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German Pages 271 [273] Year 2012
Matthias Blum / Rainer Kampling (Hg.) Zwischen katholischer Aufklärung und Ultramontanismus
Contubernium Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte Herausgegeben von Jörg Baten, Ewald Frie, Andreas Holzem, Ulrich Köpf, Sönke Lorenz (†), Anton Schindling, Jan Schröder und Urban Wiesing Band 79
Matthias Blum / Rainer Kampling (Hg.)
Zwischen katholischer Aufklärung und Ultramontanismus Neutestamentliche Exegeten der „Katholischen Tübinger Schule“ im 19. Jahrhundert und ihre Bedeutung für die katholische Bibelwissenschaft
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Umschlagbild: Blick vom Turm der Stiftskirche in Tübingen auf das Wilhelmsstift und die Altstadt (nach Norden) © Roman Eisele / Wikimedia Commons / CC-BY-SA-3.0 & GFDL ≥ 1.2
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-10199-8 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Printed in Germany
Inhaltsverzeichnis Vorwort .................................................................................................................... 7
Ina Ulrike Paul „Catholiken und Protestanten … nunmehr zu Brüdern umgewandelt“? Das Ringen um die faktische Parität der Konfessionen zwischen Staat und katholischer Kirche in Württemberg im 19. Jahrhundert ........................................ 9
Ulrich Köpf Zur „Katholischen Tübinger Schule“ ................................................................ 43
Albert Franz Systematik der „Katholischen Tübinger Schule“ ............................................. 67
Norbert Wolff SDB Von der „moralischen“ zur „kritischen“ Bibelauslegung Peter Alois Gratz (1769–1849) .............................................................................. 83
Matthias Blum Andreas Benedikt Feilmoser (1777–1831) – ein bedeutender Exeget der Katholischen Tübinger Schule ................................ 103
Christoph Heil Martin Joseph Mack (1805–1885) – konservativer Katholik und akribischer Neutestamentler .................................... 131
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Inhaltsverzeichnis
Michael Theobald Joseph Gehringer (1803–1856) Autor einer längst vergessenen Evangeliensynopse und Wegbereiter der Zweiquellentheorie .............................................................................................. 147
Rainer Kampling Moriz von Aberle (1819–1875) Zur Selbstkonstruktion eines Wissenschaftlers ................................................... 183
Markus Thurau Paul von Schanz (1841–1905) Katholische Exegese nach dem Ersten Vatikanischen Konzil............................. 197
Robert Vorholt Inspiration der Bibel Der Geist und der Buchstabe ............................................................................... 229
Otto Weiß „Was heißt und zu welchem Ende betreibt man Theologie?“ Bemerkungen zu Tendenzen und Strategien katholischer Theologie im 19. Jahrhundert ............................................................................................... 241
Autorenverzeichnis .............................................................................................. 263
Personenregister ................................................................................................... 265
Vorwort Der vorliegende Sammelband ist im Rahmen eines Forschungsprojektes entstanden, das die Deutsche Forschungsgemeinschaft unter dem Titel „Neutestamentliche Exegeten der Katholischen Tübinger Schule im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung von Paul von Schanz“ von 2009–2011 für zwei Jahre gefördert hat. Die einzelnen Beiträge gehen bis auf den Beitrag von Robert Vorholt auf die Referate einer wissenschaftlichen Fachtagung des Forschungsprojektes im Oktober 2010 in Berlin zurück. Die dem Forschungsprojekt zugrunde liegende Hypothese, dass sich die katholische Exegese der historisch-kritischen Methode über die Textkritik hinaus nicht erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts geöffnet hat, sondern bereits im 19. Jahrhundert, kann voll und ganz bestätigt werden. Die bislang gemeinhin vertretende Annahme, dass der Raum, in dem katholische Bibelwissenschaftler forschen und lehren konnten, durch Entscheidungen des kirchlichen Lehramtes vom Tridentinum bis zum Ersten Vatikanischen Konzil gänzlich vorherbestimmt und reglementiert war, kann in ihrer Ausschließlichkeit nicht mehr aufrecht erhalten werden und ist deshalb grundsätzlich zu revidieren. Es zeigt sich, dass insbesondere die Fokussierung auf den sogenannten Modernismus, d. h. hinsichtlich der Bibelwissenschaft auf Alfred Loisys Rezeption der historisch-kritischen Methode, sowie auf die antimodernistischen lehramtlichen Dokumente den differenzierten Blick auf eine durchaus heterogene katholische Bibelwissenschaft des 19. Jahrhunderts verstellt hat. Die Geschichte der katholischen Bibelwissenschaft ist damit nicht zuletzt unter Berücksichtigung der Exegeten der Katholischen Tübinger Schule weitaus differenzierter zu betrachten als bisher geschehen.* Dazu bieten die vorliegenden Beiträge einen vielschichtigen und differenzierten Einblick. Wir danken Frau Dipl-Theol. Monika Kling, Tübingen, nicht nur für ihre überaus kompetente Mitarbeit in der Literaturrecherche und -beschaffung, sondern auch für ihre mühevolle und geduldige Erstellung einer ersten Druckvorlage. Als studentische Mitarbeiterin hat sie das Projekt in Tübingen gewinnbringend unterstützt. Ohne die mehr als dankenswerte Hilfe von Herrn Eugen Fesseler, Diplomtheologe und ehemaliger Bibliothekar am Wilhelmsstift Tübingen, hätten wir manchem Hinweis nicht nachgehen und manche Handschrift nicht einsehen können. Herrn Johannes Schneider M. A., Berlin, gebührt unser Dank für die finale Erstellung der Druckvorlage. Herrn Dipl.-Theol. Andreas Hölscher danken wir für die logistische Unterstützung unserer Tagung in den Räumen des Erzbischöflichen Ordinariats Berlin. Herr Prof. em. Dr. Ulrich Köpf stand nicht nur im öku*
Der Begriff „Katholische Tübinger Schule“ ist durch die Dissertation von Stefan Warthmann (Die Katholische Tübinger Schule. Zur Geschichte ihrer Wahrnehmung, Stuttgart 2011) erneut zum Gegenstand der Auseinandersetzung geworden. Vgl. dazu die Rezension von Markus Thurau: http://ifb.bsz-bw.de/bsz346816270rez-2.pdf?id=5063 [Zugriff vom 20. Mai 2012].
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Vorwort
menischen Geist allen Fragen zum Begriff „Tübinger Schule“ Rede und Antwort, sondern unterbreitete darüber hinaus als Mitherausgeber der Reihe „Contubernium. Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte“ das freundliche Angebot, den Sammelband in dieser Reihe herauszugeben. Dementsprechend danken wir ihm ebenso wie dem Franz Steiner Verlag, namentlich dem Geschäftsführer, Herrn Dr. Thomas Schaber, für die Begleitung bei der Herausgabe dieses Buches. Nicht zuletzt danken wir der Autorin und den Autoren für ihre Beiträge ebenso wie für ihre unendliche Geduld bei der überaus lange währenden Fertigstellung des Bandes. Berlin-Dahlem, im Mai 2012 Matthias Blum, Rainer Kampling
„Catholiken und Protestanten … nunmehr zu Brüdern umgewandelt“?∗ Das Ringen um die faktische Parität der Konfessionen zwischen Staat und katholischer Kirche in Württemberg im 19. Jahrhundert Ina Ulrike Paul
Meinem verehrten Lehrer Eberhard Weis zum 31. Oktober 2012
Württemberg durchlief im 19. Jahrhundert die gleichen Transformations- und Modernisierungsprozesse wie alle anderen deutschen Staaten, doch trugen einige von ihnen ein spezifisch württembergisches Gepräge – so auch die Auseinandersetzungen zwischen paritätischem Staat und katholischer Kirche vor dem so genannten Kulturkampf.1 Überblickt man die acht Jahrzehnte zwischen Säkularisation und Mediatisierung zu Jahrhundertbeginn 1803 und dem ‚offiziösen‘ Ende des Kulturkampfes im Mai 1887, so lässt sich pointiert formulieren, dass es in Württemberg zu Beginn dieses Zeitraums ‚keine Katholiken‘ und in seiner Endphase ‚keinen Kulturkampf‘ gegeben habe: Vor 1802/3 hatte das damals annähernd 250 Jahre evangelisch-lutherische Herzogtum selbst unter den katholischen seiner Fürsten keinen nicht-protestantischen Einwohner geduldet.2 Acht Jahrzehnte spä∗
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Zitat aus der Ansprache Kurfürst Friedrich I. von Württemberg anlässlich der Huldigung Ellwangens, vorgetragen von Innenminister von Normann-Ehrenfels in Ellwangen am 21.Juli.1803, abgedr. in: Ina Ulrike PAUL, Württemberg 1797–1816/19 (= Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten, Bd. 7), Teilband 7/1, 93–97, hier: 94. Peter STADLER, Kulturkampf oder Kulturkämpfe im mittleren Europa des 19. Jahrhunderts. Versuch einer vergleichenden Orientierung, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 15 (1996), 13–25; Rudolf LILL (Hrsg.), Der Kulturkampf (= Beiträge zur Katholizismusforschung, Bd. 10), Paderborn u.a. 1997, 10, spricht von europäischen „Kulturkämpfe[n] als Modernisierungskrisen“. – Der „Kulturkampf“ wird in der neueren Forschung weder als originär preußisches noch spezifisch deutsches, sondern als europäisches Phänomen begriffen: Uwe PUSCHNER, Kulturkampf. Ursachen, Verlauf, Folgen, in: Richard FABER - DERS. (Hg.), Preußische Katholiken und katholischen Preußen im 20. Jahrhundert, Würzburg 2011, 45–62, bes. 47f. – Zum Begriff ‚deutsche Staaten‘: Dieser Terminus wird hier vereinfachend verwandt für die Territorial-, Teil- bzw. Gliedstaaten des Alten Reiches, des Rheinbundes, des Deutschen Bundes, des Norddeutschen Bundes und schließlich des Kaiserreiches. Zu den Herzögen Carl Alexander (1733–1747), Carl Eugen (1744–1793) und Ludwig Eugen (1793–1795) s. Gabriele HAUG-MORITZ, Die Zeit der katholischen Herzöge (1733–1795), in: Das Haus Württemberg. Ein biographisches Lexikon, hrsg. v. Sönke LORENZ u.a., Stuttgart
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ter, in denen aus dem kleinen Wirtemberg der zweitgrößte Mittelstaat im deutschen Kaiserreich geworden war, kam es in dem südwestdeutschen Königreich mit seinem katholischen Bevölkerungsanteil von annähernd 30% nicht zu einem Kulturkampf in der Art des benachbarten Baden oder gar Preußens:3 Eine „Oase des Friedens“ war Württemberg deshalb noch lange nicht, wie die seit den 1830er Jahren in zunehmender Schärfe geführten Auseinandersetzungen zwischen der württembergischen Regierung und der katholischen Kirche zeigen.4 Kann die spezifische Kultuspolitik Württembergs nicht nur für den Verlauf der interkonfessionellen Konflikte im Lande verantwortlich gemacht werden, sondern unbeabsichtigt auch noch als eines der Substrate für das Aufblühen der katholischen Tübinger Schule im 19. Jahrhundert gelten?5 Was unterscheidet die Auseinandersetzungen zwischen katholischer Kirche und dem Königreich Württemberg von den Konflikten, die mit anderen Staaten des Deutschen Bundes und schließlich des Kaiserreiches auszutragen waren? Fragen wie diese sollten sich mit einem Blick auf die Grundlagen des Verhältnisses von Staat und katholischer Kirche in Württemberg beantworten lassen. Zu den bisher von der Forschung namhaft gemachten Ursachen für den relativen ‚Kulturfrieden‘ in Württemberg zählten etwa die guten persönlichen Beziehungen zwischen den jeweiligen Landesbischöfen und Monarchen, der weit vor dem Kulturkampf eingeleitete Versuch eines Interessenausgleichs zwischen Kirche und Staat, der nach dem gescheiterten Konkordatsversuch von 1857 in das Kirchengesetz von 1862 mündete, oder die Nichtexistenz einer Zentrumspartei in Württemberg während der Kulturkampfzeit.6 Ergänzend wird ihnen hier die These zur Seite gestellt, dass in Württemberg die Auseinandersetzung zwischen konsti-
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1997, 247–272; James Allen VANN, Württemberg auf dem Weg zum modernen Staat 1593– 1793, Stuttgart 1986, 198–279. Michael KISSENER, „Preussisches Probierländle“? Über die Eigenart des badischen Kulturkampfes, in: Historisches Jahrbuch 122 (2002), 235–262. – Zum katholischen Bevölkerungsanteil der „Neuen Lande“ 1803 s. Ina Ulrike PAUL, Württemberg 1797–1816/19 (= Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten, Bd. 7), Teilband 7/2, 881 und Anm. 18; desgl. um 1880; s. dazu die vom baden-württembergischen Landesarchiv betreute Website http://maja.bsz-bw.de/zollvereinsstatistik/religion_erl.php?start=start (Zugriff 14.07.2011). Hubert WOLF, Württemberg als Modell für die Beilegung des Kulturkampfs in Preußen?, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 15 (1996), 65–79, hier: 70; Dominik BURKARD, Kein Kulturkampf? Zur Problematik eines Klischees, in: a.a.O., 81–98. Hubert WOLF, Katholische Kirchengeschichte im „langen“ 19. Jahrhundert von 1789 bis 1918, in: DERS. (Hg.), Ökumenische Kirchengeschichte, Bd. 3, Darmstadt 2007, 91–177, hier: 109ff. (innere Erneuerung der katholischen Kirche nach 1803), 114 (Tübinger Schule). – Zur Bedeutung der „Übertragung der Theologenausbildung an die Tübinger KatholischTheologische Fakultät“ für die katholische Erneuerung: Bernhard MANN, Württemberg 1800 bis 1866, in: Handbuch der baden-württembergischen Geschichte Bd. 3, hrsg. v. Hansmartin SCHWARZMAIER, Stuttgart 1992, 235–332, hier: 286. – Sehr kritisch zur Situation der katholischen Kirche in Württemberg bis 1830: August HAGEN, Staat und katholische Kirche in Württemberg in den Jahren 1848–1862, Teile I und II, Amsterdam 1961 (= ND der Ausgabe Stuttgart 1928), Teil I, 1–26. WOLF (Anm. 5), 157; BURKARD (Anm. 4), 94–98. Nachweis des Gesetzes von 1862 in Anm. 15.
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tutionell-monarchischem Staat und katholischer Kirche auch deshalb nicht in einem Kulturkampf preußischen Ausmaßes kulminierte, weil die Formierungsphase des paritätischen Staates zwischen 1803/6 und 1811 und die verfassungsgesetzlichen Regelungen von 1819 eine einzigartige Ausgangs- und allseitige Bewusstseinslage für das Verhältnis von Staat und katholischer Kirche in Württemberg schufen und im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts bestimmend blieben: a.) Von 1803/6 bis zum Verfassungsvertrag von 1819 gab das protestantische Altwürttemberg die Parameter der inneren Staatsbildung Württembergs vor, gleichgültig, ob es um die gesellschaftliche, die rechtliche oder die religiöskulturelle Homogenisierung seiner neu zusammengefügten Gesamtbevölkerung ging.7 Die binnen eines Jahrzehnts erfolgreiche Ausschaltung aller mit der Monarchie rivalisierenden souveränen Gewalten oder korporativ autonomen Institutionen im Innern und aller mit der königlichen Zentralgewalt konkurrierenden Einflüsse von Außen wurde zum Kristallisationskern dieser inneren Staatsbildung und nicht weniger zu demjenigen der Souveränität und Integrität (im Sinne der Beständigkeit seiner Landesgrenzen) des Königreichs Württemberg. In diesem Sinne fasste die erste königliche Regierung die katholische Kirche als eine von „Außen“ auf Württemberg einwirkende und die staatliche Souveränität konterkarierende Größe auf, deren Einfluß möglichst abzustellen sei – umso mehr, als die katholischen Einwohner der 1803/6 an Württemberg gelangten Territorien gleich fünf „ausländischen“ Diözesen (Konstanz, Speyer, Worms, Augsburg und Würzburg) sowie dem Sprengel der exemten Fürstpropstei Ellwangen angehörten. Eine ‚landeseigene‘, mit den Staatsgrenzen und dem Staatsziel harmonierende katholische Kirche sollten die katholischen Württemberger haben. So verfolgten die Regierungen König Friedrich I. und anfangs auch seines Nachfolgers Wilhelm I. mit Priorität und schließlich erfolgreich das Ziel eines Landeskonkordats und -bistums. Währenddessen schnürten sie die katholischen Institutionen des Landes eng in ein staatskirchenrechtliches System ein, das in den landesherrlichen Verordnungen der Frankfurter Vereinsstaaten zur Sicherung der staatlichen Kirchenhoheitsrechte vom 30. Januar 1830 seinen Höhe-, aber in Württemberg zugleich auch seinen Wendepunkt fand: Der sich erneuernde Katholizismus nahm an Dynamik und politischer Durchsetzungskraft zu, der starke, politisch-ökonomisch und kulturell vielseitig herausgeforderte Staat Württemberg lernte in den nächsten zwei Jahrzehnten den friedenserhaltenden Interessenausgleich. b.) Die einflussreichen katholischen Würdenträger der Anfangsjahre des Königreichs Württemberg wie der reformorientierte Konstanzer Generalvikar Ignaz
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Diese innere Nationsbildung war beabsichtigt, s. Concept einer Anrede an das – in die Landvogtei Stadt Ellwangen – zur Huldigung berufene Volk (Ellwangen, 21. Juli 1803), abgedr. in: PAUL (Anm. 3) 7/1, 93–97, hier: 93. Aus „zerstreuten Ländern, Städten und Gebieten, welche in der RegierungsForm, in Sitten, Sprache, Denkart, Gewohnheit und Herkommen, obgleich seit Jahrhunderten benachbart, sich indessen fremd waren – ihre Vereinigung kaum durch ein Wunder ahnend – Ein schönes, großes Ganzes zu schaffen.“
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Heinrich von Wessenberg8 oder die Mitglieder des Katholischen Geistlichen Rats wie Benedikt Maria von Werkmeister OSB9, Moritz Freiherr von SchmitzGrollenburg10 oder Johann Baptist von Keller11 als späterer erster Landesbischof und weitere aus der katholischen Aufklärung stammende Angehörige der Generation der „Staatskirchler“ waren sich aus eigenem Erleben der Tatsache bewusst, dass die katholischen Gebiete Neuwürttembergs in einem neugeschaffenen monarchischen Staat aufgegangen waren. Der historische Fluchtpunkt dieses neuen Württemberg war der nur für eine Staatshälfte (das vormalige Herzogtum) fundamentale Tübinger Vertrag von 1514; überdies blieb das kulturelle Selbstverständnis Württembergs trotz aller gesetzlich verordneten Toleranz, Parität und interkonfessionellen Irenik so protestantisch grundiert wie – im umgekehrtvergleichbaren Falle – das Bayerns katholisch. Dennoch galt die Parität der Kirchen und ihrer Gläubigen seit 1803, zunächst ausgesprochen in verfassungsähnlichen Gesetzen (den Religionsedikten) und mit dem Jahr 1819 durch die Verfassung; sie stand als Norm da wie heute die im Grundgesetz verankerte Gleichberechtigung von Mann und Frau, ohne tatsächlich in allen Teilen in gesellschaftliche Realität übersetzt zu sein. Unter schwierigen Ausgangsbedingungen also schufen die „Staatskirchler“ in Zusammenarbeit mit dem (ab 1806 im ganzen Staatsgebiet) paritätischen Württemberg eine katholische Infrastruktur: Drei Jahrzehnte nach der Säkularisation war die äußere Neuordnung der katholischen Kirche in Württemberg abgeschlossen, waren die „Rahmenbedingungen für das Entstehen einer eigentlichen katholischen Bewegung“12 gegeben. Erst unmerklich, seit den 1830er Jahren dann unübersehbar, änderte die katholische Kirche ihren Kurs gegenüber den staatlichen Behörden Württembergs – die den „Staatskirchlern“ folgende zweite Generation der geistlichen Repräsentanten in Württemberg, die herausragenden Gelehrten der Tübinger Schule und ihre Schüler; der in den 1830er Jahren einsetzende Wiederaufstieg des Papsttums sowie die politisch-gesellschaftlichen Auswirkungen der ‚großen Politik‘ formten das neue Selbstverständnis des Katholizismus auch in Württemberg. c.) Die den Repräsentanten von Staat und Kirche um 1800 gemeinsame, für das erfolgreiche Zusammenwirken in Kultusangelegenheiten unverzichtbare ideologische Basis bildeten die Ideen der Spät- oder Volksaufklärung, der Friedrich I. selbst, seine meist nicht-württembergischen Minister und die Vertreter der würt8
Zu Ignaz Heinrich Freiherr v. Wessenberg (1764–1860) s. Ernst Rudolf HUBER - Wolfgang HUBER, Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, Bd. I, Berlin 1973, 109, Anm. 5; PAUL (Anm. 3), 7/2, 888, Anm. 44. 9 Zu Benedikt Maria Leonhard v. Werkmeister (1745–1823) s. Franz Xaver BISCHOF, Das Ende des Bistums Konstanz. Hochstift und Bistum Konstanz im Spannungsfeld von Säkularisation und Suppression (1802/03–1821/27), Stuttgart u.a. 1989, 423, Anm. 53. 10 Zu Moritz Philipp Freiherrn v. Schmitz-Grollenburg (1765–1849) s. HUBER-HUBER I (Anm. 8), 72, Anm. 6; BISCHOF (Anm. 8), 421, Anm. 40. 11 Zu Johann Baptist (von) Keller (1774–1847) s. HUBER-HUBER (Anm. 8) I, 74, Anm. 4; Bischof (Anm. 8), 416, Anm.10. 12 WOLF (Anm. 5), 108.
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tembergischen Reformbürokratie ebenso anhingen wie die herausragenden Exponenten der katholischen Kirche.13 In dieser Zeit wechselseitiger erster interkonfessioneller Erfahrungen wurde im Land eine Tradition des Miteinanders im Kontroversen begründet, die sich unter den veränderten politisch-gesellschaftlichen Vorzeichen des Vormärz über 1848/49 hinaus bis in die Zeit des Kaiserreichs fortführen ließ. Obwohl die Streitigkeiten zwischen Staat und katholischer Kirche seit 1830 mit zunehmender Härte und Entschiedenheit ausgetragen wurden, waren sie im Tenor doch entfernt von der erbitterten Polemik, die in Baden oder Preußen den Kulturkampf bestimmten. Zwei Perioden württembergischer Kultuspolitik werden näher betrachtet, deren erste von der Formierung Neuwürttembergs 1803 über den Verfassungsvertrag vom 25. September 1819 bis zur Königlichen Verordnung „betreffend die Ausübung des verfassungsmäßigen Schutz- und Aufsichts-Rechts des Staates über die katholische Landes-Kirche“ vom 30. Januar 1830 und ihren Folgen reicht.14 Ihr wird deshalb Raum gegeben, weil hier die gesetzlichen Grundlagen der wesentlichen streitigen Punkte gelegt wurden, die die oberrheinischen Bischöfe in ihren Denkschriften 1851/52 monierten. Der zweite Zeitraum steht im Zeichen der von Frankreich ausgehenden europäischen Revolutionen von 1830 und 1848/49, die zur Neujustierung der Beziehungen zwischen katholischer Kirche und den Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes führten; dieser Betrachtungszeitraum umfasst die Landesherrlichen Verordnungen von 1830 und ihre Revision 1852/4 über das gescheiterte Bischofskonkordat von 1857 bis zum einseitig von Staatswegen erlassenen württembergischen „Gesetz betreffend die Regelung des Verhältnisses der Staatsgewalt zur katholischen Kirche“ vom 30. Januar 1862.15 Eine Schlussbetrachtung führt bis zur Beilegung des Kulturkampfes in Preußen und im Reich.
13 Christel KÖHLE-HEZINGER bringt das „Verhältnis von Staat und [evangelischer wie katholischer] Kirche in der Spätaufklärung“ auf den Punkt, wenn sie es als „ein System gegenseitiger Abhängigkeiten, Verpflichtungen und Dienstleistungen“ bezeichnet und die gegenseitige Annäherung folgendermaßen charakterisiert: „Durch die offizielle Hereinnahme christlicher Werte und Normen in den christlich-paritätischen Staat wurden säkulare, d.h. aufklärerische Prinzipien von den Kirchen, religiöse Prinzipien von weltlicher Herrschaft adaptiert.“ DIES., Irenik und Interkonfessionalismus. Ländliche Parität im Königreich Württemberg nach 1803, in: Hans Ulrich RUDOLF - Markus BLATT (Hg.), Alte Klöster, neue Herren. Die Säkularisation im deutschen Südwesten 1803, Bd. 2.2, Ostfildern 2003, 1015–1028, hier: 1017. – Zur Typologie tragender Grundideen der Aufklärung s. Wolfgang ALBRECHT, Aufklärerische Selbstreflexion in deutschen Enzyklopädien und Lexika zur Zeit der Spätaufklärung, in: Franz M. EYBL u.a. (Hg.), Enzyklopädien in der Frühen Neuzeit, Tübingen 1995, 232–254, hier: 232. Der Kampf gegen Vorurteile, Aberglauben und Schwärmerei, das Engagement gegen Obskurantismus (Gegenaufklärung) und für „Verbesserungen“ aller Art zählten demnach zu den „Kampfideen“ der Aufklärung. 14 Königl. VO v. 30. Januar 1830, betreffend die Ausübung des verfassungsmäßigen Schutzund Aufsichts-Rechts des Staates über die katholische Landes-Kirche, in: Johann Jakob LANG, Sammlung der katholischen Kirchengesetze (= Sammlung der württembergischen Gesetzte, hrsg. v. A. L. REYSCHER, Bd. 10), Tübingen 1836, 980–989; HUBER-HUBER I (Anm. 8), 280–284. 15 Abgedruckt in: HUBER-HUBER (Anm. 8), Bd. II, Berlin 1976, 195–199.
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1. Parität, Toleranz und Restriktion 1803–1830 Von der Einführung der Reformation im Herzogtum Wirtemberg 1565 bis zur Säkularisation 1803 galt die evangelisch-lutherische Konfession als Landesreligion.16 Mit der Besitznahme der „Entschädigungslande“ in vorauseilender Vollziehung des Reichsdeputationshauptschlusses vom 25. Februar 1803 wurden erstmals Katholiken württembergische Untertanen.17 Da die Verfassung Altwürttembergs ausdrücklich die Einbürgerung von Nicht-Protestanten verbot, konnte die von den Landständen geforderte, von Herzog Friedrich II. und dem damaligen Gesandten und späteren Innenminister Grafen von Normann aber abgelehnte Inkorporation der neuen Landesteile in ‚Altwürttemberg‘ nur auf einem Wege verhindert werden – mittels der Zusicherung vollkommener Religionsfreiheit. Diese gab Württembergs Vertreter vor der Reichsdeputation in Regensburg, und der Kurfürst ließ sie in das Religionsedikt für Neuwürttemberg vom 14. Februar 1803 aufnehmen. Die Landstände mussten ihre Forderung nach Ausweitung des Geltungsbereiches der altwürttembergischen Verfassung und damit ihres politischen Einflusses auf die neuen Lande fallenlassen. Während des dreijährigen Bestehens des Kurfürstentums Württemberg wurden Alt- und Neuwürttemberg zwar in Personalunion regiert, doch ihre Regierungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftssysteme wie ihre Kultuspolitik existierten als getrennte Sphären: In Altwürttemberg galt weiterhin die Katholiken ausschließende landständische Verfassung, jenseits der (Zoll-)Grenze aber wurde das gemischt-konfessionelle Neuwürttemberg von seiner ‚Hauptstadt‘ Ellwangen aus mit einem eigenen Staatsministerium souverän, absolut und hinsichtlich der drei anerkannten Religionen tolerant und paritätisch regiert. Auf drei Bereiche konzentrierte sich die württembergische Regierung bis zur Erhebung Württembergs zum Königreich 1806: 1. ging es dem König um die möglichst weitgehende, seine evangelische Summepiskopatsstellung nachahmende Interpretation staatlicher Rechte gegenüber der katholischen Kirche und eine ‚katholische‘ Adaptation des protestantischen Landeskirchensystems, 2. die Indienstnahme auch des katholischen Klerus nach dem Vorbild der „josephischen
16 Die Landstände hatten diese Landesreligion auf zweifache Weise geschützt: 1. mussten die katholischen Herzöge (vgl. Anm. 2) die „Religionsreversalien“ – die fünf von Herzog Karl Alexander unterzeichneten Garantieerklärungen von 1729 und 1734 – bestätigen, die die „gänzliche Ausschließung der Catholischen ReligionsÜbung in dem Herzogthum“ garantierten, und 2. waren als Garantiemächte der bestehenden Ordnung nicht nur Kaiser und Reich, sondern auch die protestantischen Mächte England, Preußen und Dänemark aufgeboten worden. 17 Es erhielt das Vierfache der verlorenen Fläche und das Achtfache seiner Einwohner (543 m² mit 14.000 Einwohnern wurden ersetzt durch 2.250 m² mit 120.000 Einwohnern, womit das neue Kurfürstentum 9.500 m² mit 650.000 Einwohnern umfasste. Nach der Erhebung zum Königreich mit nochmaligen Gebietserweiterungen 1806 und weiteren Gewinnen bis 1810 sollte das Staatsgebiet auf 19.511 m² mit 1,1 Millionen Einwohnern anwachsen. – Grundlegend zur Besitznahme: Max MILLER, Die Organisation Neuwürttembergs unter Herzog und Kurfürst Friedrich, Stuttgart, Berlin 1934.
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Beamtenpfarrer“18 sowie die Schaffung landeseigener Ausbildungsstätten für den ‚württembergischen‘ Priesternachwuchs und 3. die fast gleichzeitig mit der Inbesitznahme der neuen Landesteile beginnenden Bemühungen um ein württembergisches Landesbistum.19 Noch vor Abschluss der Verhandlungen bei der außerordentlichen Reichsdeputation in Regensburg hatte der württembergische Landesherr im Oktober 1802 die Auswirkungen der „in manchen Ländern beinahe konstitutionell gewordenen Intoleranz und des daraus […] entsprungenen Religionshasses und Verfolgungsgeistes“ geißeln lassen und sich für den „Grundsatz allgemeiner Religionsduldung“ als reichsgesetzliche Norm eingesetzt.20 Der erwünschte außenpolitische Effekt war umgehend zu spüren: Kurerzkanzler Karl Theodor von Dalberg zeigte sich zu Sondierungsgesprächen über die angestrebte Errichtung einer württembergischen „Landeskirche“ bereit, wollte jedoch die frühen – in Rom höflich zurückgewiesenen – Konkordatsbemühungen Württembergs in seine eigenen um ein Reichskonkordat einbinden.21 Bei der Besitzergreifung erneuerte der Kurfürst gegenüber der katholischen Einwohnerschaft seine Zusage, für die freie, öffentliche und ungestörte Ausübung ihrer Religion zu sorgen. Die Kehrseite dieser Regentenpflicht oder -selbstverpflichtung, die auf Friedrichs lebenslang geübten „Grundsätzen wahrer Religionsduldung und gegenseitige[r] Achtung“22 basierte, war ein Katalog ausgedehnter Regentenrechte über die katholische Kirche: Einer geheimen Instruktion23 zufolge beanspruchte Friedrich I. neben dem ius reformandi eine umfassend interpretierte sublimis advocatia ecclesiastica et inspectio, aus der sich weitgehende 18 Christel KÖHLE-HEZINGER (Anm. 13), 1003. 19 Rudolf REINHARDT, Zur württembergischen Kirchenpolitik im frühen 19. Jahrhundert, oder: Der katholische Landesbischof – Sektionschef im Kultusministerium?, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 11 (1992), 241–249, hier: 244. – BISCHOF (Anm. 9), 415. 20 Zitat aus der Erklärung der Vertreter Württembergs in der 19. Sitzung der außerordentlichen Reichsdeputation am 23. Oktober 1802, zit. in: PAUL (Anm. 3), 7/2, 880, Anm. 13. 21 Bereits im September 1802 wurde Kardinalstaatssekretär Ercole Consalvi von der Absicht des württembergischen Herzogs berichtet, ein eigenes Landesbistum errichten zu lassen. Der Name des in Aussicht genommenen Landesbischofs, so berichtete Nuntius Antonio Gabriele Severoli aus München weiter, sei Franz Karl Fürst von Hohenlohe-Schillingsfürst, Dekan des Stiftskapitels in Ellwangen, zugleich Domkapitular und Weihbischof von Augsburg, Titularbischof von Tempe: REINHARDT (Anm. 19), 242 und Anm. 5f. – PAUL (Anm. 3), 7/2, 886 und Anm. 36–39. Hier auch Nachweis des zeitgenössischen Begriffs „Landeskirche“. 22 Zitat: ebd., 879. Unter Verweis auf die in Kapitel V/I (ebd.) dargebotenen Quellen sei die Frage von Reiner LOOSE, Friedrich II. von Württemberg, Herr von Rottweil, in: ZWLG 69 (2010), 287–301, beantwortet, ob der neue evangelische Landesherr gegenüber seinen katholischen Untertanen Toleranz geübt habe und wie sich der Herzog „in religiösen Situationen [verhielt] und wie … er Konflikte während dieser Übergangszeit [1802/03 löste]. In seiner durch den neuwürttembergischen Staatsminister Grafen von Normann-Ehrenfels vorgetragenen Rede in Ellwangen am 21. Juli 1803 hieß es: „Catholiken und Protestanten sehen sich durch die partheilose Liebe eines und desselben gnädigsten Beherrschers, nunmehr zu Brüdern umgewandelt!“ s. PAUL (Anm. 3), 7/1, 93–97, hier: 94. – Die pragmatisch-brutale Durchführung der Klostersäkularisation als staatliche Finanzoperation hat freilich nichts mit Toleranz zu tun. 23 Teilabdruck der Instruktion für die Organisationskommission v. 19. Februar 1803 in: REINHARDT (Anm. 19), 244f. Vgl. PAUL (Anm. 3), 7/2, 833.
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Rechte hinsichtlich der geistlichen Verfassung, des Kirchenvermögens, der geistlichen Gerichtsbarkeit und der landesherrlichen Patronatsrechte ableiten ließen. Das ius episcopale, das er als Landesherr und Oberhaupt der evangelischen Kirche mit Recht beanspruchte, das aber in der katholischen Kirche bisher den zuständigen Bischöfen und in Zukunft einem württembergischen „Landesbischof“ vorbehalten war, bildete nach dieser Sicht der Dinge die einzige Differenz in der staatlichen Behandlung der beiden Kirchen.24 Vorbereitend sollten an dem künftigen Sitz eines württembergischen Landesbischofs in Ellwangen – neuerdings Landvogteistadt, Sitz der Oberlandesregierung und die ‚Hauptstadt‘ Neuwürttembergs – passende Institutionen angesiedelt werden: Das Organisationsmanifest für Neuwürttemberg vom 1. Januar 1803 kündigte die Errichtung eines katholischen Seminars in Ellwangen an, das im Rückblick des 1880 ehemaligen Kultministers Gustav Rümelin zu jenen „besondere[n] Verhältnisse[n] und Einrichtunge[n]“ zählte, die Staat und katholische Kirche in Württemberg verbanden.25 Hinsichtlich der geltenden „geistliche[n] Gerichtsbarkeit und kirchliche[n] Administration … der catholischen Lande“ blieb auf den ersten Blick alles beim Alten. Allerdings war dem Ordinariat bei Ehedispensen und anderen „nicht blos geistlichen Angelegenheiten“ bereits die Rücksprache mit dem 1. Senat der Ellwanger Oberlandesregierung vorgeschrieben. Überhaupt sollten bis zur Errichtung einer eigenen „Land=Hierarchie“ keine Amtshandlungen von Seiten des Ordinariats ohne vorherige Mitteilung an die Regierung stattfinden dürfen.26 Das nur für die neuwürttembergische Hälfte des Kurfürstentums gültige Religionsedikt vom 14. Februar 1803 erneuerte die Garantie religiöser Toleranz und Parität für die drei Konfessionen, deren Fehlen oder eingeschränkte Geltung zuvor „die Industrie, die sittliche Bildung und den Wohlstand“ der Untertanen geschädigt habe.27 Mit den jetzt einsetzenden, ökonomisch-ordnungspolitisch motivierten Reformen nahmen die Bestrebungen des württembergischen Kurfürsten ihren Anfang, die katholische Kirche einem landesherrlichen Kirchenregiment zu unterwerfen: Eine Flut von Verordnungen ergoß sich über die katholische (wie gleichzeitig über die evangelische) Geistlichkeit, die Regierung griff in die Priesterausbildung ein, legte Einstellungs- und Beförderungskriterien fest, bestimmte Gehälter und Pensionen und kümmerte sich um die Einrichtung von Landkapitelskonferenzen und Lesegesellschaften nach dem Vorbild der bestehenden evan24 REINHARDT (Anm. 19), 245. 25 Organisations=Manifest für die neu erworbenen Lande (Stuttgart, 1. Januar 1803), Abschnitt V, in: PAUL (Anm. 3), 7/1, 83–93. – Zur geplanten Errichtung eines Priesterseminars in Ellwangen, das Minister von Normann auch der vorhandenen Infrastruktur Ellwangens wegen befürwortete, s. Werner GROSS, Das Wilhelmsstift Tübingen 1817–1869 (= Contubernium, Bd. 32), 2. durchges. Aufl. Tübingen 1984, 6f. – Zitat: Gustav von Rümelin, Zur katholischen Kirchenfrage (1880), in: DERS., Reden und Aufsätze NF [Bd. 3], Freiburg i. Br. 1881, 205– 277, hier: 246. 26 Ebd., 89. 27 Religions=Edikt für Neuwürttemberg vom 14. Februar 1803, abgedr. in: PAUL (Anm. 3), 7/2, 915–918, hier: 916.
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gelischen Institutionen, wobei sich diese Bestrebungen mit den Konstanzer Reformen deckten. Doch nicht nur mit dem Konstanzer Bistumsverweser von Wessenberg, sondern grundsätzlich gestaltete sich die Zusammenarbeit der Ellwanger Oberlandesregierung mit den fünf zuständigen Ordinariaten besonders da produktiv, wo es um die Realisierung von Projekten der katholischen Aufklärung ging.28 Aus dem verdoppelten Reformeifer und den nun von zwei Seiten – den zuständigen Diözesen und den neuen staatlichen Stellen – auf die katholische Geistlichkeit Neuwürttembergs einstürzenden Anweisungen resultierten Unsicherheit und frühe Loyalitätskonflikte, wo es um die differierende Definition des Eherechts oder der causae mixtae ging.29 Auch das katholische Volksschulwesen Neuwürttembergs wurde beiderseitig, von staatlicher wie kirchlicher Seite, reformiert und modernisiert, wobei die Vorschläge des Konsistorialrates Christian Friedrich Duttenhofer auf dem Reformprogramm des österreichischen Abtes Johann Ignaz von Felbinger beruhten.30 Diesen ersten Modernisierungsvorsprung behielt das katholische Elementarschulwesen in der Reformzeit dank der 1808 erlassenen Schulordnung des katholischen Geistlichen Ratsmitglieds von Werkmeister bei, dem der zuständige Minister mit Recht „eminente pädagogische Talente“ zuschrieb.31 Mit der Erhebung Württembergs zum Königreich und nochmaligen Gebietsgewinnen erweiterte der Landesherr seine bis dato verfolgte politische Agenda gegenüber der katholischen Kirche auf das gesamte Staatsgebiet.32 Welche Bedeutung die württembergische Regierung der Kultuspolitik beimaß, geht aus der Tatsache hervor, dass in Württemberg den fünf klassischen Ministerien als sechstes ein avant la lettre ‚Kultusministerium‘ an die Seite gestellt wurde: In das Ressort dieses „Geistlichen Departements“ fielen „der Cultus, sowohl der evangelischen wie der katholischen Religion, und anderer im Staate tolerirten Gemeinden“ wie auch die Oberaufsicht über sämtliche Bildungsanstalten des Landes. Dem Katholischen Geistlichen Rat (seit 1816: Katholischer Kirchenrat) als einer von drei 28 Zur katholischen Aufklärung in den Bistümern Konstanz, Augsburg, Mainz, Trier, Speyer, Bamberg und Würzburg bzw. dem Erzbistum Köln, die von Seiten Preußens, Österreichs, Bayerns und der Schweiz unterstützt wurden, s. Maria E. GRÜNDIG, „Zur sittlichen Besserung des Volkes.“ Zur Modernisierung katholischer Mentalitäts- und Frömmigkeitsstile im frühen 19. Jahrhundert, Tübingen 1997. Kirchliche und staatliche Verordnungen zur Abwürdigung von Feiertage, zu Bittgängen, Kirchweih- und Patronatsfesten, nachmittäglichen und nächtlichen Gottesdiensten und Chorgesang, Kirchenasylen und so genannten abergläubischen Gebräuchen wie Gewitterläuten: PAUL (Anm. 3), 7/2, 888ff., Anm. 45ff. 29 Als provisorische, bis zur Neuordnung der gesamten „katholische[n] Kirchen= und Geistlichkeits= Verfassung“ Neuwürttembergs – also dem Erhalt eines Landesbistums – gültige Regelung wurden landesherrliche Dekanatskommissare zwischen die inländische Geistlichkeit und die ausländischen Ordinariate geschaltet: Reskript der kurfürstl. Oberlandesregierung in Ellwangen, die Aufstellung landesherrlicher Dekane betreffend (Ellwangen, 17. Dezember 1804), in: PAUL (Anm. 3), 7/2, 924 und 890 zur Bewertung. 30 Weiterführenden Literaturhinweise s. bei PAUL (Anm. 3), 7/2, 1077. 31 PAUL (Anm. 3), 7/2, 1080 und zugehörige Anm. 32 Zu den neuen württembergischen Gebieten 1806 und den weiteren Arrondierungen bis 1810 s. Bernhard MANN, Kleine Geschichte des Königreichs Württemberg 1806–1918, LeinfeldenEchterdingen 2006, 15f. und die Karte im Vorsatzblatt des Buchtitels.
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Ministerialabteilungen oblag „neben dem Bischof und dessen Officialate“ die „Besorgung und Wahrung“ der Souveränitätsrechte des württembergischen Königs in der katholischen Kirche.33 Schon 1807 wurde die Zahl der Räte aufgestockt, die Ernennung eines Präsidenten mit einschlägigen Rechtskenntnissen und eines pädagogisch erfahrenen Geistlichen sollte dem Gremium mit seiner Zuständigkeit für 780 Pfarreien, Kuratkaplaneien und Kooperaturen (die evangelische Kirche verfügte nur über knapp 70 mehr!) größeres Gewicht garantieren.34 Die der katholischen Aufklärung verpflichteten Ratsmitglieder knüpften in ihrer Tätigkeit so energisch an die neuwürttembergischen Errungenschaften nach dem Vorbild von Konstanzer Reformen an, dass der König in Sorge um den konfessionellen Frieden und das Gelingen der Konkordatsverhandlungen mit Rom mehrfach mäßigend eingriff.35 Nach Aussage des Ministers der Geistlichen Angelegenheiten entsprach der später viel kritisierte katholische Geistliche Rat seinen Aufgaben vollkommen – wie überhaupt in der Regierungszeit Friedrich I. keine Ministerialabteilung ohne die grundsätzliche Zustimmung des Königs hätte arbeiten können.36 Das unterschwellig „protestantische“ Selbstverständnis der ersten königlichen Regierung Württembergs sei hier nur an zwei zu gesetzlichen Ausnahmeregelungen verfestigten Eingriffen in die durch das Religionsedikt vom 15. Oktober 1806 gesicherte Parität gezeigt: Nach persönlicher Intervention des Königs sollten 1. bei den Mischehen sowohl die kirchliche Trauung als auch die Erziehung der Kinder von dem Bekenntnis des evangelischen Ehemannes abhängen und 2. nach der Rangordnung von 1811 evangelische Pfarrer den katholischen Geistlichen
33 § 63 II. des Organisationsmanifestes vom 18. März 1806, abgedr. in: PAUL (Anm. 3), 7/1, 106–124, hier:122; Mitglieder ebd., 7/2, 892, Anm. 54. Eine „Mittelbehörde“ war weder der Katholische Geistliche Rat noch der Katholische Kirchenrat, sondern zunächst eine Ministerialabteilung und dann seit 1817 (V. Edikt vom 18. November 1817, § 33 Abs. 2) eine dem Innenministerium „nachstehende“, aber dem Minister direkt untergeordnete Behörde. – Die frühen, erheblich weiter gehenden Bestimmungen kommentiert REINHARDT (Anm. 19), 247ff. 34 Zur am 17. Juli vom König beschlossenen Erweiterung um die Mitglieder Franz Joseph Freiherrn von Linden (dem Präsidenten des 1. Senats des Oberlandesgerichts) als künftigem Präsidenten des katholischen Geistlichen Rats und Benedikt Maria Werkmeister als weiterem Mitglied s. PAUL (Anm. 3), 7/2, 1079f. und Anm. 18, 20ff. 35 Der König griff bei zu radikalen Feiertagsregelungen, bei einer Beeinträchtigung des Mitsprache- und Zensurrechts der Ordinariate bei den 1807 eingeführten Lesegesellschaften für katholische Geistliche, bei der geplanten und von der Konstanzer Diözese gedeckten Strafversetzung eines von seinen eigenen Gemeindemitgliedern abgelehnten „unaufgeklärten“ Priesters u.v.a. mäßigend ein bzw. unterband die vorgesehenen Maßregeln des Kirchenrates ganz. PAUL (Anm. 3), 7/2, 895–899 und zugehörige Dokumente. 36 Missbilligend schrieb der spätere Kultminister Gustav von Rümelin dem katholischen Geistlichen Rat weitgehende Eigeninitiative zu: Er habe „die neue Ordnung selbständig in die Hand [genommen], sich zum provisorischen Zentrum [gemacht] und dabei über das jus circa sacra nach allen Seiten [hinausgegriffen], ja den ausländischen Ordinariaten sowie dem späteren Generalvikar Hohenlohe wenig mehr [gelassen] neben den jura ordinis, wie die Priesterweihe, Firmung usw.“ Zit. nach: BISCHOF (Anm. 19), 416f.
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vorangehen – was bei festlichen Gelegenheiten wörtlich zu verstehen war.37 Die Vertragsfreiheit der Eltern wurde ein gutes Jahrzehnt später (1817) wieder hergestellt.38 Wie zu neuwürttembergischer Zeit mussten katholische wie evangelische Geistliche weiterhin als „geistliche Staatsbeamte“ und als Volkslehrer fungieren.39 Grundlegende Neuerungen des katholischen Kirchen-, Schul- und Erziehungswesens, die auf der Basis der „Grundsäze der Römisch=katholischen Kirche in Vereinigung mit den nothwendigen Staats=Maximen [Einheit und Gleichförmigkeit]“ geplant waren, wurden unter Verweis auf die ausstehende Regelung des Verhältnisses von württembergischem Staat und der katholischen Kirche „des Reichs“ (= Württembergs) beständig weiter aufgeschoben.40 Diese Regelung glaubte die Regierung 1807 bei ihren in Stuttgart mit dem päpstlichen Nuntius Annibale della Genga (dem späteren Papst Leo XII.) geführten Verhandlungen über zwei direkt dem Papst unterstellte Landesbistümer in Ellwangen und Rottweil schon fast in Reichweite, als die Gespräche plötzlich abgebrochen wurden: Napoleon hatte interveniert und anstelle der Landeskonkordate ein einziges „deutsches“ Konkordat für die Rheinbundstaaten gefordert.41 Daraufhin konzentrierten sich die württembergischen Bemühungen auf die Errichtung eines Erzbistums Ellwangen und der Zuordnung des anderen Bistums als Suffragan. Nachdem auch die Missionen des Geistlichen Rats Keller in Rom (1808) und Paris (1811) ergebnislos geblieben waren, schuf der württembergische König in der Übergangssituation nach dem Tod des Bischofs von Augsburg und Fürstpropsts von Ellwangen, Clemens Wenzeslaus von Sachsen, im Jahr 1812 vollendete Tatsachen: Der protestantische Landesherr trennte die württembergischen Teile der Diözese Augsburg ab und unterstellte sie zusammen mit dem exemten Sprengel von Ellwangen im September 1812 einem neu geschaffenen Generalvikariat Ellwangen, das zur Grundlage des künftigen württembergischen Landesbistums wurde.42 Das Generalvikariat hatte der Augsburger Weihbischof und Stiftsdekan Franz Karl Joseph Fürst von Hohenlohe übernommen, dessen 37 PAUL (Anm. 3), 7/2, 891 mit den Nachweisen und Dok. 21 ebd., 949–952. Hier sprach Friedrich I. ein einziges Mal von „dem Vorrechte Unserer Religion und der herrschenden des Staats“, die er auch „bei den tollerantesten (sic) Gesinnungen“ nicht mindern wolle. 38 Erlass des Geheimen Rats, die Aufhebung einer, die Vertrags=Freiheit der Eltern in gemischter Ehe hinsichtlich der religiösen Erziehung der Söhne beschränkenden Bestimmung betreffend (Stuttgart, 8. November 1817), in: Württemb. RegBl. 1817, Nr. 17, 131. 39 Sie hatten die königliche Verordnungen von der Kanzel bekannt zu machen, die neuen, konfessions- und religionsübergreifenden drei Kirchen- und ein Familienregister zu führen, darüber regelmäßig an die vorgesetzten Behörden zu berichten, die Schulen zu visitieren, an Weiterbildungen teilzunehmen etc. 40 PAUL (Anm. 3), 7/2, 907. 41 BISCHOF (Anm. 19), 416; s. auch GROSS (Anm. 25), 8f. 42 Allerhöchste Bestimmungen, das Generalvikariat zu Ellwangen und die bischöflichen Funktionen in dem diesseitigen Anteil des Bistums Augsburg betreffend (Stuttgart, 28. September 1812), abgedr. in: HUBER-HUBER I (Anm. 8), Nr. 35, 75f. – Zu den Verhandlungen: BISCHOF (Anm. 19), 416ff. mit Quellen- und Literaturhinweisen; REINHARDT (Anm. 19), 243 und Anm. 11.
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Sanktion durch Fürstprimas von Dalberg in seiner Eigenschaft als Metropolit „sede Apostolica impedita“ nachträglich im Dezember 1812 unter ausdrücklichem Vorbehalt der päpstlichen Rechte erfolgte.43 Nach dem Sieg der Alliierten bei Waterloo 1815 bemühte sich König Friedrich persönlich und durch erneute Sendung Kellers nach Rom, in Verhandlungen mit dem Heiligen Stuhl sowohl ein Landeskonkordat nach den 1807 festgelegten Grundsätzen als auch die nachträgliche Legitimierung des Generalvikariats Ellwangen und des ernannten Amtsinhabers zu erhalten. Diese und selbst die Sanktion der bisher von Generalvikar Fürst von Hohenlohe erlassenen geistlichen Jurisdiktionsakte gestand der Papst dem diplomatisch geschickten Unterhändler tatsächlich zu, doch an der Person des Generalvikars Fürsten von Hohenlohe schieden sich die Geister. Der Papst bestand auf der „Bestellung eines Apostolischen Provikars und Koadjutors mit dem Recht der Nachfolge“, der in dem in Rom weilenden Verhandlungsführer selbst gefunden wurde: Zum Titularbischof von Evara und Apostolischen Provikar bestellt und von Papst Pius VII. persönlich zum Bischof geweiht, kehrte Keller im August 1816 nach Württemberg zurück.44 Bis 1817 konnte das Ellwanger Generalvikariat um die Pfarreien der Diözesen Würzburg, Speyer, Worms und Konstanz erweitert werden.45 Gleichzeitig mit dem Generalvikariat begründete der evangelische Landesherr das bereits 1803/6 vorgesehene Priesterseminar und eine „katholische Landes=Universität“, der er als Stifter seinen Namen beilegen ließ.46 Sie bedeutete für die 1811 drastisch reformierte Universität Tübingen keine Konkurrenz, aber eine unübersehbare Anerkennung der katholischen Kirche und der katholischen Untertanen im Land.47 Auch ihre finanzielle Ausstattung wie diejenige der zugehörigen Lehrinstitute war im Vergleich auch mit katholischen Territorien „großzügig“.48 Im Jahr 1817 wurde die aus nur fünf Professuren für Altes bzw. Neues Testament, Kirchengeschichte und Kirchenrecht, Dogmatik, Moral und Pastoraltheologie bestehende katholische Landesuniversität auf Betreiben des Ministers 43 Ausführlich dazu: BISCHOF (Anm. 19), 417f. Bekanntmachung des Fürsten von Hohenlohe, Bischofs zu Tempe als General=Vikars in Spiritualibus und Pontificalibus, betreffend die Uebernahme des General=Vikariats für den im Königreich Württemberg gelegenen Antheil des Bistums Augsburg vom 8. Oktober 1812, in: REYSCHER 10 (Anm. 14), 415. 44 BISCHOF (Anm. 19), 418f., Zitat: 418. 45 REINHARDT (Anm. 19), 243; Bischof, 418f. – Zum Bistum Konstanz und „dem Fall“ Wessenberg s. HUBER-HUBER I (Anm. 8), 228 und Dokumente. 46 Königl. Verordnung, das General=Vikariat, die katholische Landesuniversität und das Priester=Seminar in Ellwangen betreffend (Stuttgart, 12. September 1812), in: REYSCHER 10 (Anm. 14), 409ff.; Königl. Mandat, die katholische Landes=Universität im Königreiche betreffend (Stuttgart, 6. Oktober 1812), abgedr. in: PAUL (Anm. 3), 7/2, 1157f., zum Priesterseminar: Abs. VII. – Rudolf REINHARDT, Die katholisch-theologische Fakultät Tübingen im ersten Jahrhundert ihres Bestehens. Faktoren und Phasen ihrer Entwicklung, in: DERS. (Hg.), Tübinger Theologen und Theologie. Quellen und Forschungen zur Geschichte der Katholisch-Theologischen Fakultät Tübingen, Tübingen 1977, 1–48. 47 Abs. III des Mandats v. 6. Oktober 1812 (Anm. 33), 1157; REINHARDT (Anm. 46), 7.9. – Zudem konnte man jetzt die Theologiestudenten endlich im Land behalten, die bisher im Gegensatz zu den evangelischen noch die Erlaubnis des Auslandsstudiums gehabt hatten. 48 Ebd., 10.
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der Kirchen- und Schulangelegenheiten Karl August Freiherrn von Wangenheim der Universität Tübingen als katholisch-theologische Fakultät eingegliedert.49 Das ungewohnte intellektuelle Klima der altwürttembergisch-protestantischen Stadt mit bis dato kaum einer Handvoll Katholiken, zugleich die „ebenbürtige“ Aufnahme der katholischen Fakultät an der Universität und in die natürliche Konkurrenz mit den anderen, die neue universitäre Öffentlichkeit, die ‚internationale‘ Berufungspolitik, das notgedrungen interdisziplinäre Philosophiestudium der katholischen Studenten, die nicht an der eigenen Fakultät ihre Einführung in die zeitgenössisch moderne Philosophie erhielten, u.a.m. lassen sich nach Rudolf Reinhardt für die außergewöhnliche Entfaltung und die Strahlkraft der Tübinger katholisch-theologischen Fakultät namhaft machen.50 Auch sei „nirgendwo in Deutschland … von staatlicher Seite so viel für den theologischen Nachwuchs getan worden, wie gerade in Württemberg“ – wobei das reichlich ausgestattete Hochschulkonvikt „Wilhelmsstift“ hervorzuheben ist.51 Die Konstellationen der internationalen wie der nationalen Politik – als letztere galt im Land nach den Maßstäben der Zeit deutsche oder württembergische Politik – verschoben sich mit dem Zusammenbruch des napoleonischen Empire grundlegend. Während die Delegierten von 200 Staaten, Herrschaften, Städten und Körperschaften auf dem Wiener Kongress 1814/15 über die staatliche Neuordnung Europas und die Rückgewinnung verlorener Rechte verhandelten, während zugleich die Vertreter des deutschen Episkopats die Rückgabe ihres Eigentums und die Wiedereinsetzung in ihre „eigenthümlichen“ geistlichen Rechte für „Teutschlands katholische Kirche“ reklamierten52, bemühte sich der württembergische Bundestagsgesandte Freiherr von Wangenheim bei dieser Gelegenheit, die protestantischen Höfe von der Notwendigkeit eines konzertierten Vorgehens gegenüber der Kurie in Rom zu überzeugen. In Zusammenwirken mit dem bayerischen Gesandten gelang es zugleich, die ‚Konstanzer‘ Dalberg und Wessenberg zu überspielen, die jetzt für ein Bundeskonkordat optierten.53 Innenpolitisch spitzte sich die Lage in Württemberg nach dem Ende der napoleonischen Ära 1815 zu, als die erstmals seit ihrer Auflösung 1805 einberufenen Landstände den königlichen Verfassungsentwurf ablehnten; zwischen Landtag und Regierung brach ein erbittert geführter Kampf um das „alte gute Recht“ aus.54 Erst der seit Oktober 1816 regierende König Wilhelm I. konnte ihn gemeinsam mit den Landständen zu einem guten Ende bringen, wobei der Verfassungsvertrag für das Königreich Württemberg vom 25. September 1819 die administrative
49 Eingehend dazu: ebd., 8ff. (Gründung und Bedeutung), 10ff. (Faktoren der Entwicklung). Wangenheim amtierte vom 8. November 1816 bis 3. November 1817 als ‚Kultminister‘. 50 Ebd. 51 Ebd., 13; GROSS (Anm. 25). 52 S. dazu Denkschrift der Oratoren v. Wamboldt, Helfferich und Schies über die Ansprüche der katholischen Kirche Deutschlands vom 30. Oktober 1814, abgedr. und eingeleitet in: HUBERHUBER I (Anm. 8), 104–109. 53 BISCHOF (Anm. 18), 415; HUBER-HUBER I (Anm. 8), 109–113. 54 MANN (Anm. 32), 32–49, 91–100 zum Verfassungskampf und der Verfassungsgebung.
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durch die politische Integration des Staates abrundete – und die kirchliche abgerundet hätte, wenn dies denn einseitig möglich gewesen wäre. Was die Kirchen generell anbetraf, so bekräftigte die Verfassung (§ 27) die seit 1803 in Württemberg geltende Parität in Übereinstimmung mit § 16 der Deutschen Bundesakte vom 8. Juni 1815 nun zum dritten Mal. Zu dieser allgemeinen Bestimmung traten spezielle Regelungen des Verhältnisses der „Kirchen zum Staat“ (Absatz VI). Die verfassungsrechtliche Autonomie der Kirchen in ihren inneren Angelegenheiten wurde bestätigt (§ 71), doch beanspruchte der König „das obersthoheitliche Schutz- und Aufsichtsrecht über die Kirchen“ (§ 72), das – so der zweite Satz – die Verkündigung und Vollziehung von kirchlichen Verordnungen „ohne vorgängige Einsicht und Genehmigung des Staatsoberhauptes“ unterband. Diesem Paragraphen wurde in der ministerialen Praxis eine so extensive Auslegung gegeben, dass er sich seit 1830 als das Hauptgravamen des Landesbischofs gegenüber der württembergischen Regierung erwies – und dies auch blieb: Erst das Gesetz vom 30. Januar 1862 klärte und spezifizierte ihn vor dem Hintergrund von drei Jahrzehnten geteilter Erfahrung des „starken Staates“ (Thomas Nipperdey) mit der sich erneuernden, kämpferischen katholischen Kirche.55 Ganz klar allerdings versagte sich der Staat Eingriffe in die inneren Angelegenheiten der katholischen Kirche, deren Leitung gemäß § 78 dem Landesbischof und dem Domkapitel zustand, die alle ihnen nach dem katholischen Kirchenrecht zukommenden Rechte wahrnahmen. Strittig konnte werden und wurde später auch, dass der König die staatlichen „Rechte über die katholische Kirche“ (§ 79) durch eine „aus katholischen Mitgliedern bestehende“ Behörde (den Katholischen Kirchenrat) ausübte, der bei Gelegenheit der Besetzung vom König abhängender geistlicher Ämter Vorschläge unterbreitete. Das kirchliche Recht auf Dotation enthielt § 82 der Verfassung, in dem der katholischen Kirche „zu Bestreitung derjenigen kirchlichen Bedürfnisse, wozu keine örtlichen Fonds vorhanden sind, oder die vorhandenen nicht zureichen, und besonders für die Kosten der höheren Lehranstalten“ ein eigener, den beschriebenen Zwecken ausschließlich gewidmeter Kirchenfonds zugesagt wurde. Umfang und künftige Verwaltung dieses aus staatlichen Mitteln finanzierten Fonds sollte eine geplante Kommission ermitteln, die allerdings weder für den katholischen noch den evangelischen Bereich (entsprechende Zusage in § 77) zustande kam. Drei Paragraphen widmeten sich den katholischen „Kirchendienern“, deren zivilrechtliche Unterstellung (§ 73) und persönlichen Rechte (§ 80) ganz denen der protestantischen entsprachen. Schließlich verpflichtete sich der Staat zur „hinreichende[n]“ Versorgung von katholischen Geistlichen, die ihres Amtes entsetzt worden, ihrer geistlichen Würde aber nicht verlustig gegangen waren (§ 81). Wenn der Verfassungsvertrag von 1819 den Konsens zwischen Regierung und Regierten hinsichtlich der geltenden Rechte und Pflichten aller Glieder des Staates beinhaltete, dann war diese feste Einbindung der katholischen Kirche in und ihre Bindung an den württembergischen Staat – die durch die staatlich55 HUBER-HUBER I (Anm. 8), 142, Anm. 9 zitiert die Neufassung von 1862.
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kirchlich besetzten gemeinschaftlichen Oberämter seit 1825 organisatorisch vertieft worden war – ebenfalls Konsens aller Beteiligten.56 Den Vertretern der katholischen Kirche diente die Verfassung jedenfalls seit 1830 zum Gradmesser der (Un-)Rechtmäßigkeit der staatlichen Eingriffe. Mittlerweile waren mit Preußen und Hannover, die wie Bayern nach dem Wiener Kongress über eigene Landeskonkordate verhandelten, zwei Staaten aus Wangenheims projektiertem protestantischem Verbund ausgebrochen. Daraufhin setzte er sich ein für eine Einigung der kleinen und mittleren deutschen Staaten zur Abstimmung gemeinsamer kirchenpolitischer Ziele und für die anschließende Aufnahme von Verhandlungen mit der römischen Kurie über eine eigene Kirchenprovinz.57 In Frankfurt am Main als Sitz des Bundestages erarbeiteten die bevollmächtigten Vertreter von anfangs 14 Bundesstaaten zwischen März und Oktober 1818 die detaillierten „Grundzüge zu einer Vereinbarung über die Verhältnisse der katholischen Kirche in den deutschen Bundesstaaten“ und eine Deklaration vom 24. Juli 1818, die als Entwurfsfassung eines gemeinsamen Konkordats diente.58 Beide Dokumente wurden von den beteiligten Staaten, deren ranghöchstes Mitglied Württemberg war, am 7. Oktober 1818 angenommen, und eine gemeinsame Delegation nach Rom abgeordnet.59 Die oberrheinischen Gesandten erreichten ihre Verhandlungsziele nicht, weil der Papst sowohl der inneren Gestalt der Oberrheinischen Kirchenprovinz als auch den vorgeschlagenen Bischofskandidaten seine Bestätigung versagen ließ.60 Deshalb brachen sie im Oktober 1819 ihre römische 56 Verordnung über den Wirkungskreis und den Geschäftsgang der gemeinschaftlichen Oberämter vom 23. August 1825, in: ebd., 144ff. Die gemeinschaftlichen Oberämter bestanden jeweils aus dem Oberamtmann und „je nach Verschiedenheit der Konfession der Betheiligten dem evangelischen oder dem katholischen Dekan“ und im Hinblick auf katholische Elementarschulen oder deren Lehrer um den Schulinspektor. 57 WOLF (Anm. 5), 105. – Zu Wangenheims Idee des „Dritten Deutschland“ bzw. der „Trias“ als Gegengewicht zu den beiden Vormächten des Deutschen Bundes, den Großmächten Österreich und Preußen s. Peter BURG, Die deutsche Trias in Idee und Wirklichkeit. Vom Alten Reich zum Deutschen Zollverein, Stuttgart 1989. 58 Zwei Punkte aus der „Deklaration“ (Nachweis s. folgende Anm.) seien kurz angerissen: Die neue Kirchenprovinz soll aus den fünf Diözesen für Württemberg, Baden, die beiden Hessen, Nassau zusammen mit der freien Stadt Frankfurt bestehen (II. 1–5) I. – Drei geeignete Kandidaten für den Bischofsstuhl sollen durch ein Wahlkollegium – das jeweilige Domkapitel, ergänzt um eine gleich große gewählte Abordnung aus der Diözesangeistlichkeit – gewählt werden. Aus dieser Dreierliste ernennt der Landesherr „denjenigen, der die bischöfliche Würde erhält“ (V.). Vor der Konsekration hat der künftige Bischof „dem Landesherrn den Eid der Treue und des Gehorsams abzulegen“ (VI.). 59 WOLF (Anm. 5), 105; HUBER-HUBER I (Anm. 8), 236–245. Der Staatsvertrag der Oberrheinischen Vereinsstaaten vom 7. Oktober 1818 ist im Auszug abgedruckt ebd., 245. Die Verhandlungen führten der katholische Württemberger Freiherr von Schmitz-Grollenburg, bis 1817 Präsident des katholischen Kirchenrats, und der evangelische Badener Johann Freiherr von Türckheim. 60 Abgewandelt zitiert nach: WOLF (Anm. 5), 105; MANN (Anm. 5), zufolge lehnte der Papst v.a. „den vorgesehenen Modus der Bischofswahlen“ ab (285f.). – Entsprechend der Deklaration vom 24. Juli 1818 war Württembergs Ziel u.a. eine Diözese „für die kath. Landestheile … mit dem Sitze in der Stadt Rottenburg“: HUBER-HUBER I (Anm. 8), 241–245, hier: 242.
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Mission ab, doch die Verhandlungen wurden auf der Grundlage einer Note von Kardinalstaatssekretär Ercole Consalvi ab März 1820 weitergeführt.61 Noch vor einer abschließenden Einigung über die staatliche Mitwirkung bei der Bischofswahl ordnete die Zirkumskriptionsbulle „Provida solersque“ am 16. August 1821 die Errichtung der oberrheinischen Kirchenprovinz an. Württembergs in der „Deklaration“ formulierter Wunsch nach Errichtung eines eigenen Bistums in Rottenburg am Neckar erfüllte sich – ein erster, zudem päpstlich legitimierter Schritt hin zu der seit 1803 angestrebten Ordnung der ‚Verhältnisse‘ der katholischen Kirche im Lande. Allerdings stand diese Neuordnung „zunächst nur auf dem Papier“, denn erst nach schwierigen Verhandlungen, die auf Seiten der oberrheinischen Staaten durch den Abschluß des zweiten, die Zirkumskriptionsbulle den Vorbehalten der geheim gehaltenen „Kirchenpragmatik“ von 1820 unterwerfenden Staatsvertrags vom 8. Februar 1822 sowie die Note vom 4./7. September 182662 und auf Seiten des Heiligen Stuhls durch drei Noten der Kardinalstaatssekretäre Consalvi und Giulio Maria della Somaglia (1823, 1825, 1827) sowie die Bulle „Ad Dominici gregis custodiam“ vom 11. April 1827 und das Breve „Re sacra“ vom 28. Mai 1827 markiert waren, wurde eine definitive Einigung über den Modus der Besetzung der Bischofsstühle, die Jurisdiktion der Bischöfe und die Heranbildung des Klerus zwischen Kurie und Regierung erzielt.63 Das von zwei päpstlichen Erlassen doppelt verbriefte „oberrheinische System“ mit kollegialischer Bistumsleitung und einem als bischöfliches Ordinariat fungierenden Domkapitel garantierte letzterem zwar das Wahlrecht, die Landesherren erhielten jedoch das Ausschließungsrecht (Veto) eines bzw. sogar aller ihnen nicht genehmen Kandidaten für den Bischofsstuhl, da das Domkapitel ihnen die Kandidatenliste vor der Wahl zu präsentieren hatte. Mit der Bulle „Ad dominici gregis custodiam“ und dem zugehörigen Breve fand, so betont Hubert Wolf, „keine wirkliche Versöhnung der unterschiedlichen Interessen“ von paritätischem 61 Ebd., 246. Die Note Consalvis vom 21. September 1819 ist abgedruckt in: Otto MEJER, Die römisch-deutsche Frage, Bd. 3, 48, Anm. 2, zit. nach: ebd., Anm. 2. 62 S. die „Gemeinsame[n] Grundsätze des Staatskirchenrechts (Kirchenpragmatik)“ vom 14. Juni 1820, die französische und bayerische Vorbilder für die ‚oberrheinischen Verhältnisse‘ adaptierten, in: HUBER-HUBER I (Anm. 8), 258–264; Zweiter Staatsvertrag der Oberrheinischen Vereinsstaaten vom 8. Februar 1822, in: ebd., 264–267; Nachweis zum Text der Note vom 4./7. September 1826, mit der die oberrheinischen Regierungen dem von Kardinalstaatssekretär Somaglia vorgeschlagenen Verfahren zur Besetzung der Bischofsstühle unter der Bedingung zustimmten, daß diese nur durch ein Breve verkündet werden solle – das in „Re sacra“ realisiert wurde –, bei: ebd., 267 Anm. 7. 63 Die Bulle „Ad dominici gregis custodiam“ vom 11. April 1827 und das Breve „Re sacra” vom 28. Mai 1827 sind in deutscher Übersetzung abgedruckt in: ebd., 268–271, 272f. Die Nachweise der Protestnote von Kardinalstaatssekretär Consalvi vom 27. Februar 1823 mit beiliegender Auflistung der dem Papst genehmen Kandidaten für die fünf oberrheinischen Bischofssitze und der Noten seines Nachfolgers im Amt Somaglia vom 16. Juni 1825 mit Vorschlägen zum neuen Verfahren der Besetzung der Bischofsstühle und der Note vom 6. Januar 1827, mit der die Kurie ihre Bereitschaft zur Zustimmung zu der Bedingung der oberrheinischen Regierungen, die vorgeschlagene Regelung nur durch ein Breve des seit September 1823 amtierenden Papstes Leo XII. zu verkünden, s. HUBER-HUBER I (Anm. 8), 267, Anm. 1–8.
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Staat und katholischer Kirche statt; sie löste vielmehr auf „pragmatische“ Weise die Frage, wie die seit der Zirkumskriptionsbulle von 1821 schwebende kirchliche Organisation der Oberrheinischen Kirchenprovinz in Kraft zu setzen sei.64 Dieser status quo hätte sich möglicherweise einige Jahre halten lassen, wenn die von der Tübinger katholischen Universitätstheologie und der inneren Erneuerung der katholischen Kirche ergriffenen Kräfte auf ausgleichsorientierte Gesprächspartner innerhalb der Regierung Württembergs getroffen wären – was nicht der Fall war. Nach der jetzt folgenden Besetzung aller Bischofsstühle der oberrheinischen Kirchenprovinz – der erste württembergische Landesbischof in Rottenburg war Johann Baptist von Keller – erließen die Regierungen der beteiligten Staaten am 30. Januar 1830 gleich lautende Verordnungen über „die Ausübung der oberhoheitlichen Schutz- und Aufsichtsrechte über die katholische Landeskirche“.65 Darin behielt sich jeder Staat die „ihm zustehenden unveräusserlichen Majestätsrechte des Schutzes und der Oberaufsicht über die Kirche in ihrem vollen Umfang“ vor.66 Betrachtet man einige wichtige Bestimmungen der Verordnungen von 1830 näher, so galt jetzt das staatliche Plazet für alle bischöflichen Anordnungen und wichtigeren Spezialverfügungen, päpstliche Bullen, Breven und sonstigen Erlasse (§ 5). Der Staat beanspruchte die Gerichtsbarkeit über alle „Geistlichen, als Staatsgenossen“ (§ 6). Weiterhin unterlagen Provinzial- und Diözesansynoden einer staatlichen Genehmigungspflicht und hatten unter Beobachtung von staatlichen Kommissaren stattzufinden (§§ 9, 18). Der Bischof musste dem Staatsoberhaupt den Eid der Treue und des Gehorsams leisten (§ 16), die Geistlichen den Eid der Treue und dem Bischof den des kanonischen Gehorsams (§ 34). Die Priesterausbildung hatte an den jeweiligen Landesuniversitäten und -seminaren stattzufinden (§§ 25ff.). Schließlich sei noch der Recursus ab abusu genannt, also der den Geistlichen wie den Weltlichen im Falle eines „Missbrauch[s] der geistlichen Gewalt gegen sie“ gebotene Rekurs an die Landesbehörden (§ 36). Mit den in gleichlautenden landesherrlichen Verordnungen von 1830 öffentlich gemachten Grundgedanken der Frankfurter „Kirchenpragmatik“ von 1820 ignorierten die oberrheinischen Staaten die letzten zehn Jahre der Verhandlungen mit der Kurie bis auf das Listenverfahren bei der Bischofswahl. Was Württemberg anging, so diente die Verordnung von 1830 der extensiven Interpretation der einschlägigen Paragraphen der württembergischen Verfassung von 1819: Dem landesherrlichen Recht der Oberaufsicht über die katholische Kirche – das die würt-
64 WOLF (Anm. 5), 105f. 65 Landesherrliche Fundationsurkunde für das Bistum Rottenburg vom 14. Mai 1828, in: REYSCHER 10 (Anm. 14), 1067ff. – Landesherrliche Verordnung, die Ausübung der oberhoheitlichen Schutz- und Aufsichtsrechte über die katholische Landeskirche betreffend, vom 30. Januar 1830, in: WRegBl. vom 10. Februar 1830, 81ff.; REYSCHER 10 (Anm. 14), 980ff. – Die großherzoglich-hessische Fassung ist abgedruckt in: HUBER-HUBER I (Anm. 8), 280–284. 66 Aus § 3 der Landesherrlichen Verordnung, zit. nach: ebd., 281.
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tembergische Verfassung in § 72 verbriefte –, wurde dadurch ein höherer Stellenwert zugemessen als der in § 71 festgeschriebenen Autonomie der Kirche.67 Das 1830 installierte oberrheinische System lässt sich als das einer strikten, misstrauischen staatlichen Aufsicht über die katholische Landeskirche charakterisieren. Es entsprach generell der politischen Linie der Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes während der Restaurationszeit und konnte speziell in Württemberg mit der Zustimmung des (alt-)württembergischen Bürgertums rechnen, zu dem auch Minister Johannes von Schlayer gehörte: Die zwei Jahrhunderte der anerzogenen Fremdheit gegenüber dem gesetzlich ausgeschlossenen Katholizismus bieten dafür keine Rechtfertigung, aber doch eine Erklärung. Auch auf Seiten der katholischen Kirche verstärkte sich das in Ablehnung übergehende Befremden gegenüber den staatlichen Maßnahmen in dem Maße, in dem der Ultramontanismus als „klare, ‚tridentinisch‘ geprägte Romorientierung auf der Basis neuscholastischer Theologie“ in ihr zunahm.68 Ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zu den neuen theologischen oder kirchenpolitischen Strömungen konnten die württembergischen Katholiken der „zweiten Generation“, die das zupackende Staatskirchentum ihrer Regierung ablehnten, nur in der Hinwendung nach Rom eine Alternative finden; auf dem Stuhl Petri aber saß mit Gregor XVI. seit 1831 ein „Vertreter der absolute[n] Papstmonarchie“.69 In Württemberg wie in den meisten Mitgliedsstaaten der oberrheinischen Kirchenprovinz erkannte der Landesbischof diese, die staatlichen Kirchenhoheitsrechte extensiv interpretierende Verordnung zunächst nicht nur ohne Widerspruch, sondern sogar zustimmend an, wie Papst Pius VIII. in seinem Breve an die Bischöfe der oberrheinischen Kirchenprovinz rügte.70 Unwidersprochen blieb sie in Württemberg allerdings nicht, denn in der Kammer der Abgeordneten brachte August Freiherr von Hornstein als Sprecher des württembergischen katholischen Adels schon im März 1830 eine Motion ein, deren Protest gegen die Verhinderung der „verfassungsmässige[n] freie[n] Religionsausübung der Katholiken“ und sein Antrag auf Aufhebung der Verordnung die Regierung bis 1833 beschäftigten.71 Nun griff Bischof von Keller als Mitglied der Zweiten Kammer in die par67 Gleiches galt für die Ausübung der königlichen „Rechte über die katholische Kirche“ (§ 79) gegenüber den verfassungsmäßig gesicherten Rechten der bischöflichen Leitung der inneren Angelegenheiten der Kirche (§ 78). – Zu der Unmöglichkeit, dieses landesherrliche Kirchensystem aufrechtzuerhalten, wenn der Bischof wie überhaupt die katholischen Geistlichen des Landes sich unter dem Zwang der geforderten doppelten Loyalität gegenüber dem Papst und dem Landesherrn nicht für letzteren entschieden, s. MANN (Anm. 5), 286. 68 WOLF (Anm. 5), 114. 69 Ebd., 119. 70 Auszug aus dem Breve Papst Pius VIII. an die Bischöfe der oberrheinischen Kirchenprovinz vom 30. Juni 1830, in: HUBER-HUBER I (Anm. 8), 285f., hier: 285. Der päpstlichen Weisung zum formellen Protest folgte von den oberrheinischen Bischöfen nur der Fuldaer Bischof Rieger. – Vgl. HAGEN I (Anm. 5), 5f. zum Breve und zu der Note des Kardinalstaatssekretärs Bernetti vom 5. Oktober 1833. 71 Auszug aus der Motion des Abgeordneten Frhr. v. Hornstein in der württembergischen Zweiten Kammer vom 7. April 1830, in: HUBER-HUBER I (Anm. 8), 520ff.; die darauf antwortende Erklärung des Königlichen Geheimen Rats an den Ständischen Ausschuss vom 10. Januar
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lamentarische Auseinandersetzung ein, die sich zu einem ersten ernsthaften württembergischen Kirchenkonflikt ausweiten sollte.72 Seiner milde formulierten Erwartung, dass die Regierung auf die ausufernde Auslegung der staatlichen Oberaufsicht verzichten und die Verfassung fortan „nach den Grundsätzen und Lehren der katholischen Kirchenverfassung und der Einheit der Kirche bestimmen möchte“, kam diese keinen Schritt entgegen.73 Obwohl der Bischof auf weitere Maßnahmen verzichtete und in der Mischehenfrage auf die staatlichen Forderungen einging, da ihm – wie er 1841 im Landtag feststellte – der „Kirchenfriede das höchste Gut“ war, zerbrach das bis dahin verlässliche Einvernehmen zwischen Landesbischof und Landesregierung an der Kompromisslosigkeit, mit der der Staat sein Recht behauptete.74
2. Konfrontation, Konflikte und Kulturfrieden: 1830–1850/57–1862 Zu den politischen Auswirkungen der Pariser Julirevolution von 1830 in Deutschland sind die frühkonstitutionellen Verfassungen zu zählen, die in den mittel- und norddeutschen Staaten des Deutschen Bundes erlassen wurden – nicht aber in Preußen und Österreich. Während sich in Vereinen und Gesinnungsgemeinschaften rund um liberale, demokratische, sozialistische und katholische Publikationsorgane Widerstand gegen die Staatsallmacht regte, prägten in den Parlamenten Konflikte zwischen Regierung und bürgerlicher Opposition den politischen Alltag. In Württemberg trat eine zweite Politikergeneration in die Verantwortung in Regierung und den von der erstarkten liberalen Opposition unter Friedrich Römer dominierten Landtag, die wie die neue „nach-staatskirchliche“ Generation der katholischen Theologen und kirchlichen Würdenträger nicht mehr in Altwürttemberg sozialisiert worden war.75 Zugleich zeigten sich in der katholischen Kirche beileibe nicht nur Württembergs offener divergierende „theologische und kirchenpolitische Tendenzen und Strömungen“, deren Spektrum von radikalen Aufklärern und Wessenbergianern bis zu Radikalultramontanen reichte.76
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1833 s. ebd., 522. Hornsteins letzten Antrag vom 7. März 1836 auf Aufhebung der landesherrlichen Verordnung wegen Verfassungswidrigkeit kommentiert HAGEN I (Anm. 5), 6. Erklärung des Bischofs v. Keller in der württembergischen Zweiten Kammer vom 11. März 1833, in: HUBER-HUBER I (Anm. 8), 523ff. Ebd., 525. Ebd., 523. MANN (Anm. 5), 292f. zur Restauration in Württemberg. WOLF (Anm. 5), 121–124, Zitat: 121. In Württemberg (und Baden) wurden im Zuge der letzten Hochzeit der katholischen Aufklärung Wessenbergs Reformideen zu radikalen Forderungen wie u.a. zur Abschaffung des Pflichtzölibats („Zölibatssturm“ 1831) zugespitzt. [Felix] HAMMER, Der Zölibatssturm in Württemberg im Jahre 1831, in: Rottenburger Monatsschrift 3 (1919/20), 111–115, 143–146, 158–160, 179–185, 202–206, 230–233.
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Die Auseinandersetzungen zwischen dem württembergischen Staat – seit 1832 geleitet von dem Quasi-Premierminister von Schlayer77 – und der katholischen Kirche nahmen während der 1830er Jahre an Intensität zu, da letztere nach den Kölner Wirren in gefestigtem Selbstverständnis ihre Anstrengungen verstärkte, sich aus der Staatsaufsicht zu lösen. Wegen der seit 1833 ergebnislosen „Transactionen zwischen Staats- und Kirchenstellen“ brach das bischöfliche Ordinariat 1841 die Verhandlungen mit dem Katholischen Kirchenrat über die gegenwärtige Praxis des staatlichen Oberaufsichtsrechts ab. Bischof von Keller legte mit seiner Motion vom 13. November 1841 in der Abgeordnetenkammer zehn Forderungen zur Herstellung der verfassungsmäßigen Autonomie der Kirche vor, in der er die Rechte für den Bischof beanspruchte, mit deren Ausübung der Katholische Kirchenrat das bischöfliche ius in sacra beeinträchtigt hätte.78 Obwohl dieser Forderungskatalog des als staatskirchentreu geltenden Bischofs revolutionär wirkte, da er öffentlich die stillschweigende Akzeptanz des Staatskirchensystems aufkündigte, hatte Keller doch auf den wirklich revolutionären Schritt verzichtet, die – wegen ihrer faktischen Negation der Artikel V und VI der Bulle „Ad Dominici gregis custodiam“ – in der Sicht Roms rechtswidrige Verordnung von 1830 anzugreifen und so das württembergische Staatskirchensystem insgesamt zu verwerfen. Die überwiegende Mehrheit der Abgeordneten der Zweiten Kammer (80:6) lehnte aber auch ohnedies die bischöflichen Anträge ab und erklärte der Staatsregierung ihr Vertrauen, wohingegen die Erste Kammer (25:14) in gleicher Angelegenheit 1842 die Regierung aufforderte, die „Kirchenangelegenheiten und die Stellung der Kirche zur Staatsgewalt bestimmter zu ordnen“ – und zwar auf dem Wege von Unterhandlungen mit dem Heiligen Stuhl und dem Abschluß eines Konkordats.79 Währenddessen bereits wandte sich der Bischof in drei Schreiben mit der Bitte um Unterstützung an Papst Gregor XVI., der das bisherige Verhalten des Bischofs tadelte, seinen offenbaren Gesinnungswandel begrüßte und ihn aufforderte, die kirchlichen Interessen „standhaft“ zu vertreten. Das von Bischof von Keller erbetene Plazet der Regierung für dieses päpstliche Schreiben wurde ebenso zurückgewiesen wie die Publikation eines weiteren Breve vom 24. Oktober
77 HUBER-HUBER I (Anm. 8), 523 Anm. 3; Mann (Anm. 5), 295 mit Biogrammen zu Johannes (v.) Schlayer, der von 1832–1839 Leiter des Innenministeriums, 1839–1848 und 1849–1850 auch formell Innenminister war. 78 Motion des Bischofs v.Keller in der württembergischen Zweiten Kammer vom 13. November 1841, in: ebd., 525–529, Zitat: 526f. – Der Katalog umfasste folgende Forderungen: Freie Aufsicht und oberste Leitung der Geistlichen, größerer Einfluss auf die Besetzung der Kirchenstellen, Selbstverwaltung des Kirchenvermögens (besonders des Interkalarfonds), Visitation der Dekane und der bischöflichen Kommissäre durch den Bischof, Gewissensfreiheit der Geistlichen bei der Verweigerung der Einsegnung gemischter Ehen, Notwendigkeit eines Benehmens mit dem Bischöflichen Ordinariat vor inquisitorischen Untersuchungen in kirchlichen Sachen, das Recht der Auszeichnung würdiger Geistlicher, unabhängige Aufsicht und Leitung des bischöflichen Seminars und Freiheit in der Erteilung der Weihen, Abschaffung der Zensur kirchlich-theologischer Schriften und Vornahme der Konkursprüfung am Bischofssitz selbst. HAGEN I (Anm. 5), 8f. 79 HUBER-HUBER I (Anm.8), 523; HAGEN I (Anm. 5), 9,11.
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1842, das der Bischof unmittelbar an den König hatte gelangen lassen.80 Die Auseinandersetzungen waren zur Konfrontation geworden, als das bischöfliche Ordinariat im Januar 1843 die Gravamina der katholischen Kirche in einem neun Kapitel umfassenden Forderungskatalog zur „Herstellung der verfassungsmäßigen Autonomie der Kirche“ präsentierte.81 Das besonders ausführliche Kapitel I zum Schul-, Erziehungs-, Bildungs- und Universitätswesen führte die Aufstellung an, woran sich die bisher schon strittig gewesenen Forderungen der bischöflich Kellerschen Motion fügten. Kapitel VIII über das Mischehenrecht enthielt infolge des Dissenses zwischen Bischof und Domkapitel zwei Vorschläge für die Eheschließung: Bischof von Keller beharrte auf der „passiven Assistenz“ des Priesters, sollten die Brautleute die geforderten Zusicherungen („Kautionen“) zur katholischen Taufe und Erziehung der Kinder nicht geben, während das ‚staatskirchentreue‘ Domkapitel die Feierlichkeit einer kirchlichen Eheschließung auch für gemischtkonfessionelle Paare mit geringen Abstrichen erhalten wollte. Hätte die Regierung die Kellerschen Autonomieforderungen akzeptiert, so wäre es quasi zur Annullierung der landesherrlichen Verordnung von 1830 gekommen – woran auf Regierungsseiten niemand dachte. Der König ließ über den Katholischen Kirchenrat auf die „Punktation“ als Ganzes überhaupt nicht antworten – wie Bischof von Keller mehr als anderthalb Jahre später beklagte –, sondern ließ allein die Position des Bischofs in der Mischehenfrage zurückweisen und deren Publikation verbieten. Minister von Schlayer führte zwei Gegenargumente ins Feld, nämlich dass 1. das von der katholischen Kirche geforderte Versprechen der Brautleute gegen geltendes Recht (Art. VII Religionsedikt von 1806) und gegen die württembergische wie deutsche Rechtspraxis verstieße; letzteres war nicht ganz zutreffend, denn Preußen und Österreich hatten 1838 bzw. 1841 in dieser Frage Zugeständnisse gemacht.82 Und er beharrte 2. auf der verfassungsrechtlich geschützten Parität der Konfessionen: Die passive Assistenz des katholischen Priesters – die an beiden Brautleuten ihren im Sinne der katholischen Kirche geübten Ungehorsam durch die geringere Feierlichkeit der Zeremonie strafte –, so schloss Schlayers Schreiben vom 30. Juni 1843, sei geeignet, den „Gedanken einer Missachtung oder Kränkung des akatholischen Theiles“ zu erwecken, und „im Volke den Glauben an eine religiöse Vermittlung des Ehebandes … zu untergraben“.83 Bischof von Keller begründete und untermauerte in seiner Antwort an das Innenministerium seine eigene, auf Rom gründende und darin der Auffassung des 80 Erstes Breve Papst Gregors XVI. an Bischof von Keller vom 25. Juni 1842, in: HUBERHUBER I (Anm. 8), 535f. – Das ungewöhnlich scharf formulierte [Ablehnungs-]Schreiben des Innenministers v. Schlayer an den Bischof v. Keller [auf dessen Immediatschreiben an den König vom 6. August wegen Veröffentlichung des päpstlichen Breves vom 25. Juni] vom 22. September 1842, in: ebd., 536ff. 81 Punktation des bischöflichen Ordinariats zu Rottenburg betreffend die Herstellung der verfassungsmäßigen Autonomie der Kirche vom 20. Januar 1843, in: ebd., 540–552. 82 Ebd., 563, Anm. 17; HAGEN I (Anm. 5), 21, Anm. 4. 83 Schreiben des Katholischen Kirchenrats an den Bischof v. Keller vom 30. Juni 1843, in: HUBER-HUBER I (Anm. 8), 552f. – Der Kirchenrat bezog sich nicht auf die Punktation, sondern auf das Immediatschreiben des Bischofs an den König (Anm. 73).
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Domkapitels widersprechende Haltung, und bedrohte die an der milderen Linie der Mischehentrauung festhaltenden Geistlichen mit der Suspension ab ordine et officio. Innenminister von Schlayer, der ohnehin eine äußerst deutliche Sprache führte, griff die Haltung des Bischofs in der Mischehenfrage vehement als Verletzung von Recht, Verfassung und Staatsinteressen an und drohte dem Bischof am 18. Juli 1843 unverhohlen mit „geeigneten“ Maßnahmen; es blieb bei der Drohung. Der uneingeschüchterte Bischof war nicht und konnte nach einem dritten Breve des Papstes auch nicht bereit sein zu jenen Zugeständnissen in der Mischehenfrage, wie sie der Innenminister mit einigem Entgegenkommen im Juli des folgenden Jahres insinuierte: Die Staatsregierung sei geneigt, „auf eine gegen den Geist des Religionsedikts und sonstige Rücksichten nicht verstoßende Form [der minder feierlichen Trauung gemischt-konfessioneller Paare] einzugehen“, solange diese den „Charakter der Trauung als eines kirchlichen Aktes“ wahre.84 Die grundlegende Meinungsverschiedenheit in dieser Frage wurde bis zum Tod des ersten württembergischen Landesbischofs im Oktober 1845 nicht aufgelöst. Kellers Nachfolger als Bischof von Rottenburg, Joseph von Lipp, wurde erst im zweiten Wahlgang und nach einem Notenwechsel zwischen König Wilhelm I. und Papst Gregor XVI., in dem beide Seiten ihre differierenden Ansichten zur Bischofswahl maßvoll austauschten, vom Domkapitel gewählt und päpstlich konfirmiert. Lipp hatte bereits vor seiner 1847 erfolgenden Wahl unmissverständlich erklärt, dass er sich zur „Streitfrage über die gemischten Ehen“ verhalten werde wie sein Amtsvorgänger, wobei er allerdings weder auf diesen noch auf die Haltung der Kurie, sondern auf die in Österreich seit 1841 geltende Gesetzgebung verwies; damit umging er geschickt die Fortsetzung des ‚Stellungskriegs‘ zwischen Ministerium und bischöflichem Ordinariat.85 In seinen am 20. Juni 1848 zusammengestellten „Forderungen“86, mit denen der Bischof seine vor der Wahl formulierten Eckpunkte deutlicher explizierte, war lediglich davon die Rede, dass kein Zwang gegenüber Geistlichen angewandt werden solle, die gemischte Ehen ohne die von der Kirche geforderten Kautionen nicht einsegnen wollten. Diese ein Vierteljahr nach Ausbruch der Märzrevolution zusammengestellten Forderungen lassen sich weder von dem zwei Jahrzehnte andauernden innerwürttembergischen Ringen zwischen paritätischem Staat und katholischer Kirche trennen noch kann man sie losgelöst von dem allgemeinpolitischen Rahmen der Revolution(en) von 1848/49 betrachten:87 „Der Katholizismus hatte sich bereits im 84 Erwiderung des Innenministers v. Schlayer auf die Punktation des bischöflichen Ordinariats Rottenburg vom 12. Juli 1844, in: HUBER-HUBER I (Anm. 8), 555f., hier: 556. 85 Propositionen des Bischofskandidaten Kirchenrat Lipp betreffend die Rechte des Bischofs von Rottenburg, in: ebd., 562f.; eine Kurzbiographie Lipps ebd., 557, Anm. 5. Zur Wahl s. auch: REINHARDT (Anm. 46), 30f. – Vgl. Eugen SCHNEIDER, Württembergische Geschichte, Stuttgart 1896, ND 2. Reprintaufl. Stuttgart 1986, 543. 86 Zusammenstellung der Forderungen [des Bischofs von Rottenburg] vom 20. Juni 1848, in: HAGEN II (Anm. 5), 214–217; s. dazu ebd., I, 35–38. 87 Stefan J. DIETRICH, Christentum und Revolution. Die christlichen Kirchen in Württemberg 1848–1852, Paderborn u.a. 1996, 407. – Zur „Bedeutung der Religiosität“ und der „Rolle der Kirchen für die Wahrnehmung und Interpretation der revolutionären Geschehnisse, für die längerfristige Ausbildung des deutschen Parteiensystems, für die Verfestigung der gegenrevo-
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Vormärz politisiert, als der Konflikt zwischen preußischem Staat und katholischer Kirche über den Mischehenstreit sich zu einem Kulturkampf auszuweiten drohte. Die Erinnerung daran schlug sich 1848 in der Forderung nach kirchlicher Freiheit vom Staat bei Bewahrung des Einflusses in der Gesellschaft nieder.“88 Der Schweizer Sonderbundkrieg an der Grenze und die inländischen Unruhen während des europäischen Hungerjahrs 1847 erschienen in Württemberg später als „Wetterleuchten“ vor dem „Donnerschlag“ der dritten französischen Revolution binnen eines halben Jahrhunderts; man hörte ihn mit Erschrecken und reagierte mit dem festen Willen, revolutionäre Ausbrüche abzuwehren.89 Gemäßigter als in Baden fielen demnach die Petitionen aus, widerwillig, aber rasch gab der König die von der Opposition verlangte politische Antwort auf die Märzforderungen: Nach Schlayers Entlassung wurde am 9. März ein mit dem konstitutionellliberalen Wortführer der ehemaligen Landtagsopposition Friedrich Römer, Gustav Duvernoy und Paul Pfizer besetztes „Märzministerium“ installiert.90 Bei den Wahlen zur Nationalversammlung setzten sich in Württemberg eher Persönlichkeiten als politische Programme und gleichberechtigt mit diesen kirchlich-konfessionelle Anliegen durch.91 Nur 18% der württembergischen Abgeordneten der Paulskirche, unter ihnen der „rote“ Fürst Konstantin von Waldburg-Zeil, waren Katholiken – die damit im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil von 30% unterrepräsentiert blieben.92 Das politische Spektrum des Katholizismus in der Revolution reichte von linken „märzbewegten“ Strömungen bis zu den konservativen um den Freiburger Staatswissenschaftler Franz Joseph Ritter von Buß.93 Doch schon bald nach der Mainzer Gründungsinitiative Ende März 1848 gehörten die entschiedenen Katholiken in Württemberg mit einem eigenen „PiusVerein für religiöse Freiheit“ zu der „größten außerparlamentarischen Organisation der Revolutionszeit“.94 In Kooperation mit den Abgeordneten des fraktionsübergreifenden „Katholischen Clubs“ konnte der erst Anfang Oktober als nationa-
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lutionären Kräfte 1848/49“ s. Wolfgang HARDTWIG, Die Kirchen in der Revolution 1848/49. Religiös-politische Mobilisierung und Parteienbildung, in: Revolution in Deutschland und Europa 1848/49, hrsg. v. DEMS., Göttingen 1998, 79–108, hier: 79. Wolfram SIEMANN, Die deutsche Revolution von 1848/49, Frankfurt/Main 1985, 108. Beide Termini von Rüdiger HACHTMANN, Epochenschwelle zur Moderne. Einführung in die Revolution von 1848/49, Tübingen 2002, Inhaltsverzeichnis. MANN (Anm. 32), 137f.; HACHTMANN (Anm. 89), 51f. – Eine erste systematischvergleichende Untersuchung der Märzministerien legte vor Eva Maria WERNER, Die Märzministerien. Regierungen der Revolution von 1848/49 in den Staaten des Deutschen Bundes (= Schriften zur politischen Kommunikation 2), Göttingen 2009. MANN (Anm. 5), 304ff.; MANN (Anm. 32), 143ff. MANN (Anm. 5), 306. Zum Deutschkatholizismus, als dessen Auslöser Hubert Wolf die innerkatholischen Proteste gegen die Heiligrockwallfahrt von Trier des Jahres 1844 namhaft macht und ihn als eine der „größten Protestbewegung[en] des Vormärz“ bezeichnet, s. WOLF (Anm. 5), 128f.; Friedrich Wilhelm GRAF, Die Politisierung des religiösen Bewußtseins. Die bürgerlichen Religionsparteien im deutschen Vormärz. Das Beispiel des Deutschkatholizismus, Stuttgart 1978. Zu den Pius-Vereinen: WOLF (Anm. 5), 128; Frank Lorenz MÜLLER, Die Revolution von 1848/49, Darmstadt ³2009, 80; Wolfram SIEMANN, Die deutsche Revolution von 1848/49, Frankfurt a. M. 1985, 108f.
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ler Dachverband der Pius-Vereine gegründete „Katholische Verein Deutschlands“ zwei wesentliche parlamentarische Erfolge erringen, nämlich die Streichung des Verbotes des Jesuitenordens aus dem Verfassungsentwurf und die Einfügung des Aufsichtsrechtes der Kirchen über den Religionsunterricht.95 Die am 27. Dezember 1848 als eigenes Reichsgesetz verkündeten Grundrechte, das „größte Werk“ der Abgeordneten der Paulskirche, schrieben die zentralen Märzforderungen – die Freiheit der Meinung, der Versammlung, der Vereinigung, der Konfessionen, der Wissenschaft und Lehre – verfassungsrechtlich ebenso fest wie die Trennung von Kirche und Schule (§ 153) und die Einführung der Zivilehe (§ 150); sie traten in Württemberg als Landesgesetz in Kraft. Der württembergische König unterwarf sich zudem als erster und einziger der deutschen Monarchen der Verfassung des Deutschen Reichs vom 28. März 1849; der bis zu seiner Endfassung umstrittene § 147 („Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbstständig, bleibt aber den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen. […]“) bestimmte als lex regia die staatskirchenrechtliche Entwicklung in Deutschland bis zur Weimarer Republik.96 Zu den Folgen der Revolution von 1848 zählte auf Seiten der Regierungen der (1848 bis 1851 kurzfristig ‚ehemaligen‘) Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes eine alarmbereite Sensibilität gegenüber öffentlich vorgetragenen politischen Forderungen; auf Seiten der katholischen Kirche Deutschlands bedeutete die Revolution nicht nur einen Bruch des Burgfriedens innerhalb der durchaus inhomogenen ultramontanen Bewegung, sondern führte auch zu einer selbstbewussten Aneignung der „kirchlich an sich verurteilten Freiheiten“, seien es innerkirchliche oder solche, die das Verhältnis von Kirche und Staat betrafen.97 Anfang Februar 1850 griff der Episkopat der Oberrheinischen Kirchenprovinz die staatliche Kirchenhoheit unter dem Banner der Freiheit der Kirche im Staat an. Die in Preußen, Hannover, Hessen und Oldenburg erlassenen „neuen Verfassungsbestimmungen“ bedingten eine „wesentliche Änderung der durch die früheren Gesetzgebungen so vielfach ineinander verschmolzenen Verhältnisse der Kirche und des Staates“, schrieben der Freiburger Erzbischof Hermann von Vicari und die unterzeichnenden Bischöfe, unter ihnen auch der württembergische, in ihrer Denkschrift an die oberrheinischen Regierungen. Gegen die synallagmatischen Landesherrlichen Verordnungen von 1830 setzten sie zehn Forderungen, die (über die älteren Rottenburger Versionen hinausgehend) im Kern besagten, dass der Staat seine Rechte über die katholische Kirche aufgeben, seinen Schutz- und Unterhaltsverpflichtungen aber weiterhin nachkommen sollte.98 Der „Anspruch auf Freiheit der Kirche im Staat“ – also nicht vom Staat – führte den Katalog an; die Freiheitsforderungen dominierten durch ihre Anzahl diejenigen, in denen kirchliche Rechte zurückver-
95 Ebd., 77. 96 HUBER-HUBER II (Anm. 15), 32f.; MANN (Anm. 5), 309. 97 Zitat: WOLF (Anm. 5), 129, zur Spaltung der Ultramontanen auf kirchenpolitischer und theologischer Ebene 132f. 98 Eingehend dazu: HAGEN I (Anm. 5), 80f.
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langt bzw. staatliche Rechte wie das Plazet abgewehrt wurden.99 Zugleich unterbreiteten die Bischöfe mit ihrer Argumentation der „staatserhaltenden Macht des Katholizismus“ den Landesherren ein Allianzangebot, das die württembergische Regierung in Erinnerung an die verlässliche Unterstützung der katholischen Abgeordneten in der Frage des gemeinsam abgelehnten „preußisch-protestantischen“ Erbkaisertums durchaus bedenkenswert finden musste. Wilhelm I. kommentierte die Denkschrift denn auch gegenüber Erzbischof von Vicari mit den Worten, er „erkenne ihre grosse Bedeutung und werde sie in reifliche Erwägung ziehen“.100 Als agierten die angesprochenen Regierungen nach württembergischem Vorbild, blieb die Denkschrift offiziell zwar ohne Antwort, doch intern trafen sich Regierungsvertreter zu gemeinschaftlichen Beratungen über eine Stellungnahme. In der nahe liegenden Absicht, das Ergebnis dieser Konsultationen zu beeinflussen, bezogen sich die Bischöfe mit ihrer im Folgejahr erneuerten „Denkschrift des Episkopats der Oberrheinischen Kirchenprovinz“ vom 10. Februar 1852 darauf.101 Wiederum in gleichlautenden Verordnungen vom 1. März 1853 und in einer beigegebenen, den kämpferischen Ton der Bischöfe und ihre Rechtfertigung durch göttlichen Auftrag aufnehmenden „Entschließung“ vom 5. März demonstrierten die Landesherren offensiv ihre Bereitschaft zu einer Revision – etwa zur Einschränkung des Plazet oder des recursus ab abusu –, nicht aber zu der verlangten Aufhebung der Bestimmungen von 1830.102 Der oberrheinische Episkopat protestierte gegen dieses seiner Auffassung nach ungenügende Entgegenkommen der Regierungen mit einer Eingabe, der einige Wochen später eine weitere, dritte Denkschrift folgte. Sie explizierte den Standpunkt der Bischöfe, die sich unter dem Bibelwort, dass man „Gott mehr gehorchen [müsse] als den Menschen“, von jenen staatlichen Gesetzen losgesagt hatten, die im Widerspruch zu den kanonischen und zur päpstlichen Autorität standen. Die klare Kampfansage der bischöflichen Denkschrift richtete sich gegen das 1803/06 eingeführte, auf dem Verordnungswege allmählich gefestigte und seit 1830 exekutierte Staatskirchensystem; in seinen Anfängen „unter dem Einflusse unkirchlicher Meinungen entstanden“ – so die teleologische Deutung der zweiten und dritten Generation nach den Staats-
99 Denkschrift des Episkopats der Oberrheinischen Kirchenprovinz vom 5. Februar 1851 (Auszug), in: HUBER-HUBER II (Anm. 15), 159–166; die Freiheitsforderungen waren neben der oben genannten die der Freiheit des kirchlichen Ämterwesens (II.), der Ausbildung des Klerus (III.), der des geistlichen Vereinswesens (VI.), der kirchlichen Jurisdiktionsgewalt (VII.), der kirchlichen Verfassung (VIII.); als „kirchliches Recht“ wurde das auf Staatsleistungen, insbes. der Dotation der Bistümer (IX.) und auf Lehre und Erziehung (X.) namhaft gemacht. Die anderen beiden Forderungen betrafen Religionsunterricht und theologisches Studium (IV.) sowie das Plazet (V.). 100 Hagen I (Anm. 5), 81. 101 Vorstellung des Episkopats […] vom 10. Februar 1852 (Auszug), in: HUBER-HUBER II (Anm. 15), 166ff., Anspielung auf die Beratungen: 167; auch Einführung 158. 102 Gleichlautende Verordnungen der oberrheinischen Regierungen, die Ausübung der oberhoheitlichen Schutz- und Aufsichtsrechte über die katholische Kirche betreffend vom 1. März 1853 und Entschließung der oberrheinischen Regierungen, betreffend die Bischofsdenkschrift von 1851 (Auszug), in: ebd., 169f., 170–176.
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kirchlern – sei es zu einem System der Unterdrückung der Freiheit der Kirche geworden, die es wieder zu erringen gelte. Wo schon Konflikte zwischen katholischen Landesbischöfen und Regierungen bestanden, dort brachen sie – wie in Baden – mit erneuter Vehemenz aus. Auch in Württemberg schien ein Kirchenkampf unausweichlich, als auf einseitige kirchliche Maßnahmen einseitige staatliche Reaktionen erfolgten.103 Doch waren hier der politische und der Erfahrungshintergrund ein anderer als in den Nachbarländern; im Oktober 1853 nahm die von der ersten oberrheinischen Denkschrift an schon zu Kompromissen entschlossene Regierung Verhandlungen mit ‚ihrem‘ Landesbischof auf, um zu einem Arrangement gerade auch in der Konkordatsfrage zu kommen. Dessen „Herrenberger Entwurf“ wich keineswegs hinter die ‚oberrheinische‘ Position zurück, sondern begann vielmehr mit der Zielforderung, dass die „Verordnung vom 30. Januar 1830 … aufgehoben“ werde – und die ministeriale Verhandlungsgrundlage suchte sie nicht abzuwehren.104 In der zwischen Regierung und Bischof erzielten Vereinbarung „in Betreff der Regelung der Verhältnisse des Staats zur katholischen Kirche“ vom 12./16. Januar 1854 lautete denn der zwanzigste und letzte Paragraph tatsächlich: „Alle Bestimmungen der Verordnung vom 30. Januar 1830 und vom 1. März 1853, welche mit der vorstehenden Vereinbarung im Widerspruch stehen, sind abrogiert; der übrige Inhalt wird einer Revision unterworfen“. Mit der Paraphierung dieses Bischofskonkordats erweiterte die königliche Regierung die Hoheitsrechte der katholischen Kirche beträchtlich. Zugleich stieg sie – um einen derzeit gängigen Begriff zu benutzen – nach annähernd drei Jahrzehnten aus der von ihr selbst in Wien initiierten ‚oberrheinischen‘ Kirchenpolitik aus.105 Auf diesen Alleingang des Rottenburger Bischofs reagierte der Papst empfindlich. Kardinalstaatssekretär Giacomo Antonelli teilte dem württembergischen Außenminister ein halbes Jahr nach Abschluß der Konvention mit, „che il menzionato atto sottoscretto da Monsigre Lipp non puo avere alcun vigore perche mancava a quel Prelato la necessaria autorizzazione per trattare da parte della S. Sede“.106 Die Kurie verwarf das von Bischof Lipp ausgehandelte Abkommen also lediglich aus formalen, nicht inhaltlichen Gründen. Entlang der von Kardinalstaatssekretär Antonelli im Juli 1854 präsentierten Leitsätze, denen ein Dreivierteljahr später ein Konkordatsentwurf107 folgte, wurden die jetzt nach Rom gezo103 Ebd., 181. 104 Die Stuttgarter Verhandlungsgrundlage (31. Okt. bis 4. Nov. 1853) und der Herrenberger Entwurf finden sich als Konkordanz gedruckt in: HAGEN II (Anm. 5), 231–235. 105 Uebereinkunft zwischen der Kgl. Regierung und dem Bischof von Rottenburg in betreff der Regelung der Verhältnisse des Staats zur katholischen Kirche (Stuttgart, Rottenburg, 12./16. Januar 1854), in: ebd., 236–240. Die Unterzeichnenden waren Bischof von Lipp und der bis 1856 als Kultminister amtierende Karl Eberhard Freiherr von Wächter-Spittler; HUBERHUBER II (Anm. 15), 181, Anm. 4. – Zur Kritik von Seiten der anderen oberrheinischen Regierungen s. HAGEN I (Anm. 5), 146f. 106 Note des Kardinalstaatssekretärs Giacomo Antonelli an den württembergischen Außenminister Konstantin Freiherrn von Neurath (Rom, 20. Juli 1854), in: HAGEN II (Anm. 5), 240f. 107 Entwurf einer Konvention zwischen dem Heiligen Stuhle und der kgl. Württembergischen Regierung zur Regelung der kirchlichen Angelegenheiten in der Diözese Rottenberg (April
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genen Unterhandlungen auf höchster Ebene (weiter-)geführt; Württemberg war zunächst durch seinen Ministerpräsidenten, dann den Außen- und schließlich den neuen Kultminister Gustav von Rümelin vertreten. Die „Vereinbarung zwischen dem Heiligen Stuhl und König Wilhelm I. über die Verhältnisse der katholischen Kirche im Königreich Württemberg“ wurde am 8. April 1857 geschlossen. Sie orientierte sich am Vorbild des österreichischen Konkordats, hob die von Seiten des Heiligen Stuhls meistkritisierten staatskirchlichen Verordnungen auf und erfüllte zentrale Forderungen der Kurie wie die Rückkehr zu dem in der Bulle „Ad dominici gregis custodiam“ und dem Breve „Re sacra“ festgelegten Verfahren der Besetzung des Rottenburger Bischofsstuhls sowie der Kanonikate und Präbenden der Domkirche.108 Gleichzeitig wurden drei vertrauliche Noten zwischen den Vertretern des Papstes und des württembergischen Königs, Kardinal Grafen Carl August von Reisach und dem Freiherrn Adolph von Ow, ausgetauscht, die die authentische Interpretation und die Anwendung der Bestimmungen der Konvention gewissermaßen prophylaktisch festgelegten, „um nämlich so viel als möglich Vorsorge zu treffen, dass in der nachfolgenden Ausführung der vereinbarten Artikel jede Gefahr von Divergenzen und Disharmonien zwischen der geistlichen und der weltlichen Gewalt im erwähnten Königreich beseitigt werde.“109 Als päpstliche Bulle „Cum in sublimi Principis“ vom 22. Juni 1857 und gleichzeitig als königliche Verordnung vom 21. Dezember 1857 im württembergischen Regierungsblatt publiziert, wurde die als „Konkordat“ oder „Konvention“ apostrophierte Vereinbarung für beide Seiten bindend.110 Bis zu diesem Zeitpunkt war der Landtag nicht über die Verhandlung informiert oder an ihnen beteiligt worden; seine Zustimmung war lediglich „den eine Änderung der Landesgesetzgebung in sich schließenden Punkten“ vorbehalten worden.111 Anfangs erregte das Konkordat wenig Aufsehen, obwohl die mehrheitlich evangelische Bevölkerung Württembergs „die katholische Erneuerung“ mit ihren erfolgreichen publizistischen Organen und ihren modernen gruppenspezifischen Organisationsformen wie den katholischen Gesellenvereinen „mit Unbehagen“ beobachtete.112 Doch bald erhob sich von allen Seiten polemische Kritik; der Bischof von Rottenburg verteidigte die Konvention in einem Hirtenwort gegen seine Kritiker, und die evangelische Presse griff an, Liberale und Pietisten schlossen ein Zweckbündnis zur Abwehr des Konkordats, politische Gegner des Ministeriums Linden und Abgeordnete, die
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1855), in: ebd., 248–254; ebd., 254–258 der Konventionsentwurf der württembergischen Regierung. Text: HUBER-HUBER II (Anm. 15), 183–187. Die bei der Unterzeichnung der Vereinbarung ausgetauschten drei vertraulichen Noten mit dem Datum 8./14. April 1857 zu den staatlichen Einspruchsrechten bei der Besetzung kirchlicher Ämter sowie der Aufteilung bischöflicher und königlicher Pfründen s. bei: HAGEN II (Anm. 5), 276–285, hier: Beilage I, 276. Bulle Papst Pius IX. „Cum in sublimi Principis“ vom 22. Juni 1857, in: HUBER-HUBER II (Anm. 15), 188ff.; Verordnung König Wilhelm I. betreffend die Vereinbarung mit dem päpstlichen Stuhle über die Regelung der Verhältnisse der katholischen Kirche im Königreich Württemberg vom 21. Dezember 1857, in: ebd., 190f. HUBER-HUBER II (Anm. 15), 190f., Zitat: 190. – dazu: WOLF (Anm. 5), 129. MANN (Anm. 5), 323.
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die Rechtsverbindlichkeit der Übereinkunft zwischen Papst Pius IX. und König Wilhelm I. bestritten, forderten die Annullierung der Konvention. Als sie im März 1861 endlich auf die Tagesordnung des erstmals seit annähernd drei Jahren einberufenen Landtags gesetzt wurde, spielte die politische Großwetterlage in Europa für deren Diskussion keine geringere Rolle als die Innenpolitik. In den von der Fortschrittspartei in Württemberg aufmerksam beobachteten Einigungskriegen in Italien wurde gegen jene restaurativen katholischen Mächte (Habsburg, die Paulskirchenchiffre für großdeutsche Träume, und den Papst) angekämpft, gegen die die liberale Landtagsmehrheit wie Vertreter der evangelischen Kirchen die politische Öffentlichkeit Württembergs mobilisierten: Bürgerliche Freiheitsrechte seien durch die Konvention nicht weniger bedroht als staatliche Hoheitsrechte, da die Konvention der Legislative die Entscheidungsmacht über staatskirchenrechtliche Fragen entziehe.113 Am Tag der Ablehnung der Konvention durch die protestantische Zweidrittelmehrheit der Zweiten Kammer (63:27 Stimmen) ließ Wilhelm I. nach Rom telegraphieren, dass er zu seinem gegebenen Wort stehe.114 Kultminister von Rümelin, evangelischer Theologe und kluger Universitätslehrer, der bei den Kammerberatungen vom 12. bis 16. März 1861 ‚seine‘ Konvention vehement verteidigt und davon gesprochen hatte, dass die Katholiken Württembergs im vergangenen halben Jahrhundert doch so „manchen Druck“ zu ertragen gehabt hätten – was ihm außerordentlich übel genommen wurde – sah sich angesichts dieser parlamentarischen Niederlage zum Rücktritt gezwungen.115 Obwohl der König wie später sein Nachfolger Karl I., der sich ebenfalls um ein gutes Verhältnis zwischen württembergischem Staat und katholischer Kirche bemühte, jetzt im Verdacht stand, heimlich zum Katholizismus konvertiert zu sein, verfolgte er seine kirchenpolitische Agenda unangefochten weiter.116 Er ließ Kardinalstaatssekretär Antonelli durch Rümelins Amtsnachfolger Karl Ludwig von Golther mitteilen, daß „der materielle Inhalt der früheren Convention der beabsichtigten neuen [einseitigen!] Staatsgesezgebung zu Grunde gelegt“ werde und so „die Wünsche der katholischen Bevölkerung des Landes befriedigt“ würden.117 Entsprechende Ge-
113 Von der „wachsenden und bald künstlich gesteigerten Aufregung und Agitation gegen das ‚Konkordat‘, an welcher sich auch noch die protestantische Geistlichkeit und die pietistische Partei lebhaft“ beteiligt habe, sprach im Nachhinein der damalige Kultuminister von RÜMELIN: DERS., Zur katholischen Kirchenfrage (1880), in: DERS., Reden und Aufsätze, NF, Freiburg i. Br. 1881, 205–277, hier: 215. – Zu den Ablehnungsgründen: HUBER-HUBER II (Anm. 15), 191; MANN (Anm. 5), 323. Vgl. auch Paul SAUER, Reformer auf dem Königsthron. Wilhelm I. von Württemberg, Stuttgart 1997, 418–422, hier: 418ff. 114 So RÜMELIN (Anm. 113), 208, in der Rückerinnerung des Jahres 1880. 115 Zitat Rümelin nach SAUER (Anm. 113), 420. – Rümelin (Anm. 113, 216) selbst sprach mit Bitterkeit über die polemische, seine Argumentation nicht einmal zur Kenntnis nehmende parlamentarische Debatte. 116 HAGEN I (Anm. 5), 127; SAUER (Anm. 113), 419. – Zu Karl I. angeblicher Konversion: Paul SAUER, Regent mit mildem Szepter. König Karl von Württemberg, Stuttgart 1999, 284. 117 Note der württembergischen Regierung an den Kardinalstaatssekretär Antonelli vom 12. Juni 1861, in: HUBER-HUBER II (Anm. 15), 192ff., hier: 194; ebenso RÜMELIN (Anm. 113), 209.
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setzesentwürfe brachte der Kultminister im September 1861 in den Landtag ein.118 Das erste, am 31. Dezember in Kraft tretende Gesetz erweiterte die von der Verfassung von 1819 garantierte Religionsfreiheit119, und das zweite, bereits zitierte „Gesetz, betreffend die Regelung des Verhältnisses der Staatsgewalt zur katholischen Kirche“ vom 30. Januar 1862 bedeutete dann aber doch mehr als eine Übernahme des Inhalts von 1857 in eine veränderte Form, denn es regelte das staatskirchenrechtliche System Württembergs neu – einseitig nämlich und die staatliche Kirchenhoheit wieder verstärkend, vergleicht man allein den Text mit dem der Konkordatsbestimmungen und deren ‚Ausführungsnoten‘. Wohl war die katholische Kirche in der Verwaltung ihrer inneren Angelegenheiten jetzt autonom, doch übte der Staat seine Kirchenhoheit mittels seines ministeriellen Kontrollorgans Katholischer Kirchenrat und seines Stellenbesetzungsrechts fast unvermindert aus.120 Die Kurie hatte schon vor dem einseitigen Erlass des württembergischen Kirchengesetzes dagegen protestiert; am 20. September ließ sie Kardinalstaatssekretär Antonelli unmissverständlich ankündigen, dass in allen Fällen von „Uneinigkeit und Konflikten“ zwischen staatlichem und kirchlichem Recht, „welche das Konkordat für immer entfernt hatte“, der württembergische Klerus dem neuen Gesetz den Gehorsam verweigern werde.121 Dennoch hat sich dieses von Rom formell nie anerkannte Kirchengesetz nach Meinung seiner Zeitgenossen wie nach Mehrheitsmeinung der modernen Historiographie „bewährt“ und wird als die Ursache dafür namhaft gemacht, dass Württemberg die gesellschaftliche Zerreißprobe eines Kulturkampfs wie in Bayern, Baden oder Preußen „erspart geblieben“ sei. Auch sei für Preußen unvorstellbar, dass ein Katholik wie der über drei Jahrzehnte als Minister, davon 24 Jahre als Ministerpräsident amtierende Freiherr Hermann von Mittnacht in leitender Funktion im Staatsdienst gestanden hätte.122 Der bis 1870 amtierende Kultminister von Golther vertrat in seiner Auseinandersetzung mit den preußischen Kulturkampfgesetzen von 1873 die Auffassung, dass die erste Phase württembergischer Kirchenpolitik als die der Unterdrückung der katholischen Kirche ihren klassischen Ausdruck in der Gesetzgebung von 1830 gefunden, die zweite Phase als die der Beugung der Regierung unter die 118 Die Einbringungsrede GOLTHERS ist abgedruckt in: Zeitschrift für Kirchenrecht 2 (1862), 72ff., worauf HUBER-HUBER II (Anm. 15), 194 Anm. 3 hinweisen. 119 Das „Gesetz betreffend die Unabhängigkeit der staatsbürgerlichen Rechte von dem religiösen Bekenntnisse“ vom 31. Dezember 1861, in: ebd., 195, revidierte § 27 Abs. 2 und § 135 der Verfassungsurkunde von 1819, indem die staatsbürgerlichen Rechte von der Zugehörigkeit zu einem der drei christlichen Bekenntnisse löste. 120 Ebd., 195; WOLF (Anm. 5), 129. 121 Note des Kardinalstaatssekretärs Antonelli an den Außenminister Freiherrn von Hügel vom 20. September 1862, in: HUBER-HUBER II (Anm. 15), 200f., Zitat: 200. – Die vorangegangene Protestnote des Heiligen Stuhls vom 17. Dezember 1861 druckt HAGEN II (Anm. 5), 298– 303. 122 Zitate: MANN (Anm. 5), 325; Eberhard NAUJOKS, Württemberg 1864 bis 1918, in: Hansmartin SCHWARZMAIER (Hg.), Handbuch der baden-württembergischen Geschichte, Bd. 3, Stuttgart 1992, 367. Weitere vergleichbare Aussagen zählt auf: BURKARD (Anm. 4), bes. 81ff. – MANN (Anm. 32), 183.
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päpstliche Autorität sich im Bischofskonkordat von 1857 verkörpert habe und dass erst die dritte – von ihm mitbestimmte – Phase als die der von der Legislative bestimmten Einführung des „gemischte[n] System[s] einer naturgemäßen Auseinandersetzung der beiderseitigen Beziehungen“ den Kompromiss zwischen Staat und Kirche in dem Gesetz vom 30. Januar 1862 verwirklicht habe.123 Diese Ansicht teilte sein Amtsvorgänger von Rümelin („Hegel’sche Dialectik“) keineswegs. Rümelin widersprach zudem Golthers Darstellung, dass dem Gesetz von 1862 irgendein neues System oder Prinzip zugrunde gelegen hätte. Es habe nicht mehr und nicht weniger getan, als die vorausgegangenen Bemühungen der Staatsregierung (die federführend seine eigenen gewesen waren) um einen für beide Seiten „annehmbaren Ausgleich“ abgeschlossen und den „Kurialstyl in die staatliche Gesetzessprache transponiert.“ Wo beispielsweise eine Bestimmung der Konvention von 1857 gelautet habe: „der Bischof wird sich vorher in’s Einvernehmen mit der K. Regierung setzen“, hieße es im Gesetz von 1862 „natürlich: die staatliche Genehmigung ist erforderlich.“ Der reine Text des Kirchengesetzes, so fuhr Rümelin fort, sei also „ohne jene vorangehende Convention ganz unverständlich; es war ohne sie ganz unmöglich; es wäre ohne sie heute unausführbar […].“ Wer nicht wisse, „auf was die befehlend und behauptend scheinende Fassung stillschweigend verzicht[e], was neben dem Gesez als dessen Vollziehung gedacht wird, welche concrete Ausführung einer allgemein lautenden Bestimmung vorausgesezt [sei], wer überhaupt nichts vor sich [habe] als den Text des Gesezes, [werde] sich von dessen Inhalt und Tragweite nur eine höchst unvollkommene Vorstellung bilden“ können.124 Die „milde, pragmatische Auslegung des Gesetzes durch die Stuttgarter Regierung“ machte bereits Hubert Wolf bei seinen Antworten auf die Frage namhaft, ob „Württemberg als Modell für die Beilegung des Kulturkampfes“ hätte dienen können.125 Man sollte diesen wichtigen Aspekt ergänzen um den der nicht einseitig staatlichen, sondern der einvernehmlichen Anwendung des Kirchengesetzes von 1862 – sie ruhte auf der soliden Basis jenes zwischen 1853 und 1857 zwischen Rom und Stuttgart erzielten Einvernehmens, das nach 1862 in eine ‚vertrauensvolle Zusammenarbeit‘ überging und für die Gesetzeswirklichkeit unverzichtbar war: „Mit bloßen Willenskundgebungen und Postulaten, wie sie das würtembergische Gesez aufzählt, wäre die Sache nicht zu machen [gewesen]. Dieses rechnete auf ein freiwilliges Entgegenkommen und konnte nur darauf rechnen, weil der Inhalt des Gesezes mit dem der Convention übereinstimmte“, fasste Rümelin diesen nur in seiner Wirkung erfassbaren Tatbestand zusammen und liefert damit wohl eine der wichtigsten Begründungen für die Tatsache, daß ein Gesetz, das in vielen Teilen mit den preußischen Kultur123 Zit. nach RÜMELIN (Anm. 113), 207. – Rümelins schon mehrfach zitierter Artikel beginnt als Rezension des Buches von [Karl] Ludwig von GOLTHER, Der Staat und die katholische Kirche in Württemberg. Darstellung der Entwicklung des Verhältnisses zwischen beiden und des geltenden Rechts auf Grund der Gesetzgebung von 1862 mit besonderer Berücksichtigung der neuesten preußischen Kirchengesetze von 1873, Stuttgart 1874, entwickelt sich dann aber zu einer apologetischen Darstellung seines politischen Kampfes um die Konvention. 124 Zitate 1 und 3: RÜMELIN (Anm. 113), 207, Zitate 2 und 4: ebd., 210. 125 WOLF (Anm. 4), 78.
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kampfgesetzen identisch war, in Württemberg unbestritten zur Vermeidung eines Kulturkampfes beitrug.126 Dennoch gilt es, sich durch das Geschichtsbild von der positiven Wirkung des württembergischen Kirchengesetzes von 1862 als Begründung für den nicht gekämpften Kulturkampf den Blick nicht verstellen zu lassen für jene Beispiele, die belegen, daß sich in Württemberg durchaus „Kulturkämpferisches“ zeigte, wenn auch der „große Krach“ (Dominik Burkard) ausblieb.127
Epilog: Von Württembergs Kirchengesetz 1862 bis zum Ende des Kulturkampfs Von der Warte deutscher und preußischer Politik aus gesehen, markiert das Jahr 1862 den zweiten Einschnitt nach dem Beginn der Neuen Ära und der Übernahme der Regentschaft durch den späteren König Wilhelm I., nämlich den Ausbruch des Verfassungskonfliktes in Preußen, der nicht nur die Deutsche Fortschrittspartei auf einem Höhepunkt ihrer Macht sah, sondern auch Otto von Bismarck als neuen Ministerpräsidenten in die große Politik brachte. Württemberg hatte mit seiner seit den 1850er Jahre verstärkten Trias-Politik keine außenpolitische Bewegungsfreiheit gewonnen, und so steuerte es seit dem Deutsch-Dänischen Krieg 1864 im Deutschen Bund einen österreichischen Kurs, der nach der Niederlage Österreichs und der Gründung des Norddeutschen Bundes zugunsten der Sicherung seiner staatlichen Integrität zwingend in einen pro-preußischen übergehen musste. Dabei kamen dem Land neben dem politischen Talent seines Ministerpräsidenten Freiherrn Friedrich Gottlob Karl von Varnbüler auch die verwandtschaftlichen Beziehungen zu Russland zugute, die durch die Ehe zwischen dem seit 1864 regierenden König Karl I. und der Zarentochter Olga wiederum gefestigt worden waren.128 Das zunächst geheim gehaltene Schutz- und Trutzbündnis mit Preußen, das den Deutschen Bund ersetzen sollte und angesichts der wachsenden Sorge vor einem Angriff Frankreichs sinnvoll erschien, und die verschleierte Anlehnung an den Norddeutschen Bund garantierten Württemberg eine nicht allein in der württembergischen Öffentlichkeit und im Landtag „prekäre Selbständigkeit“ (Bernhard Mann). Der Weg Württembergs zum bundesstaatlichen Mitglied des deutschen Kaiserreichs muss hier nicht nachgezeichnet werden, zumal die Regelung seines Verhältnisses zu den Kirchen nach wie vor in Stuttgart lag und nicht in Berlin.129 126 Vergleicht man den Text des württembergischen Kirchengesetzes von 1862 mit den preußischen Kulturkampfgesetzen, wie es Hubert Wolf getan hat, so ergeben sich ein halbes Dutzend verblüffender Ähnlichkeiten, die vom staatlichen Plazet bei „gemischte“ Angelegenheiten betreffenden Erlassen, von Anzeigepflicht für Kirchenstellen und das Listenverfahren oder die Einschränkung der kirchlichen Disziplinargewalt (recursus ab abusu) über die Priesterausbildung, die Eingriffs- und Mitwirkungsmöglichkeiten des Staates in den Vermögensbereich der Kirche bis zur Niederlassung von Orden, insbesondere demjenigen der Jesuiten, reichen. WOLF (Anm. 4), bes. 71f. – Vgl. NAUJOKS (Anm. 122), 367. 127 BURKARD (Anm. 4), 85. 128 Eingehend dazu: NAUJOKS (Anm. 122), 333–432, hier: 338–342. 129 Eingehend dazu: ebd., 342–360; MANN (Anm. 32), 191–206, Zitat: 191.
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Diese Tatsache gewann nach der Verkündigung des Dogmas von der „Unfehlbarkeit des Papstes“ auf dem Ersten Vatikanischen Konzil (1869/70) und dem Erlass des ersten (reichsweit gültigen) Kulturkampfgesetzes in Gestalt des „Kanzelparagraphen“ besondere Bedeutung: Vom Juli oder spätestens vom Dezember 1871 an bedurfte es der vereinten Anstrengungen von Staat und katholischer Kirche in Württemberg, um ihren hart erkämpften, 1862 gesicherten und nun mehr von Außen als von Innen angefochtenen Frieden zu wahren.130 In den elf Jahren zwischen dem Erlass des württembergischen Kirchengesetzes 1862, der Publikation der päpstlichen Enzyklika „Quanta cura“ vom 8. Dezember 1864 mit dem anhängenden „Syllabus errorum“ und dem Beginn der heißen Phase des Kulturkampfes durch die April- und Maigesetze 1873 bestimmte die Polarisierung der Ultramontanen auf theologischer wie kirchenpolitischer Ebene das Außenbild des deutschen Katholizismus; sie manifestierte sich auch im Streit um eine katholische Universität für Deutschland nach dem Beispiel der belgischen Universität Löwen.131 Es war dies ein Streit, der zwei im Ringen zwischen katholischer Kirche und Staat in Deutschland schon seit der Säkularisation immer neu debattierte Elemente in sich trug: Emanzipation und Parität. Die Gegner des katholischen Universitätsprojektes, überwiegend Theologieprofessoren und Bischöfe, optierten für den organischen „Marsch durch die [bisher protestantisch dominierte] Institution“ Universität durch gezielte Nachwuchsförderung und Berufungspolitik.132 Die deutschen Katholiken sollten sich also an und in den bestehenden Universitäten emanzipieren, nicht von ihnen – in nuce also ähnlich dem Vorgehen der katholischen Bischöfe gegenüber den oberrheinischen Staaten von 1850. Diese Emanzipation an den Universitäten sollte durch Parität geschehen – jene Parität, die der württembergische Staat der katholischen Kirche von 1802/3 an verfassungsgesetzlich zugesprochen hatte und die sie und ihre Gläubigen doch während des 19. Jahrhunderts erst ‚erwerben mussten, um sie zu besitzen‘. Weitgehend geschlossen zeigten sich die deutschen Bischöfe auch während des Ersten Vatikanischen Konzils, als sie sich mehrheitlich gegen die Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit aussprachen. Eine besondere Rolle spielte hier wie in Württemberg der 1869 gewählte Rottenburger Bischof Carl Joseph von Hefele. Er verhehlte seine Meinung über das Infallibilitätsdogma nie, unterwarf sich ihm aber dennoch als letzter der deutschen Bischöfe, „um ein Schisma in seiner Diözese zu verhindern“, um „seiner theologischen Fakultät in Tübingen … 130 NAUJOKS (Anm. 122), 364, 367. – Zu dem auf Antrag Bayerns in das Strafgesetzbuch am 10. Dezember 1871 eingefügten und 1876 verschärften Kanzelparagraphen 130a s. Manuel BORUTTA, Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe, Göttingen 2010, 307ff.; Text: HUBER-HUBER II (Anm. 15), 528. – Württemberg hatte eine vergleichbare Regelung bereits 1838 als Art. 449 in sein Strafgesetzbuch aufgenommen. 131 Hubert WOLF, Emanzipation von der Staatsuniversität oder Emanzipation an der Staatsuniversität? Zum Streit um die Gründung einer Katholischen Universität für Deutschland, in: Rottenbucher Jahrbücher für Kirchengeschichte 10 (1991), 99–110, hier: 101; WOLF (Anm. 5), 133ff. 132 Zitat: WOLF (Anm. 131), 102.
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den Eid auf das neue Dogma [zu] ersparen“ und um der „Einheit der Kirche“ willen, die, wie er selbst sagte, „ein so hohes Gut“ sei, „daß dafür sogar persönliche Überzeugungen hintanstehen müssten.“133 Zusätzlich mag zu seinem Entschluss beigetragen haben, dass ihn die württembergische Regierung in seinem anfänglichen Entschluss zum Widerstand nicht unterstützte, weil sie die aus der unübersehbaren Empörung des katholischen Klerus und der Bevölkerung gegen „derartige“ Bischöfe potentiell entstehende Konflikte im Land fürchtete.134 Die bischöfliche Verkündung des Unfehlbarkeitsdogmas und die darauf bezügliche Bekanntmachung der Regierung, dass diesem Dogma „keine Rechtswirkung auf staatliche oder bürgerliche Verhältnisse zukomme“, rief im Land ebenso wenig Wirkung hervor wie zwei Initiativen auf parlamentarischer Ebene. Die überwiegende Mehrheit in den Kammern und im Land, in der Regierung Mittnacht und in der Leitung der Diözese Rottenburg schien sich hier wie selbst angesichts der reichseinheitlichen Einführung der Zivilehe am 6. Februar 1875 mit Staatsminister von Neurath einig; er warnte 1875 im Landtag vor der Gefährdung jenes Friedens zwischen den Konfessionen, der im Lande „auf der Grundlage ihrer Gleichberechtigung seit einer langen Reihe von Jahren so glücklich bestanden“ habe und der auch zukünftig „jedem Vaterlandsfreunde dringend am Herzen gelegen sein“ müsse.135 Der Kirchenfrieden in Württemberg überdauerte den 1887 beigelegten Kulturkampf auch wegen des guten Verhältnisses zwischen König Karl I. und Bischof Hefele, die „alle Konfliktpotentiale auf oberster Ebene entschärften“ – Altkatholiken oder eine württembergische Zentrumspartei gab es ohnehin nicht.136 Als Modell für die Beilegung des Kulturkampfes in Preußen und die friedliche Koexistenz von protestantischem Staat und Kirche hätte das Kirchengesetz von 1862 dennoch nicht getaugt, auch wenn der Rottenburger Bischof diesen Gedanken seit 1873 immer wieder einmal ins Spiel brachte, ja zeitweise sogar Bismarck und Teile der römischen Kurie davon überzeugt schienen und Hefele selbst als potentieller Vermittler zwischen Staat und katholischer Kirche in den Blick rückte.137 Das württembergische Kirchengesetz konnte deshalb nur in Württemberg „funktionieren“, weil hier der den preußischen Kulturkampfgesetzen so ähnliche Gesetzestext nicht nach dem Buchstaben exekutiert, sondern vor dem Hintergrund einer langen Tradition der Gegenseitigkeit ausgelegt wurde. Dieses zuweilen kontroverse Miteinander hatte in der Formierungsphase des paritätischen Staates Württem133 Zitat: WOLF (Anm. 5), 152; ebd., 148–152 zum 1. Vatikanum, zur Eröffnung 148, zu Hefele 149f., zur Biographie Carl Joseph von Hefeles (1809–1893), einem Schüler Johann Adam Möhlers und vor seiner Berufung auf den Bischofsstuhl Universitätslehrer in Tübingen: WOLF (Anm. 13), 65, Anm. 3; zur Wahl Hefeles s. REINHARDT (Anm. 46), 36. 134 NAUJOKS (Anm. 122), 368f., Zitat 369. 135 Neurath zitiert nach: NAUJOKS (Anm. 122), 368, Zitatnachweis ebd., Anm. 91. Text des „Reichsgesetzes über die Beurkundung des Personenstandes und die Eheschließung“ vom 6. Februar 1875 und Einführung dazu in: HUBER-HUBER II (Anm. 15), 630ff. 136 WOLF (Anm. 5), 157; DERS. (Anm. 4), 78 mit der ebenso heiteren wie treffenden Formulierung, dass beide Männer humpelten, aber „im Gleichschritt“. 137 Ausführlich dazu: WOLF (Anm. 4), hier: 66.
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berg zwischen 1803/6 und 1811 eingesetzt und war in der Art der Echternacher Springprozession beidseitig weitergeführt worden, um nach der Abkoppelung Württembergs von den oberrheinischen Positionen 1853/54 über das Bischofskonkordat von 1857 bis zur Auslegung des Kirchengesetzes von 1862 zu einem Fundus gelebter Gemeinsamkeit in Verschiedenheit zu werden. Ein Kulturkampf wurde in Württemberg nicht gekämpft, doch um die gesellschaftspolitisch realisierte, faktische Parität der Konfessionen in Württemberg sollte noch lange Jahre über sein Ende hinaus gerungen werden.
Zur „Katholischen Tübinger Schule“ Ulrich Köpf
I Was hat es mit der vielbeschworenen „Tübinger Schule“ auf sich, genauer: mit der „Katholischen Tübinger Schule“, die nach verbreiteter Meinung mit der Gründung der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen im Jahr 1817 entstanden ist, nach der Meinung mancher sogar schon mit der Gründung ihrer Vorgänger-Institution, der katholisch-theologischen FriedrichsUniversität Ellwangen im Jahre 1812, und die – ebenfalls nach der Meinung vieler – in bemerkenswerter Kontinuität bis heute fortbesteht. So äußerte Kardinal Walter Kasper, einst Professor der Dogmatik in Tübingen, erst vor wenigen Jahren die Überzeugung, diese Schule, der er sich selbst zurechnete,1 beweise „noch heute eine erstaunliche Vitalität“.2 Auch die Planung unserer Tagung scheint von der Realität einer solchen „Katholischen Tübinger Schule“ auszugehen.3 Das ist nicht verwunderlich, wenn man in die repräsentativen katholischen Nachschlagewerke schaut, vor allem in das „Lexikon für Theologie und Kirche“. Zu seiner 2. Auflage hatte 1965 der ehemals Tübinger, später Münchener Fundamentaltheologe Heinrich Fries den einschlägigen Artikel beigetragen, in dem er betonte: „Bis zur Gegenwart fühlt sich die katholisch-theologische Fakultät der Universität Tübingen der Tübinger Schule verpflichtet“.4 Für die 3. Auflage dieses Lexikons schrieb 2001 der Tübinger Funda-
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Walter KASPER, Die Einheit der Kirche im Licht der Tübinger Schule, in: Michael KESSLER – Ottmar FUCHS (Hg.), Theologie als Instanz der Moderne. Beiträge und Studien zu Johann Sebastian Drey und zur Katholischen Tübinger Schule (Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie 22), Tübingen 2005, 189–206, hier 190. Walter KASPER, Ein Blick auf die Katholische Tübinger Schule, in: Michael KESSLER - Max SECKLER (Hg.), Theologie, Kirche, Katholizismus. Beiträge zur Programmatik der Katholischen Tübinger Schule von Joseph Ratzinger, Walter Kasper und Max Seckler. Mit reprographischem Nachdruck der Programmschrift Johann Sebastian Dreys von 1819 über das Studium der Theologie (Kontakte 11), Tübingen-Basel 2003, 7–13, hier 7. Der vorliegende Beitrag ist die leicht überarbeitete Fassung meines Vortrags vom 8. Oktober 2010 bei der vom Seminar für Katholische Theologie der Freien Universität Berlin veranstalteten Tagung „Neutestamentliche Exegeten der Katholischen Tübinger Schule im 19. Jahrhundert und ihre Bedeutung für die katholische Bibelwissenschaft“. Heinrich FRIES, Art. Tübinger Schule. I. Kath. T. S., in: Lexikon für Theologie und Kirche², Bd. 10, 1965, Sp. 390–392; hier 390: „Bis zur Ggw. fühlt sich die kath. theol. Fak. der Univ. Tübingen der T.S. verpflichtet“.
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mentaltheologe Max Seckler den entsprechenden Beitrag mit differenzierterer Beschreibung der Erstreckung dieser Schule: „Die Dauer und Fortdauer der Katholischen Tübinger Schule läßt sich empirisch unabweisbar je und je an dem Bewußtsein der Zugehörigkeit und des Sich-verpflichtetWissens der dafür in Frage Kommenden ablesen. In diesem Sinn ist der Identitätsstrom der Katholischen Tübinger Schule nie abgerissen und hat [...] auch im 20. Jh. bedeuten5 de Repräsentanten hervorgebracht.“
Max Seckler hat in den letzten Jahrzehnten in zahlreichen wichtigen Veröffentlichungen das hier lexikalisch fixierte Bild einer „Katholischen Tübinger Schule“ begründet, vertieft und gedeutet, so dass man ihn heute als seinen wichtigsten Vertreter und Hüter bezeichnen darf. Wenn Secklers Bild richtig ist, dann wird die Fakultät in Konkurrenz mit dem Reformationsjubiläum des Jahres 2017 – oder vielleicht zweckmäßiger bereits 2012 – die Zweihundertjahrfeier der „Katholischen Tübinger Schule“ begehen können. Die zweihundertjährige Geschichte einer durch Kontinuität ausgezeichneten theologischen Schule wäre in der Neuzeit allerdings etwas beinahe Einzigartiges – vergleichbar wohl nur der Geschichte des Thomismus oder des Scotismus an dominikanischen oder franziskanischen Ordenshochschulen. Leider wurde das glänzende Bild, das Heinrich Fries 1965 entworfen hatte, schon wenig später empfindlich getrübt, und zwar nicht von außen, sondern aus dem Innern der Tübinger Fakultät heraus. Ein fast gleichaltriger Kollege Max Secklers, der Kirchenhistoriker Rudolf Reinhardt, hatte sich unter gründlicher Einbeziehung archivalischer Quellen intensiv in die Fakultätsgeschichte eingearbeitet. Dabei war er schon im Laufe der sechziger Jahre zu Erkenntnissen gekommen, die das bisherige Reden von einer „Katholischen Tübinger Schule“ fragwürdig erscheinen ließen. Bereits in einem 1962 verfassten Beitrag meldete er Zweifel an der Geschlossenheit dieser Schule an.6 In der Festschrift zum Fakultätsjubiläum 1967 setzte er den Begriff „Tübinger Schule“ in Anführungszeichen7
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Max SECKLER, Art. Tübinger Schule (TSch.) I. Katholische TSch., in: Lexikon für Theologie und Kirche³, Bd. 10, 2001, Sp. 287–290; hier 289: „Die Dauer u. Fortdauer der Kath. TSch. [...] läßt sich empirisch unabweisbar je u. je an dem Bewußtsein der Zugehörigkeit u. des Sich-verpflichtet-Wissens der dafür in Frage Kommenden ablesen. In diesem Sinn ist der Identitätsstrom der Kath. TSch. nie abgerissen u. hat, begünstigt durch den Einsatz Stephan Löschs, K. Adams u. bes. Geiselmanns, auch im 20. Jh. bedeutende Repräsentanten hervorgebracht.“ Rudolf REINHARDT, 150 Jahre Katholisch-theologische Fakultät, in: Tübinger Blätter 54 (1967), 37–40 (ursprünglich für einen anderen Ort verfasst), hier 37: „Die Geschlossenheit und Einheitlichkeit dieser ,Tübinger Schule‘ darf keineswegs überbetont werden. Als Grundlinien können festgehalten werden: Kritisches Prüfen hergebrachter Lehrsysteme und positive Auseinandersetzung mit der evangelischen Theologie und der zeitgenössischen Philosophie. Dadurch gingen die Vertreter der systematischen Fächer innerhalb der Katholischen Theologie oft eigene Wege.“ Rudolf REINHARDT, Bemerkungen zum geschichtlichen Verhältnis von Kirche und Staat, in: Theologie im Wandel. Festschrift zum 150jährigen Bestehen der Katholisch-Theologischen
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und problematisierte ihn im nächsten Jahr erneut.8 Reinhardt, der seit 1970 als Nachfolger seines Lehrers Karl August Fink den Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte innehatte, war keineswegs ein Hyperkritiker oder gar ein Bilderstürmer. Kirchlich-theologisch eher konservativ, war er zugleich äußerst nüchtern, gewissenhaft und in seiner Bemühung um vorurteilslose Wahrhaftigkeit nach dem Vorbild Finks und Franz Xaver Funks durch die historische Kritik geprägt. In den folgenden Jahren müssen ihm bei näherer Beschäftigung mit der Geschichte seiner Fakultät immer stärkere Zweifel an der Berechtigung des Schulnamens gekommen sein. Zur 500-Jahrfeier der Universität Tübingen 1977 brachte er einen Aufsatzband mit dem bezeichnenden Titel „Tübinger Theologen und ihre Theologie“ heraus. Darin formulierte er als Ergebnis eines Überblicks über die Geschichte der Fakultät im ersten Jahrhundert ihres Bestehens Fragen, von denen er meinte, sie „müßten nahelegen, endlich auf den Begriff der ,Schule‘ zu verzichten“.9 Das war sehr zurückhaltend formuliert, aber sachlich eindeutig. Von Reinhardt angeregt ging Abraham Peter Kustermann, ein Schüler Max Secklers, der Geschichte des Begriffs „Tübinger Schule“ oder „Katholische Tübinger Schule“ gründlich nach und kam dabei ebenfalls zu Zweifeln am Sinn des Schulbegriffs, die sich ihm in weiteren Arbeiten erhärteten.10 Ich selbst bin durch meine Beschäftigung mit Ferdinand Christian Baur und seinen Schülern, der später sogenannten „Neuen“ oder „Jüngeren Tübinger Schule“ an der Evangelisch-theologischen Fakultät, auf die Fragen des für die Tübinger Theologen beider Konfessionen gebrauchten Schulbegriffs gestoßen. Dabei ist mir wie Reinhardt und Kustermann die Problematik der Rede von einer „Katholischen Tübinger Schule“ aufgegangen, deren Existenz und Bedeutung gleichzeitig von Max Seckler immer stärker betont wurden. Rudolf Reinhardt ließ sich 1994 mit 66 Jahren emeritieren, um seine volle Kraft den Arbeiten zur Fakultätsgeschichte zuwenden zu können. Es war nicht nur eine menschliche Tragödie, sonFakultät an der Universität Tübingen 1817–1967 (Tübinger Theologische Reihe 1), MünchenFreiburg i. Br. 1967, 155–178, hier 155f. 8 Rudolf REINHARDT, Im Zeichen der Tübinger Schule, in: Attempto 25/26 (1968), 40–57, hier 51: „Die Fakultät wurde auch als ,Katholische Tübinger Schule‘ bekannt. Es wäre interessant zu wissen, wer diesen Begriff eingeführt hat. Wenn wir die großen und auch die kleinen Theologen dieser Schule betrachten, wird deutlich, wie schwer sie auf einen Nenner gebracht werden können.“ 9 Rudolf REINHARDT, Die katholisch-theologische Fakultät Tübingen im ersten Jahrhundert ihres Bestehens. Faktoren und Phasen der Entwicklung, in: DERS. (Hg.), Tübinger Theologen und ihre Theologie. Quellen und Forschungen zur Geschichte der Katholisch-Theologischen Fakultät Tübingen (Contubernium 16), Tübingen 1977, 1–48, hier 42. Der Aufsatz ist die erweiterte und verbesserte Fassung des Beitrags: Rudolf REINHARDT, Die katholischtheologische Fakultät Tübingen im ersten Jahrhundert ihres Bestehens. Faktoren und Phasen ihrer Entwicklung, in: Georg SCHWAIGER (Hg.), Kirche und Theologie im 19. Jahrhundert. Referate und Berichte des Arbeitskreises Katholische Theologie (Studien zur Theologie- und Geistesgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts 11), Göttingen 1975, 55–87. 10 Abraham Peter KUSTERMANN, „Katholische Tübinger Schule“. Beobachtungen zur Frühzeit eines theologiegeschichtlichen Begriffs, in: Catholica (Münster) 36 (1982), 65–82; ferner besonders DERS., Die erste Generation der „Katholischen Tübinger Schule“ zwischen Revolution und Restauration, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 12 (1993), 11–34.
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dern auch ein schmerzlicher Verlust für die Wissenschaft, dass dieser große Gelehrte bald nach seiner Emeritierung, an Weihnachten 1996, durch eine schwere Erkrankung aus seinem Schaffen herausgerissen wurde und bis zu seinem Tode 2007 nicht mehr wissenschaftlich arbeiten konnte.11 Dadurch fehlte von nun an seine wichtige Stimme im Kreise der Erforscher der Fakultätsgeschichte. Unter katholischen Theologen ging die Deutungshoheit über die „Tübinger Schule“ ganz auf Max Seckler über, der sich jetzt immer schärfer gegen jeden Zweifel an der Existenz einer „Katholischen Tübinger Schule“ wandte. Nachdem schon 1988 der Münchener evangelische Systematiker Friedrich Wilhelm Graf im interkonfessionell angelegten „Wörterbuch des Christentums“ eine kurze, problematische Bemerkung über die Schule gemacht hatte,12 habe ich mich nach meinen Aufsatz von 1994 über „Die theologischen Tübinger Schulen“13 noch zweimal an prominenter Stelle lexikalisch darüber geäußert: 2002 in der „Theologischen Realenzyklopädie“14 und 2005 kürzer in der Neuauflage von „Religion in Geschichte und Gegenwart“15. Mit meinem Aufsatz von 1994 und dem Artikel in der Theologischen Realenzyklopädie scheine ich in Max Secklers Augen zum Hauptfeind der „Katholischen Tübinger Schule“ geworden zu sein. Zu einem Band mit den Vorträgen eines Johann Sebastian Drey gewidmeten Symposiums der Tübinger Katholischtheologischen Fakultät steuerte Seckler einen Aufsatz bei, in dessen Titel er eine missverständliche Formulierung von mir16 aufgriff: „Die Katholische Tübinger Schule – die ,jüngste‘ der Tübinger theologischen Schulen? Klärungen und Richtigstellungen zu ihren Anfängen und ihrer Begriffsgeschichte.“17. Als Ergebnis
11 Vgl. Wolfgang ZIMMERMANN, Rudolf Reinhardt (28. Januar 1928 – 19. Juni 2007), in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 26 (2007), 401f.; Andreas HOLZEM, Nachruf auf Professor Dr. Rudolf Reinhardt (20.1.1928–19.6.2007), in: Theologische Quartalschrift 188 (2008), 161f. 12 Friedrich Wilhelm GRAF, Art. Tübinger Schulen A. Evangelische Schulen, in: Wörterbuch des Christentums, Gütersloh 1988, 1286–1287, hier 1286a. Der Tübinger Kirchenhistoriker Joachim Köhler, ein Schüler Reinhardts, verfasste den Teil „B. Katholische Schule“, ebd., 1287–1288, und setzte kritische Akzente, ohne jedoch Reinhardts Forderung nach Verzicht auf den Schulbegriff zu unterstützen. 13 Ulrich KÖPF, Die theologischen Tübinger Schulen, in: DERS. (Hg.), Historisch-kritische Geschichtsbetrachtung. Ferdinand Christian Baur und seine Schüler. 8. Blaubeurer Symposion (Contubernium 40), Sigmaringen 1994, 9–51, hier 16–20.30.46. 14 Ulrich KÖPF, Art. Tübinger Schulen, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 34, 2002, 165– 171, hier 170f. 15 Ulrich KÖPF, Art. Tübingen I. Universität, in: Religion in Geschichte und Gegenwart4, Bd. 8, 2005, Sp. 646–649, hier 648. 16 KÖPF, Die theologischen Tübinger Schulen (Anm. 13), 16: „Wir wenden uns zunächst dem jüngsten Begriff zu, dem einer katholischen Tübinger Schule.“ 17 Max SECKLER, Die Katholische Tübinger Schule – die „jüngste“ der Tübinger theologischen Schulen? Klärungen und Richtigstellungen zu ihren Anfängen und ihrer Begriffsgeschichte, in: Michael KESSLER - Ottmar FUCHS (Hg.), Theologie als Instanz der Moderne. Beiträge und Studien zu Johann Sebastian Drey und zur Katholischen Tübinger Schule (Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie 22), Tübingen 2005, 217–244.
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seiner Auseinandersetzungen mit Reinhardt, Kustermann und Köhler, vor allem aber mit Graf und Köpf, hält er fest: „Die neuerdings in Umlauf gebrachten Behauptungen zur Genealogie der KTS und zur Begriffsgeschichte ihres Namens, über die eingangs berichtet wurde, sind in allen wesentlichen Punkten historisch und sachlich unhaltbar. Sie beruhen teils auf ungenügender Kenntnis der Quellen, teils auf irrigen Annahmen und Fehlinterpretationen, vermischt mit abenteuerlichen Unterstellungen. Sie sind in hohem Maße desinformativ und haben weithin den Charakter eines tendenzgesteuerten Phantasieproduktes, das einer 18 Überprüfung anhand der historischen Fakten nicht standhält.“
Seckler spricht wiederholt von „Klitterungen“, ja von „schlechterdings abenteuerlichen Klitterungen“.19 Die beiden Herausgeber des Sammelbandes, darunter der Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät, betonen in ihrem Vorwort, in jedem der Beiträge sei „nicht nur von Drey, sondern auch von der von ihm begründeten Tübinger Schule, ihrem Profil und ihrer Eigenart die Rede“, und fahren fort: „Mitunter wird freilich auch kolportiert, dass es sich dabei womöglich um einen problematischen Begriff handle. Um Intentionalität, Herkunft und Reichweite so gearteter Mutmaßungen aufzuklären und ihre Weiterverbreitung durch gesicherte Forschungsdaten zu unterbinden, erschien es den Herausgebern angezeigt, eine nicht beim Symposium selbst vorgetragene Untersuchung zur Begriffsgeschichte der Katholischen Tübinger 20 Schule aus der Feder Max Secklers zusätzlich in den Band aufzunehmen.“
Man muss sich diese Formulierungen, besonders „kolportiert“ und „unterbinden“, auf der Zunge zergehen lassen, um wahrzunehmen, mit welchen Waffen hier gegen argumentativ vorgetragene wissenschaftliche Äußerungen – sogar aus der eigenen Fakultät – gekämpft wird. Nun könnte man sagen, es handle sich bloß um einen Streit um Worte, vielleicht auch um die Empfindlichkeiten von Kollegen – um einen Streit, der ohne sachliches Interesse sei und bei dieser Tagung nichts zu suchen habe. Empfindlichkeit spielt gewiss eine Rolle;21 doch der Meinung, bei der Frage nach dem 18 Ebd., 241. 19 Ebd., 226. 20 Michael KESSLER - Ottmar FUCHS (Hg.), Theologie als Instanz der Moderne (vgl. Anm. 17), 11. 21 Max Secklers Empfindlichkeit gegen jede Kritik am Begriff einer „Katholischen Tübinger Schule“ ist nicht zuletzt daraus verständlich, dass er mit dieser Kritik die im 19. Jahrhundert aufgekommene Behauptung assoziiert, die Tübinger katholische Theologie sei von der protestantischen Theologie beeinflusst oder gar abhängig, insbesondere von Schleiermacher. Vgl. zu diesem Thema besonders Secklers „Bandeinleitung“, „Drittes Kapitel: Die Kurze Einleitung im Hinblick auf Schleiermacher und Schelling“, in: Johann Sebastian DREY, Kurze Einleitung in das Studium der Theologie mit Rücksicht auf den wissenschaftlichen Standpunct und das katholische System (Tübingen 1819), hg. und eingeleitet von Max SECKLER, editorisch bearbeitet von Winfried WERNER (Johann Sebastian Drey, Nachgelassene Schriften, hg. von Max SECKLER, Bd. 3), Tübingen 2007, 65*–121*, besonders 70*–106*: „II. Das Problem der Schleiermacher-Connection Dreys“. In seiner Auseinandersetzung mit den Kritikern des Begriffs „Katholische Tübinger Schule“ spricht Seckler von „Überlegenheitsbewusstsein (oder Überlegenheitsdünkel?)“ (Die Katholische Tübinger Schule, 221), wofür er sich freilich
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Namen der Schule handle es sich bloß um Worte, muss ich widersprechen; denn mit diesen Worten hängen immer auch verschiedene inhaltlich bedeutsame Aspekte zusammen. Deshalb möchte ich mich im Folgenden vor allem dem Sinn und der Geschichte des Schulnamens zuwenden und dabei Ergebnisse der so kontrovers verlaufenen Diskussion der letzten Jahrzehnte aufnehmen. Leider kann man heute nicht mehr über die „Katholische Tübinger Schule“ sprechen, ohne diese Kontroverse immer zu berücksichtigen.
II Zuerst werfen wir einen Blick auf die Katholisch-theologische Fakultät, die im 19. (und ohne Zweifel auch im 20.) Jahrhundert eine Reihe zu Recht berühmter Namen aufzuweisen hat. In meinem allzu kurzen Artikel für die Neuauflage von „Religion in Geschichte und Gegenwart“ schreibe ich, nachdem ich aus der Evangelisch-theologischen Fakultät für das 19. Jahrhundert nur Ferdinand Christian Baur und seinen Nachfolger Carl Weizsäcker namentlich aufgeführt habe: „Größer war die Zahl bedeutender kath[olisch]-theol[ogischer] Prof[essoren]“, und nenne dann nicht weniger als sieben Namen.22 In der Tat bin ich der Meinung, dass sich zumindest mit Männern wie Johann Sebastian Drey, Johann Baptist Hirscher, Johann Adam Möhler, Karl Joseph Hefele und Johannes Evangelist Kuhn nur die beiden genannten evangelischen Kollegen messen konnten. In den längerfristigen Auswirkungen durch seine konsequent historische, d.h. vorbehaltslos historisch-kritische Geschichtsbetrachtung und seinen religionsgeschichtlichen Ansatz dürfte allerdings Baur alle anderen Tübinger Theologen beider Fakultäten übertroffen haben.23 Aber er konnte keinen seiner Schüler dauerhaft in ein Tübinger Lehramt bringen, und auch sein Nachfolger Weizsäcker schwenkte erst später von der Gegnerschaft auf Baurs Linie ein.24 Im Übrigen herrschte an der Evangehöchstens auf Grafs Vermutung berufen könnte: „Der seit 1862 nachweisbare Begriff [der „Katholischen Tübinger Schule“, U.K.] dürfte nach Analogie der Bezeichnung von Baurs Schule geprägt worden sein, um Selbständigkeit und akadem. Ebenbürtigkeit der an der 1818 [! U.K.] gegründeten Tübinger kath.-theol. Fakultät betriebenen Theologie zu demonstrieren.“ (Art. Tübinger Schulen A. Evangelische Schulen, 1286a). Von dieser Vermutung habe ich mich schon 1994 in meinem ersten einschlägigen Beitrag distanziert (Die Tübinger theologischen Schulen, 16, Anm. 33), wenn auch wohl nicht mit hinreichender Deutlichkeit, wie Secklers Darstellung meiner Position zeigt: „Köpf ist zwar vorsichtig genug, um sich der superben Analogiethese Grafs nicht direkt anzuschließen; er spricht statt dessen von einer ‚Parallelität der Schulenbildung in beiden Fakultäten‘, die noch nicht genügend erforscht sei. Doch in ihrem kryptischen Tenor ist seine Darstellung der Verhältnisse von dem besagten Prioritäts- und Superioritätsbewusstsein geradezu getränkt, was wegen dieser Unterschwelligkeit umso suggestiver wirkt.“ (Die Katholische Tübinger Schule, 222). 22 Ulrich KÖPF, Art. Tübingen I. Universität (Anm. 15), Sp. 648. 23 Vgl. Ulrich KÖPF, Ferdinand Christian Baur als Begründer einer konsequent historischen Theologie, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 89 (1992), 440–461. 24 Vgl. Ulrich KÖPF, Carl Weizsäcker als Theologe, in: Norbert HAAG u.a. (Hg.), Tradition und Fortschritt. Württembergische Kirchengeschichte im Wandel. Festschrift für Hermann Ehmer
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lisch-theologischen Fakultät neben Baur und erst recht wieder nach seinem Tode der alte Tübinger Biblizismus, was nicht zuletzt mit der starken Stellung des Pietismus in Württemberg zusammenhing. Dagegen hatte die Katholisch-theologische Fakultät eine ungleich größere Zahl höchst origineller und auch heute noch lesenswerter Denker – wenn ich nur noch einmal Drey, Hirscher, Möhler und Kuhn hervorheben darf. Bezeichnenderweise denkt man bei den großen katholischen Tübingern in erster Linie an systematische Theologen (denn auch Möhler hat eher spekulativ als historisch gedacht), sodann vielleicht noch an bedeutende Kirchenhistoriker wie Hefele und Franz Xaver Funk. Exegeten wollen einem zunächst nicht einfallen, was sicher auch mit ihrer Verdrängung aus dem Bewusstsein der eigenen Fakultät zusammenhängt. Einer der ersten fünf Ellwanger Professoren, der 1817 mit zwei seiner Kollegen nach Tübingen übersiedelte, und zugleich einer der Begründer der seit 1819 erscheinenden Theologischen Quartalschrift, der auf dem Titelblatt ihres ersten Heftes an erster Stelle, noch vor Drey, genannt wurde, war der Professor für Neues Testament Peter Alois Gratz. Er ging bereits Ende Mai 1819 nach Bonn und entschwand damit so sehr dem Bewusstsein seiner alten Fakultät, dass 1970 festgestellt werden musste: „In der Seminarbibliothek der Katholisch-theologischen Fakultät ist, abgesehen von seinen Aufsätzen, die in der ThQ erschienen sind, keine seiner Schriften zu finden. Im Autorenkatalog des KatholischTheologischen Seminars fehlt sein Name.“25 Ein weiteres Problem entsteht daraus, dass manches bedeutende Mitglied der Fakultät, das als Exeget angetreten war, sich bald auf einen anderen Lehrstuhl versetzen ließ oder hauptsächlich ein anderes Fach vertrat: so der Semitist und Alttestamentler Johann Georg Herbst, der wohl eher durch seine kirchengeschichtlichen Veröffentlichungen bekannt ist, Johann Evangelist Kuhn, zunächst Professor für neutestamentliche Exegese und zwei Jahre später auf dem Lehrstuhl für Dogmatik, Moriz Aberle, lange Zeit für Moraltheologie und Neues Testament, erst in seinen letzten Jahren ganz für das Neue Testament zuständig, Paul Schanz, zuerst Professor für neutestamentliche Exegese, nach sieben Jahren für Dogmatik und Apologetik, Paul Wilhelm Keppler, nach sechs Jahren als Neutestamentler auf die Professur für Moral- und Pastoraltheologie versetzt.26 Dadurch, dass man für die biblischen Fächer, vor allem für das Neue Testament, wiederholt Männer berief, deren Hauptinteressen eigentlich auf anderen Gebieten lagen, scheinen diese Fächer etwas zu kurz gekommen zu sein - faktisch und in ihrer Wahrnehmung sogar durch die eigene Fakultät. Auch die wichtigsten Vertreter (um nicht zu sagen: Propagandisten) des Konzepts einer „Katholischen Tübinger Schule“ waren und sind bis heute nicht Exegeten und Kirchenhistoriker, sondern Systematiker (Fundamentaltheologen und Dogmatiker): Paul Schanz nach seinem Fachwechsel, Karl Adam, Joseph Rupert Geiselzum 65. Geburtstag (Quellen und Forschungen zur württembergischen Kirchengeschichte 20), Epfendorf/ Neckar 2008, 269–287. 25 Josef RIEF, Peter Alois Gratz 1769–1849, in: Theologische Quartalschrift 150 (1970), 28–33, hier 28. 26 Nach Josef RIEF - Max SECKLER, Eine Liste der Tübinger, in: Theologische Quartalschrift 150 (1970), 177–186.
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mann, Walter Kasper und Max Seckler.27 Das bedingt wiederum ihre Sicht auf die ganze Geschichte der Fakultät und der „Schule“, in der die Systematiker klar dominieren. Es ist deshalb sehr zu begrüßen, dass auf dieser Tagung endlich einmal die weniger bekannten Exegeten zu ihrem Recht kommen sollen. Durch ihre Einbeziehung wird sich das Bild der Tübinger katholischen Theologie im 19. Jahrhundert wirklichkeitsgetreuer zeigen als in einseitig systematischer Sicht. Doch wie verhält es sich nun tatsächlich mit dem Konzept einer „Tübinger Schule“ an der Katholisch-theologischen Fakultät oder, kurz gesagt, einer „Katholischen Tübinger Schule“? Zunächst frage ich: Was ist eigentlich eine wissenschaftliche „Schule“? Zur Beantwortung dieser Frage stehen uns viele Beispiele aus der Geistesgeschichte zur Verfügung, wie die attischen Philosophenschulen vorchristlicher Zeit, die Kathedralschulen des hohen Mittelalters oder die seit etwa 1200 dominierenden Universitäten. In Übereinstimmung mit Max Seckler28 unterscheide ich drei Merkmale oder Sinnschichten des Schulbegriffs: 1. den institutionellen Rahmen: Das ist zunächst ein Lehrer-SchülerVerhältnis, wie in der platonischen Akademie oder im aristotelischen Peripatos, oder eine Tradierung von Lehren und geistigen Haltungen, die über den Tod des Schulgründers hinaus andauern und sich auf seine Autorität berufen kann, wie an der spätmittelalterlichen Artistenfakultät die mit Personen als Autoritäten verknüpfte Bildung der verschiedenen „Wege“: via Thomae, via Scoti, via Guilelmi. In der Theologie setzen sich solche Traditionszusammenhänge über bestimmte Orte hinaus besonders in den als Personenverbänden organisierten Orden fort und dauern oft bis in die Neuzeit an. Im Übrigen bilden in der Neuzeit die Universitäten mit ihren Fakultäten, aber auch kirchliche Hochschulen, wie die Jesuitenkollegien, den institutionellen Rahmen für die Entstehung von Schulen. Allerdings ist mit dem Bestand einer Fakultät noch keineswegs die Existenz einer Schule gegeben. So pflegt man beispielsweise weder die reformatorischen Theologen in Wittenberg noch die Gnesiolutheraner an der Universität Jena als „Schule“ zu bezeichnen. Andererseits kann eine Schule sich durch Wegberufungen ihrer Mitglieder wie durch allgemeinere Rezeptions- und Wirkungszusammenhänge über die Fakultät, an der sie entstanden ist, hinaus auf andere Orte erstrecken. Es gibt eine große Bandbreite an Erscheinungsformen der wissenschaftlichen Schule. 2. Die Bindungen an eine Institution bzw. an eine noch lebende oder verstorbene und zur Autorität erhobene Person sind immer mit dem sachlichen Aspekt einer inhaltlichen Richtungsbildung verbunden: in der Alten Akademie etwa mit der Geltung der platonischen Ontologie und Axiologie, in der spätmittelalterlichen Artistenfakultät mit den unterschiedlichen Positionen in der Universalienfrage, in der Theologischen Fakultät mit der Betonung gewisser dogmatischer oder moral-
27 Nur der Neutestamentler Stephan Lösch hat sich auch mit der Fakultätsgeschichte befasst, aber vor allem mit der Geschichte der Theologischen Quartalschrift und mit Möhler, weniger mit der „Katholischen Tübinger Schule“. 28 Vgl. z.B. seinen Art. Tübinger Schule (TSch.), I. Katholische TSch. (Anm. 5), Sp. 288.
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theologischer Positionen, in der Schule von Coimbra um 1600 mit einer bestimmten Weise der Kommentierung aristotelischer Schriften usw. 3. Damit man von einer Schule reden kann, ist schließlich auch eine gewisse Qualität ihrer Arbeit nötig, die für ihre Ausstrahlung und Wirkung bürgt. Umgekehrt darf man aus der internen und noch mehr aus der externen Wahrnehmung als Schule wohl darauf schließen, dass hier ein gewisses Niveau und eine entsprechende Anziehungskraft anerkannt werden – gleichgültig, wie man die inhaltliche Ausrichtung beurteilen mag. Von einer „Schule“ sollte man in der Forschung allerdings nur dort reden, wo auch ein entsprechendes Selbstverständnis bestanden hat: das Bewusstsein einer engen inneren Zugehörigkeit, einer personalen oder überpersönlichen, an inhaltliche Positionen geknüpfte Verbundenheit, kurz ein gewisses Schulbewusstsein, das durch die Außenwahrnehmung durchaus unterstützt werden kann und sich bereits in den Quellen in einem Schulbegriff finden sollte. Es ist deshalb aus meiner Sicht problematisch, allein im Rückblick gewisse gleichgerichtete Bestrebungen einiger Theologen festzustellen und ohne Anhalt an ihren eigenen Äußerungen oder an der zeitgenössischen Redeweise die Existenz einer Schule zu postulieren. Daher kommt hier (wie auf vielen anderen Gebieten) der begriffsgeschichtlichen Arbeit eine grundlegende Rolle zu. Im Blick auf die „Katholische Tübinger Schule“ wurde sie 1982 von Abraham Kustermann begründet,29 führte freilich – um mit Max Seckler zu sprechen – zu „desaströsen Resultaten“,30 die der Lehrer jedoch, wie wir noch sehen werden, keineswegs grundlegend korrigiert, sondern durch zwei Quellenfunde ergänzt und bestätigt hat.
III Wenn ich mich unter den angeführten allgemeinen Gesichtspunkten wieder der Katholisch-theologischen Fakultät zuwende, so kann ich es nicht, ohne auch auf die Lage der Theologie in Tübingen im ganzen zu blicken, d.h. nicht ohne Einbeziehung der Schwesterfakultät, die ja nach 1534 im Zuge der Reformation des Herzogtums Württemberg und seiner Landesuniversität einen evangelischen, genauer: lutherischen Charakter angenommen hatte.31 Spätestens in den zwanziger 29 Abraham Peter KUSTERMANN, „Katholische Tübinger Schule“. Beobachtungen zur Frühzeit eines theologiegeschichtlichen Begriffs, in: Catholica (Münster) 36 (1982), 65–82. Diese Arbeit benutze ich im Folgenden dankbar, aber nicht ohne ihre Ergebnisse jeweils an den Quellen zu überprüfen. 30 Max SECKLER, Die Katholische Tübinger Schule (Anm. 17), 226. 31 Vgl. Ulrich KÖPF, Die Verfassung der Universität Tübingen zwischen Reformation und Dreißigjährigem Krieg, in: DERS. - Sönke LORENZ - Dieter R. BAUER (Hg.), Die Universität Tübingen zwischen Reformation und Dreißigjährigem Krieg (Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte 14), Ostfildern 2010, 23–39; DERS., Die Unterschriften unter das Konkordienbuch an der Universität Tübingen (1582–1781). Erster Teil: Historische Voraussetzungen, ebd., 41– 50; DERS., Die Tübinger Theologische Fakultät zwischen Reformation und Dreißigjährigem Krieg, ebd., 101–118.
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Jahren des 19. Jahrhunderts war die Formulierung „Tübinger Schule“ für die evangelische Theologie geläufig. In dieser Zeit und noch jahrzehntelang schillerte der Schulbegriff freilich zwischen der Bedeutung einer Institution – Universität oder Fakultät – und der in ihr betriebenen Wissenschaft. In Heinrich Ferdinand Eisenbachs 1822 erschienener „Beschreibung und Geschichte der Stadt und Universität Tübingen“ stehen beide Bedeutungen noch nebeneinander. Wenn Eisenbach von „feindlichen Erscheinungen“ berichtet, gegen welche die Philosophen Georg Bernhard Bilfinger und Israel Gottlob Canz „auf der Tübinger Schule in den Kampf tretten mußten“,32 so bezeichnet „Tübinger Schule“ eindeutig die Universität Tübingen, und wenn er feststellt, der 1777 bis 1797 in Tübingen lehrende Gottlob Christian Storr sei als Exeget „nach der holländischen Schule gebildet“,33 so meint er damit die in Holland betriebene Art der Exegese, also eine sachliche Ausrichtung. Man kann in diesem Werk aber auch noch den Übergang der Bedeutung von der Institution zu einer in ihr dominierenden Richtung erkennen, wenn „die Tübinger theologische Schule“ oder „die hiesige Schule“ im Sinne der (Evangelisch-)Theologischen Fakultät genannt wird, in der „zulezt die Storrsche Schule eine neue Bahn brach“, d.h. die von Storr begründete Richtung innerhalb der Fakultät, der mehrere Schüler Storrs als Professoren angehörten.34 Hier handelt es sich also um die durch persönliche Beziehungen wie durch gemeinsame Überzeugungen zusammengehaltene Gruppe eines Lehrers und seiner Schüler, die auch auswärts wahrgenommen wurde. 1829 schrieb Friedrich Schleiermacher im Ersten Sendschreiben über seine Glaubenslehre an Lücke: „Ein anderer würdiger Mann aber aus der Tübinger Schule will ein vermeintliches Zurücktreten des historischen Christus in meiner Lehre aus etwas folgern, was ich von Christus als λόγος Gottes [...] soll gelehrt haben.“35 Gemeint ist Christoph Benjamin Klaiber, der seit 1823 für einige Jahre Extraordinarius an der Evangelisch-theologischen Fakultät war und 1827 einen einschlägigen Aufsatz veröffentlichte. Könnte man hier vielleicht „Tübinger Schule“ noch als Evangelischtheologische Fakultät verstehen, so zeigen die weiteren Aussagen über „diese Schule“,36 dass doch die Richtung gemeint ist. Ihr möchte Schleiermacher auch Ferdinand Christian Baur zurechnen, der damals seit drei Jahren in Tübingen lehrte: „Vielleicht aber ist dieser Theologe desselben Weges gegangen mit Herrn Prof. Baur [...].“37 Wie alle württembergischen Theologen seiner Generation war Baur in der Tat durch die „Storrsche Schule“ gegangen. Inzwischen hatte er sich aber völlig von ihr gelöst und schrieb nach der Lektüre des „Sendschreibens“ an einen
32 Heinrich Ferdinand EISENBACH, Beschreibung und Geschichte der Stadt und Universität Tübingen, Tübingen 1822, 171. 33 Ebd., 176. 34 Ebd., 161f., dazu 180. 35 Friedrich Daniel Ernst SCHLEIERMACHER, Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, hg. von Hans-Friedrich TRAULSEN unter Mitwirkung von Martin OHST (Kritische Gesamtausgabe I, 10), Berlin - New York 1990, 314, 4–8. 36 Ebd., 314, 21.29. 37 Ebd., 314, 11f.
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Freund: „Im neuesten Heft der Ullmannschen Zeitschrift38 ist Schleiermacher mit den Tübingern ziemlich unsäuberlich verfahren. Mich scheint er für den getreuesten Jünger der Tübinger Schule zu halten, worüber man in Tübingen selbst nicht ganz die gleiche Meinung hat.“39 Die Rede von einer „Tübinger Schule“ an der Evangelisch-theologischen Fakultät war damals also innerhalb wie außerhalb Tübingens völlig geläufig. Man verstand darunter die Schule Storrs. Bald wurde aber auch Baur selbst zum Haupt einer theologischen Schule, die wohl erstmals 1845 von außen als „Baursche Schule“, aber auch einfach als „Tübingische Schule“ bezeichnet und angegriffen wurde.40 Baurs Reaktion darauf war, dass er sich zunächst gegen „die zweifelhafte Ehre“ verwahrte, „Stifter und Meister einer neuen kritischen Schule“ genannt zu werden.41 In seiner Darstellung der Fakultätsgeschichte von 1849 sprach er aber bereits von der Storrschen Schule als von der „alten Tübinger Schule“,42 was die Existenz einer neuen Schule voraussetzte, und ließ sich in seinen letzten Jahren (er starb 1860) doch noch auf die Rede von seiner eigenen Schule als „Tübinger Schule“ ein.43 Sein Schüler David Friedrich Strauß konnte auf die Unterscheidung der evangelischen Tübinger Schulen 1851 bereits als auf einen abgeschlossenen Vorgang zurückblicken. Von der Berufung Baurs nach Tübingen (1826) an, sagt er, „schwand die alte, von Storr ausgegangene Tübinger Schule sichtlich dahin und ging später mit Steudel zu Grabe, während mit Baur und seinen Jüngern eine neue, wissenschaftlich ungleich bedeutendere Tübinger Schule erwuchs.“44 Spätestens seit 1850 sprach man in Frankreich von „la nouvelle école de Tubingue“,45 und noch bevor sich Baur in sein Schicksal ergeben hatte, war die Rede von der „neuen“ oder „jüngeren Tübinger Schule“ allgemein verbreitet. Auch inhaltlich ließen sich die beiden Schulen in ihrer Gegensätzlichkeit klar unterscheiden: Die ältere Schule war durch ihren biblischen Supranaturalismus gekennzeichnet; sie wollte rein biblisch argumentieren und nahm die Heilige Schrift im ganzen wie in einzelnen Teilen als die durch göttliche Autorität beglaubigte, in sich widerspruchsfreie und harmonische Offenbarung zur Grundlage aller weiteren Überlegungen, wobei das Wunder eine 38 Gemeint ist die Zeitschrift „Theologische Studien und Kritiken“, in deren 2. Band (2. Heft) 1829 das „Sendschreiben“ erschienen war. 39 An Ludwig Heyd, 5. Juli 1829, in: Ferdinand Christian BAUR, Briefe. Die frühen Briefe (1814–1835), hg. von Carl HESTER (Contubernium 38), Sigmaringen 1993, 78. 27–30. 40 Nachweise bei Ulrich KÖPF, Die theologischen Tübinger Schulen (Anm. 13), 22. 41 Ferdinand Christian BAUR, Paulus, der Apostel Jesu Christi, 1845, S. VI. 42 Ferdinand Christian BAUR, Die evangelisch-theologische Fakultät vom Jahr 1812–1848, in: Karl KLÜPFEL, Geschichte und Beschreibung der Universität Tübingen, Tübingen 1849 (Neudruck Aalen 1977), 389–428, hier 422. 43 Als ein auswärtiger Kritiker (Gerhard Uhlhorn) behauptete, die „Tübinger Schule“, worunter er Baurs Schule verstand, sei im Zerfallen begriffen, antwortete Baur mit der Schrift: Die Tübinger Schule und ihre Stellung zur Gegenwart, Tübingen 1859, ²1860. 44 David Friedrich STRAUSS, Christian Märklin. Ein Lebens- und Charakterbild aus der Gegenwart, Mannheim 1851, 37. 45 Edmond SCHERER, Rezension von Adolf Hilgenfeld, Kritische Untersuchungen über die Evangelien Justins, der clementinischen Homilien und Marcions, Halle 1850, in: Revue de théologie et de philosophie chrétienne 1 (Juillet-Décembre 1850), 253–254, hier 253.
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zentrale Rolle spielte. Die jüngere Schule dagegen beruhte auf der konsequenten Anwendung der von Baur begründeten historischen Kritik an der biblischen und kirchlichen Überlieferung, wobei sie das Wunder als Erklärungsgrund kategorisch ausschloss. Diese Abschweifung zur Evangelisch-theologischen Fakultät scheint mir für das Verständnis der Rede von einer „Tübinger Schule“ an der Katholischtheologischen Fakultät unentbehrlich. Die Schulbegriffe haben sich offenbar in einer gewissen zeitlichen Parallelität zueinander entwickelt, und es wäre wichtig zu wissen, ob dabei Einflüsse zwischen beiden Fakultäten eine Rolle spielten. Es musste und muss ja verwirren, wenn die Zeitgenossen von einer „Tübinger Schule“ gleichermaßen an der Katholisch- wie an der Evangelisch-theologischen Fakultät ohne nähere Kennzeichnung der Konfession sprechen. Darf man daraus schließen, dass die beiden theologischen Fakultäten in Tübingen von außen und vielleicht sogar in Tübingen jeweils nur von der eigenen Konfession wahrgenommen wurden? Leider sind die Beziehungen beider Fakultäten zueinander – abgesehen von dem bekannten Streit zwischen Möhler und Baur – nie eingehend untersucht worden. Ich hatte Rudolf Reinhardt 1992 gebeten, zum Blaubeurer Symposion über Baur und seine Schüler aus seiner reichen Kenntnis einen Beitrag über das Verhältnis der beiden Fakultäten beizusteuern; aber er beschränkte sich auf Möhler und hat seinen Vortrag nicht für den Druck fertiggestellt. So weist die Erforschung der Geschichte beider Fakultäten im 19. Jahrhundert beträchtliche Desiderate auf, und ich bin gespannt darauf, ob die Referate dieser Tagung über einzelne Theologen etwas zur Erhellung des Verhältnisses zwischen den Fakultäten beitragen, wie das Programm anzudeuten scheint, wenn es vom „Anschluss an die Debatten im protestantischen Bereich der neutestamentlichen Exegese“ spricht. Auch das, was ich im Folgenden über die Katholische Tübinger Schule berichte, muss notwendig lückenhaft sein. Ich möchte heute aber nicht mehr so kategorisch wie in meinem Aufsatz von 1994 von ihrem Begriff als von dem „jüngsten“ sprechen.46 Diese Bezeichnung ist erläuterungsbedürftig, und zudem können neue Textfunde unsere Vorstellungen von der Geschichte des Begriffs jederzeit verändern. 1844 schrieb ein anonymer evangelischer Korrespondent der Berliner Allgemeinen Kirchenzeitung aus Tübingen: „Der wahre Zustand des Katholizismus von heute wird täglich klarer. Vor zwei und drei Jahrzehnten konnte man noch von einer Tübinger Schule sprechen, von einer Schule, welche, von Männern wie Herbst, Hirscher, Feilmoser, Drey, vertreten, durch den Ernst ihrer Forschungen und durch das gehaltene Urtheil in den wichtigsten Fragen der Theo47 logie und des kirchl. Lebens der protest. Wissenschaft sich würdig an die Seite stellte.“
Wenn man diese Aussage ernst nehmen kann, dann datiert der Verfasser die Rede von einer „Tübinger Schule“ im Blick auf die Tübinger katholischen Theologen 46 Ulrich KÖPF, Die theologischen Tübinger Schulen (Anm. 13), 16. 47 Berliner Allgemeine Kirchenzeitung 6 (1844), Sp. 203f.
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bis in die Anfänge der Tübinger Katholisch-theologischen Fakultät im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zurück. Zur Vorsicht mahnt freilich im Fortgang des Artikels das Urteil über den Verfall dieser Schule unter dem Einfluss des Ultramontanismus.48 Die hier vorgetragene Sicht ist seit dem Ausgang der dreißiger Jahre belegt, und man muss fragen, ob der Verfasser nicht die damals aufgekommene Redeweise in die Vergangenheit zurückprojiziert. In Eisenbachs Universitätsgeschichte von 1822 sucht man vergeblich einen Beleg für den Schulbegriff in Verbindung mit der Katholisch-theologischen Fakultät. Während Eisenbach ausführlich auf die evangelische „Tübinger theologische Schule“ eingeht, die zuletzt in die „Storrsche Schule“ einmündet, stellt er zwar die einzelnen katholischen Theologen vor, die bis 1822 lehrten, gebraucht für sie aber nicht den Schulbegriff.49 Das bisher früheste sichere Zeugnis für die Rede von einer „Tübinger Schule“ im katholischen Bereich hat Rudolf Reinhardt in einem Brief nachgewiesen, den der Kanonist Johann Christian Multer, einziger katholischer Theologe an der Universität Marburg, am 17. April 1831 einem ungenannten Kollegen schrieb: „Die Tübinger Schule liefert unstreitig die gebildetsten und vorzüglichsten Männer unter allen katholischen Lehranstalten Deutschlands.“50 Hier meint „Tübinger Schule“ ohne Zweifel so viel wie „Tübinger Katholisch-theologische Fakultät“. Am 21. September 1833 schrieb Multer an die Regierung von Nassau: Die königlich-württembergische Regierung „sah sich schon im Jahre 1817 genötigt, die erst vor wenigen Jahren angelegte katholischtheologische Schule [...] mit der evangelischen Landesuniversität als Fakultät zu vereinigen [...].“51 Hier ist mit „Schule“ die katholische Friedrichs-Universität Ellwangen gemeint. In der für 1831 bezeugten Formulierung „Tübinger Schule“ wendet der Verfasser offenbar den allgemein gängigen Begriff „Schule“ für Lehranstalt auf die Katholisch-theologische Fakultät an. Dieser Sprachgebrauch findet sich auch in den folgenden Jahren gelegentlich außerhalb Tübingens.52 Erst an der Wende zum vierten Jahrzehnt begegnen wir einer neuen Redeweise. Jetzt nahm 48 Ebd., Sp. 205: „Auch später, als Möhler, der bedeutendste Schüler jener Männer, durch seine Symbolik den Konfessionsstreit eröffnete, war die alte Haltung jener Schule noch nicht für verloren zu achten [...]. In den letzten 6 Jahren hat sich die Sachlage wesentlich geändert; die Selbstständigkeit verschwindet, von einer theol. Schule, die einen Charakter behauptete und auf die man in der Geschichte der Wissenschaft und Kirche hinweisen konnte, ist kaum mehr zu reden, der anschwellende Strom des Ultramontanismus reißt diejenigen, die man noch fern von seinen Ufern und auf festerem Boden gegründet glaubte, wie bereits gebrochene Trümmer um [...].“ 49 Heinrich Ferdinand EISENBACH, Beschreibung und Geschichte der Stadt und Universität Tübingen, Tübingen 1822, 357–366 über die einzelnen Mitglieder der Katholischtheologischen Fakultät. 456f. folgt unter der Überschrift „Verhältnisse der einzelnen Fakultäten“ eine Charakterisierung der Katholisch-theologischen Fakultät ebenfalls ohne den Schulbegriff. 50 Erstmals Rudolf REINHARDT, Im Zeichen der Tübinger Schule, in: Attempto 25/26 (1968), 40–57, hier 49; auch in: Rudolf REINHARDT, Die katholisch-theologische Fakultät Tübingen (Anm. 9), 13. 51 Ebd., 50. 52 Vgl. die Nachweise bei Abraham Peter KUSTERMANN, „Katholische Tübinger Schule“ (Anm. 10), 66f.
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man nämlich einen Richtungswandel in der Fakultät wahr, die Eisenbach 1822 als „ein herrliches Denkmal der Aufklärung unserer Zeit“ bezeichnet hatte.53 Der liberale katholische Theologe Benedikt Alois Pflanz, einst Studienkollege Möhlers und derzeit Pfarrer in Oberschwaben, begann in seiner Zeitschrift „Freimüthige Blätter über Theologie und Kirchenthum“ seit Ausgang der dreißiger Jahre polemisch von einer veränderten Richtung an der Tübinger Katholisch-theologischen Fakultät zu reden, vom Ultramontanismus einer „neuen Schule“.54 Für das Jahr 1841 hat Max Seckler eine zuvor nicht beachtete Quelle zum Schulbegriff nachgewiesen: ein Buch des evangelischen Theologen Heinrich Merz.55 Im Vorwort seiner Untersuchung über das katholische System der Sittenlehre unterscheidet Merz drei katholische „Schulen“, womit er eindeutig Richtungen meint:56 die „Tübinger Schule“, „wie sie in Feilmoser und Herbst, namentlich in den zwei hochwürdigen Männern v. Drey und v. Hirscher so glanzvoll dem ganzen katholischen Deutschland durch das Licht der Wissenschaft voranleuchtete“,57 die „Hermesianische Schule“58 und die „Münchner Schule, welche aus der Tübinger durch Möhler sich mit Gelehrsamkeit und Wissenschaftlichkeit rekrutirte“.59 Die „Tübinger Schule“, die sich nach Meinung des Verfassers „auf innigste und innerlichste Weise [...] an die moderne protestantische Theologie anschloß“, wird als etwas behandelt, das bereits in der Vergangenheit bestanden hat.60 Da das Buch auf die Bearbeitung einer Preisaufgabe der Evangelischtheologischen Fakultät von 1837 zurückgehe, meint Seckler, es müsse „schon bald nach der Mitte der 1830er Jahre entstanden sein“,61 ohne für diese Vermutung einen Grund zu nennen. Richtig ist aber, dass die Fakultät diese Preisaufgabe erstmals für das Studienjahr 1837–1838 stellte62 und dass sie, nachdem in diesem Jahr keine Beantwortung eingereicht worden war, ihre Frage für das Jahr 1838–
53 Heinrich Ferdinand EISENBACH, Beschreibung und Geschichte der Stadt und Universität Tübingen (Anm. 49), 456. 54 Vgl. die Nachweise bei Abraham Peter KUSTERMANN, „Katholische Tübinger Schule“ (Anm. 10), 68f. 55 Heinrich MERZ, Das System der christlichen Sittenlehre in seiner Gestaltung nach den Grundsätzen des Protestantismus im Gegensatze zum Katholicismus, Tübingen 1841. 56 Ebd., XVII: „die Tübinger Richtung“. 57 Ebd., XIV. 58 Ebd., XV. 59 Ebd., XVI. 60 Vgl. das Praeteritum „voranleuchtete“ (ebd., XIV). 61 Max SECKLER, Die Katholische Tübinger Schule (Anm. 17), 229. 62 Bekanntmachung der Ergebnisse der academischen Preisbewerbung vom Jahre 1836 bis 1837 und der neuen für das Jahr 1837 bis 1838 bestimmten Preisaufgaben, nebst Einladung zu der öffentlichen Austheilung der Königlichen Preise, Tübingen 1837, 16: „Preisaufgaben für das Jahr 1837–1838“. Die Evangelisch-theologische Facultät formuliert als „Wissenschaftliche Aufgabe“: „Welchen Einfluß hat der charakteristische Unterschied der evangelischprotestantischen Kirche von der römisch-katholischen auf die Gestaltung der evangelischprotestantischen Sittenlehre?“
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1839 wiederholte.63 Der Preis wurde Merz im Frühjahr 1839 verliehen, wobei die Fakultät bemerkte, sie hätte „nicht selten eine abgemessenere Ausdrucksweise gewünscht“.64 Merz kam dem Wunsch der Fakultät nach, wie er in der „Vorbemerkung“ sagt, und überarbeitete seine Darstellung, um ihr eine „abgemessenere Sprache“ zu geben.65 Da sich seine Bemerkungen über die „Tübinger Schule“ nur im „Einleitenden Vorwort“ finden, lässt sich nicht ausschließen, dass er gerade hier Änderungen vorgenommen hat. Der sichere Zeugniswert dieser Quelle, die in ihrer Erstfassung offenbar nicht vor dem Frühjahr 1839 eingereicht wurde, geht also nicht weit hinter ihr Erscheinungsjahr 1841 zurück. Im selben Jahr 1841 erschien in den „Hallischen Jahrbüchern für deutsche Wissenschaft und Kunst“, die seit Mitte des Jahres „Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst“ hießen, der anonyme Artikel eines Nichtkatholiken über „Die Universität Tübingen“ in Fortsetzungen. In seinen allgemeinen Ausführungen behauptet der Verfasser: „Der sonstige Begriff von Schule und Schüler existirt in Tübingen nicht, das αὐτòς ἔφα hat hier keinen Sinn. Weder Paulus, noch Hegel, noch Schelling hätten hier eine Schule gestiftet.“66 Grund sei das Fehlen der für eine Schulbildung nötigen Geselligkeit.67 Bei der Darstellung der Evangelisch-theologischen Fakultät, womit Ferdinand Christian Baur und Eduard Zeller gemeint sind, fehlt der Schulbegriff, der damals für Baur und seine Schüler ja noch gar nicht aufgekommen war. Dagegen weiß der Verfasser über die Katholisch-theologische Fakultät zu sagen: „Die alte ‚Tübinger Schule‘ ist zwar nicht mehr hier zu suchen, aber in Bezug auf Geist und Wissenschaft steht die jetzige Facultät wie ihre Vorgängerin dem übrigen Deutschland musterhaft gegenüber.“ Hier wie im Fortgang des Berichts, wo „der alte würdige v. Drey, das Haupt der alten Schule“ hervorgehoben wird, hat der Schulbegriff schon klar die Bedeutung von „Richtung“.68 Neben der alten erwartet man eine neue Schule; aber wo der Verfasser auf Hefele eingeht, schreibt er nur: „Wie die jüngern tübinger Theologen alle, verfolgt er die Möhlersche Richtung“.69 Die Rede von einer „neuen“, „jungen“, „modernen“ oder „modernen jugendlichen Schule“ wurde dann, wie Kustermann gezeigt hat, seit Herbst 1841 sogar zum Politikum: In der Sitzung des württembergischen Landtags am 15. März 1842 stritt man auch über diese Schule, der man Widerstand gegen die staatskirchlichen Verhältnisse bis hin zur Störung des Friedens vorwarf.70 63 Bekanntmachung der Ergebnisse der academischen Preisbewerbung vom Jahre 1837 bis 1838 und der neuen für das Jahr 1838 bis 1839 bestimmten Preisaufgaben, nebst Einladung zu der öffentlichen Austheilung der Königlichen Preise, Tübingen 1838, 3.16. 64 Bekanntmachung der Ergebnisse der academischen Preisbewerbung vom Jahre 1838 bis 1839 und der neuen für das Jahr 1839 bis 1840 bestimmten Preisaufgaben, nebst Einladung zu der öffentlichen Austheilung der Königlichen Preise, Tübingen 1839, 4. 65 Heinrich MERZ, Das System der christlichen Sittenlehre (Anm. 55), VI. 66 Hallische Jahrbücher 1841 No. 112, 445. 67 Ebd., 446. 68 Deutsche Jahrbücher 1841 No. 52, 205. 69 Ebd., 206. 70 Abraham Peter KUSTERMANN, „Katholische Tübinger Schule“ (Anm. 10), 71f.; doch bestätigt das Protokoll nach meinem Urteil nicht seine Behauptung, die Landtagsdebatte am 15. März
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1840 war Martin Joseph Mack, als Nachfolger Andreas Benedikt Feilmosers seit 1832 Extraordinarius, seit 1835 Ordinarius für Neues Testament, von seiner Professur auf ein Pfarramt versetzt worden, weil er der staatlichen Forderung nach kirchlicher Einsegnung sogenannter Mischehen widersprochen hatte. Vom Pfarramt aus veröffentlichte Mack 1842 eine sehr kritische Rezension des im Vorjahr erschienenen Buches von Merz.71 Auf diese Rezension hat ebenfalls erstmals Max Seckler aufmerksam gemacht; sie wird ihm geradezu zum Angelpunkt seiner Kritik an Kustermann, Graf und mir, und er schließt aus der Geläufigkeit, mit der Mack und Merz über eine „Tübinger Schule“ an der Katholisch-theologischen Fakultät reden, während sie eine solche evangelische Schule nicht erwähnen: „Es handelt sich somit um einen spätestens seit Mitte der 1830er Jahre eingeführten und in Tübingen gängigen Begriff sowohl der Wissenschafts- als auch der Umgangssprache. Beide halten es nicht einmal für nötig, dem Begriff der ,Tübinger Schule‘ das Adjektiv ,katholisch‘ beizufügen. Es gibt im Bewusstsein von Merz (und Mack) zu jener Zeit nur 72 sie in Tübingen, sie ist in ihren Augen schlicht und einfach ‚die‘ Tübinger Schule.“
Das Referat über Merz und Mack ist zutreffend; aber für die Zurückdatierung des Begriffs „als Qualitäts- und Richtungsbegriff“ auf die Zeit „spätestens seit Mitte der 1830er Jahre“ gibt es keinerlei Anhaltspunkt. Es ist aufschlussreich, zu beobachten, wie in Secklers Umgang mit den Texten von Merz und Mack die Datierung des in ihnen bezeugten Schulbegriffs immer weiter zurückwandert: von „schon bald nach der Mitte der 1830er Jahre“73 bis zu „spätestens seit Mitte der 1830er Jahre“.74 Dass „zu jener Zeit“, wie Seckler hinzufügt,75 der katholischen „Tübinger Schule“ nicht eine „protestantische Schule, etwa mit Baur als Vertreter oder Haupt“76 gegenübergestellt wurde, liegt daran, dass die Rede von Baurs Schule – wie ich gezeigt habe – erst Mitte der vierziger Jahre aufkam. Andererseits hatte die Storrsche Schule inzwischen so viel an Bedeutung verloren, dass man sie nicht mehr zu erwähnen brauchte. Seckler meint: „bereits bei Mack ist also der fakultäts- bzw. schulinterne Gebrauch des Namens [katholische] ‚Tübinger Schule‘ als Selbstbezeichnung und in positivem Sinn belegt“.77 Doch dieser Hinweis scheint mir nicht beweiskräftig; denn Mack wurde anscheinend erst durch Merz auf den Begriff gebracht, und sein wichtigstes Anliegen war es, einer Abhängigkeit der katholischen „Tübinger Schule“ von Schleiermacher und der „modernen protestantischen Schule“ oder „Schule protestantischer Theologen“ zu
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1842 sei „auf weite Strecken nichts anderes“ gewesen „als ein semantischer und sachlicher Streit um die ,neue Tübinger Schule‘“ (71). Vgl. Aktenmäßige Darstellung der Verhandlungen der Württembergischen Kammer der Abgeordneten über die Angelegenheiten der katholischen Kirche in Württemberg, auf dem Landtage von 1841–1842, Stuttgart 1842, 219–303. Theologische Quartalschrift 1842, 272–286. SECKLER, Die Katholische Tübinger Schule (Anm. 17), 231. Ebd., 229. Ebd., 231. Ebd., 231. Ebd., 233. Ebd., 229.
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widersprechen. Wenn Mack eingangs betont, Merz gebe „vorerst nur eine oft gehörte Redensart wieder, wenn er sagt, die ‚Tübinger Schule‘ habe sich zu ihrer Zeit ‚auf innigste und innerlichste Weise an die moderne protestantische Schule‘ angeschlossen“,78 so bezieht sich das auf den von Merz behaupteten Anschluss der Tübinger katholischen Theologen „an die moderne protestantische Theologie“. Wenig später sagt der Rezensent: „Das Programm der ‚Tübinger Schule‘ sodann, wie es die Theologische Quartalschrift durch die Abhandlung ‚vom Geist und Wesen des Katholicismus‘ in ihrem ersten Jahrgang veröffentlicht hat, hätte den Herrn Vf. vor dem Irrthum behüten können, als ob jene mit und nach Schleiermacher die katholische Theologie hätte neu beleben wollen.“79 An beiden Stellen, an denen Mack offenbar aus der Schrift von Merz den Begriff „Tübinger Schule“ aufgreift, setzt er ihn in doppelte Anführungszeichen – auch dies ein Zeichen dafür, dass er damals eben nicht eine geläufige Selbstbezeichnung war. Im Rest der Rezension sucht man den Schulbegriff vergeblich. Im gleichen Jahr 1841 griff der Kirchenhistoriker Karl Joseph Hefele als Abgeordneter in der Landtagsdebatte am 15. März die kritische Rede von der „modernen“ und „neuen Schule“ auf und apostrophierte sie als „diese sogenannte neue Schule“.80 Kurz zuvor hatte er auf ein kritisches Votum geantwortet, als „ein Mitglied der theologischen Schule“, d.h. als Mitglied der Fakultät, müsse er erklären, der Redner habe „schwerlich die gehörigen Notizen81 über die Lehren der katholisch-theologischen Fakultät auf der Universität“, um ein kompetentes Urteil zu fällen.82 Alle zitierten Äußerungen zeigen, dass die Formulierung „Tübinger Schule“ zu Beginn der vierziger Jahre gerade keine geläufige „Selbstbezeichnung“ an der Katholisch-theologischen Fakultät war, sondern von deren Mitgliedern noch als eine problematische Fremdbezeichnung empfunden wurde. Hier drängt sich unvermeidlich die auch von Max Seckler nicht gestellte Frage auf, weshalb denn bisher kein Mitglied der Katholisch-theologischen Fakultät von einer „Tübinger Schule“ gesprochen hat, weder ihr sogenannter „Gründer“ und ihr „Haupt“ Drey noch ihr zweites „Haupt“ Möhler noch ein anderer Kollege. Auch in den Jahren nach 1841 verzichteten die Tübinger katholischen Theologen erstaunlicherweise auf den Schulbegriff als Ausdruck ihres Selbstverständnisses, während er sich seit Mitte der vierziger Jahre hier tatsächlich für die Schule Ferdinand Christian Baurs durchsetzte, was wieder die schon erwähnte Rückwirkung auf die Bezeichnung der Storrschen Schule hatte. Neubelebt wurde der Begriff einer „Tübinger Schule“ an der Katholischtheologischen Fakultät erst 1862 und von außen: durch den damals als Professor der Philosophie in Dillingen, seit 1866 als Dogmatiker in München lehrenden Alois Schmid, der in seinem Werk „Wissenschaftliche Richtungen auf dem Gebiet des Katholicismus in neuester und gegenwärtiger Zeit“ sechs theologische Richtungen unterschied, unter die er auch die „katholische Tübinger Schule“ zähl78 79 80 81 82
Theologische Quartalschrift 1842, 273. Ebd., 274. Aktenmäßige Darstellung (Anm. 70), 272. D.h. Kenntnisse. Aktenmäßige Darstellung (Anm. 70), 271.
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te.83 Karl Werner, seit 1865 auf einer neutestamentlichen Professur in St. Pölten, später in Wien, hat vier Jahre nach Schmid in seiner „Geschichte der katholischen Theologie“84 den Begriff der „Tübinger Schule“ dauerhaft in die theologiegeschichtliche Literatur eingeführt. Nachdem er die „Tübinger Quartalschrift“, die „Gießener Jahrbücher“ und die „Freiburger Zeitschrift für Theologie“ kurz vorgestellt hat, schreibt er: „Der Verein der Männer, welche in diesen drei Organen die periodischen Kundgebungen ihrer wissenschaftlich-theologischen Bestrebungen niederlegten, konstituierte jenen theologischen Bildungskreis, der unter dem Namen der Tübinger Schule in der Geschichte der Theologie des katholischen Deutschlands immerfort ein ehrenvollstes Andenken behaupten wird, und seinen geistigen Einfluß weit über die Grenzen seiner enge85 ren Heimat, des oberrheinischen Kirchengebietes, ausgedehnt hat.“
Umso erstaunlicher ist es, dass auch jetzt noch keiner der Tübinger Professoren den Begriff aufgriff. Im Gegenteil: In einer Auseinandersetzung mit den „Historisch-politischen Blättern“ 1863/64 distanzierte sich Johannes Evangelist Kuhn ausdrücklich und wirkungsvoll von dem Schulnamen.86 Mehr als zwanzig Jahre hindurch war es in Tübingen still um ihn, während er außerhalb und im Ausland, vor allem in Frankreich, immer wieder benutzt wurde. Erst 1887 begegnet er im Nachruf ausgerechnet auf Kuhn87 und 1890 im Nachruf auf den Alttestamentler Felix Himpel.88 Im Jahre 1898 wurde der Schulname – in der Form „Die katholische Tübinger Schule“ – erstmals von einem Professor der Fakultät ausdrücklich zum Thema gemacht, und zwar anlässlich des achtzigjährigen Bestehens der Theologischen Quartalschrift. Das war Paul Schanz, seit 1883 für Dogmatik und Apo-
83 Alois SCHMID, Wissenschaftliche Richtungen auf dem Gebiet des Katholicismus in neuester und gegenwärtiger Zeit, München 1862, 43–62; hier 43: „In größerer oder kleinerer Entfernung von allen bisher geschilderten Lehrrichtungen haben sich diejenigen Männer gehalten, die man unter dem Namen der katholischen Tübinger Schule zusammenzufassen pflegt, obwohl sie keine streng geschlossene Schule bilden und sich in freier Selbstständigkeit bewegen“. 84 Karl WERNER, Geschichte der katholischen Theologie. Seit dem Trienter Konzil bis zur Gegenwart (Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Neuere Zeit 6), München 1866 (²1889). 85 Ebd., 460. 86 Vgl. die überzeugende Darstellung Abraham Peter KUSTERMANNs, „Katholische Tübinger Schule“ (Anm. 10), 78-80, mit der Zusammenfassung 80: „Kuhn verneinte 1863 nicht nur die Opportunität, sondern die Sachgemäßheit des Begriffs Katholische Tübinger Schule.“ 87 Paul SCHANZ, Zur Erinnerung an Johannes Evangelist von Kuhn, in: Theologische Quartalschrift 69 (1887), 531-598, hier besonders 531f.: Kuhn „hat mit einer Anzahl hervorragender deutscher Theologen, welche zum Teil seine Schüler waren, jene Richtung in der Theologie vertreten, welche man im Gegensatze zu der romanischen oder neuscholastischen Richtung die deutsche katholische Schule oder kurzweg auch die katholische Tübinger Schule zu nennen pflegte.“ 88 Paul Wilhelm KEPPLER, Zur Erinnerung an Felix von Himpel † am 17. Februar 1890, in: Theologische Quartalschrift 72 (1890), 531–559, hier 548: „ein Grundprinzip der sog. katholischen Tübinger Schule“.
Zur „Katholischen Tübinger Schule“
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logetik zuständig.89 Er begründete im Blick auf diese Zeitschrift, durch welche die Katholisch-theologische Fakultät „eine gewisse Gleichförmigkeit“ gewonnen habe, das Recht, „von einer ,katholischen Tübinger Schule‘ zu sprechen, ohne daß der Kreis derselben auf die Fakultät beschränkt wäre, denn unter diesem Namen wird gewöhnlich der Verein von Gelehrten, welche in Tübingen, Gießen und Freiburg für die Wiederbelebung der katholischen Theologie arbeiteten, verstanden.“90 Offenbar übernimmt hier der Tübinger die Außensicht Karl Werners vom geographischen Umfang der Schule in sein eigenes Bild. Neu sind seine Überlegungen zum Ausbildung der Schule. Ihre „Konformität und Konstanz“ sei „noch dadurch gefördert worden, daß die Fakultät“ – mit den beiden Ausnahmen der „Ausländer“ Feilmoser und Zukrigl – „die Gewohnheit“ befolge, „sich aus dem Klerus der eigenen Diözese zu rekrutieren. Die Folge hievon ist, daß die jüngeren Dozenten die Schüler der älteren Mitglieder sind, so daß eine Tradition erhalten bleibt.“91 Damit hat Schanz tatsächlich ein wesentliches Merkmal der Schulbildung erkannt, wenn er es auch auf eine pauschale Weise beschreibt, die aus der ganzen Fakultät eine Schule macht. Auf die inhaltliche Ausrichtung der Tübinger katholischen Theologie geht er ebenfalls ein, wobei er einen deutlichen Akzent setzt: „Der Charakter einer wissenschaftlichen Schule oder Richtung läßt sich am besten in der Systematik erkennen. Die systematische Theologie, vor allem die Dogmatik, gibt auch der theologischen Schule das Gepräge.“92 Schanz hat 1898 den Begriff der „Katholische Tübinger Schule“ erstmals in den Sprachgebrauch an der Tübinger Katholisch-theologischen Fakultät eingeführt und zugleich den Weg zu seinem Verständnis und seiner weiteren Verwendung gezeigt. Unter Konzentration auf die systematischen und unter konsequenter Übergehung der exegetisch-historischen Disziplinen wurde im 20. Jahrhundert das Konzept einer fortdauernden „Katholischen Tübinger Schule“ gepflegt und ins 19. Jahrhundert zurückprojiziert. Bereits diese entschieden selektive Sicht und Bewertung der Fächer macht es aber unmöglich, von einer weitgehenden Identität von Fakultät und „Schule“ auszugehen. Doch auch die Vertreter der systematischen Disziplinen passen nur sehr begrenzt in das Bild der fortdauernden Schule. Übergangen werden müssen in den Darstellungen regelmäßig so profilierte Fakultätsmitglieder wie der 1916 wegen angeblicher bibelkritischer Äußerungen entlassene Extraordinarius für Dogmatik und Apologetik Wilhelm Koch,93 der streng 89 Paul SCHANZ, Die katholische Tübinger Schule, in: Theologische Quartalschrift 80 (1898), 1– 49. 90 Ebd., 6. 91 Ebd., 6f. 92 Ebd., 15. Anschließend behandelt Schanz vor allem systematische Positionen der Tübinger, um zuletzt, ab S. 27 an eine Schrift des in Tübingen promovierten, inzwischen heftig umstrittenen Hermann Schell anknüpfend, nochmals auf die Haltung der Theologischen Quartalschrift in der innerkatholischen Diskussion wie in der Auseinandersetzung mit protestantischen Positionen einzugehen. 93 Darüber eingehend Max SECKLER, Theologie vor Gericht. Der Fall Koch – Ein Bericht (Contubernium 3), Tübingen 1972, der sehr klar die innere Gespaltenheit der Fakultät (besonders S. 47) und die Intrigen einzelner Fakultätsmitglieder (z.B. des Kirchenrechtlers Johann Baptist Sägmüller, S. 39 Anm. 5, oder des Philosophen Ludwig Baur, S. 50 Anm. 16) aufdeckt.
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am päpstlichen Lehramt und an Thomas von Aquin orientierte Moraltheologe Otto Schilling, der sein Fach von 1916 bis 1941 vertrat,94 und natürlich auch Hans Küng, zweifellos der bekannteste lebende katholische Tübinger Theologe, der noch im Jubiläumsheft der Theologischen Quartalschrift von 1970 als Herausgeber genannt ist, aber nach dem Entzug der Missio canonica 1980 seine Fakultät verlassen musste und mit seinem „Institut für ökumenische Theologie“ extra facultatem angesiedelt wurde. Der Hinweis auf diese drei Personen mag zeigen, wie gegensätzlich die systematischen Positionen innerhalb der Katholischtheologischen Fakultät auch im 20. Jahrhundert waren.
IV Blicken wir nun aber noch einmal auf das 19. Jahrhundert zurück. Der Ertrag der begriffsgeschichtlichen Untersuchung ist mager genug und gerade deshalb aussagekräftig. Keiner der berühmten Tübinger vor Schanz, weder Drey noch Hirscher, weder Möhler noch Kuhn, hat den Schulbegriff aufgegriffen. Der Begriff „Tübinger Schule“ scheint als Name für die Fakultät hier und da gebraucht worden zu sein, ohne zu ihrer Selbstbezeichnung zu werden und zu ihrem Selbstverständnis beizutragen. Aber gibt es nicht sachliche Gründe, lässt sich nicht eine Geschlossenheit und Kontinuität der Richtung beobachten, die uns heute veranlassen kann, von einer „Katholischen Tübinger Schule“ wenigstens im 19. Jahrhundert zu sprechen, zumal die Fakultät, wie Max Seckler formuliert, als „der institutionelle Träger u[nd] Nukleus der Kath[olischen] T[übinger] Sch[ule]“95 und die von ihr 1819 gegründete „Theologische Quartalschrift“ noch immer florieren? Natürlich ist es nicht möglich, hier näher auf die Positionen der Tübinger katholischen Theologen einzugehen. Es sollen nur einige Bemerkungen mitgeteilt werden. Gewiss hatten die vier ersten Herausgeber der „Theologischen Quartalschrift“ Peter Alois Gratz, Johann Sebastian Drey, Johann Georg Herbst und Johann Baptist Hirscher die Absicht, mit ihrer neuen Zeitschrift eine gemeinsame Position zu vertreten und zu fördern. In der „Ankündigung“ des ersten Bandes legen sie das Programm ihrer neuen Zeitschrift dar.96 Diese solle „I. Abhandlungen“, „II. Recensionen, ausführliche Relationen, und kurze Anzeigen“, „III. Materialien zur Geschichte und Beurtheilung des neuesten Kirchenwesens“, „IV. Vermischte Nachrichten“ und V. gelegentlich „Erläuterungen“ bieten. Im Blick auf die „Materialien“ werden auch „[b]escheidene Bemerkungen“ angekündigt, wie sie „in der
94 Vgl. Johannes STELZENBERGER, Otto Schilling 1874–1956, in: Theologische Quartalschrift 150 (1970), 123–128. 95 Max SECKLER, Art. Tübinger Schule (TSch). I. Katholische TSch (Anm. 5), Sp. 288. 96 Theologische Quartalschrift 1819, 3–7. Dagegen kann man die Abhandlung „Von Geist und Wesen des Katholicismus“, die in mehreren Folgen auf den ersten Band verteilt ist, kaum mit Mack als das „Programm der ‚Tübinger Schule‘“ (Theologische Quartalschrift 1842, 274) bezeichnen.
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Natur eines kritischen Blattes, und in den Forderungen der Zeit“ liegen.97 Zugleich sprechen die Herausgeber die Erwartung aus, „daß der Geist dieser Zeitschrift vor dem Publicum sich als einen freymüthigen und bescheidenen zugleich bewähren soll“.98 In einem „Nachtrage“ zu dieser Ankündigung erklären sie weiter, „daß, so wie sie von aller Parteysucht und Parteynahme entfernt überall nur der Wahrheit huldigen, und ihr die Huldigung ihrer Leser verschaffen wollen, sie diesem Grundsatze gemäß sich untereinander und ihren Mitarbeitern die Freyheit der Meynung vorbehalten und zugesichert haben“. Bedingungen für den Gebrauch dieser Freiheit sehen sie allerdings darin, dass die vorgetragenen Ansichten „sich über einen der Untersuchung würdigen Gegenstand verbreiten“ und dass sie „in einem anständigen Tone vorgetragen werden“. Schließlich betonen sie: „daß ihnen die Lehre und Überzeugung ihrer Kirche heilig seyn werde, brauchen sie nicht erst zu versichern“.99 Abschließend erklären sie, bei aller Achtung der Meinungsfreiheit „jeden einzelnen Mitarbeiter“ zu verpflichten, „für seine Behauptungen und den literarischen Gehalt ihrer Gründe selbst zu stehen“.100 Bei dieser Absichtserklärung handelt es sich um ein höchst ehrenwertes Programm freier, maßvolle Kritik nicht scheuender, der Wahrheit verpflichteter und dabei an die kirchliche Lehre gebundener Theologie – ein sehr allgemein gefasstes Programm freilich, das auch gewisse Spannungen in sich enthält und noch mit Leben gefüllt werden muss. Unter den Gründern der Zeitschrift bestand darüber offenbar ein hohes Maß an Übereinstimmung, und als Gratz aus der Fakultät ausgeschieden war, dürfte zunächst Drey dominiert und schulbildend gewirkt haben. Doch wie steht es um die Fortdauer der Tübinger katholischen Theologie über die Frühphase der Fakultät hinaus? Bereits die zeitgenössische Unterscheidung zwischen einer älteren, von Drey ausgehenden, der Aufklärung verpflichteten, und einer jüngeren, von Möhler geprägten, durch die Romantik beeinflussten und zum Ultramontanismus neigenden „Schule“ sollte beim Reden von Kontinuität vorsichtig machen. Der Bruch mit dem ursprünglichen Programm wurde von den Zeitgenossen offenbar sehr stark empfunden. Statt meine eigenen Zweifel auszubreiten, zitiere ich das zusammenfassende Urteil eines besseren Kenners: „Gewöhnlich versteht man unter einer Schule oder Schulrichtung einen Zusammenschluß von Wissenschaftlern, die in ihrer Denkrichtung und vor allem in ihren Methoden und Ergebnissen übereinstimmen. Das war jedoch in Tübingen kaum der Fall. Die Projekte, Methoden, Denkrichtungen und Inhalte haben von Generation zu Generation gewechselt. Zu einzelnen Sachfragen wurden vielfach höchst gegensätzliche Standpunkte eingenommen.“
Dies schrieb 1978 kein Geringerer als Max Seckler in einem Aufsatz über Drey.101 Er fuhr dann fort: 97 98 99 100 101
Ebd., 5. A.a.O. Ebd., 6. Ebd., 7. Max SECKLER, Ein Tübinger Entwurf: Johann Sebastian Drey und die Theologie, zuerst unter dem Titel: Johann Sebastian Drey und die Theologie, in: Theologische Quartalschrift 158
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„Man hat deshalb erwogen, ob man sinnvollerweise überhaupt noch von einer Katholischen Tübinger Schule sprechen könne und ob man sie nicht zumindest auf die Zeit der ersten Generation eingrenzen solle [...]. Eine solche Auffassung wäre richtig, wenn man von einer ,Schule‘ im geistesgeschichtlichen Sinn nur dort sprechen könnte, wo eine Übereinstimmung im Inhaltlichen vorliegt. Das war freilich in Tübingen nie der Fall. Das Gemeinsame, das Verbindende und Schulbildende lag hier vielmehr im Forma102 len.“
Diese Wendung in Secklers Argumentationsgang überrascht allerdings, wenn man zuvor gelesen hat, es gebe auch keine Übereinstimmung in Projekten, Methoden und Denkrichtungen. Was bleibt dann noch an Formalem übrig? Um überhaupt noch etwas Verbindendes festhalten zu können, muss man auf sehr allgemeine Kategorien zurückgreifen. Seckler nennt dafür zunächst das in der Frühzeit der Fakultät gerne formulierte und auch im Programm der Theologischen Quartalschrift anklingende Ideal des „Selbstdenkertums“103, das tatsächlich viele katholische Tübinger Theologen signifikant von jeder Art von Neuscholastik unterscheidet und sie übrigens mit Ferdinand Christian Baur und seinen Schülern verbindet.104 Doch mochte sich Seckler nicht mit dieser allgemeinsten Kennzeichnung begnügen und entwickelte schließlich eine Formulierung, die er in den letzten Jahren – auch in leicht abgewandelter Fassung - oft wiederholt hat. In der Fassung des Lexikons für Theologie und Kirche handelt es sich um „eine die Kath[olische] T[übinger] Sch[ule] besonders kennzeichnende formale Trias: Die entschieden erstrebte Verbindung v[on] strenger Wissenschaftlichkeit, prakt[ischer] Gegenwartsbezogenheit u[nd] unbeirrbarer, wenngleich selbständiger u[nd] mündiger Kirchlichkeit unter Respektierung der Grenzen der Orthodoxie. Nicht die einzelnen Merkmale für sich genommen, sondern ihre konstruktive, konfliktträchtige u[nd] darum auch kreative Verbindung miteinander hat der Kath[olischen] T[heologischen] Sch[ule] 105 ihre besondere Prägung gegeben.“
Walter Kasper formuliert knapper: „Die Tübinger Schule ist dadurch ausgezeichnet, daß sie Kirchlichkeit mit Wissenschaftlichkeit und mit reformoffener, praxisorientierter Zeitgenossenschaft verbindet.“106 Die Verbindung von Wissenschaftlichkeit, Gegenwartsbezogenheit (oder Zeitgenossenschaft) und Kirchlichkeit: Man muss sich fragen, ob eine so weit und allgemein gefasste sachliche Charakterisierung es tatsächlich erlaubt, von einer in
102 103 104
105 106
(1978), 92–109; wieder abgedruckt in: Max SECKLER, Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Kirche, Freiburg-Basel-Wien 1980, 178–198 (danach die Zitate), hier 190. A.a.O. Ebd., 191. Um jedes Missverständnis über Prioritäten auszuschließen, betone ich, daß die Herausgeber der Theologischen Quartalschrift dieses Ideal und das Bekenntnis zu einer jede Parteilichkeit vermeidenden Huldigung der Wahrheit im Programm ihrer Zeitschrift von 1819 formuliert haben – zwei Jahrzehnte bevor Ferdinand Christian Baur in Tübingen damit begann, in seinen Veröffentlichungen Bekenntnisse zu reinem Wahrheitsstreben abzulegen. Max SECKLER, Art. Tübinger Schule (TSch). I. Katholische TSch. (Anm. 5), Sp. 289. Walter KASPER, Die Einheit der Kirche im Licht der Tübinger Schule (Anm. 1), 190.
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ihrer persönlichen Zusammensetzung wechselnden Gruppe katholischer Theologen oder gar von einer Fakultät als von einer über mehrere Generationen hin fortbestehenden „Schule“ zu sprechen – konkret: ob diese Merkmale es erlauben, von einer „Katholischen Tübinger Schule“ im Unterschied zur Profilbildung anderer katholisch-theologischer Fakultäten zu sprechen. Die Frage verschärft sich, wenn dabei an eine Kontinuität auch nur durch das ganze 19. Jahrhundert gedacht wird, und sie spitzt sich noch einmal zu, wenn neben den bekannten Vertretern der systematischen Disziplinen auch die Exegeten und Kirchenhistoriker in die Betrachtung einbezogen werden. Rudolf Reinhardt wies einst sehr zurückhaltend darauf hin, „die ‚Zusammenschau‘ zu einer ‚Tübinger Schule‘“ sei „nur möglich, wenn bestimmte Theologengruppen und einzelne Fächer ganz oder teilweise ausgeklammert bleiben“.107 Ich meine, dass man bei unvoreingenommener Betrachtung der Fakultätsgeschichte dieses Urteil auch auf die so unterschiedlich denkenden Systematiker ausdehnen muss, und halte es deshalb für sachgemäßer, ohne Bemühung des Schulbegriffs einfach von der Tübinger Katholisch-theologischen Fakultät oder von den Katholischen Tübinger Theologen und ihrer Theologie zu sprechen. Die offenkundige Bedeutung dieser Theologen und ihrer Leistungen wird durch den Verzicht auf den umfassenden Schulbegriff in keiner Weise geschmälert.
107 Rudolf REINHARDT, Die Katholisch-theologische Fakultät Tübingen (Anm. 9), 19.
Systematik der „Katholischen Tübinger Schule“ Albert Franz
1. Tübinger Theologie und „Tübinger Schule“ Die allgemein übliche Rede von „der Tübinger Schule“ als Bezeichnung für die im Tübingen des frühen neunzehnten Jahrhunderts entstandene und bis heute lebendige katholische Theologie suggeriert, dass es so etwas wie eine Einheit in der Systematik, in der Architektonik, in der Denkstruktur dieser Theologie gäbe, der gegenüber die Unterschiede eher marginal wären, dass also die einzelnen Theologen, um die es geht, vor allem Vertreter dieser bestimmten theologischen Richtung wären, und dass von daher ihre Bedeutung für die Theologie käme.1 Walter Kasper, der sich selbst nicht ohne Stolz der „Tübinger Schule“ zurechnet, weist dies mit einiger Vehemenz zurück und stellt fest: „Es ist kein leichtes Unterfangen, das Wesen und den Kern dieser Schule zu erklären, die im 19. Jahrhundert aufblühte und noch heute eine erstaunliche Vitalität beweist. Es gibt sogar eine ernstzunehmende Diskussion über die prinzipielle Berechtigung, überhaupt von einer eigenen Tübinger Schule zu sprechen. Dies gilt sicherlich nicht in der romantischen Vorstellung, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Tübingen Theologie Studierende zu Füßen eines großen Lehrers versammelt waren und einmütig bestimmte Aussagen machten und einer einheitlichen Meinung folgten. Nichts dergleichen. Tübingen war keine Schule nachplappernder Papageien.“2 Entscheidendes Charakteristikum der Tübinger Schule sei vielmehr gerade dies, dass ihre Vertreter, so noch einmal Walter Kasper mit typisch Tübinger Selbstbewusstsein, vor allem „Selbstdenker“ waren: „Wer sich ihr zugehörig zählte, definierte sich
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Bekanntlich hat es auch eine evangelische „Tübinger Schule“ gegeben, ja ist dieser Begriff zuerst in der protestantischen theologischen Fakultät entstanden und gebraucht worden, um dann in analoger Weise auf die katholische Fakultät Anwendung zu finden. Der protestantische Tübinger Kirchenhistoriker Ulrich Köpf, der dem Begriff einer „Tübinger Schule“ skeptisch bis ablehnend gegenüber steht, und zwar für beide Seiten, spricht gleichwohl von einer „Parallelität der Schulenbildung in beiden Fakultäten“, in: Ulrich KÖPF (Hg.): Historischkritische Geschichtsbetrachtung. Ferdinand Christian Baur und seine Schüler. 8. Blaubeurer Symposion, Sigmaringen 1994, 16. In: Michael KESSLER - Max SECKLER (Hg.), Theologie, Kirche, Katholizismus. Beiträge zur Katholischen Tübinger Schule von Joseph Ratzinger, Walter Kasper und Max Seckler. Mit reprographischem Nachdruck der Programmschrift Johann Sebastian Dreys von 1819 über das Studium der Theologie, Tübingen-Basel 2003, 7–13: Ein Blick auf die Katholische Tübinger Schule, 7.
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zugleich als ‚Selbstdenker‘ Im 19. Jahrhundert beherbergte diese Schule, genau wie heute Theologen, die mit ihrem eigenen Kopf dachten.“3 Freilich kann dies gerade auch nicht heißen, dass jeder einzelne Tübinger sich subjektivistisch in seinen höchst persönlichen Eigenheiten eingerichtet hätte und es nicht doch Gemeinsamkeiten, ja eine gemeinsame Identität gäbe. Es gibt diese grundlegende Gemeinsamkeit. Bei aller Unterschiedlichkeit der Ansätze, Fragestellungen und Antwortversuche sind sich „die Tübinger“ wohl von Anfang an in einem einig: Sie konnten und wollten sich nicht mehr damit begnügen, Traditionelles wiederzukäuen. Sie sahen sich als Theologen herausgefordert, sich den Fragen der Zeit zu stellen. Der äußere Umstand, dass die selbst noch junge, nämlich erst 1812 in Ellwangen gegründete katholisch-theologische Fakultät bereits 1817 im Rahmen der fundamentalen Neuordnung der politisch-gesellschaftlichen, nicht zuletzt der kirchlichen Verhältnisse nach der Säkularisation, von dort in das bis dahin durch und durch protestantisch geprägte Tübingen umziehen musste, war wohl nicht mehr, aber auch nicht weniger als der letzte Anstoß, Theologie, und zwar katholische Theologie, als Antwort auf die Herausforderungen der Zeit zu verstehen. Und diese waren enorm.4 Mit spürbarer, aus heutiger Perspektive in mancher Hinsicht geradezu erstaunlicher Sympathie für die Tübinger Theologie als diese Erneuerungsbeweg3 4
Ebd., 7f. U. Köpf bezieht sich in seiner Kritik am Begriff „Tübinger Schule“ auf Max Seckler: „Max Seckler bringt deshalb das Selbstverständnis der ‚Theologischen Quartalschrift‘ und ihrer ‚Tübinger Schule‘ ‚auf den Nenner einer ebenso einfachen wie komplexen Trias‘: ‚Diese besteht in der um jeden Preis gesuchten und gelebten Verbindung von strenger Wissenschaftlichkeit, praktischer Gegenwartsbezogenheit und unbeirrbarer, wenngleich selbständiger Kirchlichkeit des Theologietreibens.‘“ A.a.O. (Anm. 1), 20. Köpf zitiert hier Seckler und bemerkt an gleicher Stelle: „Eine solche Charakterisierung ist freilich so allgemein, dass sie in der Tat auf die Arbeit der Tübinger katholisch-theologischen Fakultät von ihren Anfängen bis in die Gegenwart passt – allerdings auch auf die mancher anderen katholisch-theologischen Fakultäten. An ihrer Allgemeinheit zeigt sich die ganze Problematik dieses Schulbegriffs, der durch seine Weite und Unbestimmtheit alle Konturen des bezeichneten Phänomens verschwimmen lässt.“ Gewiss ist es in einer allgemeinen Perspektive berechtigt, für den Begriff einer „Schule“ klare Konturen einzufordern. Doch darf eben deshalb gerade im Blick auf die „Tübinger Theologie“ nicht übersehen werden, dass es sich hier um eine Theologie handelt, die sich gerade als eigenständige Alternative zur gleichzeitig sich entwickelnden römischen Theologie verstanden hat und sich eben deshalb der „Trias“ Wissenschaftlichkeit, Gegenwartsbezogenheit und Kirchlichkeit in besonderer Weise und durchaus sehr konkret verpflichtet gesehen und in diesem Sinn „Schule“ gemacht hat. Walter Kasper bemerkt hierzu in seinem grundlegenden Werk: „Die Lehre von der Tradition in der Römischen Schule (Giovanni Perrone, Carlo Passaglia, Clemens Schrader)“, Freiburg u.a. 1962, 12: „Die Klärung des Traditionsbegriff der Römischen Schule, die von größtem Einfluss auf die Geschichte der Kirche im letzten Jahrhundert war, stellt deshalb auch eine Vorarbeit dar für das richtige Verständnis der Spannungen zwischen dem, was man in der Geschichte des 19. Jahrhunderts ‚deutsche‘ und ‚römische‘ Theologie zu nennen pflegt.“ In dieser „katholischen“ Perspektive gewinnt somit die Rede von der „Tübinger Schule“ nicht nur Kontur, sondern wird zum kaum verzichtbaren hermeneutischen Schlüssel für das Verständnis der damaligen – und bis heute fortdauernden – Diskussionen und Konfliktlinien um das Grundverständnis von Theologie.
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ung schreibt 2003 Joseph Kardinal Ratzinger in seinem Beitrag anlässlich der Neuveröffentlichung der Programmschrift Johann Sebastian Dreys, des allgemein anerkannten „Vaters“ der Tübinger Schule: „Drey hat in einer Zeit des Umbruchs geschrieben: Nach dem Zerfall der Barockscholastik, nach der Revolution des Denkens in der Aufklärung und dem Neubeginn der Philosophie mit Kant, nach den kirchlichen und staatlichen Umwälzungen der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege musste die Kirche ihr Verhältnis zu den Staaten und zur Gesellschaft neu bestimmen, musste aber vor allem auch die Theologie sich selbst neu konstituieren. Es reichte nicht, die einzelnen theologischen Disziplinen irgendwie weiterzuführen. Die Theologie musste sich als solche, in ihrer Ganzheit und ihrem die einzelnen Disziplinen umfassenden Wesen neu wiederfinden.“
Und Ratzinger konstatiert an gleicher Stelle: „Die Parallele zu unserer Gegenwart ist offenkundig.“5 Man braucht nur ein paar Namen damaliger Zeitgenossen zu nennen, um sich die tief gehende geistige, religiöse und weltanschauliche Krise der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu vergegenwärtigen: Allen voran der auch von Ratzinger erwähnte Immanuel Kant, dann aber kaum weniger bedeutsam F. D. E. Schleiermacher, G. W. F. Hegel, F. W. J. Schelling, F. H. Jacobi, J. G. Herder, die beiden Schlegel, J. G. Fichte, und schließlich D. F. Strauß, B. Bauer, L. Feuerbach und K. Marx. Zurecht erinnert Ratzinger an die grundlegenden gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen nach der Französischen Revolution, von denen auch die Kirche essentiell betroffen war; nicht ausgeblendet bleiben dürfen die mit der beginnenden Industrialisierung heraufziehenden ökonomischen Verwerfungen. Katholische Tübinger Theologie ist Theologie, die sich in und von all dem herausgefordert weiß. Sie zieht sich gerade nicht in falsch verstandener Apologetik zurück in ein theologisch-kirchliches Schneckenhaus, sie öffnet sich vielmehr und versucht, die Kirche und den christlichen Glauben in all dem neu zu verorten und Theologie als Wissenschaft neu zu etablieren und zu positionieren. In diesem Sinn stellt sie sich der Aufklärung mit ihrem fundamental metaphysik- und religionskritischen Vernunftpathos, das – paradoxer Weise – zugleich gepaart war mit einer Selbstkritik der Vernunft, die philosophisches Denken unerbittlich in die unüberwindbaren Grenzen der Endlichkeit weisen wollte und damit der theologischen Wissenschaft geradezu den entscheidenden Dolchstoß zu versetzen schien. Tübinger Theologie stellt sich nicht weniger der aus eben dieser Vernunftkritik hervorgegangenen Gigantomanie des Deutschen Idealismus sowie dessen nachidealistischer Kritik, und nicht zuletzt der ebenfalls zu diesem Amalgam unterschiedlichster Strömungen gehörenden Romantik mit ihrer teilweise rückwärtsgewandten Geschichtsbezogenheit, ihrer Gemeinschaftsnostalgie und ihrer Gefühlsschwärmerei. In dieser aus unterschiedlichsten, ja widersprüchlichsten Tendenzen bestehenden geistig-religiösen sowie gesellschaftlichen und nicht zuletzt ökonomischen Umbruchsituation fanden sich die Tübinger Theologen, wurden selbst teilweise gehörig davon erfasst, waren aber ganz wesentlich alle davon be5
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seelt, in diesem Kontext die Theologie neu zu positionieren. In der konkreten Durchführung dieser Programmatik sind sie zu durchaus unterschiedlichen Auffassungen und Antworten gelangt, geeint waren sie aber in der Überzeugung von der Wichtigkeit und Bedeutung dieser Aufgabe für die Theologie, für die Kirche und letztlich für die Gesellschaft insgesamt. Franz Anton Staudenmaier, der Schüler Dreys und Möhlers und einer der wichtigsten Vertreter der zweiten Tübinger Generation, bringt dies auf den Punkt, wenn er programmatisch formuliert, „das Christentum“ sei „die einzig mögliche Rettung“ für „die europäische Welt, insbesondere aber unser teutsches Vaterland“, denn dieses, so Staudenmaier im Jahr 1851, also mit den Erfahrungen von 1848 im Rücken, „stehe am Rande eines Abgrunds, der dunkler und tiefer sei, als jener, welcher zur Zeit der französischen Revolution sich öffnete“.6 Mag man die Schlüsse, die Staudenmaier zieht, nicht nachvollziehen – er steigert sich in seiner Kritik der damaligen Verhältnisse mehr und mehr in eine aggressiv integralistische, dualistisch weltverachtende, pessimistische Polemik hinein –, deutlich wird hier jedenfalls, dass sich Tübinger Theologie als fundamental zeitbezogen versteht und deshalb grundlegend darum bemüht ist, „das Christentum“ als wesentlichen Faktor innerhalb dieser komplexen Wirklichkeit zum Tragen zu bringen. Für Staudenmaier ist dies das „Eine Notwendige“, ohne das nicht gelingen kann, was geschichtlich ansteht, nämlich nicht weniger als die Schaffung einer „neuen Welt“: „Und eben darin liegt die große Bedeutung unserer Gegenwart, nämlich darin, dass sich in ihr eine neue Welt gestalten will.“7 Einzig das Christentum als „die Eine und allgemeine Wahrheit, die Eine und Allgemeine Überzeugung, der Eine und allgemeine Glaube, das Eine und allgemeine Symbol, die Eine und allgemeine Moral, der Eine und allgemeine Kult, die Eine und allgemeine Kirche und die Eine und allgemeine Gesetzgebung“ kann diese neue Welt erschaffen, kann die Welt retten.8 Trifft hier noch Ratzingers Bemerkung zu: „Die Parallele zu unserer Gegenwart ist offenkundig“? Man könnte versucht sein, angesichts solcher Ansprüche die Beschäftigung mit der Theologie der Tübinger Schule insgesamt doch lieber den Historikern zu überlassen und in der Tat nicht mehr von einer eigenständigen „Tübinger Schule“ zu sprechen, wenn, wie im Falle Staudenmaiers, integralistische Vorstellungen und neuscholastisch klingende Apologetik zunehmend in den Vordergrund rücken. Umso entschiedener müssen wir uns die kritische Frage stellen: Lohnt es sich, ist es der Mühe wert, in unserem Kontext, der kaum weniger komplex und unübersichtlich ist als der der Tübinger, erneut auf diese zurückzugreifen? Dabei kann es weder darum gehen, Vergangenes zu beschwören, noch darum, aus einem Haufen historisch bedingter und überholter Theologie lediglich das für uns Brauchbare herauszusieben und das Übrige zu entsorgen. Ich möchte einen etwas anderen Weg versuchen, nämlich zunächst herausarbeiten, mit welchen Fragen die Tübinger sich konfrontiert, vor welche Herausfor6 7 8
Franz Anton STAUDENMAIER, Die Grundfragen der Gegenwart, Freiburg i. B. 1851, S. XIIIf. Ebd., 3. Ebd., 529.
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derungen sie sich konkret gestellt sahen, und dann, wie sie darauf reagiert, welche Antworten zu geben sie versucht haben. Von hier ausgehend ist dann die systematische Kernfrage zu stellen, warum Tübinger Theologie gerade so reagiert hat, d. h. welches grundlegende systematische Verständnis von Theologie, welche Denkform all dem zugrunde liegt und sich bei näherem Zusehen eventuell abzeichnet. Erst dann kann die Frage nach der Aktualität für heute gestellt werden. Eine bereits angesprochene grundlegende Schwierigkeit sei im Sinne einer Vorbemerkung noch einmal genannt, nämlich die, dass es eigentlich sachgerecht wäre, die Theologie „der Tübinger“ nicht über einen Kamm zu scheren, sondern die unterschiedlichen Ansätze und Profile, die „Köpfe“, wie Walter Kasper sagt, jeweils zu würdigen. Ich tue dies hier indirekt, indem ich mich notgedrungen beschränke und mich vor allem, die Problematik möglichst nicht verkürzend, sondern zuspitzend, auf Johann Sebastian von Drey beziehe. Max Seckler bezeichnet Drey als „Patriarch der Katholischen Tübinger Schule und Architekt ihrer Theologie“.9 Insbesondere auf dessen „Kurze Einleitung in das Studium der Theologie“, von Seckler als Dreys „Programmschrift“ qualifiziert, soll hier eingegangen werden,10 und gelegentlich soll, als Ergänzung und zur Profilierung des Denkens Dreys, der schon erwähnte Franz Anton Staudenmaier zu Wort kommen, der sich als Schüler Dreys besonders intensiv mit dessen Theologie befasst und diese weitergeführt hat, und zwar gerade auch hinsichtlich der hier zu erörternden Frage nach dem Grundverständnis von Theologie. In gewissem Sinn stehen somit Drey und Staudenmaier paradigmatisch für „die Tübinger Schule“, was freilich gerade nicht heißt, dass diese damit umfassend zur Darstellung käme. Es geht um den Versuch, ausgehend von beispielhaften Texten Dreys und Staudenmaiers so etwas wie den „Geist“ der Tübinger Schule erkennbar zu machen, die Konturen dieser Theologie herauszuarbeiten.
2. Herausforderungen Die Neukonstitution der Theologie als Wissenschaft darf, wie einleitend gesagt, als die grundlegende Herausforderung für „die Tübinger“ insgesamt bezeichnet werden. Doch was heißt „Neukonstitution“, worum geht es dabei inhaltlich? Und in welchem Sinn kann bzw. muss dann von der Theologie als „Wissenschaft“ gesprochen werden? Mit ihrem Pathos des Neuanfangs stehen die Tübinger alles andere als allein. Sie sind vielmehr quasi der theologische Ausläufer und zugleich die Antwort der Theologie auf ein allgemein verbreitetes Bewusstsein von der Notwendigkeit, in Philosophie, Religion und Wissenschaft zu einer neuen Synthese zu kommen. Erinnert sei nur an das ca. 1797-1800 verfasste, bis heute hinsichtlich der Autorschaft umstrittene „Älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus“ – War 9 So Max Seckler s. Michael KESSLER - DERS. (Hg.) (Anm. 2), 37. 10 S. o. Anm. 2.
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Hegel der Autor? Oder war es Schelling? Oder Hölderlin? Oder waren es alle drei? Oder zwei von ihnen? Oder jemand ganz anderes? –, das mit großem Pathos fordert: „So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muss philosophisch und das Volk vernünftig, und die Philosophie muss mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns. ... Ein höherer Geist vom Himmel gesandt, muss diese Neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte, größte Werk der Menschheit sein.“11 Es ist sicher kein Zufall, dass Hegel und Schelling ein Leben lang sich dieser Programmatik verpflichtet gefühlt haben, artikuliert sich damit doch ein damals zumindest in intellektuellen Kreisen vorherrschendes allgemeines Bewusstsein, ja der „Zeitgeist“ des frühen 19. Jahrhunderts. Zu diesem gehört, dass es definitiv nicht mehr als möglich angesehen wurde, hinter die Kantische Vernunftkritik und die Kantische Religionskritik zurückzufallen. Zwar war man sich weithin darin einig, dass Kants Religionskritik, seine Kritik an den bis dahin für selbstverständlich angenommenen metaphysischen Implikationen von Religion, nicht das letzte Wort über das Verhältnis von Philosophie und Religion, von Denken und Glauben sein kann, zugleich aber war man sich nicht weniger darin einig, dass jede Kantkritik zugleich daran zu messen ist, wie weit sie ihrerseits den Kantischen Kriterien standhält, ob sie also hinter Kant zurückfällt oder nicht. Doch wie soll es unter solchen, unter „kantischen“ Voraussetzungen, noch möglich sein, aufgeklärtvernünftiges Denken und religiösen Glauben, und zwar konkret den christlichen Glauben, so miteinander zu verknüpfen, dass von einer lebendigen Einheit, von einer „aufgeklärten“ Religion, einer „sinnlichen“ Philosophie und vom Christentum als adäquate Antwort auf all dies, als Lösung der damit gegebenen Probleme gesprochen werden kann? Darin dürfte die entscheidende geistig-intellektuelle Herausforderung für „die Tübinger“ bestanden haben. Sie stellen sich dieser Problematik, indem sie sich von der vorkritischen Barockscholastik und damit von der scholastischen Tradition insgesamt, wenn nicht ganz verabschieden, so doch distanzieren, sie jedenfalls nicht mehr als normativ für die Theologie ansehen und sich der aktuellen Philosophie zuwenden, und zwar nicht apologetisch-defensiv, sondern dezidiert offen und bereit, sich darauf einzulassen.12 So beschäftigt sich bereits Drey intensiv mit Kant und Schelling, und ist es vor allem Staudenmaier, der sich kritisch mit Hegel auseinandersetzt und neben Hegel ebenfalls v. a. Schelling rezipiert und der Kritik unterzieht. Wie intensiv und umfassend die Tübinger sich somit auf die Herausforderungen ihrer Zeit eingelassen und zugleich ihren Ort innerhalb der katholischen Denk- und Glaubenswelt bestimmt haben, betont auch Max Seckler, lange Jahre Fundamentaltheologe in Tübingen und selbst Vertreter der „Schule“, vielleicht 11 Das sogenannte „Älteste Systemprogramm“, in: Manfred FRANK - Gerhard KURZ (Hg.): Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen(stw, Bd. 139), Frankfurt/M. 1975, 110– 112. 12 Darin dürfte ein, wenn nicht der entscheidende Differenzpunkt der Tübinger zur Römischen Schule zu sehen sein. Zur komplexen Entwicklung der damaligen römischen Theologie hin zur Neuscholastik vgl. Walter KASPER, a.a.O. (Anm. 4).
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einer ihrer letzten, jedenfalls bis heute einer ihrer besten Kenner. Er bezeichnet die umfangreiche Abhandlung „Vom Geist und Wesen des Katholizismus“, die Drey 1819 veröffentlicht hat, als „eine der wichtigsten Programmschriften des Jahrhunderts“, von Drey selbst in „betont programmatischer Absicht“ verfasst und veröffentlicht.13 An gleicher Stelle verweist Seckler auf Dreys ebenfalls 1819 erschienene „Kurze Einleitung in das Studium der Theologie“, die, wie der Titel ihrer bereits erwähnten Neuauflage von 2003 ausdrücklich bestätigt, allgemein als „die Programmschrift“ Tübinger Theologie anerkannt ist.14 Seckler fasst seinerseits die darin enthaltene Programmatik Dreys und damit der Tübinger Schule insgesamt folgendermaßen zusammen: „Drey hat mit seinen Programmschriften, die sich durch die Klarheit der Anschauungen, der Präzision des Denkens und die Eleganz des Stils auszeichnen, die Grundlagen geschaffen für den Aufschwung der Theologie im frühen 19. Jahrhundert, für ihren Wissenschaftscharakter, für ihre Ebenbürtigkeit mit der damals führenden protestantischen Theologie, für ihre Partnerschaft mit der Philosophie auf höchstem Niveau, für ihr Selbstverständnis und ihr Selbstbewusstsein, ihre Offenheit für die Herausforderungen der Zeit, ihre gläubige Verfassung und ihren christlichen Charakter, ihren Ort in der Mission der Kirche, und für ihren Praxisbezug gerade als strenge Wissenschaft. Er hat damit einen neuen Anfang gesetzt, nach Maßstäben, denen Rost und Motten nichts an15 haben können.“
Doch es bleibt nicht und kann nicht bleiben bei kritischer Zurkenntnisnahme zeitgenössischer Problemkonstellationen. Solche Offenheit ist nicht folgenlos. Insbesondere stellt sich zunehmend die Frage: Wie weit kann und wie weit darf die Rezeption des Neuen gehen, ohne dass dadurch nicht nur Überholtes, sondern die Sache der Theologie selbst zersetzt würde? Die Tübinger sind sich bewusst: Anders als die Philosophie kann die Theologie nicht einfach alles Bisherige hinter sich lassen und in diesem Sinn einen radikalen Neuanfang setzen. Zur Identität der Theologie gehören die Geschichte, die Tradition und damit insbesondere der Bezug auf die geschichtlich ergangene Offenbarung. Der Glaube kann neuen Herausforderungen nicht einfach angepasst werden. Es ist und muss immer der Glaube der Kirche sein und bleiben, um den es geht. Es geht also um die Identität, und zwar die lebendige Identität des überlieferten Glaubens unter neuen Bedingungen. Diese aufzuweisen und zu garantieren darf letztlich als die große Herausforderung bezeichnet werden, vor die sich die Tübinger gestellt sehen.16 Somit schälen sich bei den Tübingern immer mehr zwei Kernprobleme, die wie die zwei Seiten einer Medaille zusammengehören, als für die Theologie unverzichtbar heraus: Es geht zum einen um die Identität des christlichen Glaubens, 13 14 15 16
Michael KESSLER - Max SECKLER (Hg.) (Anm. 2), 16. Ebd., 16f. Ebd., 17. Hierzu auch Anm. 4. Dem entsprechend hat Josef Rupert Geiselmann, der Lehrer Kaspers und selbst „Tübinger“, sein grundlegendes Werk über die Anfänge und die Konstituierung der „Tübinger Schule“ mit dem Titel versehen: Lebendiger Glaube aus geheiligter Überlieferung. Der Grundgedanke der Theologie Johann Adam Möhlers und der katholischen Tübinger Schule, Freiburg i. B. ²1966.
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d. h. die fundamentale Bezogenheit des christlichen Glaubens auf jene geschichtlich überlieferten Tatsachen und Ereignisse, die die Theologie „Offenbarung“ nennt, und zwar um diese als die entscheidenden Identitätsmomente von Glauben und Theologie, und es geht zum anderen darum, den umfassenden Wahrheitsanspruch des Glaubens vor der kritischen Vernunft zu verantworten, d. h. die Theologie, und zwar einschließlich ihrer Rede von „Offenbarung“, als eine kritischen Kriterien standhaltende, spezifische Denkform zu entwickeln, die als solche den christlichen Glauben auch für die kritische Vernunft im Sinne Kants bzw. der Aufklärung insgesamt, als glaubhaft, als „wahr“ erweist. Dieser Wahrheitserweis kann aber nur darin bestehen, so Drey maßgeblich, die innere Kohärenz, Struktur und Systematik des Glaubens als eines umfassenden, lebendigen Organismus spekulativ aufzuweisen und kritisch nachzuzeichnen. Tübinger Theologie hält somit zum einen fest an ihrem, sie von allen anderen Wissenschaften und aller Philosophie unterscheidenden Proprium, nämlich Wissenschaft des Glaubens, Wissenschaft auf der Basis übernatürlicher Offenbarung zu sein, zum anderen aber hält sie nicht weniger entschieden daran fest, gerade so wirklich kritische und spekulative Wissenschaft zu sein, d. h. die einzelnen Glaubensinhalte organisch miteinander zu verknüpfen, um dadurch, wie Drey in seiner „Kurzen Einleitung in das Theologiestudium“ betont, „das gegebene Christentum der Form der Zufälligkeit, in der es wie alles Gegebene in der gemeinen Geschichtsanschauung erscheint, zu entreißen und es im Ganzen auf einen Standpunkt der Betrachtung zu erheben [...], auf welchem es als eine notwendige Erscheinung begriffen wird.“17 Nur so, also indem „das zufällig Gegebene als ein Notwendiges“ begriffen wird, wird die Theologie zur Wissenschaft, weil und insofern damit das Einzelne im Zusammenhang des Ganzen gesehen und das Ganze selbst von seiner alles verbindenden „Grundidee“ her in seiner Nicht-Zufälligkeit erfasst wird. Drey konstatiert dem entsprechend: „Darum ist das Wichtigste in ihr (scl. in der theologischen Wissenschaft, A. F.) die Konstruktion der Grundidee der christlichen Theologie oder ihres realen Prinzips, und der aus ihr unmittelbar und zunächst abgeleiteten Hauptlehren, welche Konstruktion und Ableitung in der Grundlegung der Wissenschaft geschieht. Ich sage, für die wissenschaftliche Erkenntnis des Christentums ist das das Wichtigste.“18
Mit dieser Bestimmung der Theologie als Glaubenswissenschaft positioniert sich Tübinger Theologie gegenüber theologischen und philosophischen Zeittendenzen, die aufgrund ihrer jeweiligen Einseitigkeit und Beschränktheit, entweder den auf reale Geschichte angewiesenen Glauben rationalistisch auflösen oder umgekehrt den auf angeblich unhintergehbaren Fakten bzw. Überzeugungen beruhenden Glauben kritischem Denken gegenüber immunisieren. Es ist F. A. Staudenmaier, 17 Michael KESSLER - Max SECKLER (Hg.) (Anm. 2), (361). Die hier und im Folgenden eingeklammerten Seitenzahlen beziehen sich auf die Paginierung der von Kessler und Seckler besorgten Edition des Textes von Drey, auf die hier schon mehrfach Bezug genommen worden ist (Anm. 2). Dort sind die Seitenzahlen ebenfalls, allerdings eckig, eingeklammert, um sie von der Originalpaginierung des Textes von Drey zu unterscheiden. 18 Ebd., (362).
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der in seiner theologischen Enzyklopädie, die er ganz im Geist Dreys anlegt, um so dessen „Apologetik“ weiterzuentwickeln, in diesem Sinn von den „Gegensätzen von Rationalismus und Supernaturalismus“ spricht, „die besonders die unmittelbare Gegenwart bewegen.“19 Der „philosophische Rationalismus“ – konkret ist damit v. a. Hegel gemeint – „erkennt“ nach Staudenmaier „nichts an, als was aus dem reinen Denken folgt, somit nur das logisch Notwendige“. Von daher ist es dann konsequent, so Staudenmaier weiter, „an die Stelle des persönlichen Gottes die unpersönliche Vernunft zu setzen, und die unmittelbare Offenbarung zu verwerfen, weil sie für ihn nichts enthalten kann, was nicht zum voraus schon in den Denkbestimmungen gegeben wäre“.20 Ein solcher Rationalismus ist das Ende jeder Theologie, „er ist somit das System jener subjektiven, abstrakt sinnlichen Verstandesweisheit, die nichts gelten lässt als sich selbst, und eben darum den bloßen Verstand, im Gegensatze zu der Vernunft (die als solche nach Staudenmaier fähig ist, über bloße Verstandeserkenntnis hinaus zu gehen, A. F.), zum Maßstab alles Objektiven macht.“21
Dem Theologie zerstörenden Rationalismus steht, so Staudenmaier weiter, ein nicht weniger zerstörerischer „Supranaturalismus“ gegenüber – Staudenmaier dürfte v. a. Jacobi im Blick haben –, der zwar „die Substanz der göttlichen Wahrheit in sich enthält und unerschütterlich festhält am Glauben an eine unmittelbare Offenbarung und an den Inhalt derselben“,22 der aber mit seiner radikalen Ablehnung allen kritischen Denkens, nach welcher „die Wahrheiten der Religion nur geglaubt, in keiner Weise aber erkannt werden können,“23 den Glauben selbst letztlich zerstört, denn, so Staudenmaier mit Entschiedenheit: „Der Glaube weiß, was und warum er glaubt.“24 Sowohl dem Rationalismus als auch dem Supranaturalismus – heute würden wir wohl von „Fundamentalismus“ sprechen –, so aber im Grund den a- und antichristlichen Strömungen seiner Zeit insgesamt hält Staudenmaier sein weder rationalistisches noch supranaturalistisches, sondern spekulativ begründetes und zugleich offenbarungsgläubiges Verständnis von Theologie entgegen, nach welchem Theologie aufzuzeigen hat, „dass sich die Offenbarung ihrem Inhalt nach im geistigen Bewusstsein des Menschen und der Menschheit als die höchste Wahrheit tatsächlich durch einen Lernprozess von selbst nachweist, und der menschliche Geist es erkennt, dass und wie sich die Wahrheit der Offenbarung in ihm und dem Geschlechte (i.e. in der Geschichte der Menschheit 25 insgesamt A. F.) also erwiesen habe und fortwährend erweise.“
19 Franz Anton STAUDENMAIER, Enzyklopädie der theologischen Wissenschaften als System der gesamten Theologie, Bd. 1, Mainz ²1840, 339 (§ 425). 20 A.a.O. 21 A.a.O. 22 Ebd., 340 (§ 430). 23 A.a.O. 24 Ebd., 341 (§ 432). 25 Ebd., (§ 434).
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Welch umfassender, ja absoluter philosophischer Anspruch damit verbunden ist, kommt zum Vorschein, wenn Staudenmaier anschließt: „Die Offenbarung erweist sich somit der Vernunft gegenüber als vernünftig, indem sie sich als die höchste Vernunft und das höchste Leben zugleich hinstellt, in welcher sich die menschliche Vernunft und das menschliche Leben auf höhere Weise selbst erst findet und wahrhaft erkennt“.26 Ohne Offenbarung also keine Vernunft, keine wahre Philosophie, kein wahres Leben. Doch bewegen wir uns damit immer noch auf der Ebene der Programmatik, der Postulate für eine Theologie, die den komplexen Zeiterfordernissen im umfassenden Sinn gerecht werden will. Die Frage ist unausweichlich: Wie soll es möglich sein, diese unterschiedlichen und divergierenden, sich auf den ersten Blick ausschließenden Momente, wie Vernunft und Geschichte, Wissen und Glauben, Glauben und Leben, Philosophie und Theologie zur Synthese zusammenzuführen? Geht das überhaupt? Darauf kann hier nicht im umfassenden Sinn geantwortet werden. Hier stellt sich die Frage: Gibt es so etwas wie einen das Denken der Tübinger kennzeichnenden diesbezüglichen Syntheseversuch, sind Konturen einer „Tübinger Denkform“ erkennbar, die erkennen lassen, warum „die Tübinger“ so und nicht anders auf die Herausforderungen ihrer Zeit reagiert haben?
3. Tübinger Systemgestalt? Damit geht es jetzt um die Frage, ob sich vor dem Hintergrund des bisher Dargestellten so etwas wie eine typisch Tübinger Systemgestalt, eine Tübinger theologischen Denkfigur identifizieren lässt, ob von einem für die Tübinger charakteristischen theologischen Selbstverständnis gesprochen werden kann, das bei den verschiedenen Vertretern, in den unterschiedlichen Systemen, mehr oder weniger explizit aufgegriffen und so in unterschiedlicher Deutlichkeit sichtbar wird, und das auch, ja vielleicht gerade dann noch erkennbar ist, wenn die unterschiedlichen Versuche, Theologie zu konstituieren, in concreto durchaus verschiedene, ja sogar gegensätzliche Wege gehen. Ein, wenn nicht der entscheidende formale Gesichtspunkt, der Tübinger Theologie insgesamt kennzeichnet, wurde schon genannt: Tübinger Theologie versteht sich als Ganzheitstheologie. In diesem Sinn formuliert Joseph Ratzinger, ein wesentliches Charakteristikum der Tübinger sei, und dafür stehe vor allem Drey, „der Mut zum Ganzen“.27 Dies bezieht sich auf die innere Struktur der Theologie als System, insofern deren Einzelteile, die Einzeldisziplinen sowie die einzelnen Inhalte ein zusammenhängendes, organisches Ganzes ergeben müssen. Und es bezieht sich auf den Umfang der Theologie: Es geht der Theologie nicht um spezielle Einzelwahrheiten, etwa um Religion und Religiosität als spezifische Gegen-
26 Ebd., 341f. (§ 434). 27 Ebd., 3.
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stände von Theologie, es geht der Theologie nach Tübinger Verständnis um das Ganze der Wirklichkeit, um Gott und Welt. Aufgabe der Theologie ist es damit, dieses Ganze der Wirklichkeit mit dem Mitteln der Vernunft, also kritisch, zu reflektieren, dessen innere Struktur und Systematik zu erfassen und nach wissenschaftlichen Kriterien darzustellen, und so selbst zu einem organischen Ganzen zu werden, das Ganze der Einen Wirklichkeit also abzubilden. Dies macht es erforderlich, so Drey, das je Einzelne als solches und in seiner Verbindung zum Ganzen zu verorten und zu bestimmen. So wird aus einer Vielheit von Dingen die Einheit des Ganzen, das System der Wirklichkeit, des „Universums“. Drey sagt: „Durch beides – die Verbindung im Ganzen, und die Gebundenheit im Einzelnen erhebt sich die Gesamtheit der Dinge zur Einheit in der Allheit, d.h. zu einem Universum.“28 Dies ist, so Drey, „die höchste Betrachtung der Welt und ihrer Erscheinungen“.29 Was aber hat dies mit Theologie zu tun? Bewegt sich Drey damit nicht im Feld der Philosophie? Drey würde sicher zugestehen, dass wir es hier in der Tat mit genuin philosophischen Fragestellungen zu tun haben. Doch wie kommt der Mensch, wie kommt die Vernunft zu solchen Fragen? Es handelt sich hier, und das ist der springende Punkt für das theologische Selbstverständnis der Tübinger gegenüber der Philosophie, weder um Fragen, die von außen an den Menschen herangetragen werden, noch um solche, die in oder aus einer voraussetzungslosen reinen Vernunft, aus einem unhintergehbaren Bewusstsein deduzierbar sind. Es sind Fragen, so Drey, die dem Menschen deshalb unausweichlich sind, weil er von Grund auf und vor allem anderen religiös ist, d. h. weil er in sich, sobald er zu sich kommt, eine Abhängigkeit verspürt, die ihn offen macht für Gott. Mit beinahe feierlichen Worten eröffnet Drey in diesem Sinn seine „Kurze Einleitung in das Studium der Theologie“: „Aller Glaube und alles Wissen ruht in der dunkel gefühlten, oder deutlich erkannten Voraussetzung, dass alles Endliche, was da ist, aus einem ewigen und absoluten Grunde nicht nur hervorgegangen, sondern auch mit diesem seinem zeitlichen Sein und Leben noch in jenem Urgrunde wurzelt und von ihm getragen wird. Die Geschichte beweist, dass alles Glauben und Wissen von jener Voraussetzung ausging, und die Philosophie vermag wenigstens soviel zu beweisen, dass es ohne sie (i. e. ohne diese Voraussetzung, 30 A. F.) nichts Gewisses geben kann.“
Theologie ist also nicht etwas, was dem Menschen, wie auch immer, von außen zukommt, wie der Supranaturalismus behauptet, noch ist sie etwas, was sich rationalistisch deduzieren ließe. Dann wäre sie in Wahrheit Philosophie. Theologie liegt all dem voraus, weil der Mensch als Mensch von Grund auf religiös ist: „Religion (ist A. F.) also die erste Erscheinung im Geiste des Menschen, ursprüngliche Offenbarung in ihm, der Mensch wird sich Gottes bewusst, wie er sich seiner
28 Ebd., (154), § 3. 29 Ebd., § 4. 30 Ebd., (153), § 1.
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selbst bewusst wird.“31 Diese ursprüngliche Religiosität aber ist diffus, sie ist ein bloßes „Gefühl“ und bedarf deshalb der kritischen Reflexion, bedarf der Theologie: „Die Religion kommt also nicht von außen in den Menschen (so wie überhaupt nichts eigentlich von außen in ihn kommt), sie liegt in ihm als erstes Gefühl, als ursprüngliche wesentliche Richtung seines Geistes; sie wird weder später erworben durch Belehrung oder Anbildung, noch durch Reflexion erzeugt von ihm selbst. Die Vernunft, wie sie nur überhaupt anfängt, etwas zu vernehmen, vernimmt Gott zuerst, durch ihn sich selbst und alles andere. Aber wie alles andere Gefühl, Vernehmen, Bewusstsein u. s. f., bedarf auch das religiöse eine(r) Läuterung und Verklärung in Begriff und Objekt; und dazu dient 32 Belehrung und Reflexion, überhaupt Anregung(,) äußere und innere.“
Damit hat Drey die wesentlichen Momente seines und damit des von da an sich entwickelnden Tübinger Verständnisses von Theologie benannt bzw. zumindest angedeutet und so die einzelnen Denkwege eröffnet: Das Grundverständnis der umfassenden Einheit und Ganzheit der Theologie als Wissenschaft wird bei Drey vermittelt mit einer Philosophie, die nicht von metaphysisch-ontologischen Voraussetzungen, sondern vom menschlichen Subjekt ausgeht, also indem an die kritische Philosophie, an das Denken der Gegenwart, an Kant ebenso wie an Schleiermacher, angeschlossen wird, freilich nicht ohne diese ihrerseits kritisch auf ihre religiösen und damit theologischen Hintergründe und Implikationen hin zu reflektieren. Doch wie ist es hier noch möglich, vom christlichen Glauben als geoffenbartem, also von „Offenbarung“ zu sprechen, diese als konstitutives Moment in das Gesamtsystem zu integrieren? Drey bezeichnet, wie eben zitiert, die Religion, insofern der Mensch mit dem Erwachen des Bewusstseins seiner selbst zugleich Gottes bewusst wird, als „ursprüngliche Offenbarung“ Gottes im Menschen.33 Damit ist sozusagen der Begriff der Offenbarung auf der Ebene der Begründung von Philosophie und Theologie, auf der Ebene der Subjektivität von Anfang an, auf der Prinzipienebene schlechthin, eingeführt, d. h. es ist die Möglichkeit eröffnet, am Offenbarungsbegriff festzuhalten, ohne in Supranaturalismus abzugleiten, vielmehr Theologie aus philosophischen Gründen als „Offenbarungstheologie“ zu konstituieren. Doch bleibt so das Problem, ja es verschärft sich noch: Ist diese philosophische begründete und legitimierte „Offenbarung“ noch „Offenbarung“ im theologischen Sinn, nämlich konkret geschichtliche, und somit doch von außen an den Menschen herantretende Offenbarung? Offensichtlich ist hier von „Offenbarung“ in einem zweifachen, 31 Ebd., (155), § 6. 32 Ebd., (156f.), § 8. Die Betonung des „Gefühls“ erinnert selbstverständlich an Schleiermacher. Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden. Wichtig für den hiesigen Zusammenhang ist, dass Drey auch damit an die Debatten seiner Zeit anschließt, jedoch den Anspruch erhebt, über eine bloße „Gefühlsreligion“, also über Schleiermacher hinauszugehen. Er setzt sich damit zugleich von dem, was er aufgreift ab, indem er betont, gerade jenes religiöse Urgefühl bedürfe der begrifflichen Klärung und sei hierzu fähig. 33 S. o. Anm. 31 und vgl. die in Anm. 25 und 26 angegebenen Texte von Staudenmaier.
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nicht leicht miteinander vermittelbaren Sinn die Rede. Die Frage ist also: Sind diese beiden Offenbarungsbegriffe miteinander zu vermitteln? Drey kommt, von seinem philosophischen Offenbarungsbegriff ausgehend, zur konkreten Offenbarung, indem er das von Grund auf religiöse menschliche Bewusstsein zugleich als ebenso grundlegend freies versteht und so die Annahme göttlicher Offenbarung durch den Menschen als Akt, als Grundvollzug menschlicher Freiheit fasst. Der von Grund auf religiöse Mensch ist als freier zugleich in der Lage, sich von seiner Ur-Verbindung mit Gott zu lösen, er ist fähig, sich zu einer rein „profanen Ansicht des Universums“ verführen zu lassen, seinen „Eigenwillen“ mit der Freiheit zu verwechseln und so sich von Gott zu entfernen.34 So aber gerät der Mensch durch eigene Schuld in eine fundamentale „Entzweiung“, und zwar mit Gott und mit sich selbst. Daraus kann aber der Mensch folgerichtig nur gerettet werden durch Gott selbst, durch eine erneute Offenbarung, und zwar eine Offenbarung, derer der Mensch, weil sie geschichtlich und weil er selbst frei ist, nicht von sich aus, etwa durch philosophische Begriffsdeduktionen, habhaft werden, die er vielmehr nur anerkennen oder leugnen kann: „Darum wird eine Offenbarung notwendig, die der Mensch nimmer in seine Gewalt bekommen, die er auf keine Weise für sein oder der Natur Werk erklären kann, die er geradezu als Offenbarung Gottes unmittelbar annehmen muss, an der er selbst im Falle des entschiedensten Unglaubens nur das Faktum, nicht den Charakter leugnen kann. [...] Nur in dieser Gestalt kann eine Offenbarung den Menschen zwingen, Gott in ihr anzuerkennen; und nur eine solche kann ihn zur Anerkennung der ursprünglichen nötigen, die er gelten lässt, so lang er will, nur eine solche kann ihm die ursprüngliche deuten, die er 35 nehmen kann, in welchem Sinne er will.“
Diese Synthese von Vernunft und Realität, von Begriff und Geschichte, von philosophischer Konstruktion und reflektierender Kritik des Christentums ist nach Drey das Kennzeichen „des Katholizismus“, der sich so als umfassendes Wirklichkeitssystem erweist: „So genügt er der die höchste Einheit der Prinzipien suchenden Vernunft, und den billigen Forderungen des mit dem Einzelnen beschäftigten Verstandes, aber zuerst und vorzüglich dem Bedürfnis eines objektiven Glaubens und der hohen Achtung für eine göttliche Offenbarung.“36 Wir können somit zusammenfassend festhalten: Drey war sich offensichtlich der geradezu gigantischen Aufgabe bewusst, vor der er die Theologie seiner Zeit gestellt sah, insofern diese Wissenschaft, und zwar kritische Wissenschaft „des Ganzen“ sein soll. Er nimmt diese Herausforderung an, indem er selbst die Grundlinien einer zeitbezogenen, kritischen Theologie entwirft, die aber zugleich den Ansprüchen der Tradition, des Christentums als geschichtsbezogener Offenbarungsreligion, gerecht wird. 34 Ebd., (161), § 21. 35 Ebd., (164), § 22. 36 Johann Sebastian von DREY, Vom Geist und Wesen des Katholizismus, in: Geist des Christentums und des Katholizismus. Ausgewählte Schriften katholischer Theologie im Zeitalter des Deutschen Idealismus und der Romantik, herausgegeben, eingeleitet und erklärt von D. Joseph Rupert GEISELMANN, Mainz 1940, 193–234, Zitate 203.
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Ob und inwiefern Drey und mit ihm bzw. nach ihm der illustren Reihe „der Tübinger“ insgesamt zugesprochen werden kann, hierzu bis heute Gültiges und Wegweisendes beigetragen zu haben, muss hier offen bleiben und ist sicher sehr differenziert zu betrachten. Angesichts der kaum bestreitbaren Tatsache aber, dass wir heute, in Zeiten, die mit denen der Tübinger der ersten und zweiten Generation durchaus vergleichbar sind, erneut herausgefordert sind, Theologie im Kontext komplexer Wirklichkeit zu treiben, bleiben uns, wenn wir denn die Tübinger Theologie heute fruchtbar machen wollten, in jedem Fall zwei grundlegende Fragen, nämlich erstens: Können wir so heute noch Theologie treiben, d. h. können wir einen solchen Einheits- und Ganzheitsanspruch unsererseits noch stellen? Anders gefragt: Können wir es wagen, unter heutigen Denkbedingungen Begriffe wie Universum, System, Einheit, Geschichte, Wahrheit, Freiheit, Offenbarung zu benutzen, um eine umfassende philosophisch-theologische Synthese „des Ganzen“ zu erstellen? Müssen wir uns nicht vielmehr bescheiden? Bescheiden aber wozu? Und das ist die zweite Frage: Wenn wir uns denn einem solchen umfassenden Systemdenken gegenüber, wie sich die Tübinger offensichtlich nicht gescheut haben, es zu entwickeln – und nicht zuletzt damit waren sie ganz Kinder ihrer Zeit –, was ist dann die Alternative, was heißt es dann heute, streng wissenschaftlich Theologie zu treiben und zugleich die von den Tübingern gestellten Fragen aufzugreifen, uns wie sie herausfordern zu lassen von der Gegenwart? Was hält uns z. B. zurück, Theologie heute im Sinne Dreys als Universalwissenschaft zu treiben, die ihren Wahrheitsanspruch bzw. ihre Wahrheitsansprüche nicht nur anderen stellt und vorhält, sondern zuerst sich selbst einem solchen radikal unterstellt und sich davon in die Pflicht nehmen lässt? Es wäre gewiss Tübinger Theologie angemessen, wenn wir weder vorschnell versuchen würden, endgültige Antworten zu formulieren, noch – ebenso vorschnell – solche Fragen als heute obsolet abzutun. Hätten wir nicht schon viel erreicht, wenn wir uns, von „den Tübingern“ geschult, weniger über mögliche Antworten, als vielmehr erst einmal darüber verständigen könnten, welches die heute richtigen und wichtigen Fragen sind, denen wir uns zu stellen haben?
4. Die Bibel in der Tübinger Theologie Abgeschlossen werden sollen diese Überlegungen im Blick auf die spezielle Thematik dieses Sammelbandes mit einigen wenigen Bemerkungen zu Dreys und Staudenmaiers Ausführungen über die Biblische Theologie und die Exegese als eigene Teilwissenschaft im Kontext des Ganzen der Theologie. Anstelle von abschließenden Antworten auf die soeben gestellten Fragen – solche hier geben zu wollen, wäre vermessen – möchte ich in aller Kürze aufzeigen, wie sich Dreys umfassender Theologiebegriff im Verständnis von biblischer Theologie niederschlägt. Nach Dreys Verständnis ist die biblische Theologie wesentliches Moment der Theologie als System. Das „Bibelstudium“ ist für Drey grundlegender Bestandteil
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und erster Teil der „historischen Propädeutik“.37 Es fällt auf, dass Drey zwar, wie gezeigt, einen philosophischen Begriff von Offenbarung entwickelt und von hier aus auf die biblische Offenbarung deduktiv sozusagen zusteuert, dass er aber zugleich, und zwar gerade von daher, nämlich insofern er ein spezifisch theologisches, d. h. geschichtsbezogenes Offenbarungsverständnis als legitim und notwendig deduziert, ein zumindest in Ansätzen bemerkenswert modernes, historisch-kritisches Verständnis von Exegese erkennen lässt. So öffnet er gewissermaßen den Blick für eine historisch-kritische Herangehensweise an die Bibel, wenn er konstatiert: „Der Inhalt der Bibel – hier zunächst des Neuen Testaments – ist zwar wie die Darstellung zunächst historisch; doch lässt sich in ihr selbst das an sich historische von dem bloß historisch dargestellten unterscheiden.“38 Und er scheut sich nicht, für den Umgang mit dem Historischen der Bibel die entsprechenden Profanwissenschaften heranzuziehen: „Der Geist, in welchem diese Geschichte aufgefasst werden muss, ist im allgemeinen kein anderer, als der Geist der Geschichtsforschung überhaupt.“39 Franz Anton Staudenmaier führt diese Aussagen Dreys fort und entwickelt in seiner bereits genannten Theologischen Enzyklopädie eine „Kritik und Exegetik“ der biblischen Texte. Eine sachgemäße Hermeneutik biblischer Texte, so Staudenmaier – und die Hermeneutik ist für ihn als „Wissenschaft von den Gesetzen der Auslegung der Mittelpunkt der exegetischen Theologie“ – darf nicht einseitig nur eine Methode der Textauslegung anwenden, sie hat vielmehr darauf zu achten „dass die Auslegung historisch, moralisch, linguistisch und allegorisch sei.“40 Ein solch differenziertes Problembewusstsein mag uns erstaunen, insofern wir in aller Regel die Entstehung und die Etablierung der historisch-kritischen Methode der Exegese sehr viel später ansetzen und mit fundamentaler Kritik an systematischer Theologie verbinden. Der hier vorgenommene Blick auf die Tübinger Theologie zeigt, dass wir sowohl hinsichtlich der Genese als auch hinsichtlich der Geltung, der sachlichen Bedeutung der Exegese für die Theologie insgesamt, wohl einiges zu differenzieren, vielleicht neu zu lernen haben. Historisch-kritische Exegese ist für die Tübinger, Drey und Staudenmaier stehen dafür, nicht, jedenfalls nicht nur und nicht in erster Linie, eine von außen an die Theologie, näherhin an die Systematische Theologie herangetragene und am Ende zerstörerische Kritik. Es ist umgekehrt: Vom grundlegenden Ansatz her, nämlich insofern Theologie Offenbarungstheologie ist, gehört die Exegese, gehört die wissenschaftliche, historisch-kritische Auseinandersetzung mit eben dieser Offenbarung, konstitutiv zur Theologie. Nicht nur daran dürfte deutlich werden, dass die Tübinger Theologie für heutiges theologisches Denken fruchtbar zu machendes Potenzial enthält, das noch lange nicht ausgeschöpft ist. Und dies gilt offensichtlich nicht nur für die fundamentaltheologischen Grundlegungsfragen, sondern auch für die Exegese, und 37 38 39 40
Michael KESSLER - Max SECKLER (Hg.) (Anm. 2), (225). Ebd., (226), § 109. Ebd., (229), § 114. Franz Anton STAUDENMAIER (Anm. 19), 417 und 423f. (§§ 647.651).
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wohl kaum weniger für die praktische und die historische Theologie. Es wäre wohl schon einiges gewonnen, wenn wir darauf achten würden, in der theologischen Arbeit heute, in welchem Bereich auch immer, den Sachstand der frühen „Tübinger“ möglichst adäquat aufzugreifen und in der eigenen Arbeit daran anzuschließen.
Von der „moralischen“ zur „kritischen“ Bibelauslegung Peter Alois Gratz (1769–1849)1 Norbert Wolff SDB
Peter Alois Gratz (1769–1849)2, Pfarrer von Untertalheim bei Horb am Neckar, schrieb am 10. März 1805 an den Konstanzer Generalvikar Ignaz Heinrich von Wessenberg (1774–1860): „Das Bibelstudium, sowohl das kritische als das moralische, ist noch stets meine Hauptbeschäftigung. Ich habe darin dem Gange der Wissenschaft beigehalten und bin mit dem Zeitgeist fortgerückt.“3 In seinem Brief erwähnte Gratz eine damals geläufige Unterscheidung: Auf der einen Seite gab es eine „kritische“ bzw. „theoretische“ oder „gelehrte“ Schriftauslegung, auf der anderen Seite eine „moralische“ bzw. „praktische“ oder „erbauende“. Während es bei ersterer um eine in den Zuständigkeitsbereich der Bibelwissenschaften fallende historisch-kritische Erklärung ging, hatte letztere den seelsorglichen Umgang mit der Heiligen Schrift zum Gegenstand und wurde vielfach im Rahmen der Pastoraltheologie behandelt.4 Die Bemühungen um eine historisch-kritische Erforschung der Bibel verschafften Peter Alois Gratz 1812 den Lehrstuhl für Neues Testament an der Katholischen Landesuniversität in Ellwangen, der Vorgängerin der KatholischTheologischen Fakultät der Universität Tübingen. Nach dem Umzug im Herbst 1
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Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine überarbeitete und deutlich erweiterte Fassung eines früheren Aufsatzes: Norbert WOLFF, „Das Bibelstudium, sowohl das kritische als das moralische …“ Peter Alois Gratz (1769–1849) – Bibelwissenschaftler und Seelsorger, in: Josef WEHRLE - Sven VAN MEEGEN (Hg.), Gottes Wort – unser Leben. Biblische Texte als Grundlage einer lebensbejahenden Ethik (= Bibel und Ethik, Bd. 1), Münster 2007, 131–140. Zu ihm: Norbert WOLFF, Peter Alois Gratz (1769–1849). Ein Theologe zwischen „falscher Aufklärung“ und „Obscurantismus“ (= Trierer Theologische Studien, Bd. 61), Trier 1998. – Eine Kurzbiographie und -bibliographie bietet: DERS., Gratz, Peter Alois, in: BiographischBibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 14, Herzberg 1998, 1062–1067. Gratz an Wessenberg, Untertalheim, 1805 März 10, in: Rudolf REINHARDT, Ein Kapitel katholischer Aufklärung. Neues über Peter Alois Gratz (1769–1849) und seine Zeitgenossen, nebst sieben seither unbekannten Briefen des Theologen, in: Theologische Quartalschrift 154 (1974), 340–365, hier 358f. Vgl. REINHARDT, Ein Kapitel katholischer Aufklärung (Anm. 3), 346; Norbert WOLFF, Bibel und Bibelwissenschaft in der Aufklärungszeit, in: Reinhold BOHLEN (Hg.), Dominikus von Brentano 1740–1797. Publizist, Aufklärungstheologe, Bibelübersetzer, Trier 1997, 205–227, hier 215–220.
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1817 war Gratz der erste neutestamentliche Bibelwissenschaftler der „Katholischen Tübinger Schule“. Er blieb allerdings nur zwei Jahre lang in der Universitätsstadt am Neckar. Dies war einer der Gründe dafür, dass er bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in Tübingen wenig Beachtung fand. Ein weiterer Grund war die kritische – von manchen Zeitgenossen als „rationalistisch“ wahrgenommene – Ausrichtung seiner Studien. Josef Rief äußerte sich dazu 1970 in der Theologischen Quartalschrift: „Obwohl er der Senior der im Jahre 1817 in Tübingen errichteten KatholischTheologischen Fakultät war, obwohl er die Theologische Quartalschrift mitbegründete und obwohl er sie im ersten Jahr ihres Erscheinens redigierte, zählt Peter Alois Gratz im allgemeinen Bewußtsein nicht zu den Vätern der Katholischen Tübinger Schule. […] Im Autorenkatalog des Katholisch-Theologischen Seminars fehlt sein Name. Daß er gleichsam ausgelöscht wurde, ist kein Zufall. Schon sehr früh wurde über Gratz ein vernichtendes Anathem verbreitet, das die Nachfahren, Fakultätsmitglieder nicht ausgenommen, 5 bis in die Gegenwart eifrig und überzeugt wiederholt haben.“
1. Biographisches 1.1. Allgemeiner Überblick Peter Alois Gratz kam als Sohn eines Lehrers am 17. August 1769 in Mittelberg bei Kempten zur Welt und wuchs ab dem vierten Lebensjahr in Stötten am Auerberg bei Marktoberdorf auf. Von 1786 an studierte er Philosophie und Theologie an der Universität Dillingen, wo der Pastoraltheologe Johann Michael Sailer (1751–1832)6 zu seinen Lehrern zählte. 1792 empfing er die Priesterweihe und trat auf Sailers Empfehlung seine erste Stelle als Hofmeister (Hauslehrer und Erzieher) auf der Weitenburg unweit von Horb am Neckar an. 1795 erfolgte die Ernennung zum Pfarrer des nahe gelegenen Ortes Untertalheim. Wegen Streitigkeiten mit der Pfarrei, bei denen es vor allem um finanzielle Fragen ging, zog sich Gratz von Frühjahr 1805 bis Herbst 1807 auf die Weitenburg zurück und konnte sich dort intensiv dem (privaten) Studium der Heiligen Schrift widmen. Anfang 1806 fiel die bisher österreichische Grafschaft Hohenberg, zu der Untertalheim und die Weitenburg gehört hatten, an Württemberg. Im Herbst 1812 errichtete der Staat in Ellwangen eine Katholische Landesuniversität zur Ausbildung der württembergischen Priesteramtskandidaten. Gratz, der im selben Jahr 5 6
Josef RIEF, Peter Alois Gratz 1769–1849, in: Theologische Quartalschrift 150 (1970), 28–33, hier 28. Zu ihm: Georg SCHWAIGER, Johann Michael Sailer. Der bayerische Kirchenvater, München 1982; Konrad BAUMGARTNER - Peter SCHEUCHENPFLUG (Hg.), Von Aresing bis Regensburg. FS zum 250. Geburtstag von Johann Michael Sailer am 17. November 2001 (= Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg, Bd. 35), Regensburg 2001; Philipp GAHN, Johann Michael Sailers Gebetbücher. Eine Studie über den lebenslangen Versuch, ein Dolmetsch des betenden Herzens zu sein (= Pietas Liturgica. Studia, Bd. 16), Tübingen 2007.
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eine Arbeit über die Entstehung der synoptischen Evangelien veröffentlichte,7 erhielt hier den Lehrstuhl für griechische Sprache und Hermeneutik des Neuen Testaments. 1817 transferierte das Königreich Württemberg die KatholischTheologische Fakultät von Ellwangen an die Universität Tübingen. Zusammen mit den Kollegen Johann Sebastian Drey (1777–1853), Johann Georg Herbst (1787–1836) und Johann Baptist Hirscher (1788–1865) begründete Gratz 1819 die Theologische Quartalschrift und fungierte für kurze Zeit als erster Schriftleiter. Besonders zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, dass Gratz in den Jahren von 1812 bis 1818 der literarisch produktivste der katholischen Ellwanger bzw. Tübinger Theologieprofessoren war. 1819 folgte er einem Ruf an die neu gegründete Universität Bonn. Als „Professor primarius“ hatte er sich um die Organisation der dortigen KatholischTheologischen Fakultät zu kümmern. Von 1820 bis 1824 gab er eine Zeitschrift unter dem Titel Der Apologet des Katholicismus heraus, in der er seine Kirche gegen – wie er meinte – ungerechtfertigte Angriffe von protestantischer Seite verteidigte.8 1821 veröffentlichte er den ersten Band eines Kommentars zum Matthäus-Evangelium,9 der im preußischen Kultusministerium Zweifel an seiner Rechtgläubigkeit aufkommen ließ. Man holte deshalb von den Katholisch-Theologischen Fakultäten in Breslau und Münster Gutachten zu diesem Kommentar ein, die sehr negativ ausfielen. Daher bemühte sich das Ministerium ab 1822, Gratz aus dem Lehramt zu entfernen und ihm eine Domherrenstelle zu verschaffen. Zu Ostern 1823 musste Gratz seine Vorlesungstätigkeit in Bonn beenden. Im selben Jahr erschien der zweite Band des Matthäus-Kommentars, der allerdings für die öffentliche Diskussion keine Rolle mehr spielte. Nach einer Zeit des Wartens, in der er wiederum zahlreiche Beiträge zur Theologischen Quartalschrift beisteuerte, wurde Gratz 1828 Geistlicher Rat und Schulrat an der preußischen Bezirksregierung in Trier. Hier entfaltete er noch einmal eine fruchtbare Tätigkeit und machte sich insbesondere um das von der Schließung bedrohte Schullehrerseminar St. Matthias verdient. Von 1839 an verbrachte er seinen Ruhestand an der hessischen Bergstraße; am 1. November 1849 starb er in Darmstadt. 1.2. Gratz als Sailer-Schüler Der Begriff „Sailer-Schüler“ ist zweifellos interpretationsbedürftig. Zum einen lässt er sich auf Theologen sehr unterschiedlicher Richtungen anwenden: Aufklärer, Ultramontane und Anhänger von Erweckungsbewegungen hatten Sailer ge7 8
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[Peter Alois] GRATZ, Neuer Versuch, die Entstehung der drey ersten Evangelien zu erklären (= Alois Gratz kritische Schriften, Bd. 1), Tübingen 1812. [Peter Alois] GRATZ (Hg.), Der Apologet des Katholicismus. Eine Zeitschrift zur Berichtigung mannigfaltiger Entstellungen des Katholicismus. Für Freunde der Wahrheit und der Bruderliebe, 9 Hefte, Mainz 1820–1824. [Peter Alois] GRATZ, Kritisch-historischer Kommentar über das Evangelium des Matthäus, 2 Bde., Tübingen 1821–1823.
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hört und blieben auch nach Abschluss des Studiums in Verbindung mit ihrem Lehrer. Zum anderen ist in der Vergangenheit gelegentlich versucht worden, Beziehungen zu Sailer zu konstruieren und etwa einen Wissenschaftler wie Johann Sebastian Drey wenigstens zu einem indirekten Sailer-Schüler zu machen.10 Bei Peter Alois Gratz handelte es sich jedenfalls um einen direkten Sailer-Schüler, der in seiner Dillinger Studienzeit die Vorlesungen des Pastoraltheologen besucht hatte – einen Sailer-Schüler freilich, der später eigene Wege ging, sich selbständig weiterentwickelte und wohl keinen intensiven Kontakt mehr zu Sailer hatte. Die Tatsache, dass dieser dem Neupriester Gratz im Herbst 1792 die Stelle eines Hofmeisters auf der Weitenburg vermittelte, verweist im Übrigen darauf, dass der „bayerische Kirchenvater“ den jungen Theologen kannte und ihm auch eine gewisse Wertschätzung entgegenbrachte. Johann Michael Sailer war in Dillingen für die praktische Bibelauslegung zuständig, d.h. er hatte die Anwendung der Heiligen Schrift in Seelsorge, Gottesdienst, Predigt, Katechese usw. aufzuzeigen. In den Jahren 1788 und 1789, also während Gratz’ Dillinger Studienzeit, veröffentlichte er seine Vorlesungen aus der Pastoraltheologie,11 deren erster Band ganz dem seelsorglichen Umgang mit der Heiligen Schrift gewidmet war. Sailer empfahl seinen Schülern die Lektüre der Bibel, um tiefer in deren Geist einzudringen. Außerdem legte er den (angehenden) Priestern nahe, die biblischen Lesungen zur Grundlage ihrer Predigten zu machen. Sehr aufschlussreich ist seine Unterscheidung zwischen „erbauender Schriftbetrachtung“ und „gelehrtem Schriftforschen“: „1. Unter erbauender Schriftbetrachtung verstehe ich die Beschäftigung des Auges (des Ohres), des Verstandes, des Willens, der ganzen Menschenseele mit dem Inhalt und Geist der Schrift, zur Beförderung des Wachsthums an Weisheit, Tugend, Glückseligkeit. 2. […] Die erbauende Schriftbetrachtung beschäftigt die ganze Menschenseele, beschäftiget Sinn und Geist, Verstand und Herz – den Menschen. Das Auge ohne Verstand kann nur den Buchstaben sehen, das Ohr nur den Laut hören; der Verstand ohne Wille nur forschen; der Wille ohne Sinn für den Geist der Schrift, nur am Buchstaben nagen; und ohne herrschende Absicht, besser, weiser zu werden, fehlt allen Menschenkräften die Richtung, die sie haben sollten. Auch da gilt der große Grundsatz; der Mensch soll nicht trennen, was der Schöpfer vereint hat. […] 5. Es lohnt der Mühe, diesen Unterschied genau zu bestimmen. Die gelehrte Schriftforschung geht auf Untersuchung aus: die erbauende Schriftbetrachtung auf Besserung, Veredlung des Herzens, und um dieses Zweckes willen auch auf Erleuchtung des Verstandes. Ein Unterschied! Jene wagt sich in Tiefen, Dunkelheiten, Räthsel: diese bleibt bey dem Gewissen, Klaren, Planen stehen. Ein zweyter Unterschied! 10 Zur diesbezüglichen Kritik vgl. Abraham Peter KUSTERMANN, Die Apologetik Johann Sebastian Dreys (1777–1853). Kritische, historische und systematische Untersuchungen zu Forschungsgeschichte, Programmentwicklung, Status und Gehalt (= Contubernium, Bd. 36), Tübingen 1988, 67–75. 11 J[ohann] M[ichael] SAILER, Vorlesungen aus der Pastoraltheologie, 3 Bde., München 1788– 1789. – Vgl. Yves-Claude GELEBART, La Bible dans l’Aufklärung catholique, in: Yvon BELAVAL - Dominique BOUREL (Hg.), Le siècle des Lumières et la Bible (= Bible de tous les temps 7), Paris 1986, 563–577, bes. 574–577; Peter SCHEUCHENPFLUG, Die Katholische Bibelbewegung im frühen 19. Jahrhundert (= Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge, Bd. 27), Würzburg 1997, 43–49; WOLFF, Bibel und Bibelwissenschaft (Anm. 4), 220.
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Jene löset Schwierigkeiten, und macht Schwierigkeiten: diese hält sich an’s Leichtanwendbare, und an’s Herzerhebende. Ein dritter Unterschied! Jene mag grossen Aufwand von Scharfsinn, Sprachenkenntniß, Alterthümerstudium u.s.w. fodern [!]: diese gesunden, nicht ungeübten Menschenverstand, einige Vorerkenntnisse, und den lebendigen Vorsatz, besser zu werden, und andere besser zu machen. Ein vierter Unterschied! Jene gehöret in den gelehrten Hörsaal des Schriftlehrers, und auf die Studierstube des Forschers: diese in das Gemach des Volkstheologen, und für das Herz eines jeden, der lesen oder wenigst hören, und denken kann, und besser werden und andere besser machen will. Auch noch ein Unterschied. Das wären also die Gränzen zwischen dem erbauenden 12 und gelehrten Schriftbetrachten.“
Der Theologe Joseph Anton Schmeller (1738–1810) unterrichtete seinerzeit an der Dillinger Universität Exegese, Hermeneutik und Hebräisch und war damit für die theoretische Bibelauslegung zuständig. In den Auseinandersetzungen, die in Dillingen um 1790 zwischen den Anhängern verschiedener theologischer Richtungen stattfanden, stand er im Gegensatz zu Sailer auf der Seite der Aufklärungsgegner. Schmeller war von 1774 bis 1787 auch Direktor der Normalschule gewesen und hatte sich um das Schulwesen im Hochstift Augsburg verdient gemacht. In bibelwissenschaftlicher Hinsicht scheint er Gratz nicht besonders geprägt zu haben.13 Als Pfarrer von Untertalheim unternahm Gratz erste literarische Versuche – und betrieb dabei ganz offensichtlich erbauende Schriftbetrachtung. 1799 erschien zunächst ein Büchlein mit dem Titel Gebete für die Schuljugend im Druck.14 Die Auflage dieses Erstlingswerks, das von Gratz im Rahmen seiner eigenen pastoralen Praxis eingesetzt wurde, muss sehr niedrig gewesen sein; möglicherweise war das Büchlein nur in der Pfarrei Untertalheim verbreitet.15 In den Jahren 1803 bis 1806 übermittelte Gratz verschiedene einschlägige Schriften an Ignaz Heinrich von Wessenberg. Die Titel der – heute nicht (mehr) auffindbaren – Manuskripte, sind durchaus aussagekräftig und lassen sich den Begleitbriefen an den Konstanzer Generalvikar entnehmen, die 1974 von Rudolf Reinhardt ediert worden sind. Im August bzw. Oktober 1803 versandte Gratz Nutzanwendungen über das Evangelium des Matthäus sowie eine Bearbeitung des Briefes an die Römer.16 Das letztgenannte Werk bezeichnete er an anderer Stelle als Moralischen Kommentar zum Römerbrief.17 Später verfasste er noch einen Bilderkatechismus und eine Moralische Erzählung in der Form des Vaterunsers.18 Festzuhalten bleibt: Der frühe Peter Alois Gratz legte die Heilige Schrift weniger historisch-kritisch als vielmehr moralisch bzw. praktisch oder erbauend aus 12 SAILER, Vorlesungen aus der Pastoraltheologie (Anm. 11), Bd. 1, 65–67. 13 Vgl. WOLFF, Peter Alois Gratz (1769–1849) (Anm. 2), 21f. 14 Peter Alois GRATZ, Gebete für die Schuljugend. Eine Christenlehrschankung, Konstanz 1799. – Der Titel ließ sich nur bibliographisch nachweisen. Vgl. WOLFF, Peter Alois Gratz (1769– 1849) (Anm. 2), 6 u. 459. 15 Vgl. WOLFF, Peter Alois Gratz (1769–1849) (Anm. 2), 36. 16 Vgl. Gratz an Wessenberg, Untertalheim, 1803 Oktober 28, in: REINHARDT, Ein Kapitel katholischer Aufklärung (Anm. 3), 357f. 17 Vgl. Gratz an Wessenberg, Untertalheim, 1805 März 10, ebd., 358f. 18 Vgl. Gratz an Wessenberg, Weitenburg, 1806 November 9, ebd., 360.
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– und erwies sich damit als Schüler Johann Michael Sailers. Aber schon zu dieser Zeit verfolgte Gratz weitergehende Pläne. 1803 sprach er Wessenberg gegenüber davon, dass er ein Handbuch herausgeben möchte, durch welches junge Priester in die Bibel eingeführt werden sollten.19 Anfang 1805 griff er diesen Gedanken wieder auf: Die Bibelwissenschaft, so Gratz, mache von Jahr zu Jahr große Fortschritte. Das könne jedoch zu Schwierigkeiten innerhalb des Diözesanklerus führen, denn die älteren Geistlichen hätten keinen Anschluss mehr an den aktuellen Stand der Wissenschaft und die jüngeren müssten vor Fehlentwicklungen gewarnt werden. Daher sei die Herausgabe eines kritischen Bibelkommentars (und wohl auch eine finanzielle Unterstützung der Drucklegung) ganz im Interesse der Diözese, zumal die Exegese einen großen Einfluss auf alle theologischen Fächer ausübe.20
2. Der Bibelwissenschaftler 2.1. Die Wende zur Bibelkritik: der Neue Versuch von 1812 Gratz’ Wende vom moralischen zum kritischen Bibelstudium fand endgültig in den Jahren 1805 bis 1807 auf der Weitenburg statt. Hier beschäftigte er sich – wie wir annehmen dürfen, weitgehend als Autodidakt – mit dem sogenannten synoptischen Problem, also mit der Frage, warum eine Zusammenschau der ersten drei Evangelien sehr viele Gemeinsamkeiten, aber auch beträchtliche Unterschiede zwischen diesen Evangelien erkennen lässt. Am 30. Januar 1807 schrieb Gratz an die württembergischen Behörden: „Seit meiner Abwesenheit von Thalheim, wo ich hier in Weittenburg volle Musse hatte, den Wissenschaften obzuliegen, war meine vorzügliche Arbeit, die Verfertigung eines philologisch-kritischen Kommentars über die drey ersten Evangelien, und die Uibersetzung derselben aus dem Griechischen Grundtext; wovon die Arbeit so weit fortgeschrit21 ten ist, daß ich nach einem Jahre der Vollendung entgegensehe.“
Anfang 1807 hielt Gratz sich aufgrund seiner Forschungen für ausreichend vorbereitet, einen theologischen Lehrstuhl zu übernehmen, wie er im selben Schreiben erklärte. Zur Gründung einer Katholisch-Theologischen Fakultät kam es – wie erwähnt – 1812 in Ellwangen. In einem Papier des Stuttgarter Kultusministeriums vom 5. September 1812, das sich mit den für die Katholische Landesuniversität vorgesehenen Professoren befasste, hieß es über Gratz, dass dieser „als Schriftsteller vortheilhaft bekannt“ sei und deshalb als geeignet angesehen werde, den
19 Vgl. Gratz an Wessenberg, Untertalheim, 1803 Oktober 28, ebd., 357f. 20 Vgl. Gratz an Wessenberg, Untertalheim, 1805 März 10, ebd., 358f. 21 Gratz an Kreisamt Rottenburg, Weitenburg, 1807 Januar 30, in: WOLFF, Peter Alois Gratz (1769–1849) (Anm. 2), 473.
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neutestamentlichen Lehrstuhl zu bekleiden.22 Die Bemerkung bezog sich darauf, dass kurz zuvor die Ergebnisse der Forschungen zum synoptischen Problem im Druck erschienen waren. Das 262-seitige Buch trug den Titel: Neuer Versuch, die Entstehung der drey ersten Evangelien zu erklären und außerdem den Reihentitel: Alois Gratz kritische Schriften. Die Veröffentlichung dieses Buchs, das gewissermaßen die Funktion einer Dissertation erfüllte, ebnete Gratz den Weg zur Ellwanger Friedrichs-Universität.23 Worin bestand nun der Neue Versuch? Im Vorwort wies Gratz darauf hin, dass bezüglich der Entstehung der drei ersten Evangelien zwei Hauptthesen existierten.24 Die erste der von ihm nicht explizit genannten Thesen ging davon aus, dass die Evangelisten sich gegenseitig benutzt hätten. Wichtige Vertreter dieser Benutzungshypothese waren der Freiburger katholische Neutestamentler Johann Leonhard Hug (1765–1846) und der Jenaer evangelische Kollege Johann Jakob Griesbach (1745–1812). Der Neue Versuch liest sich über weite Strecken als Auseinandersetzung mit Hugs Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments.25 Dieser war der Auffassung gewesen, dass die im Neuen Testament üblicherweise vorzufindende Reihenfolge der Synoptiker (Matthäus – Markus – Lukas) zugleich die Chronologie der Entstehung widerspiegle: „Wenn wir die Evangelien in dieser Fortschreibung betrachten, werden sich leicht alle jene Schwierigkeiten auflösen, welche Andere zu andern Ansichten geführt haben. Es klärt sich von selbst auf, wie Markus den Matthäus gesehen, und dennoch mehrere Begebenheiten anders gereiht, mehrere durch das Sonderheitliche der Umstände in ein eigenes Licht gestellt, und einige Bestimmungen so angelegt haben konnte, daß sie sogar dem Matthäus zu widersprechen scheinen. Oder wie Lukas den Markus gesehen haben konnte, und dennoch manchmal noch genauer in der Abfolge, in der Angabe von Zeit und Ort und Umständen seyn durfte; und wie er ungeachtet seines Reichthums in dem einen und andern Falle auch kürzer geworden ist, als es geschehen seyn möchte, wenn 26 er nicht auf die Ausführlichkeit seines Vorgängers Rücksicht genommen hätte.“
Die zweite These zur Lösung des synoptischen Problems ging davon aus, dass ein aramäisches Urevangelium existiert habe. Einer der Hauptvertreter war der Göttinger evangelische Theologe Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827). Peter Alois Gratz kombinierte in seinem Neuen Versuch die Benutzungs- und die Urevangeliumshypothese, wobei er betonte, dass es in diesem Bereich nur Hypothesen geben könne und es daher nicht möglich sei, eine absolute Sicherheit zu erreichen. Er entwickelte seine eigene Theorie, indem er die einzelnen Evange22 JASMUND, „Allerunterthänigster Bericht des Ministers der Geistlichen Angelegenheiten“ an den württembergischen König Friedrich, 1812 September 5, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, E 11 Bü 4. 23 Zur 1813 erfolgten Promotion der Ellwanger Professoren durch die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Freiburg/Br. (Dekan: Johann Leonhard Hug) vgl. WOLFF, Peter Alois Gratz (1769–1849) (Anm. 2), 83f. 24 GRATZ, Neuer Versuch (Anm. 7), V–X. 25 Joh[ann] Leonhard HUG, Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments, 2 Bde., Tübingen 1808. 26 Ebd., Bd. 2, 131.
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lien hinsichtlich der Übereinstimmungen und der Unterschiede verglich und u. a. zu dem Schluss kam, dass Lukas und Markus über eine gemeinsame Quelle – ein griechisches Urevangelium – verfügt hätten, das dem Evangelisten Matthäus in der ursprünglichen aramäischen Version vorgelegen habe.27 In einer Rezension zu einer Schrift Friedrich Schleiermachers (1768–1834) fasste Gratz seine Ansicht später prägnant zusammen: „Rec. glaubte, die Wahrheit möchte wohl auch hier in der Mitte liegen, und stellte eine vermittelnde Ansicht auf. (Neuer Versuch, die Entstehung der drey ersten Evangelien zu erklären. Tübingen 1812). Er nahm ein doppeltes Urevangelium an; das zuerst in aramäischer Sprache für Palestinensische Christen verfaßt war, welches dann bey Verbreitung des Evangeliums außer Palestina in das Griechische übersetzt, und zugleich in etwas erweitert wurde. Ferner nahm Rec. an: Matthäus habe sein Evangelium Aramäisch geschrieben, der Uebersetzer desselben hätte das Evangelium des Markus vor sich gehabt, und von diesem nicht blos den Ausdruck entlehnt, sondern wohl auch ein und andres aus dem Markus in den übersetzten Matthäus übertragen. Endlich machte er noch aufmerksam, daß wohl zuverlässig ein und der andre Abschnitt in unserm Matth. 28 und Lukas aus einem von beyden in den andern übertragen sey.“
Zu sekundären Einfügungen aus einem Evangelium in ein anderes – „Interpolationen“, wie Gratz sie nannte – sei es möglicherweise durch die Benutzung der Heiligen Schrift im Gottesdienst der Alten Kirche gekommen.29 Mit Interpolationen und ihrer Bedeutung für die neutestamentliche Textkritik befasste sich Gratz in weiteren Schriften, die während seiner Ellwanger und Tübinger Lehrtätigkeit entstanden.30
27 GRATZ, Neuer Versuch (Anm. 7), bes. 52 u. 106. 28 [Peter Alois GRATZ], Rez. zu Fr. Schleiermacher, Ueber die Schriften des Lukas, 1. Bd., Berlin 1817, in: Theologische Quartalschrift 1 (1819), 218–233, hier 218f. 29 GRATZ, Neuer Versuch (Anm. 7), 158. 30 [Peter Alois] GRATZ, Ueber Interpolationen in dem Briefe Paulus an die Römer, und ihrer Veranlassung mehrerer Schwierigkeiten in diesem Briefe, Ellwangen 1814; [Peter Alois] GRATZ, Kritische Untersuchungen über Marcions Evangelium, Tübingen 1818. – Vgl. Markus THURAU, Röm 5,12–21 innerhalb der neutestamentlichen Exegese der Katholischen Tübinger Schule – Konturen einer Auslegungsgeschichte, in: Anja MIDDELBECK-VARWICK (Hg.), „So lauert die Sünde vor der Tür“ (Gen 4,17). Reflexionen über das Phänomen der Fehlbarkeit (= Apeliotes. Studien zur Kulturgeschichte und Theologie, Bd. 9), Frankfurt a. M. 2011, 119–163.
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2.2. Biblische Hermeneutik: Erwägungen zum wissenschaftlichen und pastoralen Umgang mit der Heiligen Schrift 2.2.1. Freiheit der Bibelforschung31 Gegen Ende seiner Lehrtätigkeit an der Ellwanger Friedrichs-Universität, verfasste Gratz eine Disputationsschrift, in der er seine Auffassung von der Freiheit eines katholischen Bibelwissenschaftlers in programmatischer Weise darlegte. Diese erschien 1817 unter dem Titel: Ueber die Grenzen der Freiheit, die einem Katholiken in Betreff der Erklärung der heiligen Schrift zusteht.32 Gratz begann mit der Feststellung, die katholische Kirche werde seit 300 Jahren des Glaubensdespotismus beschuldigt, und man begründe diese Anschuldigung mit dem Trienter Bibeldekret, welches festgelegt habe, dass niemand die Bibel in seinem eigenen Sinn und gegen die Meinungen der Kirchenväter auslegen solle. Er wies darauf hin, dass das Konzilsdekret nicht nur Einschränkungen für die Arbeit eines katholischen Bibelwissenschaftlers mit sich bringe, sondern dass in bestimmten Bereichen dem Wissenschaftler durchaus eine große Freiheit belassen werde: „Zuerst glauben wir darauf aufmerksam machen zu müssen, worin das Concil die Freiheit der Schriftforscher nie beschränken wollte. Es ist dies um so bemerkenswerther, als Manche, selbst heut zu Tage noch, viel strenger sind, als die Väter des Concils. Diese nahmen nämlich bloß die Schrifterklärung von Glaubens- und Sitten-Lehren in die kirchliche Censur, und theilten […] die Ansicht, daß in Ansehung anderwärtiger Forschungen gar nichts Nachtheiliges zu besorgen sey, wenn man einem Jeglichen seine Einsichten ließe, wenn nur Gottseligkeit und Liebe dabei nichts gefährdeten. […] Indeß weiß man wirklich nicht, wie es kommt, daß […] sich so Wenige unter den Katholiken diesem Gegenstande gewidmet haben, da doch die Kirche hierin nie das mindeste Hinderniß setzte. Ja man muß sich sogar befremden, daß so Viele die Wichtigkeit dieses Gegenstandes nicht zu würdigen wissen; gerade als wenn ihnen verborgen wäre, wie wichtig für das Bibelstudium die Geschichte des biblischen Textes sey, und wie viel an einem korrekten Text liege. Wenn auch hierin ihnen nicht die Bemühungen der Profan-Kritiker vor Augen ständen, so sollte doch sie das Beispiel eines Origenes, 33 eines Hieronymus, zu diesem Gegenstande ermuntern.“
Gratz wandte sich gegen die Vorstellung, die Bibelkritik zerstöre gleichsam das Heilige der Bibel. Der Wissenschaftler habe zur Kenntnis zu nehmen, dass durch die zahlreichen Abschriften der Bibel nun verschiedenartige Textversionen entstanden seien. Daher müsse versucht werden, die Reinheit des Textes wiederherzustellen, d. h. Textkritik zu betreiben. Der Katholik brauche aber über diese Vorgehensweise nicht besorgt zu sein, weil er außer der Schrift noch über eine weitere Erkenntnisquelle verfüge, nämlich über die Tradition. Im Übrigen setze die Idee einer Kirche „Einigkeit der Lehre“ voraus. Daher habe die Kirche die Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass bei der Bibelauslegung nicht gegen die Glau31 Zu diesem Abschnitt vgl. WOLFF, Peter Alois Gratz (1769–1849) (Anm. 2), 417–421. 32 [Peter Alois] GRATZ, Ueber die Grenzen der Freiheit, die einem Katholiken in Betreff der Erklärung der heiligen Schrift zusteht, Ellwangen 1817. 33 Ebd., 13f.
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bens- oder Sittenlehre verstoßen werde. Allerdings könne der Bibelforscher feststellen, dass eine Schriftstelle, die für die Begründung einer bestimmten Glaubenswahrheit herangezogen werde, diese Begründung nicht beinhalte. Damit sei aber die betreffende Glaubenswahrheit nicht widerlegt.34 Gratz betonte, die authentische Auslegung einer Bibelstelle dürfe nicht mit der grammatischen Interpretation verwechselt werden, denn die authentische Auslegung beziehe sich nicht allein auf den Buchstaben des biblischen Textes, sondern müsse im kirchlichen Kontext gesehen werden: „Die katholische Kirche bestimmte auch nie in zweifelhaften und strittigen Fällen ihre christliche Lehre durch hermeneutische Schriftforschung, sondern allein nach Maßgabe der kirchlichen Tradition; […]“35. Es war Gratz durchaus bewusst, dass Differenzen zwischen den Ergebnissen bibelwissenschaftlicher Forschung und der Lehre der katholischen Kirche auftreten könnten. Aber diese Differenzen waren seiner Meinung nach überbrückbar: „Aus dem Angeführten ergibt sich von selbst, in wie fern das Resultat der Arbeiten eines katholischen Exegeten von den authentischen Auslegungen seiner Kirche hie und da auch verschieden ausfallen könne. Der Exeget hat es nämlich bloß mit dem Buchstaben zu thun; er darf eine Stelle nicht mehr sagen lassen, als was streng im Buchstaben liegt. Er muß demnach manchmal das Dunkle, das Unbestimmte und Unvollständige einer biblischen Stelle eingestehen. Und so liegt es in der Natur der Sache, daß seine Exegese 36 wirklich manchmal hinter den kirchlichen Entscheidungen zurück bleiben muß.“
Gratz untersuchte schließlich die durch das Konzil von Trient ausgesprochene Beschränkung, dass der katholische Forscher die Heilige Schrift nicht gegen den „unanimem consensum Patrum“ auslegen dürfe. Bei dieser Untersuchung stellte er zunächst fest, dass die Kirchenväter nur selten einmütig gesprochen und oft sehr unterschiedliche Erklärungen geboten hätten. Auch sei in einigen Äußerungen des Tridentinums selbst darauf hingewiesen worden, dass die Auslegungen mancher Kirchenväter allegorisch seien. Aus all dem ergab sich für Gratz, dass der katholische Bibelwissenschaftler nicht den großen Beschränkungen unterworfen sei, die das Konzil nach der Auffassung einiger protestantischer und auch strengkirchlich-katholischer Autoren beschlossen habe. 2.2.2. Bibelübersetzung und -verbreitung37 Im Jahr 1820 veröffentlichte Gratz in der Tübinger Theologischen Quartalschrift einen Aufsatz unter dem Titel: Ueber einige an katholische Bibelübersetzer gemachte Anforderungen.38 Darin benannte er die Spannung, in welcher die Über34 35 36 37 38
Vgl. ebd., 17. Ebd., 22. Ebd., 23. Zu diesem Abschnitt vgl. WOLFF, Peter Alois Gratz (1769–1849) (Anm. 2), 421–425 u. 430f. [Peter Alois GRATZ], Ueber einige an katholische Bibelübersetzer gemachte Anforderungen, in: Theologische Quartalschrift 2 (1820), 18–27.
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setzer sich befanden: Auf der einen Seite sollte diese – den Vorgaben des Konzils von Trient entsprechend – ihrer Arbeit die lateinische Vulgata zugrundelegen, auf der anderen Seite sollten sie möglichst wortgetreu vom Urtext her übersetzen. Gratz ging das Problem zunächst pragmatisch an, indem er feststellte, dass die meisten Unterschiede zwischen dem Vulgata-Text und dem griechischen Text nur Nebensächlichkeiten betrafen. Allerdings sah er auch, dass es einzelne deutliche inhaltliche Abweichungen gab. Daher sollten seiner Meinung nach die katholischen Bibelübersetzer in bestimmten Fällen dem Urtext – und nicht der Vulgata – folgen: „Hieran hindert die der Vulgata im Concil von Trient zugestandene Auctorität keineswegs, auch nicht die Auctorität der Clementinischen Ausgabe.39 Dann das gedachte Concil erkannte der Vulgata keinen absoluten, sondern einen blos relativen Werth zu. Sie wurde nemlich unter den damals vorhandenen lateinischen Uebersetzungen für die bessere gehalten. [… Es] kann keineswegs die Rede seyn, daß jeder Ausdruck der Vulga40 ta durch das Concil auctorisiert sey.“
Gratz plädierte außerdem dafür, dass die Bibelübersetzer verständlich formulieren und die Leser nicht verwirren sollten. Er selbst veröffentlichte 1821 in Tübingen eine griechisch-lateinische Ausgabe des Neuen Testaments, um den katholischen Theologiestudenten die Arbeit mit dem Urtext und ebenso die Konsultation der Vulgata zu ermöglichen.41 Diese Bibelausgabe enthielt den griechischen Text nach der Complutenser Polyglotte mit einem kritischen Apparat sowie den lateinischen Text nach der Vulgata-Ausgabe Papst Clemens’ VIII. von 1592. Sie wurde 1827 und 1851 in Mainz unter dem Titel Novum Testamentum graece et latine neu aufgelegt. Schon im Jahr 1819 hatte Gratz in der Theologischen Quartalschrift einen Aufsatz veröffentlicht, der den Umgang der Kirche mit der muttersprachlichen Bibel thematisierte.42 Gratz stellte fest, dass die Verbreitung der Heiligen Schrift unter den Katholiken seit rund 30 Jahren beständig zunehme, wozu insbesondere die Übersetzungen durch Dominikus von Brentano (1740–1797) und Leander van Eß (1772–1847) beigetragen hätten. „Daß aus all diesem in der kath. Kirche Deutschlands eine neue, beachtungswerthe Epoche hervorgehe, ligt wohl klar am Tage. Da nun jede Epoche ihre unübersehbare
39 Die Vulgata-Ausgabe Papst Clemens’ VIII. von 1592 (überarbeitet 1598). – Vgl. etwa Petr POKORNÝ - Ulrich HECKEL, Einleitung in das Neue Testament. Seine Literatur und Theologie im Überblick (= UTB 2798), Tübingen 2007, 101. 40 GRATZ, Ueber einige an katholische Bibelübersetzer gemachte Anforderungen (Anm. 38), 21f. 41 Peter Alois GRATZ (Hg.), Novum testamentum graeco-latinum. Vulgata interpretatione latina editionis Clementis VIII. Graeco textui ad editionem complutensem diligentissime expresso e regione opposita, 2 Teile, Tübingen 1821. – Das Manuskript dieser Bibelausgabe muss schon 1819 druckreif gewesen sein; vgl. SCHEUCHENPFLUG, Die Katholische Bibelbewegung (Anm. 11), 322. 42 [Peter Alois GRATZ], Ueber die kirchlichen Maßregeln bey gegenwärtiger Bibelverbreitung unter den Katholiken, in: Theologische Quartalschrift 1 (1819), 392–400.
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Folgen, gute oder schlimme, nach sich zieht, so muß diese Zeiterscheinung allerdings die volle Aufmerksamkeit der geistlichen Vorstände, so wie die der gesammten Geist43 lichkeit auf sich ziehen.“
Gratz warnte davor, den Gläubigen die Lektüre der Bibel zu verbieten, auch wenn das Bibellesen durch „ungelehrte Laien“ in der Vergangenheit großen Schaden angerichtet habe. Der Strom der Zeit lasse sich nicht aufhalten, wohl aber in geordnete Bahnen lenken und damit für die Arbeit der Kirche nutzbar machen. Gratz’ bibelpastorales Vier-Punkte-Programm, das heute paternalistisch anmutet, lässt wiederum die Prägung durch den Pastoraltheologen Johann Michael Sailer erkennen:44 Erstens müsse das Bibellesen „von dem kirchlichen Lehramte abhängig gemacht werden“, um dem menschlichen Egoismus und dem Sektierertum entgegenzuwirken. Zweitens müssten die Priester mit der Heiligen Schrift vertraut sein; daher sei es notwendig, an den theologischen Ausbildungsstätten sowohl das „gelehrte“ als auch das „praktische“ Bibelstudium zu pflegen. Drittens müsse die Heilige Schrift wieder stärker zur Grundlage der Homilie im Gottesdienst werden. Viertens dürften private Zusammenkünfte von Gläubigen zum Zweck der gemeinsamen Bibellektüre nicht geduldet werden. 2.3. Historisch-kritische Exegese: der Matthäus-Kommentar von 1821/23 Der Theologe Gratz war seit dem Neuen Versuch der historisch-kritischen Bibelwissenschaft verpflichtet, wovon nicht zuletzt sein zweibändiger MatthäusKommentar zeugt, der u. a. von Wolfgang Trilling 1964 zu den bedeutendsten exegetischen Werken des 19. Jahrhunderts gezählt worden ist.45 Auch außerhalb Deutschlands wurde der Kommentar rezipiert, so 1970 durch den amerikanischen Jesuiten William G. Thompson.46 In der deutschen Literatur der jüngsten Zeit hat der Kommentar mehrfach positive Erwähnung gefunden, z. B. durch Marius Reiser, der Gratz zu den katholischen Forschern zählt, die im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert „eine kirchen- und dogmentreue aufgeklärte Exegese von höchstem Niveau“ betrieben hätten.47 Das Werk, so Reiser, brauche „den Vergleich mit protestantischen Kommentaren nicht zu scheuen“.48
43 Ebd., 393. 44 Ebd., 393–400. – Vgl. WOLFF, Bibel und Bibelwissenschaft (Anm. 4), 207f. 45 Vgl. Wolfgang TRILLING, Das wahre Israel. Studien zur Theologie des MatthäusEvangeliums (= Studien zum Alten und Neuen Testament, Bd. 10), München 31964 (Leipzig 1 1959), 11, 61 u. 168. 46 Vgl. William G. THOMPSON, Matthew’s Advice to a Divided Community. Mt. 17,22–18,35 (= Analecta Biblica, Bd. 44), Rom 1970, 77. 47 Marius REISER, Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift. Beiträge zur Geschichte der biblischen Exegese und Hermeneutik (= Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, Bd. 217), Tübingen 2007, 241. 48 Ebd., 285. – Vgl. auch Dominik BURKARD, Art.: Kritisch-historischer Kommentar über das Evangelium des Matthäus, von Peter Alois Gratz, in: Michael ECKERT u. a. (Hg.), Lexikon der theologischen Werke, Stuttgart 2003, 450f.
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1821 konnte Peter Alois Gratz den ersten Band seines Kritisch-historischen Kommentars über das Evangelium des Matthäus fertigstellen und bei Laupp in Tübingen veröffentlichen. Am 27. August dieses Jahres sandte er den soeben erschienenen Band an das Kultusministerium in Berlin, ein Werk von immerhin 600 Seiten. „Gratz befand sich gewissermaßen auf dem Höhepunkt seiner Karriere.“49 Er war einem Ruf als Neutestamentler von Tübingen nach Bonn gefolgt, amtierte als Professor primarius der dortigen Katholisch-Theologischen Fakultät, hatte gerade die Ernennung zum Rektor der Universität Bonn für das Studienjahr 1821/22 erhalten, strebte eine Stelle in einem der preußischen Domkapitel an – und erwartete sich einen wissenschaftlichen Durchbruch, der allerdings nicht erfolgte. Im Vorwort zum Matthäus-Kommentar schrieb Gratz, dass er den Evangelisten aus seiner Zeit heraus verstehen möchte, um ihn „nicht mehr und nicht weniger sagen zu lassen, als er sagt; und es ihn sagen zu lassen, wie ers [!] sagt.“50 Unter den verschiedenen Schriftsinnen, um die man sich im Lauf der Zeiten bemüht hatte, war ihm demnach der grammatisch-historische Sinn am wichtigsten. Als Grundsätze seiner Arbeit nannte Gratz die „Liberalität“ im Urteil und die „Nüchternheit, die nicht mehr wissen will, als gegeben ist“.51 Der Kommentar als Frucht „einer vieljährigen Meditation“ solle die Leser „zu einer gewissen GeistesErhabenheit“ führen.52 Gratz’ Positionen zu den wichtigsten biblischen Einleitungsfragen sind schon im Zusammenhang mit dem Neuen Versuch genannt worden. Hier sei nur noch erwähnt, dass er die ersten zwei Kapitel des Evangeliums (die Kindheitsgeschichte) nicht zum Bestand des von Matthäus benutzten Urevangeliums zählte. Bei der Auslegung der einzelnen Perikopen des Matthäus-Evangeliums ging er in der Regel in vier Schritten vor: Zunächst verglich er die Perikope mit den Parallelstellen in den anderen Evangelien, danach bot er in den (bis zu 29seitigen) „Literärischen Notizen“ Auskunft über den Forschungsstand und die Auffassungen anderer Wissenschaftler, machte „Allgemeine Bemerkungen“ zur Perikope insgesamt, um schließlich in den „Speciellen Bemerkungen“ die einzelnen Verse zu erläutern. Im Rahmen dieser Einzelexegese legte er immer den griechischen Urtext zugrunde, führte zumeist aber auch den – für Katholiken maßgeblichen – lateinischen Vulgata-Text an.53 Insgesamt zeigte sich Gratz sehr belesen, denn er rezipierte Autoren aus Altertum und Mittelalter wie auch katholische und evangelische Autoren der Neuzeit, wobei letztere ein gewisses Übergewicht bekamen. So setzte er sich u. a. mit Johann David Michaelis (1717–1791), Johann Salomo Semler (1725–1791), Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), Johann Gottfried Eichhorn und Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761–1851) auseinander, d. h. mit Forschern, die sich 49 WOLFF, Peter Alois Gratz (1769–1849) (Anm. 2), 222. 50 GRATZ, Kritisch-historischer Kommentar über das Evangelium des Matthäus (Anm. 9), Bd. 1, V. 51 Ebd., VI. 52 Ebd., VII u. VI. 53 Vgl. WOLFF, Peter Alois Gratz (1769–1849) (Anm. 2), 223–226.
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um die Entwicklung der modernen Bibelexegese verdient gemacht haben.54 Gratz, der ein apologetisches Interesse hatte, kritisierte diese evangelischen Autoren häufig, aber um sie sinnvoll kritisieren zu können, trat er in einen Dialog mit ihnen ein und stellte ihre Positionen ausführlich dar. Dies sollte ihm später den Vorwurf eintragen, protestantische Lehren unter katholischen Theologiestudenten verbreiten zu wollen. In der Exegese bemühte sich Gratz, die Vereinbarkeit seiner Forschungsergebnisse mit der Lehre der katholischen Kirche aufzuzeigen. Interessant erscheinen in diesem Zusammenhang die Passagen des Matthäus-Evangeliums, die übernatürliche Begebenheiten aus dem Leben Jesu schilderten. Stärker rationalistisch orientierte Zeitgenossen – nicht zuletzt Paulus, mit dem Gratz im Briefkontakt stand – neigten dazu, das Wunderbare auf natürliche Ursachen zurückzuführen (etwa Krankenheilungen und Totenauferweckungen mit natürlicher Gesundung bzw. mit Scheintod zu erklären).55 Derartigen Tendenzen erteilte Gratz an mehreren Stellen des Matthäus-Kommentars eine klare Absage, wie an zwei Beispielen demonstriert werden soll. Zu Mt 8,1–4 (Heilung eines Aussätzigen) schrieb er, indem er sich dezidiert gegen Heinrich Eberhard Gottlob Paulus wandte: „Wer keinen Sinn für eine höhere wirkende Kraft hat, dem müssen wir freylich rathen, hier unser Evangelienbuch auf die Seite zu legen. Er kann auch uns in unserer Erklärung nicht folgen! denn wir müssen ihm aufrichtig gestehen, daß wir mit Herzensfreude unserem Evangelisten in in [!] seinen Wundern-Erzählungen [!] folgen. – Schon das in unserem Evangelium bisher erzählte, berechtigt uns zu besonderen Erwartungen. Es ist kein gemeiner Mensch, der hier als Held auftritt. Dieser große Mann muß groß wirken, und wohl nicht blos in Lehren, sondern wir können von ihm auch große Thaten erwar56 ten.“
Bei der Behandlung des letzten Kapitels des Matthäus-Evangeliums (Mt 28,1–20, Auferstehung und Missionsbefehl) im 1823 erschienen zweiten Band des Kommentars knüpfte Gratz an seine früheren Forschungen wieder an und verglich die Berichte der vier Evangelisten über die Erscheinungen des Auferstandenen. Zudem entwickelte er „eine Art Harmonie der Auferstehungsberichte“.57 In einer abschließenden, wiederum gegen Paulus’ Auffassungen gerichteten Betrachtung bekannte sich Gratz zum Glauben an den auferstandenen Gottessohn: „Diese seine Auferstehung sagte er öfters klar voraus. Wir waren begierig zu erfahren, ob sich diese große Zusage erfüllen würde. Ebenso begierig waren wir zu sehen, wie 54 Zur Bedeutung dieser Theologen vgl. BELAVAL - BOUREL, Le siècle des Lumières et la Bible (Anm. 11); WOLFF, Bibel und Bibelwissenschaft (Anm. 4); Henning Graf REVENTLOW, Epochen der Bibelauslegung, Bd. 4, München 2001. 55 Vgl. WOLFF, Bibel und Bibelwissenschaft, 215. – Zu Gratz’ Briefwechsel mit dem konsequenten Rationalisten Heinrich Eberhard Gottlob Paulus vgl. WOLFF, Peter Alois Gratz (1769–1849) (Anm. 2), 5, 40, 79, 97, 105f, 117f, 129, 289f. u. 432. 56 GRATZ, Kritisch-historischer Kommentar über das Evangelium des Matthäus (Anm. 9), Bd. 1, 415. – Vgl. WOLFF, Peter Alois Gratz (1769–1849) (Anm. 2), 233–236. 57 WOLFF, Peter Alois Gratz (1769–1849) (Anm. 2), 287.
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dieß vorgehen werde. Das Räthsel hat sich gelöst; die Auferstehung ist unwidersprechlich beurkundet. Auch ist jetzt uns das Wesen der Auferstehung etwas klar geworden […] Sinnlich ist jetzt uns dargestellt, daß Jesus das bleibend für uns ist, wofür er sich ausgab. Wäre er nach seinem Tode nicht wieder lebend unter uns aufgetreten, da hätte wohl mancher zweifeln mögen, ob er nach dem Tode wohl das für uns sey, wofür er sich ausgegeben hat. – Jetzt sehen wir ihn aber im unsterblichen Leben wandelnd vor uns, in seinem vorigen Berufe. Er stirbt jetzt nicht mehr, und bleibt das, war [!] er uns nach sei58 ner Auferstehung war. – Ihm sey Anbetung, Preis und Ehre in alle Ewigkeit!“
2.4. Reaktionen auf den Matthäus-Kommentar und Ende der wissenschaftlichen Laufbahn Die Reaktionen auf das Erscheinen des ersten Bandes des Matthäus-Kommentars fielen weitgehend negativ aus. Das Preußische Kultusministerium holte von den Exegeten Johann Anton Dereser (1757–1827) in Breslau und Johann Hyazinth Kistemaker (1754–1834) in Münster, d. h. von den Fachvertretern der beiden anderen Katholisch-Theologischen Fakultäten Preußens, Gutachten ein. Beide kritisierten mehr oder weniger übereinstimmend, dass Gratz den Kommentar nicht im notwendigen kirchlichen Geist abgefasst habe, dass er rationalistische Schriften evangelischer Autoren benutzt habe, dass er die einschlägigen Bestimmungen des Konzils von Trient ignoriert habe (Berücksichtigung der Kirchenväter, Integrität des Kanons, Benutzung der Vulgata) und dass im Matthäus-Kommentar die Gottheit Jesu Christi nicht deutlich genug betont werde.59 Im Auftrag des (damals für Bonn zuständigen) Aachener Generalvikariats schalteten sich strengkirchlich gesinnte rheinische Geistliche wie Leonhard Alois Nellessen (1783–1859) und Anton Joseph Binterim (1779–1855) in die Diskussion ein. Nellessen zeigte in seinem Gutachten, dass er auch andere Schriften von Gratz gelesen hatte (u. a. den Neuen Versuch), und setzte sich in einer relativ sachlichen Weise mit Gratz’ Theologie auseinander, wobei er ebenfalls großen Wert auf eine konservative Interpretation der Trienter Bibeldekrete legte.60 Binterim hingegen ließ sich in einer Schrift, die 1823 im Druck erschien, zu undifferenzierten und unfreundlichen Formulierungen hinreißen: „Dr. Gratz scheint bei der Verfertigung des Kommentars sich zum Zwecke gemacht zu haben, alle jene Grundsätze und Meinungen, welche in den letzten Zeiten des Unglaubens gegen die heiligsten Geheimniße und Lehren unserer Religion sind vorgebracht worden, in seinem biblischen Werke aufzunehmen, ihre Gründe vorzutragen, ohne doch
58 GRATZ, Kritisch-historischer Kommentar über das Evangelium des Matthäus (Anm. 9), Bd. 2, 696f. – Vgl. WOLFF, Peter Alois Gratz (1769–1849) (Anm. 2), 287–289. 59 Vgl. WOLFF, Peter Alois Gratz (1769–1849) (Anm. 2), 236–238. 60 Vgl. ebd., 245–247. – Zum „Isenbiehl-Streit“ um die Bedeutung der Weissagung Jes 7,14, den Nellessen dabei ansprach, vgl. jetzt auch REISER, Bibelkritik (Anm. 47), 277–330, bes. 285 u. 292.
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zu widerlegen, und so das Gift langsam unter dem süßen Namen der Liberalität den jun61 gen Studierenden beizubringen.“
Die Mainzer strengkirchliche Zeitschrift Der Katholik bot Binterim ein weiteres Forum für seinen Kampf gegen den Matthäus-Kommentar, in den sich auch der Publizist Joseph Görres (1776–1848) einschaltete, der wiederum sachlich argumentierte, an seiner ablehnenden Haltung bezüglich des Kommentars allerdings keinen Zweifel ließ.62 Eine wohlwollend-kritische Rezension zum MatthäusKommentar verfasste hingegen Gratz’ Tübinger Nachfolger Benedikt Andreas Feilmoser (1777–1831) für die Theologische Quartalschrift. Feilmoser hielt den Kommentar für „eine der bedeutendsten Erscheinungen in der kath[olisch]theologischen Literatur unserer Tage“,63 auch wenn er nicht in allen Punkten mit Gratz einer Meinung war. Mit der vom preußischen Kultusministerium verfügten Einstellung der Bonner Lehrveranstaltungen im Frühjahr 1823 hatte Gratz’ Laufbahn als Neutestamentler ein Ende gefunden. In den Jahren des Wartens, die bis 1828 andauerten, blieb er gewissermaßen bei vollem Gehalt arbeitslos. Er nutzte die freie Zeit zur Abfassung einiger weiterer Aufsätze (u. a. über die Offenbarung des Johannes und über die frühchristliche Gemeinde in Korinth) und Rezensionen für die Theologische Quartalschrift. Eine Rückkehr ins akademische Lehramt war allerdings nicht mehr möglich.
3. Wissenschaftliche, theologische und kirchenpolitische Grundhaltungen 3.1. Kriterien für Wissenschaftlichkeit Der von der Aufklärung herkommende Peter Alois Gratz war ein Mensch, der den Dingen auf den Grund ging und den Mut hatte, Neuland zu betreten. In seinen Forschungen wollte er sich – bei aller Loyalität zur katholischen Kirche – nicht von vornherein einschränken lassen: „Wer in seiner Ueberzeugung feststeht, und sich diese Festigkeit durch tiefes Forschen, wie durch Erfahrung an seinem Herzen erworben hat, den können alle Angriffe auf seine Ueberzeugung nicht schrecken. […] Wer so an die ewige Dauer der Wahrheit glaubt, und zu dieser durch Selbstforschung und durch Erfahrung seines Herzens durchgedrun-
61 Anton Joseph BINTERIM, Katholische Bemerkungen zu dem kritisch-historischen Kommentar über das Evangelium des Matthäus von Dr. Gratz, Professor an der katholisch-theologischen Fakultät der königl. Preussischen Rhein-Universität zu Bonn. Erster Theil, Bd. 1, Mainz 1823, 27. – Vgl. WOLFF, Peter Alois Gratz (1769–1849) (Anm. 2), 247–253. 62 Vgl. WOLFF, Peter Alois Gratz (1769–1849) (Anm. 2). 63 [Benedikt Andreas FEILMOSER], Rez. zu Gratz, Matthäus-Kommentar I, u. Binterim, Katholische Bemerkungen, in: Theologische Quartalschrift 6 (1824) 293–316 u. 464–505, hier 293.
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gen ist, der wird dann auch nie der redlichen Forschung nach Wahrheit in Weg treten; 64 weil er weiß, daß jede Forschung der Wahrheit nützlich wird.“
Dass es ihm beim Matthäus-Kommentar um eine historisch-kritische Analyse, um „Liberalität“ im Urteil und um „Nüchternheit“ ging, ist bereits gesagt worden. Schon 1813 nannte er die Kriterien, die für ihn bei der Beurteilung von Arbeiten Studierender wichtig waren und demnach wohl auch für ihn selbst galten. So verlangte er Vollständigkeit, Fleiß, eine kritische Sichtung des Stoffes und die Trennung des Wesentlichen vom Unwesentlichen. Die Studenten sollten sich ein eigenes Urteil bilden und eine in sich logische Arbeit abliefern. Unverzichtbar dazu seien eine gründliche Exegese, historische Nachweise sowie die Würdigung der Zeugnisse der Kirchenväter. Schließlich seien Präzision, d. h. ein Einhalten der durch das Thema gesteckten Grenzen, und ein flüssiger, gut lesbarer Stil erforderlich.65 Mit seinen Grundsätzen verkörperte Gratz die Leitlinien der jungen Tübinger Fakultät, die auch in den ersten Bänden der Theologischen Quartalschrift zum Ausdruck kamen. 3.2. Gratz’ Bedeutung für die Theologische Quartalschrift66 Als die katholischen Tübinger Theologieprofessoren Gratz, Drey, Herbst und Hirscher 1818 das Erscheinen einer neuen wissenschaftlich-theologischen Zeitschrift ankündigten, wurde der Name des Neutestamentlers zuerst genannt.67 Dies lässt sich schon dadurch begründen, dass Gratz im Studienjahr 1818/19 als Dekan der jungen Fakultät fungierte und dass er außerdem ein höheres Lebens- und Dienstalter als die Kollegen aufzuweisen hatte. Stephan Lösch, der 1938 die Anfänge der Zeitschrift untersuchte, vermutete aufgrund bestimmter sprachlicher Eigenheiten und inhaltlicher Akzente, dass die Endfassung der Ankündigung von Gratz stammen müsse.68 Rudolf Reinhardt nahm später an, dass auch das Konzept von Gratz stammen könnte.69 Gratz redigierte im Übrigen die ersten Hefte der Theologischen Quartalschrift, die 1819 erschienen, und steuerte – dicht gefolgt von Drey – die meisten Beiträge zum ersten Jahrgang bei.
64 [Peter Alois GRATZ], Ueber die Ängstlichkeit bei gelehrten Forschungen, in: Der Apologet des Katholicismus 9 (1824), 82–85, abgedr. bei WOLFF, Peter Alois Gratz (1769–1849) (Anm. 2), 474f. 65 Vgl. GRATZ, „Beurtheilung der 3. Abhandlungen über die aufgeworfene Preißfrage“, 1813 September 17, Universitätsarchiv Tübingen, 44-173/28, fol. 28r–33r; WOLFF, Peter Alois Gratz (1769–1849) (Anm. 2), 102. 66 Zu diesem Abschnitt vgl. WOLFF, Peter Alois Gratz (1769–1849) (Anm. 2), 139–143. 67 GRATZ - DREY - HERBST - HIRSCHER, „Ankündigung“, 7. Juli 1818, in: Theologische Quartalschrift 1 (1819), 3–5; wieder bei: Stephan LÖSCH, Die Anfänge der Tübinger Theologischen Quartalschrift (1819–1831). Gedenkgabe zum 100. Todestag Joh. Ad. Möhlers, Rottenburg a. N. 1938, 15–17. 68 Vgl. LÖSCH, Die Anfänge der Tübinger Theologischen Quartalschrift (Anm. 67), 19. 69 Vgl. REINHARDT, Ein Kapitel katholischer Aufklärung (Anm. 3), 351.
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Unabhängig davon, von wem die Leitideen im einzelnen stammten, die sich in der Ankündigung von 1818 fanden und die Lösch jeweils bestimmten Tübinger Professoren zuordnen wollte (Wissenschaftlichkeit, „gelehrte Forschungen“, Suche nach der Wahrheit, „Freiheit der Meinung“, Freiheit von „Parteisucht“ „Magazin der neuern Kirchen-Geschichte“), muss konstatiert werden, dass diese Ideen zugleich die Ideen von Peter Alois Gratz waren. „Gratz, ein geschickter ‚Geschäftsmann‘, hatte einen großen, meist unterschätzten Anteil an der Gründung der Theologischen Quartalschrift gehabt“,70 so im Jahr 1996 Rudolf Reinhardt, dem die Tendenz einiger Autoren bewusst war, Drey das Hauptverdienst bei der Gründung dieser wichtigen theologischen Zeitschrift zuzuschreiben.71 3.3. Apologetisches Interesse Der Titel der Zeitschrift, die Gratz in seiner Bonner Zeit nach dem Vorbild der Tübinger Theologischen Quartalschrift herausgab, war programmatisch: Der Apologet des Katholicismus. Eine Zeitschrift zur Berichtigung mannigfaltiger Entstellungen des Katholicismus. Für Freunde der Wahrheit und der Bruderliebe (Mainz 1820–1824). Gratz verteidigte hier seine katholische Kirche gegen – wie er meinte – ungerechtfertigte Angriffe evangelischer Theologen und legte sich gleich im ersten Jahrgang des Apologet mit dem Bonner Kollegen Friedrich Lücke (1791– 1855) an.72 Es ging Gratz insbesondere darum, zu beweisen, dass die katholischen Theologen nicht zwangsläufig rückständiger sein mussten als die evangelischen Fachvertreter und dass sie in wissenschaftlicher Hinsicht durchaus mithalten konnten. Bezeichnenderweise veröffentlichte er seinen Beitrag Ueber die Grenzen der Freiheit, die einem Katholiken in Betreff der Erklärung der heiligen Schrift zusteht, hier noch einmal, und zwar zu Anfang des ersten Heftes.73 Die Absicht, die wissenschaftliche Ebenbürtigkeit der Katholiken aufzuzeigen, leitete Gratz auch bei der Abfassung des großen Matthäus-Kommentars, was freilich von seinen Widersachern nicht gewürdigt wurde. Er war bewusst katholisch und nahm zugleich die Herausforderungen der Zeit wahr, vor denen er sich im Gegensatz zu den strengkirchlich orientierten katholischen Theologen nicht verschließen wollte. Als die Auseinandersetzungen um den Matthäus-Kommentar schärfer wurden, nutzte er seine Zeitschrift, um seine aufgeklärte Position zu ver-
70 Rudolf REINHARDT, 175 Jahre Theologische Quartalschrift – ein Spiegel Tübinger Theologie, in: Theologische Quartalschrift 176 (1996), 101–124, hier 102. 71 Vgl. LÖSCH, Die Anfänge der Tübinger Theologischen Quartalschrift (Anm. 67), 18, wo von Drey als „Führer“ der vier Gründungsherausgeber die Rede war. 72 Vgl. Peter Alois GRATZ, Zusätze, die Dr. Lückes Grundriß der neutestamentlichen Hermeneutik veranlaßte, in: Der Apologet des Katholicismus 1 (1820), 49–66. – Vgl. dazu auch Alf CHRISTOPHERSEN, Friedrich LÜCKE (1791–1855) (= Theologische Bibliothek Töpelmann, Bd. 94), Berlin 1999, Bd. 1, 79–82; Bd. 2, 246 u. 260. 73 Peter Alois GRATZ, Ueber die Grenzen der Freiheit, die einem Katholiken in Betreff der Erklärung der heiligen Schrift zusteht, in: Der Apologet des Katholicismus 1 (1820), 1–48.
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deutlichen. Ihm ging es darum, einen Mittelweg zwischen „falsche[r] Aufklärung“ und „Obscurantismus“ zu beschreiten.74 3.4. Episkopalismus bzw. Staatskirchentum Auch in anderer Hinsicht zeigte sich Gratz’ Prägung durch die Aufklärung. In Dillingen hatte er nicht nur den Pastoraltheologen Johann Michael Sailer gehört, sondern auch den Dogmatiker Patriz Benedikt Zimmer (1752–1820), der sich kritisch mit dem päpstlichen Jurisdiktionsprimat auseinandergesetzt und ebenso wie Sailer mit der Philosophie des Königsberger Gelehrten Immanuel Kant (1724– 1804) befasst hatte.75 In verschiedenen Veröffentlichungen von Gratz kam seine episkopalistische Grundhaltung zum Ausdruck, vor allem in den Beiträgen zur Causa Wessenberg und zur Neuordnung der deutschen katholischen Kirche, die im ersten Jahrgang der Theologischen Quartalschrift erschienen und in denen er für eine möglichst große Eigenständigkeit der Bischöfe gegenüber dem Heiligen Stuhl plädierte.76 Episkopalistische Tendenzen zeigten sich auch in Gratz’ Exegese. Im zweiten Band des Matthäus-Kommentars arbeitete er in der Auslegung zu Mt 16,13–20 (Messiasbekenntnis des Petrus) die besondere Rolle des Petrus heraus.77 In der Auslegung zu Mt 18,17f (Binde- und Lösegewalt) betonte Gratz, dass die Vollmachten, die Jesus dem Petrus gegeben habe, nun allen Aposteln zugesprochen würden: „Diese abrupte Stelle erhält ihr Licht aus 16 K. 18.19. V. Dort sehen wir, daß Jesus, mit den nämlichen Worten, einem der Apostel eine vollkommene Amtsgewalt in der christlichen Kirche übertrug. Diese nämliche Amtsgewalt wird hier allen Aposteln zugestanden.“78 In Gratz’ späteren Veröffentlichungen lässt sich eine stärkere Hinwendung zu staatskirchlichen Positionen feststellen, so etwa in einer von ihm 1829 herausgegebenen Sammlung kirchenrechtlicher Abhandlungen.79 Dies mag dadurch zu erklären sein, dass Gratz – nach den Auseinandersetzungen um den Matthäus-
74 Vgl. Peter Alois GRATZ, Ueber das wahre Verhältniß der höheren wissenschaftlichen Anstalten zu den kirchlichen Oberbehörden, in: Der Apologet des Katholicismus 7 (1823), 23–30, hier 26. 75 Vgl. WOLFF, Peter Alois Gratz (1769–1849) (Anm. 2), 20–24. 76 Vgl. [Peter Alois GRATZ], Dermalige Lage der deutschen kath. Kirche, in Theologische Quartalschrift 1 (1819), 93–96; DERS., Rom und Wessenberg, ebd., 96–102 u. 290–300; DERS., Verhandlungen zu Frankfurt im Jahre 1818 über die katholischen Kirchenangelegenheiten in den Staaten mehrer deutschen, protestantischen Höfe und [freyen] Städte, ebd., 329–345, 460–478 u. 657–669. 77 Vgl. GRATZ, Kritisch-historischer Kommentar über das Evangelium des Matthäus (Anm. 9), Bd. 2, 107–133. 78 Ebd., 226. 79 Vgl. Peter Alois GRATZ (Hg.), Nova collectio dissertationum selectarum in jus ecclesiasticum potissimum germanicum, quae ab anno 1780 in diversis universitatibus catholicis prodierunt (= Continuatio thesauri juris ecclesiastici ab Antonio Schmidt adornati), Bd. 1, Mainz 1829.
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Kommentar – hinsichtlich der Freiheit der katholischen Theologie mehr Vertrauen auf die staatlichen Stellen als auf die Bischöfe setzte.
4. Schlussbemerkungen Die wissenschaftliche Haltung des Neutestamentlers Peter Alois Gratz stieß bisweilen auf die Kritik der eigenen Kollegen. Am 17. November 1815 schrieb beispielsweise der Ellwanger Moral- und Pastoraltheologe Johann Nepomuk Bestlin (1766–1831) – auch er ein Dillinger Sailer-Schüler – an die staatliche Aufsichtsbehörde, dass der eigentliche Zweck des Studiums der Heiligen Schrift in der Seelsorge bestehe und dass vielen Studenten die Voraussetzungen zum Verständnis der „gelehrten Schriftforschung“ fehlten. Daher wäre es wünschenswert, dass die Exegese – speziell im Bereich des Neuen Testaments – in erster Linie das „Erbauende und Brauchbare“ für die spätere pastorale Tätigkeit berücksichtige.80 Die Behörde war nicht ganz Bestlins Meinung und gab ihm zur Antwort, dass die wissenschaftliche Exegese immer die Hauptsache bleibe, weil sie allein den richtigen Sinn der Heiligen Schrift erschließe. Natürlich sei es auch die Pflicht der Professoren, ihren Studenten die „erbauliche Anwendung der Bibel in Predigten und Katechesen“ nahezubringen. Dazu eigne sich allerdings am besten das Fach der Moral- und Pastoraltheologie.81 Gratz, der in einer Zeit politischer und gesellschaftlicher Umbrüche lebte, war ohne Zweifel von seinem Lehrer Sailer wie auch von der Aufklärung geprägt. Im Bereich der praktischen Bibelauslegung folgte er offensichtlich der Linie seines Dillinger Lehrers. Im Bereich der theoretischen Bibelauslegung war er weitgehend Autodidakt; dies brachte natürlich manche Unausgewogenheiten mit sich. Es ging Gratz darum, die rationale Verantwortbarkeit des katholischen Glaubens aufzuzeigen, was sich nicht ohne Konflikte verwirklichen ließ. Im Übrigen sind in seinen Schriften zur Bibel bisweilen Spannungen zwischen unterschiedlichen theologischen Konzeptionen, unterschiedlichen Forschungsansätzen usw. spürbar. Manche seiner Positionen sind heutzutage längst überholt, andere dagegen immer noch sehr aktuell (und lesen sich teilweise als Vorwegnahme entsprechender Bestimmungen der Offenbarungskonstitution Dei Verbum des Zweiten Vatikanischen Konzils). Gratz war jedenfalls davon überzeugt, dass die theoretische und die praktische Schriftauslegung zusammengehörten und dass die Bibelpastoral, um nicht in Schwärmerei abzugleiten, eines soliden Fundaments bedürfe.
80 Bestlin an Universitätskuratel, Ellwangen, 1815 November 17, Staatsarchiv Ludwigsburg, E 211 I Bü 79, fol. 32 (Ausfertigung); Universitätsarchiv Tübingen, 44-172/4, fol. 60r–v (Konzept). 81 Universitätskuratel an Bestlin, Stuttgart, 1815 Dezember 4, Universitätsarchiv Tübingen, 44172/4, fol. 61r–62r (Ausfertigung); Staatsarchiv Ludwigsburg, E 211 I Bü 79, fol. 33 (Konzept).
Andreas Benedikt Feilmoser (1777–1831) – ein bedeutender Exeget der Katholischen Tübinger Schule Matthias Blum
„Von ausschweifendem Conjecturiren zu nüchterner und besonnener Kritik zurückgekehrt, wird die Zukunft manches von den Feilmoser’schen Forschungen wieder anerkennen, was jetzt vielleicht Vielen als antiquirt erscheint.“1 (Langen 1877)
1. Biographische Annotationen Andreas Benedikt Feilmoser2 wird am 8. April 1777 zu Hopfgarten im Tiroler Brixenthal geboren und verstirbt am 20. Juli 1831. Von 1789 bis 1794 besucht er das Gymnasium zu Salzburg, im Anschluss daran belegt er den zweijährigen philosophischen Kurs an der Universität zu Innsbruck. Im September 1796 tritt er in das Benediktinerstift zu Fiecht in Schwaz ein. Sein Lehrer für die biblischen Sprachen wird der Orientalist Georg Maurer. Die theologischen Studien beschließt Feilmoser nach dem Noviziat in St. Georgen in Villingen wiederum unter Georg Maurer und Gottfried Lumper und kehrt daraufhin im Jahr 1800 nach Fiecht zurück. Am 30. Mai 1801 wird er zum Priester geweiht und im Oktober 1 2
LANGEN, Art. Feilmoser, Andreas Benedict, in: Allgemeine Deutsche Biographie 6 (1877), 604f. Andreas Benedikt Feilmoser ist in allen gängigen Lexika erfasst; vgl. Herders ConversationsLexikon, Freiburg im Breisgau 2 (1854), 677; Pierer’s Universal-Lexikon, Altenburg, 6 (1858), 165 (jeweils nur die Grunddaten, ohne Einschätzung und Würdigung); Allgemeine Deutsche Biographie 1877; Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon 21886; The Catholic Encyclopedia 1909; Lexikon für Theologie und Kirche 11931, 21960, 31995. Des Weiteren wird Feilmoser ausführlich erwähnt in zwei Examensarbeiten sowie in einer Monographie; vgl. Thomas NAUPP, Beiträge zur Kultur- und Geistesgeschichte der Benediktinerabtei St. Georgenberg-Fiecht von den Anfängen bis zur ersten Aufhebung im Jahre 1807, Wien 1980, 138– 172 (unveröffentlichte Staatsprüfungsarbeit am Institut für österreichische Geschichtsforschung); Richard SCHITTERER, Die Bibliothek von Professor Andreas Benedikt Feilmoser 1777–1831, Tübingen 1967 (unveröffentlichte Preisarbeit; eine Zusammenfassung der Preisarbeit findet sich in der Abhandlung von Richard SCHITTERER, Professor Andreas Benedikt Feilmoser [1777–1831] in Tübingen, in: Theologische Quartalschrift 148 [1968], 199–222); Andreas MITTERBACHER, Der Einfluß der Aufklärung an der theologischen Fakultät der Universität Innsbruck (1790–1823) (Forschungen zur Innsbrucker Universitätsgeschichte, Bd. 2), Innsbruck 1962, 175–219.
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desselben Jahres Novizenmeister. Bereits im Herbst 1800 übernimmt er in Fiecht zunächst das Lehrfach für Exegese des Alten und Neuen Testaments, ab 1802 dann für christliche Moral und ab 1803 für Kirchengeschichte. 1806 verliert Feilmoser seine Professur und wird Hilfsprediger an der Klosterpfarrei in Achenthal. „Nachdem aber in Folge des Preßburger Friedens Tirol an Bayern gefallen war“, wie Welte betont, „wurde ihm schon im November 1806 die Professur der orientalischen Sprachen und Einleitung in’s Alte Testament an der Universität Innsbruck übertragen, wo er im J. 1808 das theologische Doctorat erhielt und auch das Lehrfach der neutestamentlichen Exegese übernehmen mußte.“3 Bald darauf übernimmt er erneut das Lehrfach für Kirchengeschichte. Als im Jahr 1810 die Universität Innsbruck in ein Lyceum verwandelt wird, wird Feilmoser Lehrer und erhält nach der Einführung des neuen österreichischen Schulplans 1817 erneut die Professur für neutestamentliche Exegese. Am 25. April 1820 folgt Feilmoser dann einem Ruf an die katholisch-theologische Fakultät der Universität Tübingen auf die Professur für neutestamentliche Exegese als Nachfolger von Peter Alois Gratz.4 Als besonderen Grund, diese Stelle anzunehmen, führt Möhler in seinem kurzen Nekrolog den für Feilmoser „höchst erfreulichen Umstand“ an, „daß die evangelische Fakultät in Tübingen seit einer langen Reihe von Jahren die Sache des Christenthums, als einer göttlichen Offenbarung, auf das Angelegentlichste gegen die auf dasselbe gemachten Angriffe vertheidigte.“5 Feilmosers Berufung 3 4
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[Benedikt] WELTE, Art. Feilmoser, Andreas Benedict, O.S.B., in: Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon 4 (21886), 1296–1299, hier: 1298. Vgl. hinsichtlich der näheren Umstände der Berufung Werner GROSS, Das Wilhelmsstift Tübingen 1817–1869. Theologenausbildung im Spannungsfeld von Staat und Kirche (Contubernium, Bd. 32), Tübingen 1978, 73; Norbert WOLFF, Peter Alois Gratz (1769–1849). Ein Theologe zwischen „falscher Aufklärung“ und „Obscurantismus“ (Trierer theologische Studien, Bd. 61), Trier 1998, 160–164: „Bemühungen um Gratz’ Nachfolge“. [Johann Adam MÖHLER], [Andreas Benedikt Feilmoser], in: Theologische Quartalschrift 13 (1831), 744–748, hier: 747. Hierbei handelt es sich lediglich um eine kurze biographische Skizze; der eigentliche Nachruf, den Möhler schreiben wollte, fehlt. Paul von Schanz verweist ebenfalls darauf, dass Feilmoser ein so „überzeugungsvoller Exeget“ gewesen sei, „daß er den Ruf nach Tübingen nur annahm, weil er wußte, daß auch in der evangelischtheologischen Fakultät offenbarungsgläubige Professoren waren.“ Paul von SCHANZ, Die katholische Tübinger Schule, in: Theoligische Quartalschrift 80 (1898), 1–49, hier: 13f. Lorenz LANG, [Andenken an den Hochwürdigen Herrn Andreas Benedikt Feilmoser, Doktor der Theologie und ordentlichen Professor derselben zu Tübingen.] II. Kurze Nachricht aus dem Leben des unvergeßlichen Lehrers, in: Kirchenblätter für das Bisthum Rottenburg 2 (1831), 60–64, hier: 63, stellt den Zusammenhang zwischen den Anfeindungen Feilmosers in Österreich und seinem Wechsel nach Tübingen heraus: „Er hatte sich mit den wichtigsten Männern im Gebiete der Theologie, mit Katholiken und Protestanten, in wissenschaftliche Verbindung gesetzt, gelehrt und sich belehren lassen, und diese glorreiche Harmonie seines Geistes mit den Lichtern seiner Zeit gab den Zeitschreiern und Nachtwächtern aufspuckender Dummheit die scheußliche Veranlassung, ihn öffentlich vor dem deutschen Publikum zu verketzern. Mit gerechtem Unwillen nahm die gelehrte Welt diese jesuitischen Umtriebe erbärmlicher Menschen auf, und Feilmoser feierte dadurch gegen seine Feinde den schönsten Triumph, daß er den ehrenden Ruf von der Königl. württemberg. Regierung erhielt, die erledigte Lehrkanzel des als Professor Primarius nach Bonn gerufenen Dr. Gratz über das Bibelstudium an der katholischen Fakultät zu Tübingen zu besteigen.“ Ob allerdings Feilmosers Entfernung von der
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war neben der Berufung Jakob Zukrigls (1807–1876) die einzige auswärtige Berufung im 19. Jahrhundert an die katholisch-theologische Fakultät Tübingens.6 Feilmoser verstirbt aufgrund einer längeren Lungenkrankheit im Jahr 1831. Möhler schlägt in seinem, allerdings auffällig kurzen Nekrolog über Feilmosers Tübinger Jahre einen dem Gedenken an den Toten entsprechend positiven Ton an, indem er die Hochachtung seiner Kollegen, die Wertschätzung seiner Zuhörer sowie seine großen Verdienste um die wissenschaftliche Bildung hervorhebt.7 Im Duktus ähnlich ist die an Feilmosers Grab gehaltene Rede des Wilhelmsstiftsdirektors und katholischen Stadtpfarrers Schönweiler, in der dieser Feilmoser als Lehrer des Evangeliums und Priester des Herrn eindrucksvoll herausstellt und seine Tätigkeit in der Liebe des Herrn dementsprechend würdigt. „Wohl selten findet man Herzensgüte in dem Grade, wie er sie besaß. Von keinem Leiden fern und nahe konnte er hören, daß es nicht seine herzlichste Theilnahme erweckte. Mit innigstem Wohlwollen umfaßte er alle Menschen, ein wahrhaftiger Menschenfreund. Wie es der Liebe eigen ist, dachte er von Andern nie Arges, und wollte sich lieber täuschen lassen. Mit derselben Freundlichkeit begegnete er dem Armen und Niedrigen wie dem Reichen und Vornehmen; der Fremdling fand bei ihm dieselbe gütige Aufnahme wie der Einheimische, und womit er irgend einem rathen und helfen konnte, dazu war er immer bereit. Er hielt sich für einen Schuldner aller, und dachte immer zuletzt an sich. Er war bis zur größten Selbstaufopferung gefällig, ohne auf Dank zu rechnen, während er für den kleinsten Dienst die zarteste Dankbarkeit bewahrte.“8
Die Wertschätzung Feilmosers zeigte sich auch in der regen Anteilnahme an seiner Beisetzung, wie Lang herausstellt. „Nicht nur von jeder der verschiedenen Fakultäten, nicht nur Abgeordnete vom Königl. Gerichtshofe zu Tübingen, sondern auch der hochwürdigste Bischof, der Domdechant und drei Domherrn von Rottenburg, die sämmtliche evangelische Geistlichkeit Tübingens und eine zahlreiche Begleitung aus allen Ständen bewiesen, wie viel wir Katholiken an diesem unvergeßlichen Manne verloren haben.“9
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Innsbrucker Lehrkanzel und die Berufung an die Universität Tübingen in einem ursächlichen Zusammenhang stehen, ist fraglich. Vgl. MITTERBACHER, Der Einfluß der Aufklärung (Anm. 2), 205f. Vgl. Rudolf REINHARDT, Die katholisch-theologische Fakultät Tübingen im ersten Jahrhundert ihres Bestehens. Faktoren und Phasen der Entwicklung, in: DERS. (Hg.), Tübinger Theologen und ihre Theologie: Quellen und Forschungen zur Geschichte der KatholischTheologischen Fakultät Tübingen (Contubernium, Bd. 16), Tübingen 1977, 1–42, hier: 11. Vgl. [Johann Adam MÖHLER], [Andreas Benedikt Feilmoser] (Anm. 5), 747. Die Theologische Quartalschrift hatte den Nekrolog aus der Schwäbischen Chronik übernommen. Des Schwäbischen Merkur zweite Abteilung (13. September 1831, 629f.); vgl. SCHITTERER, Professor Andreas Benedikt Feilmoser (Anm. 2), 201. SCHÖNWEILER, [Andenken an den Hochwürdigen Herrn Andreas Benedikt Feilmoser, Doktor der Theologie und ordentlichen Professor derselben zu Tübingen.] I. Rede, gehalten am Grabe des Professors der katholisch theologischen Fakultät zu Tübingen Dr. Feilmoser, den 22. Juli 1831, in: Kirchenblätter für das Bisthum Rottenburg 2 (1831), 50–59, hier: 55. LANG, Kurze Nachricht (Anm. 5), 63.
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Feilmoser wurde nach seinem Tod jedoch bald vergessen;10 selbst die repräsentativen Darstellungen zur Geschichte der Tübinger Schule berücksichtigen ihn nicht weiter11. Nach Stefan Lösch erklärt sich das auch dahin gehend, dass Feilmosers Theologie „infolge des Dazwischentretens Möhlers“ keine Nachwirkung gezeigt habe.12
2. Person und Werk im Spiegel der Beurteilung In der Darstellung und Einschätzung von Feilmosers Person und Werk sind sowohl die zeitgeschichtlichen Aspekte als auch und davon wiederum nicht ganz unabhängig Stellung und Diskurs der katholischen Bibelwissenschaft13 zu berücksichtigen. Vor dem Hintergrund der Säkularisierung14 respektive Mediatisierung von 1803 ist es somit nicht unbedeutend, wie die katholische Bibelwissenschaft und ihre Vertreter über die historische Perspektive auf eine sehr komplexe Wirklichkeit hinaus theologisch zu verorten sind – fern der bekannten Grundpositionen sogenannter ultramontaner oder nationalkirchlicher sowie liberaler Haltung. Zu dem epochalen Aufbruch zur Revision der Theologie im Kontext der Säkularisierung gehört ebenfalls die im 19. Jahrhundert aufblühende Katholische Tübinger Schule, deren besonderes Charakteristikum mit Max Seckler als „forma10 Vgl. Rudolf REINHARDT, Andreas Benedikt Feilmoser, in: Theologische Quartalschrift 150 (1970), 44–46, hier: 44. Dies gilt bis auf vereinzelte Hinweise in Rezensionen wie Johann Nepomuk BRISCHAR, [Rezension zu] Versuch zur Herstellung des historischen Standpunkts für die Kritik der neutestamentlichen Schriften. Eine Streitschrift gegen die Kritiker unserer Tage, von Heinrich W. Thiersch, Erlangen 1845, in: Theologische Quartalschrift 28 (1846), 320–338, hier: 338. Richard Schitterer macht ferner darauf aufmerksam, dass der gute Ruf der katholischen Fakultät Tübingens zunächst auch mit der Person Feilmoser verbunden worden sei, indem er auf entsprechende Verweise in der Leipziger Allgemeinen Zeitung vom 22.12.1839 (Nr. 356, 4127) und in der Real-Encyclopädie für die protestantische Theologie und Kirche (Art. Württemberg, 18 [1864], 302) verweist. Vgl. SCHITTERER, Professor Andreas Benedikt Feilmoser (Anm. 2), 200. 11 Vgl. Rudolf REINHARDT, Die katholisch-theologische Fakultät Tübingen (Anm. 6), 19. Feilmoser bleibt namentlich auch in neueren einschlägigen Forschungsarbeiten im Gegensatz zu Peter Alois Gratz und Johann Georg Herbst unerwähnt; vgl. etwa Peter SCHEUCHENPFLUG, Die Katholische Bibelbewegung im frühen 19. Jahrhundert (Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge, Bd. 27), Würzburg 1997. 12 Vgl. Stephan LÖSCH, Art. Feilmoser, Andreas Benedikt, in: Lexikon für Theologie und Kirche 3 (1931), 982f., hier: 983. 13 Vgl. orientierend Norbert WOLFF, Bibel und Bibelwissenschaft in der Aufklärungszeit, in: Reinhold BOHLEN (Hg.), Dominikus von Brentano: 1740–1797. Publizist, Aufklärungstheologe, Bibelübersetzer, Trier 1997, 205–227. 14 Vgl. hinsichtlich einer Problematisierung des Säkularisierungsbegriffs nur Erich GARHAMMER, Pastoraltheologie im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. Von der „Säkularisierung“ zur „Sakralisierung“ aufgezeigt an Priesterbild und Priesterbildung, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 23 (2004), 107–121, hier: 107. Für eine differenzierte Bewertung aus der Perspektive eines Tübinger Theologen vgl. [Peter Alois GRATZ], Dermalige Lage der deutschen katholischen Kirche, in: Theologische Quartalschrift 1 (1819), 93–108.
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le Trias“ beschrieben werden kann, das heißt die „entschieden erstrebte Verbindung von strenger Wissenschaftlichkeit, praktischer Gegenwartsbezogenheit und unbeirrbarer, wenngleich selbständiger und mündiger Kirchlichkeit unter Respektierung der Grenzen der Orthodoxie“, während im besten Fall die „Perichorese der drei Prinzipien“ angestrebt wird.15 Kardinal Walter Kasper schreibt von „Selbstdenkern“ und „Theologen, die mit ihrem eigenen Kopf dachten“ und sich nicht als „Wiederkäuer der mittelalterlichen Theologie“ verstanden16. Obwohl der Aufbruch inhaltlich ebenfalls als aufgeklärter Reformkatholizismus bezeichnet und vor dem Hintergrund der „katholischen Aufklärung“17 skizziert werden könnte, bietet die von Seckler aufgezeigte Trias jedoch darüber hinaus konkretere Anhaltspunkte für die weitere Auseinandersetzung. Unabhängig von der Frage, ob diese Charakteristika an sich ausreichend sind, um einen Schulbegriff zu rechtfertigen18, dürften diese für einen katholischen Exegeten in der ersten Hälfte des 19. 15 Vgl. Max SECKLER, Kein Abschied von der Katholischen Tübinger Schule, in: Antonio RUSSO - Gianfranco COFFELE (Hg.), Divinarum rerum Notitia. La teologia tra filosofia e storia. Studi in onore del Cardinale Walter Kasper (La cultura, Bd. 81), Roma 2001, 750–762, hier: 753; 757. Dass damit eine bleibende Herausforderung verbunden ist, bringt Kardinal Walter Kasper in seinem Blick auf die Katholische Tübinger Schule zum Ausdruck, wenn er fragt, „ob sich heute wieder Theologen finden, die den Mut haben, selbständig zu denken, die dabei tief verwurzelt sind in der Kirche und deren Tradition und die gleichzeitig offen sind für die Zeichen der Zeit.“ Walter KASPER, Ein Blick auf die Katholische Tübinger Schule, in: Michael KESSLER - Max SECKLER (Hg.), Theologie, Kirche, Katholizismus. Beiträge zur Programmatik der Katholischen Tübinger Schule von Joseph Ratzinger, Walter Kasper und Max Seckler. Mit reprographischem Nachdruck der Programmschrift Johann Sebastian Dreys von 1819 über das Studium der Theologie, Tübingen 2003, 7–13, hier: 13. 16 Vgl. KASPER, Ein Blick auf die Katholische Tübinger Schule (Anm. 15), 7f. 17 Vgl. Sebastian MERKLE, Die katholische Beurteilung des Aufklärungszeitalters. Vortrag auf dem Internationalen Kongreß für Historische Wissenschaften zu Berlin am 12. August 1908, Berlin 1909; Johannes Baptist SÄGMÜLLER, Wissenschaft und Glaube in der kirchlichen Aufklärung. Zur Erwiderung auf Professor Merkles Rede und Schrift „Die Katholische Beurteilung des Aufklärungszeitalters und zur Charakterisierung der kirchlichen Aufklärung, Essen 1909; Bernhard SCHNEIDER, „Katholische Aufklärung“ – Etikettenschwindel, Illusion oder Realität?, in: Reinhard BOHLEN (Hg.), Dominikus von Brentano: 1740–1797. Publizist, Aufklärungstheologe, Bibelübersetzer, Trier 1997, 229–246. 18 Vgl. Josef Rupert GEISELMANN, Die Katholische Tübinger Schule. Ihre theologische Eigenart, Freiburg im Breisgau 1964, 11: „Zwar sind alle sich darin einig, daß die Tübinger Schule innerhalb der theologischen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts von Anfang an in ausgeprägter Art in Erscheinung trat und mächtig in die theologischen Erörterungen ihrer Zeit eingegriffen hat. Sobald wir aber die Frage stellen, worin denn näherhin ihre Eigenart bestehe und was das Wesentliche an ihr ausmache, beginnen auch schon die Meinungsverschiedenheiten und schwankt das Urteil zwischen uneingeschränkter Bejahung und schroffem Gegensatz. Ihr gegenüber werden die einen zu aufrichtigen Bewunderern, andere zu Anklägern.“ Vgl. ferner Rudolf REINHARDT, 175 Jahre Theologische Quartalschrift – ein Spiegel Tübinger Theologie, in: Theologische Quartalschrift 176 (1996), 101–124, hier: 104: „Ich halte von diesem Begriff nicht viel.“ Vgl. des Weiteren immer noch Abraham P. KUSTERMANN, „Katholische Tübinger Schule“. Beobachtungen zur Frühzeit eines theologiegeschichtlichen Begriffs, in: Catholica 36 (1982), 65–82; Ulrich KÖPF, Die theologischen Tübinger Schulen, in: DERS. (Hg.), Historisch-kritische Geschichtsbetrachtung. Ferdinand Christian Baur und seine Schüler. 8. Blaubeurer Symposium (Contubernium, Bd. 40), Sigmaringen 1994, 9–51.
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Jahrhunderts doch nicht so selbstverständlich gewesen sein, dass man davon einfach in der Retrospektive abstrahieren könnte. Damit bleibt dann aber auch die grundsätzliche Frage offen, ob man den Begriff in historischer Perspektive nicht beibehalten und somit nicht vorschnell dispensieren sollte. Dass die Katholische Tübinger Schule weder in sich geschlossen, noch über einen längeren Zeitraum konsistent war, tut dem Begriff an sich noch keinen Abbruch19 – im Übrigen kann Analoges für das Projekt der „Katholischen Aufklärung“ konstatiert werden20. Für die Beschäftigung mit den exegetischen Ausführungen Feilmosers stellen die von Seckler aufgezeigten Charakteristika eine weitere Leserlenkung dar. Im Kontext der Diskussion über den Stellenwert der exegetischen Wissenschaft spielt die Berufung Feilmosers nach Tübingen eine besondere Rolle. Als im Rahmen der Neubesetzung des neutestamentlichen Lehrstuhls an der katholischtheologischen Fakultät in Tübingen eine Liste erstellt wird, auf der neben Feilmoser auch Friedrich Brenner (Bamberg) und Kilian Joseph Fischer (Würzburg) angeführt werden, kommt es ebenfalls zur Bewerbung des Repetenten Schönweiler, nun allerdings um eine außerordentliche Professur für das Neue Testament21. Interessant ist in diesem Zusammenhang das Votum der zu einer Stellungnahme aufgeforderten Theologieprofessoren, weil sich darin auch die Erwartungen an die zu besetzende Professur und damit ein entsprechendes Wissenschaftsprofil widerspiegeln. Man lehnte nicht nur das Ansinnen einer außerordentlichen Professur als solche an der Fakultät ab, sondern legte auch in einem von Gratz verfassten Konzept die näheren Gründe dar. In diesem von Gratz an die katholisch-theologische Fakultät Tübingen gerichteten Konzept vom 1. Juli 1819 bedauere die Fakultät eine Bewerbung um eine außerordentliche Professur in einem Fach, das nicht ordentlich besetzt sei, wie Wolff paraphrasierend anführt: „Für die Fakultät gebe es mehrere Gründe, die Besetzung dieses Faches mit einem tüchtigen ordentlichen Professor zu wünschen. Das Fach der Exegese sei nämlich bisher von Katholiken am wenigsten gepflegt worden. Daher stehen sie hier den Protestanten nach und müssen sich deshalb auch Kritik gefallen lassen. Allein im Interesse der Wissenschaft habe die Fakultät sich daher für eine ordentliche Besetzung des freiwerdenden Lehrstuhls […] auszusprechen. Schließlich sei Tübingen eine alte und berühmte Universität mit einer evangelisch-theologischen Fakultät, die in allen Bereichen der Theologie, besonders aber in der Exegese, immer wieder bedeutende Gelehrte hervorgebracht habe. Daher liege es im Interesse der katholisch-theologischen Fakultät, einen Mann als
19 Vgl. dazu etwa Hubert WOLF, Indem sie schweigen, stimmen sie zu? Die Tübinger Katholisch-Theologische Fakultät und das Unfehlbakeitsdogma, in: DERS. (Hg.), Zwischen Wahrheit und Gehorsam. Carl Joseph von Hefele (1809-1893), Ostfildern 1994, 78–101, hier: 83: „Die Annahme einer in sich geschlossenen und über eineinhalb Jahrhunderte konsistenten Tübinger Schule hält einer historisch-kritischen Überprüfung nicht stand.“ 20 Vgl. SCHNEIDER, „Katholische Aufklärung“ – Etikettenschwindel (Anm. 17), 240f. 21 Vgl. dazu auch die inhaltliche Skizzierung des entsprechenden Aktenbundes der Universität Tübingen nach dem Lösch-Stenogramm bei Rudolf REINHARDT, Quellen zur Geschichte der Katholisch-Theologischen Fakultät Tübingen. Ein unerwarteter Fund im Nachlaß von Prof. DDr. Stefan Lösch († 1966), in: Theologische Quartalschrift 149 (1969), 369–388, hier: 383f.
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Neutestamentler zu berufen, der sich auch durch Publikationen bereits Ansehen verschafft habe.“22
An dem von Wolff präsentierten Konzept Gratz’ fällt auf, dass rein vom Standpunkt der Wissenschaft her und nicht etwa aus der kirchlichen Perspektive argumentiert wird. Dementsprechend will man auch dem Eindruck vorbeugen, dass die unmittelbare Berufung eines Repetenten zum Professor die wissenschaftlichen Anforderungen in den Hintergrund treten lasse.23 Bemerkenswerterweise bietet das Konzept eine Einschätzung des Stellenwertes des Faches Exegese im Rahmen der anderen theologischen Fächer sowie des Qualifikationsprofils eines potentiellen Neutestamentlers. Von der Berufung des bereits durch Publikationen ausgewiesenen Neutestamentlers Feilmoser auf den Tübinger Lehrstuhl verspricht man sich somit eine Aufwertung des Faches. Die Beurteilung von Feilmosers Person und Werk in der Sekundärliteratur bietet einen ersten Einblick darin, wie Feilmoser in den Wissenschafts- und LehrDiskurs seiner Zeit und in den seiner Rezipienten eingeordnet wird. Die darin angeführten Monita und kontroversen Punkte setzten bereits gewisse Leselenkungen in Hinblick auf die Lektüre der Publikationen Feilmosers. Dabei steht dann auch die Frage im Hintergrund, welches Profil Feilmoser als katholischer Exeget geboten hat und wie er dieses Profil zwischen kirchlichem Lehramt und protestantischer Bibelexegese vertreten konnte. Wie Welte, Professor für Altes Testament in Tübingen ab dem 4. November 1840, aufzeigt, haben Feilmosers theologische Positionen nicht nur positive, sondern von Anfang an auch kontroverse Reaktionen hervorgerufen. So hätten zunächst Feilmosers Thesen, die dieser vor dem Hintergrund der Prüfung als Klostergeistlicher 1803 über Moral und die Einleitung in das Alte Testament habe drucken lassen,24 Widerspruch erregt. „Die Thesen wurden daher einer strengen Beurtheilung unterzogen, und man fand in denen aus der Einleitung besonders die Behauptung anstößig, daß die Bücher Job, Jonas, Tobias und Judith Lehrgedichte seien, in denen aus der Moral aber die kantischen Grundsätze, welche man heraus zu lesen glaubte.“25
Nachdem Feilmoser dann 1817 erneut eine Professur erhalten hat, wird seine Position wiederum hinterfragt und 1818 in Augsburg mit kritischem Bezug auf ihn eine anonyme und in sehr polemischem Ton verfasste Schrift unter dem Titel „Die Lehrweisheit in einem Beyspiele dem katholischen Theologen zur Würdigung 22 WOLFF, Peter Alois Gratz (Anm. 4), 162. 23 Vgl. ebd., 163. Ähnlich auch GROSS, Das Wilhelmsstift Tübingen (Anm. 4), 73, sowie mit reichlichen Verweisen und Anführungen der entsprechenden Dokumente SCHITTERER, Professor Andreas Benedikt Feilmoser (Anm. 2), 212ff. 24 Vgl. Sätze aus der christlichen Sittenlehre für die öffentliche Prüfung in dem Benedictinerstifte zu Fiecht, Innsbruck 1803; Sätze aus der Einleitung in die Bücher des alten Bundes und den hebräischen Alterthümern – nach den k. k. Vorlesebüchern, Innsbruck 1803; Animadversiones in historiam ecclesiasticam, quas pro publica disputatione in monasterio Fiechtensi discutiendas proposuit Benedictus FEILMOSER, Oeniponte 1803. 25 WELTE, Art. Feilmoser, Andreas Benedict (Anm. 3), 1297.
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vorgelegt“ veröffentlicht.26 Hartmann Strohsacker macht vor dem Hintergrund der elf im Archiv des Benediktinerstiftes Göttweig erhaltenen Aktenstücke darauf aufmerksam, dass schon 1816 eine Aktion gegen Feilmoser in Vorbereitung gewesen und dass es 1819 in Wien zu einer förmlichen Untersuchung gekommen sei, in deren Verlauf die Professoren der Wiener theologischen Fakultät um ein entsprechendes Urteil gebeten wurden. Das Verfahren erübrigt sich dann allerdings mit dem Weggang Feilmosers nach Tübingen.27 Feilmosers Werk, insbesondere sein Hauptwerk, gilt als „oberflächlich“ (Welte)28, „flüchtig“ (Schwegler)29 und glaubensverletzend (Strohsacker)30; moniert wird ferner die Zurückweisung des sogenannten Comma Johanneum als nicht authentisch und die damit scheinbar einhergehende Relativierung der Vulgata als maßgeblichem Bibeltext31. Allerdings bleibt es auffällig, dass diese Einschätzungen nicht näher auf das Werk Feilmosers bzw. seine Argumentationen eingehen und einen konkreten Beleg bzw. die Auseinandersetzung in der Sache schuldig bleiben. Allein Hartmann Strohsacker merkt diesbezüglich 1918 an, dass es unnötig erscheine, nähere Belege anzuführen, da die Einleitung bereits jegliche Aktualität verloren habe32. Die Feilmoser-Artikel in den jeweiligen Auflagen des Lexikons für Theologie und Kirche spiegeln diese kritische Sichtweise ebenfalls wider. Seine Ansichten seien ebenso wie seine Exegese „aufklärerisch“ (Lösch)33, und er habe von der Inspiration der Hl. Schrift abgesehen (Schwegler)34. Kustermann macht ebenfalls auf den Umstand aufmerksam, dass Feilmoser „wegen kritischer Tendenz im Bewußtsein des protestantischen Vorsprungs mehrfach angegriffen“ worden sei, 26 Augsburg 1818. Der Innsbrucker Gymnasial- und spätere Theologieprofessor am Lyzeum zu Trient, Kaspar Unterkircher, gilt als Verfasser dieser polemischen Verzeichnung des Feilmoserschen Werkes. Vgl. auch die Selbstverteidigung: Andreas Benedict FEILMOSER, Die Verketzerungskunst, in einem Beispiele den katholischen Theologen zur Würdigung, Rottweil 1820. 27 Vgl. Hartmann STROHSACKER, [Analekten] Aktenstücke zum Falle Feilmoser 1816 und 1819, in: Zeitschrift für katholische Theologie 42 (1918), 676–684, hier: 676f. Vgl. für eine kritische Diskussion dieser Annahme allerdings MITTERBACHER, Der Einfluß der Aufklärung (Anm. 2), 205. 28 WELTE, Art. Feilmoser, Andreas Benedict (Anm. 3), 1299. Auch Heinrich BRÜCK, Geschichte der katholischen Kirche im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 1: Vom Beginne des neunzehnten Jahrhunderts bis zu den Concordatsverhandlungen, Mainz 1887, 384, nennt die Leistungen Feilmosers im Vergleich zu Hug weniger bedeutend. Die erste Auflage der „Einleitung in die Bücher des Neuen Bundes“ (Innsbruck 1810) wurde in einer Literaturübersicht als „compendiarisch und darum nicht unterrichtend genug“ beschrieben; vgl. [ANONYM], Kritische Uebersicht der theologischen Literatur in den ersten zwei Jahrzehnten des laufenden Jahrhunderts. Erste Abtheilung, in: Hermes oder kritisches Jahrbuch der Literatur II 5 (1822), 249– 309, hier: 272. 29 Thomas SCHWEGLER, Art. Feilmoser, Andreas Benedikt, in: Lexikon für Theologie und Kirche 4 (21960), 60. 30 Vgl. STROHSACKER, Aktenstücke zum Falle Feilmoser (Anm. 27), 677. 31 Vgl. Konstantin GUTBERLET, in: Literarischer Handweiser Nr. 99 (1871), 6f. 32 Vgl. STROHSACKER, Aktenstücke zum Falle Feilmoser (Anm. 27), 677. 33 Vgl. LÖSCH, Art. Feilmoser, Andreas Benedikt (Anm. 12), 983. 34 Vgl. SCHWEGLER, Art. Feilmoser, Andreas Benedikt (Anm. 29), 60.
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weist abschließend aber auf die positive Würdigung Möhlers hin.35 In Möhlers kurzem Nekrolog zum Tode Feilmosers fällt zunächst auf, dass dieser zwar auf die „manchfachen Irrungen zwischen [Feilmoser] und dem Bischof von Brixen“ hinweist, aber in der Sache selbst differenziert. So habe der „Gegenstand des Zwiespaltes“ keineswegs in das „Gebiet der Glaubenslehre“ eingegriffen, sondern „lediglich eine historisch-kritische, rein wissenschaftliche Bedeutung“ gehabt.36 Bei diesem bemerkenswerten Hinweis Möhlers auf die „historisch-kritische Bedeutung“ des Konflikts ist allerdings zu bedenken, dass dieser anlässlich des Todes Feilmosers Eingang in den Nekrolog gefunden hat. Vor diesem Hintergrund ist weiterhin Möhlers Würdigung der Einleitung Feilmosers als „bleibendes Denkmal seines Scharfsinnes und seiner Gelehrsamkeit“ und der „besonders gelungen[en]“ Vorlesungen über die apostolischen Briefe zu bedenken.37 Möhler hatte sodann in seinem kurzen Nekrolog zwar eine Besprechung der zweiten Auflage der Einleitung Feilmosers angekündigt, in der er auf dessen „literärische Verdienste“ eingehen wollte38, diese aber nie vorgelegt. Gegenüber dem sich in den Artikeln widerspiegelnden kritischen Tenor, dass sich Feilmosers Ausführungen in einem Widerspruch zur katholischen Lehre befinden, die Würde des inspirierten Wortes Gottes missachten sowie eine rationalistische Auffassung der Heiligen Schrift vertreten würden, legt Langen 1877 in seinem Beitrag für die von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften herausgegebene Allgemeine Deutsche Biographie eine differenziertere Würdigung vor. „Heutzutage freilich durch die inzwischen äußerst lebhaft gepflogenen Verhandlungen über diesen Gegenstand überholt, bleibt das gelehrte und fleißig gearbeitete Werk nicht blos ein dauernder Beweis für die Erudition und die streng wissenschaftliche Methode des Verfassers, sondern auch aus dem Grunde immer noch brauchbar, weil F., gleich weit von beiden Extremen entfernt, mit Scharfsinn und Vorsicht Sicheres und Unsicheres stets gewissenhaft von einander scheidet. Von ausschweifendem Conjecturiren zu nüchterner und besonnener Kritik zurückgekehrt, wird die Zukunft manches von den Feilmoser’schen Forschungen wieder anerkennen, was jetzt vielleicht Vielen als antiquirt erscheint. Die Katholiken freilich, sofern sie an dem vaticanischen Concil und dessen schroffer Inspirationstheorie festzuhalten entschlossen sind, werden auf den Gebrauch der Feilmoser’schen Waffen in dem Kampfe gegen den Rationalismus verzichten müssen. Denn gerade eine freiere Auffassung der Lehre von der biblischen Inspiration ist es, von welcher aus F. die destructiven Tendenzen mit Erfolg bekämpft. Er denkt sich unter der Inspiration der neutestamentlichen Schriften bloß negativ die Bewahrung vor wesentlichen, die Lehre Christi aufhebenden Irrthümern. Hierdurch wird er in den Stand gesetzt, die streng historische Methode auf die Auffassung der neutestamentlichen Bü-
35 Vgl. Abraham Peter KUSTERMANN, Art. Feilmoser, Andreas, in: Lexikon für Theologie und Kirche 3 (31995), 1210–1211. 36 Vgl. [MÖHLER], [Andreas Benedikt Feilmoser] (Anm. 5), 746. 37 Vgl. ebd., 748. 38 Vgl. ebd., 748 (Fußnote).
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cher anzuwenden, zu unterscheiden, was in ihnen zeit- und ortsgeschichtliche, vorübergehende und was ewig bleibende Bedeutung besitzt.“39
In Hinblick auf diese zeitgenössischen und späteren Kritiken weist Rudolf Reinhardt bereits 1970 darauf hin, dass es durchaus lohnenswert wäre „zu prüfen, welchen Eindruck Feilmosers Exegese heute macht“, und nennt „eine moderne Bestandsaufnahme“ ein „dringendes Desiderat“.40 Dass die fachwissenschaftlichen Retrospektiven, nicht zuletzt bedingt durch die Modernismusdiskurse41, wenn überhaupt dann augenscheinlich nur die Zeit zwischen Vatikanum I und Vatikanum II in den Blick nehmen42, unterstreicht noch einmal dieses Desiderat.
3. Der Bibelwissenschaftler Feilmosers Ausführungen bieten einen vielfältigen Einblick in die Diskurse der Bibelwissenschaft seiner Zeit. Dabei können grundsätzlich die thematischen Ausführungen und Akzente von den Diskursen über die Art und Weise der Auseinandersetzungen unter den einzelnen Theologen unterschieden werden, auch wenn diese miteinander verwoben sind. Der Exeget zeichnet sich nach Feilmoser durch einen umfassenden Überblick des wissenschaftlichen Ganzen aus.43 Feilmoser ist sich dabei bewusst, dass der 39 LANGEN, Art. Feilmoser, Andreas Benedict (Anm. 1), 604f. Positiv erwähnt in dem Sinn einer gründlichen Behandlung wird Feilmosers Einleitung auch von SCHOLZ, Art. Einleitung, in: Allgemeines Kirchen-Lexikon, Bd. 2 (1847), 540f. 40 REINHARDT, Andreas Benedikt Feilmoser (Anm. 10), 45. 41 Vgl. nur Peter NEUNER, Der Streit um den katholischen Modernismus, Frankfurt am Main – Leipzig 2009; Rainer Bucher u. a. (Hg.), „Blick zurück im Zorn?“ Kreative Potentiale des Modernismusstreits (Theologie im kulturellen Dialog, Bd. 17), Innsbruck – Wien 2009. 42 Vgl. nur die Beiträge von Hans-Josef KLAUCK „Die katholische neutestamentliche Exegese zwischen Vatikanum I und Vatikanum II“ und Henning Graf REVENTLOW „Katholische Exegese des Alten Testaments zwischen den Vatikanischen Konzilien“ in dem von Hubert WOLF herausgegebenen Band „Die katholisch-theologischen Disziplinen in Deutschland 1870– 1962. Ihre Geschichte, ihr Zeitbezug“ (Programm und Wirkungsgeschichte des II. Vatikanums, Bd. 3), Paderborn 1999. Dieser Hinweis versteht sich unbenommen der Tatsache, dass der hier zitierte Sammelband den Zeitraum thematisch vorgegeben hat. Marius Reiser verweist in seinen Beiträgen zur Geschichte der biblischen Exegese und Hermeneutik zwar wiederholend auf Peter Alois Gratz, nicht aber auf Feilmoser; vgl. Marius REISER, Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift. Beiträge zur Geschichte der biblischen Exegese und Hermeneutik (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, Bd. 217), Tübingen 2007, 285 u. ö. Werner Georg Kümmel sieht in seiner Geschichte der Erforschung der Probleme des Neuen Testaments ebenfalls davon ab, auf Feilmoser einzugehen. Auch Gratz bleibt unerwähnt; vgl. Werner Georg KÜMMEL, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme (Orbis academicus, Bd. III, 3), Freiburg i. Br. München 1958. 43 Vgl. [Andreas Benedikt FEILMOSER], [Rezension zu] Kritisch-historischer Kommentar über das Evangelium des Matthäus, von Dr. Gratz […], Erster Theil. Tübingen 1821; Katholische Bemerkungen zu dem kritisch-historischen Kommentar über das Evangelium des Matthäus von Dr. Gratz, u. s. w. von Anton Joseph Binterim […] Erster Theil, Mainz 1823, in: Theolo-
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Ausleger nie kontext- und zeitlos gearbeitet hat, sondern durch sein jeweiliges Zeitalter bestimmt war, so dass er entweder die herrschende Denkungsart in die Bibel zu übertragen oder seine Grundsätze durch die Bibel zu bestätigen suchte44. Näherhin zeigt er das Bild eines Wissenschaftlers auf, der in seinen Veröffentlichungen die zu verhandelnden Argumente differenziert abwägen und prüfen sowie Tatsachen oder Zeugnisse detailliert präsentieren sollte. Denn Feilmoser geht es schlussendlich darum, dass der Leser dadurch in die Lage versetzt werden sollte, sich selbst ein eigenes Urteil bilden zu können.45 Damit setzt Feilmoser aber einen mündigen und gebildeten Leser und keinen bloßen Empfänger wissenschaftlicher und theologischer Transferleistungen voraus. Feilmoser äußert sich aber nicht nur zur Bildung des Bibelwissenschaftlers und des Geistlichen, sondern auch zur Bildung des Laien. So weist er die „ausschließliche Anmassung der Geistlichen über religiöse Angelegenheiten“46 zurück und betont: „Es ist ein grundverderblicher Irrthum, wenn die Geistlichen die Layen damit zurückweisen: Ihr verstehet in geistlichen Sachen nichts. Was die wesentlichen Lehren der Religion sind, was zur Erbauung, zur Beruhigung des Menschen u. s. w. gehört, kann und soll wenigstens der gebildete Laye eben sowohl verstehen, als der Geistliche; sonst fällt die Schuld auf die Geistlichkeit selbst zurück, die den Unterricht, wozu sie doch hauptsächlich da ist, vernachlässiget. Oder sind denn die Religionslehren des Christenthums
gische Quartalschrift 6 (1824), 293–316, hier: 310. Bei der Rezensentenangabe ist grundsätzlich zu berücksichtigen, dass diese ebenso wie die Autoren in den ersten Jahren des Erscheinens der Theologischen Quartalschrift den zeitgenössischen Gepflogenheiten entsprechend nicht angegeben werden. Nähere Angaben bietet jedoch Stefan LÖSCH, Die Anfänge der Tübinger Theologischen Quartalschrift (1819–1831). Gedenkgabe zum 100. Todestag Johann Adam Möhlers, Rottenburg 1938. 44 Vgl. Andreas Benedict FEILMOSER, Einleitung in die Bücher des neuen Bundes für die öffentlichen Vorlesungen, Zweyte, verbesserte und vermehrte Auflage, Tübingen 1830, 703, mit Beispielen. 45 Vgl. [Andreas Benedikt FEILMOSER], [Rezension zu] Probabilia de evangelii et epistolarum Ioannis, Apostoli, indole et origine eruditorum judiciis modeste subjecit Carolus Theoph. Bretschneider […] Lipsiaesumtibus Io. Ambros. Barthii. 1820, in: Theologische Quartalschrift 3 (1821), 262–313, 463–544, hier: 264. Diese Rezension deutet bereits ihrem Umfang nach an, dass Feilmoser ebenso wie andere Autoren in ihren Rezensionen eine eigenständige Auseinandersetzung mit der jeweiligen Thematik suchen. In diesem Sinn stellen diese Rezensionen als primäre Texte noch eine eigenständige und darin angesehene Textform dar, die dem Doppelsinn ihres Gattungsbegriffes entspricht, indem das zu musternde Werk betrachtet und beurteilt wird, wobei für das Urteil einschlägige Kenntnisse der jeweiligen Thematik selbstverständlich sind. Andere Rezensionen, die nicht von dieser Absicht getragen sind, weisen mitunter auch ausdrücklich darauf hin wie jene Rezension zu Feilmosers Einleitung, die 1831 die Zeitschrift „Der Katholik“ mit der Intention veröffentlich hat, „keine eigentliche Recension“, sondern nur „eine Anzeige“ zu schreiben; vgl. [ANONYM], [Rezension zu] Einleitung in die Bücher des neuen Bundes für die öffentlichen Vorlesungen von Andres Benedikt Feilmoser […] Zweite verbesserte und vermehrte Auflage, Tübingen, 1830, in: Der Katholik 11 (1831), Bd. 42, 327–332, hier: 331. 46 [Andreas Benedikt FEILMOSER], [Rezension zu] Grundansicht von Staat und Kirche und ihrem gegenseitigen Verhältnisse nach Vernunft und Schrift. Von Simon Köfler […] Innsbruck, München 1821, in: Theologische Quartalschrift 5 (1823), 300–333, hier: 311.
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nur für die Geistlichen geoffenbaret worden? Oder wird ihnen die Kenntniß derselben etwa durch die Weihe eingegossen?“47
Dementsprechend führt Feilmoser in seiner sehr differenzierten Abwägung auch keine grundsätzlichen Einwände gegen das Bibellesen der Laien an.48 Bemerkenswerterweise zeigt Feilmoser mit dem Unterrichten eine wesentliche Aufgabe der Geistlichen auf, die von einem grundsätzlichen allgemeinen Bildungsverständnis getragen ist. Damit dürfte er auch sein Selbstverständnis als Bibelwissenschaftler und Lehrer zum Ausdruck gebracht haben. Diesem Bildungsverständnis korrespondiert sein an anderer Stelle vorgetragener Appell an die Studierenden, die religiöse Bildung das ganze Leben hindurch fortzusetzen und darin den „Glauben immer neu zu beleben und zu befestigen“49. Eine solche Notwendigkeit sieht Feilmoser grundsätzlich auch darin begründet, dass kindische Vorstellungen respektive die rohere Deutungskraft des Kindes durch einen gebildeteren Verstand abgelöst werden müssen, dass somit „bei einem Fortschritte in der Verstandesbildung auch eine neue, gründlichere Befestigung in den Religionswahrheiten nothwendig wird“50. Andernfalls drohe der Glaubensverlust, da die alten Einsichten und Beweise nicht mehr genügten. „Die meisten Beispiele des einreissenden Unglaubens und der beinahe eben so verderblichen Gleichgültigkeit gegen die Religion kommen daher“, so Feilmoser, „von der Vernachlässigung der fortschreitenden Religionskenntniß, währendem der Verstand in allen übrigen Kenntnissen verfeinert wird.“51 Mit seinem Appell zur fortdauernden religiösen Bildung dürfte Feilmoser vor dem Hintergrund der gravierenden Umbrüche seiner Zeit auch auf die Krise der Wissenskulturen und der Praxeologie religiösen Wissens52 reagiert haben. Wenn Feilmoser sich, ohne äußere Beglaubigungsgründe verwerfen zu wollen, dafür ausspricht, den Grund des Glaubens immer mehr im eigenen Verstand und Herzen zu befestigen, um diesen von äußeren Umständen unabhängiger zu machen53, skizziert er darin schlussendlich das Bild eines mündigen Christen.
47 Ebd., 311f. 48 Vgl. nur [Andreas Benedikt FEILMOSER], [Rezension zu] Der Sieg des Kreuzes. Zeitschrift für Religion und Kirchengeschichte. Herausgegeben von Bernhard Wagner. Erster Band […] Frankfurt am Main 1825. Jahrgang 1826, in: Theologische Quartalschrift (1826), 285–314, hier: 301ff. 49 Andreas Benedikt FEILMOSER, Aufforderung an seine Zeitgenossen, sich im Glauben an Gott und in der Hoffnung auf seine weise Führung jetzt besonders zu stärken, in: Kirchenblätter für das Bistum Rottenburg 3 (1832), Bd. 1, 197–215, hier: 200; 214. 50 Ebd., 204f. 51 Ebd., 209. Es ist auffällig, dass diese Ausführungen Feilmosers Parallelen zu den aktuellen Stufentheorien religiöser Entwicklung aufweisen. 52 Vgl. Andreas HOLZEM, 1800 als Epochenschwelle. Wissenskultur – kirchliche Institutionen – menschliche Ordnungssysteme, in: Michael KESSLER - Ottmar FUCHS (Hg.), Theologie als Instanz der Moderne. Beiträge und Studien zu Johann Sebastian Drey und zur Katholischen Tübinger Schule, Tübingen 2005, 21–40, hier: 22ff.: „Die Krise der Wissenskulturen und der Praxeologie religiösen Wissens“. 53 Vgl. FEILMOSER, Aufforderung an seine Zeitgenossen (Anm. 49), 211ff.
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Feilmoser sind die klassischen Diskurspunkte der Bibelwissenschaft bekannt wie etwa die „Bestreitung des ächtbiblischen Ursprunges der hebräischen Vocalpunkte“, die „Berichtigungen des griechischen Textus receptus durch Sammlung der Varianten“ oder die partielle Nicht-Anerkenntnis der „neutestamentlichen Bücher mehrere Jahrhunderte hindurch“54. Dass dabei auch Fragen der Rechtgläubigkeit provoziert werden wie beispielsweise in der Annahme, dass Jesus an Weisheit zugenommen habe, bleibt nicht unerwähnt.55 Gegenüber dem Protestanten könne der Katholik solch kritischen Diskursen jedoch ruhiger gegenüber stehen, da er neben den biblischen Büchern „noch die ursprüngliche mündliche Überlieferung als Glaubensregel anerkennt“.56 Interessanterweise kehrt Feilmoser hier die herkömmliche Sichtweise auf die Art und Weise einer konfessionell bestimmten Exegese um. Die Glaubensregel wird nicht, wie protestantischerseits möglicherweise angenommen, durch den kritischen Diskurs infrage gestellt, sondern bürgt vielmehr für Sicherheit in der Auseinandersetzung. Eine Referenzgröße der Bibelkritik ist für Feilmoser Johann Leonhard Hug (1765–1846), kennt er doch neben Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827) „keinen so geistreichen Schriftsteller“.57 Hug ist durch seine zweibändige „Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments“ (Tübingen 1808 u. ö.) bekannt, die Feilmoser noch in der Theologischen Quartalschrift rezensieren sollte. Während Eichhorn an der synoptischen Frage mit der Hypothese eines hebräischen oder aramäischen Urevangeliums partizipiert, auf welches die ersten drei Evangelisten zurückgegriffen hätten, lehnt Hug jedoch die Annahme eines solchen Urevangeliums ab. Die Beschäftigung mit der Textgeschichte gehört für Feilmoser selbstverständlich zur bibelwissenschaftlichen Auseinandersetzung. Seine diesbezüglichen Ausführungen sind von bleibendem Interesse, weil hier ein Einblick in die jeweils seinerzeit aktuell vorliegenden bedeutenden Textzeugen gewährt wird. So weist er beispielsweise in einer Rezension auf den neu hinzugekommenen „bedeutenden Codex S. Matthei Dublinensis rescriptus“ hin58, den John Barrett 1801 zur Kennt-
54 Vgl. [FEILMOSER], [Rezension zu] Probabilia de evangelii et epistolarum Ioannis, Apostoli (Anm. 45), 262f. 55 Vgl. [Andreas Benedikt FEILMOSER], [Rezension zu] P. Aegidius Jais, nach Geist und Leben geschildert von einem seiner Freunde. Mit dessen (schlecht gelungenem) Bildniß. München und Regensburg, 1826, in: Theologische Quartalschrift 7 (1825), 734–744, hier: 736f.; [Andreas Benedikt FEILMOSER], Katholische Bemerkungen zu dem kritisch-historischen Kommentar über das Evangelium des Matthäus von Dr. Gratz u. s. w. von Anton Joseph Binterim [Beschluß], in: Theologische Quartalschrift 6 (1824), 464–505, hier: 492. 56 Vgl. [FEILMOSER], [Rezension zu] von „Probabilia de evangelii et epistolarum Ioannis, Apostoli (Anm. 45), 263. 57 Vgl. [Andreas Benedikt FEILMOSER], [Rezension zu] Einleitung in die Schriften des neuen Testaments von D. Joh. Leonhard Hug, Professor der Theol. an der Universität zu Freyburg im Breisgau, Großherzogl. Badischen Geistl. Rath und des Königl. Würtembergischen Verdienstordens Ritter. Zweite verbesserte und vermehrte Auflage. 1 Th. 503 S. Stuttgart und Tübingen in der J. G. Cotta’schen Buchhandlung 1821, in: Theologische Quartalschrift 4 (1822), 276–300, hier: 277. 58 Vgl. ebd., 293.
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nis gab59. Bei diesem Codex handelt es sich um ein aus 32 Blättern bestehendes Palimpsest mit 295 Versen aus dem Matthäusevangelium, dessen Text wesentlich mit dem des Codex Sinaiticus übereinstimmt.60 Der wiederkehrenden Beschäftigung mit der Textgeschichte in den Rezensionen61 und in einer Abhandlung in der Theologischen Quartalschrift entsprechen die ausführlichen Anmerkungen zu der potentiellen Entstehung von Textvarianten in seiner neutestamentlichen Einleitung. Feilmosers Auseinandersetzungen und Ausführungen sind weiterhin von einer großen Kenntnis der Kirchenschriftsteller und Kirchenväter bestimmt, die weit über den Diskurs der „Brüder“ Jesu62 hinausgehen. Feilmoser plädiert nicht nur in Hinblick auf die Exegese, sondern auch grundsätzlich für die Berücksichtigung der Kirchenschriftsteller und Kirchenväter im theologischen Diskurs. So hält er „in Bezug auf die positive katholische Theologie nichts für gedeilicher und segensreicher, als ein gründliches Studium der ältesten Kirchengeschichte und Väterlehre aus ihren Quellen und ihrem Zusammenhange“.63 Entsprechend kann er resümieren: „Diejenigen Theologen, welche rechtgläubiger seyn wollen, als die ältesten Kirchenväter, mögen nachweisen, woher sie eine positive Lehre des Christenthums haben können, welche die ältesten Väter nicht hatten, und wo sich die apostolische Ueberlieferung für den angeblich einzig-richtigen Sinn dieser Schriftstellen finde, wenn die angesehensten Kirchenlehrer des Alterthums nichts davon wußten.“64
Und dem gemäß erklärt er das „gehaltlose Spiel“ „mancher katholischer Theologen“, sich „hin und wieder einen abgerissenen, häufig mißverstandenen Ausspruch eines Kirchenschriftstellers zusammen[zu]flicken, um sich das Ansehen zu geben, als stellten sie die Urlehre des Katholicismus dar“, für „Unfug“.65 Aber auch die sogenannten „protestantischen Erklärungen“, deren Aussagen bereits in dem pejorativen Gebrauch des Attributes desavouiert werden sollen, werden von Feilmoser vor dem Hintergrund entsprechender Aussagen der Kirchenschriftstel-
59 Vgl. John BARRETT, Evangelium secundum Matthaeum ex codice rescripto in bibliotheca Collegii Sanctissimae Trinitatis iuxta Dublin, Dublin, 1801. 60 Vgl. Bruce M. METZGER, Der Text des Neuen Testaments. Eine Einführung in die neutestamentliche Textkritik, Stuttgart 1966, 58. 61 Vgl. exemplarisch nur [Andreas Benedikt FEILMOSER], [Rezension zu] Biblisch-kritische Reise in Frankreich, der Schweiz, Italien, Palästina, und Archipel. Nebst einer Geschichte des Textes des N. T. von Dr. Joh. Martin Augustin Scholz […] Leipzig und Sorau 1823, in: Theologische Quartalschrift 5 (1823), 634–676. 62 Vgl. etwa [FEILMOSER], [Rezension zu] Kritisch-historischer Kommentar (Anm. 43), 307f. 63 Vgl. [Andreas Benedikt FEILMOSER], [Rezension zu] Die Theologie des Magiers Manes und ihr Ursprung. Aus den Quellen bearbeitet von K. A. Frhr. v. Reichlin Melldegg […] Frankfurt am Main 1825, in: Theologische Quartalschrift 7 (1825), 108–115, hier: 108. 64 [FEILMOSER], Katholische Bemerkungen (Anm. 55), 505. 65 [FEILMOSER], [Rezension zu] Die Theologie des Magiers Manes (Anm. 63), 108.
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ler eingeordnet.66 Dass Feilmosers Berücksichtigung der Kirchenschriftsteller für die Exegese nach wie vor einen Gewinn darstellt, zeigen etwa seine Verweise auf Gregor von Nyssa, Hieronymus und Victor von Antiochien, wenn es um die Klärung der alten crux interpretum bezüglich der Zeitangaben in Mk 16,1 (mane prima sabbati) und Mt 28,1 (vespere sabbati) geht.67 So ist hier für die Bibelwissenschaft von bleibendem Interesse, dass diese Angaben bereits von den Kirchenschriftstellern als scheinbar widersprüchlich aufgegriffen und dementsprechend erläutert wurden.68 Und wie die Berücksichtigung der Kirchenschriftsteller im Kontext textkritischer Fragen zu erfolgen hat, zeigt Feilmoser in der Diskussion über die Echtheit der letzten zwölf Verse des Markusevangeliums auf (Mk 16,920).69 Bemerkenswerterweise weist Feilmoser unabhängig vom textkritischen Diskurs bereits darauf hin, dass Mk mit dem sein Buch vermeintlich abschließenden Vers 8 („efobunto gar“) die Leser mit der Unmöglichkeit konfrontiert hätte, nichts von der Auferstehung zu wissen, da die einzigen, die davon gehört hatten, nichts davon gesagt hätten.70 Dass Feilmosers umfangreiche Kenntnisse der Kirchenschriftsteller und Patristik nicht nur für die gegenwärtige Bibelwissenschaft, sondern auch für die Patristik selbst von bleibendem Gewinn sind, belegen seine Einlassungen zu Marcion.71 Darüber hinaus können seine Anmerkungen zu Flavius Josephus die gegenwärtige Debatte um die bekannten Stellen Ant 20,200 (Jesus als Bruder des Jakobus) und Ant 18,63f. („Testimonium Flavianum“) bereichern.72 66 Vgl. [Andreas Benedikt FEILMOSER], [Rezension zu] Beiträge zur Erklärung des Evangeliums Johannis für Sprachkundige. Von Ferd. Greg. Mayer […] Linz. 1820, in: Theologische Quartalschrift 3 (1821), 45–60, hier: 56. 67 [Andreas Benedikt FEILMOSER], [Rezension zu] Einleitung in die Schriften des neuen Testaments, von D. Joh. Lenard Hug u. s. w. Zweyter Theil, in: Theologische Quartalschrift 1822, 461–504, 482–485. Vgl. ferner – teilweise in analoger Argumentation – DERS., Einleitung (Anm. 44), 139f. 68 FEILMOSER selbst bietet folgende Erklärung: „Daß Matthäus in seiner ganzen Darstellung die Nebenumstände äußerst sorglos behandelt, und daher die Handlung, welche am Samstag Abends begann, (Mark. XVI, I. vergl. Luk. XXIII, 56.), und am folgenden Morgen fortgesetzt wurde, in Einem fort erzählt, hatte man nach dem damaligen Standpunkte der Bibelerklärung wohl nicht bemerken können. Darum fanden vermuthlich zuerst die kritisirenden Alexandriner hierin einen Anstand.“ ([FEILMOSER], [Rezension zu] Einleitung in die Schriften des neuen Testaments [Anm. 67], 484.) Vgl. ferner für eine aktuelle Kommentierung der Zeitangabe Ulrich LUZ, Das Evangelium nach Matthäus (EKK, Bd. I/4), Düsseldorf – Zürich – Neukirchen-Vluyn 2002, 401, sowie zur kirchlichen Auslegung ebd., Fußnote 32. 69 Vgl. FEILMOSER, Einleitung (Anm. 44), 135ff. 70 Vgl. ebd., 138f. 71 Vgl. [Andreas Benedikt FEILMOSER], [Rezension zu] Das Evangelium Marcions in seiner ursprünglichen Gestalt, nebst dem vollständigsten Beweise dargestellt, daß es nicht selbständig, sondern ein verstümmeltes und verfälschtes Lukas-Evangelium war. Den Freunden des Neuen Testaments und den Kritikern insbesondere, namentlich Hrn. Hofrath, Ritter und Professor Dr. Eichhorn zur strengen Prüfung vorgelegt von August Hahn […] Königsberg. 1823, in: Theologische Quartalschrift 7 (1825), 511–540. 72 Vgl. [Andreas Benedikt FEILMOSER], [Rezension zu] Ueber des Falvius Josephus Zeugniß von Christo. Ein Versuch von Carl Friedrich Böhmert, Leipzig 1823, in: Theologische Quartalschrift 5 (1823), 654–676.
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Die Philologie hält Feilmoser zwar nicht für das „allein seligmachende Studium eines Geistlichen“, aber er vertritt mit voller Überzeugung, „daß Kenntniß der biblischen Grundsprachen heut zu Tage eine unerläßliche Forderung für denjenigen sey, der sich als gründlicher katholischer Theolog, einerseits den Rationalisten und gewissen Protestanten, andererseits den Finsterlingen und Ultramontanisten gegenüber, in Achtung erhalten will.“73
Obwohl die Kenntnisse der biblischen Sprachen für Feilmoser unabdingbar sind, stellt er doch auch deutlich heraus, dass die bloße Sprachkenntnis allein nicht ausreichend ist, weil die Kenntnis eines Wortes in der Ausgangssprache an sich noch kein Verstehen bedingt. Es bedarf vielmehr einer umfassenden Kenntnis der Lebenswelten, in der die Ausgangssprache präsent war, sowie eines entsprechenden Einbildungsvermögens, das heißt des Vermögens, sich in die fremde Lebenswelt mittels eigener Bildung einzubilden, um das eigene Anschauungs- und Vorstellungsvermögen darin so anzureichern, dass Verstehen überhaupt erst möglich wird. Bedenkt man nur, welcher Vorstellungs- und Bedeutungsgehalt etwa den Begriffen Tora, Nomos und Ius in der Bibelwissenschaft und Theologie beigemessen werden, so geben Feilmosers Überlegungen auch gegenwärtig noch zu denken. „Denn einmal sind Worte schon überhaupt nur allgemeine, und oft sehr unbestimmte und schwankende Zeichen der Vorstellungen; und dann können auch durch Worte eigentlich nie ganz neue Vorstellungen in uns erzeugt, sondern nur die schon wirklich in uns vorhandenen geweckt, oder auch so zusammen geleitet werden, daß neue Verbindungen der Vorstellungen in uns entstehen. Die wirkliche Erzeugung der Vorstellungen aber geschieht bloß durch eigene Empfindung oder Anschauung. Verstehen ist also ein Anerkennen, daß man selbst schon die nämlichen Anschauungen gehabt habe, oder wirklich habe, die der Andere durch Zeichen, vorzüglich durch Worte, ausdrückt. Wir verstehen Andere nur dadurch, daß wir die Zeichen, wodurch sie ihre Vorstellungen ausdrücken, nach der Analogie unserer eigenen Vorstellungen deuten, d. i. den Schluß machen, sie müßten eben jene Empfindungen und Vorstellungen haben, die wir selbst schon in uns gefunden haben. Man kann also eigentlich Niemanden richtig verstehen, wenn man nicht mit ihm die nämlichen Anschauungen oder Empfindungen entweder wirklich gehabt hat, oder sich vermöge der Einbildungskraft ganz in seine Lage versetzen kann. Sich in die Lage eines Andern versetzen heißt nämlich einerseits seinem Anschauungs- und Vorstellungsvermögen den nämlichen Grad von Bildung verschaffen, den das Anschauungsvermögen des Andern hat; und andererseits alle äußere Eindrücke, welche auf das Anschauungsvermögen des Andern wirken, sich mit der nämlichen Lebhaftigkeit vorstellen. Will man also die biblischen Bücher verstehen, so muß man einmal die ganze Beschaffenheit jener Zeiten, Länder und Menschen, in welchen und unter welchen die biblischen Schriftsteller lebten, kurz alle Gegenstände, welche auf ihr Erkenntnis- und Empfindungsvermögen mittelbar oder unmittelbar einwirken konnten, im Allgemeinen kennen.“74 73 [Andreas Benedikt FEILMOSER], [Rezension zu] „Novum testamentum graece et latine […] Studio et cura Leandri van Ess, Tubingae 1827“, „Novum testamentum graece et latine […] Edidit […] Petr. Al. Gratz, Moguntiae 1827, in: Theologische Quartalschrift 9 (1827), 714– 718, hier: 715. Vgl. ferner DERS., Einleitung (Anm. 44), 697f. 74 FEILMOSER, Einleitung (Anm. 44), 2f.
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Diese Ausführungen Feilmosers am Beginn seiner Einleitung können im Rahmen hermeneutischer Prolegomena auch weiterhin gewinnbringend im exegetischen Diskurs vorgestellt werden, da sie an Aktualität nichts eingebüßt haben. Den Rezensionen Feilmosers ist zu entnehmen, was sich Feilmoser näherhin von einem Kommentar erhofft, nämlich „eine neue Anregung zum gelehrten Bibelstudium unter uns Katholen“ sowie „nebst der gründlichen Erforschung des wahren Sinnes, junge Theologen und Geistliche mit den Versuchen der naturalisirenden Exegese unserer Zeiten auf eine solche Art bekannt zu machen, daß die Gefahr des ersten Eindruckes der Neuheit für sie unschädlicher werden soll.“75 Dem stellt er die Meinung Binterims gegenüber, dass die „Candidanten der Theologie, welche als Christen auf die Universitäten giengen, als Gottesläugner oder Heiden zurück kommen!“76 Anton Joseph Binterim, ehemaliger Franziskaner und Pfarrer in Bilk bei Düsseldorf, war von ultramontaner Gesinnung und letztlich ein gefürchteter Denunziant77. Binterims Arbeiten wurden in der Theologischen Quartalschrift zunächst kritisch besprochen,78 1844 versichert allerdings Hefele in einer Besprechung Binterim seiner „ausgezeichneten Hochachtung“79. Feilmoser nennt Binterim in der nicht ganz frei von Polemik getragenen Auseinandersetzung über den Matthäus-Kommentar von Gratz „Mathathias“, den „neuen Makkabäer“, der „sich aufmachen müsse, um das geschändete Gesetz zu rächen.“80 Die Zeitschrift „Der Katholik“ brachte daraufhin 1825 eine kritische Anmerkung zur Theologischen Quartalschrift, die es sich bekanntlich zur Pflicht machte, „die Worte des Herrn Dr. Binterim so ungünstig als möglich zu beurteilen.“81 Eine Rezension 75 [FEILMOSER], [Rezension zu] Kritisch-historischer Kommentar (Anm. 43), 309. 76 [FEILMOSER], Katholische Bemerkungen (Anm. 55), 465. 77 Vgl. nur zum denuntiatorischen Verfahren Binterims [FEILMOSER], Katholische Bemerkungen (Anm. 55), 472. 78 Vgl. neben den Rezensionen Feilmosers auch [Peter Alois GRATZ], [Rezension zu] Antonius Josephus Binterim, Epistula catholica interlinearis de lingua originali novi Testamenti non latina, ubi et de S. Scriptura in lingua vulgari promiscue non legenda, Düsseldorf 1820, in: Theologische Quartalschrift 2 (1820), 440–448; [Johann Georg HERBST], [Rezension zu], Die vorzüglichsten Denkwürdigkeiten der Christ-Katholischen Kirche aus den ersten, mittlern und letztern Zeiten. Mit besonderer Rücksichtnahme auf die Disciplin der katholischen Kirche in Deutschland. Von Anton Joseph Binterim […] Erster Band. Erster Theil. Mainz, 1825, in: Theologische Quartalschrift 7 (1825), 307–324. 79 Carl Joseph HEFELE, [Rezension zu] Die vorzüglichsten Denkwürdigkeiten der christkatholischen Kirche aus den ersten, mittlern und letzten Zeiten. Mit besonderer Rücksichtnahme auf die Disciplin der katholischen Kirche in Deutschland. Von Anton Joseph Binterim etc. 7tr. Bd. 3tr. Thl. Mainz und Kirchheim, 1841; Pragmatische Geschichte der deutschen National-, Provincial- und der vorzüglichsten Diöcesanconcilien, vom vierten Jahrhundert bis auf das Concilium von Trient. Mit Bezug auf Glaubens- und Sittenlehre, Kirchendisciplin und Liturgie, von A. J. Binterim. 5tr. Bd. Mainz bei Kirchheim etc. 1843, in: Theologische Quartalschrift 26 (1844), 483–500, hier: 500. 80 [FEILMOSER], [Rezension zu] Kritisch-historischer Kommentar (Anm. 43), 311. 81 Der Katholik 5 (1825), Bd. 17, 123f. Ebenfalls kritisch betrachtet Heinrich Brück die Anfänge der Theologischen Quartalschrift, deren erste Ausgaben durch „unkirchliche Aufklärung“ und einen „sehr starken Beigeschmack von Rationalismus“ gekennzeichnet gewesen seien; DERS., Geschichte der katholischen Kirche in Deutschland im neunzehnten Jahrhundert, Bd.
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von Feilmosers „Einleitung in die Bücher des neuen Bundes“ (Tübingen 1830), die allerdings erst nach seinem Tod 1831 erschienen ist und das Buch ausdrücklich nicht im eigentlichen Sinn rezensieren, sondern nur als „treffliche Erscheinung“ anzeigen möchte, moniert schlussendlich das Fehlen einer Darstellung des Inneren gegenüber der rein äußerlichen Darstellung Feilmosers.82 Feilmoser möchte sich nicht für ein Verbot und eine Zurückweisung bestimmter Schriften aussprechen, welche, wie aber Binterim mit Bezug auf den Gratzschen Kommentar herausstelle, Grundsätze und Meinungen „gegen die heiligsten Geheimnisse und Lehren unserer Religion“ vortrügen und „so das Gift langsam unter dem süßen Namen der Liberalität den jungen Studirenden“ beibrächten83, sondern sucht vielmehr die kritische Auseinandersetzung. Die Einwürfe Binterims spiegeln die bekannte Befürchtung wider, dass in den sogenannten „literärischen Notizen“ der Kommentare „die schändlichsten Meinungen, alte und neue Gotteslästerungen“ vorgetragen würden, ohne für die Ehre der heiligen Schriften einzutreten. Feilmoser merkt jedoch zu Recht an, dass es wohl kaum besser wäre, wenn die Theologen „auf anderen Wegen […] solche Behauptungen kennen lernen, wovon sie bey ihrem Lehrer nie etwas gehört haben“, und fragt entsprechend: „Werden sie dadurch nicht leicht veranlaßt zu glauben, ihr Lehrer habe solche Einwürfe und Vorstellungen entweder gar nicht gekannt, oder sie verschwiegen, weil er sich nicht gewachsen fühlte, sie zu widerlegen?“84 Dass insbesondere die Unkenntnis solch kontroverser Schriften fatal sein kann und nicht vor Schaden schützt, stellt Feilmoser sodann heraus: „Wie häufig ziehen noch unsere Geistlichen gegen Arianer und andere veralterte Ketzer, oder gegen Behauptungen der Protestanten des 16. Jahrhundertes zu Felde, anstatt den gefährlichsten Irrthümern unserer Zeit entgegen zu arbeiten, weil sie gerade diese nicht kennen.“85 Dementsprechend ist die weitere Auseinandersetzung auch von einem polemischen Unterton getragen und Feilmoser fährt fort, dass eben solche Theologen wie Binterim den wahren Wert eines Kommentars gar nicht zu schätzen wüssten, weil für sie „in jedem Verse der Schrift ihre ganze Dogmatik in nuce enthalten seyn muß. Daher das Geschrei über Arianismus u. dgl., wenn nicht bey jeder Gelegenheit die Lehre von der Gottheit Jesu bey den Haaren herbeygezogen wird.“86 Und so charakterisiert er Binterims „Behauptung von dem griechischen Grundtexte des Matthäus gegen die einstimmige Aussage der Kirchenväter“ nicht nur als das, was Binterim Exegeten wie Gratz und Feilmoser unterstellt, nämlich als „Neuerungssucht“, sondern auch noch als „Plagium protestanticum“87.
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2: Vom Abschlusse der Concordate bis zur Bischofsversammlung im Würzburg im März 1848, Münster 21903, 493. Vgl. ferner Gerhard VALERIUS, Deutscher Katholizismus und Lamennais. Die Auseinandersetzung in der katholischen Publizistik 1817–1854, Mainz 1983, 39f. Vgl. [ANONYM], [Rezension zu] Einleitung (Anm. 45), 331f. Vgl. [FEILMOSER], [Rezension zu] Kritisch-historischer Kommentar (Anm. 43), 311. [FEILMOSER], Katholische Bemerkungen (Anm. 55), 465. Ebd., 466. Ebd., 491. Ebd., 488.
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Grundsätzlich sollte der wissenschaftliche Diskurs für Feilmoser jedoch durch einen fairen und sachgerechten Umgang gekennzeichnet sein. „Ferner hat nicht nur kein Mensch das Recht, dem andern Ansichten aufzudringen, die seiner redlichen Ueberzeugung widerstreiten, sondern es ist auch Hochverrath an der Menschheit und dem Christenthume, wenn man die bescheidene Aeusserung solcher Zweifel und Ueberzeugungen, die den herrschenden religiösen Vorstellungen entgegen stehen, verbieten will.“88
Und dementsprechend bleibt es für ihn selbstverständlich, dass zwei Theologen unterschiedlicher Meinung sein können. Dieses kann die Auseinandersetzung bereichern; solange nur der Grundsatz beachtet werde, „in necessariis unitas, in dubiis libertas, in omnibus caritas! […], so kann auch eine solche Verschiedenheit keinen Schaden bringen, sondern nur ein Mittel zur allmähligen Annäherung an die Wahrheit werden.“89 Dass es Feilmoser somit ein Anliegen ist, die jeweilige Auseinandersetzung im exegetischen Diskurs grundsätzlich ausgewogen und sachlich auszutragen, zeigt nicht nur die Lektüre seiner Publikationen, sondern wird ihm auch von Seiten der Rezensenten bescheinigt.90 Feilmosers Hauptwerk, die „Einleitung in die Bücher des neuen Bundes. Für die öffentlichen Vorlesungen“91 bietet eine umfassende Einführung in die Schriften des Neuen Testaments. In seinem Vorwort zur zweiten Auflage geht Feilmoser bereits auf bekannte Kritiker an seinem Werk ein, das angeblich durch Ketzereien und den Naturalismus bestimmt sei. Er tut dies aber nicht, um auf diese Rücksicht zu nehmen, sondern um vielmehr herauszustellen, dass „[a]llein absichtliche Verdrehungen und aftertheologische Abgeschmacktheiten zu widerlegen […] in einem Vorlesebuche am wenigsten der Platz [ist].“92 Die Leser erfahren ferner, dass Feilmoser bewusst die besondere Einleitung der allgemeinen vorangestellt hat, um damit für die allgemeine Einleitung bereits Material voransgestellt zu haben und diese verständlicher werden zu lassen.93 Somit gliedert sich die Einleitung in eine „Erste Abtheilung“, die „Besondere Einleitung“ (5–581) mit den Abschnitten „Von den historischen Bücher des neuen Bundes“ (Evangelien und Apostelgeschichte; 5–316), „Von den dogmatischen Schriften des neuen Bundes“ (paulinische und katholische Briefe; 317–549) sowie „Von den prophetischen Schriften des Neuen Bundes“ (Apokalypse; 550–581) und in eine „Zweyte Abtheilung“, die „Allgemeine Einleitung“ (582–704) mit den Abschnitten „All88 [FEILMOSER], [Rezension zu] Probabilia de evangelii et epistolarum Ioannis, Apostoli (Anm. 45), 263f. 89 [FEILMOSER], [Rezension zu] Kritisch-historischer Kommentar (Anm. 43), 294. 90 Vgl. nur [ANONYM], [Rezension zu] Einleitung in die Bücher des neuen Bundes. Für die öffentlichen Vorlesungen von Andreas Benedikt Feilmoser […], Innsbruck, 1810, in: Litteraturzeitung für katholische Religionslehrer 2 (1811), Bd. 1, 393–405, hier: 396, in der unter anderem auf die Auseinandersetzung mit Hug eingegangen und diese als ausgewogen hervorgehoben wird. 91 Zweyte, verbesserte und vermehrte Auflage, Tübingen 1830. 92 FEILMOSER, Einleitung (Anm. 44), IV. 93 Vgl. ebd., IV; vgl. zum Verfahren dieser Anordnung auch Konstantin GUTBERLET, in: Literarischer Handweiser Nr. 99 (1871), 6.
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gemeine kritische Bemerkungen über die Bücher des neuen Bundes“ (582–690) und die Einleitung abschließend „Allgemeine hermeneutische Bemerkungen über die Bücher des N. B.“ (690–704) Im Rahmen der üblichen Einleitungsfragen bezüglich des Verfassers, des Inhalts, der Veranlassung, der Leser, der Sprache, des Ortes, der Zeit, des Zweckes, des Plans, der Schreibart, der Echtheit, der Unverfälschtheit sowie der Glaubwürdigkeit berücksichtigt Feilmoser auch die Frage nach dem Wert der jeweiligen Schrift, um sie entsprechend würdigen zu können. „Daher untersucht die Einleitung die Aechtheit und Unverfälschtheit eines jeden Stückes; ferner bey den geschichtlichen Büchern die äußere und innere Glaubwürdigkeit, bey dogmatischen Werken die Allgemeingiltigkeit der vorgetragenen Lehrsätze und bey Schriften, welche Vorsagen enthalten, den Punct, worauf die Verfasser hindeuteten, und in wie fern sich die Erfüllung in der Geschichte nachweisen läßt. Bey den biblischen Büchern kommt noch die Frage hinzu, ob und in wie fern ihnen ein mehr als bloß menschliches Ansehen, Inspiration, zukomme, und ob man dieses Ansehen auch jederzeit anerkennt; d. i. sie für kanonisch gehalten habe.“94
Für die Geschichte der Exegese findet sich in der Einleitung eine Fülle von interessanten Ausführungen und Anmerkungen. So äußert sich Feilmoser zur Ursprünglichkeit des sogenannten Comma Johanneum, die er jedoch in einer sehr ausführlichen Darlegung in sechs Punkten aus äußeren Gründen zurückweist, während er die Entstehung des Verses durch Randglossen erklärt95, um dann zu konstatieren: „Dem Freunde des Christenthumes darf um diese Stelle um so weniger leid seyn, da man die Dreyheit in Gott ohnehin bisweilen auf Kosten der Einheit bis zum Aergerniße der gesunden Vernunft, und gegen den Geist des Evangeliums hervorgehoben hat. Johannes entschädigt uns reichlich durch die richtigen Begriffe von Gottes- und Menschenliebe, die wir vorzüglich diesem Briefe verdanken, indem er uns lehrt, daß sie nicht pathologisch, sondern praktisch seyn, d. i. in Gehorsam gegen jenen, und in Hilfeleistung gegen diese bestehen soll.“96
Feilmoser stellt die Authentizität des Verses aus äußeren Gründen zu Recht in Abrede, und entsprechend schmolz „die Zahl der Verteidiger des CJ […] bis zum Ende des 19. Jh. zusehends dahin wie Schnee in der Sonne“, wie Hans-Josef Klauck hervorhebt, „auch unter den kath. Exegeten“97. Der bei Feilmoser aufgezeigte Diskurs kann aufgrund seiner Ausführlichkeit die Retrospektiven gegen-
94 FEILMOSER, Einleitung (Anm. 44), 4. 95 Vgl. ebd., 538–541. 96 Ebd., 541. Vgl. auch [Andreas Benedikt FEILMOSER], [Rezension zu] Antonii Jos. Binterim, Ss. Theologiae Doctoris Parochi in Bilk et suburbio Düsseldorpiensi, Propempticum ad Problema criticum: sacra scriptura novi testamenti in quo idiomate originaliter ab Apostolis edita fuerit? a R. D. P. Marcellino Molkenbuhr, Franciscano, Ss. Theologiae Doctore, nuper propositum. Moguntiae, sumptibus Simon. Müller, bibliopolae. 1822, in: Theologische Quartalschrift 4 (1822), 654–677, hier: 660f. 97 Hans-Josef KLAUCK, Der erste Johannesbrief (EKK, Bd. XXIII/1), Zürich – Braunschweig – Neukirchen-Vluyn 1991, 310.
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wärtiger Kommentare noch immer bereichern.98 Die Entscheidungsgründe, die wiederum der inneren Textkritik zugrunde liegen, führt Feilmoser an einer anderen Stelle an: „So ist im Durchschnitte die schwerere und dunklere Lesart der leichtern und deutlichern, die kürzere, elliptische, hebraisirende, ungrammatische der wortreichern, den Satz mehr ergänzenden, griechisch-artigen und sprachrichtigern, die der dogmatischen oder moralischen Ansicht des Alterthums weniger zusagende der rechtgläubigern, und überhaupt diejenige, woraus sich die Entstehung der übrigen am leichtesten erklären läßt, den entgegengesetzten vorzuziehen.“99
Damit legt Feilmoser überaus differenzierte Entscheidungskriterien zugrunde, die über die in der momentanen Textkritik üblichen Schulsätze wie „lectio difficilior probabilior“ und „lectio brevior potior“ noch hinausgehen und somit auch gegenwärtig dem textkritischen Diskurs in der universitären Ausbildung zur Diskussion gegeben werden können. Feilmoser verweist ferner darauf, wie Sicherheit in der – gegenwärtig sogenannten absoluten – Chronologie des Paulus zu gewinnen wäre: „Das Proconsulat des Gallio (Apg. XVIII. 12.) gäbe einen bestimmtern Aufschluß, wenn der Anfang und die Dauer desselben durch die Profangeschichte genau angegeben wäre.“100 Zur Zeit Feilmosers lagen jedoch die Fragmente jenes Steines mit einem Erlass des Kaisers Claudius, die erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Delphi gefunden wurden und in denen eben dieser Gallio, Prokonsul der Provinz Achaia, Erwähnung findet, noch nicht vor.101 Die Datierung des Steines ermöglicht der Paulusforschung nun ungeachtet aller Kontroversen im Einzelnen doch eine Bestimmung jener absoluten Chronologie, die bereits Feilmoser gerne in Angriff genommen hätte. In Leben und Werk des Paulus führt Feilmoser auf dem klassischen Weg ein. Paulus, der ein ungemein cholerisches Temperament gehabt habe, sei unermüdlich gewesen und habe sich als ein Weltapostel betrachtet.102 Den 1. Korintherbrief kann er aufgrund dessen spezifischer Anlage als ein „Gelegenheitsschreiben“ charakterisieren103, während der Römerbrief teils dogmatisch, teils moralisch sei104. Da Feilmoser den ersten Brief an die Korinther als ein solches Gelegenheitsschreiben erkennt, folgert er zu Recht, dass der in diesem Brief genannte Vorzug der Ehelosigkeit „völlig frey [sei] von den mystischen Schwärmereyen, 98 Vgl. nur ebd., 303ff.: „Exkurs 4: Das Comma Johanneum“; DERS., Die katholische neutestamentliche Exegese zwischen Vatikanum I und Vatikanum II, in: Hubert WOLF (Hg.), Die katholisch-theologischen Disziplinen in Deutschland 1870–1962. Ihre Geschichte, ihr Zeitbezug (Programm und Wirkungsgeschichte des II. Vatikanums, Bd. 3), Paderborn 1999, 39–70, hier: 43ff. 99 FEILMOSER, Einleitung (Anm. 44), 651f. 100 Ebd., 304. 101 Vgl. zum näheren Kontext Charles Kingsley BARRETT - Claus-Jürgen THORNTON (Hg.), Texte zur Umwelt des Neuen Testaments, Tübingen 21991, 58ff., hier: Nr. 53. 102 Vgl. FEILMOSER, Einleitung (Anm. 44), 323; 400. 103 Vgl. ebd., 384. 104 Vgl. ebd., 401.
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welche sich frühzeitig zuerst Ketzer und dann auch Katholiken in der übertriebenen Anpreisung des jungfräulichen Standes zu Schulden kommen ließen“105. Von bleibendem Interesse für die Paulusforschung und ihre Geschichte sind ferner jene Anmerkungen Feilmosers, die demonstrieren sollen, wie Paulus zu verstehen ist. So macht Feilmoser darauf aufmerksam, dass bei Paulus wie auch in den „Schriften der Alten“ mehr eine „constructive“ als eine „analytische“ Denkweise dominiere. Dass mit einigen Wörtern wie „nomos“ oder „hamartia“ in verschiedenen Bedeutungen gespielt werde, erklärt nach Feilmoser somit manche Widersprüche in den Behauptungen. „Doch diente andererseits eben diese Unbestimmtheit der Sprache dazu, daß die Vorstellung nicht so leicht durch den Ausdruck gefesselt wurde, und daß sich die Idee freyer über den Begriff erheben konnte.“106 Mit dieser Sichtweise gewinnt Feilmoser nun wiederum die grundsätzliche Möglichkeit, die entsprechenden Worte und Begriffe in ihren Bedeutungen relativ frei auszulegen und so das christliche Profil nicht zuletzt gegenüber dem Judentum über den Bedeutungsdiskurs der Begriffe hinaus zu schärfen. Nicht von ungefähr kann Feilmoser dann auch von der „Hülle der jüdischen Begriffe“ und ihren „rein-menschlichen Ansichten“ schreiben.107 Insofern verwundert es dann auch nicht weiter, dass Feilmoser im weiteren Kontext die judenchristliche Perspektive gegenüber der heidenchristlichen herabsetzt. Schlussendlich hätten sich die christlichen Begriffe gegenüber „den beschränkten Ansichten“ des Judentums zu einer höheren Bildungsstufe weiterentwickelt, wie ein Vergleich der paulinischen Briefe zeigen würde.108 Die Kirche von Korinth zeichnet sich nach Feilmoser durch zwei Hauptparteien aus, das heißt „eine judaizirende, die sich von Petrus benannte und eine antijudaizirende, die sich wieder in zwey Aeste, in die Anhänger des Paulus und Apollos, spaltete“109, wobei er die Grundsätze der Heidenchristen „aufgeklärt“ nennt, während er die Denkungsart der Judenchristen als „abergläubisch“ bezeichnet110. Für Feilmoser ist die „Unzulänglichkeit des Judenthumes“ – und hier reiht er sich gänzlich in die klassische Paulus-Lesart ein – im „nomos“ respektive in der irrigen Annahme begründet, „das Wohlgefallen Gottes durch Werke des Gesetzes erwerben zu können“111. Feilmoser ist bewusst, dass die Alten die Verfasserfrage gewöhnlich nicht rein geschichtlich, sondern meistens in Beziehung auf das kanonische Ansehen behan-
105 106 107 108 109 110 111
Ebd., 387. Ebd., 328f. Ebd., 329. Vgl. ebd., 387. Ebd., 379. Ebd., 381. Ebd., 401; 403. Die Auffassung von der „sittlichen Verdorbenheit“ der Juden tradiert auch Feilmoser ganz selbstverständlich; vgl. ebd., 700. Für die Aufarbeitung der antijüdischen Auslegung des Neuen Testaments dürfte Feilmosers Versuch, die Versuchungsgeschichte Jesu dahingehend zu erklären, dass ein bösartiger Jude im Sinne des Satans als potentiell menschlicher Versucher im Hintergrund eingeführt wird, von Interesse sein. Vgl. [Andreas Benedikt FEILMOSER], Ueber die Versuchungsgeschichte Jesu, in: Theologische Quartalschrift 9 (1827), 25–72; 195–234, hier: 225ff.
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delten.112 In Bezug auf die drei ersten Evangelien nimmt die Literarkritik in seinen Ausführungen einen breiten Raum ein. Feilmoser fasst die seinerzeit vorgetragenen Hypothesen unter den zwei Ansichten zusammen, dass „entweder ein Evangelist von dem andern, oder eine gemeinschaftliche Quelle benützt worden sey“113. Die erste Ansicht beinhaltet sechs Möglichkeiten. „A. daß Markus unsern Matthäus, und dann Lukas beyde, oder B. daß Lukas den Matthäus allein, Markus aber beyde gebraucht habe; […] C. daß Matthäus unsern Markus, Lukas aber beyde, oder D. Lukas nur den Markus, Matthäus aber beyde vor sich gehabt habe; […] E. daß Matthäus den Lukas allein, Markus aber beyde, oder endlich F. daß Markus bloß den Lukas, Matthäus aber den Lukas und Markus benützt haben sollte.“114
Er kommentiert diese erste Annahme mit einer letztendlich noch heute üblichen Literarkritik, indem er herausstellt, dass sich auf diese Weise zwar die Übereinstimmungen, nicht jedoch „die bis an Widersprüche grenzenden Verschiedenheiten“, noch die „schlechtern Darstellungen des Nachfolgers im Vergleiche zu seinem Vorgänger“ erklären ließen.115 Für Feilmoser lassen sich die Verschiedenheiten in den Evangelien jedoch viel eher begreifen, wenn man „gemeinschaftliche Quellen“ berücksichtigte. Diese hätten neben den Gemeinsamkeiten entweder durch Lücken bedingte Ergänzungen oder Korrekturen aufgewiesen.116 Der Hinweis auf die Zeugen bzw. näherhin Augenzeugen führt bei Feilmoser dazu, ebenfalls von einer Quelle der mündlichen Überlieferung auszugehen. Damit konnte neben den schriftlichen Aufzeichnungen ebenso wohl die „mündliche Ueberlieferung […] Quelle für die evangelischen Geschichtschreiber seyn“117. In der weiteren Diskussion über die Hypothesen potentieller Quellen kann Feilmoser dann auch konstatieren, dass eine Annahme, die sich vor dem Hintergrund der schriftlichen Fixierung der Überlieferungen auf „die gleichförmige Fortpflanzung der Reden“ beschränke, aufgrund der hohen wortwörtlichen Übereinstimmung der Lehrsätze durchaus sinnvoll erscheint.118 Damit liegt der Schritt zur Logienquelle und schlussendlich zur Zweiquellentheorie nicht mehr fern. Weil Feilmoser aber grundsätzlich weiterhin von nur einem Quellenstrang ausgeht, obwohl er die „wechselnde nahe Verwandtschaft des Markus bald mit Matthäus, bald mit Lukas“ in dem Bewusstsein konstatiert, dass an eine völlige Unabhängigkeit nicht zu denken sei119, birgt die Annahme einer literarischen Abhängigkeit der einzelnen Synoptiker voneinander zu viele Widersprüche in sich und muss deshalb negiert werden. Nach Feilmoser lassen sich die ersten schriftlichen Überlieferungen nicht auf einen alles umfassenden Aufsatz zurückführen. Er geht vielmehr von mehreren 112 113 114 115 116 117 118 119
Vgl. FEILMOSER, Einleitung (Anm. 44), 365. Ebd., 187. Ebd., 187. Vgl. ebd., 187. Vgl. ebd., 188. Ebd., 188. Vgl. ebd., 192. Vgl. ebd., 121; 129.
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kleineren Aufzeichnungen aus, welche zunächst nur einzelne Erzählungen beinhalteten. Diese einzelnen Aufsätze konnten dann von einzelnen Abschreibern unterschiedlich kombiniert werden. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Evangelien erklärten sich dann aus der unterschiedlichen Anordnung der Stoffe. In grundsätzlicher Hinsicht gibt Feilmoser ferner zu bedenken, dass die Zusammenstellung der Lehren Jesu aufgrund der Abgerissenheit seiner Denksprüche und der Zeitlosigkeit seiner aphoristischen Vorträge naturgemäß subjektiv und willkürlich erfolgte.120 Diese Überlegungen führen Feilmoser nun aber nicht zur Annahme eines Urevangeliums, vielmehr grenzt er sich hier von Eichhorn ab, um stattdessen auf den komplexen Tradierungsprozess der Überlieferungen zu verweisen. „Diese Verwandtschaft [der Evangelien; MB] muß aber eben so wenig gerade aus Einer abgeleiteten, als aus Einer ursprünglichen Hauptschrift hervorgegangen seyn; vielmehr sprechen die größern und kleinern Abschnitte, welche unsere Evangelisten zwar miteinander gemein haben, aber in verschiedener Ordnung, ohne daß ein Evangelist veranlaßt seyn konnte, selbst eine neue Anordnung zu treffen, dafür, daß zu ihrer Zeit die Verbindung der verschiedenen Materialien zur Einheit selbst in dem Umfange des eichhornischen Urevangeliums noch nicht vollendet war.“121
Feilmoser setzt also zunächst die schriftliche Tradierung mündlicher Überlieferungen der Worte und Taten Jesu voraus, ohne dabei jedoch schlussendlich die Annahme einer schriftlichen Quelle der Aussprüche Jesu, deren potentielle Existenz er durchaus bereit ist einzuräumen, in ihrer literarkritischen Bedeutung zu berücksichtigen. Die auf diese Weise entstandenen Sammlungen hätten dann zwangsläufig dazu herausgefordert, den gesammelten Stoff auch zeitlich oder inhaltlich anzuordnen und zu ergänzen. Dementsprechend charakterisiert Feilmoser die Evangelisten auch als Ordner, die soweit notwendig die Vorlage noch korrigiert und ergänzt hätten – nicht jedoch als selbständige Schriftsteller mit künstlerischem Anspruch.122 Da man sich das Verfahren der Evangelisten jedoch nach Feilmoser nicht als zu mechanisch und sklavisch vorstellen dürfe123, könnte man die Evangelisten nicht nur als Ordner, wie er diese ausdrücklich bezeichnet, sondern im Anschluss an seiner Ausführungen auch als konservative Redaktoren bezeichnen. Feilmosers Ausführungen bleiben auch für gegenwärtige literarkritische Diskussionen von Interesse, weil sie nicht nur einen Einblick in eine überaus differenziert geführte Debatte über die seinerzeit aktuellen Hypothesen zum Zusammenhang der drei ersten Evangelien bieten, sondern auch veranschaulichen, wie ein katholischer Bibelwissenschaftler, der die Abhängigkeit der Evangelisten voneinander nicht zugeben konnte und wollte, argumentativ verfährt. Vor dem Hintergrund der Zweiquellentheorie ist eine Reihe von Überlegungen, die auf diese Theorie bereits hinweisen könnten, nicht zu übersehen. Dass Matthäus Markus 120 121 122 123
Vgl. ebd., 8. Ebd., 194f. Vgl. ebd., 10. Vgl. ebd., 63.
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benutzt haben könnte, taucht beispielsweise immer dann als Hypothese auf, wenn es um den griechischen Übersetzer des Matthäus geht.124 Feilmoser ist sogar an anderer Stelle bereit, der Frage der Markus-Priorität eine gewisse Berechtigung einzuräumen, wenn es darum geht, die entsprechenden Einwände Eichorns zurückzuweisen. So spräche durchaus einiges dafür, „daß das Evangelium des Markus das älteste, und von Matthäus zugrunde gelegt, einerseits ansehnlich vermehrt, andererseits aber auch durch Weglassung einzelner Umstände, oder auch wohl einiger Begebenheiten, abgekürzt worden sey“125. Dagegen spricht für Feilmoser allerdings dann doch die „allgemeine Stimme des Alterthums“ und vor allen Dingen, daß Matthäus, wenn er den Markus vor sich gehabt hätte, bey seiner Aemsigkeit, die Lehrsprüche Jesu aufzusammeln, die Gleichnisrede von dem selbstständigen Wachsthume des Saatkorns (Matth [sic] IV. 26-29.), oder den merkwürdigen Ausspruch über die Opfergabe der armen Witwe (Mark. XII. 41-44.) u. dgl. schwerlich übergangen haben würde.“126
Dieser gewichtige Einwand Feilmosers, dass Markus einige, wenn auch nur wenige Abschnitte, aufweist, die von Matthäus nicht übernommen wurden bzw. dann nicht übernommen worden wären, spielt in der gegenwärtigen Literarkritik noch immer eine Rolle. Wenn man nicht auf gekürzte jüngere Markus-Fassungen ausweichen will, so ist dieser Hinweis ein bleibender Ausdruck dessen, dass auch die Zweiquellentheorie die synoptische Frage nicht restlos klären kann. Im weiteren Kontext der Literarkritik steht auch die vergleichende Frage nach dem Aufbau der Evangelien. Feilmoser diskutiert diese Frage in dem grundsätzlichen Wissen darum, dass die eigentliche Intention, die Geschichte Jesu zu erzählen, davon bestimmt war, seine Messianität aufzuzeigen127, auch wenn, wie er an anderer Stelle anmerkt, der Zweck des Markus rein geschichtlich erscheine128. „Die Absicht des Matthäus gieng also dahin, aus der Geschichte Jesu zu zeigen, daß Jesus der von den Juden zu Folge der prophetischen Aussprüche erwartete Messias sey.“129 Dementsprechend benennt Feilmoser nicht nur den auffälligen Umstand, dass die Herkunft Jesu von David schon bei der Stammtafel recht absichtlich herausgehoben werde, sondern sieht für dieses Evangelium Leser vorausgesetzt, „bey denen die Schriften des alten Bundes ein vollgiltiges Ansehen hatten, und die schon vorher die Erwartung von dem Messias hegten, d. i. Juden oder Juden-Christen.“130 Dass Matthäus die Reden und Taten Jesu anders aneinanderreiht als Markus und Lukas, erklärt Feilmoser einerseits durch die grundsätzliche Absicht des Evangelisten, dogmatisch und eben nicht historisch zu verfahren, und andererseits 124 125 126 127 128 129 130
Vgl. ebd., 195; 197. Ebd., 63. Ebd., 63f. Vgl. ebd., 10. Vgl. ebd., 132. Ebd., 32. Ebd., 32.
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in dem dadurch wiederum bedingten eigenen Stil des Verfassers, das heißt abzukürzen, Nebenumstände zu übergehen und Anschaulichkeit zu vermeiden.131 Dabei wird die genuin historische Rückfrage klassisch-kritisch diskutiert. Abgesehen von der Tatsache, dass Matthäus wohl kaum bei allen Vorfällen gegenwärtig gewesen wäre, dürfte er doch wohl einen anderen Plan gehabt haben als den geschichtlichen. Denn dass der „Herr so lange, ununterbrochene Lehrvorträge wie X. XIII. XXIV. XXV. und noch dazu vor dem Volke und über so vielerley Gegenstände, wie V.-VII. gehalten haben sollte, ist um so weniger anzunehmen, da er nach so vielen Spuren in den Evangelien seine Belehrungen bey gegebenen Veranlassungen, gesprächsweise, mit Zwischenfragen u. s. w. zu ertheilen pflegte; wie denn auch bey Matthäus einige Aussprüche Jesu zweymal, theils in jenen langen Reden, theils mit Angabe ihrer nächsten Veranlassung angeführt werden.“132
4. Die Bedeutung Feilmosers als katholischer Bibelwissenschaftler Feilmosers Ausführungen sind für die exegetische Wissenschaft nicht nur von historischer, sondern auch von bleibender Bedeutung. Die historische Bedeutung liegt zweifelsohne in dem wissenschaftlichen Zeugnis, das Feilmoser der katholischen Bibelwissenschaft als einer ihrer gewichtigen Repräsentanten in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ausstellt – vor dem Hintergrund der immer noch vorherrschenden Annahme, dass die Bibelwissenschaft sowohl im 18. als auch im 19. Jahrhundert eine Domäne der protestantischen Theologie gewesen sei. Des Weiteren bleibt Feilmoser für die Beschäftigung mit der Textgeschichte des Neuen Testaments und den Kirchenschriftstellern insofern aktuell, dass er einen Einblick in die Geschichte der Textzeugen gewährt und in der Anführung der Kirchenschriftsteller eine Fülle von Material für die Berücksichtigung der patristischen Perspektive in der Exegese bietet133. Die bleibende Bedeutung liegt darüber hinaus nicht so sehr in den exegetischen Erkenntnissen als solchen, die mehr oder weniger dem Kontext ihrer Zeit entsprechen und nicht unbedingt dem Stand der Bibelwissenschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts134, sondern in der Art und Wei131 Vgl. ebd., 30f. Dass man bei Matthäus, der in der Regel summarische Umrisse biete, keine Ausführlichkeit erwarten dürfe, stellt Feilmoser immer wieder heraus; vgl. nur [FEILMOSER], Ueber die Versuchungsgeschichte Jesu (Anm. 111), 64. Für charakteristisch markinisch hat er an anderer Stelle bereits die wiederkehrende Parataxe mittels kai sowie das Übergangswort eutheos (euthus) herausgestellt; vgl. FEILMOSER, Einleitung (Anm. 44), 133. 132 FEILMOSER, Einleitung (Anm. 44), 28. 133 Für die Herausgeber respektive einzelnen Autoren des Evangelisch Katholischen Kommentars zum Neuen Testament (EKK) bietet Feilmoser reichlich Verweise für die Berücksichtigung der Auslegungsgeschichte. 134 Feilmoser folgt hier beispielsweise den für seine Zeit klassischen Stereotypen in der Darstellung des Judentums, wenn er etwa herausstellt, dass sich das Judentum vornehmlich durch äußere Handlungen und körperliche Übungen auszeichne; vgl. [DERS.], [Rezension zu] Kritisch-historischer Kommentar (Anm. 43), 305. Und wenn er ferner etwa „christliche Freyheit“
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se, wie diese vorgetragen werden. Feilmosers Rezensionen und die Ausführungen in seiner Einleitung können als Musterfälle exegetischen Argumentierens bezeichnet werden. In dem Wissen darum, dass den Erkenntnissen der Exegese auch Hypothesen zugrunde liegen, die einer sauberen und detaillierten argumentativen Auseinandersetzung bedürfen, können Feilmosers Ausführungen noch immer als vorbildhaft angeführt und in ihrer Art und Weise von dauerhafter Aktualität bezeichnet werden. Feilmoser stellt sich dem exegetischen Diskurs und sucht die Auseinandersetzung, anstatt – wie manch andere Zeitgenossen – den bequemeren Weg der bloßen und allzu häufig dann polemischen Zurückweisung einer Auffassung zu wählen. Dass dafür entsprechende philologische Kenntnisse ebenso wie die Kunde der Patristik unabdingbar sind, verstand sich – zumindest für Feilmoser – noch von selbst. Feilmoser zeichnet sich aber nicht nur durch seine wissenschaftliche Redlichkeit aus, sondern auch durch seine Einlassungen zur Notwendigkeit lebenslanger religiöser Bildung und einer entsprechenden seiner Zeit gemäßen Darlegung des Glaubens, die letztlich auch auf eine Stärkung desselben sowie der Kirche zielten. Somit war er in seiner Wissenschaftlichkeit getragen von einer praktischen Gegenwartsbezogenheit und bestimmt von der Intention, eine selbständige und mündige Kirchlichkeit zu erzielen, die ihn idealiter bereits tragen sollte. Da Feilmoser in dieser Trias den wissenschaftlichen Ethos des katholischen Bibelwissenschaftlers der Tübinger Schule verkörpert, hat er somit zu ihrer Entstehung einen bleibenden Beitrag geleistet. Die aufgezeigten kritischen Anmerkungen zu Feilmoser bleiben letztendlich eine detaillierte Auseinandersetzung schuldig und werden schon allein deshalb seinen Ausführungen nicht gerecht. Indem Feilmosers Einleitung trotz ihrer gründlichen und differenzierten Auseinandersetzungen als „flüchtig“ und „oberflächlich“ bezeichnet wird, wird jedoch der Anschein erweckt, dass eine weitere Beschäftigung mit ihr noch mit den Rezensionen Feilmosers nicht lohnenswert sei. Dass Feilmoser als kritischer Neutestamentler Anstoß erregen konnte, verwundert nicht, schmälert jedoch nicht den Verdienst seiner Arbeit. Im Gegensatz etwa zu Möhler135 beschränkt er sich nicht auf eine rein paraphrasierende Exegese. Die historisch-kritische Bibelkritik im protestantischen Raum dürfte er nicht als Bedrohung136, sondern als Herausforderung zum wissenschaftlichen Diskurs empfunden haben. In und mit seinen Arbeiten zeigt Feilmoser vielmehr eindrücklich auf, dass die Frage nach der Wissenschaftsfähigkeit der Theologie nicht von und „jüdischen Sklavensinn“ einander gegenüberstellt. Vgl. DERS., Einleitung (Anm. 44), 344. 135 Vgl. etwa Johann Adam MÖHLER, Nachgelassene Schriften. Nach den stenographischen Kopien von Stephan Lösch (1881–1966), hg. v. Rudolf REINHARDT. Band 2: Exegetische Vorlesungen. Übertragen, bearbeitet und eingeleitet v. Reinhold RIEGER (Konfessionskundliche und kontroverstheologische Studien, Bd. 53), Paderborn 1990. 136 So aber die grundsätzliche Einschätzung von Henning Graf REVENTLOW, Katholische Exegese des Alten Testaments zwischen den Vatikanischen Konzilien, in: Hubert WOLF (Hg.), Die katholisch-theologischen Disziplinen in Deutschland 1870–1962. Ihre Geschichte, ihr Zeitbezug (Programm und Wirkungsgeschichte des II. Vatikanums, Bd. 3), Paderborn 1999, 15–38, 17.
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der Frage nach der epistemologischen Verantwortbarkeit der Glaubensgewissheit zu trennen ist. Setzt man sich mit seinen Ausführungen auseinander, so kann man nicht umhin zu konstatieren, dass ihm die von Seckler aufgezeigte Trias der Prinzipien der Theologie ein Anliegen gewesen ist. Gerade weil aber die „Aufklärer“ der ersten Generation in den historischen Reflexionen über die „Tübinger Schule“ unerwähnt bleiben, wie Rudolf Reinhardt herausstellt137, sind ihre Auseinandersetzungen ein unausgesprochenes Plädoyer für die Beibehaltung des Begriffs der „Tübinger Schule“ in dem Sinn einer Schule von „Selbstdenkern“ (Kardinal Walter Kasper). Vor dem Hintergrund der Diskurse über den historisch-kritisch arbeitenden katholischen Bibelwissenschaftler zwischen dem Wunsch der Kirche nach einer tiefen Schriftauslegung und dem protestantischen Zweifel an einer vermeintlich streng wissenschaftlichen Auslegung in den 1950er und 1960er Jahren sind Feilmosers Ausführungen als erstaunlich aktuell zu bezeichnen.138 Bedenkt man zudem die derzeitigen Diskussionen um den Modernismus, von denen die eine, die in ihm kein historisch abgeschlossenes Ereignis sieht, modernistische und antimodernistische Tendenzen in modifizierter Form bis in die Gegenwart ausmacht, hat Feilmoser an Aktualität nichts eingebüßt. Denn bereits er lehrt uns, dass Rückfragen des Lehramtes an die Schrift oder an eine historisch zu erhebende Tradition durchaus legitim sind und ihre Berechtigung haben. Und er lehrt uns ferner, dass historische Rückfragen in der Bibel im eigentlichen Sinne Theologie sind.
137 Vgl. REINHARDT, Die katholisch-theologische Fakultät Tübingen (Anm. 6), 41. 138 Vgl. nur Rudolf SCHNACKENBURG, Der Weg der katholischen Exegese, in: Biblische Zeitschrift 2 (1958), 161–176; Norbert LOHFINK, Katholische Bibelwissenschaft und historischkritische Methode, in: Stimmen der Zeit 177 (1966), 330–344.
Martin Joseph Mack (1805–1885) – konservativer Katholik und akribischer Neutestamentler Christoph Heil
Der folgende Beitrag möchte an einen katholischen Tübinger Neutestamentler erinnern, der eine konservative Kirchlichkeit mit wissenschaftlicher Sorgfalt und akademischer Dialogbereitschaft verband. Es kann hier zwar kein Gesamtbild von Martin Joseph Mack geboten werden, aber vielleicht regen die folgenden Lesefrüchte zu einer vertieften Beschäftigung mit seinem Werk an.
1. Die Biographie Martin Joseph Macks1 Mack wurde am 19. Februar 1805 auf Burg Neuhaus bei Mergentheim geboren. Mergentheim, etwa 40 km südwestlich von Würzburg, war von 1526 bis 1809 Hauptsitz des Deutschen Ordens. 1809 fiel das katholische Mergentheim an das protestantische Königtum Württemberg,2 dessen nördlichste Stadt es nun war. Ein im Juni 1809 ausbrechender Aufstand gegen die neue Herrschaft, der sich an der Rekrutenaushebung entzündete, wurde von württembergischen Truppen unterdrückt. Nur vier Kilometer östlich von Mergentheim, in Igersheim, wurde übrigens 1796 Johann Adam Möhler geboren. Mack studierte Philosophie und katholische Theologie an der Universität Tübingen. In dieser Zeit veröffentlichte Möhler († 1838), seit 1826 außerordentlicher Professor für Kirchengeschichte in Tübingen, u.a. sein großes Werk über Athanasius (1827) und seinen umfangreichen Aufsatz über Anselm von Canterbury in der Theologischen Quartalschrift 1827/28. In diesen Veröffentlichungen bekannte sich Möhler eindeutig zum römischen Primat. Darüber hinaus propagierte er hier ein neues Bischofsideal, das den Bischöfen der ersten Generation nach der Säkularisation entgegengehalten wird, die als Staatsknechte und Hofbischöfe kritisiert
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Vgl. Jakob LAUCHERT, Mack, Martin Josef, in: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB) 52, Leipzig: Duncker & Humblot, 1906, 148–150; Rudolf REINHARDT, Mack, Martin Joseph, in: BBKL 5, 1993, 533–536. Vgl. den Beitrag von Ina Ulrike Paul in diesem Band.
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werden.3 Mack war zwar kein direkter Schüler Möhlers, aber dessen Bedeutung für Macks theologische und kirchenpolitische Haltung ist sehr deutlich.4 Während seiner Studienzeit nahm Mack an drei Preisaufgaben der KatholischTheologischen Fakultät erfolgreich teil, und nach der Priesterweihe in Rottenburg 1828 und einer kurzen Vikariatszeit wurde er 1829 Repetent im Wilhelmsstift. 1830 wurde Mack zweiter Hilfslehrer von Johann Sebastian von Drey (1777– 1853) und las im Sommersemester 1831 für ihn Apologetik.5 Ab 11.10.1831 vertrat er den verstorbenen Andreas Benedict Feilmoser (1777–1831), der seit 1820 Professor für neutestamentliche Exegese in Tübingen war.6 Mack war einer von Feilmosers frühesten Schülern.7 Im Jahr 1832 folgte Macks Ernennung zum außerordentlichen Professor. Durch den Weggang Möhlers nach München im April 1835 wurde ein Ordinariat an der Katholisch-Theologischen Fakultät frei, das Mack erhielt. Im Herbst 1835 ernannte ihn der württembergische König zum ordentlichen Professor für neutestamentliche Exegese. Nach dieser Ernennung promovierte ihn die Katholisch-Theologische Fakultät in Tübingen am 14.12.1835 zum Doktor der Theologie.8 Mit der Berufung von Johann Baptist Hirscher zum Professor für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Freiburg i.Br. 1837 übernahm Mack zusätzlich die Moraltheologie in Tübingen und gab einen Teil der neutestamentlichen Lehraufgaben ab. So las er im Wintersemester 1839/40, seinem letzten Semester an der Universität Tübingen, je fünfstündig „Christkatholische Ethik“ und „Erklärung der drei ersten Evangelien – Evangeliensynopse“.9 3
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Vgl. Peter NEUNER, Möhler, Johann Adam, in: RGG4 5, 2002, 1396f.; Harald WAGNER, Möhler, Johann Adam, in: TRE 23, 1994, 140–143; Hubert WOLF, Möhler, Johann Adam, in: BBKL 5, 1993, 1584–1593. Schanz schrieb über diese Zeit an der Tübinger katholisch-theologischen Fakultät später: „Die kirchlichen Grundsätze gewannen immer mehr die Oberhand unter den Professoren, welche meistens in der Wissenschaft sehr bewandert waren.“ Paul SCHANZ, Die katholische Tübinger Schule, in: ThQ 80 (1898), 1–49, 9. Abraham Peter KUSTERMANN, „Daß ich der Universität und der katholisch theologischen Fakultät nützen könne …“ Zum 200. Geburtstag Johann Sebastian von Dreys. Biographische Hinweise und Quellen, in: Tübinger Theologen und ihre Theologie. Quellen und Forschungen zur Geschichte der Katholisch-Theologischen Fakultät Tübingen (Contubernium. Beiträge zur Geschichte der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Bd. 16), Tübingen: Mohr, 1977, 49– 116, 90, Anm. 252. Drey war von 1817 bis 1846 in Tübingen Professor für Theologische Enzyklopädie, Dogmengeschichte und Dogmatik. Zu Feilmoser vgl. den Beitrag von Matthias Blum in diesem Band. Vgl. Stephan LÖSCH, Die Anfänge der Tübinger Theologischen Quartalschrift (1819–1831), Rottenburg: Bader, 1938, 35. Vgl. Rudolf REINHARDT, Martin Joseph Mack (1805–1885): Theologieprofessor – Universitätsrektor – Dorfpfarrer, in: RJKG 12 (1993), 95–112, 97. Vgl. Karl BRECHENMACHER, Zwischen Aufklärung und Orthodoxie. Die Auseinandersetzungen um die Nachfolge Mack in den Jahren 1840/41. Mit einem seither unbekannten Gutachten Johann Evangelist Kuhns, in: Tübinger Theologen und ihre Theologie. Quellen und Forschungen zur Geschichte der Katholisch-Theologischen Fakultät Tübingen (Contubernium. Beiträge zur Geschichte der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Bd. 16), Tübingen: Mohr, 1977, 197–269, 202, Anm. 32.
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Von Mack gibt es eine – wohl recht ungenaue10 – Lithographie aus dem Jahr 1838, die aus Anlass seines Eintritts in den Herausgeberkreis der „Theologischen Quartalschrift“ 1837 angefertigt wurde.11 Außerdem gibt es noch ein Ölgemälde, das verschollen ist, von dem jedoch eine Fotografie aus dem Jahr 1935 existiert.12 Am 21. Februar 1839 wurde Mack zum Rektor der Universität Tübingen für das Studienjahr 1839/40 gewählt. Einer seiner Mitbewerber bei dieser Wahl war übrigens Ferdinand Christian Baur.13 Aus dieser Zeit stammt ein Gutachten der württembergischen Regierung über die Tübinger katholisch-theologische Fakultät, in dem Mack charakterisiert wird als „kein ausgezeichneter Lehrer, genießt jedoch alle Achtung“.14 In einem Brief eines Regierungsbeamten von 1839 wird Mack als „sanfter, gutmütiger und etwas bornierter Mensch“ beschrieben.15 Mit dem Amt des Rektors erhielt Mack auch den persönlichen Adelstitel. Kirchenpolitisch war Mack „Möhlerianer“ und „Ultramontaner“.16 So geriet er in Konflikt mit dem Staatskirchenregiment in Württemberg. Hier entwickelte sich auf Basis der württembergischen Verfassung von 1819 im Lauf der Jahre eine frühe konstitutionelle Monarchie mit im Vergleich zu vielen anderen deutschen Staaten relativ stark ausgeprägten liberalen und demokratischen Strömungen, die sich auch nach der Niederschlagung der in Württemberg weitgehend friedlich verlaufenen deutschen Revolution von 1848/49 behaupten und verstärken konnten. Schon Anfang 1839 hatte Mack in der Theologischen Quartalschrift indirekt die irenische Haltung des Rottenburger Bischofs Johann Baptist von Keller (1774–1845, Bischof seit 1828) in der Frage der gemischten Ehen als gegenüber der Regierung zu nachgiebig kritisiert.17 In einer Auflage von 750 Stück erschien am 8. Dezember 1839 seine Schrift „Über die Einsegnung der gemischten Ehen. Ein theologisches Votum“, datiert auf das Jahr 1840.18 Der Text wurde vorab sozusagen als „Sonderdruck“ publiziert und sollte dann im ersten Heft 1840 der Theologischen Quartalschrift erscheinen. In seinem „theologischen Votum“ griff
10 Vgl. Rudolf REINHARDT / Dominik BURKARD, Die Portraits der frühen Tübinger, in: RJKG 17 (1998), 265–269, 267. 11 Nachdruck: ThQ 150 (1970), 55. 12 REINHARDT / BURKARD, Portraits (Anm. 10), 267. 13 REINHARDT, Martin Joseph Mack (Anm. 8), 101. 14 Vgl. BRECHENMACHER, Aufklärung (Anm. 9), 199f.; REINHARDT, Martin Joseph Mack (Anm. 8), 101. 15 Vgl. Rudolf REINHARDT, Die Katholisch-theologische Fakultät Tübingen im ersten Jahrhundert ihres Bestehens. Faktoren und Phasen der Entwicklung, in: Tübinger Theologen und ihre Theologie. Quellen und Forschungen zur Geschichte der Katholisch-Theologischen Fakultät Tübingen (Contubernium. Beiträge zur Geschichte der Eberhard-Karls-Universität Tübingen 16), Tübingen: Mohr, 1977, 1–42, 27. 16 So REINHARDT / BURKARD, Portraits (Anm. 10), 265. 17 Martin Joseph MACK, Katholische Zustände, in: ThQ 21 (1839), 3–49. Dazu BRECHENMACHER, Aufklärung (Anm. 9), 200. 18 Tübingen: Laupp / Wien: Gerold, 1840. Dazu Herold des Glaubens. Eine Wochenschrift, Nr. 1, 1840, 9f.
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Mack „in ruhiger, keineswegs aufreizender Sprache“19 auf 75 Seiten das in den aufkommenden Konfessionsgegensätzen wichtige Thema des staatlichen Mischehenrechts auf. Er kritisierte die tolerante Praxis in Württemberg, wo die Regierung am Ausgleich der Konfessionen interessiert war. Schon 1806 hatte die württembergische Regierung nämlich angeordnet, dass die zur Gültigkeit der Ehe erforderliche Einsegnung vom Pfarrer des Bräutigams vorzunehmen sei, jedoch die Braut zu ihrer Gewissensberuhigung auch vom Geistlichen ihrer Konfession eingesegnet werden könne, wenn sie es wünsche. Diesem Wunsch dürfe sich der Geistliche der Braut nicht widersetzen, selbst dann nicht, wenn die Kinder in der anderen Konfession erzogen würden. Mack wandte sich nun gegen die Verpflichtung von katholischen Geistlichen, Ehen einzusegnen, in denen die Kinder nicht katholisch erzogen werden. Am Ende seines Votums kommt er zum Ergebnis:20 „Die katholische Einsegnung gemischter Ehen ist mit Ausnahme desjenigen Falles, in welchem durch die Festsetzung der Erziehung sämmtlicher Kinder in der katholischen Religion die Ehe einen katholischen Charakter empfängt, gegen den Geist, die Lehre und die Befehle der Kirche, und kann daher von keinem Kirchenoberen erlaubt, von keinem Kirchendiener ohne Pflichtverletzung vorgenommen werden.“
Die Kritik Macks rief zwar begeisterte Zustimmung im jüngeren Klerus und bei den Theologiestudenten des Wilhelmsstifts hervor. Die staatliche Zensur verbot jedoch am 16.12.1839 die schon erschienene Schrift sowie die Veröffentlichung des Textes in der Theologischen Quartalschrift.21 Mitte Dezember 1839 fiel in Stuttgart – unter Zustimmung des Katholischen Kirchenrates – auch die Entscheidung, Mack als Rektor der Landesuniversität abzusetzen und ihm eine Pfarrei zuzuweisen.22 Das wurde zum Ende des Wintersemesters am 13. Februar 1840 offiziell durchgeführt. Die württembergische Landesregierung versetzte Mack unter Beibehaltung seines Titels eines ordentlichen Professors in die Pfarrei Ziegelbach im Dekanat Waldsee, etwa 30 km nordwestlich von Ravensburg. Man berief sich dabei auf Art. 49 der württembergischen Verfassung: Versetzung von Staatsdienern durch den Departementschef „aus erheblichen Gründen“.23 Neben dem Original der Absetzungsurkunde, die vom württembergischen Innenministerium und vom Kultusministerium – das im königlichen Württemberg als „Departement des Kirchen- und Schulwesens“ bezeichnet wurde – an den Se19 Georg MAY, Mit Katholiken zu besetzende Professuren an der Universität Tübingen von 1817 bis 1945. Ein Beitrag zur Ausbildung der Studierenden katholischer Theologie, zur Verwirklichung der Parität an der württembergischen Landesuniversität und zur katholischen Bewegung (KStT, Bd. 28), Amsterdam: Grüner, 1975, 227. 20 MACK, Einsegnung (Anm. 18), 74. 21 Vgl. Herold des Glaubens. Eine Wochenschrift, Nr. 1, 1840, 9. 22 Vgl. Anonym, Memorandum über die Entfernung des Professors Dr. Mack von seinem katholisch-theologischen Lehramte an der k. württembergischen Universität Tübingen von der rechtlichen Seite betrachtet, Schaffhausen: Hurter, 1840; Anonym: Die Absetzung von Martin Joseph Mack, in: ThQ 150 (1970), 56; William MADGES, The Core of Christian Faith: D.F. Strauss and His Catholic Critics (AmUSt.TR 38), New York et al.: Peter Lang, 1987, 111, Anm. 3; REINHARDT, Martin Joseph Mack (Anm. 8), 102. 23 Vgl. MAY, Katholiken (Anm. 19), 227.
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nat der Universität Tübingen gerichtet ist, blieb auch eine Abschrift erhalten. Sie trägt sowohl die Unterschrift des württembergischen Innenministers Johannes von Schlayer (1792–1860) als auch des Rektors Mack, der seine eigene Absetzung vollstrecken musste.24 Seine eigenen Kollegen an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Tübingen setzten sich nicht für Mack ein,25 schlugen sich aber auch nicht auf die Seite der Regierung. Johann Sebastian Drey wurde zwar von der Regierung gebeten, ein Gutachten gegen Mack zu verfassen, weigerte sich aber, gegen seinen Kollegen aufzutreten.26 Das Verbot des Aufsatzes durch die staatliche Zensur und die Absetzung Macks als Tübinger Rektor erhitzte die Gemüter innerhalb und außerhalb Württemberg für einige Zeit,27 aber es kam in Württemberg nicht zu einem offenen Kirchenkampf wie in anderen deutschen Ländern.28 Der Druck des württembergischen Staates auf die katholische Kirche wuchs jedoch; die Landesregierung mischte sich heftig bei der Besetzung von Professuren, der Leitung des Wilhelmsstifts sowie des Rottenburger Bischofsstuhls ein. Nach einer komplizierten Kandidatenauswahl29 wurde Joseph Gehringer (1803–1856)30 am 22. Juli 1841 zum Professor für Moraltheologie und neutestamentliche Exegese ernannt. Die staatlichen Stellen in Württemberg wählten damit einen Theologen, der ganz anders als Mack eine kritisch-aufgeklärte Exegese vertrat. Mack hat 1841 einen Sammelband veröffentlicht, in dem er seine Absetzung umfangreich dokumentierte. Das Buch hat den Titel „Catholica. Mittheilungen aus der Geschichte der katholischen Kirche in Württemberg“.31 Alle weiteren Bemühungen Macks um einen Ruf an eine andere Universität schlugen fehl. Literarisch meldete Mack sich 1847 das letzte Mal zu Wort mit einer „Hauspostille für Katholiken“,32 einer Sammlung seiner Predigten zu allen Sonn- und Festtagen des Kirchenjahres aus seinen ersten Jahren als Pfarrer von Ziegelbach. Seit Mitte des Jahrhunderts vertrat er eine kirchenpolitisch gemäßigte ultramontane Position.33 Von 1844 bis 1850 und von 1862 bis 1868 war Mack Mitglied in der Zweiten Kammer der Württembergischen Landstände, und zwar als gewählter Abgeordneter des Oberamts Riedlingen. In dieser Abgeordnetenkammer fungierte er vor allem als Sprachrohr der Katholiken, aber auch der theo24 25 26 27 28 29 30
Diese Abschrift der Absetzungsurkunde ist abgebildet in ThQ 150 (1970), 57. Vgl. MAY, Katholiken (Anm. 19), 227f. Vgl. Anonym, Absetzung (Anm 22). Vgl. MAY, Katholiken, 227 (Anm. 19), Anm. 50. Vgl. den Beitrag von Ina Ulrike Paul in diesem Band. Vgl. BRECHENMACHER, Aufklärung (Anm. 9). Vgl. den Beitrag von Michael Theobald in diesem Band; ferner Herman H. SCHWEDT, Gehringer, Joseph, in: BBKL 21, 2003, 467–470. 31 Martin Joseph MACK, Catholica. Mittheilungen aus der Geschichte der katholischen Kirche in Württemberg. Erste [einzige] Lieferung, Augsburg 1841. 32 Haus-Postille für Katholiken. Zwei Teile („Gewidmet allen treuen Katholiken in dem Bisthums-Sprengel Rottenburg“), 1847. 33 So REINHARDT / BURKARD, Portraits (Anm. 10), 265.
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logischen Wissenschaft. So klagte er in der 35. Sitzung der Kammer am 29. April 1845:34 „Nicht den Forderungen der kirchlichen Wissenschaft trägt man bei unseren gebrechenvollen Zuständen Rechnung, im Gegentheile die gegebenen Verhältnisse werden der Wissenschaft als Richtschnur und Ideal vorgehalten.“
Von 1867 bis 1876 war er Dekan des Dekanats Waldsee. Mack starb am 24. September 1885 im Alter von 80 Jahren in Ziegelbach.
2. Der Neutestamentler Martin Joseph Mack Macks im engeren Sinn exegetische Publikationstätigkeit fand in den Jahren 1831 bis 1838 statt, also im Alter von 26 bis 33 Jahren. Er war kein „Vielschreiber“, aber seine sorgfältig erarbeiteten Veröffentlichungen behandeln Fragestellungen aus dem gesamten neutestamentlichen Themenbereich und zeugen von einem umfangreichen religionsgeschichtlichen und theologischen Wissen. Dabei dient jedoch Macks exegetische Professionalität immer seinem kirchlich-dogmatischen Vorverständnis. Beides sah er in seiner Arbeit offensichtlich widerspruchslos verbunden. Im Folgenden wird nur eine kleine „Blütenlese“ aus den neutestamentlichen Publikationen Macks35 geboten, die hoffentlich einen einigermaßen repräsentativen Einblick in seine Arbeit gibt. Schon der erste neutestamentliche Aufsatz von Mack zeigt seine große Gelehrsamkeit.36 Hier geht es um Röm 5,12, wo es heißt: ∆ιὰ τοῦτο ὥσπερ δι᾽ ἑνὸς ἀνθρώπου ἡ ἁμαρτία εἰς τὸν κόσμον εἰσῆλθεν καὶ διὰ τῆς ἁμαρτίας ὁ θάνατος, καὶ οὕτως εἰς πάντας ἀνθρώπους ὁ θάνατος διῆλθεν, ἐφ᾽ ᾧ πάντες ἥμαρτον. Mack legt folgende Interpretation vor:37 34 Vgl. Martin Joseph MACK, Die katholische Kirchenfrage in Württemberg mit Rücksicht auf die 35. Sitzung der Kammer der Abgeordneten, Schaffhausen 1845. Zitiert aus ThQ 150 (1970), 55. 35 Vgl. die Übersicht bei Elke RENTSCHLER, Bibliographie Martin Josef Mack (1805–1885), in: RJKG 12 (1993), 257–260. 36 Martin Joseph MACK, Ueber ἐφ᾿ ᾧ, bei Röm 5,12, in: ThQ 13 (1831), 397–444. Der Aufsatz ist nicht namentlich gekennzeichnet, da in der ThQ von ihrer Gründung im Jahr 1819 bis zum Jahrgang 1831 die Autoren von Aufsätzen und Rezensionen nicht genannt wurden. Zu Macks Autorschaft des Aufsatzes vgl. LÖSCH, Anfänge (Anm. 7), 116. Zu diesem Aufsatz vgl. auch Markus THURAU, Röm 5,12-21 innerhalb der neutestamentlichen Exegese der Katholischen Tübinger Schule – Konturen einer Auslegungsgeschichte, in: „So lauert die Sünde vor der Tür“ (Gen 4,17). Nachdenken über das Phänomen der Fehlbarkeit (Apeliotes 9), hg. v. Anja Middelbeck-Varwick, Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 2011, 119–163. 37 MACK, Ueber ἐφ᾿ ᾧ (Anm. 36), 399. Ohne Sekundärliteratur zu nennen – auch Macks Aufsatz bleibt unerwähnt –, wird eine ähnliche Position vertreten bei Moritz ABERLE, Exegetische Studien. 1) Ueber Röm. 5,12-14, in: ThQ 36 (1854), 453–470, 461–465. Zu Aberle (1817– 1875; 1850/75 Professor für neutestamentliche Exegese an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen) vgl. den Beitrag von Rainer Kampling in diesem Band.
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„Durch die Sünde Adams kam über alle Menschen der Tod; dieser, der Tod Aller, wird von dem Apostel in unserer Stelle ganz unmittelbar auf die Sünde Adams als seinen Grund bezogen, und von Allem, was als Zwischenursache den Tod aller Einzelnen mit der Sünde Adams vermittelt und in Verbindung bringt, abgesehen. Es erhellt hier sogleich, daß wir uns der Erklärung des ἐφ᾿ ᾧ in der Bedeutung von „weil“ strenge widersetzen.“
Im πάντες ἥμαρτον am Ende von Röm 5,12 sei „der Begriff des wirklichen und persönlichen Gesündigthabens nicht nothwendig“ enthalten.38 Das ἐφ᾿ ᾧ beziehe sich auf den vorher genannten personifizierten Tod (θάνατος). Der Schluss von Röm 5,12 müsse daher so verstanden werden:39 „Bei, vor dem Tode, d.h. nach der Macht, die er ausübte …, nach der Wirksamkeit die er entwickelte, hatten alle gesündigt. Das Gesündigthaben aber ist nach dem Obigen nichts anders, als ὁ θάνατος διῆλθεν εἰς αὐτούς sie starben.“
Im Weiteren stützt Mack seine Interpretation sehr ausführlich sprachlich durch weitere Beispiele, kontextuell mit einem Blick auf Röm 5,12-21 und im Dialog mit anderen Exegeten ab. Am Ende des Aufsatzes wiederholt er noch einmal seine These,40 „daß in unserer Stelle der Tod Aller von der Sünde des Einen unmittelbar abgeleitet; von der Sünde der Einzelnen aber, ihrer Entstehung und ihrem Verhältnisse zum Tode derselben darin nicht gesprochen werde.“
Ohne ausdrücklich auf dieses Ziel einzugehen, möchte Mack offensichtlich die traditionelle Erbsündenlehre exegetisch verteidigen. Mehrheitlich wird heute dagegen das ἐφ᾿ ᾧ in Röm 5,12 mit „weil“ übersetzt;41 Paulus hat an die individuellen Tatsünden jedes einzelnen Menschen gedacht – wie z.B. auch in Röm 3,23: „Alle haben gesündigt (πάντες γὰρ ἥμαρτον) und die Herrlichkeit Gottes verloren.“ Diese Stelle wird in dem umfangreichen Aufsatz Macks nicht erwähnt. Aus dem Beginn seiner neutestamentlichen Lehrtätigkeit in Tübingen ist in der Bibliothek des Franziskaner-Klosters Frauenberg Fulda42 eine sorgfältig geMACK, Ueber ἐφ᾿ ᾧ (Anm. 36), 400f. (Zitat 400). Ebd., 403. Ebd., 441. Vgl. Michael THEOBALD, Römerbrief. Kapitel 1–11 (SKK.NT 6/1), Stuttgart: Kath. Bibelwerk, 21998, 162–164; DERS. Der Römerbrief (EdF, Bd. 294), Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 2000, 153–155. Einen Forschungsüberblick zur Deutung des ἐφ᾿ ᾧ bietet Joseph A. FITZMYER, Romans. A New Translation with Introduction and Commentary (AncB), New York et al.: Doubleday, 1993, 413–417. Fitzmyer selbst interpretiert ἐφ᾿ ὧ allerdings nicht als Kausal-Konjunktion („weil“), sondern als Konsekutiv-Konjunktion (gleichbedeutend mit ὥστε) und übersetzt: „with the result that all have sinned“. 42 Die „Bibliothek Kloster Frauenberg“ ist die Zentralbibliothek der Thüringischen (Fuldaer) Franziskanerprovinz. Das gebundene, unpaginierte Buch (Seitengröße: ca. 15,5 x 20,5 cm) hat die Bibliotheks-Signatur 8° A 2651. Auf der ersten beschriebenen Seite befindet sich ein Stempel „Bibliotheca Gorheim“. Zur Herkunft des Kolleghefts aus dem Franziskaner-Kloster Sigmaringen-Gorheim vgl. RENTSCHLER, Bibliographie (Anm. 35), 257, Anm. 2.
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schriebene Kollegnachschrift zu zwei Vorlesungen Macks erhalten. Die Mitschriften stammen von Franz Xaver Dieringer (1811–1876).43 Es handelt sich um die „Erklärung des Evangeliums Lucas u. Johannes“, wie es auf dem Buchrücken steht. Zunächst wird eine aus dem Jahr 1832 stammende Behandlung der Einleitungsfragen (14½ Seiten) und dann eine Wort-für-Wort-Erklärung des gesamten Lukasevangeliums (231 Seiten) gegeben. Darauf folgt die „Erklärung des Evang. Johannes“ aus dem Jahr 1833: An die Behandlung der Einleitungsfragen (13 Seiten) schließt sich eine Wort-für-Wort-Erklärung des gesamten Johannesevangeliums (163 Seiten) an. In den Erklärungen zum Lk- und Joh-Evangeliums werden oft auch griechische und hebräische Texte zitiert.44 Eine weitere exegetische Detailarbeit veröffentlichte Mack 1835 in der ThQ, dieses Mal zu Gal 3,20.45 Zunächst lehnt er drei Thesen ab, die dem Text einen erkennbaren Sinn absprechen: Es handle sich bei Gal 3,20 weder um einen Übersetzungsfehler aus dem Aramäischen, noch um eine spätere nichtpaulinische Glosse und auch nicht um einen verkürzt formulierten Gedanken des Paulus, den man nicht mehr erhellen könne.46 Eine angemessene Interpretation strebt er folgendermaßen an:47 „Versuchen wir’s daher immerhin, vermittelst aufmerksamer Betrachtung des Zusammenhangs, sorgfältiger Erwägung des Textes, und umsichtiger Beiziehung anderweitiger Stellen, so wie unter Benützung der Forschungen Anderer, die dunkle Stelle in’s Licht zu setzen.“
Auf diesem Weg kommt Mack zu der auch in der heutigen Forschung breit akzeptierten Deutung,48 dass der Mittler in Gal 3,20 Mose ist; er ist jedoch „nicht Gottes Mittler sondern Mittler von Mittlern“,49 und zwar den Engeln, von denen die Thora angeordnet worden sei (vgl. Gal 3,19). Mose also „ist Mittler nicht von Einem (denn bekanntlich waren ja bei der Gesetzgebung Myriaden von Engeln µεσίτης ἑνὸς οὔκ ἐστιν [sic!]; Gott aber ist nur Einer, ὁ δὲ Θεὸς εἷς ἐστιν, also ist Moses nicht Mittler Gottes, wie es dagegen Christus ist.) … Täusche ich mich nicht, so ist diese Erklärung natürlich, einfach, sprachgemäß.“50
43 Vgl. Friedrich Wilhelm BAUTZ, Franz Xaver Dieringer, in: BBKL 1, 1975, 1292. 44 Leider war eine Auswertung dieses Manuskripts für den vorliegenden Beitrag noch nicht möglich; diese soll jedoch in einer späteren Veröffentlichung erfolgen. 45 Martin Joseph MACK, Ueber Gal. 3,20. Ὁ δὲ μεσίτης ἑνὸς οὔκ ἐστιν [sic!]· ὁ δὲ Θεὸς εἷς ἐστιν. Mediator autem unius non est; Deus autem unus est, in: ThQ 17 (1835), 453–492. 46 MACK, Gal. 3,20 (Anm. 45), 454–467. 47 Ebd., 467. 48 Vgl. u.a. Martinus C. DE BOER, Galatians (New Testament Library. Commentary Series), Louisville, KY / London: Westminster John Knox, 2011, 227f.; MARTYN, J. Louis: Galatians. A New Translation with Introduction and Commentary (AncB, Bd. 33A), New York et al.: Doubleday, 1997, 365f.; Franz MUSSNER, Der Galaterbrief (HThK, Bd. 9), Freiburg i.Br. u.a.: Herder, 51988, 248–250; Heinrich SCHLIER, Der Brief an die Galater (KEK, Bd. 7), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 61989, 161f. 49 MACK, Gal. 3,20, 473. 50 Ebd., 473f.
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Abschließend verteidigt Mack seine Interpretation ausführlich gegen andere Deutungen der Stelle.51 Macks Hauptwerk ist sein „Commentar über die Pastoralbriefe des Apostels Paulus“ aus dem Jahr 1836 (21841).52 „Zum Zeichen seiner Hochachtung, Dankbarkeit und Liebe“ widmete er seinen Kommentar den Professoren Johann Sebastian von Drey, Johann Georg Herbst, Johann Baptist von Hirscher und Johann Adam Möhler sowie dem Direktor des Wilhelmsstiftes, Joseph Schönweiler. In der Vorrede (S. v) schreibt Mack: „Das nämlich war mein Zweck, auf dem Grunde des gewissenhaft befragten Textes, und mit sorgfältiger Zuziehung der das Verständnis unterstützenden und sichernden Momente den doctrinellen und historischen Gehalt der Briefe des h. Paulus an Titus und Timotheus so dazulegen, daß die Wichtigkeit ihres Inhaltes für christliche Erkenntnisß überhaupt, und für die Belehrung des christlichen Seelsorgers insbesondere, sich kennbar machte.“
Den Umfang des Buches – 550 Seiten (viii+542 S.) – rechtfertigt Mack damit, dass er in diesem Kommentar „Beiträge zur biblischen Theologie, zur Geschichte der apostolischen Kirche und zur praktischen Exegese“ liefere (S. vi). Zu seinem eigenen Standpunkt bemerkt er (S. vii-viii): „Man wird es diesem Commentar ansehen, daß sein Verfasser der katholischen Kirche angehört, und auch in seinen wissenschaftlichen Bestrebungen den Standpunct nicht n e b e n oder ü b e r , sondern in derselben nimmt. Ich kann mich nicht überreden, daß Gleichgiltigkeit gegen die Grundlagen, Geschichte und Institutionen der Kirche das Verständnis der heiligen Schrift fördern könne, oder je gefördert habe, und sehe nicht, daß ich durch meine Hochschätzung derselben gehindert worden wäre, nach richtiger Methode zu verfahren. Zudem würde ich mir undankbar vorkommen, wollte ich der Kirche nicht die Ehre geben von so manchen Aufschlüssen, die ich nur aus ihr über das heilige Wort erhalten habe.“
In den Jahren 1835 und 1836 veröffentlichte David Friedrich Strauß (1808–1874) in zwei Bänden sein „Leben Jesu, kritisch bearbeitet“.53 Mack, der auch die evangelischen Beiträge zu Exegese und Theologie in breitem Umfang las, publizierte darauf in der Theologischen Quartalschrift 1837 einen vierteiligen „Bericht über die kritische Bearbeitung des Lebens Jesu von Dr. Strauß“.54 Diese große, insge51 Ebd., 476–492. 52 Tübingen: Osiander. 53 David Friedrich STRAUSS, Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, Tübingen: Osiander, 1835/36, zuletzt nachgedruckt mit einer Einleitung von Werner Zager, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 2012. Der zweite Band trägt zwar das Veröffentlichungsdatum 1836, wurde aber schon Ende 1835 ausgeliefert (vgl. Zager in seiner Einleitung, 5). Zu Strauß vgl. u.a. Ulrich KÖPF, Strauß, David Friedrich, in: Metzler Lexikon christlicher Denker, hg.v. Markus Vinzent, Stuttgart / Weimar: Metzler, 2000, 655–657; Thomas KUHN, Strauß, David Friedrich, in: TRE 32, 2001, 241–246; Albert SCHWEITZER, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (UTB, Bd. 1302), Tübingen: Mohr, 91984, 106–154. 54 ThQ 19 (1837), 35–91. 259–325. 425–505. 633–686. Vgl. MADGES, Core (Anm. 22), 91–101, 113–118. Macks Strauß-Kritik wird nicht berücksichtigt bei Edwina G. LAWLER, David
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samt 259 Seiten umfassende Strauß-Kritik, in der sich Macks Gelehrsamkeit und Scharfsinn zeigen, veröffentlichte er im selben Jahr auch mit kleineren stilistischen Änderungen als Buch von 254 Seiten (x+244 S.).55 Mack beginnt seinen Beitrag in der ThQ so:56 „Bei der Aufregung, welche „das Leben Jesu von Dr. Strauß“ bei einem Theile des religiösen und theologischen Publicums in Deutschland bewirkt hat, können die Leser der Q.Schr. erwarten, daß wir es nicht bei gelegentlichen Winken über Grundlage und Methode jenes Werkes, oder bei der Beleuchtung einzelner Puncte in denselben bewenden lassen, sondern einen umfassenden Bericht darüber erstatten.“
Dann nennt Mack zwei Gründe, warum er erst zwei Jahre nach Erscheinen des Werks darauf reagiert: Zum einen wollte er die Reaktion der evangelischen Theologen auf Strauß abwarten, zum anderen wollte er nicht leichtfertig, sondern mit wissenschaftlichem Ernst und persönlichem Respekt schreiben.57 Wie auch in seinen anderen wissenschaftlichen Publikationen bemühte sich Mack um einen objektiven und moderaten Ton – gerade auch im Dialog mit protestantischen Theologen.58 Das hinderte ihn jedoch nicht daran, gleich zu Beginn seines Beitrags
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Friedrich Strauss and His Critics. The Life of Jesus Debate in Early Nineteenth-Century German Journals (AmUSt.TR, Bd. 16), New York et al.: Peter Lang, 1986. Martin Joseph MACK, Bericht über des Herrn D. Strauß kritische Bearbeitung des Lebens Jesu, Tübingen: Laupp / Wien: Gerold, 1837. Dass sich die beiden theologischen Fakultäten in Tübingen nicht gegenseitig ignorierten, zeigt sich auch daran, dass Strauß noch als Tübinger Student 1828 an einer Preisaufgabe der katholisch-theologischen Fakultät über die Auferstehung der Toten teilnahm – und zwar mit Erfolg. Allerdings entschied die Fakultät am 25.9.1828, dass zwei Arbeiten des Preises gleich würdig zu erachten seien. Beim anschließenden Losentscheid unterlag Strauß einem Alumnus des Wilhelmstiftes. Vgl. Karl BARTH, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich: Theologischer Verlag, 51985, 494; Theobald Ziegler, David Friedrich Strauß. Erster Teil: 1808–1839, Straßburg: Karl J. Trübner, 1908, 53f., 56. MACK, Bericht [ThQ] (Anm. 54), 35. MACK, Bericht [ThQ] (Anm. 54), 35–39 = DERS., Bericht [Buch], iv-viii. Mack bescheinigt Strauß einerseits „eine reiche Erudition“, „glänzende Talente“ und „eine nicht gewöhnliche wissenschaftliche Bildung“. Er zeige denen, „die ihn aus näherem Umgange kennen, einen achtbaren Charakter“. Gleichzeitig stellt Mack fest, dass Werk von Strauß verrate „Kaltblütigkeit“, „Herzlosigkeit“ und „Uebermuth“ (Bericht [ThQ] [Anm. 54], 38 = Bericht [Buch] [Anm. 55], vii). Vgl. MADGES, Core (Anm. 22), 91: „Mack distinguished himself during his professional career by the objective tone and moderate position of his scholarly publications. … In his dialogue with Protestants, Mack displayed a deep concern for mutual respect and fairness.“ Ausnahmen bestätigen die Regel – so kann Mack z.B. auch formulieren: „Referent hat diese Proben radicaler Kritik und mythologischer Entdeckungen mit Widerwillen niedergeschrieben, und will ihn Dessen fast gereuen. Jeder unbefangene und nur halb unterrichtete Leser wird die Nichtigkeit derselben beim ersten Anblicke erkennen.“ MACK, Bericht [ThQ] (Anm. 54), 74 = DERS. Bericht [Buch] (Anm. 55), 38f. Im Buch lautet der erste Satz: „Ich habe diese Proben radicaler Kritik und mythologischer Entdeckungen mit Widerwillen niedergeschrieben, und will mich Dessen fast gereuen.“
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klar festzustellen, dass „der katholische Verfasser eines solchen Lebens Jesu eben damit den Austritt aus seiner Kirche erklärte“.59 In seinem „Bericht“ geht Mack ziemlich genau an den beiden Bänden von Strauß entlang und kommentiert die jeweiligen Abschnitte – häufig mit Hilfe längerer Zitate aus dem besprochenen Werk. Einleitend unterzieht Mack das Konzept von Strauß einer allgemeinen Kritik,60 wobei er vor allem die historische Zuverlässigkeit der Evangelien verteidigt:61 „So haben wir denn als die philosophische Grundlage des mythologischen Standpunctes des Herrn Strauß zwei gleich unberechtigte Voraussetzungen: 1. Es kann keine Wunder geben, also dürfen die Evangelien nicht historisch aufgefaßt werden. 2. Jede Religion = Bewußtsein des Absoluten in der Form der Vorstellung, hat Mythen; also auch die christliche; also müßten die ev. Berichte mythologisch betrachtet werden.“
Während Mack die Struktur seiner Einleitung selbst gestaltete, übernimmt er bei der Besprechung der Darstellung des Lebens Jesu die Gliederung von Strauß. Dabei verteidigt er durchgehend die traditionelle Betonung der Historizität aller Evangelienberichte, indem er die Texte kunstvoll harmonisiert62 und gleichzeitig Strauß widersprüchliche und anachronistische Argumentationen vorwirft. So entgegnet Mack z.B. der wichtigen Erkenntnis von Strauß, dass das Johannesevangelium historisch weniger vertrauenswürdig ist als die Synoptiker:63 „Die Ansicht bleibt die richtige, welche in der Kirche von Anfang an galt, daß, obwohl uns Johannes wesentlich denselben Jesum, wie die drei ersten Evangelien, gibt, sein Evangelium sich zu diesen verhalte, wie das πνευματικόν zu den σωματικοῖς, d.h. daß es die in den Reden und Thaten liegenden höheren und tieferen Beziehungen hervorstelle, während die drei ersten Evangelien sie mehr nach der Gestalt der gemeinen Wirklichkeit, d.h. auch in der Form genau so, wie sie vernommen wurden, wiedergab.“
Da Mack zwischen dem vierten Evangelium und den Synoptikern keine „wirklichen“ Widersprüche entdecken kann, habe der Evangelist Johannes auch keine
59 MACK, Bericht [ThQ] (Anm. 54), 37 = DERS., Bericht [Buch] (Anm. 55), v. 60 § 1 Ueber die Ab si c ht der Strauß’schen Kritik des Lebens Jesu (ThQ 39–46 = Buch 1–9); § 2 Ueber die Vo r au s set z u n ge n der mythologischen Behandlung der evangelischen Berichte (ThQ 46–57 = Buch 9–21); § 3 Ueber die von Strauß aufgestellten Kriterien des Mythischen (ThQ 57–64 = Buch 22–29); § 4 Ueber die von Strauß angenommenen Quellen der evangelischen Mythen (ThQ 65–81 = Buch 29–45); § 5 Ueber den Ze itr a u m der evangelischen Mythenbildung (ThQ 81–91 = Buch 46–56). 61 MACK, Bericht [ThQ] (Anm. 54), 57 = DERS., Bericht [Buch] (Anm. 55), 21. Im Buch heißt es: „des Herrn D. Strauß“. 62 So z.B. die bei Matthäus und Lukas unterschiedlich berichteten Umstände der Geburt Jesu in Betlehem; vgl. MACK, Bericht [ThQ] (Anm. 54), 280-287 = DERS., Bericht [Buch] (Anm. 55), 78–85. Macks harmonistisches Interesse zeigt sich auch, wenn er etwa in einer Rezension (ThQ 17 [1835], 741) dem Herausgeber einer Evangeliensynopse vorwirft, die Perikopen „Ankunft der Magier“ – „Darstellung Jesu im Tempel“ – „Flucht nach Ägypten“ historisch nicht ganz korrekt angeordnet zu haben. 63 MACK, Bericht [ThQ] (Anm. 54), 483f. = DERS., Bericht [Buch] (Anm. 55), 167f.
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Reden Jesu „erdichtet“ oder den wesentlichen Inhalt der Verkündigung Jesu „alteriert“ „Der Mann, welcher dies nachzuweisen vermöchte, der ist noch nicht, auch in dem Verfasser des neuesten Lebens Jesu nicht, aufgestanden.“64
Wie an dieser Stelle argumentiert Mack meist ausdrücklich exegetisch und nur, soweit es die hermeneutische Problematik erfordert, auch systematisch.65 Nach der ausführlichen Einleitung (ThQ 35-91 = Buch iii-viii, 1-56) formuliert Mack daher nur ein paar kurze Bemerkungen zu Straußʼ „Schlußabhandlung“.66 Diese bei Strauß immerhin fast fünfzigseitige Darstellung der „dogmatischen Bedeutung des Lebens Jesu“ „hat für uns nur da Interesse, wo sie uns zeigt, welches das p h ilo so p h i sch e B ed ü rfn is sey, zu dessen Befriedigung H. D. Strauß den Versuch einer Auflösung der evangelischen Geschichte unternahm, und welches d er p h i lo sop h is ch e B eg ri ff des Christenthums, zu dessen Vollziehung auch die in der Einleitung von uns geprüften V o ra u sse tzu n g en nur dienen müssen.“67
Seine Christologie habe Strauß „von der Philosophie zu Lehen genommen“ (ThQ 685 = Buch 243); es sei allerdings zu bemerken, „daß ,die Wissenschaft unserer Zeit‘, selbst da, wo sie nach H. D. Strauß am Ersten und Vorzüglichsten zu suchen ist, weit entfernt, sich zu der hier gegebenen Christologie als ihrem Symbolum zu bekennen, derselben bestimmt widerspricht.“68
Insgesamt kann Macks Strauß-Kritik jedoch nur in manchen exegetischen DetailBeobachtungen überzeugen; Macks traditionell-harmonisierende Interpretation bot jedoch keinen hermeneutisch anspruchsvollen Gegenentwurf zu Strauß. So ist mit William Madges zu konstatieren:69 „Exegetically, Mack was successful in identifying places where Strauss’s view was overstated or inapplicable, and he was somewhat effective in disclosing the distortional effect of Strauss’s philosophical and theological views upon his exegesis. But Mack’s various strategies for deflecting the force of Strauss’s thesis succeeded only in demonstrating that the thesis needed to be modified at a number of points. They did not rout the central point of Strauss’s book, namely, that there is more myth than history in the gospels’ presentation of the life of Jesus.“
64 MACK, Bericht [ThQ] (Anm. 54), 484 = DERS., Bericht [Buch] (Anm.55), 168. 65 Vgl. MADGES, Core (Anm. 22), 91. 66 STRAUß, Leben Jesu (Anm. 53), II 686–744. Dazu MACK: Bericht [ThQ] (Anm. 54), 683–686 = DERS., Bericht [Buch] (Anm. 55), 241–244. 67 MACK, Bericht [ThQ] (Anm. 54), 683 = DERS., Bericht [Buch] (Anm. 55), 241. 68 MACK, Bericht [ThQ] (Anm. 54), 685 = DERS., Bericht [Buch] (Anm. 55), 243. 69 MADGES, Core (Anm. 22), 100.
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Immerhin erwähnt Albert Schweitzer in seiner „Geschichte der Leben-JesuForschung“ auch Mack unter den bedeutenderen katholischen Reaktionen auf Strauß. Schweitzer schreibt:70 „Auch in der katholischen Theologie rief Straußens Werk eine große Bewegung hervor. An sich verhielt sie sich damals absolut nicht abwehrend zur protestantischen Wissenschaft. … So erschien ihr Strauß fast wie ein Feind, den sie mit der protestantischen Theologie gemeinsam hatte.“
Diese allgemeine Einschätzung Schweitzers trifft auch auf Mack zu, dessen klarer konfessioneller Standpunkt die positive Rezeption evangelisch-theologischer Wissenschaft jedoch nicht ausschloss. Als Beispiel dafür sei eine lange, insgesamt positive Rezension in der Theologischen Quartalschrift 1834 über das Bergpredigt-Buch des evangelischen Theologen August Tholuck (1799–1877) genannt. Der Orientalist und Alttestamentler Tholuck lehrte seit 1826 als ordentlicher Professor an der theologischen Fakultät in Halle. Gefördert von den preußischen Behörden kämpfte er dort gegen den Rationalismus, vor allem von 1839 bis 1873 als Universitätsprediger. Tholuck verband hohe philologische Kompetenz mit einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber der historisch-kritischen Exegese, obwohl er ein intensives Gespräch mit ihr führte. In Tholuck fand Mack offenbar einen Geistesverwandten, und entsprechend wohlwollend fällt seine Rezension aus über dessen Buch „Philologisch-theologische Auslegung der Bergpredigt Christi nach Matthäus, zugleich ein Beitrag zur Begründung einer rein-biblischen Glaubensund Sittenlehre“ (Hamburg 1833, x+544 S.).71 Mack stimmt Tholuck zu, dass die matthäische Bergpredigt mit der lukanischen Feldrede „identisch“ und dass in der kürzeren lukanischen Feldrede nicht pauschal die ursprüngliche Gestalt zu finden sei.72 Nach der Auflistung einiger Textbeobachtungen schreibt Mack in seiner typisch abwägenden Art, „daß die Mehrzahl und das Uebergewicht der Gründe auf Seite der von Th. aufs Neue geltend gemachten Behauptung des Vorzugs Matth. vor Lc. sey, wenn gleich eine weitere Erörterung der vorliegenden Frage zeigen dürfte, daß auch der entgegenstehenden Ansicht einige Concessionen gemacht werden müssen.“73
Als Adressaten der Bergpredigt benennt Tholuck mit Zustimmung Macks alle Jünger Christi, aber vorzugsweise die Zwölf. Die eigentliche „Initiationsrede für die Apostel“ sei aber nicht die Bergpredigt, sondern erst die Aussendungsrede in Mt 10.74
70 SCHWEITZER, Geschichte (Anm. 53), 142. 71 Martin Joseph MACK, Rez. von Tholuck, Philologisch-theologische Auslegung der Bergpredigt (Hamburg 1833), in: ThQ 16 (1834), 433–469. 72 Ebd., 434–436. 73 Ebd., 436. 74 Ebd., 437.
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Ferner stimmt Mack der christologisch-ethischen Gesamtdeutung der Bergpredigt durch Tholuck zu, betont aber über Tholuck hinaus die theologische Unabgeschlossenheit der Bergpredigt. In den Worten Macks ist die Bergpredigt „die Darstellung sowohl der Würde Jesu und seines Verhältnisses zu den früheren Gesandten Gottes, als der Pflichten und Hoffnungen seiner Anhänger, wie sie zu einer Zeit gegeben werden konnte, wo die eigenthümlichen Lehren des Evangeliums weder schon verkündet waren, noch auch schon gefaßt werden konnten.“75
Wer in der Bergpredigt „das v o l l s t ä n d i g e n t w i c k e l t e Christenthum erkennt“, sei – so Mack – Rationalist und bleibe auf dem „Standpuncte der damaligen Zuhörer Jesu“ zurück.76 Ferner kritisiert Mack Tholuck wegen dessen mangelnder Interpretation des Gottesreich-Begriffes.77 „Nicht einmal die Entstehung des Begriffes auf dem Boden der jüdischen Theologie, und die Veränderung, welche derselbe durch die neutestamentliche Lehre und Geschichte erhalten hat, … wird angegeben.“
In Mt 5,28 liest Mack αὐτήν (mit Codices B und D – so auch Nestle – Aland 27. Aufl) statt αὐτῆς (wie א1) und versteht den Vers gegen Tholuck so:78 „Wer auf ein Weib mit der Absicht und dem Erfolge sieht, daß sie unrein gelüstet, der hat schon Ehebruch mit ihr begangen – in seinem Herzen.“
Das Subjekt des πρὸς τὸ ἐπιθυμῆσαι αὐτῆν sieht Mack also in der Frau, nicht im Mann. Diese grammatisch durchaus mögliche Interpretation wurde – unabhängig von Mack – auch von Klaus Haacker vertreten,79 wird aber mehrheitlich abgelehnt, da die Gesamtaussage in Mt 5,27f. besser aus einer einheitlich männlichen Perspektive zu verstehen ist.80 Gegen Tholuck legt Mack in einem längeren Abschnitt zu Mt 5,31f. dar, dass hier die katholische Auffassung begründet werde, dass Eheleute sich zwar trennen dürfen, das „Eheband“ aber trotz allem bestehen bleibe und daher eine Wieder-
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Ebd., 438. Ebd. Ebd., 439-441, das folgende Zitat 440. Ebd., 446f. (Zitat 447). Klaus HAACKER, Der Rechtssatz Jesu zum Thema Ehebruch (Mt 5,28), in: BZ NF 21 (1977), 113–116. Er übersetzt Mt 5,28 ganz ähnlich wie Mack: „Wer eine Ehefrau so ansieht, daß sie begehrlich wird (oder: werden soll), der hat sie in seinem Herzen bereits zum Ehebruch verführt“ (114f.). 80 Vgl. Hans Dieter BETZ, The Sermon on the Mount. A Commentary on the Sermon on the Mount, Including the Sermon on the Plain (Matthew 5:3–7:27 and Luke 6:20-49) (Hermeneia), Minneapolis, MN: Fortress Press, 1995, 233f.; Ulrich LUZ, Das Evangelium nach Matthäus. 1. Teilband: Mt 1–7 (EKK, Bd. 1/1), Düsseldorf – Zürich: Benziger / NeukirchenVluyn: Neukirchener, 52002, 350f.; Paul SCHANZ, Commentar über das Evangelium des heiligen Matthäus, Freiburg i.Br.: Herder, 1879, 189f.
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verheiratung nicht erlaubt sei.81 Während Tholuck die matthäische „Unzuchtsformel“ in Mt 5,32 und 19,9 als Hinweis versteht, dass Jesus dem Mann im Fall des Ehebruchs der Frau erlaubt, diese zu entlassen und eine andere zu heiraten, sieht Mack darin nur eine etwas unklare Ergänzung im Matthäustext. Dieser müsse von den klaren Aussagen in Mk 10,11; Lk 16,18 und 1 Kor 7,10 her verstanden werden.82 Das Ehescheidungswort sei bei Markus „genauer und sorgfältiger berichtet“ und dürfe daher von Matthäus her nicht verändert werden.83 Abschließend formuliert Mack zu diesem Thema:84 „Allerdings ist die Kirche noch nicht das dargestellte Ideal der βασιλεία τοῦ θεοῦ, aber sie soll es werden, und damit sie – die noch nicht vollkommene es werde – hat ih r der Herr Gebote und Verbote gegeben, welche sie weder aufheben, noch mildern darf.“
Während allerdings das Wiederverheiratungsverbot uneingeschränkt gelte, schwächt Mack das Eidverbot in Mt 5,33-37 im Einklang mit der kirchlichen Tradition ab.85 Eide seien durchaus erlaubt, wenn „deren Gegenstand eine Wahrnehmung ist, hinsichtlich welcher wir vor Täuschung sicher sind“.86 Mack kommt letztlich zum Schluss, Tholucks Werks sei trotz „einzelner Mängel“ „eine wohlgelungene, sehr nützliche und gehaltvolle Arbeit“, die „in mehreren wichtigen Puncten die Beurtheilung und Auslegung der Bergpredigt wirklich weiter gefördert habe“.87 Rudolf Reinhardt88 beendete 1993 seinen Eintrag über Martin Joseph Mack im Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon mit folgenden Bemerkungen:89 „Eine Analyse seiner Exegese steht noch aus. Insbesondere wäre zu prüfen, ob er den kritischen Ansatz seines Lehrers Feilmoser aufgenommen und fortgeführt hat oder aber ob er auf die philologisch-pragmatische Exegese Johann Adam Möhlers eingeschwenkt ist.“
Nach meinem Eindruck ist deutlich Letzteres der Fall, und so hat auch schon Paul Schanz 1898 geurteilt:90
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MACK, Rez. Tholuck (Anm. 71), 447-459. Ebd., 454–457. Ebd., 456. Ebd., 459. Ebd., 459–466. Ebd., 463f. Ebd., 469. Zu Reinhardt (1928–2007, von 1970 bis 1994 Professor für Kirchengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Tübingen) vgl. Andreas HOLZEM, Nachruf auf Professor Dr. Rudolf Reinhardt, in: ThQ 188 (2008) (Anm. 8), 161f. 89 REINHARDT, Mack, Martin Joseph (Anm. 8), 536. 90 SCHANZ, Schule (Anm. 4), 14. Benedikt Welte (1805–1885) wurde 1838 außerordentlicher Professor und 1840 Ordinarius für Altes Testament. Seit 1857 war er Domkapitular in Rottenburg.
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„Welte hat mit großer Gelehrsamkeit in zahlreichen Aufsätzen die Gegenstände der alttestamentlichen Exegese, Einleitung und Archäologie behandelt. Mack hat für das Neue Testament dasselbe geleistet und namentlich auch in die durch das Leben Jesu von Strauß hervorgerufenen Kontroversen eingegriffen. Es bildete sich somit eine, in der Methode streng wissenschaftliche, in der Sache streng offenbarungsgläubige, exegetische Richtung aus, welche ihre Nachwirkungen noch heute erkennen läßt.“
Ähnlich sieht auch Stephan Lösch eine größere Nähe Macks zu Möhler als zu Feilmoser: Während Feilmoser sich in der Exegese allzu sehr an die Worterklärung geklammert habe und im „grammatisch-philologischen Betrieb“ „als exegetischem Hauptziel“ haften geblieben sei, habe Mack sich mit Selbstverständlichkeit bemüht, den Grundsatz durchzuführen, „im einzelnen ntl. Text zur darin verborgenen dogmatischen oder moraltheologischen Lehre als dem Kern und Stern vorzudringen. Ohne den Einfluß Dreys und Möhlers wäre freilich Mack über jene methodische Enge nicht hinausgelangt.“91
Mack hat zwar ein hohes wissenschaftliches Ethos vertreten, es jedoch immer mit einem betont konfessionellen Profil zu verbinden gesucht. Seine exegetische Könnerschaft möchte jeweils so klug wie möglich die katholische Lehre verteidigen. Wie es die Einladung zu der Berliner Tagung 2010 formulierte, war Mack einer der katholischen Tübinger Neutestamentler, die sich „zurückhaltend der historisch-kritischen Methode annäherten“ und den Anschluss an die Debatten in der protestantischen Forschung suchten – dies allerdings nie ohne apologetisches Interesse. Wenn man die theologische Eigenständigkeit als Kennzeichen der Katholischen Tübinger Schule versteht, gehört auch der wissenschaftliche „Selbstdenker“ Martin Joseph Mack dazu. Gleichzeitig betonte er – wie gesagt – die Kirchlichkeit der Theologie sowie deren Praxis- und Gegenwartsbezogenheit. Mack erfüllte also alle drei Kriterien Max Secklers für eine Zugehörigkeit zur Katholischen Tübinger Schule.92
91 LÖSCH, Anfänge (Anm. 7), 35f. (Zitat 36). 92 Vgl. Max SECKLER, Tübinger Schule. I. Katholische TSch., in: LThK3 10, 2001, 287–290, 289. Vgl. auch den Beitrag von Albert Franz in diesem Band und Kardinal Walter KASPER, Die Einheit der Kirche im Licht der Tübinger Schule, in: Theologie als Instanz der Moderne. Beiträge und Studien zu Johann Sebastian Drey und zur Katholischen Tübinger Schule (TSTP, Bd. 22), hg.v. Michael Kessler / Ottmar Fuchs, Tübingen: Francke, 2005, 189–206; Ulrich KÖPF, Tübinger Schulen, in: TRE 34, 2002, 165–171, bes. 170f.; Stefan WARTHMANN, Die Katholische Tübinger Schule. Zur Geschichte ihrer Wahrnehmung (Contubernium. Beiträge zur Geschichte der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Bd. 75), Stuttgart: Steiner, 2011.
Joseph Gehringer (1803–1856) Autor einer längst vergessenen Evangeliensynopse und Wegbereiter der Zweiquellentheorie1 Michael Theobald
Joseph Gehringer, von 1841 bis 1848 Professor der Moraltheologie und Neutestamentlichen Exegese an der Katholisch-Theologischen Fakultät Tübingen, gehört gewiss nicht zu den Koryphäen der sog. Tübinger Schule2. Wer die jüngere Literatur auf seine Person hin durchmustert, stößt im Gegenteil durchweg auf nicht
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Frau Monika Kling, Tübingen, danke ich für die Beschaffung der Literatur, Herrn Dr. Markus Thurau, Berlin, für manch wertvollen, sachdienlichen Hinweis. Zur „Katholischen Tübinger Schule“ siehe den grundlegenden Artikel von M. SECKLER, in: LThK3, Bd. 10, Sp. 287–290. Ob es diese „Schule“ allerdings im Sinne einer in ihrer Richtung einheitlichen und kontinuierlich existierenden Institution gegeben hat, ist umstritten; die Beantwortung dieser Frage hängt nicht unwesentlich vom jeweils zugrunde gelegten Schulbegriff ab (vgl. dazu den Beitrag von U. KÖPF in diesem Bd.). Für die Umbruchszeit von der ersten zur zweiten Generation, die den zeitlichen Rahmen für das Wirken von Joseph Gehringer an der Fakultät bildete, ist die frühe Außenwahrnehmung der Tübinger in den vierziger Jahren des 19. Jh.s bemerkenswert, wie sie die Einschätzung eines Korrespondenten der Berliner Allgemeinen Kirchen-Zeitung im März 1844 widerspiegelt: „Vor zwei und drei Jahrzehnten konnte man noch von einer Tübinger Schule sprechen, von einer Schule, welche, von Männern, wie Herbst, Hirscher, Feilmoser, Drey, vertreten, durch den Ernst ihrer Forschungen und durch das gehaltene Urteil in den wichtigsten Fragen der Theologie und des kirchlichen Lebens der protestantischen Wissenschaft sich würdig an die Seite stellte. Das war eine für den Katholizismus und den Geist seiner Wissenschaft bedeutungsvolle, in gewissem Sinne eine klassische Epoche […]. In den letzten 6 Jahren hat sich die Sachlage wesentlich geändert; die Selbstständigkeit verschwindet, von einer theologischen Schule, die einen Charakter behauptete und auf die man in der Geschichte der Wissenschaft und Kirche hinweisen konnte, ist kaum mehr zu reden, der anschwellende Strom des Ultramontanismus reißt diejenigen, die man noch fern von seinen Ufern und auf festerem Boden gegründet glaubte, wie bereits gebrochene Trümmer um, und verwandelt mit der Kraft einer blinden Naturgewalt Alles in eine unterschiedslose Masse“ (zitiert und besprochen von K. BRECHENMACHER, Zwischen Aufklärung und Orthodoxie. Die Auseinandersetzungen um die Nachfolge Mack in den Jahren 1840/41. Mit einem seither unbekannten Gutachten Johann Evangelist Kuhns, in: R. Reinhardt [Hg.], Tübinger Theologen und ihre Theologie. Quellen und Forschungen zur Geschichte der Katholisch-Theologischen Fakultät Tübingen [Contubernium, Bd. 16], Tübingen 1977, 197–269, 197). An der Person Joseph Gehringer und seiner prekären Stellung in der Fakultät wird der tiefgreifende Wandel, der sich in ihr in den 40er Jahren vollzog, anschaulich.
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sehr schmeichelhafte Urteile: „nicht recht tauglich“3, „wissenschaftlich kaum ausgewiesen“4, ein „wenig originelle[r], persönlich aber untadelige[r] HirscherSchüler“5. Otto Weiß urteilte 1984, dass Gehringer „seiner Aufgabe in keiner Weise gewachsen“ gewesen sei und „seine exegetischen Ausführungen […] Stoff für eine allgemeine Belustigung über ihn“ geboten hätten“6. Zu seiner Verteidigung sei hier aber gleich angemerkt, dass besagte Belustigung nicht „allgemein“ war, sondern aus einer ganz bestimmten Ecke kam; es waren die extrem ultramontanen „Historisch-politische[n] Blätter für das katholische Deutschland“ (HPBl) und der „Neue Sion“, die Spott- und Hasstiraden gegen ihn abdruckten, und zwar anonym7. Bis heute wirkt in den zitierten Äußerungen – so scheint es – die damnatio memoriae nach, die man über Gehringer als Erben der Aufklärung schon sehr zeitig nach seinem Weggang aus Tübingen verhängte8. Spätestens seit dieser Zeit steht das Urteil über ihn fest und wurde nur weiterkolportiert. Niemand machte sich die Mühe, seine Schriften zu lesen – für die Erforschung der katholischen Tübinger Theologie im 19. Jh. ein beschämendes Kapitel. Erst der jüngste Lexikonartikel von 2003 bricht mit dieser Tradition. Sein Autor, H.H. Schwedt, interessiert sich aber vor allem für den römischen Prozess gegen Gehringer, in den er dank Dokumenteneinsicht Licht bringen konnte; zu seinen Schriften äußert er sich nur pauschal9. 3
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So M. MILLER, Die Tübinger Katholisch-theologische Fakultät und die württembergische Regierung vom Weggang J.A. Möhlers (1835) bis zur Pensionierung J.S. Dreys (1846), in: ThQ 132 (1952), 22–45.213–234, 36, Anm. 30; das ganze Zitat lautet: „Gehringer galt zunächst allgemein – und wie sich zeigen sollte, mit Grund – als nicht recht tauglich“; ebd., 229 spricht er vom „unbedeutende(n) Gehringer“. Die Wertungen dieses Textes, der die Jahre insgesamt weniger unter theologischen als vielmehr kirchenpolitischen Gesichtspunkten darstellt – mit Sympathie für die „Möhlerianer“ –, hängen offensichtlich mit der staatskirchlichen Gesinnung von Gehringer zusammen. So R. REINHARDT, Im Zeichen der Tübinger Schule, in: Attempto 25/26, Tübingen 1968, 40– 57, 53: „wissenschaftlich kaum ausgewiesen, der Regierung aber als zuverlässig bekannt“. So BRECHENMACHER, Aufklärung (Anm. 2), 246; zum Stichwort „untadelig“ verweist er in Anm. 216 auf Gehringers Abschiedsgesuch vom 8. Mai 1848, siehe unten Anm. 47 und 50. O. WEISS, Die Redemptoristen in Bayern (1790-1909). Ein Beitrag zur Geschichte des Ultramontanismus, St. Ottilien 1984, 465, Anm. 262 (die angegebenen Daten zur Biographie Joseph Gehringers sind teils zu korrigieren). [Anonym], Fragmente aus Württemberg, in: HPBl 5 (1840), 444–448; [Anonym], Kirchliches aus Württemberg, ebd. 13 (1845), 236–240; [Anonym], Der Württembergische Maldonat, ebd. 15 (1845) 406–408; [Anonym], Professor Gehringer und die Exegese, ebd. 16 (1845), 755–760; [Anonym], Das bischöfliche Ordinariat von Rottenburg und der Liturgiker von Tübingen, Prof. Gehringer, in: Neue Sion. Eine Zeitschrift für katholisches Leben und Wissen 4/ (1848), Nr. 121, 665–667. – Aus der Feder Gehringers dürfte stammen: [Anonym], Erwiderung, in: HPBl 16 (1845), 197–208. Vgl. unten Anm. 26 und 57. H.H. SCHWEDT, Art. Gehringer, in: BBKL 21 (2003), 467–470 (469f. eine Liste der wichtigsten Publikationen aus der Feder Gehringers samt weiteren bibliographischen Angaben). Schwedt gebührt das Verdienst, als erster auf die Bedeutung der Evangeliensynopse Gehringers hingewiesen zu haben (zu seinem Urteil vgl. unten bei Anm. 122); 468f. nennt er die Hintermänner und Drahtzieher im römischen Verfahren gegen Gehringer, das sich – bezeichnenderweise – an liturgischen Fragen entzündet habe. Der Autor verfügt nach eigener Aus-
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Unter den zeitgenössischen Quellen zur Person Gehringers ragt gewiss das Gutachten der Fakultät zur Nachfolge von M.J. Mack vom 31. Mai 1840 hervor. Es nennt zunächst drei württembergische Theologen – unter ihnen Pfarrer Gehringer aus Mögglingen –, schlägt aber merkwürdigerweise keinen der drei ernsthaft für die Professur vor. Wie Karl Brechenmacher in seiner spannend zu lesenden Rekonstruktion der sich über anderthalb Jahre hinziehenden Nachfolgeverhandlungen erläutert, waren sie von der Fakultät „nur vorgeschoben worden, um auf dem Hintergrund ihrer Mängel dem Senat und der Regierung die Fähigkeiten“ ihres eigentlichen Kandidaten, Anton Oehler, „um so leuchtender aufweisen zu können“10. Über Gehringer scheint das Gutachten zunächst positiv zu urteilen, wechselt dann aber rasch den Ton: Der Mögglinger Pfarrer – erklärt es – sei ein Mann „von vielem und gründlichem Wissen, von großem Scharfsinn und einer Originalität der Ansichten, welche, wenn sie weniger ideologisch und mehr praktisch wären, zu schönen Hoffnungen berechtigte“. Was folgt, ist ein vernichtendes Urteil: Er verstehe es nicht, „Fremdes sich anzueignen und auf dem Vorhandenen weiter zu bauen, er fängt überall von vorne an und macht gerne alles neu“; solche Eigenschaft empfehle vielleicht einen Schriftsteller, nicht aber einen Lehrer. Dazu komme noch „ein gewisser Mangel an Takt und Gefügigkeit im Leben“11. Beim Stichwort Gefügigkeit fragt man sich unwillkürlich: Wem gefügig und wem nicht? Gehringer galt als liberal und Vertreter des Staatskirchentums12, weshalb er am Ende auch der Kandidat der Stuttgarter Regierung war. Die Fakultät, die unter dem Einfluss von J.A. Möhler inzwischen stark kirchlich gesonnen war, hatte aus beiden Gründen Vorbehalte gegen ihn, sah sich aber doch genötigt, seinen Namen zu nennen. Dabei fragt sich, worauf sie ihr Urteil fachlich stützte. Pfarrer Joseph Gehringer, ehemaliger Repetent am Wilhelmsstift, war nicht promoviert, was indes für die damaligen Verhältnisse kein Hindernis war13. Dafür hatte er eine stattliche Reihe von Fachbeiträgen vor allem zu biblischen, alt- und neutestamentlichen Themen publiziert: in den „Kirchenblättern für das Bistum
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kunft über Einsicht in die geheimen Indexgutachten von A. Theiner 1848 (amtsinterner Druck mit 19 Seiten für die „Liturgik“ und 4 Seiten für die „Theorie“), die er samt weiteren Dokumenten für eine Publikation vorsieht. BRECHENMACHER, Aufklärung (Anm. 2), 206. Die Paraphrasen nach BRECHENMACHER, Aufklärung (Anm. 2), 205. Das Gutachten ist im Universitätsarchiv Tübingen (= UAT) aufbewahrt: Abt. 184/1840–1841; Entwurf. R. REINHARDT, Die Katholisch-theologische Fakultät Tübingen im ersten Jahrhundert ihres Bestehens. Faktoren und Phasen der Entwicklung, in: Ders. (Hg.), Tübinger Theologen (Anm. 2), 1–42, 28: „Theologisch lag er [der Pfarrer J. G.] auf der ‚aufgeklärten‘ Linie seines Lehrers Hirscher, politisch galt er als ‚liberal‘, zuverlässig und dem Zelotismus der ‚jungkirchlichen Bewegung‘ abhold“; A. FISCHER, Josef [sic!] Gehringer als Pfarrer von Mögglingen, in: Rottenburger Monatsschrift für praktische Theologie 13 (1929/30), 353–358, 353, erklärt: „In der Diözesangeschichte treffen wir Josef Gehringer in der Rolle eines Aufklärers und Staatskirchlers“. Vgl. unten Anm. 52; deshalb erwähnt das Gutachten diesen Umstand auch nicht; zur Rolle der Repetenten vgl. unten Anm. 30.
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Rottenburg“ eine Studie14, in der ThQ eine 7-seitige Besprechung15 – es sollte sein einziger Beitrag für diese Zeitschrift bleiben!16 – sowie zahlreiche Texte in den von Benedikt Pflanz herausgegebenen „Freimüthigen Blättern über Theologie und Kirchenthum“17: eigene kleinere Studien18 sowie gelehrte Buchbesprechun14 J. GEHRINGER, Begünstigen die Worte Pauli an die Röm. 9,15. bis 18. nicht die Lehre von der Prädestination?, in: Kirchenblätter für das Bistum Rottenburg 5 (1834), 15–24. 15 Zu: A.C. BAUER, Der betende katholische Christ, oder Gebetbuch für katholische Christen, die sich ihrer Bestimmung gemäß, beeifern, Gott im Geiste und in der Wahrheit anzubeten, Augsburg 1830, in: ThQ 12 (1830), 778–784; schon früh äußert sich hier Gehringers Interesse an der Liturgiewissenschaft, das später zu seinem Handbuch führen sollte (vgl. unten Anm. 36f. sowie Abs. 2 [2] und 3.2 dieser Abhandlung). 16 Zu den Hintergründen vgl. unten S. 159f. 17 M. THURAU in einem Brief vom 3. Jan. 2011 an mich: „Gehringer gehörte zu den wenigen [Beiträgern dieser Zeitschrift], die mutig genug waren, ihre Artikel und Rezensionen zu unterzeichnen. Mehrfach hatte der Herausgeber aufgrund der aufklärerischen Ausrichtung der Zeitschrift zugesichert, dass jeder, der etwas beitrage, anonym bleiben könne, wovon ein Großteil auch Gebrauch machte. Dennoch ist nicht klar, ob Gehringer unter alles seinen Namen setzte, so dass es gut möglich ist, dass einige der anonym erschienenen Artikel und Besprechungen zum Neuen Testament dennoch von ihm sind“. Bei seiner Besprechung des Werks von K. Gloekler läge dies nahe: „Es handelt sich um die synoptische Frage, und der Rezensent geht mehrmals auf seinen Lehrer Feilmoser ein. Dies würde zumindest im Hinblick auf die Synoptische Zusammenstellung des griechischen Textes auf Gehringer schließen lassen. Ansonsten lässt sich zu den Freimüthigen Blättern sagen, dass hier intensiv die Auseinandersetzung mit dem Leben Jesu von Strauß geführt wurde und neben Gehringers noch einige andere Aufsätze dazu erschienen“. – Zu diesen Blättern vgl. N. KÖSTER, Der Fall Hirscher. Ein „Spätaufklärer“ im Konflikt mit Rom? (Römische Inquisition und Indexkongregation, Bd. 8), Paderborn 2007, 111: „[s]ie stellten ein ‚Sammelbecken für den Reformkatholizismus in Württemberg‘ dar und wandten sich vor allem gegen die Tübinger Theologische Quartalschrift, die unter dem Einfluß von Möhler und Drey zunehmend ihre Richtung änderte“. 18 Ein Beitrag zum Alten Testament, zwei zum Neuen Testament sowie einer zur Volkssprache in der Liturgie: (1) Erklärung des zweiten Verses der Mosaischen Genesis, in: FBTK. NF 6 (1835), 30–41. (2) Ueber die Integrität des ersten Hauptstückes des Evangeliums nach Matthäus, in: FBTK.NF 6 (1835), 41–48. (3) Wo wurde Jesus geboren?, in: FBTK.NF 6 (1835), 294–305; zu diesem Text (eine geistreiches Plädoyer für Bethlehem gegen Nazareth [D.F. Strauß]) ist uns eine Replik aus der Feder des Dekans von Riedlingen mit Datum des 13. Okt. 1837 aufbewahrt (in der Personalakte Joseph Gehringer im Diözesanarchiv Rottenburg unter 1.7.1): „Der Dekan erlaubt sich unterthänig auf den Pfarrer Gehringer in Mögglingen, als einen zu einem Universitätslehrer tauglichen Mann aufmerksam zu machen. Bey dem hohen Interesse, das der unterthänigst Unterzeichnete an den vaterländischen Anstalten nimmt, bei der Wichtigkeit, welche die Wiederbesetzung eines Professorates an der Landesuniversität katholischer Fakultät für die Kirche hat; erlaubt sich der Unterzeichnete aus der allgemeinen Kirchenzeitung für Deutschland und die Schweiz Nr. 1.1837 folgendes anzuführen: ‚§ 12. Gehringer, Pfarrer in Mögglingen. Dieser tiefdenkende Gelehrte schrieb eine kleine Abhandlung über die von Strauß aufgeregte Frage: Diese Abhandlung steht im neulichen Heft der Pflanzschen Zeitschrift. – Aus der Feder dieses Mannes, der einen Universitätslehrstuhl so wohl zieren würde, kann nur Gediegenes und Gründliches fließen.‘ und diesen Mann der hohen Aufmerksamkeit und gnädigen Berücksichtigung zu empfehlen.
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gen im Umfang von regelrechten Abhandlungen19. Die Autoren des Gutachtens dürften ihn also gut gekannt haben und mussten nicht nur auf persönliche Erinne-
Hochachtungsvollst verehrend, unterthänigst gehorsamster Dec. Schöninger“. (4) Das Fest der Erscheinung Christi in Rom, in: FBTK.NF 6 (1835), 385–389. 19 Wichtige Bausteine für sein eigenes Verständnis der Evangelien wie für seine spätere Synopse enthalten die Besprechungen Nr. 1, 5 und 12. Im Einzelnen: (1) Zu: KONRAD GLOEKLER, Die Evangelien des Matthäus, Markus und Lukas in Übereinstimmung gebracht, Frankfurt/M. 1834, in: FBTK.NF 6 (1835), 78–115 (anonym: vgl. oben Anm. 17); 78: „Die nachstehende Recension hat einen doppelten Zweck: sie soll einmal Beurtheilung des bezeichneten Werkes seyn, zugleich aber auch die Ansichten des Recensenten ueber die Exegese der Evangelien und seine diesfallsigen Wuensche enthalten“. (2) Zu: DAVID FRIEDRICH STRAUSS, Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet von D.F. Strauß. Erster Teil, Tübingen 1835, in: FGTK.NF 6 (1835), 306–336 (anonym); diese informative wie faire Besprechung („das Benehmen mancher Theologen“ gegen das bedeutende Werk berühre „den unbefangenen Forscher […] unangenehm“, bekennt der Rezensent gleich im ersten Satz; vgl. auch S. 321f.) folgt unmittelbar auf den Aufsatz Nr. 3 von Gehringer (siehe oben Anm. 18), auf den dann auch auf S. 312 (in einer Anm. der Redaktion) positiv Bezug genommen wird; von daher könnte die Besprechung aus seiner Feder stammen; die philosophische Art der Auseinandersetzung mit dem Strauß’schen Mythenbegriff scheint mir allerdings nicht die Gehringers zu sein. (3) Zu: Joseph BECK, Ueber die Entwicklung und Darstellung der Messianischen Idee in den heiligen Schriften des alten Bundes. Ein Beitrag zur biblischen Theologie, Hannover 1835, in: FBTK.NF 7 (1836), 127–139. – Es handelt sich um die Dissertation des Autors; zu ihr vgl. auch K. BRECHENMACHER, Josef Beck (1803-1885). Ein badischer Spätaufklärer (Contubernium, Bd. 29), Tübingen 1984, 18–21.53. (4) Zu: PETER SCHLEYER, Würdigung der Einwürfe gegen die alttestamentlichen Weissagungen an dem Orakel des Jesaja über den Untergang Babels, Kapitel XIII, 14 bis 23. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Chaldäer (mit einem Vorwort von J.S. von Drey), Rottenburg a. N. 1835, in: FBTK 8 (1836), 165–175. (5) Zu: Konrad MARTIN, Letzte Strafrede Jesu nach Matthäus Cap. XXIII. Mit besonderer Hinsicht auf den wahren Geist des Pharisäismus, Köln 1835, in: FBTK.NF 8 (1836), 175– 186. (6) Zu: Conrad ZEHRT, Ueber die Auferstehung der Todten. Eine historisch-dogmatische Abhandlung, Göttingen 1835, in: FBTK.NF 8 (1836), 351–365. (7) Zu: A. THOLUK, Philologisch-theologische Auslegung der Bergpredigt Christi nach Matthäus, zugleich ein Beitrag zur Begruendung einer rein-biblischen Glaubens- und Sittenlehre, 2. verbesserte Ausgabe, Hamburg 1835, in: FBTK.NF 8 (1836), 365–390. (8) Zu: Friedrich Gustav LISKO, Die Offenbarung Gottes in Geschichte und Lehre nach dem alten und neuen Testament, oder vom Reiche Gottes, 2. verbesserte Auflage, Hamburg 1835, in: FBTK.NF 8 (1836), 391–398. (9) Zu: Joseph BECK (Hg.), Commentar ueber den Brief des Apostels Paulus an die Römer. Aus dem handschriftlichen Nachlasse des Liborius Stengel, Erster Theil und Zweiter Theil, Freiburg 1836, in: FBTK.NF 10 (1837), 69–88. (10) Zu: Friderici WINDISCHMANNI, Vindiciae Petrinae, Regensburg 1836, in: FBTK.NF 13 (1839), 97–116 (zur Frage der Authentizität von 2Petr). (11) Zu: A.Fr. GFRÖRER, Geschichte des Urchristenthums. Erstes Buch: das Jahrhundert des Heils, Stuttgart 1838, in: FBTK.NF 13 (1839) 287–316.391–428. (12) Zu: A.Fr. GFRÖRER, Geschichte des Urchristenthums. Zweites Buch: die heilige Sage. Erste Abtheilung: Lukas, Stuttgart 1838, in: FBTK.NF 14 (1839), 164–234; Zweite Abthei-
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rungen an ihn aus seiner Studien- und Repetentenzeit in Tübingen (1828–31) zurückgreifen. Wenn sie ihm trotz Bekundungen ihres Respekts vor seinem Scharfsinn und seiner Originalität, die sie freilich als Neuerungssucht bloßstellten, die Eignung für ein theologisches Lehramt glatt absprachen, so nahmen sie genau dies am Ende des Verfahrens unter dem Druck, Kompromisse schließen zu müssen, wieder zurück20. Wäre das Urteil der Fakultätskollegen über Josef Gehringer anders ausgefallen, wenn sie die wenigen Schriften, die er während seiner relativ kurzen akademischen Tätigkeit in den Jahren 1841 bis 1848 verfasste, vor seiner Berufung gekannt hätten? Die Frage ist müßig, aber ich vermute, sie hätten sie in ihrer Einschätzung nur bestärkt. Als sie erschienen, wurden sie kaum wahrgenommen, geschweige denn rezipiert; sie stießen auf Unverständnis und gerieten in Vergessenheit. Seine „Liturgik“ und „Theorie der Seelsorge“ von 1848 landeten bereits 1851 in Rom auf dem Index verbotener Bücher21, was nichts Außergewöhnliches war, weil dieses Geschick auch andere Kollegen traf22. Als Pius IX. seine Absetzung beschloss, „wozu die päpstliche Diplomatie erst 1850 einen politischen Ausführungsplan vorlegen konnte“23, wirkte Joseph Gehringer – welche Ironie – schon seit einem Jahr wieder als Landpfarrer in einer kleinen Gemeinde am Kocher und niemand interessierte sich mehr für ihn. Jetzt finden diese Schriften – dank des von der DFG geförderten Projekts „Neutestamentliche Exegeten der Katholischen Tübinger Schule im 19. Jahrhundert“ – nach vielen Jahrzehnten in mir einen neugierigen Leser, der aus ihrer Lektüre manche Eindrücke mitnehmen durfte und nun bestrebt ist, ihrem Autor als Menschen und Theologen ein wenig mehr Gerechtigkeit zukommen zu lassen, als ihm bisher vergönnt war. Ob Joseph Gehringer dabei über ein historisches Interesse hinaus Bedeutung erlangen wird, scheint mir angesichts seines schmalen und eher auf den Lehrbetrieb bezogenen Œuvres trotz weitsichtiger theologischer Urteile und Perspektiven in seiner bemerkenswerten „Liturgik“ eher fraglich zu sein. Doch was hier zählt, ist etwas anderes, nämlich eine Einsicht, die von beträchtlichem exegesegeschichtlichem Gewicht sein dürfte: Die Evangeliensynopse von Joseph Gehringer aus dem Jahr 1842 – wohl das erste derartige Werk aus der
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lung. Das Matthäusevangelium, ebd., 234–259; Dritte Abtheilung. Markus, ebd., 259–285 (hierzu vgl. unten Anm. 121); Vierte Abtheilung. Johannes, ebd., 285–313. Siehe unten Anm. 41–43. F. H. REUSCH, Der Index der verbotenen Bücher. Ein Beitrag zur Kirchen- und Literaturgeschichte, Bd. 2 Abt. 2, Aalen 1967 (Neudruck), 1116; er bemerkt ausdrücklich, die beiden Werke Gehringers seien verboten worden, „nachdem der Verfasser 1849 seine Professur in Tübingen mit einer Pfarrei vertauscht hatte (A. D. B. 8, 499) und gar keine Gefahr mehr war, daß seine Schriften noch als Leitfaden u. s. w. benutzt werden würden“, und fügt, auch im Blick auf die beiden anderen deutschsprachigen Autoren, die in diesen Jahren auf dem Index landeten, hinzu: „Jedenfalls hat sich die Index-Congr. aus den 1848–53 erschienen Schriften nicht die schlimmsten ausgesucht“. Auch zum Beispiel das Werk von J.B. HIRSCHER, Die kirchlichen Zustände der Gegenwart, Tübingen 1849, wurde kurz nach seinem Erscheinen auf den Index gesetzt; vgl. H. WOLF, Index. Der Vatikan und die verbotenen Bücher, München 2006, 261. SCHWEDT, Art. Gehringer (Anm. 9), 469.
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Feder eines katholischen Neutestamentlers24 – gibt Anlass, die Geschichte der Zwei-Quellen-Theorie zwar nicht neu zu schreiben, aber doch zu modifizieren und von ihrer einseitigen Fixierung auf die protestantische Exegese der Zeit zumindest ein wenig zu lösen. Joseph Gehringer hat die Zwei-Quellen-Theorie zeitgleich mit ihren berühmten Wegbereitern im evangelischen Raum katholischerseits mit wichtigen Weichenstellungen auf den Weg gebracht und hierzu ein eigenständiges Erklärungsmodell in seiner Synopse vorgelegt. Das ist wahrlich nicht wenig25. Sein origineller Ansatz, der uns weiter unten ausführlich beschäftigen wird, wurde freilich nirgends in der neutestamentlichen Zunft seiner Zeit diskutiert, was nicht verwundert, da ihn selbst die Kollegen in Tübingen mit Schweigen bedachten26. Auch jenseits seiner Heimat blieb sein Beitrag ohne Echo. Für sein Profil als Bibeltheologe ist es wichtig, dass man ihn im Rahmen seiner sonstigen theologischen Arbeiten wahrnimmt. Joseph Gehringer – so meine Einschätzung vorweg – war zuerst und zuletzt ein pastoraler Theologe. Nicht die Frage nach Jesus und den neutestamentlichen Ursprungszeugnissen scheint ihm das Strittige, eigentlich zu Bedenkende gewesen zu sein, sondern umgekehrt die 24 Vorausgeht im katholischen Raum wohl nur J.A. ROTERMUNDT (Domkapitular und Rektor des Klerikerseminars in Passau), Synopsis et harmonia quattuor Evangelistarum, Passau 1834; DERS., Synopsis quattuor Evangeliorum. Graeco-Latina, Passau 1835; die zweite Ausgabe, die über die erste hinaus neben dem lateinischen Text (Vulgata) auch den griechischen darbietet (nach der Complutenser Polyglotte mit Abweichungen in neueren Druckausgaben), wurde von MARTIN JOSEPH MACK besprochen, in: ThQ 17 (1835), 739–742. Eine Begründung für die Anordnung des Stoffes bietet Rotermundt nicht, weder in seiner ersten noch in seiner zweiten Edition; nicht quellenkritische Gesichtspunkte leiteten ihn, sondern die Annahme, dass schon die Evangelisten ihren Stoff chronologisch angeordnet hätten, die Aufgabe des Exegeten also „nur“ darin bestünde, diesen gemäß chronologischen Plausibilitäten zur Vita Jesu insgesamt zusammenzufügen. Drucktechnisch handelt es sich nicht um eine Synopse im eigentlichen Sinne, sondern um die Wiedergabe der parallelen Abschnitte hintereinander, was J.M. Mack als „weniger angemessen“ kritisiert, weil „der Ueberblick bei der hier vorgezogenen Anordnung sehr erschwert“ würde; in einem anderen Punkt lobt er indes den Autor: „Daß auch das Evangelium Johannis in seinem ganzen Umfange in die Synopse aufgenommen ist, hat den Beifall des Ref., da hiedurch ein vollständiger Ueberblick der ganzen evangelischen Geschichte gegeben wird, auch die chronologische Einreihung der johanneischen Abschnitte recht wohl ausführlich ist“ (740). „Ueber die von ihm getroffene chronologische Aneinanderreihung verspricht Herr Dr. R. eine ausführliche Nachweisung“ (741), die aber wohl nie erschienen ist. 25 Bis weit in das 20. Jh. hinein konnten katholische Neutestamentler die Zwei-Quellen-Theorie nicht vertreten, ohne vom römischen Lehramt gemaßregelt zu werden; vgl. I. BROER, Gebremste Exegese. Katholische Neutestamentler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: C. Breytenbach - R. Hoppe (Hg.), Neutestamentliche Wissenschaft nach 1945. Hauptvertreter der deutschsprachigen Exegese in der Darstellung ihrer Schüler, Neukirchen-Vluyn 2009, 59– 112. 26 In der 1. Auflage von „Wetzer und Welte`s Kirchenlexikon oder Encyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hilfswissenschaften“ (= WWLK) hat sein Kollege, der Alttestamentler BENEDIKT WELTE, die beiden Artikel „Harmonie der Evangelien“ (Bd. 4, Freiburg 1853, 881f.) und „Synopse der Evangelien“ (Bd. 10, Freiburg 1853, 619f.) geschrieben; im zweiten Artikel erwähnt er mehrere evangelische Synopsen aus den 40er Jahren, die seines ehemaligen Kollegen Gehringer übergeht er mit Schweigen.
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Frage nach der Angemessenheit zeitgenössischer kirchlicher Pastoral und Liturgie angesichts des jesuanischen bzw. biblischen Zeugnisses, das zur Sprache zu bringen er sich mühte. Hierin dürfte das von seinen Lehrern überkommene Erbe der Aufklärung nachwirken, wobei er freilich nie soweit ging, Strukturen der Kirche oder die Legitimität ihrer gegenwärtigen Gestalt überhaupt in Frage zu stellen. Joseph Gehringer war, bezogen auf sein Werk insgesamt, also eigentlich nicht allein Neutestamentler, sondern vor allem Pastoraltheologe auf neutestamentlichem Grund. Wir könnten auch sagen: Joseph Gehringer war zuerst und zuletzt Pfarrer, Verkündiger des Evangeliums, was sein Lebenslauf eindrücklich belegt.
1. Pfarrer, Professor und Pilger. Zum Leben und Wirken von Constantin Joseph Gehringer Die wichtigste Quelle für seine Lebensdaten, aber auch für die Menschen, die ihm besonders verbunden waren – Eltern, Schwester und Lehrer – stellt der knappe Lebenslauf dar, der den „Auszügen“ aus seinem persönlichen Tagebuch über seine Reise ins Heilige Land 1856 vorangestellt ist27. Mit diesem Tagebuch tritt auch schon sein Lebensende vor Augen: Am 8. September desselben Jahres verstarb Joseph Gehringer im Alter von nur 55 Jahren in Jerusalem. Geboren wurde der Theologe als Sohn eines Hammerschmieds am 10. April 1803, im Jahr der Säkularisation, in Unterkochen, einer kleinen Gemeinde im Oberen Kochertal am Rand der Ostalb28. Nach seiner Gymnasialzeit in Ellwangen (1816–1822) und seinem Theologiestudium in Tübingen (1822–1826) bei Drey,
27 SEPFFER (verantwortlicher Redakteur), Aus dem Reisetagbuche des [verstorb.] Prof. Jos. Gehringer, in: Staatsanzeiger Nr. 124, 1858, 1072–1073; was Zitat aus dem Reisetagbuch ist, was Paraphrase, was Bericht über ihn, ist nicht immer deutlich. Der Text hat folgenden Vorspann: „Den vielen Freunden und Schülern des Prof. Gehringer, welcher bekanntlich schon im Jahre 1856 in Jerusalem gestorben, wird es nicht unwillkommen seyn, wenn wir einige Auszüge aus seinem Reisetagbuche veröffentlichen und damit das Andenken an diesen Mann erneuern. Sein Reisetagbuch, welches uns erst vor einigen Monaten aus Jerusalem zugekommen, gibt zuerst Aufschlüsse über seine persönlichen Verhältnisse, beschreibt dann seine Reise über Wien, Triest, Smyrna, Beirut – nach Jerusalem, und schildert endlich seine Erlebnisse in dieser Stadt. Ueber seine persönlichen Verhältnisse ist in dem Reisetagbuche Folgendes aufgezeichnet: […]“. Zu seiner Person vgl. außerdem seine Personalakte im Universitätsarchiv Tübingen (126/193 Blatt 1–10) sowie S.J. NEHER, Statistischer Personal-Katalog des Bistums Rottenburg. Festschrift zum 50jährigen Jubiläum dieses Bistums, SchwäbischGmünd 1878, 42f.; W. KOSCH, Art. Gehringer, Joseph, in: Das katholische Deutschland. Biographisch-bibliographisches Lexikon, Bd. 1, Augsburg 1933, Sp. 955 (mit einem Hinweis auf LINSENMANN, in: A.D.B., Bd. 8, 1878); SCHWEDT, Art. Gehringer (Anm. 9). 28 Aus Unterkochen stammt auch sein späterer Fakultätskollege Carl Joseph von Hefele (geb. 1809; Professor für Kirchengeschichte 1836 bis 1869, von 1869 bis zu seinem Tod 1893 dritter Bischof der Rottenburger Diözese).
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Herbst, Feilmoser und Hirscher29 empfing er 1827 in Rottenburg die Priesterweihe und wurde nach kurzer Vikarszeit 1827/28 in Reuchhausen (OA Esslingen) bereits 1828 für drei Jahre Repetent im Wilhelmsstift Tübingen30. 1831 erhielt er das Pfarramt in Mögglingen, einer Ortschaft unweit von Schwäbisch-Gmünd, wo er bis 1841, dem Jahr seiner Rückkehr nach Tübingen, eine emsige pastorale Tätigkeit entfaltete31. Von diesen zehn Jahren im Remstal hat uns einer seiner Nachfolger im dortigen Pfarramt, Anton Fischer, in den zwanziger Jahren des 20. Jh.s ein lebendiges Bild aufbewahrt32. Zweierlei sei aus seinem Text eigens hervorgehoben: zum einen das sozial-karitative Engagement von Joseph Gehringer, das ihm viel Ansehen einbrachte, auch über die Gemeinde hinaus, und dazu beitrug, dass er zum Abgeordneten für den Württembergischen Landtag vorgeschlagen wurde und dieses Amt im Auftrag des Oberamts Aalen auch von 1839 bis zu seiner Ernennung in Tübingen ausübte33; zum anderen sein jahrelanger Kampf (seit 29 In dieser Reihenfolge in seinem Reisetagebuch. Andreas Benedict Feilmoser (1777-1831) erwähnt Gehringer in der Einleitung zu seiner Synopse ausdrücklich als seinen Lehrer im Neuen Testament (vgl. unten Anm. 119); Johann Baptist Hirscher wechselte 1837 nach Freiburg; Johann Sebastian Drey trat 1846 in den Ruhestand; Johann Evangelist Kuhn lehrte ab 1837 Neues Testament, ab 1839 Dogmatik; Carl Joseph Hefele wurde 1838 außerordentlicher, 1840 ordentlicher Professor für Kirchengeschichte, Benedikt Welte 1828 außerordentlicher Professor, 1840 Ordinarius für alttestamentliche Exegese. 1840 verfügte die Fakultät nur über 3 Professuren: BRECHENMACHER, Aufklärung (Anm. 2), 203. 30 Im SS 1830 trug er 4 Std. pro Woche für die Zöglinge des Stifts Naturlehre vor (StAL [Staatsarchiv Ludwigsburg] E 211 II Bü 122: Studienplan für die Konviktoren im Sommersemester 1830 vom 28. März 1830), im WS 1830/31 nahm er mit dem ersten philosophischen Kurs in einem 3std. Kurs pro Woche Euklids Elemente durch (StAL E 211 II Bü 129: Verzeichnis der Lectionen und Repetitionen für das Wintersemester 30/31 vom 9. Nov. 1830). – REINHARDT, Zeichen (Anm. 5), 49, zitiert einen Brief des Kanonisten Johann Christian Multer (1768-1838) vom17. April 1931 zum hohen Standard der Tübinger Theologenausbildung, in welchem es über die Repetenten heißt: „Die Ausgezeichnetsten [unter den Zöglingen des Wilhelmsstifts] werden demnächst als Repetenten am Stift und hierauf als Privatdozenten mit einer Jahresbesoldung von 600fl bei der dortigen theologischen Facultät angestellt, wo sie dann als Professoren einrücken. Meist erhalten sie auch vom Staate noch Vorschüsse, um auf einige Zeit andere berühmte Lehranstalten besuchen zu können“. 31 Vgl. die Festschrift der Gemeinde Mögglingen: 850 Jahre Mögglingen 1143–1993, Schwäbisch Gmünd/Mögglingen 1993, 75: Liste der Ortspfarrer seit Gründung der Gemeinde. 32 A. Fischer, von 1927–1951 Pfarrer in Mögglingen, hat für sein kleines Porträt: Josef Gehringer (Anm. 12), 353–358, Originalquellen aus verschiedenen Archiven (u.a. aus der Registratur Rottenburg) ausgewertet, um das noch im Mögglingen seiner Zeit nicht vorteilhafte Bild von Gehringer zu korrigieren. Der entscheidende Grund für den späteren Stimmungswandel gegen Gehringer sieht Fischer darin, dass die Nachfolger Gehringers zur anderen, kirchlichen Partei gehörten. Einer von ihnen war Pfarrverweser Wenzel Matte (1846 in Mögglingen), „der nicht nur die umgekehrte Laufbahn genommen hatte, sondern auch geistig ein Gegenfüßler Gehringers war“ (357). Gegen Ende des Berufungsverfahrens Nachfolge Mack war auch sein Name kurzzeitig genannt worden, doch lehnte ihn die Regierung wegen einer Predigt, in der er Grundsätze des Staatskirchentums in Frage gestellt haben soll, ab (BRECHENMACHER, Aufklärung [Anm. 2], 236, Anm. 160. 245). 33 Die Fakultät dort drang darauf, dass Gehringer, „Abgeordneter des Oberamts Aalen bei der Ständeversammlung in Stuttgart“, sein politisches Amt gleich zum Dienstantritt in Tübingen niederlegen musste: BRECHENMACHER, Aufklärung (Anm. 2), 246.
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Dienstantritt) mit dem zuständigen Spital in Gmünd wegen einer baulichen Erweiterung der viel zu eng gewordenen Mögglinger Kirche bzw. ihres Neubaus34. Diese Geschichte ist insofern von größtem Interesse, weil die von ihm gegen die Investitionsscheu der Verantwortlichen ins Spiel gebrachten gottesdienstlichen Bedürfnisse seiner Gemeinde35, insbesondere die von ihm getroffene Entscheidung, dass die Kirche nur einen Altar haben sollte36, schon den späteren Autor der „Liturgik“ erkennen lassen37. Die Grundsteinlegung der Kirche konnte er schließlich 34 Hierzu auch noch einmal J. SCHLEICHER, Pfarrer Josef [sic!] Gehringer in Mögglingen 18311841, in: Gmünder Heimatblätter 12 (1951) Heft 9, 6–8, 6: „Unter den Geistlichen, die in hiesiger Pfarrei gewirkt haben, sind einige über die Grenzen der Gemeinde, ja sogar des Landes hinaus, berühmt geworden. Zu ihnen zählt auch Josef Gehringer, der Erbauer der Mögglinger Pfarrkirche […], er hat mehr erreicht, als ihm die Nachwelt dankte“. 35 So erklärt der „Kirchenkonvent“ (mit dem Pfarrer als Sprecher) am 24. Jan. 1836: „Allein bei einer Kirche muß man auch auf die Beschaffenheit des Raumes sehen, denn es ist nicht genug, daß man dem Gottesdienst bloß körperlich anwohnt; sondern man muß auch imstande sein, durch Sehen und Hören an dem, was auf dem Altare geschieht, teilzunehmen […]“ (bei FISCHER, Josef Gehringer [Anm. 12], 354). „Die Verhandlungen, konstatiert das Oberamt Gmünd, wurden vom Anfang bis zum Ende unter der Leitung des Pfarrers Gehringer, der sich persönlich sehr für die Sache interessierte, geführt“ (ebd., 357). 36 Auf dessen Standort kommt Anton Fischer im Zusammenhang der gegen Ende des Kirchbaus virulent gewordenen Sakristei-Frage zu sprechen, die dann noch lange Gehringers Nachfolger beschäftigen sollte, u. a. Ludwig Schmitt (1849–1857) und Marvell Pfleghaar (1858–1873); ein längeres Zitat aus einem Dokument des letzteren, den er nur abgekürzt „Pfarrer Pf.“ nennt – wohl Ausdruck seiner persönlichen Einschätzung dieses Mannes – wirft ein interessantes Schlaglicht auf den Vorgang: „Offenbar schöpft er [Pfarrer Pf.] bereits aus einer stehenden Ueberlieferung mit seinem scharfen Bezicht: ‚Gehringer hatte die abnorme, von keinem Sachverständigen geteilte Ansicht, es gehöre in eine katholische Kirche nur ein einziger Altar. Auch einen Chor hielt er für überflüssig. Deshalb wurde denn auch der Plan über die zu erbauende Kirche so gefertigt, daß der Altar unter den Chorbogen zu stehen kommen, der Raum hinter demselben aber [der Chor] als Sakristei benützt werden sollte. Noch während der Ausführung des Kirchenbaues jedoch, nachdem die alte Sakristei abgebrochen war, erkannte der vom Kirchenstiftungsrat zu Gmünd aufgestellte Bauführer, daß das Projekt, den Hochaltar unter den Chorbogen zu stellen, aufgegeben werden müsse, weil es nicht bloß aller kirchlichen Praxis widerstreite, sondern auch den Raum in der Kirche so sehr beeinträchtige, dass für die 160 Schulkinder lediglich kein Platz mehr übrig bleibe. Demgemäß ließ er dann auch den Hochaltar in dem hintern Teil des Chores anbringen, der nach dem ursprünglichen Plan als Sakristei hätte dienen sollen.‘“ (Josef Gehringer [Anm. 12], 357). SCHLEICHER, Josef Gehringer (Anm. 34) 7f., meint: „Der Gedanke einer Verlegung des Hochaltars unter den Chorbogen stammt auf keinen Fall von Gehringer, wie man später behauptet hat“. 37 J. GEHRINGER, Liturgik. Ein Leitfaden zu akademischen Vorträgen über die christliche Liturgie nach den Grundsätzen der katholischen Kirche, Tübingen 1848. – Die Entscheidung Gehringers für lediglich einen Altar in der Kirche begreift nur, wer dieses Buch kennt, vor allem seine Ausführungen zur Eucharistie (das Nähere unten Punkt 3); aufschlussreich ist auch § 17 zum Kirchbau (ebd., 65–69), der besondere Sorgfalt auf die Beschreibung der altchristlichen Basilika verwendet: „die eigentliche Kirche hatte im Osten einen Chor, in welchem der Bischof seinen Thron und die Priester ihre Stühle hatten; in der Mitte des Chors war der Tisch des Herrn […]“ (66). Entscheidendes Kriterium für den Kirchbau: „Die Kirche soll nicht nur Schutz gegen die Witterung gewähren, sondern auch durch die Schönheit und Gestalt zeigen, daß hier eine Gemeinde versammelt sei, welche voll Kraft und Würde zum Himmel aufblicke“ (67). Zu den zeitgenössischen Verhältnissen bemerkt Gehringer lediglich: „Unsere Zeit
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kurz vor seinem Weggang nach Tübingen am 28. Mai 1841 noch miterleben38. Aus seinem vorbildlichen Engagement für den Neubau der Kirche möchte Anton Fischer eine, wie er sagt, „übers persönliche weit hinausragende Tatsache ablesen“, die er so auf den Punkt bringt: „Die kirchliche Erhebung“, erklärt er, „war nicht nur ein Werk der kirchlichen Partei. Sie ist getragen selbst von Vertretern des Staatskirchentums. Ohne Gehringers Kirchenbau hätten die gerühmten Predigten“ seiner Nachfolger im Pfarramt „nicht denselben Resonanzboden gefunden“39. Die Berufung von Joseph Gehringer auf den Lehrstuhl für Moraltheologie und Neutestamentliche Exegese stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Sein Vorgänger Martin Joseph Mack (1805–1885) war am 13. Febr. 1840 von der Regierung seines Amtes enthoben worden, weil er mit seiner ThQ-Abhandlung „Über die Einsegnung von Mischehen“ gegen die liberale Mischehen-Praxis in Württemberg opponiert und damit faktisch das System der staatlichen Kirchenhoheit in Frage gestellt hatte. Was dann folgte, war ein politisches Spiel, in dem die Regierung alles daransetzte, einen liberalen und staatstreuen Theologen in die inzwischen unter dem Einfluss des kirchlich gesonnenen J.A. Möhler stehende Fakultät einzuschleusen. Josef Gehringer war unter merkwürdigen Vorzeichen als Strohmann auf die Fakultätsliste gekommen. Dass sich das quälend lang hinziehende Verfahren am Ende auf ihn zulief, lag daran, dass weder der von der Fakultät vorgeschlagene Anton Oehler noch der von der Regierung favorisierte Joseph Beck40 zum Zug kam sowie weitere Kandidaten „verschlissen“ wurden oder abwinkten. In Joseph Gehringer, der vom Kanzler der Universität, Karl Georg von Wächter41, und von zwei Kirchenräten in der letzten Phase des Verfahrens wieder
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ist eine Uebergangsperiode und wird in dem Kirchenbau nichts wahrhaft Gutes leisten, wenn nicht die ganze Liturgie gründlich verbessert wird“ (68). Laut FESTSCHRIFT (Anm. 31) war am 21. Juli 1849 die Kirchweih; es heißt dort: „Das Werk gilt nicht gerade als gelungen. So urteilte der Pfarrverweser und Doktor der Philosophie Wenzeslaus Mattes (der den erkrankten Pfarrer Schneiderhan 1846 vertritt): ‚Hat man den gänzlichen Abgang aller Architektonik und Schönheit zu beklagen, so kann man sich dagegen damit trösten, dass auch rein technisch solche Fehler gemacht worden sind, dass sich hoffen lässt, dieses einer Kirche weit und breit nicht gleichsehende Haus werde nicht allzu lange existieren‘. (Die Ansicht Mattes’ wird von den älteren Mögglingern, die die Kirche in Erinnerung haben, nicht geteilt. Das ließ sich bei einem Lichtbildervortrag Josi Ockers deutlich erkennen). Nach 1945 ist die Kirche wieder zu klein. Am 19. Sept. 1956 wird sie gesprengt, am 28. Okt. desselben Jahres wird der Grundstein für die neue Kirche gelegt“ (ebd., 73–75 mit einem ganzseitigen Photo der Kirche [s. S. 181]; zu ihrer Gestalt passt, was GEHRINGER, Liturgik [Anm. 37], 67, sich von jeder Kirche wünscht: Sie „soll gut gebaut, geräumig, zweckmäßig eingetheilt und verhältnißmäßig schön sein. Die Bauart soll etwas Emporstrebendes, hohe Fenster, Pfeiler oder Säulen haben“). FISCHER, Josef Gehringer (Anm. 12), 358 (mit dem schönen Druckfehler: „Rosennanzboden“). Zu seiner Person vgl. BRECHENMACHER, Josef Beck (Anm. 19); zum Berufungsvorgang: ebd., 85–91, sowie DERS., Aufklärung (Anm. 2), 207–223.246–250. BRECHENMACHER, Aufklärung (Anm. 2), 245, Anm. 210: zweimal hatte der Kanzler auf Gehringer hingewiesen, am 19. April 1841 (S. 240f.) sowie am 28. Mai 1841 (Schreiben an den Minister).
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ins Gespräch gebracht wurde42, sah die Fakultät schließlich „das kleinere Übel“43 und stimmte dem Ernennungsvorschlag des Ministeriums zu. So wurde mit Joseph Gehringer am 22. Juli 1841 ein typischer Kompromisskandidat berufen. Bei der Darstellung der wenigen Jahre, die er als Universitätslehrer in der Fakultät verbrachte (1841-1849), können wir uns kurz halten44. Für ihn persönlich waren es keine erfreulichen Jahre. In seinem Lebenslauf erklärt er nüchtern, er habe während dieser Zeit als „ordentlicher Professor für die Lehrfächer der christlichen Moral und der neutestamentlichen Schrift-Erklärung“ „Moral und Pastoral“ gelesen, „auch die Einleitung in das N.T.“45. Fakultäts- und Universitätsämter hat er verschiedentlich bekleidet: 1843/44 war er zum ersten Mal Dekan, 1847/48 Rektor der Universität46. Unmittelbar nach seiner Bitte um „Versetzung oder zeitweilige Enthebung seines Dienstes“ am 8. Mai 194847 wurde er am 12. Mai überraschenderweise noch einmal zum Dekan gewählt48 und übte das Amt in den beiden folgenden Semestern 1848/49 dann auch tatsächlich ein zweites Mal aus. Nachdem sich aber die Situation in der Fakultät für ihn nicht änderte49 und sein 42 Ebd., 241f. 43 BRECHENMACHER, Aufklärung (Anm. 2), 210. 44 Seine Akademische Antrittsrede hielt er am 4. Nov. 1841 zum Thema: „Über den Verfasser und die Leser des neutestamentlichen Briefs an die Hebräer“. Der Text scheint nicht publiziert worden zu sein, die ThQ war ihm als Publikationsorgan verschlossen geblieben (vgl. die Ausführungen von R. Reinhardt weiter unten S. 159f.) 45 Erhalten ist in der Diözesanbibliothek Rottenburg (Handschrift 2550) eine Nachschrift der von ihm im WS 1848/49 gehaltenen Vorlesung „Einleitung in das Neue Testament“ (vgl. hierzu: UAT 51, 174) von unbekannter Hand im Umfang von 178 Seiten. Sie hat zwei Teile, eine „spezielle Einleitung“, in der Gehringer kurz alle Schriften des NT in der von ihm angenommenen chronologischen Abfolge bespricht (von 1Thess angefangen bis zu Jud, Joh, 1– 3Joh und Offb), sodann eine „allgemeine Einleitung“ mit den Hauptstücken „Sammlung der Schriften des N.T.“, „Handschriften“, „Wiederherstellung des ursprünglichen Textes“, „Übersetzungen“, „Wahrheit des N.T.“, „Gebrauch des N.T.“. 46 In dieser Funktion gab er am 18. Sept. 1847 im Namen des akademischen VerwaltungsAusschusses eine „Haus-Ordnung für das Universitäts-Gebäude“ heraus, in: Tübinger Universitätsschriften aus dem Jahre 1847, Tübingen 1848 (7 Seiten). 47 Vgl. BRECHENMACHER, Aufklärung (Anm. 2), 246, Anm. 216: Das Dokument befindet sich im ungedruckten Nachlass von Stephan Lösch (Professur für Altes Testament Nr. 58, Beilage); hierzu REINHARDT, Katholisch-Theologische Fakultät (Anm. 11), 4. Am 9. Mai 1848 leitete der Rektor das Gesuch an das Ministerium mit den Worten weiter: „Möge es hoher Behörde gelingen, den tief eingefreßenen Schaden, der hier offen gelegt wird, zu heilen“ [Entwurf; Original des Schreibens wahrscheinlich in Stuttgart] (UAT 126/193). 48 Auf die Einladung des Dekans Welte zur Fakultätssitzung am 12. Mai 1848, auf der u.a. die Übergabe des Dekanats verhandelt werden sollte, antwortete Gehringer: „Ich habe zwar um meine Entlassung gebeten, weil ich sehe, daß der Friede in der Facultät bleibend gestört ist; so lange ich aber nicht entlassen bin, halte ich es für meine Pflicht, an allen Geschäften der Facultät Theil zu nehmen, weßwegen ich in der Sitzung erscheinen werde. Gehringer“ (UAT 184/4 [Zirkulare der Fakultätssitzungen]). Dass Gehringer auf dieser Sitzung zum Dekan gewählt wurde, ist dem von ihm verfassten Zirkular zu entnehmen, das als nächstes in den Akten liegt (M. THURAU mündlich). 49 Die Hintergründe bei REINHARDT, Katholisch-Theologische Fakultät (Anm. 12), 32 („Das Jahr 1948 und seine Folgen“): Der Sieg der „Ultramontanen“ über die „staatskirchliche“ Gruppe in Diözese und Fakultät führte in Tübingen zu einer „in der Form oft unwürdige[n]
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„Mitstreiter“ Schimele mittlerweile sein Entlassungsgesuch bewilligt bekam, erneuerte Gehringer am 16. Februar 1849 seinen Entlassungswunsch, um sich auf eine staatlicherseits ausgeschriebene Pfarrstelle bewerben zu können50. Um die Wandlungen der Fakultät seit seiner Repetentenzeit hatte Gehringer natürlich gewusst, als er den Ruf auf die Professur annahm51. Als Schüler der ersten Generation von Tübinger Lehrern wird er der neuen kirchlich-ultramontanen Gesinnung der Fakultät distanziert gegenüber gestanden, aber doch die Erwartung gehegt haben, erfolgreich in ihr wirken zu können. R. Reinhardt schildert seine Situation in der Fakultät mit folgenden Worten: „Gehringer kann als später Aufklärer bezeichnet werden. Soweit wir Äußerungen von ihm haben, war er ein sehr ‚Abrechnung‘ mit der unterlegenen Partei. Die Studenten zeigten, was sie von den ‚Staatsprofessoren‘ hielten: Nach Aufhebung des Kollegzwangs blieb man demonstrativ den Veranstaltungen fern […]. Um die gleiche Zeit wurde Gehringer bei der Nuntiatur angezeigt und der Häresie verdächtigt. Wie zu erwarten, war Josef Mast in Rottenburg [Regens des dortigen Priesterseminars] Verfasser der Briefe. Dies alles zusammengenommen bewirkte, dass die ‚Staatsprofessoren‘ der Fakultät samt Konviktsdirektor Schott die Konsequenzen zogen; sie verließen Tübingen und übernahmen Landpfarreien“. – Gehringer drohte überdies, wie oben schon erwähnt, vonseiten Roms die Absetzung von seinem Professorenamt wegen Häresie, was „[i]n langwierigen Prozeduren, erschwert auch durch die 1848er Flucht des päpstlichen Hofes aus Rom nach Gaeta (Königreich Neapel)“, erst 1850 spruchreif wurde (SCHWEDT, Art. Gehringer [Anm. 9], 469; vgl. oben Anm. 23). 50 UAT 126/193: Schreiben Gehringers an den Rektor vom 16. Februar 1849. Darin heißt es: „In einer Zeit, wo nicht vernünftige Gründe, sondern zufällige Stimmen-Mehrheit zu siegen pflegen, halte ich es nicht für eine Unehre, mich in Frieden zurückzuziehen. Übrigens bin ich bereit, noch bis zum nächsten Herbste zu bleiben, und eile nur darum, weil die Stelle, um welche ich eventuell bitte, ausgeschrieben ist [Anm. 58], und weil das königliche Patronat aufhört, wenn der § 17 der Grundrechte Gesetzeskraft erlangt. Meine hiesige Stelle ist mir darum unangenehm, weil meine Fächer in den nächsten Jahren nur als Nebenfächer angesehen werden, und die frühern Nebenfächer ganz hinweg fallen, bis man wieder einsehen wird, wie wichtig das Studium der heiligen Schrift für die Theologie ist. Meine Fächer sind Moral, Pastoral und Exegese des neuen Testaments; nun aber ist die Moral ein Nebenfach für Zukrigl, die Pastoral für Hefele, die Exegese des N.T. für Kuhn, Welte und Aberle gewesen, weil in Folge der Errungenschaften der Neuzeit die Encyclopädie der theologischen Wissenschaften, die Apologetik, die biblische Archäologie, die kirchliche Archäologie, die Patrologie und Patristik ganz aufhören und die Pädagogik für die Theologen weniger Werth hat, wenn die Kirche von der Schule getrennt wird. Wenn dieses eine gute Methode ist, dann ist der fünfte Lehrer in unserer Facultät überflüssig, weßwegen es meinen Gegnern gelingen könnte, mir meine Zuhörer so zu entziehen, wie sie es dahin gebracht haben, dass Fehr keine Zuhörer für die Weltgeschichte und Warnkönig keine für das Kirchenrecht bekam. Unter diesen Umständen will ich den Zwiespalt nicht verewigen, sondern mich auf eine andere Stelle zurückziehen“. – Die Vorlesungsverzeichnisse der Jahre zeigen, dass alle Gebiete Gehringers von den im Brief genannten drei Kollegen in Konkurrenzveranstaltungen angeboten wurden, die ordentliche Professur für NT damit eigentlich überflüssig wurde. 51 WEISS, Redemptoristen (Anm. 6), 465f.: „Die kirchliche Partei, die seit Mitte der 30er Jahre sich durchzusetzen begann, hatte starke Stützen an der Universität Tübingen. Zwar war dort auch die liberale Gruppe durch Männer wie Gehringer und Schimele noch lange vertreten, doch traten diese wenig in Erscheinung. Als Vertreter der kirchlichen Gesinnung galten dagegen die großen Theologen der ‚Tübinger Schule‘, weniger freilich Hirscher als vor allem Möhler, der besonders wegen seiner ‚Symbolik‘ und seiner Stellungnahme für den Priesterzölibat bei den Ultramontanen als Bahnbrecher kirchlicher Gesinnung gefeiert wurde“.
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vornehmer Charakter. Die unterlegene Partei, vor allem Kuhn und Hefele, akzeptierten den neuen Kollegen aber nicht. Ein Beispiel dafür war die Tatsache, daß sie nicht bereit waren, ihn in den Herausgeberkreis der Quartalschrift aufzunehmen. So war die Zeitschrift bis zum Ausscheiden Gehringers aus der Fakultät im Jahre 1849 das Parteiblatt der württembergischen Ultramontanen. Oder mit anderen Worten: Die Behauptung, es seien jeweils alle Professoren der Katholischtheologischen Fakultät Mitherausgeber der Quartalschrift gewesen, ist eine jener Legenden, die sich um das Blatt ranken“. Und Reinhardt nennt noch einen weiteren neuralgischen Punkt: „Ebensowenig kollegial waren Gehringers Kollegen in einer anderen Sache. Bis dahin war es üblich gewesen, daß die Tübinger Professoren erst nach der Ernennung zum Ordinarius oder zum Extraordinarius zum Doktor der Theologie promoviert wurden52. Diese Promotion war die Regel. Nur bei dem Staatskirchler und Aufklärer Gehringer wurde demonstrativ auf die Ehrung verzichtet. Dies hatte zur Folge, daß er sich weigerte, bei Promotionen mitzuwirken. Als Dekan bat er jeweils den Senior der Fakultät, die Geschäfte zu übernehmen und die Sitzung zu leiten“53. Soweit die Darstellung von Rudolf Reinhardt54. Als Joseph Gehringer die Ausweglosigkeit seiner Situation erkannte und sich eingestand, dass die Fakultät nicht der rechte Ort für ihn sei, bat er nach sieben Jahren Fakultätszugehörigkeit am 8. Mai 1848 um Entlassung, eine Bitte, die aus den schon erwähnten Gründen im darauf folgenden Jahr noch einmal erneuert wurde und dann auch Annahme fand55. W. Kosch sagt es in seinem knappen Lexikoneintrag zu seiner Person so: „Infolge seiner im 18. Jahrhundert wurzelnden Richtung um allen Lehrerfolg gebracht“, nahm er Abschied56. Zutreffender wäre es zu sagen: Man entzog ihm seine Hörer, doch er blieb sich treu; er wahrte seine persönliche Integrität und zog die Konsequenz. Später erinnerte sich kaum noch jemand an ihn57. 52 R. Reinhardt verweist hierzu auf eine ungedruckte Arbeit: H. GRAF, Theologische und kirchenpolitische Entwicklungen an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen im Spiegel des Promotionswesens (1812) 1818-1926, Zulassungsarbeit 1986, 284– 330. – Z.B. erhielt J.S. HIRSCHER erst nach seiner Berufung die Ehrenpromotion in Theologie. 53 R. REINHARDT, 175 Jahre Theologische Quartalschrift – ein Spiegel Tübinger Theologie, in: ThQ 176 (1996), 101-124, 113f. 54 Seine Sicht korrigiert M. THURAU in einer e-Mail an mich (vom 1.8.2011) folgendermaßen: „Ob sich Gehringer […] wirklich geweigert hat, an den Promotionen mitzuwirken, wie Reinhardt schrieb, ist fraglich, da sich eine Aktennotiz von Hefele aus dem Jahr 1867 erhalten hat, in der dieser Auskunft über das Promotionsverfahren der Fakultät gibt und darauf hinweist, dass man in den 1840er Jahren zwei Fakultätsmitgliedern, die keinen Dr. theol. besessen hätten und dennoch ‚das Recht der Mitwirkung beanspruchten‘, dieses stets verweigert habe (UAT 184/472). Es liegt daher der Schluss nahe, dass Gehringer und Schimele als Professoren und Mitglieder der Fakultät auch in den Promotionsverfahren mitwirken wollten, hieran aber gehindert wurden.“ 55 Siehe oben Anm. 47 und 50. 56 KOSCH, Art. Gehringer (Anm. 27). 57 P. SCHANZ, Die Katholische Tübinger Schule, in: ThQ 80 (1898), 1–49, 13f., würdigt die frühen Neutestamentler der Fakultät der Reihe nach: Gratz, Feilmoser, Mack, Aberle – und übergeht dabei Gehringer! Das Jubiläumsheft der Theologischen Quartalschrift, ThQ 150 (1970), das allen Tübingern ein Porträt in Bild und Wort widmete – selbst A. Graf, der etwa
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Ab 1849 ist er wieder das, was er vorher war und was ihm eigentlich entsprach, Pfarrer und Prediger des Evangeliums, jetzt in Kocherthürn, einer Gemeinde am unteren Kocher58. Es sollte seine letzte Lebensphase werden, wiederum recht kurz. Im Staatsanzeiger „Aus dem Reisetagbuch“ heißt es: „Als im Jahre 1856 die größeren europäischen Mächte den Frieden zwischen Russland und der Türkei zu Stande brachten, entschloß sich Gehringer[,] eine Reise ins Morgenland zu machen, und diejenigen Länder, welche für die biblische Geschichte merkwürdig sind, genau kennen zu lernen. Selbstständig und entschlossen, wie er war, ließ er keine Einrede aufkommen, selbst die Thränen seiner einzigen Schwester, die ihn seit vielen Jahren so sorgfältig verpflegte, konnten seinen Entschluß nicht ändern, er nahm einen Urlaub auf 3 Jahre, predigte am Sonntag den 15. Juni zum letzten Mal über den Text: Matth. 5,20 [,] und bemerkte am Schlusse: Wenn er jetzt auf einige Zeit seine Stelle verlasse, so geschehe es nicht aus Leichtsinn, nicht zum eitlen Vergnügen und nicht zwecklos, sondern mit Vorbedacht, unter vielen Beschwerden zu dem Zwecke, dass er die göttliche Offenbarung mehr verstehen lerne und nachher das Wort Gottes mit mehr Einsicht und Nachdruck vortragen könne“59. Nichts, so scheint mir, charakterisiert Joseph Gehringer besser als dieser zur gleichen Zeit nur fünf Jahre als Privatdozent und Extraordinarius in Tübingen wirkte – übergeht ihn, vermutlich deshalb, weil er für die ThQ keine Rolle spielte (vgl. oben die Ausführungen von R. Reinhardt). – In der „Professorengalerie“ der Universität Tübingen existiert leider kein Bild von ihm (nicht alle Rektoren wurden in Öl porträtiert). SCHWEDT, Art. Gehringer (Anm. 9) 470, verweist zwar auf J. RIEF–M. SECKLER, Eine Liste der Tübinger, in: ThQ 150 (1970), 177–186, hier 181, und fügt hinzu: „mit Porträt S. 61“, doch finden sich dort leider nur Abbildungen von Welte, Graf, Zukrigl, Kober und Himpel. 58 SEPFFER (Redakteur), Reisetagbuch (Anm. 27), 1072 (Lebenslauf): „Am 20. September 1849 wurde er auf seinen Wunsch in das Pfarramt Kocherthürn eingesetzt, wo er viele Anlagen zum Guten vorfand, sehr eifrig wirkte und nebenbei auch die Zehntablösung, die dort viel zu rechnen und zu schreiben gab, durchführte.“ – Es gab mehrere Bewerber auf die „sehr begehrte Pfarrei“ (MILLER, Kath.-theologische Fakultät [Anm. 3], 229, Anm. 81), Gehringer stand an erster Stelle. Das Ministerialschreiben an den König vom 14. August 1849 (für den Minister unterzeichnete v. Schmidlin) schildert zunächst die Biographie des Kandidaten, lobt dann seine eifrige und gewissenhafte Arbeit an der Universität Tübingen und fährt schließlich fort: „Gleichwohl ist seine Wirksamkeit in neuerer Zeit unter dem Einfluß der kirchlichen Bewegungen mehr und mehr gelähmt; er stimmt in der kirchlichen Richtung mit den übrigen Professoren der Fakultät nicht zusammen und besitzt bei großer Gelehrsamkeit nicht den Geist und die Gewandtheit, um den anders gesinnten Lehrern und den unter ihrem Einfluß stehenden Studierenden gegenüber eine Stellung und Wirksamkeit behaupten zu können, wie sie ihm sonst wohl zukommen würde. Es ist daher allerdings im Interesse der Universität selbst wünschenswerth, daß sein seit längerer Zeit gehegter Wunsch, auf eine andere Stelle zu gelangen, nunmehr in Erfüllung gehen möge“ (HStASt E 11 Bü 166) (nach Einsicht von M. Thurau in die Akten). Am 15. August 1849 überträgt der König Gehringer die Pfarrei Kocherthürn. – Das Pfarrdorf Kochertürn (so die heutige Schreibweise) gehörte dem Deutschen Orden und gelangte mit Neckarsulm 1806 an Württemberg. Von daher war es auch im 19. Jh. noch gut mit Pfründen ausgestattet und verlockend für verdiente Pfarrer, die sich dort auf einen Vikar stützen konnten. Leider ist das Archiv im Pfarrhaus, einem barocken Bau des Deutschen Ordens von 1792, nach Auskunft des derzeitigen Pfarrers, Herrn Robert Aubele, nur wenig geordnet; dass es Spuren Gehringers enthält, ist nicht ausgeschlossen. 59 Ebd., 1072.
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Tagebucheintrag: Es trieb ihn zurück zu Quellen und Ursprüngen des Glaubens um einer besseren Verkündigung des Gotteswortes willen, einer Verkündigung, die „mit mehr Einsicht und Nachdruck“ zu geschehen habe – das könnten wir als Motto über sein ganzes Leben setzen! Er verabschiedete sich von seinen Amtsbrüdern und Freunden mit einem Abschiedsmahl und verließ am 16. Juni zwischen 3 und 4 Uhr in der Frühe zum letzten Mal sein stattliches Pfarrhaus60, um über Stuttgart und Wien nach Triest und von dort mit dem Schiff nach Beirut zu reisen. Da sich die Weiterfahrt nach Jaffa verzögerte, unternahm er zu Pferd einen Abstecher nach Balbeck, der ihm allerdings schlecht bekam. Nach seiner Ankunft in Jerusalem am 23. Juli, wo er im Konvent der Franziskaner wohnte, befielen ihn „ruhrartige Anfälle“61. Trotz abnehmender Kraft – der Arzt behandelte ihn mit oleum ricini – pilgerte er zu den heiligen Stätten, machte Besuche, besorgte sich noch einen Lehrer für das Arabische und feierte am Sonntag, den 24. August, die Messe „in der hl. Grabeskirche in monte calvario, auf dem Altare: Stabat mater“, und am Tag darauf in Bethlehem „am Altar vor der Krippe“62. Daraufhin verließen ihn rasch die Kräfte, er verfasste sein Testament, in dem er niemanden vergaß, die Armen nicht und die Ministranten nicht, „die das Allerheiligste zu ihm begleiteten“, und „schlief ein“ – so die letzten Worte im Staatsanzeiger – am 9. Sept., „um in einer besseren Welt zu erwachen. Er starb, wie er lebte, still, sanft und gottergeben“63.
2. „In Tübingen muß es um die Exegese traurig bestellt sein“ (1845)64. Zu den Schriften Joseph Gehringers (1) Außer der Evangeliensynopse von 1842 hat Joseph Gehringer noch zwei weitere Bücher für den Lehrbetrieb publiziert, die wohl aus seinen Vorlesungen hervorgewachsen sind: die „Liturgik“65 und die „Theorie der Seelsorge“66, beide 1848, in seinem letzten Tübinger Jahr, erschienen, beide mit dem Untertitel: „Leitfaden zu akademischen Vorträgen“. Die Abhandlung „Die biblische Aere“ aus dem Jahre 1842 ist eine Art Huldigungsschrift zum Geburtstag des Königs 60 Siehe das Photo des bis heute unverändert gebliebenen Hauses (Abbildung S. 181)! Vgl. auch oben Anm. 58 gegen Ende! 61 SEPFFER (Redakteur), Reisetagbuch (Anm. 27), 1073. 62 Ebd. 63 Ebd.; in seinem Testament ordnete er überdies an, „daß dem Convente zu Salvator 80 türk. Piaster zu 4 stillen hl. Messen zukommen, und daß 30 türk. P. für sein Grab und 70 türk. P. für einen Leichenstein mit seinem Namen verwendet werden sollen“. Nach dem Grabstein sollte noch gesucht werden, entweder auf dem Gelände des Salvatorklosters oder – falls er nicht dort begraben wurde – auf einem der deutschen Friedhöfe Jerusalems. 64 So der ANONYMUS in: Professor Gehringer und die Exegese (Anm. 7), 756. 65 Vgl. oben Anm. 37. 66 J. GEHRINGER, Theorie der Seelsorge. Ein Leitfaden zu akademischen Vorträgen über die christliche Seelsorge nach den Grundsätzen der katholischen Kirche, Tübingen 1848.
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Wilhelm von Württemberg am 26. September, auf dessen letzter Seite der Rektor und der akademische Senat der Universität zu einer Feierstunde zum königlichen Geburtstag einladen; die Festrede, die Josef Gehringer zum Thema: „Die biblische Lehre von den Grundtugenden“ halten sollte, scheint ungedruckt geblieben zu sein67. Die gelehrte Schrift selbst68 behandelt passend zum Anlass die sich im Altertum gerne an der Abfolge der Könige orientierende Chronologie der Weltgeschichte, die Gehringer vom ersten „Schöpfungstag“ an bis zu Christi Geburt „im Frühling des Jahres 3 vor dem Anfange der christlichen Zeitrechnung“69 auf 4001 Jahre berechnet; sein Vertrauen in die historische Zuverlässigkeit aller herangezogenen Quellen – hebräische, griechische und samaritanische Bibel, Josephus und manch andere antike Texte – erstaunt. Am Ende der Schrift steht ein warmherziger Dank an den König von Württemberg, den seine Fakultätskollegen so wohl nicht ausgesprochen hätten. (2) Seine „Liturgik“ von 1848 hat demgegenüber einen völlig anderen Charakter. Schon der eine Satz: „Die ganze Liturgie würde besser werden, wenn man sich entschließen könnte, die lebendige Volkssprache zu gebrauchen und sich getreuer an die heilige Schrift zu halten“70, zeigt, wes Geistes Kind ihr Autor ist: ein Schüler Johann Baptist Hirschers71. Doch würde dem Buch nicht gerecht, wer in 67 Anzeige der Feier des Geburtsfestes Sr. Majestät des Königs Wilhelm von Württemberg auf den 27. September 1842, durch den Rector und academischen Senat der Universität Tübingen. Mit einer Abhandlung über die biblische Aere von J. Gehringer, Professor der kath. Theologie, Tübingen 1842; die Abhandlung umfasst 83 Seiten, auf Seite 84 befindet sich die auf den 26. September datierte offizielle Einladung des Rektors und des Senats zur Universitätsfeier zu Ehren des Königs am nächsten Tag. – Es war in Tübingen üblich, den Geburtstag des Königs auf diese akademische Art zu feiern. 68 Sie ist in 15 Paragraphen gegliedert: § 1 Das Schöpfungsjahr (1–8), § 2 Die Zahl der Jahre von Adam bis zur großen Fluth (8–20), § 3 Von dem Anfang der Fluth bis Arphachsads Geburt (20-21), § 4 Von Arphachsad bis Abrahams Geburt (21–28), § 5 Von Abrahams Geburt bis Jacobs Zug nach Ägypten (28–29), § 6 Aufenthalt der Israeliten in Aegypten (29–35), § 7 Von Auszug aus Aegypten bis Salomons Tempelbau (35-53), § 8 Von der Erbauung bis zur Zerstörung des Salomonischen Tempels (54–65), § 9 Die Jahre der babylonischen Gefangenschaft (65), § 10 Summe der Jahre von Erschaffung der Welt bis Cyrus (66), § 11 Reduction der biblischen Weltäre auf die christliche Aere (66-67), § 12 Verwandtschaft des biblischen Kanons mit dem des Ptolemäus (67–70), § 13 Seleucidische Aere (70-74), § 14 Aere der Maccabäer (74-76), § 15 Christi Geburt (77–83). – P. SCHANZ, Art. Chronologie, biblische, in: WWKL2 (1884), Bd. 3, Sp. 309–344, erwähnt die Arbeit von Gehringer nicht. 69 Aere 83; gekreuzigt worden sei Jesus „im Frühling des Jahres 30“, was heutiger Einsicht entspricht. 70 Liturgik (Anm. 37), 144; vgl. dazu insgesamt § 10 Sprache: 22–38. Zur Präsenz der Schrift in der Liturgie: 136; zur Sprachenfrage auch DERS., Erscheinung Christi (Anm. 18), 385-389, mit Rekurs auf Pfingsten (388) und zur Frage, was Einheit ist: „Einheit ist nicht Einerleiheit oder Gleichförmigkeit, sondern die Harmonie der verschiedenen Töne. Nicht alle Töne sollen gleich, aber alle sollen harmonisch seyn. Die christliche Einheit soll nicht eine mechanische, sondern eine organische seyn“. 71 J.B. HIRSCHER, Missae genuinam notionem eruere eiusque celebrandae rectam methodum monstrare tentavit D.J.Bapt. Hirscher, Tubingae 1821; DERS., Zustände (Anm. 22); hierzu vgl. KÖSTER, Fall (s. oben Anm. 17), 20f. („Hirscher als Liturgiereformer“) 55–105 („MISSAE GENUINAM …“ 1823), zum Liturgieverständnis von Hirscher außerdem W. NASTAINCZYK,
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ihm lediglich eine übersichtlich geordnete Darstellung des liturgischen Lehrstoffs in 120 Paragraphen sähe72. Es hat eigenes Profil und setzt eigene Akzente, vor allem da, wo sein Autor von neutestamentlicher Warte aus dem römischen Ritus gegenüber kritische Töne anschlägt73, und das tut er mehrfach, immer in nüchternem, trockenem Ton. Aufmerken lässt bereits sein Grundverständnis der Liturgie, abzulesen an der Gliederung des Buches: Im ersten Teil geht es um „liturgische Handlungen, durch welche Gott seine Liebe den Menschen zuwendet“74, im zweiten Teil um „liturgische Handlungen, durch welche die Menschen ihre Liebe zu Gott ausdrücken“75. Wort und Antwort oder Liturgie als personales, dialogisches Geschehen – das ist ein weit in die Zukunft weisendes Konzept76, das sich dann auch in den einzelnen Abschnitten des Buches niederschlägt. Hinweisen möchte ich exemplarisch auf die Darstellung zum „heiligen Abendmahl“, die einem schlichten, aber doch hochbrisanten Entwicklungsmodell folgt77. Am Ursprung steht die „Einsetzung des heiligen Abendmahles“ (§ 42) durch Jesus im Rahmen eines Paschamahls. Getreu seinen „Sprachhandlungen“ feierte die frühe Kirche dann eine „einfache Liturgie des heiligen Abendmahles“ (§ 43) zunächst noch im Rahmen eines Mahles, wobei die von ihr weitergeführten „Sprachhandlungen“ Jesu im „Andenken“ an ihn78 zweigeteilt waren und jeweils
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Überlegungen zur Theologie und Gestalt der Eucharistiefeier in einer Frühschrift Hirschers, in: ThQ 43 (1963), 39–55; E. KELLER, Kult und Kultreform bei Johann B. Hirscher, in: FDA 90 (1970), 333–456; W. GROSS, Johann Baptist Hirscher und die Erneuerung der Meßfeier, in: ThQ 168 (1988), 115–126. Das Buch umfasst 285 Seiten. Andere Riten, auf die er nur kurz verweist, lässt er beiseite: „Die römische Liturgie hat in unserem Missale die höchste Vollkommenheit, welche in einer todten Sprache erreicht werden kann, erreicht, weßwegen es genügt, wenn wir sie näher betrachten“ (133). Dieses Urteil schließt inhaltliche Kritik nicht aus. Ebd., III. Ebd., VI. Vgl. die Konstitution über die heilige Liturgie „Sacrosanctum Concilium“ (1963) des Zweiten Vatikanischen Konzils Nr. 33,1: „In Liturgia enim Deus ad populum suum loquitur; Christus adhuc Evangelium annuntiat. Populus vero Deo respondet tum cantibus tum oratione“. Schon die den §§ 42–55 gegebene Hauptüberschrift „Drittes Sakrament: Das heilige Abendmahl“ signalisiert eine biblische (wie ökumenische!) Sichtweise; die Darstellung der übrigen Sakramente geht gleichfalls – ganz in der Tübinger Tradition – so weit möglich biblisch und liturgiegeschichtlich vor und mündet in der Regel, entsprechend der Zielgruppe des Buchs, in Fragen pastoralliturgischer Art oder zum Ritus. Gehringer geht es um Idealtypik, weniger um Ritualgeschichte im Einzelnen, die er voraussetzt. – Auch sein Lehrer Hirscher versucht „seinem ökumenischen Anliegen gemäß“ die zentrale Bedeutung der Messfeier „historisch von Jesu Feier des letzten Abendmahls her[zu]leiten. Dieses methodisch schwierige Unterfangen gelingt ihm nur, indem er die traditionelle Messopferlehre der Kirche weitgehend außer Acht lässt und einen ganz eigenen, etwas umständlichen Gedankengang entwickelt, der neben einer biblischen Gundlegung vor allem auf der Vätertheologie und den liturgischen Traditionen der Ostkirchen basiert“ (KÖSTER, Fall [Anm. 17], 75). Ein Entwicklungsmodell wie Gehringer bietet Hirscher nicht. 1 Kor 11, 24f. („Tut dies zu meinem Gedenken!“) ist für ihn ein Grundmotiv; immer wieder kommt er auf den christologischen Memoria-Gedanken als innere Mitte der Eucharistie zurück, vgl. etwa 136; darin folgt er ganz seinem Lehrer; vgl. KÖSTER, Fall (Anm. 17) 75.78:
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drei „Absätze“ enthielten; trotz der tiefgreifenden Wandlungen, die sie im Laufe der Zeit durchmachten, bleiben sie doch das Maß jeder wahren Eucharistie: A. 1. 2. 3.
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Jesus nahm das Brod, Jesus segnete das Brod Jesus brach, gab und sprach: Nehmet, esset, dieses ist mein Leib. Jesus nahm den Kelch Jesus segnete den Kelch Jesus gab den Kelch den anwesenden elf Jüngern79 und sprach: Trinkt alle daraus etc.
Offertorium Consecration des Brodes oder Wandlung Communion
Offertorium Consecration des Weins oder Wandlung Communion aller Anwesenden80
Aus der „einfachen“ wurde schließlich eine „künstliche Abendmahlsliturgie“ (§ 44) infolge von Ritualisierung im Zusammenhang mit der Verlagerung der Feier aus den Häusern in den Kirchenraum und ihrer schließlich täglichen Begehung. Der Tisch rückte in den Chor der Kirche und stand nun dem Volk im Kirchenschiff gegenüber. Brot- und Kelchhandlungen verschmolzen und es blieb um der Einfachheit halber nur noch die Brotkommunion übrig. Auf der dritten Entwicklungsstufe – jetzt spricht Gehringer von der „Messe“ (§ 45) – wird aus dem Tisch ein Altar, aus dem Abendmahl ein Opfer und „die Idee der Communion“ tritt in den Hintergrund. Weil das Opfer „die Hauptsache“ ist, kam es „sogar soweit, dass unter der Messe nur noch der Priester communiciert, die Laien aber außerhalb der Messe und nicht an dem Tische des Herrn gespeist werden“81. An kritischen Anmerkungen zum Römischen Canon spart Gehringer nicht und summiert: „Die Gebete sind gut gemeint, aber bei ihrem Gebrauche muß man sich in Acht nehmen, daß man sich nicht verirrt in die Vorstellung, als ob unser Opfer in die Kategorie der Opfer des alten Bundes gehörte. Unser Opfer ist von einer eigenen Art und „Hirscher baut seine Eucharistietheologie ganz auf den Gedanken der Verkündigung auf. In der Feier des Abendmahles werden Gott selbst und die Erlösung in Jesus Christus verkündigt. Dieses Verkündigungsgeschehen fasst Hirscher philosophisch mit dem Begriff der Anschauung. Die Feier des Abendmahles ist die Anschauung, d.h. die gedanklich fassbare und sinnlich erfahrbare Realwerdung der Liebe Gottes“. 79 Vgl. unten in 3.2 die Synopse zur Abendmahlsszene in der Rekonstruktion Gehringers, der zu entnehmen ist, dass Judas den Abendmahlssaal bereits vor der Einsetzung der Eucharistie (Mk 14,22–25) verlassen haben muss (Joh 13,30). 80 Wichtig ist dies Gehringer im Blick auf die Teilnahme aller Gläubigen an der sonntäglichen Messfeier; vgl. unten 3.2. 81 Ebd., 133. „Deßwegen zerfällt jetzt die Abendmahls-Liturgie in zwei Theile: die Messe und die Laiencommunion“. Auch Hirscher löste sich von der „traditionellen römischen Messopferlehre. Die Eucharistiefeier stellt nicht die Wiederholung des Opfers Christi durch den Priester dar, sondern ist für Hirscher ganz ein Akt der Realwerdung des Reiches Gottes, also ganz ein Geschehen, das ‚von oben nach unten‘ geht. Diese Realisierung geschieht in ‚mystischer Vereinigung‘“ (KÖSTER, Fall [Anm. 17], 80).
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steht so einzig da, daß die Vergleichung mit anderen Opfern nur mit wesentlichen Unterscheidungen zulässig ist“82. Im Abendmahl, so seine Überzeugung, feiert die Gemeinde das „Andenken“ an das einzigartige Paschaopfer Jesu, die Mitte seines Lebens. Kurzum: Sein idealtypisches Entwicklungsmodell dient ihm zum besseren Verständnis der gegenwärtigen römischen Liturgie in ihrem Gewordensein und damit auch in ihrer Reformfähigkeit im Geiste Jesu: „Es ist […] unsere Pflicht, es gerade so zu machen, wie es Jesus gemacht hat, und seine Worte gerade in dem Sinne zu nehmen, welchen sie in der heiligen Schrift haben“83, so erklärt er gleich zu Beginn seines Abendmahl-Kapitels. Was ihm vorschwebt bei seiner vorsichtigen Kritik am Opferkult84 – die Wiederentdeckung des Mahlcharakters der Feier und damit der Beteiligung der ganzen Gemeinde als konstitutiv für sie85 –, ist höchst bemerkenswert und weist auf das Zweite Vatikanische Konzil voraus. Man versteht, warum der „Neue Sion“ aggressiv auf das Buch reagierte86 und das „Handbuch der katholischen Liturgik“ von Valentin Thalhofer es 1883 als Auswuchs des Rationalismus verurteilte87. 82 Ebd., 138f.; zuvor heißt es: „[B]ei der Darbringung des Opfers ist der Ausdruck schielend, wenn wir zu Gott sprechen, wir bringen das Opfer de tuis donis ac datis; denn diese Geschenke und Gaben sind offenbar Brod und Wein, worauf wir hier keinen solchen Werth legen dürfen, weil unser Opfer Jesus Christus ist, und zwar so, daß die Substanz von Brod und Wein ganz verschwindet. Dasselbe gilt von dem folgenden Gebete, in welchem unser Opfer mit den Opfern Abels, Abrahams und Melchisedechs verglichen wird, wie wenn wir froh sein müßten, wenn unser Opfer Gott so angenehm wäre, wie ihm diese Opfer von Thieren, Brod und Wein waren, da doch der Leib und das Blut unseres Herrn über solche materielle Opfer unendlich erhaben sind. Dasselbe gilt von dem nächsten Gebete, wo man verlangt, ein Engel soll unser Opfer vor die Augen der göttlichen Majestät Gottes bringen, da doch unser Opfer Jesus selbst ist, der sich ohne Vermittlung eines Engels Gott selbst darstellt.“ – Vgl. ebd., 136–141 insgesamt seine Bemerkungen zu den inneren Brüchen im Canon Romanus. 83 Ebd., 126. 84 Interessant in diesem Zusammenhang sind auch seine Ausführungen „Wesen und Form der Priesterweihe“ (§ 68), wo er im Anschluss an Apg 14,23; 1Tim 4,14; 5,22 und 2Tim 1,6 erklärt: „Es gibt also eine Priesterweihe, welche durch die Auflegung der Hände der Priester und Bischöfe vollzogen wird und die Mittheilung des heil. Geistes zur Folge hat“ (194); alle anderen Symbole und Riten (in Richtung Opferpriestertum) sind seiner Überzeugung nach nur Beigaben; sie bezeichnen nicht das Wesen der Priesterweihe. Auch das weist in die Zukunft: DS 3859 (Pius XII.: Sacramentum ordinis). 85 Vgl. auch oben Anm. 36 zu Gehringers Vorstellungen zur Mögglinger Kirche und ihrem einen Altartisch; Gehringer nimmt hier etwas ganz praktisch vorweg, was später Karl Rahner im Vorfeld des Zweiten Vatikanum theologisch begründen sollte: vgl. K. RAHNER - A. HÄUSSLING, Die vielen Messen und das eine Opfer (QD 31), Freiburg 21966. 86 [Anonym], Das bischöfliche Ordinariat (Anm. 7), 665–667. Diese „Besprechung“ ist freilich reichlich konfus; wer das Buch nicht kennt, begreift erst gar nicht, worum es geht. 87 V. THALHOFER, Handbuch der katholischen Liturgik, Erster Band (Theologische Bibliothek), Freiburg 1883, 120f.: „Im Jahre 1848 veröffentlichte der Universitätsprofessor in Tübingen, Jos. Gehringer (gest. 1857 in Jerusalem), ein Compendium der Liturgik, das mit einer gewissen Selbständigkeit bearbeitet, aber noch stark vom Geist des Josephinismus durchwaltet ist. Dem Verfasser mangelt der klare und tiefere Einblick in das Wesen der katholischen Liturgie, speziell des heiligsten Opfers und seiner Wirkungen, darum trägt er mitunter Ansichten vor, die heutzutage – und zwar mit Recht – würden censurirt werden [doch siehe oben Anm. 19]; sein Buch ist der klarste Beweis, wie schwer es Manchem selbst nach dem Erscheinen von
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(3) Das letzte hier zu nennende Buch aus der Feder von Josef Gehringer – die „Theorie der Seelsorge“ – behandelt in 64 Paragraphen88 systematisch Aufgaben und Felder der Gemeindepastoral89. Im Ausgang von der biblischen Hirtenmetaphorik90 geht es Gehringer um eine Spiritualität des „Seelsorgers“91: Dessen Fürsorgepflicht für die Belange der ganzen Gemeinde stellt er im kürzeren ersten Teil, der „Allgemeinen Seelsorge“ 92, dar, während er im umfangreicheren zweiten Teil, der „Besonderen Seelsorge“93, den Gemeindeleiter als Hirten zeichnet: Wie Jesus im Evangelium94 soll er jedem einzelnen Schaf, das verloren scheint oder im Abseits der kirchlichen Gemeinschaft steht, nachgehen: den körperlich Behinderten95, den verwahrlosten Kindern und Jugendlichen, Waisen, Gleichgül-
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Schmids und Lüfts Liturgik noch fiel, aus den Fesseln der oben geschilderten rationalistischen Richtung sich loszumachen“; vgl. ebd., 108-147 § 9 („Literatur und Literaturgeschichte der Liturgik in der Josephinischen Aufklärungsperiode“) sowie § 10 („Literatur der Liturgik in neuerer und neuester Zeit“). Auf 92 Seiten; ein Anhang verzeichnet die „Literatur“ zum Thema, angefangen von den Pastoralbriefen des Apostels Paulus bis hin zu A. GRAF, Kritische Darstellung des gegenwärtigen Zustandes der praktischen Theologie, Tübingen 1841. Ihren Ort im Gesamt der wissenschaftlichen Theologie bestimmt er in der Tradition seines Lehrers J.S. Drey so: § 1 „Wenn wir die Theologie als die wissenschaftliche Lehre von dem Reiche Gottes betrachten, so unterscheiden wir drei Seiten: die speculative Theologie zeigt uns in der Dogmatik und Moral das Wesen des Reiches Gottes in der idealen Anschauung, die historische Theologie stellt in der Exegese und Kirchengeschichte das Erscheinen des Reiches Gottes in der Vergangenheit dar, die practische Theologie lehrt die Verwirklichung des Reiches Gottes in der Gegenwart und nächsten Zukunft. […]“. Vgl. M. SECKLER, Das Reich-Gottes-Motiv in den Anfängen der Katholischen Tübinger Schule (J.S. Drey und J.B. Hirscher). Zugleich ein Beitrag zur Theorie des Christentums, in: ThQ 168 (1988), 257–282. Vgl. § 2. Pastoraltheologie: Die Gemeinde, auf die sich die Pastoraltheologie bezieht, „nennt man eine Heerde, denjenigen aber, der mit Hülfe der practischen Theologie die Heerde zur Verwirklichung des Reiches Gottes leitet, einen Hirten, weil Abel, Abraham, Israel, Moses, David und andere ausgezeichnete Männer der alten Zeit die practische Theologie und die Verwirklichung des Reichs Gottes nicht in einer Schule, sondern im Hirtenleben lernten. Das Amt des Moses und des Josue war ein Hirtenamt. 4Mos 27,16-18. Gott selbst ist ein Hirt und das Volk Israel seine Heerde. Ps 94,7; Jes 40,11; Jer 31,10. Der Messias, Jesus Christus, ist ein Hirt wie sein Vater David […]; er ist der gute Hirt, der große Hirt, der Oberhirt. Joh 10,11; Hebr 13,20; 1Petr 5,1–4. Auch seine Jünger sind Hirten; denn er hat sie gesandt, wie er vom Vater gesandt worden ist. Besonders ist Petrus ein Hirt. Joh 21,15–17. Ebenso alle Mitpriester des Petrus. 1Petr 5,4“ (Theorie [Anm. 66], 2). Grundlegend ist die Fähigkeit zur Selbstkritik: „Wenn Einer bei ihm [s.c. dem Seelsorger] nicht fand, was er zu seinem Seelenheile bedurfte, so ist es ein Zeichen, daß es irgendwo in der Gemeinde oder an dem Seelsorger fehle“ (ebd., 36). Ebd., 5–18. Es geht um Katechese und Homilie sowie um die Liturgie, außerdem das Schulwesen, soweit die Kirchengemeinde daran beteiligt ist, sowie deren Verhältnis zur bürgerlichen Gemeinde. Ebd., 19–91. § 5 „Wenn ein Schaf verloren geht, verläßt er [s.c. der Hirt] die Heerde und geht dem verlorenen Schafe nach; wenn er es findet, bringt er es wieder zur Heerde zurück“ (ebd., 4). Die „Besondere Seelsorge“ setzt in § 22 [„Unfähige“] mit den folgenden Sätzen ein: „Es gibt Menschen, welche wegen einer körperlichen oder geistigen Unfähigkeit an der Katechese und Predigt nicht recht Theil nehmen können und überdieß wegen ihrer unglücklichen Lage besondere Tugenden bedürfen. Diese Unglücklichen werden oft verachtet; aber der Seelsorger
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tigen, Unentschlossenen, Trägen, Halbgelehrten, Verfolgten und Unterdrückten96. Besondere Beachtung finden die Kranken97 und die Sterbenden98. Die Armen sind Thema der „Allgemeinen“ (§ 12) wie der „Besonderen Seelsorge“ (§ 39). Weil Gehringer nirgends mit konkreten Ratschlägen geizt – überall zeigt sich die Erfahrung des bewährten Seelsorgers –, liest sich das Buch auf weite Strecken wie ein Berufsspiegel für Pfarrer. Einen besonderen Akzent legt Gehringer auf den Bildungsauftrag der Pastoral99. Vom Seelsorger selbst erwartet er: Er „muß fleißig studieren, um gute Katechesen und Predigten halten und sein Amt mit Geist verwalten zu können. Diejenigen, welche nicht mehr studieren, werden bald unerträgliche Schwätzer“100. Das ist bestes „josephinisches“ Aufklärungserbe101. Was die Bibel betrifft, so greift Gehringer in diesem der praktischen Theologie gewidmeten „Leitfaden“ naturgemäß nur selten direkt auf sie zurück102, doch beseelt ihn
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darf sie nicht verachten, denn sie sind Menschen, Glieder der Gemeinde Christi, und gehören zu jenen Kleinen, welche nicht verloren gehen sollen. Es ist daher Pflicht des Seelsorgers, sie besonders zu unterweisen und ihnen fortwährend beizustehen“ (ebd., 19). Allen diesen Personen ist jeweils ein Abschnitt gewidmet. – HIRSCHER, Zustände (Anm. 22), 52f., nennt als besonders dringliches pastorales Bedürfnis der Kirche die Rücksicht auf „die Vielen, welche ihr und dem Christenthum nur noch äußerlich angehören“, wobei sich „ein großer Teil“ von ihnen „zu den Gescheidten und Gebildeten zählen“. „Doch“ – so ironisiert er die Reaktion der Insider – „was liegt an allen diesen Ungläubigen, und wenn es ihrer auch noch so Viele wären? Sie werden die auf einen Felsen gegründete Kirche nicht zu erschüttern vermögen, und wenn sie von derselben abfallen wollen, so mögen sie! Allein solche Rede ist weder klug noch christlich. Die Ungläubigen, sagt man, werden (und wenn es ihrer auch noch so Viele wären) die auf einen Felsen gebaute Kirche nicht erschüttern. Nein, die katholische Kirche nicht, wohl aber die deutsche […]“. In § 38 [„Kranke“] lautet der erste Satz: „Der wichtigste Theil der Privatseelsorge ist der Krankenbesuch, weil auch die Seele leidet, wenn der Leib leidet, und weil der ganze Mensch gebessert und gerettet wird, wenn die Seele gebessert und gerettet wird“. GEHRINGER, Theorie (Anm. 66), 59–63 zur ars moriendi, die zu erlernen auch dem Seelsorger hilft, wenn er die schwer Kranken und Sterbenden begleitet. Dem entspricht, dass Katechese und Homilie gleich im ersten Paragraphen (= § 6) der „Allgemeinen Seelsorge“ rangieren. Dieser Teil endet mit der „Abtheilung. Wissenschaftliche Mittel: § 18 Höheres Schulwesen, § 19 Gebetbücher, § 20 Erbauungsbücher (in diesen beiden Paragraphen fordert er gut religiöse Literatur, um die „Lücken“ auszufüllen, „welche der dürftige Katechismus und das fragmentarische Evangelienbuch haben“, sowie wegen des lateinischen Meßbuchs, das auch „die religiösen Bedürfnisse des Volkes nicht befriedigt“; „die kirchlichen Gesangbücher [sind] sehr mager“), § 21 Zeitschriften. So die beiden ersten Sätze aus § 60 [„Studien“]; der ganze Paragraph (auf S. 85f.) will beherzigt werden; der Text geht so weiter: „Der rechte Geistliche setzt das Studium der ganzen Theologie fort, weil nur durch eine fleißige Beschäftigung mit der Wissenschaft die erworbenen Kenntnisse bewahrt, erweitert und angewendet werden können […].“ Vgl. MILLER, Kath.-theologische Fakultät (Anm. 3), 25, zu einem Schreiben des Rottenburger Generalvikars Jaumann von 1822 zum Bildungsauftrag der Kirche. Ein Beispiel: Was „Askese“ ist, sagt Mt 6,1–28 (Almosengeben, Beten, Fasten). „Zehen- oder vierzigstündige Gebete sind nicht zu empfehlen, weil es besser ist, eine Stunde recht, als zehen oder vierzig Stunden heidnisch (Matth. 6,7) zu beten“ (7). Askese, auch das Fasten, sollte nie befohlen, nur angeraten werden. „Würden wir die Katechese, die Predigt und die Liturgie wahrhaft verbessern; so könnten wir die Ascese nach Matth. 6,1–18. dem Ermessen eines jeden Einzelnen überlassen“ (S. 9). Oder S. 7: „Die Nächstenliebe übten die ersten Christen
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bei allem die Erinnerung an Jesus: „Der christliche Hirt ist ein Seelenhirt; denn unser Oberhirt Christus stiftete nicht ein Reich dieser Welt, sondern er rettet die Seelen. Sein Reich ist in uns; sein Wirken bezieht sich auch da, wo er Kranke heilt und Hungrige speist, auf die Seele […]. Deswegen ist jeder Pastor […] ein Seelsorger“103.
3. Die Evangeliensynopse von 1842 Die griechische Evangeliensynopse, die Josef Gehringer gleich zu Beginn seiner Tätigkeit herausgab104, wird ihm nicht nur bei seinen wiederholt angebotenen Lehrveranstaltungen zu den Evangelien hilfreich gewesen sein, sondern auch bei seinen eigenen theologischen Arbeiten, wie am Abendmahls-Kapitel der „Liturgik“ zu zeigen sein wird. Ob sie im Tübinger Lehrbetrieb auch nach seinem Verzicht auf die Professur noch Verwendung fand, erscheint eher zweifelhaft. Eine zweite Auflage erlebte sie nicht und wird auch, soweit ich sehe, in den späteren Lexikon-Artikeln zum Stichwort „Synopse“ nirgends aufgeführt105. Im Organ der Münchner Fakultät wurde sie ein Jahr nach ihrem Erscheinen freundlich besprochen106; später ist sie in Vergessenheit geraten, was sie gewiss nicht verdient.
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durch die Gütergemeinschaft und die Liebesmahle; jetzt haben wir nur noch Opfer für den Pfarrer, oder für die Bedürfnisse der Kirche, oder für den Schulfonds, Armenfonds und das Waisenhaus, so wie Collecten für arme Gemeinden, welche Kirchen oder Schulhäuser zu erbauen haben“. Ebd., 2f. Sein Vorgänger Mack hatte noch für das SS 40 die Vorlesung „Erklärung der drei ersten Evangelien – Evangeliensynopse“ angekündigt, konnte diese Vorlesung wegen seiner Zwangsversetzung nicht mehr halten (vgl. BRECHENMACHER, Aufklärung [Anm. 2], 202, Anm. 32). Gehringer bot in seinem ersten Semester Ersatz. Seine Synopse wird er aber schon länger vorbereitet haben, vgl. unten Anm. 121. Dass nicht einmal sein Fakultätskollege Benedikt Welte sie in seinen Artikeln für das WWKL erwähnt (vgl. oben Anm. 26), hängt wohl damit zusammen, dass er zur anderen „Partei“ der „Möhlerianer“ gehörte (REINHARDT, Katholisch-Theologische Fakultät [Anm. 12], 24f.) und im Berufungsverfahren Gehringers Konkurrent gewesen war (BRECHENMACHER, Aufklärung [Anm. 2], 205). – Unerwähnt bleibt die Synopse bei W.G. KÜMMEL, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme (OA), München 21970, wo aber die katholische Exegese, abgesehen von R. Simon und M. Lagrange, überhaupt nicht vorkommt. Ohne Unterzeichner, in: Archiv für theologische Literatur. In Verbindung mit mehreren Gelehrten hg. von den Professoren der theologischen Fakultät der Universität München 2 (1843) 32–43.
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3.1 Die Grundsätze der Evangeliensynopse Wie schon der Titel: „Synoptische Zusammenstellung des griechischen Textes der vier Evangelien nach den Grundsätzen der authentischen Harmonie“107 zeigt, handelt es sich eigentlich um einen Zwitter: formal eine Synopse, faktisch aber eine Harmonie. Wer das Buch von vorne bis hinten durchliest, kann in der Akoluthie der Perikopen das Leben Jesu authentisch mitverfolgen, angefangen von seiner Geburt und der des Täufers bis hin zur Himmelfahrt des Herrn: „[A]lle Widersprüche (sind) durch wohlgegründete und einfache Versetzung ohne Beeinträchtigung gelöst“108. Das dürfte auch das eigentliche Ziel des Buches sein: die Begegnung mit dem historischen Jesus zu ermöglichen109. Da aber das Wiedersichtbarmachen der authentischen Abfolge der Ereignisse seines Lebens nur das Eine ist, die vielfältigen Divergenzen der Evangelien untereinander, die nicht nur die Abfolge betreffen, das Andere, präsentiert sich die Harmonie zugleich als Synopse, welche die Divergenzen sinnenfällig macht. Genau dieser Doppelcharakter des Werks als Harmonie und Synopse unterscheidet es von seinem berühmten Vorgänger auf evangelischer Seite, der Synopse von Johann Jakob Griesbach von 1776110, seit deren Erscheinen es üblich wurde, von den „Synoptikern“ zu sprechen. Griesbach bezweifelte – so auch laut Gehringer im Vorwort seiner Synopse –, „ob man überhaupt eine harmonistische Erzählung aus den Büchern der Evangelisten komponieren kann, die in bezug auf die chronologische Reihenfolge der Perikopen ausreichend mit der Wirklichkeit übereinstimmt und die auf sicheren
107 J. GEHRINGER, Synoptische Zusammenstellung des griechischen Textes der vier Evangelien nach den Grundsätzen der authentischen Harmonie, Tübingen 1842, XX + 148. Der Vorspann (ohne Titel) enthält eine Darstellung der Grundsätze sowie ein synoptisches „Verzeichnis der Abschnitte“ (XV–XX). Das Werk beschließt eine „Nachweisung der Stellen der vier Evangelien“ (147f.). 108 Ebd., XIII; vgl. auch die nächste Anm. sowie Anm. 140. Darin entspricht Gehringer also seinen Vorgängern (vgl. oben Anm. 24). 109 So kritisiert Gehringer auch die Synopse Griesbachs (zu ihr vgl. unten), weil sie nicht gewähre, „was der Christ bedarf, weil sie es unentschieden lässt, ob die Evangelisten übereinstimmende Zeugen wahrer Begebenheiten seyen, oder ob ihr Zeugniss durch unauflösbare und wesentliche Widersprüche entkräftet werde. Der Christ aber, dem es mit dem Glauben ernst ist, will wissen, woran er sey. Das Bedürfniss einer Entscheidung ist durch den gegenwärtigen Charakter der Kritik noch grösser geworden, weil es scheint, die negative Kritik habe den Sieg errungen, wenn die Freunde des Evangeliums es nicht mehr wagen, nach der Harmonie der Evangelien zu fragen. Dazu kommt noch das historische Bedürfniss, weil es den meisten Lesern der Evangelien ohne harmonische Synopse sehr schwer fällt, eine wohlgeordnete und zusammenhängende historische Uebersicht über das Leben Jesu zu gewinnen“ (ebd., III). 110 Synopsis Evangeliorum Matthäi Marci et Lucae una cum iis Joannis pericopis quae onmino cum caeterorum Evangelistarum narrationibus conferendae sunt. Textum recensuit […] J.J. GRIESBACH, Halle 1776; sie wurde immer wieder neu aufgelegt und dabei kontinuierlich verbessert. Gehringer bezieht sich auf die durch De Wette und Lücke 1818 überarbeitete und immer wieder neu aufgelegte Ausgabe der Synopse.
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Fundamenten aufgebaut ist“111. Dem entsprechend bietet Griesbach die synoptischen Perikopen in seinem Werk jeweils dreimal, zuerst in der Ordnung des Matthäus, dann des Markus und schließlich des Lukas112. Er verzichtet also genau auf das, was Gehringer für unverzichtbar hält: auf den roten Faden, d.h. die Rekonstruktion der angeblich authentischen, ursprünglichen Abfolge der Geschehnisse. Weil sich Gehringer in seiner Synopse genau dieser Rekonstruktion verschreibt, kann jede Perikope bei ihm nur an einer Stelle dieser seiner vorgeblichen Vita Jesu erscheinen. Der subjektive Faktor ist damit in seiner Synopse unvergleichlich höher als in der von Griesbach, der (im Unterschied zu Gehringer) die eigene Hypothese zur Entstehung der Evangelien nicht zur Grundlage seiner Synopse gemacht hatte113. Zu seinem Spagat zwischen der uralten Versuchung zu harmonisieren einerseits und der Anerkennung der je spezifischen Qualität der vier Evangelien andererseits ist Gehringer durch die traditionelle Überzeugung von der grundsätzlichen Historizität der Evangelien genötigt. Doch bringt er jetzt Unterscheidungen an, die aus seinem eigenen Versuch resultieren, Licht ins Dickicht der synoptischen und johanneischen Frage zu bringen. Er unterscheidet zwischen „Originalschriftstellern“ und „abgeleiteten Quellen“. Damit scheint er zwar der Linie der alten Kirche, die immer schon zwischen den Evangelien der Apostel (Matthäus – Johannes) und denen ihrer Schüler bzw. Begleiter (Markus [Petrus] – Lukas [Paulus]) unterschieden hat, zu folgen, schichtet das traditionelle Einleitungswissen der Kirche aber doch um. Wie er sich die Quellenverhältnisse im Einzelnen vorstellt, sei mit dem folgenden Schema veranschaulicht114: RQMt (hebr.)
(R)QLk („Dritte Sammlung“)
Mk
Mt
Lk Joh
111 Aus der lateinischen Vorrede zur zweiten Auflage von 1797, von W.G. Kümmel übersetzt nach der 4. Aufl. von 1822, VIIIf., in: KÜMMEL, Das Neue Testament (Anm. 105), 89; Griesbach fährt dort fort: „Wie nun? Wenn keiner der Evangelisten irgendwo der zeitlichen Reihenfolge genau gefolgt ist? Und wenn nicht genügend Beweise vorhanden sind, aus denen zu erheben wäre, wer und an welcher Stelle er von der chronologischen Ordnung abweicht? Und zu dieser Häresie bekenne ich mich“. 112 Ähnlich noch K. ALAND, Synopsis Quattuor Evangeliorum, Stuttgart 1963, 1. Auflage, der die Großteile der Synoptiker (wie des Joh) mehrfach wiedergibt, z.B. die Grundsatzrede Jesu einmal in der Ordnung des Mt (Bergpredigt), andermal in der des Lk (Feldrede). 113 Auch K. ALAND legte bei seiner Synopse Wert darauf, dass sie „unabhängig von allen Quellentheorien benutzt“ werden kann, „denn jedes der vier Evangelien ist in seinem Zusammenhang abgedruckt“ (ebd.: Vorwort zur 1. Auflage). 114 Mit dem Siglum RQ bezeichne ich die von Gehringer postulierten „Redenquellen“ – Vorläufer der späteren „Logienquelle“.
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Als Wegbereiter der Zwei-Quellen-Theorie gelten der Forschung seit langem der Philologe Carl Lachmann (1835)115, der Philosoph Christian Hermann Weisse (1838)116 sowie Gottlob Christian Wilke (1838)117. Umso überraschter ist man nun, wenn man in der Einleitung der Gehringer-Synopse liest: „Schon mein ehrwürdiger Lehrer Feilmoser hatte es klar eingesehen, dass nur dann eine wahre Harmonie der Evangelien herauskomme, wenn man das Evangelium des Marcus zu Grunde lege. Mit dieser Idee meines Lehrers hatte ich mich schon zehen Jahre lang beschäftigt, als zwei grosse Gelehrte, Weisse und Wilke, unabhängig voneinander, den Beweis führten, das Evangelium des Marcus sey das Urevangelium, aus welchem Matthäus und Lucas geschöpft haben“118. Mit diesem Ariadne-Faden in der Hand hatte Gehringer also, lange bevor die bahnbrechenden Arbeiten im evangelischen Raum erschienen, auf den Spuren seines Lehrers119 den Weg aus dem Labyrinth der synoptischen Frage gesucht. Für ihn ist Markus dem Zeugnis des Papias entsprechend „ein Originalwerk aus einer einzigen Quelle, der Erzählung des Petrus, geschöpft, und selbständig ausgearbeitet“120; schon 1839 hatte er 115 C. LACHMANN, De ordine narrationum in evangeliis synopticis, in: ThStKr 8 (1835), Bd. 2, Heft 3, 570–590; er argumentierte zugunsten der Markus-Priorität damit, dass die Übereinstimmungen der drei Synoptiker in der Reihenfolge ihrer Erzählungen nur so weit reichen, als die beiden Großevangelisten mit der Reihenfolge des Mk übereinstimmen; wo sie von dieser abweichen, weichen sie auch voneinander ab, wobei sich ihre Abweichungen jeweils redaktionell erklären lassen. 116 C.H. WEISSE, Die evangelische Geschichte kritisch und philosophisch bearbeitet, Teil I und II, Leipzig 1838; er erkannte als erster, dass Matthäus und Lukas dort, wo sie unabhängig von Markus miteinander übereinstimmen, neben dem ältesten Evangelisten über eine zweite Quelle verfügen müssten. Diese wurde unter Bezug auf Bischof Papias von Hierapolis (1. Hälfte des 2. Jh.s) zunächst als Sammlung von aramäischen Jesus-Aussprüchen verstanden. 117 C.G. WILKE, Der Urevangelist oder exegetisch kritische Untersuchung über das Verwandtschaftsverhältniß der drei ersten Evangelien, Dresden-Leipzig 1838. 118 GEHRINGER, Zusammenstellung (Anm. 107), IV; „[g]lücklicher Weise ist uns gerade jetzt, wo das Bedürfnis einer harmonischen Synopse so dringend ist, der Faden, welcher aus dem Labyrinthe führen kann, dargereicht“; S. IV–VI bietet er einige schöne Beispiele, an denen er seinen Lesern am griechischen Text (der Complutenser Rezension) die Markus-Priorität vorführt (Mt 4,18–22 par. Mk 1,16–20; Mt 20,22 par. Mk 10,38; Lk 8,17 par. Mk 4,22). – Den Text von C. Lachmann (1835) (s. oben Anm. 115) hat Gehringer offenbar nicht gekannt. 119 Der Hinweis auf seinen Lehrer (anders in der Bespr. Nr. 1 [Anm. 19], 80f.) überrascht; er kann sich nur auf Gespräche mit ihm oder auf seine Vorlesungen beziehen, denn schriftlich hat Feilmoser sich nirgends derart eindeutig positioniert; vgl. A.B. FEILMOSER, Einleitung in die Bücher des neuen Bundes, Innsbruck 1804; sowie DERS., Einleitung in die Bücher des neuen Bundes: für die öffentlichen Vorlesungen, Tübingen 1830, 63f.: Das Markusevangelium sei „von Mt zugrunde gelegt, einerseits ansehnlich vermehrt, andererseits aber auch durch Weglassung einzelner Umstände […] abgekürzt“ worden; gegen die Mk-Priorität spreche aber die „allgemeine Stimme des Alterthums“ sowie die Beobachtung, dass Mt bei seiner „Aemsigkeit, die Lehrsprüche Jesu aufzusammeln, die Gleichnisrede von dem selbständigen Wachstume des Saatkorns (Matth [gemeint ist: Mk], IV., 26–29)“ doch „schwerlich übergangen haben würde“; schließlich tendiert Feilmoser zur Urevangeliumshypothese von J.G. Eichhorn (vgl. KÜMMEL, Das Neue Testament [Anm. 105], 92–94). – Zu Feilmoser vgl. den Beitrag von M. Blum in diesem Bd. 120 GEHRINGER, Zusammenstellung (Anm. 107), VI. In jüngster Zeit verknüpft vor allem M. HENGEL das Markusevangelium mit der Autorität des Petrus; aus seinen vielen Äußerungen
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dies in einer wichtigen Buchsprechung anhand eines ausgiebigen Vergleichs der beiden Großevangelien Mt und Lk mit dem kürzeren Mk demonstriert121. Man kann also nicht sagen: „In seinen exegetischen Veröffentlichungen übernahm Gehringer als erster Katholik die 1835 erstmals formulierte so genannte ZweiQuellen-Theorie zur Entstehung der Evangelien (Synoptiker), die noch nach 1900 zu schweren Konflikten in der katholischen Kirche führen sollte“122. Gehringer hat nichts „übernommen“, er hat die eigenen Ideen (bzw. die seines Lehrers Feilmoser) selbständig entwickelt, was sich auch daran zeigt, dass das von ihm vorgelegte Modell keineswegs mit dem der Zwei-Quellen-Theorie einfach deckungsgleich ist123. Den zweiten „Originalschriftsteller“ erkennt Gehringer in Johannes, wobei dieser und Markus seiner Meinung nach „an Ansehen einander gleichstehen“124. Das besondere Profil des Johannes spielt er allerdings herunter, wenn er meint: „Die Frage, ob Johannes ein Synoptiker sey, möchte ich beinahe bejahen“125. Aufgrund der von ihm sehr hellsichtig festgestellten Berührungen zwischen Johannes und Lukas mag er sich dann aber nur bis zu der These vorwagen, dass Johannes dessen Evangelium (auch das des Mk) „gelesen“ haben müsse126; ob auch Mt, lässt er offen.
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hierzu vgl. zuletzt: Markus, der Schüler des Petrus, in: Der unterschätzte Petrus. Zwei Studien, Tübingen 2006, 58–78. Es handelt sich um die oben in Anm. 19 genannte Besprechung Nr. 12, die 1839 erschienen ist, insbesondere um den Abschnitt 259-285, in dem Gehringer anhand vieler Beispiele anschaulich zeigt: „Markus ist der erste Synoptiker, Matthäus und Lukas haben das kurze Evangelium erweitert – was gewiß keine zu kühne Behauptung ist, denn wer kann das Gegenteil beweisen?“ (jedenfalls nicht der Autor des rezensierten Buches mit seiner These der Matthäus-Priorität!). H.H. SCHWEDT, Art. Gehringer (Anm. 9), 468 (Kursive von mir). Der entscheidende Unterschied ist die von ihm postulierte Nicht-Identität von RQMt und (R)QLk (siehe S. 174). Zu bedenken ist auch, dass die Zwei-Quellen-Theorie 1835 noch nicht ausgereift war, sondern sich noch entwickelte. Erst H.J. HOLTZMANN verhalf ihr 1863 mit seinem Buch „Die synoptischen Evangelien, ihr Ursprung und geschichtlicher Charakter“ in ihrer heute bekannten Gestalt „zu breiter und dauerhafter Akzeptanz – vor allem gegen die Tübinger Schule, die die Griesbach-Hypothese favorisierte, wonach von Matthäus als erstem Evangelium Lukas abhängig sei, Markus wiederum von Matthäus und Lukas“ (C. HEIL-P. HOFFMANN, Die Spruchquelle Q. Studienausgabe Griechisch und Deutsch, DarmstadtLeuven 32009, 12). Letzteres zeigt auch, in welchem Umfeld Gehringer seine Ideen in Tübingen entwickelte; F.C. Baur (seit 1826 an der Evangelischen Fakultät bis zu seinem Tod 1860) war sein Kollege. Vgl. auch KÜMMEL, Das Neue Testament (Anm. 105). GEHRINGER, Zusammenstellung (Anm. 107), XI; vgl. auch VII. Ebd., VII; er fährt fort: denn Johannes kommt „den drei ersten Evangelisten in der Auffassung der Begebenheiten und in der Ausdrucksweise oft so nahe […], dass man meint, Johannes müsse vorher den Lucas oder den Marcus gelesen haben. Johannes hat 28 synoptische Abschnitte, und die übrigen Stücke passen so gut in die Ordnung der übrigen Evangelisten, dass er in einer harmonischen Synopsis nicht fehlen darf.“ Ebd., VII; als Beweis führt er das Joh 20,1 und Lk 24,1 (gegen Mk 16,1.2; Mt 28,1) gemeinsame Th/| de. mia/| tw/n sabba,twn an: „Der Ausdruck […] ist so ungewöhnlich, dass Johannes darin nicht mit Lucas übereinstimmen könnte, wenn er nicht das Evangelium des Lucas gelesen hätte; denn der heilige Geist inspirirt nur Gedanken, nicht aber die Verwechslung der
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Um die „Verwandtschaft zwischen Matthäus und Lucas“127 zu erklären, gelangt er zu einer recht komplexen Lösung, die aber schon das spätere Modell der „Redenquelle“ (= RQ) erahnen lässt. Zunächst postuliert er für Matthäus als zweite Quelle neben Mk noch eine schriftliche „Sammlung der Reden des Herrn“, die er mit Papias gleichfalls Matthäus zuschreibt, der sie aber (im Unterschied zu seinem späteren Evangelium) schon früher auf Hebräisch abgefasst haben soll. Lukas habe aus Matthäus geschöpft – so Gehringer –, aber neben Markus und Matthäus hätte er noch eine weitere, von ihm sog. „dritte Sammlung“ benutzt128. Vor allem die „Anekdotensammlung in der Mitte des Evangeliums des Lucas“, womit er den in der Tat amorph erscheinenden sog. Reisebericht des dritten Evangelisten (Lk 9,51–19,27) meint, führte ihn auf diese Spur129. „Diese dritte Sammlung, welche etliche Mal mit Matthäus zusammentrifft, übertrifft den Matthäus an Vollständigkeit und Genauigkeit“. Da bei dieser Sammlung insbesondere an das sog. lukanische Sondergut zu denken ist, handelt es sich bei ihr nicht um eine „Redenquelle“, sondern um ein mit Logiengut durchsetztes Erzählwerk ([R]Qlk), dessen genaueres Verhältnis zu RQmt Gehringer offen lässt. Damit sind die Quellenverhältnisse klar, auf deren Basis er die Vita Jesu als den roten Faden seiner Synopse zu rekonstruieren sucht. Entscheidend hierfür sind die beiden „Originalquellen“, die mehr Autorität besitzen als die „abgeleiteten Quellen“130, also erstens das Buch des Petrusbegleiters Markus, der als „Geschichtsschreiber“ den Vorzug vor Matthäus verdient131 und „eine viel passendere Ordnung“ bietet als die anderen Synoptiker132, sowie zweitens das Evangelium des Johannes, das sich „gut“ in dessen Ordnung einpasst133. „Als Sammler von Lehrsätzen“ verdient freilich Matthäus den Vorzug
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Cardinalzahl mit der Ordinalzahl“. Aber Gehringer macht nicht nur unmittelbare Bezüge zwischen Joh und Lk geltend, sondern auch mittelbare, und zwar über die „dritte Quelle“ des Lk (vgl. unten Anm. 128). Ebd., VI; Bezüge zwischen Mt und Lk habe „Weisse noch gar nicht, Wilke nur oberflächlich untersucht“. Ebd.: „Auf diese drei Quellen passt das genau, was Lucas in seiner Vorrede von seinen Vorgängern sagt“. Ebd.: „[E]s gelang mir so lange nicht, in die Anekdotensammlung in der Mitte des Evangeliums des Lucas Ordnung zu bringen, bis ich Wilke’s Ansicht [Matthäus habe aus Lukas geschöpft] aufgab, und umgekehrt annahm, Lucas habe aus Matthäus geschöpft. Sobald man aus jener Sammlung Alles, was Lucas mit Matthäus gemein hat, ausscheidet, und dahin setzt, wohin es nach Matthäus gehört, fügt sich der Rest nicht nur überhaupt in eine Ordnung, sondern in die Ordnung der evangelischen Geschichte“. Ebd., VI. Ebd., IX. Ebd., VII. „Was die eklektische Harmonie [er meint Griesbachs Synopse] durch ein unsicheres Hin- und Herschwanken zu erreichen sucht, das findet die authentische sicher, weil es auf ihrem Wege liegt; denn wer dem Marcus constant folgt, findet eine viel passendere Ordnung, als der, welcher bald bei Matthäus, bald bei Marcus, bald bei Lucas anklopft.“ Ebd., VII; ein schönes Beispiel für die Art und Weise seines Argumentierens ist Gehringers Behandlung der Perikope von der Salbung Jesu in Bethanien: „Die Salbung in Bethanien erzählt Johannes früher als Marcus. Matthäus stimmt dem Marcus bei, Lucas aber stimmt gegen Marcus, und zeigt durch die Auslassung, Marcus habe die Geschichte so locker eingefügt,
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vor Markus134, auch gegenüber Lukas, soweit dieser aus ihm geschöpft hat135. Bei „den historischen Abschnitten des Lucas“, meint hingegen Gehringer, „gehen wir sicher; denn seine unbekannte Quelle bewährt sich dadurch als zuverlässig, dass diese Abschnitte passende Mittelglieder zwischen Marcus und Johannes abgeben“136. Diese eher allgemeinen Aussagen zum mutmaßlichen Geschichtswert der erhobenen Quellen reichen freilich zur Bestimmung der ursprünglichen „Ordnung“ der Ereignisabfolge, die in den Evangelien zuweilen durch „Versetzungen“ (XII) verdunkelt wurde, nicht aus. Um solche „Versetzungen“ zu erkennen, ist nach den Gründen zu fahnden, die einen Autor dazu veranlasst haben könnten, von einer in der „Originalquelle“ vorgegebenen „chronologischen Aufeinanderfolge“ oder „geographischen Ortsbestimmung“ oder sonst einer „logischen Verknüpfung“ abzuweichen137. Zur zeitlichen Einordnung der Sitzung des Synhedriums in der Passionserzählung durch Lukas etwa merkt Gehringer an: „Lucas hat auch den [sic!] Verhör in die Morgenstunde versetzt, wahrscheinlich, weil er annahm, es habe sich für das Synedrium nicht geschickt, in einer unordentlichen Versammlung in der Wohnung des Annas zur Nachtzeit Jesus zu verhören. Allein nach dem Zeugnis der andern Evangelisten erlaubten sich die Mitglieder des Synedriums wirklich diese Ordnungswidrigkeit, und thaten in der ordentlichen Versammlung am Morgen nichts mehr, als den in der Nacht gefassten Beschluss reassumiren und ausführen“138. Die jüngere Lukasforschung würde dem ohne weiteres zu-
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dass man an jener Stelle gar nichts vermisse, wenn man sie auslasse. Dagegen hat Johannes diesen Abschnitt so organisch eingefügt, dass eine unnatürliche Lücke entsteht, wenn sie da ausgelassen wird. Weil also das Zeugnis des Matthäus durch das Schweigen des Lucas neutralisiert wird, weil Johannes und Marcus an Ansehen einander gleichstehen; so hat derjenige von beiden die rechte Stelle gefunden, welcher ausdrücklich sagt, in welche Zeit die Salbung gehöre. Wir setzen daher auf die Auctorität des Johannes hin die Salbung vor den feierlichen Einzug. Dadurch wird der Auctorität des Marcus nichts vergeben, weil er nicht positiv sagt, wann Jesus gesalbt worden sey“ (XI). Ebd., IX. Ebd., VI; „mit einer Ausnahme“, meint Gehringer: „Bei der Aussendung der zwölf Apostel hat nämlich Matthäus eine Sammlung von Reden, welche nicht chronologisch geordnet sind, sondern offenbar gegen die Zeitordnung anstossen. Lucas hat daher Recht, wenn er trennt, und das, was Matthäus zu frühe gesetzt hat, in eine spätere Zeit setzt. Aber nur in einem Stücke ist das volle Recht auf Seite des Lucas, da, wo er, auf das Ansehen seiner dritten Quelle gestützt, etwas, was Matthäus auf die 12 Jünger bezogen hatte, in die Geschichte der 72 Jünger versetzt […]“. Hier geht es – aus der Perspektive der Zweiquellentheorie gesprochen – um die markinische Aussendungsrede (Mk 6,7–13; Lk 9,1–6; Mt 10 partim) und die der Logienquelle (Lk 10,1–16 par. Mt 10 partim), die der erste Evangelist miteinander verschmolzen, der dritte aber auf zwei verschiedene Abschnitte verteilt hat. Ebd., VII. Ebd., VI „[…] in der chronologischen Aufeinanderfolge, in der geographischen Ortsbestimmung und in der logischen und grammatischen Satzverbindung hat die Originalquelle mehr Auctorität, als die abgeleitete Quelle“. Ebd., XII.
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stimmen139. Des Öfteren sieht Gehringer seine Einschätzung der Originalquellen auch durch deren plausible oder, wie er sagt, „passende“ Ordnung bestätigt140. Leider entfaltet er nicht, was nach ihm „passend“ ist141 – er geht davon aus, dass dies beim Lesen seiner Synopse selbst transparent wird. Auch hat er seine synoptische Theorie später nie monographisch ausgearbeitet, was zu bedauern ist142. Dafür war seine Tübinger-Zeit zu kurz, die Lehrverpflichtungen zu vielfältig und sein Interesse letztlich dann doch stärker den pastoral-theologischen Fragen zugewandt. Immerhin diente ihm seine wegweisende Synopse wohl nicht nur als Arbeitsmittel, sondern sie inspirierte ihn auch theologisch. Das sei im Anschluss an die obigen Ausführungen zu seiner „Liturgik“ an seiner synoptischen Harmonie der Abendmahlsszene gezeigt. 3.2 Ein Fallbeispiel: Die Abendmahlsszene Den ursprünglichen Ablauf des letzten Mahls Jesu geben die beiden „Originalquellen“ zu erkennen, das Johannes- und das Markusevangelium, wenn man ihre Darstellungen miteinander verzahnt und dabei beobachtet, wo sie jeweils von den 139 Vgl. etwa E. HEUSLER, Kapitalprozesse im lukanischen Doppelwerk. Die Verfahren gegen Jesus und Paulus in exegetischer und rechtshistorischer Analyse (NTA.NF 38), Münster 2000. 140 Vgl. sein Zitat oben in Anm. 109; außerdem ebd., XIII: „Unser Verfahren ist also gerechtfertigt, weil wir immer einer gültigen Auctorität, und in Collisionen der Auctorität des ursprünglichen Zeugen folgen. Der Erfolg gibt die Probe der Wahrheit; denn das Resultat ist, dass alle Widersprüche durch wohlgegründete und einfache Versetzungen ohne Beeinträchtigung gelöst werden.“ 141 Des Öfteren fällt er solche Urteile. Er spricht von der „Güte der Ordnung“ (IX), vom „natürliche[n] Zusammenhang der Begebenheiten“ (VIII, X), vom „dunkle[n] Gefühl des Passenden“ (VII), nennt etwas „wohlgeordnet“ oder „gut geordnet“, „passend“ (IX) oder „natürlich“ (X). „Nun ist Lucas wieder allein, hat aber eine gute Ordnung, wenn wir die Stücke, welche schon da gewesen sind, nicht mehr wiederholen“ (X). Was Gehringer hier vorschwebt, ist wohl eine wie auch immer zu definierende narrative Logik oder Plausibilität 142 Da es ihm entsprechend der harmonistischen Absicht seiner Synopse immer nur um die rechte „Ordnung“ oder „Abfolge“ der Perikopen geht, berührt er in den Fällen, in denen zwei Fassungen ein- und derselben Geschichte miteinander konkurrieren (so in der Erzählung von der Salbung Jesu in Bethanien [vgl. oben Anm. 133 sowie am Ende dieser Anm.]), nirgends die Frage, welche der beiden Fassungen in welcher Hinsicht die ursprünglichere sein könnte. Allerdings sah er zu dieser Frage entsprechend seiner historisierenden Sicht der Texte auch nur selten Anlass, da er miteinander verwandte Perikopen, die seit der Überlieferungskritik des 20. Jh. als Varianten einer einzigen Überlieferung eingestuft werden, für Wiedergaben von zwei unterschiedlichen Geschehnissen im Leben Jesu oder unterschiedlichen Redestücken Jesu hält. So hat nach seiner Überzeugung Jesus tatsächlich das eine Mal 5000, das andere Mal 4000 Menschen in der Einsamkeit gespeist, den Sohn des königlichen Dieners (Nr. 28), aber auch den Knecht des Hauptmanns gesund gemacht (Nr. 49), wurde im Haus des Pharisäers Simon von einer Sünderin gesalbt“ (Nr. 53), aber auch von Maria in Bethanien (Nr. 127; immerhin setzt er hier Lk 7,36–50 in Klammer hinzu). – Zum Gleichnis von den Minen, Lk 19,11–27, erklärt er: „Lucas schöpft die Erzählung von Zacchäus und das Gleichniss von den Minen aus seiner dritten Quelle. Weil Lucas dieses Gleichniss nicht aus Matthäus geschöpft hat, ist es auch nicht identisch mit dem Gleichniss von den Talenten“ (XI).
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„abgeleiteten Quellen“ unterstützt werden. Wir haben damit ein schönes Beispiel einer die einzelnen Texteinheiten geschickt nach Art eines Mosaiks zusammenfügenden Harmonie vor uns, die freilich an traditionelle Lösungswege anknüpfen konnte143. Das folgende Schema – es orientiert sich an Gehringers „Verzeichnis der Abschnitte“144 – erleichtert den Überblick: Nr. 160 161 162
163 164 165
166 167
Inhalt Liebe Jesu. Rangstreit der Jünger Bezeichnung des Verräters Verherrlichung Gottes. Gebot der Liebe Einsetzung der Eucharistie Rede Jesu nach dem Essen Jesus sagt den Jüngern, sie werden ihn verlassen Bedarf der Schwerter Reden auf dem Wege
Matthäus
Markus
26,21–25
14,18–21
Lukas 22,15145–16. [24-30]. [22,21–23]
Johannes 13,1–17
1Kor
13,18–30 13,31–35
26,26–29
14,22–25
22,17–20
11,23–26 14,1–31
26,30–35
14,26–31
22,31–34
[13,36–38]
22,35–38 15.16.17
Zunächst einmal zeigt der Fettdruck von Spalte zu Spalte den vor allem aus den beiden Hauptzeugen Markus und Johannes gebildeten roten Faden der Geschehnisse, wobei Johannes aufgrund seines viel umfangreicheren Stoffes die Führungsrolle innehat146. Von Lukas flankiert bietet der Vierte Evangelist auch die großräumige Eröffnung der Szene, wobei nur er von der Fußwaschung erzählt147. 143 Man vgl. seine Harmonie etwa mit der auf Tatian zurückgehenden Diatessaron-Tradition: E. PREUSCHEN, Tatians Diatessaron. Aus dem Arabischen übersetzt. Mit einer einleitenden Abhandlung und textkritischen Anmerkungen (hg. von A. Pott), Heidelberg 1926, 206ff.: auch sie verknüpft, um nur ein Beispiel zu nennen, Joh 13,1–30 (+31f.) mit Mk 14,22–25 (+ Mt). 144 GEHRINGER, Zusammenstellung (Anm. 107), IX. und X. Die erste Spalte verzeichnet die laufenden Nummern der Synopse. 145 Die Notiz vom Sich-zu-Tisch-Niederlassen Jesu bzw. seinem Kommen mit den Aposteln oder den Zwölfen, Lk 22,14 par. Mk 14,17; Mt 26,20, zieht Gehringer noch zur vorangehenden Einheit („Zurüstung des Ostermahls“: vgl. Nr. 159). 146 Die kursiv gesetzten Stellenangaben zeigen an, dass hier die „Orginalquelle“ durch eine „abgeleitete“ unterstützt wird; bei den in eckige Klammern gesetzten Angaben handelt es sich um „Versetzungen“ durch den jeweiligen Evangelisten, wobei die Passagen jetzt in der Synopse dort stehen, wo sie nach der authentischen Harmonie hingehören. 147 Folgende Parallelen dürfte Gehringer sehen: zuerst den Gedanken der Liebe, wobei ihm als Brücke zwischen Lk 22,15 und Joh 13 die etymologische Figur bei Lukas gedient haben dürfte, die er als Ausdruck der Liebe Jesu zu den Seinen verstanden haben wird: „Sehnsüchtig habe ich mich danach gesehnt (evpiqumi,a| evpequ,mhsa), dieses Passa mit euch zu essen vor mei-
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An einer Stelle muss er allerdings der Ordnung des Markus den Vortritt lassen, nämlich bei der Ansage der Jüngerflucht. Deren ursprüngliche Position ist dem ältesten Evangelisten zufolge, worin er von Matthäus (und indirekt auch von Lukas148) unterstützt wird, nach der „Einsetzung der Eucharistie“, genauer, nachdem Jesus mit seinen Jüngern vom Mahl aufgebrochen und nun auf dem Weg zum Ölberg ist. Für die Harmonie hat das zur Folge, dass wegen des bei Johannes erst in 14,31 erfolgenden Aufbruchsignals („Steht auf, lasst uns von hier weggehen“) die Rede Joh 14 noch zur Mahlszene gehört, wohingegen die Reden Joh 15–17 „Reden auf dem Wege“ sein müssen. Dann hat die „Einsetzung der Eucharistie“ nur zwischen Joh 13,31–35 und Joh 14 Platz und erfolgte – das freilich gegen die Synoptiker – in Abwesenheit des Judas, der nach Joh 13,30 bereits seinen Weg in die „Nacht“ angetreten hatte. An dieser Stelle kommt einem die „Liturgik“ von Gehringer in den Sinn, wo er dies aufgreift und im Interesse seiner Idee von der aktiven Teilnahme der ganzen Gemeinde am eucharistischen Mahl erklärt, dass „alle Anwesenden“ gegessen hätten von dem einen Brot und getrunken von dem einen Kelch, alle, die wirklich Jesu Wort glaubten, obwohl auch sie dann bei der Gefangennahme Jesu die Flucht ergriffen149. Wichtiger noch ist aber die folgende Beobachtung: In der Harmonie ist jetzt die „Einsetzung der Eucharistie“ – die Keimzelle des christlichen Gottesdienstes – von Joh 13,31–35 und Joh 14 umrahmt und folglich von hierher zu deuten. Kurz bevor Jesus den Seinen das Brot bricht, erklärt er: „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebt, wie ich euch geliebt habe, dass auch ihr einander liebt. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“ (Joh 13,34f.). Und auf dem Weg zum Ölberg führt er aus: „Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe!“ Hier – in diesen Worten, mit denen Jesus das Wesen der von ihm gestifteten „Eucharistie“ ausspricht, so Gehringers Überzeugung – liegt auch der Grund seines Liturgieverständnisses als eines Geschehens, in dem ein Dialog geschieht: ein Dialog zwischen Gott, der den Menschen seine Liebe im Mahl Jesu zusagt, und den Menschen, die Gott lobpreisend und ihm dankend mit ihrer Liebe zu ihm und untereinander antworten. nem Leiden“; hierzu ist dann Joh 13,1: „da er die Seinen in der Welt liebte, liebte er sie bis zum Ende“ zu stellen. Sodann die Parallelen zwischen Lk 22,24–30 und der Fußwaschungsszene von Joh 13, die sich nicht nur auf die „Lehre“ erstrecken, die Jesus aus seinem symbolischen Handeln zieht, sondern auch dieses Handeln selbst betreffen: „[…] der Größte unter euch soll sein wie der Jüngste und der Führende wie der Dienende (Lk 22,26). Denn wer ist größer, der zu Tisch liegt oder der dient? Ich aber bin unter euch als der Dienende (Lk 22,27)“. Kann V.27 als prägnante Zusammenfassung der Fußwaschung verstanden werden, so entspricht V.26 Joh 13,16: „Amen, amen, ich sage euch: Der Knecht ist nicht größer als sein Herr, und auch nicht der Gesandte größer als der, der ihn gesandt hat“. 148 Auch Lukas hat hier allerdings eine „Versetzung“ vorgenommen, insofern er die Bezeichnung des Verräters durch Jesus erst nach der „Einsetzung der Eucharistie“ bietet, unmittelbar vor der Ansage des Jüngerversagens. Lukas „ist nicht positiv“ gegen die von Markus und Johannes bezeugte Abfolge, meint Gehringer, „sondern weicht nur davon ab, weil er eine Ordnung sucht, die der Einschaltung der ihm eigenthümlichen Stücke günstiger wäre“ (XII). 149 Vgl. hierzu wie zu dem Folgenden oben unter Punkt 2.
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4. „Freiheit und Gebundenheit“ – eine abschließende Bemerkung zu einer Leitidee Joseph Gehringers „Die Worte und Anstalten Jesu sind Geist und Leben, und der neue Bund hat nicht geschriebene Buchstaben, sondern lebendige Worte zur Grundlage“. Mit dieser programmatischen Feststellung beginnt Joseph Gehringer in seiner „Liturgik“ den § 6, der unter der Überschrift steht: „Freiheit und Gebundenheit in der Liturgie“150, und erklärt: „So finden wir in der ganzen Geschichte der Apostel die strengste Gebundenheit der Sache nach, aber eine vollkommene Freiheit in der Wahl der Worte. Sogar das Gebet, welches der Herr selbst gelehrt hatte, wurde so frei gebraucht, daß wir bei Lukas eine andere Fassung finden, als bei Matthäus“151. So kann nur sprechen, wer dies im Umgang mit den Evangelien selbst auf Schritt und Tritt erfahren hat: die Treue zur Botschaft Jesu und die Freiheit, sie situationsgemäß jeweils neu und anders sagen zu dürfen und zu können, sind miteinander verschwistert. Diese Freiheit – das gibt Gehringer auch zu erkennen – gründet im Wirken des Geistes: „Männer, welche voll des heiligen Geistes waren, wie Stephanus, Philipp, Barnabas, Saulus, konnten sich freier bewegen; aber es gab viele Schwache, welche nichts zu sagen wüssten, als was sie gelernt hatten, oder irrten, wenn sie rechts oder links von dem bekannten Wege abgehen wollten“152. Gehringer weiß auch um den Nutzen der gebundenen Form, um die theologische Notwendigkeit des Kanons neutestamentlicher Schriften sowie der mit dessen Wachsen gleichzeitigen Formalisierungsprozesse in der Liturgie, die auch Bücher benötigte. Aber er träumt nicht vom Ursprung der Kirche, romantisiert nicht deren Anfänge und erliegt keinen Dekadenztheorien. Vielmehr lässt er durchscheinen, dass die Kirche Jesu Christi zu jeder Zeit authentisch aus dem Wort Gottes leben und es glaubwürdig verkünden kann, weiß aber auch um ihre Reformbedürftigkeit, zum Beispiel auf dem Gebiet der Liturgie. Es wäre „eine den Fortschritten der [theologischen] Wissenschaft nicht entsprechende Tyrannei“ – so schreibt er –, wenn die liturgischen Bücher auf ihrem gegenwärtigen Stand eingefroren und nicht von Zeit zu Zeit verbessert würden153. Mir scheint, dass genau hier der Graben verläuft, der ihn vom Kirchenbild J.A. Möhlers trennt, dessen vielfach aufgelegte Symbolik (1832) die Tübinger Fakultät zu der Zeit, als Gehringer in ihr wirkte, bekanntlich stark prägte. Rudolf Reinhardt skizzierte dieses Kirchenbild so: „Für Möhler war die ideale Kirche nicht mehr die Kirche der 150 GEHRINGER, Liturgik (Anm. 37); 13; er fährt fort: „Darum ist der Liturg zwar strenge an die Worte Jesu gebunden, aber diese Worte lassen ihm die höchste Freiheit. Man lese A.G. [Apg] 2,14–42 [die Pfingstpredigt des Petrus] und sehe, mit welcher Freiheit sich Petrus bewegt, und wie strenge er sich an die gegebene Wahrheit hält“. 151 Ebd., 14. 152 Ebd. 153 Andernorts sagt er es so: „Daß diese [liturgischen] Bücher unter der Aufsicht des Bischofs verfaßt und nach seiner Anweisung gebraucht werden, ist gut; aber es wäre auch gut, wenn die Bischöfe von Zeit zu Zeit diese Bücher verbessern würden, weil die Wissenschaft und die allgemeine Bildung so fortschreitet, daß die liturgischen Bücher, welche die Vollkommenheit noch lange nicht erreicht haben, auch gleichen Schritt halten müssen“ (ebd., 15).
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frühen Zeit; er zieht vielmehr die Konsequenzen aus dem organologischen Theologieverständnis Dreys und erklärt: Zu jeder Zeit hat die Kirche die ihr zukommende Form und Gestalt. Bei aller Entwicklung und Änderung des Äußeren bleibt sie im Wesen doch immer gleich und sich selbst treu. Man kann deshalb keine Epoche der Vergangenheit zur idealen Zeit erklären. Eine Kirchenreform im strengen Sinn ist bei Möhler nicht mehr möglich; es gibt nur noch eine Reform der einzelnen Mitglieder. Der Tübinger Jungtheologe vollzieht so den entscheidenden Schritt von der Kirchenkritik zur Kirchenkonstruktion“154. Wer die „Liturgik“ von Gehringer studiert, dem weht ein anderer Geist entgegen: Auch die Kirche, in deren Mitte die liturgische Feier der Eucharistie steht, unterliegt der Reform, einer Reform, die letztlich nur an Jesu eigener Intention Maß nehmen kann155. Auch wenn das Œuvre von Joseph Gehringer schmal ist und bei weitem nicht den intellektuellen Glanz verbreitet, den andere Tübinger Theologen auszustrahlen vermochten – er selbst als Person vermag zu überzeugen, und zwar durch die von ihm gelebte Einheit von Pastoral und Theologie. Dass er auf der Höhe seines Lebens auch noch als Pilger nach Jerusalem aufgebrochen ist, in die Stadt, in der Jesus die Offenbarung der Liebe Gottes durch sein Sterben „für uns“ besiegelt hat, ist eine lebendige Mahnung, dass Kirche, will sie Kirche Jesu Christi bleiben, sich stets an Jesus selbst auszurichten hat, dessen Gestalt durch redliche Auslegung des Neuen Testaments, wie Joseph Gehringer sie unter den Bedingungen seiner Zeit betrieben hat, für uns greifbar wird.
154 REINHARDT, Katholisch-theologische Fakultät Tübingen (Anm. 12), 24; vgl. DERS., Zeichen (Anm. 4), 53. 155 In diesem Zusammenhang ist auch sein kritischer Blick auf die Lektionare zu sehen: „Wir wissen schon lange, daß die wenigen Abschnitte des Evangeliums, welche wir in der Liturgie haben, nicht genügen: warum nehmen wir nicht das ganze Evangelium auf?“ (Liturgik [Anm. 37], 9). Die Antwort, die er darauf erteilt, mutet allerdings seltsam an: „Darum, weil wir keinen Platz dafür haben; wir hätten aber genug Platz, wenn wir das, was wir aus Gefälligkeit gegen den heidnischen und jüdischen Aberglauben dulden, entfernen würden“ (ebd., 9f.); zuvor erklärt er: „Da Christus das Gesetz und die Propheten nicht auflöste, sondern erfüllte; so enthält die christliche Liturgie auch jüdische Elemente, welche noch dadurch vermehrt wurden, daß man aus Gefälligkeit gegen die Judenchristen dasjenige, was ihnen besonders gefiel, aufnahm, und wegen des Mangels neuer Mittel manches Stück aus dem alten Testamente entlehnte“. Mir scheint, dass dahinter vor allem seine Kritik am römischen Messkanon steht, der seinen Opfer-Gedanken (Abel, Melchisedech, Abraham) aus dem Alten Testament schöpft (vgl. oben Anm. 82).
Joseph Gehringer (1803–1856)
Pfarrhaus von Gehringer in Kochertürn
Mögglinger Pfarrkirche von 1841-1956
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Moriz von Aberle (1819–1875) Zur Selbstkonstruktion eines Wissenschaftlers Rainer Kampling
1. Biographische Annotationen „... ich habe schon oft bedauert, daß ich Exeget geworden bin. Allein dessen ungeachtet zieht es mich zu den exegetischen Problemen hin, und wenn ich irgendwo Befriedigung finde, so ist es im Arbeiten in dieser Richtung.“1 Als Moriz Aberle dieses ‚Bekenntnis‘ 1863 schrieb, war er bereits seit dreizehn Jahren Professor für neutestamentliche Exegese und Moraltheologie. Letztere war ihm mehr eine Last, und als er im Herbst 1866 einen Ruf nach München erhielt, nützte er bei den Bleibeverhandlungen die Möglichkeit, von der Verpflichtung zu Lehrveranstaltungen in Moraltheologie entbunden zu werden.2 Moriz Aberle – so wird man aus den Zeugnissen seiner Zeit gewahr – muss eine faszinierende Persönlichkeit gewesen sein.3 Seine Vorlesungen gehörten zu den bestbesuchten der Fakultät.4 Noch Jahre nach dem Studium gerieten ehemalige Hörer geradezu in Überschwang, wenn sie von seinen fachlichen und menschlichen Qualitäten sprachen. Immer wieder werden die Klarheit und der Scharfsinn seiner Vorlesungen gelobt. Für nicht wenige Studierende war Aberle der eigentliche Grund, nach Tübingen zu gehen; man wollte bei ihm die Vorlesung „Neues Testament“ hören. Als Beichtvater und als Berater in Lebensfragen war er freilich ebenso hoch angesehen und hielt mit manchen, auch nachdem sie Tübingen verlassen hatten, regen brieflichen Kontakt. Da er auch außerhalb der Universität seine Thesen zum Neuen Testament vortrug, war er eine stadtbekannte Persönlichkeit, um den es manche Anekdoten gab.5 1 2 3
4 5
Wilhelm KOCH, Zum Lebensbild Professor Aberles, in: ThQ 129 (1949), 399–417, hier: 405. Vgl. hierzu: UAT 126/1: Personalakte Aberle. Vgl. hierzu die Äußerungen von Franz Xaver Linsenmann in: Rudolf REINHARDT (Hg.), Franz Xaver Linsenmann. Sein Leben, Bd. 1: Lebenserinnerungen, Sigmaringen 1987, passim. Vgl. hierzu: UAT (Hörerliste Aberle). Vgl. hierzu etwa Ottilie WILDERMUTH, Ein Kinderfreund, in: Evangelischer Württembergischer Kalender für 1877, Reutlingen o.J., 13–15. Die rege Berichterstattung des Deutschen Volksblattes nach seinem Tod: Deutsches Volksblatt, Nr. 254 vom 7. November 1875; Nr. 255 vom 9. November 1875; Nr. 264 vom 19. November 1875; Nr. 290 vom 21. Dezember 1875; Nr. 293 vom 24. Dezember 1875; Nr. 74 vom 31. März 1876.
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Rainer Kampling
Als er am 3. November 1875 plötzlich starb, kann die Reaktion wohl wirklich so gewesen sein, wie sie Franz Xaver Linsenmann (1835–1898) in seiner Grabrede beschreibt: „Tausende wohl von Gemüthern wurden schmerzlich bewegt und manches Auge ward von Thränen befeuchtet, als durch unsere Stadt die Kunde gieng: Professor Aberle ist todt!“6 Die allgemeine Trauer wurde verstärkt durch das Gefühl, einen Bibelwissenschaftler verloren zu haben, von dem man sich nicht weniger erwartet hatte, als eine Neubelebung der katholischen neutestamentlichen Exegese, der aber wegen vielfacher Anfeindungen sein Lebenswerk nicht hatte vollenden können. Wenn Franz Xaver Linsenmann in seiner Grabrede feststellt: „Schon jetzt legt sich uns ein Schimmer von Verklärung um sein Bild“7, dann wird man wohl sagen dürfen, dass er selber daran nicht geringen Anteil hatte, indem er Aberle als Opfer der Zeit stilisiert: „Er litt, weil er die Sache der Religion und Kirche und die kirchliche Wissenschaft leiden und in Anfechtung begriffen sah. Er litt, weil er bei der Trübung unsrer kirchlichen Verhältnisse von Vielen, selbst seinen Freunden, nicht mehr verstanden zu werden meinte, weil er Verwirrung der Geister und Gewissen in den Reihen seiner Schüler überhand 8 nehmen ... sah“ .
Linsenmann konnte gewiss sein, dass die Zuhörer und hernach die Leser seiner Grabrede wohl wussten, wovon er sprach. Einigen wird noch das in Tübingen umlaufende Gerücht, Aberle habe den Syllabus des Papstes einen ‚Wisch‘ genannt,9 in Erinnerung gewesen sein. Aberle hatte im persönlichen Kontakt, sei es brieflich, sei es mündlich, nie einen Hehl daraus gemacht, dass er Pius IX. nicht schätzte.10 Seine Ablehnung des Unfehlbarkeitsdogmas war durchaus bekannt.11 Er hielt es nicht nur für überflüssig, sondern sah in ihm vor allem eine Gefahr für die Katholische Theologie und ihre Wissenschaftlichkeit. Während er sich öffentliches Schweigen auferlegte, galt dies nicht für den persönlichen Umgang. Diese Haltung war umso bemerkenswerter, da Aberle zur Zeit seiner Berufung und in den Nachfolgejahren als Vertreter des Ultramontanismus galt, und sogar publizistisch in diesem Sinne tätig geworden war.12
6
Franz Xaver LINSENMANN, Worte der Erinnerung an Moriz von Aberle. Doctor und Professor der Theologie, Tübingen 1875, 3. 7 Ebd., 11. 8 Ebd., 9. 9 Vgl. Koch, Lebensbild (Anm. 1), 406f. 10 Vgl. ebd., 411. 11 So etwa ein Brief Aberles an Carl Werner vom 5. März 1872 in: Joseph PRITZ, Mensch als Mitte. Leben und Werk Carl Werners; I. Leben und Werk in geschichtlichem Zusammenhang (Wiener Beiträge der Theologie, Band XXII/I), Wien 1968, 400. Vgl. hierzu auch: Hubert WOLF, Indem sie schweigen, stimmen sie zu? Die Tübinger Katholisch-Theologische Fakultät und das Unfehlbarkeitsdogma, in: DERS. (Hg.), Zwischen Wahrheit und Gehorsam. Carl Joseph von Hefele (1809–1893), Ostfildern 1994, 78–101. 12 Herbert HAAG, Moriz Aberle 1819–1875, in: ThQ 150 (1970), 67–70, Haag attestiert Aberle „entschiedene Kirchlichkeit“, ebd., 67.
Moriz von Aberle (1819–1875)
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Aberle war Vertreter des Tübinger „gemäßigten Ultramontanismus“, der in Württemberg aus den Krisen der 1850er und 1860er Jahre hervorging, auf größere Verständigung mit dem Staat setzte und hinsichtlich der wissenschaftlichen Bildung weitaus aufgeschlossener war als die extremen ultramontanen Kräfte des Bistums.13 So sah sich Aberle 1868 sogar veranlasst, während der sogenannten „Rottenburger Wirren“ gegen diese Kräfte publizistisch tätig zu werden.14 Als der Alttestamentler Felix Himpel (1821–1890) in einem ausführlichen Nachruf15 auf Aberle in der Theologischen Quartalschrift 1876 auch seine spätere kritische Haltung zur Sprache bringen wollte, schlug dieses Vorhaben Wellen bis zur Münchner Nuntiatur, woraufhin Himpel seinen Beitrag ändern musste. Noch über den Tod hinaus wurde Aberle gleichsam zum Opfer. Die Stilisierung von Aberle zum fortschrittlichen Theologen, der an seiner Wissenschaft und Kirche litt, erfüllte freilich – unbeschadet ihrer Tatsächlichkeit – ebenso eine Funktion für die Schüler und Anhänger, nämlich zu erklären, aus welchen Gründen Aberle keine Monographie zu seinem Hauptthema, der Einleitung zum Neuen Testament, vorgelegt hatte.16 Es haben sich Briefe erhalten, in denen bei Aberle drängende Nachfragen eingingen, wann denn seine Monographie erscheine, wobei die Spanne der Verfasser vom Abt bis zum Messner reicht.17 Angesichts dieser hochgespannten Erwartungen dürfte der Alttestamentler Bernhard Schäfer (1841–1926), einer der zahlreichen Schüler Aberles, durchaus im Recht gewesen sein, wenn er seiner Besprechung von 1877 der posthum von Paul Schanz herausgegebenen Einleitung den Satz vorausschickte: „Mit inniger Freude bringe ich den vielen Schülern, Verehrern u[nd] Freunden des sel. Prof. v. Aberle seine nunmehr im Druck hergestellte neutestamentliche Einleit[un]g zur Anzeige, und ich weiß zum Voraus, dass Tausende von Theologen, die in Tübingen ihre Studien gemacht haben, sich beeilen werden, die Aberle’sche Einleit[un]g zu kaufen, die
13 Zu dem gesamten Komplex vgl.: Hubert WOLF, Ketzer oder Kirchenlehrer? Der Tübinger Theologe Johannes von Kuhn (1806–1887) in den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen seiner Zeit (VKZG, B 58), Mainz 1992, passim. 14 [Moriz ABERLE], Über die Wirren in der Diöcese Rottenburg (Von einem Mitglied der katholisch-theologischen Facultät in Tübingen), in: HPBl 63 (1869), 417–444. Vgl. hierzu auch: Werner GROSS, Das Wilhelmsstift Tübingen 1817–1869. Theologenausbildung im Spannungsfeld von Staat und Kirche (Contubernium 32), Tübingen 1978, 228–249. 15 Felix HIMPEL, Einiges über die wissenschaftliche Bedeutung und theologisch kirchliche Stellung des sel. Professors Dr. Aberle, in: ThQ 1876, 177–228. Vgl. hierzu: Abraham Peter KUSTERMANN, Geharnischtes Tübinger Nachwort zu Ultramontanismus und Erstem Vatikanum. Der unzensierte Schluß des Nachrufs von Felix Himpel auf Moritz Aberle (1876), in: RoJKG 3 (1984), 169–183. 16 „Der liebenswürdige, von seinen Schülern mit Recht hochgefeierte selige Prof. von Aberle gehörte zu jenen Männern, die in ihrem vielseitigen Wissen und ihrer Combinationsgabe eher auf ein Hinderniß als eine Förderung schriftstellerischer Thätigkeit stoßen.“ Peter SCHEGG, Rez. zu: Aberle, Einleitung in das Neue Testament, in: LitRdsch 2 (1878), 33–40, hier: 33. 17 Hinweise finden sich bei KOCH, Lebensbild (Anm. 1).
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in ihrem Studienleben so viel Reiz u[nd] Anzieh[un]g auf sie ausgeübt hat, obwohl der 18 hochgefeierte Professor jeweils kaum zur Hälfte mit derselben zu Ende kam.“
Aberle, der selbst um das Warten auf seine Einleitung wusste, schrieb bereits 1872 an den Wiener Kollegen Carl Werner (1821–1888): „Meine Untersuchungen über das N[eue] Test[ament] sind längst zum Abschluß gediehen, aber sie herauszugeben und den Jesuiten die Freude zu machen, einen Tübinger am Kopf zu fassen, fällt mir im Traume nicht ein.“19 Diese Bekundung steht freilich in einem Widerspruch zu der Äußerung von Paul Schanz in seinem Vorwort zu der von ihm betreuten Ausgabe der Einleitung: „Aber zu meiner großen Überraschung und zu meinem nicht geringen Bedauern überzeugte ich mich bald, daß keines der Manuskripte druckfertig oder auch nur so hergerichtet war, daß es mit Leichtigkeit druckfertig gemacht werden konnte. Es fanden sich nur die Collegienhefte vor. Von einem gelehrten Apparat, von literarischen Notizen oder 20 dergleichen war durchaus nichts vorhanden.“
Es trägt nicht gerade zur Klarheit bei, dass Johannes Evangelist Kuhn (1806– 1887) bereits in einem vertraulichen Brief vom 11. Juni 1865 Aberle nicht nur für einen Parteigänger der Konservativen bzw. Jesuiten hält, sondern auch anmerkt: „… Aberle betrachtet die Exegese des NT als sein Haupt- und Lieblingsfach und ist bis jetzt auch nur in diesem in hervortretender, ganz eigenthümlicher Weise literarisch thätig gewesen. [...] Aberle ist ein bedeutender Kopf und sehr tüchtiger Lehrer, auch versteht er in hohem Grad die jungen Leute für sich zu gewinnen und zu leiten. Umfassende literarische Production ist von ihm nicht zu erwarten; es wird sich sorgen, ob er nur ein größeres Buch jemals schreiben wird. Er arbeitet langsam, gemächlich und hat daneben 21 die Gewohnheit, alles Mögliche zusammenzulesen.“
Die viel verhandelte Frage, warum Aberle keine größere Monographie oder etwa einen Kommentar vorgelegt hat, war und ist allem Anschein nach unlösbar.22 Wahrscheinlich ist aber zu machen, dass das Fehlen derselben dazu beitrug, dass die Bewunderung und Rezeption der Thesen Aberles den Kreis der Zuhörer und 18 Bernhard SCHÄFER, Rez. zu: Aberle, Einleitung in das Neue Testament, in: LitHw 16 (1877), 523–527, hier: 523. 19 Zitiert nach: PRITZ, Mensch als Mitte (Anm. 11), 401. 20 Moritz von ABERLE, Einleitung in das Neue Testament, hrsg. von Paul SCHANZ, Freiburg/ Br. 1877, V. 21 Zitiert nach: Rudolf REINHARDT, Moritz Aberle nach Würzburg? Ein Beitrag zum theologischen Profil der „Tübinger Schule“, in: RoJKG 12 (1993), 113–120, hier: 119; vgl. jetzt die Edition: Deutsche Altultramontane als Liberale? Neun Briefe Johannes von Kuhns an Ignaz von Döllinger aus den 1860er Jahren herausgegeben von Hubert Wolf, in: ZNThG 6 (1999), 264–286, 285. 22 Vgl. den Erklärungsversuch von LINSENMANN in: REINHARDT, Linsenmann (Anm. 3), 229: „Er selbst hatte einerseits mit Zuversicht davon gesprochen, daß seine Doktrin in Form einer ›Einleitung‹ gewissermaßen fertig in seinem Pulte liege; andererseits zeigte er wieder eine Scheu, dieselbe zu publizieren. Entweder war er selbst mit einer Sache nicht fertig – oder er scheute sich der Kritik auszusetzen, nachdem er außerhalb Tübingens bisher eigentlich wenig Anklang gefunden.“
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Schüler nicht überdauerten. Denn Aberle hatte zwar in seinen Vorlesungen und Artikeln, insbesondere in der Theologischen Quartalschrift, für sich in Anspruch genommen, den Schlüssel zum Verständnis der erzählenden Bücher des Neuen Testaments gefunden zu haben, aber niemals die Probe an einem größeren Textstück gemacht. So musste der große Wurf ein Entwurf bleiben.
2. Der exegetische Ansatz Aberles Die genannten Artikel und die aus Collegheften durch Schanz zusammengestellte Einleitung, die zum Teil wortgleich sind, ergänzt durch Briefe, in denen sich Aberle teilweise sehr scharf äußert, ermöglichen die Darstellung der exegetischen Theorie Aberles zur Entstehung der Evangelien, der Apostelgeschichte und der Apokalypse. Sein Interesse an der Briefliteratur war, wie sich zeigen lässt, ungleich geringer. Auch wenn Aberle, wie schon von den Zeitgenossen bemerkt, wenig auf einen wissenschaftlichen Apparat gab, so ist doch seine Belesenheit und Kenntnis der exegetischen Literatur beider Konfessionen offensichtlich, allerdings ebenfalls, dass er sie nicht schätzte. Nach Aberles Überzeugung litten sowohl die evangelische wie die katholische Exegese an einem fundamentalen Fehler des Verständnisses der Evangelien. Sie gingen nach Aberle davon aus, dass es sich um historische Schriften handelte, die als solche den Anspruch erheben, über Geschehenes zu berichten. Erst unter dieser Prämisse, so Aberle, war es überhaupt möglich, Widersprüche zwischen den Evangelien anzunehmen. In einem seiner letzten Briefe schreibt er zum Problem der Historiographie: „Man nimmt infolge davon an, daß sie die erzählten Begebenheiten nicht bloß substantiell, sondern auch chronologisch richtig dargestellt haben, d. h. daß das, was bei ihnen in der Erzählung später ist gestellt worden, auch wirklich später vorgefallen ist. Über die Schwierigkeiten, die sich bei dieser Auffassung ergeben, hilft man sich mit exegetischen 23 Kunststücken hinweg.“
Ein Musterbeispiel ist für ihn die Diskussion um das Datum des Abendmahles, die er jedoch ebenfalls unter falschen Prämissen geführt sieht. Denn während es protestantischen Exegeten darum gehe, hier Widersprüche nachzuweisen, um so die Glaubwürdigkeit der Evangelien in Frage zu stellen, versuche die katholische Seite mit untauglichen Mitteln die Harmonie zwischen den Synoptikern und dem Johannes-Evangelium zu wahren.24 Bei der protestantischen Exegese macht er einen weiteren grundlegenden Fehler aus, der in seinen Wurzeln bis auf das falsche reformatorische Schriftverständ-
23 Zitiert nach: KOCH, Lebensbild (Anm. 1), 415. 24 Vgl. Moriz ABERLE, Über den Tag des letzten Abendmahls, in: ThQ 45 (1863), 537–568.
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nis zurückgeht, nämlich ein gleichsam dogmatisches Verständnis der Evangelien. Zu welcher Schärfe Aberle fähig war, zeigt das folgende Zitat: „Diese Exegese hat offenbar allen Boden unter den Füßen verloren und die Exegeten gleichen Wanderern über ein Sumpfmeer, die verzweifelte Sprünge da und dorthin machen, wo sie noch ein bischen festen Grundes glauben erwarten zu dürfen. Es ist das die natürliche Consequenz des protestantischen Schriftprincips, welches voraussetzt, dass die Bücher des N[euen] Testamentes als die alleinigen, für alle verständlichen Lehrbücher der Christen abgefaßt seien. Diese Anschauung theilen alle Protestanten, Strauß und Baur so gut wie Hengstenberg und Tedderheß, und es ist wirklich merkwürdig, dass die ‚Tübinger Schule‘ zwar mit dem ganzen Christentum gebrochen, aber jene Voraus25 setzung als unantastbares Palladium aufrecht hält.“
Am Anfang des Aberle’schen Entwurfes steht damit die Negierung zweier Lesarten, der streng dogmatischen und der streng historischen. Alle Diskussionen, die sich innerhalb dieser Systeme bewegen, verkennen nach Aberle den wahren Charakter der Evangelien. Damit verbleiben sie selbstbezüglich in ihren eigenen Fragen, die aus den Systemen, nicht aus dem Text erwachsen. Folgerichtig tragen sie nichts zum Verstehen des Neuen Testaments aus. Die von ihnen benannten und immer wieder verhandelten Probleme, wie etwa Widersprüche oder unlogische Aussagen, haben demnach ihren Anhalt nicht an der Schrift, sondern allein und ausschließlich an den falschen Prämissen. Diese Exegese ist mithin nicht zur Lösung von tatsächlichen Problemen, die sie nach Aberle nicht einmal wahrnimmt, befähigt, sondern sie ist in beiden Konfessionen selbst Teil des Problems. Aberle setzt dagegen auf eine historische Lesart eigener Prägung. Er versteht darunter die Rekonstruktion und Beschreibung des Entstehungskontextes der Evangelien, der Situation der Autoren und Rezipienten unter besonderer Betonung der politischen Situation und der daraus abzuleitenden Funktion der Texte in einer konkreten historischen Lage. Nach ihm besteht die Funktion der Evangelien, der Apostelgeschichte und der Apokalypse durchweg darin, eine defensorische Wirkung zu entfalten, und zwar als Reaktion auf eine von außen kommende Repression. Aberle bringt das auf den Kernsatz:
25 Zit. nach: PRITZ, Mensch als Mitte (Anm. 11), 403. Aberle bezieht sich hier auf die sogenannte „Jüngere Tübinger Schule“ um Ferdinand Christian Baur (1792–1860); allerdings war der Ton offensichtlich überhaupt sehr rau, wie Heinrich EWALD, Jahrbücher der biblischen Wissenschaft 6 (1853/55), 133, in seinen Anmerkungen zu einer Arbeit von Aberle über Röm 5, 12–14 belegt: „Die Päpstliche kirche vermag den Römerbrief nicht richtig zu erklären: oder sollte sie einmal ihn richtig zu verstehen den muth haben, würde sje in sich selbst erbleichen und ihr ganzes bisheriges das Christenthum verwüstende treiben lassen. Der vorstehende aufsaz eines Päpstlichen theologen hält sich freilich recht ruhig, was immerhin (weil es dort jezt so selten vorkommt) zu loben ist, zeigt aber große unfähigkeit den sinn des Apostels zu verstehen.“.
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„Ich fasse die Evangelien, um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen, als Dokumente 26 des Kampfes ums Dasein auf, den das Christentum, welches es zunächst nur auf mündliche Überlieferung abgesehen hatte, führen mußte. Demgemäß sehe ich auch in den 27 Evangelisten nicht Historiker, sondern Anwälte.“
Noch generalisierender formuliert er die Situation, in der die neutestamentlichen Schriften entstanden sind und welche Lesart sich daraus ergibt: „Die Schriften des N[euen] Testamentes sind die literarischen Erzeugnisse einer verfolgten und unter dem Drucke der Verfolgung sich bildenden Gemeinschaft.“28 An dieser Stelle ist es erwägenswert, ob Aberle damit nicht gleichsam eine Katholisierung der Baur’schen Konflikttheorie vornimmt.29 Zwar weiß Aberle auch um innergemeindliche Konflikte, meint jedoch nicht, dass diese zur Schriftwerdung beitrugen. Es ist vielmehr der Konflikt mit der Außenwelt, der zur Entstehung der historischen Bücher führt. Der Unterschied zwischen der Briefliteratur und den Evangelien ist für Aberle nicht nur einer der Gattung, sondern ein allumfassender, da er sich bezüglich der Form, der Intention, der Situation und des gedachten Leserkreises ausdrückt. Ein entscheidendes Kriterium für diese Beurteilung ist die Annahme, dass es sich bei den Evangelien nicht um rein binnenkirchliche Schriften, sondern desgleichen um Rechtfertigungsschriften nach außen gehandelt hat, sie mithin als öffentliche Publikationen gedacht waren. Aberle denkt diese beiden Aspekte, also Bedrohung als Ausgangssituation und defensorische Intention zur Abwehr, als Prämissen zum Verstehen des Neuen Testaments, aus denen auch die Klärung der von anderen angenommenen Probleme, die ihm nur vermeintliche sind, erwächst. Zur Untermauerung seines Ansatzes entwickelt Aberle eine vollständige Geschichte der neutestamentlichen Schriften, ihrer historischen Voraussetzungen und ihres jeweiligen Entstehungs- und Verstehenskontextes. Dabei bleibt er in der synoptischen Frage der katholischen Auslegungstradition verbunden und folgt in der Beschreibung der Autoren weitestgehend der Väterliteratur. Er stellt weder die zeitliche Abfolge der Evangelien, wie sie der Kanon bietet, in Frage, noch die apostolische Verfasserschaft. Es gelingt ihm sogar, die katholische Vorstellung der sacra traditio beizubehalten, indem er davon ausgeht, dass die mündliche Lehre, anfangend bei Jesus, bis zum Ende der apostolischen Zeit den Vorrang vor allem Schriftlichen hatte. Freilich ist es Aberle hierbei erst in zweiter Linie um eine dogmatische Frage zu tun.30 26 Aberle spielt hier wohl an auf: Charles DARWIN, Über die Entstehung der Arten im Thierund Pflanzen-Reich durch natürliche Züchtung, oder Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe um’s Daseyn, Stuttgart 1860. 27 Zit. nach: PRITZ, Mensch als Mitte (Anm. 11), 415f. 28 Moriz ABERLE, Exegetische Studien, in: ThQ 50 (1868), 3–64, hier: 4 (im Original gesperrt). 29 Als einen katholischen Vertreter Baurs verstand ihn etwa der Baur-Schüler Adolf Hilgenfeld (1823–1907), der einen ausführlichen Artikel zu Aberles Ansatz verfasst hat: Adolf HILGENFELD, Die neueste Tübingsche Tendenz-Kritik, in: ZWTh 7 (1864), 425–448 und in: ZWTh 8 (1865), 76–102. 30 Vgl. aus einem Brief an Carl Werner: „Dagegen glaube ich, daß wir, wenn wir das Prinzip Schrift und Tradition energisch auch in der neutestamentlichen Wissenschaft zu Geltung
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Für ihn ist der Umstand, dass Jesus selbst nichts geschrieben hat und seinen Jüngern ebenso ausschließlich die mündliche Verkündigung auftrug, ein wichtiges und zentrales Argument in seinem System zur Erklärung der Entstehung der Evangelien. Als schriftliche Texte stellen sie die notgedrungene Ausnahme von der von Jesus gebotenen mündlichen Verkündigung dar. Dieser in der Schrift bezeugte Ausnahmecharakter belegt für Aberle eindeutig, dass die Annahme, die Evangelien enthielten die gesamte Überlieferung des Lebens Jesu oder seien eine ausführliche Darstellung des Glaubens, in radice irrig sein muss. Vielmehr gilt nach ihm, dass die neutestamentlichen Schriften als aus der Not geborenen Gelegenheitsschriften nur so viel mitteilen, wie nötig ist, um Angriffe von außen abzuwehren. Da Aberle weiterhin davon ausgeht, dass es von Anfang an, mithin also bereits bei Jesus, im Christentum eine Arkandisziplin gegeben hat,31 folgert er konsequenterweise, den Schriftstellern sei untersagt gewesen, mehr als das situativ Notwendigste preiszugeben. Die Annahme der Bedeutung der mündlichen Tradition und der Existenz einer Arkandisziplin veranlassen Aberle außerdem zu der Meinung, dass es nicht mehr als die vorliegenden Evangelien gegeben habe. Sie haben innerhalb des Christentums einen exzeptionellen Standort. Hier kritisiert er unter anderem heftig Heinrich Ewald (1803–1875), über den er in einem Artikel sagt: „Ja, wenn man Ewald glauben will, wäre es mit der Evangelienabfassung kaum anders zugegangen, als mit der Karnikelzucht.“32 Damit sind die Vorbedingungen des Systems benannt: Schriftlichkeit als Sondererscheinung im frühen Christentum, die dann obendrein in die Arkandisziplin eingebunden war, was ihrem Darstellungsumfang enge Grenzen setzte.33 Für Aberle ist es ausgemacht, dass die Evangelien und die Apostelgeschichte auf benennbare und konkrete Herausforderungen, Repressionen und Anklagen bringen, noch etwas Schönes zustandebringen werden. Freilich werden wir dabei Protestanten und Jesuiten zu Gegnern haben, aber ich denke, die galvanische Resurrektion der letzteren wird nicht mehr so lange vorhalten….“ (zit. nach: PRITZ, Mensch als Mitte [Anm. 11], 397.) 31 ABERLE, Einleitung (Anm. 20), 16. 32 Moriz ABERLE, Exegetische Studien, in: ThQ 45 (1863), 84–134, hier: 109. 33 Vgl. aus einem Brief an Carl Werner: „Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß die Voraussetzung [sc. der anderen katholischen oder protestantischen Exegeten] mindestens wissenschaftlich nicht erwiesen ist, ich glaube aber auch, daß sie sich schlechthin nicht erweisen läßt, und hoffe, daß Sie mir recht geben werden, wenn Sie drei Puncte meditieren, nämlich die Anordnung des Herren, sein Evangelium mündlich zu verkünden, sodann die römischen Gesetze bezüglich einer religio licita oder illicita und endlich die Gewohnheit der Juden, wonach die Doctrinen ihrer ‚Lehrer‘ nicht geschrieben werden durften, sondern sich gedächtsmäßig durch ihre Schüler fortpflanzen mußten. Die beiden letzteren Puncte können Sie auch als das Motiv der angeführten Anordnung des Herrn betrachten, welche als sog. Affirmatives Gesetz den Weg der schriftlichen Verbreitung seiner Lehre nicht ausschloß, aber ihn auch nur soweit zuließ, als der Betreffende es gegenüber dem ausgesprochenen Willen seines Herrn glaubte verantworten zu können. Daher ist meine Ansicht, daß die Apostel bzw. ihre Schüler nur in Nothfällen zum Mittel der Schrift greifen durften und darum ist in der neutestl. Einleitung bei jeder einzelnen Schrift meine erste Frage, welches ist der Nothfall, der sie hervorrief. Glauben Sie mir, wenn man diese Frage im Ernste stellt, bleibt man bei keiner neutestl. Schrift ohne Antwort u. diese Antworten werfen ein überraschendes Licht über die Entstehung dieses ganzen Schriftthums.
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gegen die Christen reagierten, welche jeweils wiederum nur unter besonderen historischen Konstellationen möglich waren. Um diese spezifische geschichtliche Situation zu wissen, bedeutet nach Aberle den Schlüssel zum Verstehen der jeweiligen Schrift in Händen zu halten. Die Hauptaufgabe der exegetischen Arbeit besteht mithin darin, Situationen auszumachen, die eine Durchbrechung der Mündlichkeit und der Arkandisziplin erlaubt und geboten erscheinen ließen. Als Anlass für das Matthäus-Evangelium postuliert Aberle ein Ächtungsschreiben des Jerusalemer Synedriums, das kurz nach der Steinigung des Stephanus als Zirkularschreiben veröffentlicht wurde und Verleumdungen Jesu und seiner Jünger enthielt.34 Dieses Schreiben wurde zu einer Zeit verfasst, als die meisten Christen noch dem Synedrium unterworfen waren; daher hat das MatthäusEvangelium als Antwort auf diesen Angriff nur in diesem engen Zeitfenster seinen Entstehungsgrund. Aberle versucht sogar den Wortlaut des Schreibens des Synedriums auf der Grundlage von Justin, Dialogos 108, 2, wo er einen Hinweis darauf zu finden meint, zu rekonstruieren.35 Schwerer tut sich Aberle mit dem Markus-Evangelium, das er für ein Exzerpt des Matthäus-Evangeliums hält. Es ist freilich ganz für Leser aus paganem Umfeld gedacht, die das Synedrialschreiben nicht kennen; daher sieht Markus keine Veranlassung, es zu erwähnen oder nur darauf einzugehen. Da Aberle der Überlieferung bei Clemens Alexandrinus folgt, Markus habe das Evangelium auf Bitten der römischen Hörer des Petrus verfasst, fällt es ihm schwer, hier ebenfalls eine von außen kommende Notsituation zu konstruieren. Seine Bemerkungen zum „römischen Volkscharakter“36 können darüber nicht hinweghelfen. Allerdings ist es bemerkenswert, dass Aberle gleichwohl Markus als einen Schriftsteller versteht, wenn auch in einer gewissen Abhängigkeit: „Darnach ist Marcus insofern der Verfasser seines Evangeliums, als von ihm die Sprache und Niederschreibung herrührt, während der Stoff selbst und die Diathese desselben auf Petrus zurückzuführen ist.“37 Keine Probleme mit seiner Grundthese hat Aberle beim lukanischen Gesamtwerk. Das Lukas-Evangelium und die Apostelgeschichte versteht er in ihrer Gesamtheit als Reaktion auf die Anklage gegen Paulus. Er sieht insbesondere in der Apostelgeschichte eine ausgeführte Verteidigungsschrift des Lukas, den er als 34 Ebd., 90f. 35 Der Text, vgl. auch Dial 17,1, lautet: „....trotzdem habt ihr, nachdem ihr von seiner Auferstehung von den Toten erfahren habt, nicht nur euch nicht bekehrt, sondern habt, ...., erlesene Männer ausgewählt und sie in alle Welt ausgeschickt, welche verkündeten: eine gottlose und schlimme Sekte ist durch einen gewissen Galiläer Jesus, einen Verführer, ins Leben gerufen worden; wir haben ihn gekreuzigt, aber seine Jünger haben ihn aus der Gruft, in welche er nach der Kreuzesabnahme gelegt worden war, bei Nacht gestohlen und machen den Leuten weis, er sei von den Toten auferstanden, und in den Himmel aufgefahren. Auch habt ihr ihm die gleichen gottlosen, schlimmen und verbrecherischen Lehren nachgesagt, deren ihr überall diejenigen beschuldigt, welche Christus als Lehrer und Sohn Gottes bekennen.“ (BKV zitiert nach: http://www.unifr.ch/bkv/kapitel100-16.htm); zweifelsohne kann man Aberle eine ingeniöse Begabung im Auffinden von Belegen kaum absprechen. 36 ABERLE, Einleitung, (Anm. 20), 52. 37 Ebd., 51.
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Rechtsvertreter des Paulus deutet, und zwar mit ausdrücklicher Berufung auf die Kennzeichnung des Lukas nach dem Fragmentum Muratorianum „quasi ut iuris studiosum“. In Lukas verbindet sich demnach literarisches Geschick mit juristischer Begabung. Bei ihm ist der Bezug zur Öffentlichkeit am deutlichsten gegeben, was aber unter Beachtung der Arkandisziplin und der Gegner besondere Verhaltensweisen erforderte. Das Johannes-Evangelium verdankt seine Entstehung dem Wiedererstarken des Judentums und der Ausbildung der rabbinischen Gelehrsamkeit, die sich mit heftigen Angriffen gegen das Christentum vollzogen. Hierauf habe Johannes geantwortet und zugleich korrigierend gegenüber seinen Vorgängern gewirkt.38 Nun war Aberle scharfsinnig genug, sich nicht der Kritik auszusetzen, dass man in Zeiten von Not und Bedrohung wohl kaum die Muße fände, ein Evangelium zu verfassen. Er unterscheidet explizit zwischen Anlass, d.h. Bedrohung, und Zeit der Abfassung, d.h. auf die Bedrohung folgende Reaktion.39 Auch hierbei versucht er, möglichst präzise Zeitfenster zu benennen, in denen eine Abfassung überhaupt möglich war. Es müssen dies Zeiten sein, in denen das Verhältnis zwischen den beiden Gegner der Christen, Judentum und römischem Staat, so gespannt war, dass den Christen eine gewisse Zeit der Ruhe gegeben war. Näherhin handelt es sich um die Zeit des Caligula, um die Zeit des Claudius und um die Zeit nach dem Prozess des Paulus. Bei diesem nämlich habe das Synedrium als Ankläger an Ansehen verloren und so sei eine Antwort möglich gewesen, da die jüdischen Gegner geschwächt waren. Nachdem der Tempel zerstört war, sei es Johannes erst um die Regierungszeit des Nervas (96–98) und die des Trajan (98–117) möglich gewesen, eine Antwort auf die Bedrohung durch den Rabbinismus zu geben. Hier zeigt sich zweifelsohne eine Schwäche der Aberle’schen Rekonstruktion, da sie nicht nur mit zahlreichen Prämissen operieren, sondern auch historische Fakten behaupten muss. Die Annahme der Minderung der Autorität des Synedriums durch den Prozess Pauli dürfte wohl ein klassischer Zirkelschluss sein.40 Die bisweilen kompliziert erscheinenden historischen Einordnungen sind in Aberles System von weit reichender Konsequenz, und zwar sowohl was das Verständnis des Inhaltes angeht als auch das hinsichtlich der Verfasser. Der Gesichtspunkt, dass die Evangelien von Männern innerhalb einer Gruppe verfasst wurden, die sich im permanenten Zustand des Angegriffenseins und der Verfolgung sah, kann nach Aberle nicht unberücksichtigt bleiben und ist, nimmt man ihn ernst, die Problemlösung schlechthin. Man erhält damit, so Aberle, „einen Anhaltspunkt, 38 Ebd., 90–115; Unschwer lässt dieser kurze Überblick deutlich werden, dass ‚die Juden als Feinde der Christen‘ für Aberles Konstruktion absolut notwendig waren, er mithin ein Vertreter des theologischen Antijudaismus ist. 39 Moriz ABERLE, Exegetische Studien, in: ThQ 50 (1868), 8. 40 Ein namentlich nicht bekannter Kritiker hat sich ausführlich mit diesen Schwachpunkten befasst und die Willkür in der Rekonstruktion scharfsinnig nachgewiesen: Über eine „exegetische Studie“, in: Katholisches Kirchenblatt für die Diöcese Rottenburg, Nr. 32 und 33 vom 23. August 1868; Nr. 34 und 35 vom 6. September 1868; Nr. 36 und 37 vom 20. September 1868; Nr. 38 und 39 vom 4. Oktober 1868.
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um sich in einem verwirrenden Getümmel von Hypothesen zurechtzufinden, welche in neuerer Zeit über die Entstehung der Evangelien aufgestellt wurden“41. Die Problematik von Widersprüchen, Ungenauigkeiten und Ungereimtheiten, die man in den Texten zu finden meint, verliert sich dann von selbst. Aberle warnt davor, die zeitlichen Bedingungen der Textproduktion außer Acht zu lassen. Für ihn ist, wie er mit zahlreichen Belegen aus der antiken Literatur nachweist, das Schreiben im ersten Jahrhundert eine nicht ungefährliche Sache, insbesondere wenn man einer verfolgten Minderheit angehört. Ganz selbstverständlich hätten die neutestamentlichen Autoren diesen Umstand berücksichtigt. Wer also Ungenauigkeiten oder Fehler bemängele, habe nicht verstanden, unter welchen Bedingungen die Texte verfasst wurden. In einer ihm eigenen Diktion stellt er die Frage: „kann es eine größere Naivetät geben als die, zu glauben, dass Schriftsteller, welche aus der Mitte einer verfolgten Gemeinschaft hervorgehen und im Namen einer solchen schreiben, alles der Feder anvertrauen, was sie wissen, oder dass sie beim Niederschreiben sich blos das fragen, ob der Gegenstand von ihrem Standpunkt aus wichtig, und nicht das, ob dessen schriftliche Kundmachung nicht gefährlich und bestimmten An42 schauungen und Verhältnissen gegenüber schädlich werden könne?“
Für diese These, die Aberle den Vorwurf einbrachte, er zeichne die frühen Christen wie Freimaurer, bringt er sogar ein Jesuswort, das dieses Verhalten legitimiert: „Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben!“ (Matth. 10,16) Dieser Vers begegnet bei Aberle so häufig, dass man annehmen darf, dass er ihn wirklich als Handlungsanweisung verstanden hat. Aus dieser These Aberles folgt aber ebenso, dass er die Verfasser der neutestamentlichen Schriften als wirkliche Autoren ansieht, die ihr Material kontextund leserbezogen auswählten, Umgestaltungen und Kürzungen des ihnen Bekannten vornahmen und in keiner Weise den Anspruch erhoben, ein vollständiges Leben Jesu zu schreiben. Vielmehr entzogen sie sich einer historischen Nachprüfbarkeit des Geschriebenen, da sie von den Ereignissen nur so viel berichteten, wie es ihnen situativ angemessen und nötig erschien. Mithin ist Aberle ein Vorläufer der Autorentheorie und tatsächlich seiner Zeit voraus. Aberle zeigt die Konsequenzen seiner These unter anderem an den Auferstehungsberichten.43 Nur wenn man dem Irrtum verfalle, dass es sich um historische Berichte handelt, kann der Eindruck von Widersprüchen entstehen. Folgt man der These Aberles, so sind die Unterschiede in der Darstellung der jeweiligen Aussageabsicht der Autoren geschuldet und ergeben sich unschwer aus dem Kreis der potentiellen Leser. Für Aberle bieten die neutestamentlichen Berichte nur Annäherungen an das tatsächliche Geschehen, da sich die Autoren über den Ablauf der Ereignisse in Schweigen hüllen. Als wäre diese These nicht schwierig genug, folgt Aberle auch hier seiner Neigung zur Spekulation, wenn er wohlmöglich fromm, aber ohne Argument behauptet: „Man darf ohne allen Anstand annehmen, 41 ABERLE, Exegetische Studien (Anm. 39), 7. 42 Ebd., 10. 43 ABERLE, Die Berichte der Evangelien über die Auferstehung Jesu, in: ThQ 52 (1870), 48–91.
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dass der Herr zuerst nach seiner Auferstehung seiner Mutter erschien“44. Es sind solche Einschüsse, die zweifelsohne seine Hörer beeindruckten, aber einen wissenschaftlichen Diskurs verunmöglichten. Ein ähnlich radikales Vorgehen wählt Aberle bei der Analyse des Lukasprologs aus dem Jahre 186345. Er reagiert damit auf Kritik an seiner Position, Lukas habe eine Apologie des Paulus verfasst. Diese Kritik, namentlich von Heinrich Ewald, führt die Prologe zu Evangelium und Apostelgeschichte als Gegenbeweis an. Aberle geht es nun darum, den Nachweis zu führen, dass insbesondere der Prolog des Evangeliums jeder Eindeutigkeit enträt. Zwar belastet er sein Vorhaben mit der doch wohl exzentrisch zu nennenden Meinung, bei den in V. 1 genannten polloi. handele es sich um Gegner der Christen und διήγησιν meine deren Anklageschrift, so dass er hier einen Beleg für die Bedrohungshypothese findet, aber man wird kaum bestreiten können, dass es ihm mittels philologischer und historischer Methoden gelingt, aufzuzeigen, dass fast jedes Wort im Prolog je nach Leserstandpunkt mehrdeutig ist. Damit sei mittels des Prologs seine These weder zu widerlegen noch zu belegen. An diesem Punkt nun setzt für Aberle die eigentliche Aufgabe der Interpretation an, nämlich zu erhellen, wie dieser Befund zu bewerten ist. Verblüffend ist seine eigene Einschätzung, „daß Lucas mit dem Prologe nichts sagen wollte“46. Die Verwendung des Prologs als bekannte schriftstellerische Gattung ist nach Aberle eine „Maske“47, um die Gegner zu täuschen, während Christen in der Lage waren, den Text richtig zu verstehen. Er unterscheidet zwischen Text und Subtext. Von seinem Ansatz aus ist die Mehrdeutigkeit des Prologs für Aberle eine überzeugende Bestätigung seiner eigenen Position. Diese Verbindung genauester Analysen mit selbstreferenziellen Aussagen ist es, die das Werk von Aberle durchzieht, es gleichzeitig faszinierend und fast esoterisch macht. Die Argumentationsform von Aberle ist, sei es in den Aufsätzen, sei es in der Einleitung, dergestalt, dass eine partielle Zustimmung nicht ermöglicht wird. Es geht gleichsam immer ums Ganze, um den geschlossenen Entwurf. Man muss Emil Schürer nicht zustimmen, aber ihm auch nicht jedes Verständnis absprechen, wenn er in seiner Besprechung der Einleitung formuliert: „Ueberall sehen wir jenen, um seiner Schärfe willen bewundernswerthen, dabei aber völlig unfruchtbaren Spürsinn walten, der das Gras wachsen sieht und darüber vollständig den Blick verliert für die einfachsten Größenverhältnisse der Natur“48.
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Ebd., 76. ABERLE, Exegetische Studien (Anm. 39), 98. Ebd., 107. Ebd., 110. Emil SCHÜRER, Rez. zu: Aberle, Einleitung in das Neue Testament, in: ThLZ 3 (1878), 136f., hier: 137.
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3. Zusammenfassung Gewiss tut man Moriz von Aberle kein Unrecht, wenn man ihn für einen besonderen unter den Katholischen Exegeten seiner Zeit erachtet. Manches bleibt einfach exzentrisch und kaum nachvollziehbar.49 Dennoch wird man damit allein seiner Bedeutung nicht gerecht.50 Zunächst wird man anerkennen müssen, dass er versuchte, auf die Bibelkritik seiner Zeit und insbesondere die der Tübinger evangelischen Exegese eine Antwort zu finden, die die Bedeutung der Geschichte nicht leugnete, aber noch Raum ließ für explizit katholische Auffassungen hinsichtlich der Schrift. Aberle nimmt damit eine Zwischenstellung ein zwischen den Tübinger Exegeten der Anfangszeit, die eine größere Freiheit für ihre Exegese in Anspruch nahmen, und seinem Schüler und Nachfolger Paul Schanz, der diese Vorstellung einer doppelten Aufgabe der Exegese weiter zu entwickeln versuchte. Indem Aberle die historische Fragestellung vom Inhalt der Texte zum Entstehungskontext verlagerte, nahm er einen radikalen Paradigmenwechsel vor, der einen Bruch mit traditioneller und zeitgenössischer Auffassung bedeutete. Auf Grund seines Verständnisses der Bedingungen der Abfassung der Evangelien konnte er so weit gehen, dass er ihren Inhalt der historischen Überprüfung auf Tatsächlichkeit entzog. Angesichts der damaligen Diskussionen konnte dies wie ein Befreiungsschlag wirken. Nicht die
49 Selbst LINSENMANN äußert sich rückblickend erstaunlich kritisch zu den exegetischen Arbeiten, wenn er über Aberle schreibt: „Vor allem aber war maßgebend seine Vorliebe für Politik, wenn es auch nur die der Studierstube war. Alle seine ausgebreiteten und staunenswerten Kenntnisse in den meisten Gebieten der Philologie, Geschichte, Archäologie und Zeitliteratur stellte er in den Dienst einer findigen und geistvollen Konjekturalpolitik. So hatte er als Gymnasialprofessor in Ehingen in den 1848er Jahren praktische Agitation betrieben, geschrieben, geredet, so hat er dann später die Konjekturalpolitik < sc. Spätestens seit 1848 ist der Begriff negativ konnotiert.> in das Neue Testament übertragen und daraus entstanden seine eigentümlichen Aufstellungen über die Zweckbeziehung der neutestamentlichen Schriften, deren Verfasser er für politische Publizisten ansah, welche auf dem Wege der ›Denkschrift‹ den politischen Prozess der Christen im apostolischen Zeitalter gegen die Parteien der Judaisten und der Römer durchzuführen bemüht waren.“ REINHARDT, Linsenmann (Anm. 3), 125. 50 Karl WERNER, Geschichte der apologetischen und polemischen Literatur der christlichen Theologie 5, Schaffhausen 1867, 409, versucht eine kritisch-wohlwollende Würdigung: „Es läßt sich nicht verkennen, daß nicht Weniges von dem, was Aberle bietet, auf Conjectur und Kombination beruht; aber die Combinationen sind sinnreich, die Conjecturen über dem Grunde einer fleißigen, soliden Forschung erbaut; der Gedanke, die Entstehungsgeschichte der Evangelien in eine nähere Beziehung zu der gleichzeitigen Geschichte des nationalen Iudenthums zu sehen, aus dessen Kreis die neuentstandene christliche Gemeinde mit Gewalt hinausgedrängt wurde, darf als ein sehr glücklicher bezeichnet werden, und ist jedenfalls geeignet, auf die Sache, um welche es sich hier handelt, neues Licht fallen zu lassen. Eine kritische Sichtung der von Aberle gebotenen Ergebnisse seiner biblischen Forschungen bleibt der Wissenschaft anheimgestellt; sein Bemühen um eine genauere Befreundung mit der talmudischen und rabbinischen Literatur verdient jedenfalls Beachtung und Nachahmung, und dürfte zur Förderung des exegetischen, wie des historisch kritischen Verständnisses des Neuen Testamentes nicht unwesentlich beitragen.“
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Texte des Neuen Testamentes waren unhistorisch, sondern ihre Kritiker dachten unhistorisch. Allerdings stellte sich Aberle nicht der nahe liegenden Frage, woher man dann überhaupt noch Wissen über Geschehenes beziehen könne. Seine Position ist hierin schwankend, der Verweis auf die Lehre der Kirche sprengt das System und trägt zur Klärung nichts bei. Ein Desiderat zu Aberle besteht zweifelsohne in der Nachprüfung, ob und inwieweit seine Thesen in gewusster und gezielter Auseinandersetzung mit den Vertretern der evangelischen Exegese Tübingens, allen voran Baur, formuliert wurden. Dass dieses keine nachgetragene Beobachtung ist, mag man an der Bemerkung von Adolf Hilgenfeld in seiner ,Historisch-kritischen Einleitung in das neue Testament‘ von 1875 ablesen: Er spricht von der „neuen Tübingischen Tendenzkritik der Evangelien, welche der katholische D. v. Aberle in verschiedenen Aufsätzen der Tübinger theolog. Quartalschrift 1859–1864 geboten hat.“51 Die Funktion und Bedeutung, die er den Verfassern der Evangelien zusprach, erweisen ihn als frühen Vorläufer der Redaktionskritik und des Autorenmodells. Während er bei Markus zurückhaltender ist, versagt er keinem der übrigen Evangelisten die Anerkenntnis einer eigenen Leistung. Obwohl er sie als traditionsgebunden betrachtet, hält er sie doch für weit gehend selbständig arbeitende Autoren, die Herren ihres Materials waren. Es war ihm sogar möglich, das mit einer anerkannten Inspirationslehre zu verbinden,52 wobei es seiner Eigenheit entspricht, dass die von ihm postulierte historische Situation, die die Evangelien hervorbrachte, von Gott gewirkt sei. Moriz von Aberle hat einen geschlossenen Entwurf zur Entstehung der neutestamentlichen Schriften vorgelegt. Allerdings waren die Argumente so miteinander verwoben, dass man ihn auch hermetisch nennen kann. Löste man nur ein Argument aus seinem Kontext, so konnten dieser und jenes zugleich fraglich werden. Letztendlich ist es anscheinend die Unmöglichkeit einer partiellen Zustimmung, die dazu führte, dass auch innovative Elemente in der Folgezeit nicht aufgenommen wurden. Seine bleibende Bedeutung kam so nicht seinem Ruf bei den Zeitgenossen gleich.
51 Adolf HILGENFELD, Historisch-kritische Einleitung in das neue Testament, Leipzig 1875, 555, FN 1; vgl. DERS., Die neueste Tübingische Tendenz-Kritik, in: Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie 7 (1864), 425–448, 425f: „Tübingen ist nun einmal der Geburtsort der Tendenz-Kritik. Kein Wunder, dass da selbst die katholische Theologie bei den erzählenden Schriften des Neuen Test. die Bahnen einer Tendenz-Kritik einschlägt. Hr.D. Aberle hat dieselbe zwar bis jetzt nur in vereinzelten Aufsätzen vorgetragen. Aber ich bekleide nun einmal seit Jahren den Posten eines Registrators der Evangelien - Forschung. Da darf ich wohl schon jetzt die neue Erscheinung einer katholischen Tendenz-Kritik in Tübingen registriren, womit ich dem Urheber derselben sogar den Dienst einer Zusammenfassung seiner Forschungen erweise.“ 52 Vgl. James TUNSTEAD BURTCHAELL, Catholic Theories of Biblical Inspiration since 1810: A Review and Critique, Cambridge 1969, 38–40.
Paul von Schanz (1841–1905) Katholische Exegese nach dem Ersten Vatikanischen Konzil Markus Thurau
Der von dem Mainzer Kirchenhistoriker und Bischof Heinrich Brück (1831– 1903) begonnene und von Johann Baptist Kißling (1876–1928) nach dem Tod Brücks fortgesetzte letzte Band der Geschichte der katholischen Kirche im neunzehnten Jahrhundert urteilte über die Geschichte der Exegese seit 1870, dass unter den neutestamentlichen Werken des vergangenen Jahrhunderts die Kommentarwerke des „Tübinger Polyhistors“ Paul Schanz von bleibendem Wert für die Katholische Theologie seien, da sie „sämtlich von einem tiefen Eindringen in die alte wie die neuere, die katholische sowohl wie die protestantische Fachliteratur“ zeugten und so „förmlich eine Geschichte der Auslegung der behandelten hl. Texte“ lieferten. Obwohl die Kommentare „dieses bedeutenden Theologen“ vor allem „nach historisch-philologischen Gesichtspunkten“ geschrieben worden seien, schlössen sie doch „die Erörterung dogmatischer und moralischer Fragen keineswegs aus.“1 Diese kurze Zusammenfassung des exegetischen Hauptwerkes gibt recht konzis den Ansatz wieder, den Schanz vertreten hat und erklärt, weshalb dieser Ansatz 1908, inmitten der Modernismuskrise der katholischen Kirche, von Wert war. Trotz der Anwendung der historisch-kritischen Methode in der Exegese, die zu dieser Zeit bereits dem harten und keineswegs wissenschaftlich begründeten Urteil der Päpstlichen Bibelkommission unterworfen wurde,2 trat bei Schanz das Bemühen hinzu, die klassische Exegese der antiken und mittelalterlichen Theologen nicht aus dem Blick zu verlieren. Außerdem gelang es Schanz, in seinen Arbeiten die Fortschritte der modernen, primär protestantischen Exegese kritisch zu würdigen, dabei aber keine Vorentscheide für die weitere Interpretati1
2
Heinrich BRÜCK, Geschichte der katholischen Kirche in Deutschland im 19. Jahrhundert. Bd. IV.2: Vom Vaticanischen Concil bis zur Gegenwart II. Hgg. und fortgesetzt von J. B. KISSLING, Münster 1908, 356. Seit 1905 nutzte die Päpstliche Bibelkommission, die ihr von Leo XIII. verliehene Macht, um Fragen der Bibelwissenschaft mittels Responsa autoritär zu entscheiden. Ebenso verurteilte das Dekret „Lamentabili“ des Hl. Offiziums vom 3. Juli 1907 ausdrücklich die Emanzipation der Exegese vom Lehramt der Kirche. Richtete sich das Dekret auch primär gegen die exegetische Methode Alfred Loisys, wurde doch prinzipiell festgehalten, dass das Lehramt durch dogmatische Definitionen den echten Sinn der heiligen Schriften – auch unter Absehung wissenschaftlicher Erkenntnisse – bestimmen könne. Vgl. hierzu: DH 3401–3466. Vgl. auch: Claus ARNOLD, ‚Lamentabili sane exitu‘ (1907). Das Römische Lehramt und die Exegese Alfred Loisys, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 11 (2004), 24–51.
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on der Bibel innerhalb der Katholischen Theologie zu treffen. Weder die Dogmatik noch die Moraltheologie sollte sich durch diese Exegese in Frage gestellt sehen. War es bereits in der Zeit von Schanz für den katholischen Theologen geboten, die Auslegung der Hl. Schrift an die Glaubenslehre rückzubinden, galt dies während des Pontifikats Pius’ X. umso mehr. So waren die protestantischen Exegeten oftmals freier im Umgang mit ihren methodisch gewonnenen Forschungsergebnissen. Zwar kam es auch hier in der Neuzeit zu Spannungen und Krisen, wie die Auflösung des altprotestantischen Schriftprinzips durch die historischkritische Methode eindrücklich zeigt,3 allerdings ist die Situation aufgrund des katholischen Verständnisses des kirchlichen Lehramtes eine grundsätzlich andere. Um Konflikte mit dem Lehramt zu vermeiden, waren die katholischen Exegeten auffallend stark engagiert, ihre Ergebnisse widerspruchsfrei zur katholischen Glaubenslehre, d. h. innertheologisch in Harmonie mit der Dogmatik, zu formulieren. Dass dies zu einer wichtigen Aufgabe für die Katholische Theologie im 19. Jahrhunderts geworden sei, da die historische Kritik die „Glaubwürdigkeit“ der neutestamentlichen Schriften in Frage gestellt habe, zeigte Schanz in seinen Arbeiten. Hier schloss er sich an seinen Lehrer Moriz von Aberle (1819–1875) an, der ein notwendiges „apologetisches Element“ für die biblische Exegese reklamiert hatte, durch welches die Widerspruchsfreiheit der Exegese zur systematischen Theologie, vor allem zu einer Theologie der Offenbarung, gewährleistet werden sollte.4 Aufgrund dieser zu berücksichtigenden Situation der katholischen Exegese ergibt sich für die Charakterisierung eines katholischen Bibelwissenschaftlers, der nach dem Ersten Vatikanischen Konzil und dessen für den katholischen Wissen3
4
Vgl. hierzu: Jörg LAUSTER, Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historisch-kritische Methode von Schleiermacher bis zur Gegenwart (HUTh 46), Tübingen 2004. Zu der Frage, wie nach der Etablierung der historisch-kritischen Exegese in der Evangelischen Theologie der vergangenen zwei Jahrhunderte, der neutestamentlichen Exegese dennoch eine genuin theologische Aufgabe zukommen könne, vgl.: Andreas LINDEMANN, Kritische neutestamentliche Wissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert, in: Oda WISCHMEYER (Hg.), Herkunft und Zukunft der neutestamentlichen Wissenschaft (Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 6), Tübingen 2003, 1–34. So formulierte Schanz im Anschluss an seinen Lehrer: „Die Angriffe gegen das Christenthum haben sich hauptsächlich auf die neutestamentlichen Schriften concentriert, denen man alle Glaubwürdigkeit absprechen möchte, um das Leben Jesu dann als ein rein menschliches begreifen und die Offenbarung, die uns in ihm geworden, als reines Product menschlicher Geistesentwicklung darstellen zu können. Daher ist es nothwendig, den Beweis zu liefern, daß die neutestamentlichen Schriften auf eine Weise entstanden sind, daß sie Glauben verdienen und daß die theologische Wissenschaft nicht auf Sand baut, wenn sie ihren Inhalt als volle Wahrheit zu ihrer Voraussetzung nimmt.“ (Moriz ABERLE, Einleitung in das Neue Testament. Hgg. von Paul SCHANZ, Tübingen 1877, 3f.) Dass Schanz in diesem Punkt mehr als nur Herausgeber war, zeigt der Vergleich dieses ersten Paragraphen mit dem Manuskript von Aberles Einleitungsvorlesung. Vgl. hierzu die Nachschrift zu einer der letzten von Aberle gehaltenen Vorlesungen: Bibliothek des Wilhelmsstifts Tübingen (BWT) Hs MS A 73: Kollegnachschrift zu Aberle, Einleitung in das Neue Testament von Lorenz Maier (1850–1894), Sommersemester 1873. Hier wurde zwar auf ein „apologetisches Element“ hingewiesen, die genauere Begriffsbestimmung innerhalb des gedruckten Werkes übernahm aber Schanz.
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schaftler entscheidenden erkenntnistheoretischen Aussagen sein exegetisches Werk begann, folgende Gliederung: Der Aufsatz nähert sich zunächst biographisch dem Thema, um in einem zweiten Schritt Prinzip und Methode der von Schanz betriebenen Exegese darzustellen, da so in einem letzten Schritt die Arbeiten skizziert werden können, die durch diesen spezifischen Ansatz ermöglicht wurden. Entsprechend dieser Gliederung werden die Arbeiten vor allem hinsichtlich der sich in ihnen zeigenden Spezifik katholischer Exegese gewürdigt.
1. Eine biographische Hinführung Paul Schanz, geboren am 4. März 1841 in Horb am Neckar, durchlief den typischen Bildungsweg der württembergischen Priesteramtskandidaten. Nach einer Gymnasialzeit im Niederen Konvikt in Rottweil (1857–1861) wurde er in das Höhere Konvikt, das Wilhelmsstift in Tübingen, aufgenommen.5 Nach dem Studium der Philosophie und Katholischen Theologie an der württembergischen Landesuniversität Tübingen (1861–1865), dem einjährigen Priesterseminar in Rottenburg und der sich anschließenden Priesterweihe (1866) folgte eine kurze Anstellung als Vikar in Schramberg.6 Während dieser Zeit ließ sich Schanz von der Philosophischen Fakultät mit seiner unverändert eingereichten Preisaufgabe, die er in seinem ersten Studienjahr zu einem religionsgeschichtlichen Thema angefertigt hatte, promovieren.7 Wenige Monate später wurde Schanz 1867 als Repetent an das Wilhelmsstift berufen. Mehr oder weniger alle Priester, die in der Diözese Rottenburg Karriere gemacht haben, hatten vorher eine Tätigkeit als Repetent ausgeübt, so dass dem Urteil des Tübinger Moraltheologen und späteren Kollegen von Schanz, Franz Xaver von Linsenmann (1835–1898),8 zuzustimmen ist, dass der Schritt von einem Vikar zum Repetenten wichtiger für die Zukunft eines jungen Geistlichen der Diözese Rottenburg sei „als jeder andere Schick5 6 7
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Archiv des Wilhelmsstifts Tübingen (AWT) D 13.3 a-d-6: Aufnahmeakten 1861; StaatsAnzeiger für Württemberg, Nr. 219 vom 15. September 1861, 1889. Diözesanarchiv Rottenburg (DAR) G. 1.1, Nr. 287: Jahreskurs des Priesterseminars Rottenburg 1865/66; DAR F IV 1222: Personalakte Schanz. Schanz war Sieger der Preisaufgabe der Philosophischen Fakultät des akademischen Jahres 1861/62. Die Fakultät hatte die Aufgabe gestellt „eine übersichtliche Darstellung der Religion und Sitten der Perser und übrigen Iranier nach den Nachrichten der griechischen und römischen Schriftsteller“ abzugeben. Vgl. hierzu: Bekanntmachung der Ergebnisse der akademischen Preisbewerbung vom Jahre 1861 bis 1862 und der neuen für das Jahr 1862 bis 1863 bestimmten Preisaufgaben, Tübingen 1862, 5. Franz Xaver (von) Linsenmann, geb. am 28. November 1835 in Rottweil, 1854 Studium in Tübingen, 1859 Priesterweihe, 1861 Repetent am Wilhelmsstift, 1867 Extraordinarius für Moraltheologie, 1872 Ordinarius der Moral- und Pastoraltheologie an der Universität Tübingen, 1887/88 Rektor ebd., 1889 Domkapitular in Rottenburg, 1898 zum Bischof gewählt und präkonisiert, aber noch vor der Konsekration am 21. September 1898 in Lauterbach verstorben. Zu ihm: NDB 14 (1985), 636f. (Auer); Rudolf REINHARDT, Art. Linsenmann, Franz Xaver, in: Erwin GATZ (Hg.), Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/1803 bis 1945. Ein biographisches Lexikon, Berlin 1983, 451–453.
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salswechsel.“ Vor allem auch deswegen, weil man so die Möglichkeit erhalte, sich einige Jahre spezifisch wissenschaftlich betätigen zu können.9 Diese Einschätzung Linsenmanns gilt auch für Schanz, dessen besonderer wissenschaftlicher Bildungsweg sich hier ausformte: Schanz bereitete sich während seiner Repetentenzeit zum einen auf das Professoratsexamen für die mathematischnaturwissenschaftliche Richtung vor,10 besuchte daher die nötigen Lehrveranstaltungen der 1863 neu ge-gründeten Naturwissenschaftlichen Fakultät und bot Repetitionen zu naturwissenschaftlichen Vorlesungen an.11 Zum andern beschäftigte sich Schanz aber weiterhin mit Exegese und Dogmatik. So vertrat er ein Jahr lang den Tübinger Dogmatiker Johannes Evangelist von Kuhn (1806–1887)12 in dessen fünfstündiger Hauptvorlesung und publizierte sowohl zu dogmatischen als auch zu neutestamentlichen Themen, wie etwa in der von der Bonner Fakultät herausgegebenen wissenschaftlichen Rezensionszeitschrift, dem Theologischen Literaturblatt.13 Nach Abschluss seines Lehramtsstudiums verließ Schanz 1870 Tübingen, um eine wissenschaftliche Reise anzutreten, auf der er unter anderem in Paris und Berlin, zwei führenden wissenschaftlichen Zentren der damaligen Zeit, seine akademischen Studien fortsetzte. Die Reise ist sehr gut dokumentiert, da Schanz seine Reiseerlebnisse im Stuttgarter Deutschen Volksblatt veröffentlicht hat. Neben den Eindrücken, die er über das französische und preußische Bildungssystem vermittelte, sind seine Erlebnisse deswegen von zeitgeschichtlichem Interesse, weil Schanz unmittelbar vor Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges die 9
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Rudolf REINHARDT (Hg.), Franz Xaver Linsenmann. Sein Leben. Bd. 1: Lebenserinnerungen, Sigmaringen 1987, 157. Alle Professoren für Neues Testament seit Mack, dem ersten vollständig in Tübingen ausgebildeten Neutestamentler, haben bis weit ins 20. Jahrhundert hinein vor Antritt ihrer Professur eine Repetententätigkeit ausgeübt. DAR F IV 1222, Bl. 4: Brief von Schanz an die Ministerialabteilung für Gelehrten- und Realschulen vom 6. Oktober 1868 mit der Bitte um Zulassung zur Professoratsprüfung in Stuttgart. AWT D 14. 2a/ 5 u. 6: Verzeichnis der Lehrveranstaltungen der Zöglinge des Wilhelmsstifts. Es handelte sich zum einen um das von Friedrich August Quenstedt (1809–1889) speziell für Theologiestudierende angebotene Kolleg über die Naturkunde Württembergs und das von Friedrich Eduard Reusch (1812–1891) angebotene Kolleg Einführung in die Experimentalphysik. Vgl. hierzu auch die Äußerungen der Konviktskommission des Wilhelmsstifts über die Notwendigkeit solcher Kollegien und ihrer Repetition in: StAL E 211 II Bü 128, Bl. 4: Äußerung der Konviktskommission vom 10. Februar 1866. Johannes Evangelist (von) Kuhn, geb. am 19. Februar 1806 in Wäschenbeuren, 1825 Studium in Tübingen, 1832 Ordinarius für Neutestamentliche Exegese in Gießen, 1837 Wechsel nach Tübingen, 1839 Ordinarius für Dogmatik, 1882 pensioniert, gest. am 8. Mai 1887 in Tübingen. Zu ihm: Hubert WOLF, Ketzer oder Kirchenlehrer? Der Tübinger Theologe Johannes von Kuhn (1806–1887) in den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen seiner Zeit (VKZG.F 58), Mainz 1992. Besonders seine Kritik an den kirchenpolitischen Anschauungen des Neo-Ultramontanismus ist hervorzuheben, da seine Rezension zu einem Werk Clemens Schraders (1820–1875) ausführlich die Einwände einer möglichen Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit besprach und somit ein öffentliches Bekenntnis zur Tübinger Theologie darstellt. Vgl. hierzu Paul SCHANZ, Rez. zu: Clemens Schrader, Unitate Romana commentarius. Liber I. didaktikós, Freiburg/Br. 1862 u. Liber II. pragmatikós, Wien 1866, in: ThLBl(B) 3 (1868), 538– 544.
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Reise antrat und so die Stimmung in beiden Ländern vor dem Krieg schilderte.14 Außerdem beschrieb er die Pariser Diskussionen um die Frage nach der päpstlichen Unfehlbarkeit und gab dabei die Position seiner Fakultät wieder.15 Da Schanz einer der ganz wenigen Theologen war, die sich in Mathematik und Naturwissenschaft hatten ausbilden lassen, erhielt er direkt nach der Rückkehr von seiner Reise die vakante Gymnasialprofessur für Mathematik und Naturwissenschaften am Königlichen Gymnasium Rottweil übertragen,16 so dass er noch im selben Jahr dorthin zog. Während dieser Zeit veröffentlichte er in der Theologischen Quartalschrift seine theologische Preisarbeit zur Markushypothese.17 Ansonsten blieb er bei den naturwissenschaftlichen Fächern und publizierte lediglich zu Nikolaus von Kues als Mathematiker und Astronom.18 Aufgrund dieses Interessenschwerpunktes ist es heute noch so verwunderlich wie es bereits damals war, dass nach dem Tod von Aberle Schanz in das Gespräch für die Nachfolge gebracht wurde. Den Fakultätsbericht für den Akademischen Senat,19 in dem Vorschläge für die Neubesetzung der Professur gemacht wurden, hatte der Alttestamentler Felix Himpel (1821–1890)20 angefertigt. Der Bericht zeigt, dass es der Fakultät primär darum gegangen ist, einen Theologen aus dem eigenen Nachwuchs zu berufen, so dass man neben Schanz noch drei weitere Tübinger Absolventen für ein Ordinariat vorschlug, die allesamt keine Experten auf dem Gebiet der neutestamentlichen Exegese waren. Der einzige ernstzunehmende Exeget, der in die nähere Auswahl kam, war der spätere Münsteraner Alttesta14 Seine Aufzeichnungen enden in Berlin mit der Mobilmachung des preußischen Heeres. 15 Nur drei Monate vor der Dogmatisierung erklärte er diese für inopportun. Vgl. hierzu: [Paul SCHANZ], Eine Karwoche in Paris, in: Deutsches Volksblatt, Nr. 93 vom 23. April 1870. Vgl. zur Haltung der Fakultät: Hubert WOLF, Indem sie schweigen, stimmen sie zu? Die Tübinger Katholisch-Theologische Fakultät und das Unfehlbarkeitsdogma, in: DERS. (Hg.), Zwischen Wahrheit und Gehorsam. Carl Joseph von Hefele (1809–1893), Ostfildern 1994, 78–101. 16 DAR F IV 1222, Bl. 39: Erlass der Kultministerialabteilung für Gelehrten- und Realschulen an den Direktor des Wilhelmsstifts vom 15. Oktober 1870. Vgl. ebenso: Programm des Königlichen Gymnasiums in Rottweil zum Schlusse des Schuljahres 1870–71, Rottweil 1871, 33. 17 Schanz war Sieger der Preisaufgabe der Katholisch-Theologischen Fakultät des akademischen Jahres 1864/65. Die Fakultät hatte die Aufgabe gestellt, „die neueren Ansichten zu prüfen, nach denen das Markusevangelium das älteste Evangelium sei“. Vgl. hierzu: Bekanntmachung der Ergebnisse der akademischen Preisbewerbung vom Jahre 1864 bis 1865 und der neuen für das Jahr 1865 bis 1866 bestimmten Preisaufgaben, Tübingen 1865, 5. 18 Paul SCHANZ, Der Cardinal Nicolaus von Cusa als Mathematiker, in: Programm des Königlichen Gymnasiums in Rottweil zum Schlusse des Schuljahres 1871–72, Rottweil 1872 (Neudruck: Wiesbaden 1967); DERS., Die astronomischen Anschauungen des Nicolaus von Cusa und seiner Zeit, in: Programm des Königlichen Gymnasiums in Rottweil zum Schlusse des Schuljahres 1872–73, Rottweil 1873. 19 Universitätsarchiv Tübingen (UAT) 184/221: Bericht der Katholisch-Theologischen Fakultät an den Akademischen Senat vom November 1875 (Entwurf Felix Himpel). 20 Felix (von) Himpel, geb. am 28. Februar 1821 in Ravensburg, 1840 Studium in Tübingen, 1845 Priesterweihe, 1847 Präzeptoratsverweser in Rottenburg, 1849 Gymnasialprofessor und Konviktsdirektor in Ehingen, 1857 Ordinarius für alttestamentliche Exegese und orientalische Sprachen in Tübingen, gest. am 17. Februar 1890 in Tübingen. Zu ihm: BBKL 16 (1999), 718–726 (Burkard).
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mentler Bernhard Schäfer (1841–1926)21. Er wurde allerdings zu Gunsten der württembergischen Kandidaten von der Fakultät lediglich genannt, nicht aber platziert. Das Vertrauen in die Eignung der eigenen Absolventen und die Bekanntheit mit ihren nicht nur fachlichen Fähigkeiten, sondern ebenso mit ihren kirchenpolitischen Anschauungen stellten die wesentlichen Kriterien der fakultätsinternen Besetzungspolitik dar. Dass diese Besetzungspolitik nicht selbstverständlich war, zeigt die Sitzung des Akademischen Senats vom 25. November 1875, auf der Kuhn den Fakultätsbericht und dessen Vorschlagsliste gegen die Kritik der Senatsmitglieder zu verteidigen hatte: Schanz, so heißt es dort, „sei ein sehr bedeutendes Talent, bedeutender vielleicht als es sich bei allen übrigen findet“, allerdings müsse man eingestehen, dass seine hauptsächlichen Studien kaum mit Theologie zu tun hätten, während die anderen Kandidaten sich eingehender mit dieser beschäftigt hätten. Schanz sei zwar kein examinierter Philologe, musste auch Himpel in seinem Bericht einräumen, „aber was ihm hierin für die Vertretung neutestamentlicher Exegese abgeht, vermag er bei der ihn auszeichnenden Arbeitskraft und -lust sich in nicht zu ferner Zeit zu erwerben.“ Daher war Himpel zuversichtlich, dass Schanz, „der exegetische Studien noch nicht lange aufgegeben hat, sich denselben wieder zuwenden und einer Berufung folge leisten wird“.22 Die Verteidigung der Person Schanz lässt sich nur so erklären, dass man aufgrund der Bekanntschaft fest davon ausging, dass Schanz auch als Professor für neutestamentliche Exegese die von ihm erwartete Leistung erbringen würde.23 Das respektable Œuvre, das Schanz in recht kurzer Zeit vorlegte, zeigt, dass diese Taktik aufging.24 Hier sind vor allem seine vier Evangelienkommentare zu nen-
21 Bernhard Schäfer, geb. am 26. Januar 1841 in Stetten unter Holstein/Hohenzollern, 1866 Priesterweihe, 1876 Professor für Altes Testament in Münster, 1893 in Wien, 1902 Konsultor der päpstlichen Bibelkommission, gest. am 15. Juni 1926 in Beuron. Zu ihm: BBKL 8 (1994), 1518 (Madey). 22 UAT 184/221: Berichtsentwurf Himpel. Vgl. ebenso: UAT 126/572, Bl. 2: Bericht der Katholisch-Theologischen Fakultät an den Akademischen Senat vom 25. November 1875. 23 Ganz ähnlich lag der Fall bei Funk, der sich vor seiner Berufung auf die Professur für Kirchengeschichte mit Nationalökonomie beschäftigt hatte und bei Linsenmann, der sich für Dogmatik interessiert hatte und für Moraltheologie berufen wurde. Vgl. hierzu: Rudolf REINHARDT, Die katholisch-theologische Fakultät Tübingen im ersten Jahrhundert ihres Bestehens. Faktoren und Phasen der Entwicklung, in: DERS. (Hg.), Tübinger Theologen und ihre Theologie (Contubernium, Bd. 16), Tübingen 1977, 1–42, hier: 14f. Vgl. ebenso: DERS., Linsenmann, 252–254. 24 Dass diese Taktik auch fehlschlagen konnte, zeigt bereits die Nachfolge dieser Professur. Himpel fertigte hier ebenfalls den Fakultätsbericht an und brachte exakt die gleichen Argumente vor. Allerdings erfüllte der von Himpel vorgeschlagene Kandidat, Paul Wilhelm Keppler (1852–1926), nicht die in ihn gesetzten Erwartungen. Mochte seine erste Arbeit, Die Composition des Johannes-Evangeliums (Tübingen 1884), auch Hoffnung auf eine Fortsetzung der historisch-kritischen Exegese in Tübingen machen, so wandte er sich doch kurz darauf einer neuen Methodik, der homiletischen Schriftauslegung, zu.
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nen,25 die nach dem Urteil des Münchner Neutestamentlers Josef Schmid (1883– 1975) „die bedeutendste exegetische Leistung in der katholischen Theologie des neunzehnten Jahrhunderts“ darstellen, da diese Leistung „infolge ihrer methodischen Anlage als historisch kritische Exegese heute noch mit Respekt zu nennen ist und [...] bahnbrechend gewirkt hat.“26 Mit der Ernennung zum ordentlichen Professor wurde Schanz gleichzeitig die theologische Doktorwürde verliehen.27 War dies auch innerhalb der Fakultät gängige Praxis, so zeigt dieser Schritt dennoch, dass Schanz das Vertrauen der Fakultät entgegengebracht wurde und er so zum vollen Mitglied avancierte.28 Während seiner Zeit als Professor für Neues Testament las Schanz im Unterricht jährlich die Einleitung ins Neue Testament und legte neben allen vier Evangelien nahezu alle Briefe des Neuen Testaments aus. Außerdem versuchte er in zwei Vorlesungen das Programm seiner Antrittsvorlesung, die Begegnung von Naturwissenschaft und Bibelwissenschaft, umzusetzen. 1883 wechselte Schanz auf die lukrativere Professur für Dogmatik als Nachfolger Kuhns und ließ diese auf eigenen und nachdrücklichen Wunsch mit dem Lehrauftrag für Apologetik versehen. Hierdurch fand Schanz ein Betätigungsfeld, das ihn seit seiner Studienzeit beschäftigt hatte und aus dem seine dreibändige Apologie des Christentums hervorging, die ihn über die deutschsprachigen Länder hinaus bekannt machte.29 Zu nennen ist außerdem seine Monographie Über neue Versuche der Apologetik gegenüber dem Naturalismus und Spiritualismus (Regensburg 1897), in der er als einer der ersten deutschen Theologen auf die französischen Versuche einer neuen Form der Glaubensbegründung, der so genannten Immanenzapologetik, reagierte.30 Nicht nur innerhalb des zweiten Bandes der 25 Paul SCHANZ, Commentar über das Evangelium des hl. Matthäus, Freiburg/Br. 1879; DERS., Commentar über das Evangelium des hl. Marcus, Freiburg/Br. 1881; DERS., Commentar über das Evangelium des hl. Lucas, Tübingen 1883; DERS., Commentar über das Evangelium des hl. Johannes, Tübingen 1885. 26 Zitiert nach: Heinrich FRIES, Paul von Schanz (1841–1905), in: DERS. - Georg SCHWAIGER (Hg.), Katholische Theologen Deutschlands im 19. Jahrhundert, Bd. III, München 1975, 190– 214, hier: 197f. 27 Alles, was sich an Fakultätsakten über diese Verleihung erhalten hat, sind die Urkunde und das Zirkular, mit dem Himpel als Dekan zu der Fakultätssitzung am 27. Mai 1876 eingeladen hatte und auf der die Promotion beschlossen wurde. Vgl. hierzu: UAT 184/4: Zirkular zur Fakultätssitzung vom 27. Mai 1876. Ein entsprechendes Sitzungsprotokoll fehlt. 28 Joseph Gehringer (1803–1856) beispielsweise wurde diese Ehre versagt, so dass er an einer wichtigen Fakultätsangelegenheit, nämlich an den Verhandlungen über die Verleihung der theologischen Doktorwürde, nicht mitwirken konnte. 29 Das Werk wurde in mehrere Sprachen übersetzt und erhob den Anspruch alle theologischen Probleme der Gegenwart darzustellen und zu lösen. Beachtenswert ist in dem hier zur Sprache kommenden Zusammenhang vor allem der zweite Band, der die exegetischen Fragestellungen und Probleme verhandelte. 30 So war Schanz der erste deutsche Theologe, der, wenn auch nicht unumstritten, Maurice Blondel rezipiert hat. Vgl. hierzu die chronologische Übersicht der deutschsprachigen Arbeiten über Maurice Blondel in: Maurice BLONDEL, Der Ausgangspunkt des Philosophierens. Drei Aufsätze. Übersetzt und hgg. von Albert RAFFELT u. Hansjürgen VERWEYEN (PhB 451), Hamburg 1992, XXII–XXIX. Vgl. ebenso: Karl Heinz NEUFELD, L'apologétique dans le
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Apologie des Christentums, in dem er die großen Probleme der neutestamentlichen Forschung und ihre Lösungsansätze vorstellte,31 sondern auch in mehreren Einzelstudien hat er als Apologet und Dogmatiker die Entwicklung der Bibelwissenschaft weiterhin kritisch begleitet.32 Ansonsten ist bezüglich der Biographie dem Urteil Linsenmanns Recht zu geben,33 das er im Zuge der Rottenburger Bischofswahl über seinen ehemaligen Kollegen als möglichen Kandidaten für den Bischofsstuhl fällte. Über Schanz als Exegeten schrieb er: „Die Art und Weise seiner Methode in diesem Fach, die mit ausgiebigster Benutzung der protestantischen Exegese [...] der kirchlichen Tradition kein Vorrecht vor irgend einem modernen Autor einräumte, gewann den Beifall der katholisch kirchlichen Kreise nicht und es hat keine seiner vier Evangelienerklärungen eine zweite Auflage gefunden, obwohl ein ungeheures wissenschaftliches Material in ihnen aufgezeichnet ist und sie deshalb eine exegetische Rüstkammer für jeden katholischen Theologen genannt werden können.“34
Regierungsdirektor Emil von Hefele (1838–1921), der Vorstand des Katholischen Kirchenrats, schloss sich in seinem Schreiben an das Ministerium des Kirchenund Schulwesens diesem Urteil an: „Weniger Beifall in den extremen kirchlichen Kreisen fand er mit seiner neutestamentlichen Exegese [...], in welchem Fach er [...] mit ausgiebiger Benützung der protestantischen Exegese der sorgfältigsten Eruierung des Literalsinnes zustrebte und der kirchli-
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monde germanophone, in: Philippe CAPELLE (Hg.), Philosophie et apologétique. Maurice Blondel cent ans après (Philosophie & théologie), Paris 1999, 143–152. Erstmalig schrieb Schanz über die französische Apologetik in: Paul SCHANZ, Neue Tendenzen der philosophischen Apologetik, in: ThQ 78 (1896), 402–428. Vgl. hierzu die folgenden Paragraphen in: Paul SCHANZ, Apologie des Christenthums. Bd. II: Gott und die Offenbarung, Freiburg/Br. 31905: § 19 Die Glaubwürdigkeit der Heiligen Schrift (566–603), § 20. Die Inspiration der Heiligen Schrift (603–665), 21. Die Auslegung der Heiligen Schrift (665–686), § 22. Evangelium und Evangelien (686–723), § 23. Das Leben Jesu (723–753), § 24. Person und Wesen Jesu (753–773), § 25. Christi Lehre und Werk (773–816). Zu nennen sind hier vor allem: Paul SCHANZ, Zur Lehre von der Inspiration, in: ThQ 77 (1895), 177–208 [eine Reaktion auf die Enzyklika Providentissimus Deus]; DERS., Das Alter des Menschengeschlechts. Nach der Heiligen Schrift, der Profangeschichte und der Vorgeschichte (BSt(F) 1/2), Freiburg/Br. 1896; DERS., Die Grundsätze, Richtungen und Probleme der Exegese im 19. Jahrhundert, in: BZ 1 (1903), 6–31; DERS., Die Gottheit Jesu bei den Synoptikern, in: Magazin für volkstümliche Apologetik III (1904), 7–15; DERS., Die Gottheit Jesu im vierten Evangelium, in: Magazin für volkstümliche Apologetik III (1904), 104–114. Zwar ist das Gutachten nicht namentlich gekennzeichnet, allerdings bezeichnet es der Katholische Kirchenrat, der es zusammen mit dem Wahlergebnis vom Domkapitel erhalten hat, als das Urteil eines „theologischen Kollegen“. Da dieser Kollege nicht nur die wissenschaftlichen Arbeiten gut kannte, sondern auch Angaben machte, die ihn im Umfeld der Tübinger Fakultät vermuten lassen, ist es sehr wahrscheinlich, dass Linsenmann das Gutachten erstellte, der als einziger Domkapitular auch als „Kollege“ von Schanz bezeichnet werden kann. Staatsarchiv Ludwigsburg (StAL) E 210 Bü 120: Direktorialbericht für das Ministerium des Kirchen- und Schulwesens vom 14. Juni 1898 (Beilage zum Entwurf).
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chen Tradition nicht dasjenige Vorrecht vor den modernen Autoren einräumte, welches 35 die herrschende strengere Richtung denselben eingeräumt wissen will.“
Aber auch über Schanz’ Tätigkeit nach Übernahme der neuen Professur wusste Linsenmann prägnant zu berichten: „Nach Pensionierung v[on] Kuhns zum Fach der Dogmatik u[nd] Apologetik übergetreten, warf er sich zunächst mit besonderem Eifer auf die Apologetik, wozu er durch seine naturwissenschaftlichen Studien und seine exegetischen Arbeiten besonders vorgebildet war und worin H[err] v[on] Kuhn ihm noch viel zu thun übrig gelassen hatte, da letzterer, in der Zeit aufgewachsen, wo die neuen philosophischen Systeme dem kirchlichen Glauben Schwierigkeiten bereiteten, die Einwendungen, welche die moderne Naturwissenschaft gegen den Glauben machte, gar keine Aufmerksamkeit schenkte. Die dreibändige Apologetik hatte trotz des nicht immer klaren Stils einen großen Erfolg und verschaffte dem Verfasser den Ruf eines der gelehrtesten Theologen weit über die Grenzen Deutschlands [...] und ließ jeden Zweifel an seiner Kirchlichkeit trotz der überall hervortretenden freien Auffassung verschiedener aktueller theologischer Probleme (Inspiration, Sechstagewerk, Entwicklung der menschlichen Seele Christi) verstummen.“
Schanz sei „kein Gebiet der Theologie fremd, selbst nicht das schwierige der alttestamentlichen Exegese“, außerdem kenne er „die theologische Literatur des Auslands mehr als irgend einer. Seine Methode in der Dogmatik ist die historische der alten Tübinger Schule, welche das Dogma nicht als fertiges sondern als werdendes betrachtet und hiedurch eine freiere Auffassung begünstigt.“36 Die von Linsenmann hier zur Sprache gebrachte, im 19. Jahrhundert kontrovers diskutierte Dogmengeschichte als Kennzeichen Tübinger Theologie, war ein zentrales Thema innerhalb des Denkens von Schanz. Die Frage, unter welchen Bedingungen man von einer historischen Entwicklung des Dogmas sprechen könne, war zugleich eine Frage nach dem prinzipiellen Verhältnis von Theologie und Geschichte. Aus diesem Grund hat Schanz, der am 1. Juni 1905 in Tübingen verstarb, sich in seinen letzten Lebensjahren auch mit dem Werk des französischen Theologen Alfred Loisy (1857–1940) auseinandergesetzt und versucht, dessen Anliegen zu würdigen.37
35 Ebd.(Entwurf). 36 Ebd. (Beilage zum Entwurf). 37 Vgl. hierfür: Paul SCHANZ, Zur biblischen Frage (A. Loisy.), in: Hochl 1/II (1904), 191–203; DERS., Abbé Loisy, in: Literarische Beilage zur Kölnischen Volkszeitung 45 (1904), Nr. 2 vom 14. Januar 1904, 9–11; DERS., Abbé Loisy in französischer Beleuchtung, in: Literarische Beilage zur Kölnischen Volkszeitung 45 (1904), Nr. 4 vom 28. Januar 1904, 25f.; DERS., Der geschichtliche Christus und die christliche Lehrentwicklung, in: LitRdsch 31 (1905), 81–88; DERS., Geschichte und Dogma, in: ThQ 87 (1905), 1–36.
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2. Die Aufgabe der biblischen Exegese nach Schanz Um ein besseres Verständnis der exegetischen Arbeiten von Schanz zu gewinnen, die ihn als Rezipienten der erkenntnistheoretischen Aussagen des Ersten Vatikanischen Konzils kennzeichnen, ist ein Blick auf die Aufgaben, die er der biblischen Exegese zumaß, hilfreich. 1886, ein Jahr nachdem Schanz seinen letzten Kommentarband zu den Evangelien abgeschlossen hatte, schrieb er einen umfangreichen Artikel über die biblische Exegese in der zweiten Auflage von Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon. Die Definition, die Schanz darin gab, beginnt zunächst recht unproblematisch: Biblische Exegese sei „eine theologische Disciplin, welche den Sinn der heiligen Schrift zu erforschen und darzulegen hat. Je mehr eine Schrift zeitlich und örtlich dem Leser fern gerückt und durch Sprache und Vorstellungsweise fremdartig geworden ist, desto nothwendiger ist ihm die Deutung des Sinnes, welchen der Verfasser in die einzelnen Ausdrücke und Sätze hineingelegt hat, und die Erklärung der Gedanken und Ideen, welche der Verfasser in seinem ganzen Werke zur Darstellung bringen wollte.“38
Dies gelte in besonderer Weise von der Hl. Schrift, da sie durch Sprache und Umwelt dem modernen Denken fremd erscheine. Würde die biblische Exegese bis zu diesem Punkt sich nicht von der Exegese anderer antiker Texte unterscheiden, so zeigt bereits die zweite Begriffsbestimmung, die Schanz nannte, dass die biblische Exegese seinem Verständnis nach eine genuin theologische Disziplin sein müsse. Denn es heißt in dem Artikel weiter: „Diese bevorzugte Stellung des Buches der Bücher fordert neben der gründlichen wissenschaftlichen Erklärung eine auctoritative, untrügliche Deutung des gefundenen Sinnes und ist die Veranlassung zu der biblischen Exegese als einer eigenen theologischen Disciplin geworden“.39 Neben der wissenschaftlichen Erforschung bedürfe es demnach einer Auslegung, die nicht nur autoritativ, sondern auch unfehlbar, den Text der Bibel auszulegen vermag. Dass Schanz bereits mit dieser zweiten Bestimmung auf einen konfessionellen Aspekt innerhalb der Exegese anspielte, drückt sich in den von Schanz im Anschluss an seine Definition genannten Grundsätzen aus, nach denen sich die Exegese zu richten habe. Diese Grundsätze gäben, so Schanz, Auskunft über Umfang, Text und Charakter der Bibel und hätten in den Konfessionen verschiedene Ausprägung erfahren, weshalb Exegese nicht voraussetzungslos sei, sondern immer nur konfessionell bestimmbar. Um Exegese definieren zu können, müsse man daher ihre konfessionelle Struktur offenlegen und ihre Grundsätze konfessionsspezifisch beschreiben.40 In diesem Sinne teilt sich die Exegese für Schanz – so auch die Zwischenüberschriften seines Artikels – in eine katholische und eine nichtkatholische. Die nichtkatholische Exegese teilt sich wiederum in 38 Paul SCHANZ, Art. Exegese, biblische, in: Wetzer-Welte2 IV (1886), 1080–1121, hier: 1080. 39 Ebd. 40 Unter diesem Gesichtspunkt beurteilte er noch 1903 die Entwicklung der Exegese des 19. Jahrhunderts: SCHANZ, Grundsätze, Richtungen und Probleme der Exegese (Anm. 32), 6–31.
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eine gläubige, die von einem christlichen Glauben ausgehend ebenfalls nach bestimmten Grundsätzen verfahre und eine rationalistische, die als einzigen Grundsatz die Vernunft anerkenne. Die vier Grundsätze lauten wie folgt: I. Umfang: Der katholischen Exegese ist der Kanon, d. h. der Umfang der als heilig geglaubten Bücher, durch das Konzil von Trient exakt vorgegeben. Die Bücher seien, so das Konzil, vollständig und mit allen ihren Teilen als heilig und kanonisch anzuerkennen (DH 1504). Damit seien, so Schanz, alle „größeren Teile“ der Bücher gemeint, so dass auch der Schluss des Markusevangeliums (Mk 16,9–20) und die Perikope über Jesus und die Ehebrecherin (Joh 7,53–8,11) hierunter fallen. In der Textkritik könne daher nur über wenige kurze Stellen (Lk 22,43f.; 1 Joh 5,7) diskutiert werden. Hinsichtlich der nichtkatholischen Exegese gelte: Aufgrund des Fehlens der Tradition und einer äußeren Autorität sei der Kanon nicht festgelegt, so dass es der „Subjektivität“ überlassen bleibe, welche Schriften als kanonisch anzusehen seien. Dieses Merkmal gelte für den von Marcion aufgestellten Kanon ebenso wie für Luthers Verwerfung der deuterokanonischen Schriften und die Kanonkritik der Jüngeren Tübinger Schule unter Ferdinand Christian Baur (1792–1860).41 II. Text: Hinsichtlich des Textes bestehe für die katholische Exegese ebenfalls eine Verbindlichkeit durch das Konzil von Trient, da dieses festhalte, dass der Text der Vulgata authentisch sei. Damit sei aber, so Schanz weiter, noch kein Urteil über den Urtext gefällt worden, denn die Authentizität der Vulgata sei ihr im Vergleich mit anderen lateinischen Übersetzungen beigelegt worden und setze die Authentizität eines Urtextes voraus. Nur sei dieser ein Ideal, so dass es für ihn keine kirchlich approbierte Textform gebe. Daher könne und müsse hier der Exeget als Wissenschaftler tätig werden: „Wenn also die Vulgata mehr die Bibel des Dogmatikers ist, so hat der Exeget nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, auf den Urtext zurückzugehen.“42 Dies gelte umso mehr, da nur hier die Auseinandersetzung mit der nichtkatholischen Exegese stattfinden könne. Zwar hätten Übersetzungen (Lutherbibel, King James Bible) große Bedeutung erlangt, dennoch sei für die nichtkatholische Exegese die Verwendung des Urtextes eine Selbstverständlichkeit.43 III. Inspiration: Ebenfalls bestünden zwischen den Konfessionen prinzipielle Unterschiede hinsichtlich des Inspirationsverständnisses der biblischen Schriften. Allerdings sei der Unterschied zwischen katholischer und gläubiger akatholischer 41 Schwingt hier auch konfessionelle Polemik mit, so ist doch festzuhalten, dass es eine dem Konzil von Trient gleichzustellende Festlegung des biblischen Kanons für die Kirchen der Reformation nicht gibt. Dass Schanz hier explizit auf Baur verweist, von dem er und Aberle beeinflusst waren, hat damit zu tun, dass die Nähe zum Ansatz Baurs bekannt war und nur insofern akzeptabel erschien, dass man die Konsequenzen, die Baur und seine Schüler zogen, ausdrücklich ablehnte. Obwohl Aberle und Schanz ebenfalls die Tendenzen der einzelnen neutestamentlichen Schriften erforschten, lehnten sie explizit jede Kanonkritik als Konsequenz dieser Forschung ab. 42 SCHANZ, Art. Exegese (Anm. 38), 1083. 43 Schanz dürfte hier als Exeget vor allem an die protestantische exegetische Literatur denken, die er häufig benutzt hat und die freilich durchweg den griechischen Text zu Grunde legte.
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Exegese im Vergleich zu früheren Zeiten geringer geworden und erstrecke sich auf unterschiedliche Auffassungen wie Real- oder Verbalinspiration. Aktuell stünden hier beide Konfessionen vor der gleichen Aufgabe, ein adäquates Verständnis von Inspiration zu bekommen. Unmöglich könne sich die Inspiration auf alle Teile und in einem gleich verbindlichen Maß erstrecken. Die Bibel enthalte zum Beispiel in Bezug auf die Erklärung profaner Dinge (Biologie, Astronomie) Fehler, so dass ihr sowohl Inspiration als auch Irrtumslosigkeit (Inerranz) in einem strengen Sinne nur in rebus fidei et morum zukommen könne.44 IV. Kirchliche Interpretation: Abschließend wird von Schanz ein Grundsatz geltend gemacht, der die anderen Grundsätze weiter spezifiziert, indem er das Kriterium für eine irrtumslose Auslegung der Hl. Schrift angibt: Die Hl. Schrift werde vom katholischen Exegeten innerhalb der Kirche ausgelegt, d. h. das Schriftverständnis der Kirche ist verbindlich für den einzelnen, fehlbaren Ausleger, da nur die Kirche einen autoritativen, unfehlbaren Sinn der Bibel ermögliche. Bei der nichtkatholischen Exegese bleibe die Auslegung dem Einzelnen überlassen, da die Schrift selbst das einzige Formalprinzip sei und es neben ihr strenggenommen keine weitere Autorität gebe. Die katholische Exegese habe, so Schanz, die Tradition der Kirche zu ihrer Norm. Neben den Aussagen der Kirchenlehrer seien es vor allem die Bestimmungen der Konzilien, die diese Norm zum Ausdruck brächten. Das Vatikanum hatte das Tridentinum verstärkt, indem es dem Ausleger vorschrieb, dass in Fragen des Glaubens und der Sitten allein dies der wahre Sinn der Bibel sei, den die Kirche festgehalten habe und festhalte, und es deswegen niemandem erlaubt sei, die Bibel gegen diesen Sinn und gegen die einmütige Übereinstimmung der Väter (unanimis consensus patrum) auszulegen.45 Schanz zeigt, dass er die Forderungen richtig verstanden hat, wenn er schreibt: „Demnach hat der Exeget in Sachen des Glaubens und der Sitte nicht nur sein Resultat an dem Glaubensinhalt zu prüfen, sondern er muß den kirchlichen Sinn und die einheitliche Übereinstimmung der Väter zum leitenden Gesichtspunkt seiner Arbeit machen.“46 Von hier aus erklärt sich auch, weshalb Exegese notwendig konfessionell geprägt ist: Wenn die Kirche Sinn und Inhalt der Hl. Schrift festhält, dann kann der Exeget ein angemessenes Verständnis nur mit dieser Kirche finden. Dass Schanz diesen Grundsatz moderat 44 Während des 19. Jahrhunderts kam es zu mehreren Kontroversen um die Inspirationslehre, an denen sich Schanz auch beteiligte. Vgl. hierzu: James T. BURTCHAELL, Catholic Theories of Biblical Inspiration Since 1810. A Review and Critique, Cambridge 1969 (zu Schanz: 107– 110). 45 DH 3007. Das Tridentinum hatte festgehalten, dass niemand es wagen solle, „auf eigene Klugheit gestützt in Fragen des Glaubens und der Sitten, [...] die heilige Schrift nach den eigenen Ansichten zu verdrehen und diese selbe heilige Schrift gegen jenen Sinn, den die [...] Kirche festgehalten hat und festhält, deren Aufgabe es ist, über den wahren Sinn und die Auslegung der heiligen Schriften zu urteilen, oder auch gegen die einmütige Übereinstimmung der Väter auszulegen“ (DH 1507). Vgl. zur Deutung und Umformulierung dieses Satzes des Tridentinums durch das Vatikanum I: Hans KÜMMERINGER, Es ist Sache der Kirche, „iudicare de vero sensu et interpretatione scripturarum sanctarum.“ Zum Verständnis dieses Satzes auf dem Tridentinum und Vaticanum I, in: ThQ 149 (1969), 282–296. 46 SCHANZ, Art. Exegese (Anm. 38), 1090.
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formulierte, zeigt sich daran, dass etwa Theodor Granderath (1839–1902)47, der erste Historiker des Vatikanischen Konzils, in der Deutung der Konzilsbestimmungen wesentlich weiterging, indem er festhielt: „Der Interpret ist abhängig von der Kirche. Er muß in den Dingen des Glaubens und der Sitten, welche zur Auferbauung der christlichen Lehre gehören, die Schrifttexte in dem Sinne erklären, in welchem die Kirche sie versteht. Denn es ist Sache der Kirche, über den wahren Sinn der Schrift zu urteilen. Das Organ der Kirche bei der Erklärung 48 der Heiligen Schrift ist das kirchliche Lehramt.“
Die Freiheit der exegetischen Forschung besteht für Granderath lediglich in profanen Dingen wie etwa historische, geographische oder biologische Angaben der Bibel, aber selbst diese Freiheit ist für ihn beschränkt, da allein die kirchliche Autorität darüber befinden könne, welche Dinge profan und welche religiös seien.49 Gerade der vierte Grundsatz verweist auf den oft engen Rahmen, in dem sich der Exeget des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bewegen konnte. Dass diese Vorschriften lähmen konnten, wird im Hinblick auf den Aufschwung, den die Exegese im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil genommen hat,50 deutlich. Häufig verkam die Exegese durch diese Bestimmungen zur Magd der als theologische Königsdisziplin vorgestellten Dogmatik, indem man ihr lediglich die Aufgabe zuwies, dicta probantia für diese zu liefern. Dennoch konnte sich trotz dieser strengen Vorgaben eine gewisse Freiheit in der exegetischen Forschung ergeben. Denn die Vorgaben, wie der kirchliche Sinn oder der Väterkonsens zu ermitteln sei, waren nicht eindeutig festgelegt. So schrieb Schanz in dem gleichen Artikel, dass die Kirche zwar zur authentischen Erklärung der Hl. Schrift aufgrund ihres unfehlbaren Lehramtes berechtigt sei, ihre Lehrgewalt zur Feststellung des wahren Sinnes aber nur selten angewandt habe. Es gebe nur wenige Stellen, deren Sinn von den Konzilien direkt als verbindlich erklärt worden sei.51 Steht für 47 Theodor Granderath, geb. am 19. Juni 1839 in Giesenkirchen, 1874 Professor in Ditton Hall, 1887 Professor in Exaten, 1893 Spiritual am Germanikum in Rom, gest. am 19. März 1902 in Valkenburg. Zu ihm: LThK3 4 (1995), 980 (Schatz). 48 Theodor GRANDERATH, Geschichte des Vatikanischen Konzils von seiner ersten Ankündigung bis zu seiner Vertagung. Bd. II: Von der Eröffnung des Konzils bis zum Schlusse der Dritten öffentlichen Sitzung, Freiburg/Br. 1903, 481. 49 „Das Concil von Trient und vom Vatikan erklärt den katholischen Exegeten in religiösen Dingen der hl. Schrift von der Autorität der Kirche abhängig, in den profanen aber enthält es sich, Abhängigkeit des Exegeten auszusprechen. Nach theologischen Principien ist der Exeget in den profanen Dingen der hl. Schrift, insofern sie vom Religiösen ganz losgelöst sind, frei und unabhängig.“ Da es allerdings häufig Grenzfälle gebe, hielt Granderath fest, dass auch in den Fällen, in denen der Exeget glaube, „es handle sich um diese Dinge, in denen er frei sei, unterwerfe ich ihn einem etwa bestehenden feierlichen Ausspruche der Kirche, weil es dieser zusteht, zu urtheilen, ob der Gegenstand, um den es handelt, der freien Forschung des Exegeten zu überlassen sei oder nicht.“ Vgl. hierzu: Theodor GRANDERATH, Zum tridentinischen und vaticanischen Decrete über die Auslegung der hl. Schrift, in: Kath 78 (1898/II), 289–316. 385–411, hier: 410f. Vgl. ebenso: Ebd., 393, Fußnote 1. 50 Die Weichen hierfür stellte Dei Verbum 12 (DH 4217–4219). 51 Hierzu zählten nach dem Tridentinum: Joh 3,5; Joh 20,23; Jak 5,14f. und die Einsetzungsworte beim letzten Abendmahl (Mt 26,26–29; Mk 14,22–25; Lk 22,19f.) und nach dem Vati-
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Schanz der katholische Exeget auch in einem klaren Abhängigkeitsverhältnis zu den kirchlichen Entscheidungen, da er diesen nicht widersprechen dürfe, so hielt er es dennoch für möglich, wissenschaftlich Exegese zu betreiben, da die dem Exegeten aufgelegten Einschränkungen sehr begrenzt seien. So erhöben die zahlreichen Bibelstellen der Konzilstexte und päpstlichen Verlautbarungen, die in den Texten zur Beweisführung herangezogenen werden, nicht den Anspruch unfehlbarer Interpretation. Für ein ebenfalls moderates Verständnis der Forderung nach Berücksichtigung des consensus patrum hat Schanz Grundlegendes geleistet. So hielt er den Väterkonsens für nur schwer nachweisbar, da kaum alle Stellen erfasst werden können, zu denen sich die Väter geäußert hätten und sie selbst sich in der Erklärung nicht immer gleich geblieben seien.52 Hier sei also große Vorsicht geboten. Nicht zuletzt auch deswegen, weil es in der Geschichte zu einer falschen Berufung auf den consensus patrum gekommen sei: Schanz hatte in mehreren Arbeiten dargestellt, dass es zu der Verurteilung Galileo Galileis nicht wegen des Verstoßes seiner Forschungen gegen den Wortsinn der Schöpfungsgeschichte der Genesis gekommen sei, sondern weil Galilei nach dem Urteil seiner Richter damit vom Väterkonsens abgewichen sei. Dies sei, so Schanz, eine verkehrte Entscheidung der Inquisition gewesen. Es sei daher immer darauf zu achten, dass wenn überhaupt ein klarer Konsens feststellbar ist, die Väter nur in Bezug auf Glauben und Sitten als Autorität dienen können. In anderen Dingen, wie historischen, chronologischen, philologischen oder naturwissenschaftlichen Fragen, hätten sie sich häufig geirrt. Hier müsse man über sie hinausgehen.53
kanum: Mt 16,16–19; Joh 21,15–17 und Lk 22,32. Handelte es sich für Schanz auch nur um diese wenigen Stellen, gab er zu bedenken, dass es kirchliche Entscheidungen gebe, die indirekt dem Exegeten einen Maßstab für seine Auslegung lieferten. So könne man etwa nach dem Nizänum Stellen, die Jesus geringer als den Vater erscheinen lassen (wie z. B. Mk 10,18; Joh 1,27; Joh 14,28; 1 Kor 15,28), nicht mehr so deuten als würden sie Christus ganz erfassen. 52 SCHANZ, Art. Exegese (Anm. 38), 1093. 53 Die Ausführungen zeigen, dass Schanz in Bezug auf den Väterkonsens und den kirchlichen Sinn der Hl. Schrift eine moderate Auffassung vertrat. Die Diskussion des zweiten Kapitels von Dei Filius während des Konzils zeigt, dass es auch Forderungen nach einer strengeren Auslegung der tridentinischen Aussagen gab. Vgl. hierzu: Klaus SCHATZ, Vaticanum I. 1869– 1870. Bd. II: Von der Eröffnung bis zur Konstitution „Dei Filius“ (Konziliengeschichte Reihe A: Darstellungen), Paderborn 1993, 330f. Seine Auffassung über den Väterkonsens entwickelte Schanz exemplarisch anhand der Genesisauslegung der Kirchenväter. Vgl. hierzu v. a.: Paul SCHANZ, Die naturwissenschaftliche Exegese der Väter, in: ThQ 59 (1877), 636–658; DERS., Der hl. Augustinus und die Genesis, in: NuO 23 (1877), 668–683; DERS., Der hl. Thomas und das Hexameron, in: ThQ 60 (1878), 3–22; DERS., Die Probleme der Einleitung bei den Vätern, in: ThQ 61 (1879), 56–91; DERS., Die Urgeschichte der Menschheit und die Bibel, in: LitRdsch 8 (1882), 33–38; DERS., Die scholastische Kosmologie, in: ThQ 67 (1885), 3–57. Über Galileo Galilei hat Schanz intensiv geforscht. Vgl. hierzu: Paul SCHANZ, Galileo Galilei und sein Prozeß. Nach den neuesten Forschungen, Würzburg 1878; DERS., Zur Galilei-Literatur, in: LitRdsch 4 (1878), 1–10; DERS., Galileo Galilei, in: NuO 24 (1878), 659–670. 716–725; DERS., Die Literatur zur Galilei-Frage, in: LitHw 18 (1879), 473–482.
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Weitere Aufklärung über die Besonderheit katholischer Exegese liefert Schanz bei der Beschreibung der von ihm als rationalistisch bezeichneten Exegese. Diese sei zwar nicht per se glaubensfeindlich, allerdings mache sie die Vernunft zum alleinigen Maßstab der Auslegung, so dass sie die Grundsätze gläubiger Exegese nicht gelten lasse. Dies gehe soweit, dass diese Form der Exegese über „Inhalt und Umfang“ der Hl. Schrift selbst bestimmen wolle. Nicht was kirchlich festgestellt, sondern nur was historisch fundiert werden könne und mit dem gesunden Menschenverstand übereinstimme, so Schanz, gelte als wahr. „Damit sind Inspiration, Wunder und Weissagungen eliminirt. Die dießbezüglichen Erzählungen müssen also kritisch verworfen oder umgedeutet werden, und dieß geschieht, indem man sie entweder aus historischer Accomodation oder als Einkleidung von Ver54 nunftideen oder als mythische Bildungen erklärt.“
Bedient sich Schanz hier auch der fundamentalen Kritik, die der historisch- kritischen Methode von Seiten der Katholischen Theologie entgegengebracht wurde, zeigt er sich dennoch für das Anliegen dieser Exegese offen, indem er auch dem rationalistischen, rein wissenschaftlich argumentierenden Ansatz eine Berechtigung zugesteht. Es sei auch für die katholische Exegese notwendig, so Schanz, die „natürlichen Wissenschaften“, die in der rationalistischen Exegese zur Anwendung kämen, wahrzunehmen. Die alte traditionelle Methode der Schriftauslegung allein genüge nicht mehr, um in der Moderne verantwortet den Glauben bezeugen zu können. Die kompatiblen Elemente der rationalistischen Exegese, wie etwa ihre wissenschaftliche Methodik, sollten daher in die katholische Exegese integriert werden.55 Allerdings, so Schanz weiter, könne es sich bei der Anwendung dieses neuen Weges
521–528. 555–560; DERS., Galileo Galilei, in: HJ 3 (1882), 163–207; DERS., Art. Galileo Galilei, in: Wetzer-Welte2 V (1888), 18–44. 54 SCHANZ, Art. Exegese (Anm. 38), 1100. Für Schanz tritt die rationalistische Exegese in drei Erscheinungsformen auf: A. als historisch-kritische (Hauptvertreter: Baruch de Spinoza, Johann Salomo Semler), B. als moralische (Hauptvertreter: Immanuel Kant) und C. als mythologische Exegese (Hauptvertreter: David Friedrich Strauß). 55 Daher müsse man die Ansätze der rationalistischen Exegese ordnen: 1) Die historischgrammatische Auslegung könne nur die Vorarbeiten für die theologische Auslegung liefern. Sie könne zwar ein besseres Verständnis des Bibeltextes ermöglichen, allerdings sei ihr Ansatz, alles Übernatürliche der biblischen Schriften durch Akkomodation, also durch eine Anpassung an die Fassungskraft der Rezipienten, zu erklären, strikt abzulehnen. Vorbild eines rechten Verhältnisses zwischen historisch-kritischer und katholischer Exegese war für Schanz Richard Simon (1638–1712): Mit ihm beginne für die katholische Theologie eine neue Periode, nämlich die Anwendung der historisch-kritischen Einleitung und Exegese. Er habe, so Schanz, bahnbrechend für Spätere gewirkt. 2) Die moralische Auslegung betone mit Recht das sittliche Moment der Religion, aber eine Reduktion der Religion auf die Moral innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft werde weder den biblischen Schriften noch den Menschen gerecht und sei daher abzulehnen. 3) Gänzlich abzulehnen sei die mythische Auslegung, da sie sich im Gegensatz stelle zu dem historischen Gehalt der biblischen Schriften und dem Glauben der frühen Christen nicht gerecht würde: Märtyrer, so Schanz, würde man nicht durch den Glauben an einen Mythos.
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„nicht um einen Compromiß zwischen Vernunft und Offenbarung, sondern nur um die Herstellung des richtigen Verhältnisses zwischen beiden handeln. Dieses besteht aber nicht in der Unterordnung des Höheren unter das Niedere. Ist auch die Vernunft das Frühere, so kann sie doch nur für das Natürliche maßgebend sein und ist auch in diesem nicht untrüglich. [...] Über das Übernatürliche kann die Vernunft a priori gar kein Urtheil abgeben, a posteriori aber ist ihr Urtheil nur ein negatives, d. h. der Nachweis, daß 56 die Offenbarungswahrheit der sichern Vernunftwahrheit nicht widersprechen kann.“
An diesen Ausführungen wird unmissverständlich klar, dass hier eine Exegese im Anschluss an das Erste Vatikanische Konzil definiert wird: Die dogmatische Konstitution Dei Filius hatte im vierten Kapitel eine zweifache Ordnung der Erkenntnis konstatiert und die prinzipielle Widerspruchsfreiheit von Glauben und Vernunft definiert.57 Zwischen Wissenschaft und katholischem Glauben könne kein Widerspruch bestehen, wenn beide innerhalb ihres Erkenntnisbereiches blieben. Das Problem, das sich für Schanz als Rezipienten des Konzils ergab, war, dass die so genannte „rationalistische Exegese“ nur den Maßstab der natürlichen Vernunft gelten ließ und somit nicht den biblischen Schriften gerecht würde, da diese als Offenbarungszeugnisse einen übernatürlichen Charakter trügen. Dass es für die historisch-kritische Methode durch diese Vorgabe schwer war, sich innerhalb der katholischen Exegese zu etablieren, da sie als „rationalistisch“ operierende Methode nicht nur als Verkürzung des Aussagegehalts des biblischen Textes, sondern auch als Kritik an kirchlicher Autorität verstanden wurde, dürfte mit den von Schanz vorgenommenen Begriffsbestimmungen deutlich geworden sein. Hermann J. Pottmeyer hat gezeigt, dass die Ausführungen von Dei Filius zur Schriftauslegung explizit eine Kritik an der historisch-kritischen Bibelwissenschaft waren. Im Verweis auf die Autorität der Kirche in der Schriftauslegung und in der Forderung nach Gehorsam versuchten die Konzilsväter abweichende Auslegungen zu unterbinden.58 Lassen sich auch triftige Gründe nennen, weshalb sie der Exegese größere Eigenständigkeit absprachen, so hat dieses Abhängigkeitsverhältnis doch erschwerend auf eine wissenschaftlich verantwortete Exegese gewirkt. Die Schwierigkeit des katholischen Exegeten, in seiner Arbeit ein angemessenes Verhältnis zwischen wissenschaftlich-methodischer Eigenständigkeit
56 SCHANZ, Art. Exegese (Anm. 38), 1103f. Dass Schanz mit dieser Kritik nur äußerlich das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung zu bestimmen vermochte, ist ein Problem, das in der Extrinsezismus-Intrinsezismus-Debatte am Ende des 19. Jahrhunderts virulent wurde. Der extrinsezistische Ansatz, den die katholische Apologetik des 19. Jahrhunderts weitgehend vertrat, tritt hier als methodisches Problem der Bibelauslegung auf: Zwar konnte man der rationalistischen Exegese vorwerfen, die biblischen Texte in ihrer Erforschung auf eine „natürliche“ Erklärung zu reduzieren, allerdings blieb Schanz der Frage, wie der als übernatürlich zu glaubende Inhalt verstehbar ist, die Antwort schuldig. Ein verstehender Zugang zum Inhalt der Offenbarungswahrheit bleibt damit verschlossen. Zur Definition von Extrinsezismus vgl.: HFTh 4 (1988), 511–513 (Seckler). 57 DH 3015–3020. 58 Hermann J. POTTMEYER, Die historisch-kritische Methode und die Erklärung zur Schriftauslegung in der dogmatischen Konstitution ,Dei Filius‘, in: Annuarium Historiae Conciliorum 2 (1970), 87–111.
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und gläubig-kirchlicher Abhängigkeit zu finden, lässt sich am Werk von Paul Schanz paradigmatisch studieren.
3. Das exegetische Werk – Nachkonziliare Schriftauslegung Das Gutachten Linsenmanns zur Bischofswahl von 1898 enthielt auch eine Schilderung des Charakters von Schanz, den er als „etwas herb“ beschrieb. Zwar sei Schanz bescheiden und aufrichtig, allerdings fehle ihm „die Gewandtheit der äußeren Form“. Er sei nicht so leicht anderen Menschen zugänglich, suche kaum die Gunst anderer, lebe zurückgezogen seinen Studien und beschränke sich auf die Gesellschaft seiner Fakultätsgenossen.59 Diese Eigenschaften, die Linsenmann anführte, können nicht nur erklären, weshalb Schanz bei der Wahl keine Stimme vom Domkapitel erhalten hatte, sie dürften auch erklären, wie es Schanz möglich war, sich derart zügig in die verschiedenen Disziplinen einzuarbeiten und auch rege zu publizieren.60 3.1 Exegese und moderne Wissenschaft – Eine akademische Antrittsrede In seiner Antrittsrede setzte Schanz die Ergebnisse der modernen Naturwissenschaft mit dem biblischen Glauben an eine Schöpfung durch Gott in Beziehung. Die Kritik, die die Bibel durch die Naturwissenschaft erfahren habe, sei auch für den katholischen Exegeten von Bedeutung, da sich nur durch die Zurkenntnisnahme der modernen Forschung wissenschaftlich verantwortet vom christlichen Glauben reden, eine „christliche Weltanschauung“ verteidigen lasse: „Es ist deshalb Pflicht des Exegeten wie des Theologen überhaupt, die Resultate seiner Wissenschaft mit denen anderer Disziplinen zu vergleichen, wenn er auch dabei gezwungen wird, den ihm zugewiesenen engeren Kreis vielfach zu überschreiten. Es muß ihm der Nachweis möglich sein, daß die sicheren Resultate der Naturwissenschaften mit der richtigen Auffassung der religiösen Ideen, der christlichen Lehren nicht im Widerspruch stehen. Natur und Offenbarung sind zwei Gebiete, welche sich nicht ausschließen, sondern ergänzen sollen, so gewiß die Wahrheit nur eine ist, aber die Untersuchung 61 der Gebiete ist wesentlich verschieden.“
59 StAL E 210 Bü 120: Direktorialbericht für das Ministerium des Kirchen- und Schulwesens vom 14. Juni 1898 (Entwurf). 60 Neben den über 600 Rezensionen in den verschiedenen theologischen Fachzeitschriften veröffentlichte Schanz ca. jedes zweite Jahr eine größere Monographie, wobei auch die jährlichen Aufsätze mit ihren bis zu 100 Seiten einen monographischen Charakter haben. Bereits ein Jahr nach Übernahme der neuen Professur veröffentlichte Schanz Aberles Einleitung in das Neue Testament, die er teilweise überarbeitet und durchgehend mit einem Fußnotenapparat versehen hatte, der umfassend die gesamte Forschungsliteratur zur neutestamentlichen Einleitung auswertete. 61 Paul SCHANZ, Die christliche Weltanschauung in ihrem Verhältniß zu den modernen Naturwissenschaften, in: ThQ 58 (1876), 392–421, hier: 395.
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Mit diesen Sätzen zu Beginn seiner Antrittsrede postulierte Schanz als Rezipient von Dei Filius auch hier die Widerspruchsfreiheit zwischen der Theologie und den anderen Wissenschaften, in dem Fall der Naturwissenschaft. Denn wenn die Naturwissenschaft empirisch ihren Gegenstand erforsche, berühre sie die eigentliche Arbeit des Theologen nicht. Und umgekehrt betrachte es die Hl. Schrift und mit ihr die Theologie nirgends als ihre Aufgabe, dem Menschen Belehrungen über die Natur zu geben, sondern behandele diese ausschließlich in Bezug auf „das religiöse Leben“ der Menschen. Den gesamten Hauptteil seiner Rede steckte Schanz die Grenzen ab, durch die die Widerspruchsfreiheit zwischen Theologie und Naturwissenschaft gewährleistet werden könne. Dass durch eine solche Grenzziehung beide Gebiete, Theologie und Naturwissenschaft, bzw. Vernunft und Offenbarung, profitieren würden, ist sich Schanz sicher: „Die ganze Entwicklung der Naturwissenschaften hat nicht nur dem Studium der Natur einen neuen Aufschwung gegeben, sondern auch fördernd und anregend auf andere Gebiete gewirkt und auch der Theologe wird immer gut thun, von den gesicherten Resultaten derselben zu profitiren. Unsere Ansichten über Gott und die Natur werden dadurch immer mehr geläutert und von jeder sinnlichen Beimischung befreit. Wie jede Wissenschaft dem Exegeten neue Hilfsmittel zu besserer Erklärung der Hl. Schrift bietet, so darf er auch der Naturwissenschaft dafür dankbar sein. Es wird sich zeigen, daß manches wohl zu engherzig aufgefaßt wurde, aber der Grund des Gebäudes und seine festen 62 Pfeiler werden unerschüttert bleiben.“
Die prinzipielle Widerspruchsfreiheit von Glaube und Vernunft, die in Dei Filius definiert worden war, forderte von dem katholischen Theologen, den Glauben als widerspruchsfrei mit den Resultaten der Wissenschaften zu erweisen. So wie die Konstitution dem vernunftgeleiteten Erkennen ein Recht einräumte, so erkannte auch Schanz der Naturforschung eine Berechtigung zu. Wie aber dem natürlichen Denken in Dei Filius Grenzen durch die übernatürliche Offenbarung gesetzt wurden, so galten dem entsprechend diese Grenzen auch für die Wissenschaften. Diese Vorstellung einer notwendigen Ergänzung machte es dem Theologen zur Pflicht, die Naturwissenschaften nicht in die Autonomie zu entlassen.63 Es konnte ihn aber ebenso dazu verpflichten, ihre empirisch gewonnenen Ergebnisse anzuerkennen. Dass dieser Ansatz als Rezeption des Ersten Vatikanischen Konzils verstanden werden kann, zeigen die Diskussionen und Bemühungen um das Programm einer „Katholischen Wissenschaft“, wie sie vor allem mit der wissenschaftlichen und kulturpolitischen Tätigkeit der Görres-Gesellschaft, der Schanz frühzeitig angehörte und deren Arbeitsprogramm er teilte, verbunden sind. Das Arbeitspro62 Ebd., 419f. 63 Das Konzil hatte diese Autonomie im zweiten Kanon des vierten Kapitels explizit verboten: „Wer sagt, die menschlichen Wissenschaften seien mit einer solchen Freiheit auszuüben, daß ihre Behauptungen, auch wenn sie der geoffenbarten Lehre widerstreiten, als wahr festgehalten und von der Kirche nicht verworfen werden können: der sei mit dem Anathema belegt.“ (DH 3042).
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gramm der Görres-Gesellschaft, das bei der Gründung im Jahr 1876 – dem gleichen Jahr der Antrittsrede – bekannt gegeben wurde, richtete sich an diejenigen Katholiken, „die mit uns den noch jüngst durch das Vatikanische Konzil feierlich verkündeten Grundsatz bekennen, daß zwischen der Lehre der Kirche und den Ergebnissen echter Wissenschaft kein wahrer Widerspruch bestehen kann, vielmehr Glaube und Wissenschaft einander wechselseitig fördern und ergänzen“.64 Die Arbeiten Georg Freiherr von Hertlings (1843–1919)65 und die seit 1876 erscheinenden Jahresberichte der Görres-Gesellschaft zeigen, dass das Postulat einer „Katholischen Wissenschaft“ durchgängig aufrecht erhalten wurde, so dass dieses Schlagwort als eine katholische Antwort auf die Wissenschaft und Kultur der Moderne bezeichnet werden kann.66 3.2 Das synoptische Problem – Eine Herausforderung katholischer Exegese Auch für das zweite Thema ist Schanz’ Definition biblischer Exegese hilfreich. Ein Blick auf die Veröffentlichungen von Schanz zur synoptischen Frage zeigt, dass er zwar einige hundert Seiten hierzu publiziert hat,67 die in der Forschungsliteratur aufgeworfenen Fragen sehr gut kannte, sich aber doch reserviert bis ablehnend zu den angebotenen Lösungen geäußert hat. Dass er sich hier nicht weiter vorwagte, kann am ehesten mit den Grundsätzen katholischer Exegese erklärt werden. So schrieb Schanz bereit 1868 über die synoptische Frage:
64 Hermann CARDAUNS, Die Görres-Gesellschaft 1876–1901. Denkschrift zur Feier ihres 25jährigen Bestehens, Köln 1901, 9. 65 Georg Freiherr von Hertling, geb. am 31. August 1843 in Darmstadt, 1861 Studium der Philosophie und Naturwissenschaften in Münster, München und Berlin, 1867 Privatdozent in Bonn, 1875 Mitglied des Reichstags, 1876 Gründungsmitglied und erster Präsident der Görres-Gesellschaft1880 Extraordinarius für Philosophie ebd., 1882 Professor für Philosophie in München (Konkordatslehrstuhl), 1891 Reichsrat der Krone Bayerns, 1909 Fraktionsvorsitzender der Zentrumspartei, 1912 bayrischer Ministerpräsident, 1917 Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident, gest. am 4. Januar 1919 in Ruhpolding. Zu ihm: BBKL 20 (2002), 737–757 (Wesseling). 66 Vgl. hierzu: Heribert RAAB, „Katholische Wissenschaft“ -Ein Postulat und seine Variationen in der Wissenschafts- und Bildungspolitik deutscher Katholiken während des 19. Jahrhunderts, in: Anton RAUSCHER (Hg.), Katholizismus, Bildung und Wissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn 1987, 61–91. Christopher DOWE, Auch Bildungsbürger. Katholische Studierende und Akademiker im Kaiserreich (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 171), Göttingen 2006, 231-290; Richard SCHAEFER, Program for a New Catholic Wissenschaft: Devotional Activism and Catholic Modernity in the Nineteenth Century, in: Modern Intellectual History 4 (2007), 433–462. 67 [Paul SCHANZ], Glossen zu der „exegetischen Studie“, in: Katholisches Kirchenblatt der Diöcese Rottenburg 7 (1868), 178–180. 185–187; DERS., Die Markushypothese, in: ThQ 53 (1871), 489–584; DERS., Die Composition des Matthäus–Evangeliums, Tübingen 1877; DERS., Matthäus und Lukas, in: ThQ 64 (1882), 517–560; DERS., Die Traditionshypothese, in: ThQ 67 (1885), 216–243; DERS., Zur Benützungshypothese, in: ThQ 67 (1885), 638–646. Neben diesen Veröffentlichungen thematisierte Schanz die synoptische Frage ausgiebig in seinen Kommentaren zu den Synoptikern.
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„Eine Lösung dieser Frage [...] verlangt nicht etwa bloß das wissenschaftliche Interesse, sondern was mehr ist, das christlich-kirchliche, da gerade aus den Schwierigkeiten, welche ihr entgegenstehen, in der Neuzeit die Waffen geschmiedet wurden, um die 68 Glaubwürdigkeit der Evangelien zu untergraben.“
Schanz erkannte gleich zu Beginn seines Aufsatzes über die Markushypothese an, dass die Abhängigkeit zwischen den synoptischen Evangelien unverkennbar, die richtige Verhältnisbestimmung dieser Abhängigkeit in der Forschung aber zu einem gordischen Knoten geworden sei. Im Durchgang durch die Forschungsliteratur entwickelte er einen Lösungsansatz, den er bei seinem Lehrer Aberle kennengelernt hatte: Um eine befriedigende Lösung für das synoptische Problem zu erhalten, so Schanz, helfe weniger die genaue Text- und Literarkritik – gleichwohl beide wichtig seien – als vielmehr die Erforschung der Tendenzen, d. h. die Klärung der Zwecke, die die Verfasser beim Schreiben ihrer Evangelien verfolgt hätten: „Veranlasste die Rücksicht auf seinen Leserkreis einen Evangelisten, an seiner Vorlage entsprechende Veränderungen vorzunehmen, manches auszulassen, anderes aus der Tradition beizufügen, so sind wir berechtigt, bei den andern ähnliche Motive anzunehmen, und nicht die Logik oder der vermeintliche historische Zusammenhang entscheidet über die Priorität, sondern die Abweichungen sind nach der Zweckbeziehung zu beurtheilen und die Priorität ist aus den historischen Verhältnissen, unter denen nach innern und äußern Zeugnissen die betreffenden Schriften entstanden sind, festzustellen. Aber selbst die Bedeutung der Priorität wird dadurch modificirt. Es kann keine sklavische Abschreiber mehr geben, sondern jeder Schriftsteller schreibt selbstständig zur Erreichung des vorgesetzten Zweckes, der durch den Leserkreis bedingt ist, und folgt nur so weit 69 seiner Quelle, als er deren Stoff für seinen Zweck verwenden kann.“
Die Veröffentlichungen von Schanz zeigen eine sehr gründliche Kenntnis derjenigen Forschungsliteratur, die in der Anwendung der Literarkritik die Abhängigkeitsverhältnisse der Evangelien zueinander zu klären versuchte. Dass Schanz trotzdem diesem Ansatz widersprach, liegt zum einen daran, dass er seinem Lehrer folgte und historisch die Zwecke untersuchte, die die Evangelisten zum Schreiben veranlasste. Es hat ferner seinen Grund darin, dass diese Literatur ausschließlich von protestantischen Exegeten verfasst worden ist.70 So heißt es gleich 68 [DERS.], Glossen (Anm. 67), 185. 69 DERS., Markushypothese (Anm. 67), 541f. 70 Als Vertreter der Markuspriorität zitierte Schanz folgende Autoren mit ihren Werken: Christian Gottlob Wilke (1786–1854), Bruno Bauer (1809–1882), Christian Hermann Weiße (1801–1866), Jakob Theodor Plitt (1815–1886), Johann Rudolf Tobler, Karl Philipp Bernhard Weiss (1827–1918), Heinrich Julius Holtzmann (1832–1910), Daniel Schenkel (1813–1885), Carl Heinrich Weizsäcker (1822–1899), Albrecht Ritschl (1822–1889), Gustav Volkmar (1809–1893), Heinrich Ewald (1803–1875), Eduard Reuß (1804–1891), Heinrich A. W. Meyer (1800–1873), Karl Reinhold Köstlin (1819–1894), Eduard Güder (1817–1882), Heinrich W. J. Thiersch (1817–1885), Karl Theodor Keim (1825–1878), Karl Georg Wieseler (1813–1883) u. a. Zwar gab es einen katholischen Forscher, den Münchner Privatgelehrten und Leben-Jesu-Forscher Johann Nepomuk Sepp (1816–1909), der auch die Markuspriorität vertrat, dieser wird allerdings von Schanz marginalisiert.
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zu Beginn seines Aufsatzes über die Markushypothese: „Der größte Theil der protestantischen Exegeten betrachtet das Markus-Evangelium als das ursprüngliche, während katholischerseits, [...], die alte Ordnung des Kanons aufrecht erhalten wird.“71 Dieser Satz zeigt, dass Schanz in der Annahme der Markuspriorität einen Verstoß gegen den ersten und vierten Grundsatz katholischer Exegese gesehen hat, da durch sie sowohl die Einheit des Kanons als auch der Konsens mit den Kirchenvätern gefährdet würde. Die Ordnung der Evangelien im Kanon sei keine willkürliche, so Schanz, „sondern eine bewusst chronologische“72; außerdem werde das Matthäusevangelium „von der kirchlichen Tradition ausnahmslos als das älteste bezeichnet“73. Die Forschungen zur synoptischen Frage konnte Schanz daher nur innerhalb einer die Grundsätze konfessioneller Exegese wahrenden Grenze würdigen.74 Bestärkt wird diese Einschätzung durch die Kanonkritik Ferdinand Christian Baurs und seiner Schule, deren Konsequenzen in Tübingen besonders von Aberle und Schanz verurteilt worden sind.75 Bereits in der Kontroverse mit seinem Tübinger Kontrahenten Johann Adam Möhler (1796–1838) machte Baur hinsichtlich des Kanons einen Unterschied zwischen Katholizismus und Protestantismus geltend. Im Gegensatz zum Katholiken, der sich aufgrund der Autorität der Kirche an den Kanon quasi dogmatisch gebunden wisse, sei für Protestanten der Kanon ein rein historisches Phänomen. In der ursprünglichen Festsetzung des Kanons könne der Protestant „keinen kirchlichen Akt sehen, sondern das Zeugniß der Kirche ist ihm nur ein historisches Zeugniß, in Ansehung dessen die einzelnen Zeugen nur soviel gelten können, als die Grundsätze der historischen Kritik gestatten. Die ganze den Kanon betreffende Fra76 ge ist ihm eine rein historisch-kritische.“ 71 72 73 74
SCHANZ, Markushypothese (Anm. 67), 490. DERS., Composition des Matthäus-Evangeliums, 28. DERS., Commentar über das Evangelium des hl. Matthäus (Anm. 67), 24. So schrieb Heinrich J. HOLTZMANN in: ThLZ 5 (1880), 108f. über Schanz’ Matthäuskommentar und die darin verhandelte synoptische Frage: „Es sind eben die der katholischen Auslegung von Haus aus gezogenen Schranken, welche den Verfasser zu keiner befriedigenden, auch nicht einmal zu einer in sich klaren und durchsichtigen Auffassung des Ganzen gelangen lassen.“ Dass der Kommentar Traditionelles wiederhole, erkläre sich aufgrund „des confessionellen Standpunktes der Exegese“. 75 Dass dies auf eine prinzipielle Nähe mit dem Ansatz Baurs zurückzuführen ist, kann hier nicht geklärt werden. Vgl. hierzu: Adolf HILGENFELD, Die neueste Tübingsche TendenzKritik, in: ZWTh 7 (1864), 425–448 u. ZWTh 8 (1865), 76–102. 76 Ferdinand Christian BAUR, Der Gegensatz des Katholicismus und Protestantismus nach den Principien und Hauptdogmen der beiden Lehrbegriffe, Tübingen 21836, 495. Auf die Kritik, die Baur hinsichtlich seiner Kanonkritik erhalten hatte, entgegnete er: „Wozu gäbe es eine Kritik des N. Testaments, eine Einleitungswissenschaft, eine auf der neuern Philologie beruhende Exegese und Hermeneutik, wenn der Kanon im Ganzen und Einzelnen nicht rein geschichtlich betrachtet werden dürfte, und wie wäre eine solche Betrachtung möglich, wenn man nicht auch das Recht hätte, die alte dogmatische Einheit des Kanons aufzulösen, ihn auseinanderzulegen, in den lebendigen Fluß der Entwicklung zu bringen, und bei jeder einzelnen Schrift nach ihrem Ursprung, ihrem Verfasser, und nach allem demjenigen zu fragen, wornach ihr ihre bestimmte Stelle in der Entwicklungsgeschichte des Christenthums anzuweisen
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Die historisch-kritische Behandlung des Kanons bedeutete für Baur, die später entstandenen Schriften des Neuen Testaments als „unecht“ und damit als nachapostolisch zu kennzeichnen und ihnen ihre Kanonizität abzusprechen.77 Auch wenn die Apostolizität durch die synoptische Frage nicht direkt zur Debatte stand, so führte doch der konsequent historische Ansatz Baurs und seiner Schüler, der den katholischen Exegeten Tübingens gut bekannt war, zu dogmatisch relevanten Streitfragen. Schanz war sich bewusst, dass die Klärung der literarischen Abhängigkeitsverhältnisse zu Ergebnissen führen konnte, die nicht der kirchlichen Tradition entsprachen. Letztlich konnte dies die apostolische Verfasserschaft, die von der Tradition bezeugt wurde, in Frage stellen oder den Umfang der biblischen Schriften, der von der Kirche definiert worden war, diskreditieren. 3.3 Die Kommentare – Historisch-kritisch und katholisch? Die Kommentarwerke, die zusammen einen Umfang von ca. 2.200 Seiten haben, erschienen in einem Zeitraum von nur sechs Jahren. Alle vier Bände erhoben den Anspruch, Ergebnisse der wissenschaftlichen Exegese zu sein, wozu neben den historischen und philologischen Erklärungen der einzelnen Verse auch text- und literarkritische Erörterungen gehören. Außerdem hielt Schanz es für geboten, die gesamte Auslegungsgeschichte zu berücksichtigen, so dass neben einer weitreichenden Auswertung der patristischen und scholastischen Exegese nahezu die gesamte katholische wie nichtkatholische neuzeitliche Forschungsliteratur verarbeitet wurde. Diese umfassende Literaturkenntnis ermöglichte es Schanz, einerseits die Grundsätze der katholischen Exegese zu wahren, andererseits aber durchaus historisch-kritisch die Evangelien zu kommentieren.78 So gelang es ihm, obwohl er Markus für ein Exzerpt aus Matthäus hielt, das Markusevangelium in der Einzelexegese zu würdigen. Zwar meine man oft, so Schanz im Vorwort zu seinem Markuskommentar, dass nach einem Kommentar zu Matthäus sich einer zu Markus erübrige, da in Matthäus schon alles über Markus gesagt worden sei, allerdings sei dies ein Fehler: Das Markusevangelium biete „so viele interessante Züge und charakteristische Merkmale, daß es sich auch für denjenigen, welcher ihm die Priorität nicht zusprechen zu können glaubt, der Mühe lohnt, dasselbe nach dieser Seite hin einer genauen Betrachtung zu unterziehen.“79 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit kann keine angemessene Auswertung des exegetischen Ertrags der Kommentarwerke vorgenommen werden.80 Daher soll
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ist?“ (Ferdinand Christian BAUR, Die Tübinger Schule und ihre Stellung zur Gegenwart, Tübingen 21860, 19). Vgl. hierzu: Werner Georg KÜMMEL, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme (OA 3,3) Freiburg/München 1958, 162. In den vielen Rezensionen, die die Kommentare erfahren haben, wird durchgängig dieses Merkmal hervorgehoben. Vor allem in den Rezensionen katholischer Theologen wird die umfassende Berücksichtigung der Väterliteratur gelobt. SCHANZ, Commentar über das Evangelium des hl. Marcus (Anm. 25), V. Hierzu wird vom Verfasser dieser Arbeit eine eigenständige Publikation vorbereitet.
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hier lediglich Schanz’ Auslegung der im ersten Kapitel der dogmatischen Konstitution Pastor Aeternus des Ersten Vatikanischen Konzils genannten Bibelstellen zur Sprache kommen, um zu sehen, wie Schanz mit den Stellen umging, deren Sinn explizit vom kirchlichen Lehramt definiert worden war. Nach Aussage des Konzils erkläre die Bibel in Mt 16,16–19 und Joh 21,15–17 klar und deutlich, dass Petrus von Christus mit dem direkten und unmittelbaren Jurisdiktionsprimat ausgestattet worden sei.81 Schanz bezog die Verheißung Christi in Mt 16,18 auf die Person des Petrus und schloss sich somit einer Deutung an, die sich seit der Reformation in der katholischen Kirche etabliert hatte.82 Schanz kannte aber auch protestantische Exegeten, die sich dieser Deutung angeschlossen haben und zitierte ausführlich Heinrich August Wilhelm Meyers (1800–1873) Auslegung der Stelle.83 Schanz verschwieg dabei nicht, dass die protestantischen Exegeten, die diese Deutung wählten, klare Einwände gegen die römisch-katholische Konsequenz erhoben, dass man von Petrus als Felsen der Kirche Jesu Christi auf den Papst und die römischkatholische Kirche schließen könne.84 Er hielt ihnen entgegen: „Wenn aber Petrus der Fels war, welcher der Kirche menschlicherseits Halt und Bestand gab, wo soll diese nach dem Tode des Petrus ihren Halt haben, und wenn die römischen Päpste nicht seine Nachfolger waren, wer ist es dann?“85 Er sei sich sicher, dass die historische Forschung diese Schlussfolgerung belegen könne,86 lässt aber seine Argumentation mit dem Verweis enden, dass es ihm hier nicht möglich sei, über das Neue Testament hinausgehende historische Forschung zu betreiben. Obwohl die Argumentation von Schanz die Einwände gegen den päpstlichen Primatsanspruch widerlegt, zeigt sie dennoch ein hohes Maß an Sensibilität für diese konfessionell geprägte Stelle. Wie nahezu jeden Vers in seinen Kommentaren belegte Schanz auch hier seine Deutung mit Zitaten aus den Kirchenvätern. 81 DH 3053–3055. 82 Zu den Deutungsmöglichkeiten der Stelle in der Auslegungsgeschichte vgl. Ulrich LUZ, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8–17) (EKK I/2), Zürich et al. 1990, 472–480. Schanz entschied sich für die von Luz als „römische Deutung“ bezeichnete Auslegung (Ebd., 478–480). 83 So schrieb Meyer: „Ohne Zweifel wird übrigens hier dem Petrus der Primat unter den Aposteln zuerkannt, insofern Christus grade Ihn persönlich auszeichnet als denjenigen, dessen apostolisches Wirken, zufolge seiner hervorragenden glaubensfesten Eigenthümlichkeit, die menschlicher Seits [...] Halt und Bestand gebende Bedingung der von Jesu zu gründenden und weiter zu fördernden Gemeinde sein werde.“ (Heinrich August Wilhelm MEYER, Kritisch Exegetisches Handbuch über das Evangelium des Matthäus, Göttingen 61876, 351). 84 So fuhr Meyer fort, dass dieser Primat des Petrus unparteiisch zuzugeben sei, „aber ohne die Römischen Consequenzen, da Jesus weder Nachfolger des Petrus im Auge hat, noch die Päpste solche Nachfolger sind, noch Petrus selbst jemals Römischer Bischof, auch Gründer der Römischen Gemeinde so wenig wie Paulus gewesen ist [...] Die oft von der Polemik gegen Rom ergriffene Auskunft mit dem Felsen sei nicht Petrus selbst, sondern der feste Glaube und dessen Bekenntnis von Seiten des Apostels gemeint [...], ist unrichtig“. (Ebd.). 85 SCHANZ, Commentar über das Evangelium des hl. Matthäus (Anm. 25), 379. Er setzt sich an dieser Stelle vor allem mit Meyer auseinander. 86 Meyer sprach sich gegen die katholische Kirchengeschichtsschreibung aus, hier explizit gegen Johann Joseph Ignaz DÖLLINGER, Christentum und Kirche in der Zeit der Grundlegung, Regensburg 21868.
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Darüber hinaus wird aber auffallend oft die protestantische Exegese zitiert, mit der er sich ernsthaft auseinander gesetzt hat und aus der heraus er gleichsam die Person des Petrus erklärt.87 Zwar ist V. 19 – die Schlüsselgewalt des Petrus – entgegen der protestantischen Exegese formuliert worden,88 dennoch ist festzuhalten, dass Schanz in den VV. 16–19 nicht nur vollständig auf die Nennung von katholischer Kontroversliteratur verzichtete, sondern nicht einmal die Konzilsentscheidung in einer Fußnote zur Sprache kommen lässt.89 Ähnlich argumentierte Schanz bei der Auslegung von Joh 21,15–17. Für Schanz ist Kapitel 21 ursprünglich und unauflöslich mit den vorangegangenen Kapiteln verbunden. Sowohl philologische als auch inhaltliche Gründe sprächen dafür.90 Nach der berichteten dreimaligen Verleugnung sei es geboten gewesen, Petrus zu rehabilitieren, so dass die Übertragung des Hirtenamtes an Petrus in den VV. 15–17 im Zusammenhang mit der Verleumdung verstanden werden könne.91 In der Auslegung der Verse verwies Schanz zwar in einer Fußnote auf das Vatikanum, allerdings kommt dem Zitat in der Argumentation keine größere Bedeutung zu als den Kirchenväterzitaten: Sie dienten Schanz als Beleg, dass die Stelle als Explikation des Verhältnisses von Petrus zu den übrigen Aposteln zu deuten sei. Werde der Primat durch das Konzil auch herausgestellt, so Schanz, könne man Petrus dennoch einen primus inter pares nennen.92 Weitere Erörterungen über den Primat Petri oder ein Verweis auf das Papstamt entfallen bei Schanz. Die Auslegung der beiden durch das Konzil verbindlich erklärten Stellen zum Petrusprimat zeigen, dass das proklamierte Abhängigkeitsverhältnis des Exegeten nicht aktiv vorgeführt werden musste. Um zu einem angemessenen Urteil über eine Bibelstelle zu kommen, so Schanz, gehöre es zur Aufgabe der wissenschaftlichen Exegese, diese Stelle genau zu prüfen und eine vorliegende Entscheidung der Kirche über diese Stelle „wissenschaftlich zu rechtfertigen.“93 Die Untersu87 Neben Heinrich A. W. Meyer und Bernhard Weiss wurden Johann E. Huther, Heinrich J. Holtzmann, Adolf Harnack und Adolf Hilgenfeld bestätigend zitiert. An gegenteiligen Meinungen zitierte Schanz: Carl F. Keil, Johannes Wichelhaus, Eduard Zeller, Johann J. Herzog und Richard A. Lipsius. An neuzeitlichen katholischen Autoren nannte Schanz für diese Stelle lediglich: Peter J. Schegg und Cornelius Jansenius d. Ä. 88 Die dem Petrus verliehene Schlüsselgewalt über das Himmelreich besteht für Schanz nicht nur in dem Recht in Streitigkeiten zu entscheiden, so weit wären Meyer und Weiß noch mitgegangen, sondern auch darin, aus- und einzulassen und überhaupt über die Bewohner zu gebieten. (SCHANZ, Commentar über das Evangelium des hl. Matthäus [Anm. 25], 379f.). 89 So kritisierte Michael Seisenberger, Lyzealprofessor für Exegese in Freising, in seiner Rezension, dass Schanz darauf verzichtet habe, aus Mt 16,18 „die lehramtliche Unfehlbarkeit des Kirchen-Oberhauptes“ zu entwickeln, die eindeutig in dem Vers läge. Vgl. hierzu: Michael SEISENBERGER, Rez. zu: P. Schanz, Commentar über das Evangelium nach Matthäus, Freiburg/Br. 1879, in: ZKTh 4 (1880), 352–356, hier: 355. 90 SCHANZ, Commentar über das Evangelium des hl. Johannes (Anm. 25), 581f. 91 Ganz ähnlich: Hartwig THYEN, Das Johannesevangelium (HNT 6), Tübingen 2005, 771–777. 787–790. 92 „Alle Apostel haben ein Hirtenamt, aber Petrus hat den Primat darüber, ihm allein ist die Herde formell anvertraut worden.“ (SCHANZ, Commentar über das Evangelium des hl. Johannes [Anm. 25], 586f.). 93 SCHANZ, Art. Exegese (Anm. 38), 1082.
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chung dieser Stellen bei Schanz zeigt, dass die Rechtfertigung durchaus passiv verstanden werden konnte, d. h. es konnte genügen, die Ergebnisse der historischkritischen Methode widerspruchsfrei zur definierten Glaubenslehre zu formulieren. 3.4 Textkritik und katholische Exegese – Ein Testfall: Das Comma Johanneum Wie sehr Exegese unter dem Aspekt der Konkurrenz zwischen den Konfessionen gesehen wurde, zeigt sich deutlich an der Einschätzung der Textkritik. Dass es schlecht sei, wenn die katholische Exegese in der Textkritik zurück bleibe, hat Schanz mehrfach angemerkt. Den Vorwurf, dass seit Richard Simon auf Seiten der katholischen Exegese nichts mehr geleistet worden sei, wies Schanz in einem Artikel über die französische Theologie der Gegenwart zurück. Allerdings gab er gewisse Mängel in seinem Fach zu: „In Betreff der Textkritik wird man freilich sagen müssen, daß katholischerseits hätte mehr gethan werden können. Wenn man die reichen Schätze betrachtet, welche in Italien und Frankreich hierfür aufgespeichert sind, so ist es gewiß beschämend, daß wir nicht eine einzige gute Textausgabe haben, während die Namen Tischendorf, Tregelles, Westcott, Hort an den großen Fortschritt in der Textkritik auf protestantischer Seite erinnern. Man mag über die Grundsätze bei der Feststellung der englischen Bibelübersetzung vom katholischen Standpunkte seine Bedenken äußern, aber glaube ja nicht, daß dadurch die Textschwierigkeiten beseitigt seien. Die neue englische Textausgabe ist vielmehr eine Musterausgabe, die wir nicht ignorieren dürfen, so einseitig auch unberufene Kritiker 94 und befangene Dogmatiker urtheilen mögen.“
Wie dieses Zitat zeigen auch seine Rezensionen zu den textkritischen Ausgaben des Neuen Testaments eine gute Kenntnis des Forschungsstandes und ein Bewusstsein für die Notwendigkeit der Textkritik.95 Schanz kannte die unterschiedlichen Methoden und diskutierte die Bedeutung der verschiedenen Textformen. Obwohl er sicher war, dass der ursprüngliche Text ein Ideal sei,96 bewertete er die textkritischen Ausgaben seiner Zeit äußert positiv und erwartete von der Dogmatik, diese Forschungen zu berücksichtigen. So schrieb er etwa über die Ausgabe von Westcott-Hort:
94 Paul SCHANZ, Die französische Theologie der Gegenwart, in: ThQ 65 (1883), 78–121, hier: 119. 95 Paul SCHANZ, Rez. zu: Gebhardt, Oscar de, Novum Testamentum graece, Leipzig 1881, in: LitRdsch 8 (1882), 234f. u. in: ThQ 64 (1882), 685f.; DERS., Rez. zu: Westcott, Brooke Foss/Hort, Fenton John Anthony, The New Testament in the Original Greek, Cambridge 1881, in: ThQ 64 (1882), 167–173; DERS., Rez. zu: Tischendorf, Constantin (Hg.), Novum Testamentum graece, Leipzig 1884, in: LitRdsch 10 (1884), 517f. 96 „Nach dem bisherigen Gang der Textkritik des N[euen] T[estaments] steht es außer Zweifel, daß die Herstellung des ursprünglichen, unversehrten Textes ein Ding der Unmöglichkeit ist. Man muß sich also mit einem möglichst hohen Grade der kritischen Genauigkeit begnügen.“ (SCHANZ, Rez. zu: Gebhardt, Novum Testamentum graece [Anm. 95], 234).
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„Das Comma Johanneum ist ganz ausgelassen und zwar vom textkritischen Standpunkte mit vollem Recht. Dieser muß aber auch für die Dogmatik die Grundlage bilden, so daß es auffallend ist, wenn katholische Dogmatiker immer wieder diesen Passus zu verthei97 digen suchen.“
Hier ging Schanz über seinen Lehrer hinaus: Aberle hatte in seiner Einleitung noch versucht, das Comma Johanneum durch Cyprian und eine komplizierte Geschichte des afrikanischen Bibeltextes plausibel zu machen, kam allerdings zu dem Schluss, dass die Wissenschaft weder die Echtheit noch die Unechtheit der Stelle würde beweisen können.98 Schanz als Herausgeber der Einleitung ließ nach eigenen Worten „diese ziemlich weitläufige Ausführung“ Aberles absichtlich stehen, „um zu zeigen, wie ängstlich der Verfasser das im Eingang besprochene apologetische Moment zu berücksichtigen weiß.“ Allerdings sei es nicht mehr möglich zu behaupten, dass man über die Klärung der Stelle nicht hinauskommen könne. „Denn die Stelle fehlt nicht nur in allen alten griechischen Codices, sondern auch fast in allen alten Versionen und die Handschriften der Vulgata haben sie erst seit dem achten Jahrhundert. Sämmtliche griechische Väter haben sie nicht gekannt und bei den Latei99 nern kommt sie erst spät zum Vorschein.“
Könne die Stelle auch nicht vor der wissenschaftlichen Kritik bestehen, seien Aberle und andere hier vor allem deswegen apologetisch tätig geworden, da man die Auslassung der Stelle als Missachtung der Vorschrift des Tridentinums – neu eingeschärft durch das Vatikanum – verstand, nach der die Bücher der Bibel mit allen ihren Teilen, wie sie „in der alten lateinischen Vulgata-Ausgabe enthalten sind“, als heilig und kanonisch anzuerkennen seien.100 Schanz entkräftete dieses Argument mit der Bemerkung, dass mit dem Wort „alt“ im Konzilstext die frühen Handschriften der Vulgata gemeint sein können, die das Comma Johanneum gerade nicht enthalten und dass der offizielle Text, der das Comma Johanneum enthielt, erst nach dem Konzil fertig gestellt worden sei. Außerdem beziehe sich die Vorschrift des Tridentinums nicht auf die Textkritik im Detail.101 Selbst nachdem das Hl. Offizium in einer Erklärung vom 12. Januar 1897 die Echtheit des Comma Johanneum verteidigt hatte,102 äußerte sich Schanz in seiner Dogmatikvorlesung hierüber im Sinne der neutestamentlichen Textkritik. So schrieb er in seinem Vorlesungsmanuskript, dass der Dogmatiker beim Beweis von Glaubenssätzen aus der Bibel heraus die Vulgata als authentische Übersetzung zu Grunde zu legen habe. 97 98 99 100 101
DERS., Rez. zu: Westcott–Hort, The New Testament in the Original Greek, 172. ABERLE, Einleitung (Anm. 4), 122–125. Ebd., 124f., Anm. 2. DH 1504. Vgl. hierzu: Paul SCHANZ, Rez. zu: J. P. P. Martin, Le verset de trois témoins célestes I Jean, V. 7 et la critique biblique contemporaine, RSE 55 (1887), 97–129. 193–223, in: ThQ 71 (1889), 175f. Schanz stimmt Martin zu, dass es sich bei dem Vers um eine Interpolation handele. 102 Vgl. hierzu: ASS 29 (1896–97), 637.
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„Doch ist zu beachten, daß das Tridentinum die vetus vulgata meint, was hinsichtlich des Comma Johanneum [...] von Bedeutung ist, weil dieses erst seit dem 8. Jahrhundert in den Vulgatahandschriften erscheint. Auch durch die neueste Kongregationsentscheidung ist dasselbe zwar für authentisch aber nicht textlich und geschichtlich für echt er103 klärt.“
Schanz wählte damit bereits kurz nach Bekanntwerden dieser Entscheidung eine Lesart, die in der Folgezeit eine wissenschaftlich fundierte Distanzierung hierzu ermöglichte.104
4. Zusammenfassung und Ausblick Zusammenfassend lässt sich über das wissenschaftliche Profil von Paul Schanz sagen, dass er als Exeget einen Weg zwischen der wissenschaftlichen, konfessionelle Grenzen überschreitenden Forschung und den Vorgaben des kirchlichen Lehramtes zu ebnen suchte. Gelang ihm dies in seinem Dialog von Exegese und Naturwissenschaft ebenso überzeugend wie in seiner moderaten Berücksichtigung des Väterkonsenses oder seiner Befürwortung der Textkritik, so sind seine Beiträge zur synoptischen Frage kritischer zu bewerten. Zwar nahm er auch hier die Forschungsergebnisse umfassend zur Kenntnis, allerdings liegt der Schluss nahe, dass er die Argumente für eine literarische Abhängigkeit nicht ausreichend würdigte, da sie allesamt einer Exegese entstammten, die nicht den Grundsätzen katholischer Exegese folgte. Sicherlich kann man einwenden, dass das synoptische Problem, in der Zeit, in der Schanz hierüber publiziert hat, durch immer neu aufgeworfene Fragen noch lange nicht gelöst war. Es ist die Zeit, in der ein Großteil der Forscher noch eigene Lösungen für das synoptische Problem vorgestellt hat. 1903 äußerte er sich hierüber vorsichtiger.105 Auch war Schanz wegen der Konsequenzen besorgt, die einige Exegeten aus ihren Forschungen zogen. So ist es kein Zufall, dass er in der Abfolge der Forscher zur synoptischen Frage Bruno Bauer (1809–1882) und Daniel Schenkel (1813–1885) eingeflochten hat; beides Forscher, die aus der synoptischen Frage eindeutige und teils radikale Konsequenzen für das Verständnis Jesu ableiteten.106 Auch die Kritik am Kanon, wie sie die Jüngere Tübinger Schule 103 BWT Hs Gf 1862: Handschriftliches Kollegheft zur Dogmatik von Prof. Dr. Paul Schanz [Autograph, um 1897], 51. Vgl. auch: Ebd., 104. 104 Vgl. hierzu etwa die erneute Erklärung des Hl. Offiziums zum Comma Johanneum vom 2. Juni 1927: DH 3681f. 105 SCHANZ, Grundsätze, Richtungen und Probleme der Exegese (Anm. 32), 27f. 106 So machte Schanz an Bruno Bauer deutlich, dass die Beschäftigung mit literarkritischen Fragen konkrete inhaltliche Konsequenzen nach sich ziehen konnte. Wenn man Aussagen über die literarische Form mache, so Bauer, müsse man auch den Inhalt kritisieren können: „Wenn die Form durchweg schriftstellerischen Ursprungs ist und dem Evangelium des Marcus den Charakter eines ‚Kunstwerks‘ gibt, wenn aber eine ‚künstliche Composition‘ auf den Inhalt nicht nur von Einfluß ist, sondern selber Inhalt schafft, können wir dann noch bei der Aner-
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Baurs als Konsequenz ihrer historischen Erforschung des Neuen Testaments übte, ging nicht nur katholischen Exegeten zu weit. Dennoch ist festzuhalten, dass die konfessionell bestimmten Grundsätze, denen Schanz als katholischer Exeget verpflichtet war, ausschlaggebend für die Interpretation der Forschungsergebnisse waren. Gerade weil die Bibel auch Glaubensnorm anderer Konfessionen war, enthielt die katholische Exegese seit dem Tridentinum ein kontroverstheologisches Moment, das durch das Vatikanum neu eingeschärft wurde, wie die von Pottmeyer untersuchte Haltung der Konzilstheologen zur historisch-kritischen Exegese belegt: „Die Weise, wie die Konzilstheologen und manche Konzilsväter das Anliegen der katholischen Exegeten sahen, kann als paradigmatisch gelten für das Missverständnis, dem die historisch-kritische Bibelwissenschaft begegnete. Einer durch eine antiprotestantische Akzentuierung bestimmten Theologie mußten alle Versuche verdächtig erscheinen, von anderen Prinzipien als der kirchlichen Autorität und Tradition ausgehend Schriftauslegung zu betreiben. Gerade die Frage der Schriftauslegung war durch den konfessi107 onellen Gegensatz belastet.“
Die Resonanz auf seine exegetischen Werke zeigt, dass Schanz trotz seines explizit katholischen Ansatzes innerhalb des eigenen Lagers für seine Arbeiten gerügt wurde. Zwar wurde seine ausgezeichnete Kenntnis der Kirchenväter gelobt, allerdings wurde der historisch-kritische Teil zwiespältig beurteilt. Die Kritik, die Schanz nach Linsenmann in den „kirchlichen Kreisen“ für seine Exegese erhalten habe, nämlich zu sehr auf die protestantische Exegese und den Literalsinn, zu wenig auf die kirchliche Tradition und das Lehramt geachtet zu haben, kann an der Rezension seines Kommentars zum Johannesevangelium durch den Redemptoristenpater Augustin Rösler (1851–1922)108 verdeutlicht werden. Nach Rösler habe Schanz viel zu sehr die akatholische exegetische Literatur benutzt und diese taktlos als gleichberechtigt neben die Auslegungen der Kirchenväter gestellt. Außerdem habe er zu wenig Rücksicht auf Kirche und Tradition genommen. So warf Rösler ihm etwa vor, dass er sich gegen die Identität der Schwester des Lazarus mit Maria Magdalena ausgesprochen habe. Wenn die kirchliche Liturgie und das christliche Volk von der Identität durchdrungen seien, so Rösler, bestehe für die
kennung eines bestimmten Positiven stehen bleiben? d. h. [...] können wir in der Darstellung des Marcus als solcher – als künstlicher – das vermeintliche Positive als solches – als das rein Gegebene und nackt Reale – noch unmittelbar vorzufinden hoffen? Nein!“ (Bruno BAUER, Kritik der evangelischen Geschichte der Synoptiker. Bd. I, Leipzig 1841, XIVf.) Schanz sah in der synoptischen Frage, so wie sie Bauer gestellt hatte, die Gefahr, dass die literarkritischen Erörterungen negative Auswirkungen auf den theologischen Gehalt der neutestamentlichen Schriften haben könnten. 107 POTTMEYER, Die historisch-kritische Methode (Anm. 58), 88. 108 Augustin Rösler, geb. am 6. März 1851 Guhrau (Schlesien), 1871 Studium der Philosophie und Theologie in Breslau, 1875 Promotionsstudium in Freiburg/Br, 1877 Eintritt in den Redemptoristenorden, 1881 Dozent für die Exegese des Alten und Neuen Testaments an der Ordenshochschule in Mautern (Steiermark), 1918 Rektor des Redemptoristenklosters in Breslau, gest. am 2. April 1922 in Breslau. Zu ihm: BBKL 8 (1994), 534–537 (Weiß).
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Wissenschaft eigentlich kein Grund, diese zu leugnen.109 Es sei ein Mangel, dass Schanz fast ängstlich danach gestrebt habe, jede Erklärung abzuweisen, die über den „engsten Literalsinn“ hinausgehe. Außerdem dürfe man nie die eigentliche Aufgabe des Exegeten aus dem Blick verlieren: Es gehe in Theologie und Exegese primär darum, Studierende für die Seelsorge auszubilden.110 Die von Rösler und anderen geäußerte Kritik an theologischen Entwürfen, die zu sehr auf Wissenschaftlichkeit ausgerichtet waren, ist Ausdruck einer nachkonziliaren Wissenschaftsbewältigung. Das Erste Vatikanische Konzil stellte eine deutliche Zäsur für die Exegese als wissenschaftlicher Disziplin dar, indem vom Konzil eine sich zunehmend als autonom und selbstreferentiell verstehende Wissenschaft abgelehnt wurde. Eine wissenschaftliche Methode, wie etwa die historisch-kritische, konnte daher nur durch die Rückbindung an die systematische Theologie Anwendung finden. Zwar waren seit dem Tridentinum dem katholischen Exegeten klare Vorgaben gemacht, allerdings zeigt sich ein deutlicher Unterschied zwischen der Bibelauslegung in der Aufklärungszeit und der des ausgehenden 19. Jahrhunderts.111 Das Aufkommen einer wissenschaftlichen Bibelauslegung im 18. Jahrhundert stand häufig im Zusammenhang mit der Emanzipation der Bibelforschung aus den Zwängen der Dogmatik. So verstand etwa Johann Philipp Gabler (1753–1826), der „Vater der Biblischen Theologie“,112 unter Bibelwissenschaft die „grundsätzliche Befreiung der Auslegung von den Fesseln dogmatischer Gebundenheit“ und plädierte für die Selbstständigkeit der Exegese: 109 „Wenn die kirchliche Liturgie allmählich sich für die Identität ausgesprochen hat und das christliche Volk von diesem Bewußtsein ganz durchdrungen ist, so konnte die Berechtigung dieser Meinung zugestanden werden, während die Wissenschaft keineswegs verlangt, entschieden für das Gegentheil einzutreten.“ (Augustin RÖSLER, Rez. zu: Schanz, Paul, Commentar über das Evangelium des hl. Johannes, Tübingen 1885, in: LitRdsch 13 [1887], 39– 42, hier: 40). 110 Dass die Kritik von Rösler dem gesamten Ansatz von Schanz galt, zeigt Röslers Biograph Joseph Schweter. Die Rezension, die Rösler viel Mühe gekostet habe, so Schweter, habe den Zweck verfolgt, eine Kritik an Schanz selbst zu sein, „dessen Ansichten auf dem Gebiete des Bibelstudiums ihm [sc. Rösler] zu wenig dem kirchlichen Empfinden zu entsprechen schienen.“ (Joseph SCHWETER, P. Dr. Augustin Rösler C.ss.R. 1851–1922. Ein Bild seines Lebens und Schaffens im großen Gemälde der religiösen, wissenschaftlichen, sozialen und politischen Geistesströmungen der Zeit vom Vatikanischen Konzil bis zum Beginn des Pontifikats Pius’ XI., Schweidnitz 1929, 362). In einem Brief an Rösler hatte Paul Wilhelm Keppler gegen dessen Bedenken gegen die protestantische Exegese eingewandt, dass diese berücksichtigt werden könne, dies aber nicht im Sinne von Schanz geschehen sollte. Hierzu Schweter: „Die Rücksichtnahme müsse maßvoller und geistvoller sein und dürfe die Zwecke der Exegese nicht stören. Eben dies war es, was P. Rösler an Schanz verurteilte.“ (Ebd., 177f.). 111 Vgl. hierzu: Norbert WOLFF, Bibel und Bibelwissenschaft in der Aufklärungszeit, in: Reinhold BOHLEN (Hg.), Dominikus von Brentano 1740–1797. Publizist, Aufklärungstheologe, Bibelübersetzer, Trier 1997, 205–227. Vgl. auch: Marius REISER, Die Prinzipien der biblischen Hermeneutik und ihr Wandel unter dem Einfluß der Aufklärung, in: DERS., Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift. Beiträge zur Geschichte der biblischen Exegese und Hermeneutik (WUNT 217), Tübingen 2007, 219–275. 112 Rudolf SMEND, Johann Philipp Gablers Begründung der Biblischen Theologie, in: DERS., Epochen der Bibelkritik. Gesammelte Studien, Bd. 3 (Beiträge zur evangelischen Theologie 109), München 1991, 104–116, hier: 104.
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Die „Dogmatik muß von Exegese und nicht umgekehrt Exegese von Dogmatik abhängen.“113 Mit einer zunehmenden Kritik an der historisch-kritischen Arbeit, wie sie sich etwa an der Verurteilung der Werke von Johann Jahn (1750–1816) oder Peter Alois Gratz (1769–1849) zeigt, und eines im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmenden Konfessionalismus114 kehrte sich innerhalb der katholischen Theologie das von Gabler proklamierte Verhältnis in das Gegenteil.115 Verdeutlicht werden kann diese Entwicklung am bedeutendsten Vertreter der „Katholischen Wissenschaft“ in Deutschland. In seiner wissenschaftspolitisch einflussreichen Schrift über das „Prinzip des Katholizismus“ in der Wissenschaft erklärte Freiherr von Hertling die konservative, oft kritisch gegen Moderne und Wissenschaft gerichtete Haltung der katholischen Kirche damit, dass die Glaubensspaltung in der Reformation die Kirche „aufs äußerste abgeneigt gegen jedwede Neuerung“ gemacht habe, so dass auch Neuerungen auf dem Gebiet der Wissenschaft, zumal wenn sie von Protestanten kommen, blockiert würden. Von dieser Deutung aus wandte sich Hertling der evangelischen Theologie zu: „Seitdem der ursprüngliche extreme Supranaturalismus der Reformatoren in sein Gegentheil umgeschlagen, ist die Kritik der Lebensnerv des Protestantismus und seiner Theologie geworden. Die Kritik, die sich zuerst gegen die katholische Überlieferung richtete, hat längst auch die Grundlagen alles positiven Christenthums ergriffen. Es gilt als der Ruhm der Tübinger Schule, daß sie ‚einer vom Banne des Dogmas freien Betrachtung der neutestamentlichen Schriften die Wege gewiesen‘ habe, und als anzustrebendes Ziel in der kritischen Erörterung der ‚Ursprungsverhältnisse neutestamentlicher Schriften‘ bezeichnet man die ‚Unbekümmertheit darum, ob die Resultate zu den Voraussetzungen irgend einer Kirche passen‘.“116
Hertling, der hier einen Aufsatz des Gießener Kirchenhistorikers und HarnackSchülers Gustav Krüger (1862–1940) zitiert,117 der darin den Ansatz der Jüngeren Tübinger Schule als Durchbruch zur wissenschaftlichen Kritik am Neuen Testa-
113 Zit. nach: Christian HARTLICH - Walter SACHS, Der Ursprung des Mythosbegriffes in der modernen Bibelwissenschaft (Schriften der Studiengemeinschaft der evangelischen Akademien 2), Tübingen 1952, 24. 114 Vgl. hierzu: Olaf BLASCHKE (Hg.), Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2002, insb.: 13–69; Anton RAUSCHER (Hg.), Probleme des Konfessionalismus in Deutschland seit 1800 (Beiträge zur Katholizismusforschung. Reihe B: Abhandlungen), Paderborn 1984, passim. 115 Vgl. hierzu etwa: Hans-Josef KLAUCK, Die katholische neutestamentliche Exegese zwischen Vatikanum I und Vatikanum II, in: Hubert WOLF (Hg.), Die katholisch-theologischen Disziplinen in Deutschland 1870–1962. Ihre Geschichte, ihr Zeitbezug (Programm und Wirkungsgeschichte des II. Vatikanums 3), Paderborn 1999, 39–70; Thomas SÖDING, Aufbruch zu neuen Ufern. Bibel und Bibelwissenschaft in der katholischen Kirche bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil und darüber hinaus, in: DERS. (Hg.), Geist im Buchstaben? Neue Ansätze in der Exegese (QD 225), Freiburg/Br. et al. 2007, 11–34. 116 Georg Freiherr von HERTLING, Das Princip des Katholicismus und die Wissenschaft. Grundsätzliche Erörterungen aus Anlaß einer Tagesfrage, Freiburg/Br. 21899, 82f. 117 Vgl. hierzu: Gustav KRÜGER, Die griechischen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte, in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung, Nr. 150 vom 9. Juli 1897.
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ment rühmte, verwahrt sich entschieden gegen diese Form historisch-kritischer Exegese: „So weit kann selbstverständlich kein katholischer Forscher gehen. Die Bücher des Neuen Testaments anzusehen wie jeden beliebigen Text, der uns aus früheren Jahrhunderten überliefert ist, und ihn allen Schicksalen der Conjecturalkritik und Hypothesenbildung preiszugeben, hindert ihn sein dogmatischer Standpunkt. Hier ist conservatives Festhalten selbstverständlich; es hat sich zudem jetzt schon als die beste Politik erwie118 sen.“
Hertling, der hier auf die Abhängigkeit der Exegese von der kirchlichen Tradition rekurriert,119 hat mit seiner Schrift versucht zu zeigen, dass es keine voraussetzungslose Wissenschaft geben könne, so dass auch die Voraussetzungen, die der Katholizismus an die Wissenschaften und die Exegese stellt, annehmbar erscheinen. Auch Schanz hat in seinen Arbeiten die Voraussetzungen bzw. Grundsätze der katholischen Exegese reflektiert. An kaum einer Stelle seines umfangreichen Werkes vermittelt er den Eindruck, dass diese Voraussetzungen den Wissenschaftscharakter der Theologie gefährden könnten. Dieses uneingeschränkte Bekenntnis zu den Grundsätzen katholischer Exegese mag erklären, weshalb jemand, der so intensiv die exegetische Forschung wahrgenommen hat, wie kaum ein anderer seiner katholischen Kollegen, derart reserviert, teils auch defensivapologetisch mit ihren Ergebnissen umgangen ist. In seinem Aufsatz über die Markuspriorität zitierte Schanz den Neutestamentler Heinrich Meyer, den Namensgeber des Kritisch-Exegetischen Kommentars, der als Warnung an alle Forscher zur Markuspriorität schrieb: „In der Benutzung einzelner Stellen des Markus zur Erhärtung seiner Unabhängigkeit oder Abhängigkeit von den anderen Synoptikern ist die größte Vorsicht nothwendig, um nicht aus ihnen herauszulesen, was man als kritische Anschauung des Verhältnisses be120 reits im Auge hat.“
Schanz wandte dieses Zitat gegen die Befürworter der Markuspriorität, da diese nicht das objektive Ergebnis ihrer Forschung sei, sondern bereits zu Beginn als Prämisse festgestanden habe. Allerdings ließe sich dieser Einwand wegen der 118 HERTLING, Princip des Katholicismus (Anm. 116), 83. 119 „Nach unserer Auffassung ist die Kirche älter wie die heiligen Schriften, aus ihrer Hand entnehmen wir diese letztern, sie verbürgt ihre Glaubwürdigkeit, und gegenüber den Gefahren der handschriftlichen Überlieferung, gegenüber den Umgestaltungen des Wortlautes bei dem Übergange in alle Sprachen der Erde ist uns die Kirche die allein zuverlässige Auslegerin des Sinnes und der Tragweite aller einzelnen Aussprüche.“ (Ebd., 15). Diese Worte Hertlings bestätigen Pottmeyers Deutung der katholischen Exegesegeschichte der Neuzeit als konfessionellen Konflikt. So schrieb er: „Während auf katholischer Seite das Amt Kriterium des Wortes war und für das Wort bürgte, erschien auf protestantischer Seite das Wort, gleichsam selbstständig geworden, als Kriterium des Amtes, welches am Maßstab des Wortes zu überprüfen war.“ (POTTMEYER, Die historisch-kritische Methode (Anm. 58], 88). 120 Heinrich A. W. MEYER, Kritisch exegetisches Handbuch über die Evangelien des Markus und Lukas, Göttingen 51867, 7, Anm. 2.
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Markus Thurau
Grundsätze katholischer Exegese auch auf Schanz’ eigene These von der Priorität des Matthäus anwenden. Dass er sie trotz der intensiven Zurkenntnisnahme der nichtkatholischen Forschungen mit solcher Vehemenz verteidigte, kann am ehesten von einer Exegese her erklärt werden, die sich im Anschluss an das Erste Vatikanische Konzil zwar als wissenschaftstauglich aber dennoch als strikt konfessionell gebundenen verstand.
Inspiration der Bibel Der Geist und der Buchstabe Robert Vorholt
Sämtliche Erzählungen der Bibel sind ihrem Selbstzeugnis nach Erfahrungen der Gegenwart Gottes. Die Überzeugung nicht weniger biblischer Autoren, im Namen dieses Gottes geschrieben zu haben, war nach Ausweis derer, die ihre Schriften tradiert und kanonisiert haben, keine Selbstüberschätzung, sondern Fakt: Die Bücher der Heiligen Schrift und ihre Verfasser gelten als inspiriert, die Heiligen Texte gehen im Letzten auf das Wirken des Heiligen Geistes zurück (vgl. nur Origenes, De Principiis I,4)1. Die Kirchenväter verbinden die Vorstellung der Inspiration mit der Kanonizität und dem Wahrheitsanspruch der Heiligen Schrift. Ihre soteriologische Dynamik wird auf das Wirken des Geistes zurückgeführt, der die Entstehungsgeschichte der Bibel beseelt und Gott als ihren eigentlichen Urheber zur Sprache bringt. Autor und Text gelten gleichermaßen als inspiriert. Kritik an dieser Vorstellung erhebt sich mit der Aufklärung2. Jetzt werden Widersprüche zwischen biblischen Aussagen und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen betont. Man deckt geschichtliche Ungereimtheiten auf und verweist kritisch auf die Vielstimmigkeit der biblischen Schriften3. So sollte eine freie und objektive Bibelwissenschaft entstehen, die sich am Ende aber eher als Helfershelferin einer rationalistischen, idealistischen und historistischen Theologie entpuppte4. Mit dem Aufkommen der geschichtlichen Rückfrage in der biblischen Theologie stellen sich neue Fragen, die auch die Inspirationslehre betreffen. Wie verhält sich die inspirierende Kraft Gottes zu den Äußerungen eines inspirierten Menschen? Welchen Ort hat die Inspirationslehre im Horizont biblischer Theolo1 2
3 4
Vgl. P. DESELAERS, Inspirierte Texte, inspirierte Leser. Der Geist und der Buchstabe, in: Th. SÖDING (Hg.), Wege in die Bibel, Münster 2003, 79–87, 84f. Wesentliche Elemente der durch die Schriftlektüre der Kirchenväter vorgeprägten Lehre gingen weder in der Scholastik noch in Reformation und Gegenreformation verloren. Zwar schärfen die Reformatoren das Bewusstsein für das kritische Potential der Schrift gegenüber der Väter-Exegese und der lehramtlichen Schriftauslegung. Luther argumentiert sogar sachkritisch gegen einzelne Bücher der Schrift. Das alles führt jedoch nicht zu Zweifeln an ihrer Inspiration. Vgl. W. BEINERT, Art. Inerranz, in: DERS. (Hg.), Lexikon der katholischen Dogmatik, Freiburg – Basel – Wien 1987, 284f. Vgl. A. SCHWEITZER, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 21913.
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gie? In welchem Verhältnis zueinander stehen die Kanonizität der Schrift und ihr Wahrheitsanspruch? Zu einer Antwort auf solche Fragen darf und muss die moderne exegetische Zunft beitragen. Sie zeigt, was die Schrift, insbesondere das Neue Testament, dem Wort oder der Sache nach zur Inspiration sagt. Ein kleiner Beitrag wie dieser kann das natürlich nicht zur Gänze dokumentieren. Dennoch sollen im Folgenden einige Vorbemerkungen gemacht werden, die zur Erhellung dessen beitragen mögen, was aus biblischer Perspektive zum Inhalt und Stellenwert der Inspirationstheologie festzuhalten ist.
1. Frühjüdische Stimmen zur Schriftinspiration Das neutestamentliche Inspirationsverständnis erhellt sich, wenn man es mit seinen frühjüdischen Parallelen vergleicht. Alle in diesem Zusammenhang relevanten Texte entstanden zu gleicher Zeit. Das frühjüdische Inspirationsverständnis zeichnet sich dadurch aus, dass es sich parallel zum Prozess der Kanonbildung und zur Reflexion der Auslegung heiliger Texte entwickelte5. Ausgangspunkt der Überlegungen sind die Heiligen Schriften Israels. Von ihnen her erwächst die Überzeugung, dass sich im Wort der Propheten nicht nur deren eigene Ansichten und Plausibilitäten, sondern vor allem Gott selbst zur Sprache bringt (vgl. nur Jes 30,2; Jer 15,19). Es wird zudem festgehalten, dass besonders Mose (Ex 24,3f.; 34,10–28; Jub 2,1), aber auch Jeremia (36,1-32) auf Gottes Geheiß hin Bücher verfassen, die darum als Gottes Wort zu lesen und zu verkündigen sind (vgl. Dtn 28,58; Jos 8,31–35, Esr 8,1; Jer 36,8). Ohne je selbst zum Thema zu werden, wird hier die Inspirationslehre implizit mitverhandelt. Philo von Alexandrien, das 4. Esrabuch und Flavius Josephus sind die berühmtesten Vertreter des Frühjudentums, die sich der Inspirationsthematik annehmen. a) Philo von Alexandrien Philo konstatiert – in platonischer Tradition – einen schier unendlichen Abstand zwischen dem transzendenten Gott und den sterblichen Menschen (vgl. mut. 11ff., somn. 1,67; all. 1,51; 3,36)6. Die Frage, die sich ihm stellt, ist, ob und wie ein Mensch göttliche Dinge überhaupt erfassen und darstellen kann. Qua menschlicher Vernunft ließe sich zwar erahnen, dass Gott existiere. Wie dieser Gott sich jedoch in seiner Existenzweise äußere, den Menschen zum Heil oder zum Unheil, 5
6
Vgl. M. HENGEL, Schriftauslegung und Schriftwerdung in der Zeit des Zweiten Tempels, in: DERS. - H. LÖHR (Hg.), Schriftauslegung im antiken Judentum und im Urchristentum (WUNT 73), Tübingen 1994, 1–71. Vgl. dazu auch H. BURKHARDT, Die Inspiration heiliger Schriften bei Philo von Alexandrien, Gießen 1988.
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bliebe der menschlichen Vernunft von sich aus radikal verborgen. Jede authentische Rede über Gott, sein Wesen und seinen Willen setze daher eine besondere Inspiration voraus. Besonders deutlich wird dies in De Vita Mosis 2,188 zum Ausdruck gebracht: „Die Worte wurden teils von Gott selbst durch Übersetzung des göttlichen Propheten gesagt, teils in Form von Frage und Antwort als Gottes Wille verkündet, teils von Mose selbst, da er inspiriert und innerlich ergriffen war.“ Philo versteht die gesamte Schrift als Offenbarungswort Gottes (vgl. auch Mos. 2,187f.; gai. 210; Cher. 124; mirgr. 14; praem. 1). Dabei unterscheidet er zwischen direkten Willensäußerungen Gottes (Mos. 2,189.191), die er vor allem im Dekalog gegeben sieht (decal. 18), Gottesworten der Tora, mittels derer Gott den Propheten unterweist (Mos. 2,190), und inspirierten Verkündigungsworten, die Mose beim Abfassen der Heiligen Bücher findet (vgl. Mos. 2,191). Letztere sind für die Schrift-Theologie von Belang. Inspiration hat hier zwei Facetten: Zum einen bedarf sie aufgrund der radikalen Transzendenz Gottes einer vermittelnden Instanz, die nicht der Welt der Menschen, sondern allein der Wirklichkeit Gottes entstammen muss. Philo denkt an das Pneuma (sobr. 64) oder die Stimme Gottes (decal. 33). Zum anderen setzt Inspiration voraus, dass ein Mensch, der Gottes Wort aufnehmen will, sich zur Gänze allem weltlichen Begehren entzieht. Positiv gewendet ist damit die vollkommene Offenheit des Propheten für Gott angezeigt. Das ist für Philo in einzigartiger Weise bei Mose der Fall, aber auch bei Abraham und den Großen der Geschichte Israels. Philos Beitrag zur Entwicklung der Inspirationslehre ist nicht unerheblich. Er liegt vor allem darin, dass die Aktivität Gottes bei der Entstehung der Schrift nicht in Konkurrenz zu menschlicher Autorenschaft steht. Der Preis, den er dafür zahlen muss, ist freilich hoch: Damit Gott nämlich in die Immanenz der Menschen hineinsprechen kann, postuliert Philo rein spekulative Mittler-Instanzen, die die Kommunikation überhaupt erst ermöglichen. Der platonisierende Leib-SeeleDualismus, der hinter der ekstatischen Voraussetzung zum Empfang göttlicher Offenbarung steht, führt letztlich zu einem im Kern ungeschichtlichen, weil enthusiastisch-spektakulären Inspirations- und Schriftverständnis. b) Das Vierte Buch Esra (14,38-44) Das Vierte Esrabuch, eine um 100 n.Chr. entstandene frühjüdische Apokalypse, schildert eine große Offenbarungsszene am brennenden Dornbusch (4Esr 14). Esra wird auf seine Bitte hin von Gott befähigt, die Bibel Israels, die im Zuge der Zerstörung Jerusalems verloren ging, fünf Schreibern zu diktieren7: „38Am folgenden Tag, siehe, da rief mich eine Stimme und sagte: ‚Esra, öffne Deinen Mund und trinke, was ich Dir zu trinken gebe.‘ 39Ich öffnete meinen Mund, und siehe, ein voller Becher wurde mir gereicht; er war wie mit Wasser gefüllt, dessen Farbe aber war 7
Übersetzung: J. SCHREINER, Das 4. Buch Esra (Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit, Bd. V), Gütersloh 1981, dort finden sich auch Hinweise zur Entstehungsgeschichte etc.
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dem Feuer gleich. 40Ich nahm ihn und trank. Als ich aber getrunken hatte, sprudelte mein Herz Verständnis hervor, und meine Brust schwoll an von Weisheit. Mein Geist aber bewahrte die Erinnerung. 41Mein Mund öffnete sich und schloss sich nicht wieder. 42 Der Höchste gab den fünf Männern Einsicht. So schrieben sie das Gesagte der Reihe nach in Zeichen auf, die sie nicht kannten, und saßen vierzig Tage lang da. Sie schrieben am Tag 43und aßen in der Nacht ihr Brot. Ich redete am Tag und schwieg nicht in der Nacht. 44In den vierzig Tagen wurden vierundneunzig Bücher geschrieben.“
Freilich handelt es sich um eine theologische Symbolerzählung8. Ihre Bildwelt will nicht aufgelöst, sondern angeschaut werden. In kräftigen Farben malt sie die Heiligkeit und die Wahrheit der Bibel Israels aus. Leichthin entsteht der Eindruck, Inspiration sei die Sache von Ekstase, Rausch und Entgrenzung. Das wäre ein Manko. Aber umgekehrt findet der Prozess des Hörens, der Aufnahme und der Verschriftlichung in Raum und Zeit, inmitten der Geschichte statt. Damit setzt das Buch Esra dann doch eine neue Marke der Inspirationstheologie. Es darf gleichwohl nicht übersehen werden, dass die Hervorhebung der Dignität der Heiligen Schrift zulasten menschlicher Beteiligung erfolgt: 4Esra will insbesondere dort, wo von den unbekannten Schriftzeichen, die zu Papier zu bringen waren, die Rede ist, glauben machen, menschlicher Verstand werde ausgeschaltet, damit göttliche Vernunft sich Ausdruck verleihen könne. c) Flavius Josephus In seiner Apologie des Judentums gegen Apion (Ap. 1,37–41) entfaltet Flavius Josephus sein Verständnis von Schriftinspiration im Zusammenhang. Spekulationen über den konkreten Modus von Inspiration interessieren ihn nicht. Wichtiger erscheint ihm ihre Wirk- und Bedeutsamkeit. Israel verfüge über einen festen Kanon heiliger Schriften. Nur 22 Bücher gehören dazu, weil der Geist der Prophetie allein in der Zeit von Mose bis Artaxerxes entflammt war (vgl. Ap. 1,29.37–41). Dass diese biblischen Autoren unter der „Anhauchung des Geistes Gottes“ schrieben (Ap. 1,36f.), habe dazu geführt, dass die Wahrheit der Geschichte Israels erkennbar geworden und in ihrer Bedeutung für das Hier und Jetzt zugänglich sei. Als stichhaltigsten Beweis für die Wirklichkeit von Inspiration wertet Josephus das tatsächliche Eintreffen der prophetischen Weissagung. Für die Entwicklung der Inspirationstheologie ist von Belang, dass Josephus Inspiration und normative Kanonizität der Schrift mit ihrer Entstehung zu einer bestimmten gottgewährten Zeit verbindet. Allerdings behandelt er diese Fragen nur auf formaler Ebene zur Erhebung der Bedeutung Israels. Offen bleibt, wie sich der Inhalt biblischer Bücher zu ihrer Inspiration verhält.
8
Zur Auslegung vgl. Ch. MACHOLZ, Die Entstehung des christlichen Bibelkanons nach 4Esr 14, in: E. BLUM u.a. (Hg.), Die hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte (FS R. Rendtorff), Neukirchen-Vluyn 1990, 379–391.
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2. Die Inspiration der Schrift im Licht des Neuen Testaments Die Autoren des Neuen Testaments gehen im Ganzen fraglos von der Normativität der Heiligen Schrift Israels aus, auch und gerade dort, wo sie sie unter christologischen Vorzeichen neu lesen. An wenigen, dann aber bedeutsamen Stellen wird die Inspiration dieser Bücher selbst zum Thema. Wichtige Belege finden sich in den Evangelien. Nach Mk 12,36 hat David „erfüllt vom Heiligen Geist“ den Psalm 110 zitiert. Markus erwähnt diese Inspirationsnotiz wie selbstverständlich, aber nur am Rande. Lukas und Matthäus schätzen die theologische Pointe höher ein und bauen dann darauf auf: Matthäus, indem er die Grundlinie der alttestamentlichen Propheteninspiration aufnimmt und zugleich eng mit dem Erfüllungsgeschehen in Jesus verknüpft (Mt 1,23; 2,15)9. Gottes Sprechen durch die Propheten zielt von Beginn an auf das Nahekommen der Basileia im Wirken Jesu (Mt 4,12–17), wie umgekehrt sich durch Jesus realisiert, was Propheten hören und sehen wollten (Mt 13,17). Lukas, indem er die Inspirationskraft des Gottesgeistes hervorhebt (vgl. Lk 1,69; Apg 1,16; 3,18.21; 28,25). Eine seiner wichtigsten Aufgaben ist es laut Lukas, die Erinnerung der Kirche an ihre Ursprünge wachzuhalten. Dieser Ursprung aber ist die Geschichte Jesu, die sich allererst im Kontext der von der Schrift erschlossenen Heilsgeschichte versteht10. Das Johannesevangelium präsentiert sich im Blick auf die Inspirationstheologie zurückhaltender. Das heißt aber nicht, dass es keine hätte. Nach Joh 12,40f. ist es das prophetische Charisma des Jesaja, die „Herrlichkeit Jesu geschaut“ und mit ihr im Rücken gesprochen zu haben. Und Joh 9,29 stellt – über Umwege – klar, dass zu Mose niemand anderes als Gott selbst gesprochen hat. Schärfere Konturen gewinnt die neutestamentliche Inspirationslehre im Corpus Paulinum, aber auch im Ersten Petrusbrief. a) Paulus Die Schrift ist für Paulus Gottes Wort (Röm 3,1f.). Dieses theologische Qualitätsurteil des Apostels bezieht sich nicht allein auf solche Passagen, die – in Psalmversen – den Kyrios Jesus Christus (Röm 15,3: Ps 69,10; Röm 15,9: Ps 18,50LXX) oder etwa Gott selbst (Röm 9,15: Ex 33,19; Röm 9,25: Hos 2,25.1; Röm 11,4: 1Kön 19,18) sprechen lassen. Paulus fällt es vielmehr in genereller Linie, weil es auch dort gilt, wo menschliche Verfasser eine Rolle spielen: Gott „spricht in Hosea“ (Röm 9,25) und im Gesetz des Mose (1Kor 9,9f.), durch Propheten ließ er in heiligen Schriften sein Evangelium vorankündigen (Röm 1,2). Wenn der Apostel 9
Vgl. N. WALTER, Zur theologischen Problematik des christologischen Schriftbeweises im Neuen Testament NTS 41 (1995), 338–357. 10 So Thomas SÖDING, Die Schriftinspiration in der Theologie des Westens. Neutestamentliche Anmerkungen, in: U. LUZ (Hg.), Auslegung der Bibel in orthodoxer und westlicher Perspektive. Akten des west-östlichen Neutestamentler-Symposiums in Neamt vom 4.–11. September 1998 (WUNT 130), Tübingen 2000, 169–205, 183.
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Propheten als Verfasser eines biblischen Buches erwähnt11, setzt er dabei explizit (1Kor 9,9f; Röm 9,25) oder implizit voraus, dass Gottes Wort sich im Prophetenwort artikuliert. Nicht von ungefähr zitiert er in 1Kor 14,21 Jes 28,11f. als direkte Gottesrede. Auch die Relevanz und Normativität der Bibel Israels erklärt sich für Paulus mit der Urheberschaft Gottes. Die Schrift ist um der Menschen willen geschrieben (vgl. 1Kor 9,10, Röm 4,23f.) – zu ihrer Warnung (1Kor 10,11) und mehr noch zur Festigung der Lehre, zur Hoffnung und zum Trost (Röm 15,4). Entscheidend ist die Theozentrik: Die Schrift verdankt sich der Offenbarung Gottes in der Geschichte seines Volkes. Zu dieser Erwählung gehört die Inspiration von Propheten (Röm 3,1f.). Diese zielt aber auf die universale Verkündigung des Evangeliums und darin auf die Konstitution der Ekklesia aus Juden und Heiden. Die Inspiration der Schrift ist somit Ausdruck der liebevollen Zuwendung und des Herrschaftswillens Gottes; sie ist Ausdruck seiner Liebe12. Die Kohärenz von Entstehung, Botschaft und rettender Kraft der Schrift verankert Paulus christologisch: weil Gott „durch“ Propheten spricht (vgl. Röm 1,2; 9,25), kann er inmitten seines Volkes die Stimme erheben; weil es aber Gott ist, der sich so mitteilt, ist seine Botschaft Evangelium; weil sein Wort Schrift wird, hält Israel die Urkunde seiner Bundestreue in Händen (Röm 9,4f.). Gerade so gebührt der Schrift jener Glaubensgehorsam, an dem immer schon die Rechtfertigung des Sünders hängt (vgl. Röm 10,16)13 . b) Paulusschule Ein weiterer Schlüsselgedanke neutestamentlicher Inspirationstheologie findet sich im Zweiten Timotheusbrief (2Tim 3,16f.): „16Die ganze Schrift ist von Gott inspiriert und nützlich zur Lehre, zur Beweisführung, zur Zurechtweisung und zur Erziehung in Gerechtigkeit, 17damit der Mensch Gottes gerüstet sei, zu jedem guten Werk bereit.“
Gemeint ist das Alte Testament14. Seine Lektüre den Glaubenden ans Herz zu legen, steht in guter paulinischer Tradition. Der Zweite Timotheusbrief spricht diesen Satz allerdings in eine Zeit hinein, in der es für die junge Kirche darauf ankam, den Christus-Glauben von gnostischen Verzerrungen freizuhalten (vgl. 1Tim 6,20) und biblische Geschichtstheologie nicht in synkretistische Mythologie aufzulösen (1Tim 1,4; Tit 1,10; 3,9). Die Schrift ist als Ganze inspiriert. Darum stellt sie das normative Fundament der frühen kirchlichen Lehre dar, die durch die schriftgemäße Theologie des 11 Vgl. 1Kor 9,9; Röm 10,5.19: Mose; Röm 11,2: Elias; Röm 4,6; 11,9: David; Röm 9,27.29; 10,16.20; 15,12: Jesaja; Röm 9,25: Hosea. 12 SÖDING, Schriftinspiration (Anm. 10), 186. 13 Ebd. 14 Anders V. HASLER, Die Pastoralbriefe (ZBK.NT 12), Zürich 1978, 75.
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Apostels Paulus geprägt ist (2Tim 3,10). Die Schrift dient zur konstruktiven Erschließung der Richtigkeit dessen, was geglaubt wird, aber auch zur Entlarvung, Zurechtweisung und Korrektur von Häresien. Sie trägt zur Formung der Glaubenden bei, dass sie ein Leben in Gerechtigkeit führen – womit das für die Pastoralbriefe entscheidende Ideal eines Menschen nach dem Herzen Gottes angesprochen ist (vgl. 2Tim 3,17). So leisten Kenntnis und Verkündigung der Schrift einen wesentlichen Beitrag zur Vertiefung des Glaubens, an dem die eschatologische Rettung hängt (2Tim 3,15). Das Inspirationsverständnis, das hier anklingt, steht dem frühjüdischen nahe, aber es ist christologisch fundiert: Der Geist, dem sich die Schrift verdankt, ist kein anderer, als der, der die Rettung der Glaubenden bewirkt (Tit 3,5). Die Weisheit, die aus dem Lesen, Hören, Verstehen und Beherzigen der Schrift erwächst (2Tim 3,15), zielt darauf, das Heil zu erkennen, das durch den Glauben an Jesus Christus erlangt wird (vgl. 2Tim 2,10). Und Gott, der die Schrift inspiriert, ist zugleich der Retter, der in seiner ganzen Fülle in Christus Wohnung nahm, um seinen Heilswillen zur Rettung der Menschen zu verwirklichen (vgl. Kol 1,19f.). Der Zweite Timotheusbrief zeigt, dass die Autoren der Paulusschule ihrem Vorbild und Lehrer folgen, wenn sie an der Kanonizität der Schrift festhalten. Sie übernehmen die theologische Grundeinsicht, dass Gott um der Rettung der Menschen willen die Schrift inspiriert hat (vgl. 1Tim 2,4.6). Die kirchliche Verkündigung an der Schwelle von der apostolischen zur nachapostolischen Zeit erweist sich somit als an ihren Ursprung rückgebunden und stellt sich bleibend unter den Anspruch, schriftgemäß und schriftgerecht zu sein. c) 1Petr 1,10ff Gleich zu Beginn seines Trostbriefes liegt „Petrus“ daran, den bedrängten Christen der kleinasiatischen Gemeinden den ihnen zugemessenen herausragenden Ort in der Heilsgeschichte vor Augen zu führen. 1Petr 1,10ff. verdeutlicht in diesem Zusammenhang, dass auch die Heiligen Schriften Israels keinen anderen Zweck haben, als den Glaubenden zu bezeugen, dass ihnen Gottes Zukunft offen steht, weil ihnen das eschatologische Heil zugeeignet ist (1Petr 1,9). Die Inspirationstheologie gewinnt an dieser Stelle eine besondere Bedeutung. Sie trägt dazu bei, die schwierige Gegenwart der Christen trotz aller Entbehrungen als Heilszeit zu qualifizieren. Die Propheten sind es, die den Christen dazu dienen (1Petr 1,12), weil sich im Hier und Jetzt der Gemeinde erfüllt, was sie prophezeiten. Wieder geht es um die innere Einheit von Form und Inhalt, Ursprung und Wirkung prophetischer Offenbarung. Wort Gottes ist die Prophetie des Alten Bundes ihrem Inhalt nach, weil sie nach urchristlicher Überzeugung auf Leben, Tod und Auferweckung Jesu hinweist. Ihrer Form nach ist sie darum Offenbarung durch Jesus Christus. Ihre Wirkung ist aufgrund ihres Inhaltes die Begründung der Hoffnung für die Christen. So wie Gott von Ewigkeit her gewillt ist, in und durch Jesus Christus die eschatologische Rettung aller Glaubenden zu wirken, hat er den Geist als Geist Christi in den Propheten zum Sprechen gebracht, dieses Heilsge-
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schehen vorauszusagen. Da sich die Prophetie aber dem Geist Christi verdankt, kann kein Zweifel bestehen an der Bedeutung und Kraft der Schrift für die Christen. d) 2Petr 1,20f. Ein Streit um eschatologische Fragen veranlasst den Verfasser des Zweiten Petrusbriefes, Alarm zu schlagen. Er sieht die Fundamente jenes Glaubens in Gefahr (2Petr 1,1.5), die durch die Gebote der Apostel, aber auch durch die voraussagenden Worte der Propheten grundgelegt sind (vgl. 2Petr 3,2). Entscheidend ist das richtige Verständnis der Heiligen Schrift: „20Keine Prophetie der Schrift ist Sache eigenwilliger Auslegung; 21denn niemals ist eine Prophetie vom Willen eines Menschen ausgegangen, sondern vom heiligen Geist getrieben haben Menschen von Gott gesprochen.“
Auch hier geht es um die Schrift als Ganze15. Weil sie Gottes Gericht über die Ungerechten und eschatologische Hoffnung für die Gerechten begründet (vgl. 2Petr 4–10) und darin durchweg auf das Wirken des Geistes Gottes zurückgeht, ist die Schrift insgesamt Prophetie. 2Petr 1,21 zeigt, dass der ureigene Ort der Prophetie das gesprochene Verkündigungswort ist. Die Tatsache, dass es Menschen sind, deren Rede über Gott sich in der Schrift wiederfindet, wird nicht übergangen. Gleichwohl ist unterstrichen, dass Prophetie nicht das Ergebnis menschlicher Eigenmächtigkeit sein darf, sondern nur in der Konsequenz einer Berufung von Menschen durch Gott zur Verkündigung des Wortes gedacht werden kann. Wenn aber die Schrift von Gott inspiriert ist, dann darf ihre Auslegung nicht eigenmächtig erfolgen (2Petr 1,20)16. Hierbei geht es nicht darum, lehramtliche und private Auslegung gegeneinander auszuspielen. Der Kontext der Textstelle, der authentische Erinnerung und Augenzeugenschaft thematisiert (vgl. 2Petr 1,16ff.), weist aber darauf hin, dass „Petrus“ den Akzent auf die Notwendigkeit apostolischer Schriftauslegung legt. Sie setzt wiederum Berufung und Sendung voraus. So findet sich im Zweiten Petrusbrief die vielleicht prägnanteste Kurzformel für die Schriftinspiration: Auf die alt- und neutestamentliche Prophetie zurückgehend, schraubt der Brief die Spannung, die zwischen Menschenwort und Gotteswort besteht, nicht herunter, sondern hält sie aufrecht, um gerade aus ihr heraus die Normativität der Schrift für die Ekklesia abzuleiten17.
15 Vgl. A. VÖGTLE, Offenbarungsgeschehen und Wirkungsgeschichte. Neutestamentliche Beiträge, Freiburg–Basel–Wien 1985, 305–328. 16 2Petr 1,20 bezieht sich auf die Auslegung, nicht auf die Prophetie an sich, vgl. H. PAULSEN, Der Zweite Petrusbrief und der Judasbrief (KEK XII/2), Göttingen 1992, 123. 17 Vgl. SÖDING, Schriftinspiration (Anm. 10), 194.
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3. Inspiration der neutestamentlichen Autoren Zwar lässt sich im Neuen Testament nur eine sehr zurückhaltende Reflexion der biblischen Autoren hinsichtlich ihrer eigener Inspiriertheit beobachten, dennoch finden sich hier und da vereinzelte Hinweise. Sie knüpfen – wenigstens der Sache nach – an die prophetischen Selbstcharakterisierungen im Alten Testament an. Geistgewirktes Reden kann so im Licht prophetischer Inspiration als Ausdruck geistlicher Bevollmächtigung und Erwählung begriffen werden. Die Synoptiker prägen das Bild inspirierender Wirkmacht des Heiligen Geistes. Auf ihre eigene erinnernde, auswählende und vergegenwärtigende Tätigkeit als Evangelisten wenden sie es jedoch nicht an. Stattdessen erzählen sie Geschichten inspirierter und inspirierender Rede: Markus erinnert an Jesu Verheißung, seine Jünger werden in der Stunde der Not die richtigen Worte finden, weil der Geist sie ihnen eingebe (Mk 13,11). Matthäus übernimmt diese Zusage und kombiniert sie mit der Aussendungsrede Jesu (Mt 10, 16–23). Auch das Petrusbekenntnis rückt er in das Licht göttlicher Inspiration (Mt 16,17). Für Lukas stellt pneumatische Rede ein Indiz erfüllter Zeit dar. Jesu ganzes Wirken in Wort und Tat ist darum geisterfüllt (Lk 3,22; 4,1.14.18, 10,21f.). Die Jünger und Begleiter Jesu sind Geistträger. Vor allen anderen legen Paulus und Petrus in der Kraft des Geistes Zeugnis für Christus ab (Apg 2,1–36 u.ö.). Bei Paulus, Johannes und in der Apokalypse wird das Thema inspirierter Rede nicht nur narrativ entfaltet, sondern sogar auf die Entstehung, den Inhalt und die Dignität der eigenen Schriften bezogen. a) Paulus18 Die Briefe des Apostels richten sich an die von ihm gegründeten Gemeinden, um die apostolische Evangeliumsverkündigung voranzubringen und das Wachsen der Kirche zu begleiten. Zwar argumentiert Paulus durchgängig als berufener Apostel, aber er macht seine apostolische Bevollmächtigung nicht zur Grundlage eines eigenen theologischen Traktates. Der Titel ἀπόστολος fällt im Corpus Paulinum als Selbstbezeichnung nicht oft (Röm 1,1; 11,13; 1Kor 1,1; 9,1f; 15,9; 2Kor 1,1; Gal 1,1; vgl. 1Kor 4,9; Gal 1,17; ἀποστολὴν in Röm 1,5; 1Kor 9,2; Gal 2,8). Dieser Befund ist bezeichnend: Selbst dort, wo Paulus als Apostel aufgrund der gegen ihn erhobenen Kritik in die Defensive gerät, geht es ihm im Zuge der Apologie seines apostolischen Amtes nicht um die demonstrative Einforderung von Ruhm, Glanz und Überredungskunst. Vielmehr ist ihm an einer begründeten Darlegung seiner apostolischen Exousia und ihrer Anerkennung gelegen, weil sich seiner festen Überzeugung nach der Kyrios selbst im Wort des Apostels zur Sprache bringt. Dass die Strahlkraft der Botschaft auf das Engste mit der Person des Bot18 Vgl. dazu auch R. VORHOLT, Der Dienst der Versöhnung. Studien zur Apostolatstheologie bei Paulus (WUNT 118), Neukirchen-Vluyn 2008.
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schafters verknüpft ist, setzen nicht nur die Gegner des Apostels (freilich skeptisch), sondern auch Paulus selbst voraus. Um der Wahrheit des Evangeliums willen bedarf es bevollmächtigter Gesandter, die das Wort zu den Menschen tragen (vgl. Röm 10,15). Paulus ist von Gott zur Verkündigung des Evangeliums beauftragt und abgesondert (Röm 1,1). Es erreichte ihn nicht durch menschliche Vermittlung, sondern durch die Erscheinung des Kyrios im Ereignis seiner Berufung (vgl. Gal 1,11ff; Röm 1,1–5). Darum vollzieht sich die Verkündigung des Evangeliums zwar durch das Wort eines Menschen, jedoch so, dass sich im Wort des Verkünders der verkündigte Kyrios manifestiert (vgl. 1Thess 2,13; 2Kor 4,4–6; 5,20). Es ist der Auferstandene selbst, der sich als der eigentliche Inhalt und Träger des Evangeliums des Apostels als Instrument zur Verkündigung bemächtigt. Nicht Paulus gewinnt das Evangelium als einen Gegenstand seiner Verkündigung, sondern das Evangelium ist das Primäre und eigentlich Wirksame. Paulus geht es im Zuge der Beschreibung seiner apostolischen Diakonia um die Betonung besonderer Bevollmächtigung und exklusiver Sendung – freilich unter der Maßgabe kreuzestheologischer Brechung. So skizziert der Apostel sich und seinen Dienst im Bild eines bevollmächtigten und akkreditierten Botschafters Gottes, der zwischen Gott und den Menschen steht (vgl. nur 2Kor 5,20). Angesichts des von Gott her den Menschen in Kreuz und Auferweckung Christi eröffneten Versöhnungsangebotes betrachtet Paulus das soteriologische Grundmoment der Erlösung so, dass der Dienst des Apostels repräsentativ und instrumental als ein wesentlicher Bestandteil dieses Heilsvorganges erscheint. Letzteres bedarf – um Missverständnissen und Fehlinterpretationen vorzubeugen – weiterer Erklärung: Subjekt und Initiator der rettenden Erlösung aller Menschen ist Gott allein (vgl. 2Kor 5,18a). Von ihm her jedoch weiß Paulus sich zum Apostel berufen und mit dem Dienst der Versöhnung beauftragt (vgl. 2Kor 5,18b). Dieser von Paulus in Gottes Vollmacht wahrgenommene Dienst zielt auf den Glauben der Menschen und darin auf die Annahme des göttlichen Versöhnungsangebotes durch die Glaubenden (vgl. auch 2Kor 4,6). Der Apostel charakterisiert seinen besonderen Dienst, indem er sich den Christen seiner Gemeinden im Bild eines bevollmächtigten Gesandten präsentiert, der die Friedensbotschaft der von Gott souverän ins Werk gehobenen Versöhnung mit den Menschen zu übermitteln hat. Es kommt in diesem Zusammenhang entscheidend darauf an, die Sendung des Apostels nicht im Sinne der Stellvertretung eines Abwesenden oder gar der Weiterführung der Wirkmacht Christi zu interpretieren. Die besondere Qualität der apostolischen Gesandtschaft liegt vielmehr darin, dass Gott selbst sich als der Sendende in der Botschaft seines Gesandten zur Sprache bringt. Gott ist darum nicht das Objekt paulinischer Verkündigung, sondern deren eigentliches Subjekt. Auf diese Weise ist der Dienst des Apostels eingebunden in die Dynamik des Heilswillens Gottes.
Inspiration der Bibel
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b) Johannesevangelium Eine umfassende Theologie der Geist-Gegenwart in der Gemeinde der Jüngerinnen und Jünger Jesu aller Zeiten findet sich in den Paraklet-Sprüchen des Johannesevangeliums (Joh 14,16–18; 14,26; 16,26f.; 16,7–11; 16,13f.)19. Die wichtigste Aufgabe des Auferstandenen besteht nach Joh 14,26 darin, die Jünger „alles zu lehren“ und sie an das zu erinnern, was Jesus gesagt hat. Der Paraklet fügt also der Botschaft Jesu nichts Neues hinzu – die „ganze Wahrheit“, in die er einführt (Joh 16,12-15), meint nicht Überbietung, sondern Erschließung – er ruft vielmehr die Worte Jesu je neu ins Gedächtnis und hilft zum vollen Verstehen im Licht von Kreuz und Auferweckung (vgl. Joh 12,16; 20,6). Dieses Geschehen bleibt nicht äußerlich, sondern vollzieht sich „mit“ (Joh 14,16), „bei“ (Joh 14,17), vor allem „in“ (Joh 14,17) den Jüngern: Der Beistand, den der Vater sendet, bringt den Jüngern die Wahrheit des Vaters in Jesus so nahe, dass sie von ihnen verinnerlicht wird. So können sie Zeugen dieser Wahrheit sein (Joh 15,26f.). Dem Zeugnis der Jünger liegt das Christuszeugnis des Parakleten zugrunde und ruft es hervor. So werden die Jünger Jesu von ihm her zu inspiriertem Zeugnis- und Verkündigungsdienst befähigt. c) Johannes-Apokalypse20 Der Seher der Apokalypse beansprucht prophetische Inspiration: „10Am Tag des Herrn wurde ich vom Geist ergriffen und hörte hinter mir eine Stimme, laut wie eine Posaune. 11Sie sprach: ‚Was du siehst, schreib in ein Buch, und sende es an die sieben Gemeinden: nach Ephesus und nach Smyrna und nach Pergamon und nach Thyatira und nach Sardes und nach Philadelphia und nach Laodizea.‘“
Der Seher stellt sich in die Reihe alttestamentlicher Propheten (vgl. Jes 6,1–13; Jer 1,4–10; Ez 1,1–3,15). Seine Selbststilisierung bezieht sich aber auch auf das Schreiben eines Buches und ähnelt darum Dan 10. Die Visionen und Auditionen des Johannes sind das Medium, durch das sich Jesus selbst bezeugt (Offb 19,10). Wie er sich aber selbst bezeugt, so will er auch bezeugt werden. Dazu bedarf es der prophetischen Inspiration des Sehers. Dass Propheten von Gott dazu beauftragt werden, ihre Botschaft in seinem Namen auszurichten, ist ein alttestamentlicher Topos. Eher ungewöhnlich ist der Auftrag, der an den Seher Johannes ergeht, ein Buch zu schreiben und es zu versenden (Offb 1,11). Eine bedeutsame Parallele findet sich in Jes 30,8. Jesaja soll das ihm Offenbarte in ein Buch schreiben, damit es zu bestimmter Zeit und vor allem bis in Ewigkeit unverfälscht bezeugt sei. Hier liegt die Pointe der Aufnahme des Gedankens in die Johannes-Apokalypse: Die Verschriftlichung des Gehörten 19 Vgl. J. ZUMSTEIN, Kreative Erinnerung. Relecture und Auslegung im Johannesevangelium, Zürich 2004, 177–187. 20 Vgl. dazu U. MÜLLER, Die Offenbarung des Johannes (ÖTK 19), Gütersloh 1984; H. GIESEN, Die Offenbarung des Johannes (RNT), Regensburg 1997.
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und Geschauten erfüllt nicht nur die Voraussetzungen, um überhaupt an sieben Gemeinden gesandt werden zu können. Sie garantiert überdies die Unverfälschtheit und Authentizität der Botschaft. Joh 22,18f. unterstreicht dies ausdrücklich. Was Johannes aufschreibt, ist das, was er gesehen hat, was ist und was sein wird (Offb 1,19). Einen steileren Offenbarungsanspruch verbucht im gesamten Neuen Testament kein zweites Buch für sich. Die Johannes-Apokalypse erfüllt damit nicht nur ein Gattungsmerkmal, sie verortet den Sinn von Inspiration zudem in der Liebe Gottes zu den Menschen, denen gesagt sein soll, wie es um sie bestellt ist und zu welcher Hoffnung sie berufen sind (vgl. Eph 1,18).
4. Fazit Altes und Neues Testament bilden eine zwar vielstimmige, aber doch auch breite Grundlage für die Formulierung einer Theologie der Schriftinspiration. Diese kann daher aus der Mitte der Heiligen Schrift selbst entstehen und muss nicht von außen an sie herangetragen werden. Die neutestamentlichen Essentials der Schriftinspiration bleiben auf den Kern der christlichen Gottesrede bezogen: Dass Gott sich in Jesus als er selbst offenbart und im Zuge dieser Selbstoffenbarung Menschen in Dienst nimmt und die Schrift zum Medium seiner Mitteilung macht. Die Spannung von Gottes Wort im Wort von Menschen wird dabei nicht einfach billigend in Kauf genommen, sondern ist in der Dynamik der revelatorischen Inkarnation des fleischgewordenen Logos Jesus Christus selbst begründet. Es ist für das biblische Inspirationsverständnis grundlegend, dass es Gottes freier und in seiner Liebe gründender Entschluss ist, Menschen so zu inspirieren, dass sie mit ihrer ganzen Person seine Zeugen sein dürfen. Auch die Spannung zwischen Gottes lebendigem Wort und seiner Verschriftlichung in der Bibel ist ein originäres Moment biblischer Inspirationstheologie. Die Schrift ist insofern Gottes Wort, als sie es authentisch bezeugen kann, weil Gott sich ihrer zur Mitteilung seines Heilswillens bedient. Umgekehrt ist die Schrift nicht Buchstabe im Sinne von 2Kor 3,6, sondern Evangelium21. Die Zuwendung Gottes zu den Menschen ereignet sich in Raum und Zeit. Sie ist nicht nur Vergangenheit, sondern je neu Gegenwart und Zukunft. Dass sie es sein kann, verdankt sich der Dynamik des Heilswillens Gottes selbst, der sich in Christus und im Wirken des Pneuma Gottes letztgültig Ausdruck verleiht.
21 SÖDING, Schriftinspiration (Anm. 10), 205.
„Was heißt und zu welchem Ende betreibt man Theologie?“ Bemerkungen zu Tendenzen und Strategien katholischer Theologie im 19. Jahrhundert Otto Weiß
Ich beginne mit einer persönlichen Erinnerung. Als Abiturient war ich auf zwei Bücher gestoßen: Karl Adam, Jesus unser Bruder, und Romano Guardini Der Herr. Beide Bücher erzählten von Jesus Christus, aber irgendwie passten sie nicht zusammen. Ich fragte mich: Wer war nun dieser Jesus wirklich? Und ich ging mit dieser Frage zu meinem Präfekten, einem frommen und klugen Priester. Der hörte mich geduldig an. Dann sagte er: „Du musst unterscheiden zwischen der Offenbarung, der Lehre der Kirche und der Theologie. Die ganze Theologie ist nur ein schwacher Versuch das unfassbare Geheimnis der Offenbarung für die jeweilige Zeit fassbar zu machen“. Und er gab noch eins drauf: „Das gilt auch für die Lehre der Kirche mit all ihren Dogmen“. Daran musste ich denken, als ich Jahre später John Henry Newmans Essay über die Entwicklung der christlichen Lehre1 las. Der große englische Theologe nahm den Ursprung aus der Offenbarung genau so ernst wie den jeweils neuen Anruf der Geschichte. Heilige Schrift war für ihn zwar inspiriertes Gotteswort, aber dieses, so war er überzeugt, bedarf der jeweiligen Interpretation durch die Kirche, das heißt des Lehramts der Hirten wie des Lehramts der Theologen. Entwicklung war für Newman identisch mit der immer neuen Antwort auf neue Anforderungen aus dem Impuls des Ursprungs. Und ähnlich fand ich es bei Alfred Loisy, dem „Vater des Modernismus“, der sich ausdrücklich auf Newman berief2. Newman und Loisy haben recht. Die Theologie und die kirchliche Lehre bewegen sich zwischen zwei Polen. Auf der einen Seite steht die Offenbarung, auf der anderen Seite die jeweilige Zeit. Beiden Polen zu entsprechen bedeutet jedoch nicht nur eine Neuanpassung der Begrifflichkeit, zumal wenn damit das Festhal1
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John Henry NEWMAN, Essay on the Development of Christian Doctrine, London 1845. – Vgl. Günter BIEMER, John Henry Newman. Heiligkeit und Wachstum, in: Peter NEUNER - Günther WENZ, Theologen des 19. Jahrhunderts. Eine Einführung, Darmstadt 2002, 127–143, hier bes. 133–135; Claus ARNOLD u.a. (Hg.), John Henry Newman, Kirchenlehrer der Moderne, Freiburg i. B. 2009. Vgl. Rosanna CIAPPA, Rivelazione e storia, in: François LAPLANCHE, Ilaria BIAGIOLI, Claude LANGLOIS (Hg.), Alfred Loisy cent ans après. Autour d’un petit livre. Actes du colloque international, tenu à Paris, les 23–24 mai 2003, Turnhout 2007, 35–46, hier 39.
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ten an starren Positionen verbunden bleibt. Beiden Polen zu entsprechen bedeutet vielmehr, sich klarzumachen, dass die Wahrheit der Offenbarung nicht etwas Statisches ist, sondern Wahrheit in Geschichte. Und genau hier ist der Ort der Theologie. So haben sich denn Theologen immer wieder bemüht, Geschichte und Offenbarung, age and church, miteinander in Einklang zu bringen3 und dabei das Verständnis der Offenbarung zu vertiefen. Den verschiedenen Theologien der Heiligen Schrift – der Synoptiker, des Johannes, des Paulus – , den Theologien der Urgemeinde – folgten die Kirchenväter, folgte die Begegnung mit dem Hellenismus und seiner Philosophie, eine Begegnung, die im 4. und 5. Jahrhundert in die großen Konzilien von Nikaia und Chalkedon mündete, bei denen mit Hilfe der griechischen Philosophie Aussagen der Schrift in grundlegende Dogmen gegossen wurden: in die Lehren von der Hypostatischen Union und der Trinität. Wahr ist allerdings, dass von heutigen Theologen die Verbindung des Christentums mit der griechischen Theologie verschieden beurteilt wird. Sehen die einen in der so genannten Hellenisierung eine erste gelungene Inkulturation des Christentums4, so ist sie für andere der Beginn einer kolossalen Fehlentwicklung, hinter die die Theologie, auch auf Grund der Erkenntnisse neuzeitlicher Philosophie, zurückgehen muss5. Machen wir einen Sprung ins 10. und 11. Jahrhundert. Erneut wurde die Theologie herausgefordert durch einen grundstürzenden Paradigmenwechsel. Das archaische, symbolhafte, objektivistische Bedenken der Welt wich in der Scholastik einem rationalen Trend, aufgipfelnd in Albertus Magnus, der die Naturwissenschaften wieder entdeckte, in Thomas von Aquin, der die Theologie auf eine neue Grundlage stellte, indem er platonische und plotinische Spekulationen durch die klare aristotelische Rationalität ersetzte, in Abaelard, der den Einzelnen, das Individuum, das Subjekt, die Person ernst nahm6. Wir könnten weiter den Theologen der nachfolgenden Jahrhunderte nachgehen, und wir kämen über den Nominalis-
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Vgl. R. SCOTT APPLEBY, „Church and Age unite!“: The Modernist Impulse in American Catholicism, Notre Dame (IN) 1992. Vgl. Walter PANNENBERG, Die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffes als dogmatisches Problem der frühchristlichen Theologie, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 70 (1959), 1–45; Peter NEUNER, Die Hellenisierung des Christentums als Modell der Inkarnation, in: Stimmen der Zeit 213 (1995), 363–376. Adolf VON HARNACK, Lehrbuch der Dogmengeschichte I, Tübingen 51931, 20. – Vgl. Walther Karl Erich GLAWE, Hellenisierung des Christentums in der Geschichte der Theologie von Luther bis auf die Gegenwart, Berlin 1912, Nachdruck Aalen 1973. – Zur neueren Diskussion: Karl Heinz OHLIG, Ein Gott in drei Personen. Vom Vater Jesu zur Trinität, MainzLuzern 22000; Paul WESS, Geburt des zweiten Adam, in: Die Furche 2007, Nr. 1, 5; Heinz Robert SCHLETTE, Die Anfänge und das Folgende, in: Orientierung 71 (2007), 49–51. Vgl. Friedrich HEER, Aufgang des Abendlandes. Eine Studie zu den Zusammenhängen zwischen politischer Religiosität, Frömmigkeit und dem Werden Europas im 12. Jahrhundert, Wien-Zürich 1949; Karl BOSL, Die Grundlagen der modernen Gesellschaft im Mittelalter, Stuttgart 1972.
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mus7 schließlich zur Reformation, zu Renaissance und Humanismus und damit zur Wende zum Humanum und zum Gewissen als letzter Norm8. Ernst Troeltsch hat diesen anthropozentrischen Neuaufbruch, der von der reformatorischen Theologie und ihrem Wissen um die Freiheit des Christenmenschen reflektiert wurde, unübertroffen gezeichnet9, doch sei die Frage erlaubt, ob es den Reformatoren wirklich gelungen ist, im Gegenüber zu einer neuen Welt und einem neuen Denken, für welches der Satz „Cogito, ergo sum“ galt, neue Wege im Bedenken des Christentums zu finden.
1. Die Herausforderung durch die Moderne Es war Johann Gottfried Herder, der geschrieben hat, Martin Luther sei letztlich in der mittelalterlichen Mönchsatmosphäre stecken geblieben10. Und so haben denn auch nicht wenige Historiker die übliche Periodisierung der Geschichte in Frage gestellt und die Neuzeit nicht mit der Reformation, sondern erst im 18. Jahrhundert mit der Europäischen Aufklärung beginnen lassen11. Und heute ist es üblich geworden, eine neue Epoche der europäischen Geschichte, genannt die Moderne, mit der Wende zum 19. Jahrhundert anzusetzen12, nicht nur im Blick auf grundstürzende politische Ereignisse mit ihrer Aufgipfelung in der Französischen Revolution, sondern auch deswegen, weil in Europa erst jetzt die alte, vom Christentum bestimmte, monistische Weltordnung einem Pluralismus von Wertvorstellungen zu weichen begann und Dechristianisierung und Säkularisierung in der
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Vgl. Jürgen GOLDSTEIN, Nominalismus und Moderne: zur Konstitution neuzeitlicher Subjektivität bei Hans Blumenberg und Wilhelm von Ockham, München 1998. 8 Vgl. Heinrich LUTZ, Normen und gesellschaftlicher Wandel zwischen Renaissance und Revolution. Differenzierung und Säkularisierung, in: DERS., Politik, Kultur und Religion im Werdeprozeß der frühen Neuzeit. Aufsätze und Vorträge. Aus Anlaß des 60. Geburtstages von Heinrich Lutz hg. von Moritz CSÁKY u.a., Klagenfurt 1982, 279–291. 9 Vgl. Ernst TROELTSCH, Luther, der Protestantismus und die moderne Welt, in: DERS., Ges. Schriften, Bd. 4, 202–296; DERS., Das Wesen des modernen Geistes, ebd., 297–338. Vgl. auch: Thomas NIPPERDEY, Luther und die moderne Welt, in: DERS, Nachdenken über deutsche Geschichte, München 1986, 31–43; DERS., Probleme der Modernisierung in Deutschland, ebd., 44–59; DERS., Reformation, Revolution, Utopie, Göttingen 1975. 10 Vgl. Michael EMBACH, Das Lutherbild Johann Gottfried Herders. (Trierer Studien zur Literatur, Bd. 14). Frankfurt a. M. u.a. 1987. – Vgl. Joyce SCHOBER, Die deutsche Spätaufklärung (1770–1790) (Europäischer Hochschulschriften Reihe III, Bd. 54), Frankfurt a. M. u.a. 1975, passim. 11 Hans BLUMENBERG, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt 1966; Reinhart KOSELLEK, Das 18. Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, in: DERS. - Reinhardt HERZOG, Epochenschwelle und Epochenbewußtsein (Poetik und Hermeneutik, Bd. XII), München 1987, 269–283. 12 Vgl. DERS., Einleitung, in: Otto BRUNNER - Werner CONZE - Reinhart KOSELLEK, Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, XV.
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Öffentlichkeit sich Bahn brachen13. Dahinter aber stand wieder einmal ein tiefgreifender Paradigmenwechsel: die Erfassung von Wirklichkeit war nicht mehr von ewig gültigen unveränderlichen theologischen und philosophischen Prämissen abhängig14. Grundlegend wurde die Erfahrung. Das moderne, induktive naturwissenschaftliche Denken wurde genau so wichtig oder noch wichtiger als die Deduktion aus vorgegebenen, nicht mehr hinterfragbaren Sätzen. Erfahrung bedeutete aber auch Erfahrung von Veränderung. An die Stelle eines ewigen unveränderlichen Seins trat das Werden. Ja, Sein wurde nunmehr als Werden definiert. Damit aber verband sich der Aufstieg der Geschichtswissenschaft. Geschichtliches Denken erfasste alle wissenschaftlichen Disziplinen, angefangen von der Philosophie. Der deutsche Idealismus, allen voran Hegel ist zu nennen, aber auch Auguste Comte und Karl Marx, die – jeder auf seine Weise – große geschichtsphilosophische Systeme aufbauten. Doch das war nur die eine Seite des geschichtlichen Denkens. Wirklich modern war im 19. Jahrhundert die Wendung zum Einzelnen und zu den Methoden der Quellenkritik. Dem sei im Folgenden mit Blick auf den deutschen Sprachraum nachgegangen. Aber auch die Antinomien seien nicht vergessen, die Aufklärung und Romantik in deutschen Landen begleiteten – zwei Epochen, die nicht nur als Gegensätze, sondern auch als Einheit zu sehen sind. Erfahrung vor aller rationalen Durchdringung, Erleben, ganzheitliches, nicht rational zergliederndes Erfassen von Wirklichkeit trat vielfach nicht nur an die Stelle des vorkantischen metaphysischen Objektivismus, sondern auch an die Stelle der kühnen Spekulationen eines Hegel. Genannt sei in diesem Zusammenhang neben Jacobi vor allem Friedrich Schleiermacher, ohne den die gesamte neoprotestantische Theologie des 19. Jahrhunderts nicht zu denken wäre. Ihm ging es darum zu vermitteln zwischen der einseitigen rationalen Erfassung von Wirklichkeit im Bereich der Religion und einem irrationalen Fideismus und Supranaturalismus. Bekannt ist seine Definition von Religion als „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“15. Doch wir können in der Zeit noch weiter zurückgehen16 und den heute vergessenen großen Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten17 nennen, oder Johann Georg Hamann, den „Magus des Nordens“, von dem Friedrich Schlegel, der Theoretiker der katholischen Wiener Romantik, gelernt hat. So sehr Schlegel überzeugt war, dass die 13 Vgl. Hartmut LEHMANN (Hg.), Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa (Veröffentlichungen des Max-Plank-Instituts für Geschichte), Göttingen 1997. 14 Karl BOSL, Pluralismus und pluralistische Gesellschaft. Bauprinzip – Zerfallserscheinung – Mode, München-Salzburg 1967. 15 Vgl. u.a. Markus SCHRÖDER, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion, Tübingen 1996; Günther WENZ, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Sinn und Geschmack fürs Unendliche, in: DERS.NEUNER (Hg.), Theologen (Anm. 1), 21–38. 16 Vgl. Hans Georg GADAMER, Wahrheit und Methode, 6Frankfurt 1960, hier bes. 66–76. 17 Vgl. bes. Alexander Gottlieb BAUMGARTEN, Theoretische Ästhetik. Lateinisch-deutsch, übers. und hg. von Hans Rudolf SCHWEIZER (Philosophische Bibliothek, Bd. 355) Hamburg 2 1988. – Dazu: Wolfgang WELSCH, Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft. Frankfurt a.M. 1996, 490–495.
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neuere Philosophie mit ihrem „Streben nach einer streng wissenschaftlichen Methode“ und einem den „Alten unbekannten Grade“ von „Wissenschaftlichkeit“ auf dem rechten Weg sei, so sehr hat er sich gegen die „moderne Denkweise eines rationalistischen Lehrbegriffs“ vor allem im Bereich der Theologie und des Glaubens ausgesprochen. Wirkliche Erkenntnis, Erkenntnis Gottes vor allem, war für ihn verschieden von einem nur rationalen Erkennen, war Leben und Liebe. Was ihn und andere Romantiker bewegte, war nicht die Zergliederung, sondern ein Einswerden vor aller rationalen Objektivierung18. Damals nannte man dieses ganzheitliche Erfassen von Wirklichkeit „Anschauung“, ein Begriff, der so oder ähnlich auch bei Schelling wie bei Joseph Görres zu finden ist19. Dilthey wird später vom „Erlebnis“ sprechen20. Das „Leben“, so Dilthey kommt vor dem Bewusstsein. Damit ist auch schon eine weitere Facette dieser Wirklichkeitserfassung angesprochen, der Organismusgedanke. Organisch zu sein, also eine innere Zweckmäßigkeit, eine Teleologie zu besitzen, ist nach Kant neben dem Grundsatz, dass das Ganze mehr ist als die Summe der Teile, Merkmal des Lebendigen21. Schelling hat diesen Ansatz weitergedacht und damit jedwedem Materialismus eine Absage erteilt, insbesondere in seiner Naturphilosophie. Das organologisch-teleologische Wirklichkeitsverständnis wurde in der Zeit der Spätromantik wegweisend für die Wissenschaft wie auch für das Verständnis von Staat und Gesellschaft, wie dies bereits in der Staatslehre eines Adam Müller22 zum Ausdruck kommt. Man glaubte an ein universales, vereinheitlichendes, alles durchformendes lebendiges Prinzip, eine wirkmächtige „universale Einheit des sichtbaren und unsichtbaren Kosmos“, in der sich alle Gegensätze aufheben23. Kehren wir zurück zur Hinwendung zum Einzelnen. Es scheint fast, als ob die großen geschichtsphilosophischen Systeme, allen voran der Hegelsche Idealismus, nur ein – allerdings mächtig weiterwirkendes – Zwischenspiel darstellten. Der unterschwellige Trend ging in eine andere Richtung. Seit dem Tode Goethes und Hegels, spätestens aber seit der Mitte des 19. Jahrhunderts setzte sich dieser Trend, wie zuvor schon in England, auch in Deutschland immer mehr durch. Das Schlagwort, das im Gleichklang mit der fortschreitenden Industrialisierung nicht nur das akademische Leben prägte, war das Wort „Wissenschaft“, Wissenschaft, verstanden als positive, objektivierende Wissenschaft. Das bedeutete eine Abwendung von universalen Welterklärungen und eine Hinwendung zur exakten 18 Friedrich SCHLEGEL, Von der wahren Liebe Gottes und dem falschen Mystizismus, in: Ölzweige 1 (1819), 29. 19 Vgl. Adolf DYROFF, Görres und Schelling, in Görres-Festschrift. Aufsätze und Abhandlungen zum 150. Geburtstag von Joseph Görres, hg. von Karl Hoeber, Köln 1926, 67.78.88. 20 Vgl. u.a. Wilhelm DILTHEY, Das Erlebnis und die Dichtung, 1905; DERS. [über das Problem der Religion 1911], in: Ges. Werke 1914ff., IV, 288–301. 21 Immanuel KANT, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Werke, hg. von der königl. preuß. Akdamie der Wissenschaft, Bd. IV, Berlin 1903, 532f. 22 Vgl. Adam MÜLLER, Die Elemente der Staatskunst, (zuerst) Berlin 1809. 23 Vgl. Hans GRASSL, Münchner Romantik. Ein Beitrag zu ihrer deutschen und europäischen Bedeutung, in: Der Mönch im Wappen. Aus Geschichte und Gegenwart des katholischen München, München-Zürich 1960, 323–360, hier 346f.
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Methode, zum Positivismus, nicht nur in den Naturwissenschaften, sondern bis hin zur Beantwortung letzter philosophischer Fragen24. Mit Recht wurde von einem „revolutionären Bruch“ im Denken des 19. Jahrhunderts25 gesprochen. Bezeichnend dafür ist der Satz von Friedrich Engels: „Indem die Nation sich auf das Praktische warf, ... sagte sie der im Sande der Berliner Althegelei verlaufenen deutschen klassischen Philosophie entschieden ab“26. Organisation, Spezialisierung und Methode wurden ausgebaut, die deutsche Universität verlor den von Wilhelm von Humboldt intendierten Charakter einer Stätte universaler Bildung in der Verbindung von Forschung und Lehre und wurde nach den Worten Adolf von Harnacks (1851–1930) zum „Großbetrieb der Wissenschaft“27. Die Wende von der Theorie zur Empirie zeigte sich besonders im weiteren Siegeszug der Geschichtswissenschaft, im Verfassen umfangreicher Quellenwerke und voluminöser Monumenta28. Und noch einmal änderte sich Wahrnehmung von Wirklichkeit am Ende des 19. Jahrhunderts. Es kam zu einer Krise des Positivismus als Weltdeutung. Führende Intelektuelle wandten sich gegen Rationalismus, Verwissenschaftlichung und gelehrten Historismus. Kulturkritiker traten auf, allen voran Friedrich Nietzsche29. Man sprach von der „Crise du fin de siècle“30. Der als zukunftsweisende Errungenschaft gefeierten Säkularisierung und Entzauberung der Welt, die sich in Industrialisierung, Technisierung und Verwissenschaftlichung konkretisierte31, 24 Vgl. Otto WEISS, Das deutsche Modell. Zu Grundlagen und Grenzen der Bezugnahme auf die deutsche Wissenschaft in Italien in den letzen Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, in: Aldo MAZZACANE - Reiner SCHULZE (Hg.), Die deutsche und die italienische Rechtskultur im „Zeitalter der Vergleichung“ (Schriften für europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte, Bd. 15), Berlin 1994, 77–135, hier 85f.; auch in: DERS., Kulturen – Mentalitäten – Mythen. Zur Theologie- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Paderborn 2004, 279– 338, hier 287f. 25 Karl LÖWITH, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Stuttgart 1950, Neuauflage Hamburg 1995. 26 Friedrich ENGELS, Dialektik der Natur, in: Karl MARX - DERS., Werke hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, 20, Berlin 1978, 311–570, hier 331f. – Vgl. auch Otto WEISS, Der Ort der „Christlichen Mystik“ im Gesamtwerk von Görres und im Denken seiner Zeit, in: DERS., Kulturen – Mentalitäten – Mythen (Anm. 24), 85–130, hier 124–128. 27 Rüdiger VOM BRUCH, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im wilhelminischen Deutschland (Historische Studien, Heft 135), Husum 1980, 250. 28 Hier ist an die Monumenta Germaniae Historica zu erinnern. Vgl. Rudolf SCHIEFFER, in: LThK 7 (31998) 449. – Vgl. auch: Owen CHADWICK, Acton, Döllinger und die Geschichte, in: Georg DENZLER - Ernst Ludwig GRASMÜCK (Hg.), Geschichtlichkeit und Glaube. Gedenkschrift zum 100. Todestag von Ignaz von Döllinger, München 1900, 317–340. 29 Vgl. Wilhelm BOELSCHE, Das Geheimnis Friedrich Nietzsches, in: Neue Deutsche Rundschau 5 (1894), 1026–1033; Bruno HILLEBRAND, Nietzsche und die deutsche Literatur, Tübingen 1978, I, 68; Steven E. ASCHHEIM, Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, Stuttgart 1996, 22.52. 30 Vgl. Carl E. SCHORSKE, Wien, Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, München – Zürich 1994. 31 Vgl. Hartmut BERGHOFF, „Dem Ziele der Menschheit entgegen“. Die Verheißungen der Technik an der Wende zum 20. Jahrhundert, in: Ute FREVERT (Hg): Das Neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900, Göttingen 2000, 47–78.
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der Fortschrittskultur und positivistischen Wissenschaftsgläubigkeit, stellte sich in der so genannten Lebensreformbewegung eine neue ästhetische Kultur entgegen32. Der Begriff der Moderne wandelte sich. Sie wurde zur pluralen Moderne. Modern war nicht mehr nur der vom Bürgertum getragene aufgeklärte Fortschrittsoptimismus, sondern genauso auch der Kulturpessimismus, nicht mehr nur die Rationalität, sondern genauso auch eine neue Mystik innerhalb und außerhalb der Kirchen33. In einer Art neuer Romantik trat das Erlebnis vielfach wieder in den Mittelpunkt des Denkens. Nicht nur bei Dilthey, sondern auch in all den neuen antibürgerlichen profanen Religionen der Jahrhundertwende bis hin zur Wandervogel- und Jugendbewegung34.
2. Die Antworten der katholischen Theologie im 19. Jahrhundert Wie hat die deutsche katholische Theologie im 19. Jahrhundert auf die neuen Denkweisen und Methoden geantwortet? Hat sie sich den Herausforderungen gestellt, die nach einander Aufklärung, deutscher Idealismus, romantischer Universalismus, Positivismus, Wissenschaftlichkeit und neue Mystik ihr abverlangten? Und eine weitere Frage sei angefügt: Wie reagierte das kirchliche Lehramt? Versuchen wir diese Fragen zu beantworten. Vorweg sei bemerkt, dass sich durchgehend zwei Strategien in der Begegnung der Theologie mit der modernen Welt und dem säkularen Denken feststellen lassen. Es gab zum einen eine weitgehende Offenheit gegenüber der neuen Art, Wirklichkeit zu denken, zum andern aber Abschottung und aggressive Distanznahme bis hin zum Aufbau einer Gegengesellschaft mit eigenen Normen und Gesetzen. Dazu kam, dass der theologische Diskurs von der Amtskirche kontrolliert und behindert wurde. Das Ergebnis war bei nicht wenigen Theologen ein Zwiespalt zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und willentlich festgehaltener Dogmatik.35 Allerdings wäre es verkehrt, ein Schwarz-Weiß-Gemälde zu erstellen. 32 Vgl. Stefan BREUER, Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1996. Vgl. auch: Christa BÜRGER, Naturalismus, Ästhetizismus, Frankfurt am. Main 1979; Günter HEINTZ, Stefan George. Studien zu seiner künstlerischen Wirkung (Schriften zur Literatur- und Geistesgeschichte, Bd. 2), Stuttgart 1986; Richard FABER, Männerrunde mit Gräfin. Die „Kosmiker” Derleth, George, Klages, Schuler, Wolfskehl und Franziska von Reventlow. Mit einem Nachdruck des „Schwabinger Beobachters“, Frankfurt u.a. 1994; DERS., Genii locorum. Schwabings neureligiöse „Kosmiker“ zwischen Wilhelminismus und Faschismus, in: Moritz BASSLER - Hildegard CHATTELIER, Mystique, mysticisme et modernité en Allemagne autour de 1900 / Mystik, Mystizismus und Moderne in Deutschland um 1900, Strasbourg 1998, 149–164. 33 Vgl. Otto WEISS, Nuove questioni sul modernismo, in: Annali di storia dell’educazione e delle istituzioni scolastiche 16 (2009) 379–400, hier bes. 300f. 34 Vgl. Franz M. KAPFHAMMER, Neuland. Erlebnis einer Jugendbewegung, Graz – Wien – Köln 1987. 35 Vgl. Christoph WEBER, Kirchengeschichte, Zensur und Selbstzensur (Kölner Veröffentlichungen zur Religionsgeschichte, Bd. 4), Köln – Wien 1984.
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Zwischen der Öffnung zur Moderne und dem Rückzug auf festgefügte Bastionen gab es viele Zwischentöne, Schattierungen, Nuancen. Auch jenen Theologen, die den Kontakt mit der Zeit suchten, ging es um den Erweis, dass die katholische Lehre die wahre Lehre sei. Auch für sie war – sieht man von der durch das Unfehlbarkeitsdogma ausgelöste Krise ab – grundsätzlich das Lehramt der authentische Träger des rechten Redens über Gott. Sie waren Apologeten im besten Sinne des Wortes und wahrscheinlich hätten sie dem Antimodernisten Albert Maria Weiß Recht gegeben, der noch in den 1920er Jahren in der Theologie einen „Schutzbau“ für die Kirche sah36. So mag es kein Zufall sein, dass der indizierte Reformkatholik Herman Schell das Fach Apologetik vertrat und dass Alfred Loisys verurteilte Schrift L’Evangile et l’Eglise eine Apologie der katholischen Kirche mit modernen Methoden darstellte37. a. Strategie der Begegnung Gehen wir in die Einzelheiten und sprechen zunächst von den Theologen im deutschen Sprachraum, die versuchten die Herausforderungen der Moderne positiv zu bewältigen. Wie standen sie zur Aufklärung38? Sie mussten sich mit ihr auseinandersetzen, ob sie wollten oder nicht. Denn eine zentrale Fragestellung der deutschen Aufklärung war die Frage nach der Möglichkeit von Offenbarung39. Neu war die Art, wie diese Frage gestellt wurde: ausschlaggebend war die Vernunft, oder richtiger, der Verstand, die zergliedernde ratio. So hatte die Aufklärung, jedenfalls in ihrer radikalen Form ein doppeltes Gesicht40, sie ermutigte den Menschen mündig zu werden und selbst zu denken, sie verengte jedoch das Denken – wenn auch nicht in all ihren Vertretern – auf die ratio und schloss damit einen weiten Bereich von Wirklichkeit aus der Wahrnehmung aus. Die Aufklärung erreichte die deutsche Theologie in zwei Phasen. Ausgangspunkt der ersten Phase waren zahlreiche Einflüsse des jansenistischen Reformkatholizismus aus Frankreich den Niederlanden und Norditalien41. Ein Kennzeichen 36 Vgl. Otto WEISS, Modernismus und Antimodernismus im Dominikanerorden. Zugleich ein Beitrag zum „Sodalitium Pianum“ (Quellen und Studien zur neueren Theologiegeschichte, Bd. 2), Regensburg 1998, 198f. 37 François Laplanche, Le projet catholique de Loisy, in: LAPLANCHE u. a., Alfred Loisy (Anm. 2), 19–34. Vgl. auch Nathan Söderblom, Religionsproblemet inom Katolicism och Protestantism, Stockholm 1910, I, 132. 38 Zur Aufklärung noch immer grundlegend: Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung (zuerst 1932), Hamburg 2007. 39 Vgl. Wilfried BARNER u.a., Lessing. Epoche – Werk – Wirkung, München 61998, 290f.; Helmut THIELICKE, Offenbarung, Vernunft und Existenz, Gütersloh 1957. 40 Vgl. Max HORKHEIMER und Theodor W. ADORNO, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1969. 41 Vgl. u.a. Harm KLUETING (Hg.), Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland, Hamburg 1993; DERS. (Hg.), Der Josephinismus, Darmstadt 1995; Peter HERSCHE, Der Spätjansenismus in Österreich, Wien 1977; Richard VAN DÜLMEN, Propst Franziskus Töpsl (1711–1796) und das Augustinerchorherrnstift Polling. Ein Beitrag zur Geschichte der katholischen Aufklärung in Bayern, Kallmünz 1967.
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dieses Reformkatholizismus, der besonders von den alten Orden getragen wurde, war die Hinwendung zum Cartesianismus und zur Pflege der Natur- und Geschichtswissenschaft. Vor allem aber ging es den ersten kirchlichen Aufklärern nach den Worten des Augustinerchorherrn Eusebius Amort um einen „raisonablen Katholizismus“42. Im Vordergrund stand die Kampfansage an einen „abergläubischen“ Volkskatholizismus. Auf diesem Hintergrund kam es im josephinischen Österreich zur Begründung der Pastoraltheologie als einer eigenen Disziplin43. Die zweite Phase der katholischen Aufklärung war geprägt vom Eindringen der Philosophie eines Leibniz und Christian Wolff in die katholische Theologie. So war Benedikt Stattler in Ingolstadt überzeugt, mit Hilfe der Wolffschen „geometrischen Methode“ die Existenz Gottes mit mathematischer Klarheit beweisen zu können44. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch der böhmische Mathematiker, Philosoph und Theologe Bernard Bolzano, von dem Verbindungslinien über Franz Brentano und die Wiener Schule bis zur heutigen Analytischen Philosophie gezogen werden45. Als dann Kant der rationalistischen Aufklärung einen Schlag versetzte, indem er die Fähigkeit des Verstandes auf das SinnlichErfahrbare eingrenzte, bekam dies auch die aufgeklärte katholische Theologie zu spüren, auch wenn vereinzelte katholische Theologen wie Benedikt Alois Pflanz in Württemberg bis weit ins 19. Jahrhundert hinein der vorkantischen Aufklärung folgten46. Andere Theologen schlossen sich an Kant an, so der Münchner Pfarrer Sebastian Mutschelle47 oder der Würzburger Professor Maternus Reuß, der Kant in Königsberg besuchte48. Warum genügte diesen Theologen die bisherige Theologie nicht mehr? Der Grund war ganz einfach: sie waren überzeugt, dass der verknöcherte Scholastizismus, der noch im 18. Jahrhundert danach fragte, ob Gott die Welt im Frühjahr oder im Herbst erschaffen habe, in der Zeit Lessings, Herders und Voltaires über42 Hermann LAIS, Eusebius Amort und seine Lehre über Privatoffenbarungen. Ein historischkritischer Beitrag zur Geschichte der Mystik (Freiburger theol. Studien, Bd. 58), Freiburg i. B. 1941, 4. 43 Vgl. Stephan RAUTENSTRAUCH, Entwurf zur Einrichtung der theologischen Schulen in den k.k. Erblanden, Wien 21784; Franz X. ARNOLD, Grundsätzliches und Geschichtliches zur Theologie der Seelsorge, Freiburg i. B. 1949; Beda F. MENZEL, Abt Franz Stephan Rautenstrauch von Brevnow-Braunau. Herkunft, Umwelt und Wirkungskreis, Königstein (Taunus) 1969. 44 Vgl. Karlheinz RUHSTORFER, Benedikt Stattler. Theologie als System der Vernunft, in: Peter WALTER - Martin H. JUNG, Theologen des 17. und 18. Jahrhunderts. Konfessionelles Zeitalter – Pietismus – Aufklärung, Darmstadt 2003, 181–203. 45 Man vergleiche die Schriftenreihe des Forschungsinstituts für Angewandte Ethik an der Universität Salzburg: Beiträge zur Bolzano-Forschung, St. Augustin 1992ff. 46 August HAGEN, Die kirchliche Aufklärung in der Diözese Rottenburg, Stuttgart 1953, 279– 335; Abraham P. KUSTERMANN, „Katholische Tübinger Schule“. Beobachtungen zur Frühzeit eines theologiegeschichtlichen Begriffs, in: Catholica 36 (1982), 65–82. 47 Zu dem leider vergessenen katholischen Kantianer noch immer lesenswert die einfühlsame Schrift: Kajetan WEILLER, Mutschelle’s Leben, München 1803. 48 Karl Eugen MOTSCH, Matern Reuß. Ein Beitrag zur Geschichte des Frühkantianismus an katholischen Hochschulen, Freiburg i. B. 1932; Clemens SCHWAIGER, Reuß, Maternus, in: BBKL 12 (2003), 1149–1152.
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holt war49. Der Aufgabe der Theologie, Offenbarung zu aktualisieren, glaubten sie nur glaubwürdig nachkommen zu können, wenn sie sich dem neuen Denken öffnen. Dass sie dabei nicht selten die „Ambivalenzen der Aufklärung“50 übersahen und sich, um auf der Höhe der Zeit zu stehen, allzu optimistisch, dem Verstand anvertrauten, war fast unvermeidlich. Dazu kam, dass sie vielfach eine Problematik noch nicht erkannten, nämlich dass der bisherige Methodenmonismus nicht ausreichte und die Induktion in den geschichtlichen theologischen Disziplinen neben die Systematik treten musste. So hat auch ein Eusebius Amort naturwissenschaftliche Fragen deduktiv zu lösen versucht51, während Benedikt Stattler und ähnlich Bernard Bolzano der Metaphysik mit der Mathematik zu Leibe rückten52. Die Exegese aber galt nicht als eigentlich historische Wissenschaft. Sie war abhängig von den Prämissen der Dogmatik. Daher waren auch die katholischen Exegeten der Aufklärungszeit noch weit entfernt von den Erkenntnissen der Protestanten Eichhorn und Gabler, die im Schöpfungsbericht zwischen theologischen Aussagen und deren mythischer Darstellung unterschieden53, und das obwohl der französische katholische Theologe Richard Simon bereits im 17. Jahrhundert die Verfasserschaft des Pentateuch durch Mose angezweifelt hatte54. Seine Verurteilung hat in der katholischen Bibelwissenschaft auf Jahrhunderte hinaus jede streng wissenschaftliche Behandlung der Heiligen Schrift behindert. Immerhin stellte der um 1800 in Wien lehrende Exeget Martin Jahn die Historizität der Bücher Hiob, Jona, Judith und Tobias in Frage und sprach von „Lehrgedichten“. Daraufhin wurden seine wissenschaftlichen Arbeiten indiziert. Jahn wich in die Philologie aus55, eine Strategie, in der ihm bis hin zu P. Marie-Joseph Lagrange nicht wenige von Rom gemaßregelte Exegeten im 19. und 20. Jahrhundert folgten. Kehren wir zur katholischen Aufklärungstheologie zurück. Diese spaltete sich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in zwei Richtungen. Neben die radikalen Aufklärer traten diejenigen Theologen, welche die Alleinherrschaft der „ratio“ in Frage stellten und davon überzeugt waren, dass christlicher Glaube mehr 49 Vgl. Sebastian MERKLE, Die kirchliche Aufklärung im katholischen Deutschland, Berlin 1910, 95f. 50 Gerhard ANGERER – Hanns HAAS, Ambivalenzen der Aufklärung. Festschrift für Ernst Wangermann, Wien–München 1997. 51 Vgl. B. JANSEN, Die Philosophia Pollingiana des Eusebius Amort, in: Zeitschrift für katholische Theologie 62 (1938), 569–574. 52 Sein Schüler Anton Günther warf ihm daher vor, für ihn gelte: „Mathesis allein hat Gewißheit, Philosophie [ist] bloßes Meinen, Geschichte bloße Wahrscheinlichkeit“. Franz Peter KNOODT, Anton Günther. Eine Biographie, 2 Bde., Wien 1881, II, 111f. 53 Vgl. Christian HARTLICH - Walter SACHS, Der Ursprung des Mythosbegriffes in der modernen Bibelwissenschaft, Tübingen 1952. 54 Vgl. Sascha MÜLLER, Richard Simon (1638–1712), Exeget, Theologe, Philosoph und Historiker. Eine Biographie. Würzburg 2005; DERS., Die historisch-kritische Methode in den Geistes- und Kulturwissenschaften, Würzburg 2010. 55 Eine moderne Biographie fehlt. Zu ihm: Constant VON WURZBACH, Jahn, in: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Österreich, Bd. 10, Wien 1864, 42–47; HERSCHE, Spätjansenismus (Anm. 41), 300, 303f.; Otto WEISS, Begegnungen mit Klemens Maria Hofbauer 1751–1820, Regensburg 2009, 41–45.
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ist als die Annahme einer Lehre. An erster Stelle zu nennen ist in diesem Zusammenhang der bayerische Professor für Moral- und Pastoraltheologie Johann Michael Sailer, ein Mann, der wie kein anderer die Wende vom Rationalismus zur Synthese von Verstand und Gemüt, von Wissen und Glauben, oder, wie gesagt wurde von der Aufklärung zur Romantik verkörperte56. Nicht zuletzt durch die Begegnung mit dem protestantischen Pietismus fand er Zugang zur Mystik und entdeckte die Heilige Schrift als Quelle des Glaubens und als Weisung zu einem christlichen Leben. Gegenüber der kritischen Exegese war er allerdings skeptisch. Dem Seelsorger empfahl er daher das „praktische Schriftforschen“, nämlich „nach dem Inhalt und Geiste des Neuen Testamentes zu fragen“57. Dennoch wurde Sailer von Glaubenswächtern von seinem Lehrstuhl entfernt, sei es, weil er sich in seiner Moraltheologie auch von nichtkatholischen Philosophen leiten ließ, sei es, weil er Kontakt zu protestantischen Mystikern aufrecht erhielt. Und so wie er wurde auch sein Freund und Kollege, der Dogmatiker Patriz Benedikt Zimmer gemaßregelt. Ihm ging es darum, katholische Theologie als Wissenschaft zu erweisen, was er mit Hilfe der Philosophie Kants, Fichtes und Schellings zu erreichen suchte58. Doch nicht nur Sailer und seine Freunde ließen den Rationalismus der frühen Aufklärung hinter sich. Zu erwähnen ist die katholische Wiener Spätromantik. Wir haben bereits auf Friedrich Schlegel hingewiesen. Und wenn wir schon in Wien sind, ist auch der Priester und Philosoph Anton Günther zu nennen, der im Vormärz großen Einfluss auf die deutsche Theologie ausübte59. Der Schüler Bolzanos war – auch in der Begegnung mit Schlegel – zur Überzeugung gekommen, dass wir Christen nicht durch eine Lehre erlöst seien, sondern durch die nur im Glauben erfassbare Erlösungstat Gottes in Jesus Christus. Dies und der Rückgriff auf die Theologia Cordis des Augustinus und die Auseinandersetzung mit Hegel führten ihn zur Erkenntnis: Die Wissenschaft bedarf des Glaubens, um das Übernatürliche zu erkennen, der Glauben seinerseits darf kein blinder Vertrauensglaube bleiben, sondern muss von der Vernunft erleuchtet sein, eine alte katholische Lehre, die unbegreiflicher Weise von Rom als Semirationalismus verurteilt wurde. 56 Aus der zahlreichen Sailerliteratur sei erwähnt: Hubert SCHIEL (Hg.), Johann Michael Sailer, Leben und Briefe, 2 Bde, Regensburg 1948/1952; Georg SCHWAIGER, Johann Michael Sailer. Der bayerische Kirchenvater, München-Zürich 1982; Manfred WEITLAUFF, Johann Michael Sailer (1751–1832), in: DERS. (Hg.), Lebensbilder aus dem Bistum Augsburg. Vom Mittelalter bis in die neueste Zeit (Verein für Augsburger Bistumsgeschichte, «Jahrbuch» 39), Augsburg 2005, 220–250. 57 Johann Michael SAILER, Vorlesungen aus der Pastoraltheologie, Bd. 1. Fünfte, revidierte und vermehrte Auflage, Sulzbach 1835, 327. 58 Zu ihm: Philipp SCHÄFER, Philosophie und Theologie im Übergang von der Aufklärung zur Romantik, dargestellt an Patriz Benedikt Zimmer, Göttingen 1971. 59 Zu ihm: KNOODT, Günther (Anm. 52); Josef REIKERSTORFER, Anton Günther (1783–1863) und seine Schule, in: Emerich CORETH u.a., Christliche Philosophie im katholischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts. Bd. I: Neue Ansätze im 19. Jahrhundert, Graz-Wien-Köln 1987, 266–284; Herman H. SCHWEDT, Die Verurteilung der Werke Anton Günthers (1857) und seiner Schüler, in Zeitschrift für Kirchengeschichte 101 (1990), 303–345.
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Mit Günther sind wir bei einer Gruppe katholischer Theologen angekommen, die sich in besonderer Weise mit dem deutschen Idealismus auseinandersetzten und in der Begegnung mit der Zeitphilosophie den Glauben an die Wahrheit der Offenbarung auf ein vernünftiges Fundament zu stellen suchten. Ich denke an die so genannte „Tübinger Schule“. Die in Ellwangen befindliche württembergische „Katholische Landesuniversität“60 war 1817 als katholisch-theologische Fakultät in die protestantisch geprägte Universität Tübingen eingegliedert worden. Dies trug dazu bei, dass die dort lehrenden Theologen, im Bemühen nicht hinter den Protestanten zurückzustehen, sich um Wissenschaftlichkeit und Aufgeschlossenheit für die Philosophie der Zeit mühten. Konfessionsübergreifende gegenseitige Befruchtungen dürften selbstverständlich gewesen sein, auch wenn es nicht immer leicht ist, sie nachzuweisen. Jedenfalls wurde die Fakultät ein gleichberechtigter Teil des deutschen Wissenschaftsbetriebes und damit ein Vorbild für andere katholische Fakultäten. Dies bedeutete Ansehen und zugleich staatlichen Schutz gegen Eingriffe des Lehramts in die Freiheit der Forschung61. Dazu kam, dass die erste Generation der Tübinger, angeführt von Johann Sebastian Drey, dem Vater der Fundamentaltheologie, sich bewusst vom kirchlichen Milieu distanzierte. Diese Professoren wollten nicht bloße Kirchendiener, sondern „öffentliche Lehrer“ sein62, eine Einstellung, die während des ganzen 19. Jahrhunderts erhalten blieb, auch wenn sich führende Tübinger Theologen von Möhler bis Kuhn von den aufklärerischen Anfängen distanzierten und als kirchlich und gemäßigt ultramontan erwiesen. Es war ein Glücksfall, dass Tübingen hervorragende Theologen aufwies, beginnend mit Johann Sebastian Drey63, der angeregt vom deutschen Idealismus, von der romantischen Naturphilosophie und von Schleiermacher in seiner Theologie Theorie und Praxis, oder – ähnlich wie Günther – Christentum als Lehre und als Leben miteinander in Einklang zu bringen suchte, ein Bestreben, das auch später die Entwürfe Tübinger Theologen auszeichnete. So sah der ebenfalls vom deutschen Idealismus, aber auch von Sailer beeinflusste Pastoral- und Moraltheologe Johann Baptist Hirscher64 das Ziel von Katechese und Pastoral in einem „lebendigen Christentum“. In die gleiche Richtung geht es, wenn der der zweiten 60 Eugen HAUG, Geschichte der Friedrichsuniversität Ellwangen 1812–1817, Ellwangen 1917; Rudolf REINHARDT, Die Friedrichs-Universität Ellwangen, 1812–1817, in: Ellwanger Jahrbuch 27 (1977/78), 93–115. 61 Vgl. Abraham Peter KUSTERMANN, Die erste Generation der „Katholischen Tübinger Schule“ zwischen Revolution und Restauration, in: RJKG 12 (1993), 11–24; Rudolf REINHARDT, Die Katholisch-Theologische Fakultät Tübingen, in: DERS. (Hg.), Tübinger Theologen und ihre Theologie. Quellen und Forschungen zur Geschichte der Katholisch-Theologischen Fakultät Tübingen, Tübingen 1977, 1–42, hier 10–22. 62 KUSTERMANN, Die erste Generation (Anm. 61), 22. 63 Zu ihm grundlegend: Abraham P. KUSTERMANN, Die Apologetik Johann Sebastian Dreys (1777–1853). Kritische, historische und systematische Untersuchungen zur Forschungsgeschichte, Programmentwicklung Status und Gehalt (Contubernium, Bd. 36), Tübingen 1988. 64 Zu ihm: Walter FÜRST, Wahrheit im Interesse der Freiheit. Eine Untersuchung zur Theologie Johann Baptist Hirschers, Mainz 1979. – Vgl. jedoch: Norbert KÖSTER, Der Fall Hirscher. Ein „Spätaufklärer“ im Konflikt mit Rom?, Paderborn 2007.
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Tübinger Generation angehörende Johannes von Kuhn Dogmatik als praktische Wissenschaft bezeichnete65. Und noch ein Gedanke ist anzuschließen, wenn der Begriff „Leben“ ins Spiel kommt. Es ist der Einfluss des Organismusgedankens der Spätromantik und des organologischen, ganzheitlichen nicht rationalistischen Erfassens von Wirklichkeit auf die Tübinger Theologie. In diesem Zusammenhang ist an Johann Adam Möhlers Kirchenbild in seiner Spätphase zu erinnern. Kirche wird von Möhler als Organismus verstanden, man kann auch sagen als mystischer Leib Christi. Und was genau so wichtig ist: Die ideale Kirche ist für Möhler nicht, wie Harnack sagen wird, die Urkirche, zur Kirche gehört ihre organologische Entwicklung in der Geschichte. Das war eine Abkehr von der ursprünglichen Aufklärungstheologie der Tübinger, nicht aber von der Begegnung mit dem Denken der Zeit. Denn Möhler suchte die überkommene katholische Lehre mit dem neuen historischen Denken im Anschluss an Hegel zu verbinden66. Gleiches gilt von fast allen führenden Tübinger Theologen seit den 1830er Jahren, etwa von Staudenmaier67 und genau so von Kuhn. Sie empfanden sich wie auch Günther68 in Wien als gemäßigte Ultramontane, welche die noch vorhandenen Aufklärer und Wessenbergianer allmählich verdrängten69. Ihre vermittelnde Position kann als eine neue Strategie der Theologie im 19. Jahrhundert angesehen werden. Eine andere Strategie war diejenige, die nach dem Paradigmenwechsel der Jahrhundertmitte von den Theologen vertreten wurde, die sich dem Ideal der „deutschen Wissenschaft“, verstanden als positive objektivierende Wissenschaft, verschrieben, um so schließlich die Protestanten zu übertreffen und damit dem Vorwurf der wissenschaftlichen Inferiorität der Katholiken70 entgegen zu wirken. An die Gründung der Görresgesellschaft im Jahre 187671 ist zu denken, aber auch 65 Vgl. Walter FÜRST, Theologie und Praxis. Über Perspektiven und Schicksale der Tübinger Theologie in ihrer praktischen Version von J. B. Drey und J. B. Hirscher bis J. Ev. Kuhn und F. X. Linsenmann, in: RJKG 1 (1982), 69–141; Gebhard FÜRST (Hg.), Neugestaltung christlich-kirchlicher Lebenspraxis und lebensbezogener Theologie, Mainz 1989, 12–31. 66 Vgl. zu ihm: Walter KASPER, Johann Adam Möhler – Wegbereiter des modernen Katholizismus, in: Internationale Katholische Zeitschrift 17 (1988), 433–443; Harald WAGNER (Hg.), Johann Adam Möhler, Kirchenvater der Moderne, Paderborn 1996; DERS., Johann Adam Möhler. Die Kirche als Organ der Inkarnation, in: WENZ - NEUNER (Hg.), Theologen (Anm.1), 59–74. 67 Vgl. Albert FRANZ, Glauben und Denken. Franz Anton Staudenmaiers Hegelkritik als Anfrage an das Selbstverständnis heutiger Theologie (Eichstätter Studien, NF Bd.18), Regensburg 1983. 68 So bezeichnete der Freund Günthers Johann Emanuel Veith sich und die Güntherianer ausdrücklich als „gemäßigt ultramontan“. Johann Emanuel VEITH, Eine harmlose Exhorte an die Plenarversammlung des Katholiken-Vereins am 1. August, in: Aufwärts 1 (1848) 93–96, hier 95. 69 Vgl. REINHARDT, Die Katholisch-Theologische Fakultät (Anm. 61), 22–36. 70 Vgl. Martin BAUMEISTER, Parität und katholische Inferiorität. Untersuchungen zur Stellung des Katholizismus im Deutschen Kaiserreich (Politik- und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, Bd. 3), Paderborn u.a. 1987. 71 Vgl. Georg VON HERTLING, Erinnerungen aus meinem Leben, 2 Bde., Kempten – München 1919–1920, I, 282–287.
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an einzelne Theologen, zumal Kirchenhistoriker wie Karl Joseph von Hefele72 oder Ignaz von Döllinger. Vor allem Döllinger wurde nicht müde, das Ideal der Wissenschaftlichkeit hochzuhalten, ganz besonders 1863 in seiner berühmten Rede bei der Versammlung deutscher katholischer Gelehrter in München, wo er konstatierte, dass der Leuchter der Wissenschaft von den Italienern weggerückt und den Deutschen gegeben wurde73. So hat er denn auch mit ätzendem Spott und beißender Ironie die Wundererzählungen des 1872 zum Kirchenlehrer erhobenen Neapolitaners Alfonso de Liguori als Beispiel römischer Pseudowissenschaftlichkeit kritisiert74. Und auch seine Kritik an den Dogmen von 1870 ist in diesem Kontext zu sehen.
Exkurs: Die Exegese in Tübingen Kommen wir zur Tübinger Theologie zurück, und zwar zu den Tübinger Exegeten, denen sich in diesen Tagen anerkannte Fachleute widmen. Zweifellos vertraten die Tübinger Exegeten von Peter Alois Gratz bis Johannes Keppler durchaus eine „katholische Exegese“, will heißen, dass sich für sie die Heilige Schrift als inspiriertes Gotteswort von jedem anderen Text unterschied und dass sie sich in ihrer Interpretation an der kirchlichen Lehre orientierten. Zum andern jedoch scheint sich gerade in der Exegese der Kontakt zur deutschen Universität ausgewirkt zu haben. So wenn schon der erste in Tübingen lehrende katholische Exeget Gratz, ein Schüler Sailers und Zimmers und 1819 Mitbegründer der Tübinger Theologischen Quartalschrift, zu dem ihm von Sailer vermittelten „praktischen Schriftforschen“ die wissenschaftlich fundierte kritische Exegese hinzufügte und betonte, dass das Christentum sein „Lebensprinzip in der Geschichte“ hat, dass sich also die Lehre Jesu im Verlauf der Geschichte im Leben der Kirche auszeitigt75. Ähnliches gilt von dem Tiroler Andreas Benedict Feilmoser, dessen Einleitung in das Neue Testament, zumal in die Evangelien, sich an wissenschaftlicher Akribie durchaus mit den von ihm zitierten protestantischen Exegeten messen konnte76. Von 1841 bis 1849 dozierte in Tübingen Joseph Gehringer77 katholische Exegese gleichzeitig mit Ferdinand Christian Baur, dem Erneuerer protestanti-
72 Zu ihm zuletzt: Hubert WOLF (Hg.), Zwischen Wahrheit und Gehorsam. Carl Joseph von Hefele (1809–1893), Ostfildern 1994. 73 Vgl. Otto WEISS, Döllinger, Rom und Italien, in: DENZLER - GRASMÜCK (Hg.), Geschichtlichkeit und Glaube (Anm. 28), 212–316, hier 228–235. 74 Ebd., 247f. 75 Vgl. zu ihm: Norbert WOLFF, Peter Alois Gratz (1769–1849). Ein Theologe zwischen „falscher Aufklärung“ und „Obscurantismus“ (= Trierer Theologische Studien, Bd. 61), Trier 1998. 76 Vgl. Andreas Benedict FEILMOSER, Einleitung in die Bücher des neuen Bundes für die öffentlichen Vorlesungen, Tübingen 21830. 77 Zu ihm: Herman H. SCHWEDT, Gehringer Joseph, in: BBKL 21 (2003), 467–470.
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scher Schrifterklärung78. Auch er wandte die von Baur vertretene ursprünglich theologiefremde historisch-kritische Methode konsequent auf die Heilige Schrift an. Ja, er vertrat faktisch bereits die sogenannte Zweiquellentheorie bei den Synoptikern, eine Auffassung, die noch im 20. Jahrhundert katholischen Exegeten Verweise des Lehramts eintrug79. So blieb es nicht aus, dass Gehringer mit der ultramontanen, streng-kirchlichen Richtung in Konflikt geriet. Man warf ihm vor, dass er die Exegese „von der Krücke der Spekulation emanzipieren“ wolle80 und die Bibel „behandelte wie der Philolog einen Klassiker“. Doch der katholische Exeget habe nicht zu erklären, „wie er diese oder jene Stelle verstehe, sondern wie die Kirche sie versteht“81. Sein größtes Vergehen dürfte jedoch gewesen sein, dass er die Echtheit des so genannten Heiligen Rocks von Trier bestritt82. Denn damit berührte er eine für den deutschen Katholizismus eminent politische Frage83. Schließlich sei Moritz von Aberle erwähnt, ein liebenswürdiger Mensch mit einem scharfen Verstand, der danach fragte, warum die Evangelien geschrieben wurden. Dabei wurde ihm klar, dass die Vorgänge und Ereignisse in der jungen Kirche während der Zeit ihrer Abfassung in die Darstellung einflossen. Die Zeitgenossen haben ihm diese seine „Sondermeinungen“ verziehen, weil er ja sonst ein integrer Mensch war84. So auch sein Nachfolger Paul von Schanz85, der eine Zusammenfassung seiner Vorlesungsmanuskripte (soweit sie überhaupt vorhanden waren) unter dem Titel „Einleitung in das Neue Testament“ herausgab86. Man kann sich mit Recht fragen, ob nicht der enge Kontakt an der Universität mit den Kollegen aus der evangelisch-theologischen Fakultät die katholischen Exegeten beeinflusste. Jedenfalls kannten und zitierten sie trotz mancher Vorbehalte deren Auffassungen. Selbst der als erzkonservativ geltende Paul Wilhelm 78 Vgl. Jan ROHLS, Spekulation und Christentumsgeschichte, in: WENZ - NEUNER, Theologen (Anm. 1), 39–58. 79 So geriet Joseph Sickenberger, der die Zweiquellentheorie (1917) im katholischen Raum durchsetzte deswegen in Schwierigkeiten. Vgl. Hans-Joseph KLAUCK, Religion und Gesellschaft im frühen Christentum. Neutestamentliche Studien (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, Bd. 252), Tübingen 2003; siehe auch: Otto WEISS, Der Modernismus in Deutschland. Ein Beitrag zur Theologiegeschichte, Regensburg 1995, 252, Anm. 27. 80 Kirchliches aus Würtemberg, in: Historisch-politisches Blätter 13 (1844), 236–240. 81 Professor Gehringer und die Exegese, in: Historisch-politische Blätter 16 (1845), 755–760, hier 759f. 82 A.a.O. 83 Vgl. Wolfgang SCHIEDER, Kirche und Revolution. Sozialgeschichtliche Aspekte der Trierer Wallfahrt von 1844, in: Archiv für Sozialgeschichte 14 (1974), 419–454; Philipp W. HILDMANN, Solches Gepolter in der Kirche, Studien zu Joseph von Eichendorffs Streitschrift zum Deutschkatholizismus, Berlin u.a. 2001, 26f. 84 Vgl. zu ihm die Bemerkungen Franz X. Linsenmanns: Rudolf REINHARDT (Hg.), Franz Xaver Linsenmann. Sein Leben, Sigmaringen 1987, 228–230. 85 Hervorzuheben ist aus der bisherigen Literatur zu Paul von Schanz: Abraham P. KUSTERMANN, Paul Schanz (1841–1905). Ein bedeutender Theologe seiner Zeit: Glaubensrechenschaft an der Jahrhundertwende, in: Karl MATT-MÜLLER, 600 Jahre Stiftskirche Heiligkreuz 1387–1987. Erinnerung an das Horber Kirchenjubiläum, Horb/Neckar 1989, 157–168. 86 Moritz VON ABERLE, Einleitung in das Neue Testament, hg. von Paul SCHANZ, Freiburg i. B. 1877.
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Keppler hat seine Untersuchung über das Johannes-Evangelium87 mit einem Lob auf Ferdinand Christian Baur und dessen „tiefere Erfassung“ und „gründlicheres Verständnis“ der Heiligen Schrift begonnen. Und auch Paul von Schanz fand zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer Rückschau lobende Worte für protestantische Exegeten, auch wenn er betonte, dass nach katholischer Auffassung – anders als bei den Protestanten – die Exegese „keine voraussetzungslose Wissenschaft“ sei. Sie sei vielmehr von der Lehre der Kirche abhängig, die „bleibenden Ideen“ kämen vor der Geschichte, das Dogma vor der Theologie. Eine Exegese, die diese Voraussetzungen aufgebe, werde vom jeweiligen Stand der Wissenschaft abhängig und damit, wie im 19. Jahrhundert geschehen, nach einander von der jeweiligen Weltanschauung, vom Rationalismus, vom Historizismus, von der Religionsgeschichte und Religionsphilosophie und schließlich vom Evolutionismus. Tatsächlich sprach Schanz, der im Übrigen die Fortschritte in den Naturwissenschaften als förderlich für die Exegese darstellte, damit die grundlegende Problematik katholischer Schrifterklärung an. Was an seiner Darstellung jedoch irritiert, ist die schroffe Gegenüberstellung von kirchlicher Lehre und Wissenschaft, von bleibenden Ideen und Geschichte, von Dogma und Theologie, oder, wie er anderswo schreibt, von gläubiger Exegese und radikaler Kritik88. Ob er wohl Newman gelesen hat? Wahrscheinlich nicht, denn sonst wäre doch wohl an die Stelle des „Entweder-Oder“ das „Sowohl-Als auch“ getreten. Aber vielleicht übte er einfach Selbstzensur, um nicht zensuriert zu werden. Auch das war eine Strategie, der nicht wenige katholische Theologen folgten89. Sie war um die Wende zum 20. Jahrhundert besonders bei jenen Exegeten in Übung, die wegen ihrer historischkritischen Methode in der Modernismus-Kontroverse in Bedrängnis gerieten, und das nicht nur in Tübingen. Da war auch Anton von Scholz in Würzburg90, da war Karl Holzhey91 in Freising, da waren die Jesuiten Franz von Hummelauer92 und Joseph Knabenbauer93 und zahlreiche Exegeten in Frankreich und Italien.
87 Paul Wilhelm KEPPLER, Das Johannes-Evangelium und das Ende des ersten christlichen Jahrhunderts, akademische Antrittsrede, Rottenburg 1883. 88 Paul VON SCHANZ, Die Grundsätze, Richtungen und Probleme der Exegese im 19. Jahrhundert, in: Biblische Zeitschrift 1 (1903), 6–31, hier bes. 7f. 89 Vgl. Christoph WEBER, Zensur (Anm. 35), passim. 90 Scholz war der Lehrer des „Modernisten“ Thaddäus Engert. Zu Scholz: Karl HAUSBERGER, Scholz, in: BBKL 9 (1995), 676–679. 91 Vgl. Judith SCHEPERS, Dokumentation der römischen Zensurverfahren gegen deutschsprachige Publikationen (1893–1922), in: Hubert WOLF - DIES. (Hg.), „In wilder zügelloser Jagd nach Neuem“. 100 Jahre Modernismus und Antimodernismus in der katholischen Kirche (Römische Inquisition und Indexkongregation, Bd. 12), Paderborn u.a. 2009, 525–685, hier 546–550. 92 Ebd., 550–553. Vgl. Klaus SCHATZ, „Modernismo“ tra i gesuiti. I casi Hummelauer e Wasmann, in: Michele NICOLETTI - Otto WEISS, Il modernismo in Italia e in Germania nel contesto europeo, Bologna 2010, 341–359; DERS., Liberale und Integralisten unter den deutschen Jesuiten an der Jahrhundertwende, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 21 (2002), 141–162, hier 142–152. 93 Vgl. SCHEPERS, Dokumentation (Anm. 91), 552; SCHATZ, „Modernismo“ (Anm. 92), 341.
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b. Strategie der Verdrängung Doch bevor wir darauf zu sprechen kommen, werfen wir einen Blick auf die zweite Strategie, mit der sich katholische Theologie zur modernen Welt und zum säkularen Denken stellte, nämlich die Verweigerungsstrategie, die leider auch vom kirchlichen Lehramt als dem unumstößlichen Fels der Wahrheit geteilt wurde. Daher sei zunächst ein Blick auf das Selbstverständnis dieses Lehramts im 19. Jahrhundert geworfen. Dabei zeigt sich, dass sich dasselbe angesichts der Herausforderung durch das moderne Denken und die moderne Welt in ein sicheres Haus der Dogmen flüchtete. Dieses Sekuritätsbedürfnis führte jedoch zu einer Engführung in der Theologie. Deren Stationen sind das Rundschreiben Gregors XVI. Mirari vos von 1832, der Syllabus Pius’ IX. 1867, das Unfehlbarkeitsdogma 1870, schließlich der kirchliche Antimodernismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Kehren wir zu den Theologen zurück, die die Strategie der Verdrängung wählten. Zu nennen ist an erster Stelle die so genannte „Mainzer Theologenschule“94, die ihre Entstehung dem Umstand verdankt, dass Mainz 1797 französisch geworden und ein neues linksrheinisches Bistum Mainz errichtet worden war. Dessen Leitung wurde 1802 von Napoleon dem Straßburger Domprediger Joseph Ludwig Colmar95 übertragen. 1805 kam ebenfalls aus Straßburg Bruno Franz Leopold Liebermann96, der Regens des Priesterseminars. Beide waren geprägt vom konservativen Elsässer Katholizismus und der jesuitischen Scholastik, die sie nach Deutschland übertrugen. Unter ihrer Führung kam es zu einer Restauration des deutschen Katholizismus weit über Mainz hinaus97. Der Kampf Joseph de Maistres98 für die päpstliche Infallibilität wurde – nach einigem Schwanken – zu einem zentralen Programmpunkt der Mainzer99. All dies ging in Richtung eines politischen, restaurativen Katholizismus100. Soweit die Mainzer sich mit den modernen Zeitströmungen befassten, geschah dies in aggressiver Defensive. Wie ging es weiter in den Zwanziger- und Dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts? Wir sprachen von Johann Adam Möhler, von Friedrich von Schlegel, von Anton Günther. Im Gefolge der organischen Sichtweise der deutschen Spätroman94 Ludwig LENHART, Die Erste Mainzer Theologenschule des 19. Jahrhunderts (1803–1830), Mainz 1956 95 Zu ihm: Friedhelm JÜRGENSMEIER, Colmar, in: LThK 3 (31994), 1259f. (Lit). 96 Abraham P. KUSTERMANN, Liebermann, Leopold, in: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), 485f. 97 Vgl. R René EPP, Le mouvement ultramontain dans l'Eglise catholique en Alsace au XIXe siècle (1802–1870), Lille-Paris 1975. 98 Joseph de Maistre (1753–1821), geb. in Chambéry, gest. in Turin. Sein Werk Du Pape (LyonParis 1819) beeinflusste maßgeblich die Diskussion, die zur Definition der Dogmen vom Universalepiskopat des Papstes und von dessen Unfehlbarkeit (1870) führte. Vgl. Hermann Joseph POTTMEIER, Unfehlbarkeit und Souveränität. Die päpstliche Unfehlbarkeit im System der ultramontanen Ekklesiologie des 19. Jahrhunderts (Tübinger Theologische Studien, Bd. 5), Mainz 1975, 61–73. 99 Ebd., 193–200. 100 Franz SCHNABEL, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 4: Die religiösen Kräfte, Freiburg i. B. 21951, 74–97.
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tik suchten diese Männer einen Weg zwischen Rationalismus und Fideismus und zwischen der überkommenen Lehre und den neuen Denksystemen. Wir haben sie unter die Reformer eingereiht. Fast mit gleichem Recht könnte man sie zu den restaurativen Anti-Reformen rechnen. In diesem Zusammenhang ist auf Johann Adam Möhler zurückzukommen. Auf die Gefahr hin, an seinem Ruhm zu kratzen, sei auf die Ambivalenz seines Kirchenbildes hingewiesen. Denn die organologische Auffassung von Kirche als Corpus Christi mysticum konnte dahingehend verstanden werden, dass erst das Zusammenwirken aller Glieder der Kirche mit ihren jeweiligen Aufgaben die ganze Wahrheit ans Licht bringt. In dieser Sicht erscheint auch der Papst als ein Hörender101. Für die katholischen Theologen würde dies bedeuten, dass auch sie sich als „Selbstdenker“ – und nicht als bloße Befehlsempfänger in den theologischen Diskurs einbringen konnten. Der Organismusgedanke konnte aber auch zur Vorstellung von einer organisch gegliederten, hierarchisch aufgebauten Kirche und zur Identifizierung des Papstes mit Christus als dem Haupt des mystischen Leibes führen102, damit verbunden zur Ansicht, dass die Glaubensüberlieferung, als ein Depositum fidei, als ein Schatz unveränderlicher Wahrheiten, „weder einzelnen Christgläubigen noch selbst den Theologen zur authentischen Auslegung anvertraut [ist], sondern allein dem Lehramt der Kirche“, wobei den Theologen nach Worten Pius’ XI. in der Enzyklika Humani generis lediglich „die Aufgabe zukommt, zu zeigen, wie die von der Kirche definierte Lehre in den Quellen enthalten ist“103. Abgesehen davon, dass eine so verstandene Theologie aufhört, freie Wissenschaft zu sein, ist sie nur schwer zu einer unvoreingenommen Begegnung mit der jeweiligen Zeit imstande. Doch zurück zur Theologie des 19. Jahrhunderts. Die großen Tübinger Theologen, zumal diejenigen der zweiten Generation, aber auch Günther und seine Anhänger verstanden sich, wie gesagt, als „gemäßigt Ultramontane“. Und tatsächlich standen sie mit ihrer Theologie zwischen den alten Aufklärern und einer neuen extrem ultramontanen integralistischen pressure group, die in Württemberg eine Art Antifakultät zu Tübingen ins Leben rief und in der Dogmatik eine Rück-
101 Bei der näheren Bestimmung des Dogmas der Infallibilität gilt demnach, dass der Papst – auch wenn er „ex sese“ definiert (Denzinger-Hünermann, Enchiridion Symbolorum, Nr. 3074) – immer auf die primäre Unfehlbarkeit der Kirche bezogen bleibt. M. a. W: Bei der päpstlichen Unfehlbarkeit handelt es sich primär um die Unfehlbarkeit der Kirche, also die Unfehlbarkeit des gesamten Corpus Christi mysticum. Vgl. Wolfgang BEINERT, Unfehlbarkeit, in: LThK 10 (32001), 389–392, hier 390. – Vgl. auch Paul WESS u.a., Papstamt jenseits von Hierarchie und Demokratie, Berlin u.a. 2003, hier bes. 24, Anm. 22. 102 Vgl. dazu: Otto WEISS, Rechtskatholizismus in der Ersten Republik. Zur Ideenwelt der österreichischen Kulturkatholiken 1918–1934, Frankfurt a. M. u.a. 2007, 71f. 103 Enzyklika Humani Generis, in: Acta Apostolicae Sedis (AAS) 42 (1950), 561–577; Textverbesserungen in: AAS 42 (1950), 960; DENZINGER-HÜNERMANN, Nr. 3875–3899. – Vgl. jetzt: Klaus UNTERBURGER, Vom Lehramt der Theologen zum Lehramt der Päpste. Pius XI., Die Apostolische Konstitution „Deus scientiarum Dominus“ und die Reform der Universitätstheologie, Freiburg i. B. 2010.
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kehr zu Thomas von Aquin, in der Moraltheologie zur Kasuistik des Alfons von Liguori forderte104. Damit aber bahnte sich in der romtreuen restaurativen Theologie ein Umbruch an, der durchaus dem allgemeinen Paradigmenwechsel um die Mitte des 19. Jahrhunderts entsprach, also der Wende zum Positivismus, allerdings gerade nicht in der historischen Theologie und Exegese, wo kritische Wissenschaftlichkeit am Platze gewesen wäre, sondern ausgerechnet in der „systematischen Theologie“. Man sprach später nicht zu Unrecht von einer „Naturwissenschaft des Glaubens“105. Konkret hieß dies, dass an katholischen Hochschulen die Systematiker, die sich am deutschen Idealismus orientiert hatten, zurückgedrängt wurden. Erst recht wurde die Vorstellung einer intuitiven Erfassung des göttlichen Seins durch den Belgier Ubaghs suspekt und verschwand aus den Lehrplänen106. An die Stelle von all dem rückte die Neuscholastik107, die im Unterschied zur „deutschen“ Universitätstheologie als „römische Theologie“ bezeichnet wurde. An den Neuscholastikern aber war, wie Anton Günther schrieb, die Philosophie der Gegenwart „nicht bloß seit Kant, sondern seit Leibniz […] wie ein Irrlicht aus dem Moorgrund vorbeigegangen, vor dem sie den Atem eingezogen und den Lauf der Füße eingehalten hatten“108. Entstanden wohl in Spanien hatte die Neuscholastik sich in Italien ausgebreitet und war – gegen starke Widerstände, etwa von dem Jesuitentheologen Carlo Passaglia109 – zur Theologie der römischen Jesuiten geworden und zwar im suarezianisch-molinistischen Gewande der frühneuzeitlichen spanischen Jesuiten, einer Theologie, die der menschlichen „ratio“ bei der Erkenntnis übernatürlicher Wahrheiten fast alles zutraute. Es war der deutsche Jesuit Joseph Kleutgen, der sich in diesem Erkenntnisoptimismus kaum mehr überbieten ließ110. Nach Deutschland, vor allem nach Würzburg, Mainz und Eichstätt, kam die „römische Theologie“, die alle Rätsel der Moderne mit scholas104 Vgl. Otto WEISS, Die Redemptoristen in Bayern. Ein Beitrag zur Geschichte des Ultramontanismus, St. Ottilien 1983, 466–491. 907–929; Hubert WOLF, Im Zeichen der „Donzdorfer Fakultät“. Staatskirchenregiment – „Liberale“ Theologie – Katholische Opposition, in: Historisches Jahrbuch für den Kreis Göppingen 3 (1993), 96–116. 105 So Leonhard FENDT, Die religiösen Kräfte des katholischen Dogmas, München 1921, 218f. – Vgl. Alfred LOISY, Autour d'un petit livre, Paris 1903, 10; George TYRRELL, Il Papa e il modernismo, Rom 1912, 151. 106 Vgl. Roger AUBERT, Le Pontificat de Pie IX. 1846–1878 (Histoire de l’Eglise I, 21), Paris 2 1962, 189–192; Johan ICKX, Tra Lamennais e San Tommaso d'Aquino. La condanna di Gerard Casimir Ubaghs e della dottrina dell'Università Cattolica di Lovanio. 1834–1870 (Collectanea Archivi Vaticani, 56), Città del Vaticano, 2005. 107 Vgl. Otto WEISS, Neuscholastik, in: RGG 6 (42003), 246–248; DERS., Modernismus und Antimodernismus (Anm. 36), 47–50; Detlef PEITZ, Die Anfänge der Neuscholastik in Deutschland und Italien (1818–1870), Bonn 2006. 108 Anton Günther an Franz Peter Knoodt, 22. Mai 1845, zit. in: Eduard WINTER, Romantismus, Restauration und Frühliberalismus im österreichischen Vormärz, Wien 1968, 226. 109 Vgl. Peter WALTER, Carlo Passaglia. Auf dem Weg zur Communio-Ekklesiologie, in WENZ NEUNER, Theologen (Anm. 1), 165–182, hier 164.171. 110 Zu ihm: PEITZ, die Anfänge (Anm. 107), 146–198; Konrad DEUFEL, Kirche und Tradition. Ein Beitrag zur Geschichte der theologischen Wende im 19. Jahrhundert am Beispiel des kirchlich-theologischen Kampfprogramms P. Josef Kleutgens, Paderborn 1976.
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tischer Verstandesschärfe zu lösen glaubte, durch die in Rom geschulten Theologen Denzinger, Dieringer, Hettinger und Hergenroether111. Daneben hatte auch der Neuthomismus der Dominikaner, der in theologischen Fragen dem Geheimnis und der Mystik einen weiteren Raum gab als die Jesuitentheologie, in Deutschland ihre Vertreter112, allen voran den Freiburger Privatdozenten Constantin von Schaezler. Der Schüler und einstige Freund Döllingers wusste durchaus, dass die Neuscholastik einer Erneuerung durch die Einbeziehung der Geschichtlichkeit bedurfte, doch wegen seiner Festlegung auf den traditionellen Objektivismus und seiner Fixierung auf ewig unveränderliche, zeitlose Wahrheiten gelang ihm diese Einbeziehung nicht wirklich113. Einen vorläufigen Sieg der Scholastik in Deutschland brachte 1870 das erste Vatikanische Konzil, gefolgt 1879 von der Enzyklika Aeterni Patris Leos XIII. Fast die gesamte Bonner katholisch-theologische Fakultät, wo wie in Breslau Theologen aus der Günther-Schule lehrten, wurde altkatholisch114, die gemäßigten Ultramontanen in Tübingen, Kuhn an der Spitze, verstummten115. Männer, die wie Matthias Joseph Scheeben116 zu vermitteln suchten, wurden überhört oder uminterpretiert. Doch die auf Sicherheit und Verdrängung der Probleme bedachte Strategie des Lehramts, aufgipfelnd in der Quasi-Kanonisierung der neuscholastischen Philosophie und Theologie, war aufs Ganze gesehen nicht in der Lage, den Herausforderungen der Theologie durch die Moderne gerecht zu werden, auch wenn die gute Absicht des Papstes und die Bestrebungen einzelner neuscholastischer Theologen durchaus anzuerkennen sind. Auch führende Reformer haben von der vielgeschmähten Neuscholastik gelernt, nicht zuletzt Herman Schell, der ein Schüler Constantin von Schaezlers war117. Erinnert sei auch daran, dass die thomasische Theologie durch die Begegnung mit modernen Entwürfen im 20. Jahrhundert eine fruchtbare Erneuerung erfuhr118. 111 Vgl. Bernhard WELTE, Zum Strukturwandel der katholischen Theologie im 19. Jahrhundert, in: DERS., Auf der Spur des Ewigen, Freiburg 1965, 380–409. 112 Vgl. WEISS, Modernismus und Antimodernismus (Anm. 36), 47–132. 113 DERS., Constantin Freiherr von Schaezler. Neue Akzente auf Grund neuer Quellen, in: Gisela FLECKENSTEIN u.a., Kirchengeschichte. Alte und neue Wege. Festschrift für Christoph Weber, Bd. 1, Frankfurt a. M. u.a. 2008, 397–442. 114 Vgl. Johann Friedrich VON SCHULTE, Der Altkatholizismus. Geschichte seiner Entwicklung, inneren Gestaltung und rechtlichen Stellung in Deutschland, Gießen 1887, Nachdruck Aalen 1965. 115 Vgl. Hubert WOLF, Ketzer oder Kirchenlehrer. Der Tübinger Theologe Johannes von Kuhn 1806–1887, Mainz 1992, 350–357. 116 Zu ihm noch immer wichtig: Karl ESCHWEILER, Die zwei Wege der neueren Theologie, Augsburg 1926, 131–183. Vgl. auch Wolfgang W. MÜLLER, Von der Lebendigkeit des trinitarischen Gottes, in: WENZ - NEUNER, Theologen (Anm. 1), 204–218. 117 „Überhaupt dürfte ein großer Einfluss seiner [Schaezlers] Darstellungsmethode und Schreibweise auf die Art meines Denkens, Darstellens und Schreibens leicht zu erkennen sein“. Schell an Heinrich Kihn, 31. Juli 1883, in: Herman SCHELL, Briefe an einen jungen Theologen, hg. v. Josef Hasenfuß, München-Paderborn-Wien 1973, XVI. – Vgl. ebd., XII, XXI. 118 Zu erinnern ist an Joseph Maréchal S.J. und Antonin-Dalmace Sertillanges. Besonders hingewiesen sei auf die theologische Schule Le Saulchoir und deren Begründer Ambroise Gardeil O.P. Dazu: Wolfgang W. MÜLLER, Was kann an der Theologie neu sein? Der Beitrag
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3. Bilanz und Ausblick Verdrängungen führen zu neurotischen Krisen, die nichts anderes sind als Heilungsversuche des leibseelischen Organismus. Die Verdrängung der Moderne führte um die Wende zum 20. Jahrhundert im Organismus der Kirche zur Modernismuskrise. Katholische Theologen gaben sich nicht mehr damit zufrieden, die Vorgaben des Lehramts auch dann noch im Gehorsam hinzunehmen, wenn sie damit gegen ihr Gewissen handeln und ihre klaren wissenschaftlichen Erkenntnisse aufgeben sollten. Ihr Protest, der im Allgemeinen gar nicht als Protest, sondern als Verteidigung der kirchlichen Lehre mit Hilfe moderner Erkenntnisse und Methoden gedacht war, ging in eine zweifache Richtung. Er wandte sich zum einen gegen die „Naturwissenschaft des Glaubens“ und kann damit als Teil der neuen Romantik des fin de siècle und seiner Positivismuskritik verstanden werden. So bei George Tyrrell, dem großen Mystiker unter den Modernisten, der den römischen Glaubenshütern vorwarf, sie seien der Ansicht, „dass man die Existenz Gottes und der Übernatur so einfach beweisen kann wie die Existenz der Planeten Neptun oder Uranus“119. So bei Alfred Loisy, der betonte: „Im Unterschied zum rationalen wissenschaftlichen Erkennen ist die Erkenntnis religiöser Wahrheiten nicht eine Frucht der Ratio allein“. Sie sei vielmehr Begegnung des offenbarenden Gottes mit dem Menschen in einer Offenbarung, die jedes rationale Erkennen übersteigt, und der sich der Mensch – nur in „Symbolen“, den Dogmen, annähern kann. Nie und nimmer jedoch könne er Gott und die Offenbarung sozusagen unter dem Mikroskop zerlegen120. All dies erinnert an Hamann und Schlegel und an den Begriff der „Anschauung“ bei Schelling, aber auch an Schleiermacher, der um 1900 von Modernisten neu rezipiert wurde. Der Protest ging jedoch genauso in eine andere Richtung und die hatte mit der historisch-kritischen Methode zu tun. Den so genannten Modernisten, und besonders den Exegeten unter ihnen, war klar, dass sie im Wissenschaftsbetrieb der Universitäten nur ernst genommen wurden und die Kirche nur dann erfolgreich verteidigen konnten, wenn sie dies mit denselben Methoden taten wie diejenigen, von denen diese Angriffe ausgingen. Auch hierzu ist Alfred Loisy ein sprechendes Beispiel. Gewiss, er hatte von der deutschen liberalen protestantischen Exegese gelernt, aber er benützte dieses sein Wissen dazu, um die Gegner mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Dies gilt besonders für seine von Rom verurteilte Schrift der Dominikaner zur „nouvelle théologie“, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 110 (1999), 86–104; DERS., Dolorosi strascichi del modernismo: l’interpretazione dei dogmi di padre Ambroise Gardeil, in: NICOLETTI - WEISS, Il modernismo (Anm. 92), 281–296. – Eine bedeutende Rolle spielte ferner das Institut Superieur de Philosophie de l‘Université catholique de Louvain. – Zum Thomismus in Deutschland im 20 Jh.: Lydia BENDEL-MAIDL, Tradition und Innovation, zur Dialektik von historischer und systematischer Perspektive in der Theologie, am Beispiel von Transformationen in der Rezeption des Thomas von Aquin im 20. Jahrhundert, Münster 2004; vgl. auch Alois GUGGENBERGER, Orientations métaphysiques dans l’Allemagne d‘aujourd’hui, in: Revue philosophique de Louvain 51 (1963), 541–554. 119 George TYRRELL, Il papa e il modernismo [zuerst Corriere della sera 1907], Rom 1912, 151. 120 Alfred LOISY, Autour d’un petit livre, Paris 1903, 199–208.
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L’Évangile et l’Église aus dem Jahre 1902, mit der Loisy gründend auf der historisch-kritischen Methode und unter Berücksichtigung des Prinzips der Geschichtlichkeit Adolf von Harnacks Vorwurf zurückwies, die römischen Kirche sei von der Lehre Jesu abgefallen. Nicht die Rückkehr zur Urkirche sei erfordert, sondern die immer neue Interpretation der Offenbarung durch die Kirche als Antwort auf die jeweiligen Herausforderungen in ihrer Geschichte121. Loisy und mit ihm zahlreiche katholische Exegeten taten nichts anderes als mit Hilfe moderner Methoden und mit Blick auf die sich in der Geschichte wandelnde Tradition der Kirche den Unterschied zwischen dem theologischen Inhalt einer biblischen Aussage und ihrer Interpretation im Laufe der Geschichte herauszustellen. Das Lehramt hat ihnen schließlich durch die Enzyklika Pius’ XII. Divino afflante spiritu Recht gegeben122. Was der Wiener Exeget Martin Jahn bereits um 1800 gelehrt hatte, wurde 1943 als katholische Lehre definiert: Bei der Auslegung der Heiligen Schrift ist zu beachten, um welche literarische Art es sich handelt. Und noch ein weiteres Problem, das sich einem Loisy und zuvor schon einem Newman und noch früher einem Sebastian Drey stellte, das der Geschichtlichkeit und der Entwicklung von Dogmen, dürfte spätestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil wenigstens teilweise gelöst sein durch die Erkenntnis, dass Wahrheit, auch die uns in der Bibel begegnende Offenbarungswahrheit nichts Statisches, sondern immer Wahrheit in Geschichte ist123. Ich komme zum Schluss. Wir haben gefragt: Was heißt und zu welchem Ende betreibt man Theologie? Wir haben eine Antwort versucht, doch nicht, indem wir Argumente aneinander reihten, sondern indem wir aufzeigten, welchen Strategien Theologen tatsächlich folgten, um die Wahrheit der Offenbarung und die Anforderungen der Zeit in Einklang zu bringen. Zwei hauptsächliche Strategien wurden sichtbar: die der Verdrängung und die der Begegnung und des Dialogs. Dabei zeigte sich: Auf die Dauer hat sich die Strategie der Begegnung am Ende nicht nur als siegreich erwiesen, sondern auch zu einem besseren Verständnis der evangelischen Botschaft beigetragen. Denken wir nur an die Überwindung des Methodenmonismus und die Anerkennung der induktiven Methode in der Exegese und nicht nur in der Exegese. Zusammenfassend lässt sich also feststellen: Das Verständnis der evangelischen Botschaft ist auf die jeweils neue Durchdringung von Seiten der Vernunft angewiesen. Darum genügt es nicht, sich in eine Burg von unveränderlichen Dogmen einzumauern und sich einer für ewige Zeiten festgelegten objektivistischen Wesensschau hinzugeben. Der Glaube bedarf vielmehr der ständig neuen Interpretation durch die von den Erkenntnissen der Zeit befruchtete Theologie, damit er von Erstarrungen und eventuellen Fehlentwicklungen befreit wird, und so die Impulse des Ursprungs für die jeweilige Gegenwart weiter entfaltet und fruchtbar werden können. Deswegen, und nicht um ständig neue Schutzmauern aufzurichten, muss Theologie immer wieder neu betrieben werden. 121 Vgl. CIAPPA, Rivelazione e storia (Anm. 2). 122 AAS 35 (1943), 297–326. Vgl. Robert Bruce ROBINSON, Roman Catholic Exegesis since Divino afflante spiritu, Atlanta 1988. 123 Vgl. Otto Hermann PESCH, Das Zweite Vatikanische Konzil. Vorgeschichte – Verlauf – Ergebnisse – Nachgeschichte, Würzburg 1994, 283–286.
Autorenverzeichnis
PD Dr. Matthias Blum, Freie Universität Berlin. Univ.-Prof. Dr. Albert Franz, Ordinarius für Systematische Theologie (kath.) an der Technischen Universität Dresden. Univ.-Prof. Dr. Christoph Heil, Professor am Institut für Neutestamentliche Bibelwissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Karl-FranzensUniversität Graz. Univ.-Prof. Dr. Rainer Kampling, Professor für Biblische Theologie/Neues Testament am Seminar für Katholische Theologie der Freien Universität Berlin. Prof. Dr. Ulrich Köpf, Professor emeritus für Kirchengeschichte der Evangelischtheologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen. PD Dr. Ina Ulrike Paul, Privatdozentin am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, Geschäftsführerin des Zentralinstituts studium plus der Universität der Bundeswehr München. Univ.-Prof. Dr. Michael Theobald, Ordinarius für Neues Testament an der Katholisch-theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen. Dr. Markus Thurau, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Katholische Theologie der Freien Universität Berlin. PD Dr. Robert Vorholt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neues Testament an der Ruhr-Universität Bochum. Dr. Otto Weiß, Wien. Prof. P. Dr. Norbert Wolff SDB, Professor für Kirchengeschichte an der Philosophisch-Theologischen Hochschule der Salesianer Don Boscos Benediktbeuern – Theologische Fakultät.
Personenregister Die Schreibweise der Namen wurde für das Personenregister vereinheitlicht, während in den einzelnen Beiträgen die Schreibweise der Autorin und der Autoren beibehalten wurde. Abaelard, Peter 242 Aberle, Mori(t)z 49, 136, 159f., 183-196, 198, 201, 207, 213, 216f., 222, 255 Adam, Karl 48f., 113, 132, 145, 163, 241f., 245 Adorno, Theodor W. 248 Aland, Kurt 144, 171 Albertus Magnus 242 Albrecht, Wolfgang 13 Amort, Eusebius 249f. Angerer, Gerhard 250 Antonelli, Giacomo 34, 36f. Arnold, Claus 197, 241 Arnold, Franz Xaver 249 Aschheim, Steve E. 246 Aubele, Robert 161 Aubert, Roger 259 Augustinus 210, 251 Barrett, Charles Kingsley 123 Barrett, John 115f. Barth, Karl 140 Bauer, A. C. 150 Bauer, Bruno 69, 216, 223f. Baumeister, Martin 253 Baumgarten, Alexander Gottlieb 244 Baumgartner, Konrad 84 Baur, Ferdinand Christian 45f., 48f., 52-54, 57-59, 61, 64, 67, 107, 133, 173, 188f., 196, 207, 217f., 224, 254-256 Beck, Joseph 151, 157 Beinert, Wolfgang 229, 258 Belaval, Yvon 86, 96 Bendel-Maidl, Lydia 261 Berghoff, Hartmut 246 Bestlin, Johann Nepomuk 102 Betz, Hans Dieter 144 Biemer, Günter 241 Bilfinger, Georg Bernhard 52 Binterim, Anton Joseph 97f., 112, 115, 119f., 122 Bischof, Franz Xaver 12
Bismarck, Otto von 39, 41 Blaschke, Olaf 226 Blondel, Maurice 203 Blum, Matthias 132, 172 Blumenberg, Hans 243 Bölsche, Wilhelm 246 Boer, Martinus C. de 138 Böhmert, Carl Friedrich 117 Bolzano, Bernard 249f. Borutta, Manuel 40 Bosl, Karl 242, 244 Bourel, Dominique 86, 96 Brechenmacher, Karl 132f., 135, 147-149, 151, 155, 157f. 169 Brenner, Friedrich 108 Brentano, Franz 93, 106f., 249 Breuer, Stefan 247 Brischar, Johann Nepomuk 106 Broer, Ingo 153 Bruch, Rüdiger vom 246 Brück, Heinrich 110, 119, 197 Bürger, Christa 247 Burkard, Dominik 10, 37, 39, 94, 133, 135, 201 Burkhardt, Helmut 230 Buß, Franz Joseph (Ritter von) 31 Canz, Israel Gottlob 52 Cardauns, Hermann 215 Carl Eugen, Herzog von Württemberg 9 Cassirer, Ernst 248 Chadwick, Owen 246 Christophersen, Alf 100 Ciappa, Rosanna 241, 262 Clemens VIII., Papst 93 Clemens Alexandrinus 191 Clemens Wenzeslaus von Sachsen 19 Colmar, Joseph Ludwig 257 Comte, Auguste 244 Consalvi, Ercole 15, 24 Dalberg, Karl Theodor von 15, 20f. Darwin, Charles 189
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Personenregister
Denzinger, Heinrich 260 Dereser, Johann Anton (Thaddäus) 97 Deselaers, Paul 229 Deufel, Konrad 259 Dieringer, Franz Xaver 138, 260 Dietrich, Stefan J. 30 Dilthey, Wilhelm 245, 247 Döllinger, Johann Ignaz (Ritter von) 186, 219, 246, 254, 260 Dowe, Christopher 215 Drey, Johann Sebastian (von) 46-49, 54, 56f, 59, 62f., 67, 69, 70-81, 85f., 99f., 132, 135, 139, 146-148, 150f., 154f., 167, 180, 252f., 262 Dülmen, Richard van 248 Duttenhofer, Christian Friedrich 17 Duvernoy, Gustav (von) 31 Dyroff, Adolf 245 Eckert, Michael 94 Eichhorn, Johann Gottfried 89, 95, 115, 117, 126f., 172, 250 Eisenbach, Heinrich Ferdinand 52, 55f. Embach, Michael 243 Engels, Friedrich 166, 246 Eschweiler, Karl 260 Ewald, Heinrich 188, 190, 194, 216 Faber, Richard 247 Feilmoser, Andreas Benedikt 54, 56, 58, 61, 98, 103-130, 132, 145-147, 150, 155, 160, 172f., 254 Felbinger, Johann Ignaz von 17 Fendt, Leonhard 259 Feuerbach, Ludwig 69 Fichte, Johann Gottlieb 69, 251 Fink, Karl August 45 Fischer, Anton 149, 155-157 Fischer, Kilian Joseph 108 Fitzmyer, Joseph A. 137 Flavius Josephus 117, 119, 163, 230, 232 Franz, Albert 146, 253 Friedrich I., König von Württemberg (ab 1806) 11f., 15, 18f. Friedrich II., Herzog von Württemberg (bis 1806) 14f. Fries, Heinrich 43f. Funk, Franz Xaver (von) 45, 49, 202 Fürst, Walter 252f. Gabler, Johann Philipp 225f., 250 Gadamer, Hans Georg 244 Gahn, Philipp 84 Galilei, Galileo 210f. Gardeil, Ambroise 260f.
Garhammer, Erich 106 Gebhardt, Oscar von 221 Gehringer, Joseph 135, 147-181, 203, 254f. Geiselmann, Josef Rupert 50, 73, 79, 107 Gelebart, Yves-Claude 86 Genga, Annibale della Siehe Leo XII. George, Stefan 247 Gfrörer, August Friedrich 151 Giesen, Heinz 239 Glawe, Walther Karl Erich 242 Glöckler, Conrad 150f. Goldstein, Jürgen 243 Golther, Ludwig (von) 36-38 Görres, Joseph 98, 245 Graf, Anton 160f., 167 Graf, Friedrich Wilhelm 31, 46 Graf, Heinrich 160 Granderath, Theodor 209 Graßl, Hans 245 Gratz, Peter Alois 49, 62f., 83-102, 104, 106, 108f., 112, 115, 118-120, 160, 226, 254 Gregor von Nyssa 117 Gregor XVI., Papst 26, 28-30, 257 Griesbach, Johann Jakob 89, 170f., 173f. Groß, Werner 16, 104, 109, 164, 185 Gründig, Maria E. 17 Guardini, Romano 241 Güder, Eduard 216 Guggenberger, Alois 261 Günther, Anton 250-253, 257, 259 Gutberlet, Konstantin 110, 121 Haacker, Klaus 144 Haag, Herbert 184 Haas, Hanns 250 Hachtmann, Rüdiger 31 Hagen, August 10, 26-30, 32-37, 249 Hamann, Johann Georg 244, 261 Hammer, Felix 27 Hardtwig, Wolfgang 31 Harnack, Adolf von 220, 226, 242, 246, 253, 262 Hartlich, Christian 226, 250 Hasler, Anders V. 234 Haug, Eugen 252 Haug-Moritz, Gabriele 9 Hausberger, Karl 256 Heckel, Ulrich 93 Hefele, Carl Joseph (von) 40f., 48f., 57, 59, 119, 154f., 159f., 184, 254 Hefele, Emil (von) 204
Personenregister
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 38, 57, 69, 72, 75, 244f., 251, 253 Heintz, Günter 247 Helfferich, Joseph Anton 21 Hengel, Martin 172, 230 Hengstenberg, Ernst Wilhelm 188 Herbst, Johann Georg 49, 54, 56, 62, 85, 99, 106, 119, 139, 147, 155 Herder, Johann Gottfried 69, 243, 249 Hergenröther, Joseph 260 Herr, Friedrich 242 Hersche, Peter 248, 250 Hertling, Georg Freiherr von 215, 226f., 253 Herzog, Johann J. 220 Hettinger, Franz 260 Heusler, Erika 176 Heyd, Ludwig 53 Hieronymus 91, 117 Hildmann, Philipp W. 255 Hilgenfeld, Adolf 53, 189, 196, 217, 220 Hillebrand, Bruno 246 Himpel, Felix (von) 60, 161, 185, 201-203 Hirscher, Johann Baptist (von) 48f., 54, 56, 62, 85, 99, 132, 139, 147-150, 152, 155, 159f., 163-165, 167f., 252f. Hofbauer, Klemens Maria 250 Hohenlohe-Schillingfürst, Franz Karl Joseph Fürst zu 15, 18-20 Hölderlin, Friedrich 72 Holtzmann, Heinrich Julius 173, 216f., 220 Holzem, Andreas 46, 114, 145 Holzhey, Karl 256 Horkheimer, Max 248 Hornstein, August Freiherr von 26 Hort, Fenton John Anthony 221 Huber, Ernst Rudolf 12 Huber, Wolfgang 12 Hug, Johann Leonhard 89, 110, 115, 117, 121 Hügel, Karl Eugen von 37 Humboldt, Wilhelm von 246 Hummelauer, Franz von 256 Huther, Johann E. 220 Jacobi, Friedrich Heinrich 69, 75, 244 Jahn, Johann 226 Jahn, Martin 250, 262 Jansen, Bernhard 250 Jansenius d. Ä., Cornelius 220 Jürgensmeier, Friedhelm 257 Kampling, Rainer 136 Kant, Immanuel 69, 72, 74, 78, 101, 211, 245, 249, 251, 259
267
Kapfhammer, Franz M. 247 Karl Alexander, Herzog von Württemberg 9, 14 Karl I., König von Württemberg 36, 39, 41 Kasper, Walter 43, 50, 64, 67f., 71f., 107, 130, 146, 253 Keil, Carl F. 220 Keim, Karl Theodor 216 Keller, Erwin 164 Keller, Johann Baptist (von) 12, 19f., 25-30, 133 Keppler, Paul Wilhelm (von) 49, 60, 202, 225, 254, 256 Kessler, Michael 47, 67, 69, 71, 73f., 81 Kihn, Heinrich 260 Kißener, Michael 10 Kißling, Johann Baptist 197 Kistemaker, Johann Hyazinth 97 Klaiber, Christoph Benjamin 52 Klauck, Hans-Josef 112, 122, 226, 255 Kleutgen, Joseph 259 Klueting, Harm 248 Knabenbauer, Joseph 256 Knoodt, Peter 250f., 259 Koch, Wilhelm 61, 183-185, 187 Köfler, Simon 113 Köhle-Hezinger, Christel 13, 15 Köhler, Joachim 46f. Köpf, Ulrich 46-48, 51, 53f., 67f., 107, 139, 146f. Kosch, Wilhelm 154, 160 Kosellek, Reinhart 243 Köster, Norbert 150, 163-165, 252 Köstlin, Karl Reinhold 216 Krüger, Gustav 226 Kuhn, Johannes Evangelist (von) 48f., 60, 62, 132, 147, 155, 159f., 185f., 200, 202f., 205, 252f., 260 Kuhn, Thomas 139 Kümmel, Werner Georg 112, 169, 171-173, 218 Kümmeringer, Hans 208 Küng, Hans 62 Kustermann, Abraham Peter 45, 47, 51, 5558, 60, 86, 107, 110, 111, 132, 185, 249, 252, 255, 257 Lachmann, Carl 172 Lagrange, Marie-Joseph 169, 250 Lais, Hermann 249 Lang, Lorenz 104f. Langen, [Joseph] 103, 111, 112 Laplanche, François 241, 248
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Personenregister
Lauchert, Jakob 131 Lauster, Jörg 198 Lawler, Edwina G. 139 Lehmann, Hartmut 244 Leibniz, Gottfried Wilhelm 259 Lenhart, Ludwig 257 Leo XII., Papst 19, 24 Leo XIII., Papst 197, 260 Lessing, Gotthold Ephraim 95, 248f. Liebermann, Bruno Franz 257 Liguori, Alfonso de 254, 259 Lill, Rudolf 9 Lindemann, Andreas 198 Linsenmann, Franz Xaver 154, 183f., 186, 195, 199f., 202, 204f., 213, 224, 253, 255 Lipp, Joseph (von) 30, 34 Lipsius, Richard A. 220 Lisko, Friedrich Gustav 151 Lohfink, Norbert 130 Loisy, Alfred 197, 205, 241, 248, 259, 261f. Loose, Reiner 15 Lösch, Stephan 50, 99f., 106, 108, 110, 113, 129, 132, 136, 146, 158 Löwith, Karl 246 Lücke, Friedrich 52, 100, 170, 175 Ludwig Eugen, Herzog von Württemberg 9 Lumper, Gottfried 103 Luther, Martin 229, 242f. Lutz, Heinrich 243 Luz, Ulrich 117, 144, 219 Macholz, Christian 232 Mack, Martin Joseph 58f., 62, 131-147, 149, 153, 155, 157, 160, 169, 200 Madges, William 134, 139f., 142 Maistre, Joseph Marie de 257 Mann, Bernhard 10, 17, 21, 23, 27f., 31f., 35-37, 39 Marcion 117, 207 Maréchal, Joseph 260 Martin, Jean Pierre Paul 222 Martin, Konrad 151 Martyn, James Louis 138 Marx, Karl 69, 244 Mast, Joseph 159 Matte, Wenzel 155 Mattes, Wenzeslaus 157 Matt-Müller, Karl 255 Maurer, Georg 103 May, Georg 134f. Menzel, Beda Franz 249 Merkle, Sebastian 107, 250 Merz, Heinrich 56-59
Metzger, Bruce M. 116 Meyer, Heinrich August Wilhelm 216, 219f., 227 Michaelis, Johann David 95 Miller, Max 14, 148, 161, 168 Mitterbacher, Andreas 103, 105, 110 Mittnacht, Hermann Freiherr von 37, 41 Möhler, Johann Adam 41, 48-50, 54-56, 59, 62f., 70, 73, 99, 104-106, 111, 113, 129, 131f., 139, 145f., 148-150, 157, 159, 179f., 217, 252f., 257f. Motsch, Karl Eugen 249 Müller, Adam 245 Müller, Frank Lorenz 31 Müller, Sascha 250 Müller, Ulrich B. 239 Müller, Wolfgang W. 260 Multer, Johann Christian 55, 155 Mußner, Franz 138 Mutschelle, Sebastian 249 Napoleon I. Bonaparte, französischer Kaiser 19, 257 Nastainczyk, Wolfgang 163 Naujoks, Eberhard 37, 39-41 Naupp, Thomas 103 Neher, Stefan Jakob 154 Nellessen, Leonhard Alois 97 Neufeld, Karl Heinz 203 Neuner, Peter 112, 132, 242 Neurath, Constantin Franz von 34, 41 Newman, John Henry 241, 256, 262 Nietzsche, Friedrich 246 Nikolaus von Kues 201 Nipperdey, Thomas 22, 243 Normann-Ehrenfels, Philipp Christian Graf von 9, 15 Ocker, Josi 157 Oehler, Anton 149, 157 Ohlig, Karl Heinz 242 Ow, Adolph Freiherr von 35 Pannenberg, Walter 242 Passaglia, Carlo 68, 259 Paul, Ina Ulrike 10, 131, 135 Paulsen, Henning 236 Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob 95f. Peitz, Detlef 259 Perrone, Giovanni 68 Pesch, Otto Hermann 262 Pfizer, Paul 31 Pflanz, Benedikt Alois 56, 150, 249 Pfleghaar, Marvell 156 Philo von Alexandrien 230f.
Personenregister
Pius VII., Papst 20 Pius VIII., Papst 26 Pius IX., Papst 35f., 152, 184, 257 Pius X., Papst 198 Pius XI., Papst 225, 258 Pius XII., Papst 262 Plitt, Jakob Theodor 216 Pokorný, Petr 93 Pottmeyer, Hermann Joseph 212, 224, 227, 257 Preuschen, Erwin 177 Pritz, Joseph 184, 186, 188-190 Puschner, Uwe 9 Quenstedt, Friedrich August 200 Raab, Heribert 215 Rahner, Karl 166 Ratzinger, Joseph 67, 69f., 76 Rauscher, Anton 215, 226 Rautenstrauch, Stephan 249 Reikerstorfer, Josef 251 Reinhardt, Rudolf 15f., 18-21, 30, 41, 44-47, 54f., 65, 83, 87, 99f., 105-108, 112, 129135, 145, 147-149, 155, 158-161, 169, 179f., 183, 186, 195, 199f., 202, 252f., 255 Reisach, Graf Karl August von 35 Reiser, Marius 94, 97, 112, 225 Rentschler, Elke 136f. Reusch, Franz Heinrich 152 Reusch, Friedrich Eduard 200 Reuß, Eduard 216 Reuß, Maternus 249 Reventlow, Henning Graf 96, 112, 129 Rief, Josef 49, 84, 161 Rieger, Reinhold 129 Rieger, Johann Adam 26 Ritschl, Albrecht 216 Robinson, Robert Bruce 262 Rohls, Jan 255 Romanowa, Olga Nikolajewna 39 Römer, Friedrich 27, 31 Rösler, Augustin 224f. Rotermundt, Joseph Alois 153 Ruhstorfer, Karlheinz 249 Rümelin, Gustav (von) 16, 18, 35f. 38 Sachs, Walter 226, 250 Sägmüller, Johann Baptist 61, 107 Sailer, Johann Michael 84-88, 94, 101f., 251f., 254 Sauer, Paul 36 Schaefer, Richard 215 Schaezler, Constantin Freiherr von 260
269
Schäfer, Bernhard 185f., 202 Schäfer, Philipp 251 Schanz, Paul 49, 60-62, 104, 132, 144f., 160, 163, 185-187, 195, 197-228, 255f. Schatz, Klaus 210, 256 Scheeben, Matthias Joseph 260 Schegg, Peter J. 185, 220 Schell, Herman 61, 248, 260 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 47, 57, 69, 72, 245, 251, 261 Schenkel, Daniel 216, 223 Scheper, Judith 256 Scherer, Edmond 53 Scheuchenpflug, Peter 84, 86, 93, 106 Schieder, Wolfgang 255 Schieffer, Rudolf 246 Schiel, Hubert 251 Schieß, Joseph 21 Schilling, Otto 62 Schimele, Nikolaus Anton 159f. Schitterer, Richard 103, 105f., 109 Schlayer, Johannes (von) 26, 28, 29, 30, 31, 135 Schlegel, Friedrich 69, 244f., 251, 257, 261 Schleicher, J. 156 Schleiermacher, Friedrich 47, 52f., 58f., 69, 78, 90, 198, 244, 252, 261 Schlette, Heinz Robert 242 Schleyer, Peter 151 Schlier, Heinrich 138 Schmeller, Joseph Anton 87 Schmid, Alois 59f. Schmid, Josef 203 Schmidlin, Eduard von 161 Schmitt, Ludwig 156 Schmitz-Grollenburg, Moritz Freiherr von 12, 23 Schnabel, Franz 257 Schnackenburg, Rudolf 130 Schneider, Bernhard 107f. Schneider, Eugen 30 Schneiderhan 157 Schober, Joyce 243 Scholz, Anton (Ritter von) 256 Schönweiler, Joseph 105, 108, 139 Schorske, Carl E. 246 Schott, Franz Joseph 159 Schrader, Clemens 68, 200 Schreiner, Josef 231 Schröder, Markus 244 Schulte, Johann Friedrich (Ritter von) 260 Schürer, Emil 194
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Personenregister
Schwaiger, Clemens 249 Schwaiger, Georg 45, 84, 203, 251 Schwedt, Hermann H. 135, 148, 152, 154, 159, 161, 173, 251, 254 Schwegler, Thomas 110 Schweitzer, Albert 139, 143, 229 Schweter, Joseph 225 Scott Appleby, R. 242 Seckler, Max 44-51, 56, 58f., 61-64, 67-69, 71-74, 81, 106-108, 130, 146f., 161, 167, 212 Seisenberger, Michael 220 Semler, Johann Salomo 95, 211 Sepffer (Redakteur) 154, 161, 162 Sepp, Johann Nepomuk 216 Sertillanges, Antonin-Dalmace 260 Severoli, Antonio Gabriele 15 Siemann, Wolfram 31 Simon, Richard 169, 211, 221, 250 Smend, Rudolf 225 Söderblom, Nathan 248 Söding, Thomas 226, 233f., 236, 240 Somaglia, Giulio Maria della 24 Spinoza, Baruch de 211 Stadler, Peter 9 Stattler, Benedikt 249f. Staudenmaier, Franz Anton 70- 72, 74-76, 78, 80f., 253 Stelzenberger, Johannes 62 Storr, Gottlob Christian 52f., 55, 58f. Strauß, David Friedrich 53, 69, 134, 139143, 146, 150f., 188, 211 Strohsacker, Hartmann 110 Tedderheß 188 Thalhofer, Valentin 166 Theiner, Augustin 149 Theobald, Michael 135, 137 Thielicke, Helmut 248 Thiersch, Heinrich W. 106, 216 Tholuck, August 143-145, 151 Thomas von Aquin 62, 210, 242, 259-261 Thompson, William G. 94 Thornton, Claus-Jürgen 123 Thurau, Markus 90, 136, 147, 150, 158, 160f. Thyen, Hartwig 220 Tischendorf, Constantin (von) 221 Tobler, Johann Rudolf 216 Tregelles, Samuel 221 Trilling, Wolfgang 94 Troeltsch, Ernst 243 Tunstead Burtchaell, James 196, 208
Tyrrell, George 259, 261 Ubaghs, Gerhard Casimir 259 Uhlhorn, Gerhard 53 Unterburger Klaus 258 Unterkircher, Kaspar 110 Valerius, Gerhard 120 Varnbüler, Friedrich Gottlob Karl Freiherr von 39 Veith, Johann Emanuel 253 Vicari, Hermann von 32f. Victor von Antiochien 117 Vögtle, Anton 236 Volkmar, Gustav 216 Voltaire 249 Vorholt, Robert 237 Wächter-Spittler, Karl Eberhard Freiherr von 34 Wagner, Harald 132 Walter, Nikolaus 233 Walter, Peter 249, 259 Wamboldt, Franz Freiherr von 21 Wangenheim, Karl August Freiherr von 21 Warthmann, Stefan 146 Weber, Christoph 247, 256 Weiller, Kajetan (von) 249 Weiß, Albert Maria 248 Weiß, Karl Philipp Bernhard 216, 220 Weiß, Otto 148, 159, 246-248, 250, 254f., 258-260 Weiße, Christian Hermann 172, 174, 216 Weitlauff, Manfred 251 Weizsäcker, Carl (von) 48, 216 Welsch, Wolfgang 244 Welte, Benedikt (von) 104, 109f., 145f., 153, 155, 158f., 161, 169 Welte, Bernhard 260 Wenz, Günther 244 Werkmeister, Benedikt Maria (von) 12, 17f. Werner, Eva Maria 31 Werner, Karl 60f., 184, 186, 189f., 195 Wess, Paul 242, 258 Wessenberg, Ignaz Heinrich von 12, 17, 20f., 27, 83, 87f., 101 Westcott, Brooke Foss 221f. Wette, Wilhelm Martin Leberecht de 170 Wichelhaus, Johannes 220 Wieseler, Karl Georg 216 Wildermuth, Ottilie 183 Wilhelm I., König von Württemberg 11, 21, 30, 33, 35f., 39, 132, 163 Wilke, Gottlob Christian 172, 174, 216 Windischmann, Friedrich 151
Personenregister
Wolf, Hubert 10, 12, 23-27, 31f., 35, 37-41, 108, 112, 123, 129, 132, 152, 184-186, 200f., 254, 256, 259f. Wolff, Christian 249 Wolff, Norbert 83, 86-89, 91f., 94-99, 101, 104, 106, 108f., 225, 254 Wurzbach, Constantin von 250 Zager, Werner 139
Zehrt, Conrad 151 Zeller, Eduard 57, 220 Ziegler, Theobald 140 Zimmer, Patriz Benedikt 101, 251 Zimmermann, Wolfgang 46 Zukrigl, Jakob 61, 105, 159, 161 Zumstein, Jean 239
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Die bisherige Beschäftigung mit den Theologen der sogenannten Katholischen Tübinger Schule hat sich vor allen Dingen auf die systematische Theologie konzentriert und bis auf Ausnahmen die Bibelwissenschaft und ihre Vertreter nur am Rande betrachtet. Der Sammelband bietet demgegenüber ein Novum, indem er nicht nur die einzelnen neutestamentlichen Bibelwissenschaftler der Katholischen Tübinger Schule vorstellt, sondern an ihnen auch deutlich macht, dass sich die katholische Bibelwissen-
schaft bereits im 19. Jahrhundert über die Textkritik hinaus der historisch-kritischen Methode geöffnet hat. Die Geschichte der katholischen Bibelwissenschaft ist damit weitaus differenzierter zu betrachten als bisher geschehen. Neben den Beiträgen zu den einzelnen Bibelwissenschaftlern runden weitere Aufsätze zu Staat und katholischer Kirche in Württemberg im 19. Jahrhundert, zum Begriff und zur Systematik der Katholischen Tübinger Schule, zur Inspiration der Bibel sowie zu Tendenzen und Strategien katholischer Theologie im 19. Jahrhundert den Band ab.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-10199-8