von einem Denken a priori auf Erkenntnis schließen, die Erkenntnis folglich deduktiv dem Denken entnehmen könne, definitiv verloren ist; in dem Moment also, da die analytischen Sätze a priori des Rationalismus eine normative Gültigkeit für sich nicht mehr in Anspruch nehmen können, steht nunmehr eine entscheidende Instanz zur Disposition: d a s A p r i o r i d e r P h i l o s o p h i e , d. h. die Normativität von Vernunft überhaupt. Bemerkenswert an diesem Vorgang der Infragestellung ist, daß diese Normativität der Vernunft bei Kant gerade in der Auseinandersetzung mit dem Irrationalen, just bei der Entdeckung des projektiven Charakters von Erkenntnis überhaupt, völlig zerbricht und daher - in Kants weiterem Schaffen - auch völlig neu überdacht werden muß. Noch in dem Versuch über die Krankheiten des Kopfes ging Kant von einer Symmetrie zwischen dem gesunden Kopf (der Vernunft, der Philosophie) einerseits und dem kranken Kopf (als einer Störung der Vernunftanlagen durch die Verkehrtheit) andererseits aus. Dabei wird der kranke, gestörte Kopf vom gesunden aus definiert. Diese Symmetrie wird jedoch aus dem oben genannten Grund der Ambivalenz der Phantasie derart zerstört, daß Kant schon zwei Jahre später 1766 den K r a n k h e i t s b e g r i f f völlig aufgeben muß und nunmehr in den Träumen eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, wie bereits aus dem Titel hervorgeht, nur noch von T r ä u m e n sprechen wird - und zwar auf beiden Seiten. Die Philosophie (genauer gesagt: die Leibniz-Wolffsche Metaphysik des Rationalismus) wird somit von Kant als nicht weniger geträumt angesehen als die Schwärmerei (genauer gesagt: der von Swedenborg behauptete Empirismus). Damit stehen sich Philosophie und Schwärmerei, Enthusiasten und Phantasten, Wahrheit und Wahn, Rationalität und Irrationalität nicht mehr als Antipoden gegenüber, sondern der letztere Part ist jeweils selbst zu einem Bestandteil des ersteren geworden, was wiederum nichts anderes als die doch skandalöse Vermutung nach sich zieht, die Philosophie - und zwar gerade auch die Schulphilosophie des Rationalismus - könnte selbst einem Wahn verfallen sein. Ist jedoch der Wahn ein möglicher Bestandteil der Philosophie, kann der Wahn nicht mehr mit Sicherheit als außerhalb der Philosophie lokalisiert und damit von der letzteren abgetrennt werden, so vermag auch die Philosophie den Wahn nicht mehr zu begreifen. Von wo aus sollte denn auch gesagt werden können, worin das Irrationale besteht, solange nicht mit apodiktischer Gewißheit gesagt werden kann, was überhaupt R a t i o n a l i t ä t bedeutet? Kant verschiebt daher peu à peu - schon mit den Träumen eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik - den Gegenstand seines Interesses: Ausgehend von der Kritik des Irrationalen gelangt er schließlich zu einer Kritik des Rationalen, d. h. zu einer Kritik der Vernunft selbst. Wie man weiß, betrifft diese V e r n u n f t k r i t i k , nicht zuletzt mit der Kritik der reinen Vernunft (A 1781 Β 1787), die Methoden der philosophischen Vorgehensweisen selbst: sowohl der analytischen Sätze a priori, der Vernunft-

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schlüsse des Rationalismus (die bei Kant mit den Krankheiten des Kopfes 1764 ihren normativen Wahrheitsanspruch einbüßen und in der Folge als Erläuterungsurteile nur noch zur Begriffsklärung dienen werden) [vgl. 11. Exkurs], als auch der synthetischen Sätze a posteriori, der Erfahrungsgründe des Empirismus (welche bei Kant mit den Träumen eines Geistersehers 1766 verworfen werden), um mit den synthetischen Sätzen a priori der Kritik das Verhältnis der ersten beiden zueinander gänzlich neu zu bestimmen. Doch bis dahin ist noch ein weiter Weg. Mit dem Zusammenbruch des Rationalismus zerbricht in dessen Folge auch das rationalistische Verfahren zumindest dort, wo mit Definitionssätzen, Definitionsableitungen und analytischen Zergliederungen einerseits sowie mit ontologischen, onomatologischen und onomastischen Beschreibungen andererseits ein Anspruch auf Wahrheit behauptet wird. Im strikten Unterschied zum Versuch nimmt Kant später in der Anthropologie von einer Klassifikation der psychischen Störungen, von der Nosologie, deutlich Abstand: „Es ist schwer, eine systematische Einteilung in das zu bringen, was wesentliche und unheilbare Unordnung ist. Es hat auch wenig Nutzen, sich damit zu befassen [...]" (Anthr. XII 529 BA 144). - An die Stelle von Begriffsdefinitionen, Wesensbeschreibungen und Klassifikationen treten daher schon in den Träumen eines Geistersehers ausgearbeitete Theorien. Somit ist die rationalistische Schaffensepoche Kants, die sowohl in seiner Schrift der Beobachtungen über das Gefiihl des Schönen und Erhabenen als auch im Versuch über die Krankheiten des Kopfes (beide 1764) ihren Höhepunkt fand, mit der Beendigung des letzteren Textes abgeschlossen. Mit diesem Abschluß endet fur Kant allerdings auch das, was man als den LeibnizWolffschen, Crusiusschen-Baumgartenschen H a r m o n i e g l a u b e n d e s R a t i o n a l i s m u s bezeichnen könnte: Die hierauf folgenden Jahre und Jahrzehnte, d. h. die eigentliche Philosophie Kants, sind nicht nur von einer großen Skepsis - sowie freilich, als Steigerung derselben, auch von einer Skepsis gegen die Skepsis - , sondern auch von einer gespenstischen Unheimlichkeit geprägt (vgl. Freud 1919). Um an dieser Stelle etwaige Mißverständnisse gar nicht erst aufkommen zu lassen, sei abschließend noch darauf hingewiesen, daß Kant, der mit den folgenden Sätzen seinen Versuch über die Krankheiten des Kopfes beendet, seine Philosophie nicht als ein kathartisches Unternehmen gegen den Wahn verstanden wissen wollte; so etwa wie „nach den Beobachtungen des S w i f t s ein schlecht Gedicht bloß eine Reinigung des Gehirns ist, durch welches viele schädliche Feuchtigkeiten, zur Erleichterung des kranken Poeten, abgezogen werden, warum sollte [da - C. R.] eine elende grüblerische [philosophische C. R.] Schrift nicht auch dergleichen sein? In diesem Falle aber wäre es ratsam, der Natur einen andern Weg der Reinigung anzuweisen, damit das Übel gründlich und in aller Stille abgeführt werde, ohne das gemeine Wesen dadurch zu beunruhigen" (KdK II 901 A 30).

11. Die ,Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik' - 1766

Der galante Magister Kant, wie er in jenen Jahren allgemein genannt wurde, ist 1766 zweiundvierzig Jahre alt, und seine Träume eines Geistersehers erscheinen anonym im Frühjahr gleichen Jahres bei zwei Verlagen gleichzeitig: zum einen bei seinem Freund und Hausnachbarn, Buchhändler und Verleger Johann Jacob Kanter in Königsberg, zum anderen in zwei verschiedenen Drucken bei Johann Friedrich Hartknoch in Riga und Mitau. (Zur Textgeschichte vgl. P. Menzer in A.A. II 500f sowie R. Malter in R. M. 87ff). Die Schrift, die von Johann Gottfried Herder in den Königsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitungen auf das Jahr 1766 (Stück 18, 3. März 1766), von Johann Georg Heinrich Feder in den Erlangschefn] gelehrtefnj Anmerkungen und Nachrichten auf das Jahr 1766 (Jahrg. 21, Stück 39, S. 308 f, Di. 26. Sept. 1766) sowie von Moses Mendelssohn in der Allgemeine[n] deutschefnj Bibliothek (Bd. 4, Stück 2, Berlin und Stettin 1767) rezensiert wurde, erfährt sofort einen immensen Erfolg und macht Kant praktisch über Nacht weit über die Grenzen des Fachpublikums hinaus berühmt. (Alle drei Rezensionen in: R. M. 118ff)

Vorbemerkung In Traum- und Zaubersphäre sind wir, scheint es, eingegangen Goethes Faust in der Walpurgisnacht

Einleitend sei daraufhingewiesen, daß es sich bei den Träumen eines Geistersehers um eine kleine Schrift von außerordentlichem literarischem Wert, man könnte auch sagen: um ein Meisterwerk der deutschen Sprache handelt. Möglich, daß der Magister Kant, der ja gerade zwei Jahre zuvor eine Professur für Poesis und Beredsamkeit an der Königsberger Universität ausgeschlagen hatte, - gleichsam um nun für einen neuen Ruf zu werben - seine rhetorische und literarische Eloquenz hiermit nochmals unter Beweis stellen wollte, konnte er doch davon ausgehen, mit einem Thema wie diesem die Aufmerksamkeit des Königs von Preußen auf sich zu ziehen. [Vgl. 12. Exkurs]

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Von dieser bestechenden Eloquenz zeugen bereits die ersten Sätze des Vorberichts: „Das Schattenreich [heißt es da gleich eingangs, als handle es sich hierbei um eine Parodie auf die Tatsache, daß in philosophischen Schriften oftmals gleich im ersten Satz die zentrale These eines Werkes aufgestellt wird C. R.] ... das Schattenreich ist das Paradies der Phantasten. Hier finden sie ein unbegrenztes Land, wo sie sich nach Belieben anbauen können. Hypochondrische Dünste, Ammenmärchen und Klosterwunder lassen es ihnen an Bauzeug nicht ermangeln. Die Philosophen zeichnen den Grundriß [für die Geisterseherei - C. R.] und ändern ihn wiederum, oder verwerfen ihn, wie ihre Gewohnheit ist. Nur das heilige Rom hat daselbst einträgliche Provinzen; die zwei Kronen der unsichtbaren Welt stützen die dritte, [...], und die Schlüssel, welche die beiden Pforten der andern Welt auftun, öffnen zugleich sympathetisch die Kasten der gegenwärtigen" (Τ II 923 A 3). Eine beinahe schon feuerbachisch anmutende Religionskritik, die gleich zu Beginn jenen sarkastischen Ton anschlägt, der bei so vielen Interpreten, ganz gleich welcher Couleur, doch einiges Befremden hervorgerufen hat. Dabei verwendet Kant hier ausnahmsweise einen Sprachduktus, den Hamann in der ihm eigenen Ironie - als , C a n t - s t y l e ' bezeichnet hatte [vgl. 13. Exkurs]; einen schlagfertigen Sprachwitz, der sich nicht selten unterhalb der Gürtellinie des guten Tons bewegt; einen Spott, mit dem Kant gleichsam onomatopoetisch auch den Unterleib der Schwärmerei - gewissermaßen die signifikanten Eingeweide des Irrationalen selbst - treffen möchte. So heißt es etwa zum Ende des dritten Hauptstückes des ersten Teils der Schrift (Τ II 959f A 72), es wäre auch „bei dieser Lage der Sachen eben nicht nötig gewesen, so weit auszuholen und in dem fieberhaften Gehirne betrogener Schwärmer durch Hülfe der Metaphysik Geheimnisse aufzusuchen. Der scharfsinnige H u b i b r a s hätte uns das Rätsel [auch so - C. R.] auflösen können, denn nach seiner Meinung: w e n n ein h y p o c h o n d r i s c h e r W i n d in den E i n g e w e i d e n t o b e t , so k o m m t es d a r a u f a n , w e l c h e R i c h t u n g er n i m m t , g e h t er a b w ä r t s , so w i r d d a r a u s ein F - , s t e i g t er a b e r a u f w ä r t s , so ist es e i n e E r s c h e i n u n g o d e r e i n e h e i l i g e E i n g e bung". Da nun die Träume von Scherzen wie diesem und ähnlichen nur so wimmeln, ist - wie ansonsten kaum bei philosophischen Texten - erstaunlich viel über den Ton, den Stil bzw. über die literarische Gattungszugehörigkeit der kleinen Schrift debattiert worden: Handelt es sich hier etwa um ein populistisches Witzbüchlein, welches sich über „das methodische Geschwätz der hohen [philosophischen] Schulen" (Τ II 925 A 7) belustigen möchte? Ist dies nun Philosophie oder Literatur? Oder sollte man den Text jener literarisch-philosophischen Mischgattung zuordnen, welche zwar im wissenschaftspuristischen Deutschland als ,antiphilosophisch' zumeist verachtet wurde, die jedoch von Kant selbst sowohl für seine Negativen Größen (1763) als auch für seine Krankheiten (1764) bereits in Anspruch genommen wurde - also um einen E s s a y , einen V e r s u c h ? Oder zielt Kant hier auf eine Polemik, ein Pamphlet

11. DIE TRÄUME EINES GEISTERSEHERS

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oder - wie andere meinen - sogar auf eine Karikatur von Swedenborg ab? Was hat es auf sich mit dieser Belustigung über Feind und Freund? Unser Vorschlag: nichts von all dem Angeführten und doch alles zusammen. Kann doch der Ort, von dem aus die Philosophie den Wahn(-sinn) besprechen möchte, zumindest nach Kants Krankheiten, nur als ein selbst-verrückter verstanden werden, haben doch „Torheit und Verstand so unkenntlich bezeichnete Grenzen, daß man schwerlich in dem einen Gebiet lange fortgeht, ohne bisweilen einen kleinen Schweif in das andre zu tun" (Τ II 969 A 89). So gesehen läßt sich Kants sarkastische Haltung auch als eine Art von Selbstschutz verstehen: Lieber gleich präventiv den Platz eines Hofnarren der p r i m a p h i l o s o p h i a einnehmen als sich im nachhinein vorhalten lassen zu müssen, zu jenen Philosophen zu zählen, die - angesichts irrationaler Erscheinungen „die einfältigste Figur gemacht [haben], die man sich vorstellen kann" (Τ II 923 A4). Somit sei bereits hier darauf hingewiesen, daß es sich bei den Träumen eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik um einen schwierigen Text handelt. Dabei eignen sich diese Träume durchaus für eine unterhaltsame Gute-Nacht-Lektüre, wobei allerdings dieser erste Eindruck trügt. Denn die anscheinende Leichtigkeit des Textes entpuppt sich, von Relektüre zu Relektüre zusehends mehr, gerade als dessen Schwierigkeit - befinden sich doch unterschwellige Bedeutungen nicht nur auf dem einen oder anderen Niveau des Textes, sondern allenthalben. Schwierigkeiten dürfte dem Leser zunächst einmal das Chaos bereiten, in dem der Text konzipiert oder verfaßt wurde. Denn zumindest dies fallt doch sogleich ins Auge: Während Kant noch in dem Versuch über die Krankheiten des Kopfes darauf bedacht war, der Unordnung der kranken Köpfe eine Ordnung der Philosophie zumindest diskursiv entgegenzuhalten, so sieht er in den Träumen eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik von einer derartig simulierten Repräsentationsordnung gänzlich ab, um nunmehr das Verworrene des Irrationalen durch eine Verwirrung der Philosophie, somit die Repräsentation eines Zerbrechens durch ein Zerbrechen der Repräsentation darzustellen. Der Leser sollte sich daher nicht wundern, in Kants Träumen nicht nur die Darstellung einer Unordnung, sondern diese auch noch in einer höchst unordentlichen Darstellung präsentiert zu bekommen; ein Chaos, welches zudem mit Zweideutigkeiten und Mehrdeutigkeiten, mit Ambiguitäten und Ambivalenzen - man möchte fast sagen: in der vollen Blüte des barocken Stils geschmückt ist. Zu erheblichen Mißverständnissen haben dabei die Überdeterminationen des so vielseitig gestrickten - und dementsprechend mehrdeutig lesbaren - Textes geführt. So unterscheidet Kant, inmitten so mancher „ H i r n g e s p i n s t e " (Τ II 956 A 66), seine „ e i g e n e p h i l o s o p h i s c h e H i r n g e b u r t " (wie er sie nennt - Τ II 972 A 96 ) nicht immer deutlich von Swedenborgs „ H i r n g e s p e n s t e r n " (wie er wiederum jene bezeichnet - u. a. Τ II 953 A 60), indem er teils Swedenborgs Gedanken als seine eigenen, teils seine eigenen

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Gedanken als die von Swedenborg, teils beide überlagert vorstellt. So beginnt beispielsweise gleich das erste Hauptstück des ersten, dogmatischen Teils der Schrift mit einer sehr mißverständlichen philosophischen „Theorie von Geistern" (Τ II 963 A 79), die den geneigten Leser durchaus zu der Annahme verleiten könnte, Kant würde hier - etwa frei nach Jung-Stilling (vgl. 1808), doch noch vor diesem - positive Gespensterwissenschaft betreiben - was teils aus Unkenntnis, zum Teil jedoch auch wider besseren Wissens von den Swedenborgianern immer wieder so mißverstanden wurde - , würde uns Kant nicht an anderer Stelle darüber aufklären, daß er hier seinen „Leser hintergangen habe, damit er ihm nützete" (Τ II 983 A 116), indem er dieses experimentelle Geister-Gedankenspiel (eine Überlagerung von L e i b n i z ' T h e o r i e d e r M o n a d e n mit Swedenborgs T h e o r i e d e r G e i s t e r ) nur eingegangen sei, um ex negativo dessen Unmöglichkeit zu beweisen. Damit jedoch habe er, Kant, „das Zutrauen des Lesers verloren", indem er diesen „durch einen langweiligen Umweg zu demselben Punkt geführet habe, aus welchem er herausgegangen war" (T II 982 A 114), „so wie Romanschreiber die Heldin der Geschichte in entfernte Länder fliehen lassen damit sie ihrem Anbeter durch ein glückliches Abenteuer von ungefähr aufstoße: et furgit ad salices et se cupit ante videri (Virg.) [Sie flieht zu den Weiden und begehrt, vorher gesehen zu werden, Virgil, Buxolica III 61, Übers. W. W.]" (T II 972 A95). Zu jenen Verständnisschwierigkeiten, die sich daraus ergeben könnten, daß man Kants Swedenborg-Referat, sowie jene Textpassagen, in denen er dieses experimentell weiterspinnt, mit Kants eigener Theorie verwechselt, kommt nun noch hinzu, daß Kant die - auch unfreiwilligen - Koinzidenzen zwischen seinem eigenen und Swedenborgs Denken selber aufgefallen sind, was ihn zu mancherlei Metatheorien beispielsweise über unterschwellige Zusammenhänge im (Konkurrenz?-) Verhältnis zwischen I m m a n u e l Kant und E m a n u e l von Swedenborg veranlaßt; sind doch beide Vornamen - was Kant verschweigt - gleichbedeutend (hebräisch: G o t t m i t u n s ) und stehen für niemand Geringeren als den M e s s i a s selbst. Wer hat hier also, in diesem verwirrten Wettstreit um Prophetie, die Wahrheit und wer den Wahn gepachtet; läßt sich hierbei überhaupt noch unterscheiden? [Vgl. 14. Exkurs] Denn diese T r ä u m e e i n e s G e i s t e r s e h e r s sollen ja doch eben im folgenden erläutert werden durch T r ä u m e d e r M e t a p h y s i k [vgl. 15. Exkurs] - bei welchen Erläuterungen allerdings die „Luftbaumeister der mancherlei Gedankenwelten" (T II 952 A 58), mit welchen , L u f t b a u m e i s t e r n ' hier eindeutig die Philosophen, vor allem Leibniz, gemeint sind, in einem keineswegs besseren Licht dastehen als etwa die schwärmenden Köpfe, über die zu urteilen sie sich anmaßen. Denn „da die Philosophie [...] eben so wohl ein Märchen aus dem S c h l a r a f f e n l a n d e der Metaphysik" war, so sieht Kant „nichts Unschickliches darin, beide [Philosophie und Märchen - C. R.] in Verbindung treten zu lassen" (T II 968 A 899), um dann sogleich - und zwar gleich eingangs - das oben bereits erwähnte geistige Experiment einer philosophischen Theorie von Geistern auf einem „ L u f t s c h i f f e d e r M e -

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t a p h y s i k " zu wagen (Τ II 974 A 99, Herv. C. R.). Somit also führt der in diesen Tagen noch den Degen tragende Magister mit seinen kühnen Träumen ein Gefecht nach allen Seiten hin: sowohl gegen die Träume auf der Seite des zu untersuchenden Gegenstands (der Schwärmer bzw. Geisterseherei) als auch wider die Träume auf der Seite des analysierenden Subjekts selbst (der Metaphysik bzw. der Philosophie), wobei hier freilich nicht mehr die Träume der Metaphysik um einer Kritik der Geisterseher willen in Frage gestellt werden, sondern umgekehrt die Träume der Geisterseher nur noch bemüht werden, um mit den Träumen der Metaphysik - Kants eigentlicher Liebe und Leidenschaft ins Gericht zu gehen. Mit einer Romanze freilich auch: Denn da er, Kant, wie er schwärmt, „das Schicksal habe in die Metaphysik verliebt zu sein", obgleich er sich en r e t o u r von ihr „nur selten einiger Gunstbezeugungen rühmen" könne (Τ II 982 A 115), so wollte er doch eigentlich dieses reizende Wesen b e g r e i f e n , wiewohl er sich dann doch wieder eingestehen mußte, daß sie auch diesmal seinen „begierigen Händen" entwichen sei (ebd.): „Ter, frustra comprensa manus, effugit imago, Par levibus ventis volucrique simillima somno (VIRG.) [Den Händen, die dreimal vergeblich nach ihr griffen, entkam die Gestalt, leichten Winden gleich und ähnlich dem flüchtigen Schlaf, Virgil, Aeneis II, 793]" (T II 982 A 115). Auf derartige erotische Aufladungen seines Objekts der Begierde wird Kant im übrigen auch später nicht verzichten wollen, heißt es doch beispielsweise noch zum Abschluß seiner Inaugural-Dissertation von 1770, daß „sie [die Methode einer Unterscheidung von Noumena und Phaenomena - quasi als Präservativ? - C. R.] [...] für alle, die in das Innere der Metaphysik selber eindringen wollen, von unermeßlichem Nutzen sein wird", [im Wortlaut: „omnibus in ipsos Metaphysicae recessus penetraturis immensum quantum profuturae"] (ID V 104ff A2 38). Alleine jene, die sich einmal auf Fräulein von Metaphysik eingelassen haben, wälzen „ihren Sisyphosstein in Ewigkeit" (ID V 82f A2 29), was einen Rückblick auf jenes oben bereits erwähnte Märchen , A u s d e n t a u s e n d u n d e i n e n N ä c h t e n d e r L e i b n i z s c h e n M e t a p h y s i k ' i m nachhinein in einem horror vacui erscheinen läßt: „Vorher wandelten wir wie D e m o k r i t im leeren Räume, wohin uns die S c h m e t t e r l i n g s f l ü g e l der Metaphysik gehoben hatten, und unterhielten uns daselbst mit geistigen Gestalten. Itzt, da die s t i p t i s c h e Kraft der Selbsterkenntnis die seidene Schwingen zusammengezogen hat, sehen wir uns wieder auf dem niedrigen Boden der Erfahrung und des gemeinen Verstandes [...]" (T II 983 A 117). - W e l c h E n t t ä u s c h u n g ! - womit der gesamte Höhenflug auf jenem metaphysischen Luftkissen in einem „Übersprung (salto mortale)" (VT VI 386 A 405) fürs erste sein bitteres Ende gefunden haben dürfte; nach einem Absturz, verursacht wahrscheinlich durch einen „zu Chimären geneigte[n] - Geiste in Scharen" (ID V 98f A2 35), als welcher sich eben Kants Schwärm herausgestellt haben dürfte. Verbittert und frustriert darüber, seine „metaphysischen Gläser nach jenen entlegenen Gegenden" hingerichtet zu haben (T II 951 A 57), wo es doch ratsamer gewesen wäre, „am

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Ufer derjenigen Erkenntnisse entlangzusegeln, die uns durch die Mittelmäßigkeit unseres Verstandes vergönnt sind, als sich auf die hohe See derart mystischer Nachforschungen hinauszuwagen" (ID V 81 A2 28), redet sich Kant nunmehr seine Probleme mit der Metaphysik (und zwar: wie sie ihm gerade so in den Sinn kommen) frei von der Leber und schlägt - man muß schon sagen: rücksichtslos - um sich, um endlich t a b u l a r a s a zu machen. Denn die Schwierigkeiten, in denen Kant sich mit diesem Text bewegt, werden von dem Umstand begleitet, daß die Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, gewissermaßen als Signatur, präzise jenen Ort im Kantischen Œuvre bezeichnen, an dem das alte Denken vollkommen zusammenbricht und das neue, nämlich das kritische Denken sich bereits in seinen ersten Grundrissen abzeichnet. Verwirrung stiftet dabei, daß sich grundsätzlich alles auf allen Ebenen verändert. War der R a t i o n a l i s m u s spätestens mit dem Versuch über die Krankheiten des Kopfes verworfen, so fällt nun auch der E m p i r i s m u s - und zwar recht unsanft - vom Tisch, wonach, wie man wohl eingestehen muß, kaum noch etwas bleibt. Überdies ergeben sich hier epistemologische Verschiebungen im Bereich der vormals aufgetischten Dispositive: Die von Kant in den Träumen verwendeten Disziplinen - nämlich: Medizin und Psychologie, Physik und Metaphysik (Logik, Erkenntnistheorie und Ethik) sowie auch Philosophie und Recht - deplacieren sich in ihren Beziehungen zueinander dermaßen, daß sich bereits hier ein Streit der Fakultäten anzubahnen scheint. Gewissermaßen als Entschädigung für dieses theoretische Erdbeben wird jedoch in den Träumen, nicht zufälligerweise ausgerechnet in Anbetracht der Geister, erstmals im gesamten Kantischen Œuvre der philosophische Traum von einer Außenposition überhaupt, also:das A p r i o r i , thematisiert.

A. Zum Kontext des Textes a) Das Gerücht - ein gewisser Herr von Swedenborg Sit mihi fas audita loqui. Virg. (T II 965 A 82) [Es sei mir gestattet, von dem zu sprechen, was ich gehört habe Virgil, Aeneis VI 266]

Anlaß für die Schrift war „das ungestüme Anhalten bekannter und unbekannter Freunde. Überdem war ein großes Werk [nämlich jene zwischen 1747 und 1758 in London erschienenen Arcana Coelestia von Emanuel von S w e -

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d e n b o r g , welche in lateinischer Sprache auf sage und schreibe 4.500 Seiten wie Kant sich verbittert ausdrückt - insgesamt „acht Quartbände voll Unsinn" füllen (Τ II 973 A 38); „ein kleiner Vorwitz", der für die immense Summe von „7 Pfund Sterling" - Τ II 981, A 113] gekauft, und, welches noch schlimmer ist, gelesen worden, und diese Mühe sollte nicht verloren sein" (Τ II 924 A 6). Man bemerke auch an dieser Stelle den für philosophische Schriften nicht recht üblichen Ton, den Kant hier anschlägt, und so rechtfertigt er diesen auch gegenüber Moses Mendelssohn in einem Brief vom 8. April 1766 (in: Τ R. M. 112f) sarkastisch: „Die Befremdung die Sie über den Ton der kleinen Schrift äußeren ist mir ein Beweis der guten Meinung die Sie sich von meinem Charakter der Aufrichtigkeit gemacht haben und selbst der Unwille, denselben hierinn nur zweydeutig ausgedrückt zu sehen, ist mir schätzbar und angenehm. [Und etwas weiter:] Ich weis nicht ob Sie bey Durchlesung dieser in ziemlicher Unordnung abgefaßten Schrift einige Kennzeichen von dem Unwillen werden bemerkt haben womit ich sie geschrieben habe; denn da ich einmal durch die Vorwitzige Erkundigung nach den Visionen des Schwedenbergs sowohl bey Persohnen die ihn Gelegenheit hatten selbst zu kennen als auch vermittelst einiger Correspondenz und zuletzt durch die Herbeyschaffung seiner Werke viel hatte zu reden gegeben so sähe ich wohl daß ich nicht eher vor die unabläßige Nachfrage würde Ruhe haben als bis ich mich der bey mir vermutheten Kenntnis aller dieser Anecdoten entledigt hätte". Nachgefragt hatte beispielsweise Fräulein Charlotte v o n K n o b l o c h , welcher Kant bereits drei Jahre zuvor, in jenem berühmten Brief vom 10. August 1763, ausführlich mitteilte, welchen Aufwand er, offenbar wiederum schon seit Jahren, betrieben hatte, um Näheres über die Geschichten von und um Swedenborg in Erfahrung zu bringen. „Diese Nachricht [von der Geschichte des Herrn Swedenborg] hatte ich durch einen Dänischen Offizier, der mein Freund und ehemaliger Zuhörer war, welcher an der Tafel des Oesterreichschen Gesandten Dietrichstein in Kopenhagen den Brief, den dieser Herr zu derselben Zeit von dem Baron von Lützow, Meklenburgischem Gesandten in Stockholm, bekam, selbst nebst andern Gästen gelesen hatte, wo gedachter von Lützow ihm meldet, daß er in Gesellschaft des Holländischen Gesandten bei der Königin von Schweden der sonderbaren Geschichte, die Ihnen, gnäd. Fr. vom Hrn. v. Swedenborg schon bekannt seyn wird, selbst beigewohnet habe. Die Glaubwürdigkeit einer solchen Nachricht machte mich stutzig. [...] Ich schrieb an gedachten Officier nach Kopenhagen und gab ihm allerlei Erkundigungen auf. Er antwortete, daß er nochmals desfalls den Grafen von Dietrichstein gesprochen hätte, daß die Sache sich wirklich so verhielte, daß der Professor Schlegel ihm bezeuget habe, es wäre gar nicht daran zu zweifeln. Er rieth mir, weil er damals zur Armee unter dem General St. Germain abging, an den von Swedenborg selbst zu schreiben, um nähere Umstände davon zu erfahren. Ich schrieb demnach an diesen seltsamen Mann und der Brief wurde ihm von einem englischen Kaufmanne in Stockholm eingehändiget. Man berichtete hieher, der Herr v. Swed. habe den Brief geneigt aufgenom-

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men und versprochen, ihn zu beantworten. Allein diese Antwort blieb aus. Mittlerweile machte ich Bekanntschaft mit einem feinen Manne, einem Engländer, der sich verwichenen Sommer [d. h. 1762 - C. R.] hier [d. h. in Königsberg - C. R.] aufhielt, welchem ich [...] auftrug, bei seiner Reise nach Stockholm genauere Kundschaft wegen der Wundergabe des Hrn. v. Swed. Einzuziehen. Laut seinem ersten Berichte verhielt es sich mit der schon erwähnten Historie nach der Aussage der angesehendsten Leute in Stockholm genau so, wie ich es ihnen sonst erzählt habe. Er hatte damals den Hrn. v. Swedenborg nicht gesprochen, [...], wie wohl es ihm schwer ankam, sich zu überreden, daß dasjenige alles richtig seyn sollte, was die vernünftigsten Personen dieser Stadt von seinem geheimen Umgange mit der unsichtbaren Geisterwelt erzählten. Seine folgenden Briefe aber lauten ganz anders. Er hat den Hrn. v. Swed. nicht allein gesprochen, sondern auch in seinem Hause besucht und ist in der äußersten Verwunderung über die ganze so seltsame Sache. Swedenborg ist ein vernünftiger, gefälliger und offenherziger Mann; er ist ein Gelehrter und mein mehr erwähnter Freund hat mir versprochen, einige von seinen Schriften mir in Kurzem zu überschicken. [...] Als er [Swedenborg] an meinen Brief erinnert wurde, antwortete er, er habe ihn wohl aufgenommen [...]. Er würde im May dieses Jahres nach London gehen, wo er sein Buch herausgeben würde, darin auch die Beantwortung meines Briefes nach allen Artikeln sollte anzutreffen seyn" (Kant an Fräulein v. Knobloch, in: Τ R. M. lOlf) - „sollte", denn es ist, wie man weiß, auch zu dieser uneigentlichen Antwort nie gekommen. Schon ein halbes Jahrzehnt vor dem Erscheinen der Träume eines Geistersehers, demzufolge bereits spätestens seit dem Sommer 1762 (!), kursierten somit in Königsberg viele Sendungen von vielen Gesandten, welche unterdessen ganze Schwärme von Gerüchten um Swedenborg in die Welt gesetzt hatten, und da es nun „zu allen Zeiten so gewesen [ist] und auch wohl künftighin so bleiben [wird], daß gewisse widersinnige Dinge, selbst bei Vernünftigen Eingang finden, bloß darum, weil allgemein davon gesprochen wird" (Τ II 969 A 90) - ein Hörensagen, in welches sich sogleich auch der Magus des Nordens, Johann Georg Hamann, in einem Schreiben an Moses Mendelssohn vom 6. Nov. 1764 (in: Τ R. M. 111) einschaltete: „vielleicht werde [ich] Ihnen auch eine kleine Abhandl., statt eines antidots, vom HE. M. Kant beylegen können [...]. Er wird unter andern darinn die Opera omnia, eines gewißen S c h w e d e n b e r g s recensieren, die neun große Quartanten betragen und in London ausgekommen sind ..." - so bleibt Kant letztendlich nichts anderes übrig, als diesem Echo seine Reflexionen entgegenzusetzen. Allerdings ist Kant bei dem Selbstlauf, den die Gerüchteküche um Swedenborg mittlerweile genommen hatte, alles andere als wohl zumute, war er doch selbst daran keineswegs unbeteiligt: „man wird vermutlich fragen, was mich doch immer habe bewegen können, ein so verachtetes Geschäfte zu übernehmen, als dieses ist, Märchen weiter zu bringen" (Τ II 968 A 89) - und etwas weiter im Text: „Ich bin es müde, die wilden Hirngespinste des ärgsten

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Schwärmers unter allen zu kopieren", denn er „habe auch noch andere Bedenklichkeiten. [...] Denn es könnten unter den Vorwitzigen [seiner Leserinnen - C. R.] leichtlich schwangere Personen sein, bei denen es einen schlimmen Eindruck machen dürfte. Und da unter [seinen] Lesern einige in Ansehung der idealen [sprich: geistigen - C. R.] Empfängnis eben sowohl in andern Umständen sein mögen" und er „sie doch gleich anfangs gewarnet habe, so stehe [er] vor nichts, und hoffe, man werde [ihm] die Mondkälber nicht aufbürden, die bei dieser Veranlassung von ihrer fruchtbaren Einbildung mögen geboren werden" (Τ II 980fA112). Wenn auch ironisch, so stellt Kant hier doch nicht minder ernsthaft die Frage nach den konvulsiven Übertragungseffekten in einer Informationsgesellschaft, wie sie sich seinerzeit durch den sprunghaften Anstieg der Buchauflagenzahlen sowie durch die schlagartige Vermehrung von Zeitschriften als auch die Entstehung und schnelle Ausbreitung der Lesegesellschaften formierte (vgl. R. v. Dülmen 1986). Wäre es da nicht möglich, daß die ,Nachricht von Swedenborg' - das Gerücht als Chiffre - nicht etwa die Ursache oder den Inhalt, sondern vielmehr die Wirkung sowie die Form selbst der sich beschleunigenden Depeschen, gewissermaßen das Symptom - heute würden wir sagen: den Virus - einer beschleunigten Kommunikationsgesellschaft darstellt? Denn mit der quantitativen Zunahme des Informationsaustausches durch die „Verbindung der Schwäche des menschlichen Verstandes mit seiner Wißbegierde" (Τ II 969 A 91), da nunmehr schier alles möglich sein soll scheint offenbar auch eine „zweideutige Mischung von Vernunft und Leichtgläubigkeit" (Τ II 969 A 90) selbst die Gelehrtenwelt zu befallen. So hat, wie Kant sich belustigt, „vor kurzem das gemeine Landvolk denen Gelehrten die Spötterei gut vergolten, welche sie gemeiniglich auf dasselbe der Leichtgläubigkeit wegen zu werfen pflegen. Denn durch vieles Hörensagen brachten Kinder und Weiber endlich einen großen Teil kluger Männer dahin, daß sie einen gemeinen Wolf vor eine Hyäne hielten, obgleich itzo ein jeder Vernünftiger leicht einsieht, daß in den Wäldern von Frankreich wohl kein afrikanisches Raubtier herumlaufen werde" (Τ II 969 A 91). Drei Swedenborg-Geschichten zogen in Königsberg ihre Kreise. „Weil indessen das Kreditiv aller Bevollmächtigten aus der andern Welt in den Beweistümern besteht, die sie durch gewisse Proben in der gegenwärtigen von ihrem außerordentlichen Beruf ablegen" (Τ II 966 A 85), so dienten alle drei Geschichten dazu, Swedenborgs Verbindung mit der Geisterwelt gewissermaßen empirisch zu belegen. Die erste Geschichte ist die einer ungläubigen Fürstin - nämlich der Königin von Schweden, Louise Ulrike, der Schwester Friedrichs des Großen - , welche auf „Veranlaßung der allgemeinen Gerüchte von den vorgegebenen Visionen dieses Mannes" (Τ II 967 A 85) Swedenborg gewissermaßen auf die Probe stellen wollte, indem sie ihm eine sie betreffende Frage stellte, deren Antwort „von keinem lebendigen Menschen konnte erteilt sein" (ebd.). Da nun Swedenborg die Frage richtig beantwortete, geriet die Königin hierüber in

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großes Erstaunen. Diese Geschichte, die von sich reden machte, stimmte auch „genau mit dem, was die besondere Nachfrage [Kants] darüber hat erkunden können", überein (ebd.). Die folgende Erzählung indes habe „keine andere Gewährleistung als die gemeine Sage, deren Beweis sehr mißlich ist" (Τ II 967 A 86). An dieser Stelle sollte jedoch daraufhingewiesen werden, daß sich Kant in der eigenen Wiedergabe der Gerüchte nicht mehr zurechtfindet, indem er nämlich die Quelle der zweiten Geschichte mit der der ersten verwechselt. Dies ist auch bereits Richart Adolf Hoffmann (1909 15) aufgefallen: „In seiner Schrift [den Träumen] nennt er [Kant] auch als Gewährleistung für die Wahrheit dieser Geschichte nur die gemeine Sage, während er in dem Brief an Fräulein von Knobloch sich noch auf seinen englischen Gewährsmann beruft, der es unmittelbar vor Ort und Stelle habe untersuchen können." Diese Verwechslung zeigt allerdings nur, wie wenig Kant diese Geschichten zur Zeit der Abfassung der Träume noch interessierten; in den Träumen ging es ihm tatsächlich nur noch um: d i e S a g e - welche sich wie folgt anhört: „Madame M a r t e v i l l e , die Witwe eines holländischen Envoyé an dem schwedischen Hofe, wurde von den Angehörigen eines Goldschmiedes um die Bezahlung des Rückstandes vor ein verfertigtes Silberservice gemahnet" (ebd.). Da sie die Quittung nicht fand, sich jedoch sicher war, daß die Rechnung von ihrem verstorbenen Manne beglichen worden war, bat sie Swedenborg, Kontakt mit der abgeschiedenen Seele ihres Mannes in der Geisterwelt aufzunehmen, um zu erfahren, wo sich die Quittung befinde. Nach wenigen Tagen kam Swedenborg mit der Antwort zurück, die Quittung befände sich in einem bis dahin unbekannten Geheimfach einer Kommode im ersten Stock des Hauses, wo man, zum großen Erstaunen einer anwesenden Gesellschaft, die Quittung auch tatsächlich fand. Es gibt jedoch gerade von dieser Geschichte auch noch andere Varianten: „In der Tat, wie mißlich der Beweis der gemeinen Sage ist, kann man wenigstens bei der Geschichte der Frau von Marteville nachweisen, zu der mittlerweile eine ganze Anzahl einander widersprechender Aussagen bekannt geworden sind; unter anderen gibt es einen späteren Bericht, den ihr zweiter Gatte in ihrem Auftrage an einen Interessenten erstattet hat, und der den eigentlichen Probierstein der Wahrheit aus der Erzählung herausbricht. Denn da hat Frau v. Marteville den Aufenthaltsort der Quittung gar nicht von Swedenborg erfahren, sondern hat ihn geträumt, und Swedenborg hat ihr nur am Morgen danach einen Besuch gemacht, um ihr mitzuteilen, ihm habe in der betreffenden Nacht der verstorbene Gatte, als er sich mit ihm zu unterhalten gewünscht habe, gesagt, er müsse nun fort, weil er seiner Frau noch eine wichtige Mitteilung zu machen habe. Aber diesen Bericht, der viel später ist, kann Kant gar nicht gekannt haben." (J. Ebbinghaus 1943 69f; Ebbinghaus nennt allerdings seine Quellen nicht. Genaueres hierüber erfährt man bei R. A. Hoffmann 1909 15f, welcher seine Quellen benennt: B. Wilkinson 2 1886 126f u. Ballet 1899 144-147).

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„Die folgende Begebenheit aber - schreibt Kant noch p r i v a t an Fräulein von Knobloch - scheint mir unter allen die größte Beweiskraft zu haben und benimmt wirklich allem erdenklichen Zweifel die Ausflucht" (Kant an Fräulein v. Knobloch, in: Τ R. M. 104), wohingegen er ö f f e n t l i c h in den Träumen sein Urteil zurücknimmt, indem er nunmehr meint, daß diese „dritte Geschichte von der Art [sei], daß sich sehr leicht ein vollständiger Beweis ihrer Richtigkeit oder Unrichtigkeit muß geben lassen." Die Geschichte: „Es war, wo ich recht berichtet bin, gegen Ende des 1759ten Jahres, als Herr Schwedenberg, aus England kommend, an einem Nachmittag zu G o t h e n b u r g ans Land trat. Er wurde denselben Abend zu einer Gesellschaft bei einem dortigen Kaufmann gezogen, und gab ihr nach einigem Aufenthalt mit allen Zeichen der Bestürzung die Nachricht, daß eben itzt in Stockholm in Sübermalm eine erschreckliche Feuersbrunst wüte. Nach Verlauf einiger Stunden, binnen welcher er sich dann und wann entfernte, berichtete er der Gesellschaft, daß das Feuer gehemmt sei, imgleichen wie weit es um sich gegriffen habe. Eben denselben Abend verbreitete sich schon diese wunderliche Nachricht, und war den andern Morgen in der ganzen Stadt herumgetragen; allein nach zwei Tagen allererst kam der Bericht davon [mit der Postkutsche C. R.] aus Stockholm in Gothenburg an, völlig einstimmig, wie man sagt, mit Swedenborgs Visionen" (Τ II 968 A 88). Vielleicht lassen sich jedoch diese drei außerordentlichen Geschichten in eine ganz banale Geschichte übersetzen, denn jenseits von der Frage, was man von Telepathie halten mag, ja abgesehen davon, ob es Telepathie überhaupt gibt und wie sie - wenn es sie denn geben sollte - vonstatten gehen könnte, ist auffallend, daß die letzte Geschichte mit den Berichten über Telepathie, wie sie uns heute zur Verfügung stehen, übereinstimmt, während dies bei den ersten beiden Geschichten offenbar nicht der Fall ist. Insbesondere ist darauf aufmerksam zu machen, daß die Geschichte von Göteborg nicht, wie die beiden anderen, auf Veranlassung von Dritten, sondern Swedenborg unwillkürlich widerfahren sein soll. Ferner ist zu bemerken, daß in Göteborg eine Gefahrensituation vorlag, und - wie Kant noch an Fräulein v. Knobloch schrieb daß „er [Swedenborg] sagte, daß das Haus eines seiner Freunde, den er nannte, schon in Asche läge und sein eigenes Haus in Gefahr sey"(in: Τ R. M. 104), was den heutigen Erkenntnissen zufolge einer typischen Telepathie-Situation entsprechen würde. Die ersten beiden Geschichten hingegen, welche sich zeitlich erst nach der Göteborg-Geschichte und offenbar als eine Reaktion auf diese (wie auch immer) zugetragen haben sollen, sind offensichtlich inszeniert. Die Geschichte von Frau von Marteville erübrigt sich von dem her, was wir von Hoffmann wissen, von selbst, und von der Geschichte der schwedischen Königin Louise Ulrike wissen wir inhaltlich schließlich gar nichts, weder was sie gefragt, noch was Swedenborg ihr geantwortet, geschweige wie sie diese Antwort bestätigt haben soll. Bleibt also von den dreien alleine die letzte Geschichte übrig. Gesetzt jedoch - hypothetisch angenommen - , Swedenborg hätte in Göteborg eine

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telepathische Übertragung erfahren, so sagt dies noch nichts über die Existenz oder Nicht-Existenz von Geistern oder gar einem Geisterreich aus. Und so müßte man denn dieses Kapitel über das, „was das gemeine Gerücht sagt", mit einer Kantischen Konfession hier abschließen: „Er [Kant] bekennet mit einer gewissen Demütigung, daß er so treuherzig war, der Wahrheit einiger Erzählungen von der erwähnten Art nachzuspüren. Er fand wie gemeiniglich, wo man nichts zu suchen hat er fand nichts" (Τ II 924 A 6).

b) Swedenborgs ekstatische Reise durch die Geisterwelt Somnia, terrores mágicos, miracula, sagas, Nocuturnos lemures, portentaque Tessala. Horatius (T II 970 A 93) [(Lachst du über) Träume, Zauberschrecken, Wunder, Wahrsagerinnen, nächtliche Gespenster und thessalische Ungeheuer? Horaz, Episteln II 2 208f)]

„Ich komme - schreibt Kant - zu meinem Zwecke, nämlich zu den Schriften meines Helden" (T II 973 A 97). Wir indes kommen nicht zu jenen, die man, „im Falle [man] Geld genug und nichts Besseres zu tun hat" (T II 970 A 92), an anderer Stelle nachlesen kann, sondern zu dem, was Kant über Swedenborgs Arcana Coelestia schreibt. [Vgl. 16. Exkurs] Die „schwärmenden Auslegungen [des geheimen Sinnes in den zwei ersten Büchern Mosis und eine ähnliche Erklärungsart der ganzen H. Schrift] gehen mich - schreibt Kant nichts an [...]" (T II 973 A 98). Was Kant interessiert, sind einzig und allein „die audita et visa, d. i. was seine [Swedenborgs] eigene Augen gesehen und eigene Ohren gehört haben" wollen (ebd.). Der Grund hierfür liegt darin, daß Kant Swedenborg als einen P h a n t a s t e n (d. h. als einen Psychotiker), um in der Terminologie der Krankheiten zu sprechen, als einen V e r r ü c k t e n (d. h. als einen an Wahnvorstellungen Leidenden) einstuft; einen Verrückten, den er hier in den Träumen allerdings auch einen W a h n s i n n i g e n (d. h. einen Paranoiker) nennt. „In so ferne haben sie [Swedenborgs f a n a t i s c h e A n s c h a u u n g e n ] also einige Wichtigkeit und verdienen wirklich in einem kleinen Auszug dargestellt zu werden, vielleicht mehr, als so manche Spielwerke hirnloser Vernünftler, welche unsere Journale anschwellen, weil eine zusammenhängende Täuschung der Sinne überhaupt ein viel merkwürdiger Phänomenon ist, als der Betrug der Vernunft [...]" (T II 973 A 99). Daher möchte Kant „mit Weglassung vieler wilder Chimären, die Quintessenz des Buches auf wenige Tropfen bringen", wovon er sich von seinen Lesern „eben so viel Dank verspreche, als ein gewisser Patient glaubte den Ärzten schuldig zu sein, daß sie ihn nur die Rinde von der Quinquina verzehren ließen, da sie ihn

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leichtlich hätten nötigen können, den ganzen Baum aufzuessen" (Τ II 974 A 100).

Ausfuhrlich wird im folgenden Kants Swedenborg-Referat wiedergegeben und zwar aus dreierlei Gründen. Zum ersten ist es vielleicht nicht verkehrt, in einer Schrift über Kant den Autor selbst einmal etwas ausführlicher zu Wort kommen zu lassen. Zum zweiten wären wir, was uns betrifft, gar nicht in der Lage, die Quintessenz der Arcana Coelestia so kurz und vor allem derart prägnant zusammenzufassen, wie Kant dies vermochte. Zum dritten, und dies ist nun der entscheidende Grund, interessieren wir uns hier ja nicht fur Swedenborg als solchen, sondern dafür, wie Kant Swedenborg liest bzw. darstellt, und da fällt - um bereits hier darauf hinzuweisen - schon bei einer ersten Lektüre auf, daß Kant seine Swedenborg-Darstellung auf Swedenborgs Idealismus, auf seine manichäistische ,Zwei-Welten-Lehre', auf seinen theosophischen Neuplatonismus sowie nicht zuletzt auch auf Swedenborgs KabbalaRezeption konzentriert. So liest sich der von Kant präsentierte SwedenborgText streckenweise so, als hätten wir nicht (oder nicht nur) Swedenborg, sondern mit diesem auch dessen Vorlagen - etwa Plotin oder Jakob Böhme oder eben auch die Kabbala im Text selbst - vor Augen. Sodenn: „Herr Schwedenberg teilet seine Erscheinungen in drei Arten ein, davon die e r s t e ist, vom Körper befreiet zu werden [ m e t e m p s y c h o s i s - C. R.]; ein mittlerer Zustand zwischen Schlafen und Wachen, worin er Geister gesehen, gehört, ja gefühlt hat. [...] Die z w e i t e ist, vom Geist weggeführt zu werden [ m e t e m s ô m a t ô s i s - C. R.], da er etwa auf der Straße geht, ohne sich zu verwirren, indessen daß er im Geiste in ganz anderen Gegenden ist, und anderwärts Häuser, Menschen, Wälder u.d.g. deutlich sieht, und dieses wohl einige Stunden lang, bis er sich plötzlich an seinem rechten Orte gewahr wird. [...] Die d r i t t e Art der Erscheinungen ist die gewöhnliche, welche er täglich im völligen Wachen hat, und davon auch hauptsächlich seine Erzählungen hergenommen sind" (Τ II 975 A 101). „Ein Hauptbegriff in Schwedenbergs Phantasterei ist dieser: Die körperlichen Wesen haben keine eigene Subsistenz, sondern bestehen lediglich durch die Geisterwelt; wiewohl ein jeder Körper nicht durch einen Geist allein, sondern durch alle zusammengenommen" (Τ II 978 A 107). „Ein künftiger Ausleger wird daraus schließen: daß Schwedenberg ein Idealist sei; weil er der Materie dieser Welt auch die eigene Substanz abspricht, und sie daher vielleicht nur vor eine zusammenhängende Erscheinung halten mag, welche aus der Verknüpfung der Geisterwelt entspringt." (Τ II 979 A 109). „Daher hat die Erkenntnis der materiellen Dinge zweierlei Bedeutung, einen äußerlichen Sinn, in Verhältnis der Materie aufeinander, und einen innern, in so ferne sie als Wirkungen die Kräfte der Geisterwelt bezeichnen, die ihre Ursachen sind. So [nämlich nach Swedenborgs L e h r e v o n d e n E n t s p r e c h u n g e n , c o r r e s p o n d e n t i a - C. R.] hat der Körper des Menschen ein Verhältnis der Teile untereinander nach materiellen Gesetzen; aber in so ferne er durch den Geist, der in ihm lebt, erhalten wird, haben seine verschiedene Gliedmaßen

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und ihre Funktionen einen bezeichnenden Wert vor diejenigen Seelenkräfte, durch deren Wirkung sie ihre Gestalt, Tätigkeit und Beharrlichkeit haben." (Τ II 978 A 107) - „Der ganze äußere Mensch korrespondiert also dem ganzen innern Menschen, und wenn daher ein merklicher geistiger Einfluß aus der unsichtbaren Welt eine oder andere dieser seiner Seelenkräfte vorzüglich trifft, so empfindet er auch harmonisch die apparente Gegenwart desselben an denen Gliedmaßen seines äußeren Menschen, die diesen korrespondieren. Dahin bezieht er nun eine große Mannigfaltigkeit von Empfindungen an seinem Körper, die jederzeit mit der geistigen Beschauung verbunden sein [...], [z. B. die Lunge entspricht dem Wahren, während das Herz dem Guten entspricht; so wie das Herz von der Lunge mit Luft versorgt wird, so wird dann das Gute vom Wahren beflügelt, etc. - C. R.]" (T II 979f A 11 Of). - „Dieser innere Sinn ist den Menschen unbekannt, und den hat Schwedenberg, dessen Innerstes aufgetan ist, den Menschen bekannt machen wollen. Mit allen andern Dingen der sichtbaren Welt ist es eben so bewandt, sie haben, wie gesagt, eine Bedeutung als Sachen, welches wenig ist, und eine andere als Zeichen, welches mehr ist. Dieses ist auch der Ursprung der neuen Auslegungen, die er von der Schrift hat machen wollen. Denn der innere Sinn, nämlich die symbolische Beziehung aller darin erzählten Dinge auf die Geisterwelt, ist, wie er schwärmet, der Kern ihres Werkes, das übrige ist nur Schale" (T II 978 A 107f). „Alle Menschen stehen seiner Aussage nach in gleich inniglicher Verbindung mit der Geisterwelt; nur sie empfinden es nicht, und der Unterschied zwischen ihm und den andern besteht nur darin, d a ß s e i n I n n e r s t e s a u f g e t a n i s t [...]. Man siehet aus dem Zusammenhange, daß diese Gabe darin bestehen soll, sich derer dunkler [d. h. unbewußter - C. R.] Vorstellungen bewußt zu werden, welche die Seele durch ihre beständige Verknüpfung mit der Geisterwelt empfangt. Er unterscheidet daher an dem Menschen das äußere und innere Gedächtnis. [...] In diesem innern Gedächtnis wird auch alles aufbehalten, was aus dem äußeren verschwunden war, und es geht nichts von allen Vorstellungen eines Menschen jemals verloren" (T II 975f A lOlf). „So sehen die Geister in Schwedenbergen seine Vorstellungen [...]; allein durch die Gemeinschaft mit andern Seelen lebender Menschen können sie auch keine Vorstellungen davon haben, weil ihr Innerstes nicht aufgetan ist, d. i. ihr innerer Sinn gänzlich dunkle [d. h. unbewußte - C. R.] Vorstellungen enthält. Daher ist Schwedenberg das rechte Orakel der Geister, welche eben so neugierig sind, in ihm den gegenwärtigen Zustand der Welt zu beschauen, als er es ist, in ihrem Gedächtnis wie in einem Spiegel die Wunder der Geisterwelt zu betrachten. Obgleich diese Geister mit allen andern Seelen lebender Menschen gleichfalls in der genauesten Verbindung stehen, und in dieselbe wirken oder von ihnen leiden, so wissen sie [die Geister - C. R.] doch dieses eben so wenig, als es die Menschen wissen, weil dieser ihr innerer Sinn, welcher zu ihrer geistigen Persönlichkeit gehört, ganz dunkel [d. h. unbewußt - C. R.] ist. Es meinen also die Geister: daß dasjenige, was aus dem Einflüsse der Menschenseelen in ihnen gewirkt worden, von ihnen allein gedacht sei, so wie die

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Menschen in diesem Leben nicht anders glauben, als daß alle ihre Gedanken und Willensregungen aus ihnen selbst entspringen, ob sie gleich in der Tat oftmals aus der unsichtbaren Welt in sie übergehen" (Τ II 976f A 103f). „Was aber wiederum in dieser symbolischen Verknüpfung körperlicher Dinge als Bilder mit dem innern geistigen Zustande wichtig ist, besteht darin. Alle Geister stellen sich einander jederzeit unter dem Anschein ausgedehnter Gestalten vor, und die Einflüsse aller dieser geistigen Wesen untereinander erregen ihnen zugleich die Apparenz von noch andern ausgedehnten Wesen, und gleichsam von einer materiellen Welt, deren Bilder doch nur Symbolen ihres inneren Zustandes sein, aber gleichwohl eine so klare und dauerhafte Täuschung des Sinnes verursachen, daß solche der wirklichen Empfindung solcher Gegenstände gleich ist. [...] Er [Swedenborg] redet also von Gärten, weitläufigen Gegenständen, Wohnplätzen, Galerien und Arkaden der Geister, die er mit eigenen Augen in dem kläresten Lichte sähe, und versichert: daß, da er mit allen seinen Freunden nach ihrem Tode vielfältig gesprochen, er an denen, die nur kürzlich gestorben, fast jederzeit gefunden hätte, daß sie sich kaum hätten überreden können, gestorben zu sein, weil sie eine ähnliche Welt um sich sähen; imgleichen, daß Geistergesellschaften von einerlei innerem Zustande einerlei Apparenz der Gegend und anderer daselbst befindlichen Dinge hätten, die Veränderung ihres Zustandes aber sei mit dem Schein der Veränderung des Ortes verbunden" (Τ II 978f A 108f). „Hieraus kann man sich nun, wofern man es der Mühe wert hält, einen Begriff von der abenteuerlichsten und seltsamsten Einbildung machen, in welche sich alle seine Träumereien vereinbaren. So wie nämlich verschiedene Kräfte und Fähigkeiten diejenige Einheit ausmachen, welche die Seele oder der innere Mensch ist, so machen auch verschiedene Geister (deren Hauptcharaktere sich eben so aufeinander beziehen, wie die mancherlei Fähigkeiten eines Geistes untereinander) eine Sozietät aus, welche die Apparenz eines großen Menschen an sich zeigt, und in welchem Schattengebilde ein jeder Geist sich an demjenigen Orte und in den scheinbaren Gliedmaßen sieht, die seiner eigentümlichen Verrichtung in einem solchen geistigen Körper gemäß sind [die Geistlichen befinden sich ζ. B. im Herzen, die Gelehrten in der Lunge, und die Verbrecher am A... - einer solchen geistigen Körperschaft C. R.]. Alle Geistersozietäten aber zusammen und die ganze Welt aller dieser unsichtbaren Wesen, erscheinet zuletzt wiederum in der Apparenz des g r ö ß e s t e n M e n s c h e n [ h o m o m a x i m u s - C. R.]. [...] In diesem unermeßlichen Menschen ist eine durchgängige Gemeinschaft eines Geistes mit allen und aller mit einem" (T II 980 Al 11) - wobei alles „auf das Verhältnis des innern Zustandes und auf die Verknüpfung, die sie untereinander nach ihrer Übereinstimmung im W a h r e n und im G u t e n haben [ankommt]" (T II 977 A 106) - , „und, wie auch immer die Lage der lebenden Wesen gegeneinander in dieser Welt, oder deren Veränderung beschaffen sein mag, so haben sie doch eine ganz andere Stelle im größesten Menschen, welche sie niemals verändern und welche nur dem Schein nach ein Ort in einem unermeßlichen

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Räume, in der Tat aber eine bestimmte Art ihrer [geistigen - C. R.] Verhältnisse und Einflüsse ist" (Τ II 980 A 111 f). Wir lassen Kants Referat soweit hier so stehen, um im folgenden Schritt für Schritt zu untersuchen, wie Kant diesen doch sehr verwobenen Text - in dem offensichtlich eine psychologische und eine philosophische Schicht übereinander gelegt sind - wieder auseinanderflicht. Dabei sei bereits hier darauf hingewiesen, daß Kant zum Zweck dieser Dechiffrierung zwei Schlüssel verwenden wird - nämlich einen a p o s t e r i o r i in Form eines empirisch-psychologischen Ansatzes sowie einen a p r i o r i in Form eines rational-philosophischen Ansatzes. Während allerdings Kant in seinem Text den zweiten vor den ersten gestellt hat, gehen wir der Deutlichkeit halber - da wir den Kantischen Text der Träume hier ohnehin von hinten nach vorne lesen - genau den umgekehrten Weg. Wir beginnen also mit der psychologischen Erklärung des Phänomens ,Swedenborg', um uns dann der philosophischen zuzuwenden.

c) Eine wirkliche Krankheit - Swedenborgs Psychose velut aegri somnia, vanae finguntur species. -Hör. (Τ II 919 A 2 ) [Wie Träume eines Kranken werden Wahngebilde erdichtet - Horaz, De arte poetice 7f]

Bevor wir uns mit Kants psychologischer Analyse befassen können, müssen wir uns allerdings von seiner Swedenborg-Leküre etwas entfernen, um einen Exkurs zu wagen; einen Vergleich nämlich zwischen den 1903 in Leipzig veröffentlichten Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken von Dr. jur. Daniel Paul Schreber und Swedenborgs Arcana Coelestia einerseits sowie einen Vergleich zwischen der Analyse, die Sigmund Freud in seiner Psychoanalytischen Betrachtung über einen autobiographischen Fall von Paranoia (Dementia paranoides) 1911 über den sogenannten Fall Schreber anstellte, und dem, was Kant in den Träumen eines Geistersehers zu dem Fall Swedenborg sagt, andererseits. Die Gemeinsamkeiten bei diesem Vergleich stechen in der Tat ins Auge. Beide sind Söhne berühmter Persönlichkeiten: Emanuel von Swedenborg (1688-1772) ist der Sohn des schwedischen Landesbischofs Jesper Swedberg (seit 1719 von Swedenborg), Daniel Paul Schreber (1843-1911) der Sohn des seinerzeitigen Stararztes, Physiologen und Erfinders des Volkssportes Daniel Gottlieb Moritz Schreber (heute noch bekannt durch die nach ihm benannten ,Schreber-Gärten'); beide hatten unter ihren dominanten Vätern offenbar sehr zu leiden. Bei Swedenborg nahmen die Vater-Sohn-Zwistigkeiten ein derartiges Ausmaß an, daß sie seit etwa 1710 zum definitiven Bruch zwischen beiden führten, und bei Schreber war die Erziehungstyrannei des Vaters so

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erdrückend, daß sich Schrebers vier Jahre älterer Bruder, kurz nachdem er 1877 zum Gerichtsrat ernannt wurde, im Alter von 38 Jahren das Leben nahm. Sowohl Swedenborg als auch Schreber waren, solange sie ein ,normales' bürgerliches Leben führten, in hohen gesellschaftlichen Stellungen tätig gewesen: Swedenborg war Assessor des Bergwerkkollegiums zu Stockholm, ein namhafter Gelehrter und Mitglied mehrerer Akademien der Wissenschaften; Schreber war zuerst Landgerichtsdirektor in Chemnitz, später Senatspräsident. Mit einem Mal veränderte sich jedoch das Leben beider so schlagartig, daß man von einem ,Knick in ihren Lebenslinien' sprechen muß. Um 1742/44, im Alter von 56 Jahren, überfällt Swedenborg eine religiöse Krise, die in zwei Gottesvisionen gipfelt; ein Ereignis, nach welchem er sich aus allen Ämtern sowie aus dem gesamten aktiven Leben zurückziehen wird. Um 1884/85, im Alter von 51 Jahren, erleidet Schreber nach einer politischen Niederlage einen Zusammenbruch, nach welchem er insgesamt 11 von den 16 ihm noch verbleibenden Lebensjahren in drei psychiatrischen Anstalten verbringen wird. Und beide schreiben - schreiben unermüdlich, wie die Besessenen; ein ,Die-Tinte-nicht-Halten-Können', zu welchem Freud bemerkt, die Paranoiker würden sich eben dadurch auszeichnen, daß sie, wenn auch in entstellter Form, „gerade das verraten, was die anderen Neurotiker als Geheimnis verbergen" (Freud 1911 VIII 240). [Vgl. 17. Exkurs] Beide Krisen kündigen sich in Träumen an; Swedenborg schreibt unmittelbar nach seiner religiösen Krise ein (erst postum veröffentlichtes, d. h. Kant nicht bekanntes) Traumtagebuch 1743-1744 (dt. 1978), Schreber analysiert seine Träume in der psychiatrischen Anstalt. Gleich Swedenborg meint nunmehr auch Schreber, in einer anderen Welt zu leben: „Allmählich nahmen die Wahnideen den Charakter des Mystischen, Religösen an, er verkehrte direkt mit Gott, die Teufel trieben ihr Spiel mit ihm, er sah ,Wundererscheinungen', hörte ,heilige Musik' und glaubte schließlich sogar in einer anderen Welt zu weilen. Wenigstens hielt er alles um sich herum für Geister und seine Umgebung für eine Scheinwelt" (Gutachten des Direktors der Anstalt Sonnenstein, in: F. Baumeyer 1955/56 515f). Gleich Swedenborg meint auch Schreber, dazu auserkoren zu sein, die Welt zu erlösen: „Das Wahnsystem des Patienten gipfelt darin, daß er berufen sei, die Welt zu erlösen und der Menschheit die verloren gegangene Seligkeit wiederzubringen. Er sei, behauptet er, zu dieser Aufgabe gekommen durch unmittelbare göttliche Eingebungen, ähnlich, wie dies von den Propheten gelehrt wird" (Gutachten des Anstaltarztes Dr. Weber, in: Freud 1911 VIII 289); Swedenborg, für seinen Teil, verglich sich selbst gerne mit Ezechiel. Augenscheinlich haben beide eine besondere Beziehung zum Sehen, zum Licht und - vor allem auch: zur Sonne! So wie bei beiden die Visionen in allererster Linie geschaut wurden (die geistige Schau ist bei Swedenborg - wie in der Mystik überhaupt - ein Terminus technicus), ebenso wird bei beiden die Sonne - und zwar gerade aufgrund ihrer S t r a h l u n g und der auf sie zurückzuführenden E i n f l ü s s e - praktisch als Gottheit verehrt: Bei Swedenborg nimmt d i e g e i s t i g e S o n n e (welche Gott entspricht) als Lebens- und

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Weisheitssonne geradezu eine holozentrische Position in seinem ganzen Geistersystem ein, und von Schreber heißt es: „er wurde beobachtet, wie er lange Zeit regungslos auf einer Stelle" stand, „in die Sonne [blickte] und dazu die absonderlichsten Grimassen" schnitt. Zum Schluß seines Werkes wird er behaupten, die Sonne erblasse vor seinem Blick." (S. M. Weber 1973 25). Hierzu bemerkt Freud (1911 VIII 290): „Die Deutung dieses Sonnenmythos macht uns Schreber leicht. Er identifiziert die Sonne geradezu mit Gott, bald mit dem niederen Gott (Ariman), bald mit dem oberen: ,An dem darauffolgenden Tage ... sah ich den oberen Gott (Ormuzd) diesmal nicht mit meinem geistigen Auge, sondern mit dem gewöhnlichen, [...]' usw. [...]·" [Vgl. 18. Exkurs] So wie bei Swedenborg die gesamte materielle Welt, insbesondere jedoch auch sein eigener Körper von G e i s t e r n (aus dem Geisterreich) dirigiert wird, ebenso steht bei Schreber die ganze Welt sowie speziell auch sein eigener Körper unter dem Einfluß von S t r a h l e n . Insofern es sich jedoch bei diesen Bezeichnungen vor allem um Verkörperungen für das handelt, was beide E i n f l ü s s e nennen, sind G e i s t e r und S t r a h l e n auch austauschbar. So redet Swedenborg bisweilen auch von Strahlen, ebenso wie man umgekehrt bei Schreber gelegentlich auch Geister antreffen kann. Bemerkenswert ist, daß die fur die E i n f l ü s s e gewählten Bezeichnungen offenbar der jeweiligen väterlichen Berufssprache entliehen wurden: Swedenborgs G e i s t entstammt offensichtlich dem geistlichen Bereich seines Vaters, so wie Schrebers S t r a h l e n in den medizinischen Bereich von dessen Vater fallen. Andersherum formuliert: Es sind offenbar die negativen Einflüsse der Geister/Strahlen der Väter, von welchen eine Abgrenzung zur gegebenen Zeit wohl nicht gelungen ist, welche hier - wenn auch halluzinatorisch - nachträglich abgewendet werden sollen. Hierzu Freud (1911 VIII290): „Ich bin für die Eintönigkeit der psychoanalytischen Lösungen nicht verantwortlich, wenn ich geltend mache, daß die Sonne nichts anderes ist als wiederum ein sublimiertes Symbol des Vaters." Auch strukturell sind die Geister Swedenborgs und die Strahlen Schrebers durchaus vergleichbar: Sie haben beide die Eigenschaft, sich jenseits von Zeit und Raum medial zwischen Materiellem und Immateriellem bewegen zu können; und (auch diese Gemeinsamkeit ist durchaus bemerkenswert): sie sind beide höchst ambivalent. So wie bei Swedenborg die Welt nicht nur unter dem Einfluß der guten Geister, sondern eben auch der bösen Geister steht (den Umgang mit Geistern nennt Swedenborg nicht selten: gefährlich!), so sind Schrebers Strahlen zwar in der Regel vernichtend, können aber auch bisweilen sehr heilsam sein. Für beide gelten hier räumliche Aufspaltungen: Sind gewisse Geister/Strahlen (der anderen oder auch für die anderen) schädlich, so sind wiederum andere Geister/Strahlen (erst einmal für sie selbst) heilend. Auch eine zeitliche Umkehrung findet man bei beiden: Waren die Geister zu Beginn eindeutig böse noch im Traumtagebuch notierte Swedenborg: „Wie ich mich dem Geist widersetzte" (zit. nach M. Lamm 1922 145) - , so werden sie später mehr und mehr ins Positive gewendet und verklärt. Auffallend ist dabei ein Wandel in

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den Ausdrucksformen: Während der Swedenborg-Monograph Martin Lamm (1922 180) bemerkt, daß „ein himmelweiter Unterschied [herrscht] zwischen den ruhigen Erzählungen [jener] Erlebnisse in der Geisterwelt, die Swedenborg im Diarium Spirituale, in Arcana Coelestia und anderen Werken der [späteren - C. R.] theologischen Periode gibt, und den fieberhaften Schilderungen im Traumtagebuch [welches unmittelbar nach seiner Krise verfaßt wurde C. R.]", bemerkt Freud zu der Tatsache, daß Schreber seine Denkwürdigkeiten erst acht Jahre nach seinem Krankheitsausbruch schrieb, daß das, „was wir für die Krankheitsproduktion halten, die Wahnbildung [zumal deren schriftliche Aufzeichnung - C. R.], in Wirklichkeit der Heilungsversuch, die Rekonstruktion", ist (Freud 1911 VIII308). Diese Transformation bedeutet für Freud (1911 VIII 250f), „formal ausgedrückt, ein sexueller Verfolgungswahn hat sich dem Patienten [Schreber] nachträglich zum religiösen Größenwahn umgebildet" - und hier sind wir doch sehr erstaunt, schon Jahre vor Freud, bei Alfred Lehmann bezüglich Swedenborg eine sehr ähnliche Beschreibung zu finden: Seine Traumschilderungen im Tagebuch „zeigen uns Swedenborg als einen Menschen, dessen Nervensystem durch sexuelle Ausschweifungen, die er selbst seine ,nächtliche Hauptpassion' nennt, völlig zerrüttet war. [...] Aber nicht genug damit [...]; auch im wachen Zustande wird sein Bewußtsein von ähnlichen Vorstellungen beherrscht, so daß er nicht zu arbeiten vermag. Die einzige Art und Weise, wie er sich von diesen häßlichen Gedanken frei machen kann, ist die, daß er Gott herzlich anruft und seine Zuflucht zum Kreuze auf Golgatha nimmt. Während er in diesem Zustande zwischen tiefen religiösen Betrachtungen und Gedanken der widerstrebendsten Art hin und her geworfen wird, hat er [...] die erste sogenannte ,Vision' " (A. Lehmann 1898 254f). Nun konzentriert Freud bekanntermaßen seine ganze Analyse des sogenannten ,Falles Schreber' auf dessen Wunsch, entmannt und in ein Weib verwandelt zu werden, sprich: auf Schrebers starke, wenn auch niemals geoutete homosexuelle Neigung. Problematisch ist dabei für Freud freilich nicht die Homosexualität als solche, sondern der Umstand, daß diese bei Schreber dermaßen verdrängt und nicht zugelassen wird, daß sie sich schließlich nur über den Umweg der Halluzination Gehör bzw. ein Gesicht verschaffen kann. Die S t r a h l e n , die in Schreber eindringen, sind zweifelsohne als Penetrationsmetaphern zu deuten; zuerst befürchtet Schreber, daß der ihn behandelnde Arzt, Prof. Flechsig, durch geistige Strahlen in ihn eindringen will (hinter welchem Arzt, wie Freud analysiert, sich gewiß bereits Schrebers Vater verbirgt); erst später tritt dann Gott selbst an die Stelle des Arztes (die Verschiebungskette: Vater = Arzt = Gott). Ein ebensolches Verhältnis bei Swedenborg deutet Martin Lamm (1922 151) doch zumindest an, wenn er schreibt: „Hier entleiht, wie so oft bei religiösen Erlebnissen die Liebe zu Gott nicht nur den Wortschatz von der irdischen Liebe, sondern auch ihr physisches Korrelat. [...] In der Schilderung einer Ekstase schreibt er [Swedenborg]: ,Diese Liebe in einem sterblichen Körper, von der ich da erfüllt war, gleicht der

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Freude, die ein keuscher Mann hat, wenn er in wirklicher Liebe ipso-actu mit seiner Gattin vereint ist, - solch eine amaenitas extrema war über meinen ganzen Körper ausgegossen'." Dabei dürfen wir bei näherer Betrachtung bemerken, daß Swedenborg hier, in ipso-actu des Verlaufs seines Satzes, die Wendung einer Geschlechtsmetamorphose durchgemacht hat: nämlich von der aktivmännlichen zur passiv-weiblichen Position (er wird von Gott begattet). Sollten wir nicht also auch bei Swedenborg davon ausgehen müssen, daß es sich bei den in seinen Körper eindringenden G e i s t e r n um Penetrationsmetaphern handelt? - Jedenfalls hat auch die französische Psychoanalytikerin und Philosophin Monique David-Ménard, im Anschluß an Ernst Benz, auf Swedenborgs verdrängte homophile Neigung, namentlich in seiner Beziehung zum schwedischen König Karl XII., sowie auf die hierauf folgende geschlechtliche Metamorphose Swedenborgs hingewiesen. [Vgl. 19. Exkurs] Nicht zuletzt sei bei diesem Vergleich noch auf eine weitere Parallelität hingewiesen. Kant selbst war immer wieder sehr verblüfft darüber, daß es sich bei Swedenborgs Vorstellungen von der Geisterwelt - sie mögen nun noch so verrückt gewesen sein - doch um durchaus k l a r e V o r s t e l l u n g e n handelte, und so räumt er auch, wie wir gesehen hatten, in der Anthropologie ein, die Wahnsinnigen, d. h. die Paranoiker, könnten in ihrem „unglücklichen Wahn oft so scharfsinnig in Auslegung dessen [sein], was andere unbefangen tun, um es als auf sich angelegt auszudeuten, daß wenn die Data nur wahr wären, man [ihrem] Verstände alle Ehre müßte widerfahren lassen" (Anthr. XII 530 BA 145). Der Wahn hat also Methode. So ist gleichfalls auch Baumeyer Schrebers verblüffende Systematik aufgefallen, als er notierte: „ausführliche Briefe an seine Frau. [...] Es fällt darin die Klarheit und logische Schärfe, mit der er sein System entwickelt, a u f (Baumeyer 1955/56 518). - Ein Widerspruch? - Keineswegs! Es ist bekannt, daß die Paranoiker mitunter immense Anstrengungen auf sich nehmen können, um ihrem Wahn eine Gestalt zu geben, um ihn in logische Formen zu bringen, ihn zu methodisieren, um dann die Methodisierung ihrerseits einer Methodisierung zu unterziehen usw. Kant schreibt daher auch, daß „diese [...] Verrückung [der W a h n s i n n (dementia), d. h. die Paranoia - C. R.] m e t h o d i s c h e r ] " N a t u r sei (Anthr. XII 530 Β 145); und in der Tat, es läßt sich sowohl bei Swedenborg wie auch bei Schreber so etwas wie eine regelrechte Systematisierungsmanie erkennen, gleich so, als könnten die Wahngebilde durch ihre Systematisierungen gewissermaßen wieder in Ordnung gebracht werden. [Vgl. 20. Exkurs] Zu guter Letzt sei noch auf eine Differenz zwischen Swedenborg und Schreber hingewiesen. Während Schreber in seinen täglichen Gebärden nicht weniger verrückt als in seinen Denkwürdigkeiten auftrat, kam Swedenborgs Verrückung nur in seinen Schriften, nicht jedoch in seinen täglichen Umgangsformen zum Ausdruck. Die von allen, die ihn zu Lebzeiten gekannt und erlebt haben, bestätigte und darum wohl auch kaum zu bezweifelnde Tatsache, derzufolge Swedenborg in seinem alltäglichen Auftreten wie ein ganz normaler Mensch, d. h. keineswegs verrückt erschienen sei, wurde insbesondere

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von den Swedenborgianern immer wieder als Beleg dafür angeführt, daß Swedenborg eben nicht verrückt gewesen sein konnte (war er es indes nicht, schließen sie dann weiter, so können es auch seine Schriften nicht sein). Ein Widerspruch? - welcher sich allerdings auch in diesem Fall aufklären läßt. Denn, wie wir von dem Psychoseforscher Jacques Lacan - immerhin ein Mann aus der klinischen Praxis - wissen, gibt es eine, wenn auch seltene, so doch kuriose Form von Psychose, welche sich fast ausschließlich in schriftlicher Form äußert - eine Form der Paranoia, welche Jacques Lacan (vgl. 1932) S c h i z o g r a p h i e nannte. Während also Schrebers Denkwürdigkeiten e i n Symptom (wie Freud meinte: einen Heilungsversuch) darstellen, s i n d Swedenborgs Schriften d a s Symptom; gleich so, als wären diese Schriften bei Swedenborg nicht die Darstellung (oder Verarbeitung) einer Halluzination, sondern der Wahn selbst: eine in schriftlicher Form aufgebaute phantastische Parallel-Traumwelt, aus der sich Swedenborg, von einer Fabulation zur anderen schreitend, nicht mehr herausbegeben sollte. Freilich kann der oben angeführte Vergleich nicht für sich in Anspruch nehmen, den förmlichen Beweis für Swedenborgs tatsächliche Psychose geliefert zu haben - aber die Parallelitäten zu dem sogenannten Fall Schreber (bezogen auf die wichtigsten Merkmale sowie auf das allgemeine Erscheinungsbild dieser Krankheit) fallen schon bei einer ersten oberflächlichen Betrachtung ins Auge. Es ist daher auch nicht verwunderlich, daß wir nicht die ersten und einzigen sind, denen die Gemeinsamkeit zwischen Swedenborg und den Psychotikern aufgefallen ist. Sowohl Alfred Lehmann (vgl. 1898) als auch Richard Adolf Hoffmann (vgl. 1909) hielten Swedenborg für tatsächlich wahnsinnig. Ferner hatte bereits E. Kleen in einem Vortrag Über Swedenborgs Psychose (vgl. 1914) die These vertreten, Swedenborg habe an P a r a p h r e n i e gelitten, ein Standpunkt, den er in einem Buch nochmals zu bekräftigen versuchte (1917-1920). [Vgl. 21. Exkurs] Aber Kleen war, wie Lamm (vgl. 1922) bemerkte, kein Psychiater (ebensowenig wie im übrigen Lamm selbst). Nun kommt der zweifelsohne bedeutendste Swedenborg-Monograph, Martin Lamm, an dieser heiklen Stelle etwas in Bedrängnis, indem er glaubt sich eingestehen zu müssen, daß ihm mangels besserer Kenntnis nichts anderes übrigbleibe, „als das zweifellos noch ungelöste Problem [von Swedenborgs Psychose] zu übergehen" (M. Lamm 1922 167). Entgegen dieser Verlegenheit wurde allerdings schon zu Lamms Zeiten ,das Gehörte', d. h. Swedenborgs Gespräch mit Geistern, von der Fachwelt durchaus als Halluzination verstanden und auch dementsprechend diskutiert; so bei Séglas (vgl. 1914). Ferner versichert uns auch Karl Jaspers in seinem Werk über Dichtung und Psychose (1977 158), daß „die Diagnose eines schizophrenen Prozesses bei Swedenborg [...] gewiß sei"; wobei wir nun hier tatsächlich das Urteil eines Fachmanns, nämlich das eines habilitierten Psychiaters und späteren Professors der Psychologie vernommen haben. Als Kuriosität könnte man noch den Aufsatz eines amerikanischen Arztes heranziehen, der ebenfalls Psychiater war, dafür jedoch das Glück oder Pech hatte, zugleich Swedenborgianer zu sein. Bei der

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Lektüre von Swedenborgs Schriften will Wilson van Düsen (vgl. 1967) „eine fast vollkommene Übereinstimmung mit den Erlebnissen [seiner] Patienten" herausgefunden haben, kommt dann allerdings zu dem doch recht unheimlichen Schluß, daß, da seine Patienten wahrredeten, auch Swedenborg die Wahrheit über die Geisterwelt gesagt haben müsse. Wir indes können nur hoffen, daß es diesem Psychiater nicht wie seinem Kollegen in Tschechows Zimmer Nr. 6 ergangen sein möge. Jedenfalls: Wenn auch dieses von der Fachwelt bislang noch „ungelöste Problem" an dieser Stelle sicherlich nicht abschließend geklärt werden kann, so sei doch umgekehrt auch Skepsis jenen Skeptikern gegenüber geboten, welche aus einer vorgeschobenen wissenschaftlichen Bescheidenheit heraus behaupten, weniger zu wissen, als sie wissen (oder doch zumindest wissen könnten), um sich, aus welchen guten oder schlechten Motiven heraus auch immer, in dieser Sache aus der Affäre zu ziehen. Es bleibt nicht nur eine Fülle von Indizien, sondern auch ein geschlossenes Krankheitsbild, bei welchem das eine Symptom zum anderen paßt, so daß - wenn man das heranzieht, was man bislang über die Psychose weiß - alles darauf hinweist, daß Swedenborg unter einer p a r a n o i d e n S c h i z o p h r e n i e bzw. unter einer S c h i z o p h r e n i e p a r a n o i d e n T y p u s gelitten hat. Zu welchem Resultat auch immer die Fachwelt in dieser Sache in Zukunft kommen mag - gesetzt, sie nimmt sich ihrer überhaupt noch einmal an - , für Kant selbst war der Fall klar. Obgleich es ihm in den Träumen nicht mehr, wie noch zu Zeiten der Krankheiten, darum ging, ob und wenn ja, so denn welche Krankheit bei Swedenborg vorliegen könnte, so kommt er doch nach der Untersuchung seines Gegenstandes zu dem Schluß, daß ein solcher Zustand wie der Swedenborgs „eine wirkliche Krankheit anzeigen" müsse (Τ II 950 A 55). Auch in dieser Sache nicht ganz frei von ironischen Untertönen, gibt er also zu bedenken, daß „da man es sonst nötig fand, bisweilen einige derselben [Adepten des Geisterreichs] zu b r e n n e n , es itzt gnug sein [wird], sie nur zu p u r g i e r e n " (Τ II 959 A 72), weswegen er es auch seinen Lesern keineswegs verdenken möchte, wenn sie „anstatt die Geisterseher vor Halbgötter einer anderen Welt anzusehen, sie [diese] kurz und gut als Kandidaten des Hospitals abfertigten], und sich dadurch alles weiteren Nachforschens überheb[ten]" (ebd.). - Ein gewaltiger Satz, der bei den Swedenborgianern bis zum heutigen Tag die allergrößte Empörung hervorgerufen hat [vgl. 22. Exkurs]; eine Empörung, die - wie wir meinen - bei anderen Aufklärern an der besseren Adresse gewesen wäre. [Vgl. 23. Exkurs] So geht es Kant in den Träumen nicht oder (im Unterschied zu den Krankheiten, wie gesagt:) nicht mehr um eine nosographische Einordnung von Swedenborgs Symptomen, sondern: um eine E r k e n n t n i s d e s W a h n s i n n s , „denn [ob - C. R.] gesund oder krank, [...] so will man nicht wissen, ob dergleichen auch sonsten geschehe, sondern wie dieser Betrug möglich sei" (Τ II 954 A 62)! Gemäß Kants Analyse handelt es sich bei Swedenborg um einen Phantasten (d. h. um einen Psychotiker), insofern „die Krankheit des

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P h a n t a s t e n nicht eigentlich den Verstand, sondern die Täuschung der Sinne betrifft" (Τ II 958 A 71). Ein Phantast ist für Kant indes gleichsam auch ein V e r r ü c k t e r , folglich jemand, dessen f o c u s i m a g i n a r i u s nach außen verlegt wurde, der also wahnhaft projiziert, sprich halluziniert, mit welcher Verrückung, auch im Sinne einer Vertauschung der Stellen des Bewußtseins und des Unbewußten, dann allerdings auch der p o s i t i v e W a h n s i n n , eine gespaltene Persönlichkeit sowie die Paranoia in ihren verschiedenen Formen, einhergeht.

B. Die empirisch-psychologische Wahntheorie Wir hatten gesehen, daß Kant bereits in dem Versuch über die Krankheiten des Kopfes (1764) sein ganzes Augenmerk auf die V e r k e h r t h e i t (die Verrücktheit - Phantasterei, den Wahnsinn und den Wahnwitz), d. h. auf die Psychose gerichtet hat. Während er jedoch in den Krankheiten die verschiedenen Formen des Wahns nur definierte, beschrieb und nosographisch einordnete, entwickelt er zwei Jahre später in den Träumen eines Geistersehers eine T h e o r i e d e r P s y c h o s e , d. h. eine Theorie, die das Funktionieren des Wahnsinns zum Gegenstand der Untersuchung macht. Diese Psychosetheorie entfaltet nun Kant anhand eines Koordinatensystems von drei Achsen. Die erste Achse befaßt sich mit einer Störung in der Position des Subjekts gegenüber seinem Gegenstand: demnach mit der Störung der Apprehension, also einer Störung bei der Wahrnehmung des Gegenstandes. Diese theoretische Achse wird durch eine P r o j e k t i o n s - b z w . H a l l u z i n a t i o n s T h e o r i e , des nach außen verschobenen focus imaginarius, gebildet; eine Theorie, mit welcher Kant zeigt, daß Wahnvorstellungen bzw. Halluzinationen sich in Form von Projektion vollziehen. Dabei handelt es sich bei dem, was da vom Subjekt auf die Gegenstände projiziert wird, um die vom Subjekt als unangenehm empfundenen Triebe, welche nicht, wie im Falle der ideas materiales, vom Geistigen ins Körperliche konvergiert, sondern in die Außenwelt projiziert werden. Die zweite Achse befaßt sich mit einer Störung innerhalb der Position des Subjektes: d. h. mit der Störung des ,Ichs' der Apperzeption oder, wie Kant später auch formuliert, der Störung des ,Ich denke' des rationalen Selbstbewußtseins. Diese theoretische Achse wird von einer T h e o r i e d e s U n b e w u ß t e n , den dunklen Vorstellungen, gebildet; eine Theorie, die letztendlich darauf hinweist, daß Swedenborg unter einer ,Ich'-Spaltung, einer Bewußtseinsspaltung oder Persönlichkeitsspaltung, kurzum an Schizophrenie gelitten hat. Bei dieser Täuschung vertauschen die Stellen oder die Topoi des Be-

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ZWEITER TEIL: DIE PSYCHOLOGIE

wußtseins und des Unbewußten ihre Plätze (nicht jedoch ihre Inhalte) und das Unbewußte wird statt nach innen in die Außenwelt verschoben bzw. verrückt. Die dritte Achse befaßt sich mit einer Störung des Außenverhältnisses von Subjekt und Gegenstand, d. h. mit der Störung der Bindung von Subjekt und Objekt aus der Außensicht betrachtet. Diese theoretische Achse wird von einer T h e o r i e d e r P a r a n o i a gebildet; einer Theorie, derzufolge es unsere höheren Erziehungsbegriffe und deren Anforderungen sind, also die psychische Instanz des ,Über-Ichs' oder des ,Vaters', die da in Swedenborgs Geisterreich projiziert werden, um dann allerdings als paranoides Wahnsystem, als Wiedergänger, .revenants', wie man die Gespenster bezeichnenderweise auch nennt, halluzinatorisch zum Subjekt zurückzukehren. Mit diesen drei theoretischen Achsen, mit seiner Projektions- bzw. Halluzinationstheorie in Hinblick auf die Untersuchung einer Störung der Position des Subjekts gegenüber seinem Gegenstand, mit seiner Theorie des Unbewußten bzw. der Bewußtseinsspaltung hinsichtlich der Untersuchung einer Störung innerhalb der Position des Subjekts sowie mit seiner Theorie der Paranoia in Hinblick auf eine Untersuchung der Störung im Außenverhältnis von Subjekt und Gegenstand, zeichnet uns Kant das präzise Koordinatensystem einer Theorie der Psychose, die nicht alleine in prägnanter Form das Phänomen Swedenborg theoretisch begreift, sondern sich auch modernen Psychosetheorien in erstaunlicher Weise annähert. Schauen wir uns daher diese drei theoretischen Achsen im einzelnen an.

d) Focus imaginarius - Projektion und Wahrnehmung Durch ein Teleskop sah eine Dame im Monde die Schatten zweier Verliebter; ihr Pfarrer aber - der nachher dadurch beobachtete - sah zwei Kirchtürme. (KdK II 894 A 22 u. Anthr. X I I 4 8 2 BA 87) Der Naturaliensammler sieht im Florentienerstein Städte, der Anächtige im Gefleckten Marmor die Passionsgeschichte. (KdK II 894 A 22) So glaubt ein Schwärmer alle seine Hirngespinste und eine jede Sekte ihre Lehren in der Bibel zu finden. (Kant nach N. Hinske 1988)

Kant zufolge handelt es sich also bei Swedenborg um einen Psychotiker, um einen Phantasten, d. h. nach der Terminologie der Krankheiten um einen Verrückten, den er in den Träumen jedoch auch als einen Wahnsinnigen, d. h. als einen Paranoiker bezeichnet, damit um eine Person, deren Sinneswahrnehmung gestört ist. Wenn Swedenborg meint, Geister gesehen, gehört oder gar

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gefühlt zu haben, so hat er offensichtlich Hirngespinste oder Hirngespenster, Chimären oder Blendwerke, mithin Halluzinationen wahrgenommen. Mit anderen Worten: Swedenborg leidet unter Wahnvorstellungen oder, genauer gesagt, unter Wahnwahrnehmungen, und da stellt sich fur Kant die Frage, wie es zu derartigen Scheinerfahrungen oder Scheinempfindungen kommen kann; eine Frage, die er mit einer Theorie der Projektion beantwortet. Wenn auch Kant dabei den heutigen Terminus der Projektion freilich nicht gebraucht und der Begriff Blendwerk(e) sich doch mehr auf das Produkt einer Halluzination als auf den Vorgang der Projektion selbst bezieht - , so beschreibt doch indes wiederum der Vorgang, demzufolge „ d e r f o c u s i m a g i n a r i u s außerhalb dem d e n k e n d e n Subjekt gesetzt [wird], und das Bild, w e l c h e s ein Werk der b l o ß e n E i n b i l d u n g ist, als ein G e g e n s t a n d v o r g e s t e l l t [wird], der den ä u ß e r e n Sinnen geg e n w ä r t i g w ä r e " (T II 957 A 68f, Herv. C. R.), genau jenen Prozeß, den wir heute als Projektion bezeichnen. In der Kantischen Darstellung werden wir im Folgenden zweierlei unterscheiden: zum ersten den Vorgang der Projektion als solchen, w i e p r o j i z i e r t w i r d , zum zweiten die Inhalte der Projektion als das, w a s p r o j i z i e r t w i r d . Sodenn: „Von wachenden Träumern [welche nämlich trotz ihrer Tagträumereien das Urbild vom Schattenbild, somit das Äußere vom Innern noch zu unterscheiden wissen - C. R.] sind [...] die Geisterseher nicht bloß dem Grade, sondern der Art nach gänzlich unterschieden. Denn diese referieren im Wachen und oft bei der größten Lebhaftigkeit anderer Empfindungen gewisse Gegenstände unter die äußerliche Stellen der andern Dinge, die sie wirklich um sich wahrnehmen, und die Frage ist hier nur, wie es zugehe, daß sie d a s B l e n d w e r k i h r e r E i n b i l d u n g a u ß e r s i c h v e r s e t z e n [Herv. C. R.], und zwar in Verhältnis auf ihren Körper, den sie auch durch äußere Sinne empfinden. Die große Klarheit ihres Hirngespinstes kann hievon nicht die Ursache sein, denn es kommt hier auf den Ort an, wohin es als ein Gegenstand versetzt ist, und daher verlange ich, daß man zeige, wie die Seele ein solches Bild, was sie doch, als in sich enthalten, vorstellen sollte, in ein ganz ander Verhältnis, nämlich in einen Ort ä u ß e r l i c h und unter die Gegenstände versetze, die sich ihrer wirklichen Empfindung darbieten. Auch werde ich mich durch die Anführung anderer Fälle, die einige Ähnlichkeit mit solcher Täuschung haben und etwa im fieberhaften Zustande vorfallen, nicht abfertigen lassen; denn gesund oder krank, wie der Zustand des Betrogenen auch sein mag, so will man nicht wissen, ob dergleichen auch sonsten geschehe, sondern wie dieser Betrug möglich sei" (T II 954 A 61f). Dieser Frage geht Kant in den Träumen mit zwei unterschiedlichen Gedankensträngen nach: zum einen mit einer deskriptiven Darstellung des allgemeinen, ,normalen' Projektionsvorgangs, den er von außen beschreibt; zum anderen mit einer theoretischen Darstellung des pathologischen, insbesondere halluzinatorischen Projektionsvorgangs, den er von innen beschreibt. Der ersten

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ZWEITER TEIL: D I E PSYCHOLOGIE

Darstellung werden wir uns in einem Unterabschnitt I, der zweiten in einem Unterabschnitt II zuwenden.

I. Die Geschichte der Bettvorhänge Bei der Beschreibung des zweideutigen Anscheins von Phantasterei (in den Krankheiten, dort in dem Zerbrechen des Rationalismus am Wahn) hatten wir ja bereits gesehen, daß der Vorgang der Projektion nicht nur der wahnhaften, sondern generell aller Erkenntnis eigen ist und daß die Beantwortung der Frage, ob etwas als Erkenntnis imaginiert oder aber als Wahn phantasiert bzw. halluziniert wird, nicht mit dem Vorgang der Projektion als solchem, sondern mit der Art und Weise des Projizierens - „der notwendigen Verknüpfung der Erscheinungen in einer Erfahrung" - zusammenhängt. Und so wiederholt Kant in den Träumen, wenn auch nur in einer Fußnote, nahezu wortwörtlich nochmals jene Passage zur Projektion, die er schon in den Krankheiten vorgestellt hat; jene Geschichte, die als das S c h l ü s s e l e r l e b n i s K a n t s oder als der Schlüsselgedanke für alle weitere Kritik angesehen werden kann - jene Geschichte des Erwachens (welche in Analogie zu Piatons Höhlengleichnis sicherlich auch als eine Aufklärungsmetapher zu verstehen ist): d i e G e schichte der B e t t v o r h ä n g e . „Eine sehr gemeine [d. h. keineswegs nur krankhafte - C. R.] Erfahrung kann mit dieser Täuschung [der Projektion also - C. R.] verglichen werden. Wenn man nach vollbrachtem Schlafe mit einer Gemächlichkeit, die einem Schlummer nahe kommt, und gleichsam mit gebrochnen Augen die mancherlei Fäden der Bettvorhänge oder des Bezugs oder die kleinen Flecken einer nahen Wand ansieht, so macht man sich daraus leichtlich Figuren von Menschengestalten und dergleichen. Das Blendwerk hört auf, so bald man will und die Aufmerksamkeit anstrengt. Hier ist die Versetzung des foci imaginarii der Phantasien der Willkür einigermaßen unterworfen, da [wohingegen - C. R.] sie bei der Verrückung durch keine Willkür kann gehindert werden" (T II 957 A 68 Fn.). Man sieht an dieser Geschichte, daß bei einem Erkenntnisvorgang während des Erwachens eine innere (Traum-) Vorstellung (Figuren von Menschengestalten und dergleichen) auf äußere Gegenstände (auf die Bettwäsche, auf die Bettvorhänge, auf eine nahe Wand) im kinematographischen Sinne des Wortes wie auf eine Leinwand (oder eben: wie auf einen D r e a m S c r e e n ) projiziert, der focus imaginarius nach außen - in einer Verschiebung - erst auf die Bettdecke, dann auf die Bettvorhänge, schließlich auf eine nahe Wand versetzt wurde und diese Verknüpfungen (nicht jedoch der Vorgang des Imaginierens und Projizierens als solcher) offenbar falsch waren - d. h. beim vollständigen Erwachen der O r t d e s I m a g i n i e r t e n ( f o c u s i m a g i n a r i u s ) wieder an den richtigen Platz gestellt werden konnte: Die ,Figuren von Menschengestalten' befinden sich nicht ,an der nahen Wand', sondern in unserem

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Kopf; was sich auf der nahen Wand befindet, das ist eine andere Verstandesvorstellung, wiederum aus unserem Kopf, nämlich ,die kleinen Flecken'. Man weiß indes auch, daß eine analoge Täuschung später in der Kritik der reinen Vernunft ihren Namen bekommen wird - nämlich: die Amphibolie, welche ja genau darin besteht, ein Ding für uns (d. h. ein Phaenomenon) für ein Ding an sich (d. h. ein Noumenon) zu halten, indem der Amphiboliker beispielsweise glaubt, die Dreiecke, welche sein Verstand des Morgens beim Erwachen auf die Vorhänge projiziert, würden sich tatsächlich auf den Vorhängen befinden - obgleich, wie wir nach Kant wissen, ein Dreieck ein Verstandesbegriff ist, mit welchem wir ,für uns' die Natur begreifen, der jedoch in der Natur ,an sich' nicht anzutreffen ist (es sei denn freilich, wir hätten schon vorab die Natur nach dieser unserer Verstandesvorstellung geformt und beispielsweise die Dreiecke auf die Vorhänge gedruckt). Auf diese Art und Weise ist es uns möglich, dasjenige in der Struktur der Vorhänge (wieder-) zu erkennen, was wir zuvor auf sie projiziert haben: eben unsere Verstandesbegriffe selbst. Alleine der Unterschied zwischen dieser „gewöhnlichen Erfahrung" bzw. der Täuschung des Tagträumers und der des Psychotikers, Phantasten (Verrückten oder Wahnsinnigen) besteht darin, daß der erste seine Phantasien noch in seiner Gewalt hat (d. h. zwischen innen und außen, wenn er es denn will, noch zu unterscheiden vermag), während der letztere von seinen in die Außenwelt projizierten Phantasien, welche wie im Echo als Halluzinationen zu ihm zurückzukommen scheinen, gänzlich dominiert wird. In den Träumen wiederholt Kant noch eine weitere die Projektion betreffende Passage aus den Krankheiten, welche er jetzt jedoch etwas verändert, womit er die Darstellung des Vorgangs der Projektion um einen wichtigen Gedanken erweitert. Kant schreibt: „Nichts destoweniger herrscht darinnen [in Swedenborgs Wahnvorstellungen - C. R.] eine so wundersame Übereinkunft mit demjenigen, was die feineste Ergrübelung der Vernunft über den ähnlichen Gegenstand herausbringen kann, daß der Leser mir es verzeihen wird, wenn ich hier diejenige Seltenheit in den Spielen der Einbildung finde, die so viel andere Sammler in denen Spielen der Natur angetroffen haben, als wenn sie etwa im fleckigten Marmor die heilige Familie, oder in Bildungen von Tropfstein, Mönche, Taufstein oder Orgeln, oder sogar wie der Spötter Liscow auf einer gefrorenen Fensterscheibe die Zahl des Tieres und die dreifache Krone entdecken; lauter Dinge, die niemand sonsten sieht, als dessen Kopf schon vorher damit angefüllet ist" (Τ II 973 A 97f). Hier verdichten sich mehrere Gedanken. Zum ersten sehen die Menschen, wie Kant bereits in der Vergleichspassage in den Krankheiten (KdK II 894f A 23) ausgeführt hatte, „durch eine gewöhnliche Verblendung nicht was da ist, sondern was ihnen ihre Neigung vormalt" - die Projektion funktioniert hier nach dem Muster der professionellen Deformation: Die Menschen nehmen ihre Umwelt so wahr, wie sie selbst geprägt sind. Zum zweiten insistiert Kant deutlich, nicht zuletzt mit dem Witz von Liscow, auf dem Zusammenhang

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ZWEITER TEIL: D I E PSYCHOLOGIE

zwischen dem projektiven Wahn und der Religion - nämlich in den Eisblumen einer gefrorenen Fensterscheibe die Zeichen der Apokalypse sehen zu wollen. Dieses Verhältnis läßt sich dann auch, wie bereits schon in der Vergleichspassage der Krankheiten, durchaus umkehren, wenn etwa „der Schrecken aus den Strahlen des Nordlichts Spieße und Schwerter und bei der Dämmerung aus einem Wegweiser ein Riesengespenst" macht (ebd.), womit wiederum ein Grund für die, gerade auch in der Religion, nach außen projizierten Schrekkensvisionen benannt wurde, nämlich: die Angst. Zum dritten deutet Kant mit den Eisblumen auf der gefrorenen Fensterscheibe zumindest an, daß das, was dort auf die Fensterscheibe projiziert wird, unsere jeweiligen (wenn auch mitunter verrückten) Verstandesbegriffe selbst sind - wobei man (wie hier bei der analogen Struktur zwischen Eisblumen auf einer gefrorenen Fensterscheibe und der Textur einer Blume) zu dem k r i t i s c h e n S c h l u ß kommen kann, daß diese in der Außenwelt anzutreffenden Übereinstimmungen, die Einheit des Mannigfaltigen in zwei ähnlich strukturierten Gegenständen, nicht auf diese Gegenstände selbst, sondern auf unseren subjektiven Verstand, auf die Verknüpfung der Erscheinungen in unserer Erfahrung, zurückzuführen sind. Somit sind es dann unsere auf äußere Gegenstände nur projizierten Verstandesbegriffe selbst, die sich in der Einheit irgendeines Mannigfaltigen wiedererkennen lassen. (Ob diese Wiedererkennung dann richtig imaginiert oder wahnhaft phantasiert wurde, bleibt dabei eine andere Frage). Zu diesen drei Formen von projektivem Wahn (der gewöhnlichen professionellen Deformation, dem religiösen Wahn sowie dem Wahn unserer Verstandesbegriffe) kommt jedoch noch eine entscheidende Reflexion hinzu nämlich die Übereinstimmung zwischen Swedenborgs Wahnvorstellungen einerseits und den Vernunftkonstruktionen der Philosophie andererseits; eine Übereinstimmung, die für Kant das eigentliche Skandalon an dem Phänomen Swedenborg ausmacht (eine Übereinstimmung, auf die wir im Kapitel über die Paranoia noch zurückkommen werden). Wenn nun Kant diese Übereinstimmung mit den drei obigen Fällen vergleicht, so kann dies mehreres bedeuten. Zum einen projiziert ein jeder das, was er mit sich trägt, der Tischler Tische, der Religiöse die Apokalypse und Swedenborg, der ja nun mal philosophisch geschult ist, eben die Philosophie - insofern ist es mithin kein Wunder, in Swedenborgs m u n d u s s p i r i t u u m philosophische Systeme wiederzufinden. Zum anderen bringt Kant eine „Seltenheit in den Spielen der Einbildung" (ebd.) mit ins Spiel - soll heißen: die Übereinstimmung, die hier stattfindet, könnte rein zufalliger Natur sein, „wie Dichter bisweilen, wenn sie rasen, weissagen, wie man glaubt, oder wenigstens wie sie selbst sagen, wenn sie dann und wann mit dem Erfolge zusammentreffen" (Τ II 973 A 96f). Nicht zuletzt könnte es jedoch auch die Struktur der Projektion selbst sein, welche, auf einen äußeren Gegenstand geworfen, eine gewisse Vernunft - bei einem noch so wahnsinnigen System - wiedererkennen läßt, da, wie Kant sich

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später an anderer Stelle ausdrücken wird, „ohne irgend ein Gesetz gar nichts, selbst nicht der größte Unsinn, sein Spiel lange treiben [kann]" (Do V 281 A 326). [Vgl. 24. Exkurs]

II. Die

Halluzinationstheorie

Im folgenden entwickelt Kant seine Halluzinationstheorie anhand der Beispiele von zwei Sinnen, nämlich dem G e s i c h t s s i n n und dem G e h ö r s i n n , wohl weil diese beiden Sinne als Fernsinne die intellektuellen Sinne par excellence darstellen - „welche beide Sinne durch die Eindrücke im Gehirne bewegt werden, indem ihre Organen auch diesem Teile am nächsten sind" (Τ II 932 A 22 Fn.) - , womit bereits eine Erklärung dafür gegeben wäre, weshalb gerade der Gesichtssinn und der Gehörsinn jene beiden Sinne sind, über die sich Halluzinationen am ehesten manifestieren. Kant schreibt: „Wir finden aber bei dem Gebrauch der äußeren Sinne, daß über die Klarheit, darin die Gegenstände vorgestellt werden, man in der Empfindung auch ihren Ort mit begreife, [...] als eine notwendige Bedingung der Empfindung, ohne welche es unmöglich wäre, die Dinge als außer uns vorzustellen. Hierbei wird es sehr wahrscheinlich: daß unsere Seele das empfundene Objekt dahin in ihrer Vorstellung versetze, wo die verschiedenen Richtlinien des Eindrucks, die dasselbe gemacht hat, wenn sie fortgezogen werden, zusammenstoßen. Daher sieht man einen strahlenden Punkt an demjenigen Orte, wo die von dem Auge in der Richtung des Einfalls der Lichtstrahlen zurückgezogene Linien sich schneiden. Dieser Punkt, welchen man den Sehepunkte nennt, ist zwar in der Wirkung der Z e r s t r e u u n g s p u n k t , aber in der Vorstellung der S a m m e l p u n k t der Direktionslinien, nach welchen die Empfindung eingedrückt wird (focus imaginarius). So bestimmt man selbst durch ein einziges Auge einem sichtbaren Objekte den Ort, [...], gerade da, wo die Strahlen, welche aus einem Punkte des Objekts ausfließen, sich schneiden, ehe sie ins Auge fallen. Vielleicht kann man eben so bei den Eindrücken des Schalles, weil dessen Stöße auch nach geraden Linien geschehen, annehmen: daß die Empfindung desselben zugleich mit der Vorstellung eines foci imaginarii begleitet sei, der dahin gesetzt wird, wo die geraden Linien des in Bebung gesetzten Nervengebäudes im Gehirne äußerlich fortgezogen zusammenstoßen. Denn man bemerkt die Gegend und Weite eines schallenden Objekts einigermaßen, wenn der Schall gleich leise ist und hinter uns geschieht, ob schon die gerade Linien, die von da gezogen werden können, eben nicht die Eröffnung des Ohrs treffen, sondern auf andere Stellen des Haupts fallen, so daß man glauben muß, die Richtungslinien der Erschütterung werden in der Vorstellung der Seele äußerlich fortgezogen, und das schallende Objekt in den Punkt ihres Zusammenstoßes versetzt. Eben dasselbe kann, wie mich dünkt, auch von den übrigen drei Sinnen gesagt werden, welche sich darin von dem Gesichte und dem Gehör

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ZWEITER TEIL: D I E PSYCHOLOGIE

unterscheiden, daß der Gegenstand der Empfindung mit den Organen in unmittelbarer Berührung stehet, und die Richtlinien des sinnlichen Reizes daher in diesen Organen selbst ihren Punkt der Vereinigung haben. [...] Wenn man dieses einräumt, so dünkt mich, daß ich über diejenige Art von Störung des Gemüts, die man den Wahnsinn und im höhern Grad die Verrückung nennt, etwas Begreifliches zur Ursache anführen könne. Das Eigentümliche dieser Krankheit bestehet darin: d a ß d e r v e r w o r r e n e M e n s c h bloße G e g e n s t ä n d e seiner E i n b i l d u n g außer sich versetzt, u n d a l s w i r k l i c h v o r i h m g e g e n w ä r t i g e D i n g e a n s i e h t (Herv. C. R.). Nun habe ich gesagt: daß nach der gewöhnlichen Ordnung die Direktionslinien der Bewegung, die in dem Gehirne als materielle Hülfsmittel die Phantasie begleiten, sich innerhalb demselben durchschneiden müssen, und mithin der Ort, darin er sich seines Bildes bewußt ist, zur Zeit des Wachens in ihm selbst gedacht werde. Wenn ich also setze: daß, durch irgend einen Zufall oder Krankheit, gewisse Organen des Gehirnes so verzogen und aus ihrem gehörigen Gleichgewicht gebracht sein, daß die Bewegung der Nerven, die mit einigen Phantasien harmonisch beben, nach solchen Richtungslinien geschieht, welche fortgezogen sich außerhalb dem Gehirne durchkreuzen würden, so ist d e r f o c u s i m a g i n a r i u s a u ß e r h a l b d e m d e n k e n d e n S u b j e k t g e s e t z t , u n d d a s B i l d , w e l c h e s ein W e r k d e r b l o ß e n E i n b i l d u n g ist, wird als ein G e g e n s t a n d v o r g e s t e l l t , der d e n ä u ß e r e n S i n n e n g e g e n w ä r t i g w ä r e [...] (Herv. C. R.). Dieser Betrug kann einen jeden äußeren Sinn betreffen, denn von jeglichem haben wir kopierte Bilder in der Einbildung, und die Verrückung des Nervengewebes kann die Ursache werden, den focum imaginarium dahin zu versetzen, von wo der sinnliche Eindruck eines wirklich vorhandenen körperlichen Gegenstandes kommen würde. Es ist alsdenn kein Wunder, wenn der Phantast manches sehr deutlich zu sehen oder zu hören glaubt, was niemand außer ihm wahrnimmt, imgleichen wenn diese Hirngespenster ihm erscheinen und plötzlich verschwinden, oder indem sie etwa einen Sinn, z. E. dem Gesichte, vorgaukeln, durch keinen andern, wie z. E. das Gefühl, können empfunden werden und daher durchdringlich scheinen. Die gemeine Geistererzählungen laufen so sehr auf dergleichen Bestimmungen hinaus, daß sie den Verdacht ungemein rechtfertigen, sie können wohl aus einer solchen Quelle entsprungen sein. Und so ist auch der gangbare Begriff von g e i s t i g e n W e s e n , [...], dieser Täuschung sehr gemäß, und verleugnet ihren Ursprung nicht; weil die Eigenschaft der durchdringlichen Gegenwart im Räume das wesentliche Merkmal dieses [Geist- - C. R.] Begriffes ausmachen soll" (T II 954ff A 63ff). Es werden somit nicht nur von phantasierenden Schwärmern Geister ins Geisterreich projiziert, sondern auch umgekehrt stellt der G e i s t b e g r i f f gleich als wäre er ein mimetischer Abzug der Geisterseherei - die Projektion par excellence dar (hiervon jedoch später). Nun mag man beim Lesen des Vorangegangenen den Eindruck gewonnen haben, Kant würde, um den Vorgang der Projektion zu beschreiben, doch allzu

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physiologisch argumentieren. Entscheidend bei dieser Darstellung des Projektionsvorgangs ist indes nicht, daß sich Kant hier bei der Beschreibung eines psychologischen Vorgangs einer physiologischen Sprache bedient (dies haben, mangels besserer Metaphern, die Psychologen nach ihm und selbst Freud oft genug auch nicht anders gehandhabt); entscheidend ist der Vorgang selbst, wie ihn Kant hier beschreibt. Und da ist der - allerdings, zumal zu jener Zeit, revolutionäre und im übrigen auch durchaus schon kritische - Gedanke doch jener, daß die Eindrücke, die man (wie es sprachlich so schön heißt:) empfangt, nicht alleine in einer passiven Rezeptivität von außen nach innen (d. h. in der Apprehension des Gegenstandes), sondern ebenso in einer aktiven Imagination von innen nach außen (d. h. in der Apperzeption des Subjekts) bestehen. Der Fehler, der hier bei der falschen Wahrnehmung des Gegenstandes bzw. bei der Halluzination auftritt, hat mit dem Empfangen der Eindrücke von außen nach innen recht wenig zu tun, sondern liegt offenbar daran, daß von innen nach außen falsch, oder an eine falsche Stelle verrückt, projiziert wird. Eben dies bekundet auch, Kant zufolge, die etymologische Herkunft des Wortes H a l l u z i n a t i o n - „[...] wenn man im Gehen an einen frei liegenden Straßenstein (mit dem großen Zeh, davon das Wort h a l l u c i n a r i hergenommen) stößt [...]" und dann wie ein Kind behauptet: ,halluzinari! Der Stein hat mich gehauen!' (Anthr. XII 587 Β 211 A212, Herv. C. R.). Letzteres bedeutet jedoch, daß Kant schon in den Träumen - und zwar wie gesagt: k r i t i s c h - die Kausalität innerhalb des Erkenntnisvorgangs vollkommen auf den Kopf stellt, womit der entscheidende Gedanke der Kritik der reinen Vernunft bereits vollzogen ist: Erkenntnis besteht demnach nicht mehr vorrangig in einer Rezeptivität der Eindrücke von außen nach innen, sondern in einer Verstandesproduktion von innen nach außen, welche dann auf die äußeren Gegenstände projiziert wird. So konnte Kant sehr viel später in den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik; die als Wissenschaft wird auftreten können (1783) schreiben: „[...] und da in [der m ö g l i c h e n Erfahrung] die Gesetzmäßigkeit auf der notwendigen Verknüpfung der Erscheinungen in einer Erfahrung (ohne welche wir ganz und gar keinen Gegenstand der Sinnenwelt erkennen könnten), mithin auf den ursprünglichen Gesetzen des Verstandes beruht, so klingt es zwar anfangs befremdlich, ist aber nichtsdestoweniger gewiß, wenn ich in Ansehung der letzteren sage: d e r V e r s t a n d s c h ö p f t s e i n e G e s e t z e (a priori) n i c h t a u s d e r N a t u r , s o n d e r n s c h r e i b t s i e d i e s e r v o r " (Prol. V 189 A 113). Mit all dem bislang Referierten ist jedoch für den Kant der Träume noch immer nicht hinreichend geklärt, wodurch in dem Vorgang des Projizierens selbst eine mit Erkenntnis versehene Imagination von einer wahnsinnigen Phantasterei unterschieden werden kann. Um der Beantwortung dieser Frage (die freilich erst mit der Kritik der reinen Vernunft befriedigend geklärt werden wird) ein Stück näher zu kommen, untersucht Kant in den Träumen zwei weitere ganz entscheidende Bestandteile der Projektion: einerseits von welchem Subjekt aus wahnhaft projiziert wird und andererseits was da, und zwar nicht

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ZWEITER TEIL: DIE PSYCHOLOGIE

als einzelne Gegenstände, sondern als psychische Instanzen, projiziert wird. Der ersten Frage werden wir uns im übernächsten Unterkapitel über die d u n k l e n V o r s t e l l u n g e n widmen: Das Subjekt, von dem aus wahnhaft projiziert bzw. halluziniert wird, ist ein gespaltenes Subjekt; die Wahnvorstellung entspricht dem unbewußten, nach außen projizierten, abgespaltenen Ich. Was jedoch die zweite Frage nach dem psychischen Inhalt des Projizierten anbelangt, so werden wir diese im folgenden Unterkapitel mit Kants Konversionstheorie (den i d e a s m a t e r i a l e s ) teilweise beantworten: Dort werden es die Triebe selbst sein, welche ins Geisterreich projiziert werden. Kant nennt jedoch auch noch eine weitere psychische Instanz für das, was da projiziert wird; jene Instanz des ,Über-Ichs', der wir uns im Unterkapitel über den Zusammenhang zwischen einem mundus intelligibilis und einem mundus paranoidis zuwenden werden.

e) Ideas materiales - Neurologie und Verstandestätigkeit Nihil est in intellectu quod non fuerit in sensu. [Nichts ist im Verstand, was nicht zuvor in den Sinnen war.]

John Locke Ein Bindeglied zwischen Kants Projektionstheorie und seiner Theorie des Unbewußten wird durch eine Konversionstheorie gebildet, welche zeigt, daß Projektionen nach dem gleichen Vorgang wie die Übersetzung psychischer Leiden in physische Leiden funktionieren; alleine, daß bei der Konversion die Affekte nach innen (auf den eigenen Körper) übertragen werden, während sie bei der Projektion nach außen (auf fremde Körper) verschoben werden - ein nicht unerhebliches Gedankenscharnier, welches wir uns hier kurz anschauen wollen. „In der Bangigkeit - schreibt Kant - oder in der Freude scheint die Empfindung ihren Sitz im Herzen zu haben. Viele Affekten, ja die mehresten, äußern ihre Hauptstärke im Zwerchfell. Das Mitleiden bewegt die Eingeweide, und andre Instinkte äußern ihren Ursprung und Empfindsamkeit in andern Organen. Die Ursache, die da macht, daß man die n a c h d e n k e n d e Seele vornehmlich im Gehirne zu empfinden glaubt, ist vielleicht diese. Alles Nachsinnen erfordert die Vermittelung der Z e i c h e n vor die zu erweckende Ideen, um in deren Begleitung und Unterstützung diesen den erforderlichen Grad Klarheit zu geben. Die Zeichen unserer Vorstellungen aber sind vornehmlich solche, die entweder durchs Gehör oder das Gesicht empfangen sind, welche beide Sinne durch die Eindrücke im Gehirne bewegt werden, indem ihre Organen auch diesem Teile am nächsten liegen. Wenn nun die Erweckung dieser Zeichen, welche Cartesius i d e a s m a t e r i a l e s nennt [Herv. C. R.], eigentlich eine Reizung der Nerven zu einer ähnlichen Bewegung mit deqenigen ist, welche die Empfindung ehedem hervorbrachte, so wird das Gewebe

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des Gehirns im Nachdenken vornehmlich genötiget werden, mit vormaligen Eindrücken harmonisch zu beben, und dadurch ermüdet werden. Denn wenn das Denken zugleich affektvoll ist, so empfindet man nicht allein Anstrengungen des Gehirnes, sondern zugleich Angriffe der reizbaren Teile, welche sonst mit den Vorstellungen der in Leidenschaft versetzten Seele in Sympathie stehen" (Τ II 932f A22f Fn.). Was Kant hier beschreibt, „ w e n n d a s D e n k e n z u g l e i c h a f f e k t v o l l i s t " und gewisse Gedanken bzw. Affekte sich in bestimmte körperliche Leiden umsetzen (wie Furcht oder Freude, die das Herz zum Rasen bringen, oder das Mitleiden, welches auf den Magen schlägt), ist jener Prozeß, den wir heute K o n v e r s i o n nennen. Die ideas materiales bezeichnen nun jenen neuralgischen Punkt, an welchem bestimmte Gedanken, Vorstellungen oder Affekte die Nerven reizen und so zu einem Symptom in einem Körperteil führen. Man sieht schon hieran, daß diese wissenschaftliche Beschreibung Kants - eine Beschreibung von außen - sich auf das bezieht, was Swedenborg mit seiner Lehre von den Entsprechungen - etwa jener zwischen dem Herzen und der Idee des Guten - entweder am eigenen Körper oder im vermeintlichen Geisterreich empfunden haben will. Kant artikuliert daher die Konversionslehre der ideas materiales mit seiner Projektionstheorie des focus imaginarius, indem er schreibt: „Um dieses auf die Bilder der Einbildung anzuwenden, so erlaube ich mir dasjenige, was C a r t e s i u s annahm und die mehresten Philosophen nach ihm billigten, zum Grunde zu legen [vgl. 25. Exkurs]: nämlich, daß alle Vorstellungen der Einbildungskraft zugleich mit gewissen Bewegungen in dem Nervengewebe oder Nervengeiste des Gehirnes begleitet sind, welche man ideas materiales nennt, d. i. vielleicht mit der Erschütterung oder Bebung des feinen Elements, welches von ihnen abgesondert wird, und die deqenigen Bewegung ähnlich ist, welche der sinnliche Eindruck machen könnte, wovon er die Kopie ist. Nun verlange ich aber mir einzuräumen: daß der vornehmste Unterschied der Nervenbewegung in Phantasien von der in der Empfindung darin besteht, daß die Richtlinien der Bewegung bei jenem sich innerhalb dem Gehirne, bei dieser aber außerhalb schneiden; daher, weil der focus imaginarius, darin das Objekt vorgestellt wird, bei den klaren Empfindungen des Wachens außer mir, der von den Phantasien aber, die ich zu der Zeit etwa habe, in mir gesetzt wird, ich, so lange ich wache, nicht fehlen kann, die Einbildungen als meine eigene Hirngespinste von dem Eindruck der Sinne zu unterscheiden" (T II 956 A 66f). Das hier Beschriebene indes betrifft den Tagträumer oder den Somatisierenden - wohingegen die Sache beim Psychotiker, beim Verrückten oder beim Wahnsinnigen noch weiter geht, indem nämlich „die Bewegung der Nerven, die mit einigen Phantasien harmonisch beben [also die ideas materiales - C. R.], nach solchen Richtungslinien geschieht, welche fortgezogen sich außerhalb dem Gehirne durchkreuzen würden, so [daß - C. R.] der focus imaginarius außerhalb dem denkenden Subjekt gesetzt, und das Bild, welches ein Werk der bloßen Einbildung ist, als ein

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ZWEITER TEIL: DIE PSYCHOLOGIE

Gegenstand vorgestellt [wird], der den äußeren Sinnen gegenwärtig wäre" (T II 957A67Í). Mit anderen Worten: Während die einen (meinethalben die Neurotiker) bestimmte psychische Leiden in physische Leiden konvergieren (und sich folglich diese Leiden als ihrem eigenen Körper zugehörig vorstellen), projizieren die anderen (in diesem Fall wohl die Psychotiker) ihr psychisches Leiden nach außen (derart, daß sie sich dieses also als außerhalb ihres Körpers vorstellen). Das projizierte Material sind in diesem Falle - und zwar nicht alleine als jeweilige Einzelfälle, sondern als psychische Instanz - d i e A f f e k t e , d. h. die Triebe selbst. Insgesamt muß allerdings festgehalten werden, daß die i d e a s m a t e r i a l e s , abgesehen von dem hier dargestellten Zusammenhang bestenfalls episodisch waren und vor allem keinerlei Einfluß auf Kants weitere Theoriebildung ausgeübt haben. Dieses ist um so erstaunlicher, als sich die physiologischen und neurologischen Hirnforschungen seit der Neuzeit (d. h. seit Lockes Noogonie) behauptet und seit dem Zeitalter der Aufklärung (mit Hartleys Assoziationspsychologie) durchgesetzt haben. Kant schlägt hier jedoch den genau umgekehrten Weg ein, und dies bereits im Ansatz seiner Nachforschungen. Weder ist er an den physiologischen Determinationen des Denkens noch an den Schnittpunkten von Denken und Materie (z. B. der Neurologie) interessiert. Sein Interesse gilt den der Vernunft selbst eigenen Gesetzen, und diese können nur m e t a - p h y s i s c h sein.

f) Dunkle Vorstellungen - Unbewußtsein und Spaltung Ibant obscuri sola sub nocte per umbras Perque domos ditis vacuas et inania regna -

Virgilius (Τ II 936 A 29) [Sie gingen im Dunkeln in einsamer Nacht durch die Schatten, durch die öden Behausungen Plutos und die leeren Reiche -

Vergil, Aeneis VI, 268f] Im folgenden wird das Kapitel über die ,dunklen Vorstellungen' in vier Unterabschnitte gegliedert. Dabei umfaßt der erste Abschnitt (I) die Begriffsklärung nebst einigen Reflexionen, wie sie in der Anthropologie dargestellt werden; der zweite Abschnitt (II) stellt die Genese des Kantischen Begriffs der dunklen Vorstellungen sowie die Anwendung desselben auf Swedenborgs Psychose dar; der dritte Abschnitt (III) widmet sich Kants Theorie der Bewußtseinsspaltung bzw. Schizophrenie und der vierte Abschnitt (IV) der Obskurantismuskritik sowie schließlich der Verwerfung des Begriffs der dunklen Vorstellungen.

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I. Die Darstellung des Unbewußten in der, Anthropologie ' Gleich zu Beginn der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), in § 5 des ersten Buches, finden wir unter der Überschrift Von den Vorstellungen, die wir haben, ohne uns ihrer bewußt zu sein folgende Passage: „ V o r s t e l l u n gen zu h a b e n u n d sich i h r e r d o c h n i c h t b e w u ß t zu s e i n , darin scheint ein Widerspruch zu liegen; denn wie können wir wissen, daß wir sie haben, wenn wir uns ihrer nicht bewußt sind? Diesen Einwand machte schon Locke, der darum auch das Dasein solcher Art Vorstellungen verwarf' (Anthr. XII 417f BA 15f). Kant wird also mit dem Begriff dunkle Vorstellungen generell das bezeichnen, was wir heute d a s U n b e w u ß t e nennen. Da dieser Begriff bei Kant in der Regel nicht als solcher identifiziert wird, sei besonders darauf hingewiesen, daß er ihn auch sehr häufig als Adjektiv verwendet. Wenn also bei Kant steht, wir haben eine Vorstellung davon, wenn auch nur d u n k e l u.d.g., so ist dies - und zwar generell! - als wenn auch nur u n b e w u ß t zu lesen. Diese Gleichsetzung ist nicht nur eine zwischen zwei Worten (bei der man vermuten würde, daß Kant im 18. Jahrhundert von einem solchen Unbewußten eine ganz andere Vorstellung gehabt haben muß als etwa Freud im 20. Jahrhundert), sondern eben, in ganz erstaunlicher Weise, auch eine der Erkenntnis: Die großen Topoi Freuds das Unbewußte betreffend finden sich - wenn freilich auch noch nicht so elaboriert - alle schon bei Kant, der seinen Begriff des Unbewußten übrigens Leibniz' petites perceptions verdankt. [Vgl. 26. Exkurs] Der Einwand Lockes bleibt bis zum heutigen Tag das schärfste und hartnäckigste Argument gegen das Unbewußte: Wie können wir einen latenten, verborgenen Sinn hinter einem manifesten, offensichtlichen Sinn vermuten, und wie sollten wir uns - oder gar jemand anderes an unserer Stelle sich dessen bewußt werden, wenn uns doch dieser verborgene Sinn nicht bewußt ist? Diesem Argument entgegnet Kant: „Alleine wir können uns doch m i t t e l b a r bewußt sein, eine Vorstellung zu haben, ob wir gleich unmittelbar uns ihrer nicht bewußt sind. - Dergleichen Vorstellungen heißen dann d u n k l e ; die übrigen sind k l a r und, wenn ihre Klarheit sich auch auf die Teilvorstellungen eines Ganzen derselben und ihre Verbindung erstreckt, d e u t l i c h e V o r s t e l l u n g e n ; es sei des Denkens oder der Anschauung" (ebd.). Die Frage ist hier also, worin dieser m i t t e l b a r e Z u g a n g z u m U n b e w u ß t e n besteht, und da kommt nun Kant auf die gleichen mittelbaren Wege wie Freud nämlich: den Traum und den Tagtraum, die selektive Wahrnehmung, die Zwangsvorstellungen und Zwangshandlungen, den Witz (insbesondere, wenn er sich auf die Sexualität bezieht) und schließlich als u n m i t t e l b a r e n Ausdruck des Unbewußten auch das Verhalten von Schlafwandlern sowie die Wahnvorstellungen der Verrückten. Allem voran räumt Kant ein, daß das „Feld d u n k l e r Vorstellungen das größte im Menschen [ist]" (Anthr. XII 419 BA 18). Und nochmals: „Daß das Feld unserer Sinnenanschauungen und Empfindungen, derer wir uns nicht

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bewußt sind, ob wir gleich unbezweifelt schließen können, daß wir sie haben, d. i. dunkle Vorstellungen im Menschen (und so auch in Tieren), unermeßlich sei, die klaren dagegen nur unendlich wenige Punkte derselben enthalten, die dem Bewußtsein offen liegen; daß gleichsam auf der großen K a r t e unseres Gemüts nur wenig Stellen i l l u m i n i e r t sind, kann uns Bewunderung über unser eigenes Wesen einflößen: denn eine höhere Macht dürfte nur rufen: es werde Licht! so würde auch ohne Zutun des Mindesten (ζ. B. wenn wir einen Literator [d. h. einen Dichter - C. R.] mit allem dem nehmen, was er in seinem Gedächtnis hat) gleichsam eine halbe Welt ihm vor Augen liegen" (Anthr. XII 418 BA 17). Sollten wir uns hier nicht doch darüber wundern, zu sehen, daß gerade jemand wie Kant dem Feld des Unbewußten einen weitaus größeren Raum einräumt als dem des Bewußtseins; ja das Bewußtsein als die Beleuchtung von nur einigen wenigen Punkten auf der großen Karte des Unbewußten darstellt? Den Vorgang der V e r d r ä n g u n g als einer Selektion der Wahrnehmung beschreibt Kant im weiteren Verlauf dieser Passage der Anthropologie folgendermaßen: „Wir spielen nämlich oft mit dunklen Vorstellungen, und haben ein Interesse, beliebte oder unbeliebte Gegenstände vor der Einbildungskraft in Schatten zu stellen; öfter aber sind wir selbst ein Spiel dunkler Vorstellungen, und unser Verstand vermag nicht, sich wider die Ungereimtheiten zu retten, in die ihn der Einfluß derselben versetzt, ob er sie gleich als Täuschung anerkennt" (Anthr. XII 419 BA 18). Für diesen Zusammenhang zwischen Verdrängung und W i e d e r k e h r d e s V e r d r ä n g t e n gibt nun Kant zwei Beispiele an, wobei er (ob bewußt oder unbewußt, sei hier dahingestellt) das erste Beispiel aus dem Bereich des Eros (in Analogie zu Freuds Lebens- oder Selbsterhaltungstrieb), das zweite aus dem des Thanatos (in Analogie zu dem von Freud angenommenen Selbstzerstörungs- oder Todestrieb) ausgewählt hat. Das erste Beispiel: „So [daß wir unbewußt dazu genötigt werden, etwas zu verdrängen - C. R.] ist es mit der Geschlechtsliebe bewandt, so fern sie eigentlich nicht das Wohlwollen, sondern vielmehr den Genuß ihres Gegenstandes beabsichtigt. Wie viel Witz ist nicht von jeher verschwendet worden, einen dünnen Flor über das zu werfen, was zwar beliebt ist, aber doch den Menschen mit der gemeinen Tiergattung in so nahe Verwandtschaft sehen läßt, daß die Schamhafitigkeit dadurch aufgefordert wird, und die Ausdrücke in feiner Gesellschaft nicht unverblümt, wenn gleich zum Belächeln durchscheinend genug, hervortreten dürfen" (ebd.). Es genügt hier, uns nochmals Kants Assoziationskette vor Augen zu halten. Einen unbewußten Vorgang der Verdrängung finden wir beim Genuß des Gegenstandes (der Begierde) insbesondere, wenn sich dieser auf die animalische Geschlechtsliebe (d. h. auf Sexualität) bezieht, weil hier eine Schamhaftigkeit berührt wird, die durch Witze seitens der feinen Gesellschaft in den Schatten gestellt und verblümt, also verdrängt werden muß. Wir bemerken, daß das, was hier aktiv mit einem dünnen Flor überzogen, also verdrängt wird - die Begierde, die sich auf Sexualität bezieht das Leben selbst betrifft. Allerdings gelingt diese Verdrängung nur zum Teil,

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da dieser Flor doch zum Belächeln noch etwas durchscheinen läßt. - Kant macht hier einen Gedankenstrich und fährt fort: „Die Einbildungskraft mag hier gern im Dunkeln [d. h. im Unbewußten - C. R.] spazieren, und es gehört immer nicht gemeine Kunst dazu, wenn um den Z y n i s m zu vermeiden, man nicht in den lächerlichen P u r i s m zu verfallen Gefahr laufen will" (Anthr. XII 420 BA 19); soll heißen: Die Verdrängung bewegt sich auf einem sehr schmalen Grat, da man doch der feinen Gesellschaft das ins Gesicht geschriebene Satyrikon - daher die Wiederkehr des von ihr Verdrängten - an der Nasenspitze ansieht, was, Kant zufolge, lächerlich ist. Das zweite Beispiel: „Andererseits sind wir auch oft genug das Spiel dunkeler Vorstellungen, welche nicht verschwinden wollen, wenn sie gleich der Verstand beleuchtet. Sich das Grab in seinen Garten oder unter einem schattichten Baum, im Felde oder im trockenen Boden, zu bestellen, ist oft eine wichtige Angelegenheit für einen Sterbenden: ob zwar er im ersteren Fall keine schöne Aussicht zu hoffen, im letzteren aber von der Feuchtigkeit den Schnupfen zu besorgen nicht Ursache hat" (Anthr. XII 420 BA 20). Denken wir also an das Leben, so spielen wir - wenn auch unfreiwillig - mit dem Unbewußten, haben wir jedoch den Tod vor Augen, so spielt umgekehrt das Unbewußte mit uns, indem es uns zu unsinnigen, weil zwecklosen Gedanken und Handlungen veranlaßt. Ob wir nun aber mit dem Unbewußten (des Eros) spielen, oder ob umgekehrt das Unbewußte (als Thanatos) mit uns spielt, so bleibt doch der Verkehr zwischen Bewußtsein und Unbewußtsein e i n S p i e l , d. h. etwas, das zwar unsere Lebenskräfte erhalten kann (Eros), dem wir aber auch - ζ. B. in der Spielsucht - verfallen können (Thanatos), weil eben dieses Spiel - zwischen Leben und Tod - von unserem Bewußtsein nicht bestimmt werden kann. Im folgenden Absatz der Anthropologie kommt Kant auf eine Schwierigkeit zu sprechen, welche, was das Unbewußte anbelangt, nicht das unbedeutendste Problem darstellt: nämlich das der D e u t u n g d e s U n b e w u ß t e n . Seltsam und doch sehr bezeichnend ist dabei, daß er hier das Deutungsproblem (Verschiebung, Verdichtung und Symbolisierung) mit einem Gleichnis erläutert, also statt einer Theorie der Metapher eine metaphorische Theorie liefert und somit - sprachwissenschaftlich gesprochen - die Metapher metonymisch überbaut, sprich: durch Verdichtung das Deutungsproblem nur verschiebt. Das Ganze ergibt einen Satz, der noch verschlüsselter zu sein scheint als das, was wir bisher über das Unbewußte vernommen haben; einen Satz, den man mehrmals lesen muß, um hier etwas zu verstehen. Kant schreibt: „Daß das Kleid den Mann mache, gilt in gewisser Maße auch für den Verständigen [sprich: auch der Inhalt des Verstandes wird durch seine Form geprägt C. R.]. Das russische Sprichwort sagt zwar: ,Man empfängt den Gast nach seinem Kleide und begleitet ihn nach seinem Verstände'; aber der Verstand kann doch den Eindruck dunkler Vorstellungen von einer gewissen Wichtigkeit, den eine wohlgekleidete Person macht, nicht verhüten, sondern allenfalls nur das vorläufig über sie gefällte Urteil hinten nach zu berichtigen den

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Vorsatz haben" (Anthr. XII 420 BA 19). Soll heißen: Der Verstand ist - wenn das Unbewußte ihm einen Besuch abstattet - von der sich ihm aufzwingenden Form (dem Kleid des Unbewußten oder dem Unbewußten als Kleid) so sehr beeindruckt, daß (um hier mit jener Metapher zu sprechen, mit der Freud sich auszudrücken pflegte:) er nicht mehr Herr im eigenen Haus ist. Und es kommt an dieser Stelle bei Kant noch der Faktor Zeit mit ins Spiel: Erst wenn der erste starke Eindruck unbewußter Vorstellungen wieder gegangen ist, kann sich der Verstand vornehmen, sein gefälltes - nämlich von dem starken Eindruck geprägtes - Urteil zu berichtigen. Damit ist das Problem der Deutung des Unbewußten allerdings nur nach hinten verschoben, keineswegs jedoch gelöst; eine Verlegenheit, die Kant mit seiner Verschiebung zum Ausdruck bringt: Er kommt an dieser Stelle der Anthropologie nicht weiter.

II. Die Anwendung des Unbewußten auf das Wahnsystem Zum ersten Mal kam Kant in seiner Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (1763) auf die dunklen Vorstellungen zu sprechen. Die Tatsache indes, daß er die diesbezügliche Passage der Grundsätze ohne jeglichen einsehbaren Grund und völlig aus dem Zusammenhang gerissen ans Ende der Zweiten Betrachtung stellt (eine Zusammenhangslosigkeit, die man ansonsten bei Kant kaum antrifft), läßt darauf schließen, wie sehr er von dem, was er hiermit wiederzugeben gedachte, fasziniert gewesen sein mußte. „ D u n k l e Vorstellungen sind diejenigen, deren man sich nicht bewußt ist. Nun zeigen einige Erfahrungen: daß wir auch im tiefen Schlafe Vorstellungen haben, und da wir uns deren nicht bewußt sein, so sind sie dunkel gewesen. Hier ist das Bewußtsein von zweifacher Bedeutung. Man ist sich entweder einer Vorstellung nicht bewußt, daß man sie habe, oder, daß man sie gehabt habe. Das erstere bezeichnet die Dunkelheit der Vorstellung, so wie sie in der Seele ist; das zweite zeigt weiter nichts an, als daß man sich ihrer nicht erinnere. Nun gibt die angeführte Instanz lediglich zu erkennen: daß es Vorstellungen geben könne, deren man sich im Wachen nicht erinnert, woraus aber gar nicht folgt, daß sie im Schlafe nicht sollten mit Bewußtsein klar gewesen sein; wie in dem Exempel des Herrn Sauvage von der starrsüchtigen Person, oder bei den gemeinen Handlungen der Schlafwandler" (DdG II 760f A 86). Kann man das, was wir heute das Unbewußte nennen, klarer umschreiben? Halten wir uns schon hier vor Augen, was Kant d i e z w e i f a c h e B e d e u t u n g d e s B e w u ß t s e i n s nennt: zum einen unser Unbewußtes im Schlaf (die dunklen Vorstellungen, welche, solange sie ganz unbewußt bleiben, also nicht erinnert werden, durchaus deutliche Vorstellungen sind), zum anderen unser Bewußtsein im Wachen. Dazwischen: eine Bruchstelle zwischen Bewußtsein und Unbewußtsein, die als Erinnerungslücke zum Ausdruck kommt; eine Verdrängung oder Zensur, auf die Kant noch des öfteren zu sprechen kommt.

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Von dieser Entdeckung war Kant offenbar so begeistert, daß er sie drei Jahre später (1766) in den Träumen eines Geistersehers, wenn auch mit einer erheblichen Erweiterung, gleich nochmals wiederholt. Wir geben auch diese Passage in ihrer Vollständigkeit wieder. „Man kann dieses [nämlich die deutlichen Vorstellungen, die Swedenborg von der Geisterwelt hat] durch eine gewisse Art von zweifacher Persönlichkeit, die der Seele selbst in Ansehung dieses Lebens zukommt, erklären. Gewisse Philosophen [wie Leibniz - C. R.] glauben, sich ohne den mindesten besorglichen Einspruch auf den Zustand des festen Schlafes berufen zu können, wenn sie die Wirklichkeit dunkler Vorstellungen beweisen wollen, da sich doch nichts weiter hievon mit Sicherheit sagen läßt, als daß wir uns im Wachen keiner von denenjenigen erinnern, die wir im festen Schlafe etwa mochten gehabt haben, und daraus nur so viel folgt, daß sie beim Erwachen nicht klar vorgestellt worden, nicht aber, daß sie nicht damals als wir schliefen dunkel waren. Ich vermute vielmehr, daß dieselbe klarer und ausgebreiteter sein mögen, als selbst die kläresten im Wachen; weil dieses bei der völligen Ruhe äußerer Sinne von einem so tätigen Wesen als die Seele ist, zu erwarten ist, wiewohl, da der Körper des Menschen zu der Zeit nicht mit empfunden ist, beim Erwachen die begleitende Idee desselben ermangelt, welche den vorigen Zustand der Gedanken, als zu eben derselben Person gehörig, zum Bewußtsein verhelfen könnte. Die Handlungen einiger Schlafwandler, welche bisweilen in solchem Zustande mehr Verstand als sonsten zeigen, ob sie gleich nichts davon beim Erwachen erinnern, bestätigt die Möglichkeit dessen, was ich vom festen Schlaf vermute. Die Träume dagegen, das ist, die Vorstellung des Schlafenden, derer er sich beim Erwachen erinnert, gehören nicht hieher. Denn alsdenn schläft der Mensch nicht völlig; er empfindet in einem gewissen Grade klar und webt seine Geisteshandlungen in die Eindrücke der äußeren Sinne. Daher er sich ihrer zum Teil nachhero erinnert, aber auch an ihnen lauter wilde und abgeschmackte Chimären antrifft, wie sie es denn notwendig sein müssen, da in ihnen Ideen der Phantasie und die der äußeren Empfindung untereinander geworfen wird" (Τ II 947 A 50). An dieser Stelle unterscheidet Kant also drei Zustände: das U n b e w u ß t e (die dunklen Vorstellungen, die im tiefen Schlaf klar sind), das Β e w u ß t e (die klaren Vorstellungen im Wachen) und einen Zwischenzustand, den wir heute das V o r b e w u ß t e nennen (die verschwommenen Vorstellungen der Träume beim Erwachen). Bemerkenswert ist, daß Kant Swedenborgs Wahnvorstellungen nicht als Träume oder Tagträume, sondern eben als v ö l l i g d u n k l e , d.h. gänzlich unbewußte Vorstellungen einstuft. [Vgl. 27. Exkurs] Gerade weil bei ihnen keine Verdrängung oder Zensur stattfindet, sind sie eben - im Unterschied zu den Träumen beim Erwachen - so deutlich. Diesen Gedanken wiederholt Kant nochmals bei der Darstellung von Swedenborgs Wahnsystem: „[...] Allein durch die Gemeinschaft mit andern Seelen lebender Menschen können sie [die Geister] auch keine Vorstellung davon haben [was in den

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Menschen vorgeht], weil ihr Innerstes nicht aufgetan ist, d. i. ihr innerer Sinn gänzlich dunkle Vorstellungen enthält" (Τ II 976 A 104). „Obgleich die Geister mit allen andern Seelen lebender Menschen gleichfalls in der genauesten Verbindung stehen, und in dieselbe wirken oder von ihnen leiden, so wissen sie doch dieses eben so wenig, als es die Menschen wissen, weil dieser ihr innerer Sinn, welcher zu ihrer geistigen Persönlichkeit gehört, ganz dunkel ist. Es meinen also die Geister: daß dasjenige, was aus dem Einflüsse der Menschenseelen in ihnen gewirkt worden, von ihnen allein gedacht sei, so wie die Menschen in diesem Leben nichts anders glauben, als daß alle ihre Gedanken und Willensregungen aus ihnen selbst entspringen, ob sie gleich in der Tat oftmals aus der unsichtbaren Welt in sie übergehen" (Τ II 976f A 104). „Daher ist Swedenborg das rechte Orakel der Geister, welche eben so neugierig sein, in ihm den gegenwärtigen Zustand der Welt zu beschauen, als er es ist, in ihrem Gedächtnis wie in einem Spiegel die Wunder der Geisterwelt zu betrachten" (Τ II 976 A 103f). „Man siehet aus diesem Zusammenhange, daß diese Gabe" nämlich die Swedenborgs, welche in seiner Sprache so lautet, „daß s e i n I n n e r s t e s a u f g e t a n i s t " - „darin bestehen soll, s i c h d e r e r d u n k l e r V o r s t e l l u n g e n b e w u ß t zu w e r d e n , welche die Seele durch ihre beständige Verknüpfung mit der Geisterwelt empfängt" (Τ II 975 A 102, die 2. Herv. C. R.). Die Sprache Swedenborgs, derzufolge „sein Innerstes aufgetan ist", versteht Kant demnach so, daß Swedenborg sich befähigt glaubt, sich seiner unbewußten Vorstellungen bewußt zu werden. Dieses jedoch heißt für uns, in unsere heutige Sprache übertragen, wiederum, daß Kant Swedenborgs Einfluß aus der Geisterwelt als einen unbewußten Einfluß oder als einen Einfluß aus dem Unbewußten Swedenborgs begreift. Demzufolge würde, nach Kant, Swedenborgs Geisterreich dessen Unbewußtes symbolisier e n (dessen „Symbol sein" - Τ II 948 A 52). Wenn Kant also immer wieder meint, daß Swedenborgs „betrogene Sinne [...] einen wahren geistigen Einfluß zu Grunde haben mögen" (Τ II 950 A 55), so kann dies nur so zu verstehen sein, daß hierdurch sein „Geist" oder seine „Seele", will heißen: sein Unbewußtes wenn auch verschlüsselt, verkleidet, symbolisiert - zum Ausdruck kommt. Denn die Einflüsse von Seiten der Geisterwelt - d. h. von seiten des Unbewußten - können, wie Kant etwas später ausführt, „in das persönliche Bewußtsein des Menschen zwar nicht unmittelbar, aber doch so übergehen, daß sie nach dem Gesetz der vergesellschafteten Begriffe, diejenigen Bilder rege machen, die mit ihnen verwandt sein, und analogische Vorstellungen unserer Sinne erwecken, die wohl nicht der geistige [sprich: unbewußte] Begriff selber, aber doch deren Symbolen sind" (Τ II 948 A 50f). Im folgenden versteht dann Kant unter v e r g e s e l l s c h a f t e t e n B e g r i f f e n das, was wir heute die Ausdrucksformen des Unbewußten (Verschiebung, Verdichtung und Symbolisierung) nennen würden: Wenn etwa die Zeit durch eine Analogie räumlich dargestellt wird (eine metaphorische Verschiebung), wenn Dichter Tugenden personifizieren (eine metonymische Verdichtung) oder Vernunftbegriffe ein

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körperliches Kleid annehmen (eine verkleidete Symbolisierung). Somit macht Kant schon hier darauf aufmerksam, daß das Unbewußte („Ideen, die durch einen geistigen Einfluß mitgeteilt sind") „sich in die Zeichen deijenigen S p r a c h e einkleide[t], die der Mensch sonsten im Gebrauch hat" (Τ Π 949 A 52); das Unbewußte, wenn es zu Bewußtsein kommen soll, sich also s p r a c h l i c h artikulieren muß. „Daher - schreibt er - ist es nicht unwahrscheinlich, daß geistige [d. h. gänzlich unbewußte - C. R.] Empfindungen in das Bewußtsein übergehen könnten, wenn sie Phantasien erregen, die mit ihnen verwandt sein" (ebd.). Dieses setzt jedoch Personen voraus, „deren Organen [sprich hier: deren ideas materiales - C. R.] eine ungewöhnlich" größere „Reizbarkeit haben [...], als dies bei gesunden Menschen geschieht und auch geschehen soll. Solche seltsamen Personen würden in gewissen Augenblicken mit der Apparenz mancher Gegenstände [durch Projektion des focus imaginarius - C. R] als außer ihnen angefochten sein, welche sie [paranoiderweise - C. R.] vor eine Gegenwart von geistigen Naturen halten würden, die auf ihre körperliche Sinne fiele, ob gleich hiebei nur ein Blendwerk der Einbildung [eine projektive Verschiebung, ein Blendwerk, das ist: eine Halluzination - C. R.] vorgeht, doch so, daß die Ursache davon ein wahrhafter geistiger Einfluß [des Unbewußten C. R.] ist, der nicht unmittelbar empfunden werden kann, sondern sich nur durch verwandte Bilder der Phantasie [Verschiebung, Verdichtung und Symbolisierung - C. R.], welche [als sprachliche Übersetzungen von Affekten oder als Symbolisierung des Über-Ichs - C. R.] den Schein der Empfindungen annehmen, zum Bewußtsein offenbaret" (T II 949 A 53).

III. Bewußtsein, Unbewußtsein und Schizophrenie Nun verhalten sich jedoch, wie oben bereits dargestellt, die Dinge bei Swedenborg so, daß s e i n a u f g e t a n e s I n n e r s t e s in beide Richtungen verläuft: Die gewöhnlichen Menschen wissen von dem Einfluß der Geister (des Unbewußten) auf sie ebensowenig, wie die Geister (d. h. das Unbewußte) etwas von dem Einfluß der Menschen auf sie wissen - alleine Swedenborg ist das Medium, welches in der Lage ist, zwischen diesen beiden Reichen - und zwar in beide Richtungen - zu pendeln. Hierdurch bekommt Swedenborgs Symbolisierung des Unbewußten indes noch eine nicht nur der Quantität, sondern auch der Qualität nach ganz neue Bedeutung: nämlich die einer S p a l t u n g (seiner selbst) in z w e i W e l t e n . Wenn somit dieses ,aufgetane Innere' sich dadurch äußert, daß - Kant zufolge - Swedenborg seine neurotischen Eindrücke (der ideas materiales), die er als zu sich, d. h. zu seinem Körper, gehörig empfinden müßte, n a c h a u ß e n p r o j i z i e r t und somit „als seinen äußeren Sinnen gegenwärtig" sich vorstellt, so kommt diese Wahnvorstellung Swedenborgs - nämlich der von ihm abgespaltene Teil, sein anderes Selbst offensichtlich von außen wieder zu ihm zurück, indem nun seine innere Stimme in sich Geister wahrzunehmen vermeint.

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Kurzum, was bei Swedenborg hier stattfindet, ist eine vollständige S p a l t u n g , somit auch völlige Vertauschung der Stellen (nicht jedoch der Inhalte) des Bewußten und des Unbewußten: So wie das Innere (als von außen wahrgenommen) draußen und das Äußere (als in Swedenborg empfunden) innen vorgestellt wird, so ist Swedenborgs Bewußtsein an die Stelle des Unbewußten wie auch umgekehrt sein Unbewußtes an den Ort des Bewußtseins getreten - und zwar so (und dies ist nun entscheidend), daß bei diesem Stellentausch keine Interaktion zwischen Bewußtsein und Unbewußtsein (weder eine Verdrängung noch eine Wiederkehr derselben, d. h. auch keinerlei Kompromißbildung zwischen den sich widersprechenden Triebinstanzen) stattfindet, dergestalt daß also beide, wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde, ohne voneinander zu wissen, nebeneinanderher leben (vgl. R. L. Stevenson 1886). Es leuchtet indes ein, daß da, wo das Unbewußte bewußt und das Bewußtsein unbewußt, wo das Drinnen draußen und das Draußen drinnen, die diesseitige Welt im Jenseits wie die jenseitige Welt im Diesseits, das Immaterielle materiell wie das Materielle immateriell ist, daß eben dort das Subjekt (nämlich das Ich des Bewußtseins), welches zwischen diesen Instanzen pendelt, sich notwendig aufspalten muß. Kant ist sich dieses Phänomens der S p a l t u n g übrigens durchaus bewußt, wenn er schreibt, daß hier „auch eine positive Unvernunft, d. i. eine andere Regel, ein ganz verschiedener Standpunkt, worein so zu sagen, die Seele versetzt wird, und aus dem sie alle Gegenstände anders sieht, und außer dem sensorium commune, das zur Einheit des L e b e n s [...] erfordert wird, sich in einem davon entfernten Platz versetzt findet (daher das Wort V e r r ü c k u n g ) . [Bei der Darstellung der paranoiden Projektion beschreibt Freud diesen Vorgang sehr ähnlich: „Der sachliche Inhalt bleibt also ungestört erhalten, es ändert sich aber etwas an der Stellung des ganzen Dinges." (Laplanche/Pontalis 1972 402)] Wie eine bergichte Landschaft, aus der Vogelperspektiv gezeichnet, ein ganz anderes Urteil über die Gegend veranlaßt, als wenn sie von der Ebene aus betrachtet wird. Zwar fühlt oder sieht die Seele sich nicht an einer andern Stelle (denn sie kann sich selbst nach ihrem Orte im Raum, ohne einen Widerspruch zu begehen, nicht wahrnehmen, weil sie sich sonst als Objekt ihres äußeren Sinnes anschauen würde, da sie sich selbst nur Objekt des inneren Sinnes sein kann); aber man erklärt sich dadurch, so gut wie man kann, die sogenannte Verrückung" (Anthr. XII 531f BA 146f). Was Kant mit dieser Allegorie beschreibt, ist das, was wir heute Bewußtseinsspaltung, Ich-Spaltung oder ganz allgemein Schizophrenie nennen. Denn es ist ja doch offensichtlich, daß bei Swedenborg (welcher sich sowohl in dieser als auch in der Geisterwelt - und zwar gleichzeitig! - aufhält) nicht alleine die Beziehung zum Gegenstand, sondern vor allem auch die Beziehung zu sich selbst gestört ist. Das „sensorium commune, das zur Einheit des Lebens [...] erfordert wird" (ebd.), oder, wie Kant an anderer Stelle in den Träumen sagt, das „unteilbare Ich" (Τ II 931 A 20) ist bei Swedenborg nicht anzutreffen, weswegen Kant ihm auch „ e i n e g e w i s s e A r t v o n z w i e f a c h e r P e r s ö n l i c h k e i t " (Τ II 947 A 50 Fn., Herv. C. R.) bescheinigt.

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Interessant ist zweierlei. Zum einen, unter welchen Umständen, nach Kant, von einer „zwiefachen Persönlichkeit" im Unterschied zum „unteilbaren Ich" gesprochen werden muß, d. h. die Frage, was eigentlich eine Spaltung des Bewußtseins zur S p a l t u n g macht; zum anderen, wie Kant diese Spaltung theoretisch von außen begrifflich zu fassen versucht. Was die erste Frage anbelangt, so liegt für Kant eine zweifache Persönlichkeit bzw. eine Spaltung des Bewußtseins dann vor, wenn zwei Instanzen (ζ. B. ich als Mensch und ich als Geist) nebeneinanderher leben, ohne voneinander ein Bewußtsein zu haben, indem „was ich als Geist denke, von mir als Mensch nicht erinnert wird, und umgekehrt, mein Zustand als eines Menschen in die Vorstellung meiner selbst als eines Geistes gar nicht hinein kommt" (Τ II 947 A49f) - so als wenn das Subjekt sich „iη z w e i v e r s c h i e d e n e n W e l t e n z u l e b e n w ä h n e n w ü r d e " (Prol. V 154 A67, Herv. C. R.), ohne hierbei etwas von seiner Doppelexistenz zu wissen. Was die zweite Frage anbelangt, so stellt sich Kant an dieser Stelle ein Problem, welches der psychischen Spaltung genuin inhärent ist; ein Problem, vor welches sich im übrigen alle gestellt sahen, die sich mit dem Gegenstand der psychischen Spaltung befaßt haben; jenes Problem nämlich, in welcher Beziehung das abgespaltene Ich zu demjenigen Ich steht, von dem es sich abgespalten hat. [Vgl. 28. Exkurs] Ein logisches Problem: Denn der entscheidende Punkt der Spaltung besteht ja darin, daß das abgespaltene Ich (B) mit dem Ich, von dem es sich abgespalten hat (A), in keinerlei Beziehung zu stehen vermeint. Wie also kann diese Beziehung der Beziehungslosigkeit verstanden und begriffen werden? Kant löst dieses Problem schon in den Träumen dadurch, daß er aus diesem logischen Problem ein Problem der Logik macht, indem er die beiden voneinander abgespaltenen Ichs (B und A) in eine Gleichung setzt (Β = A), obgleich sie gerade nicht identisch sind (Β Φ A). In der oben bereits angeführten Stelle der Anthropologie liest sich diese Gleichung wie folgt: „Zwar fühlt und sieht die [abgespaltene - C. R.] Seele [B - C. R.] sich nicht an einer andern Stelle [als die Seele A - C. R.] (denn sie kann sich selbst nach ihrem Orte im Raum, ohne einen Widerspruch zu begehen, nicht wahrnehmen, weil sie sich sonst als Objekt ihres äußeren Sinnes anschauen würde, da sie sich selbst nur Objekt des inneren Sinnes sein kann) [...]" (Anthr. XII 532 BA 146f), wobei Kant in seiner Vorlesung über Metaphysik diese Gleichung nochmals erläutert, indem er schreibt: „Da ich aber in dieser Welt noch eine sinnliche Anschauung habe; s o k a n n i c h n i c h t z u g l e i c h e i n e g e i s t i g e A n s c h a u u n g h a b e n . Ich kann nicht zugleich in dieser und auch in jener Welt seyn" (VM AA XXVIII, 1 300 A 259); was Kant schließlich in den Träumen zu dem Schluß kommen läßt, daß „es demnach z w a r e i n e r l e i S u b j e k t [ist], was der sichtbaren und unsichtbaren Welt zugleich als ein Glied angehört, a b e r n i c h t e b e n d i e s e l b e P e r s o n , weil die Vorstellung der einen, ihrer verschiedenen Beschaffenheit wegen, keine begleitende Ideen von denen der andern Welt sind [...]" (T II 947 A 49, Herv. C. R.).

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Kant begegnet somit der Ich-Spaltung durch eine logische Teilung des Bewußtseins: Entweder wir finden zweierlei Person in einerlei Subjekt (eine Persönlichkeitsspaltung, wie in den Träumen), oder aber das eine Subjekt ist mit sich selbst nicht identisch (eine Bewußtseinsspaltung, wie in der Anthropologie), wobei in dem einen wie in dem anderen Fall alles auf die Gleichung, auf das ,sich selbst', sprich auf die Art und Weise ankommt, wie das (transzendentale) Subjekt von sich selbst als einem (empirischen) Gegenstand affiziert wird. Wird das Subjekt so von sich selbst affiziert, daß es sich selbst wie ein Gespenst gegenübersteht, welches sich - a l s e i n S e l b s t - nicht wiedererkennt, so liegt dies offenbar nicht an dem zu erkennenden Selbst (dem Gegenstand der Selbstbetrachtung), sondern an dem erkennenden Ich (dem Subjekt der Apperzeption), welches daher als gespalten angesehen werden muß. Diesen Zusammenhang von aufgespaltenem Bewußtsein und Unbewußtsein (dunklen Vorstellungen) einerseits, sowie den von Objekt- und SelbstBezug in einer Persönlichkeitsspaltung andererseits macht Kant in der Reflexion 4562 aus dem sogenannten Duisburger Nachlaß - welcher in eben diese Zeit fallt - nochmals sehr deutlich. Dort heißt es: „Wenn in der folge sich einer seiner selbst bewußt würde und sich auch aller solcher Handlungen, als wir uns erinnern, bewußt würde, würde er darum ich selbst sein. Also beruht die identitaet der Persohn nicht auf der Übereinstimmung der apperception, sondern auf der continuation derselben, solte es auch unter dunkeln Vorstellungen seyn" (Refi. 4562 A.A. XVII 594). Das Ganze (hier: des Selbstbewußtseins) ist mehr und etwas anderes ist als nur die Summe seiner Teile (hier: von allem Bewußtsein, wenn es sich denn in einem einzigen Augenblick vergegenwärtigen ließe) - soweit die Binsenweisheit. Was jedoch Kant in dieser Reflexion vollzieht, ist eine für alle weitere Kritik ganz entscheidende Neu-Aufteilung; eine Teilung, die uns des öfteren schon begegnet ist und die Kant auch für alles Weitere - insbesondere für die Kritik - beibehalten wird: daß nämlich die E i n h e i t d e r P e r s o n (ein nichtschizophrenes ,Ich', später: die Einheit des Mannigfaltigen im Subjekt der Apperzeption) sich nicht an deren Gegenstands-Bezug, sondern an deren Selbst-Bezug mißt. Letzteres jedoch kann nur ermessen werden, wenn man das Subjekt des Bewußtseins sich selbst - als ein , Selbst'- gegenüberstellt, also rational teilt (wie beispielsweise mit dem Satz: ,Ich denke mich'). Kann jedoch eine derartige Teilung nicht mehr vorgenommen (das Subjekt, bei noch so alternierenden Gegenständen seiner Selbstbetrachtung, nicht mit seiner eigenen Identität konfrontiert) werden, so ist zu vermuten, daß wir es mit einem psychisch gespaltenen Subjekt zu tun haben. Daß die Einheit des Mannigfaltigen in einem Subjekt nicht auf die A p p r e h e n s i o n , d.h. nicht auf das Wahrgenommene bei einer empirischen Selbstwahrnehmung, sondern auf die A p p e r z e p t i o n , d. h. auf das Synthetisierende des denkenden Ichs selbst zurückzuführen ist, geht auch aus einer aufschlußreichen Fußnote der Anthropologie nochmals deutlich hervor (Anthr. XII 417 BA 16 Fn.). [Vgl. 29. Exkurs] Dort heißt es: „Die Frage, ob bei den

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verschiedenen inneren Veränderungen des Gemüts (seines Gedächtnisses oder der von ihm angenommenen Grundsätze) der Mensch, wenn er sich dieser Veränderungen bewußt ist, noch sagen könne, er sei e b e n d e r s e l b e (der Seele nach), ist eine ungereimte Frage; denn er kann sich dieser Veränderung nur dadurch bewußt sein, daß er sich in den verschiedenen Zuständen als ein und dasselbe S u b j ekt vorstellt, und das Ich des Menschen ist zwar der Form (der Vorstellungsart) nach, aber nicht der Materie (dem Inhalt) nach zweifach." Ergo, dürfen wir weiter schließen, ist die T e i l u n g , die Kant hier vornimmt, nur eine analytische (wenn man so will: nur eine .theoretische', eben der Vorstellungsart); eine Teilung vermittels einer kritischen Unterscheidung - zwischen einem rationalen, denkenden Ich und einem empirischen, erkannten Selbst - , welche allerdings notwendig ist, wenn man denn eine Spaltung des synthetisierenden Denkens - d. h. eine reale (schizophrene) Spaltung des Ichs oder wie Kant hier auch vermerkt: ein „doppelt Ich" - vermeiden will. Man sieht, daß Kant bereits schon hier, zur Zeit der Träume, (übrigens wiederum unfreiwillig) auf ein Problem stößt, welches später, in der Kritik der reinen Vernunft (A 1781 Β 1787), noch einen ganz erheblichen, wenn nicht den zentralen Stellenwert überhaupt einnehmen wird - nämlich (um es negativ zu beschreiben), wie es vor sich geht, daß ein Subjekt, welches sich selbst erkennen möchte, einer Selbsttäuschung (einem Paralogismus als einem dialektischen Schein) unterliegen kann, oder aber umgekehrt (um es positiv zu beschreiben), wie ein Subjekt beschaffen sein müßte, damit es einen rationalen Zugang zu sich selbst (als reinem, d. h. nicht empirischem Selbstbewußtsein) einzunehmen vermag. [Vgl. 30. Exkurs] Man wird - wollte man hier weiter gehen - zeigen können, daß Kant in der Kritik der reinen Vernunft sowohl negativ, bei der Behandlung der Paralogismen der reinen Vernunft, als auch positiv, bei der Konstruktion der u r s p r ü n g l i c h - s y n t h e t i s c h e n E i n h e i t der A p p e r z e p t i o n , das Problem der E i n h e i t d e s B e w u ß t s e i n s - wenn auch viel ausgearbeiteter in der gleichen Weise wie schon in den Träumen stellen und auch in der gleichen Weise zu lösen versuchen wird: Der schizoiden Spaltung des Subjekts wird er eine rationale Teilung des Subjekts entgegenhalten; wobei das ,Ich denke' des transzendentalen Subjekts seinen Gegenstand - das gedachte ,Selbst' in dem Satz ,Ich denke mich', d. h. die Einheit des Selbstbewußtseins - immer wieder von neuem selbst synthetisch herstellen muß. Daß aber die Einheit des Bewußtseins überhaupt problematisch sein könnte (und folglich die Philosophie sich der Frage nach einem rationalen Selbstbewußtsein annehmen müsse), ist ein Gedanke, der bekanntermaßen erstmals mit Kant die Bühne der Geschichte der Philosophie betritt. Kant wäre allerdings in der Kritik der reinen Vernunft auf die Frage nach der Einheit des Bewußtseins nie gekommen, wenn er nicht bereits zuvor zu Zeiten der Träume mit Swedenborg ein g e s p a l t e n e s B e w u ß t s e i n vor Augen gehabt hätte. Tatsächlich läßt sich das Problem der philosophischen Herkunft eines Gedankens wie dem der Einheit des Bewußtseins weder von Leibniz, noch von

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Locke, noch von Hume, noch von sonst irgend jemand aus der klassischen Metaphysik her begreifen. Was nun Descartes anbelangt, so sah sich dieser, als er eines verschneiten Tages in Deutschland den ganzen Tag in einem Ofen (so wurde seinerzeit ein geheizter Raum genannt) eingeschlossen und alleine, isoliert gewesen war (vgl. Discours de la méthode, zu Beginn der deuxième partie), zwar gezwungen, sich die Frage nach dem B e w u ß t s e i n und selbst die Frage nach dem S e l b s t b e w u ß t s e i n zu stellen, nicht jedoch - wie Kant - die Frage nach der E i n h e i t d e s B e w u ß t s e i n s . Der philosophiegeschichtliche Werdegang dieses Gedankens war also offenbar ein anderer. Von Leibniz' petites perceptions bezog Kant seinen Begriff der dunklen Vorstellungen. Diesen Begriff wendet er dann auf Swedenborgs gespaltenes Bewußtsein an, um an diesem eine Theorie der Persönlichkeits- bzw. der Bewußtseinsspaltung auszuarbeiten. Der Begriff (dem wahrscheinlich auch die medizinische Literatur, welche Kant für die Träume verwendete, zu Grunde lag) entstammt also erstmal der sogenannten empirischen Psychologie und wird dann erst später - in einem zweiten Schritt - auf die sogenannte rationale Psychologie, nämlich auf Descartes' res cogitans, angewandt. Denn, um dies hier nochmals zu betonen, von Descartes aus läßt sich Kants Descartes-Kritik nur zum allergeringsten Teil - wenn überhaupt begreifen.

IV. Obskurantismuskritik des Unbewußten Kommen wir abschließend nochmals auf das Problem der D e u t u n g d e s U n b e w u ß t e n zurück; ein Problem, welches Kant in letzter Instanz doch nicht zu lösen vermochte. Dabei war er der Entdeckung und Konstitution einer allgemeinen Theorie des Unbewußten verblüffend nahe. Kant wußte, wo der Gegenstand zu suchen ist: bei den Schlafwandlern, im Traum, in den Tagträumen, in der Schamhaftigkeit, im Witz, in den Zwangshandlungen sowie in den Wahnvorstellungen. Er wußte auch, daß zwischen unbewußtem Affekt und der nach außen projizierten mitschwingenden Wahnvorstellung, ebenso wie zwischen erinnertem, erzähltem Traum und tatsächlich Geträumtem, sowie im Witz zwischen manifestem und latentem Inhalt eine E r i n n e r u n g s z e n s u r stattfindet und das Unbewußte - wenn es denn zu Bewußtsein gelangen will sich sprachlich äußern, sich in analoge Zeichen einkleiden, d. h. symbolisieren muß, daß somit das Unbewußte also auch wieder entziffert werden kann, wobei jedoch nur ein mittelbarer Zugang - nicht jedoch, wie Swedenborg behauptet, ein unmittelbarer - möglich ist. Kant wußte ferner, daß bei Psychotikern (Verrückten) eine Persönlichkeits- oder Bewußtseinsspaltung anzutreffen ist, mit der eine Vertauschung der Stellen (und Perspektiven) - nicht aber der Inhalte - des Bewußten und Unbewußten einhergeht. Und trotzdem: So richtig bekam Kant das Unbewußte theoretisch nicht zu fassen. Was ihm fehlte, war eine wissenschaftliche Methode des Zugangs, insbesondere was den Traum

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und die Traumdeutung anbelangt; eine Methode, die erst hundertfiinfzig Jahre später von Freud wissenschaftlich entwickelt worden ist. Kant wußte im übrigen sehr wohl um dieses Deutungsdefizit, wenn er einräumte, daß „wohl fur immer unerklärt bleiben [wird]", „wie es zugehe, daß wir oft im Traume in die längst vergangene Zeit versetzt werden, mit längst Verstorbenen sprechen, dieses selbst für einen Traum zu halten versucht werden, aber doch diese Einbildung für Wirklichkeit zu halten uns genötigt sehen" (Anthr. XII497 BA 107). - Allerdings wird dieses „was wohl für immer ungeklärt bleiben wird" für Kant noch ganz erhebliche Konsequenzen für seinen eigenen Werdegang und seine weitere Theoriebildung haben. So wird Kant - im direkten Gegensatz zum Sturm und Drang, zur Romantik, zum Deutschen Idealismus sowie zum Psychologismus und Spiritismus, welche allesamt allzugern mit dem Unbewußten geflirtet haben - es nach den Träumen unterlassen, mit den dunklen Vorstellungen weiterhin zu spielen, ist er sich doch zu sehr im klaren darüber, daß die Geister, die wir rufen, in übler Weise wieder zu uns zurückkehren könnten und unser Versuch, mit dunklen Vorstellungen zu spielen, in einem bösen Spiel der dunklen Vorstellungen mit uns enden kann, wobei dann dieses Spiel, als Deutungsspiel, beispielsweise auch folgendermaßen aussehen könnte - wie Kant, der hier Goethes Schwager, den Stürmer und Dränger Johann Georg Schlosser, referiert, Jahre später schreiben wird: „den Schleier der Isis [...] so dünne zu machen, daß man unter ihm die Göttin [Weißheit] ahnen kann", wozu Kant spöttisch noch hinzufügt: „wie dünne, wird hierbei nicht gesagt" (VT VI 389 A 411). Kant schließt daher den die dunklen Vorstellungen betreffenden § 5 der Anthropologie mit einer Obskurantismuskritik: „Sogar wird studierte Dunkelheit oft mit gewünschtem Erfolg gebraucht, um Tiefsinn und Gründlichkeit vorzuspiegeln; wie etwa in der D ä m m e r u n g oder durch Nebel gesehene Gegenstände immer größer gesehen werden, als sie sind. Das Skotison (mach's dunkel) ist der Machtspruch aller Mystiker, um durch gekünstelte Dunkelheit Schatzgräber der Weisheit anzulocken" (Anthr. XII 421 BA 20). Zu einer sehr ähnlichen Obskurantismuskritik kommt Kant auch in den Träumen, wenn er dort zu dem Schluß gelangt, daß „die anschauende Kenntnis der andern Welt nur erlangt werden [könne], indem man etwas von demjenigen Verstände einbüßt, welchen man vor die gegenwärtige nötig hat" (Τ II 951, A 56 f); welches ,Nicht-von-dieser-Welt-Sein' er mit jenem Geschenk vergleicht, „womit J u n o den Ti r e s i as beehrte, die ihn zuvor blind machte, damit sie ihm die Gabe zu weissagen erteilen konnte" (ebd.). Insofern aber Tiresias nur deshalb des Königs Ödipuskomplex hellsehen konnte, weil seine eigene Blindheit bereits das Ergebnis eines ,Ödipuskomplexes' war, Tiresias also nur ein vorgeschobener Ödipus ist, läßt sich sagen, daß Kant an dieser Stelle vor Freuds Zentralkomplex stand - und ihn doch nicht sah. Und so lästert Kant im zweiten Teil der Träume über die vermeintlichen Traumdeuter: „Wem also jene Geistererzählungen eine Sache der Wichtigkeit zu sein scheinen, der kann immerhin [...] eine Reise auf eine nähere Erkundigung derselben [in Swedenborgs

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Arcana Coelestia] wagen, so wie Artemidor zum Besten der Traumdeutung in Kleinasien herumzog" (T II 970 A 92f). Zu Artemidors Traumkunst (200 v. Chr.) vergleiche auch Michel Foucault (1984). Wenn auch Kant mit dem Abschluß der Träume die dunklen Vorstellungen letztendlich als obskurantistisch ablehnen und einer empirischen Psychologie eine rationale Vernunftkritik vorziehen wird, so bedeutet dies nicht, daß die Denkanstöße, die sich aus der Untersuchung der dunklen Vorstellungen fur Kant ergaben, nicht Eingang in sein kritisches Denken gefunden hätten. Ohne die frühe Begegnung mit den dunklen Vorstellungen hätte Kant nicht im Zweiten Buch der Anthropologie (mit dem Titel Das Geföhl der Lust und Unlust) eine T h e o r i e d e s B e g e h r e n s sowie im Dritten Buch derselben Schrift (mit dem Titel Vom Begehrungsvermögen) eine weitergehende T h e o r i e d e r A f f e k t e aufgestellt. Obgleich beides fur einen Philosophen - zumal des 18. Jahrhunderts - schon ungewöhnlich genug ist, geht Kants Artikulation vom Subjekt des Denkens bzw. des Erkennens und Handelns einerseits und dem Triebsubjekt andererseits noch deutlich über die bloße anthropologische Beschreibung hinaus. In dem Moment nämlich, in dem Kant mit seinen Kritiken eine Normativität konstituiert hat, stehen die Triebe - nach Freud die Bausteine des Unbewußten - nicht mehr wie noch in den Jahren 1764-1766 gewissermaßen im luftleeren Raum, sondern haben als Adresse nunmehr eben diese Normativität. Letzteres betrifft vor allem die Normativität des Handelns, d. h. die Ethik, aber auch die Normativität des Glaubens, d. h. die Religion. In beiden Disziplinen kommt Kant in seinen späteren Jahren dahin, die T h e o r i e d e r R a t i o n a l i t ä t , d. h. das kritische Denken, mit einer T h e o r i e d e s B e g e h r e n s zu artikulieren - so in dem Kapitel Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft in der Kritik der praktischen Vernunft (1788), so in dem Paralleltext hierzu im Kapitel Vom Begehrungsvermögen der Anthropologie, so nicht zuletzt in der Schrift Vom radikalen Bösen in der menschlichen Natur sowie in der Lösung des dort gestellten Problems im zweiten Stück der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793). So wird es Kant gegen Ende seines Werkes nochmals um das Problem zwischen der Normativität des Denkens, Erkennens und Handelns einerseits und den Triebstrukturen andererseits gehen. Von den d u n k l e n V o r s t e l l u n g e n selbst jedoch nimmt Kant in der Zeit nach den Träumen Abstand; er wird sie zwar in den Jahren nach 1766 nicht verwerfen, sie jedoch kaum noch verwenden.

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g) Mundus intelligibilis - Über-Ich und Paranoia Freund! Gniigsam ist der Wesenlenker Schämen sich kleinmeisterische Denker, die so ängstlich nach Gesetzen spähen. Geisterreich und Körperweltgewühle Wälzen eines Rades Schwung zum Ziele, Hier sah es mein Newton gehn. Sphären lehrt es, Sclaven eines Zaumes, Um das Herz des grossen Weltenraumes, Labyrinthenbahnen ziehnGeister in umarmenden Systemen Nach der grossen Geistersonne strömen Wie zum Meere Bäche fliehn.

Friedrich von Schiller, aus: Die Freundschaft „Es ist auch sehr wahrscheinlich - schreibt Kant in den Träumen -, daß die Erziehungsbegriffe von Geistergestalten dem kranken Kopf die Materialien zu den täuschenden Einbildungen geben, und daß ein von allen solchen Vorurteilen leeres Gehirne, wenn ihm gleich eine Verkehrtheit [d. h. Psychose C. R.] anwandelte, wohl nicht so leicht Bilder von solcher Art aushecken würde" (Τ II 958 A 70). - Man beachte, daß Kant in diesem Zusammenhang von den E r z i e h u n g s b e g r i f f e n v o n G e i s t e r g e s t a l t e n spricht; ein Begriff, der nicht mit den L e h r v e r f a s s u n g e n v o n G e i s t e r g e s t a l t e n (ζ. Β. Τ II 923 A 4 oder Τ II 989 A 127) verwechselt werden sollte (aufweiche dann zum Schluß dieses Kapitels noch eingegangen wird). E r z i e h u n g ist präzise das richtige Wort, wenn wir uns hier eine Parallelität vor Augen halten, nämlich die zwischen dem mundus spirituum, d. h. Swedenborgs Geisterwelt, wie sich diese bei ihm im Wahren und Guten gestaltet, einerseits, und der rationalen Ethik eines m u n d u s i n t e l l i g i b i l i s andererseits - denn auch hier macht es den Anschein, als hätte die Geisterwelt für Swedenborg vorrangig eine Vorbild- und Erziehungsfunktion. Kurz, wir werden im folgenden einige Vermutungen äußern; Vermutungen, die vielleicht auch darüber Aufschluß geben könnten, worauf Kant in den Träumen anspielte, als er zu seinem unbetitelten , Exkurs über den Zusammenhang zwischen Geisterwelt und Sittlichkeit' (Τ II 942-946 A 40-47) bemerkte, daß dieser „zu nicht unangenehmen Vermutungen Anlaß zu geben" scheine (Τ II 942 A 40). Dabei werden wir hier ein neues Feld, nämlich das der Kantischen Ethik betreten. Da aber dieses Feld nicht ganz einfach ist, möchten wir unseren Lesern etwas entgegenkommen und den schmalen Pfad vorzeichnen, den wir beschreiten werden. Im ersten Unterkapitel (I) wird der Begriff des mundus intelligibilis geklärt. Dabei wird nicht nur auf den mundus intelligibilis der Träume, sondern auch auf den der ausgearbeiteten Ethik rekurriert, um zu zeigen, auf was das Ganze später hinauslaufen wird. Das zweite Unterkapitel (II)

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widmet sich Kants Interpretation von Swedenborgs homo maximus, um klarzustellen, daß diese Figur etwas mit dem Über-Ich, dem Gewissen bzw. mit der innerpsychischen Gesetzesinstanz zu tun hat. Im dritten Unterkapitel (III) kommen wir zu Kants Gewissenstheorie sowie zu deren Beziehung zum Sittengesetz. Das vierte Unterkapitel (IV) zeigt, daß für Kant bei Swedenborg eine paranoide Beziehung zum Gewissen vorliegt. Das fünfte Unterkapitel (V) führt aus, daß sich hinter der Swedenborgschen Paranoiakonstruktion manichäistische und neuplatonische Systeme verbergen. Das sechste Unterkapitel (VI) macht deutlich, daß Kant zufolge das Gesetz die einzige Triebfeder des Intelligiblen darstellt. Das siebente Unterkapitel (VII) verhandelt den Themenkomplex von Narzißmus und Paranoia. Aus dem achten Unterkapitel (VIII) wird hervorgehen, daß Kants mundus intelligibilis wie überhaupt seine ganze spätere Ethik als eine Antiparanoiatheorie zu verstehen ist. Schließlich wird das neunte Unterkapitel (IX) darstellen, daß sich hinter der Antiparanoiatheorie eine anti-neuplatonische Postition Kants verbirgt, um abschließend im zehnten Unterkapitel (X) den philosophischen Streit der Schulen um die Geister nachzuzeichnen.

I. Der Begriffeines

mundus

intelligibilis

Den Ausdruck e i n e s m u n d u s i n t e l l i g i b i l i s bezog Kant aller Wahrscheinlichkeit nach von Alexander Gottlieb Baumgartens Metaphysica (4. Aufl. 1757). [Vgl. 31. Exkurs] Zu Zeiten der Träume nannte er sie noch eine i m m a t e r i a l e oder i m m a t e r i e l l e W e l t (u. a. Τ II 937 A 30 bzw. A 31); später zu Zeiten der sogenannten zweiten Kritik, d. h. in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) sowie in der Kritik der praktischen Vernunft (1788), wird Kant von einer i n t e l l i g i b l e n W e l t oder auch von einer r e i n e n V e r s t a n d e s w e l t sprechen. Diesen von Baumgarten übernommenen Begriff eines m u n d u s i n t e l l i g i b i l i s bezieht Kant in den Träumen zunächst einmal auf Swedenborgs jenseitige Welt, auf dessen m u n d u s s p i r i t u u m (d.h. auf dessen Geisterwelt, h o m o m a x i m u s oder Gott). Später jedoch wird sich Kant diesen Begriff selbst mehr und mehr zu eigen machen und in seinem Sinne umdefinieren. Dabei möchten wir schon an dieser Stelle, etwas vorgreifend, darstellen, auf welche prinzipielle Unterscheidung dieser Begriff in Kants kritischen Jahren hinauslaufen wird. Zu Zeiten der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) wird Kant mit dem Begriff einer r e i n e n V e r s t a n d e s w e l t ( m u n d u s i n t e l l i g i b i l i s oder i n t e l l i g i b l e n W e l t ) so etwas wie den f o c u s i m a g i n a r i u s d e r S i t t l i c h k e i t bezeichnen: jenen perspektivischen Fluchtpunkt, auf den alle sittlichen Bestrebungen hinauslaufen würden, wenn sie denn konvergierten. Die i n t e l l i g i b l e W e l t , welche Kant in späteren Jahren auch mit einem a l l g e m e i n e n R e i c h d e r Z w e c k e in Verbindung bringen wird,

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wäre demnach ein Reich, welches insofern eine m o r a l i s c h e E i n h e i t a l l e r s i t t l i c h e n N a t u r e n darstellen würde, als in diesem Reich alles nach sittlichen Gesetzen - und zwar ausschließlich nach diesen - geschieht. [Vgl. 32. Exkurs] Dabei ist, ähnlich wie beim k a t e g o r i s c h e n I m p e r a t i v , von einer strikten Symmetrie auszugehen: Solange sich nicht alle denkenden Wesen sittlich verhalten, kann die Sittlichkeit nicht intelligibel genannt werden; umgekehrt muß aber eine solche Einheit aller sittlichen Wesen zumindest gedacht werden können, damit die einzelnen empirischen Subjekte überhaupt die Möglichkeit erhalten, sich sittlich zu verhalten. Insofern wäre die i n t e l l i g i b l e W e l t im Sinne eines perspektivischen Fluchtpunkts als das I d e a l a l l e r S i t t l i c h k e i t (damit: als S i t t l i c h k e i t s - N o r m a t i V i t ä t ) zu betrachten. Nun läßt sich, wie Kant später zu Zeiten der Grundlegung ausführen wird, eine derartige i n t e l l i g i b l e W e l t (rational) zwar denken, allerdings jedoch nicht (empirisch) erkennen: „Dadurch, daß die praktische Vernunft sich in eine Verstandeswelt hinein denkt, überschreitet sie gar nicht ihre Grenzen, wohl aber, wenn sie sich hineinschauen, hineinempfinden wollte" (GMS VII 95 BA 118). D e n k b a r muß eine solche intelligible Welt sein, weil, wenn es denn ein solches allgemeines Reich der Zwecke, auf welches alle moralischen Zwecke hinauslaufen würden, geben sollte, eine solche moralische Einheit als Ideal (d.i. als Normativiät) postuliert werden muß; e r k e n n b a r kann ein solches Reich der Zwecke (ein reiner V e r s t a n d e s b e g r i f f ) jedoch insofern nicht sein, als es eine derartige intelligible Welt hier auf Erden nicht gibt und empirisch auch gar nicht geben kann - einerseits. Andererseits bedeutet die (empirische) Nicht-Erkennbarkeit oder die Kontingenz des empirisch Moralischen nicht, daß eine solche intelligible Welt nicht als Normativiät gedacht werden müßte - im Gegenteil: die Kontingenz bzw. Heteronomie des empirisch Moralischen kann nur alsdann durchbrochen und eine Autonomie (d. i. eine Selbstgesetzgebung) als moralische Intelligibilität hier auf Erden nur alsdann hergestellt werden, wenn - aus rein rationalen (d. h. nicht empirischen) Gründen - eine derartige i n t e l l i g i b l e W e l t als Normativität postuliert wird. So gesehen ist „der Begriff einer [reinen, d. h. nicht empirischen C. R.] Verstandeswelt also nur ein S t a n d p u n k t , den die Vernunft sich genötigt sieht außer den Erscheinungen zu nehmen, u m s i c h s e l b s t a l s p r a k t i s c h [d. i. sittlich - C. R.] z u d e n k e n , welches, wenn die Einflüsse der Sinnenwelt für den Menschen bestimmend wären, nicht möglich sein würde, welches aber doch notwendig ist, wofern ihm nicht das Bewußtsein seiner selbst, als Intelligenz, mithin als vernünftige und durch Vernunft tätige, d. i. frei wirkende Ursache, abgesprochen werden soll" (GMS VII 95 BA 119). Mit anderen Worten: wenn denn überhaupt eine moralische Welt gedacht und als unmittelbare praktische Wirkung hieraus auch hergestellt - werden soll, so kann diese intelligible Welt nur als eine meta-physische, d. h. nicht sinnliche verstanden werden.

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II Die Erziehungsbegriffe von Geistergestalten Wollen wir versuchen, uns Swedenborgs h o m o m a x i m u s - jene Fabulation, mit der er seinen m u n d u s s p i r i t u u m , d . h. seine Geisterwelt, ausgemalt hat - vorstellen, so erhalten wir folgendes Bild. Die Geisterwelt ist mit dem gestirnten Himmel über uns identisch und bildet - von einer imaginären Entfernung aus betrachtet - eine gigantische menschliche Figur, die mit der Gestalt des HERRN, d. h. mit Gott in seiner ganzen Herrlichkeit, übereinstimmt. Die Gliedmaßen dieser gigantischen menschlichen Figur bestehen ihrerseits aus Geistergesellschaften, die sich wiederum in singuläre Geister sozusagen in einzelne Geisteratome - unterteilen. (Dieses kabbalistische Bild dürfte Swedenborg dem Titelkupfer der Erstausgabe von Hobbes' Leviathan entnommen haben - zu dem Bild vgl. R. Brandt 1982). Alle einzelnen Geister, alle Geistersozietäten sowie die Substanz des homo maximus selbst bestehen aus verstorbenen menschlichen Seelen, welche eine Art Paralleluniversum bilden. Dieses in der Tat phantastische Gebilde des homo maximus bezeichnet Kant als „eine ungeheure und riesenmäßige Phantasie, zu welcher sich vielleicht eine alte kindische Vorstellung ausgedehnt hat, wenn etwa in Schulen, um dem Gedächtnis zu Hülfe zu kommen, ein ganzer Weltteil unter dem Bilde einer sitzenden Jungfrau u. d. g. den Lehrlingen vorgemalt wird" (T II 980 A 111). Da diese projektive Symbolisierung tatsächlich auf die E r z i e h u n g s b e g r i f f e abzielt (welche, als ausgeartete kindliche Vorstellungen, wiederum offenbar zum Zweck der Erziehung ins Geisterreich projiziert wurden), so ließe sich bereits an dieser Stelle die Vermutung äußern, daß insbesondere Swedenborgs h o m o m a x i m u s und mit diesem auch der gesamte m u n d u s s p i r i t u u m mit all seinen Geistergesellschaften ein nach außen geworfenes verbildlichtes Imago des inneren Sittengesetzes, demnach, wenn man es psychoanalytisch ausdrücken wollte, eine projektive Personifizierung der psychischen Instanz ,des Vaters' (d.h. das Ü b e r - I c h als innerpsychische Gesetzesinstanz) darstellt. „Die Möglichkeit [von einer solchen projektiven Symbolisierung, C. R.] bemerkt Kant - können wir uns einiger maßen dadurch faßlich machen, wenn wir betrachten, wie unsere höhere Vernunftbegriffe, welche sich den geistigen ziemlich nähern [eine Ironie Kants, der ja, wie gesagt, das Geisterreich für eine projektive Verschiebung unserer - wenn auch verrückten, nach außen deplacierten, personifizierten, verbildlichten und dadurch gleichsam substantialisierten - Vernunftbegriffe hält - C. R.], gewöhnlicher Maßen gleichsam ein körperlich Kleid annehmen, um sich in Klarheit zu setzen. Daher die moralische Eigenschaften der Gottheit unter den Vorstellungen des Zorns, der Eifersucht, der Barmherzigkeit, der Rache, u. d. g. vorgestellt werden; daher personifizieren Dichter die Tugenden, Laster oder andere Eigenschaften der Natur, doch so, daß die wahre Idee des Verstandes hindurchscheinet; so stellt der Geometra die Zeit durch eine Linie vor, obgleich Raum und Zeit nur eine

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Übereinkunft in Verhältnissen haben und also wohl der Analogie nach, niemals aber der Qualität nach mit einander übereintreffen; daher nimmt die Vorstellung der göttlichen Ewigkeit selbst bei Philosophen den Schein einer unendlichen Zeit an, so sehr wie man sich auch hütet, beide zu vermengen [...]. Auf diese Art würden Ideen, die durch einen geistigen [gänzlich unbewußten - C. R.] Einfluß mitgeteilt sind, sich in die Zeichen deijenigen S p r a c h e einkleiden, die der Mensch sonsten im Gebrauch hat, die empfundene Gegenwart eines Geistes in das Bild einer m e n s c h l i c h e n F i g u r , Ordnung und Schönheit der immateriellen Welt in Phantasien, die unsere Sinne sonst im Leben vergnügen, u. s. w." (Τ II 9 4 8 f A 5 If). Auf zweierlei sollten wir bei diesem Gedankengang Kants achtgeben. Zum einen beschreibt Kant hier nochmals den Mechanismus der Projektion, indem durch bildliche Symbolisierungen und sprachliche Analogien, durch Metonymien und Metaphern Eigenschaften oder Attribute (ζ. B. Zorn, Eifersucht, Barmherzigkeit oder Rache) auf einen bestimmten Gegenstand (ζ. B. die moralischen Eigenschaften der Gottheit) projiziert werden. Zum anderen hat Kant für die Darstellung dieses Projektionsmechanismus als Objekte, auf welche projiziert wird, offenbar nicht zufällig ausschließlich solche Gegenstände in Betracht gezogen, die entweder dem Bereich des Moralischen oder aber dem des Erhabenen, und in beiden Fällen dem Bereich der I c h i d e a l e entstammen. Zwischen dem Projektions Vorgang und den von diesem betroffenen Gegenständen besteht somit ein genuiner Zusammenhang, insofern es sich bei den hier gewählten Objekten (,den moralischen Eigenschaften der Gottheit', den .Tugenden und Lastern', die von Dichtern personifiziert werden, sowie einer moralischen .immateriellen Welt' qualitativ als auch bei der ,göttlichen Ewigkeit' sowie dem ,ganzen Weltteil' quantitativ) um meta-physische Erziehungsbegriffe, folglich um solche Gegenstände handelt, welche - da sie empirisch, sinnlich nicht begreifbar sind - nur umschrieben, nicht aber beschrieben werden können. Kurz: gerade mit den angeführten Erziehungsbegriffen k a n n gar nicht anders verfahren werden als in der oben dargestellten projektiven Weise, da es sich hier um Ideale, psychoanalytisch gesprochen, um I c h i de al e handelt. Nun werden jedoch zumindest in dem zweiten Zitat diese Ideale auch als solche vorgestellt (indem die Symbolisierungen, die körperlichen Gewänder', die Personifikationen' und Metaphern eben deutlich als Gleichnisse gekennzeichnet werden), wohingegen in dem ersten Zitat das Darstellende mit dem Dargestellten verwechselt, d. h. tatsächlich geglaubt wird, daß (wie im Falle des Lehrlings) ,ein ganzes Weltall' eine ,sitzende Jungfrau' bzw. daß (wie in Swedenborgs Fall) die i n t e l l i g i b l e W e l t ein m u n d u s s p i r i t u u m , d. h. eine Geisterwelt in Form eines h o m o m a x i m u s , sei. Insofern jedoch diese Verschiebung vom Subjekt aufs Objekt sich in diesen Fällen explizit auf die Erziehungsbegriffe bezieht und die psychische Instanz des Moralischen, d. h. des Über-Ichs, durch eine Verschiebungskette zuerst in eine intelligible Welt, sodann in ein Geisterreich, schließlich in die Gestalt eines homo maximus

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hineinprojiziert wird, nimmt hier das Dargestellte nicht nur die Form des Darstellenden an, sondern wird seinerseits - wie die Geister nach Mitternacht aktiv. Wird somit die psychische Instanz des Moralischen in ein geistiges Reich projiziert, so kommt dieses Substantialisierte als Geisterreich wieder zurück. Anders gesagt: die abgespaltene psychische Instanz ,des Vaters' (die Erziehungsbegriffe des ,Über-Ichs') kehrt als Abgespaltenes (Geisterreich) aus der anderen Welt wieder zurück - als Revenant, Wiedergänger. Einem solchen abgespaltenen Über-Ich würde dann auch sowohl die nun wirklich größenwahnsinnige Gestalt, diese „riesenmäßige Phantasie" eines Riesengespenstes als Hyper-Vater-Imago, als auch dessen Funktion, nämlich Swedenborgs Ich etwas abzuverlangen, und zwar den allergrößten Teil seiner selbst abzuverlangen, durchaus entsprechen. [Vgl. 33. Exkurs]

III. Physische, moralische und pneumatische Anziehungskraft in Anbetracht des Über-Ichs Ausgehend von dieser Analogie zwischen m u n d u s s p i r i t u u m und m u η d u s i n t e l l i g i b i l i s konnte Kant in seiner Vorlesung über rationale Psychologie (1765) auch zu bedenken geben: „Der Gedanke des S w e d e n b o r g ist hierin sehr erhaben. Er sagt: die Geisterwelt macht ein besonderes reales Universum aus; dieses ist der mundus intelligibilis, der von diesem mundo sensibili muß unterschieden werden. Er sagt: Alle geistigen Naturen stehen mit einander in Verbindung: nur die Gemeinschaft und Verbindung der Geister ist nicht an die Bedingung der Körper gebunden; da wird nicht ein Geist dem andern weit oder fern seyn, sondern es ist eine geistige Verbindung" etc. (VrPsy AA XXVIII,2 298 A 257). So weit, so gut: Swedenborgs Gedanke ist darin erhaben, daß er sich seine Geisterwelt als eine moralische, intelligible Welt vorstellt und daß diese Vorstellung - wie sollte es auch anders sein - von ihm als eine meta-physische begriffen wird. Insofern stellt Swedenborgs mundus spritituum (in der Gestalt eines homo maximus) also eine projektive Symbolisierung oder Personifikation der Tugenden sowie ganz allgemein die sinnbildliche Ausmalung eines allgemeinen Reichs der Tugend (d. h. den mundus intelligibilis) dar; womit sich Swedenborg hier gar nicht so anders zu verhalten scheint als etwa die Dichter, die Tugenden oder Laster symbolisieren. Ein intelligibles allgemeines Reich der Tugend hätte demnach mit Swedenborgs Geisterreich durchaus richtig beschrieben worden sein können - hätte es denn Swedenborg als Ideal, als Postulat oder als notwendige Verstandesvorstellung dargestellt, anstatt es als ein quasi physikalisch, pneumatisch agierendes, anthropomorphistisches Riesengespenst in Form eines homo maximus zu beschreiben. Würde also Swedenborg für den irdischen Vorgang der sittlichen Antriebe nicht Ursachen angegeben haben, welche Kant zufolge gar nicht bestimmt werden können, hätte Swedenborg hier nicht eine fälschliche Kausalbeziehung zwischen Gei-

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sterwelt und Sittlichkeit konstruiert, so wäre gegen seine Geist(er)konstruktion erst einmal weiter nichts einzuwenden gewesen. An dieser Stelle macht Kant einen kleinen Gedankensprung: Gesetzt, man teilt nicht Swedenborgs Meinung, derzufolge die sittlichen Antriebe im Menschen auf ein Wirken der Geister in ihnen zurückzufuhren sein sollen, so stellt sich doch gerade die Frage, auf welcher Art von Kausalität diese Antriebe, das Über-Ich, das Gewissen, die Willensfreiheit sowie Moralität überhaupt eigentlich beruhen bzw. wie man sich eine solche Kausalität vorzustellen hat. Um also zu differenzieren, wie eine intelligible Welt als rationale Ethik von einer Pneumatologie unterschieden werden könnte, kommt Kant in den Träumen auf die Ursache/Wirkungs-Beziehung der sittlichen Antriebe selbst zu sprechen, indem er diese wie folgt beschreibt: „Dadurch [nämlich durch die sittlichen Antriebe, durch das starke Gesetz der Schuldigkeit und das schwächere der Gütigkeit] sehen wir uns in den geheimsten Beweggründen abhängig von der R e g e l d e s a l l g e m e i n e n W i l l e n s , und es entspringt daraus in der Welt aller denkenden Naturen eine m o r a l i s c h e E i n h e i t und systematische Verfassung nach bloß geistigen Gesetzen. Will man diese in uns empfundene Nötigung unseres Willens zur Einstimmung mit dem allgemeinen Willen das s i t t l i c h e G e f ü h l nennen, so redet man davon als von einer Erscheinung dessen, was in uns wirklich vorgeht, o h n e d i e U r s a c h e n d e r s e l b e n a u s z u m a c h e n " (Τ II 943 A42, die letzte Herv. C. R.). D a s s i t t l i c h e G e f ü h l , welches Kant synonym auch das m o r a l i s c h e G e f ü h l nennt - worunter wir uns hier so etwas wie das G e w i s s e n bzw. das Ü b e r - I c h vorzustellen haben - unterliegt somit tatsächlich Ursachen und Gesetzen, insofern es „eine e m p f u n d e n e A b h ä n g i g k e i t des Privatwillens vom allgemeinen Willen" (Τ II 944 A 43) darstellt, und diese in uns empfundene Abhängigkeit ist auch in der Tat als eine g e i s t i g e zu bezeichnen; nur sollte man hinter dieser „in uns empfundenen Nötigung unseres Willens" nicht noch andere Kräfte (etwa eine pneumatische Nötigung aus dem Geisterreich) vermuten - ebenso wie man die Traumgeschichten „nicht für Offenbarungen aus einer unsichtbaren Welt annehmen" müsse (Anthr. XII 477 Β 82 A 81). Es besteht eben eine grundlegende Unterscheidung zwischen dem Noumenon und Phaenomenon einer Erkenntnis der Sittlichkeit: Zwar ist es uns kognitiv möglich zu beschreiben, wie Moralität funktioniert, und es ist auch möglich - und sogar rational notwendig - zu d e n k e n , auf welche Zwecke die Moralität abzielt; aber es ist nicht möglich, den letztendlichen Grund (das Warum?) von Sittlichkeit überhaupt zu benennen. Hierin verhält es sich im übrigen mit dem m u n d u s i n t e l l i g i b i l i s gar nicht so anders als mit dem m u n d u s s e n s i b i l i s : Auch für die physische Welt gilt, daß wir zwar sagen können, wie (!) die Materie aufeinander wirkt, nicht jedoch bestimmen können, warum (!) sie - in letztendlicher Kausalität derart aufeinander wirkt. Die Swedenborgsche Korrespondenz zwischen einer immateriellen Welt und der materiellen Welt aufgreifend, vergleicht Kant die

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metaphysische Welt der Sittlichkeit mit der physischen der Sinnlichkeit, indem er nun eine Parallele zieht: zwischen (Hutchesons) moralischem oder sittlichem Gefühl einerseits [vgl. 34. Exkurs] und (Newtons) Gravitationsgesetz andererseits - handelt es sich doch bei beiden Kräften, der meta-physischen ebenso wie der physischen Anziehungskraft, um unsichtbare, jedenfalls um u n m i t t e l b a r nicht erfaßbare Kräfte. Also schreibt Kant in den Träumen: „So nannte Newton das sichere Gesetz der Bestrebungen aller Materie, sich einander zu nähern, die G r a v i t a t i o n derselben, indem er seine mathematische Demonstration nicht in eine verdrießliche Teilnehmung an philosophischen Streitigkeiten verflechten wollte, die sich über die Ursache derselben eräugnen könnten. Gleichwohl trug er keine Bedenken, diese Gravitation als eine wahre Wirkung einer allgemeinen Tätigkeit der Materie ineinander zu behandeln, und gab ihr daher auch den Namen der A n z i e h u n g . Sollte es nicht möglich sein, die Erscheinung der sittlichen Antriebe in den denkenden Naturen, wie solche sich auf einander wechselseitig beziehen, gleichfalls als Folge einer wahrhaft tätigen Kraft, dadurch geistige Naturen ineinander einfließen vorzustellen, so daß das sittliche Gefühl diese e m p f u n d e n e A b h ä n g i g k e i t des Privatwillens vom allgemeinen Willen wäre und eine Folge der natürlichen und allgemeinen Wechselwirkung, dadurch die immaterielle Welt ihre sittliche Einheit erlangt, indem sie sich nach den Gesetzen dieses ihr eigenen Zusammenhanges zu einem System von geistiger Vollkommenheit bildet?" (Τ II 944A43Í) Diese Frage könnte sogar bejaht werden; allerdings nur unter der strikten Voraussetzung, daß es sich bei Newtons Gravitationsgesetz ebenso wie bei Shaftesburys Anziehungskraft im sittlichen Gefühl um V o r s t e l l u n g e n des Verstandes, demnach um Denkmodelle und nicht um Seinssubstanzen handelt. Es befinden sich also in der Materie keine kleinen Geistermännchen, welche da machen, daß die Materie sich wechselseitig anzieht, ebenso wie die moralische Anziehungskraft im sittlichen Gefühl, im Gewissen oder Über-Ich nicht auf ein etwaiges pneumatisch agierendes Geisterreich zurückzuführen ist. Bei dieser Differenzierung zwischen sittlicher und pneumatischer Anziehungskraft verfährt Kant durchaus psycho-analytisch, indem er die Swedenborgsche Projektion des Sittlichen ins Geisterreich wieder auf den Boden der psychischen (und damit auch ethischen) Realität zurückbezieht und die bei Swedenborg kopfstehende Kausalität, derzufolge die Sittlichkeit eine Folge der Einflüsse aus dem Geisterreich sein soll, wiederum auf den Kopf stellt sprich: die Geisterwelt nicht als die Ursache, sondern als die Folge einer, wenn auch verzerrten und verrückten Sittlichkeitsvorstellung ansieht. Wenn also Kant in diesem Vergleich in den Träumen die s i t t l i c h e n A n t r i e b e damit beschreibt, „daß in uns gleichsam e i n f r e m d e r W i l l e [aus dem Geisterreich? - C. R.] wirksam sei" (Τ II 943 A 41, Herv. C. R.), daß hier „eine g e h e i m e M a c h t " [aus der Geisterwelt? - C. R.] in uns wirke, welche uns nötige, „unsere Absicht zugleich auf anderer Wohl oder nach fremder Willkür zu richten [...]"; daß es sich hierbei um eine Instanz handelt, die „der eigen-

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nützigen Neigung stark widerstreitet"; eine Instanz, bei welcher „der Punkt, wohin die Richtlinien unserer Triebe zusammenlaufen, [...] also nicht bloß in uns, sondern [...] außer uns" sich befindet (Τ II 943 A 42, Herv. C. R.), so könnte man bei der Beschreibung dieser „geheimen, in uns wirkenden Macht" sowohl an Swedenborgs Gespenster als auch, psychoanalytisch gesprochen, an die psychische I n s t a n z d e s Ü b e r - I c h s denken, wobei diese doppelte Lesart (.geheime in uns wirkende Macht' = 1. Gespenster = 2. abgespaltenes moralisches Gefühl bzw. abgespaltenes ,Über-Ich') von Kant selbstverständlich beabsichtigt ist. Man sieht hieran, daß Kant die „sittlichen Antriebe", wie er sie im moralischen Gefühl bzw. im Gewissen beschreibt („als ein P u n k t a u ß e r u n s , wohin die Richtlinien unserer Triebe zusammenlaufen", welcher Punkt eine „geheime Macht darstellen" würde, die uns gegen unseren eigennützigen Willen zu etwas „nötigen" würde), sprachlich in eine doppelte Analogie setzt: zum einen mit seiner Projektionstheorie (wo im halluzinatorischen Wahn die Richtlinien des f o c u s i m a g i n a r i u s nach außen versetzt wurden) und zum anderen mit Swedenborgs Wahnvorstellungen selbst (welche subjektiv dem Wahn verfallen sind, von außen vermittels einer geheimen Macht aus dem Geisterreich dirigiert zu werden). Damit jedoch bezieht Kant Swedenborgs Wahn (die Geister, die er in sich zu hören glaubt) auf dessen psychische Realität (nämlich auf das in ihm sprechende moralische Gefühl, das Gewissen bzw. das Über-Ich) wieder zurück, indem er wiederum auf den Projektionsmechanismus selbst verweist und zu bedenken gibt, daß die Geisterseher „die schwachen Begriffe unseres [sittlichen - C. R.] Verstandes vielleicht auf den Höchsten [nur - C. R.] sehr verkehrt übertragen" hätten (T II 946 A 47). Kant zufolge begeht daher Swedenborg in seiner Geist(er)konstruktion gleich mehrere grundlegende Fehler. Zum ersten überschreitet er die „Grenzen der menschlichen Vernunft" (T II 983 A 115), indem er für etwas eine Ursache angibt, wofür sich keine Ursache mehr angeben läßt: nämlich für das W a r u m der Anziehungskraft sei es nun jene der physischen Materie oder jene der meta-physischen Sittlichkeit. Zum zweiten verhält sich Swedenborg hier nun doch ganz anders als die oben genannten Dichter, welche Tugenden personifizierten (doch so, daß bei letzteren die wahre Idee hinter diesen Personifizierungen noch klar zum Vorschein kam, die Analogie also noch deutlich als Gleichnis zu erkennen war), insofern Swedenborg das sittliche „Gesetz personifiziert und aus der moralisch gebietenden Vernunft" (VT VI 396 A 424) einen gespenstisch agierenden h o m o m a x i m u s macht, indem er also „falsch überträgt" bzw. falsch projiziert - und zwar so, daß dabei die Analogie für die Sache selbst ausgegeben und die Authentizität, Substantialität und Materialität dieses m u n d u s s ρ i r i t u u m immer wieder aufs neue heraufbeschworen wird. Aus dem ersten und zweiten Fehler ergibt sich der dritte und für Kant folgenschwerste Fehler Swedenborgs, nach welchem die sittliche Welt zwar

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metaphysisch, die Metaphysik der Sittlichkeit indes quasi-physikalisch - nämlich als eine pneumatische Wirkung eines real existierenden Geisterreichs dargestellt wird. Mit der Substantialisierung des moralisch Geistigen in einem Geisterreich sowie mit der Anthropomorphisierung dieses Geist(er)reiches in einem homo maximus ergeht es jedoch schließlich der Metapher wie dem Zauberlehrling: das Geisterreich (welches ursprünglich das Projizierte, Personifizierte oder auch Anthropomorphisierte der Sittlichkeit darstellte) macht sich gewissermaßen selbständig und kehrt zurück, um dann seinerseits - wie der nun unter eigener Regie arbeitende G o l e m (vgl. Ch. Bloch 1920) - sein destruktives Unwesen mit dem Geistig-Sittlichen zu treiben.

IV. Projektion und Paranoia Mit anderen Worten: die Swedenborgsche Geistesvorstellung, nach welcher alles, was hier auf Erden physisch wie meta-physisch geschieht, nichts anderes als das Marionettenspiel eines pneumatisch die Fäden ziehenden h o m o m a x i m u s sein soll, ist eine hochgradig paranoide Vorstellung. Zwar hat Kant, im Unterschied etwa zur Projektion (und deren Analogie zur Amphibolie) sowie zur Schizophrenie (und deren Analogie zum Paralogismus), keinen ebenso ausgearbeiteten Begriff für die Paranoia (wenngleich diese später ihre Analogie in der Antinomie finden wird), auch gesteht er offen ein, daß ihn der V e r f o l g u n g s w a h n oder G r ö ß e n w a h n (der W a h n s i n n , worunter er hier die P a r a n o i a versteht) bei Swedenborg weniger interessiert (vgl. Τ II 974 A 100), doch denkt er an die Konsequenzen der Paranoia gerade im ethischen Bereich. Denn - und dies ist ja doch der letztendliche Grund, um dessentwillen Kant die Auseinandersetzung mit dem Geisterseher überhaupt führt! - es ist in mehrerlei Hinsicht auffällig, daß die paranoide Position Swedenborgs nicht nur unsittlich, sondern sogar widersittlich erscheint. „Denn es scheinen in diesem Falle [jenem nämlich, in dem man die metaphysischen Gesetze der Sittlichkeit auf die pneumatischen Einflüsse eines Marionettenspiels aus dem Geisterreich zurückfuhren möchte - C. R.] die Unregelmäßigkeiten mehrenteils zu verschwinden, die sonsten bei dem Widerspruch der moralischen und physischen Verhältnisse der Menschen hier auf Erden so befremdlich in die Augen fallen" (Τ II 944 A 44). Dieses V e r s c h w i n d e n kann nun in unterschiedlicher Hinsicht interpretiert werden. Zum einen bezüglich Swedenborgs Motivation in Hinblick auf seine Wahnkonstruktion. Diese verfolgt offenbar den Zweck, die Widersprüche und Ambivalenzen zwischen den moralischen und physischen Verhältnissen der Menschen hier auf Erden v e r s c h w i n d e n zu l a s s e n . Swedenborgs m u n d u s s p i r i t u u m wäre dann insofern Widerspruchs- und ambivalenzfrei zu nennen, als es in diesem Jenseits keine Vermischungen von Gut und Böse mehr gäbe, sondern diese beiden Welten durch einen ,homo maximus' = Him-

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mei (= .Reich des Lichtes' = Ormuzd ) einerseits und einen ,kopfstehenden homo maximus' = Hölle (= .Reich der Finsternis' = Ahriman) andererseits nun auch örtlich fein säuberlich voneinander getrennt wären. Unfreiwillig fühlt man sich bei dieser psychischen Aufspaltung, die die ,Zwei-WeltenLehren' charakerisiert, an Melanie Kleins p a r a n o i d e P o s i t i o n erinnert; eine Spaltung der Welt in zwei voneinander abgesonderte Schwarz-und-WeißWelten, deren Motivation auch Kant keineswegs entgangen ist, insofern er den moralischen Grund für die angebliche Wechselwirkung zwischen Menschen und Geisterwelt „nach den Gesetzen des p n e u m a t i s c h e n E i n f l u s s e s " darin sehen wollte, „daß daraus natürlicher Weise eine nähere Gemeinschaft einer guten oder bösen Seele mit guten und bösen Geistern entspringt" (T II 945 A 46 Fn., Herv. C. R.); eine ,Lehre von den Entsprechungen' (Swedenborgs c o r r e s p o n d e n t i a ) , durch welche die Widersprüche und Ambivalenzen „der moralischen und physischen Verhältnisse der Menschen hier auf Erden" freilich - zumindest im Wahn - aufgehoben worden wären. Zum anderen kann dieses Verschwinden auch als Realitätsleugnung, nämlich als eine L e u g n u n g des Bösen in der Welt verstanden werden - indem im homo maximus, in welchem sich Swedenborg ja nun vornehmlich aufzuhalten pflegt, in der Tat nichts Böses mehr anzutreffen ist. Letztendlich könnte sich jedoch hinter dieser Leugnung des Bösen auch eine Rechtfertigung für dieses selbe Böse verbergen - wodurch sich die Leugnung als e i n e A b w e h r herausgestellt hätte. Von daher konnte Kant auch in seiner Vorlesung über rationale Psychologie (1765) eine Art kategorischen Imperativ (nicht aus der Vernunft, sondern:) für die Vernunft veranschlagen; eine Maxime für die Vernunft mit dem Wortlaut: „ A l l e s o l c h e E r f a h r u n g e n u n d E r s c h e i n u n g e n n i c h t z u e r l a u b e n , s o n d e r n z u v e r w e r f e n , d i e so b e s c h a f f e n s i n d : daß, w e n n ich sie a n n e h m e ; sie den G e b r a u c h m e i n e r Vern u n f t u n m ö g l i c h m a c h e n , und die B e d i n g u n g e n , u n t e r denen ich m e i n e V e r n u n f t allein g e b r a u c h e n kann, a u f h e b e n . " (VrPsy A.A. XXVIII, 1 300 A 259f) Würde diese Maxime nicht eingehalten werden, „so hört der Gebrauch meiner Vernunft in dieser Welt gänzlich auf; dann könnten viele H a n d l u n g e n auf R e c h n u n g der Geister g e h e n . Indessen bedarf dieses keiner näheren Erwägung, da man schon aus der Erfahrung sieht: daß, wenn ein Uebelthäter die Schuld seiner Handlungen auf einen bösen Geist schiebt, der ihn dazu verleitet haben soll, der Richter dieses für keine Entschuldigung gelten läßt" (VrPsy A.A. XXVIII, 1 300 A 260). Dieser Gedankengang Kants ist erstaunlich - denn abgesehen davon, daß er in der Geisterwelt vor allem eine Entlastungsfunktion (nämlich eine Entlastung des Subjekts vor seinem Gewissen bzw. vor dem Gesetz) erkennt, weist er somit auf ein Phänomen hin, welches die Psychoanalyse geradezu als ein Kernstück der Paranoia betrachtet, nämlich die d i s o w n i n g p r o j e c -

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ti o n . Kant sagt: Swedenborg behauptet eine (sittliche, moralische - und ethische) intelligible Welt, die er in Form eines mundus spirituum darstellt; hinter dieser Welt des ausschließlich Guten verbergen sich jedoch eigentlich wie Kant nun in den Träumen schreibt: - „Laster und Niederträchtigkeit" (T II 989 A 127). Kurz: wir finden hier genau jenen Prozeß wieder, den die Psychoanalyse als paranoid-schizoide Projektion beschreibt: „eine Zweiteilung im Inneren der Person und ein Ausstoßen des Teils von sich, der abgelehnt wird, auf den anderen" (Laplanche / Pontalis 1972 407). ,Der Andere' wäre in diesem Fall bei Swedenborg einerseits der kopfstehende homo maximus (d. h. die Hölle), andererseits die diesseitige irdische Welt - deren Verbrechen, Swedenborg zufolge, ja gerade darin besteht, den positiven homo maximus nicht anerkennen zu wollen, weswegen ihr eben auch dessen rächende Strafe gebührt. [Vgl. 35. Exkurs] In Wirklichkeit verläuft jedoch der Mechanismus genau umgekehrt: Swedenborg ist aufgeladen mit Aggressionen gegen die diesseitige Welt, da er jedoch - moral correct, wie er nun mal als Bischofssohn zu sein hat - sich seine Aggressionen nicht so ohne weiteres einzugestehen vermag und in sich ablehnt, schiebt er diese beiseite und nach außen, konstruiert einen m u n d u s s p i r i t u u m des ausschließlich Guten, um dann mit dieser s c h ö η e η n e u e n W e l t (vgl. A. Huxley 1932), also mit seinem b i g b r o t h e r namens h o m o m a x i m u s , seine aggressiven Feldzüge gegen die diesseitige Welt zu fuhren. Denn - um dies nochmals zu betonen: Es ist schon einigermaßen verrückt, daß Swedenborg sich erst in eine Geisterwelt versetzen muß, um von dort aus, und zwar aus der Sicht der Geister, die diesseitige Welt kritisieren zu können wobei eben, nach Kant, diese ganze Mitternachtsveranstaltung hauptsächlich den Zweck verfolgt, die eigenen unsittlichen Aggressionen gegen die Mitmenschen dem eigenen Gewissen gegenüber rechtfertigen zu können. Man sieht, daß die S p a l t u n g , von der oben die Rede war, auch und gerade in Sachen Ethik zum Tragen kommen kann; wobei für Kant die e t h i s c h e S p a l t u n g - oder eben: die Spaltung der Ethik in zwei Welten - die gefährlichste von allen ist. Denn gerade in Sachen Ethik scheint der Manichäismus Swedenborgs wie im übrigen der aller manichäistischen Systeme - doch zumindest unlogisch. Denn, wenn alles Irdische nichts als ein M a r i o n e t t e n s p i e l der pneumatischen Fädenzieherei eines homo maximus aus einer Geisterwelt sein soll, so würde sich nicht nur jegliche Willensfreiheit - wie Freiheit überhaupt in dieser Welt als Problem erübrigen, sondern es würde sich alsdann auch in der Tat die Frage stellen, wie denn die Widersprüche der moralischen und physischen Verhältnisse der Menschen hier auf Erden überhaupt möglich sein sollen, es sei denn freilich, die Geisterwelt wäre in und mit sich selbst nicht im reinen - wie es bei Swedenborg ja auch tatsächlich der Fall zu sein scheint, indem bei ihm selbst noch die Geisterwelt manichäistisch in sich gespalten ist: zwischen guten und bösen Geistern, zwischen einem positiven homo maximus

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und dem kopfstehenden homo maximus, zwischen Himmel und Hölle. Ist jedoch das Jenseits nicht weniger gespalten als die diesseitige Welt, so fragt sich, warum wir fur eine Ethik hier auf Erden überhaupt eines Jenseits bedürften. „Wie?" - möchte Kant daher in den Träumen wissen - „ist es denn nur darum gut, tugendhaft zu sein, weil es eine andere Welt gibt, oder werden die Handlungen nicht vielmehr dereinst belohnt werden, weil sie an sich selbst gut und tugendhaft waren? Enthält das Herz des Menschen nicht unmittelbare sittliche Vorschriften, und muß man, um ihn allhier seiner Bestimmung gemäß zu bewegen, durchaus die Maschinen an eine andere Welt ansetzen? Kann derjenige wohl redlich, kann er wohl tugendhaft heißen, welcher sich gern seinen Lieblingslastern ergeben würde, wenn ihn nur keine künftige Strafe schreckte, und wird man nicht vielmehr sagen müssen, daß er zwar die Ausübung der Bosheit scheue, die lasterhafte Gesinnung aber in seiner Seele nähre, daß er den Vorteil der tugendähnlichen Handlungen liebt, die Tugend selbst aber hasse? Und in der Tat lehret die Erfahrung auch: daß so viele, welche von der künftigen Welt belehrt und überzeugt sind, gleichwohl dem Laster und der Niederträchtigkeit ergeben, nur auf Mittel sinnen, den drohenden Folgen der Zukunft arglistig auszuweichen [...]" (T II 988f A 126f). Womit die Geisterwelt auch hier, gerade im Bereich des Ethischen, sowohl in ihrer E n t l a s t u n g s f u n k t i o n vor dem Gesetz (dem Über-Ich wie dem Sittengesetz) als auch in ihrer A b w e h r f u n k t i o n (der in sich verleugneten und nach außen projizierten bösen Wünsche) nochmals sehr treffend beschrieben wäre. So würden, schreibt Kant schließlich, „die Erziehungsbegriffe [das Überich als Instanz - C. R.], oder auch mancherlei sonst eingeschlichene Wahn, hiebei ihre Rolle spielen, wo Verblendung mit Wahrheit untermengt wird, und eine wirkliche geistige Empfindung [wie beispielsweise Shafitesburys moralisches Gefühl, das Gewissen - C. R.] zwar zum Grunde liegt, die doch in Schattenbilder der sinnlichen Dinge umgeschaffen worden. [...] Endlich würde es gar nicht befremdlich sein, an einem Geisterseher zugleich einen Phantasten [d. h. Halluzinierenden - C. R.] anzutreffen, zum wenigsten in Ansehung der begleitenden Bilder von diesen seinen Erscheinungen, weil Vorstellungen, die ihrer Natur nach fremd, und mit denen im leiblichen Zustande des Menschen unvereinbar sind, sich hervordrängen, und übelgepaarte Bilder in die äußere Empfindung hereinziehen, wodurch wilde Chimären und wunderliche Fratzen ausgeheckt werden, die in langem Geschleppe den betrogenen Sinnen vorgaukeln, ob sie gleich einen wahren [jedoch unbewußten - C. R.] geistigen Einfluß [wie etwa das moralische Gefühl - C. R.] zum Grunde haben mögen" (T II 950A54Í).

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V. Kant - ein Mystiker ? Kommen wir nun auf jene Übereinstimmung zu sprechen, deren Verhandlung wir bereits wiederholt angekündigt haben: auf die Übereinstimmung zwischen Kants kritischem Denken und Swedenborgs Geisterlogie. Ist denn nicht auch das Kantische kritische Vernunftsystem, möchten wir fragen, gleich dem Swedenborgschen Geistersystem dualistisch in sich gespalten? Spaltet sich nicht gerade die Kantische Vernunft in eine Erkenntnistheorie (der Physik) und eine Ethik (der Meta-physik)? Dividiert sich nicht diese Spaltung bei Kant immer weiter von oben nach unten? Zerfallt nicht seine Erkenntnistheorie in ein Subjekt und ein Objekt der Erkenntnis? Zergliedert sich nicht dann wiederum dieses Objekt der Erkenntnis seinerseits in ein Ding für uns (ein Phaenomenon, welches für uns nur unter gewissen Bedingungen erkennbar ist) und ein Ding an sich (ein Noumenon, welches unserer Erkenntnis verschlossen bleibt), und teilt sich nicht auch sodann das Subjekt eben dieser Erkenntnis in ein transzendentales Ich (welches denkt) und ein empirisches Ich (welches erkennt)? Scheinen wir es denn nicht auch hier bei Kant sowohl auf der Seite des Subjekts als auch auf der des Objekts mit einem dualistischen Erkenntnissystem zu tun zu haben? Und verhält es sich nicht in der Kantischen Ethik ebenso, indem das Kantische Subjekt sich dort in eines der Heteronomie (der Mensch als sinnlich fremdbestimmtes Wesen) und eines der Autonomie (der Mensch als intellektuell selbstgesetzgebendes Wesen) spaltet; so daß zwischen dem mundus sensibilis und dem mundus intelligibilis der Kantische Mensch - als Bürger zweier Welten - prinzipiell dualistisch gespalten erscheint? Diese scheinbare Übereinstimmung zwischen der Kantischen und der Swedenborgschen Systematik hat nicht wenige - allen voran das Oberhaupt der Spiritistenbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Carl du Prel, und in dessen Gefolge einen ganzen Schwärm von Interpreten - dazu veranlaßt, von Kants „mystischer Weltanschauung" und dergleichen mehr zu sprechen (vgl. C. du Prel 1889); eine Interpretation, welche, wie bereits Eberhard Freiherr von Dankelmann (vgl. 1897) plausibel gezeigt hat, sicherlich lächerlich ist, wenngleich sie uns auf ein Problem hinweist, welches nicht einfach beiseite geschoben werden kann. Kant, der zu einem späteren Zeitpunkt einmal von den Mystikern behaupten wird, „diese Leute würden (verzeihen sie mir den Ausdruck) wahre Kantianer sein, wenn sie denn Philosophen wären" (Fak. XI 346 A 126) [vgl. 36. Exkurs], ist an den mystagogischen Fehlinterpretationen seiner Träume gar so unschuldig nicht, treibt er doch selbst - vor allem auch stilistisch - den Vergleich zwischen seinem und Swedenborgs System an mehr als nur einer Stelle in den Träumen dermaßen auf die Spitze, daß man zuweilen tatsächlich kaum noch zu unterscheiden weiß, ob Kant nun sein eigenes Vernunftsystem darlegen oder Swedenborgs Geistersystem referieren will. „Diese wundersame Übereinkunft [von Swedenborgs Geisterwelt - C. R.] mit demjenigen, was die feinste Ergrübelung der Vernunft [eines Kant beispielsweise - C. R.] über den

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ähnlichen Gegenstand hervorbringen kann" (Τ II 973 A 97), ist eben nicht erst den Swedenborgianern, sondern bereits schon Kant selbst aufgefallen, weswegen er auch einräumen mußte, das Unglück zu haben, „daß das Zeugnis [Swedenborgs - C. R.] worauf er stoße [...] seiner [eigenen - C. R.] philosophischen Hirngeburt so ungemein ähnlich ist [...]" (Τ II 972 A 96). Gleichwohl möchte Kant „ohne Umschweif' behaupten, „daß, was solche anzüglichen Vergleichungen [zwischen seinem und Swedenborgs System - C. R.] anlangt, er keinen Spaß verstehe und er kurz und gut erkläre, daß man entweder in Swedenborgs Schriften mehr Klugheit und Wahrheit vermuthen müsse, als der erste Anschein blicken läßt, oder daß es nur so von ohngefähr komme, wenn er [Swedenborg - C. R.] mit seinem [Kants - C. R.] System zusammentrifft [...]" (Τ II 972f A 96f). So ganz „von ohngefähr", wie Kant meint, kommt diese „wundersame Übereinkunft" allerdings nicht. Vergegenwärtigen wie uns hier nochmal, wie Kant in den Träumen die mundus intelligibilis/mundus sensibilis-Problematik verhandelt. Wir hatten gesehen, daß Kant in diesem Zusammenhang drei Arten von Anziehungskräften miteinander verglich: 1. die Newtonsche Anziehungskraft der Schwerkraft (im Bereich der Physik), 2. die Shaftesburysche moralische Anziehungskraft im sittlichen Gefühl (im Bereich der Metaphysik) sowie schließlich 3. die Swedenborgsche pneumatische Anziehungskraft der wechselseitigen Geist(er)-beziehungen (im paraphysiologischen Grenzbereich zwischen Physik und Metaphysik). Allen drei Anziehungskräften ist gemeinsam, daß das, was in ihnen wirkt, unmittelbar nicht erfaßt werden kann, das Anziehende dieser Kräfte gewissermaßen ,unsichtbar', jedenfalls - wie Newtons mathematische Demonstration - eine K o n s t r u k t i o n bleibt. Nun betrachtet Kant zwei dieser Systeme (nämlich: das Newtonsche der Schwerkraft sowie das Shaftesburysche der moralischen Anziehungskraft) als seine eigenen Systeme, während er das dritte System (nämlich das Swedenborgsche der pneumatischen Anziehungskraft) als „mißgeschaffen und albern" ablehnt (Τ II 972 A 96). Das Problem besteht indes für Kant darin, daß ihm selber nicht entgangen ist, welch „wundersame Übereinkunft" zumindest strukturell zwischen den beiden ersten Systemen (Newtons, Shafitesburys), d. h. seinem eigenen System, einerseits und Swedenborgs Pneumatologie andererseits besteht. Ja, dieses eine und andere sieht Kant strukturell als dermaßen deckungsgleich an, daß er „viel eher vermuten muß, der Leser werde, um der Verwandtschaft mit solchen Bestimmungen willen, meine Vernunftgründe vor ungereimt, als jene um dieser willen vor vernünftig halten" (Τ II 972 A 96), was übertragen ja doch wiederum nichts anderes bedeuten kann, als daß entweder Newtons und Shaftesburys Systeme (gesetzt, sie sind wahr) die Swedenborgsche Pneumatologie bestätigen müßten,

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oder umgekehrt Swedenborgs Geisterlogie (gesetzt, sie wäre falsch) sowohl die Newtonsche Schwerkraft als auch die Shaftesburysche moralische Anziehungskraft von Grund auf in Frage stellen müßte. Ein - von Kant selbst eingeräumtes - Dilemma, freilich. Was Kant nicht wußte - und zu seiner Zeit auch gar nicht wissen konnte - , ist, daß alle drei Systeme tatsächlich auch substantiell eine Gemeinsamkeit aufweisen, welche keineswegs „so von ohngefáhr", sondern ganz präzise von einer gemeinsamen Referenzadresse herrührt. Newton, Shaftesbury und Swedenborg waren nämlich mit die bedeutendsten und in der Folge wohl auch mit die einflußreichsten Schüler von Henry More und Ralph Cudworth - oder, in zweiter Generation, nach John Locke vielleicht, die namhaftesten Vertreter des sogenannten Neuplatonismus der Cambridger Schule (vgl. hierzu R Koslowski 1988 168-182 sowie M. Lamm 1922 32fï). Verbirgt sich indes hinter allen drei Systemen eine gemeinsame Schule, so hat die Spaltung, welche hier zur Verhandlung steht, auch eine - zudem eine kulturgeschichtlich höchst brisante - gemeinsame Quelle: nämlich die gnostisch-manichäistischen, genauer: die n e u p l a t o n i s c h e n , Z w e i - W e l t e n - L e h r e n ' . Zieht man hier des weiteren noch in Betracht, daß auch ein anderer Autor Kants, nämlich Leibniz (etwa in jener fiktiven D i s p u t a t i o n ü b e r d e n M a n i c h ä i s m u s in der deutschen Ausgabe von Pierre Bayles Dictionnaire) nicht gänzlich frei von Affinitäten für die mystischen Zwei-Welten-Lehren war, so erhält man in etwa einen Eindruck davon, vor welche Schwierigkeiten sich Kant hier in seinen Träumen gestellt sah. [Vgl. 37. Exkurs] Völlig zu Recht macht Kant in seinen Träumen daher auch Leibniz den Vorwurf, in dessen M o n a d e könne sich ein Schlupfloch für die Geister verbergen: „ein scherzhafter Einfall [Leibnizens], nach welchem wir vielleicht im Kaffee Atomen verschlucken, woraus Menschenseelen werden sollen" (T II 934 A 24). Denn in der Tat, wenn man wie Leibniz „auch den einfachen Elementarteilchen der Materie ein Vermögen dunkler Vorstellungen [d. h. eine ihnen inhärente, unbewußte Intelligenz - C. R.] zugesteht" (T II 935 A 28 Fn.) „Leibniz dachte sich eine einfache Substanz, die nichts als dunkle Vorstellungen hätte, und nannte sie eine s c h l u m m e r n d e M o n a d e " (NG II 745 A 72) - , so würden bei diesen Monaden-Geistern (genetischen Materie-Intelligenzen?) die Träume der Meta-physik (hier die Monaden des Leibniz) nicht weniger mystisch erscheinen als etwa die Träume eines Geistersehers (wie hier Swedenborgs Chimäre eines mundus spirituum). Später, in dem Text Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll (1790), wird Kant die Monadenlehre von Leibniz in seinem Sinne uminterpretieren (ob er damit allerdings Leibniz gerecht wird, steht freilich auf einem anderen Blatt); eine Uminterpretation, die jedenfalls Kants Problem mit der Monade nochmals deutlich veranschaulicht: „Ist es wohl zu glauben", schreibt Kant dort, „daß Leibniz, ein so großer Mathematiker! die Körper aus Monaden (hiemit

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auch den Raum aus einfachen Teilen) habe zusammensetzen wollen? Er meint nicht die Körperwelt, sondern ihr fur uns unerkennbares Substrat, die i n t e l l i g i b l e W e l t , die bloß in der Idee der Vernunft liegt, und woran wir freilich alles, was wir darin als zusammengesetzte Substanz denken, uns aus einfachen Substanzen bestehend vorstellen müssen" (Entd. V 370 BA 121, Herv. C. R.). Wenn Kant fast drei Jahrzehnte später, da der Neuplatonismus nun auch in Deutschland das allgemeine Diskursfeld bestimmt, etwa in seiner Schrift Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (1796) sich durchaus einen Begriff von „der neueren mystisch-platonischen Sprache" (VT VI 388 A 409) „der Neuplatoniker" (VT VI 389 A 412 Fn.) zu machen vermag, wenn ihm auch zu jener Zeit die religiöse Herkunft dieser Sprache, als jene der „Dualisten" - „in der altpersischen Religion (des Zoroaster)", deren System „auf der Voraussetzung zweier im ewigen Kampf mit einander begriffenen Urwesen, dem Guten Prinzip, O r m u z d , und dem Bösen, A h r im a n , gegründet" (EaD XI 177 A 499 u. Fn. - zur Sache vgl. B. Schleerath 1970) nicht gänzlich unbekannt zu sein scheint [vgl. 38. Exkurs], so ist er doch zu Zeiten der Träume nicht in der Lage, den Neuplatonismus bei Newton, Shaftesbury und Swedenborg zu identifizieren. Zum einen nicht, weil Kant sich um 1766 noch keinen Begriff vom Neuplatonismus zu machen vermag, zum anderen nicht, weil ihm die gemeinsame Quelle der besagten Autoren unbekannt bleibt. Doch wennselbst er 1766 die Sache nicht beim Wort nennen kann, so bedeutet dies nicht, daß er sich keine Vorstellung vom Neuplatonismus zu machen vermochte: Insofern es sich bei Swedenborgs System gewissermaßen um einen Idealtypus - wenn nicht sogar um eine Karikatur - des Neuplatonismus handelt, und Kant gerade dieses System - und zwar schon sehr frühzeitig wie kein anderes analysiert und durchdacht hatte, war er späterhin fast schon wie ,im Schlaf in der Lage, den Neuplatonismus - wenn auch ohne dessen Benennung - zu identifizieren. Was aber Kant selbst nicht zu benennen wußte, könnte für uns heute allerdings von Relevanz sein: weist doch die gemeinsame Quelle der besagten Autoren darauf hin, daß Kant sich hier indirekt am Neuplatonismus abarbeitet. Noch aufschlußreicher indes als diese heimliche (Negativ-) Referenzadresse Kants ist die Art und Weise, wie Kant mit diesem Problem des Manichäismus, mit dem Problem der psychischen Spaltung oder auch dem der gesellschaftlichen Schizophrenie umgeht; ein Umgang, der sich wiederum gerade anhand der mundus intelligibilis/mundus sensibilis - Problematik veranschaulichen läßt.

VI. Zur Triebfeder des

Intelligiblen

In Erstaunen sollte uns nicht zuletzt doch die Tatsache versetzen, daß Kant überhaupt - und zwar bis zu seinem Lebensende - an einem Begriff wie dem des m u n d u s i n t e l l i g i b i l i s nicht nur festhalten, sondern - darüber hinaus -

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ZWEITER TEIL: D I E PSYCHOLOGIE

aus diesem Begriff sogar einen seiner zentralen Begriffe machen wird, wäre es doch ein leichtes gewesen, einen derartigen Jenseitsbegriff als schier irrational ein für allemal zu verwerfen und von einem - wie auch immer säkularisierten begrifflichen Jenseits überhaupt ganz abzusehen. Warum also dieses Festhalten an einem mundus intelligibilis? Wir hatten gesehen, daß Kant den mundus spirituum (die Geisterwelt, die sich in Swedenborg Gehör verschaffte) mit Shaftesburys moralischer Anziehungskraft im sittlichen Gefühl in Verbindung brachte - einerseits - , um andererseits seinen Begriff eines mundus intelligibilis dahingehend zu definieren, daß mit diesem das perspektivische Ideal aller Sittlichkeit bezeichnet wird. So wie der mundus spirituum in Swedenborgs Innerem spricht, so affiziert der mundus intelligibilis das moralische Gefühl (oder, wie Kant sich bereits auch schon in den Träumen ausdrückt: den inneren Sinn); mit welcher Selbstaffizierung an dieser Stelle nochmals sehr deutlich wird, daß für Kant die reine Verstandeswelt einen ähnlichen Stellenwert einnimmt wie für die Psychoanalyse das Über-Ich - nämlich: den Stellenwert eines gebietenden Gesetzes. [Vgl. 39. Exkurs] Schließlich ist dies das einzige, das von der intelligiblen Welt „nicht bloß unbestimmt und problematisch g e d a c h t [...], sondern sogar [...] bestimmt und assertorisch e r k a n n t " (KpV VII 232 A 188, Herv. C. R.) werden kann nämlich, daß der Mensch von der intelligiblen Welt „wohl nichts weiter weiß, als daß darin lediglich die Vernunft, und zwar reine, von Sinnlichkeit unabhängige Vernunft, d a s G e s e t z g e b e [...]" (GMS VII 94f BA 188, Herv. C. R.). So gibt „das moralische Gesetz, [...] ein [...] unerklärliches Faktum an die Hand, das auf eine r e i n e V e r s t a n d e s w e l t Anzeige gibt, [...], n ä m l i c h e i n G e s e t z , erkennen läßt"; welches Gesetz (und dies ist nun dessen stoischer Beitrag:) „der Sinnenwelt [...] die Form einer Verstandeswelt [...]" und damit eben Freiheit verschaffen soll! (KpV VII 156 A 74). Daher - schreibt Kant - nenne ich „die Welt, so fern sie allen sittlichen Gesetzen gemäß wäre [...], eine m o r a l i s c h e W e l t . Diese wird so fern bloß als i n t e l l i g i b l e W e l t gedacht, weil darin von allen Bedingungen (Zwecken) und selbst von allen Hindernissen der Moralität in derselben (Schwäche oder Unlauterkeit der menschlichen Natur) abstrahiert wird. So fern ist sie also eine bloße, aber doch praktische [d. i. sittliche - C. R.] Idee, die wirklich ihren Einfluß auf die Sinnenwelt haben kann und soll, um sie dieser Idee so viel als möglich gemäß zu machen" (KpV VII 679 Β 836 A 808). Hätte Kant den Begriff des mundus intelligiblis bzw. den einer reinen Verstandeswelt verworfen, so hätte er mit dieser Verwerfung - psychoanalytisch verhandelt - die Instanz des Ü b e r - I c h s (somit die innerpsychische Gesetzesinstanz) sowie - mit Kant zu sprechen - das I d e a l a l l e r S i t t l i c h k e i t (damit eben auch die objektive Instanz des Sittengesetzes) gleich mit über Bord geworfen und dergestalt - wenn wir so sagen dürfen - das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Mit einer derartigen Verwerfung wäre somit genau das erreicht worden, was gerade vermieden werden sollte: nämlich d i e p s y c h o -

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t i s c h e A b s p a l t u n g v o n d e m G e s e t z - v o n den Gesetzen wie von der Gesetzmäßigkeit überhaupt. Diese Loslösung des psychotischen Ichs von der Gesetzesinstanz besagt jedoch zweierlei. Zum einen, daß der Phantast sich jenseits von dieser Welt in einer Wahn- und Traumwelt aufhält, indem er sowohl sein Ich von der innerpsychischen Gesetzesinstanz, also vom Über-Ich, als auch umgekehrt sein Über-Ich von seinem Ich abspaltet, um anschließend den verfemten Teil des Über-Ichs (wie Swedenborg) in einen mundus spirituum - bzw. nach dem Imago ,des Vaters' in die Gestalt eines homo maximus zu projizieren. Zum anderen wird jedoch mit dieser Projektion - d. h. mit der nachträglichen Wahnkonstruktion - die I n s t a n z d e s G e s e t z e s selbst verformt, indem diese den diesseitigen Triebansprüchen angepasst und angeglichen wird. Damit jedoch verwandelt sich das Über-Ich in ein paranoides Wahngebilde, indem die Gesetzesinstanz in ihrer Funktion dahingehend pervertiert wird, daß sie nicht mehr als normative Soll-Instanz die Triebwelt richtet, sondern vielmehr selber von dieser gerichtet und insofern zu einer Instanz der Triebansprüche degradiert wird. Somit wird das Ich - welches keine objektiven Gründe mehr vor sich hat - an und für sich selbst verrückt.

VII. Narzißmus und Paranoia Es ist sehr bemerkenswert, daß Kant später, in der Kritik der praktischen Vernunft (1788) - dort in dem Kapitel: Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft (KpV VII 191 ff A 126fï) - , in diesem Zusammenhang auf das Verhältnis von Narzißmus und Wahn zu sprechen kommt. Dabei möchte Kant den N a r z i ß m u s - die S e l b s t s u c h t (den S o l i p s i s m u s ) keineswegs an und für sich verurteilen, sondern vielmehr zeigen, daß auch in dem selbstverliebten Selbstbezug zu differenzieren ist. So läßt er die E i g e n l i e b e (d. h. die p h i l a u t i a , die darin zu sehen ist, daß gelegentlich die eigenen Triebansprüche dem Gesetz vorgezogen werden) als eine Neigung zwar ausnahmsweise noch gelten (um ihr dann eine Sublimierung in eine vernünftige Selbstliebe, d. h. ein Stelldichein zwischen Ich und Gesetz, zu empfehlen), lehnt jedoch den E i g e n d ü n k e l (d. h. die a r r o g a n t i a , die darin zu sehen ist, daß die eigenen Triebansprüche gegenüber anderen zu einem allgemeinen Gesetz erklärt werden) ganz entschieden ab, indem im Eigendünkel (der arrogantia) der eigentliche „eigenliebige W a h n " (KpV VII 204 A 147), d. h. der narzißtische Wahn, zu sehen ist; ein „Wahn des Eigendünkel" (KpV VII 196 A 134), der nicht mehr sublimiert, sondern nur gedemütigt und abgebrochen werden kann. „Also schlägt das moralische Gesetz den Eigendünkel nieder" (KpV VII 193 A 130 u. ff) und erreicht gerade mit dieser „Demütigung", daß im Subjekt eine Gesetzesinstanz, ein Über-Ich oder Gewissen installiert und mit dieser Installation ein „positives Gefühl", nämlich eine „Achtung fürs moralische Gesetz" bewirkt wird (KpV VII 194 A 130).

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ZWEITER TEIL: DIE PSYCHOLOGIE

Somit stellt auch für Kant die s y m b o l i s c h e K a s t r a t i o n s d r o h u n g , als „ein Tribut" für die „feierliche Majestät" des Gesetzes, die unverzichtbare innerpsychologische Grundlage - nämlich: die Instanz einer Anerkennung des Gesetzes als solchem - für alle Sittlichkeit dar (KpV VII 198 A 137). Bei alledem zeigt Kant einen durchaus differenzierten Umgang mit dem Narzißmusproblem, indem es ihm immer wieder darum geht, Strategien der Triebökonomie zu entwerfen, die die Bindung zwischen Ich und Gesetz stärken, um auf diesem Weg so etwas wie eine ,gesunde Selbstliebe', Kant sagt: eine „vernünftige Selbstliebe" (psychoanalytisch gesprochen: eine Umkehrung des sekundären in einen sublimierten Narzißmus) zu ermöglichen. Der springende Punkt bei diesem triebökonomischen Unternehmen besteht für Kant jedoch darin, die Bindung des Ichs zum Gesetz so weit wie möglich zu entemotionalisieren bzw. zu enterotisieren, d. h. von allen Affekt- und Liebesbeziehungen fern- und so nüchtern wie nur irgendwie möglich zu halten. Wir sollen das Gesetz weder fürchten, noch lieben, noch hassen, sondern einfach: achten, respektieren und befolgen. Letzterem steht jedoch - was wiederum bemerkenswert ist - ausgerechnet das Christentum mit seiner Gottes- und Nächstenliebe im Wege. Kant versteht sehr wohl, daß gerade die c h r i s t l i c h e N ä c h s t e n l i e b e , insofern diese p a t h o l o g i s c h , also leidenschaftlich, durch Affekte motiviert ist, einen „Krebsschaden für die reine praktische Vernunft" (Anthr. XII 600 A 277 Β 226) und damit für alle Sittlichkeit darstellen könnte - und dies aus drei Gründen. Zum ersten, weil nicht ganz auszuschließen ist, daß sich hinter der so selbstlosen christlichen Gottes- und Nächstenliebe ein selbstsüchtiger christlicher Eigendünkel, d. h. gerade die arrogantia verschanzt („lauter moralische Schwärmerei" der „Religionsschwärmerei"; „Herzensaufwallungen", die Kant ausdrücklich als einen „Wahn" bezeichnet (vgl. KpV VII 207f A 150ff). Zum zweiten, weil die vom Christentum vorgeschlagene Triebstrategie Gott den Vater (d.h. für Kant: d a s G e s e t z ) sowie seine Mitmenschen l i e b e n zu s o l l e n - gewissermaßen einen triebökonomischen Unsinn darstellt („denn ein Gebot, daß man etwas gerne tun soll, ist in sich widersprechend, weil, wenn wir, was uns zu tun obliegt, schon von selbst [...] gerne" täten, „ein Gebot darüber ganz unnötig" wäre; - „eben diesselbe [Gebot ,Liebe Deinen Nächsten' - C. R.] gegen Menschen ist zwar möglich, kann aber nicht geboten werden; denn es steht in keines Menschen Vermögen, jemanden auf Befehl zu lieben" (KpV VII 205 A 148). Dieser triebökonomische Unfug besteht jedoch nicht nur im Inhalt, sondern vor allem auch in der Form der Handlungsmaxime, nämlich jener, die Liebe, d. h.: eine subjektive pathologische, d. i. leidenschaftliche, durch Affekte motivierte Neigung (vgl. KpV VII 205 A 148), zur Grundlage der Gesetzesbefolgung machen zu wollen („wenn wir uns anmaßen, gleichsam als Volontäre uns mit stolzer [wohl narzißtischer - C. R.] Einbildung über den Gedanken von Pflicht wegzusetzen, und, als vom Gebote unabhängig, bloß aus eigener Lust das tun wollen, wozu uns kein Gebot nötig wäre)" (KpV VII 204

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A 146f); eine Handlungsmaxime, die, selbst - und gerade - wenn sie „(der Materie nach) zur Tugend, ζ. B. der Wohltätigkeit gehörte, [...] doch (der Form nach) [...], nicht bloß p r a g m a t i s c h verderblich [weil eben gar nicht machbar und daher zum Scheitern verurteilt wäre - C. R.], sondern auch m o r a l i s c h verwerflich [weil aus niederen, nicht vernunftbedingten Beweggründen C. R.]" wäre (Anthr. XII 601 A 228 Β 227). Schließlich muß der christlichen Liebe sogar ein unterschwelliger Haß auf das Gesetz sowie ein Wunsch der Erlösung von dem Gesetz - daher die nie ganz verlorengegangene gnostische Gesetzesfeindlichkeit des Christentums vorgehalten werden (weil „nämlich die bloße Liebe zum Gesetz [...] alsdann aufhören würde, Gebot zu sein, und Moralität, die nur subjektiv in Heiligkeit [d. i. Unantastbarkeit, Unveräußerlichkeit oder eben Tabu des Gesetzes - C. R.] überginge, aufhören würde, T u g e n d zu sein" (KpV VII 206 A 150). Somit spielt Kant hier - wie auch andernorts - das Gesetz des Alten Testaments gegen das christliche Evangelium, insbesondere gegen das Evangelium des Johannes, d. h. das am meisten gnostisch-manichäistisch beeinflußte Christentum [vgl. 40. Exkurs], aus, indem er empfiehlt, „die Befolgung des Gesetzes [...] nicht auf Liebe, die keine innere Weisung des Willens gegen des Gesetz besorgt, zu gründen" (KpV VII 206 A 150) [vgl. 41. Exkurs], sondern vielmehr umgekehrt die Liebe selbst „der einzigen und zugleich unbezweifelten moralischen Triebfeder", d. h. der „Achtung fürs moralische Gesetz" zu unterstellen. So gesehen ist letzthin „die A c h t u n g f ü r s G e s e t z nicht [nur die] Triebfeder zur Sittlichkeit, sondern die Sittlichkeit selbst" (KpV VII 196 A 134, Herv. C. R.) - oder, wie Kant auch schreibt: das „Gesetz aller Gesetze" (KpV VII 205 A 149). [Vgl. 42. Exkurs]

VIII. Normativität des Intelligiblen und Regulativität des Über-Ichs Anders gesagt: Würden wir nicht von einer reinen Verstandeswelt als Normativität für unseren inneren Sinn ausgehen, so würde es dem moralischen Gefühl (Shaftesburys) ganz ähnlich ergehen wie der christlichen Liebe; alleine, während sich die christliche Liebe im narzißtischen Wahn verschanzte, würde sich das moralische Gefühl in den paranoiden Wahn flüchten - wobei sie in ihrer Triebfeder (d. h. in ihrer Handlungsmotivation) beide gleich - nämlich: unmoralisch - wären. Ausgehend von dieser Überlegung kommt Kant schließlich dazu, selbst noch das moralische Gefühl oder das Gewissen zu hinterfragen bzw. diesen eine reine Verstandeswelt als deren Normativität vorzurechnen. „Es ist [...] wie mit dem moralischen Gefühl bewandt, welches kein moralisches Gesetz verursacht [sic! - C. R.]; denn dieses entspringt gänzlich aus der Vernunft; sondern durch moralische Gesetze, mithin durch die Vernunft; verursacht oder gewirkt wird, indem der rege und doch freie Wille bestimmter Gründe bedarf' (Do V 274f A 316 Fn.). „Dieses Gefühl (unter dem Namen des moralischen) ist also lediglich durch Vernunft bewirkt. Es dient nicht zur

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ZWEITER TEIL: DIE PSYCHOLOGIE

Beurteilung der Handlungen [sic! - C. R.], oder wohl gar zur [Be-] Gründung des objektiven Sittengesetzes selbst [sic! - C. R.], sondern bloß zur Triebfeder, um dieses in sich zur Maxime zu machen" (KpV VII 197 A 135). Das Gewissen - welches, weil subjektiv, so verquast sein kann wie das Diktat der auf Swedenborg einredenden Geister - bietet also keine objektive Grundlage für Moralität, sondern muß umgekehrt von einem moralischen Maßstab gerichtet werden; einem Maßstab, der seinerseits nur aus reiner Vernunft bezogen werden kann. [Vgl. 43. Exkurs] Von daher bedarf es des Ideals einer intelligiblen Welt, welche somit für Kant nicht nur einen spekulativen, sondern einen für alle Sittlichkeit sogar unbedingt notwendigen Begriff darstellt, da mit ihm - und nur mit ihm - die Instanz einer perspektivischen Referenz (gewissermaßen das Gesetz als Instanz) für alle Sittlichkeit verfaßt werden kann. Somit konnte Kant auch schreiben: „Um deswillen [um dem Verstände selbst seine Schranken vorzuzeichnen] muß ein vernünftiges Wesen sich selbst, a l s I n t e l l i g e n z (also nicht von Seiten seiner untern Kräfte), nicht als zur Sinnen-, sondern zur Verstandeswelt gehörig, ansehen; mithin hat es zwei Standpunkte, daraus es sich selbst betrachten, und Gesetze des Gebrauchs seiner Kräfte, folglich aller seiner Handlungen, erkennen kann, e i n m a l , so fern es zur Sinnenwelt gehört, unter Naturgesetzen (Heteronomie [d. i. eine Fremdgesetzgebung - C. R.]), z w e i t e n s , als zur i n t e l l i g i b l e n W e l t gehörig, unter Gesetzen, die von der Natur unabhängig, nicht empirisch, sondern bloß in der Vernunft gegründet [und daher autonom, sprich: s e l b s t g e s e t z g e b e n d - C. R.] sind" (GMS VII 88 BA 108f, Herv. C. R.). Und so wie hier im Inneren des Subjekts, so läßt sich die Differenz zwischen Swedenborgs m u n d u s s p i r i t u u m und Kants m u n d u s i n t e l l i g i b i l i s auch für das objektiv Äußere herausstellen. Während nämlich Swedenborg seinen mundus spirituum im Sein selbst (nämlich in einem angeblich substantiell real existierenden Geisterreich) lokalisiert und die Kausalität der Geister als ein sinnlich-pneumatisches Zwangsunternehmen vorstellt, ist für Kant der mundus intelligibilis nichts weiter als ein reiner Verstandesbegriff des Subjekts; eben nur ein (imaginärer) Standpunkt, der im Interesse der Vernunft allerdings notwendig ist, wenn sie sich nicht ihre eigene Wirkungskraft, mithin ihre Freiheit, selbst absprechen will. Denn hierin ist ja gerade wiederum der stoische Part des Gesetzes zu sehen: daß es nicht (wie nach christlichgnostischer Auffassung) ein Joch darstellt und ,Freiheit' unterdrückt, sondern daß umgekehrt Freiheit dem Menschen nur vermittelst eines Gesetzes überhaupt ermöglicht werden kann, „wenn er sich in den Standpunkt eines Gliedes der Verstandeswelt versetzt, dazu die Idee der Freiheit, d. i. Unabhängigkeit von den b e s t i m m e n d e n Ursachen der Sinnenwelt ihn unwillkürlich nötigt" (GMS VII 91 BA 113). Denn „als ein vernünftiges mithin zur intelligiblen Welt gehöriges Wesen kann der Mensch die Kausalität seines eigenen Willens niemals anders als unter der Idee der Freiheit denken; denn Unabhängigkeit von den bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt (dergleichen die Vernunft

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sich selbst beilegen muß) ist Freiheit" (GMS VII 88 BA 109). „Und so sind kategorische Imperativen möglich: dadurch, daß die Idee der Freiheit mich zu einem Gliede einer intelligiblen Welt macht [...]" (GMS VII 90 BA 111). „Denn jetzt sehen wir, daß, wenn wir uns als frei denken, so versetzen wir uns als Glieder in die Verstandeswelt und erkennen die Autonomie des Willens, samt seiner Folge, der Moralität; denken wir uns aber als verpflichtet, so betrachten wir uns als zur Sinnenwelt und doch zugleich zur Verstandeswelt gehörig" (GMS VII 88 BA 110). „Nun ist auf solche Weise eine Welt vernünftiger Wesen (mundus intelligibilis) als ein Reich der Zwecke möglich, und zwar durch die eigene Gesetzgebung aller Personen als Glieder. Demnach muß ein jedes vernünftige Wesen so handeln, als ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reich der Zwecke wäre" (GMS VII 72 BA 83). Läßt sich also in Swedenborgs mundus spirituum, zumal in der ausufernden Ausformung seines homo maximus, eines der paranoidesten Systeme erkennen, die die Welt - mundus realis - überhaupt jemals zu Gesicht bekommen hat, so verfolgt Kants Unterscheidung von mundus sensibilis und mundus intelligibilis, Erscheinung und Ding an sich, d. h. sein Beharren auf einer irreduziblen Differenz zwischen dem Repräsentierenden und dem Repräsentierten einer Repräsentation, gerade den Zweck, ein derart paranoides - d. i. gänzlich unfreies - System, in dem sogar noch das Denken sowie das Bewußtsein selbst auf angeblich pneumatische Geisterdiktionen zurückzuführen sein sollen, zu vermeiden. Daher wird Kant auch in der Kritik der praktischen Vernunft (1788) die paranoide Vorstellung auf den Umstand zurückführen, daß bei einer solchen Repräsentation nicht zwischen Phaenomenon und Noumenon, Erscheinung und Ding an sich, Sinneswelt und Verstandeswelt unterschieden wird, sondern - und dies ist der Swedenborgsche Grundfehler - das Intelligible auf eine sinnliche Ursache zurückgeführt wird. „In der Tat: wären die Handlungen des Menschen, so wie sie zu seinen Bestimmungen in der Zeit gehören, nicht bloß Bestimmungen derselben als Erscheinung, sondern als Dinge an sich selbst, so würde die Freiheit nicht zu retten s e i n . D e r M e n s c h w ä r e M a r i o n e t t e , o d e r e i n V a u c a n s o n s c h e s A u t o m a t , gezimmert und aufgezogen von dem obersten Meister aller Kunstwerke, und das Selbstbewußtsein würde es zwar zu einem denkenden Automate machen, in welchem aber das Bewußtsein seiner Spontaneität [d. h. seiner Willenshandlung - C. R.], wenn sie für Freiheit gehalten wird, bloße Täuschung wäre, indem sie nur komparativ so genannt zu werden verdient, weil die nächsten bestimmenden Ursachen seiner Bewegung, und eine lange Reihe derselben zu ihren bestimmenden Ursachen hinauf, zwar innerlich sind, die letzte und höchste aber doch gänzlich in einer fremden Hand angetroffen wird" (KpV VII 227 A 18If, Herv. C. R.). So geht gerade aus dieser Passage nochmals deutlich hervor, worauf die Unterscheidungen von mundus sensibilis und mundus intelligibilis, Erscheinung und Ding an sich selbst, letztendlich hinauslaufen sollen; darauf näm-

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ZWEITER TEIL: DIE PSYCHOLOGIE

lieh, die gespenstische Vorstellung eines derartigen Marionettenspiels, „wo alles gut g e s t i k u l i e r e n , aber in den Figuren doch kein Leben anzutreffen sein würde" (KpV VII 282 A 265) (das ist, in Kants späteren Jahren, seine so treffend gezeichnete M e t a p h e r f ü r P a r a n o i a ) zu vermeiden, um eben umgekehrt F r e i h e i t theoretisch wie dann auch in der Folge pragmatisch zu ermöglichen. Denn - um hier Haller mit Kant zu zitieren: „die Welt mit ihren Mängeln - ist besser als ein Reich von willenlosen Engeln" (A. von Haller, zit. nach Kant: Rei. VIII 718 A 76 B82 Fn.). [Vgl. 44. Exkurs]

IX. Kants

Anti-Neuplatonismus

Nachdem wir somit nachvollzogen haben, wie sich Kants m u n d u s i n t e l l i g i b i l i s von Swedenborgs m u n d u s s p i r i t u u m im ethischen Bereich unterscheidet (daß nämlich Kant auf dem Gesetz und der Freiheit beharrt, während Swedenborg beides leugnet), kommen wir nochmals auf den erkenntnistheoretischen Aspekt der hier verhandelten Frage zurück, wie Kant mit dem Problem der manichäistischen Zwei-Welten-Lehren, dem Problem der psychischen Spaltung sowie dem der gesellschaftlichen Schizophrenie umgeht. Soeben hatten wir nachgewiesen, daß Kants Unterscheidung zwischen mundus sensibilis und mundus intelligibilis den Sinn hat, die paranoide Vorstellung eines Marionettenspiels, bei dem sowohl die Sinnenwelt als auch die Verstandeswelt von einer Geisterwelt aus dirigiert werden, zu umgehen, um mit dem mundus intelligibilis ein Reich der Freiheit zu ermöglichen. Von daher konnte Kant in einer Notiz auch vermerken: „Die wirklichen, den Sinnen vorliegenden Welterscheinungen (mit Swedenborg) für bloßes Symbol einer im Rückhalt verborgenen intelligiblen Welt ausgeben, ist S c h w ä r m e r e i " (zit. nach: N. Hinske 1988 80). Allerdings verfährt Kant bei der Analyse dieses Symbols in einer unbeschreiblich subtilen Weise. Denn, betrachtet man die schizoid-paranoiden bzw. manichäistisch-neuplatonischen Gedankenkonstruktionen hier etwas näher, so ist zweierlei auffallend. Zum einen fällt auf, daß d i e m a n i c h ä i s t i s c h - n e u p l a t o n i s c h e n S p a l t u n g e n (a. die Spaltung zwischen Leib und Seele bzw. Materie und Geist; b. die Spaltung im Leib bzw. in der Materie selbst einerseits, sowie die in der Seele selbst andererseits; schließlich c. die Spaltung zwischen dieser und jener Welt) letztendlich alle darauf hinauslaufen, das (schizoid) Gespaltene in einem ( p a r a n o i d e n ) U n i v e r s a l m o n i s m u s aufgehen zu lassen. Dieses Schizo-Paranoide ist ja das Aberwitzige der neuplatonischen Theosophien schon bei Plotin und noch bei Swedenborg und Hegel: daß die Materie als ein Geist, der Geist jedoch als materiell, das Diesseits als ein Jenseits, das Jenseits jedoch wiederum wie ein Diesseits, daß das Vernünftige als wirklich, das Wirkliche als vernünftig, das Vergängliche als ein Werden, das Werden als eine Vergänglichkeit vorgestellt wird - kurzum: daß das Andere (Entgegengesetzte) hier jeweils nur bemüht wird, um letztendlich zu behaupten, daß

1 1 . D I E T R Ä U M E EINES GEISTERSEHERS

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an und für sich alles in allem einerlei - das große Plotinsche E i n e (vgl. 260), Swedenborgs m u n d u s s p i r i t u u m (vgl. 1747-1758) oder Hegels G e i st err e ich (vgl. 1807)-sei. [Vgl. 45. Exkurs] Hieraus ergibt sich das zweite, was bei all diesen Totalitätssystemen so befremdend auffallt: nämlich das, was Plotin E m a n a t i o n , Swedenborg c o r r e s p o n d e n t i a und Hegel D i a l e k t i k nannte: ein - kabbalistisches S y s t e m v o n A n a l o g i e n , das die oben genannten Spaltungen derart durchkreuzt, daß diese sich letztendlich als nur s c h e i n b a r e W i d e r s p r ü c h e erweisen. So zeugen Leib und Seele bei Plotin von einer ganz anderen Ordnung (nämlich von einer Emanation des Geistes), so ist nach Swedenborg in der Sinnenwelt wie in der Verstandeswelt eine ganz andere Welt zu sehen (nämlich eine E n t s p r e c h u n g z u r G e i s t e r w e l t ) , ebenso wie beispielsweise noch für Hegel sowohl „die Unschuld der Blumenreligion" als auch „die Schuld der Tierreligion" von einer ganz anderen Ordnung, nämlich von einer veränderten Konstellation „der G e i s t e r a t o m e " zeugen (Hegel 1807 591). - Für soviel neuplatonischen Symbolismus hat Kant in seinen Träumen nur blanken Hohn übrig: „Boerhave sagt an einem Orte: D a s T i e r ist e i n e P f l a n z e , die i h r e W u r z e l im M a g e n ( i n w e n d i g ) h a t . Vielleicht könnte ein anderer eben so ungetadelt mit diesen Begriffen spielen und sagen: Die Pflanze ist ein Tier, das seinen Magen in der Wurzel (auswendig) hat" (T II 938 A 33). Allerdings ist Kant nicht so naiv, der neuplatonischen Spaltung eine einfache Einheit entgegenzuhalten - ist doch gerade in dieser Alternative die neuplatonische Falle zu sehen: Man landet mit der Einheit immer bei der S p a l t u n g wie umgekehrt mit dem A t o m (dem Letztgeteilten) bei der M o n a d e (dem Letzteinheitlichen) - mikrokosmisch wie makrokosmisch. Hierin ist ja eben das Geniale und so Faszinierende des Neuplatonismus zu sehen: Er verbindet zwei diachrone Systeme so miteinander, daß dabei das kleine (mikrokosmische) Eine immer gespalten (weil zwischen dieser und jener Welt geteilt) ist, wie dann auch umgekehrt die beiden Welten selbst (wie Swedenborg sagen würde:) durch ihre Korrespondenz eine Einheit ausmachen, die dann wiederum das große (makrokosmische) Eine ergibt. Ein in sich geschlossenes, paranoid-wahnhaftes System, bei dem man mit Begriffen wie d e m E i n e n oder d e m G e t e i l t e n sich notgedrungen in einen hermeneutischen Zirkel begeben und sich in diesem wie im Teufelskreis drehen muß. Wie also könnte hier eine Lösung aussehen? Ähnlich wie bereits schon in seiner Projektionstheorie sowie in seiner Schizophrenietheorie, so geht es Kant auch bei seiner Paranoiatheorie nicht darum, ob eine Spaltung vorliegt oder nicht, sondern darum, wie getrennt werden muß, damit eine Spaltung vermieden werden kann. T e i l u n g a n s t a t t Spaltung, Dualismus anstatt Manichäismus, „Erscheinung" s t a t t „ S c h e i n " (Prol. V 183 A 105), dies ist die - antineuplatonische - Formel Kants. Dabei trifft Gerold Prauss den Kern der Sache, wenn er schreibt: „Mithin ergibt sich nach Kant, daß unsere Welt, gerade weil sich Materielles

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ZWEITER TEIL: DIE PSYCHOLOGIE

in ihr vorfindet, nur als das irreduzibel Duale von Materie und Geist verstanden werden kann. Der Dualismus von Materie und Geist, den Kant als unlösbare Korrelation von materiellen Objekten und geistigen Subjekten nachzuweisen sucht, liefe demnach gerade nicht [wie bei Plotin, Swedenborg oder Hegel - C. R.] auf eine metaphysische Zweiweltenlehre hinaus" (G. Prauss 1973 14); wobei man hier hinzufügen muß, daß Prauss zwar den Kern der Sache, nicht jedoch das von Kant verwendete Verfahren benannt hat. Denn der Clou des Kantischen Dualismus besteht doch darin, nicht, wie die manichäistischen Neuplatoniker, d a s S e i n s e l b s t in d e s s e n S y n t h e s i s zu s p a l t e n , s o n d e r n n u r u n s e r e V o r s t e l l u n g v o m S e i n a n a l y t i s c h zu t e i l e n - und zwar sowohl was das Objekt als auch was das Subjekt selbst anbelangt. Gerold Prauss ist es auch gewesen, der - sozusagen als das Vermächtnis seiner Kant-Interpretation in einer mündlichen Aussage auf dem IX. Internationalen Kant-Kongress 2000 in Berlin - darauf insistiert hat, daß es sich bei Kant um „den bedeutendsten Antiplatoniker der Philosophiegeschichte überhaupt handelt". Dieser Satz, den man gar nicht genug unterstreichen kann, trifft den Sachverhalt nicht nur deshalb, weil etwa Kant keine guten Worte für Piaton übrig hat - „Plato der A k a d e m i k e r [...] ward also, obzwar ohne seine Schuld, der Vater aller Schwärmerei m i t d e r P h i l o s o p h i e " (VT VI 387 A 408), „die Philosophie des A r i s t o t e l e s ist dagegen Arbeit" (VT VI 382 A 397). Er trifft auch nicht nur deshalb zu, weil er den Kern der Kantischen Philosophie insgesamt bezeichnet - d i e K r i t i k a l s o a l s e i n e W i d e r l e g u n g des N e u p l a t o n i s m u s v e r s t a n d e n werden muß und auch nur so überhaupt zu begreifen ist - , sondern er trifft das Wesentliche, weil er das Kantische Denken selbst benennt. Alleine, es stellt sich hierbei die Frage: Was heißt in diesem Zusammenhang ,Anti'- zumal wir ja gerade vom Anti-Gnostizismus (etwa von den Kehrtwenden Plotins oder Augustinus') her wissen, daß dieses ,Anti' in Struktur und Denken dem Negierten doch sehr verhaftet bleiben kann. Kants Anti-(Neu) Piatonismus geht jedoch so weit, daß man ihn getrost als den bedeutendsten N i c h t - P l a t o n i k e r der Philosophiegeschichte bezeichnen sollte. Dabei hat Kant - durch seine frühzeitige sorgfältige Swedenborg-Lektüre in späteren Zeiten ein geradezu hochsensorisches Gespür für alles auch nur neuplatonisch Anmutende sowie vor allem auch für die konstruktionssystematischen Scharnierstellen des neuplatonischen Denkens entwickelt, indem er begriffen hat, daß das gesamte neuplatonische Geistergerüst letztendlich auf den S u b s t a n z b e h a u p t u n g e n d e s In tel Ii g i b 1 en aufgebaut ist. Gelingt es zu zeigen, daß die Substanzbehauptungen des Intelligiblen nicht haltbar, sondern nur Chimären sind, so bricht damit auch die gesamte neuplatonische Geisterwelt zusammen. Daher sind es gerade diese Scharnierstellen des Neuplatonismus, die Kant später auch dort noch attackiert und analysiert, wo man zwar von neuplatonischen Elementen, nicht jedoch notwendigerweise von einem neuplatonischen

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Gesamtsystem sprechen kann - etwa im Falle von Leibniz und viel mehr noch in dem von Descartes. So zeigt Kant schon in seiner Inaugural-Dissertation (1770), daß sowohl die behauptete Intelligibilität der Materie (wie ζ. B. im Falle von Leibniz' s c h l u m m e r n d e n M o n a d e n ) als auch umgekehrt die vermeintliche Materialität des Intelligiblen (wie z. B. im Falle von Descartes' a n g e b o r e n e n I d e e n ) insofern nichts als „ W a h n u n d B l e n d w e r k e " darstellen (KrV III 269 A 238 Β 297, Herv. C. R.), als es sich bei beiden um P r o j e k t i o n e n (einmal des Intelligiblen in die Materie, das andere Mal des Materiellen ins Intelligible) handelt. Dieses macht Kant in der Kritik nochmals sehr deutlich: „ L e i b n i z i n t e l l e k t u i e r t e die Erscheinungen, so wie L o c k e die Verstandesbegriffe nach seinem System der Ν o o g ο η i e [d. i. der Seelenentsprechung - C. R.][...] insgesamt s e n s i f i z i e r t [...]" (KrV III 293 A 271 Β 327). Bemerkenswerterweise sitzen wir hier mit Locke noch tatsächlich an der neuplatonischen Quelle, während dieser Bezug im Kapitel über die Paralogismen (in welchem Kant Lockes Position durch die von Descartes und Mendelssohn ersetzt) nicht mehr deutlich ist. In der Kritik 1781/87 wird Kant dann diese Projektionen im einzelnen weiter analysieren: Bei Leibniz' I n t e l l e k t u a l i s i e r u n g d e r M a t e r i e handelt es sich um eine A m p h i b o l i e (wörtlich: M e h r d e u t i g k e i t gemeint: daß das Deutende fehlerhaft dem Gedeuteten zugeschrieben, d. h. eben f a l s c h p r o j i z i e r t worden ist); bei Descartes' M a t e r i a l i s i e r u n g d e s I n t e l l i g i b l e n handelt es sich um einen P a r a l o g i s m u s (wörtlich: A l o g i k - gemeint ist die S c h i z o p h r e n i e ) , wobei es sich bei beiden um A n t i n o m i e n (wörtlich: G e s e t z w i d r i g k e i t e n - gemeint sind die paranoiden K o n s t r u k t i o n e n ) handelt. Warum? Weil die hier behaupteten Intellektsubstanzen, als Entitäten, als das Eine in der Sache selbst just wieder auf die Z w e i - W e l t e n - L e h r e n und die damit verbundenen Fragen hinauslaufen würden. Daher die Frage, die Kant auf seinem metaphysischen Luftschiff (wir erinnern uns: im ersten Teil des ersten Hauptstücks der Träume) - an Leibniz richtete: Wie kommt ein immaterielles Wesen - eine einfache Substanz - in die Materie hinein (wo diese doch undurchdringlich ist), wie kann sich alsdann das immaterielle Wesen in der Materie halten (wo es doch durchdringlich sein soll) und vor allem, wie kommt es da wieder heraus? Wieviel Platz nimmt überhaupt ein Geist in „einem Kubikfuß Raum" ein (Τ II 927 A l l ) ? Umgekehrt die Frage an Descartes: Warum sind die einen Ideen körperliche Substanz, die anderen jedoch nur geistig; durch was verwandelt sich eine Idee in Materie? Schließlich ließe sich an beide noch die Frage stellen, die Kant bereits an Swedenborg gestellt hatte: Wenn schon eine intelligible Materie und eine Materialität des Intelligiblen im Sein selbst vorhanden sein sollen, wie ist dann zu erklären, daß die mundus intelligibilis/mundus sensibilis-Problematik sich nicht schon längst ganz in Luft aufgelöst hat? Man sieht an diesen Fragen, daß die Materie-IntellektEntitäten genau dort, wo mit ihnen das erste oder letzte Eine - als das, was die Welt im Innersten zusammenhält - behauptet wird, sich just genau an dieser

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Stelle eine ganz andere, zweite Welt auftut und - zumindest in diesem Substanzdenken - auch aufspalten muß. Den neuplatonischen S u b s t a n t i a l i s i e r u n g e n d e r V e r n u n f t hält Kantsomitdie k r i t i s c h e R e p r ä s e n t a t i o n von Vernunft bzw. von Materie entgegen. Man könnte hiergegen einwenden, es mache doch kaum einen Unterschied, ob ich sage: ,Vernunft = X', oder ob ich sage: ,Ich habe eine Vorstellung X von Vernunft'. Allerdings ist dieser kleine Unterschied alles andere als rhetorisch, wird doch die Differenz zwischen diesen beiden Positionen gerade an den sich hieraus ergebenden Konsequenzen deutlich. Sage ich nämlich , Vernunft ist X ' - das Eine (Plotins), die Geisterwelt (Swedenborgs), die schlummernde Monade (Leibniz'), die angeborenen Ideen (Descartes') oder der sich selbst verwirklichende Geist (Hegels) - , so glaube ich mit diesen Xen eine ontophänomenologische Geisterstätte der Vernunft ausfindig gemacht zu haben; einen Ort der Vernunft, der es mir gestatten würde, die Frage, was denn das überhaupt sei ,Vernunft', mir gar nicht mehr weiter stellen zu müssen. So werden die „Zuflüchtfe] der faulen Philosophie[n]" (TU 939 A 34) mit ihren . e r s c h l i c h e n e n Begriffen' (T II 926 A 10 Fn.) schließlich zu „einstweiligen Surrogat[en] der Vernunft" (Anthr. XII 583 A 207 Β 206) - welche, da sie die Vernunft doch nicht begreifen können, bei jedem sich neu stellenden Problem bis ins Unendliche weiter phänomenologisiert, substantialisiert und ontologisiert werden müssen. [Vgl. 46. Exkurs] Mit den ontophänomenologischen Substantialisierungen verselbständigen sich jedoch peu à peu die Vernunftsurrogate derart, daß hieraus „durch äußere Zeugnisse bewährte Facta, aus Traditionen, die anfänglich selbst gewählt waren, mit der Zeit a u f g e d r u n g e n e Urkunden, mit einem Worte die gänzliche Unterwerfung der Vernunft unter Facta, d. i. der A b e r g l a u b e entspringen [muß], weil dieser sich doch wenigstens in eine gesetzliche Form und dadurch in einen Ruhestand bringen läßt" (Do V 281 f A 327). Und in der Tat: Was sollte eine gewöhnlich sterbliche Vernunft gegen das Plotinsche Eine, gegen Swedenborgs Geisterwelt oder gar gegen Hegels sich selbst verwirklichenden Geist noch ausrichten können? Die genannten , , Z a u b e r l a t e r n e [ n ] v o n H i r n g e s p e n s t e r n " (KpV VII 275 A254, Herv. C. R.) sind dermaßen eigenmächtig und übermächtig (weil nun wirklich auch paranoid-größenwahnsinnige Allmachtsphantasien), daß sie ein menschliches Handeln oder auch nur eigenständiges Denken eben gerade nicht mehr ermöglichen, und wohl auch gar nicht mehr ermöglichen sollen, indem hier die Vernunft nicht mehr das Wirkende, sondern das (gespenstisch) Bewirkte - und damit eben gar nicht mehr - ist. Sage ich dahingegen: Ich habe eine Vorstellung X von Vernunft, so ergeben sich hieraus ganz andere Fragen, angefangen bei der: Welche Vorstellung? Dies fuhrt zu der Frage nach der Vorstellung einer derartigen Vorstellung, sprich: zur Reflexion der Vernunft auf sich selbst, also zur K r i t i k , d. h. zu einer Unterscheidung und Prüfung der Frage, wie die Vernunft selbst konstituiert sein muß, um vernünftig etwas repräsentieren zu können. Gerade in der

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praktischen Vernunft, zumal in der Ethik, wird dies sehr deutlich: Wenn nämlich die Geisterwelten als Kausalität für das zwischenmenschliche Verhalten „wie Schattenbilder eines Traums, verschwinden" (KrV IV 450 A 475 Β 503), so wird man zwangsläufig auf die Frage gebracht, wie denn eben diese Kausalität aussehen müßte, um vernünftig sein zu können - d. h. auf die Frage, wie ein kategorischer Imperativ beschaffen sein müßte, damit Freiheit und Moralität für die Menschen möglich sein können. Denn es macht, um dies hier nochmals zu betonen, eben doch einen erheblichen Unterschied, ob ich aufgrund vermeintlicher empirischer Geistererfahrungen - beschreibe, wie die Geister auf Sein und Dasein wirken, oder ob ich mich frage, nach welcher apriorischen Vernunft die Menschen individuell frei und doch miteinander leben können. Bei alledem steht für Kant seit den Träumen zumindest dieses eine fest: Es gibt Bedingungen des Repräsentierenden (mundus intelligibilis) und Bedingungen des Repräsentierten (mundus sensibilis) - beide jedoch lassen sich nicht mehr auf ,das Eine' reduzieren. Umgekehrt wird es Kant fortan immer wieder darum gehen, d i e S y s t e m e d e r U n m i t t e l b a r k e i t - ζ. B. „der T h e o s o p h e n und M y s t i k e r schmelzende Vereinigung mit der Gottheit [...]" (KpV VII 251 A 217f) - aufzudecken und kritisch zu analysieren, um diesen „Ungeheuern der Vernunft" (vgl. ebd., Herv. C. R.) ein S y s t e m d e r R e p r ä s e n t a t i o n entgegenzuhalten. Nachdem wir nun so viele Welten - die Geisterwelt, die Verstandeswelt, die moralische Welt und die Sinnenwelt - wenn auch nicht zu Gesicht bekommen, so doch zumindest uns vorgestellt haben, müßten wir uns abschließend die Frage stellen, was denn Kant eigentlich unter , W e 11 ' - unter der Welt als solcher - verstand? Hierzu vernehmen wir aus der Kritik - keineswegs zufälligerweise ausgerechnet aus dem Kapitel der ersten Antinomie (mit der Thesis: ,Die Welt hat einen Anfang in der Zeit, und ist dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen', sowie mit der Antithesis: ,Die Welt hat keinen Anfang, und keine Grenzen im Raum, sondern ist, sowohl in Ansehung der Zeit, als des Raums, unendlich' (KrV IV 412 A 426 Β 454 bzw. 413ff A 427ff Β 455ff) - den folgenden Satz: „Der allgemeine Begriff einer Welt überhaupt ist nichts als der mundus intelligibilis, in welchem man von allen Bedingungen der Anschauung abstrahiert, und in Ansehung dessen folglich gar kein synthetischer Satz, weder bejahend noch verneinend möglich ist" (KrV IV 419 A 433 Β 416; Subjekt-Prädikat-Umstellung von C. R.). Mit anderen Worten: Die Verstandesvorstellung, die wir uns von der ,Welt als solcher' machen, kann nicht mit einer wie auch immer gearteten sinnlichen Vorstellung (ζ. B. Endlichkeit oder Unendlichkeit) ausgeschmückt werden; weil, wenn wir dies täten, wir d i e W e l t a l s r e i n e R e p r ä s e n t a t i o n s f o r m d e s S e i n s verlassen und uns in eine Antinomie - daher: in eine gesetzwidrige, weil kausal überstrapazierte, paranoide Vorstellung - von Welt begeben würden.

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X. Die Lehrverfassungen von Geistergestalten Mit den Mystikern und Theosophen, mit Plotin und Swedenborg haben wir bereits angedeutet, daß - wie Hegel sich ausgedrückt haben würde - die Geisterkunde ihren weltgeschichtlichen Gang gehen könnte, als Zeit- und Weltgeist versteht sich. Nichts indes verursachte Kant ein derartiges „ G r ä u s e l n , [...] welches die Kinder anwandelt, wenn sie von Ammen des Abends Gespenstererzählungen anhören" (Anthr. XII 597 Β 222 A 223), wie der Gedanke an eine derartige f ü n f t e K o l o n n e d e r G e i s t e r . In den Träumen äußert er daher seine Befürchtung - es ist dies, wenn man so will, Kants .paranoide' Angst - , die Geistersysteme könnten „sich selbst in die Lehrverfassungen [der philosophischen Schulen - C. R.] einschleichen" (Τ II 923 A 4); eine Erwägung, die er dann doch wieder bezweifeln möchte, da „die vorgegebenefn] Erscheinungen [zwar - C. R.] großen Eingang finden, öffentlich jedoch entweder abgeleugnet oder doch verhehlet werden" (Τ II 965 A 82). Der nachfolgende Satz allerdings liest sich beinahe schon wie eine Beschwörung, gleich so, als wollte Kant seinen Gegenstand magisch besprechen: „Man kann sich daher darauf verlassen: daß niemals eine Akademie der Wissenschaften diese Materie [nämlich: positive Geisterkunde - C. R.] zur Preisfrage machen werde; [...] weil die Regel der Klugheit deren Fragen [...] mit Recht Schranken setzet. Und so werden die Erzählungen von dieser Art wohl jederzeit nur heimliche Gläubige haben, öffentlich aber doch durch die herrschende Mode des Unglaubens verworfen werden" (Τ II 965f A 82). Doch gerade die Moden ändern sich. Bereits in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts wird ,die herrschende Mode des Unglaubens' (sprich: die Aufklärung) einer herrschenden Mode des Glaubens und selbst des emphatischen Aberglaubens (zuerst den Empfindsamen, die später als Stürmer und Dränger bezeichnet wurden, später der Romantik und dem sogenannten Deutschen Idealismus) weichen müssen; einer Gegenbewegung, in der dann gerade die G e i s t e r f r a g e z u r P r e i s f r a g e d e r P h i l o s o p h i e erklärt werden wird. So veröffentlicht ein Jahr nach Hegels Phänomenologie des Geistes (1807) Jung-Stilling eine Theorie der Geisterkunde (1808), welche dann noch von Schellings Reflexionen über Clara, oder der Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt (1810) überflügelt wird. Doch all dies ist nur der Anfang; in den folgenden zweihundert Jahren wird der Spuk die deutsche Philosophie praktisch nicht mehr verlassen. (Vgl. im Literaturverzeichnis die - heimliche - Swedenborg-Rezeption in Deutschland.) Tatsächlich trifft Kant mit seiner Befürchtung - leider - mehr Realität, als er sich hätte träumen lassen. Einerseits beruht ja Swedenborgs h o m o m a x i m u s nicht - wie uns der Seher gebetsmühlenartig einreden will - auf seinen e m p i r i s c h e n A n s c h a u u n g e n d e r G e i s t e r w e l t , sondern auf sehr alten und im Barock übrigens geradezu stereotyp verbreiteten Lehrmeinungen. Von dem Indologen Heinrich Zimmer (vgl. 1961) erfahren wir: Die Swedenborgische Vision des h o m o m a x i m u s stimmt mit der indischen, jaini-

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sehen Lehre vom k o s m i s c h e n M e n s c h e n in vielem (sowohl in der Figur des sich aus kleinen Männchen zusammensetzenden Großmenschen als auch in der Funktion desselben als Geiststoff) überein. Obgleich Zimmer sicherlich recht hat, wenn er den ersten Ursprung dieser Mystik in der indischen Philosophie sieht, und obgleich nun auch Swedenborg sich nicht nur mit den abgeschiedenen Seelen indischer Brahmanen unterhalten, sondern sicherlich auch Bücher über Indien gelesen haben wird, so scheint es doch unwahrscheinlich, daß der Seher sein Gesehenes und Gehörtes dieser Quelle direkt entnahm. Julius Ebbinghaus (vgl. 1943 73) hat daraufhingewiesen, daß die jüdische Kabbala einen ebensolchen G r ö ß e s t e n M e n s c h e n in der Figur des A d a m K a d m o n kennt; und da es verschiedenen Swedenborg-Lesern - u. a. bereits schon Alfred Lehmann (1898) - aufgefallen ist, daß Swedenborgs Bibelauslegungen in den Arcana coelestia (seine Auslegungen der fünf Bücher Mose!) wie überhaupt seine L e h r e v o n d e n E n t s p r e c h u n g e n durchaus nach kabbalistischem Muster verfährt, ist es sehr wahrscheinlich, daß Swedenborg in London kabbalistische Schriften eingesehen und seinen h o m o m a x i m u s nach dem Modell des A d a m K a d m o n gestaltet hat. Geht man dieser Quelle nach und vergleicht die beiden Figuren miteinander, so sind deren Übereinstimmungen geradezu entlarvend. Von Gershom Scholem (vgl. 1960 139, 150ff u. 172f) erfahren wir: 1. Daß Adam Kadmon jener S o n n e n g o t t ist, dessen geistiges Licht als S p i r i t u s a n i m al i s (wie Goethe es nannte: als des Lebens Leben) alle anorganische wie organische Materie belebt, was Swedenborg zu jener aberwitzigen Spaltung seines homo maximus in einen G e i s t k ö r p e r (= Geistsubstanz, der Stoff des Geistes, welcher der Größeste Mensch selbst ist) und in einen G e i s t g e i s t k ö r p e r (= göttliches Licht, Sonne, welcher Gott oder das Auge des Größesten Menschen ist) geführt haben mag. 2. Daß Adam Kadmon der Schöpfergott ist, und in dieser anthropomorphistischen Verkörperung des HERRN alles Weltliche wie Außerweltliche ihm insofern entspricht, als das Geschöpf mit der Morphologie seines Schöpfers übereinstimmen muß; weswegen sich eben Adam Kadmon ebenso aus kleinen Menschen zusammensetzt, wie er selbst der Größte Mensch ist. 3. Daß Adam Kadmon der U r m e n s c h und als solcher die Urfigur aller Figuren ist, welche alle Verkörperungen des Seins zur Menschengestalt hintendieren läßt (ebenfalls ein Gedanke, den Swedenborg unentwegt in allen möglichen Varianten wiedergibt). Demnach wären alle sich auf den h o m o m a x i m u s beziehenden Grundgedanken mit den Konturen des A d a m K a d m o n identisch; der Rest, die Detailgestaltung des homo maximus, dürfte dann Swedenborgs Beitrag gewesen sein. - Erstaunlicherweise hat Kant diese Swedenborgische Quelle entweder geahnt oder aber von ihr gewußt: jedenfalls versah er sinnvollerweise das 2. Hauptstück des 1. Teils seiner Träume mit der Überschrift: Antikabbala. Ein Fragment der gemeinen Philosophie, die Gemeinschaft mit der Geisterwelt aufzuheben.

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Angenommen jedoch, Swedenborg hätte weder kabbalistische Schriften noch den Adam Kadmon jemals zu Gesicht bekommen (was, wie gesagt, sehr unwahrscheinlich ist), so bleibt eine dritte Quelle, die der Seher auf jeden Fall gesichtet haben muß: die Titelseite des 1651 in London erschienen Leviathan von Thomas Hobbes, welche bekanntlich jenes alttestamentarische Ungeheuer in der Gestalt eines überdimensionalen, sich aus lauter kleinen Subjekten zusammensetzenden Großfürsten darstellt. Doch selbst, wenn der Visionär auch dieses Bild nicht als Vorbild für seinen homo maximus verwendet haben sollte, so bleiben all jene Kupferstiche und Ölbilder, die, ähnlich konstruiert, im ausgehenden 17. Jahrhundert sich einer solchen Beliebtheit erfreuten, daß man sie praktisch allerorts bewundern konnte: so, um hier nur einige Beispiele anzuführen, Marcus Gheeraets Allegorie der Bilderstürmer (ein sich aus Menschenschwärmen zusammensetzender Totenkopf) oder der Herodes eines Anonymus (ein sich aus nackten Kleinkindern zusammensetzendes Tyrannengesicht). [Vgl. hierzu auch die Abbildungen auf den folgenden Seiten] Aus alledem können wir mit Gewißheit schließen, daß Swedenborg für seinen h o m o m a x i m u s - wie für alles, was er im Jenseits gesehen, gehört und gefühlt haben will - auf mystische, neuplatonische sowie insbesondere kabbalistische Quellen zurückgegriffen hat. Andererseits sind wiederum die Swedenborgschen Meinungen zur Geisterwelt ihrerseits zu Lehrmeinungen geworden - und dies gleich in zweierlei Fassung: o v e r - c o v e r in der einer offiziellen und u n d e r - c o v e r in der einer heimlichen Glaubensgemeinschaft. Nun meinte ja doch Swedenborg, durch göttliche Offenbarung zum Propheten berufen worden zu sein; eine Annahme, die ihn zu berechtigten schien, auch ganz konkret als Religionsstifter aufzutreten. Zwar hat Swedenborg mit seinem Neuen Jerusalem eine neue Religionsgemeinschaft nur konzipiert, nicht aber eigenständig gegründet, doch wurde ihm postum die Ehre zuteil, von den S w e d e n b o r g i a n e r n zum Oberhaupt jener protestantischen Sekte ernannt zu werden, die sich noch heute Neue Kirche bzw. Kirche des Neuen Jerusalem nennt. So gründeten Swedenborgs „Anhänger, die Swedenborgianer, in den USA 1817 die General Convention, seit 1897 General Church of New Jerusalem. In der Schweiz besteht seit 1874 der Schweizer Bund der Neuen Kirche, in Deutschland seit 1922 die Deutsche Neue Kirche. Einzelgemeinschaften gibt es in England, Skandinavien, Italien" (Brockhaus Konversationslexikon, Stichwort: .Swedenborg'). Demnach sind Swedenborgs Lehrmeinungen zumindest für eine religiöse Glaubensgemeinschaft kanonisch geworden. Was aber die Gemeinschaft all jener Dichter und Denker anbelangt, die öffentlich der Neuen Kirche nie betreten würden, insgeheim jedoch den Visionär desto mehr verehren, so kann der Einfluß, den Swedenborg auf die deutschprotestantische Geistes- und Kulturgeschichte überhaupt ausgeübt hat, gar nicht groß genug eingestuft werden. Diesbezüglich hat jedoch gerade Kants Verspottung von Swedenborg bewirkt, daß sich kein Dichter oder Denker von

1 1 . D I E T R Ä U M E EINES GEISTERSEHERS

Anonymus Herodes, 17. Jahrhundert Öl auf Holz, 45,6x34 cm Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum Innsbruck

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ZWEITER TEIL: D I E PSYCHOLOGIE

Detail aus dem berühmten Titelkupfer von Tomas Hobbes Leviathan Spätes 17. Jahrhundert

1 1 . D I E T R Ä U M E EINES GEISTERSEHERS

Marcus Gheeraets Allegorie der Bilderstürmer Frühes 17. Jahrhundert Radierung, 20x 15 cm British Museum, London

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ZWEITER TEIL: DIE PSYCHOLOGIE

Rang öffentlich zu Swedenborg bekannt hat. Das bedeutet allerdings nicht, daß Swedenborg nicht ausgiebig gelesen und heimlich rezipiert worden wäre. Ja, man muß sogar einräumen, daß Kants Widerlegung der Geisterseherei kontraproduktiv gewirkt und eine Gespensterdebatte erst ausgelöst hat, wie sie die gesamte Geschichte des Denkens in diesem Ausmaß noch nicht gesehen hat. So wird man in der Zeit zwischen 1750 und 1850 kaum einen großen Geist (der Aufklärung oder Gegenaufklärung) antreffen, der sich nicht an der Geist- und Geisterseherdebatte beteiligt hätte. Um hier nur die einflußreichsten Geister zu nennen, sei auf die folgende Swedenborg-Rezeption in Deutschland verwiesen: Don Augustin Calmet (1751), Friedrich Christoph Oetinger (1765), Immanuel Kant (1766), Johann Gottfried von Herder (1766 u. 1784), Johann Caspar Lavater (1768-78), Johann Wolfgang von Goethe (1772, 1808 u. 1832), Johann Joseph Gaßner (1774), August Friedrich Cranz (1774-84 u. 1777), J. A. Pernetty (1775), Christian August Crusius (1775), Johann Salomon Semler (1776), Ferdinand Sterzinger (1775 u. 1783), Christoph Martin Wieland (1782), Johann Christoph Adelung (1785-89 u. 1799), Johann Gottlieb Stoll (1786), Friedrich Schiller (1788), Gustav E. Dedekind (1793), Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1798 u. 1810), Novalis (1802), Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1807), Johann Heinrich Jung-Stilling (1808), Arthur Schopenhauer (1818 u. 1851), Gustav Theodor Fechner (1825 u. 1848), Samuel Hibbert-Ware (1825), Franz von Baader (1832), K. C. F. Krause (1832), Johann Friedrich Immanuel Tafel (1839) sowie Karl Marx (1846). Da aber Swedenborg als der geistige Urheber dieser ganzen Debatte nicht nur von den heimlichen Swedenborgianern, sondern häufig auch von deren Gegnern in der Regel verschwiegen wurde, ist in der nachfolgenden Zeit der Einfluß des Visionärs auf die deutsche Geistesgeschichte völlig unterschätzt worden. Dies gilt für die G e i s t - A p o l o g e t i k der nachfolgenden deutschprotestantischen Kulturgeschichte überhaupt sowie für die neuplatonische Mystik, wie sie sich mit der deutschen Romantik und dem Deutschen Idealismus hat durchsetzen können - gerade auch gegenüber der Kantischen Kritik. Dies gilt jedoch auch für die Nachkommenschaft von Swedenborgs h o m o m a x i m u s selbst - für jene, die Kant prognostisch als „ K r a f t m ä n n e r " d e r V e r n u n f t bezeichnete (VT VI 391 A 415 Fn.): angefangen bei den sogenannten g r o ß e n K e r l e n des Sturm und Drang, Goethes Götz von Berlichingen, Klingers Simone Grisoldo u. a., über Heines Ardinghello, bis hin zu Nietzsches .Übermensch'. Hält man sich also Swedenborgs unterschwellige Rezeption vor Augen und berücksichtigt dabei, daß sich diese mit der Mystik des deutschen Protestantismus wie angegossen artikuliert, so weiß man nicht, ob des Visionärs Einfluß nicht doch größer war als jene kleine Zäsur, die Kant hiergegen aufbot. Schließlich bringt uns der Einfluß von Swedenborgs Lehren zum einen auf eine marginale protestantische Sekte, zum anderen auf den Kern der postaufklärerischen deutschen Kulturgeschichte überhaupt und damit zu jener Frage zurück, die wir in dem Kapitel über den Wahn und die Philosophie bereits

11. DIE TRÄUME EINES GEISTERSEHERS

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gestellt hatten - nämlich, in welchem Zusammenhang die Systeme der Philosophie mit den mystischen Wahnsystemen stehen: m u n d u s i n t e l l i g i b i li s oder m u n d u s p a r a n o i d i s , s o stellt sich hier die Frage. Diese Frage verweist konkret auf jene andere nach dem Re a l g r u n d d e r W i r k l i c h k e i t v o n T h e o r i e ü b e r h a u p t . So scheint die Frage nicht unberechtigt, welchen Einfluß die paranoiden Theorien auf die kulturelle, gesellschaftliche und schließlich auch politische Wirklichkeit ausüben konnten bzw. tatsächlich ausgeübt haben? Muß hier nicht eine Linie gezogen werden von den neuplatonischen Spaltungs- (und den dementsprechenden gnostischen Erlösungs-) Theorien zu jenen gesellschaftlichen Theorien und Praktiken, die auf eine reale Spaltung des Sozialen abzielen? Läßt sich nicht eine ebensolche Linie von Swedenborgs homo maximus über die g r o ß e n K e r l e des Sturm und Drang bis hin zum F ü h r e r des Nationalsozialismus ziehen? Sind nicht die Parallelitäten zwischen der von Swedenborg phantasierten ,Hölle der Juden' und dem, was später der Vorsitzende des Warschauer Judenrats, Adam Czerniaków, von der Einrichtung und Belagerung bis hin zur ,Endlösung' des Warschauer Gettos durch die Nationalsozialisten zu berichten hatte (vgl. A. Czerniaków 1939-1942) geradezu erschreckend? Jedenfalls scheint es kein Zufall, daß der Swedenborgismus in der Endphase der Weimarer Republik sowie während der Zeit des Nationalsozialismus eine außerordentlich rege Konjunktur hatte und insbesondere von den S p i r i t i s t e n , vgl. u. a. Richard Henning (1906) sowie Max Dessoir (1917), den O k k u l t i s t e n , vgl. u.a. Ludwig Deinhard (1910), den V i t a l i s t e n , vgl. u.a. Hans Driesch (1926 sowie 1941), den T h e o s o p h e n wie Franz Hartmann, den A n t h r o p o s o p h e n wie Rudolf Steiner, ebenso wie von expliziten S w e d e n b o r g i a n e r n wie u.a. Ernst Benz (1941) ausführlich rezipiert wurde. Freilich wird hierbei auch das eine Rolle gespielt haben, was Kant zu dem Ausspruch des Kutschers des Astronomen Tycho Brahe bemerkte (da dieser meinte, des Nachts nach den Sternen einen kürzeren Weg fahren zu können): daß nämlich „die anschauende Kenntnis der anderen Welt" in diesem Fall: die Beschäftigung mit Gespenstern und abgeschiedenen Seelen ausgerechnet während der Zeit des Nationalsozialismus - offenbar auch den Zweck verfolgt, „etwas von demjenigen Verstände [einzubüßen], den man vor die gegenwärtige nötig hat" (T 11 951 A 57). Zu Kants Verhältnis zu den Sternen vgl. auch Hans Blumenberg (1987 109ff) Während jedoch die p a r a n o i d e n T h e o r i e n - und zwar auch ganz offiziell an deutschen Universitäten - Konjunktur hatten, wurden die etwa zeitgleich verfaßten T h e o r i e n d e r P a r a n o i a in die Verbannung geschickt und erst ein halbes Jahrhundert später, wenn überhaupt, rezipiert; so Sigmund Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921), Elias Canettis Masse und Macht (konzipiert und verfaßt zwischen 1931 und 1956), Hermann Brochs Massenwahntheorie (verfaßt zwischen 1938 und 1948), oder in der literarischen Version: Michael Bulgakows Der Meister und Margarita (um 1930) bzw. Aldous Huxleys Schöne neue Welt (1932).

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ZWEITER TEIL: DIE PSYCHOLOGIE

Wie auch immer man diese Fragen nach den möglichen Realauswirkungen von paranoiden Theorien im einzelnen beurteilen möchte, so läßt sich doch zumindest das eine nicht von der Hand weisen: Der wesentliche Charakterzug des Swedenborgschen Wahnsystems - eben die Paranoia, das von Kant beobachtete M a r i o n e t t e n s p i e l d e s h o m o m ax i mu s - kennzeichnet auch den Kern des Wahns der politisch-totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts. So gesehen, scheinen wir tatsächlich Ursache zu haben, „über die wunderliche Wahrsagung des H o l b e r g s bekümmert zu sein: daß nämlich der tägliche Anwachs der Narren bedenklich sei und furchten lasse, sie könnten es sich wohl noch in den Kopf setzen, die fünfte Monarchie [das .Dritte Reich' oder man weiß nicht, welche ,Neue Weltordnung' - C. R.] zu stiften" (KdK II 891f A 21).

C. Apriori - das letzte Wort der,Träume' Nach seinen psychologischen Studien und seiner Auseinandersetzung mit dem Irrationalen, nach der Zeit zwischen 1763 und 1766 hätte sich Kant durchaus zu einem Wissenschaftler der „empirischen Psychologie" (NEV II 911 A 9) entwickeln können; wenngleich er bereits in der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765-1766 kritisch zu bedenken gibt, daß, „was den Ausdruck der Seele betrifft", es „noch nicht erlaubt sei zu behaupten, daß er [der Mensch] eine habe" (ebd.), weil es sich, wie er später in der Kritik der reinen Vernunft darlegen wird, bei dem Begriff der Seele um einen paralogistischen Begriff, d. h. um eine subjektive Projektion des Subjekts auf sich selbst und somit um einen Wahnbegriff handelt. Kant wird jedoch nach 1766 bekanntermaßen nicht zum empirischen Psychologen, sondern zu dem Philosophen des A p r i o r i werden. Nachdem also seine Untersuchungen des Irrationalen sich in Kontingenzen verfangen hatten, schlägt er damit genau den umgekehrten Weg ein: Statt weiterhin das Irrationale empirisch zu untersuchen, versucht er erst einmal - ansatzweise bereits in den Träumen - klarzustellen, was denn das Rationale - a priori - überhaupt sein könnte, d. h. wie eine Normativität, also objektive Gesetzmäßigkeit im Denken, Erkennen, Wahrnehmen, Handeln und selbst im Glauben, überhaupt möglich ist. Es wird Kant daher in der Zeit nach den Träumen eines Geistersehers um „[...] e i n e W i s s e n s c h a f t d e s r i c h t i g e n V e r s t a n d e s - u n d V e r n u n f t g e b r a u c h s überhaupt [gehen], aber nicht subjekt i v , d. h. n i c h t n a c h e m p i r i s c h e n ( p s y c h o l o g i s c h e n ) P r i n z i p i e n , w i e d e r V e r s t a n d d e n k t , s o n d e r n o b j e k t i v , d. i. n a c h P r i n z i p i e n a p r i o r i , w i e er d e n k e n s o l l " (Log. VI 437 A 9f).

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Dieser Feststellung entgegen wird allerdings, wie wir bereits in dem Kapitel über den Hume-Myhos gesehen hatten, von einer Vielzahl von Interpreten eine empiristische oder Humesche Phase Kants in der Zeit zwischen 1766 und 1771 behauptet. Dennoch: Es hat zu keinem Zeitpunkt - nicht einmal ansatzweise - eine wie auch immer geartete empiristische oder Humesche Phase bei Kant gegeben - im Gegenteil! Denn das Erstaunliche an der Entstehungsgeschichte seiner „Revolution" oder „Umänderung der Denkungsart" (KrV III 25 Β XVI) - eben während der kritischen Wende, die sich zwischen 1759 und 1781 vollzieht - besteht doch darin, daß - wenngleich ansonsten in dieser Umbruchsphase nicht ein einziger philosophischer Baustein auf dem anderen geblieben ist - Kant in dieser ganzen Zeit des Zweifeins und Verwerfens, des Neuaufstellens und wieder Umstellens seiner Gedankenkonstruktionen eines offenbar nie - nicht einen Augenblick - in Frage gestellt hat: das Apriori. Zwar verändern sich während dieser Zeit die Gegenstände deijenigen Erkenntnisse, denen ein apriorischer Gehalt zugesprochen wird, in radikaler Weise - noch im Einzig möglichen Beweisgrund (1763) war die Einheit des Mannigfaltigen, d. h. die Vernunft im Denken und in der Welt, gottgegeben und dieser Gott „vollkommen a priori" zu beweisen (Bg. II 653 A 47), während dann später in der Kritik (1781 ff) diese selbe E i n h e i t d e s M a n n i g f a l t i g e n , und mit ihr d a s A p r i o r i , in der Konstitution unserer Vernunft selbst begründet ist - , doch stellt Kant in der Zwischenzeit zu keinem Zeitpunkt den Stellenwert des Apriori als solchem in Frage; jene Einsicht nämlich, daß Denken, Logik, Vernunft niemals den - allerdings: kontingenten empirischen Erfahrungen zu entnehmen sind. So gesehen, könnte der gesamte Werdegang der kritischen Wende zwischen 1763 und 1781 auch einmal ganz anders verstanden werden: nämlich als ein Versuch Kants, jenes vom Rationalismus zu retten, was unter keinen Umständen der neuen Mode des Empirismus preisgegeben werden sollte: das Apriori. Entgegen den anderslautenden Behauptungen einer vermeintlichen empiristischen Phase entwickelt sich bei Kant gerade in der zweiten Hälfte der 60er Jahre ein Bewußtsein für die Notwendigkeit einer apriorischen, d. h. nicht-empirischen, von aller Erfahrung unabhängigen Erkenntnis. So ist in der Einrichtung seiner Vorlesungen (1765) erstmals von einer „ K r i t i k d e r V e r n u n f t " die Rede (NEV II 914 A 13, Herv. C. R.); von „einer Kritik und Vorschrift des gesunden Verstandes" (NEV II 912 A 10), welche hier noch explizit ihrer Gegneradresse gegenübergestellt wird: nämlich den noch im Jahr zuvor empirisch untersuchten k r a n k e n K ö p f e n . Apriorische Vorschrift des gesunden Verstandes wider die empirische Verwirrung der kranken Köpfe, so begründet sich noch 1765 die Untersuchung der Vernunft; eine Vernunftkritik, bei der bereits hier das, „ w a s g e s c h e h e n s o l l " , von dem unterschieden wird, „ w a s g e s c h i e h t " (NEV II 914 A 13). Dabei ist es dann nur konsequent, den offensichtlichen Wahn- und Halluzinationsphänomenen bei Swedenborg erst einmal mit einer Erkenntnistheorie zu begegnen.

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ZWEITER TEIL: DIE PSYCHOLOGIE

So wird ein Jahr später, in den Träumen eines Geistersehers, erstmals im gesamten Kantischen Œuvre überhaupt d a s A p r i o r i ausdrücklich thematisiert und zum Gegenstand einer Methodendiskussion gemacht (vgl. Τ II 970-972 A 92-A 95), wobei Kant an dieser Stelle, und zwar dezidiert, für eine apriorische Erkenntnis plädiert und gegen den Empirismus polemisiert. Wiederum vier Jahre später, in der Inaugural-Dissertation, De mundi etc. von 1770, fallt erstmals im Kantischen Werk der Ausdruck einer „ r e i n e n V e r n u n f t " (im Text: „ r a t i o n i s p u r a " - ID V A2 3, Herv. C. R.), wobei schon hier das Wort ,r e i η ' unmißverständlich im Sinne von , η i c h t - e mp i r i s c h ' , d. h. als Synonym für ,a p r i o r i ' gebraucht wird. Die Tendenz ist daher eindeutig: zwischen 1765 und 1770 konzentriert und fokussiert sich Kants Denken mehr und mehr in Richtung: Apriori. Hierbei geht es Kant nun aber nicht nur um die Methodenfrage sowie um die Frage, wie allgemein mit Vernunftgegenständen umzugehen ist (nämlich, wie es bereits 1770 in De mundi heißt: „in einer reinen Philosophie wie der Metaphysik, [...], g e h t d i e M e t h o d e v o r a l l e r W i s s e n s c h a f t v o r h e r " , ist also a p r i o r i (ID V 83, im Text: A2 28f): „Verum in Philosophia pura, qualis est Metaphysica, [...], M e t h o d u s a n t e v e r t i t o m n e m s c i e n ti am"); in dem besagten Zeitraum entwickelt Kant auch ein ganz konkretes Bewußtsein dafür, daß es eine Reihe von Vernunftgegenständen gibt, die unter keinen Umständen den Erfahrungen zu entnehmen sind. Sowohl in den Träumen eines Geistersehers (1766) als auch in der Inaugural-Dissertation, De mundi etc. (1770) werden diese Gegenstände beim Namen genannt. So sind bereits in den Träumen „unsere Vernunftregeln", d.h. d e r S a t z d e r I d e n t i t ä t sowie der d e s W i d e r s p r u c h s , ebenso wie d i e K a t e g o r i e n „der Ursache und Wirkung, der Substanz und der Handlung" sicherlich nicht Folgen der Erfahrung, sondern gehen dieser - a p r i o r i - konstitutiv voraus (vgl. Τ II 985 A 120f). Ferner heißt es 1770 in De mundi: „Von dieser Art" nämlich von der eines „ r e i n e n [d. h. nicht-empirischen - C. R.] V e r s t a n d e s " - „sind ,Möglichkeit' [possibilitas], ,Dasein' [existentia], Notwendigkeit' [necessitas], ,Substanz' [substantia], ,Ursache' [causa] usw., mit ihren Gegensätzen und Verhältnisgliedern; da diese [Begriffe] niemals als Bestandteile in irgendeine Sinnesvorstellung eingehen, konnten sie von dort auch auf keine Weise abgezogen werden" (ID V 39; im Text: A2 11). Darüber hinaus werden in De mundi die „ r e i n e n (d. i. von Empfindungen leeren, [...]) A n s c h a u u n g e n ] " , d.h. Z e i t u n d R a u m (ID V 43; im Text: A2 13), sowie hier auch noch die Z a h l der „reinen Mathematik" dem nicht-empirischen, reinen Vernunftbereich zugeordnet (vgl. u. a. § 12). Schließlich hebt die Dissertations-Schrift die „moralischen Begriffe" hervor, „die nicht auf dem Wege der Erfahrungen, sondern durch den reinen Verstand selbst erkannt werden [im Text: conceptus morales, non experiundo, sed per ipsum intellectum purum cogniti]" (ID V 37; im Text: A2 10). Die Textstellen belegen, daß Kant in der Zeit zwischen 1765 und 1770 den apriorischen Bereich nicht etwa einschränkt, sondern mehr und mehr ins

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Zentrum seines Denkens rückt; bereits seit 1765 werden die Gegenstände der apriorischen Vernunft - d. h. 1. die Vernunftbegriffe, 2. die reinen Anschauungen Raum und Zeit sowie 3. die Moral - selbst in dem Mittelpunkt der Kantischen Untersuchungen gerückt. Allerdings hat der besagte Irrtum - einen Empirismus bei Kant anzunehmen - auch seinen Grund. Das macht den Fehler zwar nicht besser, erklärt aber, an welcher Stelle und warum er sich hat einschleichen können. In der Tat spricht Kant seit den Negativen Größen (1763) überhaupt erstmals von E r f a h r u n g ; was zuvor, während seiner rationalistischen Phase (etwa zwischen 1755 und 1763), niemals der Fall gewesen war. In den Träumen eines Geistersehers (1766) werden die Erfahrungsgründe und die Vernunftschlüsse in der Regel gleichberechtigt nebeneinander gestellt und in ihrem Zweiergespann angeführt. Allerdings befinden sich in den Träumen auch zwei Textstellen, in denen Kant sich nicht auf E r f a h r u n g u n d V e r n u n f t , sondern auf die E r f a h r u n g a l l e i n e beruft. Diese beiden Stellen sehen wir uns also etwas näher an. - Die erste Textstelle: „So fern aber", schreibt Kant (Τ II 985f A 121), „etwas eine Ursache [d. h. kausal - C. R.] ist, so wird durch etwas etwas anders gesetzt, und es ist also kein Zusammenhang vermöge der Einstimmung [nach dem Satz der Identität C. R.] anzutreffen; wie denn auch, wenn ich eben dasselbe nicht als eine Ursache ansehen will, niemals ein Widerspruch entspringt, weil es sich nicht kontradizieret: wenn etwas gesetzt ist, etwas anderes aufzuheben. Daher die Grundbegriffe der Dinge als Ursachen, die der Kräfte und Handlungen [d. h. Realoppositionen überhaupt - C. R.], wenn sie nicht aus der Erfahrung hergenommen sind, gänzlich willkürlich sein und weder bewiesen noch widerlegt werden können. Ich weiß wohl: daß das Denken und Wollen meinen Körper bewege, aber ich kann diese Erscheinung, als eine einfache Erfahrung, niemals durch Zergliederung auf eine andere bringen und sie daher wohl erkennen, aber nicht einsehen." Um überhaupt zu verstehen, was Kant hiermit meint, ist es vonnöten, nochmals kurz auf seinen Versuch über die negativen Größen von 1763 zurückzukommen. Wir erinnern uns (vgl. das Kapitel über den Begriff der negativen Größen), daß Kant dort die Realopposition - d. h. Kausalität - der logischen Opposition - dem Satz der Identität und dem des Widerspruchs gegenübergestellt hatte, um letztendlich zu belegen, daß die Realoppositionen niemals den logischen Widersprüchen entnommen werden können, ebenso wie man mit dem Satz des Widerspruchs niemals die Kausalität einer Realopposition begreifen kann. Anders gesagt: Das Sein, die Welt der Gegenstände mit ihren Wirkungen überhaupt ist keine Erfindung oder Konsequenz des Denkens; oder umgekehrt: Nicht einem jeden gedachten Gegenstand entspricht zwangsläufig auch eine Realexistenz dieses Gegenstandes, wie denn auch die Träume und der Wahnsinn Vorstellungen produzieren, denen offensichtlich kein Gegenstand

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ZWEITER TEIL: D I E PSYCHOLOGIE

entspricht (vgl. KrV III 257 Β 279 A 227). Um also ausschließen zu können, daß einem vorgestellten Gegenstand gar kein Realgegenstand entspricht (also gegen das, was Freud , di e A l l m a c h t d e r G e d a n k e n ' nannte; ein Wunschdenken, welches Kant in der Tat dem Rationalismus, insbesondere jedoch Leibniz vorwirft), erhält die Erfahrung ihre - wenngleich ausschließlich negative! - Bestimmung: Sie soll sicherstellen, daß ein Gegenstand als überhaupt real vorhanden, d. h. als gegeben betrachtet werden kann. Letzteres hat jedoch mit einem Empirismus nicht das allergeringste zu tun. Unter E m p i r i s m u s versteht Kant eine Erkenntnistheorie, die die Gesetzmäßigkeiten und Zufälligkeiten unseres Denkens sowie unserer Anschauungen aus den Erfahrungen - d. h. induktiv - entnehmen möchte. Just eben dies ist jedoch in der oben wiedergegebenen Passage gerade nicht der Fall: Die Empirie dient hier nicht etwa dazu, die Kausalität oder sonst irgendeine Kategorie oder Gesetzmäßigkeit unseres Erkennens positiv zu begründen, sondern sie dient hier nur als negatives Ausschlußkriterium, welches ermessen soll, ob ein Gegenstand als überhaupt real vorhanden - d. h. als Gegenstand für eine Erkenntnis - betrachtet werden kann. Von einem Humeschen Empirismus (der ja doch sämtliche positiven Erkenntnisse - ausgenommen die Mathematik - den Erfahrungen entnehmen wollte) unterscheidet sich also dieser Erfahrungsbegriff (aus dem nicht eine einzige Erkenntnis, sondern nur die Realexistenz eines Gegenstandes geschlossen wird) ganz erheblich! Eben diesen Unterschied macht auch - die zweite Textstelle (Τ II 987 A 124f) deutlich, in der es heißt: „Da nun die Vernunftgründe [d. h. der Satz der Identität und der des Widerspruchs - C. R.] in dergleichen Fällen [bei der Anziehungskraft der Materie, d. h. bei Kausalität - C. R.] weder zur Erfindung noch zur Bestätigung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit [der Existenz des Gegenstandes - C. R.] von der mindesten Erheblichkeit sein: so kann man nur den Erfahrungen das Recht der Entscheidung einräumen, so wie ich es auch der Zeit, welche Erfahrung bringt, überlasse, etwas über die gepriesene Heilkräfte des Magnets in Zahnkrankheiten auszumachen, wenn sie eben so viel Beobachtungen wird vorzeigen können, daß magnetische Stäbe auf Fleisch und Knochen wirken, als wir schon vor uns haben, daß es auf Eisen und Stahl geschehe. [Im weiteren nun aber eine ganz andere Wendung - C. R.:] Wenn aber gewisse angebliche [zu lesen als: ,gegebene' - C. R.] Erfahrungen sich in kein unter den meisten Menschen einstimmiges Gesetz der Empfindung bringen lassen, und also nur eine Regellosigkeit in den Zeugnissen der Sinne beweisen würden (wie es in der Tat mit den herumgehenden Geistererzählungen bewandt ist), so ist ratsam, sie [die Erfahrungen] nur abzubrechen; weil der Mangel der Einstimmung und Gleichförmigkeit alsdann der historischen Erkenntnis alle Beweiskraft nimmt, und sie untauglich macht, ein Fundament zu irgend einem Gesetz der Erfahrung zu dienen, worüber der Verstand urteilen könnte." Tatsächlich widerspricht diese zweite Textstelle der ersten oder schränkt sie doch dermaßen ein, daß von ihr nichts mehr bleibt. Die erste Textstelle

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behauptet, daß, um einen Gegenstand ,als real gegeben' ansehen zu können, dieser Gegenstand durch irgendeine Erfahrung empirisch belegbar sein muß. Die zweite Textstelle schränkt - in ihrem zweiten Teil - genau diese Bedingung wieder ein, indem sie darauf hinweist, daß der Umkehrschluß keineswegs zutreffend ist: Nicht jede Erfahrung, die von einem Gegenstand gemacht wird, weist auch auf die Realexistenz dieses Gegenstandes hin! Denn der springende Punkt bei der Verhandlung der Gültigkeit oder Ungültigkeit von Erfahrungen besteht für Kant doch darin, daß sein Kontrahent Swedenborg in den 10.837 Paragraphen seiner Arcana coelestia sich ununterbrochen und ausdrücklich auf seine E r f a h r u n g e n m i t d e r G e i s t e r w e l t beruft: Wie dieser oder jener Geist auf seine Sinne gewirkt habe, welche Gespräche er mit dieser oder jenen verstorbenen Seele im Geisterreich geführt habe, wie erfahrungsgemäß sich die einen Geistergesellschaften zu den anderen verhalten, wie überhaupt die Geisterwelt im Ganzen empirisch betrachtet werden müßte, usw. usf. - Man hat noch nie so viel über Erfahrungen gelesen wie bei diesem Visionär, so daß es sicherlich nicht übertrieben wäre, in Emanuel von Swedenborg nicht nur den „Erzgeisterseher unter allen Geistersehern" sowie den „Erzphantasten unter allen Phantasten" (Τ II 966 A 85 - gemeint: den Erzhalluzinierenden unter allen Halluzinierenden), sondern auch den E r z e m p i r i s t e n u n t e r a l l e n E m p i r i s t e n zu sehen. Eben aus dieser Swedenborg-Erfahrung ergibt sich Kants Problem mit der Erfahrung: Stimmt die in der ersten Textstelle aufgestellte These, derzufolge die Empirie über die Realexistenz eines Gegenstandes entscheiden würde, so müßte - Swedenborgs Erfahrungen gemäß - der Geisterwelt eine Realexistenz eingeräumt werden. Offensichtlich liegt daher die Entscheidung darüber, ob ein Gegenstand als real gegeben - d. h. überhaupt: als Gegenstand für eine Erkenntnis - in Betracht gezogen werden kann, nicht an der Erfahrung an und für sich, sondern nur an einer bestimmten Art von Erfahrung: einer Erfahrung, die man als objektive Erfahrung - im Unterschied etwa zu einer subjektiven bezeichnen müßte. Nun kann man bekanntlich über die Erfahrungen dessen, was einem subjektiv so alles widerfahren sein soll, endlos debattieren; in einer Talk-Show bzw. auf einem „Jahrmarkt", bei denen das Geschäft der Philosophie sich vorsichtshalber besser nicht ansiedeln sollte (vgl. Τ II 984 A 118). Daher möchte Kant den Geistersehern ihre subjektiven (parapsychologischen Grenz-) Erfahrungen auch gar nicht in Abrede stellen (vgl. Τ II 962f A 78), wenngleich er sie (in der zweiten Hälfte der zweiten Textstelle) mit dem „einstimmigen Gesetz der Empfindung unter den meisten Menschen" konfrontiert. Hierbei sehen wir jedoch leicht ein, daß wir mit dieser „Einstimmung und Gleichwertigkeit" der (subjektiven) Erfahrungen niemals zu einer unbedingten Gesetzmäßigkeit, sondern allenfalls zu einer komparativen Allgemeingültigkeit der Erfahrungen gelangen können: Sollten die einen diese guten Erfahrungen und die anderen jene schlechten Erfahrungen mit einem gegebenen Gegenstand X gemacht

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haben und wir hierbei nun, in einer unendlichen Rechnung, die richtigen gegen die falschen sowie die guten gegen die schlechten Erfahrungen gegeneinander aufrechnen wollen, so würden wir doch aus den empirischen Erfahrungen des Jahrmarkts niemals herauskommen und uns letztendlich bestenfalls in einem Getümmel von Undurchsichtigkeiten verfangen. Um also die Objektivität von Erfahrung von den einzelnen subjektivistischen Erfahrungen unterscheiden zu können, bedarf es (wie Kant am Ende der zweiten Textstelle anfuhrt) der „Gesetze der Erfahrung". Der Witz in dieser Sache besteht jedoch darin, daß diese G e s e t z e d e r E r f a h r u n g , wie Kant sich später auch ausdrücken wird: d i e B e d i n g u n g e n der M ö g l i c h k e i t v o n E r f a h r u n g , den einzelnen empirischen Erfahrungen nicht zu entnehmen sind - nicht weil sie keiner, sondern weil sie allen möglichen Erfahrungen a priori vorausgehen und somit für die einzelnen empirischen Erfahrungen - sowohl methodisch wie auch inhaltlich - konstitutiv sind. Methodisch müssen wir hier wohl keine weiteren Erfahrungswerte anführen, um festzustellen, daß es unmöglich ist, von einer nur komparativen zu einer unbedingt notwendigen Allgemeingültigkeit der Erfahrung zu gelangen: Mögen nun auch die Geisterseher nur eine kleine Minderheit darstellen, so kann die Erfahrung der Mehrheit, die keine Geister sieht, zwar als ein subjektives Indiz, nicht jedoch als ein objektiv-förmlicher Beweis dafür gelten, daß es den Gegenstand , Geister' nicht gibt. Folglich sind hier methodisch betrachtet die objektiven Gesetze der Erfahrung - a p r i o r i - bereits vorhanden, bevor die einzelnen subjektiven empirischen Erfahrungen gemacht werden. Worin bestehen jedoch diese o b j e k t i v e n G e s e t z e d e r E r f a h r u n g , und woher sind ihre Gesetzmäßigkeiten zu beziehen? Bereits im unmittelbaren Anschluß an seine Träume eines Geistersehers ( 1766) - nämlich in den Gegenden im Räume (1768) sowie alsdann nochmals systematischer in seiner Inaugural-Dissertation, De mundi etc. (1770) - stellt Kant fest: Alle möglichen Erfahrungen, die wir machen, bewegen sich offenbar in Zeit und Raum. Dabei ist es uns zwar möglich, wie Kant weiter in De mundi ausfuhrt, einen Gegenstand X (der sich in einem gewissen Raum und in einer bestimmten Zeit befindet) anzufassen und ihn somit auch empirisch zu erfassen; Raum und Zeit als solche lassen sich dahingegen weder anfassen noch sonst in irgendeiner Weise empirisch begreifen, weil nämlich Zeit und Raum gar keine Gegenstände unserer äußeren Sinne, sondern sich im inneren Sinn des Subjekts selbst befindende Bedingungen der menschlichen Anschauung sind. Sind nun diese Bedingungen der Anschauung an den inneren Sinn des Subjekts gebunden, so sind es darum doch keineswegs subjektivistische Bedingungen der Anschauung (die etwa von einem Subjekt zu einem anderen variieren könnten), sondern eben reine (von den äußeren ebenso wie von den inneren Erfahrungen unabhängige) Anschauungen - kurz: A n s c h a u u n g e n a p r i o r i . Wenngleich also die einzelnen subjektiven - äußeren wie inneren - Erfahrungen empirisch sind, so sind es die objektiven Bedingungen, die diese Erfahrungen strukturieren, eben gerade nicht. Und: Ebenso wie hier mit den

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nicht-empirischen Formen der sinnlichen Anschauung, so verhält es sich gleichermaßen mit den oben angeführten kategorialen Vernunftbegriffen (Möglichkeit, Dasein, Notwendigkeit etc.), ebenso wie insbesondere auch mit der Moral: Da sie alle die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrungen erst herstellen, gehen sie den einzelnen empirischen Erfahrungen konstitutiv voraus. Wenn also Swedenborg behauptete, sich an mehreren Orten gleichzeitig aufzuhalten - an dem einen physisch und an dem anderen geistig - ; wenn er angab, mit der abgeschiedenen Seele des Apostel Paulus dieses und mit der des Aristoteles jenes Gespräch geführt zu haben usw., so braucht man ihm diese subjektiv-psychologischen Selbsterfahrungen gar nicht abzusprechen, um klarzustellen, daß derartige Erfahrungen mit den Gesetzen der Erfahrung (nach welchen sich nämlich Substanzen nicht quer durch die Wände sowie quer durch die Zeiten bewegen können) eben nicht in Einklang stehen. Folglich handelt es sich bei den Erfahrungen, die Swedenborg in und mit der Geisterwelt gemacht haben will, nicht um mögliche Erfahrungen. Aus dem hier Dargelegten geht zweierlei hervor. Zum einen definiert Kant bereits in den Träumen eines Geistersehers die „Metaphysik als eine Wissenschaft von den G r e n z e n d e r m e n s c h l i c h e n V e r n u n f t " (TU 983 A 115), wobei er gerade in Sachen Empirie eine deutliche Grenze zwischen den apriorischen „Gesetzen der Erfahrung" einerseits und den aposteriorischen empirischen Erfahrungen andererseits zieht. Hierbei ist bemerkenswert, daß die Überprüfung des Geltungsbereichs der Erfahrung Kant eben gerade nicht zu einem Empirismus führt, sondern ihn umgekehrt dazu veranlaßt, die nicht-empirischen, a p r i o r i s c h e n B e d i n g u n g e n d e r M ö g l i c h k e i t v o n E r f a h r u n g , allem voran die reinen Formen der sinnlichen Anschauung (d. h. Raum und Zeit), näher zu bestimmen. Zum anderen läßt sich dieser Verfahrensweise entnehmen, daß Kant seinen Affekt gegen die Empirie seiner Swedenborg-Lektüre verdankt. So führten ihn die empirisch festzustellenden Ambivalenzen und Kontingenzen der kranken Köpfe (bereits seit 1765) zu einer Untersuchung und Prüfung des gesunden Verstandes, d. h. zu einer erkenntnistheoretischen ,Kritik der Vernunft', indem der apriorische Bereich dessen, w a s w i r d e n k e n u n d t u n s o l l e n , von dem empirischen Bereich dessen, was wir tatsächlich denken und tun, abgegrenzt wird. Ferner führte die Tatsache, daß Swedenborg seine Geistererfahrungen empirisch zu belegen glaubte, bei Kant umgekehrt dazu, den Geltungsbereich des Empirischen auf ein Minimum einzuschränken und (seit 1766) die apriorischen Grundlagen sowohl der sinnlichen Anschauung als auch der Vernunft selber zu untersuchen. Schließlich brachte der Umstand, demzufolge Swedenborg glaubte, die Raum- und Zeitschranken wie ein Geist durchwandeln zu können, Kant dazu, sich erst einmal die Frage zu stellen, worin denn die objektiven Grundlagen des Raums und der Zeit überhaupt beruhen. Der ersten Frage wird er sich im unmittelbaren Anschluß an die Träume, nämlich in

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den Gegenden im Räume (1768), und der zweiten Frage in dem sich hieran anschließenden Text, der Inaugural-Dissertation (1770), zuwenden. Somit können wir festhalten, welche Thematiken der späteren Kritiken Kant wenn auch nur negativ - aus seiner Auseinandersetzung mit Swedenborg bezogen hat - nämlich: 1. die V e r n u n f t k r i t i k überhaupt als Erkenntnistheorie; 2. d e n A p r i o r i - bzw. den Reinheits-Begriff, d. h. den gesamten nichtempirischen Bereich, sowohl der Vernunft wie auch der Anschauung; sowie schließlich 3. d i e r e i n e n F o r m e n d e r s i n n l i c h e n A n s c h a u u n g (d. h. Raum und Zeit), welche die klassische formale Logik in eine transzendentale verwandeln. Ferner hatten wir im ersten Teil dieser Schrift bereits darauf aufmerksam gemacht, daß Kant nicht nur diese Thematiken, sondern auch die zentralen Begriffe der transzendentalen Dialektik - nämlich: die A m p h i b o l i e , den P a r a l o g i s m u s sowie die A n t i n o m i e - seiner Swedenborg- Lektüre verdankt. In den nachfolgenden Jahren und Jahrzehnten geht Kant jedoch noch weit über den hier dargelegten Sachverhalt hinaus, indem er aus dem Gesagten den Umkehrschluß zieht: Legitimierten sich die Geisterseher empirisch, so muß umgekehrt auch den Empiristen vorgehalten werden, in der Welt der Gegenstände vorwiegend Geister zu sehen. Spätestens alsdann nämlich, wenn die G r u n d l a g e n d e r M o r a l - sowie in der Folge: die Rechtsgrundlagen der Gesellschaft etc. - zur Verhandlung stehen, hat der Spaß mit den Erfahrungsgeistern ein Ende. So heißt es bereits 1770 in De mundi'. „Die M o r a l p h i l o s o p h i e wird mithin, sofern sie die ersten G r u n d s ä t z e d e r B e u r t e i l u n g an die Hand gibt, nur durch den reinen Verstand erkannt und gehört selber zur reinen Philosophie, und Epikur, der ihre Unterscheidungsmerkmale in das Gefühl der Lust und Unlust verlegt hat [und somit Moral empirisch begründen wollte - C. R.], wird mit höchstem Recht getadelt, zusammen mit gewissen Neueren, die ihm in weitem Abstand bis zu einem bestimmten Punkt gefolgt sind, wie Shaftesbury und seine Anhänger" (ID V 39 u. 41; im Text: A2 1 lf). Und so heißt es später noch in der Grundlegung: „In einer praktischen Philosophie [d. h. einer Philosophie, die sich mit Ethik, Moral, mit den Sittengesetzen sowie mit Gesellschaftlichkeit überhaupt befaßt - C. R.], wo es uns nicht darum zu tun ist, Gründe anzugeben, vom dem, w a s g e s c h i e h t , sondern Gesetze von dem, w a s g e s c h e h e n s o l l , ob es gleich niemals geschieht, d. i. objektiv-praktische Gesetze: da haben wir nicht nötig, über die Gründe Untersuchungen anzustellen, warum etwas gefällt oder mißfällt, wie das Vergnügen der bloßen Empfindung vom Geschmacke, und ob dieser von einem allgemeinen Wohlgefallen der Vernunft unterschieden sei; worauf Gefühl der Lust und Unlust beruhe, und wie hieraus Begierden und Neigungen, aus diesen aber, durch Mitwirkung der Vernunft, Maximen entspringen; denn das gehört alles zu einer empirischen Seelenlehre, [...], so fern sie auf e m p i r i s c h e n G e s e t z e n gegründet ist. Hier aber ist vom objektiv-praktischen Gesetze die Rede, mithin von einem Verhältnisse eines Willens zu sich selbst, so fern er sich

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bloß durch Vernunft bestimmt, da denn alles, was aufs Empirische Beziehung hat, von selbst wegfällt, weil, wenn die V e r n u n f t f ü r s i c h a l l e i n das Verhalten bestimmt [...], sie dieses notwendig a priori tun muß" (GMS VII 58f BA 62f). Und ferner in der Kritik 1781: „Denn in Betracht der Natur gibt uns die Erfahrung die Regel an die Hand und ist [wenn auch nur in dem oben bestimmten eingeschränkten Sinne - C. R.] der Quell der Wahrheit; in Ansehung der sittlichen Gesetze aber ist Erfahrung (leider!) die Mutter des Scheins [und damit des Irrtums - C. R.], und es ist höchst verwerflich, die Gesetze über das, was ich t u n s o l l , von demjenigen herzunehmen, oder dadurch einschränken zu wollen, w a s g e t a n w i r d " (KrV III 325 A 318 Β 375). Daher - heißt es weiter in der Moralphilosophie - „kann [man] auch denen, die alle Sittlichkeit [...] verlachen, keinen gewünschteren Dienst tun, als ihnen einzuräumen, daß die Begriffe der Pflicht [...] lediglich aus der Erfahrung gezogen werden mußten, denn da bereitet man jenen einen sichern Triumph" (GMS VII 34f BA 27) - nämlich jenen, belegt zu haben, daß es Pflicht wie Freiheit - empirisch - nicht gibt. Daher ist „der Begriff der Freiheit der Stein des Anstoßes [halluzinari! - C. R.] für alle E m p i r i s t e n " (KpV VII 112 A 13), weil nämlich „Freiheit kein Erfahrungsbegriff [ist], und es auch nicht sein [kann], weil er immer bleibt, obgleich die Erfahrung das Gegenteil [...] zeigt" (GMS VII 92 BA 113f) (Sic!). „Alles also, was empirisch ist, ist, als Zusatz zum Prinzip der Sittlichkeit, nicht alleine dazu ganz untauglich, sondern der Lauterkeit der Sitten selbst höchst nachteilig, an welchen der eigentliche und über allen Preis erhabene Wert eines schlechterdings guten Willens eben darin besteht, daß das Prinzip der Handlung von allen Einflüssen zufälliger Gründe, die nur Erfahrung an die Hand geben kann, frei sei" (GMS VII 92 BA 113). Darum taugen „empirische Prinzipien überall nicht dazu, um moralische Gesetze darauf zu gründen" (GMS VII 76 BA 90); weil das „Prinzip der Menschheit [...], als Z w e c k an s i c h s e l b s t [...], nicht aus der Erfahrung entlehnt [ist], erstlich, wegen seiner Allgemeinheit, da es auf alle vernünftige Wesen überhaupt geht, worüber etwas zu bestimmen keine Erfahrung zureicht; zweitens, weil darin die Menschheit nicht als Zweck der Menschen (subjektiv), [...], sondern als objektiver Zweck, [...] aus reiner Vernunft entspringen muß" (GMS VII 63 BA 69f). Später also, zu Zeiten seiner Moralphilosophie, in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) sowie in der Kritik der praktischen Vernunft (1788), wird Kant auf den „Empirismus in der ganzen Blöße seiner Seichtigkeit" (KpV VII 219 A 168) äußerst empfindlich bis ausgesprochen gereizt reagieren, sich für keine Polemik zu schade sein und die Empiristen generell nur noch durch drei Merkmale (ab-) qualifizieren - nämlich: Pfuscher, Stümper und Bastarde. [Vgl. 47. Exkurs] B a s t a r d e (das sind mißratene Mischprodukte), weil die Empiristen wie sich Kant noch in De mundi (1770) ausdrückt - „das Sinnliche mit dem Intellektuellen, wie das Viereckige mit dem Runden, unschicklich" vermischen (ID V 91 A2 32), da ihre Vernunft - wie es später heißt - „in ihrer Ermüdung

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ZWEITER TEIL: D I E PSYCHOLOGIE

[sich] gern auf diesem Polster [der Empirie - C. R.] ausruht, und in dem Traume süßer Vorspiegelungen [d. h. Projektionen - C. R.] (die sie doch statt der Juno eine Wolke umarmen lassen) der Sittlichkeit einen aus Gliedern ganz verschiedener Abstammung zusammengeflickten Bastard unterschieben, der allem ähnlich ist, was man sich denken will, nur der Tugend nicht [...]" (GMS VII 59f BA 64). Ferner bezeichnet Kant den Empirismus als f a u l e P h i l o s o p h i e („philosophiae pigrorum", wie es in De mundi - ID V 68 A2 23 noch hieß) und die Empiristen als Stümper (das sind Nichtskönner), weil sie das, was sie den Dingen selbst zu entnehmen glauben, zuvor in diese hineingelegt haben und dann „aus dem Gespenst" - nämlich: aus ihren eigenen unreflektierten Projektionen - „machen was sie wollen" (VT VI 389 A 41 If; vgl. auch 385 A 404 Fn.). Darum ist auch der , Anthropomorphism" „der Quell der Superstition [d. h. des Aberglaubens - C. R.] oder [die] scheinbare Erweiterung jener [moralischen] Begriffe durch vermeinte Erfahrung" (KpV VII 268 A 244); einer vermeintlichen Erfahrung, die „der Vernunft ihre Ungeheuer aufdringen, und es wäre eben so gut, gar keine [praktische, d. h. sittliche Vernunft] zu haben, als sie auf solche [empiristische - C. R.] Weise allen Träumereien preiszugeben" (KpV VII 251 A 217f). Schließlich P f u s c h e r , weil die Empiristen mit ihrem Rekurs auf die vermeintlichen Dinge selbst die Erkenntnistheorie allergrößtenteils und die Moral gänzlich verpfuschen. Das erste, wenn sie erkenntnistheoretisch der Erfahrung mehr als ein nur negatives Geltungsrecht einräumen und also die Dinge, w i e s i e u n s e r s c h e i n e n (z. B. als Phänomene in Zeit und Raum), mit jenem verwechseln, w i e s i e t a t s ä c h l i c h s i n d (nämlich Noumena, von denen wir nichts wissen können); das zweite, wenn sie moralphilosophisch den S o l l - Z u s t a n d unserer Sittengesetze dem I s t - Z u s t a n d unseres tatsächlichen Verhaltens entnehmen wollen, womit „der Empirism die Sittlichkeit in Gesinnungen [...] mit der Wurzel ausrottet, und [...] die Menschheit [z. B. sozialdarwinistisch - C. R.] degradier[t]" - wodurch sich der Empirismus als „weit gefährlicher als alle Schwärmerei" erwiesen hätte (KpV VII 191 A 126). Somit muß sich der G e i s t d e s E m p i r i s m u s etwas ähnliches vorrechnen lassen wie jene, die mit den Geistern ihre Erfahrungen gemacht haben wollen: daß nämlich beide dem Aberglauben verfallen sind, ihren Verstand und ihre Vernunft ,den Dingen selbst' entnehmen zu können; wenngleich auch hier und da mit dem nuancierten Unterschied, daß das, was die Geisterseher als ,spiritus' betrachten, vom Geist des Empirismus als ,realitas' begriffen wird. Sind die empirischen Geisterseher als positiv verrückt anzusehen (insofern sie nämlich halluzinieren), so sind die Empiristen im Geiste (wie Hume erkenntnistheoretisch und Shaftesbury moralphilosophisch) nur als amphibolisch zu betrachten, indem sie nämlich, wie Kant schon in De mundi schreibt: „die Schranken, von denen die menschliche Erkenntniskraft umschlossen wird", mit denjenigen Schranken verwechseln, „von denen das Wesen der Dinge selbst umfaßt wird" (IDV19A23), daher - ähnlich wie die Geisterseher-: w i l d p r o j i z i e r e n .

11. DIE TRÄUME EINES GEISTERSEHERS

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Aus dem hier Dargelegten erklärt sich ferner, warum Kant präzise erstmals seit den Träumen eines Geistersehers eine Grenzziehung zwischen der historischen Genese der Vernunft und der rationalen Begründung derselben vornimmt. Wider die „Naturlehrer neuerer Zeiten", welche glauben „den Aal der Wissenschaften beim Schwanz", d. h. a p o s t e r i o r i (mit Erfahrungswerten), erwischen zu können (Τ II 971 A 93), also gegen die M e t h o d e d e r E m p i r i s t e n , stellt Kant bereits in seinen Träumen eines Geistersehers den dogmatischen Teil vor den historischen Teil - womit er dem Leser von vornherein eine Problemlösung anbietet, ohne ihn darüber aufzuklären, um welches Problem es sich hierbei denn eigentlich handelt. Dieser „Kunstgriff' (ebd.) - nämlich der, den glitschigen Aal der Wissenschaften am Kopf, d. h. a p r i o r i (mit Vernunftgründen), begreifen zu wollen; ein Kunstgriff, der die N o r m a t i v i t ä t , sprich Gesetzmäßigkeit des Denkens, von deren Empirizität, also von der historisch-psychologischen (Selbst-) Erfahrbarkeit von Denken prinzipiell entkoppelt - markiert eine t r a n s z e n d e n t a l e M e t h o d e , die Kant für alle weiteren Schriften, die als k r i t i s c h zu betrachten sind, beibehalten wird! So wird, wie bereits schon in den Träumen, so auch in der InauguralDissertation von 1770 d i e P r o b l e m l ö s u n g (in den Abschnitten I bis IV sowie den §§ 1 bis 22) d e r P r o b l e m s t e l l u n g v o r a n g e s t e l l t : Um welche Probleme es sich in De mundi eigentlich handelt, erfährt der Leser erst zum Ende der Schrift (im V. Abschnitt sowie den §§ 23 bis 30). Die gleiche Umkehr finden wir dann auch in der Kritik der reinen Vernunft (1781, 1787) wieder, in der uns gleichfalls die Problemstellung erst in der zweiten Abteilung (d. h. in der Transzendentalen Dialektik) nachgereicht wird, während wir die Problemlösung bereits schon vorab - a priori - in der ersten Abteilung (d. h. in der Transzendentalen Analytik) geliefert bekommen. Dieselbe Umkehrung von Lösung des Problems ( A n a l y t i k ) und Darstellung des Problems ( D i a l e k t i k ) finden wir ebenso in der Kritik der praktischen Vernunft (1788) sowie schließlich auch noch in der Kritik der Urteilskraft (1790) wieder. Will man mithin die kritischen Schriften Kants verstehen, so ist es ratsam, dem Autor hierbei ausnahmsweise nicht zu folgen und also die jeweils zweiten Teile - das Aposteriori der Problemstellungen - vor den jeweils ersten Teilen - dem Apriori der Problemlösungen - zu lesen.

Dritter Teil Die Anwendung der Psychologie auf die Logik 1768 bis 1770

12. Die Parallelität zwischen dem psychologischen Projektionsgedanken und dem ProjektionsbegrifF der analytischen Geometrie in dem ,Ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Räume' - 1768

Nach seinen psychologischen Studien und seiner Auseinandersetzung mit dem Irrationalen zwischen 1763 und 1766 kehrt Kant 1768, wenn auch erst einmal sehr zaghaft, zur Philosophie zurück. In einer Art Stadtmagazin, nämlich in den Wöchentliche[n] Königsbergischefn] Frag- und Anzeigungs-Nachrichten (vom 6., 13. und 20. Februar 1768) publiziert er eine kleine, zirka 10 Seiten umfassende Abhandlung mit dem Titel: Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Räume. (Da das Original offenbar verschollen ist, gibt es zu diesem Text keine Originalseiten, d. h. keine ,A'-Angaben.) Das Schriftchen - bei dem es sich übrigens um Kants erste Publikation nach den Träumen eines Geistersehers handelt - verdient unsere Beachtung, weil hier erstmals in exemplarischer Weise vorgeführt wird, wie eine psychologische Fragestellung in eine rational-logische übersetzt und vermittels dieser Übersetzung beantwortet wird. Nun stellt Kant in diesem Text eine Frage, die er später in der Schrift Was heißt: sich im Denken orientieren? (1786) nochmals aufgreifen wird (Do V 269f A 307ff) - nämlich die Lage- bzw. Orientierungsfrage; in diesem Fall: in welcher Lage (durch welches objektive Kriterium) sich die Dinge in den Gegenden des Raumes lokalisieren und wodurch (durch welches subjektive Kriterium) sich insbesondere vernünftige Lebewesen im Raum orientieren können. Hierbei entwickelt Kant einen neuen Raumbegriff, um mit diesem zwei vorherrschende Lehrmeinungen zu widerlegen. Zum einen möchte Kant jene von „vielen neueren Philosophen, vornehmlich den deutschen" behauptete These - gemeint ist, worauf gleich eingangs hingewiesen wird, die These des ,,berühmte[n] Leibniz" (GR II 993) widerlegen, derzufolge „der Raum nur in dem ä u ß e r e n V e r h ä l t n i s s e der nebeneinander befindlichen Teile der Materie bestehe" (GR II 1000, Herv. C. R). Dieser These hält Kant entgegen, daß der Bestimmungsgrund einer körperlichen Gestalt „überdem auf einer Beziehung gegen den a l l g e m e i n e n a b s o l u t e n R a u m , so wie ihn sich die Meßkünstler denken [daher in der Beziehung zu dem dreidimensionalen Koordinatensystem einer mathematischen Matrix beruhe - C. R.], doch so, daß dieses Verhältnis nicht unmittelbar kann wahrgenommen werden [...]" (GR II 998), insofern freilich d i e M a t r i x

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DRITTER TEIL: DIE ANWENDUNG DER PSYCHOLOGIE AUF DIE LOGIK

e i n e s a l l g e m e i n e n a b s o l u t e n R a u m s sinnlich weder angeschaut noch sonstwie wahrgenommen werden kann. Zum anderen möchte Kant jene These widerlegen, nach welcher „der Bestimmungsgrund einer körperlichen Gestalt [...] auf dem Verhältnis und [der] Lage seiner Teile gegen einander beruhe" (GR II 997). Dieser These hält er entgegen, daß die „Verschiedenheit [die einen Körper umfaßt und ihn von anderen unterscheidet - C. R.] eine solche sein [muß], die auf einem i n n e r e n G r u n d e beruhe" (GR II 999, Herv. C. R.), welcher - im Falle von sich orientierenden Lebewesen - nur durch einen „inneren Sinn" angeschaut werden könne (GR II 1000). Somit führt Kant in dem Ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Räume zwei neue kritische Gedanken ein; Gedanken, die sich gewissermaßen auf die beiden Eckpunkte einer Erkenntnis des Raums beziehen: einerseits die (hier freilich noch nicht so genannte) T r a n s z e n d e n t a l i t ä t d e s G e g e n s t a n d e s , R a u m ' sowie andererseits d i e T r a n s z e n d e n t a l i t ä t d e s S u b j e k t s im R a u m . Aus dem ersten Gedanken folgt: „daß nicht die Bestimmungen des Raumes Folgen von den Lagen der Teile der Materie gegeneinander, sondern diese Folgen von jenen sind" (GR II 1000); mithin bestimmt also nicht die Lage der Gegenstände den Raum, sondern umgekehrt der Raum, die Matrix eines dreidimensionalen Koordinatensystems, die Lage der Gegenstände. Aus dem zweiten Gedanken folgt: daß, was „unsere gemeinste Kenntnis der Lage der Örter" anbelangt, diese „uns nichts hilft, wenn wir die so geordnete Dinge und das ganze System der wechselseitigen Lagen nicht durch die Beziehung auf die Seiten unseres Körpers nach den Gegenden stellen können" (GR II 996); so würde selbst die „allergenaueste Himmelskarte" (ebd.) uns bei der Orientierung unserer Lage in den Gegenden des Raums rein gar nichts helfen, wenn wir nicht vermittels eines i n n e r e n S i n n e s unsere linke von unserer rechten Hand zu unterscheiden wüßten. Wir halten hiermit fest, auf welche beiden Eckpunkte sich Kant bei der Unterscheidung des ersten - d. h. des bestimmenden - Grundes der Gegenden im Räume konzentriert: einerseits auf die kleinstmögliche Einheit im Subjekt (nämlich auf dessen Orientierungsvermögen durch den i n n e r e n S i n n ) sowie andererseits auf die größtmögliche Einheit auf Seiten des Objekts (nämlich auf die geometrische Matrix, die einen a l l g e m e i n e n a b s o l u t e n R a u m repräsentiert). Allerdings interessieren wir uns hier weder für Kants Raumbegriff der 60er Jahre als solchen noch für die Argumentation, die diesem zugrunde liegt beides wird man an anderer Stelle nachlesen können; vgl. Klaus Reich (1975). Was uns an diesem Schriftchen von 1768 interessiert, das ist die auch hier vorgenommene epistemologische Verschiebung der Gedanken und Disziplinen. Ebenso wie bereits schon in seinem Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (1763), so spricht Kant auch hier wieder von einer „Anwendung", indem er von unleugbaren Sätzen schreibt,

12. DER UNTERSCHIED DER GEGENDEN IM RÄUME

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„die selbst zwar außer dem Bezirke der Metaphysik liegen, aber doch durch deren Anwendung in concreto einen Probierstein von ihrer Richtigkeit abgeben können" (GR II 994). Ferner heißt es einige Seiten später lapidar: „Wir gehen jetzt zur philosophischen Anwendung dieser Begriffe [über - C. R.]" (GR II 999). Man beachte hierbei die Selbstverständlichkeit, mit der Kant diesen Gedanken formuliert; gleich so, als handle es sich bei dieser Art von „Anwendung" der einen Disziplin auf eine andere - fünf Jahre nach dem Versuch über die negativen Größen von 1763 - um ein nunmehr allgemein bekanntes Verfahren (wenngleich, bis zum heutigen Tag, nichts so unbemerkt und unbeachtet geblieben ist wie gerade diese Vorgehensweise Kants)! Es wird sich zeigen, daß dieser Gang (die auch hier wieder verwendete Methode: Gedanken und Erkenntnisse aus einer anderen, fachfremden Disziplin auf die Gegenstände der Philosophie anzuwenden) den einzigen und alleinigen Weg markiert, der Kant zur Kritik hinführen wird. Bei der Unterscheidung des ersten Grunde[s] der Gegenden im Räume sollen also geometrische Begriffe eine philosophische Anwendung finden. Dabei entspricht das - und dies ist für diese Schwellenphase sehr typisch - , was Kant an dieser Stelle über sein eigenes Verfahren schreibt, nur zu einem kleinen Teil der Wahrheit. Denn die Frage, die sich Kant in diesem Text stellt eine Frage, die sich wiederum in zwei Teilfragen gliedert, nämlich: a) worin besteht eigentlich die objektive Grundlage des Raums? und b) wie (durch welchen Sinn) kann ein Subjekt sich im Raum eigentlich orientieren? - diese Frage stammt primär weder aus der Geometrie noch aus der Philosophie selbst, sondern aus einer dritten, in der kleinen Schrift überhaupt nicht erwähnten Disziplin - nämlich aus der Psychologie! So hatte sich Kant doch bereits in den Träumen eines Geistersehers die Frage gestellt, wie es zugehen könne, daß Swedenborg es fertigbringt, innen und außen, respektive i n n e r e n S i n n und ä u ß e r e n Sinn - und zwar in bezug auf seinen eigenen Körper - zu verwechseln und somit Einbildungen für Wahrnehmungen zu halten (sprich: zu halluzinieren). Diese psychologische Desorientierung des Visionärs wird hier nun zum Anlaß genommen, um - vermittels der analytischen Geometrie - die Orientierungsfrage ins rein Logische zu übersetzen: die empirisch-psychologische Frage nach der Verwechslung von innen und außen (d. h. die Frage der Projektion) überträgt Kant hier, bei dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Räume, in die rational-philosophische Frage nach dem inneren Orientierungssinn von links und rechts, wobei ihm dann die Geometrie nur noch als O r g a n o n dienen wird, diese nunmehr philosophische Frage anhand eines anschaulichen - d. h. geometrischen - Beispiels zu illustrieren. Eine Eigentümlichkeit des Projektionsbegriffs ist allerdings darin zu sehen, daß wir eine Vorstellung vom Projektionsgedanken nicht nur in der Psychologie antreffen (wie Kant in den Träumen die Verschiebung des focus imagi-

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DRITTER TEIL: DIE ANWENDUNG DER PSYCHOLOGIE AUF DIE LOGIK

narius in die Welt der Gegenstände), sondern ebenso in der sogenannten a n a lytischen oder darstellenden Geometrie. Eben auf diesen g e o m e t r i s c h e n P r o j e k t i o n s b e g r i f f rekurriert auch Kant, um zu belegen, daß das o b j e k t i v e K r i t e r i u m einer Unterscheidung der Richtungen von links und rechts einem subjektiven inneren Sinn nur anhand eines i n k o n g r u e n t e n G e g e n s t ü c k s gegeben werden kann. Von diesem skizziert uns Kant folgendes Bild: „Um nun dessen Möglichkeit [also die eines inkongruenten Gegenstücks - C. R.] zu zeigen, so nehme man einen Körper an, der nicht aus zwei Hälften bestehet, die symmetrisch gegen eine einzige Durchschnittsfläche geordnet sind, sondern etwa eine M e n s c h e n h a n d . Man fälle aus allen Punkten ihrer Oberfläche auf eine gegen ihr übergestellte Tafel Perpendikellinien und verlängere sie ebenso weit hinter derselben, als diese Punkte vor ihr liegen, so machen die Endpunkte der so verlängerten Linien, wenn sie verbunden werden, die Fläche einer körperlichen Gestalt aus, die das inkongruente Gegenstück der vorigen ist, d. i. wenn die gegebene Hand eine rechte ist, so ist deren Gegenstück eine linke. Die Abbildung eines Objekts im Spiegel beruhet auf ebendenselben Gründen" (GR II 998Í). [Siehe hierzu die Bilder auf der nachfolgenden Seite.] Erstaunlich ist, daß Kant den objektiven Bestimmungsgrund für das innersubjektive Unterscheidungsvermögen der Richtungen von links und rechts ausgerechnet anhand des inkongruenten Gegenstücks, d. h. am Spiegelbild festmacht, hätte er doch beispielsweise auch auf den Trick zurückgreifen können, der den Kindern - zur Schärfung ihres Orientierungsvermögens nahegelegt wird; nämlich die Frage nach links und rechts einfach durch eine Setzung (ζ. B. durch Markierung der linken Hand, beispielsweise durch das Umbinden einer Armbanduhr etc.) zu beantworten. Doch gerade der von den Eltern hierbei meist noch ironisch hinzugefügte Satz ,links ist dort, wo der Daumen rechts ist' macht deutlich, daß es sich bei der Setzung eben doch nur um einen Trick, nicht aber um den ersten und letzten Grund für das innersubjektive Orientierungsvermögen handelt. Will man dessen Grundlage ausgerechnet in den inkongruenten Gegenstücken der Spiegelbilder erkennen, so ließen sich hierfür gewiß sehr plausible empirisch-psychologische Belege anfuhren; schließlich kann seit der modernen Psychoanalyse als gesichert gelten, daß die Fähigkeit zur Symbolbildung überhaupt - und somit auch deren Identifizierung - das Durchlaufen des sogenannten Spiegelstadiums voraussetzt; vgl. Jacques Lacan (1966 6Iff). Kant jedoch, der bereits in seinem Versuch über die Krankheiten des Kopfes - aufgrund der ambivalenten Phantasten - die empirische Psychologie für durch und durch kontingent hält, will hier in dieser Orientierungsfrage weder auf psychologische noch sonst irgendwelche Erfahrungen zurückgreifen. Vielmehr benötigt er für seinen objektiven Bestimmungsgrund auch eine von jeglicher Empirie unabhängige - rationale Begründung. Diese kann mit den inkongruenten Gegenstücken insofern geliefert werden, als alleine die Spiegelbilder - durch die zwischen den inkongruenten Gegenstücken gezogenen

12. D E R UNTERSCHIED DER GEGENDEN IM RÄUME

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Das inkongruente Gegenstück in der Gestalt eines südamerikanischen C a l i g i o p r o m e t h e u s , männliches Exemplar. Das untere Bild zeigt die Vorderseite, das obere die Rückseite der Flügel des Falters. Dreht man das Blatt um 180° und betrachtet die Rückseite des Falters kopfstehend und aus etwas Entfernung, so kommt jenes medusenhafte Maskengesicht zum Vorschein, mit dem der Falter seine Gegner blendet. [Vgl. 48. Exkurs]

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DRITTER TEIL : D I E ANWENDUNG DER PSYCHOLOGIE AUF DIE LOGIK

Perpendikellinien - die Projektion sowohl sichtbar machen wie auch zugleich in sich stoppen, da sich in „inkongruenten soliden Körpern [...] eine Verschiedenheit [findet] [...], obgleich [wie bei den zusammengefalteten Flügeln eines Falters - C. R.] [...] einer an die Stelle des anderen gesetzt werden könnte" (ID V 59 A2 20). So besteht die Eigentümlichkeit der i n k o n g r u e n t e n G e g e n s t ü c k e doch darin, daß sie in e i n e m S t ü c k s o w o h l d i e D i f f e r e n z a l s a u c h d i e I d e n t i t ä t beinhalten, da doch diese Gegenstücke zwar einerseits völlig identisch sind, wenngleich sie andererseits vollkommen verschiedene (nämlich spiegelverkehrte) Lagen im Raum einnehmen. Durch die somit ermöglichte B e s t i m m u n g v o n I d e n t i t ä t u n d D i f f e r e n z wird mit den inkongruenten Gegenstücken ein r a t i o n a l e r G r u n d gegeben, der dem inneren Sinn eines Subjekts ein objektives Kriterium an die Hand gibt, welches es ihm ermöglicht, sich in den Richtungen zwischen links und rechts - und anhand dieses einmal erworbenen Vermögens dann auch für alles Weitere: sich im Dasein überhaupt - zu orientieren. Somit wird hier also nicht - wie von Kant nahegelegt - und wie noch fünf Jahre zuvor mit den Negativen Größen tatsächlich geschehen - ein mathematischer Gedanke auf einen Gegenstand der Philosophie angewandt; sondern es wird dieses Mal umgekehrt ein verdeckter psychologischer Gedanke (nämlich der der Projektion) auf einen geometrischen Begriff (ebenfalls den der Projektion) übertragen, um aus dieser „Anwendung" allgemein logische Schlüsse über das objektive Orientierungsvermögen eines Subjekts im Raum zu ziehen. So wird dank des Projektionsbegriffs der analytischen Geometrie erstmals eine rationale Antwort auf ein Problem gegeben, welches sich vom psychologischen Projektionsbegriff aus gestellt hatte: nämlich auf die Frage nach dem o b j e k t i v e n K r i t e r i u m d e s i n n e r e n S i n n s , welcher es ermöglicht, sich anhand von inkongruenten Gegenstücken - beispielsweise bei der Unterscheidung der linken von der rechten Hand - im Raum zu orientieren. Demzufolge wäre die Geometrie hier also nicht der Stichwortgeber, sondern nur der Ausführer und Vermittler; nicht der Ursprung des Gedankens, sondern die Antwort auf denselben. Aus dem vorgestellten Imago wird anschaulich, daß (und wie) Kant d e n p s y c h o l o g i s c h e n P r o j e k t i o n s b e g r i f f auf den P r o j e k t i o n s b e g r i f f d e r G e o m e t r i e überträgt, um sodann aus dieser Reflexion seine philosophischen Schlüsse für die Konstitution des inneren Sinns zu ziehen. Denn es ist ja doch erstaunlich, daß wir eine Vorstellung vom Projektionsmechanismus nicht nur bei einem so irrationalen Phänomen wie der menschlichen Seele, sondern ebenfalls bei einem so rationalen wie dem der analytischen Geometrie wiederfinden - aus welcher Parallelität sich die Frage stellen könnte, ob hier die Psyche auf die Geometrie oder umgekehrt ein Gedanke der Geometrie auf die Psyche projiziert wurde? Genetisch hätte sich Kant sicherlich für die erstere Variante entschieden, derzufolge also die Psyche auch ursächlich für den Gedanken der Projektion in der Geometrie sein muß; alleine, daß Kant hier weder empirisch argumentieren will noch kann und also die Geo-

12. D E R UNTERSCHIED DER GEGENDEN IM R Ä U M E

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metrie es ihm ermöglicht, das zu vollziehen, was hier geleistet werden sollte, nämlich diesen psychologischen Gedanken in einen rein logischen zu übersetzen, d.h. vermittels der Anwendung zu r a t i o n a l i s i e r e n b z w . zu transzendentalisieren. Denn das, was Kant auch noch späterhin - in der Kritik - am Projektionsgedanken interessieren wird, das ist nicht die Projektion von einem Objekt auf ein anderes (d. h. nicht die geometrische Projektion), sondern die Projektion vom Subjekt aufs Objekt, und, wenn es sich bei diesem Objekt wiederum um ein Subjekt (ζ. B. bei seiner Selbsterkenntnis) handelt, die Projektion vom Subjekt aufs Subjekt - d. h. in beiden Fällen: die psychologische Projektion. Ebenso wie hier auf der Seite des Subjekts, so verhalten sich die Dinge gleichermaßen auf der Seite des objektiven Gegenstandes ,Raum': Ist es doch gerade wiederum Swedenborgs mundus spirituum gewesen, der Kant bereits schon in den Träumen eines Geistersehers auf den Gedanken eines mundus intelligibilis gebracht hatte - und, wo sollte sich dieser (transzendentale) „allgemeine absolute Raum" sonst befinden, wenn nicht in einer solchen intelligiblen Welt? Umgekehrt läßt sich von hier aus auch präzisieren, worin der Fehler jener „neueren deutschen Philosophen" - namentlich: der Fehler des Leibniz - bestand; darin nämlich, den Raum - durch Addition der Materie von der Monade bis hin zum Universum - als mundus sensibilis begreifen zu wollen und sich somit genau dort wiederzufinden, wo sich Swedenborg mit seinem mundus spirituum fälschlicherweise befand - nämlich: bei einer sinnlichen Ausschmückung unserer reinen Verstandesbegriffe! Nach diesen Ausführungen kann man ferner auch deutlich nachvollziehen, was die Einführung des psychologischen Gedankens der Projektion - vermittels seiner Analogie zum geometrischen Projektionsgedanken - in der Philosophie des Raums bewirkt hat, nämlich eine - hier freilich noch nicht so genannte, dem Gedanken nach jedoch bereits vorhandene - T r a n s z e n d e n t a l i s i e r u n g sowohl a u f S e i t e n d e s o b j e k t i v e n G e g e n s t a n d e s , R a u m ' (der sich durch den Projektionsgedanken von der substantialistischen Materievorstellung wegbewegt und sich in eine Vorstellung des Raumes, d. h. in die Matrix eines allgemeinen absoluten Raumes transformiert) als auch a u f Seit e n d e s s i c h im R a u m b e f i n d e n d e n S u b j e k t s s e l b s t (welches durch seinen inneren Sinn, somit auch hier wiederum vermittels des Mechanismus der Projektion, die Vorstellung des Raumes, zunächst was dessen Richtung anbelangt, mitproduziert). Somit wird hier, erstmalig anhand der ästhetischen (d. i. auf Wahrnehmungen bezogenen) Anschauungskategorie ,Raum' eine deutliche transzendentale Grenze gezogen: zwischen ,dem Raum' als einem für uns erkennbaren Ding (innerhalb unserer subjektiven Bedingungen des inneren Sinns und der Matrix) einerseits und ,dem Raum' als einem Ding an sich selbst, von dem wir nichts wissen können, andererseits. Mit dieser Anschauung des Raumes auf seiten des Subjekts (dem subjektiv bedingten Orientierungssinn) und jener Vorstellung von dem Gegenstand

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DRITTER TEIL: D I E A N W E N D U N G DER PSYCHOLOGIE AUF DIE LOGIK

,Raum' (der Matrix des allgemeinen absoluten Raums') wären wir somit beinahe schon bei der nächsten Anwendung des Empirischen aufs Transzendentale, somit bei derjenigen, die sich wiederum zwei Jahre später in der Inaugural-Dissertation von 1770 vollzieht, angelangt.

13. Die Anwendung des psychologischen Projektionsgedankens auf die Projektionsverhältnisse der Philosophie in der ,Inaugural-Dissertation' - 1770

a) Zum Kontext des Textes 1755, im Alter von 31 Jahren, hatte Kant an der Albertina-Universität zu Königsberg mit De igne (Über das Feuer) promoviert und noch im gleichen Jahr mit Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio {Neue Erhellung der ersten Grundsätze metaphysischer Erkenntnis) habilitiert; seither wird er,Magister Kant' oder besser: ,der galante Magister' genannt und ist also Privatdozent an seiner Heimatuniversität. Da jedoch das aus den Eintrittsgeldern seiner Vorlesungen bestehende Gehalt - er las bis zu 22 Stunden in der Woche - für den Unterhalt keineswegs ausreichte, hatte der Magister zusätzlich von 1766 bis 1772 (d. h. zwischen seinem 42. und seinem 48. Lebensjahr) die Stelle eines Unterbibliothekars an der königlichen Schloß-Bibliothek inne (vgl. K. Vorländer 1924 199 u. 177). Dabei hätte Kant bereits 1764 ein Ordinariat an der Albertina-Universität erhalten können, hätte er den Ruf nicht wegen der für ihn nicht in Frage kommenden Stellenbezeichnung - fiir Poesie und Beredsamkeit - ausgeschlagen. 1769 erfolgte ein Ruf nach Erlangen, 1770 ein weiterer nach Jena. Obgleich es sich nun hier um philosophische Lehrstühle handelte und trotz der hervorragenden Besoldung, nahm Kant auch diese beiden Rufe nicht an, wollte er doch seine Heimatstadt - zum einen aufgrund gesundheitlicher Bedenken, zum anderen wegen der kulturell guten Anbindung Königsbergs - nur ungern verlassen. Hierbei sollten wir allerdings mitberücksichtigen, daß Königsberg zu Kants Zeiten keineswegs eine Provinzstadt war, sondern als Hansestadt mit weltweiten Handelsverbindungen und regem Seeverkehr mit England mitten im europäischen Geschehen stand. Die aktuelle englische und französische Aufklärungsliteratur beispielsweise erreichte den Hafen der Stadt - und von dort aus die bei Kant im Haus sich befindende Buchhandlung Kanter - allemal schneller als selbst die preußische Hauptstadt. 1770, im Alter von 46 Jahren, erhält Kant endlich eine ordentliche Professur an seiner Heimatuniversität. Der Ruf geht auf das bereits 1764 gegebene Versprechen der preußischen Kulturverwaltung sowie auf einen von Kant selbst angeregten Stellentausch zurück; vgl. Kant an Friedrich II. (19. März 1770, Br. 65); eine Eigeninitiative, der er schließlich eine Professur nach sei-

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nem Zuschnitt, nämlich: für L o g i k u n d M e t a p h y s i k , verdankte; vgl. Erich Adickes (A.A. II 511). Insgesamt drei Dissertationen hatte Kant bis 1770 verteidigt; da jedoch die letzte Habilitationsschrift - Metaphysica cum geometria iunctae usus in philosophia naturali, cuius specimen I. continet monadologiam physicam; dt.: Der Gebrauch der Metaphysik, sofern sie mit der Geometrie verbunden ist, in der Naturphilosophie, dessen erste Probe die physische Monadologie enthält (1756) - bereits vierzehn Jahre zurücklag, bedurfte es nunmehr einer neuen Verteidigung und somit auch einer neuen Habilitationsschrift - beides freilich in lateinischer Sprache. So entstand die Inaugural-Dissertation: De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis; dt.: Von der Form der Sinnen- und Verstandeswelt und ihren Gründen. Nachdem sich Kant die letzten acht Jahre hindurch vornehmlich mit psychologischen Themen - wie z. B. Gespenstern - beschäftigt hatte, kehrt er mit De mundi in vollem Umfang zur Philosophie zurück. Dabei versteht er nun unter ,Philosophie' nicht mehr, wie zwischenzeitlich, eine ihrer Nebendisziplinen (Psychologie, Soziologie oder Geometrie), sondern das Zentrum der Reflexionen über das Denken selbst - also: L o g i k . Die im Original 38 Seiten - und 30 §§ - umfassende, außerordentlich schwierige Schrift muß als Verbindungsstück zwischen den Träumen eines Geistersehers (1766) und der Kritik der reinen Vernunft (1781) angesehen werden; da Kant, abgesehen von zwei marginalen Aufsätzen, zwischen der Inaugural-Dissertation (1770) und der Kritik der reinen Vernunft (1781) nicht mehr veröffentlichte, ist in De mundi das letzte öffentliche Zeugnis vor der Kritik zu sehen. Doch nicht nur zeitlich, sondern auch sachlich steht der Text zwischen den Träumen und der Kritik, werden doch mit De mundi die Konsequenzen aus den Träumen eines Geistersehers für die Philosophie gezogen und damit die ersten Fundamente für eine Kritik der reinen Vernunft gelegt. Stellt daher die Inaugural-Dissertation den ersten ausgearbeiteten systematischen Grundriß der späteren K r i t i k dar, so bedeutet dies freilich nicht, daß der Text nicht auch Teile mit vorkritischen Elementen enthält (so z. B. den § 22, in dem Gott noch als die Ursache für Existenz betrachtet wird). In einem Brief vom 2. September 1770 an Johann Heinrich Lambert (Br. 71) ist sich Kant dieser Ambiguität durchaus bewußt, meint er doch in jenem Schreiben, die erste und die vierte Sektion der Dissertation könnten als unerheblich übergangen werden, während die zweite, dritte und fünfte Sektion ausbaufähig wären. Tatsächlich ist insbesondere der vierte Abschnitt als v o r k r i t i s c h anzusehen, wohingegen die Abschnitte zwei, drei und fünf bereits als k r i t i s c h zu bezeichnen sind. Auch ein unscheinbarer Hinweis auf der Titelseite der Originalausgabe sollte uns nicht entgehen: „Das Amt des Respondenten [d. h. des Verteidigers der Disputation - C. R.] wird ausüben Marcus Herz, aus Berlin, jüdischer Herkunft, der Medizin und Philosophie Beflissener" (ID V 9 A 2) - deutet doch dieser Verweis ebenso wie der sich unmittelbar an die Inaugural-Dissertation anschließende Briefwechsel mit Marcus Herz darauf hin, daß sich Kant

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für alles Weitere, was die religiösen Grundlagen seines philosophischen Denkens anbelangt, radikal vom Pietismus wegbewegen und sich zukünftig an der jüdischen Gesetzesreligion orientieren wird. Wenngleich Kant eine Antwortschrift, die Marcus Herz auf Kants Dissertation verfaßt hatte (vgl. Marcus Herz 1771), als „eine Copey" seiner eigenen Dissertation bezeichnete (Kant an Friedrich Nicolai, 25. Okt. 1770, Br. 112), so bleibt doch dieser ehemalige Schüler der einzige, dem Kant die ganzen 70er Jahre hindurch die Weiterentwicklung seiner K r i t i k brieflich anvertrauen wird (1770-72, 1776 u. 77). Die Berliner Aufklärer dahingegen, Johann Heinrich Lambert (vgl. ders. an Kant, 13. Okt. 1770, Br. 76ff), Johann Georg Sulzer (vgl. ders. an Kant, 8. Dez. 1770, Br. 85) sowie Moses Mendelssohn (vgl. ders. an Kant, 25. Dez. 1770, Br. 87), welche je ein Exemplar der Dissertation von Kant erhalten hatten, reagierten in ihren Antwortschreiben derart abweisend, daß Kant hierdurch so verunsichert wurde, daß er bis zur vollständigen Fertigstellung seiner Kritik (d. h. bis 1781) seine kritischen Gedanken öffentlich nicht mehr preisgeben und also auch nicht mehr publizieren wird. Im übrigen werden von der Dissertation nur einige wenige Exemplare gedruckt; eine Entscheidung seines Verlegers Kanter, über die sich Kant noch nachhaltig ärgern wird (Kant an M. Herz, 7. Juni 1771, Br. 96). Tatsächlich muß man einräumen, daß die meisten Irrwege der Kant-Rezeption hätten vermieden werden können, wenn denn die Inaugural-Dissertation von vornherein dem Publikum zugänglich gemacht worden wäre.

b) Logik und Projektion In der vorangehenden Abhandlung über die Gegenden im Räume (1768) hatten wir festgestellt, daß Kant dort die analytische Geometrie verwendet hatte, um den psychologischen Projektionsbegriff ins Rationale zu übertragen. Während nun aber in den Gegenden 1. diese Anwendung nur an e i n e m einzigen Gegenstand (anhand des Raums) exemplarisch vorgeführt wird und 2. diese Anwendung nur auf einen Randbezirk der Philosophie (nämlich auf die analytische Geometrie) übertragen wird, erfahrt diese Methode der Anwendung in der Inaugural-Dissertation eine Generalisierung und Systematisierung, indem dieses Mal die zentralen Gegenstände der Philosophie selbst auf die ihnen eigenen Projektionsverhältnisse hin untersucht werden. Worin bestehen aber diese zentralen Gegenstände der Philosophie, wenn Kant unter der philosophischen Disziplin wieder die L o g i k versteht? Bereits in seiner letzten logischen Abhandlung, in der nun acht Jahre zurückliegenden Schrift Über die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren (1762), hatte Kant diese Gegenstände der Logik aufgelistet - sie bestehen in: M e r k m a l e n ( P r ä d i k a t e n ) , U r t e i l e n und V e r n u n f t s c h l ü s s e n ü b e r ein D i n g . So heißt es gleich im ersten Satz der besagten Schrift: „Etwas als ein

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Merkmal mit einem Dinge vergleichen heißt urteilen. Das Ding selbst ist das Subjekt, das Merkmal das Prädikat. Die Vergleichung wird durch das ist oder sein ausgedrückt" (Syllo. II 599 A 3). Und etwas weiter: „Ein jedes Urteil durch ein mittelbares Merkmal ist ein Vernunftschluß, oder mit andern Worten: er ist die Vergleichung eines Merkmals mit einer Sache vermittels eines Zwischenmerkmals" (Syllo. II 600 A 5). Beispiel aus den syllogistischen Figuren (Syllo. II 604 A 4): I S=Subjekt, OObjekt, P=Prädikat Ρ Was vernünftig ist S Die menschliche Seele S Also ist die menschl. Seele

O ist ein Geist Ρ ist vernünftig O ein Geist.

| Ρ hat das Merkmal O | S hat das Merkmal Ρ | Also hat S das Merkmal O

Nun handelt es sich bei diesem Vernunftschluß - eine Anspielung auf ein Leibnizsches Dogma - zumindest rein logisch betrachtet um ein durchaus richtiges Urteil. Dabei hätte schon dieser Vernunftschluß Kant auf den analogen Gedanken bringen können, daß es sich bei diesem Urteil um e i n e P r o j e k t i o n (von S auf O vermittels von P) handelt. Alleine ein derartiger Gedanke war Kant zur Zeit der Syllogistischen Figuren (d. h. 1762) noch nicht möglich, weil einerseits der besagte Vernunftschluß sich ausschließlich innerhalb der philosophischen Logik bewegt, und weil andererseits eine Vergleichsmöglichkeit mit dem psychologischen oder geometrischen Projektionsbegriff 1762 noch nicht gegeben war. Bei alledem war es im Rationalismus unerheblich, ob den somit verhandelten Dingen (Seelen und Geistern) überhaupt eine Realexistenz zukommt bzw. ob Urteile, die rein logisch betrachtet durchaus richtig sind, semantisch überhaupt irgendeinen Sinn machen. Obgleich sich Kant dieser Problematik bereits 1762 bewußt ist, läßt ihm die Eigenlogik der philosophischen Logik keine andere Wahl, als diesem Problem ironisch zu begegnen. Beispiel aus den syllogistischen Figuren (Syllo. II 606 A 18f): „Kein Dummer ist gelehrt folgl. K e i n G e l e h r t e r ist d u m m . Einige Gelehrte sind fromm folgl. E i n i g e F r o m m e s i n d g e l e h r t also einige Fromme sind nicht dumm. Es ist ein Syllogismus von der zweiten Art, Ein jeder Geist ist einfach alles einfache ist unverweslich also einiges Unverwesliches ist ein Geist."

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Wenngleich es sich bei dieser syllogistischen Figur, im Unterschied zur erstgenannten, durchaus um einen l o g i s c h e n F e h l s c h l u ß aufgrund einer falschen prädikativen Zuordnung handelt („denn darum, weil etwas einfach ist, ist es nicht sofort ein Geist" - Syllo. II 607 A 19), so ist Kant hier doch noch nicht in der Lage, v o m l o g i s c h e n F e h l s c h l u ß a u f d e n G e d a n k e n d e r P r o j e k t i o n zu k o m m e n , eben weil - aufgrund des rationalistischen Ausklammerns von Realität - die selbstreferentielle Logik sich ausnahmslos im Zirkel ihrer eigenen Prämissen bewegt. Dabei bedarf es gerade für den Gedanken der Projektion einer referentiellen Außenposition, die der formalen philosophischen Logik in ihrer Selbstreferentialität fremd ist; einer Außenposition, wie sie beispielsweise mit dem psychoanalytischen Projektionsbegriff in einem Dream Screen und mit dem Projektionsbegriff der analytischen Geometrie in der Matrix der Projektionsflächen gedacht wird. Ein derartiges Außerhalb der philosophischen Logik lernt Kant jedoch erst im Jahr nach den Spitzfindigkeiten der vier syllogistischen Schlüsse durch die Unterscheidung zwischen logischer Opposition und Realopposition in den Negativen Größen von 1763, kennen. Wie zufällig wird dann gleich im Jahr darauf im Versuch über die Krankheiten des Kopfes erstmals der Projektionsmechanismus in seinen verschiedenen Facetten beschrieben und wiederum zwei Jahre später in den Träumen eines Geistersehers mit einer eigenen Theorie versehen. Da Kant 1770 mit De mundi wieder zur Logik zurückfindet, befindet er sich somit in einer anderen Situation als zu jener Zeit, da er sie 1762 nach den Spitzfindigkeiten verlassen hatte; nunmehr verfügt er nicht nur über eine präzise Beschreibung der psychologischen Projektionsmechanismen (dies seit den Krankheiten 1764) und nicht nur über eine psychologische Analyse dieser Projektionsmechanismen (dies seit den Träumen 1766), sondern er weiß auch, daß selbst eine so rationale Wissenschaft wie die analytische Geometrie über einen ebensolchen Projektionsbegriff verfügt (dies seit den Gegenden 1768). Von daher lag es nunmehr nahe, die philosophische Logik - d. h. die reinen Formen des Denkens selbst - auf die ihnen innewohnenden Projektionen hin zu untersuchen. Um uns zu verdeutlichen, was mit den P r o j e k t i o n e n in l o g i s c h e n U r t e i l e n gemeint ist, empfiehlt es sich, den Projektionsbegriff selbst zu analysieren. Zu diesem Zweck rekurrieren wir nochmals auf den Projektionsbegriff der analytischen Geometrie und analysieren dessen Bestandteile: Welcher Teile bedarf es, um den Gedanken der Projektion begreifen zu können? Nun: Noch bevor ein Gegenstand, der projiziert werden soll, auch tatsächlich projiziert werden kann, bedarf es einer Lichtquelle, die alles beleuchtet (nennen wir dieses Licht S, wie Subjekt). Ferner bedarf es eines Projektionsapparates (A), der einerseits aus einer Linse oder einer Blende (B) und andererseits aus einer Projektionsfläche (genannt O, wie Objekt) besteht. Erst jetzt kommt der Gegenstand der Projektion (genannt P, wie Prädikat) ins Spiel und wird derart zwischen die Lichtquelle (S) und den Projektionsapparat (A)

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gestellt, daß die durch die Blende (B) ausgestrahlten Lichtschatten des Projektionsgegenstands (P) als Abbild (nennen wir dieses P') v i r t u e l l auf der Projektionsfläche (O) e r s c h e i n t . Eben diesen Sachverhalt veranschaulicht uns bereits der älteste Projektionsapparat dieser Welt, die C a m e r a o b s c u r a . [Vgl. hierzu unbedingt den 49. Exkurs sowie 50. Exkurs] Somit gliedert sich der Projektionsgedanke nicht, wie so oft fälschlicherweise angenommen, in zwei Bestandteile (S auf O), sondern in insgesamt fünf (P wird so zwischen S und Β piaziert, daß Ρ als P' virtuell auf O erscheint). Von diesen vier Bestandteilen sind nun zwei schon vor dem Projektionsvorgang, a priori, gegeben (nämlich S und P), wobei die zwei anderen erst durch den Projektionsapparat (A), a posteriori, zum Tragen kommen (einmal O als reales und einmal P' als virtuelles Objekt). Setzen wir beispielsweise als Projektionsgegenstand Ρ eine r o s a L i c h t q u e l l e ein, so wird dem Betrachter der auf der Projektionsfläche O virtuell abgebildete Gegenstand P' a l s r o s a e r s c h e i n e n , wenngleich auch der tatsächlich betrachtete Gegenstand (nämlich die Projektionsfläche O) an und für sich farblos ist. Setzen wir etwa statt der rosa Lichtquelle zwei andere Gegenstände für Ρ - nämlich zum einen d i e r e i n e n F o r m e n d e r s i n n l i c h e n A n s c h a u u n g (d. h. Raum und Zeit) sowie zum anderen unsere r e i n e n V e r s t a n d e s b e g r i f f e (die Kategorien) - ein, so sind wir gedanklich bereits dort angelangt, wo sich Kant 1770 mit De mundi befindet. Vergleichen wir diesen Projektionsbegriff der analytischen Geometrie mit den Projektionsmechanismen in logischen Urteilen - wie wir sie sogleich noch kennenlernen werden - , so tritt bereits an dieser Stelle eine Schwierigkeit zutage. Während nämlich in der analytischen Geometrie sowohl der Projektionsgegenstand P, welcher projiziert wird, als auch die Projektionsfläche O, auf die projiziert wird, in der Theorie a priori schon vor dem Projektionsverfahren gegeben sind, muß die Philosophie bei der Untersuchung der ihr eigenen Projektionsmechanismen ihre Einordnungskriterien erst ausfindig machen. Hieraus ergibt sich die doppelte Schwierigkeit sowohl in der Fragestellung als auch in der Doppelkonstruktion des Aufbaus der Inaugural-Dissertation (eben jene Doppelkonstruktion - mit den ,Träumen der Geisterseher' auf der einen und den ,Träumen der Metaphysik' auf der anderen Seite - , die uns aus den Träumen bereits bekannt ist). Denn: Will Kant mit De mundi beweisen, daß Leibniz projiziert, wenn er Zeit und Raum als Prädikate der Substanz betrachtet, so muß Kant vorab erst einmal bewiesen haben, daß diese Prädikativzuordnungen tatsächlich nicht zutreffend sind. Hieraus ergibt sich die Zweiteilung der Inaugural-Dissertation in einen e r s t e n a n a l y t i s c h e n T e i l , in dem gezeigt wird, welcher Instanz Zeit und Raum tatsächlich zuzuordnen sind (Abschnitt III)', und e i n e n z w e i t e n d i a l e k t i s c h e n T e i l , in dem die Projektionsmechanismen in logischen Urteilen aufgezeigt und dekonstruiert werden (Abschnitt V). Da somit die Dialektik von der Analytik ebenso wie auch umgekehrt die Analytik von der Dialektik abhängt (und eben dies ausgerechnet bei der Entscheidung der Frage, was hier auf was und in welche

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Richtung projiziert wird), kommt bei dieser Frage alles darauf an, „was früher und was später sei, oder was die Ursache und was das Verursachte" (ID V 69, im Text: A2 23). Sind beispielsweise Zeit und Raum - wie Leibniz behauptet Merkmale der Substanz, oder ist umgekehrt - wie Kant meint - die Substanz nur eine bestimmte Form unserer Anschauung in Zeit und Raum?

c) Die Grenzen des Logos Wie wir sehen, geht es hier um G r e n z z i e h u n g e n - in einer Schrift, in der erstmals in systematischer Weise zwischen m u n d u s i n t e l l i g i b i l i s und m u n d u s s e n s i b i l i s unterschieden werden soll. Hatte Kant bereits 1766 in den Träumen eines Geistersehers eine derartige „Grenze der menschlichen Vernunft" (Τ II 983 A 115) gezogen - nämlich jene zwischen einer vorausgehenden, gesetzgebenden, d. h. apriorischen und einer nachfolgenden, empirischen, d. h. aposteriorischen Erkenntnis - , so kommt 1770 mit der InauguralDissertation (und zwar wiederum zum allerersten Mal im Kantischen Werk!) e i n e z w e i t e „ G r e n z e " [terminus] (ID V 67, im Text: A2 22) hinzu nämlich d i e z w i s c h e n P h a e n o m e n o n u n d N o u m e n o n , d. h. eine Grenze zwischen dem „sinnlich Gedachte[n] in Vorstellungen [...], wie sie erscheinen", und dem Intellektuellen, „wie sie sind" (ID V 29, im Text: A2 8). Hierbei fuhrt allerdings keinerlei Weg v o m S e i n z u r E r s c h e i n u n g und schon ganz und gar keiner v o n d e r E r s c h e i n u n g z u m S e i n , weil gerade beide völlig unterschiedlicher Herkunft sind. Es ist eben dies überhaupt der radikalste Schluß, den Kant aus Swedenborgs sinnlicher Ausmalung einer intelligiblen Welt (als „ m u n d o s p i r i t u a l i " durch ein „ m u n d o f a b u l o s u m " [im Text: A2 21 bzw. 20, Herv. C. R.] - das ist: die Rationalität als Geisterwelt in einer Welt von Fabeln) mit De mundi erstmals ziehen wird; ein Schluß, aus dem dann alle weiteren Schlüsse für eine Kritik der reinen Vernunft nur logisch folgen werden: d a ß es n ä m l i c h e i n e „ i n t e l l e k t u e l l e A n s c h a u u n g " (ID V 41, im Text: A2 12, Herv. C. R.) n i c h t g e b e n k a n n - weder in dem Sinne, daß ein (objektiv) Intelligibles sinnlich erkannt werden könnte, noch in dem, daß etwa einem (subjektiv) Intellektuellen ein sinnliches Anschauungsorgan zukäme. Ist deshalb „der Begriff eines Intelligiblen als solchen frei von allem G e g e b e n e n der menschlichen Anschauung" (ebd.), so gibt es (für den Menschen) - „eine Anschauung des Intellektuellen nicht, sondern nur eine s y m b o l i s c h e E r k e n n t n i s [cognitio symbolica]" (ebd.). Um also einer solchen s y m b o l i s c h e n E r k e n n t n i s d e s I n t e l l i g i b l e n näher zu kommen, zieht Kant jene Konsequenz, die sich aus der Nichtexistenz einer intellektuellen Anschauung sowie aus der Nichtexistenz einer Anschauung des Intelligiblen unmittelbar ergibt: eben die Konsequenz

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der in De mundi erstmals eingeführten G r e n z e z w i s c h e n P h a e n o m e non und N o u m e n o n . Allerdings ist diese Grenzziehung - worauf bereits hier hingewiesen werden soll - eine logische Konsequenz aus dem Gedanken der Projektion selbst, n ä m l i c h die M i t b e r ü c k s i c h t i g u n g des s u b j e k t i v e n P r o j e k t i o n s a p p a r a t e s d e s B e t r a c h t e r s (des Projektionsapparats A). Wenn ich mit Kant behaupte, daß das Wahrnehmen der Objekte in Zeit und Raum nicht an diesen Objekten selbst (der Projektionsfläche O), sondern an der subjektiven Konstitution des Betrachters (dem Projektionsgegenstand P) liegt, (welcher als Abbild P' auf der Projektionsfläche O eben nur virtuell erscheint), so muß ich auch - wie Kant folgerichtig in De mundi - zu dem Schluß kommen, „daß was nicht mit einem bestimmten Gesetz eines gewissen Subjekts zusammenstimmt, deshalb nicht jedes Verstehen übersteigert; denn es kann einen Verstand geben, obgleich keinen menschlichen, der [...] eine [unendliche - C. R.] Menge mit einem Blick deutlich überschaut" (ID V 17, im Text: A 2 3 Fn.); d. h. einen Verstand, der in einem Augenblick bis ins Unendliche zählen könnte, ohne für diese Tätigkeit wie der menschliche Verstand Zeit in Anspruch nehmen und aufgrund der eigenen Befristung zu einem Ende kommen zu müssen. So wird Kant noch Jahrzehnte später in seiner Erkenntnistheorie diese Mitberücksichtigung des subjektiven Projektionsapparates des Betrachters folgendermaßen erläutern: „[...] ohne Außendinge wäre er [der Verstand] tot - ohne Verstand aber wären keine Vorstellungen, ohne Vorstellungen keine Gegenstände, und ohne diese nicht diese seine Welt; so wie mit einem anderen Verstände auch eine andere Welt da sein würde, welches durch das Beispiel von Wahnsinnigen klar wird" (Fak. XI343 A 120). Mit anderen Worten: Wenn ich sage, gewisse Erscheinungsformen der Gegenstände (Zeit, Raum und Zahl) haben nichts mit diesen Gegenständen als solchen (den Projektionsflächen O) zu tun, sondern sind nur auf unsere subjektiven Anschauungsapparate (A) zurückzuführen, welche verursachen, daß die Projektionsgegenstände Ρ auf den Objekten O als P' nur virtuell erscheinen, so muß ich auch einräumen, daß anders konstruierte Anschauungsapparate (As) dieselben Gegenstände (Ps) ganz anders wahrnehmen würden (mit anderen P's auf den Objekten), woraus wiederum folgt, daß wir über die Objekte an und für sich (d. h. jenseits der auf sie projizierten P's) gar nichts aussagen können. Hieraus ergibt sich wiederum zweierlei: Zum einen wird somit die G r e n z e , die in den Träumen eines Geistersehers auf der Seite des Subjekts zwischen apriorischer (rationaler Verstandesund Vernunft-) Erkenntnis einerseits und aposteriorischer (d. h. empirischer) Erkenntnis andererseits gezogen wurde, hier in De mundi auf der Seite des Gegenstandes durch d i e U n t e r s c h e i d u n g v o n P h a e n o m e n a u n d N o u m e n a nochmals verdoppelt. Dabei ist die zweite Grenzziehung eine logische Konsequenz der ersten. Wenn ich sage, bei Zeit und Raum ebenso wie bei den Vernunftbegriffen handelt es sich um von der Erfahrung unabhängige (weil nämlich ihrerseits die Erfahrung erst strukturierende) A n -

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s c h a u u n g e n und V o r s t e l l u n g e n , so muß ich auch die Dinge selbst von den in sie hineingeworfenen Projektionen (von Zeit, Raum, Zahl sowie von den Vernunftbegriffen) freisprechen und somit einräumen, daß ich über die Dinge an und für sich selbst gar nichts aussagen kann. Folglich sind die Dinge für uns, nur als P h a e n o m e n a, d. h. unter Mitberücksichtigung des von uns auf sie Projizierten, erkennbar. Zum anderen wird hieraus ersichtlich, wie diese Verschiebung in der Betrachtungsweise auch eine Verschiebung in der B e w e r t u n g d e r B e t r a c h t u n g nach sich zieht: Wenn die Formen der Dinge (Zeit, Raum, Zahl, Verstandesbegriffe) nicht mehr in und an den Dingen selbst, sondern in unserem eigenen Projektionsapparat der Sinnlichkeit und Vernunft liegen, so liegt es nahe, nicht mehr die Welt der Gegenstände an und für sich (ontophänomenologisch), sondern vielmehr den uns selbst eigenen Projektionsapparat (kritisch, das heißt hier: die Konstitutionen unserer Sinnlichkeit sowie unseres Denkens selbstreflexiv) zum Gegenstand der Untersuchung zu machen. Aus dieser Selbstreflexion folgt, wie es in De mundi erstmals heißt: d i e K r i t i k e i n e r r a t i o n i s p u r a e (im Text: A2 3); d.h. einerseits die Betrachtung der Gegenstände als Spiegel unserer Anschauungs- und Vernunftbrille - d i e D i n g e a l s P h a e n o m e n a - sowie andererseits die Betrachtung der Dinge an und für sich, als frei von allem Intelligiblen. Später, in seiner Moralphilosophie, wird Kant hieraus auch noch den Umkehrschluß ziehen und die N o u m e n a (sprich: Intelligibilität überhaupt) als frei von den Dingen selbst betrachten. Nun will Kant im dialektischen Teil (dem Abschnitt V) seiner InauguralDissertation zeigen, daß die Prädikate, die sowohl von der rationalistischen als auch von der empiristischen (und mit beiden von der neuplatonischen) Philosophie dem Sein selbst zugeschrieben werden, eben diesem Sein als dessen Prädikate nur „ u n t e r g e s c h o b e n " wurden (ID V 97, im Text: A 2 34, Herv. C. R.), da sie doch - Kant zufolge - nicht dem Sein (O), sondern unserer sinnlichen Anschauungs- und intellektuellen Vernunft-Konstitution (A) selbst eigen sind, so daß erst durch diese Subjektkonstitution die Gegenstände (Prädikate P) auf das Sein (O) als virtuelles P' heraufgeworfen werden. Anders gesagt: Was uns i m S e i n e r s c h e i n t , ist nicht im Sein, sondern in uns. Hieraus ergeben sich also die Bestandteile der Projektionen in philosophischen Urteilen: 1. Das, w o r a u f p r o j i z i e r t w i r d (die Projektionsfläche O), ist in philosophischen Urteilen das Sein, die Welt der Gegenstände überhaupt; 2. das, w a s p r o j i z i e r t w i r d (der Projektionsgegenstand P, der auf der Projektionsfläche O als P' erscheint), sind in philosophischen Urteilen a. unsere nicht-empirischen Formen der sinnlichen Anschauung (Zeit, Raum und Zahl) sowie b. unsere Verstandesbegriffe. Bleibt schließlich: 3. d a s S u b j e k t S (für sich, doch nicht an sich), welches das Projektionslicht spendet; eine Position, die allerdings in der Inaugural-Dissertation noch nicht verhandelt und durchdacht wird. Später, in der Transzendentalen

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Deduktion der Kritik der reinen Vernunft, wird dieses S bekanntlich auf die „ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption" zurückgeführt werden (KrV III 139 Β 136); auf eine Einheit des Bewußtseins, die nur noch in der reinen Form des logischen Denkens selbst beruhen wird; in einem ,Ich-denke', welches nicht mehr mit inhaltlichen Prädikaten an sich (wie Ich-Substanz, Identität, Persönlichkeit oder Seele) qualifiziert werden kann. Somit wird Kant später die s y m b o l i s c h e E r k e n n t n i s [cognitio symbolica] - a l s r e p r a e s e n t a t i o - gerade dort ansetzen, wo die rationalistische ebenso wie die spiritistische Metaphysik die Vernunft versinnlicht und im Erkenntnisgegenstand substantialisiert hatte: einerseits auf seiten des zu betrachtenden Gegenstands, der als „ t r a n s z e n d e n t a l e r G e g e n s t a n d X " (KrV IV 169 A 109) „nur als etwas überhaupt = X müsse gedacht werden" (KrV IV 166 A 104) (ein X, von dem also nicht mehr eine c o g n i t i o e s s e n t i a , sondern nur noch eine c o g n i t i o s y m b o l i c a möglich ist); andererseits jedoch auch auf seiten des Subjekts selbst, welches als t r a n s z e n d e n t a l e s S u b j e k t nur noch „ein Etwas überhaupt" (KrV IV 366 A 355) zum Ausdruck bringt (und somit ebenfalls nur noch ein Symbolon, d. h. ein darstellendes Gegenstück zum dargestellten Gegenstand - nicht jedoch diesen selbst repräsentieren kann). Umgekehrt wird nun Kant die Vernunft gerade in jene Position versetzen, die sowohl vom (neuplatonischen) Rationalismus als auch vom (neuplatonischen) Spiritismus gänzlich ignoriert wurde: nämlich die zwischen Subjekt und Objekt zu lokalisierende projektive - P r ä d i k a t p o s i t i o n P. Wir sehen bereits hieran, wie Kant das neuplatonisch-theosophische S y s t e m d e r U n m i t t e l b a r k e i t - eine mystisch-symbiotische Verschmelzung von Subjekt und Objekt, die, bei völliger Ignoranz des Projektionsapparats (A), von einer immanenten Identität zwischen Subjekt (S) und Gegenstand (O) ebenso wie von einer immanenten Identität zwischen Dargestelltem (P durch A) und Darstellendem (P' auf O) ausgeht - durchbricht und durch ein kritisches S y s t e m d e r R e p r ä s e n t a t i o n ersetzt. Dabei besagt dieses System der Vorstellungen (so Kants Übersetzung der lateinischen: repraesentatio), daß die Grenzen (termini), die das Vorstellende ebenso wie das Vorgestellte durchkreuzen (a priori/a posteriori auf seiten des Subjekts; Noumenon/Phaenomenon auf seiten des Objekts), dazu führen, daß das Repräsentierende (P' auf O) niemals mit dem Repräsentierten (P durch A) identisch sein kann. Aufgrund eben dieser Grenzziehungen kann auch nicht mehr von einem substantiellen Gegenstand an und für sich auf der einen oder von einem substantiellen Subjekt an und für sich auf der anderen Seite ausgegangen werden, steht doch zwischen diesen beiden immer schon - a priori - das transzendierende Repräsentationssystem der Projektion (das A von Ρ sowie das P' auf O). Just aus diesem Projektionssystem geht auch die Transzendentalität sowohl auf seiten des Gegenstandes der Erkenntnis als auch auf seiten des erkennenden Subjektes selbst hervor: Unter Mitberücksichtigung der auf ihn notwendig geworfenen Projektionen (virtuellen P's) geht die Erkenntnis des transzendentalen

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Gegenstandes X immer schon a priori über den vermeintlichen Gegenstand an und für sich hinaus (d. h. die Erkenntnis des Objekts als Phaenomenon), ebenso wie unter Mitberücksichtigung des an das Subjekt gebundenen Projektionsapparates (A) das transzendentale Subjekt immer schon a priori mehr ist als das, was ein Subjekt an und für sich substantiell beinhalten könnte. Ähnlich wie sich der liniengerade Horizont mit zunehmender Entfernung von der Erde in einen kugelförmigen Erdball verwandelt, ermöglicht die Vogelperspektive Kant, seine Gegenstände immer präziser zu positionieren: Denn, daß sich unter Berücksichtigung der Projektionsverhältnisse sowohl die Betrachtung deqenigen G e g e n s t ä n d e verändert, d i e p r o j i z i e r t w e r d e n (Raum, Zeit sowie die Verstandesvorstellungen), als auch jener G e g e n s t a n d , a u f d e n p r o j i z i e r t w i r d (das Sein), ist eine Sache; eine andere Sache ist, was mit dem Verstand und der Vernunft eigentlich vorgeht, wenn sie derart projektiv verfahren. Von daher gilt es, den Vorgang der Projektion in logischen Urteilen nicht nur anhand der von diesem Vorgang betroffenen Gegenstände zu analysieren, sondern auch die hierbei wirkenden P r o j e k t i o n s m e c h a n i s m e n d e s D e n k e n s selbst zu untersuchen.

d) Die Projektionen in logischen Urteilen Um die Projektionen in den logischen Urteilen der Philosophie ausfindig zu machen, stellt Kant im fiinften und letzten Abschnitt seiner Dissertation ( Von der Methode im Felde der Metaphysik) eine Reihe von Axiomen vor die Camera obscura: logische Lehrsätze der Schulphilosophie, die er größtenteils aus der Leibnizschen Dogmatik bezogen hat. (Axiome sind unhinterfragbare oberste Grundsätze, aus denen logische Schlußfolgerungen gezogen werden). Diese obersten Grundsätze der Philosophie, die Kant allesamt als „erschlichene Axiome" oder als „Blendwerke" („praestigiae intellectus", d. h. als intellektuelle Gaukeleien - ID V 88, im Text: A2 31) bezeichnet, unterteilt er wiederum (in § 26) in d r e i A r t e n v o n l o g i s c h e n F e h l s c h l ü s s e n . Bei all diesen drei Arten von Blendwerken findet nun jeweils eine Verschiebung statt, indem die sinnlichen Bedingungen der menschlichen Erkenntnis auf die „Bedingung der Möglichkeit eines Gegenstandes" projiziert werden. So heißt es in § 26: „Alle Blendwerke sinnlicher Erkenntnisse unter dem Schein vom Intellektuellen, aus denen die erschlichenen Axiome entspringen, können nun auf drei Arten zurückgeführt werden, für deren allgemeine Formeln diese gelten sollen: 1. Dieselbe sinnliche Bedingung, unter der allein die Anschauung eines Gegenstandes möglich ist, ist die Bedingung der M ö g l i c h k e i t d e s G e g e n s t a n d e s selber. 2. Dieselbe sinnliche Bedingung, unter der allein d a s G e g e b e n e m i t einander verglichen werden kann, um einen Verstandes-

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DRITTER TEIL: DIE ANWENDUNG DER PSYCHOLOGIE AUF DIE LOGIK

b e g r i f f v o n e i n e m G e g e n s t a n d z u b i l d e n , ist auch die Bedingung der Möglichkeit des Gegenstandes selber. 3. Dieselbe sinnliche Bedingung, unter der die Subsumtion irgendeines vorkommenden G e g e n s t a n d e s u n t e r e i n e n g e g e b e n e n V e r s t a n d e s b e g r i f f allein möglich ist, ist auch die Bedingung der Möglichkeit des Gegenstandes selber" (ID V 89 u. 91, im Text: A 2 31). In allen drei Fällen wird somit zwischen den , sinnlichen Bedingungen' des Subjekts (d. h. den Gesetzmäßigkeiten seiner Anschauung) einerseits und den ,Bedingungen der Möglichkeit des Gegenstandes' (d. h. den Gesetzmäßigkeiten, die den Gegenstand konstituieren) andererseits e i n e I d e n t i t ä t b e h a u p t e t , um dann immanent vom ersten auf das zweite zu schließen bzw. das zweite dem ersten immanent zu entnehmen. Logisch betrachtet, werden also hier die sinnlichen Bedingungen des Subjekts (die Ρ von S) als Prädikate des Seins (als Ρ von O) begriffen; eine falsche prädikative Zuordnung, die wie wir sogleich sehen werden - ganze Serien von weiteren logischen Fehlschlüssen nach sich zieht; Fehlschlüsse, an deren Ende - keineswegs zufällig die Lückenbüßer, nämlich die obersten Dogmen der klassischen Metaphysik stehen. Also wird Kant alle drei oben angeführten Projektionsarten im einzelnen dekonstruieren: nämlich die erste in § 27, die zweite in § 28 und die dritte in § 29 seiner Dissertation.

1. Die Projektion der reinen sinnlichen Anschauung auf das Dasein {De mundi, § 27) Diese Projektion wird an dem Grundsatz deutlich, welcher besagt: „ A l l e s , w a s i s t , i s t i r g e n d w a n n u n d i r g e n d w o " ( I D V 9 1 , i m Text: A 2 32).

Von diesem Satz gibt es noch eine abgeschwächtere Variante mit dem Wortlaut: „ I n a l l e m , w a s d a i s t , i s t R a u m u n d Z e i t , d. i. jede Substanz ist a u s g e d e h n t und in stetiger V e r ä n d e r u n g b e g r i f f e n " ( I D V 9 1 , i m T e x t : A 2 3 2 F n . ) .

Beide Sätze sind falsch, weil in ihnen Zeit und Raum als P r ä d i k a t e d e s D a s e i n s b z w . d e r S u b s t a n z betrachtet werden. Richtig müßte der Satz heißen: „ A l l e s , w a s i r g e n d w o [ u n d i r g e n d w a n n - C. R.] i s t , i s t da [existit]" (ID V 87, im Text: A 2 31 Fn.).

Nun hatte Kant bereits im analytischen Teil seiner Dissertation (dort in § 14 für die Zeit sowie in § 15 für den Raum) nachgewiesen, daß Zeit und Raum „nicht etwas Objektives und Reales, weder eine Substanz, noch ein Akzidenz, noch ein Verhältnis" sind, sondern, daß es sich bei ihnen um „notwendige, subjektive Bedingungen" der menschlichen sinnlichen Wahrnehmung, d. h. um „reine Anschauungen" handelt (ID V 53, im Text: A 2 16; vgl. § 14, 5 für

13. DIE INAUGURAL-DISSERTATION

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die Zeit sowie § 15, D für den Raum). „Daher ist die Möglichkeit von Veränderung nur in der Zeit denkbar, aber nicht die Zeit denkbar durch Veränderung, sondern umgekehrt" (ID V 55, im Text: A 2 18) - eben dasselbe hatten wir im vorangehenden Kapitel auch fur den Raum gesehen. Sind aber diese nicht-empirischen, d. h. reinen Bedingungen der Anschauung (Zeit und Raum) an die Konstitution des Subjekts gebunden, so sind sie darum doch nicht subjektivistische, sondern eben durchaus notwendige (d. h. gesetzmäßige) Anschauungen, indem d a s „ Z u g l e i c h s e i e n d e a l s s o l c h e s " f ü r d i e Z e i t (ebd., Herv. C. R.) sowie d i e i n k o n g r u e n t e n G e g e n s t ü c k e f ü r d e n R a u m (ID V 59, im Text: A 2 19, Herv. C. R.) die objektiven „Grundlagefn] aller Wahrheit in der äußeren Sinnlichkeit" bilden (ID V 63, im Text: A 2 21; vgl. § 14, 6 für die Zeit sowie § 15, E für den Raum). Daher entspringen auch „die Vorstellung der Zeit" und „der Begriff des Raumes" „nicht aus den Sinnen, sondern [werden] von diesen vorausgesetzt" (ID V 47, im Text: A 2 14; vgl. § 14, 1 für die Zeit sowie § 15, A für den Raum). „Die Möglichkeit äußerer Wahrnehmungen, als solcher, setzt mithin den Begriff des Raumes voraus und schafft ihn nicht; wie auch, was im Räume ist, die Sinne affiziert, der Raum selbst aber nicht aus den Sinnen geschöpft werden kann" (ID V 57, im Text: A 2 19) - eben dasselbe gilt auch für die Zeit. All dies rührt daher - hierin liegt Kants beweiskräftigstes Argument - , daß es sich bei der Vorstellung der Zeit sowie beim Begriff des Raums nicht um allgemeine, sondern um einzelne Vorstellungen handelt (vgl. § 14, 2 für die Zeit bzw. § 15, Β für den Raum). Allgemeine Vorstellungen bzw. Begriffe sind solche, die sich aus Teilvorstellungen zusammensetzen und sich folglich durch Analysis auch wieder in ihre Bestandteile zerlegen lassen. Eben dies ist jedoch gerade bei der Zeit sowie beim Raum nicht möglich. Weil J e d e r beliebige Teil der Zeit [...] e i n e Z e i t " ist (ID V 49, im Text: A 2 15) und weil das, „was man m e h r e r e R ä u m e nennt, nur Teile desselben unermeßlichen Raumes" darstellen (ID V 57, im Text: A 2 19), sind A u g e n b l i c k e und P u n k t e nicht die analytischen Bestandteile von Zeit und Raum, sondern vom Subjekt selbst - subjektiv - gesetzte Grenzen. „Denn nur wenn sowohl ein unendlicher Raum als eine unendliche Zeit gegeben sind, ist jeder beliebige Raum und jede beliebig begrenzte Zeit d u r c h E i n s c h r ä n k u n g [limitando] anzeigbar, und Punkte und Augenblicke können nicht durch sich gedacht werden, sondern werden nur in e i n e m R a u m und in e i n e r Z e i t , die schon gegeben sind, als deren Grenzen vorgestellt" (ID V 67, im Text: A 2 25, nach limitando Herv. C. R.). Hieraus - nämlich aus der Tatsache, daß man durch Zergliederung (Analysis) niemals zu einem Kleinsten der Zeit und des Raums sowie durch Zusammensetzung (Synthesis) niemals zu einem Größten der Zeit und des Raums gelangen kann - ergibt sich in De mundi bereits auch schon das Antinomie-Problem: „Denn wie eine n i e m a l s z u v o l l e n d e n d e Reihe von in E w i g k e i t aufeinander folgenden Zuständen des Alls in ein G a n z e s gebracht werden könne, das schlechthin jeden Wechsel umgreift, kann schwer eingesehen werden" (ID V 25, im Text: A 2 6). „Denn weil auf

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DRITTER TEIL: DIE ANWENDUNG DER PSYCHOLOGIE AUF DIE LOGIK

die ganze Reihe nichts folgt, es aber, wenn man eine Reihe des aufeinander Folgenden setzt, nichts gibt auf das nichts folgt, als nur das Letzte, so wird es in der Ewigkeit ein Letztes geben, was ungereimt ist" (ID V 27, im Text: A2 6). Werden aber Zeit und Raum in die Substanz und das Dasein projiziert, so ergeben sich hieraus - und zwar just an den Orten des vermeintlich Kleinsten sowie des vermeintlich Größten - ganze Serien von Fehlschlüssen; Blendwerke, die allesamt offenbar den Zweck verfolgen, die Ungereimtheiten, die sich aus einem zeitlich wie räumlich begriffenen Dasein ergeben, zu vertuschen. „So kann man nicht sagen, in welchem Maße ihnen [den Philosophen wohl - C. R.] diese den Verstand umschwebenden Schatten mitspielen. Sie erdichten sich eine örtliche Gegenwart Gottes und schließen Gott, als von einem unendlichen Raum zugleich umgriffen, in die Welt ein, wobei sie ihm diese Einschränkung offenbar mit einer gleichsam durch Erhöhung begriffenen, d. i. unendlichen, Örtlichkeit vergüten wollen" (ID V 93, im Text: A 2 32). „Daher martern sie ihren Geist mit ungereimten Fragen, ζ. B. warum Gott die Welt nicht viele Zeitalter vorher gegründet habe" (ID V 93, im Text: A2 33) - usw. Und so wie makrokosmisch, so auch mikrokosmisch: „Daher machen sich [etwa mit Leibniz' , schlummernden Monaden' - C. R.] leere Fragen nach den Örtern der unstofflichen Substanzen in der Körperwelt [...], nach dem Sitz der Seele und nach anderem dieser Art breit" (IDV91, im Text: A2 32); weil, wenn Zeit und Raum tatsächlich Prädikate der Substanz bzw. des Daseins wären, hier Scheinkausalitäten bemüht werden müßten, um beispielsweise zu erklären, wie die Zeitlichkeit in die Substanz hineinkommt bzw. aus ihr wieder entschwindet (nämlich durch unstoffliche Substanzen, Seelen, Geister etc.). Dementgegen ist „die Ursache der Welt [...] nicht die Weltseele [anima mundi], und ihre [der Seele] Gegenwart in der Welt ist nicht örtlich, sondern virtuell" (ID V 75, im Text: A2 26). Den für die Projektionsverhältnisse ganz entscheidenden B e g r i f f d e r V i r t u a l i t ä t bezieht Kant von dem berühmten Mathematiker Leopold Euler, auf dessen Lettre à une princesse allemande (3 Bde., 1768-72) Kant in De mundi wiederholt verweist (vgl. ID V 93, Aï 33 u. Fn. 107 A2 38). „Wenn man [aber - C. R.] den Begriff der Zeit [wie den des Raums - C. R.] gehörig durchschaut" - und also verstanden hat, daß Zeit und Raum nichts mit Substanz und Dasein, sondern vielmehr etwas mit den objektiven Gesetzmäßigkeiten unserer sinnlichen Anschauung zu tun haben - , „so verschwindet all dieses [nämlich: Gott, Seele und Unsterblichkeit - C. R.] wie Rauch" (ID V 95, im Text: A2 33).

13. DIE INAUGURAL-DISSERTATION

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2. Die Projektion der Vergleichungsbegriffe auf das Dasein {De mundi, § 28) Diese Projektion wird an zwei anderen erschlichenen Grundsätzen deutlich: a) „ J e d e w i r k l i c h e M e n g e i s t d u r c h e i n e Z a h l a n g e b l i c h , und jede Größe ist deshalb endlich." b) „ A l l e s , w a s u n m ö g l i c h i s t , w i d e r s p r i c h t s i c h . " (ID V 95, im Text: A 2 33)

Beide Sätze sind falsch und müßten richtig heißen: a) „Was endlich ist, wird durch eine Größe angegeben; w a s d u r c h e i n e Z a h l a n g e g e b e n w e r d e n kann, ist e i n e w i r k l i c h e Menge"sowie b) „ A l l e s , w a s z u g l e i c h i s t u n d n i c h t i s t , i s t u n m ö g l i c h . " (ID V 97, im Text: A 2 34)

a) Bei der hier vorliegenden Projektion, bei der der Verstandesbegriff der Zählbarkeit auf die Menge sowie der Verstandesbegriff der Größe auf die Endlichkeit des Seins projiziert wird, geht der Begriff der Zeit zwar nicht wie bei der ersten Art von Projektion - unmittelbar, aber doch mittelbar in die falsche Prädikativzuordnung ein, was allerdings das Aufdecken der hier vorliegenden Projektion keineswegs erleichtert. Denn, um die Größe einer Menge zu ermessen, bedarf es - für den menschlichen Verstand zumindest - der Zeit. [Vgl. 51. Exkurs] Daher gelangt der Begriff einer Menge „niemals zur Vollständigkeit, wenn die Verbindung nicht in einer endlichen Zeit vollendet werden kann. Daher rührt es: daß eine unendliche Reihe von Beigeordnetem den Schranken unseres Verstandes gemäß nicht deutlich begriffen werden kann und so [die Unendlichkeit - C. R.] durch den Fehler der Erschleichung als unmöglich erscheint" (ID V 95, im Text: A2 34). Hier wird also eine subjektive Bedingung des menschlichen Daseins (nämlich seine Endlichkeit in der Zeit) auf das Dasein überhaupt übertragen, indem die „Abhängigkeit des Ganzen" (ein subjektiv notwendiger Begriff der menschlichen Erkenntnis) mit der „Meßbarkeit der Reihe" (d. h. der objektiven Größe des Daseins) „fälschlicherweise für identisch gehalten" wird (ID V 97, im Text: A2 34). Eine ähnliche „vorgespiegelte Unterschiebung" (d. h. Projektion) ist am Werk, wenn von dem Zusammengesetzten „auf Grundbestandteile der Zusammensetzung, d. i. [auf - C. R.] einfache Teile" (ebd.), sprich: auf Monaden geschlossen wird. Auch in diesem Fall krankt die Vorstellung „am zweifelhaften Mangel ihres Ursprungs" (ebd.), d. h. an der Projektion, indem hier „die subjektiven Bedingungen des Urteils für objektive gehalten werden" (ID V 99, im Text: A2 35): Daß wir also nicht kleiner teilen können als bis zum Kleinsten, liegt nicht an der Subsistenz der Substanz, sondern an unserem subjektiven Teilungsvermögen. Sicherlich ist es kein Zufall, daß die Projektionen der Begriffe des Vergleichs auf das Dasein (die Monaden mikrokosmisch sowie die Endlichkeit des Alls makrokosmisch) ausgerechnet die Instanzen des Kleinsten sowie des

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DRITTER TEIL: D I E A N W E N D U N G DER PSYCHOLOGIE AUF DIE LOGIK

Größten im Sein betreffen: Denn, wenn der Verstandesbegriff der Meßbarkeit tatsächlich dem Dasein (als dessen Prädikat) zuzuordnen wäre, so müßte das Dasein den gleichen Gesetzen folgen wie jener Verstandesbegriff der Meßbarkeit, also durch Anfang und Ende einschränkbar sein. „Daß aber das All, in Ansehung seiner Masse, mathematisch endlich sei, daß seine verflossne Zeit nach einem Maß angeblich sei, daß den einfachen Teilen, die jeden Körper ausmachen, eine bestimmte Zahl eigne: das sind Sätze, die unverhohlen ihre Herkunft aus der Natur der sinnlichen Erkenntnis" (ID V 97, im Text: A2 34) und damit ihren projektiven Charakter verraten. b) „Was aber das l e t z t e r e e r s c h l i c h e n e A x i o m betrifft [,alles, was unmöglich ist, widerspricht sich' - C. R.], so entspringt es daraus, daß man den Satz des Widerspruchs aufs Geratewohl umkehrt" (ebd.), indem hier der Satz des Widerspruchs auf die Möglichkeit überhaupt, d. h. auf Existenz und Dasein, übertragen und somit der logische Widerspruch auf den Realgrund des Wirklichen projiziert wird. Auch in diesem Fall schleicht sich der Begriff der Zeit unbemerkt in das fehlerhafte Urteil ein, indem nämlich - wie wir anhand des Begriffs der negativen Größen feststellen konnten - der Satz des Widerspruchs nur dann gilt, wenn zwei Prädikate sich zur gleichen Zeit widersprechen. Bei dem Satz der Kausalität, bei dem etwas A durch etwas anderes Β - in einer Zeitfolge - aufgehoben wird, liegt hingegen - wie wir ebenda gesehen hatten - gar kein Widerspruch vor; so, daß man hier also auch nicht von einem korrekten logischen Satz auf die Realexistenz eines Gegenstandes rückschließen kann. „Von den Gesetzen, an die der menschliche Verstand gebunden und von denen er eingeschränkt ist, ist dies [nämlich die Bindung des Begriffs der Möglichkeit, d. h. der Existenz, an das logische Denken - C. R.] auch ganz wahr [...], daß es aber deshalb gar keinem Verstand verstattet sei und daß folglich a l l e s , w a s k e i n e n W i d e r s p r u c h e i n s c h l i e ß t , d e s h a l b m ö g l i c h s e i , wird aufs Geratewohl geschlossen, indem man die subjektiven Bedingungen des Urteiles für objektive hält" (ID V 99, im Text: A2 35), d. h. wild projiziert. Um nun den in diesem Fall allerdings vorliegenden logischen Widerspruch zwischen dem Satz d e s W i d e r s p r u c h s und dem R e a l g r u n d d e s W i r k l i c h e n wiederum zu vertuschen, wird auch hier eine Art von Kittbegriff bemüht - nämlich der neuplatonische Begriff von mehr oder weniger p n e u m a t i s c h e n K r ä f t e n . Wir verweisen in diesem Zusammenhang beispielsweise auf Lavaters ,organische Kraft', Herders ,herauftreibende Kraft' sowie Hegels ,dialektische Aufhebung'; alles Chimären, mit denen fälschlicherweise der logische Widerspruch in die Kausalität des Realen projiziert wird. „Daher so viele nichtige Erfindungen von ich weiß nicht welchen nach Gefallen erdichteten K r ä f t e n , die, ohne das Hindernis des Widerstands, aus einem jeden architektonischen - oder, wenn man lieber will, zu Chimären geneigten - Geiste in Scharen hervorbrechen" (ID V 99, im Text: A 2 35), um mit diesen G e i s t e r s c h a r e n v o n K r ä f t e n die Zufälligkeit des Wirklichen mit den Notwendigkeiten des Denkens - daher im Grunde: mit einem philo-

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13. DIE INAUGURAL-DISSERTATION

sophischen Autismus - in Einklang zu bringen. Denn „die Möglichkeit einer jeden Kraft [beruht] n i c h t a u f d e r I d e n t i t ä t von Ursache und Verursachtem, oder von Substanz und Akzidenz, und deshalb hängt auch die Unmöglichkeit falsch erdichteter Kräfte n i c h t v o m W i d e r s p r u c h a l l e i n e a b . Mithin darf man keine u r s p r ü n g l i c h e K r a f t als möglich annehmen, wenn sie nicht von der Erfahrung gegeben ist, und man kann ihre Möglichkeit durch keine Scharfsichtigkeit des Verstandes a priori begreifen" (ebd.).

3. Die Projektion des Verstandesbegriffs der Notwendigkeit auf das Dasein {De mundi, § 29) Diese Projektion wird an dem erschlichenen Axiom deutlich, welches besagt: „ A l l e s , w a s z u f ä l l i g e r w e i s e da i s t , w e s e n " (ID V 101, im Text: A 2 3 6 ) .

ist i r g e n d w a n n

nicht

dage-

Der Satz ist falsch, weil hier der Ver s t ä n d e sb e g r i f f d e r N o t w e n d i g k e i t als Prädikat des Daseins betrachtet wird. Richtig muß der Satz heißen: „ A l l e s , w a s i r g e n d w a n n nicht g e w e s e n ist, ist

zufällig"(ebd.).

Auch dieser logische Fehlschluß entspringt aus einer P r o j e k t i o n d e s log i s c h e n W i d e r s p r u c h s auf den R e a l g r u n d des W i r k l i c h e n , indem „dieser untergeschobene Grundsatz aus der Armut des Verstandes [entspringt], der die N a m e n s m e r k m a l e der Zufälligkeit und Notwendigkeit meistens, die r e a l e n M e r k m a l e [dagegen nur - C. R.] selten durchschaut" (ebd.). Auch in diesem Fall wird ein Umkehrschluß vorgenommen, indem fälschlicherweise von der Notwendigkeit [necessitatis] auf die Zufälligkeit [contingentiae] geschlossen wird, anstatt richtig herum die Zufälligkeit des Daseins als etwas zu begreifen, was mit den Notwendigkeiten des Denkens nicht das geringste zu tun hat und daher diesem auch nicht zu entnehmen ist. Denn: „die Veränderungen bezeugen mit mehr Wahrheit die Zufälligkeit als die Zufälligkeit die Veränderlichkeit" (ebd.). „Denn obgleich diese Welt zufälligerweise da ist, ist sie ewig, d. i. zu aller Zeit gleichzeitig, sodaß man deshalb fälschlich behauptet, es sei eine Zeit gewesen, zu der sie nicht da war" (ID V 103, im Text: A 2 37), um dann von hier aus auf ein Goldenes Zeitalter, Paradies oder Nirwana - mit den diesbezüglichen Regressionen - zurückzugreifen. Warum aber projiziert die Philosophie die Schranken der menschlichen Erkenntnis derart in die Welt der Dinge? Auf diese Frage gibt Kant zwei Antworten; wobei die erste in einem subjektiven und die zweite in einem objektiven Faktor zu suchen ist. Der subjektive - psychologisch empirische - Grund, weshalb die Philosophie derart projiziert, besteht in der „faulen Philosophie" (philosophiae pigrorum), die ihr Geschäft darin sieht, „erste Ursachen anzuführen, um das weitere

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DRITTER TEIL: DIE ANWENDUNG DER PSYCHOLOGIE AUF DIE LOGIK

Nachforschen für unnütz zu erklären" (ID V 69, im Text: A 2 23). Halten wir hier auf die soeben dargestellten erschlichenen o b e r s t e n G r u n d s ä t z e nochmals Rückschau und fragen uns, welche „ e r s t e n U r s a c h e n " Kant hiermit meint, so stoßen wir - keineswegs zufällig - wiederum auf jene, die wir als die S c h a r n i e r s t e l l e n des N e u p l a t o n i s m u s u n d der T h e o s o p h i e erkannt hatten. Sowohl im Leibnizschen Rationalismus als auch im Swedenborgischen Spiritismus handelt es sich dabei um jene Stellen, durch welche das Intelligible seine vorzeigbaren Orte im Sinnlichen erhalten soll eben jene Orte „der Gemeinschaft der Seele mit einem organischen Körper" (KrV IV 385 A 384), an welchen die Vernunft mit dem Gegenstand in einer symbiotischen Einheit verschmelzen soll. Dieser S c h l u p f l ö c h e r z w i s c h e n G e i s t i g e m u n d K ö r p e r l i c h e m soll es - nach neuplatonisch-theosophischer Auffassung zumindest drei geben: 1. Mikrokosmisch d i e G e i s t e r im I n n e r s t e n (bei Swedenborg) oder (bei Leibniz) die Monaden, durch welche hindurch , schlummernde Monaden', das sind: mit Intelligenz versehene unstoffliche Substanzen, in die Materie hineinschlüpfen bzw. aus ihr wieder entweichen (Plotins E i n zelseele). 2. Makrokosmisch d e r s c h ü t z e n d e H e r r ü b e r a l l e m , ζ. B. Swedenborgs homo maximus oder Leibniz' göttliche Fügung, der Satz von der prästabilierten Harmonie etc., wodurch das Sein des Ganzen im Ganzen des Seins als Einheit zusammengehalten wird (Plotins A11 s e e 1 e ). 3. Zwischen diese mikrokosmische Intelligibilität der Körper und jenen makrokosmischen Körper des Intelligiblen stellt die neuplatonisch-theosophische Philosophie noch eine Reihe von (aufsteigenden) p n e u m a t i s c h w i r k e n d e n K r ä f t e n , welche vermittels analoger Morphologien (,correspondentia' bei Swedenborg, ,der Satz vom zureichenden Grunde' bei Leibniz) pantheistisch den immer gleichen Geist in allem und jedem heraufbeschwören (Plotins We 11 s e e 1 e ). Wir sehen hieran, wie mit allen drei vorzeigbaren V e r s i n n l i c h u n g e n d e s I n t e l l i g i b l e n (1. den Monaden und den in ihnen waltenden Seelen, 2. dem Ganzen des Seins und dem über diesem wachenden Herrn sowie 3. den pneumatischen Kräften bzw. Geistern, die als Boten zwischen Seele, Materie und Gott vermitteln) die Vernunft in ihren Anschauungsgegenständen substantialisiert wird, um dann umgekehrt, mittels einer Art von P h y s i o g n o m i k d e s I n t e l l i g i b l e n , die Vernunft dem Sein - wenn möglich noch empirisch - entnehmen zu wollen. Wie wir gleichsam sehen, sind es gerade diese Substantialisierungen des Intelligiblen im Stofflichen, eben jene „ t h e o s o p h i s c h e n Träume" (KpV VII 253 A 221) von ,,Mittelding[en] zwischen Materie und denkenden Wesen" (KrV III 251 Β 270 A 221), die Kant in den obersten Grundsätzen der Philosophie gezielt aufspürt und dekonstruiert, um zu zeigen, daß die Metaphysik mit ihren e r s t e n u n d l e t z t e n U r s a c h e n - den Substantialisie-

13. DIE INAUGURAL-DISSERTATION

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rungen des Intelligiblen im Dasein - eben doch nur eines bezeugt: nämlich das im ,,innere[n] der Metaphysik selber" (ID V 107, im Text: A 2 38) waltende „Blendwerk von Wissenschaft" (NEV II 909 A 6). Allerdings beruht der Grund fur die philosophischen Projektionen nicht nur in der subjektiven Bequemlichkeit und Faulheit der Philosophie, sondern zumindest teilweise - auch objektiv in der Natur der Sache. Um diesen Sachverhalt zu erläutern, kommt Kant in § 30 seiner Dissertation auf eine weitere Projektionsart zu sprechen; eine Projektionsform, die „ebenso wie die oben von uns aufgezählten, auf subjektiven Gründen, jedoch nicht auf Gesetzen der sinnlichen, sondern der Verstandeserkenntnis selber [beruhen], nämlich auf den Bedingungen, durch die es ihm [dem Verstand] leicht und bequem erscheint, seine Scharfsinnigkeit zu gebrauchen" (ID V 103, im Text: A 2 36f). Hier werden also subjektive Verstandesurteile in objektive Vernunftgründe projiziert.

4. Die Projektion der subjektiven auf objektive Vernunftgründe {De mundi, § 30) Beispiele für diese Projektionsart: a.

A l l e s im All g e s c h i e h t nach der O r d n u n g der Natur (vgl. ID V 103, im Text: A 2 37). b. D i e G r ü n d e s i n d n i c h t o h n e h ö c h s t e N o t w e n d i g k e i t z u vermehren (vgl. ID V 105, im Text: A 2 37). c. S c h l e c h t e r d i n g s n i c h t s a n S t o f f e n t s t e h t o d e r v e r g e h t , und aller W e c h s e l der Welt b e t r i f f t a l l e i n die Form (vgl. ebd.).

Beginnen wir mit dem zuletzt genannten Beispiel (c.). Dieser „in allen Philosophieschulen weit verbreite [te]" - allerdings: neuplatonische - Lehrsatz, welchen Leibniz mit dem ,Satz von der prästabilierten Harmonie' umschreibt, wird nun nicht darum für richtig erachtet, weil man ihn „für [empirisch - C. R.] zuverlässig oder durch Beweisgründe a priori [für] erwiesen hielte"; sondern darum, weil „wenn man den Stoff selbst als fließend und vorübergehend zuließe, [...] gar nichts Festes und Fortdauerndes übrig [bliebe], das eine Erklärung der Phaenomena nach allgemeinen und beständigen Gesetzen [...] weiter forderte" (ebd.). Folglich wird mit der Annahme dieses Satzes nur eine subjektive Denknotwendigkeit zum Ausdruck gebracht - nämlich jene, von einem hypothetischen Ganzen auf die Beständigkeit und von dieser auf die Notwendigkeit, d. h. Gesetzmäßigkeit zu schließen. Somit wird eine subjektive Verstandesnotwendigkeit (die Ordnung des Ganzen) in die Gesetze der Welt projiziert - und dies, obgleich es sich hierbei nur um einen hypothetischen Lehrsatz handeln kann, für den es weder empirische Belege noch vernünftige Beweise gibt.

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DRITTER TEIL: DIE ANWENDUNG DER PSYCHOLOGIE AUF DIE LOGIK

Das Gleiche gilt für den zweiten Satz b. (den sogenannten Leibnizschen ,Satz vom Grunde'), welchem wir „nicht deshalb bei[stimmen], weil wir die ursächliche Einheit in der Welt durch Vernunft oder Erfahrung durchschauten, sondern wir forschen nach eben jener [ursächlichen Einheit] aufgrund eines Antriebs des Verstandes, der meint, in der Erklärung der Phaenomena gerade so weit vorangekommen zu sein, als ihm vergönnt ist, von demselben Grunde zu sehr vielem Begründeten hinabzusteigen" (ebd.). Hier fuhrt die „einem philosophischen Geiste eigene Vorliebe für die Einheit" (ebd.) einerseits dazu, f o r m a l d i e A n a l y s i s in d i e S y n t h e s i s und andererseits dazu, i n h a l t l i c h d e n s u b j e k t i v e n B e g r ü n d u n g s w u n s c h in e i n e (mikrowie makrokosmisch letztendlich nicht einsehbare) , u r s ä c h l i c h e E i n h e i t d e r W e l t ' zu p r o j i z i e r e n . Ähnlich verhält es sich auch mit dem ersten Satz (a.), der nicht deshalb für richtig erachtet wird, weil uns die ,Ordnung der Natur' in ihrer Vollständigkeit bekannt wäre, sondern alleine, weil wir - für das uns noch Unbekannte - auf „vergleichsweise Wunder, nämlich [auf] den Einfluß von Geister[n]" (ebd.) nicht rekurrieren möchten und eben darum eine ,Ordnung der Natur' als gegeben anzunehmen für nötig halten. Wie wir sehen, unterscheidet sich diese letzte Art von Projektion doch erheblich von der ,faulen Philosophie', indem hier eine tatsächliche, wenn auch subjektive Notwendigkeit zu den falschen (zumindest nicht beweis- oder belegbaren) philosophischen Lehrsätzen verführte. So hoffen wir, hinreichend nachvollzogen zu haben, wie Kant den aus der empirischen Psychologie gewonnenen - und sodann anhand der analytischen Geometrie weiterentwickelten - Projektionsbegriff auf die Lehrsätze der Philosophie anwendet, um so die P r o j e k t i o n s v o r g ä n g e in l o g i s c h e n U r t e i l e n aufdecken zu können. Dabei begnügt sich Kant allerdings in De mundi nicht mit dem Aufzeigen der angeführten P r o j e k t i o n s a r t e n , sondern führt darüber hinaus diese vier Arten ihrerseits auf insgesamt d r e i T y p e n v o n P r o j e k t i o n s m e c h a n i s m e n in logischen Urteilen zurück.

e) Die drei Projektionstypen in logischen Urteilen In der Tat handelt es sich bei allen vier oben verhandelten A r t e n v o n P r o j e k t i o n e n doch zunächst einmal um einen gemeinsamen P r o j e k t i o n s t y p u s , da alle vier Arten von erschlichenen Axiomen die P r o j e k t i o n s f o r m d e r V e r r ü c k u n g von Subjektivem auf Objektives betreffen. In dieser Projektionsform finden sich jedoch zugleich auch Teile der paranoiden Kausalüberstrapazierung sowie Teile der Subjektspaltung wieder. So zeichnen sich alle vier oben angeführten Projektionsarten durch jene V e r r ü c k u n g aus, die darin besteht, daß man „die subjektiven Bedingungen des Urteilens für objektive" hält (ID V 99, im Text: A2 35). So werden bei der

13. DIE INAUGURAL-DISSERTATION

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1. Projektionsart die subjektiven Bedingungen der sinnlichen Anschauung, d. h. Zeit und Raum, in die Substanz (der Dinge), bei der 2. und 3. Projektionsart die subjektiven Verstandesbegriffe der Meßbarkeit, der Möglichkeit und der Notwendigkeit gleichfalls ins objektive Dasein (der Größe, der Existenz und der Kontingenz) projiziert. Dasselbe läßt sich von der 4. Projektionsart sagen, bei der subjektiv-notwendige Verstandesregeln in objektive Naturgesetzmäßigkeiten projiziert werden. Den meisten dieser P r o j e k t i o n e n liegt jedoch ebenso ein falsches wenn man so will: a n t i n o m i s c h e s - l o g i s c h e s S c h l i e ß e n zugrunde, indem in diesen Fällen logische Sätze „aufs Geratewohl umgekehrt" (ID V 97, im Text: A 2 35), d.h. l o g i s c h e U m k e h r s c h l ü s s e vorgenommen werden. Beispiel: Der richtige Satz: ,Alles, was irgendwann nicht gewesen ist, ist zufallig' wird dadurch, daß das Prädikat (Zufälligkeit) zum Subjekt ebenso wie auch umgekehrt das Subjekt (Dasein) zum Prädikat erklärt wird, also durch den Umkehrschluß: ,Alles, was zufälligerweise da ist, ist irgendwann nicht dagewesen', zu einem falschen, weil kausal überstrapazierten und somit eben auch p a r a n o i d e n S a t z . Darüber hinaus verbirgt sich hinter diesen p a r a n o i d e n U m k e h r s c h l ü s s e n (die in der Vertauschung des Subjekts mit seinen Prädikationen beruhen) auch ein insgeheim mitwirkender p a r a l o g i s t i s c h e r S u b j e k t t a u s c h (der in einer Verwechslung des Subjekts mit seinen Anschauungsobjekten beruht), wobei gerade an den logischen Umkehrschlüssen - mit welchen ja doch angeblich eine Objektivität hergestellt werden soll - deutlich wird, wie durch die logische Projektion d i e P o s i t i o n d e s S u b j e k t s ( S ) a u s g e l ö s c h t w i r d . So stehen nach diesem Subjekttausch die vermeintlich objektiven Prädikate (wie hier das Gespenst einer angeblich sich im Dasein befindenden Notwendigkeit, aus der das Zufallige folgen soll) s u b j e k t l o s im luftleeren Zeitraum, wohingegen umgekehrt das Subjekt selbst da, wo die Ursache als verursacht, wie das Bewirkte als wirkend gilt - zu einem Prädikat der Prädikate degradiert worden ist. Auf eben dieses laufen die philosophischen Geistererzählungen letztendlich alle hinaus: Wo I c h w a r , s o l l Es w e r d e n - nach welchem logisch-metaphysischen Marionettenspiel (dem mundus spirituum über dem Ich) die Subjekthaftigkeit des Subjekts wie im Schlafwandel umhergeistert (vgl. H. Broch 1931/32). Schließlich hatte Kant an den ersten drei Arten von Projektionen aufzeigen können, daß hier (subjektive) sinnliche Vorstellungen ins (objektiv) Intelligible projiziert werden, da „das Sinnliche mit dem Intellektuellen, wie das Viereckige mit dem Runden, unschicklich vermischt" bzw. getrennt wurde (ID V 91, im Text: A 2 32), wobei für Kant die „Vertauschung des Intellektuellen und Sinnlichen d e r m e t a p h y s i s c h e F e h l e r d e r E r s c h l e i c h u n g [ist] (ein i n t e l l e k t u i e r t e s P h a e n o m e n o n , wenn der barbarische Ausdruck erlaubt ist) [d. h. ein intellektualisiertes Sinnliches - C. R.]" (ID V 87, im Text: A 2 30). Später, in der Kritik der reinen Vernunft, wird Kant eine andere Bezeichnung für diese Verwechslung von Noumenon und Phaeno-

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DRITTER TEIL: DIE ANWENDUNG DER PSYCHOLOGIE AUF DIE LOGIK

menon finden - nämlich: die Amphibolie, eine philosophische Verrückung, die hier in De mundi (wenngleich noch ohne ihren späteren Namen) erstmals in ihrem späteren Wortlaut definiert wird: „indem die Schranken, von denen die menschliche Erkenntniskraft umschlossen wird, für diejenigen genommen werden, von denen das Wesen der Dinge selbst umfaßt wird" (ID V 19, im Text: A2 3). Vergleichen wir diese drei Typen von Projektionen in logischen Urteilen nämlich: 1. des Subjektiven auf Objektives 2. des Intelligiblen auf Sinnliches sowie 3. der Prädikate auf ein grammatikalisches Subjekt mit den empirischen Projektionsformen aus dem Versuch über die Krankheiten des Kopfes und den Träumen eines Geistersehers, so läßt sich ein Schematismus erkennen, bei dem der 1. P r o j e k t i o n s t y p u s (der Verschiebung des Subjektiven auf Objektives) in einer Analogie steht mit der Verr ü c k u n g bzw. mit der Verschiebung des focus imaginarius in die Welt der Gegenstände; bei dem der 2. P r o j e k t i o n s t y p u s (der Verschiebung des Intelligiblen auf Sinnliches) in einer Analogie steht mit der S u b j e k t s p a l t u n g bzw. mit der Vertauschung der unbewußten Vorstellungen mit den bewußten; und bei dem schließlich der 3. P r o j e k t i o n s t y p u s (der Verschiebung der Prädikate auf ein grammatikalisches Subjekt) in einer Analogie steht mit der P a r a n o i a bzw. mit einem Marionettenspiel des Seins. Erstaunlich an diesem Schematismus ist, daß wir in De mundi auf Seiten der faulen Philosophie - zumindest formal betrachtet - die gleichen Erkenntnisfehler antreffen wie bei jenen Verkehrten des Narrenhospitals, die Kant sechs Jahre zuvor in seinem Versuch über die Krankheiten des Kopfes dargestellt hatte. So beruht die Projektion, d. h. die V e r r ü c k u n g d e r P h i l o s o p h i e darin, die subjektiven Bedingungen des Urteilens für objektive Urteilsbedingungen zu halten; so ist die Schizophrenie, d. h. der W a h n w i t z der P h i l o s o p h i e darin zu sehen, daß die Vernunft in einem Mischmasch von versinnlichtem Intelligiblen kakophonisiert wird; so beruht schließlich die Paranoia, d.h. der W a h n s i n n der P h i l o s o p h i e darin, durch logische Umkehrschlüsse die Subjekte zu Marionettenfiguren und die Prädikate zu homini maximi werden zu lassen. Wenngleich auch Kant bereits in De mundi in der S u b j e k t s p a l t u n g der P h i l o s o p h i e den eigentlichen metaphysischen Fehler der Erschleichung sieht, so bleibt doch hier dieser 2. Typus der am wenigsten ausgearbeitete; später, in der Kritik der reinen Vernunft, zumal in der Fassung Β von 1787, wird dieser 2. Typus - nämlich der P a r a l o g i s m u s - den größten Raum einnehmen. Vom 3. Typus, d.h. von der P a r a n o i a der P h i l o s o p h i e - welche später in der Kritik A n t i n o m i e genannt werden wird - hat Kant in De mundi bereits einen sehr ausgearbeiteten Begriff. Er weiß, worin der Fehler

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auf Seiten des Subjekts beruht: nämlich darin, vom Denken auf Erkenntnis zu schließen; dem Aberglauben aufzusitzen, daß Vorstellungen bereits Realität wären und daß wir dank unserer Omnipotenz des Denkens - jenem Wahn, den Freud A l l m a c h t d e r G e d a n k e n nannte - des Realen tatsächlich habhaft werden könnten. Er weiß, worin der Fehler auf seiten des Objekts besteht: nämlich in einer durch logische Umkehrschlüsse verursachten kausalen Überstrapazierung, die das Prädikat in eine Subjekt- und das Subjekt eine Prädikatposition verrückt. Schließlich nennt er in De mundi bereits die Gegenstände, die von diesem paranoiden Denken der Philosophie betroffen sind: nämlich die einfachen Substanzen, sprich Monaden (vgl. 2. Antinomie), sowie die Begrenzung von Zeit und Raum durch Anfang und Ende (vgl. 1. Antinomie). Die 3. Antinomie, die sich auf den Freiheitsbegriff und die 4. Antinomie, die sich auf den Gottesbegriff bezieht, werden in De mundi zwar noch nicht explizit genannt, aber durch die Dekonstruktion des Begriffs der Notwendigkeit schon angedeutet. Der Typus, dem sich Kant in De mundi am ausführlichsten zuwendet, ist zweifellos der 1., also die V e r r ü c k u n g d e r P h i l o s o p h i e , indem die obersten Lehrsätze der Metaphysik - d. h. die ontophänomenologischen Wesensbeschreibungen des Seins überhaupt - sich samt und sonders als wilde Projektionen herausstellten. Dabei hat Kant auch hier eine klare Vorstellung davon, welcher Fehler auf seiten des Subjekts begangen wird; nämlich der, die subjektiven Bedingungen des Urteils für objektiv zu halten. Auch der hieraus resultierende Fehler auf seiten des Objekts wird benannt; nämlich die Verwechslung von Noumena und Phaenomena, indem die Schranken, von denen die menschliche Erkenntniskraft umschlossen ist, mit jenen Grenzen verwechselt werden, die das Wesen der Dinge selbst umfassen. Schließlich werden hier auch die von dieser Verrückung der Philosophie betroffenen Gegenstände benannt: nämlich einerseits Zeit und Raum sowie andererseits unsere reinen Verstandesbegriffe, welche somit willkürlich auf das Sein projiziert werden.

14. Unió mystica Swedenborgs Gespenster, Leibniz' Monaden, Pythagoras' Zahlenmystik und Piatons Ideenlehre

Aus dem Dargelegten geht hervor, daß Kant mit seiner Inaugural-Dissertation von 1770 De mundi intelligibilis atque sensibilis forma et principiis jenes nochmals an den Träumen der Leibnizschen Metaphysik nachvollzieht, was er 1766 an den Träumen der Swedenborgschen Geisterseherei bereits vorgezeichnet hatte. Dabei werden gewissermaßen Perpendikellinien vom zweiten zum ersten gezogen. So wie Swedenborg p n e u m a t o l o g i s c h i n s G e i s t e r r e i c h p r o j i z i e r t , so p r o j i z i e r t L e i b n i z o n t o p h ä n o m e n o l o g i s c h i n s S e i n . Somit scheint sich nach Prüfung des Gegenstandes zu bestätigen, was Kant bereits im vierten Satz seiner Träume eines Geistersehers vermutet: daß nämlich die Grundrisse der Geisterseherei von Philosophen gezeichnet wurden. Und in der Tat, vergleicht man Swedenborgs Arcana Coelestia (1747-1758) mit Leibniz' Nouveaux essais sur l'entendement humain (1765), so wird man nicht nur zu dem Schluß kommen müssen, daß Leibniz' Weltvorstellung mindestens so phantastisch und verrückt wie die Swedenborgsche ist, sondern man wird sich auch darüber wundern müssen, daß der Seher und Leibniz nahezu dasselbe neuplatonische System verwenden. So wird man schließlich in dem Zufall, daß Kant diese beiden Werke zeitgleich las, eine der aufklärendsten Sternstunden der Philosophiegeschichte sehen müssen: Wäre dem nicht so gewesen und hätten die empirischen Projektionen der Geisterseher Kant nicht zu den rationalen Projektionen der Philosophie geführt, wäre es mit Sicherheit zu einer anderen Geburtsstunde nie gekommen: nämlich zu der einer Kritik der reinen Vernunft. Fragen wir uns, was einen der bedeutendsten Mathematiker überhaupt, nämlich Leibniz, dazu veranlaßt haben könnte, sich ebensolchen mystischen Spekulationen hinzugeben wie der Geisterseher Swedenborg (welcher vor dem Ausbruch seiner Krankheit Naturwissenschaftler, nämlich ein sehr erfolgreicher Geologe gewesen war); oder aber fragen wir uns umgekehrt, woher der immer wieder festzustellende religionssoziologische Befund rührt, demzufolge gerade Mathematiker und Naturwissenschaftler in den gnostischen, neuplatonischen und theosophischen Glaubensgemeinschaften unverhältnismäßig stark vertreten sind (wohl in der Hoffnung, ihr wertfreies naturwissenschaftliches Denken mit einer weltanschaulichen Sinnstiftung überbauen zu können), so finden wir auch zu diesem bemerkenswerten Phänomen eine

14. UNIO MYSTICA

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scharfsinnige Überlegung Kants; eine Reflexion, die er gut 30 Jahre nach den Träumen in seinem Neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (1796) illustriert - allerdings nicht anhand von Swedenborg und Leibniz, sondern anhand von Pythagoras und Piaton. Pythagoras von Samos soll bekanntlich (um 600 v. Chr.) jenen mathematischen Lehrsatz entdeckt haben, demzufolge in einem rechtwinkligen Dreieck die Summe der Flächen der Quadrate über den Katheten den Flächeninhalt des Quadrats über der Hypotenuse, ergo a2 + b2 = c2 ergibt. Das Erstaunliche an dieser Entdeckung war, daß sich dieses Proportionsverhältnis in sämtlichen rechtwinkligen Dreiecken der analytischen Geometrie wiederfindet. Darüber hinaus entdeckte Pythagoras unzählige andere Proportionsverhältnisse, die er jedoch nicht nur in der Geometrie, sondern auch in den rationalen Zahlenverhältnissen der Arithmetik, in den - mathematisch zählbaren, d. h. rationalen - Akkord- und Harmonieverhältnissen der Musik sowie nicht zuletzt selbst in der sogenannten ,Harmonie der Sphären' der Astronomie wiederfand. Da nun Pythagoras überall in der Natur seine Proportionsgesetze am Werk sah, kam er zu dem Schluß, Gott müsse Mathematiker gewesen sein, was ihn wiederum dazu veranlaßte, seine moralischen, ethischen und politischen Lehren auf eben diesen Grundsatz - die Harmonielehre nach Proportionen - zu stützen. Nach dem, was wir über die Projektionsmechanismen in logischen Urteilen erfahren haben, wissen wir jedoch, daß das, was Pythagoras im S e i n (als dessen Prädikat) entdeckt zu haben meinte, nicht diesem Sein selbst, sondern seiner eigenen Vernunftbrille zuzuschreiben ist: einem mathematischen Prädikat der Vernunft (P vom S), welches - von unserer Vernunft in die Welt der Gegenstände projiziert - auf den besagten Objekten nur virtuell erscheint (als P' von O). Neu ist hieran allerdings, daß in diesem Falle nicht irgendwelche Chimären projiziert werden, sondern daß es sich bei dem hier Projizierten um Rationalität schlechthin - eben um die r a t i o n a l e n Z a h l e n v e r h ä l t n i s s e - handelt. Gerade aber weil es sich hier nicht um zweifelhafte Chimären handelt (bei deren Anblick man letztendlich dann eben doch seinen eigenen Augen nicht traut), sondern weil die Vernunft - da, wo sie sich einem (anscheinend: an und für sich) vernünftig geordneten Sein gegenübergestellt sieht - sich in ihrem eigenen Spiegel (der vernünftig beleuchteten Gegenstände) betrachtet, ist hierüber das Erstaunen so groß. Dieses narzißtische Erstaunen der Vernunft, sich selbst allerorts im Sein wiederzufinden, verleitet nicht selten auch gerade Naturwissenschaftler dazu, sich pantheistischen oder theosophischen, neuplatonischen oder kabbalistischen Ganzheitsphilosophien anzuschließen: um diesem Mysterium (nach welchem die Vernunft in der Welt erscheint) wenigstens ein Objekt (d. h. eine Substanz oder einen Grund im Sein) zu geben. Diesbezüglich führt Kant in seinem Neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie aus: „Wir müssen aber auch nicht den P y t h a g o r a s vergessen, von dem uns nun freilich zu wenig bekannt ist, um über das metaphysische Prinzip seiner Philosophie etwas Sicheres auszumachen. Wie bei

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DRITTER TEIL: DIE ANWENDUNG DER PSYCHOLOGIE AUF DIE LOGIK

Plato die Wunder der G e s t a l t e n (der Geometrie), so erweckten bei Pythagoras die Wunder der Z a h l e n (der Arithmetik), d.i. der Anschein einer gewissen Zweckmäßigkeit und eine in der Beschaffenheit derselben gleichsam absichtlich gelegte Tauglichkeit zur Auflösung mancher Vernunftaufgaben der Mathematik [...], die Aufmerksamkeit, als auf eine Art der M a g i e , lediglich um sich die Möglichkeit, nicht bloß der Erweiterung unserer Größenbegriffe überhaupt, sondern auch der besonderen und gleichsam geheimnisreichen Eigenschaften derselben begreiflich zu machen. - Die Geschichte sagt, daß ihn die Entdeckung des Zahlenverhältnisses unter den Tönen, und des Gesetzes, nach welchem sie allein eine Musik ausmachen, auf den Gedanken gebracht habe: daß, weil in diesem Spiel der Empfindungen die Mathematik (als Zahlenwissenschaft) eben sowohl das Prinzip der Form derselben (und zwar, wie es scheint, a priori, seiner Notwendigkeit wegen) enthält, uns eine, wenn gleich nur dunkle, Anschauung einer Natur, die durch einen über sie herrschenden Verstand nach Zahlengleichungen geordnet worden, beiwohne; welche Idee dann, auf die Himmelskörper angewandt, auch die Lehre von der Harmonie der Sphären hervorbrachte. Nun ist nichts belebender als die Musik; das belebende Prinzip im Menschen aber ist die S e e 1 e ; und da Musik, nach Pythagoras, bloß auf wahrgenommenen Zahlenverhältnissen beruht, und (welches wohl zu merken) jenes belebende Prinzip im Menschen, die Seele, zugleich ein freies sich selbst bestimmendes Wesen ist: so läßt sich seine Definition derselben: anima est numerus se ipsum movens [die Seele ist Zahl, wenn sie sich selbst bewegt - C. R.] vielleicht verständlich machen und einigermaßen rechtfertigen; wenn [und nur wenn - C. R.] man annimmt, daß er durch dieses Vermögen, sich selbst zu bewegen, ihren Unterschied von der Materie, als die an sich leblos und nur durch etwas Äußeres bewegbar ist, mithin die F r e i h e i t , habe anzeigen wollen" (VT VI 380f A 393ff, letzte Herv. C. R.). Was Kant der ,,Pythagorische[n] Mystik der Zahlen" (MS VI 402 A 370) also vorhält, das ist - formal gesprochen - die Verwechslung der ,Dinge für uns' mit den ,Dingen an sich'; jene A m p h i b o l i e also, die Pythagoras dazu verleitete, die unserer Vernunft eigene Kategorie der Zählbarkeit den gezählten Gegenständen zuzuschreiben, was - inhaltlich gesprochen - wiederum zur Folge hatte, insgeheim ein neuplatonisches Symbiosesystem von Mitteldingen zwischen Materie und Intelligiblem (wie z. B. eine Zahlenseele, a n i m a n u m e r i ) anzunehmen; ein mathematisches Marionettenspiel des Seins, aus dem dann gerade das, was die Seele an der Musik hätte erfreuen können, nämlich die F r e i h e i t , beseitigt worden wäre. So besteht der Skandal an Pythagoras' m u n d u s n u m e r u s darin, daß hier eine der bedeutendsten Entdeckungen der Ratio Anlaß zu jener irrationalen Spekulation gab, dem Sein eine Art mathematische Magie unterzuschieben, um sich so die Welt - und in deren Folge auch: Moral, Ethos und Politik - als von mathematischen Geistern beherrscht vorzustellen. So wie einerseits Pythagoras - auf Seiten des Objekts - dem Trugschluß verfiel, unsere Vernunftbegriffe im Gegenständlichen zu substantialisieren (und

1 4 . U N I O MYSTICA

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sich somit genötigt sah, das Sein selbst in ein Bewegtes und ein Bewegendes anima numeri - zu spalten), ebenso unterlag andererseits Piaton - auf Seiten des Subjekts - dem Trugschluß, unsere Anschauungen in einem (wenngleich abgespaltenen) Subjekt substantialisieren zu wollen (was ihn hernach ebenso dazu nötigte, wenn auch nicht den Gegenstand der Erkenntnis, so doch das erkennende Subjekt in sich zu spalten). Also fuhrt Kant aus: „ P l a t o , eben so gut Mathematiker wie Philosoph, bewunderte an den Eigenschaften gewisser geometrischer Figuren, z. B. des Zirkels, eine Art von Z w e c k m ä ß i g k e i t , d. i. Tauglichkeit zur Auflösung einer Mannigfaltigkeit von Problemen [...] aus einem Prinzip, gleich als ob die Erfordernisse zur Konstruktion gewisser Größenbegriffe a b s i c h t l i c h in sie gelegt seien, obgleich sie, als notwendig, a priori eingesehen und bewiesen werden können. Zweckmäßigkeit ist aber nur durch Beziehung des Gegenstandes auf einen Verstand, als Ursache, denkbar [d. h. in der Natur an und fur sich gibt es keine Zweckmäßigkeit - C. R.]. Da wir nun mit unserm Verstände, als einem Erkenntnisvermögen d u r c h B e g r i f f e , das Erkenntnis nicht über unsero Begriff a priori erweitern können (welches doch in der Mathematik wirklich geschieht): so mußte Plato Anschauungen a priori für uns Menschen annehmen, welche aber nicht in unserm Verstände ihren ersten Ursprung hätten (denn unser Verstand ist nicht ein Anschauungs-, nur ein diskursives, oder Denkungsvermögen), sondern in einem solchen, der zugleich der Urgrund aller Dinge wäre, d. i. dem Göttlichen Verstände, welche Anschauungen d i r e k t dann Urbilder (Ideen) genannt zu werden verdienten. Unsere Anschauung aber dieser göttlichen Ideen (denn eine Anschauung a priori mußten wir doch haben, wenn wir uns das Vermögen synthetischer Sätze a priori in der reinen Mathematik begreiflich machen wollten) sei uns nur i n d i r e k t , als der Nachbilder (ectypa), gleichsam der Schattenbilder aller Dinge, die wir a priori synthetisch erkennen, mit unserer Geburt, die aber zugleich eine Verdunklung dieser Ideen, durch Vergessenheit ihres Ursprungs, bei sich geführt habe, zu Teil geworden: als eine Folge davon, daß unser Geist (nun Seele genannt) in einen Körper gestoßen worden, von dessen Fesseln sich allmählich loszumachen jetzt das edle Geschäft der Philosophie sein müsse." (VT VI 379f A 391f) Doch „Plato", so führt Kant in der sich hieran anschließenden Fußnote weiter aus (VT VI 380 A 393 Fn.), „verfahrt mit allen diesen Schlüssen wenigstens konsequent. [...]. Hätte er damals auf das raten können, [...]: daß es allerdings A n s c h a u u n g e n a priori, aber nicht des menschlichen Verstandes, sondern s i n n l i c h e (unter dem Namen des Raumes und der Zeit) gebe, daß daher alle Gegenstände der Sinne von uns bloß als Erscheinungen, und selbst ihre Formen, die wir in der Mathematik a priori bestimmen können, nicht die der Dinge an sich selbst, sondern (subjektive) unserer Sinnlichkeit sind, die also für alle Gegenstände möglicher Erfahrung, aber auch nicht einen Schritt weiter, gelten: so würde er die reinen Anschauungen (deren er bedurfte, um sich das synthetische Erkenntnis a priori begreiflich zu machen) nicht im göttlichen Verstände und dessen Urbildern

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DRITTER TEIL: DIE ANWENDUNG DER PSYCHOLOGIE AUF DIE LOGIK

aller Wesen, als selbständiger Objekte, gesucht und so zur Schwärmerei die Fackel angesteckt haben". Also war „Plato der A k a d e m i k e r , obzwar ohne seine Schuld (denn er gebrauchte seine intellektuellen Anschauungen nur rückwärts, zum E r k l ä r e n der Möglichkeit eines synthetischen Erkenntnisses a priori, nicht vorwärts, um es durch jene im göttlichen Verstände lesbare Ideen zu e r w e i t e r n ) , der Vater aller Schwärmerei m i t d e r P h i l o s o p h i e " (VT VI 387 A 407f).

Anhang

Exkurse

1. Zum Sprachgebrauch von Widersprüchen und Gegensätzen (S. 120) Seit der Hegeischen Dialektik hat sich hier, bis hin zum Sprachgebrauch, doch einige Verwirrung eingeschlichen. So heißt es heute ζ. B. umgangssprachlich, Feuer und Wasser würden sich widersprechen. Ein solcher Satz ist freilich ein Unsinn, weil Feuer und Wasser gar nicht sprechen können. Ebenso unsinnig ist es, in diesem Zusammenhang von einem Gegensatz zu sprechen: weil (wie gehabt) Feuer und Wasser auch nicht schreiben können. Richtig müßte es heißen, daß Feuer und Wasser sich in Opposition zueinander befinden. Diese Differenzierung zeugt keineswegs von einer Pedanterie im Sprachgebrauch, sondern von einer Unterscheidung in der Sache: in den Kausalbeziehungen der gegenständlichen Welt kann es weder Widersprüche noch Gegensätze (d. h. logische Repugnanzen), sondern allenfalls Oppositionen (d. h. Realrepugnanzen) geben. Für den Sprachgebrauch ergibt sich hieraus, daß Widersprüche und Gegensätze ausschließlich nur im Denken, d. h. in logischen Konstruktionen, nicht aber realiter möglich sind.

2. Zur Aufhebung (S. 121) Wobei Kant hier den durch das Zusammenwirken von Feuer und Wasser verursachten Rauch nicht, wie Hegel dies verstanden haben würde, als eine Aufhebung (des Feuers und Wassers im Rauch), sondern nur als eine Ausgleichswirkung begreift, die folgerichtig eine gewisse Zeit nach der erfolgten Wechselwirkung sich wieder einstellt. Das Resultat einer derartigen Wechselwirkung betrachtet Kant in jedem Fall als: Zero = 0. Ferner, „durch Hinzukunft einer bloßen Bejahung (Realität) zur andern, wird ja das Positive vermehrt, und ihm nichts entzogen, oder aufgehoben; daher kann das Reale in Dingen überhaupt einander nicht widerstreiten, u.s.w." (KrV III 299 Β 336 A 280).

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ANHANG

3. Kants Onomastik und die Kriterien der heutigen Nosographie (S. 134) Wir stoßen bereits hier auf ein Problem, welches im folgenden auch Kants zentrales Problem sein wird: nämlich das der Definitionsmacht bzw. der Definitionsgewalt bezüglich der psychischen Störungen. Wer hat hier das Recht, wen, nach welcher Definition für psychisch krank zu erklären? Dieses Problem läßt sich allerdings nicht durch einen Verzicht auf die Definition wegdenken. Gäbe es nämlich keine objektiven Kriterien für die Definition von psychischen Störungen, so könnte gerade ein jeder einen jeden nach Belieben für psychisch krank erklären (so ζ. B. ein totalitärer Staat seine Dissidenten etc.). Offenbar um gerade dem entgegenzuwirken, ist von der Weltgesundheitsorganisation ein international objektiv gültiger Diagnoseschlüssel erstellt worden (vgl. Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD -101999). Mit diesem Schlüssel ergeben sich jedoch drei neue Probleme. Erstens: daß durch die Definitionsgewalt auch das Definierte bestimmt wird. Definiert man ζ. Β. ,Schizophrenie' kriterienbezogen oder klinisch orientiert, so ergibt sich hieraus ein unterschiedlicher Personenkreis von Kranken. Zweitens: daß die psychologischen Schulen sich in ihren Beschreibungen, Theorien und Bewertungen sowie schließlich auch in ihren Definitionen nicht immer einig sind, was bedeutet, daß der Personenkreis von Kranken hier von den Schulstreitigkeiten abhängig gemacht wird. Drittens: daß, selbst wenn man eine als objektiv betrachtete Definition hat, diese in Ausnahmefallen - insbesondere bei kulturellen Differenzen - auch unzutreffend sein kann (so trifft die Diagnose , Schizophrenie' nicht notwendig auf Personen aus Gesellschaften zu, in denen aus kulturbedingten Gründen mit Geistern und ähnlichem umgegangen wird). Unter Berücksichtigung dieser vier Probleme ist also ein internationaler Diagnoseschlüssel erstellt worden, der sich in 10 Typen teilt, welche (in fast unendlichen Kombinationen) sich in Subtypen untergliedern. Wir geben hier nur die Typen wieder und beziehen diese, en gros, auf Kants Nosographie. „F0 Organische, einschließlich symptomatischer Störungen [Kant: Blödsinnigkeit etc.]; Fl Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen [Kant: Drogen etc.]; F2 Schizophrene, schizotype und wahnhafte Störungen [Kant: Nosographie der Verkehrtheit: Verrückung, Wahnwitz, Wahnsinn]; F3 Affektive Störungen [Kant: Manie und Depression]; F4 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen [Kant: Narren und Toren]; F5 Verhaltensauffalligkeiten mit körperlichen Störungen [Kant: -]; F6 Persönlichkeitsund Verhaltensstörungen [Kant: -]; F7 Intelligenzminderung [Kant: Imbesilität etc.]; F8 Entwicklungsstörungen [Kant: -]; F9 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn der Kindheit und Jugend [Kant: -]; FIO Nicht näher bezeichnete psychische Störungen [Kant: -]. (Vgl. Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD -10 Kapitel V (F) - 1999)

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4. Kants medizinische Quellen (S. 134) Nun nennt Kant beiläufig, wenn auch sicherlich nicht sämtliche, so doch einen Teil der von ihm verwendeten medizinischen Fachliteratur. So beruft er sich in den Krankheiten (KdK II 900 A 30) gerade auch für das, was seine Nosographie anbelangt, auf „die beliebte Wochenschrift, die unter dem Namen des Arztes allgemein bekannt ist", darin auf die Stücke 150, 151 sowie 152. [Gemeint ist: Der Arzt. Eine medizinische Wochenschrift, hrsg. v. Johann August Unzer, Bd. 2-4, Hamburg, Lüneburg und Leipzig 1769 - Neudruck der Ausgabe von 1759-1964]. Ferner verweist Kant in den Träumen (Τ II 939 A 35) auf die führenden Ärzte seiner Zeit, so auf „Stahl, [...] Hofmann, [...] Boerhaave". Gemeint sind: Georg Ernst Stahl (1660-1734), seit 1715 Leiter des Collegium Medicum sowie Leibarzt des Hofes zu Berlin [vgl. G. E. Stahl, Gründlicher Bericht Von seinen Balsamischen Blut-reinigungen und confortierenden Pillen, Wie auch Auf sonderbares Verlangen, Von des rothen FußMagen- und Stein-Pulvers, zuverläßiger sonderbaren Würkung und rechtem Gebrauch. 2. Aufl. Berlin 1734]; ferner der berühmte Leidener Arzt Hermann Boerhaave (1668- 1738) [vgl. H. Boerhaave, Kurtze Lehr-Sätze von Erkennung und Heilung der Krankheiten nebst dessen Buch von denen Artzeney-Mitteln welche einer jeden Krankheit mitbeygefuget sind. Aus dem Lateinischen mit Anmerkungen, Berlin 1763; sowie derselbe: Wichtige Abhandlung vom Krebs und Kranckheiten der Knochen aufs neue übersetzt und mit vielen Anmerckungen versehen, 1765]. Mit „Hofmann" ist offenbar Friedrich Hoffmann gemeint, ein bekannter Medizinprofessor aus Halle, dem Kant sehr wahrscheinlich seine Hypochondertheorie verdankt [vgl. F. Hoffmann: Gründliche Abhandlung Wie ein Mensch Vor dem Frühzeitigen Tod und allerhand Arten Krankheiten Durch ordentliche Lebens-Art sich bewahren könne, Halle 1715]. Des weiteren beruft sich Kant in der Anthropologie (XII 482 BA 88) auf den Arzt [Carl Friedrich?] Michaelis, welcher allerdings in der Medizingeschichte verschollen zu sein scheint. Ferner weist Κ. P. Kisker (1957 19 Fn.) daraufhin, daß Kant die Gedanken J. Browns und W. Cullens kannte und diskutierte sowie J. Jonstones Theorie der Nerventätigkeit rühmte. Ob Kant die Königsberger Irrenanstalt in Löbenicht kannte, bleibt ungewiß, da diese 1764, d. h. just zur Zeit von Kants psychiatrischen Recherchen, niederbrannte; er war jedoch an deren Wiederaufbau, welcher erst 1790 fertiggestellt wurde, sehr interessiert (vgl. F. Meyer 1924). Die Ausführungen zu Christoph Wilhelm Hufeland im Streit der philosophischen Fakultät mit der medizinischen (Fak. XI 373 A 169 sowie 375 A 172) sowie die Rezension zu Samuel Thomas Sömmerings: Über das Organ der Seele (1795) kommen für uns hier nicht mehr in Betracht, da sie zu späten Datums sind - sie zeigen jedoch, daß Kant an den medizinischen Befunden bezüglich der Rationalität auch späterhin interessiert bleibt.

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5. Kants Hypochondrie (S. 139) Diese Beschreibung kann als eine Selbstironie Kants angesehen werden. Denn Kant verstand sich, wie man weiß, selbst als Hypochonder. So gesteht er auch in einer kleinen Schrift ( Von der Macht des Gemüts, durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefiihle Meister zu sein (1788) - einem Text, den er dann später als dritten Teil (Der Streit der philosophischen Fakultät mit der medizinischen) in den Streit der Fakultäten (1798) einbaute) dieses Leiden ein. „Ich habe wegen meiner flachen und engen Brust, die für die Bewegung des Herzens und der Lunge wenig Spielraum läßt, eine natürliche Anlage zur Hypochondrie, welche in früheren Jahren bis an den Überdruß des Lebens grenzte. Aber die Überlegung, daß die Ursache dieser Herzbeklemmung vielleicht bloß mechanisch und nicht zu heben sei, brachte es bald dahin, daß ich mich an sie gar nicht kehrte, und während dessen, daß ich mich in der Brust beklommen fühlte, im Kopf doch Ruhe und Heiterkeit herrschte, die sich auch in der Gesellschaft, nicht nach abwechselnden Launen (wie Hypochondrische pflegen), sondern absichtlich und natürlich mitzuteilen nicht ermangelte. Und da man des Lebens mehr froh wird durch das, was man im freien Gebrauch desselben tut, als was man genießt, so können Geistesarbeiten eine andere Art von befördertem Lebensgefuhl den Hemmungen entgegen setzen, welche bloß den Körper angehen. Die Beklemmung ist mir geblieben; denn ihre Ursache liegt in meinem körperlichen Bau. Aber über den Einfluß auf meine Gedanken und Handlungen bin ich Meister geworden, durch Abkehrung der Aufmerksamkeit von diesem Gefühle, als ob es mich gar nicht anginge." (Fak. XI 379f A 180)

6. Kant und das Opium (S. 141) Thomas De Quincey, bekannt durch seine Bekenntnisse eines englischen Opiumessers (1822), war hier anderer Meinung. In seiner Erzählung Die letzten Tage des Immanuel Kant - einem imaginären Bericht über die letzten Jahre Kants, den er vor allem auf die Aufzeichnungen von Kants letztem Diener, also auf Wasianskis Notizen stützte - wollte De Quincey Kant das Opium auch noch post mortem verschreiben: „Für Kants besonderes Leiden [nämlich ein Magenleiden, welches zu Alpträumen und Wahnvorstellungen in Kants letzten drei Lebensjahren geführt haben soll - C. R.], wie es von anderen Biographen beschrieben wird, wäre ein Viertel Gramm Opium alle acht Stunden das beste, vielleicht ein vollkommenes Heilmittel gewesen." (De Quincey 1862 86) 7. Konvulsive Ansteckungsgefahren (S. 142) „Der Anblick eines Menschen in konvulsivischen, oder gar epileptischen Zufällen reizt zu ähnlichen krampfhaften Bewegungen; so wie das Gähnen anderer, um mit ihnen zu gähnen, und der Arzt, Hr. Michaelis, führt an: daß als

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bei der Armee in Nordamerika ein Mann in heftige Raserei geriet, zwei oder drei beistehende durch den Anblick desselben plötzlich auch darein versetzt wurden, wiewohl dieser Vorfall nur vorübergehend war; daher es Nervenkranken (Hypochondrischen) nicht zu raten ist, aus Neugierde Tollhäuser zu besuchen." (Anthr. XII482 BA 88) 8. Wachen und Schlafen (S. 142) Das Kantische Kopfzitat entstammt, soweit wir sehen konnten, nicht Aristoteles, sondern dem 89. Fragment des Heraklit, in dem es heißt: „[Heraklit sagt, daß] die Wachenden ein und dieselbe gemeinsame Welt haben, während sich von den Schlafenden ein jeder zu seiner eigenen abwendet" (W. Capelle, Hrsg. 1968 132).

9. Der Mond als Projektionsfläche (S. 145) In der Anthropologie (XII 482 BA 87) verrät uns Kant auch die Quelle dieser schönen Geschichte: „Nach Helvetius sah eine Dame durch ein Teleskop im Monde die Schatten zweier Verliebten; der Pfarrer, der nachher dadurch beobachtete, sagte: „nicht doch, Madam; es sind zwei Glockentürme an einer Hauptkirche."

10. Die Hybris des Wahns (S. 146) Daß die größten Güter aus einem Wahnsinn hervorgehen (Phaidros, 244 a), der den Wahnsinnigen - hier den Tyrannen - in den Glauben versetzt, noch über den Göttern zu stehen {Der Staat, 573 c), ist seit Piaton fast ein Gemeinplatz. 11. Analytische Urteile (Begriffsklärung) (S. 148) „Ein großer Teil, und vielleicht der größte, von dem Geschäfte unserer Vernunft besteht in Zergliederung der Begriffe, die wir schon von Gegenständen haben [d. h. aus analytischen Urteilen a priori - C. R.]. Diese liefert uns eine Menge von Erkenntnissen, die ob sie gleich nichts weiter als Aufklärung oder Erläuterungen desjenigen sind, was in unsem Begriffen [...] [wie im Kreis das Rundsein - C. R.] schon gedacht worden, doch wenigstens der Form nach neuen Einsichten gleich geschätzt werden, wiewohl sie der Materie, oder dem Inhalte nach die Begriffe, die wir haben, nicht erweitern, sondern nur aus einander setzen [d. h. uns keine Erkenntnis im strengen Sinne, als synthetische Urteile a priori, vermitteln können - C. R.]." (KrV III 51 A 6 Β 9)

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12. Kant und der König (S. 149) Nachdem Kant, auf eine philosophische Professur abzielend, die ihm angetragene Professur für ,Poesis und Beredsamkeit' dankend abgelehnt und seinen Freund Lindner aus Riga weiterempfohlen hatte (welcher die Professur dann auch erhielt), erging am 24. Oktober 1764 ein Spezialbescheid von Berlin nach Königsberg, in dem es hieß, daß man „dessen ungeachtet nicht weniger gnädig entschlossen sei, den M. Immanuel Kant zum Nutzen und Aufnehmen der dortigen Akademie bei einer anderweitigen Gelegenheit zu piazieren ...", woraufhin die Preußische Regierung in Königsberg am 15. November die Weisung an den Senat der Universität weitergab, daß „der sehr geschickte und mit allgemeinem Beifall auf der hiesigen Akademie dozierende Mag. Kant bei erster Gelegenheit befördert werden sollte" - welche Gelegenheit sich dann jedoch erst sechs Jahre später, 1770, ergeben sollte. (Vgl. K. Vorländer 1924 175ff). - Die persönliche Aufmerksamkeit des preußischen Königs mußte Kant mit den Träumen auf sich ziehen, weil die Geschichten von Swedenborg, wahrscheinlich zuerst in Berlin, erst später wohl auch in Königsberg, offenbar vor allem deshalb - insbesondere in adligen Kreisen - durch Preußen zogen, weil die Schwester Friedrichs II., die Königin von Schweden, Louise Ulrike, ihre eigene Geschichte mit Swedenborg hatte.

13. Cant-style (S. 150) In seinem Schreiben an Christian Jacob Krauss vom 18. Dezember 1784 bezeichnet Hamann den „Kantischen Styl" als „cant-style". „Carl Friedrich Flögel charakterisiert in Bd. 1 seiner Geschichte der komischen Literatur (1784) den ,cant-style' folgendermaßen: ,Die niedrige Sprache (die man in England bisweilen the cant-style nennt) war am Ende des letzten Jahrhunderts in England herrschend und wurde von den Hofleuten Karl II. eingeführt, die um ihre Verachtung der Feierlichkeit, wodurch sich das verhergehende Zeitalter ausgezeichnet hatte, zu erkennen zu geben, in das entgegengesetzte Extrem verfielen und Ausgelassenheit der Sitten und Gespräche wie eine ungebundne ungrammatikalische Gemeinheit des Ausdrucks affektierten. [...] Richard Steele sagt, daß man diesen Kantischen Style von einem gewissen Andreas Cant herleiten wollte, der in einem ungelehrten Teile von Schottland ein presbyterischer Kirchendiener gewesen, auf der Kanzel in einer solchen Mundart zu reden, daß er nur allein von seiner eigenen Gemeinde und nicht einmal von allen in derselben verstanden wurde". In: E. Bahr, Hrsg. 1974 - Hamanns Brief, S. 18; der Kommentar hierzu: S. 60f.

14. Emanuel - Immanuel (S. 152) Kant erwähnt Swedenborgs Vornamen - Zeit seines Lebens - nicht ein einziges Mal! Allerdings hat Kant erhebliche Schwierigkeiten mit Swedenborgs

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Nachnamen, indem er diesem generell seinen Adelstitel wegstreicht, den Namen eindeutscht und mit einem bürgerlichen „Herr" versieht. Das ganze ergibt dann etwa einen Satz wie den folgenden: „Es lebt zu Stockholm ein gewisser Herr Schwedenberg, ohne Amt und Bedienung, von seinem ziemlich anschlichen Vermögen." (Τ II 966 A 85) - Ein Satz, der bei den Swedenborgianern - wie man sich denken kann - für entsprechende Empörung gesorgt hat.

15. Josephs Traumdeutung (1. Mose 41) (S. 152) Einem Anonymus ist bereits schon diese Schwierigkeit im Titel aufgefallen. Er schreibt: „Die angeblichen Träume Swedenborg's sollen also durch andere Träume erläutert werden! Welcher Mensch kan sich wol im Scherz oder Ernst, wirklich oder scheinbar, vorstellen, daß ein Traum den andern erläutern könne? Traum ist - Traum. Und wenn ihr zehnmal träumet, wachend oder schlafend, so kan und wird euer zehnter Traum den ersten nicht im mindesten erläutern, so wenig als jenes ägyptischen Pharao's Traum vom zweiten erläutert wurde, sondern der letztere Traum wird euch vielmehr, betreffend den ersten, in grössere Betrüglichkeiten, Täuschungen oder Zweifelswogen hineinführen. Und so dann sinds Träume der Metaphysik, die diese Erläuterungen bewerkstelligen sollen. Wenn ich mir nicht völlig bewußt wäre, daß ich, indem ich dies schreibe, im wachenden Zustande bin, so glaube ich fast, daß ich selbst träumte, indem ich mir erläuternde Träume der Metaphysik vorstelle." - Anonymus ,Ob es wohl schon ausgemacht sei, daß Swedenborg zu den Schwärmern gehöre', bey Gottlieb Löwe 1786, (in: Τ R.M. 146). Um nun die Traumdeutung, in einer Schrift über Träume, nicht ganz zu vernachlässigen, sei auf die berühmte Geschichte von Josephs Traumdeutung (1. Mose 41,1-32) hingewiesen. Hier irrt allerdings jener Anonymus, was das Verständnis , jenes ägyptischen Pharao's Traum" anbelangt, nicht weniger, als er auch in seinem allgemeinen Traumverständnis irrt. Denn der erste Traum des Pharao, wonach die sieben mageren Kühe die sieben fetten auffraßen, hätte ohne den zweiten Traum, wonach die sieben mageren Ähren die sieben guten Ähren verschlangen, von Joseph gar nicht gedeutet werden können, wenn nicht beide Träume auf ein und derselben Wiederholungsstruktur basiert hätten. Nur aufgrund eben dieser Wiederholungsstruktur konnte Joseph von beiden Träumen behaupten: „der Traum des Pharao ist ein und derselbe" (41,25). Denn ohne die Strukturparallelität zwischen der ersten Traumsequenz (Kühe) und der zweiten Traumsequenz (Ähren) wäre gar nicht deutlich geworden, daß es in diesem Traum weder um die ,Kühe' als solche noch um die ,Ähren' als solche, sondern um das gemeinsame Dritte zwischen ,Kühen' und ,Ähren', nämlich um die Zahl .sieben' sowie um den Vorgang des .Verzehrens' geht. Auch hätte sich Joseph ohne diese Wiederholungsstruktur nicht verdeutlichen können, auf was sich die Metapher ,Kühe' und ,Ähren' inhaltlich beziehen könnte; nämlich auf die - hier nur verschobene - inhaltliche

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Gemeinsamkeit zwischen beiden, welche die Ernährung des ägyptischen Volkes betrifft. Schließlich wäre ohne diese Wiederholungsstruktur auch die letztendliche Gesamtdeutung dieses Traums gar nicht möglich gewesen; jene Deutung, wonach: 1. sieben Kühe verdoppelt durch sieben Ähren = sieben Jahre ergeben und 2. das Verzehren der Fetten / Schönen (Kühe / Ähren) durch die Mageren / Häßlichen (Kühe / Ähren) gleichbedeutend ist mit = .sieben fetten Jahren, die von sieben mageren verzehrt werden', sowie die Deutung insgesamt, derzufolge 3. „Die sieben mageren und häßlichen Kühe, die nachher heraufkamen, die sieben Jahre [sind], und die sieben leeren, vom Ostwind ausgedörrten Ähren sieben Jahre Hungersnot [sind]" (41,27). Somit hätte ohne diese Verdoppelungsstruktur auch der Pharao die hieraus zu ziehende praktische Konsequenz („Das Brotgetreide soll dem Land als Rücklage dienen für die sieben Jahre der Hungersnot" - 41,36) gar nicht beschließen können. Nicht zuletzt deutet Joseph - quasi als Metatheorie seiner eigenen Traumdeutungstheorie - ja auch noch eben diese Wiederholungsstruktur selbst, indem er behauptet, daß durch sie hindurch Gott sich dahingehend äußere, daß diese Zukunftsprophezeiung durch den Traum mit Sicherheit eintreten werde. Hier ist also die Wiederholungsstruktur der Garant selbst für den prognostischen Charakter eines Traums. Nicht zufälligerweise setzt sich sowohl die Erzählstruktur als auch die ganze Rahmenhandlung dieser Geschichte aus nichts anderem als aus Parallelkonstruktionen und Wiederholungsstrukturen zusammen: So muß ζ. B. der Pharao seine beiden Träume zweimal erzählen: das erste Mal „allen Wahrsagern und Weisen Ägyptens" (41,8), welche ratlos sind, das zweite Mal eben dem hebräischen Gefangnissklaven Joseph. Und so geht es dann auch weiter im Text: Hätte Joseph nicht die Träume der beiden - unter Pharaonenmordverdacht stehenden - inhaftierten obersten Hofbeamten, d. h. den Traum des obersten Mundschenks sowie den Traum des obersten Bäckers, im Gefängnis bereits schon zuvor gedeutet, hätte er auch nicht den Traum des Pharaos entziffern können, waren doch schon in jenen beiden anderen Träumen „Die drei Ranke drei Tage" (40,12) und „Die drei Körbe drei Tage" (40,18), wiewohl sich auch diese beiden Träume auf die Ernährung, in diesem Fall nicht des Volkes, sondern der Person des Pharao selbst bezogen. Daß aber Joseph den wahren Täter, der den Pharao ermorden wollte, aufgrund von dessen Traumbericht zu identifizieren vermochte, lag daran, daß in des Obermundschenks Traumbericht die Speiseübergabe an den Pharao genannt wurde (40,11), während eben diese Speiseübergabe in des Oberbäckers Traumbericht ausdrücklich verschwiegen, verleugnet oder verneint wird (40,17) - eine Abweichung von der Parallelkonstruktion, die den Oberbäcker gerade des Mordversuchs überführt. Auch ist auf die Wiederholungsstruktur in Josephs Lebensgeschichte hinzuweisen. Sein Ausgangsproblem bestand zunächst in der immensen narzißtischen Kränkung, die ihm dadurch zugefugt wurde, daß ihn seine älteren Brüder an einen Sklavenhändler verkauft hatten. Aus dem Versuch, diese Kränkung

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zu bereinigen, ergeben sich die Wiederholungsstrukturen in seinen drei Lebensabschnitten als Erwachsener: 1. Joseph, der Sklave des Obersten der Leibwache (39,1) - (dessen Frau, welche mit dem Knecht schlafen wollte, da dieser sich jedoch verweigerte, ihn der Vergewaltigung bezichtigte und also inhaftieren ließ); 2. Joseph, der Inhaftierte, der zum persönlichen Vertrauenssklaven des Gefängnisleiters (39,21) avancierte (und sodann die Träume des Obermundschenks sowie des Oberbäckers entschlüsselte); sowie letztendlich 3. Joseph, der Ministerpräsident oder Wirtschaftsminister des Pharao (41,40f), der mit der Tochter des Oberpriesters vermählt wird; nimmt doch der Hebräer in allen drei Diensten die Rolle des Hüters, einer Schutz-, Mauer- oder Schwellenfunktion ein (womit er jedoch gerade jene Funktion ausfüllt, welche seine älteren Brüder versäumt hatten, ihm gegenüber einzunehmen). Soll bedeuten: Nur der versteht etwas von Übersetzung und Traumhermeneutik, der, wie der fremde, versklavte Hebräer Joseph, selbst stets Schwellen überschreiten mußte. So wurde Joseph ζ. B. nur deshalb in die Lage versetzt, die drei Träume des Obermundschenks, des Oberbäckers sowie schließlich des Pharao zu deuten, weil er von einem inhaftierten Sklaven zum persönlichen Sklaven des Gefangnisvorstehers emporgestiegen war (d. h. eine Schwelle überschritten hatte, ohne sich damit - im Unterschied gerade zu seinen Brüdern sowie zur anmaßenden Frau des Obersten der Leibwache - einer Grenzverletzung schuldig zu machen): So wie der Gefangnisleiter über seine Gefangenen, so wacht also Joseph über deren Träume. Daß er dann ganz praktisch seine Traumdeutungskunst noch als Zahlungsmittel einsetzte, um sich aus der Gefangenschaft freizukaufen, war Josephs List. Auch die Moral von der Geschichte insgesamt (Kap. 39-41), derzufolge nur der (hebräische) fremde Sklave freier Herr über Überfluß und Mangel sein kann (weil nur er es gelernt hat, seine und der anderen Triebe zu beherrschen), wäre ohne die angeführten Wiederholungsstrukturen nicht möglich gewesen das Gleichnis: Die Ökonomie eines Landes geht aus der eines Gefängnisses oder zumindest der einer Fremdherrschaft hervor, sie hat Grenzen im Raum sowie besonders auch in der Zeit - gute Zeiten, schlechte Zeiten: Vor allem der Traum denkt stets an morgen. Kurz: Die ganze Geschichte von Josephs Traumdeutung sollte selbst nach dem Traumdeutungsmuster des Joseph gelesen werden - also: unter Abstraktion der Inhalte (d. h. Signifikate) alleine auf die Wiederholungsstrukturen (d. h. Signifikanten) hin. Daraus geht dann vielleicht auch hervor, was Freud von Josephs Traumdeutung übernommen haben könnte: mindestens die Verschiebung sowie die Verneinung sowie überhaupt ein hermeneutisches Lesesystem, welches auf Wiederholungsstrukturen unter Abstraktion von Inhalten basiert. Dem eingangs erwähnten Anonymus sei somit entgegnet, daß Kant mit seinen verdoppelten Träumen eben dieses hermeneutische System des Joseph anwendet, indem er auf die Parallelitäten zwischen Wahrheit und Wahn hinweist, und hierdurch einen dritten Standpunkt - der hermeneutischen Transgression - aufzubauen vermag.

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16. Swedenborgs Himmlische Geheimnisse (S. 160) Swedenborgs Arcana Coelestia, quae in Scriptum Sacra, sen Verbo Domini sunt, ... Una cum Mirabilibus, quae visa sunt in Mundo Spirituum et Coelo Angelorum. (London 1747 - 1758 und 1796) sind heute in deutscher Übersetzung, Himmlische Geheimnisse im Worte Gottes, die nun enthüllt sind, mit insgesamt 10.837 Paragraphen auf 2.950 Seiten in 16 Bänden in Lexikonformat, (21 χ 28 cm) beim Swedenborg-Verlag in Zürich für zirka 200,- € erhältlich.

17. Der Text auf der Couch (S. 165) Weil bei Schreber alles - wenn auch verrückt und verschoben, so doch unzensiert und unverdrängt - zu Buche liege, so sei er, Freud, auch berechtigt, Schrebers Krankengeschichte aufgrund seiner Denkwürdigkeiten zu analysieren - also den Text, anstelle des Analysanten auf die Couch zu legen - obgleich er Schreber nie, nicht ein einziges Mal gesehen habe.

18. Die Paranoia und die religiös-philosophischen Wahnsysteme (S. 166) Man findet hier eine weitere ganz und gar erstaunliche Gemeinsamkeit zwischen Swedenborg und Schreber wieder - daß nämlich beide, zum Zweck einer äußeren Bestätigung ihres Wahns, auf religiöse bzw. philosophische Systeme rekurrieren, welche ihrerseits gewisse Ähnlichkeiten mit psychotischen Systemen aufweisen. Auf diese Ähnlichkeit zwischen Paranoia und Philosophie hatte bereits T. W. Adorno hingewiesen: „Freud ist nicht entgangen, daß der Paranoiker ein System hat, wie die Philosophen. Alles hängt zusammen, überall walten Beziehungen, alles dient einem geheimen und sinistren Zweck" (vgl. T. W. Adorno 1981 144). - Nur, wo hier was genau bei Freud stehen soll, verrät uns Adorno leider nicht. In der Tat hat Freud immer wieder auf dem Zusammenhang zwischen dem Seelenleben der Kranken und den großen Kulturleistungen der Religion, Philosophie und Kunst bestanden. So auch im Folgenden: „Die nächste Überlegung mußte sagen, daß eine solche Auffassung vom Leben der menschlichen Seele unmöglich auf das Gebiet des Traums und der nervösen Erkrankungen eingeschränkt werden konnte. Wenn sie [die Psychoanalyse] etwas richtiges getroffen hatte, so mußte sie auch für das normale seelische Geschehen zutreffend sein, und selbst die höchsten Leistungen des Menschengeistes mußten eine Beziehung zu den in der Pathologie erkannten Momenten, zur Verdrängung, zu den Bemühungen um die Bewältigung des Unbewußten, zu den Befriedigungsmöglichkeiten der primitiven Triebe erkennen lassen. [...] Der Hysteriker ist ein unzweifelhafter Dichter, wenngleich er seine Phantasien im wesentlichen mimisch und ohne Rücksicht auf das Verständnis der anderen darstellt; das Zeremoniell und die Verbote des Zwangsneurotikers nötigen uns zum Urteil, er habe sich eine Privatreligion geschaffen, und selbst die Wahnbildung der Paranoiker zeigt

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eine unerwünschte äußere Ähnlichkeit und innere Verwandtschaft mit den Systemen unserer Philosophen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier Kranke in asozialer Weise doch dieselben Versuche zur Lösung ihrer Konflikte und Beschwichtigung ihrer drängenden Bedürfnisse unternehmen, die Dichtung, Religion und Philosophie heißen, wenn sie in einer für eine Mehrzahl verbindlichen Weise ausgeführt werden." (Freud 1919b XII 326f) Noch erstaunlicher als der hier von Adorno und Freud hervorgehobene Zusammenhang zwischen der Paranoia und den Systemen der Philosophien und Religionen ist nun allerdings der Sachverhalt, daß diese „unerwünschte äußere Ähnlichkeit und innere Verwandtschaft" von den Psychotikern offenbar intuitiv verstanden und verwendet wird. So beruft sich Schreber auf den Zoroastrismus, ebenso wie Swedenborg (wenn auch ohne Benennung seiner Quellen) auf den Neuplatonismus und die Kabbala rekurriert. Noch erstaunlicher ist, daß dieser Zusammenhang nicht nur Freud, sondern eben bereits auch schon Kant - zumindest andeutungsweise - aufgefallen ist. So vergleicht Freud ,Schrebers Zoroastrismus' mit Nietzsches Also sprach Zarathustra (1883-85) und bemerkt hierzu „auch Nietzsche hatte seinen Vater nur als Kind gekannt" (Freud 1911 VIII 290), ebenso wie Kant eines seiner Kapitel aus den Träumen als Antikabbala tituliert, wobei Kant an anderer Stelle auch noch explizit auf den Dualismus zwischen Ormuzd und Ariman in der altpersischen Religion (des Zoroaster) zu sprechen kommt (vgl. EaD XI 177 A 500 Fn.). Aus alledem läßt sich Folgendes schließen. Es gibt historische Zeiten, die gesellschaftlich als in sich gespalten angesehen werden müssen - dies gilt für Swedenborgs ebenso wie für Schrebers Epoche. In solchen Zeiten des Zersplitterungswahns (vgl. H. Broch 1938-1948) tun sich ausgesprochene Psychotiker besonders hervor - Swedenborg und Schreber sind hier als Symptome ihrer Zeit zu betrachten. Nun rekurrieren aber diese Psychotiker (Schreber wie Swedenborg) auf bereits existierende religiöse oder philosophische Denksysteme, deren besonderes Merkmal gerade in den paranoid-schizoiden Aufspaltungen zu sehen ist - so der Zoroastrismus, der Neuplatonismus und die Kabbala; Denksysteme, die ihrerseits in ebensolchen gespaltenen Epochen entstanden sein mögen. Auf diese Weise versuchen sowohl Swedenborg als auch Schreber ihren Wahnsystemen eine gewisse ,Objektivität' zu verleihen; da diese Spaltungssysteme sich nicht nur bei ihnen, sondern auch in anderen (zudem: anerkannten) Denksystemen wiederfinden, müßte ihrem System eine gewisse ,Realität' zukommen. - Es ist dieses im übrigen auch der Grund, weshalb die Swedenborgianer einen so großen Wert darauf legen, das zu beweisen, was die Nachfahren des Deutschen Idealismus und der deutschen Romantik nur sehr ungern hören: daß nämlich zwischen ihren Systemen und den zuletzt genannten mehr als nur strukturelle Ähnlichkeiten bestehen. Dies entbehrt dann nicht eines gewissen Witzes, wenn etwa die Swedenborgianer auf Schellings ,Swedenborgismus' verweisen, wogegen sich ein Schellinianer sicherlich verwahren würde.

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.Verrückt' an diesem Zusammenhang ist nur die intuitive - oder unbewußte Zielsicherheit, die sowohl Swedenborg als auch Schreber dazu veranlaßte, sich ausgerechnet auf solche Denksysteme zu berufen, bei denen die Spaltung im Vordergrund steht (d. h. auf den Zoroastrismus, den Neuplatonismus oder die Kabbala sowie auf gnostische Systeme überhaupt) - gesellt sich doch hier Gleiches zu Gleichem.

19. Swedenborgs verdrängte Homosexualität (S. 168) „In den Kommentaren zu seinen Träumen stellt Swedenborg keine Beziehung zwischen der Verurteilung des modernen Wissens [d. h. dem von ihm empfundenen Schuldgefühl - C. R.] und den signifikanten Elementen seines eigenen Lebens her, die das Material fur die Träume abgeben: etwa die harte und unbeugsame Reaktion seines Vaters, als er nach London ging [welche zum Bruch mit dem Vater führte - C. R.]; oder die entscheidende Begegnung mit dem schwedischen König Karl XII., dem Freund und Herrscher, von dem er völlige Zustimmung [...] erhielt." „Karl XII. und Swedenborg hielten zum Beispiel das Dezimalsystem für irrational und hatten eine Reform des Maßsystems geplant. (Vgl. E. Benz 1948 88f) Die erste Begegnung mit Karl XII. hatte in Stralsund stattgefunden, der Stadt, mit der [Jahre nach Karl XII. Tod 1718 - C. R.] auch die Niederschrift der Träume aus den Jahren 1743/44 einsetzte (vgl. E. Benz 1948 86)." „Auch der erotische Unterton seiner Beziehungen zu Karl XII. und seine zoophilen Neigungen werden [in der Selbstanalyse seiner Träume - C. R.] nicht erwähnt. Aus beiden psychischen Ereignissen ergibt sich fur Swedenborg eine Art zweite Geburt: Sein Vater, der sich in einen Bruder verwandelt, schenkt ihm einen neuen Anzug, Christus verleiht ihm einen neuen Namen. [...]." (Alle drei Zitate: M. David-Ménard 1986 38, 45 Fn. u. 38)

20. Die Nosographie der Verrückung in der Anthropologie (S. 168) In der Anthropologie (XII 530f BA 144ff) unterteilt Kant die Verrückung in vier Unterabteilungen: 1. in die Unsinnigkeit (amentia), welche tumultarisch sei; 2. in den Wahnsinn (dementia) [worunter Kant hier die Paranoia versteht C. R.], welcher methodisch sei; 3. in den Wahnwitz (insania) [die gestörte Urteilskraft - C. R.], welcher zwar auch methodisch, dabei allerdings nur fragmentarisch sei; sowie 4. den Aberwitz (vesania) [den Größenwahn - C. R.], welchen man schließlich systematisch nennen könnte. 21. Swedenborgs Psychose (S. 169) „In einem Vortrag , Über Swedenborgs Psychose' in der Svenska Läkareesällskapets (gedruckt in Svenska Läkareesällskapets forhandlingar 1914. H. 9) hat E. Kleen behauptet, Swedenborg habe an Paraphrenie gelitten. Diese Theo-

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rie entzieht sich natürlich jedem kritischen Urteile, ehe weitere dokumentarische Beweise dafür erbracht worden sind, was der Verfasser auch zu tun versprochen hat." (M. Lamm 1922 167 Fn.) - „Nach dem Erscheinen der schwedischen Ausgabe meiner [d. h. M. Lamms - C. R.] Arbeit hat Kleen diesen Standpunkt ausführlich dargelegt und begründet in dem Werke Swedenborg, En Lefnadsskildring 1. 2., Stockholm 1917-1920. Es scheint seiner psychiatrischen Analyse jedoch nicht gelungen zu sein, die schwedischen Fachmänner auf diesem Gebiet zu einen. Dr. Kleen selber ist nämlich nicht Psychiater. Ich muß also weiter eine abwartende Haltung zu der Frage nach Swedenborgs Geistesgestörtheit einnehmen." (M. Lamm 1922 168 Fn.)

22. Empörung (S. 170) Vgl. u. a. E. Benz: „Diese heftigen Beschimpfungen [Kants wider Swedenborg] machen eins klar: diese Schrift Kants [die Träume] ist keine kühle wissenschaftliche Auseinandersetzung, sondern eine Affektentladung, durch die sich Kant von dem Eindruck des Schwedenborgschen Werkes befreien will." Und etwas weiter: „Das ist nicht nur die Stimmung und Einstellung Kants, sondern die Stimmung einer ganzen Generation und Epoche, die, aller supranaturalistischen Spekulationen müde, auf die erhabensten Visionen mit einem Zornausbruch reagiert und neu auftretenden supranaturalistischen Systemen nicht in Form einer kühlen wissenschaftlichen Widerlegung, sondern in Form einer Affekthandlung entgegentritt." (E. Benz 1941 10 u. 12)

23. Zur Ausrottung der Schwärmerei (S. 170) Daß Kant eine durchaus liberale Position vertritt, wird deutlich, wenn man sie mit den Haltungen anderer Aufklärer selbst späterer Zeit vergleicht; so beispielsweise mit Johann Gottlieb Stoll, der in in seinem Plädoyer fiir die Ausrottung von Aberglauben und Schwärmerei (in ders.: Etwas zur richtigen Beurtheilung der theosophie, Cabbala, Magie und anderer geheimer übernatürlicher Wissenschaften 1786 145f), also zwanzig Jahre nach Kants Träumen offen für folgendes eintritt: „Man würde vielleicht seine Absicht noch schneller erreichen und bald die vortrefflichste Wirkung sehen, wenn man die Bücher eines Jugels, Swedenborgs, Jacob Böhmens und tausend anderer alchymystischen und mystischen Schriftsteller ausrottete, wenn man den Bänkelsängern und Taschenspielern ihr Gewerbe untersagt, wenn Gesellschaften von Schwärmern zerstöret, den Schwärmern öffentlich zu reden oder zu schreiben untersagt würde, wenn man sie um mehrerer Sicherheit willen in Verwahrungshäuser brächte, wenn man [...]" usw. usf. - Muß man im Vergleich zu derartigen Vernichtungsphantasien nicht doch Kants Haltung als eine besonnene bezeichnen?

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24. Ein Wahn, ein Traum? Descartes' Zweifel (S. 177) Wir geben hier einen kleinen Auszug aus der berühmten Passage des Cartesianischen Zweifels aus den Meditationes de prima philosophia, dort zu Beginn der Ersten Meditation wieder: „Alles nämlich, was ich bisher am ehesten für wahr gehalten habe, verdanke ich den Sinnen oder der Vermittlung der Sinne. Nun aber bin ich dahingekommen, daß diese uns bisweilen täuschen, und es ist ein Gebot der Klugheit, denen niemals ganz zu trauen, die uns einmal getäuscht haben. Indessen - mögen uns auch die Sinne mit Bezug auf zu kleine und entfernte Gegenstände bisweilen täuschen, so gibt es doch am Ende sehr vieles andere, woran man gar nicht zweifeln kann, wenngleich es aus denselben Quellen geschöpft ist; so z. B. daß ich jetzt hier bin, daß ich, mit meinem Winterrock angetan, am Kamin sitze, daß ich dieses Papier mit den Händen betaste und ähnliches; vollends, daß diese Hände selbst, daß überhaupt mein ganzer Körper da ist, wie könnte man mir das abstreiten? Ich müßte mich dann ich weiß nicht mit welchen Wahnsinnigen vergleichen, deren ohnehin kleines Gehirn durch widerliche Dünste aus ihrer schwarzen Galle so geschwächt ist, daß sie hartnäckig behaupten, sie seien Könige, während sie bettelarm sind, oder in Purpur gekleidet, während sie nackt sind, oder sie hätten einen tönernen Kopf, oder sie seien gar Kürbisse oder aus Glas; aber das sind eben Wahnsinnige, und ich würde ebenso wie sie von Sinnen zu sein scheinen, wenn ich mir sie zum Beispiel nehmen wollte. Vortrefflich! - Als ob ich nicht ein Mensch wäre, der des nachts zu schlafen pflegt, und dem dann genau dieselben, ja bisweilen noch weniger wahrscheinliche Dinge im Traume begegnen, als jenen im Wachen! Wie oft doch kommt es vor, daß ich mir all diese gewöhnlichen Umstände während der Nachtruhe einbilde, etwa daß ich hier bin, daß ich, mit meinem Rocke bekleidet, am Kamin sitze, während ich doch entkleidet im Bette liege! Jetzt aber schaue ich doch sicher mit wachen Augen auf dieses Papier, dies Haupt, das ich hin und her bewege, schläft doch nicht, mit Vorbedacht und Bewußtsein strecke ich meine Hand aus und fühle sie. So deutlich geschieht mir dies doch nicht im Schlaf. - Als wenn ich mich nicht entsänne, daß ich sonst schon im Traume durch ähnliche Gedankengänge genarrt worden bin! Denke ich einmal aufmerksam hierüber nach, so sehe ich ganz klar, daß Wachsein und Träumen niemals durch sichere Kennzeichen unterschieden werden können, so daß ich ganz betroffen bin und gerade diese Betroffenheit mich beinahe in der Meinung bestärkte, ich träumte. Meinetwegen: wir träumen. Mögen wirklich alle jene Einzelheiten nicht wahr sein, daß wir die Augen öffnen, den Kopf bewegen, die Hände ausstrecken; ja, mögen wir vielleicht gar keine solchen Hände, noch überhaupt einen solchen Körper haben: so muß man in der Tat doch zugeben, das im Schlafe Gesehene seien gleichsam Bilder, die nur nach dem Muster wahrer Dinge sich abmalen konnten, daß also wenigstens dies Allgemeine: Augen, Haut, Hände und überhaupt der ganze Körper nicht bloß eingebildet ist, son-

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dem wirklich existiert. Sind doch auch die Maler, selbst wenn sie Sirenen und Satyre in den fremdartigsten Gestalten zu bilden versuchen, nicht imstande, ihnen in jeder Hinsicht neue Eigenschaften zuzuteilen, sondern sie mischen nur die Glieder von verschiedenen lebenden Wesen durcheinander; oder wenn sie vielleicht etwas so unerhört Neues sich ausdenken, wie man Ähnliches überhaupt nie gesehen hat, das also ganz und gar erfunden und unwahr ist, so müssen doch mindestens die Farben wahr sein, aus denen sie es zusammensetzen. Aus diesem Grunde muß man, auch wenn sogar dies Allgemeine: Augen, Haut, Hände und dergleichen nur eingebildet sein können, doch notwendig gestehen, daß wenigstens gewisse andere, noch einfachere und allgemeinere Dinge wahr sind, mit denen als den wahren Farben alle jene wahren oder falschen Bilder von Dingen in unserem Bewußtsein gemalt sind. Von dieser Art scheinen die Natur der Körper im allgemeinen und ihre Ausdehnung zu sein, ferner die Gestalten der ausgedehnten Dinge, ebenso die Quantität, d. h. ihre Größe und Zahl, ebenso der Ort, an dem sie existieren, die Zeit, während der sie dauern, und dergleichen". (Zitiert wurde nach: L. Gäbe, Hrsg., lat. - dt., Hamburg 1959, Seiten 33, 35 u. 37) Verblüffend sind die Gemeinsamkeiten zwischen Descartes und Kant. Wie Kant betont auch Descartes den aktiven Teil des Vorstellens bei der Wahrnehmung, und wie Kant kommt auch Descartes zu dem Schluß, daß eben diese Vorstellungen im Wachen und im Träumen so verschieden nicht sind. Wenn auch Descartes ganz anders vorgeht als Kant - indem er nämlich ontologisch verfährt und in der Methode seiner Wahrheitsfindung das Besondere vom Allgemeinen abzieht - , so gelangt er doch zu einem ganz ähnlichen Schluß wie Kant, indem er schließlich gerade das als ,wahr' betrachtet, was Kant später der apriorischen Erkenntnis zuordnen wird: die Kategorien sowie die reinen Formen sinnlicher Anschauung (Raum und Zeit). Tatsächlich wäre es lohnenswert, einmal Kants Wahn-, Traum- und Halluzinationstheorie mit jener Wahn-, Traum- und Halluzinationstheorie zu vergleichen, die bereits Descartes in der Dritten Meditation ausgearbeitet hat (vgl. J. Heise 1989 142ff). Kants Irrationalitätsproblem steht hier in einer sehr großen Nähe zu Descartes' Theorie des Wahnsinns - eine Parallelität, die jedoch allergrößtenteils zufällig sein dürfte. Vermutlich rührte das Interesse beider am Wahnsinn daher, daß sie sich epochengeschichtlich am Anfang und am Ende der Herausbildung der Moderne und somit an den Eckpunkten eines geschichtlichen Denkprozesses befanden, der sie dort völlig alleine und einsam d. h. ohne Außenreferenz - stehen ließ. Gerade dieses Isoliertsein aber hat viel gemeinsam mit dem Wahnsinn - vor dem beide eine solche Angst hatten und von dem sich beide doch so angesprochen fühlten. (Zur Theorie des Wahnsinns bei Descartes vgl. M. Foucault 1961, J. Derrida 1976 sowie derselbe 1992.)

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25. Descartes' Lebensgeister (S. 181) Trotz Recherche konnten die ideas materiales als Begriff bei Descartes nicht nachgewiesen werden. Da Kant sich hier auch „auf die mehresten Philosophen" nach Descartes beruft, ist anzunehmen, daß Kant die ,ideas materiales' aus zweiter oder dritter Hand bezogen hat. Insofern es sich bei der Theorie der ,ideas materiales' eindeutig um eine sensualistische Theorie handelt, die den assoziationspsychologischen Theorien der damaligen Zeit erstaunlich ähnelt, ist anzunehmen, daß Kant sie aus dieser Ecke, vielleicht von D. Hartley (vgl. 1746 u. 1749) oder von J. Locke (vgl. 1689), bezogen hat. Von letzterem könnte man allerdings den Weg bis hin zu Descartes wieder zurückverfolgen, und tatsächlich läßt sich eine vergleichbare Theorie auch bei Descartes finden, nur, daß das Angeführte bei ihm nicht ,ideas materiales', sondern, wie wir gleich sehen werden,,Lebensgeister im Nervensystem' heißt. Was nun Descartes selbst anbelangt, so finden sich bei ihm nur drei Arten von Ideen: 1. ideae innatae, die angeborenen Ideen („Denn daß ich verstehe, was ein Ding, was Wahrheit, was Bewußtsein ist, das scheint es, habe ich nur aus meiner eigenen Natur"); 2. ideae adventicae, die von außen kommenden Ideen, Wahrnehmungen („[...] daß ich aber jetzt ein Geräusch höre, die Sonne sehe, die Wärme des Feuers wahrnehme, das rührt, wie ich bisher angenommen habe, von gewissen außer mir befindlichen Dingen her"); und schließlich з. ideae a me ipso factae, d. h. die von mir selbst gemachten Ideen, Phantasievorstellungen („Sirenen schließlich, Hippographen und dergleichen werden von mir selbst ausgedacht"). - Alle drei Zitate vgl.: Descarte': Meditationes de prima philosophia, 1641, Dritte Meditation, Abs. 7. Um hier wieder auf die Herkunft von Kants Konversionstheorie zurückzukommen, so sind wir der Ansicht, daß diese nicht auf Descartes Meditationes, sondern auf seine Schrift Les passions de l'âme (1649) zurückzuführen ist. Insbesondere in den Artikeln 25 bis 43 stellt Descartes dort eine Affekttheorie auf, die dem, was Kant hier beschreibt, verblüffend ähnlich ist. Vor allem ist in diesem Zusammenhang auf die berühmte Theorie der Zirbeldrüse als Sitz der Seele (Artikel 3 Iff) sowie auf die Theorie der Lebensgeister im Nervensystem (das sind eigentlich die ideas materiales) hinzuweisen. (Vgl. K. Hammacher 1984).

26. Der Begriff des Unbewußten bei Leibniz (S. 183) Gemeint ist Leibniz, bei dem das Unbewußte ,petites perceptions' hieß (vgl. и. a. Ε. v. Hartmann 1869). Tatsächlich gibt uns Leibniz in seinen Nouveaux essais sur l'entendement humain (1765) eine ausführliche Beschreibung seiner Theorie des Unbewußten; eine Theorie, die wir im folgenden kurz zusammenfassen wollen. Vorab möchten wir allerdings schon darauf hinweisen, daß Kants Vorstellungen in dieser Sache doch sehr von Leibniz abweichen bzw. weit über dessen Vorstellungen hinausgehen. - Wie bereits die von Leibniz

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verwendete Wortwahl erkennen läßt, hat er vom Unbewußten vor allem eine passive, rezeptive Vorstellung: „in dem aber, was man Wahrnehmung nennt, ist der Geist in der Regel rein passiv" („mais dans ce qu'on nomme perception l'esprit est pour l'ordinaire purement passif' - S. 134). Die petites perceptions bedeuten wörtlich: kleine (unscheinbare) Wahrnehmungen (zu klein, zu fein, um wahrgenommen zu werden - „trop petites pour estre remarquées" (S. 57); Unscheinbarkeiten, die Leibniz alternativ auch perceptions insensibles (unsinnliche, nicht empfindbare Wahrnehmungen) nennt (u. a. S. 239). - Als Paradebeispiel für solche unbewußten Wahrnehmungen nennt er ζ. B. das Klappern einer Windmühle, das Brausen eines Wasserfalls (S. 53) oder das Meeresrauschen (S. 54); Geräusche, die man nach einiger Zeit bewußt nicht mehr wahrnimmt. Nehmen wir etwas nur noch unbewußt wahr, so liegt dies - wie bei den eben genannten Beispielen - entweder an der Gewöhnung oder an einer Reizüberflutung (wenn wir das Ganze, ζ. B. eine Farbe sehen, deren Teile aber, die in dieser Farbe enthaltenen vielfältigen Farbpigmente, nicht wahrnehmen - vgl. S. 134) oder an unserer Konzentration (dem Zustand unserer Seele - vgl. S. 53). Daß die meisten unserer Wahrnehmungen uns weder bewußt sind noch von uns reflektiert werden („des perceptions en nous, mais sans apperception et sans reflexion" S. 53), bedeutet allerdings nicht, daß wir diese Wahrnehmungen nicht hätten - im Gegenteil: wir nehmen ununterbrochen wahr, sind uns dessen nur nicht immer bewußt (vgl. S. 15). Dies gilt insbesondere auch von der Erfahrung des Schlafes (vgl. ebd.). Werden wir im Schlaf von jemandem angesprochen, so werden wir weiterschlafen; reden jedoch viele auf uns ein, werden wir erwachen. Das Beispiel zeigt, daß das Bewußtsein hier nicht von dem Laut, sondern von der Lautstärke des Lautes abhängt (der Laut wird immer wahrgenommen, wenn er auch leise uns im Schlaf nicht bewußt ist) - (ebd.). Was hier für die Quantität zutrifft, gilt ebenfalls für die Qualität der Wahrnehmungsselektion: „denn es gibt immer Dinge, die auf unsere Augen und Ohren treffen, und folglich wird hiervon auch unsere Seele berührt, ohne daß wir dies bemerkten; weil unsere Aufmerksamkeit mit anderen Dingen befaßt ist" („car nous avons tousjours des objêts qui frappent nos yeux ou nos oreilles et par consequent, l'âme en est touchée aussi, sans que nous y prennions garde; parce que nostre attention est brandée à d'autres objets" - S. 115). Diese Wahrnehmungsselektion, die man besser Bewußtseinsselektion nennen sollte, gilt nun für eine Vielzahl von Gegenständen: so vom Schmerz (vgl. S. 188), vom Gedächtnis im Wachen (vgl. S. 55) sowie von den erinnerten Träumen: „und die Träume hinterlassen ebenso ihre Spuren im Gehirn wie die Gedanken der Wachenden" („et les songes ont aussi bien leurs traces dans le cerveau que les pensées de ceux qui veillent" - S. 116). Leibniz geht nun von einer Art ständigem Konkurrenzkampf der einzelnen petites perceptions aus; je nachdem, mit welchen anderen petites perceptions sie sich verbünden, werden sie ins Bewußtsein gerufen oder von diesem verdrängt. Daher auch die Fehlleistungen: „Alle unsere unwillkürlichen Handlungen sind das Ergebnis eines Konkurrenzkampfes der

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petites perceptions, und selbst unsere Gewohnheiten und Leidenschaften, die einen so großen Einfluß auf unsere Entscheidungen ausüben, sind dieser Herkunft" („toutes nos actions indeliberées sont des résultats d'un concours de petites perceptions, et même nos coutumes et passions, qui ont tant d'influence dans nos deliberations, en viennent" - S. 115f). Von hier aus gelangt nun Leibniz zu einer Reihe von metaphysischen Erwägungen: So führt er das Gesetz der Kontinuität, demzufolge die Natur keine Sprünge mache, auf die petites perceptions zurück (vgl. S. 56); ferner auch den Lehrsatz der prästabilierten Harmonie zwischen Körper und Geist (vgl. S. 55). Während wir jedoch bislang uns gewissermaßen noch auf dem Boden der Tatsachen bewegten, hebt Leibniz nun ab. Er klärt uns darüber auf, daß die unscheinbaren Wahrnehmungen einen großen Gebrauch in der Pneumatik finden (ebd.), um sich dann (wie Kant gesagt haben würde:) in sein metaphysisches Luftschiff (der neuplatonischen Bauart) zu setzen, um uns von dort aus etwas über die Zustände, die Konservierung sowie über die Unsterblichkeit der Seele zu berichten (vgl. S. 58). Ferner vernehmen wir, daß ein immaterielles Wesen oder ein Geist von allen seinen perceptions aus einer vorherigen Existenz nicht gereinigt werden könne, ja daß das immaterielle Wesen sogar auf die Zukunft bezogene Vorahnungen haben könne (vgl. S. 239). Von hier aus gelangen wir zu jenen, die „außer sich" und von daher von einer doppelten Persönlichkeit sind („par où elles en font deux personnes" - S. 242). Nicht zuletzt dann ein Satz, der nun von Kant hätte stammen können (wenn auch Leibniz ihn ganz anders gemeint hat): „Woraus folgt, daß das Selbst nicht durch die Identität oder Diversität der Substanz bestimmt wird, denn dieser kann man sich nicht sicher sein, sondern alleine durch die Identität des Bewußtseins" („D'où il s'ensuit que le Soy n'est point determiné par l'identité ou la diversité de substance, dont on ne peut estre asseuré, mais seulement par l'identité de la conscience" - S. 244). Aus dem hier Referierten geht zweierlei hervor. Erstens, daß Kant Leibniz' Nouveaux Essais gelesen und für seine Träume verwendet hat. Insbesondere die verblüffende Übereinstimmung zwischen Leibniz' Pneumatologie der immateriellen Wesen und Swedenborgs Pneumatologie der Geister wird Kant dazu veranlaßt haben, im ersten Hauptstück des ersten Teils seiner Träume beide in einem „metaphysischen Knoten" zu vereinen; einem Knoten, „den man [dann - C. R.] nach Belieben auflösen oder abhauen kann" (Kant Τ II 925 A 7, vgl. auch ff). Zweitens geht aus dieser Darstellung deutlich die Differenz zwischen Leibniz' petites perceptions und Kants dunklen Vorstellungen hervor: Während bei Leibniz alles von außen nach innen verläuft (und die petites perceptions eben doch Substanzen sind, da, wie wir später noch sehen werden, umgekehrt auch die einfachen Substanzen bei Leibniz unbewußte Vorstellungen haben), verläuft bei Kant (wie der Ausdruck seiner dunklen Vorstellungen schon deutlich macht) alles von innen nach außen; was in der Folge zu erheblichen Differenzen führen wird. - Die Seitenangaben beziehen sich auf: Gottfried Wilhelm Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe, herausgegeben

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von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Sechste Reihe, Philosophische Schriften, Bd. VI, Berlin 1962 - Übers. C. R. 27. Die Halluzination im Traum und in der Schizophrenie (S. 187) In seiner Metapsychologische[n] Erörterung zur Traumlehre (1906) arbeitet Freud den Unterschied zwischen der halluzinatorischen Wunscherfiillung im Traum und in der Schizophrenie aus. Dabei erwägt er, daß im Traum Wortvorstellungen in Sachvorstellungen - durch Verdichtung und Verschiebung umgemünzt werden, während dies bei der Schizophrenie nicht der Fall ist. „In diesem Punkt zeigt sich nun der entscheidende Unterschied zwischen der Traumarbeit und der Schizophrenie. Bei letzterer werden die Worte selbst, in denen der vorbewußte Gedanke ausgedrückt war, Gegenstand der Bearbeitung durch den Primärvorgang; im Traum sind es nicht die Worte, sondern die Sachvorstellungen, auf welche die Worte zurückgeführt wurden. Der Traum kennt eine topische Regression, die Schizophrenie nicht; beim Traume ist der Verkehr zwischen (vbw) Wortbesetzungen und (ubw) Sachbesetzungen frei; für die Schizophrenie bleibt charakteristisch, daß er versperrt ist" (Freud 1906 X 419). Die Tatsache nun, daß in der Schizophrenie der Weg zwischem Unbewußtem (Ubw) und Vorbewußtem (Vbw) versperrt bleibt, fuhrt eben dazu, daß hier nicht, wie im Traum, zensiert bzw. übersetzt werden muß.

28. Vom Ursprung der Spaltung (S. 191) An diesem Problem scheiden sich im übrigen auch die Geister: Während noch für Janet die .Schwäche zur Fähigkeit der psychischen Synthese' ursprünglich und das Gespaltete nur den Ausdruck eben dieser Unfähigkeit darstellt, ist umgekehrt für Freud die Spaltung das Resultat eines psychischen Konflikts (vgl. Laplanche/Pontalis 1972 208). 29. Kants Selbstvergewisserung (S. 192) Anthr. XII 417 BA 16 Fn. - Diese Fußnote am Ende von § 4 (Von dem Betrachten seiner selbst) ist insofern interessant, als sie mit Sicherheit aus der Zeit der Endredaktion, d. h. von 1797 stammt. Kant placiert sie indes zwischen dem Ende des § 4 über die Selbstbetrachtung und dem § 5 über die dunklen Vorstellungen und stellt sie damit in die Anfangszeit seiner Reflexionen über die Einheit des Bewußtseins, gleich so, als wolle er sich damit gewissermaßen nochmals selbstironisch vergewissern, daß er, Kant, zwischen den 60er und den 90er Jahren doch eben derselbe geblieben ist.

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30. Zur Logik des π α ρ α (S. 193) Es ist vielleicht kein Zufall, daß wir hier in Kants Para-logismus, in Freuds Para-noia sowie in Kleens Para-phrenie - drei Worte, die aufgrund ein und desselben Sachverhaltes veranschlagt wurden - immer wieder das gleiche altgriechische para (neben, daneben sein, daneben stehen) wiederfinden. Offenbar scheint das Daneben-Liegen oder das Daneben-Sein jener gemeinsame Nenner, der allen drei Autoren - wenn auch aus verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet - aufgefallen ist.

31. Zur Herkunft von Kants Begriff des mundus intelligibilis (S. 198) Es ist öfters gerätselt worden, wo denn Kant den Begriff (bzw. den Ausdruck selbst) eines mundus intelligibilis bzw. den Gegenbegriff eines mundus sensibilis herbezogen haben könnte. David-Ménard (vgl. 1987 35f) ζ. B. schlägt vor, Kant habe den Begriff von Swedenborg selbst übernommen. Dies kann nicht verifiziert werden; Swedenborg nennt sein Geisterreich mundus spirituum. Da Kant jedoch Swedenborgs mundus spirituum gelegentlich in den Träumen (u. a. Τ II 937 A 30) als mundus intelligibilis bezeichnet, drängt sich in der Tat der - allerdings falsche - Eindruck auf, Kant würde hier einen Swedenborgschen Begriff verwenden. Da die Herkunft des Begriffes also bislang ungeklärt ist, möchten wir folgenden Vorschlag machen. Kant übernimmt den Begriff aus Baumgartens Metaphysica, Sectio II., Intellectus Dei, § 869, wo es u. a. heißt: „Mundus, quatenus sensitive repraesentatur, SENSIBILIS *) (adspectabilis), quatenus distincte cognoscitur, INTELLIGIBILIS **) est." - Zu den Sternchen gibt es nun als handschriftliche Randvermerke bezeichnende Übersetzungen von Kant selbst, nämlich: „Mundus SENSIBILIS - *) die Welt, als ein Schauspiel der Sinnlichkeit. Mundus INTELLIGIBILIS - **) die Welt, als ein Gegenstand des Verstandes". - Vgl. die von Kant für seine Metaphysik-Vorlesung verwendete und mit seinen handschriftlichen Randbemerkungen versehene 4. Aufl. 1757, in: A.A. XVII,5 169.

32. Das Reich der Zwecke (S. 199) „Der Begriff eines jeden vernünftigen Wesens, das sich durch alle Maximen seines Willens als allgemein gesetzgebend betrachten muß, um aus diesem Gesichtspunkte sich selbst und alle seine Handlungen zu beurteilen, führt auf einen ihm anhängenden sehr fruchtbaren Begriff, nämlich den eines Reichs der Zwecke. - Ich verstehe aber unter einem Reiche die systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze. Weil nun Gesetze die Zwecke ihrer allgemeinen Gültigkeit nach bestimmen, so wird, wenn man von dem persönlichen Unterschiede vernünftiger Wesen, imgleichen allem Inhalte ihrer Privatzwecke abstrahiert, ein Ganzes aller

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Zwecke (sowohl der vernünftigen Wesen als Zwecke an sich selbst, als auch der eigenen Zwecke, die ein jedes sich selbst setzen mag), in systematischer Verknüpfung, d. i. ein Reich der Zwecke gedacht werden können, welches nach obrigen Prinzipien möglich ist" (GMS VII 66 BA 74). 33. Der große Mann (S. 202) „Man kann sagen, der große Mann [wie hier auch Swedenborgs homo maximus - C. R.] ist eben die Autorität, der zuliebe man die Leistungen vollbringt, und da der große Mann selbst dank seiner Ähnlichkeit mit dem Vater wirkt, darf man sich nicht verwundern, wenn ihm in der Massenpsychologie die Rolle des Über-Ichs zufällt." (Freud 1939 XVI225) 34. Moral sense (S. 204) „Hutcheson und andere [gemeint ist hier offenbar Shaftesbury - C. R.] haben unter dem Namen des moralischen Gefühls [moral sense, so lautet der Begriff bei Shaftesbury - C. R.] hievon [in der praktischen Weltweisheit] einen Anfang zu schönen Bemerkungen geliefert" (DdG II 773 A 98f). 35. Eine kleine Fahrt durch Swedenborgs Hölle (S. 208) Daß es sich bei Swedenborgs Vorstellungen von der Hölle um Abwehrvorstellungen bzw. um disowning projections, d. h. um Verschiebungen der eigenen, in sich verleugneten bösen Vorstellungen auf Gegnergruppen handelt, wird nur zu deutlich, wenn man sich vor Augen hält, mit welchen antisemitischen Wahnvorstellungen Swedenborg das Judentum zum Teufel schickte. Hiervon weiß Leon Poliakov (1987) folgendes zu berichten. „Mit Emanuel Swedenborg (1688-1772) verhielt sich dies anders [als mit Jakob Böhme (1575- 1624), der im Blick auf die Kinder Israels außerordentlich wohlwollende Anschauungen entwickelte]" (S. 70). „Dieser Sohn eines lutherischen Bischofs [d. h. Swedenborg] gebrauchte das gleiche Bild wie Luther, wenn er verkündete, ,daß man eher Steine bekehren als sie [die Juden] zum Glauben an den Herrn bringen könne'" (S. 71). Und Swedenborg (nach Poliakov) weiter: ,„In der Tat ist diese Nation [die der Juden - C. R.] die allerhabgierigste unter allen Völkern, und die ihr eigene Habgier besteht darin, das Gold und das Silber um des Goldes und des Silbers willen und nicht wegen deren Verwendung zu lieben. Dieser Wesenszug zeugt von einer ausgeprägten Liebe zu den irdischen Dingen. Man muß daraus ganz deutlich ersehen, wie sehr sich diejenigen täuschen, die daran glauben, diese Nation werde von neuern erwählt werden, oder daß die Kirche des Herrn bei ihr aufs neue heimisch werden könnte [...])' " (S. 70f). Da die Juden somit in Swedenborgs ,Neuem Jerusalem' keinen Platz finden können, sind sie offenbar des Teufels. „Nachdem er [Swedenborg] die

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für sie [die Juden] freigehaltene Hölle besucht hatte, beschrieb er sie so, ,wie wenn Sie selbst dort wären'. Es handelte sich ,um eine Stadt, in die sie [die Juden] zusammenströmen und sich hineindrängen; aber diese Stadt ist voller Schmutz und verpestet, darum heißt sie auch das besudelte Jerusalem. Hier waten sie im Gassenkot und im Schlamm bis über die Fersen unter Klagen und Jammern'. Dort haben sie [die Juden] keine andere Nahrung als den Schlamm oder schlimmer noch: ,Substanzen, die aus Leichnamen und Verfaultem, aus Exkrementen und aus Kot, aus Verpestetem und aus Urin stammen'. Andere Juden indessen irren außerhalb des besudelten Jerusalem umher: ,Es sind dies Juden, welche so herumirren, die Drohungen ausstoßen gegen all diejenigen, denen sie begegnen, sogar gegen Juden selbst und gegen Feinde, daß sie sie töten, hinschlachten, verbrennen und sieden wollten. Daran konnte ich ihren wahren Charakter erkennen, wenn sie es in der Welt auch nicht wagen, sich so zu zeigen, wie sie sind' " (S. 70f). Zu diesem - auf den Gegner projizierten - rassistischen Vernichtungswahn des Visionärs bemerkt Poliakov weiter: „Swedenborg war ohne Zweifel der erste moderne Autor, der von der ,wahren Natur' der Juden sprach" (S.71); und ferner: „Nichts ist in diesem Zusammenhang bezeichnender als die Gereiztheit Swedenborgs gegenüber dem Apostel Paulus; denn im Verlauf seiner Erforschungen des Jenseits konnte dieser unerschrockene Visionär sogar in Erfahrung bringen, daß auch die anderen Apostel diesem Juden gegenüber auf Abstand blieben" (ebd.). Doch nicht nur die Beschreibung der ,Hölle der Juden', auch die anderen Höllen legen ein Zeugnis von Swedenborgs ,wahrem Charakter' ab; jenem nämlich der Abwehr, der darin besteht, den Gegnergruppen just eben das zu unterstellen, was man diesen selbst insgeheim wünscht. Swedenborgs Abstieg in die Hölle geschieht „unter einem Sicherheitsgeleit von Engelsgeistern, die ihn wie eine Säule umgeben (§ 699). Und nun sieht er in der ersten Hölle die Menschenhasser, die sich an dem dort herrschenden Gestank so ergötzen, daß sie ihn den leiblichsten Gerüchen vorziehen, während er [Swedenborg] sich davon erbrechen muß (§ 814), er sieht die Hölle der Ehebrecher, die sich gegenseitig mit selbstfabrizierten Stampf- und Dreschinstrumenten, mit Beilen und Bohrern aufs grausamste quälen (§ 824), er kommt weiter zu den Geizigen, denen durch ein Dampfverfahren wie beim Abhäuten der Schweine die Haut gebleicht wird und die mit einem schwarzen Kerl, der sich nicht bleichen lassen will und den sie infolgedessen für einen Räuber halten, einen solchen Krach bekommen, daß er wieder in den Himmel versetzt werden muß (§ 939) bedarf es nach diesen Proben wirklich noch einer Entschuldigung für Kants unfreiwilligen Ausruf, er sei es müde, ,die wilden Hirngespinste des ärgsten Schwärmers unter allen zu kopieren oder solche bis zu seinen Beschreibungen vom Zustand nach dem Tode fortzusetzen'?" (J. Ebbinghaus 1943 74f)

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36. Laudatio (S. 210) Kant lobt hier eine Dissertation, die über ihn geschrieben wurde, welche den bezeichnenden Titel trägt: De similitudine inter Mysticismum purum et Kantianam religionis doctrinam, von Arnold Willmans, Bielefeld 1797. - Es handelt sich hier um einen der wenigen Ausnahmefalle, da Kant es für nötig erachtet, auf seine Rezeption, zudem von einem seiner - unbekannten - Schüler, eingehen zu müssen - wobei Kant „gleichwohl jene Ähnlichkeit meiner Vorstellungsart mit der seinigen [Willmans - C. R.] unbedingt einzugestehen nicht gemeint" gewesen sei. (Fak. XI 340 A 116 Fn.) 37. Bayles und Leibniz' Disputation über Zoroastrismus und Manichäismus (S. 212) Daß die Manichäismusdiskussion bereits schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts voll im Gange war, geht namentlich aus der fiktiven LeibnizBayleschen Debatte über diesen Gegenstand hervor. - Vgl. Herrn Peter Baylens / weiland Professor der Philosophie und Historie zu Rotterdam, Historisches und kritisches Wörterbuch, nach der neusten Auflage von 1740 ins Deutsche übersetzt mit des berühmten Freyherrn von Leibniz und Herrn Maturin Heissière la Lroze, auch verschiedenen andern Anmerkungen, sonderlich bey anstößigen Stellen versehen, von Johann Christoph Gottschedem Dritter Theil Κ bis P, Leipzig 1743, Verlag Bernhard Christoph Breitkopf. Anstößig in Bayles Dictionnaire historique et critique (original: 1695-97) war insbesondere Bayles Artikel unter dem Stichwort Manichäer (S. 304-311), weil Bayle hier die doktrinale Position des Katholizismus verläßt und die Manichäer einer objektiv bloß historischen Betrachtung unterzieht. Mit dieser Verschiebung wird jedoch im Protestantismus (dem Bayle angehört) eine theologische Debatte über den Manichäismus in Gang gesetzt, die dann die kommenden Jahrhunderte andauern wird, ohne allerdings die (ebenso protestantisch geprägte) philosophische Manichäismus-, bzw. Gnosis-Debatte zu kreuzen. - Da nun das Anstößige bei Bayle 1740 weitestgehend bekannt war (Bayle, der 1706 verstarb, war zuvor seiner Professur enthoben worden), versah der deutsche Herausgeber Gottsched Bayles Artikel mit zwei Glossen, die er als ,Leibnizens Antworten' (S. 307 sowie S. 308) bezeichnet, welche allerdings nicht von Leibniz selbst stammen, sondern Leibniz (größtenteils seiner Theodizee) nur entliehen und von Gottsched dem Bayleschen Text hinzugefügt wurden. Durch die derart inszenierte Disputation zwischen Leibniz und Bayle wird allerdings Leibniz (ebenfalls Protestant) von Gottsched eine katholische Orthodoxie unterstellt, um diese dem vermeintlichen Bayleschen Manichäismus entgegenzusetzen. Dabei dürfte Gottsched (der zwar ein hervorragender Übersetzer und Philologe, doch kein Systematiker war) sich gerade mit dieser Konstruktion geirrt haben. Kant hat recht, wenn er in Leibniz' Monade (dem: Einen) gerade das manichäistisch Geteilte, nämlich den Geist (Kant: das Gespenst) in der Materie

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sieht. Umgekehrt nimmt Bayle, dem sein Problem auch doktrinal bewußt ist, eine Position ein, die der später von Kant verfochtenen verblüffend ähnelt; eine Position, die man als eine antimänichäistische bezeichnen muß. - „Weil in diesem Artikel" (über die Manichäer), schreibt Bayle, „so wohl, als in der Marcioniten und der Paulincianer ihren [man sieht schon an den Autoren, um welches Problem es sich hierbei handelt - C. R.], und in einigen andern, gewisse Dinge sind, woran sich viele Personen gestoßen, und welche zu zeigen geschienen, daß ich dem Manichäismus Vorschub thäte, und bey christlichen Lesern Zweifel erregen wollte; so melde ich hier: daß man zum Ende dieses Werks eine Erläuterung finden soll, welche beweisen wird, daß dieses den Gründen des christlichen Glaubens nicht den geringsten Anstoß geben kann" (S. 305). Zum Ende seines Artikels wird Bayle folgendermaßen argumentieren: „Durch Gründe a priori, würden sie [die Manichäer - C. R.] bald in die Flucht geschlagen; die Gründe a posteriori, sind ihre Festung gewesen: dahinter haben sie sich lange schlagen können, und es ist schwer gewesen, sie zu überwältigen. Die allersichersten und deutlichsten Begriffe der Ordnung belehren uns; das ein Wesen, welches durch sich selbst besteht, welches notwendig und ewig ist, auch einzig, unendlich, allmächtig, und mit allen Arten der Vollkommenheit begäbet seyn müsse. Wenn man also diese Begriffe zu Rathe zieht, so findet man nichts abgeschmacktere, als die Lehre von den zween ewigen Ursprüngen, welche von einander unabhänglich sind, davon der eine nicht die geringste Gütigkeit hat, und einer des andern Absichten aufhalten kann. Dieses nenne ich Gründe a priori. Sie fuhren uns nothwendiger weise dahin, daß wir diese Lehre [der Manichäer - C. R.] verwerfen, und nur einen einzigen Ursprung aller Dinge zulassen müssen. Wenn zu einer guten Lehrverfassung weiter nichts gehörte, als dieses, so würde der Proceß, zu Zoroasters, und allen seiner Anhänger Beschämung, gar bald ausgemacht seyn: allein ein jedes Lehrgebäude hat, wenn es gut seyn soll, diese zwey Dinge nöthig; erstlich, daß die Begriffe darinnen deutlich sind, zum andern, daß man von den Erfahrungen Grund geben kann. Also muß man sehen, ob sich die Naturerscheinungen durch die Lehre von einem einzigen Ursprung gut erklären lassen. Wenn die Manichäer wider uns anführen, daß, weil man in der Welt verschiedene Dinge findet, die einander zuwider sind, als die Kälte und Hitze; das Weiße und Schwarze; das Licht und die Finsternis; so verdienen sie Mitleiden (siehe den h. Epiphanius, wenn er von Seythianus, 619 S. wider die Ketzereyen redet.) Die Widerwärtigkeit, die sich unter diesen Wesen findet, sie mag durch dasjenige so sehr unterstützet werden, als man nur immer will, was man Veränderung, Unordnung, Unregelmäßigkeiten der Natur nennet, kann nur die Hälfte von einem Einwurf wider die Einheit, Einfachheit und Unveränderlichkeit Gottes machen. Man giebt Grund von allen diesen Dingen, entweder durch die verschiedenen Kräfte, welche Gott den Körpern gegeben hat, oder durch den Zusammenfluß der veranlassenden verständigen Ursachen, nach welchen es ihm gefallen aller hat, sich zu richten. [...] Man kann die Einträchtigkeit und Unveränderlichkeit der Wege Gottes retten, ohne

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daß man sich so viel Mühe geben darf: die einzige Festsetzung der veranlassenden Ursachen ist zureichend dazu, in so fern man nur die körperlichen Erscheinungen zu erklären hat, und den Menschen selbst nicht berühret. Der Himmel und alles übrige des ganzen Weltgebäudes, predigen die Herrlichkeit, die Allmacht und die Einheit Gottes; nur der Mensch allein, das Meisterstück seines Schöpfers biethet die größten Einwürfe wider die Einheit dar: und zwar auf diese Art: Der Mensch ist böse und unglücklich: jedermann erkennet ihn dadurch, was innerlich in ihm vorgeht, und durch den Umgang, den er mit seinem Nächsten haben soll. Man brauchet nur vier oder fünf Jahre zu leben; (in diesem Alter hat man schon Streiche der Bosheit begangen und erlitten: man hat Verdruß und Schmerz gehabt; man hat vielmals gelärmet, u.s.w.) um von diesen zween Artikeln vollkommen überzeuget zu seyn: diejenigen, welche lange leben, und in vielen Geschäften verwickelt sind, erkennen dieses noch viel deutlicher. Die Reisen lehren es täglich: sie zeigen überall die Denkmäler von dem Unglücke, und der Bosheit der Menschen; überall sind Gefängnisse und Hospitäler; überall Galgen und Bettler. Hier sieht man die Steinhaufen einer blühenden Stadt; anderwo kann man nicht einmal die verfallenen Mauern finden. [...] Studierende Leute erwerben sich, ohne daß sie aus ihrer Studierstube kommen, die meiste Einsicht über diese zween Puñete; denn sie lassen, indem sie die Historie lesen, alle Jahrhunderte und alle Länder der Welt durch die Musterung gehen. Die Historie ist, eigentlich zu reden, nichts als eine Sammlung von den Lastern und Unglücksfällen des menschlichen Geschlechts: allein wir wollen bemerken, daß diese zwey Uebel, davon das eine moralisch, und das andere physisch ist, nicht die ganze Historie, und alle Erfahrungen der Privatpersonen einnehmen. Man findet überall so wohl ein moralisches als physikalisches Gut; einige Exempel der Tugend, einige Beyspiele der Glückseligkeit; und eben dieses machet Schwierigkeit. Denn wenn es nur lauter boshafte und unglückliche Leute gäbe, so dürfte man zu der Lehre von den zween Ursprüngen nicht Zuflucht nehmen: die Vermischung der Glückseligkeit, und der Tugend mit dem Elend und dem Laster erfordert diese Lehre: hier findet Zoroasters Anhang seinen Schutz" (S. 307). Nun dürfte beim Lesen aufgefallen sein, wie sehr diese Position der Kantischen ähnelt. Im Unterschied zu Leibniz spaltet Bayle die Materie eben gerade nicht. Alleine die Menschengeschichte ist gespalten und in ihren Spaltungen durch und durch kontingent. In diese Kontingenz, nämlich in die Geschichte a posteriori - so Bayle - , haben sich die Manichäer eingenistet. Daher klammert Kant für seine Normativität die gesamte Historie aus und behält von diesen Bayleschen Sätzen den ersten und den letzten: nämlich das Apriori und die Möglichkeit zum Guten.

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38. Piatons Neuplatonismus (S. 213) Auch die Tatsache, daß Teile der Platonischen Philosophie orientalischer Herkunft sind, scheint Kant nicht entgangen zu sein. So, wenn er schreibt, daß einige Philosophen die Welt „als ein Zuchthaus [begreifen - C. R.]; welcher Meinung die brahmanischen, tibetanischen und andere Weisen des Orients (auch sogar Plato) zugetan sind: ein Ort der Züchtigung und Reinigung gefallner, aus dem Himmel verstoßener, Geister, itzt menschlicher oder TierSeelen" (EaD XI 180 A 505 Fn.). Aus dem Zitat geht auch deutlich hervor, wie Kant hier Piaton - über den fernöstlichen Umweg - in die Nähe von Swedenborg rückt.

39. Freuds Bemerkungen zum kategorischen Imperativ und dessen Beziehung zum mundus intelligibilis (S. 214) Bemerkenswert ist, daß die von uns hier gezogene Parallele bereits auch schon Freud aufgefallen ist. Während wir nun aber den mundus intelligibilis mit dem Über-Ich vergleichen, verglich Freud den kategorischen Imperativ mit dem Über-Ich. Alleine zwischen beiden Vergleichen besteht kein Unterschied, insofern man den mundus intelligibilis als die Summe aller kategorischen Imperative unter der Voraussetzung ihrer Verwirklichung betrachten kann und muß. Gibt nun der kategorische Imperativ die Handlungsanweisung zum Sittengesetz an (in seiner allgemeinsten Formel: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne" (KpV VII 140 A 54) - doch gibt es von diesem kategorischen Imperativ noch an die einhundert Subtypen!), so bezeichnet der mundus intelligibilis, als Reich der Zwecke, den erreichten Idealzustand des Sittengesetzes, wenn denn alle kategorischen Imperative befolgt werden würden. Von daher trifft das, was Freud vom kategorischen Imperativ sagt, desto mehr auf den mundus intelligibilis zu. Wiederholt vergleicht Freud den kategorischen Imperativ mit dem Tabu, weil dieser wie jenes zwangsartig (Kant sagt ja eben: imperativ) wirken will (vgl. Freud 1913 IX 4). Von daher - schreibt Freud - können wir erahnen, „daß das Tabu der Wilden Polynesiens doch nicht so weit von uns abliegt, wie wir zuerst glauben wollten, daß die Sitten- und Moralverbote, denen wir selbst gehorchen, in ihrem Wesen eine Verwandtschaft mit diesem primitiven Tabu haben könnten, und die Aufklärung des Tabu ein Licht auf den dunklen Ursprung unseres eigenen .kategorischen Imperativs' zu werfen vermöchte" (Freud 1913 IX 31 f). Gemeinsam ist eben beiden, daß sie von einem Gewissen oder Über-Ich zeugen. „Wie das Kind unter dem Zwang stand, seinen Eltern zu gehorchen, so unterwirft sich das Ich dem kategorischen Imperativ seines Über-Ichs" (Freud 1923 XIII 277f). „Der kategorische Imperativ Kants ist so der direkte Erbe des Ödipuskomplexes" (Freud 1923 XIII380). Aus dem Ödipuskomplex entspringt Schuldgefühl, aus diesem ein Gewissen oder Über-Ich,

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woraus dann zuerst unsere Religionen entstanden und wovon schließlich unsere heutigen Sitten- und Moralvorstellungen sowie nicht zuletzt auch der kategorische Imperativ Kants - d. i. nach Freud: unser heute noch gültiges Sittengesetz - zeugen. Ist es somit richtig, zu behaupten, daß sowohl der kategorische Imperativ wie auch das Über-Ich eine moralische Gesetzesinstanz darstellen, so muß hier doch auch schon auf ihren Unterschied (den Freud etwas vernachlässigt) hingewiesen werden. Stellt nämlich das Über-Ich, somit auch das Gewissen, eine subjektive innerpsychische (zumeist zudem noch unbewußte) Gesetzesinstanz dar, so handelt es sich sowohl beim kategorischen Imperativ als auch beim mundus intelligibilis um eine objektive außerpsychische (und bewußt zu machende) Gesetzesinstanz. Wir werden auf diesen Unterschied und dessen Konsequenzen noch zurückkommen. Wir halten soweit fest: daß Freud sich hier für das gleiche Problem interessiert wie Kant - nämlich: 1. in welcher Beziehung stehen unsere Moralgesetze zum Gewissen - dem moralischen Gefühl (Shaftesburys bzw. Kants) oder dem Über-Ich (Freuds)? 2. Wenn (worin Freud und Kant sich einig sind) die Moralgesetze ein nach außen projiziertes moralisches Gefühl oder ÜberIch darstellen, woher stammt dann diese moralische Instanz in uns? Freud setzt an diese Stelle die Geschichte vom Urvatermord, Kant meint, daß diese Frage unbeantwortet bleiben muß. 40. Kants Kritik des Johannesevangeliums (S. 217) Vgl. hierzu auch Kants Kritik von (Joh 3,17): „Gott hat ihn [seinen Sohn] nicht in die Welt gesandt, daß er die Welt richte, sondern daß sie durch ihn selig werde", wobei Kant gegen diesen Satz nichts einzuwenden hätte, wenn hier nicht das ausschließende Wort ,sondern' stehen würde. (Vgl. Rei. VIII 815 Β 222 Fn.) 41. Ein Lapsus bei Weischedel (S. 217) Bei W. Weischedel steht hier: „Liebe, die keine innere Weigerung des Willens gegen das Gesetz besorgt". Das Wort ,Weigerung' steht hier jedoch - und zwar ganz und gar eindeutig - falsch; es müßte (umgekehrt) an dessen Stelle heißen: ,Weisung'. Denn Kant will hiermit ja doch wohl nicht sagen, daß die Liebe ,unfähig wäre, sich gegen das Gesetz zu revoltieren', sondern er will sagen, daß bei der Liebe ,keine Nötigung des Willens in bezug auf ein Gesetz' stattfinden kann. Abgesehen davon, daß ,Weigerung' kein Kantisches Wort ist, scheint bei diesem doch beachtlichen Lapsus offenbar ein christlicher Verleger oder Setzer am Werk gewesen zu sein; jedenfalls jemand, der sich offenbar geweigert hatte, Kants antichristlichen Text wortgetreu wiederzugeben.

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42. Kultur des Begehrens bei Kant (S. 217) „,Ethik des richtigen Begehrens' oder gar ,Kultur des Begehrens' sind Ausdrücke eines theoretischen Interesses, das in Kants Moralphilosophie keinen Platz hat" (R. Bernet 1994 27). - Nun hoffen wir hinreichend gezeigt zu haben, daß es bei Kants Moralphilosophie um nichts anderes geht als gerade um eine Kultur, Politik oder Ethik des Begehrens (welche Kant freilich so nicht nennt), mithin um eine theoretische Moralkonstruktion unter Berücksichtigung der triebökonomischen Gesichtspunkte. Hieraus ergibt sich auch Kants Frage: „auf welche Art das moralische Gesetz Triebfeder werde, und was, indem sie es ist, mit dem menschlichen Begehrungsvermögen, als Wirkung jenes Bestimmungsgrundes auf dasselbe vorgehe" etc. (KpV VII 192 A 128). Daß es sich hierbei gerade um eine Kultur, Politik bzw. Ethik des richtigen Begehrens handelt, geht ja doch auch aus den sogenannten kategorischen Imperativen als ob' deutlich hervor; so z. B. auch aus dem folgenden: „Handle so, als ob deine Maxime zugleich zum allgemeinen Gesetz (aller vernünftigen Wesen) dienen sollte" (GMS VII 72 BA 84). - Es ist nicht recht nachvollziehbar, warum Bernet, der doch dann in der Folge Kants ,Kultur des Begehrens' in ihren groben Zügen sehr richtig wiedergibt, sich zu einem solchen Satz hat verleiten lassen können.

43. Kant und das Problem des sogenannten moralischen Masochismus (S. 218) „In Anlehnung an einen bekannten Ausspruch Kant's, der das Gewissen in uns mit dem gestirnten Himmel zusammenbringt, könnte ein Frömmler wohl versucht sein, diese beiden als die Meisterstücke der Schöpfung zu verehren. Die Gestirne sind gewiß großartig, aber was das Gewissen betrifft, so hat Gott hierin ungleichmäßige und nachlässige Arbeit geleistet, denn eine große Überzahl von Menschen hat davon nur ein bescheidenes Maß, aber kaum so viel, als noch der Rede wert ist, mitbekommen" (Freud 1933 XV 67). Selbst dann aber, wenn das Gewissen vorhanden, und selbst übermäßig vorhanden ist, so ist dies - nach Freud - keineswegs ein Garant für sittliches Verhalten. Gerade das Gegenteil kann, wie das Beispiel des sogenannten moralischen Masochismus zeigt, der Fall sein. „Es war eine Überraschung", schreibt Freud, „zu finden, daß eine Steigerung dieses unbewußten Schuldgefühls den Menschen zum Verbrecher machen kann. Aber es ist unzweifelhaft so. Es läßt sich bei vielen, besonders jugendlichen Verbrechern, ein mächtiges Schuldgefühl nachweisen, welches vor der Tat bestand, also nicht deren Folge, sondern deren Motiv ist, als ob es als Erleichterung empfunden würde, dies unbewußte Schuldgefühl an etwas Reales und Aktuelles knüpfen zu können" (Freud 1923 XIII 282). Ferner: „Die Unbewußtheit des moralischen Masochismus leitet uns auf eine naheliegende Spur. Wir konnten den Ausdruck ,unbewußtes Schuldgefühl' übersetzen als Strafbedürfnis von Seiten einer elterlichen Macht. Nun wissen wir, daß der in Phantasien so häufige

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Wunsch, vom Vater geschlagen zu werden, dem anderen sehr nahe steht, in passive (feminine) [d. h. - C. R. - im Falle eines Mannes homo-] sexuelle Beziehung zu ihm zu treten, und nur eine regressive Einstellung desselben ist. Setzen wir diese Aufklärung in den Inhalt des moralischen Masochismus ein, so wird dessen geheimer Sinn uns offenbar. Gewissen und Moral sind durch die Überwindung, Desexualisierung, des Ödipuskomplexes entstanden; durch den moralischen Masochismus wird die Moral wieder sexualisiert, der Ödipuskomplex neu belebt, eine Regression von der Moral zum Ödipuskomplex angebahnt. Dieses geschieht weder zum Vorteil der Moral noch des Individuums" (sie! - Freud 1923 XIII 382). Auch in ihrer Beurteilung des Christentums als einem moralisch-masochistischen Selbstbestrafungsunternehmen, das durch eine Resexualisierung des Moralisch-Religiösen vermittels einer Regression der Moral auf den Ödipuskomplex verursacht wird, sind sich Kant und Freud in erstaunlicher Weise einig (vgl. hierzu auch Freuds Beobachtungen zum Christentum in Totem und Tabu). Nun ist allerdings Kant schwerlich der Vorwurf zu machen, dieses Problem eines unbewußten Selbstbestrafungsbedürfnisses nicht gesehen und erkannt zu haben - im Gegenteil: wir sind auch hier wiederum erstaunt zu sehen, wie sehr sich beide, Kant und Freud - auch und gerade in ihren Triebstrategien - einig sind. Swedenborgs homo maximus liefert ja doch ein hervorragendes Beispiel für den moralischen Masochismus. Grade diese Figur jedoch führt Kant zu den gleichen Schlüssen wie Freud - nämlich: 1. das Gewissen darf nicht als Normativität betrachtet werden, sondern muß vielmehr von einem objektiven Sittengesetz gerichtet werden, und 2. die ganze Triebpolitik besteht darin, das Verhältnis des Ichs zur Gesetzesinstanz zu enterotisieren. Denn - ob als ein Zuwenig oder ob als ein Zuviel des Gewissens - die Erotisierung dieses Verhältnisses führt unweigerlich in die Regression und mit dieser in der Folge auch zu gesetzeswidrigem Verhalten.

44. Das Marionettenspiel des Wahns bei Lacan (S. 220) In dem Gleichnis zwischen Marionettenspiel und Paranoia hebt Jacques Lacan noch einen anderen Aspekt hervor. Im Zuge der Analyse von zwei sich in einem ,Wahn zu zweit' befindenden Paranoikerinnen gibt er uns folgendes zu bedenken: „Von einem Sprechen her wird [bei diesen Paranoikerinnen - C. R.] ein Spiel eingeführt, durchaus vergleichbar dem, was in Alice im Wunderland geschieht, wenn der Diener und andere Figuren des Hofs der Königin anfangen, Karten zu spielen, indem sie diese Karten als Kleider anziehen und selbst der Herzkönig werden, die Pikdame und der Karobube. Ein Sprechen verpflichtet Sie, es durch Ihren Diskurs zu verfechten, oder es zu verleugnen, es zurückzuweisen oder es zu bestätigen, es zu widerlegen, aber mehr noch, sich vielem zu beugen, das in der Spielregel inbegriffen ist. Und sogar wenn die Königin alle Augenblicke die Regel änderte, würde das nichts am Wesentlichen ändern - sobald Sie einmal in das Spiel der Symbole eingeführt

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worden sind, sind Sie immer gezwungen, sich entsprechend einer Regel zu verhalten. Mit anderen Worten, wenn eine Marionette spricht, dann ist das nicht sie, die spricht, es ist jemand dahinter. Die Frage besteht darin zu wissen, welche die Funktion der bei dieser Gelegenheit [der Halluzination - C. R.] angetroffenen Person ist. Wir können sagen, daß es für das Subjekt offensichtlich etwas Reales ist, das [im Marionettenspiel des Wahns - C. R.] spricht. Unsere Patientin sagt nicht, daß es jemand anderer hinter der Person ist, der spricht, sondern sie erhält von dieser ihr eigenes Sprechen, aber nicht umgekehrt. Ihr eigenes Sprechen ist im anderen, der sie selbst ist, der kleine andere, ihre Spiegelung in ihrem Spiegel, ihr Ebenbild. [...] Daß das Sprechen sich im Realen ausdrückt, besagt, daß es sich in der Marionette ausdrückt. Der Andere [das ist hier der reale Andere - Noumenon - nicht das, was in diesen imaginär hineinprojiziert wird, der große Andere als Phänomen des Wahns C. R.], um den es in dieser Situation geht, ist nicht jenseits des Partners, er ist jenseits des Subjekts selbst - das ist die Struktur der Anspielung - sie zeigt sich selbst in einem Jenseits dessen, was sie sagt." (J. Lacan 1981 63f) Hieraus erhellt vielleicht auch, daß Lacans Unterscheidung von kleinem anderen (a) und großem Anderen (A) auf der Kantischen Differenzierung von Phaenomenon und Noumenon beruht.

45. Hegels Geisterphänomenologie (S. 221) „Das Geisterreich, das auf diese Weise sich im Dasein gebildet, macht eine Aufeinanderfolge aus, worin einer den anderen ablöste und jeder das Reich der Welt von dem vorhergehenden übernahm. [...] Das Ziel, das absolute Wissen, oder der sich als Geist wissende Geist hat zu seinem Wege die Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reiches vollbringen. [...]; beide, zusammen, die begriffene Geschichte, bilden die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewißheit seines Throns, ohne den er das leblose Einsame wäre; nur - aus dem Kelche dieses Geisterreiches / schäumt ihm seine Unendlichkeit." - So schließt, wie man weiß, Hegels Phänomenologie des Geistes (1807 591) mit einem verfremdeten Schiller-Zitat. Bei Schiller, in: Die Freundschaft, heißt es: „Aus dem Kelch des ganzen Seelenreiches / Schäumt ihm - die Unendlichkeit". Schiller aber - der ja bei Kant studierte und 1788 mit seinem Roman Der Geisterseher die Kantische Geisterkritik weiterfuhren wollte (was mißlang) - Schiller verstand sein Gedicht Die Freundschaft, dem auch das Zitat zu Beginn dieses Kapitels entstammte, eindeutig als eine Swedenborg- bzw. Neuplatonismus-Kritik. Daß nun wiederum Hegel Schillers Seelenreich in ein Geisterreich rückverwandelt, zeigt nur, wie sehr er sich selbst - insgeheim - als Swedenborgianer verstand. (Zum Einfluß Swedenborgs auf Hegel: vgl. u. a. R. Schneider 1938 sowie E. Benz 1941.) Im übrigen wäre es sicherlich hilfreich, einmal Hegels Phänomenologie mit den o. g. Schriften Plotins zu vergleichen: Dort wird man nämlich sehen,

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auf wessen Geist die Entfaltung, Erinnerung und Stufenleitern der Geister, wie überhaupt die ganze Organisation des Hegeischen Geisterreichs beruht. Ob nun aus erster oder fünfter Geisterhand: die Phänomenologie des Geistes wie im übrigen der gesamte sogenannte Deutsche Idealismus - bewegt sich in der Tradition des Neuplatonismus.

46. Vom Wahn der Ontologie - nach Kant (S. 224) Daß es sich bei dem ontologischen Verfahren (bei Seins- und Wesensbeschreibungen überhaupt) um ein amphibolisches Surrogat fur Vernunft handelt, macht Kant in der Kritik nochmals deutlich: „Seine Grundsätze [die des Verstandes a priori] sind bloß Prinzipien der Exposition der Erscheinungen, und der stolze Name einer Ontologie, welche sich anmaßt, von Dingen überhaupt synthetische Erkenntnisse a priori in einer systematischen Doktrin zu geben (z. E. den Grundsatz der Kausalität) muß dem bescheidenen, einer bloßen Analytik des reinen Verstandes, Platz machen" (KrV III 275 A 247 Β 304) - weil das Verständige der Dinge (ζ. B. Kausalität) nicht - wie von der Ontologie behauptet - in den Dingen oder an den Dingen liegt. (Vgl. hierzu auch: A. Noordraven 2001.)

47. Empiriker und Empiristen (S. 243) Es sollen an dieser Stelle weder die Empiriker noch die empirischen Wissenschaften in Mißkredit gebracht werden. Daß die angewandten Wissenschaften empirisch verfahren und auch gar nicht anders verfahren können, ist hier nicht Gegenstand der Verhandlung, da hier eben gar nicht von den Empirikern, sondern nur von den Empiristen die Rede ist. Unter einem Empiristen verstehen wir hier - nach Kant - einen Philosophen oder Sozialwissenschaftler, der die Erfahrungswerte zur Grundlage von Vernunft- oder Sozialgesetzen entweder im erkenntnistheoretischen oder im moralischen Bereich - machen möchte, was Kant zufolge eben nicht möglich ist.

48. Schmetterlinge als Spiegel der Psyche (S. 253) „Das Sinnbild der alten Ägypter vor die Seele war ein Papillon, und die griechische Benennung bedeutete eben dasselbe. Man siehet leicht, daß die Hoffnung, welche aus dem Tode nur eine Verwandlung macht, eine solche Idee samt ihren Zeichen veranlaßt habe" (Τ II 963 A78 Fn.). Nur dürfte sich die Metapher des Schmetterlings für die Psyche in der Idee der Metamorphose keineswegs erschöpfen. Nach Vorstellung der alten Griechen verfügen all jene Wesen über eine Psyche, die sich aus eigener Kraft heraus bewegen können. Demzufolge haben Menschen und Tiere Seelen, Steine und Pflanzen hingegen nicht. Da somit die Seele auf eine selbstbewegende Kraft verweist, ist es naheliegend, daß man

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diese in der Kraft der Selbstbewegung, daher in den beflügelten Wesen zu sehen glaubte. Deshalb versinnbildlicht das Auf- und Zuschlagen der Schwingen des Falters - für Freud auch ein sexuelles Symbol - die Spontaneität des Beseelten oder - wie Goethe zu sagen pflegte - des Lebens Leben. Der Flug des Papillon - leicht, flüchtig, tänzelnd, im Winde umherflatternd - spricht in direkter Weise unsere Seele an und zieht unseren Blick derart in seinen Bann, daß wir - wie bezirzt und hypnotisiert - gar nicht anders können, als uns von seinem Umhergeflatter mitreißen zu lassen. So konzentriert ist unsere Aufmerksamkeit auf diese Zerstreuung, daß unsere Stimmung mit den luftigen Bewegungen des Schwärmers mitzuschwingen scheint und uns in eine Selbstvergessenheit versetzt, die unser Gemüt dennoch heiter stimmt. Denn die Falter sind nicht nur Zeichenträger, ihre Präsenz ist selbst ein Zeichen der Götter; aufgetaucht aus dem Nichts und ebenso urplötzlich wieder verschwunden, sind sie nur kurz vorbeigeflattert, um uns die Poesie der Ewigkeit zu vermitteln. Nur welche? Was wohl die Sammler der Lepidopteren so bezaubert, das ist nicht nur deren Artenvielfalt - es gibt ihrer über hundertfünfzigtausend Arten! - und nicht nur deren Farbenpracht und selbst nicht einmal diese unendliche Vielfalt ihrer Formen; all dies könnte man auch an anderen Geschöpfen, etwa bei Fischen oder Vögeln, bewundern. Was die Falter zu solch bezaubernden Wesen macht, ist zweifellos das, was auf dem Rücken ihrer entfalteten Flügel wie in einem aufgeschlagenen Buch zum Vorschein kommt: das Faltbild, das sich aus zwei spiegelverkehrt zueinander stehenden Gegenstücken zusammensetzt. Nun handelt es sich hierbei jedoch nicht nur um eine beliebige geometrische Spiegeifigur; was die Falter als Sinnbild auf ihrem Rücken tragen ist das Urbild selbst von Identität und Differenz; eine symbolische Darstellung der Darstellung des Symbolischen schlechthin, die uns notgedrungen als bedeutendes Zeichen, mithin als Schrift erscheinen muß; eine Illusion, die uns bei Fischen oder Vögeln nicht so leicht in den Sinn kommen würde. Also sind die kleinen umherflatternden Psyche Götterboten, die die Botschaft des Göttlichen selbst auf ihrem Rücken tragen: das Tatoo des Symbolischen als Flugblatt. Hierin liegt der Zauber und mit diesem auch die Analogie zu unserer Seele; denn wenn Psyche, wie es heißt, der Spiegel unseres Bewußtseins ist, so wundert es nicht, daß wir diesen im Faltblatt des Symbolons reflektiert zu sehen glauben. Zwischenzeitlich konnte die Wissenschaft beobachten, daß die Falter tatsächlich kleine Zauberer - gute Feen oder böse Hexen? - sind. Dieser Zauber bezieht sich nicht alleine auf ihre Verwandlungskünste in der Zeit - die Metamorphose vom Ei zur Raupe, von dieser zur Puppe und von jener zum Falter - ; dieser Zauber ist vielmehr vor allem auch am mimetischen Vermögen der Falter zu beobachten. Tatsächlich sind die Schwärmer Meister im Spiegeln, Meister auch im Vorspiegeln falscher Identitäten: Sie sind die Blender schlechthin. So dienen die großen aufgemalten Augen auf den Flügeln vieler Falterarten dazu, den Vögeln vorzuspiegeln, sie würden von ihresgleichen angeschaut, was zur Folge hat, daß diese ihre Beute nicht anrühren (vgl. R. Caillois 1960).

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So bedienen sich die Falter der List des Perseus, der mit seinem Schild den versteinernden Blick der Medusa zurückgeworfen und sie damit selbst versteinert hatte. Ihre symbolischen Augen sind gespiegelte Sonnen; eine simulierte Reflexion, mit der sie jedem potentiellen Feind die Augen ausstechen. Noch raffinierter: Die spiegelverkehrte geometrische Figur auf ihren Flügeln als das Spiegelbild des Symbolischen schlechthin stellt den Betrachter vor solche Rätsel, daß er darüber das Sehen vergißt. Dies ist das subtile Spiel der reflexiven Mimesis: so wie schwarze Löcher bis hin zum Licht alles in sich verschlucken, so ziehen die Falter den Blick so sehr in ihren Bann, daß der Betrachter erblindet. Ein ebensolches Spiegelschutzschild der Mimesis verwenden manche Falter auch im Akustischen, wenn sie etwa das Echolot der Fledermäuse zurückwerfen und dadurch das Orientierungssystem ihrer Feinde stören (vgl. C. M. Naumann 1992 llf): „Ein näher untersuchter Bärenspinner, Cycnia tenera, nutzt anscheinend die gepulsten Lautwiederholungen zu Bestimmung der Entfernung anfliegender Fledermäuse. Noch erstaunlicher: Als Antwort auf die Echolaute der Fledermaus beginnt diese Art ihrerseits Laute zu produzieren, die das Echoortungssystem der Fledermaus stören und somit ihr Ortungsvermögen beeinträchtigen. Fledermäuse steigern die Emissionsrate ihrer Laute mit zunehmender Annährung an die Beute. Cycnia tenera beginnt ihr akustisches Störfeuer zu einem Zeitpunkt, zu dem die Fledermaus knapp unter einem Meter [...] von ihrer Beute entfernt ist - gerade noch früh genug um sich noch ,akustisch' zu tarnen". Somit finden wir hier, im Optischen wie im Akustischen, Kants focus imaginarius wieder; ein Vorstellungssystem des Feindes, welches die Falter durch vorgespiegelte falsche Identität offenbar zu stören vermögen. Helfen all diese Tarnungsmanöver nicht, schlägt der Falter die Flügel zusammen, stellt sich tot und fällt wie ein Stein zu Boden. So wie unsere Seele die Identität unseres Bewußtseins widerspiegelt, so reflektiert der Schmetterling die Mimesis der Natur, als Spiegel unseres Spiegels. Daher ist es auch nicht verwunderlich, daß die Falter seit alters her mythisiert und mit den phantastischsten Namen versehen wurden. Ferner dienten die Falter auch als Orakeltiere, die je nach Färbung und Tageszeit Tag- oder Nachtfalter - entweder Schutzengel oder böse Dämonen verkörperten. Denn als Seelenspiegel stellen die Falter auch den Dream Screen unserer eigenen psychischen Vorstellungen - mitsamt deren Ambivalenzen - dar: in protestantischen Ländern bedeuten die kleinen umherflatternden Psyche etwa Hexen, die die Milch, den Rahm oder die Butter stehlen (Schmetterlinge, wohl von Schmetten, als vermeintliche butterschädigende Hexen, oder auch Milchstehler, Molkentewer, butterfly), in katholischen Ländern dagegen ein Himmelszelt (papillon von papilio, parpaillot, pavillon).

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49. Camera obscura (S. 262) ,,[lat.; dunkle Kammer] u. a. von Leonardo da Vinci um 1500 beschriebene Urform der photograph. Kamera; ein innen geschwärzter Kasten mit transparenter Rückwand, auf der eine an der Vorderseits befindliche Sammellinse (ursprünglich einfache Lochblende; Lochkamera) ein kopfstehendes, seitenverkehrtes Bild erzeugt. In der Malerei wurde die C. o. bis ins 19. Jh. als Hilfsmittel benutzt, besonders bei der Komposition von Landschaften und Veduten" - Mayers Konversationslexikon. Bereits am Beispiel der Camera obscura wird nun einiges deutlich, was für unsere Untersuchungen der Projektionsverhältnisse nicht ganz unerheblich ist. So sehen wir auf der Projektionsfläche O (einer durchsichtigen Scheibe oder Leinwand) einen Gegenstand, der nicht dieser Fläche zuzuordnen ist, sondern auf ihr nur als Abbild erscheint. Die Abbildung (P') ist ein inkongruentes Gegenstück zum Abgebildeten (P), d. h. kopfstehend und seitenverkehrt. Hieran wird deutlich, daß eine (rationale) Abbildung des Gegenstandes - wie Repräsentation überhaupt - ohne einen solchen Projektionsapparat weder denkbar noch möglich ist. Die seit der Renaissance übliche Verwendung der Camera obscura für die Malerei zeigt ferner, wie der Darstellungsapparat auf die Welt der Bilder selbst abfärbte; ist doch die Entdeckung der Perspektive - sowie die rationale Darstellung von Gegenständen im Raum überhaupt - direkt auf die Verwendung der Camera obsura zurückzuführen. Letzteres hat auch die Geschichte des menschlichen Sehens nachhaltig verändert; keineswegs haben die Menschen immer so dreidimensional gesehen wie seit der Erfindung dieses Apparats um 1500. Die Tatsache schließlich, daß unser Auge auch nicht anders funktioniert als die Camera obscura, veranschaulicht wiederum die von Kant in De mundi vorgenommene Umkehrung: Nicht unser Intellekt wird von den Sinnesdaten, sondern letztere werden vom Intellekt bestimmt. Denn das Bild, das uns vom gesehenen Gegenstand auf der Netzhaut erscheint, ist - wie das der Camera obscura - bekanntlich kopfstehend und seitenverkehrt; erst unser Intellekt - der die Sehdaten mit denen des Gleichgewichtssinns, d. h. mit oben und unten, vergleicht - rückt das Bild wieder in die richtige Richtung und macht es dem gesehenen Gegenstand gleich. Daher sehen wir (intellektuell) eben nicht das, was unsere Augen sehen, so wie das, was unsere Augen sehen - zumindest richtungsmäßig - nicht dem Gesehenen entspricht.

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50. Schema der Camera obscura (S. 262)

S

A = Apparat der Projektion (hier Camera obsura) Β = Blende, Linse, Brille (hier simple Lochblende) S = Subjekt, Lichtquelle (hier Sonne) Ρ = Prädikat, Gegenstand der Projektion (hier Gebirge) O = Objekt, Projektionsfläche, Leinwand, Dream Screen (hier Wand) P'= Virtuelles Prädikat auf dem Objekt (hier spiegelverkehrtes Abbild des Gebirges)

51. Die Linie erkennen (S. 271) Vgl. auch die berühmte Passage in der Kritik (KrV III 140 Β 137f), in der es heißt: „Um aber irgend etwas im Räume zu erkennen, ζ. B. eine Linie, muß ich sie ziehen, und also eine bestimmte Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen synthetisch zu Stande bringen [wozu es einer gewissen Zeit bedarf C. R.], so, daß die Einheit dieser Handlung zugleich die Einheit des Bewußtseins (im Begriffe einer Linie) ist, und dadurch allererst ein Objekt (ein bestimmter Raum) erkannt wird."

Glossar der zentralen psychologischen Begriffe

Bruch, der psychotische „Während bei der Neurose das Ich, das den Forderungen der Realität (und des Über-Ichs) gehorcht, die Triebforderungen verdrängt, kommt es bei der Psychose zuerst zu einer Ruptur zwischen dem Ich und der Realität [bzw. Überich - C. R.], die das Ich der Herrschaft des Es [d. h. den Triebforderungen C. R.] überläßt; in einem zweiten Abschnitt, dem des Wahns, baut das Ich eine neue [wahnhafte - C. R.] Realität [bzw. ein neues wahnhaftes Über-Ich C. R.] auf, die mit den Wünschen des Es übereinstimmt." (Laplanche/Pontalis 1972 416) Dream Screen „Eine kurze, bizarre Episode lang haben sich die Psychoanalytiker bemüht, ein Modell zum Verständnis dieser Situation anzudeuten: 1946 entwickelte B. D. Lewin das Konzept des Dream Screen. Demnach wird jeder Traum auf einen leeren, im allgemeinen vom Träumer nicht bemerkten Schirm projiziert. Dieser, so Lewin, symbolisiert die Mutterbrust, so wie sie sich das Kind im Schlaf, der seiner Sättigung folgt, halluzinatorisch vergegenwärtigt." (W. Schmidbauer 1999 82) Ichideal „Von Freud im Rahmen seiner zweiten Theorie des psychischen Apparates verwendeter Ausdruck: Instanz der Persönlichkeit, die aus der Konvergenz des Narzißmus (Idealisierung des Ich) und den Identifizierungen mit den Eltern, ihren Substituten und den kollektiven Idealen entsteht. Als gesonderte Instanz stellt das Ichideal ein Vorbild dar, an das das Subjekt sich anzugleichen sucht. [...]. ,Was er [der Mensch] als sein Ideal vor sich hin projiziert, ist der Ersatz für den verlorenen Narzißmus der Kindheit, in der er sein eigenes Ideal war'. [...] In Massenpsychologie und Ichanalyse (1921) wird die Funktion des Ichideals in den Vordergrund gestellt. Freud sieht in ihm eine Bildung, die vom Ich klar abgetrennt ist und die es ermöglicht, die verliebte Hörigkeit, die Abhängigkeit vom Hypnotiseur und die Unterwerfung unter den Führer zu erklären: alles Fälle, in denen eine fremde Person vom Subjekt an die Stelle seines Ichideals gesetzt wurde." (Laplanche/Pontalis 1972 202f)

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Kastrationsdrohung, die symbolische Siehe hierzu u. a. das Stichwort ,Kastrationskomplex' bei Laplanche und Pontalis 1972, ferner sei auf J. Riviere 1924a sowie 1924b verwiesen. Dabei interessieren wir uns hier nicht für die Theorien der ontogenetischen Entstehung des Kastrationskomplexes, sondern dafür, was dieser phylogenetisch, im kulturellen gattungsgeschichtlichen Zusammenhang symbolisiert. Hierzu hat Freud einige bemerkenswerte Beobachtungen angestellt. „Das Kind kann den Ödipus nicht überwinden und nicht zur Identifizierung mit dem Vater gelangen [d. h. nicht ein Über-Ich in sich aufbauen - C. R.], es sei denn, es ist durch die Kastrationskrise hindurchgegangen, d. h. es hat sich in der Benutzung seines Penis als Instrument seines Wunsches nach der Mutter abgelehnt gesehen. Der Kastrationskomplex muß auf eine kulturelle Ordnung bezogen werden, bei der das Recht auf einen bestimmten Gebrauch immer mit einem Verbot korreliert. In der ,Kastrationsdrohung', die das Inzestverbot besiegelt, inkarniert sich die Funktion des Gesetzes, sofern es die menschliche Ordnung einführt, wie das auf mythische Weise die ,Theorie' des Urvaters in Totem und Tabu illustriert" (Laplanche/Pontalis 1972 246); d. h. die Kastrationsdrohung ist das sexuelle (aus dem Ödipuskomplex hervorgegangene) Symbol für jegliche Art von Gesellschaftsvertrag überhaupt, insofern es eine Beschneidung der unbegrenzten kindisch-animalischen Triebansprüche darstellt. „Eben weil der Kastrationskomplex apriori die Bedingung ist, die den zwischenmenschlichen Austausch regelt, sofern es sich um den Austausch von Sexualobjekten handelt, kann er sich der konkreten Erfahrung in mehreren Facetten anbieten" (ebd.). In diesem Zusammenhang sei aufjene Kastrationssymbole verwiesen, die entweder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaft oder umgekehrt den Ausschluß aus derselben darstellen. Im ersten Fall z. B. die Beschneidung bei den Juden, die geschorenen Haare als Symbol für die Zugehörigkeit zu einer militärischen oder religiösen (z. B. mönchischen) Elitegemeinschaft; im zweiten Fall das Beschneiden (z. B. Abschneiden der Finger, der Haare etc.), Verstümmeln (z. B. in der Folter), Entblößen (Wegnehmen von Kleidung, Besitz etc.) oder Brandmarken von Individuen, die aus einer Gemeinschaft ausgeschlossen werden sollen. Wie man sieht, handelt es sich hierbei um äußerst archaische symbolische Kastrationsrituale, die - wenn auch in sublimierteren Formen (z. B. Beschneidung eines Ressorts bei einem abgestraften Mitarbeiter etc.) - selbst noch für die modernen Gemeinschaften gesellschaftskonstituierend sind. Die symbolische Kastration besagt also: daß das Subjekt einen kleinen Teil (seiner selbst) dem Ganzen der Gemeinschaft zu opfern hat, um mit diesem Tribut (der Einschreibung des Gesetzes in den eigenen Körper) die Zurückstellung seiner Triebansprüche gegenüber dem Ganzen der Gemeinschaft zu symbolisieren. Entscheidend für die symbolischen Kastrationsformen ist nun, daß diese sich auf den reinen Signifikanten (daher auf die reine Form) der Anerkennung des Gemeinschaftstabus bzw. des Gesetzes, und zwar unabhängig von allen Signifikaten (d. h. Inhalten) beziehen: durch die symbolische

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ANHANG

Kastration drückt das Individuum seine Zugehörigkeit apriori zu einem Gesetz (oder Tabu) aus - die Inhalte des letzteren mögen anschließend sein, welche sie wollen. Somit bedeutet die symbolische Kastration, daß mit ihr die Achtung vor dem Gesetz als solchem zum Ausdruck kommt. Wird dann diese Achtung, wie bei Straftätern, politisch Verfolgten etc., als nicht vorhanden angesehen, so wird die symbolische Kastration erneut in den Körper eingezeichnet bzw. das Subjekt erneut beschnitten. Damit ist die Kastrationsangst (hinter welcher sich real die Morddrohung der gesamten Gemeinschaft verbirgt) - als die verbietende und normative Funktion des Ödipuskomplexes (vgl. ebd. 242) - konstitutiv für das Über-Ich, d. h. für die Instanz der innerpsychischen Anerkennung des Gesetzes. Von hier aus interpretiert Freud die moralische Angst als Kastrationsangst vor der Trennung vom Über-Ich (vgl. ebd. 245). Auf der symbolischen Kastration ist hier darum so insistiert worden, weil gerade die deutsche Geschichte gezeigt hat, was geschieht, wenn ein Subjekt (Individuum oder Volk) sich nicht der symbolischen Beschneidung unterzieht, nämlich: der Wahn sowie anschließend das Verbrechen, welches der ,Arrogantia' gewöhnlichenfalls folgt. Die Ursache für den deutschen Faschismus ist daher nicht im .autoritären Charakter' der Deutschen oder im .preußischen Militarismus', sondern umgekehrt darin zu sehen, daß sich eine Autorität in Deutschland historisch nicht hat etablieren können. Der NS zeugt nicht von einem Übermaß, sondern von einem völligen Mangel an Autorität oder eben an ,Achtung vor dem Gesetz'. Gerade der Umstand, daß die Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland nicht aus einer Revolution oder einem Bürgerkrieg hervorgegangen ist, daß also Herrscher und Volk in Deutschland den Blutzoll für ihre Gemeinschaftlichkeit nicht selbst ausgehandelt haben, führte später zur Achtlosigkeit vor dem Gesetz (d. i. zum Wahn) sowie zu einem Exzeß, der sich gegen die elementarsten Spielregeln der Zivilisation richtete und statt einige Zehntausend Guillotinierte aus dem eigenen Volk (dem Teilopfer fürs Ganze) schließlich 45 Millionen Menschen aus anderen Völkern (als Opfer des Gesamten für einen kleinen Teil) das Leben kostete. Da die Bevölkerungsverluste im 2. Weltkrieg im allgemeinen nicht bekannt sind, seien sie hier (ohne Unterscheidung der Militär- und Zivilopfer) genannt: Deutsche 5,6 Mio.; Japaner 2 Mio.; Italiener 0,3 Mio.; Westalliierte 0,4 Mio. (davon 0,1 Mio. US-Bürger); Russen 20,6 Mio.; Chinesen 13,5 Mio.; europäische Juden 5,3 Mio. (davon 3 Mio. aus Polen und 1 Mio. aus Rußland); Polen 2,6 Mio., Jugoslawen 1,6 Mio. Sieht man von den Deutschen ab, sind an der europäischen Westfront 0,5 Mio. und an der europäischen Ostfront 30 Mio. Menschen gefallen (vgl. F. W. Putzger 1968 145). Kant und Freud sind sich hierin jedenfalls einig: ohne Demütigung (Kant) bzw. symbolische Kastration (Freud) der ungebrochenen kindlich-narzißtischen Triebansprüche ist keine Achtung für das Gesetz sowie in Folge auch kein Gesellschaftsvertrag als solcher möglich.

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Konversion „Mechanismus der Symptombildung bei der Hysterie und spezieller bei der Konversionshysterie. - Er besteht aus der Umsetzung eines psychischen Konflikts - und einem damit einhergehenden Lösungsversuch dieses Konflikts in somatische, motorische (z. B. Lähmung) oder sensible (z. B. umschriebene Anaestesien oder Schmerzen) Symptome. - Für Freud besteht eine Korrelation zwischen der Konversion und einer ökonomischen Konzeption: Die von den verdrängten Vorstellungen abgetrennte Libido wird in Innervationsenergie umgewandelt. Aber was die Konversionssymptome kennzeichnet, das ist ihre symbolische Bedeutung: Sie drücken verdrängte Vorstellungen durch den Körper aus." (Laplanche/Pontalis 1972 27) Neurose „Neurose - Psychogene Affektion, deren Symptome symbolischer Ausdruck eines psychischen Konflikts sind, der seine Wurzeln in der Kindheitsgeschichte des Subjekts hat; die Symptome sind Kompromißbildungen zwischen Wunsch und Abwehr. Der Neurosebegriff hat sich gewandelt; man bemüht sich heute, ihn nur für diejenigen klinischen Formen zu verwenden, die mit der Zwangsneurose, der Hysterie und der Phobie in Zusammenhang gebracht werden können. Die Nosographie unterscheidet so Neurosen, Psychosen, Perversionen, psychosomatische Affektionen, während der nosographische Status dessen, was man Aktualneurosen, traumatische Neurosen, Charakterneurosen nennt, offen bleibt." (Laplache/Pontalis 1972 325f). Paraphrenie „A) Von Kreapelin vorgeschlagener Ausdruck zur Bezeichnung chronischer Wahnpsychosen, die, wie die Paranoia, nicht mit einer Intelligenzabnahme einhergehen und keine Demenz entwickeln, aber sich durch ihre reichen wahnhaften und schlecht systematisierten Konstruktionen auf der Grundlage von Halluzinationen und Konfabulationen der Schizophrenie nähern. - B) Von Freud vorgeschlagener Ausdruck zur Bezeichnung entweder der Schizophrenie (der eigentlichen Paraphrenie') oder der Gruppe der Paranoia-Schizophrenie. Heute hat sich Kreapelins Auffassung vollständig gegen den von Freud gemachten Vorschlag durchgesetzt." (Laplanche/Pontalis 1972 370) Paranoia „Chronische Psychose, die durch einen mehr oder weniger gut systematisierten Wahn, die Prädominanz der Interpretation, das Fehlen von Intelligenzabnahme charakterisiert ist und im allgemeinen nicht zur Vernichtung der Persönlichkeit führt. - Freud ordnet nicht nur den Verfolgungswahn, sondern auch die Erotomanie, den Eifersuchtswahn und den Größenwahn in die Paranoia ein." (Laplanche/Pontalis 1972 365)

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Paranoia und Abwehr „Bei der Paranoia ist die primäre Abwehr in gleicher Weise zu verstehen: es findet auch eine Verdrängung statt, aber in die Außenwelt, und das primäre Abwehrsymptom ist das Mißtrauen dem anderen gegenüber. Der Wahn selbst wird als ein Mißerfolg dieser Abwehr verstanden und als eine , Wiederkehr des Verdrängten', das nun von außen kommt." (Laplanche/Pontalis 1972 405) Paranoide Position „Nach Melanie Klein Modalität der Objektbeziehung, die für die ersten vier Monate des Lebens spezifisch ist, die man aber später im Laufe der Kindheit und beim Erwachsenen, besonders in paranoiden und schizophrenen Zuständen, wieder antreffen kann. - Sie wird durch folgende Züge gekennzeichnet: Die aggressiven Triebe koexistieren von vornherein mit den libidinösen Trieben und sind besonders stark; das Objekt ist ein Partialobjekt (hauptsächlich die Mutterbrust) und in zwei gespalten, das ,gute' und das ,böse' Objekt; die vorherrschenden psychischen Prozesse sind die Introjektion und die Projektion; die Angst, die heftig ist, ist persekutorischer Natur (Destruktion durch das ,böse' Objekt)." (Laplanche/Pontalis, 1972 368). Näheres hierzu bei: M. Klein (1946). Projektion (in der Geometrie) „Projektion (lat. für Hinauswerfen). Mathematik: eine Art Abbildung. Die Zentralprojektion des Punktes A vom Augenpunkt Ζ aus auf eine mit Ζ und A in der gleichen Ebene liegende Gerade g ist der Schnittpunkt A' des Sehstrahles von Ζ durch A mit g. (Bild 1) Wenn der Augenpunkt Ζ ,unendlich weit entfernt' ist, wird die Projektion zur Parallelprojektion. (Bild 2) Entsprechend ist im Raum die Projektion von Punkten auf eine Ebene erklärt. Die Darstellung räumlicher Gebilde auf einer ebenen Zeichenfläche durch Zentralprojektion nennt man Zentralperspektive, durch Parallelprojektion Parallelperspektive. In der darstellenden Geometrie gewinnt man durch Parallelprojektion auf drei zueinander senkrechte Ebenen Grund-, Auf- und Seitenriß räumlicher Gebilde." (Bild 3) Linie

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Projektion „A. Ausdruck, der in einem sehr allgemeinen Sinn in der Neurophysiologie und in der Psychologie verwendet wird und die Operation bezeichnet, durch die ein neurologischer oder psychischer Tatbestand nach außen verschoben und lokalisiert wird, entweder vom Zentrum zur Peripherie oder vom Subjekt zum Objekt. [...] - B. Im eigentlichen psychoanalytischen Sinne Operation, durch die ein Subjekt Qualitäten, Gefühle, Wünsche, sogar ,Objekte', die es verkennt oder in sich ablehnt, aus sich ausschließt und in dem Anderen, Person oder Sache, lokalisiert. Es handelt sich hier um eine Abwehr sehr archaischen Ursprungs, die man besonders bei der Paranoia am Werk findet, aber auch in .normalen' Denkformen wie dem Aberglauben." (Laplanche/Pontalis II 399f) Projektion (psychologische Begriffsklärung) Dieses entspricht nicht dem psychoanalytischen, sondern dem psychologischen Begriff der Projektion: „Das Subjekt nimmt das umgebende Milieu wahr und antwortet darauf je nach seinen eigenen Interessen, Fähigkeiten, Gewohnheiten, [...] affektiven Zuständen, Erwartungen, Wünschen etc. Eine solche Korrelation zwischen Innenwelt und Umwelt [...] wird auf allen Ebenen des Verhaltens verifiziert. Ein Tier wählt aus dem Wahrnehmungsfeld bestimmte, bevorzugte Stimuli, die sein ganzes Verhalten bestimmen; ein Geschäftsmann betrachtet alle Objekte vom Standpunkt des Kaufes oder Verkaufes aus (.professionelle Deformation'); ein gut gelaunter Mensch ist geneigt, das Leben ,rosig' zu sehen." (Laplanche/Pontalis 1972 400f) Projektion und Normalität „Wiederholt hat Freud auf dem normalen Charakter des Mechanismus der Projektion bestanden. So sieht er im Aberglauben, in der Mythologie, im ,Animismus' eine Projektion. ,Die dunkle Erkenntnis (sozusagen endopsychische Wahrnehmung) psychischer Faktoren und Verhältnisse des Unbewußten spiegelt sich [...] in der Konstruktion einer übersinnlichen Realität, welche von der Wissenschaft in Psychologie des Unbewußten zurückverwandelt werden soll'." (Laplanche/Pontalis 1972 402) - Nichts anderes als eine derartige ,Rückverwandlung' betreibt auch Kant. Projektion und Abwehr „Die Projektion erscheint immer als eine Abwehr, in der das Subjekt dem Anderen - Person oder Sache - Qualitäten, Gefühle, Wünsche, die es ablehnt oder in sich selbst verleugnet, unterstellt. Das Beispiel des Animismus zeigt am besten, daß Freud die Projektion nicht im Sinne einer einfachen Gleichsetzung des Anderen mit sich versteht. [...] Freud meint - und das ist hier sein Hauptbeitrag - , daß eine solche Gleichsetzung ihren Ursprung und ihr Ziel in einer Verkennung hat: die Dämonen, die Zurückkommenden [und nichts anderes sind ja Geister, mit denen wir es hier zu tun haben - C. R.] verkörpern die unbewußten bösen Wünsche." (Laplanche/Pontalis 1972 403)

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Disowning projection „Das Subjekt schreibt die Strebungen, Wünsche etc., die es in sich verleugnet, dem Anderen zu: der Rassist zum Beispiel projiziert seine Fehler und seine uneingestandenen Neigungen auf die verachtete Gruppe. Diese Bedeutung, die English und English als disowning projection (1) bezeichnen, scheint dem, was Freud unter Projektion beschrieben hat, am nächsten zu kommen." (Laplanche/Pontalis 1972 401). (1) Vgl. H. B. English und A.C. English 1958. Projektion und Paranoia „Die Projektion wird zunächst bei der Paranoia entdeckt. [...] Die Projektion wird dort als eine primäre Abwehrform beschrieben, die den Mißbrauch eines normalen Mechanismus darstellt, nämlich den Ursprung einer Unlust im Äußeren zu suchen. Der Paranoiker projiziert die für ihn unerträglichen Vorstellungen, die dann in Form von Vorwürfen von außen zu ihm zurückkommen [...]" (Laplanche/Pontalis 1972 401f). „Das unbewußt Verdrängte kehrt hier in Form der Projektion wieder. Dieser Unterschied in der Auffassung vom Mechanismus der Paranoia erlaubt es, zwei Bedeutungen der Projektion herauszuarbeiten: a) In einem dem kinematographischen vergleichbaren Sinn: das Subjekt sendet das Bild, das unbewußt in ihm besteht, nach außen. Hier wird die Projektion als eine Art Verleugnung definiert, bei der das Subjekt das, was es in sich verleugnet, beim andern wiedererkennt, b) Als ein quasi realer Ausstoßungsvorgang: das Subjekt wirft das, was es nicht will, aus sich heraus und findet es daraufhin in der Außenwelt wieder. Hier [...] wird die Projektion nicht als ein Nicht-wissen-Wollen, sondern als ein Nicht-sein-Wollen definiert." (Laplanche/Pontalis 1972 405) Projektion und Religion Freud beschreibt den Projektionsvorgang sehr ähnlich wie Kant, um die Entstehung der Religionen zu erklären. Demnach wäre gemäß Freud das Über-Ich, das Gewissen, nicht eine Folge der Religion, sondern umgekehrt die Religion ein in die Außenwelt geworfenes Über-Ich. „Denn dieselbe Person, der das Kind seine Existenz verdankt, der Vater, (richtiger wohl die aus Vater und Mutter zusammengesetzte Elterninstanz) hat auch das schwache, hilflose, allen in der Außenwelt lauernden Gefahren ausgesetzte Kind beschützt und bewacht; in seiner Obhut hat es sich sicher gefühlt. Selbst erwachsen geworden, weiß [...] der Mensch [...], daß er der Welt gegenüber noch immer ein Kind ist. Er mag also auch jetzt nicht auf den Schutz verzichten, den er als Kind genossen hat. Längst hat er aber auch erkannt, daß sein Vater ein in seiner Macht eng beschränktes, nicht mit allen Vorzügen ausgestattetes Wesen ist. Darum greift er auf das Erinnerungsbild des von ihm so überschätzten Vaters der Kinderzeit zurück, erhebt es zur Gottheit und rückt es in die Gegenwart und in die Realität. [...]. Durch ein System von Liebesprämien und Strafen wird das Kind zur Kenntnis seiner sozialen Pflichten erzogen, wird es belehrt, daß seine Lebenssicherheit davon abhängt, daß die Eltern und dann

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auch die anderen es lieben und an seine Liebe zu ihnen glauben können. Alle diese Verhältnisse trägt dann der Mensch unverändert in die Religion ein." (Freud 1933 XV 175ff) Psychose (psychiatrische Begriffsklärung) „In der klinischen Psychiatrie wird der Psychosebegriff meistens in einem extrem weiten Sinne verstanden, der eine ganze Skala seelischer Erkrankungen umfaßt [...]." „Das Verständnis des Psychosebegriffs in der Psychiatrie bleibt weiterhin mehr intuitiv als systematisch. Er wird definiert durch Merkmale, die den verschiedensten Ebenen entnommen sind. In den geläufigen Definitionen findet man oft nebeneinander Kriterien wie die Unfähigkeit zur sozialen Anpassung (Problem der Hospitalisierung), den Schweregrad der Symptome, die Störung der Kommunikationsfähigkeit, die fehlende Einsicht in den krankhaften Zustand, den Verlust des Kontaktes mit der Realität, den Charakter des nicht,Verstehbaren' [...] von Störungen, den organischen oder psychogenetischen Determinismus, mehr oder weniger tiefe und irreversible Veränderungen des Ichs." (Laplanche/Pontalis 1972 415) Psychose (psychoanalytische Begriffsklärung) Überraschend ist, daß die von Kant hier vorgenommene Gliederung jener, die die Psychoanalyse ausgearbeitet hat, sehr ähnlich ist: „Die Psychoanalyse hat versucht, bei dieser letzten Gruppe [den Psychosen] verschiedene Formen zu unterscheiden: Paranoia (unter die sie ganz allgemein die mit Wahnvorstellungen einhergehenden Affektionen einreiht) und Schizophrenie einerseits, Melancholie und Manie andererseits. Den gemeinsamen Nenner der Psychosen sieht die psychoanalytische Theorie im Grunde in einer primären Störung der libidinösen Beziehung zur Realität, so daß die meisten manifesten Symptome (vor allem die Wahnkonstruktion) sekundäre Rekonstitutionsversuche der Objektbeziehung darstellen." (Laplanche/Pontalis 1972 413) Spaltung „Der Ausdruck Spaltung wird in der Psychoanalyse und in der Psychiatrie schon sehr lange und in wechselnder Bedeutung gebraucht; zahlreiche Autoren, darunter Freud, haben ihn zur Beschreibung der Tatsache verwendet, daß sich der Mensch unter dem einen oder anderen Aspekt in sich selbst teilt. Am Ende des 19. Jahrhunderts sind die psychopathologischen Arbeiten [...] angefüllt mit Begriffen wie Verdoppelung der Persönlichkeit, doppeltes Bewußtsein, Dissoziation der psychischen Phänomene usw. Bei Breuer und Freud bezeichnen die Ausdrücke Bewußtseinsspaltung, Spaltung des Bewußtseinsinhalts, psychische Spaltung usw. die gleichen Realitäten: Ausgehend von Zuständen alternierender Verdoppelung der Persönlichkeit oder des Bewußtseins, wie sie die Klinik bestimmter Hysteriefälle zeigt oder die Hypnose provoziert, kamen Janet, Breuer und Freud auf den Gedanken einer Koexistenz zweier Gruppen von Phänomenen, sogar zweier Persönlichkeiten im

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Innern des Psychischen, die sich gegenseitig ignorieren können." (Laplanche/ Pontalis 1972 207f) „In jeder Psychose, und sei es die tiefste, läßt sich die Existenz von zwei psychischen Einstellungen wiederfinden: ,die eine, die der Realität Rechnung trägt, die normale, und eine andere, die unter Triebeinfluß das Ich von der Realität ablöst' (Freud). Diese zweite Einstellung äußert sich in der Bildung einer neuen, wahnhaften Realität. [...] ,Die beiden Einstellungen bestehen das ganze Leben hindurch nebeneinander, ohne sich gegenseitig zu beeinflussen. Das ist, was man eine Spaltung nennen darf (Freud)." (Laplanche/Pontanlis 1972 209) Man kann sich die Spaltung, welche in einer doppelten Vertauschung der Stellen von Bewußtsein und Unbewußtsein zum Ausdruck kommt - eine Verwechslung, die man insbesondere bei Paranoiden antrifft - durch einen bekannten Witz anschaulich machen. Ein Verrückter hält sich für eine Maus und hat daher Angst vor Katzen. Nach jahrelanger Behandlung hat er gelernt, daß er keine Maus ist, und wird aus der Psychiatrie entlassen. Nach drei Tagen kommt er indes völlig bleich und verwirrt zu seinem Psychiater zurück: Er habe eine Katze gesehen! Wozu der Psychiater: „Aber Sie wissen doch, daß Sie keine Maus sind"; worauf der Verrückte: „Ja, ich weiß das wohl schon, aber woher soll denn das die Katze wissen." Diese Struktur der doppelten Projektion findet man gerade auch bei Swedenborg immer wieder, wenn nämlich was schon ein recht verrückter Gedanke ist - bei ihm die Geister selbst unter Wahnvorstellungen leiden, indem sie sich im Geisterreich etwa einbilden, etwas zu sein, was sie, nach Swedenborgs Wahrnehmung zumindest, gar nicht sein können. (Man sieht hier deutlich die doppelte projektive Verschiebung: nicht er, Swedenborg, leidet unter Wahnvorstellungen, sondern es leiden umgekehrt die Geister unter Wahnvorstellungen, was ein Beleg dafür sein müßte, daß er, Swedenborg, nicht unter Wahnvorstellungen leiden kann, anderenfalls ja doch die Geister ihrerseits keine Wahnvorstellungen haben könnten, etc.). So meinen ζ. B. die verstorbenen Seelen lebendig zu sein, wohingegen Swedenborg die Geister im Geisterreich davon überzeugen muß, daß sie eigentlich schon verstorben sind. So gibt es ζ. B. auch verrückte Geister, die sich einbilden, daß sie sich hoch über dem Haupte des homo maximus befinden, obgleich sie sich nach dem, was Swedenborg von den Engeln (im Geisterreich) vernommen haben will, nicht über dem homo maximus, sondern unter dessen Füßen, in der Hölle befinden. So z. B. ein Geist, der behauptete, in der Welt Papst gewesen zu sein. (Swedenborgs Vater war Landesbischof von Schweden.) Über-Ich „Das Über-Ich ist [der psychisch internalisierte - C. R.] Nachfolger und Vertreter der Eltern (und Erzieher), die die Handlungen des Individuums in seiner ersten Lebensperiode beaufsichtigt hatten; es setzt die Funktion derselben fast ohne Veränderung durch." [...] „Im Laufe der individuellen Entwicklung wird

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ein Anteil der hemmenden Mächte in der Außenwelt verinnerlicht, es bildet sich im Ich eine Instanz, die sich beobachtend, kritisierend und verbietend dem übrigen entgegenstellt. Wir nennen diese neue Instanz das Über-Ich" (Freud 1939 XVI 224). „Über-Ich. Eine der Instanzen der Persönlichkeit, wie Freud sie im Rahmen seiner zweiten Theorie des psychischen Apparates beschrieben hat: Ihre Rolle ist vergleichbar mit der eines Richters oder Zensors des Ichs. Freud sieht im Gewissen, der Selbstbeobachtung, der Idealbildung Funktionen des Über-Ichs. - In klassischer Sicht wird das Über-Ich als der Erbe des Ödipuskomplexes definiert; es bildet sich durch Verinnerlichung der elterlichen Forderungen und Verbote. - Manche Psychoanalytiker setzen die Bildung des Über-Ichs früher an, indem sie diese Instanz bereits auf den präödipalen Stufen am Werk sehen (Melanie Klein) oder wenigstens sehr frühe Verhaltensweisen und psychologische Mechanismen suchen, die Über-Ich-Vorläufer darstellen (zum Beispiel Glover, Spitz)." (Laplanche/Pontalis 1972 540) Unbewußt, das Unbewußte ,,A) Das Adjektiv ,unbewußt' wird mitunter gebraucht, um die Gesamtheit der im aktuellen Bewußtseinsfeld nicht gegenwärtigen Inhalte zu bezeichnen, und dies im „deskriptiven" und nicht „topischen" Sinne, d. h. ohne zwischen den Inhalten der Systeme Vorbewußt und Unbewußt zu unterscheiden. B) Topisch gesehen bezeichnet ,unbewußt' eines der von Freud im Rahmen seiner ersten Theorie des psychischen Apparates beschriebenen Systeme: es wird von verdrängten Inhalten gebildet, denen der Zugang zum System Vorbewußt-Bewußt durch den Vorgang der Verdrängung (Urverdrängung und Nachdrängen) verwehrt ist. Die wesentlichen Merkmale des Unbewußten als System (oder Ubw) lassen sich wie folgt zusammenfassen: a) Seine ,Inhalte' sind ,Triebrepräsentanzen', b) Diese Inhalte werden beherrscht durch die speziellen Mechanismen des Primärvorganges, vor allem Verdichtung und Verschiebung. c) Sie versuchen - stark mit Triebenergie besetzt - wieder ins Bewußtsein und in Aktion zu gelangen (Wiederkehr des Verdrängten); aber sie können erst nach Entstellung durch die Zensur in Form von Kompromißbildungen Zugang zum System Vbw-Bw erlangen, d) Vor allem Kindheitswünsche erfahren eine Fixierung im Unbewußten. Die Abkürzung Ubw meint das (substantivierte) Unbewußte als System; ubw als Abkürzung des Adjektivs ,unbewußt' bezeichnet im strengen Sinne die Inhalte des Systems. C) Im Rahmen der zweiten Freudschen Topik wird ,unbewußt' insbesondere adjektivisch gebraucht; tatsächlich ist .unbewußt' nicht mehr die Eigentümlichkeit einer speziellen Instanz, da es das Es und teilweise auch das Ich und Über-Ich bezeichnet. Aber man sollte festhalten, daß a) die in der ersten Topik dem System Ubw zugeschriebenen Merkmale ganz allgemein auch in der zweiten dem Es zugeschrieben werden; b) der Unterschied zwischen dem Vorbewußten und dem Unbewußten, auch wenn er nicht mehr auf einer intersystemischen Unterscheidung beruht, als intrasystemische Unterscheidung be-

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stehen bleibt (Ich und Über-Ich sind zum Teil vorbewußt und zum Teil unbewußt)." (Laplanche/Pontalis 1972 562f) Verneinung „Vorgehen, wodurch das Subjekt, obwohl es bis dahin verdrängte Wünsche, Gedanken, Gefühle jetzt klar ausdrückt, diese weiterhin abwehrt, indem es verneint, daß es die seinen sind. Der ,Rattenmann ' liefert ein gutes Beispiel für Verneinung: ,Als er ein Kind war, hatte er gedacht, daß er die Liebe eines kleinen Mädchens gewinnen würde, wenn ihn ein Unglück träfe: [...] als [ein] solches [Unglück] drängte sich ihm der Tod des Vaters auf. Er wies diese Idee sofort energisch zurück, wehrte sich auch jetzt gegen die Möglichkeit, es könne sich ein ,Wunsch' so geäußert haben. [...].' ,An das erste Nein der Ablehnung [schließt sich] alsbald die zunächst indirekte Bestätigung [an]'. - Der Gedanke, daß das Bewußtwerden des Verdrängten sich in der Behandlung oft durch die Verneinung ankündigt, bildet den Ausgangspunkt der Arbeit, die Freud ihr 1925 widmet: ,Kein stärkerer Beweis für die gelungene Aufdeckung des Unbewußten, als wenn der Analysierte mit dem Satz: ,Das habe ich nicht gedacht', oder: ,Daran habe ich nicht (nie) gedacht', darauf reagiert'." (Laplanche/Pontalis 1972 599f). Schließlich kann man als Verneinung all jene Sätze betrachten, die eine Negation (,nicht gedacht, nicht getan, nicht gewollt' etc.) beinhalten - streicht man das negative Vorzeichen weg, so erscheint die Wahrheit, nämlich der verleugnete Wunsch, der nicht zugelassene Gedanke, die bestrittene Tat etc.

Strittige Datierungsfragen

Zur Datierung der Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral (1763) Es handelt sich hierbei um eine Wettbewerbsschrift, die auf die Preisfrage antwortete, die die Königliche Akademie der Wissenschaften zu Berlin für das Jahr 1763 ausgeschrieben hatte. Die von der Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres de Prusse gestellte Preisfrage lautete: „Dissertation [...] sur la nature, les espèces, et les degrés de l'évidence". Kant hat diesen Preis, wie im übrigen auch alle anderen Wettbewerbe, an denen er Zeit seines Lebens teilgenommen hatte, nicht gewonnen. Der Preis ging an Moses Mendelssohn. Das - später wohl nicht mehr veränderte - Manuskript hatte Kant bereits zum 1. Januar 1763 eingereicht (vgl. A.A. X 39). Die Schrift datiert also auf das Jahr 1763, wurde dann aber erst 1764 publiziert. Nichtsdestotrotz ist diese (original 99 Seiten umfassende) Untersuchung mit Sicherheit erst nach dem (original 205 Seiten umfassenden) Beweisgrund geschrieben worden.

Zur Datierung des Briefes an Fräulein von Knobloch (1763) Da das Datum des Briefes an Fräulein v. Knobloch (1758 oder 1763?) unleserlich, jedoch wegen der hier dazwischen liegenden fünf Jahre allerdings von erheblicher Relevanz ist, hat sich zu diesem Thema eine umfangreiche Literatur angesammelt; eine Literatur, die von Karl Kehrbach (im Vorwort der von ihm herausgegebenen Träume eines Geistersehers 1880 XXVfï) zusammengetragen worden ist. „Kehrbach war es auch, der Klarheit in die Datierungsfrage brachte" (R. Malter, in: Τ R.M. 106). In den Anmerkungen zu dem Brief in der Akademieausgabe (A.A. XIII 20ff) wird diese Frage nochmals aufgegriffen und - wie man wohl sagen darf: endgültig! - wie folgt geklärt: „Der Brief kann nicht im Jahre 1758 geschrieben sein. Dies wird durch die Tatsache ausgeschlossen, daß Mad. Marteville als Witwe bezeichnet wird. Ihr Mann starb aber erst am 25. April 1760. Zur weiteren Datierung kann die Nachricht dienen, daß Baron v. Lützow von Ende Mai 1761 bis Mitte Juli 1762 in Stockholm war. In dieser Zeit muß die Unterhaltung bei der Königin von Schweden stattgefunden haben. Damit stimmt überein, daß Kant in den Träumen eines

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Geistersehers die Berufung Swedenborgs und die Probe, die dort mit ihm angestellt wurde, gegen das Ende des Jahres 1761 ansetzt. Die sonderbare Geschichte, welche damals geschah, wird in unserm Brief als bekannt vorausgesetzt. Dadurch ist erwiesen, daß der Brief nicht vor dem Jahr 1761 geschrieben sein kann. Der dänische Offizier, dem Kant die erste Nachricht verdankt, hat nun an der Tafel des Oesterreichschen Gesandten Dietrichstein in Kopenhagen den Brief des Baron von Lützow gelesen. An den ihm befreundeten Offizier schrieb nun Kant und erhielt von ihm die Bestätigung der Erzählung und zugleich die Mitteilung, daß er zur Armee des 1762 zum Generalfeldmarschall ernannten Comte de Staint-Germain abginge, welcher im Frühjahr dieses Jahres in Mecklenburg stand. Der Briefwechsel Kants mit ihm fallt also wohl in das Jahr 1762. Nun schrieb Kant ohne Erfolg an Swedenborg. In den verwichenen Sommer fällt die Bekanntschaft mit einem Engländer, der dann in Stockholm nach Swedenborg forscht und mehrfach Nachricht von ihm gibt und insbesondere mitteilt, daß dieser im May dieses Jahres nach London gehen wolle. Diese Angaben fuhren mit Notwendigkeit dazu, den verwichenen Sommer als den des Jahres 1762, und den May dieses Jahres fur 1763 anzusetzen. [...]. Der Versuch Tafeis [...] den Brief auf das Jahr 1768 zu datieren, ist unhaltbar. Er erfährt eine völlig einwandfreie Widerlegung durch die Tatsache, daß das Fräulein v. Knobloch sich am 22. Juli 1764 mit dem Hauptmann des von Tettenborn'schen Regimentes Friedrich v. Klingsporn verheiratete [...]." - Zum großen Verdruß Kants offenbar, dem bereits 1763, in seinem Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen, als Beispiel für Negativität etwas unvermittelt folgendes in den Sinn kommt: „Liebe und nicht Liebe sind eins das kontradiktorische Gegenteil vom andern. Nicht Liebe ist eine wahrhafte Verneinung, aber in Ansehung dessen, wozu man sich einer Verbindlichkeit zu lieben bewußt ist, ist diese Verneinung nur durch reale Entgegensetzung und mithin nur als eine Beraubung möglich. Und in einem solchen Fall ist nicht zu lieben und zu hassen nur eine Verschiedenheit in Graden." (NG II 796 A 29)

Zum Kontext des Versuchs über die Krankheiten des Kopfes (1764) In seiner Einleitung zu diesem Text in der Akademieausgabe (vgl. A.A. II 488f) meint Ewald Frey, in der besagten Schrift eine Reaktion Kants auf dessen Begegnung mit Komarnicki sehen zu können. Hierin irrt Frey. Frey kam zu diesem Schluß, weil in den „Königsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitungen" {4.tes - 8.tes Stück, vom 13 - 27.ten Februar 1764) im direkten Anschluß an die Notiz zu Komarnicki folgende Mitteilung zu lesen war: „Wir kündigen hiemit zugleich den ersten Originalversuch in unseren Blättern an, und versprechen uns für die Zufriedenheit unserer Leser mehrere Beyträge von der Gefälligkeit dieses scharfsinnigen und gelehrten Gönners" nämlich Kants. Da nun in dem nächsten Stück der Zeitung Kants Versuch über die Krankheiten des Kopfes einen Teilabdruck fand, Schloß Frey hieraus, daß

STRITTIGE DATIERUNGSFRAGEN

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dieser Versuch eine Reaktion auf Komarnicki gewesen sein müßte. Es dürfte sich indes genau umgekehrt verhalten haben: Hamann wird Kant um die Notiz zu Komarnicki gebeten haben, weil er wußte, daß dieser an dem Versuch über die Krankheiten des Kopfes arbeitete, sich also mit irrationalen Phänomenen beschäftigte. Als absolut gesichert kann gelten, daß Kant sich mindestens schon seit einem Jahr vor seinem Brief an Fräulein Charlotte von Knobloch ausführlich mit Swedenborg beschäftigte. Nach langer Diskussion (vgl. Τ R.M. 106 Fn.) wird dieser Brief nicht auf den 10. August 1758, sondern 1763 datiert. Im besagten Brief berichtet Kant, daß er sich schon seit längerem mit Swedenborg beschäftige, daß er einen Brief an Swedenborg geschrieben habe (ebd. S. 101), daß er schließlich „einem Engländer, der sich verwichenen Sommer [d. h. 1762] hier [d. h. in Königsberg] aufhielt" beauftragt habe, „genauere Kundschaft wegen der Wundergabe des Hrn. v. Swed. einzuziehen" (ebd. S. 102). Folglich hatte sich Kant allerspätestens seit dem Sommer 1762, wahrscheinlich jedoch bereits seit dem Winter 1761/62 - demnach schon zwei Jahre vor Erscheinen der Krankheiten — intensiv mit Swedenborg befaßt. Der Grund nun, weshalb Kant in den Krankheiten Swedenborg namentlich nicht erwähnt, liegt einfach darin, daß zum Zeitpunkt der Niederschrift der Krankheiten Swedenborgs Schriften, die Kant seit 1763 erwartete, noch immer nicht aus London eingetroffen waren. Kant kannte demnach im Januar 1764 von Swedenborg nur das Gerücht; ein Gerücht, aus dem sich allerdings entnehmen ließ, daß es sich bei Swedenborg um jemanden handelt, der an Sinnestäuschungen, also an Phantasterei, leidet. Dementsprechend nehmen die Phantasten auch den bedeutendsten Raum in dem Versuch ein. Phantast bleibt dann auch für Kant Zeit seines Lebens die Generalbezeichnung für Swedenborg, den er auch als den „Erzphantasten unter allen Phantasten" bezeichnet (Τ II 966 A 84). - Dementgegen deutet nichts im Inhalt des Versuches auf Komarnicki hin.

Zur Datierung gewisser Textpassagen in der Anthropologie (ab 1764) Man weiß, daß die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht eine (von Kant selbst) überarbeitete Fassung seiner regelmäßig ab dem Wintersemester 1772/73 und sodann 25 Jahre hindurch gehaltenen Vorlesungen über Anthropologie darstellt. Insofern ist der Text im strikten Sinne nicht von 1798. Vielmehr läßt sich, sofern man Kant kennt, stets recht gut erkennen, daß es sich bei dem einen oder anderen Text der Anthropologie um einen Paralleltext zu dem handelt, woran Kant zu einer gewissen Zeit gerade arbeitete - und somit der Text zumindest approximativ datieren. - Was nun den § 5 der Anthropologie über die dunklen Vorstellungen, ebenso wie die §§ 47 - 51 über die Gemütskrankheiten anbelangt, so kann man mit apodiktischer Gewißheit davon ausgehen, daß die ursprünglichen Notizen in die Zeit zwischen 1764 und 1766, also in die des Magister Kant fallen; allerdings dürfte insbesondere die zweite

336

ANHANG

Hälfte dieses § 5 aus der Zeit der Überarbeitung und Endredaktion der späten 90er Jahre stammen. Zur Datierung der Vorlesung über rationale Psychologie (1765) „Kants ,Vorlesungen' [über rationale Psychologie] nämlich fallen, und zwar unbestritten, in eine viel spätere Zeit als sowohl die ,Träume' [eines Geistersehers, 1766], wie jener Brief [an Fräulein von Knobloch. 1762]." Man braucht sich daher .auf jenen Streit [der Datierung der Vorlesung] gar nicht einzulassen; denn in der .Psychologie' gibt Kant ein drittes und letztes Urteil über Swedenborg ab, und zwar das günstigste von den dreien" (Carl du Prel 1889 15). Du Prel, der trotz seiner noch so tendenziösen Ansichten doch immerhin ehrlich bleibt, verrät uns somit auch den Grund fur seine so späte Datierung (um 1790): In der Psychologie, in der Kant sich positiv zu Swedenborg äußert, soll es sich um sein „letztes Urteil über Swedenborg", soll heißen: um das wahre Urteil Kants zu Swedenborg handeln. Diese Sicht der Dinge können wir nun ganz und gar nicht teilen. B. Erdmann datiert die Vorlesung ungefähr in das Jahr 1774 (vgl. B. Erdmann 1883 129-144 sowie 1884 65-67). Auch diesem Standpunkt können wir aus zwei Gründen nicht zustimmen: 1. Was sich in der Vorlesung findet, ist in die Träume eingegangen; was sich jedoch in den Träumen - vor allem auch an Kritik - findet, ist aber nicht in die Vorlesung eingeflossen; folglich geht die Vorlesung den Träumen zeitlich voraus. 2. Wann immer Kant nach 1766 Swedenborg erwähnt, so ausschließlich im negativen Sinne! L. Poelitz nun, der die Vorlesung erstmals herausgab (in: I. Kants Vorlesungen über Metaphysik, Hrsg. Poelitz 1821 125-261), hat dieser drei Nachschriften aus den Jahren 1788 a, 1789 und 1788 b zugrunde gelegt. Ob es sich hierbei um eine Nachabschrift aus Kants eigener Hand oder um Mitschriften anderer oder um Nachschriften anderer ausgehend von einer Nachabschrift Kants handelt, ließ sich nicht ermitteln. Jedenfalls befinden sich in dieser (Ab-) Schrift deutlich und wohl unterscheidbar zwei Textschichten übereinandergelagert, wobei die erste aus der ersten Hälfte der 60er Jahre, die letzte jedoch aus der Zeit der Überarbeitung Ende der 80er Jahre stammen muß. Zur ersten Schicht gehören ζ. B. die Abschnitte über ,Lust und Unlust' sowie über das ,Begehrungsvermögen' (weil Kant sich mit diesen Gegenständen nachweislich zwischen 1763 und 1766 beschäftigt), zur zweiten Schicht gehören Begriffe wie ,transzendental', welche sicherlich aus der Zeit der Überarbeitung stammen. Nun können wir abgesehen von den philologischen Gesichtspunkten - die eindeutig für die frühen 60er Jahre sprechen - noch einen weiteren Grund dafür anführen, den Text so zu datieren; die Tatsache nämlich, daß Kant in der Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765-1766 im Rahmen seiner Metaphysikvorlesung eine ebensolche und mit dem Inhalt des Textes auch völlig übereinstimmende! - Vorlesung über

STRITTIGE DATIERUNGSFRAGEN

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Psychologie ankündigt! Dort heißt es: „Ich fange demnach nach einer kleinen Einleitung von der empirischen Psychologie an", um dann am Ende zur Ontologie fortzuschreiten, „deren Schluß den Unterschied der geistigen und materiellen Wesen, imgleichen beider Verknüpfung oder Trennung, und also die rationale Psychologie enthält" (NEV II 911 A 9). - Da Kant für gewöhnlich auch tat, was er sagte, können wir somit als gesichert ansehen, daß diese Vorlesung über rationale Psychologie in dem Wintersemester 1765/66 gehalten wurde.

Literatur

Antike Die Heilige Schrift 1200

A.T.

v.u.Z. 50-180

N.T. zit. nach: Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung mit dem Kommentar der Jerusalemer Bibel, dt. hrsg. von Alfons Deissleru. a., Freiburg 1985

387 v. u. Z.

Piaton Der Staat in: Piatons Werke in acht Bänden, Griechisch und Deutsch, hrsg. von Gunther Eigler, Bd. 4, bearbeitet von D. Kurz, griechischer Text von E. Chambry, deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 1971

370 v. u. Z.

Piaton Phaidros in: Piatons Werke in acht Bänden, Griechisch und Deutsch, hrsg. von Gunther Eigler, Bd. 5, bearbeitet von D. Kurz, griechischer Text von L. Robin, A. Diès u. J. Souilhé, deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 1971

340 v. u. Z.

Aristoteles Sophistische Widerlegungen, hrsg. von T. Rolfes, Leipzig 2 1922

200 v. u. Z.

A r t e m i d o r o s , aus Daldis Traumkunst, aus dem Griechischen übersetzt von S. Krauss, neubearbeitet und mit einem Nachwort sowie Anmerkungen versehen von G Löwe, Einleitung F. Jürß, Leipzig 1991

260

Plotin Plotins Schriften, übersetzt von Richard Harder, Neubearbeitung mit griechischem Lesetext und Anmerkungen, Hamburg 1958. Siehe darin: Die Unsterblichkeit der Seele (IV 7). Das Wesen der Seele (IV 2). Der Abstieg der Seele in die Leibeswelt (IV 8). Die Einheit der Einzelseelen (IV 9). Von der Seele I (IV 3). Von der Seele II (IV 4). Von der Seele III: das Sehen (IV 5). (Die Kodierungen in Klammern beziehen sich auf die von Porphyrios vorgenommene Einteilung der Plotinschen Schriften).

LITERATUR

700

339

Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten, arabisch zirka 700 n. Chr., dt.: Vollständige deutsche Ausgabe. Nach dem arabischen Urtext übertragen von E. Littman, Wiesbaden 1976

1600 1637

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1641

D e s c a r t e s , René Meditationes de prima philosophia, in quae Dei existentia et Animae immortalitas demonstratur, Paris 1641 - zit. nach: Meditationes de prima philosophia, hrsg. von Lüdiger Gäbe, lat.dt., Hamburg 1959

1649

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1678

C u d w o r t h , Ralph The true intellectual System of the Universe, London 1678

1679

M o r e , Henry Opera Omnia, London 1679 siehe darin: .Fundamenta Philosophiae sive Cabbalae Aeto-paedo-melissaeae, Quae Omnem Creationem Proprie Dictam negat, Essentiamque supponit Divinarti, Quasi Corporae-Spiritualem, Mundumque Materialem aliquo mode Spiritum'

1685

N e w t o n , Isaac De Gravitatione, London 1685

1689

L o c k e , John An Essay concerning Human Understanding - zit. nach: Versuch über den menschlichen Verstand, 2 Bde., Hamburg 1988

1695- B a y l e , Pierre 1697 Dictionnaire historique et critique, 1695 - 1 6 9 7 - zit. nach: ,Herrn Peter Baylens / weiland Professor der Philosophie und Historie zu Rotterdamm, Historisches und kritisches Wörterbuch, nach der neusten Auflage von 1740 ins Deutsche übersetzt mit des berühmten Freyherrn von Leibniz und Herrn Maturin Heissière la Lroze, auch verschiedenen andern Anmerkungen, sonderlich bey anstößigen Stellen versehen, von Johann Christoph Gottschedem' - Dritter Theil Κ bis P, Stichwort ,Manichäer', Leipzig 1743

340

LITERATUR

1700 1710

L e i b η i ζ , Gottfried Wilhelm von Essais de théodizée sur la bonté de Dieu, la liberté de l'homme et l'origine du mal, 1710 - zit. nach: Versuche in der Theodizee über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels, übersetzt von A. Buchenau 1925, Neuausgabe Hamburg 1996

1711

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1715

H o f f m a n n , Friedrich Gründliche Abhandlung Wie ein Mensch Vor dem Frühzeitigen Tod und allerhand Arten Krankheiten Durch ordentliche Lebens-Art sich verwahren könne, Halle 1715

1719

D e f o e , Daniel Robinson Crusoe, 1719

1720

L e i b n i z , Gottfried Wilhelm von ,Monadologie' - Erstausgabe, herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Heinrich Köhler: „Des Hn. Gottfried Wilh. von Leibniz Lehr-Sätze über die Monadologie, ingleichen Von GoTT und seiner Existenz, seinen Eigenschafften und von der Seele des Menschen, wie auch Dessen letzte Verteidigung seines Systematis Harmonie praestabilitae wider die Entwürfe des Herrn Bayle", Francfurt und Leipzig 1720 - zit. nach: Monadologie, übersetzt eingeleitet und erläutert von H. Glockner, Stuttgart 1954

1725

H u t c h e s o n , Francis Inquiry into the original of our ideas of beauty and virtue, London 1725

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Wo I f f , Christian Psychologia empirica methodo scientifica pertractata, qua ea, quae de anima humana idubia experientiae fide constant, contientur et ad solidam universae philosophiae practicae ac Theologiae naturalis tractaionem vis sternitur, Francforti et Lipsiae 1732, in: Christian Wolff. Gesammelte Werke, hrsg. von J. École u. a., Hildesheim 1968, Bd. II. 5

2

1734 S t a h l , Georg Ernst Gründlicher bericht Von seinen Balsamischen Blut-reinigungen und confortirenden Pillen, Wie auch Auf sonderbahres Verlangen, Von des rothen FußMagen- und Stein-Pulvers, zuverläßiger sonderbaren Würkung und rechtem Gebrauch, 2. Aufl. Berlin 1734

1733

N e w t o n , Isaac Observations Upon the Prophecies of Daniel and the Apocalypse of St. John, posthum: London 1733

LITERATUR

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W o l f f , Christian Psychologia rationalis, methodo scientifica pertractata, Francofurtum 1734 in: Christian Wolff. Gesammelte Werke, hrsg. von J. Ecole u. a., Hildesheim u. New York 1972, Bd. II.6

1743

S w e d e n b o r g , Emanuel Traumtagebuch 1743-1744. Posthum erschienen, aus dem Schwedischen übersetzt von F. Prochaska, Zürich 1978

1745

C r u s i u s , Christian August Entwurf der notwendigen Vernunftwahrheiten, wiefern sie den zufälligen entgegen gesetzt werden, Leipzig 1745

1745

Z e d i e r , Johann Heinrich, Hrsg. Grosses vollständiges Universal-Lexikon, Aller Wissenschaften und Künste, etc. - siehe darin: Stichwort ,Manichaeismus' in Bd. 19., Halle und Leipzig 1739; Stichwort ,Theosophici' in Bd. 13. u. 14., Leipzig u. Halle 1745; zit. nach: Graz 1961, Bd. 19 u. Graz 1962, Bd. 43

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H a r t l e y , David De motu sensus et idearum generatione, London 1746

1747

C r u s i u s , Christian August Weg zur Gewißheit und Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntnis, Leipzig 1747

1747- S w e d e n b o r g , Emanuel von 1758 Arcana Coelestia, quae in Scriptura Sacra, sen Verbo Domini sunt, ... Una cum 1796 Mirabilibus, quae visa sunt in Mundo Spirituum et Coelo Angelorum, London 1747-1758 und 1796 - zit. nach: Himmlische Geheimnisse. Volltextversion der Ausgabe Zürich, in 16 Bänden, Zürich 1998-2000 1748

H u m e , David Essays concerning human understanding (1748); seit 1758 unter dem Titel: An enquiry concerning human understanding - zit. nach: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, übersetzt und hrsg. von H. Herring, Stuttgart 1967

1749

H a r t l e y , David Observations on man, his frame, his duty and his expectations, London 1749 - zit. nach: Gaihesville, Florida 1966

1750

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1750

T u r g o t , Anne Robert Jacques Baron de Plan de deux Discours sur l'histoire universelle (entstanden 1750-1753), Paris 1808, dt.: Über die Erfolge des menschlichen Geistes, hrsg. von J. Rohbeck u. L. Steinbrügge, Frankfurt a. M. 1990

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LITERATUR

1751

C a 1 m e t, Don Augustin Traité sur les apparitions des esprits et sur les vampires ou revenants de Hongrie, de Moravie etc., Paris 1751, dt: Gelehrte Verhandlung der Materi von Erscheinung der Geister, Augsburg 1751

1755

R o u s s e a u , Jean-Jacques Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmis les hommes, 1755 - zit. nach: Discours sur les sciences et les arts sowie Discours sur l'origine de l'inégalité, chronologie et introduction par J. Roger, Paris 1971

1756

R o u s s e a u , Jean-Jacques ,Brief an Herrn von Voltaire', in: Jean-Jacques Rousseau Schriften, hrsg. von H. Ritter, Bd. 1, Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1981

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1757 B a u m g a r t e n , Alexander Gottlieb Metaphysicae, 4. Aufl. 1757, in: Kant, A.A. Bd. 17, Handschriftlicher Nachlaß Bd. IV.

1759

V o l t a i r e (François-Marie Arouet) Candide ou l'optimisme, 1759 - zit. nach: Hrsg. A. Magnan, Paris 1969

1759- U η ζ e r, Johann August, Hrsg. 1764 Der Arzt, Eine medizinische Wochenschrift, Bd. 2-4, Hamburg, Lüneburg und Leipzig 1769 - Neudruck der Ausgabe von 1759-1764 1762

R o u s s e a u , Jean-Jacques Du contrat social, 1762 - zit. nach: Paris 1966

1762

R o u s s e a u , Jean-Jacques Emile ou l'éducation, 1762 - zit. nach: Paris 1965

1763

B o e r h a a v e , Hermann Kurtze Lehr-Sätze von Erkennung und Heilung der Krankheiten nebst dessen Buch von denen Artzeney-Miteln welche einer jeden Kankheit mitbeygefüget sind. Aus dem Lateinischen mit Anmerkungen, Berlin 1763

1765

B o e r h a a v e , Hermann Wichtige Abhandlung vom Krebs und Kranckheiten der Knochen aufs neue übersetzt und mit vielen Anmerckungen versehen, Frankfurt a. M. 1765

1765

L e i b η i ζ , Gottfried Wilhelm von Nouveaux essais sur l'entendement humain (1703-1705), Erstveröffentlichung: 1765 hrsg. von Raspe, in: Sämtliche Schriften und Briefe, herausgegeben von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, sechste Reihe, Philosophische Schriften, sechster Band, Berlin 1962

1765

O e t i n g e r , Friedrich Christoph Swedenborgs Irdische und Himmlische Philosophie, 1765 - zit. nach: hrsg. von E. Beyreuter, Stuttgart 1977

1766

K a n t , Immanuel Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, Königsberg 1766 sowie Riga 1766

LITERATUR

343

1766

F e d e r , Johann Georg Heinrich Rezension der Träume, in: , Erlangische gelehrte Anmerkungen und Nachrichten auf das Jahr 1766', Jg. 21, Stück 39, S. 308 f, Di. 26. Sept. 1766, in: Träume, R.M. 1976, S. 125-127

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1771

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1772- G o e t h e , Johann Wolfgang von 1832 Faust, 1772 (Urfaust), 1808 {Fausti), 1832 {FaustII), in: Goethes Sämtliche Werke, in 40 Bänden, Jubiläumsausgabe, Stuttgart 1903, Bd. 13. u. 14.; darin auch: die Verweise auf Swedenborg in den Anmerkungen, Bd. 13., S. 275f, S. 326 sowie Bd. 14., S. 398, S. 402f, S. 404 1773

G o e t h e , Johann Wolfgang von Rezension zu Lavaters ,Aussichten in die Ewigkeit", darin: Swedenborg-Gedicht, in: Frankfurter Anzeigen, 3. Nov. 1773, in: Goethes Sämtliche Werke, in 40 Bänden, Jubiläumsausgabe, Stuttgart 19061907, Bd. 36, S. 59

1776- G o e t h e , Johann Wolfgang von 1814 Äußerungen über Swedenborg in Briefen: an Frau von Stein: 19.11.1776; 2.12.1777 (Bd. 1, S. 241); 1.10.1781 anLavater: 14.11.1781 (Bd. 1, S. 371) an seine Mutter: 3.10.1785 (Bd. 1, S. 488f) an Schweiger: 25.4.1814 (Bd. 3, S. 267)

344

LITERATUR

Die Angaben beziehen sich auf: Goethes Briefe, Hamburger Ausgabe, in vier Bänden, Textkritisch durchgesehen u. mit Anm. von R. Mandelkow unter Mitarbeit v. B. Morowe, Hamburg 1962 1774

G a ß η e r, Johann Joseph Nützlicher Unterricht wieder den Teufel zu streiften: oder Beantwortung der Fragen: 1) Kan der Teufel dem Leib der Menschen schaden? 2) Welchen am mehresten? 3) Wie ist zu helfen? Kempten 1774

1774- C r a n z , August Friedrich [ursprünglich anonym] 1784 Gallerie der Teufel; bestehend in einer auserlesenen Sammlung von Gemählden moralischer Figuren, deren Originale zwischen Himmel und Erden anzutreffen sind, nebst einigen bewährten Recepten, gegen die Anfechtungen der bösen Geister. Von Pater Gaßnern dem Jüngern nach Art periodischer Schriften stückweise herausgegeben ..., 5 Bde., u. a. Frankfurt a. M. 1774-1784 1775

Anonymus D. Fausts ,Original'-Geister-Commando der ,Höllen' und aller anderer Geister,Zwang', o. O.

1775

C ru s i u s , Christian August Eines großen Gottesgelehrten Gedanken über Herrn Gaßners Teufel-Austreibung, Leipzig 1775

1775

P e r n e t t y , J. Α., Hrsg. Ε. v. Swedenborg: Vom Himmel, der Geisterwelt und der Hölle, aus dem 1758 lateinisch erschienenen Originale übersetzt und mit Anmerkungen u. s. w. begleitet, von J. A. Pernetty, Berlin 1775 (Teil II erscheint auf französisch. Übersetzung J. A. Pernetty, Berlin 1782)

1775

S t e r z i n g e r , Ferdinand Die aufgedeckten Gaßnerischen Wunderkuren aus authentischen Urkunden beleuchtet, und durch Augenzeugen bestätigt, o. O.

1775- L a v a t e r , Johann Caspar 1778 Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, Leipzig, Winterthur 1775-78 1776

S e m 1 e r, Johann Salomo Sammlungen von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpferischen Geisterbeschwörungen, 2 Bde., Halle 1776

1777

C r a n z , August Friedrich [ursprünglich anonym] Condolenz-Schreiben an die grossen Geister Teutschlands, Stassburg und Frankfurt a. M. 1777

1778

L i c h t e n b e r g , Georg Christoph ,Über Physiognomik, wider die Physiognomen. Zur Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis',.Fragment von Schwänzen. Ein Beitrag zu physiognomischen Fragmenten', ,Wider Physiognomik', alle drei Texte in: Göttinger Taschenkalender des Jahres 1778, in: G. Ch. Lichtenberg Schriften und Briefe, hrsg. von F. H. Mauter, Frankfurt a. M. 1983, Bd. II

LITERATUR

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M e s m e r, Franz Anton Abhandlung über den thierischen Magnetismus, - zit. nach: unveränderte Neuauflage nach der Ausgabe von Carlsruhe 1781, Tübingen 1985

1781

W i e l a n d , Christoph Martin ,Der Schlüssel der Abderitengeschichte', 1781, in: C. M. Wielands sämtliche Werke, hrsg. von H. Radspieler, Bd. 20, Hamburg 1984, S. 289-308

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W i e l a n d , Christoph Martin ,Über den Hang der Menschen an Magie und Geistererscheinungen zu glauben', 1782, in: C. M. Wielands sämtliche Werke, hrsg. von H. Radspieler, Hamburg 1984, Bd. 24, S. 71-92

1783

S t e r z i n g e r , Ferdinand Dom Ferdinand Sterzingers Geister- und Zauberkatekismus, München 1783

1784

F l ö g e l , Carl Friedrich Geschichte der komischen Literatur, Bd. 1, Liegnitz 1784

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1784- H e r d e r , Johann Gottfried von 1791 Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 4 Teile, Riga und Leipzig 1784-1791, Bd. 1 und 2 neu: Berlin und Weimar 1965 1785- A d e 1 u η g, Johann Christoph 1789 Geschichte der menschlichen Narrheit oder Lebensbeschreibung berühmter Schwarzkünstler, Goldmacher, Teufelsbanner, Zeichen- und Liniendeuter, Schwärmer, Wahrsager, und anderer philosophischer Unholden, 7 Bde. (anonym erschienen), Leipzig 1785-1789 1786

Anonymus ,E. v. Swedenborgs Revision der bisherigen Theologie, sowol der Protestanten als Römischkatholischen. Aus der lateinischen Urschrift übersetzt; nebst einem Prüfungsversuche: Ob es wol schon ausgemacht sei, daß Swedenborg zu den Schwärmern gehöre', Breslau: bey Gottlieb Löwe 1786, in: Träume: R.M. 1976, S. 144-157

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C u l l e n , William Klinische Vorlesungen über die Nervenkrankheiten, dt. Leipzig 1794

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Bildnachweise

Das Herodes-Bild auf Seite 229 ist entnommen aus: Effetto Arcimboldo, trasformazioni del volto nel sedicesimo e nel ventesims secolo, ohne Angabe der Herausgeber, Milano 1987 Der Bildausschnitt vom Leviathan-Bild auf Seite 230 ist entnommen aus: Furcht und Freiheit. Leviathan-Diskussion 300 Jahre nach Hobbes, hrsg. von U. Bermbach u. K. M. Kodalle, Opladen 1982 Die , Allegorie der Bilderstürmer' auf Seite 231 ist entnommen aus: Effetto Arcimboldo, trasformazioni del volto nel sedicesimo e nel ventesims secolo, ohne Angabe der Herausgeber, Milano 1987 Die Abbildung des Schmetterlings Caligio prometheus auf Seite 253 wurde freundlicherweise vom Naturkundemuseum Berlin zur Verfügung gestellt.

Personenregister

Adelung, Johann Christoph 232, 345f Adickes, Erich 258 Adorno, Theodor W. 21, 296f, 359ÍF Albert, Hans 359 Alembert, Jean le Rond d' 60 Alexander der Große, König von Makedonien 136 Allison, Henry E. 359 Andriopoulos, Stephan 369 Apitzsch, Arthur 50,350 Aram, Kurt 353 Aristides 141 Aristoteles 49, 67, 74, 142, 222, 241, 291,338 Arouet, François (Vater des Voltaire) 136 Artemidoros aus Daldis 196,338 Asmussen, Jens Peter 366 Assmann, Jan 367 Augustinus 222

Benz, Ernst 17,168, 233, 298f, 316, 354f Berkley, George 70,99 Bernet, Rudolf 314,365 Bessenge, Friedrich 356 Biester, Johann Erich 346 Bion, Wilfred R. 357 Bishop, Paul 367 Bleuer, Eugen 81,351 Bloch, Chajim 352 Blumenberg, Hans 233, 363 Boerhaave, Hermann 211, 289, 342 Böhling, Alexander 366 Böhme, Gernot 17,362 Böhme, Hartmut 17,362 Böhme, Jakob 161,299,307 Borowski, Ludwig Ernst 347 Brahe, Tycho 233 Brandt, Reinhard 200,362 Bredekamp, Horst 367 Breuer, Josef 329

Baader, Franz Xaver von 232, 348 Baas, Bernard 366 Bacon, Francis 60, 62 Baeyer-Katte, Wanda von 357 Bahr, Ehrhard 292,360 Ballet, Gilbert 158 Barthes, Roland 26,360 Bataille, Georges 3 51 Baum, Manfred 363 Baumeyer, Franz 165, 168, 356 Baumgarten, Alexander Gottlieb 40,

Broch, Hermann 142, 233, 277, 297, 354 Brown, John 289,345 Brun, Jean 17,361 Brunschwig, Henri 355 Buffon, Georges-Louis Leclerc, Duc de 60 Bulgakow, Michail 233, 354 Burchardt, Kurt 351 Burke, Edmund 60

59, 99, 198, 306, 342 Bayle, Pierre 212, 309ff, 339 Beireis, Gottfried Christian 41 Benjamin, Walter 353

Cagliostro, Graf Alessandro (Giuseppe Balsamo) 41 Caillois, Roger 318,356 Calmet, Don Augustin 232, 342

373

PERSONENREGISTER

Canetti, Elias 233,354 Cant, Andreas 292 Capaldi, Nicholas 359 Capelle, Wilhelm 291, 358 Carroll, Lewis (Charles Lutwidge Dodgson) 349 Cassirer, Ernst 352 Clemm, Heinrich Wilhelm 343 Cohen, Hermann 49f, 349 Comte, Auguste 23,348 Condillac, Etienne Bonnot de 40 Conrad, Heinrich 353 Cramer, Luise 50, 352 Cranz, August Friedrich 232, 344 Crusius, Christian August 40, 67, 99, 120, 148, 232, 341, 344 Cudworth, Ralph 212,339 Cullen, William 289, 343, 346 Czerniaków, Adam 233,355 Dahrendrof, Ralf 359 Dankelmann, Eberhard Freiherr von 210,350 Dannowski, Hans Werner 366 Darnton, Robert 358,366 David-Ménard, Monique 17, 26, 50, 168, 298, 306, 363f, 366, 369 De Quincey, Thomas 290, 347f Dedekind, Gustav E. 232, 346 Defoe, Daniel 340 Deinhard, Ludwig 233,351 Deleuze, Gilles 85,359 Demokrit 153 Derrida, Jacques 301,358f, 365 Descartes, René 11, 36, 49, 62, 70, 72, 95f, 99, 180f, 194, 223f, 300ff, 339 Dessoir, Max 233, 353 Deuber-Mankowsky, Astrid 370 Diderot, Denis 40,60 Dietrichstein, Graf von 155, 334 Dörflinger, Bernd 369 Driesch, Hans 353, 355 Dülmen, Richard van 363 Düsen, Wilson van 170,358 Ebbinghaus, Julius 17, 158, 227, 308, 355 Edmunds, A. 350

Ego, Annelise 364 Ehrlich, E. L. 50,356 Eisler, Rudolf 354 English, Ava Champney 328, 356 English, Horace Bidwell 328, 356 Enskat, Rainer 361 Epiktet 141 Epikur 62,242 Epiphanius 310 Epstein, Klaus 357 Erdmann, Benno 50, 336, 349 Erhard, Johann Benjamin 360 Esser, Andrea 369 Euler, Leopold 270,343 Falkenberg, Brigitte 368 Fechner, Gustav Theodor 232, 347f Feder, Johann Georg Heinrich 149, 343 Ferrari, Jean 368 Feuerbach, Ludwig 104, 150 Fichte, Johann Gottlieb 41, 70, 99 Fischer, Ernst 363 Fischer, Kuno 17, 47f, 349 Flechsig, Paul Emil 167 Flögel, Carl Friedrich 292, 345 Florschütz, Gottlieb 365 Foucault, Michel 130, 196, 356, 358, 362 Francesco, Grete von 41,354 Freud, Sigmund 49f, 60, 91, 104, 126ff, 164-169, 179-184, 186, 190, 195f, 233, 238, 279, 295ff, 305ff, 312-315, 318, 322-332, 365f, 350, 352 Frey, Ewald 334,351 Friedrich II, der Große, König von Preußen 59, 149, 157, 257, 292 Friedmann, Constanze 50, 353 Fries, Jacob Friedrich 49, 347 Fumiyasu Ishikawa, Sendai 364 Funck, Heinrich 350 Fürstenberg, Friedrich 359 Gabay, Alfred J. 369 Garve, Christian 38f Gaßner, Johann Joseph 41,232,344 Gerlach, Hans-Martin 361

374

PERSONENREGISTER

Gheeraets, Marcus 228 Goerwitz, Adolf L. 3 5 4 f Goethe, Johann Wolfgang von 29, 41f, 103, 149, 195, 227, 232, 318, 343 Gollwitzer, Gerhard 358 Gondek, Hans-Dieter 50, 365 Gottsched, Johann Christoph 309, 339 Götz, Gerhard 17, 31, 38, 365f, 368 Gougomos, Freiherr von 41 Grimm, Friedrich Melchior, Baron von 60 Gruber, Johann G. 347 Gründer, Karlfried 359 Guattari, Félix 8 5 , 3 5 9 Gulyga, Arsenij 362 Gurland, Eljaschoff Esther

351

Habermas, Jürgen 359 Hahn, Joseph 356 Haidane, Elizabeth Sanderson Halfwassen, Jens 369

350

Haller, Albrecht von 220 Hamann, Johann Georg 3 7 , 4 1 , 113 f, 116, 150, 156,292, 335, 360 Hammacher, Klaus 3 0 2 , 3 6 2 Hartenstein, Gustav 12 Hartknoch, Johann Friedrich 149 Hartley, David 91, 182, 302, 341 Hartmann, Eduard von 302, 349 Hartmann, Franz 233, 355 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 220ÍT, 224, 226, 232, 272, 287, 316f, 350, 354, 347 Heine, Heinrich 29f, 232, 347 Heinrich, Klaus 366 Heise, Jens 301, 364 Heissière la Lroze, Maturin 309 Helmholtz, Hermann von 349 Helmont, Johann Baptist van 140 Helvetius, Claude Adrien 140, 291 Hemminger, Andrea 130,369 Henning, Richard 2 3 3 , 3 5 1 Henrich, Dieter 358 Heraklit 291 Herder, Johann Gottfried von 3 8 , 4 1 , 53, 149, 232, 272, 343, 345, 360 Herz, Marcus 258f, 343

Hibbert-Ware, Samuel 232, 347 Himmelmann, Beatrix 369 Hinske, Norbert 3 5 9 , 3 6 4 Hobbes, Thomas 200, 228, 230 Höffe, Otfried 96, 361ff, 366, 368f, 370 Hoffmann, Friedrich 2 8 9 , 3 4 0 Hoffmann, Richard Adolf 17,158f, 169, 351 Holbach, Baron Paul-Henri Dietrich von 234 Hönigswald, Richard 50, 352 Horaz 144, 160, 164 Horkheimer, Max 2 1 , 3 5 4 , 3 5 5 Horn, Friedemann 356 Horstmann, Rolf-Peter 361, 364 Hübener, Wolfgang 362 Hufeland, Christoph Wilhelm 289 Hume, David 33-46, 60, 70, 76, 99, 1 3 4 , 1 9 4 , 2 3 5 , 2 3 8 , 2 4 4 , 341 Hutcheson, Francis 3 7 , 4 0 , 60, 204, 307, 340 Huxley, Aldous 208, 233, 354 Janet, Pierre 3 0 5 , 3 2 9 Jäsche, Gottlob Benjamin 14 Jaspers, Karl 5 0 , 1 6 9 , 3 6 1 Johannes, der Evangelist 2 1 7 , 3 1 3 Jonas, Hans 354 Jonstones, J. 289 Jugel 299 Jung-Stilling, Johann Heinrich 226, 232, 347

152,

Kanter, Johann Jacob 143, 257, 259 Karl II., König von England 292 Karl XII, König von Schweden 168, 298 Kehrbach, Karl 3 3 3 , 3 4 9 Kiefer, Klaus H. 369 Kim, S a o B a e 365 Kisker, Karl Peter 50, 289, 356 Kitcher, Patricia 364 Kittsteiner, Heinz Dieter 366 Kleen, Emil A. G 169, 298f, 306, 352 Klein, Melanie 207, 326, 3 3 1 , 3 5 5 Klinger, Friedrich Maximilian 232 Klingsporn, Friedrich von 58, 334

PERSONENREGISTER

375

Knobloch, Charlotte von 43, 53, 58, 140, 155, 156, 158f, 333-336 Knutzen, Martin 59 Koch, Anton Friedrich 364 Koepgen, Georg 361 Komarnicki, Jan Pawlikowicz 113116, 3 3 4 f Kopernikus, Nikolaus 31 Koslowski, Peter 212, 364 Krause, Karl Christian Friedrich 348 Krauss, Christian Jacob 292 Kraepelin, Emil 325 Kreimendahl, Lothar 364

232,

Lacan, Jacques 5 0 , 1 6 9 , 2 5 2 , 3 1 5 f , 354, 358, 361 Lagercrantz, Olof 366 Lambert, Johann Heinrich 40, 59, 258f Lamm, Martin 353 Lange, Victor

166-169, 212, 299, 358

Laplanche, Jean

8 1 , 1 9 0 , 208, 305,

322f, 325-332, 359 Lavater, Johann Caspar 41, 103, 232, 272, 344 Lehmann, Alfred 167, 169, 227, 350 Lehmann, Gerhard 349 Leibniz, Gottfried Wilhelm von 20f, 25, 35-38, 4 0 , 4 7 , 4 9 , 54f, 59, 6170, 73f, 78, 91-96, 99, 103,120, 130, 146ff, 152f, 187, 193f, 212ff, 238, 249, 223, 255, 260, 262f, 267, 270, 274ff, 280f, 302ff, 309, 311, 340, 342 Lenk, Hans 363 Lessing, Gotthold Ephraim 360 Lewin, B. D. 322 Ley den, Johann von 141 Lichtenberg, Georg Christoph 344 Liebband, Werner 357 Lind, Paul von 350 Lindner, Johann Gotthelf 292 Liscow, Christian Ludwig 175 Locke, John 2 1 , 6 0 , 6 2 , 7 0 , 9 1 , 9 9 , 103, 180, 182-185, 195,212, 223, 302, 339

Louise Ulrike, Königin von Schweden 157, 159, 292 Löwe, Gottlieb 293 Lukács, Georg 357 Luther, Martin 4 2 , 3 0 7 Lützow, Baron von 155, 3 3 3 f Macho, Thomas H. 365 Malebranche, Nicolas de 62 Malter, Rudolf 17, 149, 333, 360 Mamiani, T. 5 0 , 3 4 9 Marteville, Frau von 158f, 333 Marx, Karl 1 0 4 , 2 3 2 , 3 4 8 Maupertius, Pierre-Louis Moreau de 60 Maus, Heinz 359 Mendelssohn, Moses 40f, 70, 99, 149, 155f, 2 2 2 , 2 5 9 , 3 3 3 , 3 4 3 , 3 6 0 Menzer, Paul 149 Meo, Oscar 5 0 , 3 6 2 Mertens, Wolfgang 367 Mesmer, Franz Anton 42, 103, 345 Meyer, Eduard 353 Meyer, Jürgen Bona 349 Michaelis, Carl Friedrich 2 8 9 , 2 9 0 Mitternacht, Johann Sebastian 349 Mohammed 141 Moneti, Maria 369 Montesquieu, Charles-Louis de Secondât, Baron de la Brède et de 60 More, Henry 2 1 2 , 3 3 9 Morris, Max 350 Mose 227,293-295 Mozart, Wolfgang Amadeus Muthuraman, M. 46, 360

42

Natorp, Paul 352 Naumann, Cías M. 3 1 9 , 3 6 5 Negt, Oskar 366 Neuburger, Max 352 Neugebauer-Wölk, Monika 367 Newton, Isaac 2 3 , 4 2 , 59, 64, 103, 123, 1 9 7 , 2 0 4 , 2 1 Iff, 339f Nicolai, Friedrich 259 Nietzsche, Friedrich 36, 104, 232, 297, 349 Niewöhner, Friedrich

364

376

PERSONENREGISTER

Noordraven, Andreas 317, 368 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 232, 346

Rousseau, Jean-Jacques 21,40,45, 60f, 114-117, 132,141f, 341f Rudolph, Kurt 361

Oetinger, Friedrich Christoph 232, 342 Özmen, Elif 368

Sala, Giovanni B. 363 Sallis, John 361 Satura, Vladimir 50,359 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 103, 226, 232, 297, 346f Schick, Friedrike 369 Schiller, Friedrich 197, 232, 316, 346, 360 Schlerath, Bernfried 359 Schlieper, Hans 351 Schlosser, Johann Georg 195 Schmidbauer, Wolfgang 322, 367 Schmucker, Josef 17,48, 357, 360ff Schnädelbach, Herbert 363 Schneider, Robert 316, 3 54 Scholem, Gershom 227, 356 Schopenhauer, Arthur 49, 232, 347f Schott, Heinz 367

Papadimitriou, Euthymios 362 Patt, Walter 47,363 Paulus, der Apostel 31, 241, 308 Perkins, Benjamin Douglas 41 Pernetty, J. A. 232,344 Philonenko, Alexandre 17, 359 Pilot, Harald 359 Pinzani, Alessandro 369 Platon 49, 96,174, 222,281, 283, 291,312, 338 Plotin 161, 221f, 224, 226, 274, 306, 338 Poelitz, Karl Heinrich Ludwig 336 Poliakov, Léon 307f, 363 Pontalis, Jean-Bertrand 81,190, 208, 305, 322f, 325-332, 359 Pope, Alexander 61 Popper, Karl R. 359 Prauss, Gerold 22lf, 360 Prel, Carl du 50,210,336,350 Pries, Christine 367 Puech, Henri Charles 351,361 Putzger, Friedrich W. 324, 359 Pythagoras von Samos 28lf Radermacher, Hans 363 Raikovic, Pierre 365 Rehder, Wulf 362 Reich, Klaus 45,47, 250, 357, 360 Reinalter, Helmut 363 Reinhold, J. 49,352 Reinhold, Karl Leonhard 41 Riehl, Alois 37,49, 50, 349 Riem, Andreas 360 Ritter, Joachim 359 Riviere, Joan 323, 353 Rohde, Erwin 350 Roos, Jacques 356 Rösch, Günther 369 Rosenkranz, Karl 348

Schreber, Daniel Gottlieb Moritz 164 Schreber, Daniel Paul 164-169, 296ff, 351 Schröder, Konrad 352 Schulz, Wolfgang 351 Séglas 168,352 Semler, Johann Salomo 232, 344 Serck-Hanssen, Camilla 368 Seythianus 110 Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper Earl of 60,204,209,211-214, 217,242, 244, 307,313, 340 Shelley, Mary 20,347 Sierke, Eugen 349 Simonis, Linda 369 Sloterdijk, Peter 365 Smolle, Leo 49,349 Sömmering, Samuel Thomas 289, 346 Stahl, Georg Ernst 289, 340 Staint Germain, Graf von 41 Staint-Germain, Generalfeldmarschall Comte de 334 Steele, Richard 292 Steiner, Rudolf 233 Sterzinger, Ferdinand 232, 344f Stevenson, Robert Louis 190, 349

377

PERSONENREGISTER

Stoll, Johann Gottlieb 232, 299, 345 Strausberg, Michael 367 Sulzer, Johann Georg 259 Swedberg, Jasper (seit 1719 von Swedenborg) 164 Swedenborg, Emanuel von 17,21, 43fT, 69, 70-76, 78, 89, 92, 99, 103, 132, 140fr, 147,151f, 154-161, 163-176, 181f, 187-190, 193ff, 197f, 200-208, 210-215, 218-224, 226ff, 232-235, 239, 241 f, 251, 255,263, 274, 280f, 292f, 296-299, 304, 306ff, 312, 315f, 330, 334fT, 341 Swift, Johnathan 148 Tafel, Johann Friedrich Immanuel 232, 334, 348 Taubes, Jacob 362 Teichner, Wilhelm 358 Theweleit, Klaus 367 Tieftrunk, Johann Heinrich 44 Tillich, Paul 352 Tonelli, Giorgio 17, 356ff, 360 Treash, Gordon 365 Troeltsch, Ernst 353 Tschechow, Anton Pawlowitsch 170, 350 Tugendhat, Ernst 23, 360, 369, 369 Turgot, Anne-Robert-Jacques, Baron de l'Aulne 60,341 Überweg, Friedrich 351 Unzer, Johann August 289, 342 Vaihinger, Hans 351 Valéry, Paul 29,355

Valjavec, Fritz 357 Vaucanson,Jacques 219 Vergil 154, 182 Viatte, Auguste 352 Voltaire (François-Marie Arouet) 17, 40, 60-67, 136, 342 Volz, Gustav Berthold 354 Vorländer, Karl 37, 40, 58f, 257, 292, 353 Vossenkuhl, Wilhelm 366 Walsh, W.H. 362 Wasianski, Ehregott Andreas Christoph 290 Watkins, Eric 368 Weber, Dr. 165 Weber, Samuel M. 166 Weischedel, Wilhelm 12,313,339 Weissberg, Liliane 364 Wettlay, Annemarie 357 Widmer, Peter 50,365 Wieland, Christoph Martin 232, 345, 347, 360 Wieland, Georg 345 Wilkinson, Bertie 158 Willmans, Arnold 346 Windelband, Wilhelm 361 Wolff, Christian 40, 59, 99, 146ff, 340f Wright, Thomas 350 Zammito, John H. 368 Zedier, Johann Heinrich 341 Zimmer, Heinrich 266f, 357 Zizek, Slavoj 367 Zoroaster, bzw. Zarathustra 103,213, 297, 31Of