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German Pages 486 [490] Year 2005
Grothe Zwischen Geschichte und Recht •
Ordnungssysteme Studien zur
Ideengeschichte der Neuzeit
Herausgegeben von Dietrich Beyrau, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael Band 16
R.
Oldenbourg Verlag München 2005
Ewald Grothe
Zwischen Geschichte und Recht Deutsche
Verfassungsgeschichtsschreibung 1900-1970
R. Oldenbourg Verlag München 2005
Gedruckt mit der VG Wort
Unterstützung
des
Förderungs- und
Beihilfefonds Wissenschaft
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
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Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Gesamtherstellung: Oldenbourg Graphische Betriebe, Druckerei GmbH München ISBN 3-486-57784-0
Inhalt Vorwort I.
.
Die deutsche
Verfassungsgeschichtsschreibung und die Wissenschaftsgeschichte
.
II.
7
11
Begriff der Verfassung zur Teildisziplin Verfassungsgeschichte 1. Die Begriffe „Verfassung" und „Verfassungsgeschichte" 2. Das Teilfach Verfassungsgeschichte. 3. Die Tradition der Verfassungsgeschichtsschreibung a) Verfassungsgeschichte als Reichshistorie im 17. und
28 28 35 43
18. Jahrhundert.
43
Vom
.
.
.
b) Verfassungsgeschichte als Rechtsgeschichte im 19. Jahrhundert. III. Die deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung im späten Kaiserreich 1. Otto Hintze und die Erneuerung der Verfassungs-
.
historiographie
.
2. Die Verfassungsgeschichtsforschung nach 1900 a) Die historische Verfassungsgeschichtsschreibung jenseits
.
von
Hintze.
b) Die Beiträge der Allgemeinen Staatslehre und der Rechtsgeschichte Fritz Härtung und die staatsorientierte Verfassungshistoriographie
.
3.
.
IV.
Verfassungsgeschichte und Verfassungsbegriff in der Weimarer Republik. 1. Die Verfassungsgeschichte als historisches Teilgebiet. 2. Die Verfassungsgeschichtsschreibung von Fritz Härtung und Otto Hintze 3. Die Debatten über den
.
V.
Verfassungsbegriff bei den Juristen
....
Die Verfassungsgeschichtsschreibung unter nationalsozialistischer Herrschaft 1. Die Institutionalisierung der Verfassungsgeschichte in der Rechtswissenschaft. a) Die „Stoßtruppfakultät" Kiel. b) Der Aufstieg des Verfassungshistorikers Ernst Rudolf Huber c) Die juristische Studienreform von 1935 d) Lehrbücher und Zeitschriften .
.
.
45
55 55 80 81 94 105
114 114
133 149
165 167 168 172 190 205
6
Inhalt
Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung a) Begriff und Methode der .neuen' Verfassungshistoriographie b) Die .traditionelle' Verfassungsgeschichtsschreibung:
2. Neue
.
.
Bornhak und Schulte.
c) Politische Annäherung und Anpassung: Heimpel und Feine d) Der Aufschwung der Militärverfassungsgeschichte: Höhn und Huber
..
.
215 229 235 247
e) Verfassungsgeschichte Volksgeschichte Ideengeschichte f) Die Ideologisierung der Lehrbücher. g) Die Kontroverse über den deutschen Konstitutionalismus:
256 262
Schmitt und Huber.
270
als
und
.
h) Das Problem der Politisierung der Verfassungsgeschichte: Fritz Härtung i) Die Revision der mittelalterlichen Verfassungshistoriographie: Otto Brunner. Verfassungsgeschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft .
3.
215
VI. Die deutsche Verfassungshistoriographie 1945-1970 1. Entnazifizierung und Reintegration. a) Die Nachkriegskarrieren der NS-Belasteten: Feine, Forsthoff und andere. b) Ernst Rudolf Hubers Rückkehr an die Universität. 2. Die Teildisziplin der Verfassungsgeschichte a) Die personelle und institutionelle Präsenz. b) Verfassungsgeschichtsschreibung zwischen Kontinuität und Neubeginn. c) Ernst Rudolf Hubers „Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789". d) Neue Tendenzen in der Verfassungsgeschichtsschreibung und die Renaissance von Otto Hintze. .
.
286 297 305 310 311 312 317 332 333 348 366 385
Metamorphosen der deutschen Verfassungsgeschichtsschreibung im 20. Jahrhundert.
407
Abkürzungsverzeichnis.
416
Quellen- und Literaturverzeichnis. 1. Quellen. a) Ungedruckte Quellen .
419 419 419 421
c) Gedruckte Quellen 2. Literatur.
422 450
VII.
.
b) Bibliographien
.
Personenregister
480
Vorwort Mit der Verfassungsgeschichte verhält es sich eigentümlich. Nicht selten findet sich bei Laien die Vorstellung, daß es sich um eine langweilige und furchtbar trockene Materie handelt, die sich mit Gesetzen und ihrer Entstehung befaßt. In der Geschichtsforschung ist es hingegen besser bestellt, denn hier ist die Relevanz des Gebiets unbestritten. Schließlich erhielt während der Überarbeitung dieser Studie für den Druck die Münsteraner Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft auch für ein Forschungsprojekt zur „Verfassungsgeschichte als Symbolgeschichte". Eine Untersuchung zur Verfassungsgeschichtsschreibung im 20. Jahrhundert wirkt mit Blick auf das sperrige Wort gleichfalls wenig verlockend. Gleichwohl gibt der Aufschwung der Wissenschaftsgeschichte in den letzten Jahren die berechtigte Hoffnung, daß manch einer der Leser die innovativen Potentiale der Studie während der Lektüre erkennt. Einigen, denen ich in den letzten Jahren von dieser Arbeit erzählte, ging es wohl ähnlich. Ich bin zuversichtlich in der Annahme, sie nicht gelangweilt zu haben mit meinen Mitteilungen über Hintze, Härtung, Huber & Co. Schon gar nicht gilt das für diejenigen Freunde, in deren Beisein und durch deren Inspiration das Thema einst geboren wurde. Es geschah an einem sonnigen Sonntagnachmittag auf einer Terrasse in der Marburger Zeppelinstraße. Es handelt sich bei dieser Studie um die überarbeitete Fassung der im November 2003 vom Fachbereich Geistes- und Kulturwissenschaften der Bergischen Universität Wuppertal angenommenen Habilitationsschrift. Am Ende einer langen Wegstrecke ist vielfältiger Dank abzustatten. An erster Stelle möchte ich die langjährigen Marburger Freunde Anne Nagel und Ulrich Sieg erwähnen. Uns verbindet weit mehr als das Interesse an der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Von Anne Nagel stammen die Idee für das Thema und viele kluge Anregungen. Ulrich Sieg hat das Manuskript als Erstleser in seinen verschiedenen Entstehungsphasen begleitet und überaus sachkundig kommentiert. Er weiß vermutlich mehr über die Verfassungsgeschichte, als er jemals wissen wollte. Den ,Frondienst' der kritischen Lektüre leisteten auch Matthias Schönwald und Norbert Winnige. Matthias danke ich zudem für die langjährige freundschaftliche Nachbarschaft ,auf dem Flur'. Norbert hat in der Endphase heikle Stellen der Arbeit berichtigt und mich von ausgiebigen Umarbeitungen verschont. Mit persönlichem und fachlichem Rat unterstützten mich Michael Dreyer und Rembert Unterstell. Unerläßlich für den erfolgreichen Abschluß eines solch langwierigen Projekts ist auch das nicht-fachliche freundschaftliche Umfeld. In Wuppertal sorgten für stete Aufmunterung Gabriele und Klaus Hack, Claudia Schönwald, Claudia und Peter Verstraete und in der abschließenden Phase Anja Platz-Schliebs sowie Peter Blume.
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Vorwort
Zu danken ist denjenigen, die mich von professoraler Seite unterstützt haben. An erster Stelle ist hier mein akademischer Lehrer Hartwig Brandt zu nennen. Er konnte mich seit Anfang der 1980er Jahre für die Wissenschaftsgeschichte begeistern und hat mir während der Assistentenzeit alle notwendigen Freiheiten zum Arbeiten gewährt. Danken möchte ich sodann Wilhelm Bleek. Er verfolgte mit Vertrauen und persönlichem Zuspruch den Fortgang meiner Studien, hat große Teile des Manuskripts kritisch gelesen und wichtige Anmerkungen gemacht. Helmut Berding unterstützt seit fast eineinhalb Jahrzehnten meinen wissenschaftlichen Werdegang mit engagierter Anteilnahme und tat dies auch diesmal. Hans Boldt hat gleichfalls das Manuskript durchgearbeitet und viele hilfreiche Hinweise gegeben. Durch ihre Gutachten haben Franz Knipping, Hans J. Lietzmann und Gerrit Walther das Verfahren im Habilitationsausschuß, dem Heinrich Küppers vorstand, einem positiven Abschluß entgegengeführt. Besonders verbunden bin ich außerdem dem auswärtigen Gutachter Michael Stolleis. Bei Helmut Berding, Wilhelm Bleek, Rüdiger vom Bruch, Anselm DoeringManteuffel, Norbert Frei, Jörg-Detlef Kühne, Michael Stolleis, Hans-Peter Ullmann und bei den Wuppertaler Neuzeithistorikern habe ich Teile der Untersuchung in Lehrveranstaltungen vorstellen dürfen. Ich danke ihnen und den Teilnehmern für ihre kritischen Fragen. Ich freue mich, die Studie in der Reihe „Ordnungssysteme" veröffentlichen zu können. Dies haben Dietrich Beyrau, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael befürwortet. Anselm Doering-Manteuffel danke ich dafür, daß er die Druckvorbereitung mit Sympathie und Geduld begleitet hat. Zu danken habe ich auch zwei Institutionen: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft sorgte mit einem zweijährigen Habilitationsstipendium für die finanzielle Absicherung. Der Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der Verwertungsgesellschaft Wort übernahm die Druckkosten. Die Arbeit hat nicht zuletzt von vielfältigen Anregungen und Hinweisen profitiert, wofür ich herzlich danke. Besonders hervorheben möchte ich Ernst-Wolfgang Böckenförde, mit dem ich mehrere fruchtbare Gespräche führte. Die aufschlußreichen Treffen mit Frieder Günther, Dirk van Laak und Ralf Walkenhaus habe ich in bester Erinnerung. Auskünfte erhielt ich weiterhin von Dieter Gosewinkel, Martin Greiffenhagen, Klaus Latzel, Siegfried Lokatis und Rainer Schöttle. Ralph Dietl hat als mein Nachbar im Büro jahrelang mein Gerede über Verfassungsgeschichte geduldig ertragen. Susanne Gramatzki übersetzte die italienischen Texte. Julia Schreiner vom Oldenbourg Verlag sorgte für eine angenehme Zusammenarbeit bei der Druck-
-
legung. Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Archive und Bibliotheken für ihre Unterstützung, namentlich denjenigen der Universitätsbibliothek Wuppertal, insbesondere in der von mir vielbeschäftigten Fernleihstelle. Folgenden Inhabern von Nachlässen und Nachlaßrechten danke ich für den Zugang zu wichtigem Material: Albrecht Eckhardt, Christoph Führ und
Vorwort
9
Rudolf Smend jun. sowie Bernhard Aubin, Helmut Goetz, Günter Grünthal, Dorothea Hamer, Joseph H. Kaiser, Sabine Leibholz, Frido Ritter und Detlev F. Vagts. Aufschlußreiche Hinweise erhielt ich von Tula Huber-Simons und Konrad Huber. Nicht vorstellbar wäre die Fertigstellung dieser Arbeit ohne die Unterstützung durch meine Familie. Meine Eltern haben stets Vertrauen in mich gesetzt, meine Brüder den „Abschluß meiner Ausbildung" lange herbeigesehnt. Der größte Dank aber gilt meiner Frau Elke und meinem Sohn Henning. Sie haben die Entstehung der Arbeit miterlebt, oft mitgelitten, manchmal mitgefiebert. Die Jahre der ,Entbehrung' werde ich in Zukunft bei ihnen ausgleichen. Vorerst können sie sich über die Widmung und mit mir über das Buch freuen.
Wuppertal, im März 2005
Ewald Grothe
Für Elke und
Henning
I. Die deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung und die Wissenschaftsgeschichte 1983. Anläßlich einer akademischen Feierstunde zu seinem 80. Geburtstag griff der Verfassungshistoriker Ernst Rudolf Huber in einer rückschauenden Betrachtung ein ihn tief bewegendes Thema auf: „Wie wird man eigentlich Verfassungshistoriker? Die Frage ist nicht ganz so banal, wie sie wohl erscheinen könnte jedenfalls nicht für die Angehörigen meiner Generation." In seiner Antwort musterte Huber seine persönlichen Prägungen und seinen akademischen Werdegang, um schließlich mit dem Beginn seiner verfassungshistorischen Forschungen zu enden. Huber, Angehöriger des Jahrgangs 1903, wurde in einer winzigen Enklave mitten im preußischen Rheinland geboren, dem Fürstentum Birkenfeld, das durch den Wiener Kongreß dem Großherzogtum Oldenburg zugeschlagen worden war. Diese historische Kuriosität habe früh seine jugendliche Aufmerksamkeit geweckt. So begann er in Tübingen zunächst mit einem Geschichtsstudium, sei dann aber „durch den Lehrbetrieb so enttäuscht" gewesen, daß er das Studium abgebrochen habe. Zum Juristen wurde der ,Aussteiger' an der Universität Bonn. Dort förderte der umstrittene Staatsrechtslehrer Carl Schmitt seine verfassungshistorischen Interessen. Das Werk seines akademischen Ziehvaters, des späteren ,Kronjuristen' des Nationalsozialismus, galt Huber zeitlebens als Vorbild und Herausforderung. Über die Motive für Hubers Wendung zur Verfassungsgeschichte seit Mitte der 1930er Jahre ist vielfach gemutmaßt worden, daß sie mit seinem Engagement in der NS-Jurisprudenz zusammenhingen. Für die einen galt sie als Beweis einer Ab- und Umkehr, für die anderen wirkte sie als Rehabilitationsversuch. Als Antwort auf derartige, oft unausgesprochene Spekulationen resümierte Huber im Rückblick auf die schwierigen Jahre zwischen Diktatur und Demokratie: Verfassungshistoriker sei er „jedenfalls nicht aus Resignation oder gar (nach 1945) auf der Flucht aus gegenwärtiger Wirklichkeit geworden"1). Hintergrund und Gehalt dieser Aussage, die unverkennbar einen legitimierenden Zweck verfolgt, werden im Rahmen dieser Untersuchung zu prüfen sein. Auch bei den anderen in dieser Studie behandelten Autoren und ihren verfassungshistorischen Schriften gilt es ähnliche Fragen nach Motiven und Zielen zu beantworten. Die Wissenschaftsgeschichte der Verfassungsgeschichte zu schreiben, wird als Aufgabe verstanden, Leben, Werk und Wirkung der Verfassungshistoriker in den Forschungskontext und in den Zeitzusammenhang einzubetten. Wissenschaftsgeschichte wird nachfolgend als wesentlicher Bestandteil der allgemeinen Geschichte behandelt. Dies scheint um so wichtiger, als die Wissenschaftsgeschichte seit einigen Jahren zu den meistdiskutierEs
war
-
') Sämtliche Zitate Nr. 712.
aus
einem
Redemanuskript
im NL Huber: BA Koblenz, N
1505,
12 ten
I.
Verfassungsgeschichtsschreibung und Wissenschaftsgeschichte
historiographischen Teilgebieten zählt. Zum einen ist ein Aufschwung des
der historischen Kulturwissenschaft und einer modernen Kulturverzeichnen2). Zum anderen wird über die Funktion der geschichte Wissenschaftsgeschichte als Geschichte der Verwissenschaftlichungsprozesse innerhalb der entstehenden Wissensgesellschaft des 20. Jahrhunderts intensiv Interesses
an
zu
nachgedacht3).
Bei der vermehrten Nachfrage nach der Wissenschaftsgeschichte spielen internationale wie nationale Motive eine Rolle. International gilt sie seit dem „cultural turn" der Geschichtswissenschaft in den 1990er Jahren als eines der wichtigsten Elemente einer auch als Kulturgeschichte verstandenen umfassenden Gesellschaftsgeschichte. National hat die Wissenschaftsgeschichte vor allem von der Diskussion über die Rolle einzelner Wissenschaftsgebiete in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft profitiert. Dabei haben Traditionssuche und Selbstreflexion der Historiker über die Geschichtsschreibung im ,Dritten Reich' einen herausragenden Rang eingenommen. Auch die Wissenschaftshistoriographie über die Rechtswissenschaft hat bedeutende Fortschritte zu verzeichnen. Diese Untersuchung ist zwischen Jurisprudenz und Historie und ihren Forschungen über Geschichte und Recht angesiedelt. In ihr werden Entwicklung und Rolle der deutschen Verfassungsgeschichtsschreibung im späten Kaiserreich, in der Weimarer Republik, im ,Dritten Reich' und in der Nachkriegszeit untersucht. Gegenüber einer auf ein einzelnes Fach bezogenen, aber eine zumeist kürzere Zeitspanne analysierenden Wissenschaftshistorie widmet sie sich der Erforschung einer Teildisziplin im ersten und zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts. Parallel für alle Zeitabschnitte werden drei Analyseebenen untersucht: erstens, die handelnden Personen, d.h. die Lebenswege und Karriereverläufe der beteiligten Wissenschaftler; zweitens, die fachlichen Strukturen, d.h. die Lehrstühle und Studienordnungen. Betrachtet werden dabei die Universitäten, die außeruniversitären Forschungseinrichtungen sowie die wissenschaftlichen Medien der Lehrbücher und Fachzeitschriften; drittens, die Produkte wissenschaftlichen Forschens in Form von Monographien, Aufsätzen, Editionen, Anthologien und Rezensionen. Die Analyse der empirischen Ebenen von Personen, Institutionen und Inhalten ermöglicht den Zugang zu einer Historie des Teilfachs. Damit wird sich die Studie von Vorhaben mit einge-
2)
Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Göttingen 2001. Ebd., S. 361-379, weiterführende Bemerkungen zur neueren Wissenschaftsgeschichte. 3) Thesengeleitetes Forschungsprogramm bei Margit Szöllösi-Janze: Wissensgesellschaft in Deutschland: Überlegungen zur Neubestimmung der deutschen Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse. In: GG 30 (2004), S. 277-313. Skizzen zur Wissenschaftsgeschichte im Rahmen der Kultur- und Bildungsgeschichte bietet: Frank-Lothar Kroll: Kultur, Bildung und Wissenschaft im 20. Jahrhundert, München 2003 (= Enzyklopädie deutscher Geschichte, 65).
I.
Verfassungsgeschichtsschreibung und Wissenschaftsgeschichte
13
schränkterem Blickwinkel unterscheiden, bei denen die biographische, institutionelle oder wissenschaftspolitische Perspektive einseitig dominiert bzw. eine Disziplingeschichte ausschließlich als ,Werk-Geschichte' präsentiert wird. Es wird nachfolgend vielmehr der ein oder andere Aspekt in den Vordergrund rücken, ohne daß die Darstellung stets gleichzeitig oder gleichmäßig alle Blickrichtungen berücksichtigt. Das Thema wird in diachronen und synchronen Untersuchungsschritten bearbeitet. Zunächst gilt es, diachron die fachliche Entwicklung nachzuzeichen. Disziplinäre Neuansätze, Professionalisierungs- und Institutionalisierungsschübe sowie Revisionstendenzen werden auf der personellen und der inhaltlichen Ebene analysiert4). Es stehen Kontinuitäten und Diskontinuitäten des Teilfachs Verfassungsgeschichte zur Debatte. Sodann ist synchron zu fragen nach Untersuchungsmethoden, Darstellungsformen, Leitbegriffen, inhaltlichen Schwerpunkten, politischen Absichten, fachlichen Abgrenzungen sowie nach dem wissenschaftlichen und publizistischen Echo der Verfassungsgeschichtsschreibung eines bestimmten Zeitabschnitts. In der Darstellung werden erstens die Strukturen des Faches untersucht. Erkenntnisobjekte sind somit die Konzeptionen von „Geschichte" sowie die Methoden und Strategien historischer Forschung und Vermittlung. Die daraus hergeleiteten Theorien bilden gleichsam die kognitiven Elemente der historischen Erkenntnis. Zweitens werden die Formen historischen Denkens und Darstellens, der Konstruktion von Geschichte, analysiert. Die Eigenarten sprachlicher und stilistischer Ausdrucksformen sind zeittypische und oftmals generationell bedingte Erscheinungen der Wissenschaftsgeschichte. In ihnen kommt ein spezifischer Denkstil5) zum Ausdruck, der sowohl aus kollektiven Traditionen als auch aus individuellen Prägungen resultiert. Drittens geht es um die Funktion der Verfassungsgeschichtsschreibung. Hier kommen vorwissenschaftliche Verständnisse und außerwissenschaftliche Einflüsse der Wir-
kungsgeschichte zur Sprache. Die inhaltliche Analyse erfolgt zunächst werkimmanent und sodann vergleichend im fachlichen wie außerfachlichen Zusammenhang. Auf diese Weise ist das wechselseitige Verhältnis von historischer Erfahrung und wissenschaftlicher Erforschung zu klären. Dabei wird sich zeigen, daß die tiefgreifenden politischen Systemumbrüche Deutschlands im 20. Jahrhundert sich auch in der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung niederschlugen. So besitzen Beginn und Ende des Untersuchungszeitraums aus methodologischen Erwägungen heraus keinen strikten Zäsurcharakter. Allein unter empiri4)
Methodisch ambitioniert: Gabriele Lingelbach: Klio macht Karriere. Die Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft in Frankreich und den USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2003 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 181). 5) Grundlegend zu diesem vieldiskutierten Ansatz: Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a.M. 31994 [zuerst 1935].
14
I.
Verfassungsgeschichtsschreibung und Wissenschaftsgeschichte
schem Aspekt dienen sie als chronologische Orientierungsmarken. Tatsächlich aber sind sie nur ungefähre Anhaltspunkte für beginnende und auslaufende forschungsgeschichtliche Entwicklungsstränge. Gleichwohl haben sie sich auch aus allgemeiner und fachspezifischer wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive als Umbruchzeiten und Übergangsphasen erwiesen. Über alle Perioden der Wissenschaftsgeschichte hinweg soll die Frage beantwortet werden, wie sich die deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung als Grenz- und Übergangsdisziplin zwischen Geschichts- und Rechtswissenschaft im 20. Jahrhundert zu profilieren vermochte. Es gilt zu klären, ob und wie sich eine solche von Etablierungsversuchen, Anpassungstendenzen, Abgrenzungsbemühungen und Isolationsgefahren gekennzeichnete Entwicklung auf Wissenschaftspolitik, Methodendiskussion und Institutionalisierungsprozeß auswirkte. Es wird zudem nach dem innerfachlichen Stellenwert und der außerdisziplinären Wahrnehmung der Verfassungsgeschichtsschreibung gefragt. Zudem wird bei der Längsschnittanalyse über einen Zeitraum von rund siebzig Jahren hinweg die Kontinuitätsproblematik einen hervorgehobenen Rang einnehmen. Die Kontinuitätsproblematik impliziert zugleich die Frage nach einer gleichgerichteten oder wellenförmig verlaufenden Entwicklung der Wissenschaftsgeschichte. Es ist methodologisch unabdingbar, einen nicht von vornherein feststehenden Prozeß anzunehmen, der neben Phasen der Verwissenschaftlichung und des Erkenntnisfortschritts auch solche von Dekadenz und Rückschritt umfaßt. Innovation und Revision können nicht nur aufeinander folgen, sondern auch zeitlich parallel bzw. überlappend verlaufen. Insbesondere in Zeiten, in denen die Wissenschaft in das Fahrwasser der Ideologie gerät, sind im Zeichen von politischen Einfluß- und Indienstnahmen Stagnations- oder sogar Verfallsprozesse nicht auszuschließen6). Entgegen den weitverbreiteten Annahmen in Jubiläums- und Festschriftliteratur handelt es sich bei der Wissenschaftsgeschichte nicht immer um eine Erfolgsgeschichte. Gegenüber den meisten wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchungen, deren Bestreben es ist, eine bestimmte Disziplinhistorie isoliert darzustellen, ist diese Studie fachübergreifend ausgerichtet, indem sie mit der Verfassungsgeschichte ein Teilgebiet zwischen Geschichts- und Rechtswissenschaft auslotet. Angesichts des oft schwierigen Verhältnisses beider Fächer zueinander bewegt sich diese Arbeit auf dem dünnen Eis ,zwischenfachlicher Existenz'. Aber eine interdisziplinär angelegte wissenschaftshistorische Analyse bietet auch erhebliche Chancen: denn sie untersucht nicht nur eine spezifische Disziplinentwicklung, sondern in ihr spiegelt sich zugleich die Geschichte und Theorie von Disziplinbeziehungen und Disziplinkomplexen7). Die Geschichte der
6) Vgl.
dazu Wolf Lépenles: Wissenschaftsgeschichte und Disziplingeschichte. In: (1978), S. 437-451, hier S. 442. 7) Ebd., S. 444, als Grundforderung für eine historische Wissenschaftsforschung.
GG 4
I.
Verfassungsgeschichtsschreibung und Wissenschaftsgeschichte
15
Verfassungsgeschichtsschreibung umfaßt zudem die Probleme von Identitätssuche, Konkurrenz und Abgrenzung, Legitimationsbemühungen und Res-
sourcennutzung8)
.
In der Studie werden Wissenschaftsideen-, Wissenschaftsorganisations- und Wissenschaftssozialgeschichte miteinander verbunden9). Die historiographischen Leistungen der Protagonisten sind ebenso wie ihr lebensweltlicher Hintergrund bei der Analyse mit einzubeziehen10). Im Mittelpunkt stehen die wissenschaftlichen Werke. Aber die Deutung von Methode und Inhalt führt unweigerlich zu Fragen nach der Laufbahn der Forscher und der Wissenschaftspolitik von Kultusbehörden und Fachverbänden, wie sie sich in universitären Institutionen und außeruniversitären Organisationen niederschlägt. Die werk- und sozialgeschichtliche Analyse bedient sich grundsätzlich ausgewählter Beispiele. Denn einerseits ist der historiographische Quellenbestand für eine solche Studie unüberschaubar, andererseits ist die archivalische Basis im Bereich der persönlichen Nachlässe von unterschiedlicher Dichte. Auch läßt sich kein vollständiges und detailgesättigtes Bild der verfassungsgeschichtlichen Forschung innerhalb eines Zeitraums von mehr als einem halben Jahrhundert auf begrenztem Raum entwerfen. Ein solcher Versuch würde die fließenden und laufend sich ändernden Grenzen des Begriffs der Verfassungsgeschichtsschreibung ebenso negieren wie die hohe Publikationsintensität im 20. Jahrhundert. Deshalb werden die Hauptströmungen in der Verfassungsgeschichtsschreibung zwischen 1900 und 1970 thesengeleitet untersucht. Grundsätzlich sind die herangezogenen verfassungsgeschichtlichen Werke im zeitgenössischen Wissenschaftskontext zu beurteilen. Die Kritik im Stile eines „hier irrte XY" erscheint für eine wissenschaftsgeschichtliche Gesamtbetrachtung, wie sie hier beabsichtigt ist, wenig sinnvoll. Dennoch muß es erlaubt sein, auf Verdienste ebenso wie auf Mängel und Lücken aus damaliger wie heutiger Sicht hinzuweisen. Generell aber muß eine intensive Auseinandersetzung mit einzelnen Werken der Spezialforschung vorbehalten bleiben, wo sie allerdings unverzichtbar und notwendig ist. Diese Darstellung orientiert sich in erster Linie an der zeitgenössischen historiographischen Bedeutung der Werke und bezieht dabei die personellen und institutionellen Faktoren mit ein. In der Regel konzentriert sich die Untersuchung des Teilfachs auf die neuzeitliche Verfassungsgeschichtsschreibung. Die mittelalterliche Verfassungs-
8) Ebd.,S.448f. 9) Wilhelm Bleek:
Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001, S. 15-31, spricht in seinen methodischen Vorüberlegungen von Ideen-, Gelehrten-, Universitäts-, Sozial- und Politikgeschichte. 10) Vgl. auch die interessanten Erwägungen von Rüdiger vom Bruch: Historiographiegeschichte als Sozialgeschichte. Geschichtswissenschaft und Gesellschaftswissenschaft. In: Wolfgang Küttleriiöm RüsenlEmst Schulin (Hg.), Geschichtsdiskurs in 5 Bänden. Bd. 1: Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, Frankfurt a.M. 1993, S.257-270.
16
I.
Verfassungsgeschichtsschreibung und Wissenschaftsgeschichte
historiographie wird nur am Rand gestreift. Im Kernbereich der Studie fließt sie dann in die Darstellung ein, wenn sie durch methodisch bedeutsame Beiträge auf sich aufmerksam gemacht hat. So wird beispielsweise der Historiker Otto Brunner Berücksichtigung finden, der sich vorwiegend in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Verfassungsgeschichtsschreibung einen Namen gemacht hat. Dagegen wird die mittelalterliche Verfassungsgeschichtsforschung, die nach Anfängen in den 1920er Jahren besonders nach 1945 eine eigenständige Entwicklung nahm und den Begriff sowie das Teilfach „Verfassungsgeschichte" zeitweilig für sich zu vereinnahmen versuchte, im Rahmen
dieser Arbeit nicht behandelt11). Wenn im Folgenden der Begriff Teildisziplin oder Teilfach verwendet wird, so ist dies erklärungsbedürftig. Denn im Unterschied zu anderen Teilgebieten der Geschichte, wie beispielsweise der Kirchen- oder Militärgeschichte, handelt es sich nicht allein um einen bestimmten nach Sachgesichtspunkten abgrenzbaren Ausschnitt der Vergangenheit. Die Verfassungsgeschichte sofern man sie nicht ganz eng auf die Geschichte der geschriebenen Staatsverfassungen eingrenzt behandelt vielmehr einen Aspekt bzw. eine Dimension der Geschichte. Daraus ergibt sich ähnlich wie bei der Sozial-, Gesellschaftsund Kulturgeschichte daß viele Bereiche der historischen Realität verfassungshistorisch befragt werden können. Abgrenzungskriterium kann also ebenso wie der Gegenstand verfassungsgeschichtlicher Studien auch eine spezifische Methode sein12). Bei der Untersuchung eines inhaltlich begrenzten wissenschaftsgeschichtlichen Themas über einen längeren Zeitraum bedarf es einer Klärung terminologischer Fragen. In dieser Darstellung muß der verwendete Begriff der Verfassungsgeschichte definiert werden, um die behandelte Historiographie inhaltlich sinnvoll von anderen historischen Teilgebieten abzugrenzen. Wie immer man sich aber entscheidet und unabhängig davon, ob man eher einen juristischen, politikwissenschaftlichen oder historischen Zugang wählt oder eine Kombination daraus als erkenntnisleitende Kategorie favorisiert: es ist sicherzustellen, daß die Offenheit gegenüber konkurrierenden Ansätzen unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen oder historischer Teilfächer stets gewährleistet ist. -
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n) Diese Einschränkung ist um so mehr gerechtfertigt, als dieser Komplex in einer Gießener Habilitationsschrift untersucht wird. Anne Christine Nagel: Im Schatten des Dritten Reichs. Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1970, Göttingen 2005 (= Formen der Erinnerung, 24). 12) Vgl. den Diskussionsbeitrag von Hartwig Brandt zum Referat von Reinhart Koselleck, S.31f. Reinhart Koselleck: Begriffsgeschichtliche Probleme der Verfassungsgeschichtsschreibung. In: Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 30./31. März 1981, Berlin 1984 (= Der Staat, Beih. 6), S.7-21. Zur Methodik einschlägig: Hans Boldt: Die Verfassungsgeschichte und ihre Methodik. In: ders., Einführung in die Verfassungsgeschichte. Zwei Abhandlungen zu ihrer Methodik und Geschichte, Düsseldorf 1984. S. 9-117.
I.
Verfassungsgeschichtsschreibung und Wissenschaftsgeschichte
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Für das Ziel dieser Untersuchung genügt eine notwendig verkürzende, dafür aber operationable Arbeitsdefinition. Unter Verfassungsgeschichtsschreibung werden nachfolgend alle diejenigen historischen, juristischen und politikwissenschaftlichen Studien verstanden, die sich mit den politisch-gesellschaftlichen Strukturen der Vergangenheit auseinandersetzen, indem sie historische Fragen nach der Staatsform und dem Regierungssystem, nach politischer Partizipation und Repräsentation, nach den politisch-gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen untersuchen. Es geht um Studien, die sich mit der politischen und sozialen Verfaßtheit, mit den Strukturen einer Gesellschaft beschäftigen Studien, deren Terrain das „Handeln in Verfassung" ist. Zudem soll berücksichtigt werden, daß die Verfassungsgeschichte politische Strukturen ebenso wie das „Handeln unter Regelbedingungen" untersucht und damit „Prozeß- und Willensbildungsgeschichte und [...] Strukturgeschichte" ist13). Der Begriff der Verfassungsgeschichte ist somit grundsätzlich ein weiterer als der allein auf die Geschichte geschriebener Verfassungen oder auf eine Institutionengeschichte begrenzter. Er unterscheidet sich damit von den zumeist in anderen Ländern gebräuchlichen engeren Verfassungsbegriffen. Die deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung mit ihrer erheblich über den konstitutionellen Verfassungsbegriff hinausgehenden Arbeitsweise steht in einer spezifisch nationalen Tradition, wie sie sich in der westeuropäisch-amerikanischen Historiographie nicht vergleichbar findet14). Seit dem W.Jahrhundert wurde in Frankreich zwischen einer „histoire constitutionnelle" und einer „histoire des institutions politiques" unterschieden. Während sich die „histoire constitutionnelle" an den Verfassungsurkunden orientierte, untersuchte die „histoire des institutions politiques" die staatlichen Strukturen in ihrem Wandel15). Die französische Verfassungsgeschichtsschreibung wies einen ausgeprägt nationalen Zug auf, der dazu führte, daß sie sich lange Zeit auf die frühe Nationswerdung, die Geschichte der Revolution von 1789 oder die Zeitgeschichte' konzentrierte. Seit den 1930er Jahren wurde die französische Geschichtsschreibung zudem sehr stark beeinflußt von der sogenannten Schule der „Annales"16). Die Verfassungsgeschichte geriet bei diesem auf Gesell-
13) Hartwig Brandt: Verfassungsgeschichte. Standort und Probleme einer historischen Disziplin, unveröff. Ms., Marburg a.d. Lahn 1976, S. 10-12. 14) Christof Dipper: Sozialgeschichte und Verfassungsgeschichte. Zur Europäischen Verfassungsgeschichte aus der Sicht der Geschichtswissenschaft. In: Reiner Schulze (Hg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte, Berlin 1991 (= Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, 3), S. 173-198, hier S. 178f. 15) Repräsentative Beispiele sind: [Denis] Fustel de Coulanges: Histoire des institutions politiques de l'ancienne France, hg. v. Camille Jullian, 6 Bde., Paris 1891; Jean-Jacques Chevallier: Histoire des institutions et des régimes politiques de la France de 1789 à nos jours, Paris 61981 [zuerst 1952 u. d. T.: Histoire des institutions politiques de la France de 1789 à nos jours]. 16) Lutz Raphael: Die Erben von Bloch und Febvre. Annales-Geschichtsschreibung und nouvelle histoire in Frankreich 1945-1980, Stuttgart 1994. Einige Schlüsseltexte in deutscher Übersetzung bei Matthias MiddelllSteffen Sammler (Hg.): Alles Gewordene hat
18
I.
Verfassungsgeschichtsschreibung und Wissenschaftsgeschichte
schaff, Wirtschaft, Kultur und Mentalitäten bezogenen Frageraster ganz ins
Abseits. In anderer Hinsicht beschränkte sich die englische und amerikanische Verfassungshistoriographie. Den englischen Historikern ging es vor allem um eine historisch-juristische Rechtfertigung ihrer ,verfassungslosen' Geschichte und des eigentümlichen Verhältnisses von Monarch und Parlament. Die Verfassungsgeschichtsschreibung hatte ähnlich wie in Deutschland einen deutlich politischen Bezug. Doch im Unterschied zur deutschen Entwicklung blieb diese politische Tendenz in England permanent erhalten, weil die hohe Kontinuität des Regierungssystems politische Entfremdungseffekte verhinderte und ausgeprägte Identifikationsmöglichkeiten bot. Die englische Verfassungshistoriographie betrieb lange Zeit vorwiegend „administrative" oder „institutional history", bevor sie nach dem Zweiten Weltkrieg konsequent die sozialen Aspekte in die Verfassungsgeschichtsschreibung integrierte17). Die Verfassungsgeschichtsschreibung in den Vereinigten Staaten konzentrierte sich weitgehend auf die historische Erkundung der frühen amerikanischen Verfassungsdokumente in den Kolonien und im Bundesstaat. Für die nachfolgende Zeit beschäftigte man sich sehr ausführlich mit den VerfassungsAmendments und den Entscheidungen von Kongreß und Supreme Court. Verfassungsgeschichtsschreibung in den USA changierte im 20. Jahrhundert zwischen einer „political science", die wenig historisch angelegt war, sondern eine gegenwartsbezogene Verfassungskunde bevorzugte18), und einer verengten „constitutional history"19). Die Berücksichtigung wirtschaftlicher Faktoren bei der amerikanischen Staatsgründung wurden vor allem von der „Progressive History" um Charles Beard in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts für die amerikanische Verfassungshistoriographie gefordert. Aus dem national sehr unterschiedlichen Verlauf ergibt sich, daß es sinnvoll ist, die Studie auf die Analyse der deutschen Verfassungshistoriographie zu beschränken. Dafür spricht weiterhin die Tatsache, daß die Entwicklung der deutschen Verfassungsgeschichtsschreibung im Untersuchungszeitraum aus-
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Geschichte. Die Schule der ANNALES in ihren Texten 1929-1992, Leipzig 1994. Darin der wertvolle Beitrag: Peter Schattier: Zur Geschichte der Annales-Rezeption in Deutschland (West). In: ebd., S. 40-60. 17) Kurzinformationen bei: A[ubrey] N[ewman]: Constitutional history, British. In: John Cannon (Hg.), The Blackwell Dictionary of Historians. Oxford/New York 1988, S. 93f. 18) Besonders einflußreich: Carl J. Friedrich: Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin/ Göttingen/Heidelberg 1953 (= Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft. Abt. Staatswissenschaft) [zuerst u.d. T.: Constitutional Government and Democracy, Boston
1941]. 19) Brian
A. Loftus: Constitutional History. In: Annual Survey of American Law 1965, S. 669-674. Zwei Beispiele: Edward S. Corwin: The Constitutional History of the United States. New York 1955; Francis Newton Thorpe: The Constitutional History of the United States. 3 Bde., Chicago 1901. Vgl. weiterhin: Stephen M. Milieu: A Selected Bibliography of American Constitutional History. Introduction by C. Herman Pritchett, Santa Barbara/Oxford 1975, bes. S. 3-5 (Vorwort). Die Bibliographie verzeichnet rund 1 000 Titel seit 1947.
I.
Verfassungsgeschichtsschreibung und Wissenschaftsgeschichte
19
isoliert verlief. Dies verhielt sich im 19. Jahrhundert und verhält sich seit Mitte der sechziger Jahre anders. Die Verfassungsgeschichtsschreibung vollzog dabei den generellen Weg der deutschen Historiographie nach, die im 19. Jahrhundert Vorbildfunktion besaß, aber den internationalen Kontakt nach 1914 weitgehend einbüßte und erst in den 1960er Jahren allmählich zurückerlangte. Mit der extremen Isolierung der deutschen Geschichtswissenschaft und ihrer generellen Entwicklung in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft hat sich die Wissenschaftsgeschichte in den letzten Jahren intensiver beschäftigt. Spätestens seit dem Deutschen Historikertag des Jahres 1998 ist die bis dahin in weiten Teilen ungeschriebene Geschichte der Geschichtsschreibung in der Zeit des nationalsozialistischen Regimes Gegenstand der öffentlichen Diskussion geworden. Die Rolle der Historiker im ,Dritten Reich' hat die Frankfurter Debatten und ihr publizistisches Echo wie kein anderes Thema geprägt20). Die Auseinandersetzungen stellten das Verhältnis der Geschichtswissenschaft zur eigenen Vergangenheit und damit ebenso ihr Selbstverständnis wie ihre Funktion in der Gegenwart in Frage. Die Wissenschaftsgeschichte des Faches ist seither in Bewegung geraten21). Inzwischen hat sich der Frageradius auf die sogenannte Generation der Söhne, d. h. auf die Entwicklung nach 1945, ausgedehnt22). In den letzten Jahren galt gerade den personellen und inhaltlichen Kontinuitäten bei Wissenschaftlern aus der Zeit des ,Dritten Reiches' besonderes Interesse. Dabei ist die Frage der Anfälligkeit der zwischen 1900 und 1910 geborenen Kriegsjugendgeneration für den Aufstieg des Nationalsozialismus in den Vordergrund gerückt. Denn gerade die Angehörigen dieser „Jahrhundertgeneration" (J. Reulecke) zählten zu den intellektuellen Führungsschichten der NS-Zeit und hatten als Belastete nach 1945 Probleme mit ihrer ,Resozialisierung'23). Deshalb ist nach ihren subjektiven Verhaltensweisen in den
gesprochen
2U)
Winfried Schulze/Otto Gerhard Oexle (Hg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1999 (= Die Zeit des Nationalsozialismus).
21) Späterer Überblick: Jürgen
Elvert: Geschichtswissenschaft. In: Frank-Rutger Haus(Hg.), Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933-1945, München 2002 (= Schriften des Historischen Kollegs, 53), S. 87-135. 22) Vgl. dazu das Interviewprojekt, dessen Ergebnisse zunächst im World Wide Web verbreitet wurden: Rüdiger Hohls/Konrad H. Jarausch (Hg.): Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus, Stuttgart/München 2000. Biographische Studie: Thomas Etzemüller: Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001 (= Ordnungssysteme, 9). Aus der Perspektive eines ,Sohnes': Wolfgang J. Mommsen: „Gemann
stürzte Denkmäler"? Die „Fälle" Aubin. Conze, Erdmann und Schieder. In: Jürgen Elvert/ Susanne Krauß (Hg.), Historische Debatten und Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert,
Stuttgart 2003 (= HMRG, Beih. 46), S. 96-109. Zur Generationenproblematik: Jürgen Reulecke (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003 (= Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien, 58).
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Umbruchzeiten vor und nach der deutschen Diktatur gefragt worden24). Dem Zusammenhang zwischen fachspezifischen Entwicklungen und dem generellen Wandel der Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert wurde bisher allerdings weder ausführlich noch im Detail nachgegangen25). Am Beispiel der deutschen Verfassungsgeschichtsschreibung soll insbesondere nach den politischen Implikationen und den wissenschaftspolitischen Rahmenbedingungen gefragt werden. Zudem wird die Funktion des Faches für die Ausformung des Geschichtsbildes untersucht. Abgesehen von ersten Ansätzen fehlt nach wie vor eine gründliche wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung über die neuzeitliche Verfassungsgeschichtsschreibung in Deutschland26). Ein Akademievortrag von Fritz Härtung aus dem Jahr 1956 und ein einführender Überblick von Hans Boldt Mitte der achtziger Jahre bieten lediglich ein grobes Raster27). Eine Ursache für dieses Desiderat besteht darin, daß die Verfassungsgeschichte zwischen den Disziplinen der Rechts-, der Geschichts- und der Politikwissenschaft angesie-
24)
Otto Gerhard Oexle: Zweierlei Kultur. Zur Erinnerungskultur deutscher Geisteswissenschaftler nach 1945. In: RJ 16 (1997), S. 358-390; ders.: „Zusammenarbeit mit Baal". Über die Mentalitäten deutscher Geisteswissenschaftler 1933 und nach 1945, in: Historische Anthropologie 8 (2000), S. 1-27. Michael Stolleis: Das Zögern beim Blick in den Spiegel. Die deutsche Rechtswissenschaft nach 1933 und nach 1945. In: Hartmut Lehmann! Otto Gerhard Oexle (Hg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften. Bd. 1: Fächer Milieus Karrieren, Göttingen 2004 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 200), S. 11-31. Die Frage der „Wiedereingliederung" nach 1945 behandelt an einem Fallbeispiel: Ewald Grothe: Eine Jautlose' Angelegenheit? Die Rückkehr des Verfassungshistorikers Ernst Rudolf Huber in die universitäre Wissenschaft nach 1945. In: ZfG 47 (1999), S. 980-1001. Berührungspunkten zur Thematik dieser Untersuchung ergab eine Münsteraner Tagung vom September 2003: Marc von Miquel: Wandel der Systeme Kontinuität der Akteure (1930-1960) Eliten in der frühen Bundesrepublik. In: H-Soz-u-Kult, November 2003 [URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ -
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tagungsberichte/id=337&sort=datum&order=down&search=miquel&segment_ignore=128] (26.1.2005). Weitere Fallstudien zu Institutionen und Personen: Karen Bayer/Frank Sparmg/Wolfgang Woelk (Hg.): Universitäten und Hochschulen im Nationalsozialismus und
in der frühen Nachkriegszeit, Stuttgart 2004. Einen Problemaufriß bietet Gerhard Schuck: Theorien moderner Vergesellschaftung in den historischen Wissenschaften um 1900. Zum Entstehungszusammenhang des Sozialdisziplinierungskonzeptes im Kontext der Krisenerfahrungen der Moderne. In: HZ 268 (1999), S. 35-59. 26) Zur mittelalterlichen Verfassungsgeschichtsschreibung vgl. die gedankenreichen Ausführungen von Frantisek Graus: Verfassungsgeschichte des Mittelalters. In: HZ 243 (1986), S. 529-573. Bei Christian Simon: Historiographie. Eine Einführung, Stuttgart 1996, werden zwar Georg Waitz, Hedwig und Otto Hintze sowie Otto Brunner biographisch behandelt (S. 144f., 147-150,152f.), die Verfassungsgeschichtsschreibung als historische Teildisziplin bleibt in diesem knappen Überblick indes außen vor. 27) Fritz Härtung: Zur Entwicklung der Verfassungsgeschichtsschreibung in Deutschland, Berlin 1956 (= Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Klasse für Philosophie usw. 1956, 3); Hans Boldt: Verfassungsgeschichte Bemerkungen zur Historie einer politik-wissenschaftlichen Disziplin. In: ders., Einführung in die Verfassungsgeschichte. Zwei Abhandlungen zu ihrer Methodik und Geschichte, Düsseldorf 1984, S. 119-217.
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21
delt ist. Für die Juristen ist sie jedoch meistens nur ein Nebengebiet, welches für die Interpretation der geltenden Normen in der Regel keine Relevanz besitzt. Dabei hat die Wissenschaftsgeschichte auch in der Rechtswissenschaft bedeutende Fortschritte zu verzeichnen. Hervorzuheben ist in dem hier relevanten Bereich das wissenschaftsgeschichtliche Grundlagenwerk des Rechtshistorikers Michael Stolleis zur „Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland"28). Zuletzt hat die material- und gedankenreiche Untersuchung von Frieder Günther zur Staatsrechtslehre nach 1945 Aufmerksamkeit erregt29). Die Verfassungsgeschichtsschreibung im engeren Sinne wird bei Stolleis und Günther jedoch nur am Rande berührt. Bei Stolleis wird hauptsächlich ihre Vorgeschichte im 18. und 19. Jahrhundert angesprochen, während sie als Teilgebiet des öffentlichen Rechts im 20. Jahrhundert nicht ausführlicher behandelt wird. Bei Günther spielen einige der Akteure dieser Untersuchung wichtige Rollen, allerdings nicht ihre verfassungsgeschichtlichen Werke. Die wissenschaftsgeschichtliche Forschung der Juristen konzentriert sich seit Ende der achtziger Jahre auf die Rechtsgeschichte im engeren Sinne30), während die Verfassungsgeschichte nahezu unberücksichtigt bleibt31). Eine bis heute maßstabsetzende Darlegung der Verfassungsgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts hat der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde bereits 1961 publiziert32). Sie endet am zeitlichen wie thematischen Beginn dieser Untersuchung. Auch bei den Historikern ist die jüngste Erforschung der Disziplingeschichte etwas einseitig ausgerichtet. Hier steht die Volksgeschichte in den 1920er und 1930er Jahren im Mittelpunkt der Debatte, die mit der Bielefelder Dissertation von Willi Oberkrome 1993 einen ersten Höhepunkt erreichte33) und Michael Stolleis: Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 2: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800-1914, Bd. 3: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914-1945, München 1992-1999. 29) Frieder Günther: Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949-1970, München 2004 (= Ordnungssysteme, 15). 30) So Michael Sfo/Zets/Dieter Simon (Hg.), Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte einer Disziplin, Tübingen 1989 (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, 2); Joachim Rücken/Dietmar Willoweit (Hg.): Die Deutsche Rechtsgeschichte in der NS-Zeit. Ihre Vorgeschichte und ihre Nachwirkungen, Tübingen 1995 (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, 12); Hermann Nehlsen/Georg Brun (Hg.): Münchener rechtshistorische Studien zum Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. usw. 1996 (= Rechtshistorische Reihe, 156). 31) Eine Ausnahme ist die Skizze von Anna Lübbe: Die deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung unter dem Einfluß der nationalsozialistischen Machtergreifung. In: Stolleis/Simon, Rechtsgeschichte (1989), S. 64-78. 32) Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder, Berlin 1961/21995 (= Schriften zur Verfassungsgeschichte, 1). Die Studie präsentiert sich weitgehend als Ver-
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fassungsrechtsgeschichte. Willi Oberkrome: Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945, Göttingen 1993 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 101). In internationaler Perspektive: Manfred Hettling (Hg.): Volksgeschichten im Europa der Zwischenkriegszeit, Göttingen 2003.
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Verfassungsgeschichtsschreibung und Wissenschaftsgeschichte
sich in den letzten Jahren auf die Probleme der Politikberatung und der Forschungsorganisation im Zweiten Weltkrieg konzentriert hat34). Allein die Frage, ob die „Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft" fungierte, wie der Berliner Historiker Peter Schöttler meint, ist heftig umstritten35). Die Veröffentlichungen von Oberkrome und Schöttler weisen in Methode, Fragestellung und Ergebnissen in die Richtung dieser Arbeit. Denn die Verfassungsgeschichtsschreibung der dreißiger Jahre neigte wie die Volksgeschichte dazu, die Kategorie „Volk" in den Vordergrund ihres Erkenntnisinteresses zu rücken. Und die Frage der legitimatorischen Funktion stellt sich bei der Behandlung von Staat und Verfassung noch eindringlicher als bei volksgeschichtlichen Themen. Bei den Kontroversen um die Rolle der Geschichtswissenschaft im .Dritten Reich' wurden, mit Ausnahme von Otto Brunner36), die Verfassungshistoriker und die Verfassungshistorie bisher allerdings nicht speziell berücksichtigt. Dabei kann die nähere Kenntnis der Verfassungsgeschichtsschreibung auch zur Klärung der wichtigen Frage nach den Kontinuitätslinien der Historie von den 1920er zu den 1950er Jahren beitragen37). Allgemein hat die Historiographiegeschichte des 20. Jahrhunderts aufgrund des zunehmenden fachlichen wie öffentlichen Interesses gerade im letzten Jahrzehnt erhebliche Fortschritte verzeichnen können. Die in ihrer Verknüpfung von Längs- und Querschnittanalysen vorbildliche Synthese von Lutz Raphael ist auch wegen ihrer internationalen Dimension hervorzuheben38). Hinsichtlich der deutschen Geschichtswissenschaft ist die ältere Stu-
34)
Michael Fahlbusch: Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die von 1931-1945, Baden-Baden 1999; Ingo Haar: Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf" im Osten, Göttingen 2000 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 143); Frank-Rutger Hausmann: „Deutsche Geisteswissenschaft" im Zweiten Weltkrieg. Die „Aktion Ritterbusch" (1940-1945), Dresden/München 1998^2002 (= Schriften zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, 1). 35) Peter Schöttler (Hg.): Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945, Frankfurt a.M. 1997. 36) Die Veröffentlichungen entstanden kurz nach dem Tod Brunners 1982 bzw. seit Mitte der 1990er Jahre. Die Titel werden in Kap. V.2.a) nachgewiesen. 37) Mit biographischen Zugängen: Hartmut Lehmann/iames Van Horn Melton (Hg.): Paths of Continuity. Central European Historiography from the 1930s to the 1950s. Cambridge, Mass./Melbourne 1994. 38) Lutz Raphael: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003. Ein konziser Überblick bei Simon, Historiographie (1996). Auch die älteren Untersuchungen des Deutsch-Amerikaners Georg G. Iggers beanspruchen nach wie vor Aufmerksamkeit: Georg G. Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, München 1971 [zuerst engl. 1968; erg. Ndr. Wien usw. 1997]; ders.: Neue Geschichtswissenschaft. Vom Historismus zur Historischen Sozialwissenschaft. Ein internationaler Vergleich. Mit Beiträgen von Norman Baker u. Michael Frisch, München 1978 [zuerst engl. 1975]; Georg G. Iggers: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang, Göttingen 21996 (= Kleine Vandenhoeck-Reihe).
„Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften"
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Verfassungsgeschichtsschreibung und Wissenschaftsgeschichte
23
die des Bochumer Historikers Bernd Faulenbach für die Weimarer Jahre einschlägig39). Dagegen ist die Zeit des Nationalsozialismus nicht befriedigend erforscht, zumal die Arbeit von Ursula Wolf und der dreibändige Torso von Helmut Heiber zu Recht vehement kritisiert wurden und das Werk von Karen Schönwälder die archivalische Überlieferung nicht mit einbezieht40). Die Wissenschaftsgeschichte der historischen Disziplin im ersten Jahrzehnt nach 1945 hat Winfried Schulze erstmals in den Grundzügen dargestellt41). Ein Sammelband über „Akademische Vergangenheitspolitik" hat die von Norbert Frei in den neunziger Jahren aufgeworfenen Fragen der aktiven Abwicklung' der NS-Vergangenheit auf die Geisteswissenschaften untersucht42). In allen genannten wissenschaftshistorischen Arbeiten zur Historiographie steht allerdings die Verfassungsgeschichtsschreibung am Rande, falls sie überhaupt
Berücksichtigung findet43). Die Protagonisten dieser Untersuchung haben bisher eher selten biographische Würdigungen, zumal unter den hier behandelten Aspekten, erfahren. Über Otto Hintze fehlt
nach wie vor eine ausführliche Monographie44), und über Fritz Härtung sind skizzenhaft bzw. faktenorienBetrachtungen Zu Ernst Rudolf Huber liegen seit wenigen Jahren zwei Monogratiert45). vor. Die phien Untersuchungen von Ralf Walkenhaus und Marie-Theres Nor-
die
39)
Bernd Faulenbach: Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980. Als Pendant die bemerkenswerte, wenn auch in Teilen ideologisch verzerrende Studie von Hans Schleier: Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik, Berlin 1975. 40) Ursula Wolf: Litteris et Patriae. Das Janusgesicht der Historie, Stuttgart 1996 (= Frankfurter Historische Abhandlungen, 37); Helmut Heiber: Universität unterm Hakenkreuz.
Teil 1: Der Professor im Dritten Reich: Bilder aus der akademischen Provinz. Teil 2: Die Kapitulation der Hohen Schulen: Das Jahr 1933 und seine Themen, 2 Bde., München usw. 1991-1994; Karen Schönwälder: Historiker und Politik. Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus, Frankfurt/New York 1992 (= Historische Studien. 9). Mit Konzentration auf die Ostforschung: Haar, Historiker (2000). 41) Winfried Schulze: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989 (= HZ, Beih. 10). 42) Bernd Weisbrod (Hg.): Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, Göttingen 2002 (= Veröffentlichungen des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen, 20); Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 21997. 43) Noch am breitesten werden verfassungsgeschichtliche Fragestellungen bei Faulenbach, Ideologie (1980), behandelt. 44) Zuletzt die informative Skizze: Wolfgang Neugebauer: Otto Hintze (1861-1940). In: Michael Fröhlich (Hg.), Das Kaiserreich. Portrait einer Epoche in Biographien, Darmstadt 2001, S. 286-298. Eine Biographie, die hoffentlich von Neugebauer vorgelegt wird, hatte bereits Gerhard Oestreich geplant. Vgl. auch den Überblick von Pierangelo Schiera: Otto Hintze, Neapel 1974 (= Gli Storici, 2). 45) Gerhard Oestreich: Fritz Härtung als Verfassungshistoriker (1883-1967). In: Der Staat 7 (1968), S. 447^169; Werner Schochow: Ein Historiker in der Zeit. Versuch über Fritz Härtung (1883-1967). In: JbGMOD 32 (1983), S. 219-250. Hans-Christof Kraus plant die Herausgabe eines ausgewählten Briefwechsels.
24
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Verfassungsgeschichtsschreibung und Wissenschaftsgeschichte
poth
sind jedoch aus politikwissenschaftlicher Perspektive geschrieben und bieten ausschließlich Werkbiographien ohne archivalische Abstützung und mit vergleichsweise geringer fachinterner Einordnung. So werden die frühen verfassungsgeschichtlichen Forschungen Hubers aus den dreißiger Jahren und vor allem seine spätere „Deutsche Verfassungsgeschichte" nur marginal be-
handelt46).
Das Quellenmaterial zur deutschen Verfassungsgeschichtsschreibung im 20. Jahrhundert ist alles in allem äußerst reichhaltig. Bei den Veröffentlichungen stehen zunächst die großen Synthesen zur Verfassungsgeschichte, angefangen mit dem Werk von Fritz Härtung47) und endend mit Hubers monumentalem Kompendium48), im Zentrum. Außerdem werden Monographien und Aufsätze zu speziellen verfassungsgeschichtlichen Themen in der Darstellung berücksichtigt, sofern sie wirkungsgeschichtliche Bedeutung erlangt haben. Die zeitgenössische Rezeption wird insbesondere durch die intensive Auswertung von Buchbesprechungen analysiert. Es soll ein Panorama der Verfassungsgeschichtsschreibung als Werk- und Ideengeschichte ansatzweise rekonstruiert werden. Durch einen Blick in die historische wie juristische Zeitschriftenpublizistik werden wissenschaftliche Filiationen und Netzwerke der mit gleichen, ähnlichen oder unterschiedlichen methodisch-inhaltlichen Vorgaben arbeitenden Wissenschaftler in die Darstellung einbezogen. Die Fachgeschichte wird damit als Beziehungsgeschichte deutbar. Die personelle Entwicklung49) und die
46)
Ralf Walkenhaus: Konservatives Staatsdenken. Eine wissenssoziologische Studie zu Ernst Rudolf Huber, Berlin 1997; Marie-Theres Norpoth: Norm und Wirklichkeit. Staat und Verfassung im Werk Ernst Rudolf Hubers, Hamburg 1998 (= Politikwissenschaft, 49). Eine nähere Kritik zu beiden Studien findet sich in einer Sammelbesprechung: Ewald Grothe: Geschichtsschreibung und Verfassungsgeschichte. In: NPL 46 (2001), S. 79-95, hier bes. S. 90-92. Nicht mehr ausgewertet werden konnte: Martin Jürgens: Staat und Reich bei Ernst Rudolf Huber. Sein Leben und Werk bis 1945 aus rechtsgeschichtlicher Sicht, Frankfurt a.M. 2005 (= Rechtshistorische Reihe, 306). 47) Fritz Härtung: Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Leipzig/Berlin 1914/21922/31928/41933 (= Grundriß der Geschichtswissenschaft,
2,4)/Stuttgart51950/61954/71959/81964/91969. 48) Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 8 Bde. Bd. 1: Reform
und Restauration 1789 bis 1830. Bd. 2: Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 bis 1850. Bd. 3: Bismarck und das Reich. Bd. 4: Struktur und Krisen des Kaiserreichs. Bd. 5: Weltkrieg, Revolution und Reichserneuerung 1914-1919. Bd. 6: Die Weimarer Reichsverfassung. Bd. 7: Ausbau, Schutz und Untergang der Weimarer Republik. Bd. 8: Registerband, Stuttgart usw. 1957-1991. 49) Für die Erhebung biographischer Daten sind folgende Publikationen einschlägig: Wolfgang Weber: Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Lehrstuhlinhaber für Geschichte von den Anfängen des Faches bis 1970, Frankfurt a.M. usw. 1984; Rüdiger vom Bruch/Rainer A. Müller (Hg.): Historikerlexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert [2. Aufl.: bis zur Gegenwart], München 1991/22002; Michael Stolleis (Hg.): Juristen. Ein biographisches Lexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 1995; Gerd KleinheyerlSan Schröder (Hg.): Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten. Eine biographische Einfüh-
I.
Verfassungsgeschichtsschreibung und Wissenschaftsgeschichte
25
institutionelle Fundierung der Verfassungsgeschichtsschreibung wird vor allem durch die Auswertung von nichtpubliziertem Material nachgezeichnet. Für die Fragen nach Institutionalisierung und Professionalisierung der Verfassungsgeschichtsforschung liegen Archivalien auf der Ebene der Universitäten, der Kultusverwaltungen in den Ländern sowie im Deutschen Reich vor50). Die überwiegende Zahl der in öffentlichen Archiven und Bibliotheken verwahrten privaten Korrespondenzen ist verfügbar51), während einige Nachlässe in Privatbesitz bisher unzugänglich sind52). Befragungen von Zeitzeugen, u. a. der Witwe von Ernst Rudolf Huber, Tula Huber-Simons, und von Ernst-Wolfgang Böckenförde, haben die Materialbasis abgerundet. Die Untersuchung gliedert sich in sechs chronologische Abschnitte, die in sich wiederum systematisch unterteilt sind. Dieser Einleitung folgen begriffsgeschichtliche Ausführungen, die sich auf die Termini „Verfassung" und „Verfassungsgeschichte" beziehen. Sie sind deshalb wichtig, weil Gegenstandsbereich und Fachbezeichnung im Laufe der Jahrhunderte variierten. Die Disziplinbezeichnung allein läßt aber nur bedingt Rückschlüsse „auf kognitive oder institutionelle Identitäten" zu53). Vielmehr sind zahlreiche Studien trotz abweichender Benennung inhaltlich als verfassungshistorisch anzusehen. Zunächst wird eine problemorientierte Verortung der Verfassungsgeschichte als Teilfach vorgenommen. Danach wird skizzierend auf die Traditionen der Verfassungsgeschichtsschreibung zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert eingegangen. Der dritte Teil der Studie rückt das Werk des Berliner Historikers Otto Hintze in den Blickpunkt, das im wesentlichen zwischen 1890 und 1930 entstanden ist und einen methodischen Neubeginn der deutschen Verfassungsgeschichtsschreibung bedeutete. Seine sozial- und wirtschaftsgeschichtlich ange-
rung in die Geschichte der Rechtswissenschaft, Heidelberg 41996; Michael Grüttner: Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik, Heidelberg 2004 (= Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, 6). Von den wichtigen Personen dieser Studie sind leider nur Ernst Forsthoff und Carl Schmitt enthalten. Ebd., S. 50f., 151f. 50) Aktenbestände der Kultusministerien wurden vor allem in Berlin, Dresden und Karlsruhe, Hochschulakten in Freiburg, Göttingen, Heidelberg und Münster herangezogen. Dagegen waren in Kiel, Leipzig und Straßburg erhebliche Kriegsverluste zu verzeichnen. 51) Wissenschaftliche Nachlässe wurden ausgewertet u. a. in der Staatsbibliothek zu Berlin (Fritz Härtung), im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (Carl Schmitt), in der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (u. a. Siegfried A. Kaehler), im Bundesarchiv Koblenz (u. a. Ernst Rudolf Huber, Hans Peters, Gerhard Ritter) und im Staatsarchiv Oldenburg (Hermann
52)
Oncken).
So vor allem der Nachlaß von Ernst Forsthoff. Der Nachlaß von Hermann Heimpel in der ÜB Göttingen konnte zwar von Hartmut Boockmann noch benutzt werden, wurde inzwischen aber langfristig gesperrt. Eine Auswertung wäre auch deshalb vielversprechend gewesen, weil Heimpel und Huber seit der gemeinsamen Zeit in Leipzig und Straßburg befreundet waren und die Familien nach 1945 in demselben Haus im Schwarzwald wohnten.
53) Lepenies, Wissenschaftsgeschichte (1978), S.444.
26
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Verfassungsgeschichtsschreibung und Wissenschaftsgeschichte
reicherte und vor allem vergleichend angelegte Forschung setzte sich markant von den wissenschaftlichen Vorläufern und anderen zeitgleichen Entwürfen ab. Die alternativen Forschungsansätze in der Allgemeinen Staatslehre und der historischen Verfassungsgeschichtsschreibung sollen zudem aufgezeigt werden. Otto Hintzes Schüler Fritz Härtung, dem sich das folgende Teilkapitel zuwendet, ging bereits andere Wege, indem er sich von der vergleichenden Methode ebenso wie von der Verfassungstypenlehre Hintzes ab- und einer preußisch-deutsch dominierten Verfassungsgeschichtsschreibung zuwandte. Allein in den neun Auflagen von Hartungs „Verfassungsgeschichte", die in einem Zeitraum von 55 Jahren erschienen, spiegelt sich die Disziplinentwicklung wie in einem Brennglas. Der weitgehend isolierten Entwicklung der Verfassungsgeschichtsschreibung in der Geschichts- und der Rechtswissenschaft der Weimarer Zeit ist der nachfolgende vierte Abschnitt gewidmet. Während die von Historikern betriebene Verfassungsgeschichtsschreibung stagnierte, markierte das Ende der 1920er Jahre den Beginn einer grundlegenden methodischen Wandlung bei einer jüngeren Generation von Juristen, die ihre wissenschaftliche Prägung durch den Staatsrechtler Carl Schmitt erfuhren. Schmitts weit gefaßter Verfassungsbegriff, vor allem in seiner „Verfassungslehre" aus dem Jahr 1928 expliziert54), entfaltete durch die wissenschaftspolitische Förderung unter dem nationalsozialistischen Regime weitreichenden Einfluß. Wirksam wurde der gewandelte Verfassungsbegriff in den späten dreißiger Jahren in den Darstellungen zur Verfassungsgeschichte, wie sie vor allem von den Schmitt-Schülern Ernst Forsthoff und Ernst Rudolf Huber sowie dem Historiker Otto Brunner vorgelegt wurden. Dieser Ideologisierung der Verfassungsgeschichtsschreibung durch den Nationalsozialismus geht das fünfte Kapitel der Studie nach. Es stehen markante Schritte der Institutionalisierung im Bereich von Lehrstühlen, Lehrbüchern und Zeitschriften ebenso zur Debatte wie die Nominierung der Verfassungsgeschichte als juristisches
Grundlagenfach.
Der sechste Teil untersucht die verschiedenen
Interpretationsansätze
der
Verfassungsgeschichtsschreibung in der Nachkriegszeit. Im Bereich der juristischen Verfassungsgeschichtsschreibung stehen Person und Werk von Ernst Rudolf Huber im Mittelpunkt der Ausführungen. In der historisch ausgerichteten Verfassungsgeschichtsschreibung der fünfziger und sechziger Jahre
knüpften methodische Überlegungen an die verschüttete Tradition Otto Hintund inspirierten damit Verfassungs- und Sozialgeschichte gleichermaßen. Mit dem Rekurs auf Otto Hintze einerseits und der ,Wiederentdeckung' des Staates seit den sechziger Jahren andererseits schließt sich der Kreis der Untersuchung über die deutsche Verfassungshistoriographie im 20. Jahrhundert. Im Schlußkapitel werden die Metamorphosen der historischen und jurizes an
54)
Carl Schmitt:
Verfassungslehre, Berlin
1928.
I.
stischen
Verfassungsgeschichtsschreibung und Wissenschaftsgeschichte
Teildisziplin
zeigt.
der
Verfassungsgeschichte
im 20. Jahrhundert
27
aufge-
Hintze um und kurz nach der Jahrhundertwende angeregten arbeitenden und international wie interdisziplinär kooperierenvergleichend den Forschung ergab sich die von seinen Epigonen ungenutzt gebliebene Möglichkeit eines qualitativen Sprungs. Damit unterschied er sich methodisch markant von der Position der Verfassungsgeschichtsschreibung der vorangegangenen Jahrhunderte. Dies läßt sich an der Entwicklung vom Verfassungsbegriff zur Teildisziplin zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert verdeutlichen. Mit der
von
II. Vom Begriff der Verfassung zur Teildisziplin
Verfassungsgeschichte
1. Die
Begriffe „Verfassung" und „Verfassungsgeschichte"
Der Gegenstand der Verfassungsgeschichte ist weit älter als ihr Begriff. Und die Geschichte des Begriffs der Verfassung reicht wiederum weiter zurück als seine Historiographie. Es ist von einer stufenförmigen terminologischen Entwicklung auszugehen: zunächst gab es den historischen Gegenstand. Denn eine Verfassungsgeschichte avant la lettre befaßt sich mit dem Zustand und der Struktur menschlicher bzw. politischer Gemeinschaften. Somit führt eine verfassungsgeschichtliche Betrachtung im weitesten Sinn zurück in die Anfänge der Geschichte, zum Beginn der Vergesellschaftung des Menschen. In diesem Zusammenhang entstanden in der Antike lateinische bzw. griechische Synonyme zum heute geläufigen Begriff der Verfassung, die aus demselben Wortfeld stammten. Mit der Rezeption und Eindeutschung' des antiken Begriffs bewegen wir uns in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Reichsgeschichte. Zuletzt entstand, aus praktischen Erfordernissen und wissenschaftlichen Interessen resultierend, die Verfassungsgeschichtsschreibung als Spezialdisziplin juristischer und historischer Forschung. Diesen Dreischritt der Entwicklung vom Gegenstand über den Begriff hin zur Geschichtsschreibung gilt es etwas genauer zu beschreiben. Der heutige deutsche Begriff „Verfassung"1) wurzelt in der antiken Vorstellung von der „politeia", „constitutio" oder dem „status rei publicae". Die
') Für das Nachfolgende: Heinz Mohnhaupt: Verfassung I. Konstitution, Status, Leges fundamentales von der Antike bis zur Aufklärung. In: ííe/x/Dieter Grimm, Verfassung. Zur Geschichte des Begriffs von der Antike bis zur Gegenwart. Zwei Studien, Berlin 1995 (= Schriften zur Verfassungsgeschichte, 47), S. 1-99; sehr knapp zudem: Hans Boldt: Verfassung/Verfassungstheorie. In: Dieter Nohlen/Rainer-Olaf Schultze (Hg.), Pipers Wörterbuch zur Politik. Bd. 1: Politikwissenschaft. Theorien Methoden Begriffe, München/ Zürich 1985, S. 1069-1073; Dieter Grimm: Verfassung. In: Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, hg. v. der Görres-Gesellschaft, Bd. 5, Freiburg/Basel/Wien 71989, Sp. 633-643; U.[lrich] K. Preuß: Verfassung. In: Historisches Wörtetbuch der Philosophie, hg. v. Joachim R/'ffer/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel, Bd. 11, Darmstadt 2001, Sp. 636-643; W.[alter] Pauly: Verfassung. In: HRG 5 (1998), Sp. 698-708. Vgl. als ältere Studie: Heinrich Otto Meisner. Verfassung, Verwaltung, Regierung in neuerer Zeit, Berlin 1962 (= Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Klasse für Philosophie usw. 1962,1), S. 3-24. Siehe weiterhin Gerald Stourzh: Staatsformenlehre und Fundamentalgesetze in England und Nordamerika im 17. und 18. Jahrhundert. Zur Genese des modernen Verfassungsbegriffs. In: Rudolf Vierhaus (Hg.), Herrschaftsverttäge, Wahlkapitulationen, Fundamentalgesetze, Göttingen 1977 (= Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte, 56; Studies presented to the International Commission for the Histoty of Representative and Parliamentary Institutions, 59), S. 294-327. -
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1. Die
Begtiffe „Verfassung" und „Verfassungsgeschichte"
29
Begriffsverwendung für solche normativen Zusammenhänge endet allerdings im ersten vorchristlichen Jahrhundert2). Der Begriff „constitutio" begegnete erst wieder nach rund eintausendjähriger Pause seit Ende des 11. Jahrhunderts im Zuge der Rezeption des römisch-kanonischen Rechts in Gestalt des Corpus Iuris Civilis Kaiser Justinians aus dem 6. Jahrhundert3). In seiner deutschen Form findet sich der Verfassungsbegriff mit variierenden Bedeutungen seit der Mitte des 14. Jahrhunderts in der Urkundensprache4). Seit der Frühen Neuzeit bezeichnete er die Vorstellung von der Ordnung einer menschlichen Gemeinschaft. Bei einer begriffsgeschichtlichen Betrachtung gilt es allerdings zu beachten, daß die Vorstellung dessen, was mit den griechischen, lateinischen und deutschen Begriffen von „Verfassung" inhaltlich genau gemeint ist, im Einzelnen voneinander abweicht. Es handelt sich, allgemein gesagt, um ein Begriffs-, Bedeutungs- und Beziehungsfeld, das Strukturen vorwiegend politisch-rechtlicher Natur bezeichnet. So hob der Begriff der „politeia" auf den Staat und besonders bei Aristoteles auf die Lehre von den Staats- bzw. Regierungsformen ab5). Weitgehend ähnlich wurden die Begriffe „constitutio" und „status rei publicae" bei Cicero gebraucht. Dagegen meinte der mittelhochdeutsche Ausdruck „virfaszunge" zunächst eine gerichtliche Vereinbarung. Im 15. Jahrhundert kam das Verb „verfassen" in der Bedeutung für abfassen bzw. ordnen in Gebrauch. Parallel dazu fand sich in Spätmittelalter und Früher Neuzeit die Verfassung auch im medizinischen und philosophisch-politischen Bereich wieder6). Dieser ursprüngliche Begriff für die empirische Naturbeschreibung verengte sich endgültig erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Jetzt bezog sich „Verfassung" zunehmend auf staatliche Verhältnisse. Staat und Verfassung wurden zu komplementären Begriffen7). Die Verwendung für den vorwiegend normativ definierten Zustand eines staatlichen Gemeinwesens erhielt der Verfassungsbegriff also relativ spät. Und das Bewußtsein dafür, daß die Verfassung eines Staates auch historisch erfaßt und beschrieben werden kann, entstand erst im 17. Jahrhundert8). 2) Mohnhaupt, Verfassung I (1995), S. 5-14. 3) Ebd., S. 14-16. 4) Ebd., S. 22-25. Einen auch heute noch lesenswerten Übetblick
zur
mittelalterlichen
„Idee" der Verfassung gibt Fritz Kern: Recht und Verfassung im Mittelalter Darmstadt
1952 [zuerst 1919], S. 66-107. Dazu: Demetrios L. Kyriazis-Gouvelis: Der moderne Verfassungsbegriff und seine historischen Wurzeln. Aristoteles Montesquieu Menschenrechte. In: Jb. des öffentlichen Rechts, NF 39 (1990), S. 55-66, hier S. 561, der auf die Ordnung als „Grundmerkmal" der Verfassung bei Aristoteles hinweist. 6) Mohnhaupt, Verfassung I (1995), S. 25-36. 7) Heinz Mohnhaupt: Von den „leges fundamentales" zu modernen Verfassung in Europa. Zum begriffs- und dogmengeschichtlichen Befund (16.-18. Jahrhundert). In: ders.. Historische Vergleichung im Bereich von Staat und Recht. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt a.M. 2000 (= lus Commune. Sonderhefte, 134), S. 35-72, hier S. 37. 8) Eberhard Schmidt-Aßmann: Der Verfassungsbegriff in der deutschen Staatslehre der Aufklärung und des Historismus. Untersuchungen zu den Vorstufen eines hermeneuti-
5)
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30
II. Vom Begriff der Verfassung zur Teildisziplin
Verfassungsgeschichte
Die Einengung des Verfassungsbegriffs auf eine „written constitution", eine schriftlich fixierte und formell kodifizierte Norm in Form einer Verfassungsurkunde, trat gleichfalls seit dem späten 17. Jahrhundert in Erscheinung9). Dieser normativ begrenzte Verfassungsbegriff wurde besonders im 18. Jahrhundert mit bestimmten Vorstellungen seines Inhalts versehen. Die französische Menschenrechtserklärung vom 26. August 1789 formulierte in Rezeption der nordamerikanischen Vorbilder mit der ausdrücklichen Herausstellung von Grundrechten und Gewaltenteilung zwei klassische Prinzipien einer modernen Verfassungsurkunde, die bis heute maßstabsetzend geblieben sind10). Mit der normativen Festlegung und der schriftlichen Fixierung hatten sich auch Umfang, Inhalt und Ziel der Verfassung geändert. Sie wirkte nicht mehr herrschaftsmodifizierend, sondern herrschaftsbegründend, galt nicht punktuell, sondern umfassend, nicht partikular, sondern universal11). An der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert begann das Zeitalter des modernen -
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Verfassungsstaates12).
Ebenso wie in der Begriffsgeschichte eine Lücke klafft zwischen dem antiken Gebrauch und dem Wiederauftauchen des Verfassungsbegriffs im hohen Mittelalter, kam es zu einer Verzögerung bei der Erweiterung des Begriffs. Zwischen dem ersten Auftreten des deutschen Begriffs „Verfassung" und seiner Verwendung als Kompositum „Verfassungsgeschichte" im frühen 19. Jahr-
schen Verfassungsdenkens, Berlin 1967 (= Schriften zum Öffentlichen Recht, 53), S. 33-85. Wichtig neben Mohnhaupt, Verfassung I (1995), S. 49-99, auch Bernd Roeck: Reichssystem und Reichsherkommen. Die Diskussion über die Staatlichkeit des Reiches in der politischen Publizistik des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1984 (= Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz. Abt. Universalgeschichte, 112; Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches, 4), S. 6-24. 9) Stourzh, Staatsformenlehre (1977), S. 318-322, weist darauf hin, daß in den amerikanischen Kolonien lokale Grundordnungen gleichfalls als „constitutions" bezeichnet wurden. Gerhard Oestreich: Vom Herrschaftsvertrag zur Verfassungsurkunde. Die „Regierungsformen" des 17. Jahrhunderts als konstitutionelle Instrumente. In: Vierhaus, Herrschaftsverträge (1977), S. 45-67. 10) Die Formulierung des Art. 16 lautet bemerkenswerterweise negativ: „Toute société, dans laquelle la gatantie des droits n'est pas assutée, ni la séparation des pouvoirs déterminée, n'a point de constitution." So übernommen in die Französische Verfassung vom 3.9.1791. Zweisprachiger Druck in: Gerhard Commichau (Hg.): Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte von 1776 bis zur Gegenwart, Göttingen/Zürich 51985 (= Quellensammlung zur Kulturgeschichte, 1), S. 54-59, hier S. 58f. Vgl. dazu Dieter Grimm: Verfassung II. Konstitution, Grundgesetz(e) von der Aufklärung bis zur Gegenwart. In: ders.lMohnhaupt, Verfassung (1995), S. 100-144, hier S. 104-106. ") So grundlegend: Dieter Grimm: Deutsche Verfassungsgeschichte 1776-1866. Vom Beginn des modernen Verfassungsstaats bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Frankfurt a. M. 1988/31995 (= Neue Historische Bibliothek), S. 12. 12) Die moderne Definition der Begriffe „Verfassung" und „Verfassungsstaat" ist äußerst vielgestaltig. Dazu beispielhaft als Sichtweise einer vergleichenden Verfassungslehre: Peter Haberle: Verfassung als Kultur. In: Jb. des öffentlichen Rechts der Gegenwart, NF 49 (2001), S. 125-143.
1. Die
Begriffe „Verfassung" und „Verfassungsgeschichte"
31
hundert in der seither geläufigen aber keineswegs immer klar definierten Bedeutung lagen mehrere Jahrhunderte13). Die früheste bisher nachweisbare Verwendung des deutschen Wortes „Verfassungsgeschichte" stammt aus dem Jahr 1816 bzw. 1818 in der Form als „Regierungs- und Verfassungsgeschichte"14). Noch firmierte sie aber nicht als eigenständige Teildisziplin der Geschichte. Die nächste bekannte Erwähnung findet sich in der Geschichtsphilosophie von Hegel. In dem 1822 bzw. 1828 entstandenen ersten Entwurf über die „Arten der Geschichtsschreibung" als Teil des Werkes über „die Vernunft in der Geschichte" bemerkte der Philosoph unter dem Rubrum „Spezialgeschichte": „Verfassungsgeschichte hängt auch schon mehr mit der Gesamtgeschichte zusammen; sie hat nur Sinn und Verstand in Verbindung mit dem Blick auf das Ganze des Staates"15). Nach wenigen verstreuten Belegen in den 1830er Jahren legte der Kieler Historiker Georg Waitz die erste Monographie, in diesem Fall den ersten von später acht Bänden, unter dem Titel „Deutsche Verfassungsgeschichte" 1844 vor16). Über den Begriff im Titel reflektierte Waitz allerdings weder in seiner Vorrede noch an anderer Stelle in seinem Werk. Die Entstehung des historischen Teilgebiets Verfassungsgeschichte im 17. und 18. Jahrhundert und seine Ausformung im frühen 19. Jahrhundert, die mit einer begrifflichen Ausdifferenzierung und Schärfung einherging, teilte dieses Spezialfach mit anderen historischen Disziplinen. Dabei blieben Überschneidungszonen nicht aus. Staatsgeschichte, Staatenkunde, Statistik, allgemeines Staatsrecht und Reichsgeschichte hießen die Konkurrenten der Anfangszeit. Die Rechtsgeschichte, gleichfalls parallel entstanden17), ist bis in die Gegenwart ein in vielfacher Hinsicht benachbartes und gleichfalls zwischen Rechts-
-
Als getrennte Worte finden sich „Geschichte" odet „Entwicklung [det] Verfassung" bereits bei [Johann Stephan] Pütter: Histotische Entwickelung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs. 3 Tie., Göttingen 1786/87/21788/31798, odet bei A.[rnold] H.[ermann] L.[udwig] Heeren: Handbuch det Geschichte der Staaten des Altetthums, mit besonderet Rücksicht auf ihre Verfassungen, ihren Handel und ihre Colonieen,
13)
u. a.
Göttingen 1799/51828. 14) Ludwig Wachler: Geschichte der historischen Forschung und Kunst seit der Wiederherstellung der littetärischen Cultut in Europa, Bd. 2,1, Göttingen 1816, S. 129 (im Zusammenhang mit Ausfühtungen zum französischen Historiker Jean Pierre Moret de Boutchenu im frfihen 18. Jahthundert). Eine identische Ausgabe ist als Band 26 in der Reihe „Geschichte der Künste und Wissenschaften seit der Wiederherstellung derselben bis an
das Ende des achtzehnten Jahrhunderts" im Jahr 1818 erschienen. Danach zitiert Paul E. Geiger: Das Wort „Geschichte" und seine Zusammensetzungen, Freiburg 1908, S. 84. 15) Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Die Vernunft in der Geschichte, hg. v. Johannes Hoffmeister, Hamburg 51955 (= Sämtliche Werke. Neue kritische Ausgabe, 18A) [zuerst 1917], S. 211 16) Geotg Waitz: Deutsche Verfassungsgeschichte. Die Verfassung des deutschen Volkes in ältester Zeit. 8 Bde., Betlin 1844-1877/2,31880-1896. 17) Zur Wortverwendung von Reichs-, Rechts- und Staatsgeschichte vgl. die knappen Hinweise bei Geiger, Wort (1908), S. 69-79.
32
II. Vom
Begriff der Verfassung zur Teildisziplin Verfassungsgeschichte
und Geschichtswissenschaft angesiedeltes Fach geblieben. Nicht selten wird auch heute noch die Verfassungsgeschichte als Teil der Rechtsgeschichte betrachtet18). Zumindest aber werden Überschneidungsflächen zwischen beiden Bereichen festgestellt19). Die Begriffe „Verfassung" und „Verfassungsgeschichte" sind bis heute nicht eindeutig definiert20). Es läßt sich, grob vereinfachend, zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Verfassungsbegriffen differenzieren: einem weiten und einem engen. Ein weiter Verfassungsbegriff umfaßt den gesamten Zustand eines Gemeinwesens, die Strukturen von Staat und Gesellschaften, ihre Ordnung in politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht. Dazu neigt bis heute die mittelalterliche Verfassungsgeschichtsschreibung, die sich mit ihren Untersuchungen im Vorfeld gedruckter Verfassungstexte befindet21). Ins Extreme gewendet, resultiert hieraus der Anspruch einer nahezu vollständigen Erfassung der Vergangenheit, eine totale Geschichte22). Demgegenüber orientiert sich der enge Verfassungsbegriff lediglich an der gedruckten Verfassungsurkunde eines Staates. Die mit ihm arbeitende Forschung befaßt sich nur mit Problemen der historischen Entwicklung im Hinblick auf formelle Änderungen des Verfassungstextes. Daraus ergibt sich eine konstitutionelle Verfassungsgeschichte. Man differenziert also zunächst einmal typologisch zwischen einem materiellen und einem formellen Verfassungsbegriff23). In der Praxis hat die Mehrheit der Verfassungshistoriker jedoch seit dem 18. Jahrhundert mit einem dritten Verfassungsbegriff gearbeitet, der zwischen diesen extremen Polen angesiedelt ist. Die Verfassungsgeschichte wurde auf den normativen Bereich des Staates eingeschränkt. Es wurden Fragen der materiellen politischen Verfassung, die Freiheitsrechte und Staatsorganisation
18) So z. B. von Karl Kroeschell: Verfassungsgeschichte und Rechtsgeschichte des Mittelalters. In: Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 30./31. März 1981, Berlin 1984 (= Der Staat, Beih. 6), S. 47-103 (mit Aussprache), hier S. 102; auch bei Heinrich Mitteis/Heinz Lieberich: Deutsche Rechtsgeschichte. Ein Studienbuch, München 161981, S. 3. Der oft zitierte Ausspruch Meisters von der Verfassungsgeschichte als „selbständig gewordener Tochtet det Rechtsgeschichte" ließ sich nicht nachweisen in Aloys Meister: Deutsche Verfassungsgeschichte des Mittelalters von den ersten Anfängen bis ins 15. Jahrhundert, Leipzig 1907 (= Grundriß der Geschichtswissenschaft, 2,3). 19) Entsprechend Helmut Quaritsch in der Aussprache über Kroeschell, Verfassungsgeschichte (1984), S. lOlf. 20) Von einem „doppeldeutigen" Begriff spricht Dietmar Willoweit: Verfassungsgeschichte. In: Staatslexikon, Bd. 5 (1989), Sp. 648-652, hier Sp. 648. Weiteres zur Definition der Verfassungsgeschichte in den einzelnen Kapiteln dieser Untersuchung. 21) Kroeschell, Verfassungsgeschichte (1984), S. 48-58. 22) So der Anspruch bei Walter Schlesinger: Theodor Mayer und der Konstanzer Arbeitskreis. Theodor Mayer zum 80. Geburtstag, Konstanz o. J. [1963], S. 26f.: „Verfassungsgeschichte [...] zielt also auf das Ganze". 23) Vgl. zu diesem Aspekt die klaren Ausführungen eines Mitglieds der .Wiener Schule1: Herbert Schambeck: Der Verfassungsbegriff und seine Entwicklung. In: Adolf J. Merkt u. a. (Hg.), Festschrift für Hans Kelsen zum 90. Geburtstag, Wien 1971, S. 211-241.
1. Die
Begriffe „Verfassung" und „Verfassungsgeschichte"
33
betrafen, Probleme der Herrschaftsorganisation und der Institutionen behan-
delt24). Das Ergebnis war eine vorwiegend etatistische Verfassungsgeschichte,
die als Folge davon strikt national begrenzt betrieben wurde. Jene Begrenzung der Verfassungsgeschichte auf die eigene Nation findet sich auch in der Historiographie anderer Länder. Ihre Anfänge reichen bis ins 17. und 18. Jahrhundert zurück25). In Frankreich erschien der Begriff „Constitution" in seiner normativ begrenzten Verwendung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. In Montesquieus „De l'esprit des lois" avancierte er zum Leitbegriff und wurde seit 1770/80 geradezu inflationär verwendet. Seit 1740 begegnete eine historische Rückprojektion des Begriffs, der zunächst als „politisches Kampfargument", nach 1789 schließlich als Propagandainstrument diente26). Im Unterschied zu Deutschland, wo verfassungsgeschichtliche Forschungen bis ins 19. Jahrhundert hinein ganz überwiegend von Juristen, seien es Öffentlichrechtler oder Rechtshistoriker, betrieben wurden, gingen in Frankreich seit Anfang des 17. Jahrhunderts Historiker, Publizisten und Privatgelehrte vorzugsweise der frühmittelalterlichen oder modernen französischen Verfassungsgeschichte nach, wobei ständische und nationale Fragen im Vordergrund standen27). Bei Montesquieu floß die historische Analyse in die politischstaatsrechtliche Argumentation ein. Sein Werk wirkte vor allem auf die englische und deutsche Historiographie ein28). Die in der englischen und amerikanischen Historiographie geläufige „constitutional history" entspricht diesem etatistischen Verfassungsverständnis. Ähnlich wie in Deutschland entstand eine zunächst vorwissenschaftliche englische Verfassungsgeschichtsschreibung im 17. Jahrhundert aus dem Bedürfnis nach historischer Rechtfertigung des politischen Systems. Dabei kam
24) Zugespitzt bezeichnete Getald Stourzh die Vetfassungsgeschichte als „Geschichte des öffentlichen Rechts". Kroeschell, Vetfassungsgeschichte (1984), S. 100 (Aussptache). Sie-
he auch Quaritschs Definition, ebd., S. 101. Ich beschränke mich in den nachfolgenden knappen Skizzen auf die englische und französische Entwicklung. Zu Stand und Methode det italienischen „storia costituzionale": Livio Paladin: La questione del método nella storia costituzionale. In: Quaderni fiorentini pet la storia del pensiero giuridico moderno 26 (1997), S. 243-263. Einen frühen Vertreter, sogat den „Gtündet det Rechts- und Verfassungsgeschichte" in Italien, sah Eduard Fueter: Geschichte der neueren Historiographie, München/Berlin 31936 (= Handbuch det mittelaltetlichen und neueren Geschichte, 1) [zuerst 1911, Ndr. 1985], S. 276-278, bes. S. 277, in Pietro Giannone (1723). 26) Eindringlich zur Begriffsgeschichte: Wolfgang Schmale: Constitution, Constitutionnel. In: Rolf ReichardtlHans-Jürgen Lüsebrink (Hg.), Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820, Heft 12, München 1992 (= Ancien Régime, Aufklärung und Revolution, 10), S. 31-63. Das Zitat ebd., S. 49. 27) Konrad Huber: Feudalität und Untertanenverband. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Verfassungsgeschichtsschreibung. In: Ernst Forsthoff/Werner Weber/Franz Wieacker (Hg.), Festschrift für Ernst Rudolf Huber zum 70. Geburtstag am 8. Juni 1973, Göttingen 1973 (= Göttinger rechtswissenschaftliche Studien, 88), S. 17-55, hier S. 18-38. 28) Fueter, Geschichte (1911), S. 385. Zum näheren Vergleich der deutschen und französischen Verfassungshistoriographie bis etwa 1850: K. Huber, Feudalität (1973), S. 52-55.
25)
34
II. Vom
Begriff der Verfassung zur Teildisziplin Verfassungsgeschichte
auf der Insel zu einer weitreichenden Instrumentalisierung im politischen Tageskampf der englischen Revolution. Erst im 19. Jahrhundert erfolgte eine Akademisierung der Disziplin, deren Abhängigkeit von den politischen Entwicklungen der Zeit gleichwohl erhalten blieb. Henry Hallam definierte 1827 in seiner umfänglichen, vom ausgehenden 15. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts reichenden Verfassungsgeschichte die von ihm behandelte Materie folgendermaßen: „The title [The Constitutional History of England, E.G.] which I have adopted, appears to exclude all matter not referrible to the state of government, or what is loosely denominated the constitution. I have, therefore, generally obstained from mentioning, except cursorily, either military or political transactions, which do not seem to bear on this primary subject. It must, however, be evident, that the constitutional and general history of England at some periods, nearly coincide." Hallam schrieb demzufolge politische Regierungsgeschichte, wozu er freilich auch Teile der Kirchengeschichte zählte sowie „facts certainly belonging to the history of our constitution, in the large sense of the word" 29). Rund ein halbes Jahrhundert nach Hallam entwarf William Stubbs 1874 bis 1878, inspiriert von Georg Waitz, ein ausführliches Bild der mittelalterlichen Verfassungsverhältnisse Englands30). Die dominierende Richtung der englischen Historiographie vor 1900 betrieb „administrative" oder „institutional history", wobei unter den Institutionen das englische Parlament einen herausragenden Rang einnahm. Bei Frederic William Maitland näherte sich die „constitutional history" schließlich dem an, was in Deutschland unter Rechtsgeschichte, in England unter „legal history" verstanden wurde31). Bei den in dieser Studie behandelten Darstellungen ist, um es in der französischen Terminologie auszudrücken, ein sozial- und gesellschaftsgeschichtlich erweiterter Verfassungsbegriff im Sinne einer „histoire des institutions politiques" zugrundegelegt. Er versucht darüber hinaus, den unterschiedlichen Auffassungen von Inhalt und Abgrenzung des Teilfachs im Laufe des 20. Jahrhunderts Rechnung zu tragen und damit auch das im Blick zu behalten, was die jeweiligen Zeitgenossen selbst mit „Verfassungsgeschichte" gemeint haben. es
Constitutional History of England from the Accession of Henry II, 4 Bde., Paris 1827, hier Bd. 1, S. VIL 30) William Stubbs: The Constitutional History of England in its Origin and Development. 3 Bde., Oxford 1874-1878. Dazu: James Campbell: Stubbs, Maitland, and Constitutional History. In: Benedikt StuchteylPeter Wende (Hg.), British and German Historiography 1750-1950. Traditions, Perceptions, and Transfers, Oxford 2000 (= Studies of the German Historical Institute London), S. 99-122. Ein scharf negatives Urteil über Stubbs fällt Fueter, Geschichte (1911), S. 488f. 31) F.[rederic] W.[illiam] Maitland: The Constitutional History of England, hg. v. H. A .L. Fisher, Cambridge 1908. Vgl. dazu die Rezension von 0.[tto]: Hintze. In: HZ 106 (1911), S. 169-173. Zu Maitland: Campbell, Stubbs (2000). Entsprechend für die amerikanische Historiographie: John Franklin Jameson (Hg.): Essays in the Constitutional History of the United States, Boston 1889; Thorpe, Constitutional History (1901).
29) Henry Hallam: The
VII to the Death of George
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35
2. Das Teilfach
Verfassungsgeschichte
Die Verfassungsgeschichte wird traditionell und bis heute als Teilgebiet von verschiedenen Wissenschaften betrieben. Allein drei universitäre Fächer erheben mit mehr oder weniger Berechtigung Ansprüche auf sie: die Historiker, weil Verfassungsgeschichte gemeinhin als Teil der innenpolitischen Geschichte verstanden wird; die Juristen, weil man es bei der staatlichen Verfassung vor allem mit normativem ,Material', mit gesetztem Recht zu tun hat; und schließlich die Politikwissenschaftler: Hans Boldt plädierte Mitte der achtziger Jahre nachdrücklich für eine politik-wissenschaftliche, d. h. eine historisch arbeitende vergleichende Regierungslehre als Kernbereich der Verfassungs-
geschichtsforschung32)
.
Die unterschiedliche fachliche Zuordnung geht auf historische, systematisch-sachliche und arbeitspraktische Gründe zurück. Daß Verfassungsgeschichte in erster Linie ein historisches Teilfach ist, liegt gewissermaßen in der Natur der Sache. Immerhin handelt es sich um einen Ausschnitt vergangener Wirklichkeit, so wie andere historische Teilgebiete wie Politik-, Sozial-, Wirtschafts- oder Kulturgeschichte ihrerseits einen speziellen Aspekt der Vergangenheit genauer in den Blick nehmen33). Wie in diesen Gebieten gab und gibt es in der Verfassungsgeschichtsschreibung immer wieder die Tendenz, das eigene Teilfach in seiner Bedeutung zu überschätzen und in ihm den zentralen Zugang zur oder den wichtigsten Part der Geschichte zu erkennen oder das Teilgebiet gar von der Sub- zur ,Superdisziplin' zu befördern. Die Geschichte der Verfassungsgeschichtsschreibung zeigt, daß die Schwerpunktsetzung je nach Zeitgeschmack und wissenschaftlichen Prägungen der Protagonisten wechselte. Gab es im 19. Jahrhundert ein deutliches Übergewicht für eine Verfassungsrechtsgeschichte, so dominierte seit Mitte der sechziger Jahre eine Verfassungssozialgeschichte34). Auch in jüngster Vergangenheit hat es in der methodologischen Diskussion Versuche zur Erweiterung in Richtung auf die Sozial- oder Kulturgeschichte gegeben35). Trotzdem kann
32)
So pointiert in Hans Boldt: Verfassungsgeschichte und vergleichende Regierungslehre. Zur Geschichte ihrer Beziehungen. In: Der Staat 24 (1985), S.432^146. Vgl. auch ders., Verfassungsgeschichte Historie (1984), S. 174-185. Vgl dazu Roland L/iotta/Werner Reh: Hans Boldt: Deutsche und europäische Vetfassungsgeschichte als politische Wissenschaft. In: diej./Janbernd Oebbecke (Hg.), Deutsche und europäische Verfassungsgeschichte: Sozial- und rechtswissenschaftliche Zugänge. Symposium zum 65. Geburtstag von Hans Boldt, Baden-Baden 1997 (= Düsseldorfer Rechtswissenschaftliche Schriften, 1), S. 9-22. 33) Michael Stolleis: Rechtsgeschichte, Verfassungsgeschichte. In: Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek b. Hamburg 1998, S. 340-361. Vgl. auch Willoweit, Verfassungsgeschichte (1989), Sp. 6481 34) Zur Situation zu Beginn der achtziger Jahre vgl. Boldt, Verfassungsgeschichte Historie (1984), S. 164-174. 35) Namentlich von Christof Dipper, Sozialgeschichte (1991), und Wolfgang Reinhard: Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte. Historische Grundlagen europäischer politischet Kulturen. In: Jb. für Europäische Geschichte 1 (2000), S. 115-131; ders.: „Staat machen". Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte. In: Jb. des Historischen Kollegs 1998, S. 99-118.
36
II. Vom
Begriff der Verfassung zur Teildisziplin Verfassungsgeschichte
Verfassungsgeschichtsschreibung nicht den Anspruch erheben, eine ,Totalgeschichte' zu repräsentieren36). Für das eigenständige Profil einer Teildisziplin war und ist es unabdingbar, sich von anderen benachbarten Fächern erfolgreich abzusetzen, sich zugleich auch unabhängig von dieser Abgrenzung selbst zu definieren und zu konturieren, u.a. um sich gegenüber Vereinnahmungsversuchen zu wappnen. Letztendlich geht es bei dieser fachlichen Selbstbehauptung immer auch um spezifische wissenschaftspolitische Interessen. Bisweilen werden die Leistungen der Verfassungsgeschichtsschreibung im jeweiligen Nachbarfach ignoriert oder mit überzogener Schärfe kritisiert. Von den Juristen wird die Verfassungsgeschichte gelegentlich als Teilgebiet der Rechtsgeschichte angesehen, was ihr nur eingeschränkt gerecht wird. Die Verfassungsgeschichtsschreibung hatte es in ihrer wechselvollen Entwicklung mit vielfältigen Bemühungen um Selbstbehauptung auf der einen sowie mit bedrohlich wirkenden Expansionsbestrebungen auf der anderen Seite zu tun. Fragen der Emanzipation und Profilbildung als eigenständige Teildisziplin beschäftigten die Verfassungshistoriker bereits seit den Anfängen. Eine überzeugende Profilierung als eigenständiges Teilfach der Geschichts- und der Rechtswissenschaft ist der Verfassungsgeschichtsschreibung in der Vergangenheit nicht leicht gefallen und das ist bis heute so geblieben. Die Verfassungsgeschichtsschreibung versteht sich von Haus aus als multiund interdisziplinär. Doch in welchem Fach sie ihren eigentlichen Kern hat, wo sie methodisch und inhaltlich zuhause ist, das sind seit langem gestellte und nach wie vor weithin offene Fragen, die nicht zuletzt auch persönliche und fachspezifische Streitpunkte und manchmal auch Eitelkeiten berühren. Darf man also beispielsweise von juristischer oder historischer Verfassungsgeschichte sprechen, wenn man den methodischen Zugang oder die Autoren verfassungsgeschichtlicher Werke differenzieren möchte37)? Darf man die Unterschiedlichkeit zwischen einem eher systematischem Ansatz der Juristen und einem tendenziell entwicklungsgeschichtlichen Zugang der die
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Historiker erwähnen oder gar diesen betonen?38) Eine selbständige, von der Rechtsgeschichtsschreibung losgelöste Verfassungsgeschichtsschreibung hat es in Deutschland lange Zeit nicht gegeben.
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Kritisch zu entsprechenden Tendenzen in der Sozialgeschichte: Dieter Groh: Strukturgeschichte als „totale" Geschichte. In: VSWG 58 (1973), S. 289-322. Vgl. aber Werner Conze: Sozialgeschichte in der Erweiterung. In: NPL 19 (1974), S. 501-508. 37) Einer solchen Trennung widersprach vermutlich auch wegen des eigenen Selbstverständnisses in der Diskussion über ein Referat des Frühneuzeit-Historikers Georg Schmidt der Würzburger Rechts- und Verfassungshistoriker Dietmar Willoweit. Georg Schmidt: Der Westfälische Frieden eine neue Ordnung für das Alte Reich? In: Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 11.3.-13.3.1991, Berlin 1993, S. 45-83, hier S. 81-83. 38) Diese Fragestellung bereits bei: Gerhard Seeliger: Juristische Konstruktion und Geschichtsforschung. In: HVjS 7 (1904), S. 161-191. -
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2. Das Teilfach
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Verfassungsgeschichte
Beide Begriffe wurden zwar nicht synonym, aber doch einander überschneidend verwandt. Staats-, Rechts- und Verfassungsgeschichte gingen im W.Jahrhundert ineinander über, waren in vielen Bereichen sogar kongruent39). Bei der Mehrzahl der deutschen Verfassungshistoriker des 19. Jahrhunderts handelte es sich um ausgebildete Juristen. Sie betrieben eine Erforschung früheren geltenden Rechts und gingen dabei weniger historisch als systematisch vor. Seit der Jahrhundertwende gerieten aber Rechts- und Verfassungshistoriographie in die fachliche Defensive. Mit dem Inkrafttreten des BGB wurden beide in einen propädeutischen Bereich abgedrängt und marginalisiert. Das hat die Rechtsgeschichte zunächst stimuliert. Aber auf lange Frist haben beide Teilgebiete sieht man von der Förderung der Verfassungsgeschichtsschreibung in der Zeit des Nationalsozialismus einmal ab unter diesem Bedeutungsverlust bis heute zu leiden. Trotz verschiedener und wiederholter Anstrengungen zu einer Wiederbelebung im juristischen Fächerkanon ist die Verfassungsgeschichte inzwischen aus vielen Studienplänen und Prüfungsordnungen verschwunden40). Im Gegensatz zur Rechtsgeschichte, die, anknüpfend an einschlägige Lehrstühle, weitaus häufiger als Grundlagenfach angeboten wird, finden sich Veranstaltungen zur Verfassungsgeschichte deutlich seltener in den Vorlesungsverzeichnissen. Sie gehören nirgendwo mehr zum Pflichtkanon, gelten vielmehr bei den Studenten als ,Luxus' und bei interessierten Öffentlichrechtlern als ,Kür'. Die Verfassungsgeschichte fristet ein Dasein als eines von zahlreichen Wahlfächern und tritt dazu häufig in Konkurrenz zur Rechtsgeschichte bzw. zur Allgemeinen Staatslehre41). Daß sich dies in absehbarer Zeit ändert, steht nicht zu erwarten. Immerhin aber finden sich bis heute an den juristischen Fakultäten anknüpfend an den Studienplan von 1935 Überblicksveranstaltungen zur Verfassungsgeschichte (der Neuzeit). Auch Grundrisse und Editionen zur deutschen Verfassungsgeschichte für den juristischen Gebrauch kommen nach wie vor auf den Büchermarkt42). Und im Gegensatz zu den fünfziger Jahren gibt es inzwischen wieder einige Lehrstühle unter Einbeziehung der Verfassungsgeschichte. Sie sind fast ausschließlich an den juristischen Fachbereichen an-
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39)
Dies zeigen allein die bei Böckenförde, Verfassungsgeschichtliche Fotschung (1961), behandelten Autoren, die sich selbst als Rechts- und Verfassungshistoriker sahen. 40) Eine kritische Bilanz zog: Wilhelm Henke: Republikanische Verfassungsgeschichte mit Einschluß der Antike. In: Der Staat 23 (1984), S. 75-85, hier S. 751 41 Eine exakte methodische ) Abgrenzung zwischen Rechts- und Vetfassungsgeschichte wutde bisher nicht votgenommen. Die Verfassungsgeschichte als „Teil" einer „erneuerten Staatslehre" und zur Stiftung einet „Einheit det Staatswissenschaften" proklamierte: Roland Lhotta: Det Beittag der Verfassungsgeschichte zur Einheit der Staatswissenschaften. In: ders./Oebbecke/Reh, Verfassungsgeschichte (1997), S. 163-183. 42) Eine Auswahl: Werner Frotscher/Bodo Pieroth: Verfassungsgeschichte, München 1997/42003 (= Grundrisse des Rechts); Grimm. Verfassungsgeschichte (1988); Klaus Stern: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 5: Geschichtliche Grundlagen, München 1999; Dietmar Willoweit: Deutsche Vetfassungsgeschichte. Vom Frankenreich
38
II. Vom
Begriff der Verfassung zur Teildisziplin Verfassungsgeschichte
gesiedelt und immer mit der Vertretung anderer Teilgebiete, zumeist des Öf-
fentlichen Rechts, verknüpft43). Bei der Institutionalisierung der Verfassungsgeschichte durch die Benennung von Lehrstühlen oder von Habilitationsfächern ist die Geschichtswissenschaft erheblich zurückhaltender, was mit der lange Zeit unscharfen Wahrnehmung der Verfassungsgeschichte als Spezialfach, aber auch mit der Tendenz zu wenig spezialisierter Namensgebung auf diesen Gebieten zusammenhängt. Außer dem Berliner Lehrstuhl Hintzes, den von 1923 bis 1945 Fritz Härtung innehatte, sind nur wenige Lehraufträge zur Verfassungsgeschichte und noch weniger Lehrstuhlbenennungen im Bereich der Geschichtswissenschaften zu verzeichnen44). An speziellen verfassungsgeschichtlichen Veröffentlichungen bis zur Wiedervereinigung Deutschlands. München 42001 (= Juristische Kurz-Lehrbücher); Reinhold Zippelius: Kleine deutsche Verfassungsgeschichte. Vom frühen Mittelalter bis zut Gegenwart, München 1994/41998 (= Beck'sehe Reihe). Zudem gibt es einschlägige Editionen zur neuzeitlichen Verfassungsgeschichte: Ernst Rudolf Huber (Hg.): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. 5 Bde., Stuttgart usw. 31978-1992/1997; Hans Boldt (Hg.): Reich und Länder. Texte zur deutschen Verfassungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, München 1987; Günter DüriglWalter Rudolf (Hg.): Texte zur deutschen Verfassungsgeschichte, München 31996. 43) 1954 gab es kein Ordinariat für Verfassungsgeschichte in der Bundesrepublik, 1969 deren drei an juristischen Fakultäten, 1985 insgesamt sechs, davon vier juristische und zwei historische. Die Lehrstühle an den wissenschaftlichen Hochschulen in der Bundesrepublik und in Westberlin. Eine systematische Übersicht über Anzahl, Bezeichnung und Besetzung der Lehrstühle und über die Nachwuchslage in den einzelnen Fachgebieten nach dem Stande vom Sommersemester 1954, bearb. v. Paul Otto Pleines, hg. v. Hochschul verband, Hamburg 1955/bearb. v. Hedwig Kröger, Göttingen 151969 (= Schriften des Hochschulverbandes, 9); Rudolf Vierhaus (Hg.): Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Institutionen der Forschung und Lehre, Göttingen 1985. Vgl. auch: Handbuch der Universitäten und Fachhochschulen. Deutschland, Österreich, Schweiz. Mit Registern zu den Hochschulleitern, Professoren und Sachgebieten, München 142004. -
M)
Lehrstühle u.a. mit Einschluß der Verfassungsgeschichte bestanden 1902-1949 an der Friedrich-Wilhelms- bzw. Humboldt-Universität Berlin (1902-1920 Otto Hintze, 1922/23 Willy Andreas, 1923-1949 Fritz Härtung), 1954-1972 an der Freien Universität Berlin (1954-1960 Walter Schlesinger, 1961-1972 Reinhard Elze), 1962-1966 in Hamburg (Gerhard Oestreich), 1921-1934 in Rostock (Hans Spangenberg), 1931-1945 in Zürich (Hans Nabholz), 1962-1967 in Bonn (Wolfgang Zorn) und seit 1970 an der Verwaltungshochschule in Speyer (Rudolf Morsey, Stefan Fisch). Habilitiert u.a. für Verfassungsgeschichte wurden 1910 Theodor Mayer in Wien, 1911 Hans Nabholz in Zürich, 1912 Hermann Bächtold in Basel, 1916 Hermann Aubin in Bonn, 1933 Walther Kienast in Berlin und 1948 Karl Bosl in München. Wolfgang Weber: Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800-1970, Frankfurt a.M. usw. 21987 (= Europäische Hochschulschriften, 3, 216), S. 538f„ 554; ders., Lexikon (1984), S. 8f., 17f„ 20f„ 57f„ 124, 205f., 241f„ 301f., 371f., 397f„ 403f„ 423, 517, 555f„ 689. Zur personellen Lage des Faches „Verfassungsgeschichte" siehe die überwiegend Juristen verzeichnenden Register in: Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender 2005. Bio-bibliographisches Verzeichnis deutschsprachiger Wissenschaftler der Gegenwart, 3 Bde., München 202005, hier Bd. 3, S.4245Í. (110 Rechts- und Verfassungshistoriker), S.4403 (249 Rechtshistoriker). Die beiden Registet übeischneiden sich und beziehen sich grundsätzlich auf die eigenen Angaben det erwähnten Wissenschaftler.
2. Das Teilfach
Verfassungsgeschichte
39
herrscht jedoch beiderseits kein Mangel, wie allein einige einschlägig benannte Publikationsreihen beweisen45). Als historische Teildisziplin ist die Verfassungsgeschichte an den Universitäten gut vertreten. Um die Anerkennung als eigenständige Spezialdisziplin war es in der Vergangenheit indes nicht immer so gut bestellt. Hartwig Brandt sprach 1976 von einem geradezu „desolaten Zustand"46). Ihr Überschneidungsbereich mit der innenpolitischen Geschichte galt als so groß, daß sie lange Zeit mehr in ihren Einzelbereichen, denn als zusammengehöriges Forschungsgebiet wahrgenommen wurde. Parlaments- und Parteiengeschichte, Institutionen- oder Verwaltungsgeschichte schien die Aufgabe von Spezialisten zu sein. Zwar wird der Verfassungsgeschichte im Gegensatz zur florierenden Kultur- und Geschlechtergeschichte nach wie vor keine besondere innovative Kraft beigemessen47). Bisweilen gilt sie nicht einmal mehr als eines der erwähnenswerten Felder der Geschichtswissenschaft48). Gleichwohl ist sie etabliert in Forschung und Lehre, wie zahlreiche Qualifikationsarbeiten einerseits sowie die seit den 1980er Jahren wachsende Zahl an historischen Synthesen andererseits zeigen49). Im Zuge der Theorie- und Reformbemühungen in den Geistes- und Sozialwissenschaften seit Ende der sechziger Jahre haben die auch vorher bereits diskutierten Fragen einer Abgrenzung bzw. partiellen Zusammenarbeit zwi-
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Am bekanntesten und umfangreichsten sind die „Schriften zut Vetfassungsgeschichte" (Betlin, 1961-2004,71 Bände). Daneben existieren die „Schriften zur Europäischen Rechtsund Verfassungsgeschichte" (Berlin. 1990-2004, 47 Bände), die „Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches" (Mainz, seit 1977), die „Schriften zur europäischen Sozial- und Verfassungsgeschichte" (Frankfurt a.M., seit 1984) sowie die „Studien und Quellen zut Geschichte des deutschen Verfassungsrechts" (Karlsruhe, seit 1968). 46) Brandt, Verfassungsgeschichte (1976), S. 10. 47) Joachim Eibach: Verfassungsgeschichte als Verwaltungsgeschichte. In: ders./Günthet Lottes (Hg.), Kompaß der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2002, S. 142-151, hier S. 145, stellt fest, daß die Vetfassungsgeschichte „nicht ganz zu Unrecht [...] unter dem Vetdikt [stehe], etatistisch und langweilig zu sein". Inwieweit allerdings eine .erneuerte' Verwaltungsgeschichte diesem angeblichen Mißstand begegnen kann, sei dahingestellt. 48) So u. a. bei Christoph Cornelißen (Hg.): Geschichtswissenschaften. Eine Einfühtung, Frankfurt a. M. 22000. wo sie neben 13 andeten in eigenen Beittägen behandelten Gebieten gerade einmal eine bibliographische Anmerkung wert ist. Ebd., S. 111, Anm. 9. Dies ist alletdings durch die Darlegungen von Eibach, Verfassungsgeschichte (2002), und Stolleis, Rechtsgeschichte (1998), in anderen Geschichtseinführungen nicht immer so. 49) Hans Fenske: Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Norddeutschen Bund bis heute, Berlin 1981/41993 (= Beiträge zur Zeitgeschichte, 6); Hans Boldt: Deutsche Vetfassungsgeschichte. Politische Strukturen und ihr Wandel. 2 Bde., München 1984-1990/3199421993; Hartwig Brandt: Der lange Weg in die demokratische Moderne. Deutsche Verfassungsgeschichte von 1800 bis 1945, Darmstadt 1998; Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vetgleichende Vetfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999; Hans Fenske: Der moderne Verfassungsstaat. Eine vergleichende Geschichte von det Entstehung bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn usw. 2001. Vgl. generell die Rezension Grothe, Geschichtsschreibung (2001).
45)
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II. Vom
Begtiff det Verfassung zur Teildisziplin Verfassungsgeschichte
sehen der Geschichts- und der Rechtswissenschaft wiederholt zur Debatte gestanden. Die beiden fachlichen Überschneidungszonen Rechts- und Verfassungsgeschichte standen dabei naturgemäß immer besonders im Vordergrund. Den Anfang machte der Deutsche Historikertag in Freiburg 1967, auf dem der Hamburger Verfassungs- und Sozialhistoriker Otto Brunner über das Verhältnis des Historikers zur „Geschichte von Verfassung und Recht" referierte. Brunners Vortrag wurde in der „Historischen Zeitschrift" zusammen mit zwei Diskussionsbeiträgen der Rechtshistoriker Hermann Krause und Hans Thieme veröffentlicht50). Brunner sprach die verschiedenen Bereiche der Rechtsund Verfassungsgeschichte und die unterschiedlichen Herangehensweisen der Historiker und Juristen bei der Bearbeitung der historischen Materie an. Es wurde Kritik an der „dogmatischen Denkform" der Juristen laut, aber auch der ernstgemeinte Appell zu Zusammenarbeit und Austausch war deutlich vernehmbar51). Den letzten Punkt nahmen Krause und Thieme dankbar an; Thieme sprach gar von einem „Aufeinanderangewiesensein"52). Aber beide Juristen polemisierten gegen die „liebenswürdige Milde" Brunners, indem sie die eigenständige Methode der Rechtsgeschichte vehement und mit Spitzen gegen die Historiker verteidigten. Auch die Verfassungsjuristen Ernst-Wolfgang Böckenförde und Dieter Grimm sowie die Historiker Hans Fenske und Otto Gerhard Oexle sahen sich in ihren Beiträgen zum Verhältnis von Jurisprudenz und Historie aus den siebziger bzw. achtziger Jahren mit dem spezifischen Spannungsverhältnis der beiden Wissenschaften konfrontiert53). Einerseits erkannten sie die Gefahr, daß die Fächer Rechts- und Verfassungsgeschichte bei den Juristen in eine
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Otto Brunner: Der Historiket und die Geschichte von Verfassung und Recht. In: HZ (1969), S. 1-16; Hetmann Krause: Det Historiket und sein Verhältnis zur Geschichte von Verfassung und Recht. In: ebd., S. 17-26; Hans Thieme: Der Historiker und die Geschichte von Verfassung und Recht. In: ebd., S. 27-36. 51) Brunner, Historiker (1969), S.7,16. 52) Thieme, Historiker (1969), S. 36. 53) Ernst-Wolfgang Böckenförde: Zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Rechtswissenschaft. In: Werner Conze (Hg.), Theorie der Geschichtswissenschaft und Praxis des Geschichtsunterrichts, Stuttgatt 1972, S. 38^15; Dietet Grimm: Rechtswissenschaft und Geschichte. In: ders. (Hg.), Rechtswissenschaft und Nachbatwissenschaften. Bd. 2: Geschichte, Logik, Linguistik, Informatik, Friedensforschung, Finanzen, Didaktik, München 1976, S. 9-34; Hans Fenske: Geschichtswissenschaft und Rechtswissenschaft. In: ebd., S. 35-52. Vgl. dazu weiterführend: Udo Wolter: Rechtswissenschaft, Geschichte und Sozialwissenschaften. Anmerkungen zu Dieter Grimm, Rechtswissenschaft und Geschichte, und Hans Fenske, Geschichtswissenschaft und Rechtswissenschaft. In: ZHF 5 (1978), S. 61-69. Weiterhin: Carl August Lückerath: Rechtsgeschichte und Geschichtswissenschaft. Eine einfühtende Skizze, Köln 1980; Otto Gerhard Oexle: Rechtsgeschichte und Geschichtswissenschaft. In: Dietet Simon (Hg.), Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages (1986), Frankfurt a. M. 1987, S. 77-107. Für eine „integrale Rechtsgeschichte", die andere Teilgebiete berücksichtigt, plädiert Reinhart Koselleck: Geschichte, Recht und Gerechtigkeit. In: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit einem Beitrag von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt a.M. 2000, S. 336-358 [zuerst 1987], hier S. 354-358. 209
2. Das Teilfach Verfassungsgeschichte
41
„Randposition" geraten könnten54), andererseits wurde eine „fächerübergreifende Zusammenarbeit" für dringend erforderlich gehalten55). Allgemein war seit den sechziger Jahren deutlich erkennbar, daß es unter Historikern und Juristen das Interesse gab, das Teilfach Verfassungsgeschichte institutionell zu fördern. Dies fand Anfang der sechziger Jahre seinen signifikanten Ausdruck. 1962 initiierten die beiden Juristen Ernst-Wolfgang Bökkenförde und Roman Schnur die Gründung der Zeitschrift „Der Staat", die den Untertitel „Zeitschrift für Staatslehre, Öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte" trug56). Auf dem Braunschweiger Historikertag von 1974 wurde eine eigene Sektion zur Verfassungsgeschichte abgehalten, die den „Problemen des Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert" gewidmet war57). Ohne Umschweife sprach
der Sektionsleiter, der Berliner Historiker Richard Dietrich, die Probleme der beteiligten Fächer an, indem er bemerkte, es handele sich um einen „Versuch [...], zunächst einmal wenigstens Historiker und Juristen wieder an einen Tisch zu bringen". Dietrichs „Wunsch nach einer [...] Institutionalisierung der Zusammenarbeit" ging nur wenig später in Erfüllung58). 1977 erfolgte die Gründung der „Vereinigung für Verfassungsgeschichte", in deren Rahmen sich Historiker, Juristen und Archivare alle zwei Jahre treffen59). Mit dieser teilfachspezifischen Organisation schufen die Verfassungshistoriker fachübergreifend die Voraussetzungen nicht nur für eine weitergehende Institutionalisierung, sondern auch für eine Internationalisierung. Auf
54) Grimm, Rechtswissenschaft (1976), S. 9. 55) Fenske, Geschichtswissenschaft (1976), S. 47. Et empfahl den Fächern, die „breite Berührungsflächen" aufwiesen, u.a. interdisziplinäre Proseminare, für Historiker geschriebene Einführungen in die Jurisprudenz und umgekehrt Einführungen in die Zeitgeschichte füt Juristen. Ebd., S. 39, 47-49. Oexle, Rechtsgeschichte (1987), S. 92-95, sprach von der
sinnvollen „Kooperation" der beiden Fächer. Nach Peter Landau hätten die „juristischen Rechtshistoriker [...] dafür zu sorgen, daß die spezifisch rechtshistorische Forschung innerhalb der historischen Forschung Berücksichtigung erfährt". Peter Landau: Bemerkungen zur Methode der Rechtsgeschichte. In: ZNR 2 (1980), S. 117-131, hier S. 120. Eine Außenseiterposition reklamierte hingegen die Verfassungsgeschichte als spezifisch rechtswissenschaftliches Terrain: F.[riedrich] A.[ugust] Frhr. von der Heydte: Verfassungsgeschichte. Ihre Aufgaben und Grenzen im Rahmen der Rechtswissenschaft. In: Ernst von Caemmerer u.a. (Hg.), Xenion. FS für Panagiotes J. Zepos, Bd. 1, Athen 1973, S. 143-150, bes. S. 143. 56) Dazu Näheres in Kap. VI.2.d). 57) Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hg.): Probleme des Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert, Berlin 1975 (= Der Staat, Beih. 1). 58) Richard Dietrich: Über Probleme verfassungsgeschichtlicher Forschung in unserer Zeit. In: ebd., S. 7-22, hier S. 8, 21. Der Vortrag war dem gerade verstorbenen Verfassungsund Verwaltungshistoriker Heinrich Heffter gewidmet. Die Referate hielten zwei Juristen, Hans Gangl und Hans Boldt, sowie zwei Historiker, Adolf M. Birke und Günther Engelbert. 59) Die Beiträge auf den Tagungen der „Vereinigung für Verfassungsgeschichte" in Hofgeismar werden in den Beiheften der Zeitschrift „Der Staat" veröffentlicht. Hier werden regelmäßig auch die Satzung sowie eine Mitgliederliste abgedruckt.
42
II. Vom
Begriff der Verfassung zur Teildisziplin Vetfassungsgeschichte
einer ihrer Tagungen wurde 1981 unter dem Titel „Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung" über die methodischen Grundlagen und die inhaltliche Ausprägung der Teildisziplin diskutiert60). Für den Bielefelder Neuzeithistoriker Reinhart Koselleck diente die „Wiederholbarkeit kraft Rechtsregeln" als verfassungshistorisches Grundprinzip. Dagegen sah der Mediävist Rolf Sprandel die Geschichte der Institutionen als Wegbereiter der Konstitutionen an61). Schließlich hat der Jurist Thomas Würtenberger zwischen einer politischen, einer Sozialverfassungs- und einer Verfassungs-
rechtsgeschichte differenziert62). Die Verfassungsgeschichte, so läßt sich vor einem Rückblick in die Disziplingeschichte sagen, ist zwar ein in sich gefestigtes, aber gleichwohl nicht ungefährdetes historisches und juristisches Teilfach. Nach einem Aufschwung in den achtziger und neunziger Jahren werden nun die verschiedenen Appelle im Hinblick auf eine methodische Erweiterung des Fachs allmählich in die Tat umgesetzt. Komparative Verfahren, eine europäische Dimension sowie methodische Erweiterungen zur Kulturgeschichte haben vor allem in der historischen Verfassungsgeschichtsschreibung Fuß gefaßt und zeigen den künftigen Forschungstrend an63). Koselleck, Begriffsgeschichtliche Probleme (1983). 60) 61 Rolf ) Sprandel: Perspektiven der Verfassungsgeschichtsschreibung
aus der Sicht des Mittelalters. In: Gegenstand und Begriffe (1983), S. 105-123. 62) Thomas Würtenberger: Ansätze und Zielsetzungen einet Verfassungsgeschichte des Grundgesetzes. In: Joachim Burmeister (Hg.), Verfassungsstaatlichkeit. FS für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, München 1997, S. 127-139, hier S. 128, wobei er die Verwendung eines politik- oder sozialwissenschaftlichen Verfassungsbegriffs für eine Verfassungsgeschichte des Grundgesetzes ablehnt und einen (begrifflich unscharfen) „modernen Verfassungsbegriff" anwenden möchte (ebd., S. 1291). Er gelangt, ebd., S. 129, zu det Definition: „Verfassungsgeschichte [...] beschreibt Genese, Wandel und Revolutionierung der verfassungsrechtlichen Ordnung, fragt nach deren sozialen, ökonomischen und sozialpsychologischen Rahmenbedingungen und thematisiett die oft spannungsgeladene Wechselwirkung von politischer Theorie und Staatspraxis." Vgl. auch Petet Haberle: Det Vetfassungsstaat in entwicklungsgeschichtlichet Perspektive. In: Joachim Burmeister (Hg.), Verfassungsstaatlichkeit. FS füt Klaus Stern zum 65. Geburtstag, München 1997, S. 143-166. 63) Vgl. Michael Stolleis: Concepts, models and tiaditions of a compatative European constitutional history. In: Themis 4 (2003), S. 155-163; Eibach, Verfassungsgeschichte (2002), S. 1501; Milos Vec: Vergleichende Verfassungsgeschichte. Historiographische Perspektiven. In: RJ 20 (2001), S. 90-110; Grothe, Geschichtsschreibung (2001), S. 791, 941 Konzeptualisierungen bieten: Dietmat Willoweit: Probleme und Aufgaben einer europäischen Verfassungsgeschichte. In: Reiner Schulze (Hg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, Berlin 1991 (= Schriften zut Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, 3), S. 141-151; Dietmat Willoweit: Kapitel
Europäischen Verfassungsgeschichte. In: LhottalOebbeckelReh, Verfassungsgeschich(1997), S. 185-191; Otto Busch: Gesellschaftlicher und politischer Ordnungswandel in europäischen Ländern im Zeitaltet des Konstitutionalismus. Ansatz und Appell zu einer vergleichenden europäischen Geschichtsbetrachtung. In: ders.lArXhur Schlegelmilch (Hg.): Wege europäischen Ordnungswandels. Gesellschaft, Politik und Verfassung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Hamburg 1995, S. 1-20. Ein Appell: Ernst Pitz: Leistungen
einer te
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3. Die Tradition der Verfassungsgeschichtsschreibung
a) Verfassungsgeschichte als Reichshistorie im 17. und 18. Jahrhundert Die Anfänge der deutschen Verfassungsgeschichtsschreibung liegen in der Frühen Neuzeit64). Seit dem 17. Jahrhundert bezeichnete man die Historiographie über den politischen und rechtlichen Zustand, über die Verfassung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation als „Reichs-Historie"65). Diese Reichshistorie als Zweig des öffentlichen Rechts ist, inhaltlich gesehen, der Vorläufer der späteren und heutigen Verfassungsgeschichte, sie ist Verfassungsgeschichtsschreibung avant la lettre. Mit der Reichshistorie beschäftigten sich nicht die zur Artistenfakultät gehörenden damaligen Historiker. Ihr Gebiet war die konfessionelle, teils universale, zumeist biographisch ausgerichtete „barocke Kaiser- und Kriegsgeschichte, die hagiographische Fürsten- und Hofhistorie"66). Die sich davon bewußt absetzende Reichshistorie betrieben vielmehr jene Juristen, die sich mit dem seit etwa 1600 als separater Zweig entstehenden öffentlichen Recht, dem lus publicum, auseinandersetzten. Für sie fungierte die Geschichte als Hilfswissenschaft67). Es ist bemerkenswert, daß die Wahrnehmung einer besonderen Rechtsdisziplin, des öffentlichen Rechts, eine Tendenz in Gang setzte, dieses Reichsrecht auch historisch zu betrachten. Grund dafür war die Tat-
Aufgaben der vergleichenden Verfassungsgeschichte. In: Michael Borgolte (Hg.), Mittelalterforschung nach der Wende 1989, München 1995 (= HZ, Beih. 20), S. 143-175, bes. S. 143-150, 170-175 (generelle Überlegungen neben einer Bilanz der DDR-Forschung). Eine persönliche Betrachtung zum Teilfach Verfassungsgeschichte in der DDR: Karlheinz Blaschke: Einleitung: Verfassung und Verwaltung als Grundformen gesellschaftlicher Ordnung. In: ders., Beiträge zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte Sachsens. Ausgewählte Aufsätze, hg. v. Uwe SchirmeriAndré Thieme, Leipzig 2002 (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde, 5), S. 17-26. Individuelle Eindrücke spiegelt: Benito Alaez Corral: Die Verfassung: auf einem Mittelweg zwischen Geund
schichte und Rechtswissenschaft. Intetview mit E.-W. Böckenförde. In: Historia Constitucional 5 (2004) [URL: http://hc.rediris.es/05/articulos/html/14-2.htm] (26.1.2005). M) Härtung, Verfassungsgeschichtsschreibung (1956); Boldt, Verfassungsgeschichte Historie (1984), S. 126-131. Dagegen sieht den Beginn im frühen 19. Jahrhundert: Willoweit, Verfassungsgeschichte (1989), Sp. 648f. 65) Dazu speziell: Notker Hammerstein: Reichshistorie. In: Hans Erich Bödeker u. a. (Hg.), Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, Göttingen 1986 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts füt Geschichte, 81), S. 82-104. Im größeren Rahmen: Notker Hammerstein: Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhundert, Göttingen 1972, sowie Ulrich Muhlack: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991, S. 109-118. **>) Hammerstein, Reichshistorie (1986), S. 84. 67) Josef Engel: Die deutschen Universitäten und die Geschichtswissenschaft. In: HZ 189 (1959), S. 223-378, hiet S. 266-276. Gelegentlich fanden sich Lehrstühle „historiarum et juris publia". Ebd., S. 267.
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II. Vom
Begtiff det Verfassung zur Teildisziplin Verfassungsgeschichte
sache, daß die Verfassung des Alten Reiches
nur auf historischer Grundlage interpretierbar schien. Jede Darstellung des geltenden öffentlichen Rechts beruhte nämlich auf der Auslegung der als „leges fundamentales" empfundenen alten „Reichsgrundgesetze", beginnend mit der Goldenen Bulle von 1356 und endend mit der jeweils gültigen letzten Wahlkapitulation zwischen Kaiser und Reichsständen68). Methodische Maxime der reichshistorischen Forschungen
das „rückwärtsschreitende" Rekonstruieren des Reichsrechts69). Die Grenzen zwischen der Interpretation des geltenden lus publicum und der historischen Begründung verliefen fließend. Es ist daher ebenso müßig wie anachronistisch, aus heutiger Sicht zwischen eher juristischen und mehr historisch angelegten Untersuchungen zu differenzieren und sie sogar verschiedenen Fachdisziplinen zuzurechnen. Es erscheint gleichfalls problematisch, zwischen den ersten Anfängen der Rechtsgeschichte und denen der Verfassungsgeschichte dogmatisch zu unterscheiden. Die Vertreter der Reichshistorie waren sich ihrer dienenden Funktion für das Reichs-Staats-Recht bewußt; deshalb forschten sie grundsätzlich problembezogen und pragmatisch. Da aber die Rechtspraxis das Herkommen als wichtige Rechtsquelle ansah, ging auch die Reichshistorie nicht selten weit über die bloße Darstellung rechts- und verfassungsgeschichtlicher Materien hinaus70). Generell war dieser Art von Historiographie ein ausgesprochen empirisch-positivistischer Grundzug eigen, der sich bis Ende des 18. Jahrhunderts hielt. Hatten die Reichshistoriker vom Staate her, vom Regenten und der Regierung aus geschrieben, so verlagerte Justus Moser in seiner Osnabrückischen Geschichte sein Interesse und seinen Blickwinkel auf denjenigen des Volkes. Damit wandelte sich die historische Betrachtungsweise erstmals von einer Perspektive der Herrschenden zu einer der Beherrschten. Mosers Leistung war auch deshalb beachtlich, weil er als der erste nicht im akademischen Lehrbetrieb, sondern in der Staatspraxis stehende ,Verfassungshistoriker' schrieb. Eduard Fueter hat in Mosers Werk die „erste Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte [...], die diesen Namen verdient", erkannt71). Und Ernst-Wolfgang Böckenförde hat Mosers Studien als den „Ausgangspunkt verfassungsgeschichtlicher Forschung in Deutschland" bezeichnet72). Mosers Fragerichtung und seine Ergebnisse beeinflußten die gesamte Verfassungsgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. war
68) Mohnhaupt, Verfassung I (1995), S. 62-66. 69) K. Huber, Feudalität (1973), S. 38. 70) Hammerstein, Reichshistorie (1986), S. 84f. 71) Fueter, Geschichte (1911), S. 392-397, hier S. 395. Ähnlich: F.[riedrich] Frensdorff: Das Wiedererstehen des deutschen Rechts. Zum hundertjährigen Jubiläum von K.F. Eichhorns
Rechtsgeschichte. In: ZRG/GA 29 (1908), S. 1-78, hier S.54L, sowie Moriz Ritter: Studien über die Entwicklung der Geschichtswissenschaft. Vierter Artikel: Das 18. Jahrhundert. In: HZ 112 (1914), S. 29-131, hier S. 116f. 72) Böckenförde, Verfassungsgeschichtliche Forschung (1961), S. 23^11.
45
3. Die Tradition der Verfassungsgeschichtsschteibung
b) Verfassungsgeschichte als Rechtsgeschichte im 19. Jahrhundert Die Französische Revolution, der Reichsuntergang und die Napoleonische Ära bedeuteten auch für die rechts- und verfassungsgeschichtliche Tradition in Deutschland eine einschneidende Zäsur und einen markanten qualitativen Umschwung. Mit dem Ende des Alten Reiches war auch die Reichsgeschichte weitgehend verblaßt. Sie überlebte den Untergang nur kurz: als Erinnerung, als Mahnung, als Herausforderung für die Neubegründung eines geeinten deutschen Staates. Doch als 1815 auf dem Wiener Kongreß ein Staatenbund aus der Taufe gehoben wurde, war es mit den Vorstellungen einer Reichsrenaissance vorbei. Das Ende der Reichsgeschichte bedeutete darüber hinaus auch das vorläufige Ende verfassungsgeschichtlicher Betrachtungen zur deutschen Geschichte seit dem späten Mittelalter. Mit den berühmten Statuten des Kaiser Friedrichs II. zugunsten der weltlichen und kirchlichen Fürsten, spätestens aber mit dem Interregnum sei das Reich allmählich verfallen, zur Beute von machthungrigen Territorialherren geworden. Die Blütezeit des Reiches erstrecke sich von den Karolingern, über die Ottonen und Salier bis zu den Staufern, so sah es die Romantik und mit ihr die sogenannte historische Rechtsschule. Die Verfassungshistorie wurde reduziert auf die deutsche Geschichte zwischen dem 8. und dem 13. Jahrhundert. Was danach folgte, war Verfall und Verirrung, Partikularismus und Despotismus. Diese Sicht blieb im wesentlichen bis um 1900 vorherrschend. Die Verfassungsgeschichte des Vormärz war entweder Vorgeschichte, oder allenfalls wie bei Waitz oder Dahlmann noch Zeitgeschichte' im Sinne einer politischen Wissenschaft73). Die deutsche Rechts- und Verfassungsgeschichte des Früh- und Hochmittelalters hingegen erlebte in den Zeiten historischer Rückbesinnung auf die Ursprünge der deutschen Geschichte eine ausgesprochene Blüteperiode und fachliche Ausdifferenzierung74). Hinzu trat, daß die weithin fehlende Kodifizierung des geltenden Rechts, wie sie von der historischen Rechtsschule' dogmatisch gefordert wurde, einen Rückgriff auf herkömmliche Rechtsfiguren und Präzedenzfälle häufig notwendig machte. Dies führte dazu, daß die Rechtsgeschichte mehr war als nur Legitimationshilfe; sie avancierte bisweilen zur Interpretationsmaxime. Die Rechtsgeschichte galt zeitweilig als die ei-
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gentliche Rechtswissenschaft75).
73) Brandt, Verfassungsgeschichte (1976), S. 3. 74) Stolleis, Rechtsgeschichte (1998), S. 3481 Einen konzisen Übetblick über die Fachentwicklung der Rechtsgeschichte vermittelt Diethelm Klippel: Rechtsgeschichte. In: Lottes/ Eibach, Kompaß (2002), S. 126-141, hier S. 127-131. 75) Walter Wilhelm: Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert. Die Herkunft der Methode Paul Labands aus der Privattechtswissenschaft, Ftankfurt a. M. 1958 (= Frankfurter wissenschaftliche Beiträge. Rechts- und wirtschaftswiss. Reihe, 14), S. 17-69 (zut „historischen Rechtsschule"), bes. S. 19; Klippel, Rechtsgeschichte (2002), S. 127.
46
II. Vom Begriff der Verfassung zur Teildisziplin
Verfassungsgeschichte
übermächtig scheinende Tradition der ,historischen Rechtsschule' hat lange gedauert. Erst mit der Kodifikationsflut in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geriet die Rechts- und Verfassungsgeschichte als ehemaliges Die
Grundlagenfach in Deutschland zusehends ins Hintertreffen. Mit dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches im Jahr 1900 wurde die Rechtsgeschichte auf ihre ergänzende und einführende Funktion im Rechtsstudium reduziert. Als sie sich damit aus dem geltenden Recht verabschiedete, hatte das Erbe Savignys bereits eine längere Erfolgsgeschichte hinter sich. Die Rechtsgeschichte wandte sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts verstärkt den vermeintlich autonomen Strukturen des Rechts zu. Dabei blieb sie überwiegend Staatsrechtsgeschichte. Oder um den Zusammenhang zwischen den staatlich-gesellschaftlichen und den rechtlichen Strukturen der Geschichte zu betonen: die Rechtsgeschichte blieb weitgehend Verfassungsgeschichte. Deshalb entspricht es der Sicht der Zeitgenossen, für die Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts den Begriff der Verfassungsgeschichte nahezu synonym zu
verwenden76).
Die Rechts- und Verfassungshistoriker des 19. Jahrhunderts beschäftigten sich im Unterschied zu den dem Individualismus-Paradigma des Historismus verpflichteten, vorwiegend protestantisch-nationalliberal-kleindeutschen Historikern mit den innerstaatlichen und transpersonalen Strukturen. Gegenstand ihrer Untersuchungen war der gesamte innere Aufbau vorwiegend des mittelalterlichen deutschen Reiches. Sie arbeiteten mit einem äußerst weiten Verfassungsbegriff, der die mittelalterlichen Rechtsbeziehungen möglichst umfassend analysieren sollte. Eine Diskussion der Terminologie gab es im frühen 19. Jahrhundert indes kaum. Eine Ausnahme bildet ein 1818 entstandener, erst 1842 posthum veröffentlichter Beitrag von Barthold Georg Niebuhr, der zwischen weitem und engem Sinn des Wortes Verfassung unterscheidet. Der weite Begriff umfaßt „die Formen aller kleineren und immer kleineren Kreise, die im Staat enthalten sind, und nicht minder die der Gerichte und der Regierung, und die Rechte und Verhältnisse der Bürger zum Staat. [...] Der engere [Begriff] ist auf die Beschaffenheit der höchsten Gewalt über das Ganze beschränkt."77)
76)
So auch Böckenförde, Verfassungsgeschichtliche Fotschung (1961). Wie austauschbar die Bezeichnung det Teilgebiete war, zeigen Briefe Rudolf von Gneists an Karl Mittermaier, in denen Gneist mehrfach von Vorlesungen über „sociale Verfassungsgeschichte" spricht, während er, ausweislich der Angaben im Vorlesungskatalog, in Wirklichkeit über Rechtsgeschichte las. Erich J. Hahn (Hg.): Briefwechsel Karl Josef Anton Mittermaier Rudolf von Gneist, Ftankfurt a.M. 2000 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main. Sonderhefte: Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, 132), Nr. 25, S. 87-89, hier S. 88, Anm. 1, Nr. 27, S. 92-97, hier S. 93, Anm. 3. 77 B.[arthold] G.[eotg] Niebuhr: Apologie einer Aeußerung in der vorstehenden Vorrede [zu L. Freiherr von Vincke, Darstellung der innern Verwaltung Großbritanniens]. In: ders., Nachgelassene Schriften nichtphilologischen Inhalts, Hamburg 1842, S. 466-471, hier S.469.
3. Die Tradition der Verfassungsgeschichtsschreibung
47
Die für das 20. Jahrhundert charakteristische Verengung auf einen normativen Verfassungsbegriff stand in der wissenschaftlichen Praxis des Vormärz außerhalb jeder Betrachtung. Schließlich hätte er in letzter Konsequenz die historische Darstellung der Verfassungszustände vor 1776/1789 unter dem Rubrum „Verfassungsgeschichte" unmöglich gemacht. Die deutsche Rechts- und Verfassungsgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts betrieb fast ausschließlich eine Historiographie, die in Frankreich unter der Bezeichnung „histoire des institutions politiques" firmierte und auf die jeweiligen Regierungs- und Rechtssysteme in der Geschichte abhob. Daneben existierte eine eingeschränkte „histoire constitutionnelle", die das Handeln im Rahmen einer gesetzten Norm, einer Verfassung, zum Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis erhob. Diese Verfassungsgeschichtsschreibung im engeren Sinne wurde in Deutschland als Teilgebiet der Staatswissenschaften angesehen. Eine solche konstitutionelle Verfassungshistoriographie im Rahmen der Staatswissenschaften hat in den 1820er Jahren der Leipziger Staatsrechtler Karl Heinrich Ludwig Pölitz programmatisch als Aufgabe für ein Zweigfach Staatenkunde entworfen78). Diese Art der Verfassungsgeschichtsschreibung hatte ihren Ursprung nicht in der Reichshistorie, sondern im aufgeklärten Naturrecht79). Doch Pölitz' Ansatz blieb in Deutschland eine Ausnahme. Der Hauptstrang der Rechts- und Verfassungsgeschichtsschreibung stand in der reichischen Tradition. 1844 publizierte der Kieler Historiker Georg Waitz den ersten Band seiner „Deutschen Verfassungsgeschichte"80). Er setzte sich polemisch gegen das überkommene Bild der mittelalterlichen Rechtsverhältnisse ab, wie insbesondere Karl Friedrich Eichhorn es gezeichnet hatte81). Waitz hatte zunächst mit einem Jurastudium in Berlin begonnen, wechselte dann aber zu den Historikern über82). Geprägt wurde er somit von Savigny und von Ranke gleichermaßen, was sich in der Verbindung von Historie und Jurisprudenz und nachfolgend in seinen rechts- und verfassungsgeschichtlichen Forschungsinteressen niederschlug. Ein weiteres Vorbild war für ihn die „Römische Geschichte"
78)
Karl Heinrich
Ludwig Pölitz:
Die Staatswissenschaften im Lichte
Staatenkunde, und positives Staatsrecht, Leipzig 21828.
unserer
Zeit. Tl. 4:
79)
So einleuchtend zuletzt Reinhard Blänkner: Der Vorrang der Verfassung. Formierung, und Wissensformen und Transformation des Konstitutionalismus in Deutschland im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert. In: ders./Bernhard Jussen (Hg.), Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens, Göttingen 1998 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts tut Geschichte, 138), S. 295-325, hier S. 320f.
Legitimations-
80) Waitz, Verfassungsgeschichte (1844-1877). 81) Böckenförde, Verfassungsgeschichtliche Forschung (1961), S. 102. 82) Eine neuere wissenschaftliche Monographie über Person und Werk von Georg Waitz
fehlt. Füt die nachfolgenden Zusammenhänge grundlegend: Böckenförde, Verfassungsgeschichtliche Forschung (1961), S. 99-134; Simon, Historiographie (1996), S. 144f.; Jürgen Weitzel: Georg Waitz (1813-86), Deutsche Verfassungsgeschichte. In: Volker Reinhardt (Hg.), Hauptwerke der Geschichtsschreibung, Stuttgart 1997 (= Kröners Taschenausgabe, 435), S. 707-710.
48
II. Vom
Begriff der Verfassung zur Teildisziplin Verfassungsgeschichte
Niebuhr, die ihn mit ihrem rechts- und institutionengeschichtlichen Zugriff für die Verfassungsgeschichte begeistert habe83). Waitz' „Deutsche
von
dokumentiert diese Schwerpunktsetzung höchst eindrucksvoll. Mit acht Bänden von in der letzten Auflage knapp 5 000 Seiten, die ihn gut fünf Jahrzehnte beschäftigten, wurde sie sein Lebenswerk. Waitz' „Verfassungsgeschichte" reichte bis ins 12. Jahrhundert. Sie blieb, etliche Male verändert, ergänzt und aktualisiert, dennoch ein Torso. Daß der Arbeitsbereich der Verfassungsgeschichte indes für Waitz einen außerordentlich hohen Rang besaß, zeigen seine ausgedehnte Rezensionstätigkeit auf diesem Gebiet84) sowie die bisher übersehene Tatsache, daß er eine Vorlesung über „allgemeine Verfassungsgeschichte seit dem Anfang des Mittelalters bis zur
Verfassungsgeschichte"
Gegenwart" gehalten hat85). Die Wirkung der Waitzschen „Verfassungsgeschichte" reichte bis in die siebziger und achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts86). Vor allem bei den Historikern fand die aus entwicklungsgeschichtlicher Perspektive geschriebene und quellenmäßig reich fundierte Darstellung der mittelalterlichen Verfassungszustände dankbare Aufnahme. Auf historischer Seite mangelte es generell an zusammenfassenden verfassungshistorischen Überblicken, wie sie die einschlägigen Grundrisse der Rechtshistoriker boten. Die Forschung in der Jahrhundertmitte diversifizierte sich unter dem gemeinsamen Namen der Verfassungsgeschichte in Einzeluntersuchungen zu Ständen, Städten und Landschaften. Sie war national-organisch orientiert und rechtsgeschichtlich ausgerichtet. In der von Juristen betriebenen Rechtsgeschichte dagegen bröckelte Waitz' Anerkennung bereits seit den 1850er Jahren. Dennoch behaupteten sich Waitz' acht Bände bis zum Erscheinen von Heinrich Brunners „Deutscher Rechtsgeschichte" in den Jahren 1887 bis 1892 als meistgelesene Gesamtdarstellung der mittelalterlichen Verfassungsgeschichte87). Mit Heinrich Brunner endete die Phase einer weitgehenden Kongruenz von Verfassungs- und Rechtsgeschichte. Denn in seinen Forschungen war die Abkehr von einer Verknüpfung allgemein politischer und verfassungshistorischer Entwicklungen mit spezieller rechts- und institutionengeschichtlicher Betrachtungsweise endgültig vollzogen. Die Rechtsgeschichte wurde „juridifiziert" und zugleich
83) Georg Waitz: Deutsche Kaiser von Karl dem Großen bis Maximilian, Berlin o. J. [1862], S.VIII. Einfluß habe auch die französische Verfassungsgeschichtsschreibung gehabt. Ebd., S. XV. So u.a. ders.: Zur deutschen Verfassungsgeschichte. In: ders., Abhandlungen zur deutschen Verfassungs- und Rechtsgeschichte, hg. v. Katl Zeumer, Göttingen 1896 (= Gesammelte Abhandlungen, 1) [Ndr. Aalen 1966], S. 25-122. 85) Waitz, Kaiser (1862), S. XXIII. Diese Veranstaltung sei ihm „vor andern lieb geworden". 86) Dies zeigen auch die seit 1878 erscheinenden „Jahresberichte der Geschichtswissenschaft". Waitz' Wetk bildete nach juristischer Terminologie „die herrschende Lehre". H.[einrich] Boos: Verfassungsgeschichte. In: Jahresberichte der Geschichtswissenschaft f (1878), S. 177-204, hier S. 177. 87) So Graus, Verfassungsgeschichte (1986), S. 549-551. Heinrich Brunner: Deutsche Rechtsgeschichte, 2 Bde.. München/Leipzig 1887/1892.
84)
-
-
3. Die Tradition der Verfassungsgeschichtsschreibung
49
entpolitisiert88). Für Brunner galt: „was dogmatisch nicht erfaßbar ist, bleibt für die Rechtsgeschichte toter Stoff"89). Es begann der lange Abschied der
Rechtsgeschichte von der Staatsgeschichte. Die juristische Systematik siegte über die historische Methodologie. Gleichzeitig mit Loslösung der Rechtsgeschichte von der Verfassungsgeschichte begann die allmähliche „Eroberung" des öffentlichen Rechts durch den Positivismus, der mit der weitgehenden Dominanz der sogenannten Laband-Richtung nach der Reichsgründung seine Blüteperiode erreichte. Auf eine geschichtliche Begründung des positiven Rechts wurde von Paul Laband und seinen Anhängern radikal verzichtet. Es handelte sich um eine „von ethischen, politischen, historischen und sonstigen Beimengungen ,gereinigte' wissenschaftliche Jurisprudenz"90). Staatstheorie und Verfassungsgeschichte lehrte der Straßburger Ordinarius nur im Beiprogramm91). Nicht zufällig stellte die von Ludwig Karl Aegidi 1867 begründete „Zeitschrift für Deutsches Staatsrecht und Deutsche Verfassungsgeschichte" bereits mit dem ersten Jahrgang ihr Erscheinen ein92). Die Rechtsgeschichte wurde im Kaiserreich juristischer und zugleich spezialistischer; sie konzentrierte sich auf einige Teilgebiete, widmete sich vornehmlich den rechtshistorischen Institutionen und bearbeitete nahezu ausschließlich die mittelalterliche Geschichte. Den Hintergrund bildeten dabei die Fragen nach der Kontinuität von mittelalterlicher und moderner Stadt, der Herkunft des modernen Staates vom Königtum oder den Territorien oder umfassender nach der Kontinuität des Staates und seinen Wurzeln im Mittelalter93). Daß dabei im Grunde künstliche und zudem anachronistische Begriffe zur Beschreibung eines historischen Sachverhalts benutzt wurden im
-
88)
-
Dies betont Marcel Senn: Rechtshistorisches Selbstverständnis im Wandel. Ein Beizur Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte der Rechtsgeschichte, Zürich 1982 (= Zürcher Studien zur Rechtsgeschichte, 6), S. 35f. 89) Heinrich Mitteis: Rechtsgeschichte und Gegenwart. In: ders., Die Rechtsidee in der Geschichte. Gesammelte Abhandlungen und Vorträge, Weimar 1957, S. 501-513 [zuerst 1947], hier S. 507. 9°) Stolleis, Geschichte, Bd. 2 (1992), S. 344. Zu Laband generell: ebd., S. 341-348. 91) Paul Laband: Staatsrechtliche Vorlesungen. Vorlesungen zur Geschichte des Staatsdenkens, zur Staatstheotie und Verfassungsgeschichte und zum deutschen Staatsrecht des 19. Jahrhunderts, gehalten an der Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg 1872-1918, bearb. u. hg. v. Bernd Schlüter, Berlin 2004, bes. S. 283-300. 92) Zeitschrift für Deutsches Staatsrecht und Deutsche Verfassungsgeschichte, hg. v. Ludwig Karl Aegidi, Bd. 1, Berlin 1867. Zu den Mitherausgebern gehörten die Juristen Wilhelm Eduard Albrecht, Robert von Mohl, und Heinrich Albert Zachariae sowie der Historiker Georg Waitz. Siehe vor allem Ludwig Karl Aegidi: Einleitung. In: ebd., S. 1-4. Vgl. dazu: Peter von Oertzen: Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus. Eine wissenssoziologische Studie über die Entstehung des formalistischen Positivismus in der deutschen Staatsrechtswissenschaft, hg. v. Dieter Sterzel, Frankfurt a.M. 1974, S. 154-157. 93) Die Vielfalt der fachlichen Probleme und inhaltlichen Kontroversen wird bei Böckenförde, Verfassungsgeschichtliche Forschung (1961), nur kursorisch behandelt und allein im Hinblick auf seine Leitfrage untersucht.
trag
50
II. Vom
Begriff der Verfassung zur Teildisziplin Verfassungsgeschichte
Dienste eines politischen oder zumindest wissenschaftspolitischen Vorverständnisses, ist den meisten Beteiligten wohl nur bedingt klar geworden94). Bei den entstehenden, sich verwickelnden und bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts nicht gelösten verfassungsgeschichtlichen Kontroversen waren stets Juristen und Historiker gleichermaßen beteiligt. Doch ganz allmählich gewannen die Historiker an Boden. Das war allerdings weder hauptsächlich noch allein in der Sache, d.h. in der zunehmenden Spezialisierung der historischen Fragen, begründet, sondern hatte auch konkrete wissenschaftspolitische Ursachen. Denn mit der wachsenden Kodifizierung verschiedener Rechtsgebiete, wie dem Handels-, dem Straf- und dem Bürgerlichen Recht, erschien die Rechtsgeschichte zunehmend entbehrlicher als juristische Interpretationshilfe. Die deutsche Rechtsgeschichte entwickelte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts allmählich zum propädeutischen Fach95). Der Rückzug der Rechtswissenschaft aus der Verfassungsgeschichte eröffnete der Geschichtswissenschaft mehr Möglichkeiten zur Besetzung des Wissensfeldes „Verfassungsgeschichte", das bisher hauptsächlich von Juristen bearbeitet worden war. Die Geschichtswissenschaft hatte das Gebiet bis dahin eher recht marginal behandelt. Ende der 1870er Jahre aber setzte ein „Aufschwung der deutschen Historiographie" ein, ein „Sieg der politischen Geschichtsschreibung" und zugleich der Eifer in der Erforschung der Gebiete, „die zum Staat in nächster Beziehung stehen [...], die Wirtschaft, die Verwaltung und [...] die Verfassung"96). Das verbreitete Interesse an historischen Themen über Verfassung und Verwaltung zeigte sich sowohl in der Forschung wie in der Lehre. Wolfgang Neugebauer hat von einer „verfassungsgeschichtlichen Tradition" an der Berliner Universität gesprochen, die seit dem Ende der sechziger Jahre eingesetzt habe97). Über Beamtentum, Verwaltung, Bauernbefreiung und Siedlungsgeschichte wurde gearbeitet. Die Mittelalterhistoriker Karl Wilhelm Nitzsch und Harry Bresslau boten regelmäßig Veranstal-
94) 95)
Siehe unten Kap. III.2.b). Dies wirkte sich z.B. 1897 in der preußischen und bayerischen Justizausbildung aus. Ulrich Kühn: Die Reform des Rechtsstudiums zwischen 1848 und 1933 in Bayern und Preußen, Berlin 2000 (= Schriften zur Rechtsgeschichte, 80), S. 122. %) Georg von Below: Die deutsche Geschichtsschreibung von den Befreiungskriegen bis zu unseren Tagen. Geschichtsschreibung und Geschichtsauffassung, München/Berlin 21924 (= Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte, Abt. 1) [Ndr. Aalen 1973], S. 841 Bemerkenswerterweise zitiert von Otto Gethard Oexle: Otto von Gierkes .Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft'. Ein Versuch wissenschaftsgeschichtlicher Rekapitulation. In: Notker Hammerstein (Hg.), Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1988 (= Aus den Arbeitskreisen „Methoden der Geisteswissenschaften" der Fritz Thyssen Stiftung), S. 193-217, hier S. 210. 97) Wolfgang Neugebauer: Zur Quellenlage der Hintze-Forschung. In: JbGMOD 45 (1999), S.323-338, hier S.334. Ausführlich dazu: ders.: Die Anfänge strukturgeschichtlicher Erforschung der pteußischen Historie. In: ders./Rali Pröve (Hg.), Agrarische Verfassung und politische Struktur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte Preußens 1700-1918, Berlin 1998 (= Innovationen, 7), S. 383^129.
3. Die Tradition det Verfassungsgeschichtsschreibung
51
zur Verfassungsgeschichte an98). Die Verfassungsgeschichte rückte zunehmend in den Blickpunkt historiographischen Interesses. Die Verfassungsgeschichtsforschung des 19. Jahrhunderts verstand sich selbst als zentrale Disziplin. Schließlich beanspruchte auch die Rechtsgeschichte seit dem öffentlichkeitswirksamen Erfolg der „historischen Rechtsschule" ein hohes Renommee. Von außen betrachtet, wirkte die Verfassungsgeschichtsschreibung allerdings inhaltlich sehr sektoral, beschäftigte sie sich doch mit Städten und Ständen, weniger mit den sogenannten „Haupt- und Staatsaktionen" als vielmehr mit den langfristigen institutionellen Entwicklungen. Verfassungsgeschichte wurde betrieben von politisierenden Historikern wie Georg Waitz oder Friedrich Christoph Dahlmann, noch mehr aber von historisierenden Juristen. Die Verfassungsgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts war, rückblickend betrachtet, ausgesprochen leitbildorientiert und vertrat politisch in Vor- und Nachmärz vorwiegend einen organischen Liberalismus. Die Verfassungsgeschichtsschreibung geriet allerdings zunehmend in eine Nischenexistenz. Der über die englischen Verfassungs- und Verwaltungsverhältnisse publizierende Rudolf von Gneist ist dafür ein markantes Beispiel. Auch die bei Otto von Gierke zu findende sozialhistorische Interpretation der deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte geriet vorübergehend in völlige Vergessenheit. An Gierkes zeitgenössisch geringer Resonanz zeigt sich, wie schwer sich die Verfassungsgeschichtsschreibung vor 1900 mit ihrer Profilierung tat. Als eigenständiges Teilgebiet zwischen Historie und Jurisprudenz hat sie sich im 19. Jahrhundert generell wenig profilieren können. Sie changierte vielmehr zwischen der mit ihr nahe verwandten Deutschen Rechtsgeschichte und einer expandierenden Politikgeschichte. Deshalb ist ein Lehrauftrag für das Teilfach ebenso zufällig entstanden wie weitgehend unbemerkt geblieben. Auch der Lehrende war ein Außenseiter: es handelte sich um den aus Livland stammenden Deutsch-Amerikaner Hermann Eduard von Holst99). Über einen pri-
tungen nun
98)
Ein zyklisch gehaltenes Kollegium zur „Allgemeinen Verfassungsgeschichte (von Israel Nordamerica)" erwähnt Karl Wilhelm Nitzsch in einem Brief an Wilhelm Maurenbrecher, 2.4.1869. Georg v. BelowIMane Schulz (Hg.): Briefe von K.W. Nitzsch an W Maurenbrecher (1861-1880). In: AKG 8 (1910), S. 305-366, hier S. 317f. Dazu auch [Ignaz] Jastrow: Nitzsch, Karl Wilhelm. In: ADB 23 (1886), S. 730-742, hier S. 741. Nitzsch hatte bei Ranke studiert und Niebuhr ausführlich rezipiert. Siehe auch Harry Bresslau: Harry Bresslau. In: Sigfrid Steinberg (Hg.), Die Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen. [Bd. 1], Leipzig 1926, S.29-83, hier S.45. Er erwähnt u.a. Vorlesungen über „deutsche Verfassungsgeschichte von den ältesten Zeiten bis 1866", „englische Verfassungsgeschichte" sowie „vergleichende Geschichte der konstitutionellen Verfassungen seit der französi-
bis
schen Revolution". 99) Zu seiner Person ausführlich: Hans-Güntet Zmarzlik: Hermann Eduatd von Holst. In: Johannes Vincke (Hg.), Freibutger Professoren des 19. und 20. Jahrhunderts, Freiburg i.Br. 1957 (= Beiträge zur Freiburger Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, 13), S. 21-76. Siehe auch die Erwähnung Hoists bei Ernst Schulin: Deutsche und amerikanische Geschichtswissenschaft. Wechselseitige Impulse im 19. und 20. Jahrhundert. In: ders., Arbeit an der Geschichte. Etappen der Historisierung auf dem Weg zur Moderne, Frankfurt a. M./New York 1997 (= Edition Pandora, 35), S. 164-191, 248-255, hier S. 172, 175.
52
II. Vom Begriff der Verfassung zur Teildisziplin
Verfassungsgeschichte
Forschungsauftrag zu den Problemen des allgemeinen Wahlamerikanischen Beispiel gelangte der zeitweilige Emigrant in das Forschungsfeld der amerikanischen Verfassungsgeschichte. 1872 wurde er an der neugegründeten Reichsuniversität Straßburg auf eine außerordentliche Professur für amerikanische Geschichte und Verfassungsgeschichte berufen, die er zwei Jahre lang bis zu seinem Wechsel nach Freiburg innehatte100). Motiv für die zu dieser Zeit ganz außergewöhnliche Bezeichnung des Lehrauftrags mit einer Spezialdisziplin war offenbar das Bestreben, der neuen Reichsuniversität im Elsaß eine besondere Attraktivität zu verleihen101). Es handelte sich um die erste Benennung eines historischen Lehrauftrags für das Teilfach Verfassungsgeschichte überhaupt in Deutschland, und für bald dreißig Jahre blieb sie ein Einzelfall102). Für die Geschichte des Teilfachs bedeutete der Vorfall jedenfalls kein Signal. Statt dessen geriet die deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung seit den späten 1870er Jahren in Bedrängnis durch das aufkommende Interesse für Kultur-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte103). Diesem Trend arbeitete jedoch der Exponent der sogenannten jüngeren historischen Schule der Nationalökonomie, Gustav Schmoller104) entgegen. So wie viele Verfassungshistoriker die doppelte Prägung von Jurisprudenz und Historie aufwiesen, repräsentierte
vat finanzierten
rechts
am
10°) Weber, Lexikon (1984), S.256. Nach Engel, Universitäten (1959), S. 349-351, lautete die Professur auf amerikanische Geschichte und amerikanisches Staatsrecht. Die Lehrstuhlbezeichnung in Freiburg hieß ganz konventionell „Mittlere und Neuere Geschichte". 101) Engel, Universitäten (1959), S.349. Die übliche Bezeichnung der Lehrstühle lautete bis Mitte des 19. Jahrhunderts füt „Geschichte". Speziellere Lehrstühle entwickelten sich für alte und mittelalterliche Geschichte in der Regel zwischen den 1850er und 1880er Jahren. Ebd., S. 341-347. 102) Holst verfaßte zwischen 1876 und 1892 eine siebenbändige Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert und wechselte mit deten Abschluß auf eine Professor nach Chicago. Hermann E. von Holst: Constitutional and Political History of the United States. 7 Bde., Chicago 1876-1892. Vgl. dazu Zmarzlik, Holst (1957), S. 44-51. 103) Zur Kultufgeschichte und ihren Anfängen: Gerhard Oestreich: Die Fachhistorie und die Anfänge det sozialgeschichtlichen Fotschung in Deutschland. In: HZ 208 (1969), S. 320-363, hiet S. 326-331. Die neuere Litetatut der derzeitigen Hausse einer modernen Kulturgeschichtsschreibung bezieht sich immer wieder auf diesen wichtigen und gtundlegenden Aufsatz, der auf einem Historikertagsvortrag von 1967 beruht. 104) Rüdiger vom Bruch: Gustav Schmollet. In: Hammerstein, Geschichtswissenschaft (1988), S. 219-238; Karl Heinrich Kaufhold: Gustav von Schmoller (1838-1917) als Historiker, Wirtschafts- und Sozialpolitiker und Nationalökonom. In: VSWG 75 (1988), S. 217-252, bes. S. 217-230; Harald Winkel: Gustav von Schmoller (1838-1917). In: Joachim Starbatty (Hg.), Klassiker des ökonomischen Denkens. Bd. 2: Von Karl Marx bis John Maynard Keynes, München 1989, S. 97-118; Werner Plumpe: Gustav von Schmollet und der Institutionalismus. Zur Bedeutung der Historischen Schule der Nationalökonomie für die moderne Wirtschaftsgeschichtsschreibung. In: GG 25 (1999), S. 252-275. Vgl. auch die ältere Arbeit von Fritz Härtung: Gustav von Schmollet und die preußische Geschichtsschreibung. In: Artut Spiethoff (Hg.), Gustav von Schmoller und die deutsche geschichtliche Volkswirtschaftslehre, Berlin 1938 (= Schmollers Jb. für Gesetzgebung, Vetwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche, 62), S. 277-302.
3. Die Tradition der Verfassungsgeschichtsschreibung
53
Schmoller den zweigleisigen Ansatz von Historie und Nationalökonomie in der von ihm aufgebauten und geführten Schulgemeinschaft. 1879 beklagte er die Vernachlässigung der preußischen „Rechts- und Verwaltungsgeschichte"105). Er kennzeichnete damit den Mangel auf einem Gebiet, auf dem er selbst seit Ende der sechziger Jahre und besonders seit seiner Berufung an die Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin 1882 intensiv tätig wurde. Schmoller blieb als Historiker streng genommen ein Dilettant, weil er keine historiographische Ausbildung genossen hatte. Das ist ihm von Zeitgenossen, allen voran von dem wegen seiner Polemik gefürchteten Verfassungshistoriker Georg von Below, permanent vorgeworfen worden106), und es hat auch seinem Nachruhm erheblich geschadet. Demgegenüber muß man festhalten, daß Schmoller ein ungeheures Arbeitspensum in der Quellensichtung und -publikation absolvierte und in der Auswahl des herangezogenen Materials vielfach neue Wege einschlug und aufzeigte. Seine Forschungsergebnisse faßte er in den „Umrissen und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungsund Wirtschaftsgeschichte" 1898 zusammen, wobei der Titel die Spannweite seiner historischen Arbeiten angemessen beschreibt, in denen er sich vorwiegend mit Stadt- und Zunftgeschichte auseinandersetzte107). Mit Schmoller etablierte sich ein eigenständiger Zweig der Verfassungsgeschichtsschreibung, der bis heute wichtig geblieben ist: die Verwaltungsgeschichte108). Gustav Schmoller war aber nicht nur als Wissenschaftler tätig, eigentlich noch wirksamer zeigte er sich als Wissenschaftsorganisator. 1887 gründete er mit den „Acta Borussica", einer vierzigbändigen Editionsreihe zur preußischen Verwaltungsgeschichte des 18. Jahrhunderts, eines der umfangreichsten und langlebigsten Forschungsvorhaben der deutschen Historiographiegeschichte109). Schmoller knüpfte über die „Acta Borussica", die „Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte" und das von ihm her-
105) Gustav Schmoller: Rez. zu [Siegfried] Isaacsohn, Geschichte des preußischen Beamtenthums, Bd. 2. In: ders.. Kleine Schriften zur Wirtschaftsgeschichte, Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, hg. v. Wolfram Fiedler/Rolf Karl, Tl. 4, Leipzig 1986 (= Opuscula Oeconomica, 1), S. 1-6 [zuerst 1879], hier S. 2. 106) Dem „halben Historiker", so Schmoller über sich selbst (zit. nach Winkel, Schmoller
[1989], S. 98), wurde von vielen Nationalökonomen vor allem seine Theoriefeindschaft angelastet. Ebd., S. 107-112. Zur langfristig problematischen Wirkung: ebd., S. 116f. 107) Gustav Schmoller: Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte besonders des Preußischen Staates im 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 1898. 108) Dies erwähnt Eibach, Verfassungsgeschichte (2002), S. 144f. 109) Dazu die materialreichen Untersuchungen von Wolfgang Neugebauer: Gustav Schmoller, Otto Hintze und die Arbeit an den Acta Borussica. In: Jb. für brandenburgische Landesgeschichte 48 (1997), S. 152-202; ders.: Zum schwierigen Verhältnis von Geschichts-, Staats- und Wirtschaftswissenschaften am Beispiel der Acta Borussica. In: Jürgen Kocka (Hg.), Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Kaiserreich, Berlin 1999 (= Interdisziplinäre Arbeitsgruppen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Forschungsberichte, 7), S. 235-275; Wolfgang Neuge-
54
II. Vom Begriff der Verfassung zur Teildisziplin
Verfassungsgeschichte
für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirthschaft im Deutschen Reich" ein wissenschaftliches Netzwerk, das um die Jahrhundertwende im geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereich seinesgleichen suchte. Schmoller wirkte als eine herausragende Verbindungsfigur zur Spitze der preußischen Ministerialverwaltung und deren Universitätsreferenten Friedrich Althoff. Über Schmollers und Althoffs Schreibtisch ging schließlich auch jene Berufungsangelegenheit, die für die Entwicklung der Verfassungsgeschichtsschreibung in Deutschland von maßgeblicher Bedeutung sein sollte: die Ernennung von Otto Hintze zum ersten ordentlichen Professor für Verfassungsgeschichte in Deutschland im Jahre 1902.
ausgegebene „Jahrbuch
bauer: Zur preußischen Geschichtswissenschaft zwischen den Weltkriegen am Beispiel det Acta Borussica. In: Jb. f. brandenburgische Landesgeschichte 50 (1999), S. 169-196; ders.: Das Ende det alten Acta Botussica. In: Rüdiger vom Bruch/Eckart Henning (Hg.), Wissenschaftsfördernde Institutionen im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Beiträge der gemeinsamen Tagung des Lehrstuhls für Wissenschaftsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und des Archivs zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft 18.-20. Februar 1999, Berlin 1999, S. 40-56; Wolfgang Neugebauer: Die „Schmoller-Connection". Acta Borussica, wissenschaftlichet Großbetrieb im Kaiserreich und das Beziehungsgeflecht Gustav Schmollers. In: Jürgen Kloosterhuis (Hg.), Archivarbeit für Preußen, Berlin 2000 (= Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Arbeitsberichte, 2), S. 261-301.
III. Die deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung im späten Kaiserreich 1. Otto Hintze und die
Erneuerung der Verfassungshistoriographie
Mit Otto Hintze beginnt eine neue Epoche der Verfassungsgeschichtsschreibung in Deutschland. Als er 1902 zum persönlichen Ordinarius an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität ernannt wurde, war Hintze keineswegs ein unbeschriebenes Blatt. Zu diesem Zeitpunkt kannte man ihn vor allem als Mitarbeiter an den „Acta Borussica" und als Kombattanten im sogenannten
Lamprecht-Streit. Unter dem Gesichtspunkt
eines persönlich wie institutionell bedeutsamen Einschnittes bietet es sich an, Hintzes Ernennung zum Ausgangspunkt der Betrachtungen zu nehmen und zu fragen, woher er kam und wohin er ging. Wie war seine akademische Karriere bis 1902 verlaufen, welche Einflüsse hatten ihn geprägt und wie hatte sich sein wissenschaftliches Werk entwickelt? In einem weiteren Schritt sollen die Grundlinien von Hintzes Oeuvre vorgestellt und seine Ergebnisse dahingehend untersucht werden, inwieweit sie gegenüber der Verfassungsgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts einen Fortschritt darstellten und ins 20. Jahrhundert fortwirkten. Obwohl Otto Hintze später mit seinem Mentor an der Berliner Universität, Gustav Schmoller, zusammenarbeitete und obwohl er dessen historiographischer Programmatik teilte, war Hintze dennoch keineswegs der wissenschaftliche Schüler Schmollers, sondern allenfalls eine Art Adoptivsohn. Hintze, Jahrgang 1861 und Sohn eines mittleren Beamten, stammte aus dem hinterpommerschen Pyritz und hatte in den 1880er Jahren zunächst in Greifswald und dann in Berlin u.a. bei Johann Gustav Droysen studiert1). Seine Promo-
') Die Grundinformationen zur Person Hintzes liefert: Wolfgang Neugebauer: Hintze, Otto. In: DBE 5 (1997), Sp. 56f. Siehe auch ders., Hintze (2001). Vorwiegend biographisch-werkgeschichtlich ausgerichtet sind die Studien von Jürgen Kocka: Otto Hintze. In: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, Göttingen 1973, S. 275-298; Dietrich Gerhard: Otto Hintze. Persönlichkeit und Werk. In: Otto ßüsc/i/Michael Erbe (Hg.), Otto Hintze und die moderne Geschichtswissenschaft. Ein Tagungsbericht, Berlin 1983 (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 38), S. 3-18; Dietrich Gerhard: Otto Hintze: His Work and His Significance in Historiography. In: CEH 3 (1970), S. 17-48; Michael Erbe: Otto Hintze (1861-1940). In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 76 (1980), S. 158-164; Schiera, Hintze (1974); Winfried Schulze: Otto Hintze und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900. In: Hammerstein, Geschichtswissenschaft (1988), S. 323-339; Fritz Härtung: Otto Hintzes Lebenswerk. In: Otto Hintze, Staat und Verfassung, hg. v. Gerhard Oestreich, Göttingen 31970 (= Gesammelte Abhandlungen, 1), S.7-33 [zuerst 1941]; Fritz Härtung: Otto Hintze. In: FBPG 52 (1941), S. 199-233. Sehr persönlich gehalten sind die Beiträge von Brigitta Oestreich: Hedwig und Otto Hintze. Eine biographische Skizze. In: GG 11 (1985), S. 397^119; dies.: Otto Hintze.
56
III. Deutsche
Verfassungsgeschichtsschreibung im späten Kaiserreich
tion absolvierte er allerdings bei Julius Weizsäcker, einem Mittelalterhistoriker und Waitz-Schüler. 1884 erfolgte seine Promotion mit dem Thema „Das Königtum Wilhelms von Holland", eine traditionell politikgeschichtliche Studie zum 13. Jahrhundert unter Auswertung gerade neu edierter urkundlicher Ouellen2). Daß Hintze anschließend sechs Semester Rechts- und Staatswissenschaften, u. a. bei Rudolf von Gneist, in einem Zweitstudium absolvierte, ging auf eine Anregung von Georg Waitz zurück3), den er in dessen letzten Lebensjahren noch persönlich kennengelernt hatte. Es war keineswegs zufällig, daß nur kurze Zeit später Gustav Schmoller auf Hintze aufmerksam wurde und ihn als Mitarbeiter für das Projekt der „Acta Borussica" anwarb. Schließlich hatte Hintze gründliche Kenntnisse der preußischen Geschichte bei Droysen erworben, sich in den Staatswissenschaften fortgebildet und zudem auch einen ersten Aufsatz über den österreichischen Staatsrat in der Frühen Neuzeit veröffentlicht4). Für Schmoller war ohne Zweifel sowohl der epochenübergreifende Ansatz des jungen Hintze, der zum 13. und 16./17. Jahrhundert gearbeitet hatte, sowie seine interdisziplinäre Ausin: Michael Erbe (Hg.), Berlinische Lebensbilder. [Bd. 4:] Geisteswissenschaftler, Berlin 1989 (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 60), S. 287-309. Zur politischen Haltung Hintzes nach wie vor hilfreich: Ernst Köhler: Bildungsbürgertum und nationale Politik. Eine Studie zum politischen Denken Otto Hintzes, Bad Homburg v. d. H./Berlin/Zürich 1970. Dagegen unbefriedigend: Manfred Ressing: Zur Methodologie und Geschichtsschreibung des preußischen Historikers Otto Hintze, Frankfurt a.M. 1996 (= Europäische Hochschulschriften 3, 714). Neugebauers Aufsätze sind aufgrund ihrer stupenden Kenntnis und peniblen Quellenerschließung grundlegend für die Hintze-Forschung und für die Geschichte der „Acta Borussica", weshalb sie nachfolgend ausführlich herangezogen werden. Vgl. grundlegend: Wolfgang Neugebauer: Otto Hintze und seine Konzeption der „Allgemeinen Verfassungsgeschichte der neueren Staaten". In: ZHF 20 (1993), S. 65-96 [erweitert in: Otto Hintze: Allgemeine Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der neueren Staaten. Fragmente. Bd. 1, hg. v. Wolfgang NeugebauerlGiuseppe di Gwtanzo/Michael Erbe, Neapel 1998, S. 35-83], der u.a. Vorlesungsmitschriften auswertet, sowie Neugebauer, Quellenlage (1999), unter Verwendung von Archivbenutzerakten. Die Schriften Hintzes finden sich bei: Otto Hintze: Gesammelte Abhandlungen, hg. v. Gerhard Oestreich, 3 Bde., Göttingen 1962-1967; Otto Hintze: Allgemeine Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der neueren Staaten. Fragmente. Bd. 1, hg. v. Giuseppe Di Costanzol Michael £>/>e/Wolfgang Neugebauer, Neapel 1998 (= Athenaeum, 17). Eine Briefausgabe: Otto HintzelHedmg Hintze: „Verzage nicht und laß nicht ab zu kämpfen..." Die Korrespondenz 1925-1940, bearb. v. Brigitta Oestreich, hg. v. Robert /ütte/Gerhard Hirschfeld, Essen 2004 (= Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte, NF 17). 2) Otto Hintze: Das Königtum Wilhelms von Holland, eingel. v. J. [ulius] Weizsäcker, Leipzig 1885 (= Historische Studien, 15). Zur internen Beurteilung der Dissertation: Härtung, Hintze (1941), S. 500f. 3) Otto Hintze: Antrittsrede in der Preußischen Akademie der Wissenschaften. In: ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, hg. v. Gerhard Oestreich, mit einer Einleitung v. Fritz Härtung, Göttingen 31970, S. 563-566 [zuerst 1914], hier S.564. Siehe dazu Neugebauer, Konzeption (1993), S.68f.; ders., Hintze (2001), S.286, mit Zitaten Hintzes von 1895 und 1926. 4) Otto Hintze: Der österreichische Staatsrat im 16. und 17. Jahrhundert. In: ZRG/GA 8 (1887), S. 137-164. -
-
1. Otto Hintze und die
Erneuerung der Verfassungshistoriographie
57
bildung reizvoll, beides Kriterien, die der Nationalökonom und Historiker als in höchstem Maße qualifizierend für sein Editionsunternehmen ansah. Hintze seinerseits verknüpfte bei seiner Arbeit an den Aktenbänden, die er im März 1887 aufnahm, gleich mehrere Forschungsgebiete und griff vieles von dem auf, was ihn während seines Studiums geprägt hatte. In den ersten Jahren widmete er sich der Geschichte der preußischen Seidenindustrie im 18. Jahrhundert und damit einem der zentralen Bereiche des Merkantilismus. 1892 erschienen dazu zwei Editionsbände und ein umfassender Darstellungsteil5). Hintze hatte sich damit zugleich einem innenpolitischen und wirtschaftsgeschichtlichen Thema zugewandt. Preußische Innenpolitik lag gegen Ende der achtziger Jahre im Trend. Mit dem Tod von Leopold von Ranke, Johann Gustav Droysen und Max Duncker Mitte der achtziger Jahre vollzog sich ein spürbarer „Generationen- und Paradigmenwechsel auf [dem] preußischen Forschungsfeld"6). Was bisher zwar angedacht, aber nur zögerlich betrieben worden war, wurde nun zur beherrschenden Strömung der preußischen Historiographie: eine ,Staats-Strukturgeschichte'. Die in diesem Bereich tätigen Historiker arbeiteten besonders institutionengeschichtlich und nahmen die Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte in den Blick. Ohne Zweifel wirkten sich auch generelle Wandlungen in der Gesellschaft der Jahrhundertwende auf die Historiographie aus. Die zunehmende Bedeutung wirtschaftlicher Kräfte für „die Anfänge der sozialgeschichtlichen Forschung in Deutschland" hat Gerhard Oestreich betont7). So zeigte sich auch außerhalb der Preußenhistoriographie bei den vermeintlich antietatistischen Historikern die Wertschätzung einer näheren „Kenntnis der Zustände" im Innern der Staaten, die nunmehr als „Grundlage des historischen Verständnisses" überhaupt angesehen wurden. Karl Lamprecht, mit seiner heftig umstrittenen sogenannten Kulturgeschichte der Außenseiter der Zunft, stellte fest: „die Entwickelung der Staatsgeschichte ist nicht der Anfang geschichtlicher Wissenschaft, sondern deren Ende". Die von ihm vertretene neue Richtung sei darauf bedacht, „das Verständniß des Staates zu vertiefen"8).
5)
Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert, hg. der Königlichen Akademie der Wissenschaften. [Abt. 2:] Die einzelnen Gebiete der Verwaltung. [Tl. 4:] Die Preußische Seidenindustrie im 18. Jahrhundert und ihre Begründung durch Friedrich den Großen, 3 Bde., bearb. v. Gustav Schmoller/Otto Hintze, Berlin 1892. Vgl. dazu Christian Simon: Staat und Geschichtswissenschaft in Deutschland und Frankreich 1871-1914. Situation und Werk von Geschichtsprofessoren an den Universitäten Berlin, München, Paris, 2 Bde., Bern usw. 1988 (= Europäische Hochschulschriften, 3, 349), hier Bd. 1,S. 31-35. 6) Neugebauer, Verhältnis (1999), S.246, 251; ders., Schmoller-Connection (2000), S.280. Alle drei Historiker starben 1886. 7) Oestreich, Fachhistorie (1969). 8) Alle Zitate bei Karl Lamprecht: Das Arbeitsgebiet geschichtlicher Forschung. In: Die Zukunft 14 (1896), Nr. 27 v. 4.4.1896, S. 25-28, hier S. 27. v.
58
III. Deutsche
Verfassungsgeschichtsschreibung im späten Kaiserreich
Johann Gustav Droysen und Max Duncker selbst hatten die Geschichte der inneren Zustände Preußens noch 1874 als „todtes Feld" bezeichnet9). Und Gustav Schmoller sprach 1879 von einer Vernachlässigung der preußischen Rechts- und Verwaltungsgeschichte10. Nun nahmen sich Historiker und Juristen der Thematik an, indem sie Beamtentum, Bauernbefreiung oder Bevölkerungsgeschichte erforschten11). Als Zentralfigur agierte Gustav Schmoller, der die Preußenforschung seit den neunziger Jahren im „Kombinats-Format" betrieb12). Im Antrag der Königlichen Akademie der Wissenschaften an das Ministerium für die „Acta Borussica" befanden Heinrich von Sybel, Schmoller und Max Lehmann, daß man die „Ursachen der Staatenbildung, ihrer Blüthe und ihres Untergangs [...] vor allem auch in den inneren Kräften und Institutionen zu suchen" und deshalb „die inneren Zustände, die Verwaltungs- und Verfassungsverhältnisse aufzuhellen" habe13). Schmoller organisierte und okkupierte zugleich die preußische Geschichte mit seinem ausgedehnten wissenschaftlichen Kommunikationsnetz. Durch seine exzellenten Kontakte, die bis zum einflußreichen Universitätsreferenten im Kultusministerium, Friedrich Althoff, reichten, sorgte der Berliner Ordinarius für eine Vergesellschaftung' der verfassungs- und verwaltungsgeschichtlichen Preußenforschung in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß. Zudem erreichte er die Marginalisierung konkurrierender Forschungsprojekte. Bis zu Schmollers Tod 1917 avancierten die außeruniversitär betriebenen und vom Innenministerium finanziell großzügig bedachten „Acta Borussica" „machtstrategisch zum heimlichen Zentrum der preußischen Forschungen"14). Der „Verein für Geschichte der Mark Brandenburg" und sein Organ, die seit 1888 erscheinenden „Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte", standen ganz im Zeichen dieser Dominanz. Otto Hintze kam die forcierte verfassungs- und verwaltungsgeschichtliche Schwerpunktsetzung in vieler Hinsicht entgegen. Von Ranke rezipierte er den historistischen Ansatz zur Erforschung individueller historischer Phänomene, von Droysen das Preußen-Interesse und dessen Anwendung auf innenpolitische Themen, von Waitz die staatswissenschaftliche, d. h. juristisch-systematische Herangehens-, allerdings nicht Darstellungsweise, und von Schmoller das Interesse für die wirtschaftlichen Faktoren in der Geschichte. Originell war die Kombination aller Einflüsse in Hintzes Person und Werk15). Hintze war
9) Zit. nach Neugebauer, Verhältnis (1999), S. 239. 10) Schmoller, Rez. zu Isaacsohn (1879), S. 2. n) Dazu im einzelnen Neugebauer, Anfänge Erforschung (1998), S. 394-412. u) Ders., Ende (1999), S.43. 13) Antrag der Akademie der Wissenschaften an das Ministerium vom 21.4.1887, druckt in: Acta
Borussica, Seidenindustrie (1892), S. V-XIV, hier S. VI.
ge-
14) Neugebauer, Schmoller-Connection (2000), S. 285. 15) Kocka, Hintze (1973), S. 275, spricht von einer „nachfolgerlosen Synthese" der Tradi-
tionen
Droysens und Rankes bei Hintze.
1. Otto Hintze und die
Erneuerung der Verfassungshistoriographie
59
somit kein Erneuerer, sondern vielmehr ein „Anverwandler"16). Auch für seine spätere Entwicklung sollte dies gelten. Nach den ersten Bänden zur preußischen Seidenindustrie weiteten sich Hintzes Interessen aus17). Mitte 1892 begann er damit, die allgemeine Verwaltungsorganisation des preußischen Staates beim Regierungsbeginn Friedrichs II. zu erforschen und für dieses Thema Material im Rahmen der Reihe „Behördenorganisation" der „Acta Borussica" zu sammeln18). Die preußische Verwaltungsgeschichte passe, so bekannte er gegenüber Schmoller, „in das Ganze meiner wissenschaftlichen Pläne und Studien am besten hinein"19). Am Ende resultierten daraus vier Aktenbände und ein Darstellungsteil, welche die Zeit zwischen 1740 und dem Beginn des Siebenjährigen Krieges 1756 behandelten und von 1901 bis 1910 erschienen20. Die Quellenauswertung zeichnete sich durch Vielfalt und Breite aus, da einerseits Provinzial- und Privatarchive benutzt und andererseits neben den regierungsamtlichen auch landständische Archivalien herangezogen wurden. Die intensive Beschäftigung mit der preußischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte seit Ende der achtziger Jahre führte dazu, daß Hintze, als er sich 1895 bei Heinrich von Treitschke und Gustav Schmoller habilitierte, bei den primär politikgeschichtlich arbeitenden Historikern als ausgesprochener „Spezialist" galt21). Dies rief selbstverständlich fachinterne Kritiker auf den Plan, und es war allein den gemeinsamen Anstrengungen Schmollers und Althoffs zu verdanken, daß Hintzes Hochschullehrerlaufbahn in Berlin konsequent gefördert wurde. 1899 ernannte die Berliner Fakultät Hintze wegen seiner Verdienste um die „vergleichende Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte" zum Extraordinarius22). Bereits in dieser Bestallungsurkunde war das weitere wissenschaftliche Betätigungsfeld des nunmehr 38jährigen vorgezeichnet. Er solle, so hieß es, „die neuere Geschichte, insbesondere die Wirtschaftsgeschichte, die Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte und die Politik in Vorlesungen und Ue-
16) Oestreich, Hintze (1989), S.303. 17) Vgl. generell: Wolfgang Neugebauer:
Die wissenschaftlichen Anfänge Otto Hintzes. (1998), S. 540-551. 18) 0.[tto] Hintze: Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert. Bd. 6,1: Einleitende Darstellung der Behördenorganisation und allgemeinen Verwaltung in Preußen beim Regierungsantritt Friedrichs II., Berlin 1901, S. (5) (Vorwort von Schmoller und Koser). 19) Neugebauer, Schmoller Arbeit (1997), Nr. 16, S. 177f. (13.6.1892), hier S. 179. 20) Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert, hg. v. der Königlichen Akademie der Wissenschaften. Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert. Bde. 6-10, bearb. v. Otto Hintze/Gusta\ Schmoller, Berlin 1901-1910. Dazu Simon, Staat, Bd. 1 (1988), S. 35-37. 21) Neugebauer, Anfänge Hintzes (1998), S.547. Die Venia legendi Hintzes lautete auf „Allgemeine Wirtschafts- und Verfassungsgeschichte". Weber, Lexikon (1984), S.241f. 22) Neugebauer, Anfänge Hintzes (1998), S. 547-549. Schmoller wirkte bei der Ernennung als Berichterstatter der Kommission, von dem der Entwurf für die Begründung stammte. In: ZRG/GA 115
Der Kontakt Hintzes
zu
Althoff bestand bereits seit 1887.
60
III. Deutsche
Verfassungsgeschichtsschreibung im späten Kaiserreich
bungen vertreten"23). Die einzelnen Fachbenennungen lassen sich ohne wei-
Schmollers, Hintzes und der Fakultät erklären. Dem Berliner Großordinarius ging es um den Ausbau seiner Position und seines Faches, speziell des historischen Ansatzes in der Volkswirtschaftslehre. Mit Hintze erhielt er einen Vertrauensmann und Mitstreiter in der Philosophischen Fakultät, mit der Wirtschaftsgeschichte verstärkte er deren ökonomische Ausrichtung. Die Festlegung auf Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte war fachlich gesehen ein Novum, denn bisher gab es keinen derartigen Lehrstuhl in Deutschland. Auch als außerordentliche Professur oder Lehrauftrag war die Bezeichnung „Verfassungsgeschichte" bis dahin nur in einem Ausnahmefall vergeben worden24). Aber der außergewöhnliche Vorgang entsprach genau den Intentionen Schmollers und den Interessen Hintzes. Die Vertretung der Politik resultierte schließlich aus dem seit dem Tod Treitschkes 1896 verwaisten Lehrgebiet. Für Hintze bedeutete sie vor allem eine Erweiterung der Lehrinhalte in thematischer und methodischer Hinsicht, die sich auch auf seine Forschungen auswirkte. War bereits diese Ernennung des Jahres 1899 auf die Initiative Schmollers zurückzuführen, so erst recht Hintzes Berufung zum persönlichen Ordinarius drei Jahre später. Die nicht ganz unkomplizierten Vorgänge des Jahres 1902 sind erst vor kurzem dargestellt und dokumentiert worden25). Deshalb genügt ein knapper Blick, der aber allein deshalb notwendig ist, weil die Ernennung Hintzes einen „wesentlichen Abschnitt bei der Institutionalisierung der Verfassungsgeschichte als eigener wissenschaftlicher Disziplin" bildet26). Die Ernennung war insofern außergewöhnlich, weil es sich nicht um die Wiederbesetzung eines Lehrstuhls handelte, sondern weil die umstrittene Nachfolgefrage dazu führte, als Ersatzlösung einen persönlichen Ordinarius zu kreieren. Die Ausgangssituation entstand durch den Tod des Lehrstuhlinhabers für Allgemeine Geschichte an der Friedrich-Wilhelms-Universität, des Mediävisten Paul Scheffer-Boichorst27). Nicht weniger als neun Kandidaten wurden als mögliche Nachfolger von den verschiedenen Interessengruppen ins Spiel gebracht. Daß dabei an eine Besetzung mit einem Historiker gedacht war, der die Verfassungsgeschichte mit abdeckte, läßt schon die Liste der Favoriten erkennen. Mit Georg von Below, Otto Hintze, Aloys Schulte, Gerhard Seeliger und Karl Zeumer wies sie gleich mehrere Bewerber mit einem entsprechenden Schwerpunkt aus28). Und selbst der vornehmlich in den Hilfswissenschaf-
teres mit den Interessen
23) 24)
Zit. nach ebd., S. 549. Die Ausnahme war Hermann Eduard von Hoists außerordentliche Professur in Straß-
burg 1872. Siehe dazu oben Kap. II.3.b). 25) Hans Cymorek: Lachmanns oder Niebuhrs Geist? Ein Gutachten GustavimSchmollers Jahr 1902. zur Wiederbesetzung der Berliner Professur für mittelalterliche Geschichte In: JbGMOD 46 (2001), S. 271-286. Zuvor bereits, allerdings mit leichten Abweichungen im Detail: Simon, Staat, Bd. 1 (1988), S. 100-103,121f. 26) Neugebauer, Anfänge Hintzes (1998), S. 549. 27) Zu Scheffer-Boichorst: Weber, Lexikon (1984), S. 505f. 28) Zu den Genannten vgl. vom BruchlMüller, Historikerlexikon (2002), S. 25,301,304, 364.
1. Otto Hintze und die Erneuerung der Verfassungshistoriographie ten forschende
tungen
zur
61
Harry Bresslau hielt in Straßburg regelmäßig Lehrveranstal-
Verfassungsgeschichte ab29).
Dabei hätte die Nachfolge für Scheffer-Boichorst, geht man vom Profil des verstorbenen Ordinarius aus, durchaus nicht so deutlich in den Bereich der Verfassungsgeschichte tendieren müssen. Auch die Forschungsgebiete der drei übrigen Kandidaten Eberhard Gothein, Joseph Hansen und Albert Hauck lassen nicht darauf schließen30, daß die Kommission einheitlich eine solche Schwerpunktsetzung favorisierte. Aber Gustav Schmoller lenkte den Blick ganz gezielt in den verfassungsgeschichtlichen Sektor. Hintzes Name wurde von Schmoller taktisch geschickt zunächst nur an dritter Stelle genannt, da dessen „Richtung [...] als wesentlich verschieden von derjenigen, auf die es uns zunächst ankommt, zu charakterisiren" sei31). Es gehe darum, so Schmoller weiter, „Geschichte in großem Stile zu treiben", womit er insbesondere eine epochenübergreifende, europäisch vergleichende und kulturgeschichtliche Arbeitsweise meinte. In seinem Gutachten betonte er, daß „die Ergebnisse seiner [Scheffer-Boichorsts, E.G.] Verfassungsgeschichte geschä[digt] dadurch" gewesen seien, „daß er von der Welt nach 1500 nichts wußte und wis[sen] wollte"32). Auch bei dem Urteil über einzelne Kandidaten flössen Schmollers Vorstellungen in die Bewertung ein: so fehlten Gerhard Seeliger angeblich „zu einer Professur der Verfassungsgeschichte gewisse Bildungselemente, das Studium der neueren Zeit, der Institutionen anderer Länder". Man solle die Professur umwidmen, sie „zu einer für Verfassungsgeschichte vom späteren Mittelalter bis in die neuere Zeit" machen und für die ältere Epoche zusätzlich Karl Zeumer oder Karl Hampe berufen33). Zu Hintze müsse er nicht viel sagen. Aber was Schmoller äußerte, war zweifellos mehr als eine zurückhaltende Empfehlung: Hintze verbinde „mit kritischer Schulung die breiteste allgemeine philosophische, juristische, rechts- und wirtschaftsgeschichtliche Bildung [...]. Er hat die englische und französische Verfassungsund Verwaltungsgeschichte ebenso studiert, wie die deutsche. Und wenn er zunächst überwiegend im 17. und 18. Jahrhundert gearbeitet hat, so scheint mir das gerade heilsam, um mit neuem Geist u. neuen Fragestellungen an die mittelalterliche Verfassungsgeschichte zu gehen. Wird H. jetzt nicht Ordinarius, so verlieren wir ihn hier in Berlin und damit eine Kraft ersten Ranges"34).
29) 30)
Siehe oben Kap. II.3.b). Vom Bruch/Müller, Historikerlexikon (2002), S. 122, 139 (Gothein, Hauck). Hansen hatte seinen Schwerpunkt in der rheinischen Geschichte des 19. Jahrhunderts. 31) Zit. nach Cymorek, Geist (2001), S. 278 (21.2.1902). 32) Zit. nach ebd., S.282 (Anfang März 1902). Die Buchstabenausfälle sind durch die Aktenheftung verursacht. 33) Zu Hampe: vom Bruch/Müller, Historikerlexikon (2002), S. 135.Hintze war neben Erich 34) Zit. nach Cymorek, Geist (2001), S. 285 (Anfang März 1902). Brandenburg, Friedrich Meinecke und Dietrich Schäfer als Nachfolger für Erich Marcks in Heidelberg im Gespräch. Cathrin Friedrich: Erich Brandenburg Historiker zwischen Wissenschaft und Politik, Leipzig 1998 (= Leipziger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik), S. 54f. -
62
III. Deutsche
Verfassungsgeschichtsschreibung im späten Kaiserreich
Die Mehrheit der Berufungskommission konnte sich allerdings für keinen Schmollers Kandidaten erwärmen. Am Ende erhielt nicht einmal ein Experte für die Verfassungsgeschichte den Lehrstuhl, sondern der Neuzeithistoriker Dietrich Schäfer, den der einflußreiche Philosoph Wilhelm Dilthey favorisiert hatte35). Immerhin führte Schmollers nachdrückliche Empfehlung zur Ernennung Hintzes zum persönlichen Ordinarius. Der Lehrauftrag mit Verfassungs-, Verwaltungs-, Wirtschaftsgeschichte und Politik war ganz auf die Person und die Interessen Hintzes zugeschnitten. Die Begründung der Fakultät, entworfen von Schmoller und dem Hilfswissenschaftler Michael
von
Tangl36), lohnt die auszugsweise Wiedergabe, weil sie dokumentiert, welcher
Stellenwert dem Teilfach in Berlin beigemessen wurde. Es hieß: Das Ordinariat sei erforderlich für die Vertretung der „Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, welche die staatlichen und rechtlichen Institutionen von der Höhe des Mittelalters bis zur Gegenwart behandelt, welche die führenden Völker Europas vergleicht und mit vollendeter rechts- und staatswissenschaftlicher Schulung mit gleichmäßiger Erfassung der äußeren und der inneren Politik die geschichtliche Entwicklung unseres Kultursystems im Ganzen und nach seinen Hauptvölkertypen begreift. Es ist eine Disciplin, welche gegenwärtig erst in Bildung begriffen ist, welche die alte deutsche, fast nur bis ins 13. Jahrhundert reichende Rechtsgeschichte ergänzen, die früheren Vorlesungen über sogenannte Politik ersetzen wird. Es ist eine Disciplin, welche an einer großen Universität wie Berlin ihren eigenen Vertreter fordert"37). Nur konsequent war demzufolge, daß Hintze fünf Jahre später, im Juli 1907, erneut auf Drängen Schmollers, ein etatmäßiges Ordinariat erhielt38), das er bis zu seinem gesundheitsbedingten Rückzug aus dem Hochschuldienst 1921 innehatte. Die institutionelle und damit finanzielle Absicherung seiner Karriere hatte Hintze selbst mit seinen Forschungen nur wenig beeinflussen können. Sie wurde von außen betrieben, von seinen Förderern Schmoller und Althoff. Hintze hatte sein Konzept einer allgemeinen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der neueren Staaten unabhängig davon bereits in den 1890er Jahren entwickelt. Grundlage seines Verständnisses des Teilfachs waren praktische Erfahrungen wie theoretische Überlegungen. Sie hatten sich in den Studien zur preußischen Geschichte des 18. Jahrhunderts ebenso herausgebildet wie in den Auseinandersetzungen mit konkurrierenden Geschichtsdeutungen
35)
Zu
Dilthey,
dessen
Bedeutung
für die Hermeneutik der Geisteswissenschaften
groß
ist, siehe ganz knapp vom Bruch/Müller, Historikerlexikon (2002), S. 73. Zu Schäfer: ebd., S.290, der die politische Geschichtsschreibung gegen die „Kulturgeschichte" Gotheins
verteidigte. 36) Zu Tangl: Weber, Lexikon (1984), S. 599f. 37) Zit. nach Neugebauer, Hintzes Anfänge (1998), S. 550. Generell zur Entwicklung von Spezialdisziplinen und der Benennung entsprechender Lehrstühle: Engel, Universitäten (1959), S. 348-351, 360-362,370-378. 38) Neugebauer, Hintzes Anfänge (1998), S.550. Hintze sah sich deshalb als „Glücksprotz" (an Meinecke, 16.12.1902). GStA Berlin, Rep. 92 NL Meinecke, Nr. 15.
1. Otto Hintze und die
im sogenannten
Erneuerung der Verfassungshistoriographie
Lamprecht-Streit.
Darüber hinaus
legte
63
Hintze sie in einer
,Großrezension' über den Nationalökonomen und Politiklehrer Wilhelm Röscher nieder39). Röscher hatte in seiner „Politik" die aristotelischen Verfassungsformen modifiziert, ergänzt und in eine generelle Stufenlehre der Staatsentwicklung eingebaut40. Grundsätzlich begrüßt Hintze es, daß es „seit langer Zeit" wieder jemand „gewagt hat, Ergebnisse geschichtlicher Forschung über Staatenbildung und Verfassungen in systematischem Zusammenhange darzustellen"41). Aber er hält das gesamte Verlaufsschema Roschers für abwegig und nutzt die Kritik zu einem Gang durch die Verfassungsgeschichte seit der Antike. Dabei entsteht ein Bild der Abfolge bestimmter Staatenbildungen, ihrer Umformung, ihres Niedergangs und Neuaufbaus, das Hintze über die Jahrzehnte hinweg im wesentlichen beibehält. Nach Hintzes Ansicht vollzieht sich ein Wandel von den antiken Stadtstaaten zum modernen Typus des nationalen Großstaats. Der geographische Raum dieses Aufstieg-Blüte-Verfall-Modells ist das Abendland, der romanisch-germanische Kulturkreis, der aber immer wieder vergleichend mit außerhalb liegenden, auch außereuropäischen Entwicklungen kontrastiert wird42). Nur im Abendland habe die Kirche eine „selbständige und zur Oberherrschaft hinstrebende Stellung" eingenommen43). Hintze unterscheidet zudem die kontinentale Staatenbildung von der englischen44). „Bei all diesen Veränderungen handelt es sich", so Hintze, „nicht um typische, regulär wiederkehrende Entwicklungsstufen der einzelnen Völker, sondern um einen großen universalen Zusammenhang, um einen weltgeschichtlichen Prozeß"45). Zwei Grundzüge werden bei der Beobachtung dieser Vorgänge sichtbar: die „Tendenz zur Schaffung universaler Reiche", eine extensive Staatenbildung, und die „Tendenz zu einer mehr individualisierenden und intensiven Staaten-
bildung". 39)
Otto Hintze: Roschers politische Entwicklungstheorie. In: ders., Soziologie (1982), S. 3-45 [zuerst 1897]. Kritische Würdigung bei Erich Rothacker: Die vergleichende Methode in den Geisteswissenschaften. In: Zs. für vergleichende Rechtswissenschaft 60 (1957), S. 13-33, hier S. 24-27. Als wegweisend und inhaltlich einander ergänzend stuft auch Simon, Staat, Bd. 1 (1988), S. 22-41, die beiden Aufsätze zu Röscher und zum LamprechtStreit von 1897 ein. 40) Wilhelm Röscher: Politik. Geschichtliche Naturlehre der Monarchie. Aristokratie und Demokratie, Stuttgart 21893. Dazu bereits [Otto] Hintze: Rez. zu Wilhelm Röscher, Politik. In: HZ 75 (1895), S. 96-99. In der ersten Rezension sind einige Grundgedanken der späteren Ausführungen bereits angedeutet. 41) Hintze, Rez. Röscher (1895), S. 96. 42) Hintzes Sicht ist als „europazentrisch" kritisiert worden. Eberhard Pikart: Europazentrische Verfassungsgeschichte. Rez. zu Otto Hintze, Staat und Verfassung. In: NPL 8 (1963), Sp. 441^445. Dagegen vor allem Neugebauer, Konzeption (1993), S.89. 43) Hintze, Roschers Entwicklungstheorie (1897), S. 24f., das Zitat S. 24.
**) Ebd.,S.38f. 45) Ebd., S. 29.
64
III. Deutsche
Verfassungsgeschichtsschreibung im späten Kaiserreich
Der historische Prozeß der Staatenbildung dient bei Hintze als die Grundkategorie, als eine Art inneres Gesetz der Verfassungsgeschichte46), die eine Art Staatenbildungsgeschichte darstellt47). Man erkennt deutlich Hintzes Absicht einer systematischen und typologischen Erfassung von historischen Prozessen. Er versucht eine „moderne Theorie der Staatenbildung" aufzustellen, die möglichst multikausal alle denkbaren Faktoren, (macht-)politische und geographische ebenso wie psychologische und ökonomisch-soziale, berücksichtigt48). Er betätigt sich als Deuter und Ordner des weltgeschichtlichen Verlaufs oder, wie Meinecke es leicht ironisch ausdrückte, als „Entwicklungsreiher"49). Hintze betonte bereits in dieser frühen Werkphase die Bedeutung dynamischer Verlaufsformen in der Geschichte gegenüber der statisch wirkenden Beschreibung von Verfassungszuständen50. Und er bewies in späteren Forschungen ein sicheres Gespür für die machtpolitische Komponente von Politik und Verfassungsgeschichte. Seine Vorlesungen über das Staatensystem erwiesen sich als „machtpolitische Ergänzung der Verfassungsgeschichte"51). Bereits im Roscher-Aufsatz des Jahres 1897 ist von den „realen Typen" von Staaten und Staatenbildungen die Rede, die man in der Geschichte finden könne52). Der um 1930 von Hintze sogenannte Realtyp begegnet hier in seiner Urfassung einige Jahre vor der begrifflichen und inhaltlichen Definition des Idealtyps durch den Staatsrechtler Georg Jellinek und den Soziologen Max Weber53). Das Bekenntnis, nicht Personen- und Ereignisgeschichte zu betreiben, Friedrich Meinecke: Erlebtes 1862-1901. In: ders., Autobiographische Schriften, hg. u. v. Eberhard Kessel, Stuttgart 1969 (= Werke, [8]), S. 1-134 [zuerst 1941], hier S. 95: Hintze habe behauptet, es gebe „Gesetze in der Geschichte". 47) ) Bemerkenswert ist die Rezeption des Begriffs „Staatenbildung" von Schmoller, die Neugebauer, Konzeption (1998), S.46, nachgewiesen hat. Bei Schmoller bezog sich die „Staatsbildung" allerdings auf einen ausschließlich innerstaatlichen Prozeß „der totalen Umbildung der Gesellschaft und ihrer Organisation". Als Beispiel diente der Merkantilismus. Gustav Schmoller: Studien über die wirthschaftliche Politik Friedrichs des Großen und Preußens überhaupt von 1680-1786. In: Jb. für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 8 (1884), S. 1-61, 345-421, 999-1091, hier S.43f. (hier allerdings „Staatsbildung"). Dagegen als „Staatenbildung" in Acta Borussica, Seidenindustrie (1892), S. VI. 48) Hintze, Rez. Röscher (1895), S. 97. 49) Meinecke, Erlebtes (1941), S. 95. 50) Zur Kategorie der Entwicklung, auch in Abgrenzung von Max Weber: Hagen Schulze: Otto Hintzes Geschichtstheorie. In: BüschlErbe, Hintze (1983), S. 125-133, hier S. 130f. 51) Härtung, Hintze (1941), S. 508f. 52) Hintze, Roschers Entwicklungstheorie (1897), S. 18. 53) Insoweit ist Winfried Schulze: Friedrich Meinecke und Otto Hintze. In: Michael Erbe (Hg.), Friedrich Meinecke heute, Berlin 1981 (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 31), S. 122-136, hier S. 130, zuzustimmen, der feststellt, daß der Begriff des „ideellen Typus" bei Hintze nicht von Max Weber gelenkt, sondern aus der Lamprecht-Kritik entwickelt worden sei. Zur wiederholt begegnenden Frage des .Erstgeburtsrechts' für den „Idealtypus" bereits: Theodor Schieder: Der Typus in der Geschichtswissenschaft. In: ders., Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit. Studien zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, München 21970, S. 172-187 [zuerst 1952], hier S. 176,
46)
eingeleitet
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sondern nach dem Konstanten, Regelhaften und Typischen in der Geschichte zu suchen, findet sich auch in der nahezu zeitgleich publizierten „Griechischen Kulturgeschichte" Jacob Burckhardts54). Der Typus-Begriff lag um die Jahrhundertwende offenbar in der Luft. Für Hintze diente die Geschichte als „Erfahrungsmaterial"55), aus dem er durch genaue Beobachtung bestimmte sich wiederholende Prozesse extrahierte, anschließend im langfristigen historischen Vergleich ordnete und durch „anschauliche Abstraktion" typologisierte56). Hintze unterschied im welthistorischen Verlauf sechs verschiedene Typen der Staatenbildung, denen er entsprechende Verfassungsformen zuwies. Beide Prozesse, „Staatenbildung und Verfassungsentwicklung", meinte Hintze 1902, stünden in einem „ursächlichen Zusammenhang"57). Sie vollzögen sich in einer stufenförmigen Abfolge. In der Roscher-Abhandlung kommen sie noch wenig systematisch und unvollständig zur Sprache58). Dem griechischen und römischen Stadtstaat entspreche eine republikanische Verfassung, dem antiken Weltreich eine despotische, dem mittelalterlichen Stammesstaat eine Gentil- bzw. Feudalverfassung, dem frühneuzeitlichen Territorialstaat eine ständische Verfassung, dem absoluten Staat eine monarchische, dem konstitutionellen Staat eine repräsentative, dem modernen Nationalstaat schließlich eine demokratische Verfassung. Diese Zuordnung von Staatenbildungstyp und Verfassungsform beruhte auf dem grundsätzlichen Zusammenhang zwischen äußerer und innerer Staatsentwicklung, den Hintze bereits hier betonte und später unzählige Male wiederholte59). Für die Abhängigkeit der Verfassungsform von der Staatsgröße führt er die Autoritäten Aristoteles und Schleiermacher an60. Bei Hintze 187, Anm. 5. Dazu auch Gerhard Oestreich: Otto Hintzes Stellung zur Politikwissenschaft Soziologie. In: Otto Hintze, Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen zur Soziologie, Politik und Theorie der Geschichte, hg. u. eingeleitet v. Gerhard Oestreich, Göttingen 31982 (= Gesammelte Abhandlungen, 2), S. 7*-67* [zuerst 1964], hier S. 56*-59*, sowie Jürgen Kocka: Otto Hintze, Max Weber und das Problem der Bürokratie. In: HZ 233 (1981), S. 65-105, hier S.96f. Methodologische Überlegungen auch bei Karl-Georg Faber: Theorie der Geschichtswissenschaft, München 21972, S. 90-100. 54) Jakob Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte, hg. v. Jakob Oeri, Bd. 1, Berlin/Stuttgart "1908 [zuerst 1898], S. 4. und
Richard van Dülmen: Soziologie und vergleichende Verfassungsgeschichte. Zu den Gesammelten Abhandlungen Otto Hintzes. In: ZBLG 31 (1968), S. 685-696, hier S. 692. 56) Hintze rezipierte damit Heinrich Maier: Das geschichtliche Erkennen. Rede zur Feier des Geburtstages Seiner Majestät des Kaisers und Königs am 27. Januar 1914 im Namen der Georg-August-Universität, Göttingen 1914, bes. S. 21-27. Vgl. Neugebauer, Konzeption (1993), S. 75f. Die Methode beschrieb Hintze später selbst: Otto Hintze: Wesen und Wandlung des modernen Staates. In: ders., Staat und Verfassung (1970), S. 470-496 [zuerst 1931], hier S. 470. 57) Otto Hintze: Staatenbildung und Verfassungsentwicklung. Eine historisch-politische Studie. In: ders., Staat und Verfassung (1970), S. 34-51 [zuerst 1902]. Das Zitat auf S. 51. 58) Ders., Roschers Entwicklungstheorie (1897), S. 22, 35. ») Ebd., S. 19, 37. Vor allem in ders., Staatenbildung (1902). w) Ders., Roschers Entwicklungstheorie (1897), S.35f.
55)
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III. Deutsche
Verfassungsgeschichtsschreibung im späten Kaiserreich
mündet diese somit bereits über Jahrhunderte tradierte Vorstellung aber in einen gesetzmäßigen historischen Parallelismus, ein konditionales Verhältnis, das sich verfassungsgeschichtlich empirisch nach- und beweisen lasse. Stets seien die äußeren Bedingungen maßstabsetzend für die inneren Zustände. So gesehen, handelt es sich bei Hintze um einen „Primat der Außenpolitik", zwar nicht in der thematisch-inhaltlichen Schwerpunktsetzung, wohl aber in der Ursachenanalyse61). Dennoch ist auch hier ein Wandel in Hintzes Auffassung zu verzeichnen. Aus dem Bedingungsverhältnis wurde später eine echte Wechselwirkung, eine begrifflich-inhaltliche Dialektik. In dieser Erkenntnis von Interdependenzen zwischen Außen- und Innenpolitik vermischten sich bei Hintze die Prägungen durch Ranke und Droysen62). Zudem betonte Hintze stets die Übergangsstadien bei der Herausbildung der verschiedenen Verfassungstypen, die somit fast nie rein und unvermischt aufträten. Hintzes Bild vom Verlauf der Verfassungsgeschichte zeichnete sich durch eine „dynamisch-funktionelle" Sichtweise aus, die sich deutlich von der bisherigen „statisch-substantiellen" Betrachtung vor allem der juristischen Verfassungshistoriker unterschied63). Für den frühen Hintze hingen äußere und innere Staatszustände vor allem von den geographischen, man könnte auch sagen geopolitischen, Bedingungen ab. Auch hier fußte Hintze auf den Thesen von Zeitgenossen. So hatte der englische Historiker John Robert Seeley seine Annahme, daß das Maß an innerer Freiheit umgekehrt proportional sei zu dem äußeren Druck, der auf dem Staat laste, am Beispiel der insularen Lage Englands entwickelt64). Hintze nahm dieses Theorem auf und baute es in seine Staatenbildungs- und Verfassungsentwicklungstheorie ein65). In der Frühen Neuzeit habe sich auf Zum Einfluß Rankes, von dem Hintze die These einer Wechselwirkung von Außenund Innenpolitik herleitet, vor allem Milton Covensky: Hintze and the Legacy of Ranke. In: Hayden V WWe/William John Bossenbrock (Hg.), The Uses of History, Detroit 1968, S. 107-126. Die Problematik des „Primats der Außenpolitik" hebt hervor: Theodor Schieder: Rez. zu Otto Hintze, Staat und Verfassung. In: Der Staat 2 (1963), S. 109-112. 62) Oestreich, Hintzes Stellung (1964), S. 47*. 63) So zugespitzt ders.: Otto Hintze. Tradition und Fortschritt. Rez. zu Felix Gilbert (Hg.), The Historical Essays of Otto Hintze. In: Gerhard Oestreich, Strukturprobleme der frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze, hg. v. Brigitta Oestreich, Berlin 1980, S. 127-141 [zuerst engl. 1978], S. 136; ähnlich bereits Härtung, Hintze (1941), S. 507. Dementsprechend kritisierte Hintze die Neigung zur Systematik und Klassifikation bei Röscher. Er spricht häufig vom „Roscherschen Schema". Hintze, Roschers Entwicklungstheorie (1897), passim. M) Die These findet sich u.a. in J.[ohn] R.[obert] Seeley: Introduction to Political Science. Two Series of Lectures, London 1896, S. 131 („the degree of liberty will be inversely proportional, to the degree of pressure"). Vgl. Hans-Christof Kraus: Geschichtsschreibung als Schule der Politik. Zum Werk von John Robert Seeley. In: Wolfgang £7z/Sönke Neitzel (Hg.), Internationale Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert. FS für Winfried Baumgart zum 65. Geburtstag, Paderborn 2003, S. 65-81, bes. S. 78 (zu Hintze). 65) Hintze, Roschers Entwicklungstheorie (1897), S. 19f. Auch in Ders.: Machtpolitik und Regierungsverfassung. In: ders., Staat und Verfassung (1970), S. 424-456 [zuerst 1913], hier S.433. Noch deutlicher wird dies 1926: Ders.: Liberalismus, Demokratie und auswärtige Politik. In: ders., Soziologie (1982), S. 200-204 [zuerst 1926], hier S. 200f.
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dem Kontinent ein absoluter Militärstaat entwickelt, während sich auf der britischen Insel das Prinzip der repräsentativen Selbstverwaltung herausbildete66). Bei der Berücksichtigung der geographischen Grundlagen der Staatenbildung stützte sich Hintze vor allem auf die Forschungen des Geographen Friedrich Ratzel67). Hintzes Methode unterscheidet sich von derjenigen Roschers nach seiner Einschätzung darin, daß er selbst nicht „logisch-systematisch", sondern „historisch-entwickelnd" vorgehe68). Zwar lobt er den Erkenntnisgewinn der systematischen „Politiklehre" Roschers, indem sie durch Klassifikation historische Vorgänge deutlicher herausstelle. Aber er vermißt dabei hauptsächlich den unverzichtbaren „Entwicklungsgedanken", der erst die Zusammenhänge wirklich nachweise und sie in ihren universalen Kontext stelle69). Hintze kritisiert an dem Nationalökonomen Röscher genau das, was er generell der juristischen Verfassungsgeschichtsschreibung vorwirft. „Der Jurist betrachtet den Staat vornehmlich unter dem Gesichtspunkt des Rechts, der Historiker unter dem der Macht oder der Kultur."70 Dagegen setzt er seine Auffassung: „Die systematische Lehre von den Staatsformen muß [...] ersetzt werden durch eine
allgemeine Verfassungsgeschichte"71). Den Inhalt einer allgemeinen Verfassungsgeschichte definierte Hintze am Ende der Roscher-Abhandlung: „In Forschung und Darstellung müßte immer der Zusammenhang mit den allgemeinen Kulturbewegungen gewahrt bleiben, die der Gegenstand der eigentlichen Historie sind; die Konzentration auf das beschränkte Objekt würde dieser Disziplin [der Verfassungsgeschichte, E.G.]
dennoch einen besonderen Charakter verleihen. Sie könnte vielleicht zweckmäßig geteilt werden in eine Geschichte der äußeren Staatenbildung und in eine eigentliche Verfassungsgeschichte. Sie würde ausmünden in eine Ansicht des allgemeinen Staatsrechts der heutigen Kulturvölker und in eine Ansicht des heutigen Staatensystems. Sie würde sich mit der politischen Geographie wie mit Staatsrecht und Völkerrecht berühren. Sie müßte vergleichend verfahren, soweit es möglich und ersprießlich ist; namentlich müßte auch die staatliche Entwicklung innerhalb des Kreises der weltgeschichtlichen Kulturvölker in Vergleich gesetzt werden mit dem, was man von der Staatenbildung in anderen Kultur- und Völkerkreisen weiß oder in Erfahrung bringen
66) Ders., Roschers Entwicklungstheorie (1897), S.38f. Siehe auch Thomas Ertman: Otto
Hintze und der preußische Staat des 18. Jahrhunderts. In: Eckhardt Hellmuth/lmmo Meenfcerc/Michael Trauth (Hg.), Zeitenwende? Preußen um 1800, Stuttgart-Bad Cannstatt 1999, S. 21-41, hier S. 28. 67) 0.[tto] Hintze: Rez. zu Friedrich Ratzel, Der Staat und sein Boden geographisch betrachtet. In: HZ 80 (1898), S. 96-98; ders.: Rez. zu Friedrich Ratzel, Politische Geographie. In: HZ 91 (1903), S. 255-260. 68) Ders., Roschers Entwicklungstheorie (1897), S.43. 69) Ebd., S. 21. 70) Ders., Rez. Ratzel (1903), S.257. 71) Ders., Roschers Entwicklungstheorie (1897), S. 44.
68
III. Deutsche
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kann"72). Ein allgemeiner Teil einer solchen „Wissenschaft der Politik", einer politikwissenschaftlichen Verfassungsgeschichte73), würde dann vor allem „die philosophische, d.h. hauptsächlich psychologische und ethische Grundlegung" einer Staatslehre enthalten, die in die Zukunft weise74).
Doch nicht allein die zeitgenössische „Politiklehre" fand in Hintze einen prononcierten Kritiker. Im selben Jahr, in dem er den Röscher-Aufsatz veröffentlichte, mischte er sich auch in eine der grundlegenden und folgenreichsten
Debatten der deutschen Geschichtswissenschaft ein, in den sogenannten Lamprecht-Streit75). Auslöser war die Forderung des Roscher-Schülers und Leipziger Lehrstuhlinhabers Karl Lamprecht nach einer „Kulturgeschichte"76). Lamprecht hatte in seiner ,,Deutsche[n] Geschichte" der bisher in der Geschichtswissenschaft im Vordergrund stehenden „Personen-" und „Staatsgeschichte" eine klare Absage erteilt, dafür aber zu einer Erforschung der Strukturen, der Prozesse, vor allem der sozialpsychologischen Urgründe und Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte aufgerufen77). Es sei an der Zeit, die Totalität sozialer, wirtschaftlicher, politischer und geistiger Zustände in der Geschichte zu erfassen. Daß er damit entscheidende Schwächen der zeitgenössischen Historie traf, steht heute außer Frage. Damals allerdings war die Gegnerschaft fast einhellig, und die Kritiken überschlugen sich in inhaltlicher und emotionaler Schärfe. Demgegenüber fiel das Urteil Otto Hintzes aus dem Rahmen. Es verdient, deshalb etwas näher erörtert zu werden, weil es neben der Auseinandersetzung mit Lamprecht wichtige Hinweise zu Hintzes eigener methodischer Position enthält.
72) Ebd.,S.44f. 73) Oestreich, Hintzes Stellung (1964), S.8*.
Diese Sicht betont
vor
allem Boldt, Verfas-
sungsgeschichte Historie (1984), S. 131-135,142-147. 74) Hintze, Roschers Entwicklungstheorie (1897). S. 45. Daß er solche Analysen in der damaligen Wissenschaft von der Politik vermisse, die „erst im Werden begriffen" sei, hatte Hintze ebd., S. 4f„ hervorgehoben. Zur Stellung Hintzes in der „Politikwissenschaft" um die Jahrhundertwende siehe Bleek. Geschichte (2001), S. 166f. 75) Es ist hier nicht der Ort, auf die oft dargestellte Kontroverse nochmals einzugehen. Allein die Rolle Hintzes gilt es zu skizzieren. Für die historiographischen Zusammenhänge nach wie vor wichtig: Oestreich, Fachhistorie (1969), S. 347-361. Zuletzt mit jeweils eigener Beleuchtung: Roger Chickering: Karl Lamprecht. A German Academic Life (1856-1915), Atlantic Highlands 1993 (= Studies in German Histories), sowie Hans Cymorek: Georg von Below und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1998 (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beih. 142), S. 191-220. Vgl. Roger Chickering: The Lamprecht Controversy. In: Hartmut Lehmann (Hg.), Historikerkontroversen, Göttingen 2000 (= Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, 10), S. 15-29. Zu seiner Person neben
76)
Chickering, Lamprecht (1993), vor allem: Luise Schorn-Schütte: Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik, Göttingen 1984 (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 22). 77) Schlüsselhaft: Karl Lamprecht: Deutsche Geschichte. Bd. 4,1: Urzeit und Mittelalter. Zeitalter des symbolischen, typischen und konventionellen Seelenlebens, Berlin 51921, S. 133f.
1. Otto Hintze und die
Erneuerung der Verfassungshistoriographie
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Hintzes Einmischung in den laufenden Methodenstreit erfolgte relativ spät, dafür aber an prominenter Stelle, in der „Historischen Zeitschrift"78). Hier hatten sich unter der wohlwollenden Zustimmung des Herausgebers Friedrich Meinecke bis dahin ausschließlich die Lamprecht-Gegner zu Wort gemeldet, namentlich Georg von Below und Max Lenz79). Den scharf ablehnenden Urteilen seiner Vorredner, die weit mehr von persönlichen und wissenschaftspolitischen Motiven getragen waren, als diese zugaben, konnte sich Hintze nicht anschließen. Hintze sah die Dinge nüchterner, gelassener, aber auch grundsätzlicher. Und gerade wenn man seine eigene Position als noch unbestallter Privatdozent vor Augen hat, wirkt seine Stellungnahme um so beachtlicher. Hintze knüpft, anders als die meisten Lamprecht-Kritiker, nicht an der „Deutschen Geschichte" des Leipziger Ordinarius an, sondern an dessen methodischen Aufsatz „Was ist Kulturgeschichte?", der in der „Deutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft" 1896/97 erschienen war80. Dieser Beitrag, so Hintze, sei „nicht das Schlechteste, was über diese Fragen geschrieben worden ist". Er enthalte „auch für die prinzipiellen Gegner des Lamprechtschen Standpunktes manches Lehrreiche", kranke aber an einer „einseitigen Durchführung eines an sich richtigen Prinzips". Die Grundfrage, die Lamprecht stelle, richte sich auf möglicherweise nachweisbare Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte, auf die Frage nach der Singularität historischer Erscheinungen. Somit kreisten seine Ausführungen um das Problem einer „individualistischen oder kollektivistischen Geschichtsauffassung". Während Lamprecht aber einseitig nur die „psychischen Kollektivkräfte" und eine „sozial-psychologische Betrachtungsweise" betone, kommt Hintze zu der Erkenntnis, daß nur die Kombination beider Methoden fruchtbringend sei. „Das geschichtliche Leben beruht im letzten Grunde überall auf mehr oder minder bewußt hervortretender individueller Lebensbetätigung; und das individuelle Leben erscheint dabei überall eingebettet in das Leben der Gemeinschaften, mehr oder weniger abhängig von den Kollektivkräften, die sie beherrschen." Es gebe demnach nicht etwa zwei verschiedene historische Methoden, nicht zwei Disziplinen der politischen und der sogenannten Kulturgeschichte, sondern nur eine einzige. Lamprechts Ansicht bedeute nicht eine „Umwälzung" der bisherigen -
-
Otto Hintze: Über individualistische und kollektivistische Geschichtsauffassung. In: ders., Staat und Verfassung (1970), S.315-322 [zuerst 1897]. Der HZ-Herausgeber und Freund Hintzes, Friedrich Meinecke, hatte ihn zur Stellungnahme aufgefordert. Auf die
7S)
Zuordnung der nachfolgenden Zitate zu einzelnen Seiten wird hier bei der Kürze der Ausführungen Hintzes verzichtet. 79) Zur Rolle des Lamprecht-Streits in der Geschichte der HZ: Theodor Schieder: Die deutsche Geschichtswissenschaft im Spiegel der Historischen Zeitschrift. In: ders. (Hg.), Hundert Jahre Historische Zeitschrift 1859-1959. Beiträge zur Geschichte der Historiographie in den deutschsprachigen Ländern, München 1959 (= HZ 189), S. 1-104, hier S. 47-50. Zu Max Lenz: vom Bruch/Müller, Historikerlexikon (2002), S. 194f. 80) Karl Lamprecht: Was ist Kulturgeschichte? Beitrag zu einer empirischen Historik. In: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 1 (1896/97), S. 75-150.
70
III. Deutsche
Verfassungsgeschichtsschreibung im späten Kaiserreich
Historie, sondern deren „Ergänzung". Hintze
stört die dichotomische Kon-
Lamprechts, er bevorzugt einen Ausgleich zwischen „alten und neuen Richtungen in der Geschichtswissenschaft"81). In Hintzes Ausführungen kommen verschiedene Denkansätze zum Tragen, die er auch im Roscher-Artikel angesprochen hatte. So betont er den Grundgedanken der historischen Entwicklung und hebt ihn sowohl in seiner genetischen Natur als singular als auch in seiner Vielfältigkeit und Multikausalität hervor. Zudem ist von natürlichen „Tendenzen" die Rede, welche „reguläre", d.h. gesetzmäßige Prozesse beeinflussen. Schließlich werden „parallele Entwicklungen [...] innerhalb der romanisch-germanischen Völkerfamilie" genannt, die auf die generellen Staatenbildungsprozesse anspielen, wie Hintze sie gegenüber Röscher hervorgehoben hatte. Einzelne Nationen „repräsentieren [...] bestimmte Entwicklungsstadien eines größeren Ganzen als den wiederkehrenden Typus einer regulären nationalen Entwicklung". „Wir wollen", so deutet Hintze in Anspielung auf Meineckes Ideengeschichte seine historiographischen Pläne an, „nicht nur die aufgesetzten Ketten und Gipfel, sondern auch den Grundstock des Gebirges, nicht nur die Höhen und Tiefen der Oberfläche, sondern die ganze kontinentale Masse kennenlernen." Ohne große Phantasie läßt sich aus dieser Aussage ein programmatisches Anliegen herleiten. Hintzes Absicht bestand darin, die politische Ideen- und Staatengeschichte durch eine moderne, wirtschaftliche und soziale Faktoren berücksichtigende Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte zu ergänzen und damit das Gebiet historischer Forschung methodisch und systematisch zu erweitern82). Hintzes Überlegungen zu einer ,integrativen' Verfassungsgeschichtsschreibung kommen auch darin zum Ausdruck, daß er in der Auseinandersetzung mit Röscher, aber auch im Lamprecht-Artikel, die Wichtigkeit der wirtschaftlichen und sozialen Prozesse und der Kategorie der Gesellschaft in der Geschichte betont, die in der bisherigen Historiographie allzusehr vernachlässigt worden seien83). Indem Lamprecht diese Faktoren berücksichtigt habe, liege in seiner „Richtung ein merklicher Fortschritt"84). Hintze knüpfte mit dem Gedanken der Integration gesellschaftlicher Kräfte in die historische Darstellung ebenso an Lorenz von Stein an wie er zugleich seine wissenschaftliche Herkunft aus der Schmoller-Schule nicht verleugnen konnte85). Dabei sah er
struktion
81) Chickering, Lamprecht (1993), S. 231. Der Aufsatz Hintzes sei ein Modell für „genero-
and conciliation". Vgl. den Titel von Karl Lamprecht: Alte und neue Richtungen in der Geschichtswissenschaft, Berlin 1896. 82) Zu Recht betont Dietrich Gerhard, daß es Hintze um eine Verfassungsgeschichte als Institutionengeschichte mit sozialem Hintergrund ging, nicht aber um eine unabhängige Sozialgeschichte, wie sie z.B. später Hans Rosenberg betrieben habe. Gerhard, Hintze (1970), S. 29 u. Anm. 11. 83) Hintze, Roschers Entwicklungstheorie (1897), S. 10. Siehe auch Schulze, Hintze (1988), S. 327,333. M) Hintze, Geschichtsauffassung (1897), S. 317. 85) Oestreich, Hintzes Stellung (1964), S. 47*.
sity
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in den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren in der Geschichte jedenfalls in der Werkphase vor 1918 stets nur sekundäre Phänomene, kollektive Kräfte, die primär Resultate staatlichen Handelns seien86). Hintzes Leitinteresse galt dem Staat, in seinen Arbeiten vor 1918 dachte er vorwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, etatistisch87). Die Verwurzelung in verschiedenen historiographischen Schulen des 19. Jahrhunderts begünstigte zweifellos die auf Ausgleich zielende Stellungnahme Hintzes im Lamprecht-Streit. Diese Versöhnungsattitüde kam bereits im Titel der Abhandlung zum Ausdruck, der „individualistische und kollektivistische Geschichtsauffassung" gleichrangig nebeneinander postierte und ohne wertende Stellungnahme kontrastierte. Doch nicht allein einen Streitausgleich strebte Hintze an, es zeigte sich vielmehr ein durchgängiges Stilelement bei der Titelwahl, das er zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehrfach anwandte. „Staatenbildung und Verfassungsentwicklung", „Staatsverfassung und Heeresverfassung", „Das monarchische Prinzip und die konstitutionelle Verfassung", „Machtpolitik und Regierungsverfassung" hießen Aufsätze Hintzes zwischen 1902 und 191388). Es war dies aber keineswegs eine stilistische Marotte, sondern vielmehr kam darin tatsächlich ein Grundanliegen zum Ausdruck. Denn stets ging es ihm bei der Kombination der Begriffspaare um die Kontrastierung vermeintlich polarer und zugleich typisierter Gegensätze, die er dann gleichsam dialektisch zusammenführte und aufeinander bezog89). Hintze verfolgte das Prinzip, charakteristische Tendenzen und Grundzüge historischer Prozesse herauszufiltern, sie „zu ideeller Reinheit zu steigern", um sie dann „durch einen konstruktiven geistigen Akt miteinander [...] zu einem lebensvollen Ganzen" zu verbinden"90. Dies blieb kennzeichnend für sein Werk von den Anfängen bis hin zu den bedeutenden Aufsätzen, die in der letzten Schaffensperiode um 1930 entstanden91). Hintze hat seine erstmals 1897 ansatzweise dargelegten wissenschaftlichen Vorhaben in der Folgezeit konsequent ausgebaut und weiterentwickelt. Dem Gebiet der Verfassungsgeschichte blieb er dabei treu, aber er erweiterte und -
86)
-
Zum begrenzten Blick Hintzes für ökonomische, soziale und kulturelle Kräfte in der Geschichte siehe auch Felix Gilbert: Otto Hintze. In: ders., History. Choice and Commitment, Cambridge, Mass./London 1977, S. 39-65 [zuerst 1975], hier S. 49, sowie Kocka, Weber (1981), S. 87. 87) Seine Methode sei „vom Staat her die historische Wirklichkeit integrierend". Kocka, Hintze (1973), S. 280. Von einem „relativen Primat des Staates" spricht Simon, Staat, Bd. 1 (1988), S.30. Zum Wandel von Hintzes Staatsverständnis nach 1918 siehe unten Kap. IV.2. 88) Die genannten Arbeiten sind allesamt wiederabgedruckt in: Hintze, Staat und Verfassung (1970), S. 34-83, 359-389,424-456. Der vom Titel dazu passende Beitrag „Staatenbildung und Kommunalverwaltung" (ebd., S. 216-241) erschien erst 1924. 89) Oestreich, Hintze (1989), S.291f. Gerhard Oestreich meint, daß es Hintze nicht um eine Synthese im Hegeischen Sinn gegangen sei, sondern um die Konstruktion einer „Ellipse mit zwei Brennpunkten". Oestreich, Hintzes Stellung (1964), S.64*. «O) Hintze, Wesen (1931), S. 470. 91) Dazu unten Kap. IV.2.
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differenzierte sein Bild. Dies geschah in Vorträgen, aber nicht zuletzt auch in seinen universitären Veranstaltungen. Seit 1901 bot er regelmäßig Vorlesungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte der neueren Staaten an. Um 1905 faßte er den Plan für eine Darstellung zu diesem Thema. Erschienen ist das „Hauptwerk" allerdings nie. Bis zu seinem Tod hat er wohl daran gearbeitet, größere Teile gingen verloren, Fragmente aus dem Nachlaß werden inzwischen publiziert92). Seit 1908 las Hintze zur preußischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte93). Die preußische Geschichte blieb bis 1918 sein vorrangiges wissenschaftliches Betätigungsfeld. Dies zeigt sich in seiner Mitarbeit an den „Acta Borussica", an der Redaktion der „Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte" und an der Mitarbeit im Vorstand des brandenburgischen Geschichtsvereins94). Preußen diente ihm, wie Theodor Schieder es ausgedrückt hat, als „Erprobungsfall wachsender historischer Ein-
sichten"95).
1914 wurde Hintze zum Mitglied in der Königlichen Akademie der Wissenschaften berufen. Seine Antrittsrede nutzte er, um sein Verhältnis zu Preußen genauer zu definieren. Äußerer Anlaß und die Anforderungen in und außerhalb der Universität verbänden ihn mit der preußischen Geschichte, die er indes „nicht als mein eigentliches wissenschaftliches Fach" ansehe, gab er dem erstaunten Publikum zur Kenntnis. Und er führt dies weiter aus: „Die preußische Geschichte wurde mir zum Paradigma für die Ausgestaltungen und Abwandlungen des Lebens eines modernen Staates überhaupt." Preußen diente Hintze als Vehikel, denn „das eigentliche Ziel, das mir bei meinen wissenschaftlichen Bemühungen vorschwebte, war von Anfang an eine allgemeine vergleichende Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der neueren Staatenwelt, namentlich der romanischen und germanischen Völker". Darin sei Ranke „am meisten der Ergänzung fähig und bedürftig"96). Preußenhistorie war für Hintze also hauptsächlich das Medium zum Erreichen weitergehender
92) Ders., Allgemeine Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte (1998). Vgl. zu den Plänen die
Ausführungen Neugebauers, Konzeption (1998), S. 47-50. Die Darstellung Hintzes war ursprünglich gedacht als Teil von Paul Hinnebergs Reihenwerk „Die Kultur der Gegenwart". Siehe auch unten Kap. III.2.a). 93) Günter Vogler: Otto Hintze (1861 bis 1940). In: Berliner Historiker. Die neuere deutsche Geschichte in Forschung und Lehre an der Berliner Universität, Berlin [Ost] 1985 (= Beiträge zur Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin, 13), S. 34-52, hier S. 39. 94) Die Redaktion der „Forschungen" oblag Hintze zwischen 1898 und 1913, im Vorstand
wirkte er von 1899 bis 1922, die „Acta Borussica" betreute er verantwortlich zwischen 1917 und 1938. Vgl. Gerd Heinrich: Otto Hintze und sein Beitrag zur institutionalisierten Preußenforschung. In: BüschlErbe, Hintze (1983), S. 43-59; Peter Baumgart: Zur Stellung Otto Hintzes in der Preußenforschung. In: ebd., S. 60-77. 95) Theodor Schieder: Otto Hintze und die moderne Geschichtswissenschaft. In: HZ 239 (1984), S. 615-620, hier S. 616. 96) Hintze, Antrittsrede (1914), S. 564.
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73
preußische Geschichte", formulierte er einmal an etwas entlegeStelle, „sollte [...] zugleich ein Kursus politischer Propädeutik sein"97). Dennoch gab Hintze allen Anhängern der preußischen Geschichte keinen
Ziele. „Die ner
Anlaß zu ernsthaften Bedenken über seine Sympathie für den Gegenstand. Seine „kritische und zugleich liebende Distanz zu Preußen"98) hat er auch durch seinen „preußischen Habitus"99) vielfältig zum Ausdruck gebracht. Am eindrucksvollsten gelang ihm dies ohne Zweifel in dem zum fünfhundertsten Regierungsantritt der Hohenzollern in der Mark Brandenburg 1915 publizierten Jubiläumsbuch100. Der gut siebenhundert Seiten starke Band erlebte in den ersten beiden Jahren neun Auflagen101). Obwohl Hintze nicht auf nationalistische Züge, Apologetik und Einseitigkeit verzichtete102), zählt das Werk dennoch bis heute zu den bedeutendsten Leistungen der Preußen-Historiographie103). Es ist als Festgabe populär geschrieben und weitgehend faktenorientiert. Gleichwohl sind Hintzes verfassungsgeschichtliche Vorlieben deutlich sichtbar. So hat er zwischen vielen biographisch-politikgeschichtlichen Kapiteln immer wieder Abschnitte zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte eingeschoben. Die Bewunderung für den dynamischen Staatenbildungsprozeß Brandenburg-Preußens zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert ist unverkennbar. In Hintzes Hohenzollern-Darstellung verbindet sich engagierte politische Geschichtsschreibung mit verfassungsgeschichtlich vorgeprägter
Thesenführung. 97)
Ders.: Rez. zu Hans Prutz, Preußische Geschichte. In: FBPG 13 (1900), S. 276-280, hier S. 280. 98) Theodor Schieder: Rez. zu Otto Hintze, Regierung und Verwaltung. In: Der Staat 8 (1969), S. 538-540, hier S. 539. 99) So ein Wort des Berliner Germanisten Erich Schmidt, zit. nach [Gustav] Roethe: Erwiderung des Sekretars [auf die] Antrittsrede des Hrn. Hintze. In: Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Jg. 1914, 2. Halbbd., Berlin 1914, S. 748f„ hier S. 748. Ebd., S. 749, auch das Urteil, daß „Preußen der Staat ist, in und an dem Sie [Hintze, E.G.] das Wesen des Staates menschlich und wissenschaftlich kennen gelernt haben". 10°) Otto Hintze: Die Hohenzollern und ihr Werk. Fünfhundert Jahre vaterländischer Geschichte, Berlin 1915. loi) Vogler, Hintze (1985), S.42. Bis zur achten Auflage wurden 80000 Exemplare gedruckt. 102) Dagegen betonte Hintze im Vorwort, es handele sich um „eine schlicht, leidenschaftslose Darstellung", „keine Apologie, [...] kein Panegyrikus [...], sondern ein Buch, das vor allem nach wissenschaftlicher Wahrhaftigkeit strebt". Hintze, Hohenzollern (1915), S. VII. Siehe auch Hintzes Äußerungen zu dem Werk, u.a. über ein Gespräch mit Kaiser Wilhelm II.: Neugebauer, Hintze (2001), S.291. Zu Hintzes monarchisch-konstitutioneller und nationalistischer Haltung vor 1917/18 siehe besonders: Köhler, Bildungsbürgertum (1970). 103) Die Urteile aus moderner Sicht gehen auseinander. Positiv urteilt van Dülmen, Soziologie (1968), S. 686; kritisch dagegen äußern sich Erbe, Hintze (1980), S. 159, Simon, Staat, Bd.l (1988), S. 37-39, sowie zuletzt Ertman, Hintze (1999), S.22. Vgl. auch Otto Busch: Das Preußenbild in Otto Hintzes „Die Hohenzollern und ihr Werk". In: ders./Erbe, Hintze (1983), S. 25-42.
74
III. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung im späten Kaiserreich
Preußen diente Hintze als Paradigma, es repräsentierte zugleich auch einen bestimmten realgeschichtlichen Verfassungstypus, den der Staatenbildungsund -Umbildungsprozeß, so wie Hintze ihn sah, zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert ausgeprägt hatte. An der preußischen Geschichte dieser Epoche ließen sich für Hintze verschiedene Staatsformen und unterschiedliche verfassungsgeschichtliche Wandlungsprozesse nachweisen und geradezu exemplifizieren. Der preußische Staat durchlief die Stationen des spätfeudalen Staates, des absolutistischen Ständestaates sowie des konstitutionellen Staates bis zur Gründung des kontinentalen Großstaates im Jahre 1871. An Preußen ließen sich Zentralisierung, Bürokratisierung und Militarisierung als Tendenzen der Verfassungsgeschichte in der Neuzeit aufzeigen. Hintzes Preußenbild war dabei teilweise idealistisch verformt. Zwar würdigte er die Leistungen der preußischen Reformer, aber er betonte zugleich die Kontinuität zur Zeit vor 1806, die keineswegs als eine Epoche der Willkürherrschaft zu betrachten sei104). Außerdem habe es im 19. Jahrhundert einen preußischen „Beruf" gegeben, um „das in politische Entartung und Schwäche verfallene Deutschland" zu retten105). Preußen und Deutschland standen im Zentrum von Hintzes verfassungshistorischen Arbeiten. Aber im Gegensatz zu fast allen Vorläufern im W.Jahrhundert waren seine Untersuchungen stets international eingebettet. Denn, abgesehen von den Forschungen Lorenz von Steins über Frankreich, Gneists über England und Hoists über Amerika, hatte sich die deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung vor Hintze durch eine recht große Konzentration auf die eigene Geschichte ausgezeichnet. Auch in den europäischen Nachbarländern war eine nationale Blickfeldverengung im 19. Jahrhundert keineswegs untypisch. Hintze brach nunmehr mit dieser Tradition nationaler Befangenheit in der Historiographie. Selbst wenn immer wieder seine Preußenzentrik betont worden ist106), erfolgte diese Schwerpunktsetzung bei ihm jedenfalls nicht einseitig.
104) Otto Hintze: Preußische Reformbestrebungen vor 1806. In: ders., Regierung und Verwaltung. Gesammelte Abhandlungen zur Staats-, Rechts- und Sozialgeschichte Preußens, hg. u. eingeleitet v. Gerhard Oestreich. Göttingen 21967 (= Gesammelte Abhandlungen, 3), S. 504-529 [zuerst 1896]; Otto Hintze: Die Stein-Hardenbergschen Reformen. In: Julius Pflugk-Harttung, Deutsche Gedenkhalle. Bilder aus der vaterländischen Geschichte, Berlin usw. 1907, S. 295-300. Vgl. Marcus Llanque: Die Preußischen Reformen von 1807 als Argument in der politischen Debatte am Ende des Kaiserreichs. In: Bärbel í/b/íz/Hartwin Spenkuch (Hg.), Preußens Weg in die politische Moderne. Verfassung Verwaltung politische Kultur zwischen Reform und Reformblockade, Berlin 2001 (= Berichte und Abhandlungen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Sonderbd. 7), -
-
S. 357-385, hier S.379f. 105) Otto Hintze: Das Verfassungsleben der heutigen Kulturstaaten. In: ders., Staat und Verfassung (1970), S. 390-423 [zuerst 1914], hier S.407. Dazu paßt auch Hintzes konservative Sicht des preußischen Verfassungskonflikts. Ders.: Das monarchische Prinzip und die konstitutionelle Verfassung. In: ebd., S. 359-389 [zuerst 1911], hier S.375f. 106) Ertman, Hintze (1999), S. 27, 31.
1. Otto Hintze und die
Erneuerung der Verfassungshistoriographie
75
Bereits Hintzes erster verfassungshistorischer Aufsatz handelte über die österreichische Geschichte der Frühen Neuzeit107). Und legt man die Benutzerakten des Berliner Archivs zugrunde, so plante er danach eine Arbeit über die preußische Geschichte, die er zeitlich und thematisch parallel führen wollte108). Beide Male sollte nämlich die Institution des Staatsrats im Zentrum stehen. Dies scheint ein erster Ansatzpunkt für die schon früh auf vergleichende Untersuchungen zielenden Absichten Hintzes zu sein109). Während aber dieses erste Unternehmen, vermutlich durch Hintzes Engagement für die „Acta Borussica", nicht ausgeführt wurde, kam eine andere Parallelanalyse zustande. Nachdem der Berliner Habilitand in den Jahren 1892/93 zunächst die preußische Seidenindustrie abgehandelt hatte, publizierte er im Folgejahr einen Aufsatz über die Schweizer Stickereibranche110. Auch im Röscher-Artikel hatte Hintze die Notwendigkeit einer Abkehr von einer rein partikularen, d. h. national verengten, Sicht betont und angeregt, daß die Verfassungsgeschichte „vergleichend verfahren" müsse111). Gegenüber Max Delbrück betonte er 1903 ganz entschieden: „Meine ganzen verfassungsgeschichtlichen und politischen Studien sind auf Vergleichung verschiedener nationaler Entwicklungen gebaut. Ich würde den Ast absägen, auf dem ich sitze, wenn ich einer nationalen Abzäunung der historischen Wissenschaft das Wort reden wollte."112) Nach den Anfängen mit derartigen Parallelstudien, die bereits das Interesse an verwandten ausländischen Themen verdeutlicht hatten, folgte 1901 die er-
ste vergleichende Arbeit über den
amtenstaat im 17. und 18.
Auch in den Folgejahren legte Studien" zur Verfassungs- und Ver„vergleichende dienten ihm England, Frankreich vor114). Vorzugsweise
Hintze verschiedentlich
waltungsgeschichte
„österreichischen und den preußischen Be-
Jahrhundert"113).
107) Hintze, Staatsrat (1887). 108) Benutzungsantrag vom 24.3.1887 im Berliner GStA für eine Arbeit über den preußi-
schen Staatsrat.
Neugebauer, Quellenlage (1999), S. 327.
109) Speziell zur vergleichenden Methode Hintzes: Rudolf Vierhaus: Otto Hintze und das
Problem der vergleichenden europäischen Verfassungsgeschichte. In: BüschlErbe, Hintze (1983), S. 95-110, sowie Guiseppe Di Costanzo: Otto Hintze: Historismus e storia costituzionale e amministrativa comparata. In: Karl-Egon Lönne (Hg.), Historismus in den Kulturwissenschaften, Tübingen/Basel 2003 (= Kultur und Erkenntnis, 27), S. 93-112. n0) Neben den zwei Editionsbänden und dem Einleitungsteil (Acta Borussica, Seidenindustrie [1892]) veröffentlichte Hintze einen Aufsatz zum Thema. Otto Hintze: Die preußische Seidenindustrie des 18. Jahrhunderts. In: Jb. für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 17 (1893), S. 23-60. Vgl. damit ders.: Die Schweizer Stickereiindustrie und ihre Organisation. In: ebd. 18 (1894), S. 1251-1299. ln) Ders., Roschers Entwicklungstheorie (1897), S. 45. 112) StaBi Berlin, NL Delbrück (Brief vom 6.7.1903). 113) Otto Hintze: Der österreichische und der preußische Beamtenstaat im 17. und 18. Jahrhundert. Eine vergleichende Betrachtung. In: HZ 86 (1901), S. 401-444. 114) Ders.: Der Commissarius und seine Bedeutung in der allgemeinen Verwaltungsgeschichte. Eine vergleichende Studie. In: ders., Staat und Verfassung (1970), S. 242-274 [zuerst 1910]; ders.: Die Entstehung der modernen Staatsministerien. Eine vergleichende Studie. In: ebd., S. 275-320 [zuerst 1908].
76
III. Deutsche
Verfassungsgeschichtsschreibung im späten Kaiserreich
und Österreich als Vergleichsobjekte. Mit der Anwendung komparatistischer Verfahren stand Hintze um 1900 keineswegs allein. Hintzes Berliner Freund und Kollege, der Schmoller-Schüler und Extraordinarius Kurt Breysig, beschäftigte sich gleichfalls mit Studien zur vergleichenden Verfassungs- und Sozialgeschichte115). Und der Theologe und Wissenschaftsfunktionär Adolf Harnack sprach 1907 von der Komparatistik als der „Herrscherin in der Wis-
senschaft"116).
Ein weiterer Punkt, in dem sich Hintze von den meisten seiner Historikerkollegen unterschied, war die auffällige Ignorierung von Epochengrenzen in der Geschichte sowie die besondere Schwerpunktsetzung in der Geschichte der Frühen Neuzeit. Gerade in der Verfassungsgeschichtsschreibung und besonders in ihrer rechtsgeschichtlichen Variante beherrschten um 1900 weitgehend die Mediävisten das Feld. Studien zur Rechts- und Verfassungsgeschichte des 8. bis 13. Jahrhunderts finden sich in überreichem Maße. Ein deutliches Übergewicht besaßen überdies Darstellungen zur städtischen Verfassungsgeschichte. Vernachlässigt wurden demgegenüber das Spätmittelalter, die Frühe Neuzeit und in beiden Bereichen die Reichs- ebenso wie die Territorialgeschichte. Hintze bearbeitete genau diese Epochen. Seine Untersuchungen nahmen ihren Ausgang zumeist im frühen oder hohen Mittelalter, und sie reichten teilweise bis in die Zeitgeschichte'. Er lege „Wert darauf", in seiner Vorlesung zur neueren Verfassungsgeschichte „bis an die Gegenwart heranzukommen", stellte Hintze 1910 gegenüber Kurt Breysig heraus117). Dies gelang ihm besonders in den Studien über Beamtentum und Bürokratie, wobei er, je näher er an der Gegenwart arbeitete, desto mehr soziologische Fragestellungen in seine Studien einfließen ließ118). Ganz deutlich wird der Zeitbezug auch in Hintzes Untersuchungen über Verfassungsfragen des 19. Jahrhunderts. Die Studie über „das monarchische Prinzip und die konstitutionelle Verfassung" wird bis heute zu Recht als eine der wichtigsten Rechtfertigungen des preußisch-deutschen Regierungssystems der konstitutionellen Monarchie angesehen119). Gleich der zweite Satz legt die Einzigartigkeit dieser Verfassungsform dar: Das monarchisch-konstitutionelle Regierungssystem „besteht gegenwärtig in einer ganz reinen und
115)
und
Bernhard vom Brocke: Kurt Breysig. Geschichtswissenschaft zwischen Historismus Soziologie, Lübeck/Hamburg 1971 (= Historische Studien, 417), S. 49.
116) Adolf Harnack: Gedanken über Wissenschaft und Leben. In: ders., Aus Wissenschaft und Leben. Bd. 1, Gießen 1911 (= Reden und Aufsätze, NF 1), S.3-9, hier S. 6. Harnack erwähnte dabei die „Rechts- und Verfassungswissenschaft", nicht aber die Geschichte. 117) StaBi Berlin, NL Breysig, Kasten 7 (Brief Hintzes vom 31.5.1910). 118) Eine repräsentative Auswahl dieser Arbeiten: Otto Hintze: Beamtentum und Bürokratie, hg. v. Kersten Krüger, Göttingen 1981 (= Kleine Vandenhoeck-Reihe). Hierin auch: Otto Hintze: Der Beamtenstand, S. 16-77 [zuerst 1911]. Vgl. Michael Erbe: Otto Hintze und seine Sicht der Entstehung des neuzeitlichen Beamtentums. In: ders./Büsch, Hintze (1983), S. 87-94. U9) Hintze, Das monarchische Prinzip (1911). Zur späteren Deutung des „deutschen Konstitutionalismus" siehe die Ausführungen in Kap. V.2.g) und VI.2.c).
1. Otto Hintze und die
Erneuerung der Verfassungshistoriographie
77
entschiedenen Form nur bei uns". Zwar erwähnt Hintze die „Tendenz zum Übergang vom monarchischen zum parlamentarischen System" ebenso wie die Neigung Wilhelms II. zu einer „gesteigerten persönlichen Regierungstätigkeit"120, aber beide Entwicklungen ordnet er in das verfassungsmäßig Zulässige ein. Er erkennt zwar die verfassungssprengende Kraft solcher Veränderungen, meint aber, daß die Gefahren systemimmanent beherrschbar seien. Eine „parlamentarische Regierungsweise" hält er im Deutschen Reich „auf Grund der bestehenden Verfassung [für] unmöglich". „Das monarchische Prinzip ist [...] mit der ganzen Struktur des Staatswesens in Preußen wie im Reiche [...] verwachsen", es sei adäquat für das deutsche Volk121). Hintzes verfassungshistorisches Werk hat sich was bei einer systematischen Analyse leicht übersehen wird sukzessiv und kontinuierlich weiterentwikkelt122). Dabei ist es außerordentlich schwierig, überhaupt Zäsuren aus- und festzumachen sowie Werkphasen zu differenzieren. Das gelegentlich genannte Jahr 1918 ist mit Blick auf Hintzes Gesundheit und berufliche Karriere sicherlich ein gewisser Einschnitt. Ob und wann genau es aber frühere Paradigmenoder Perspektivenwechsel gab, wie dies Wolfgang Neugebauer mit guten Gründen für die Jahre 1905/06 vermutet, bedarf noch weiterer Klärung123). Für die hier geschilderten Zusammenhänge jedenfalls ist zwischen dem entscheidenden Fortschritt in der Verfassungsgeschichtsschreibung durch Hintze zwischen 1890 und 1914/18 und seinen innovativen Impulsen auf die Entwicklung der Verfassungshistoriographie um 1930 zu unterscheiden. Diese späteren Arbeiten Hintzes, die vorwiegend unter dem Einfluß Max Webers entstanden, sind in einem der folgenden Abschnitte der Untersuchung näher zu analysieren124). Mit Otto Hintze erreichte die deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung in der Phase des späten Kaiserreichs eine qualitativ neue Stufe. Dies läßt sich an methodischen wie inhaltlichen Fortschritten gegenüber der bis dahin betriebenen Historiographie ablesen. Unabhängig von dieser fachlichen Modernisierung der Verfassungsgeschichtsschreibung durch Otto Hintze um und nach 1900 erfolgte auch eine bedeutende Institutionalisierung des Teilfachs innerhalb der Geschichtswissenschaft, indem er zum ersten Lehrstuhlinhaber für Verfassungsgeschichte ernannt wurde und die Bezeichnung dieser Berliner Professur auch unter seinen Nachfolgern Willy Andreas und Fritz Härtung bis 1945 erhalten blieb. Inhaltlich ist zunächst auf Hintzes Beteiligung an dem Editionsunternehmen der „Acta Borussica" zu verweisen. Es kam zu einer umfangreichen und -
-
120) 121) 122) 123)
Ebd., S. 359, 384. Ebd., S. 379.
Neugebauer, Hintze (2001), S.287. Ders., Konzeption (1993), S. 91f„ 95, stellt eine Abwendung von Preußen und eine Hinwendung zur allgemeinen Verfassungsgeschichte anhand der Auswertung von Vorlesungsmitschriften fest. 124) Siehe unten Kap. IV.2.
78
III. Deutsche
Verfassungsgeschichtsschreibung im späten Kaiserreich
grundlegenden Ouellenerschließung im Bereich der preußischen Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts. Viele Mitarbeiter des von Gustav Schmoller initiierten Großprojekts schufen damit eine
für eigene Forschungen. Für Hintze bedeutete seine Beteiligung eine tiefreichende Quellenkenntnis in diesem Gebiet, die sich in mehreren von ihm herausgegebenen Editionsbänden mit wichtigen Einleitungen sowie forschungsintensiven Aufsätzen zur preußischen Geschichte im Zeitalter der Aufklärung niederschlug. Diese Konzentration auf ein spezielles Forschungsfeld schuf zugleich die Voraussetzungen für eine über Preußen und Deutschland hinausreichende Analyse der Verfassungsentwicklung in anderen europäischen bzw. außereuropäischen Staaten. Hintzes Veröffentlichungen zeichnen sich durch einen bemerkenswert internationalen Anspruch und Ansatz aus. Sie leben von der Vorstellung von im Abendland allgemein verbreiteten Institutionen und Verhaltensmustern und der Annahme, daß es jenseits aller typologisch erfaßbaren Strukturen und generalisierbaren Prozesse eine Vielzahl von spezifischen Eigenheiten gebe. Dennoch kommt es Hintze weniger auf die Individualitäten als auf die Varietäten der europäischen Verfassungs-
Grundlage
geschichte an125).
Auch methodisch beschritt Hintze in der
Verfassungsgeschichte
neue
Wege. Er vertrat in seinen Forschungen in einer bis dahin nicht gekannten Konsequenz einen fächerübergreifenden Ansatz. Dies entsprang zunächst seinen im Ergänzungsstudium erworbenen Staats- und wirtschaftswissenschaftlichen Kenntnissen und bewährte sich später vor allem in den verfassungsgeschichtlichen Grenzbereichen. Die von Hintze und Schmoller selbst bewiesene und bei ihren Schülern geförderte Interdisziplinarität wurde allmählich zum Markenzeichen der „Acta Borussica"-Mitarbeiter. Hintze selbst bekannte in einem Brief an seinen Schüler Carl Hinrichs, „daß eine gründliche rechts- und wirtschaftsgeschichtliche Schulung [...] mehr und mehr unentbehrlich erscheint"126). Mit einem solchen methodisch offenen Blick äußerte Hintze Verständnis für die Forderungen Karl Lamprechts nach einer kulturgeschichtlich ausgerichteten und psychologisch untermauerten Geschichtsschreibung, welche die herkömmliche nach Hintzes Ansicht zwar nicht ersetzen, aber in jedem Fall ergänzen müsse. Hintze selbst überschritt bereits vor dem Ersten Weltkrieg die Fächergrenzen, indem er häufig Staats- und politikwissenschaftliche Themen aufgriff und auch aktuelle soziologische Analysen, beispielsweise zum Beamtentum, in seine Studien integrierte. In den Weimarer Jahren weiteten sich seine Interessen für die in ihrer Bedeutung wachsende Soziologie noch erheblich aus127). So einleuchtend Wolfgang Reinhard: Rez. zu Otto Hintze, Allgemeine VerfassungsVerwaltungsgeschichte der neueren Staaten. In: ZHF 28 (2001), S. 602f„ hier S. 603. 126) Zit. nach Oestreich, Hintzes Stellung (1964), S.25* (29.10.1926). 127) Winfried Schulze: Otto Hintzes Kritik und Rezeption der Soziologie. In: BüschlErbe, Hintze (1983), S. 134-149.
125)
und
1. Otto Hintze und die
Erneuerung der Verfassungshistoriographie
79
Die durch interdisziplinäre Verfahren gewonnenen Einsichten schlugen sich in bemerkenswerten verfassungshistorischen Ergebnissen wieder. Sie sind in den von Hintze entwickelten Begriffen und Kategorien am besten greifbar. Im Gegensatz zur lange Zeit die Verfassungsgeschichtsschreibung dominierenden juristischen Methode, welche bevorzugt mit einem statisch-systematischen Zugriff arbeitete und vornehmlich rechtliche Institutionen in den Blick nahm, betrachtete Hintze die Verfassungsgeschichte in erster Linie unter entwicklungsgeschichtlicher Perspektive, die er mit sozial- und institutionengeschichtlichen Aspekten verband. Bei Hintze begegnen immer wieder historische Prozesse, die als überindividuell steuernde Faktoren den historischen Verlauf beeinflussen und untergründig lenken. Hintze neigte dazu, diese Tendenzen begrifflich zu fassen: er sprach unter anderem von Verdinglichung und Versachlichung, um langfristige Entwicklungsprozesse der Verfassungsgeschichte zu kennzeichnen128). Als zentraler historischer Prozeß ist die Staatenbildung anzusehen. In ihr manifestierte sich die Parallelität von äußeren Bedingungen und inneren Zuständen im Geschichtsverlauf, die zu Hintzes grundlegenden Annahmen zählte. Die Prozeßhaftigkeit von Geschichte, speziell der Verfassungsgeschichte, war mit Hintze zurückgewonnen. Hintze betonte bei aller Dynamik in der Geschichte gleichzeitig auch die stets vorhandene Neigung zur Verfestigung historischer Strukturen, z. B. in Staaten und Institutionen. Es gehörte zur Aufgabe des Verfassungshistorikers, diese historisch geronnenen Formen zu analysieren, die äußeren Zustände des Staates und die inneren Verhältnisse insbesondere zu untersuchen. Als analytische Methode zum Erfassen und Interpretieren der Staatszustände zog Hintze insbesondere den Vergleich zu Rate. Dieses Verfahren eignete sich bevorzugt zum Erkennen von individuellen und allgemeinen Typen sowie zur Entwicklung bestimmter Verlaufsformen. Hintze suchte nach idealtypischen Allgemeinbegriffen, wie z. B. dem modernen Staat, die er dann in ihrer Entwicklung und in spezifischen Vorformen untersuchte. Es kam ihm darauf an, die Entwicklungsphasen in der Staatenbildung und Staatenumformung möglichst auf einen Begriff zu bringen, der mittels des Verfahrens der anschaulichen Abstraktion einerseits eine notwendige Allgemeinheit erfaßte und somit eine Typisierung zuließ, andererseits aber auch noch hinreichende Bezüge zum tatsächlichen historischen Vorgang bewahrte. Im Unterschied zu Georg Jellinek und Max Weber bevorzugte Hintze demnach die Bezeichnung
Realtyp statt Idealtyp.
Mit Hintze hätten sich der deutschen Verfassungsgeschichtsschreibung viele neue Perspektiven eröffnen können. Der einzige seiner Schüler, der nicht als Archivar oder Lehrer seine berufliche Laufbahn beschloß, sondern eine Professur übernahm, war Fritz Härtung. Eine Hintze-Schule hat sich dementsprechend nicht entwickelt. Zudem blieb der Berliner Ordinarius zeit seines
128) So z.B. noch in seiner späten Veröffentlichung: Otto Hintze: Wesen und Verbreitung des Feudalismus. In: ders., Staat und Verfassung (1970), S. 84-119 [zuerst 1929], hier S. 87.
80
•
III. Deutsche
Verfassungsgeschichtsschreibung im späten Kaiserreich
Lebens und Wirkens und trotz seiner allgemeinen Anerkennung methodisch ein Außenseiter der Zunft. Komparative und typologische Verfahren stießen bei der Mehrheit der Fachkollegen auf Ablehnung129). Und auch Hintzes interdisziplinäre Interessen teilten nur wenige. In Deutschland versandeten die von Hintze angeregten fachübergreifenden methodischen Innovationen, die in Frankreich oder den Vereinigten Staaten noch vor dem Ersten Weltkrieg zu einer deutlichen Erweiterung der staatlich orientierten Verfassungsgeschichtsschreibung führten. Lucien Febvre in seiner Studie über die Franche-Comté und Charles A. Beard in seiner Arbeit über die Entstehung der amerikanischen Verfassung entwickelten unabhängig voneinander ein sozial- und wirtschaftsgeschichtlich ergänztes Spektrum der Verfassungsgeschichte130). Sie zeigten jene Perspektiven der Verfassungsgeschichtsschreibung hin zu einer Strukturgeschichte moderner Prägung auf, die seit den zwanziger Jahren in Frankreich und den USA wirksam wurden, während in Deutschland diese Entwicklung erst rund vierzig Jahre später einsetzte.
Mit Blick auf Hintzes Werk und Wirkung vor dem Ersten Weltkrieg läßt sich generell feststellen, daß er vielfältige Anregungen in seinem Konzept einer allgemeinen Verfassungsgeschichte verarbeitete. Er integrierte verschiedene fachliche Methoden und entwickelte sie spezifisch fort, er betätigte sich nicht als ,Erfinder', sondern vielmehr als ,Anwender'. Seine Originalität liegt in Art und Intensität der Rezeption. Ein Blick auf die parallel zu Hintze betriebene deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung soll dies verdeutlichen.
2. Die
Verfassungsgeschichtsforschung nach 1900
Eine Analyse der Verfassungsgeschichtsschreibung nach 1900 kann sich nicht auf das Werk von Otto Hintze beschränken. Sie kann sich noch nicht einmal auf das Fach Geschichte allein konzentrieren. Zwar ist immer wieder auf die „Krise um 1900" und die mit ihr verbundenen oder von ihr ausgelösten Wandlungen hingewiesen worden. Dennoch sind, wie Lutz Raphael mit Blick auf die Wissenschaftsgeschichte festgestellt hat, „die Konturen einer solchen krisenhaften ,Epochenschwelle' leider noch sehr undeutlich geblieben"131).
129)
Eine frühe der nicht häufigen Rezeptionen von Hintzes Thesen: Otto Hötzsch: Staaund Verfassungsentwicklung in der Geschichte des germanisch-slavischen Ostens. In: Zs. für osteuropäische Geschichte 1 (1911), S. 363^112. 130) Lutz Raphael: Die „Neue Geschichte" Umbrüche und Neue Wege der Geschichtsschreibung in internationaler Perspektive (1880-1940). In: KüttlerlRüsenlSchulin, Geschichtsdiskurs, Bd. 4 (1997), S. 51-89, hier S. 69. Die genannten Untersuchungen wurden 1912 bzw. 1913 veröffentlicht. Beard gehörte zusammen mit James Harvey Robinson zu den Protagonisten der „New History". Febvre zu den Gründungsvätern der sogenannten
tenbildung
-
„Annales"'-Richtung. 131) Raphael, Neue Geschichte (1997), S. 52.
2.
Verfassungsgeschichtsforschung nach 1900
81
Dabei beschränkte sich die Krisenstimmung nicht allein auf die Wissenschaft. Generell verbreitete sich die Ansicht, daß man sich am „Fin de siècle" befinde. Untergangsprognosen und Zukunftsvisionen wechselten einander ab. Protestbewegungen gegen die vermeintliche bürgerliche Selbstzufriedenheit verzeichneten einen bedeutenden Zulauf. In Philosophie und Kunst traten antibürgerliche und sozialkritische Strömungen zutage, die im Expressionismus ihren zeitgemäßen Ausdruck fanden. Weltdeutung und Kulturkritik kamen in Mode. Latente Technikfeindlichkeit schlug um in eine Wendung zur Natur. Die Sicherheit früherer Jahre war dahin; die staatliche Ordnung schien vom Verfall bedroht angesichts der drängenden Sozialen Frage und des Heraufziehens einer Massengesellschaft. Geschichtskritik und Endzeitstimmung führten in den Wissenschaften zu Absetzbewegungen. Auch im Bereich der Geschichtswissenschaft kam es um 1900 zu einer Krise ihrer vorherrschenden Strömung, des Historismus. Es war signifikant, daß in diesen Jahren mehrere Kontroversen um „alte und neue Richtungen in der Geschichtswissenschaft"132) entbrannten. Daß es auch in Teilgebieten der Historiographie eine fortschreitende inhaltliche Ausdifferenzierung von Fächern und einen sukzessiven institutionellen Ausbau gab, gehört längst zu den Gemeinplätzen der Wissenschaftsgeschichte133). Dies galt, so läßt sich nach den Ausführungen über Otto Hintze sagen, auch für die Verfassungsge-
schichtsschreibung.
Im Rahmen dieser
Untersuchung kann nur ein kursorischer Blick auf die vielfältigen Bemühungen um das Teilgebiet der Verfassungsgeschichte um 1900 fallen. Aber erst eine Übersicht über das verzweigte Feld der verfassungshistorischen Forschung ermöglicht es, die Leistung Hintzes von einer Außenperspektive her angemessen zu würdigen. Berücksichtigt werden neben der Geschichtswissenschaft die benachbarten Entwicklungen in der Rechtswissenschaft, besonders in der Allgemeinen Staatslehre. a) Die historische Verfassungsgeschichtsschreibung jenseits von Hintze Jenseits von Hintze, dem allein institutionengeschichtlich durch den ersten mit
„Verfassungsgeschichte"
bezeichneten Lehrstuhl eine besondere Bedeu-
tung zukommt, haben auch andere Historiker auf dem Gebiet der Verfas-
sungsgeschichtsschreibung beachtenswerte Forschungen vorgelegt. Die Verfassungsgeschichte gehörte, auch ohne daß sie fachintern bereits als ein fest
umrissenes oder klar abgrenzbares Teilfach galt, zu den Arbeitsbereichen der professionellen Geschichtswissenschaft um 1900. Die Verfassungsgeschichtsschreibung war im 19. Jahrhundert von historischer wie juristischer Seite vorwiegend als eine im Mittelalter angesiedelte
132) 133)
So der Titel einer Schrift von Karl Lamprecht aus dem Jahr 1896. So auch Raphael, Neue Geschichte (1997), S. 55.
82
III. Deutsche
Verfassungsgeschichtsschreibung im späten Kaiserreich
Teildisziplin behandelt worden. Den Wechsel hin zu einer Betonung und Hervorhebung der Neuzeit hatten u.a. Gustav Schmoller und Otto Hintze mit ihren Darstellungen und Editionsbänden zur preußischen Geschichte im Zeitalter des Absolutismus signalisiert. Der traditionelle Faden der mittelalterlichen Verfassungsgeschichte wurde dennoch nicht fallengelassen, sondern fortgesponnen, selbst als das Übergewicht beseitigt war. Einer der profiliertesten und produktivsten Vertreter der mittelalterlichen Verfassungsgeschichtsschreibung war Georg von Below. Die persönlichen wie fachlichen Berührungsflächen zwischen den fast gleichaltrigen Otto Hintze und Georg von Below blieben vergleichsweise gering. Below in Freiburg und Hintze in Berlin bewegten sich in unterschiedlichen wissenschaftlichen Zirkeln. Zu einer gemeinsamen Wirkungsstätte kam es nicht, obwohl Berufungen Belows 1902 nach Berlin und Hintzes 1914 nach Freiburg im Gespräch waren. Inhaltlich teilten beide das Interesse für Verfassungsgeschichte. Allerdings bevorzugte Below so eindeutig die mittelalterliche Verfassungshistorie, daß die Überschneidungsbereiche mit dem vorwiegend in der Geschichte der Frühen Neuzeit beheimateten Hintze gering blieben. Allein im LamprechtStreit äußerten sich beide allerdings sehr unterschiedlich134). Georg von Below verstand sich durch und durch als Verfassungshistoriker. Mit einer landesgeschichtlichen Studie über ,,[d]ie landständische Verfassung -
in Jülich und Berg bis zum Jahre 1511" hatte er 1885 seine wissenschaftliche Karriere begonnen135). Mit der zweiten Auflage seiner „Grundlegung der deutschen Verfassungsgeschichte", „Der deutsche Staat des Mittelalters", war sie im Jahre 1925 nahezu beendet136). Rund vierzig Jahre hatte Below die deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung des Mittelalters ganz wesentlich mitgestaltet. Er hatte viel veröffentlicht, und er hatte sich fast ebenso viel ge-
stritten137). 134) von
Einen
prägnanten Vergleich bietet die lesenswerte und materialreiche Untersuchung Below (1998), S. 120, der auch auf die Gegensätze in Temperament und
Cymorek,
Wissenschaftsstil verweist. Daneben wichtig: Otto Gerhard Oexle: Ein politischer Historiker: Georg von Below (1858-1927). In: Hammerstein, Geschichtswissenschaft (1988), S. 283-312, sowie Böckenförde, Verfassungsgeschichtliche Forschung (1961), S. 202-209. 135) Georg von Below: Die landständische Verfassung in Jülich und Berg bis zum Jahre 1511. Eine verfassungsgeschichtliche Studie. 3 Tie., Düsseldorf 1885-1891. Siehe dazu Kersten Krüger: Die Landständische Verfassung, München 2003 (= Enzyklopädie deutscher Geschichte, 67), S. 45^17. 136) Georg von Below: Der deutsche Staat des Mittelalters. Eine Grundlegung der deutschen Verfassungsgeschichte. Bd. 1: Die allgemeinen Fragen, Leipzig 1914/21925. Ein zweiter Teil erschien nicht. Eindringliche und überwiegend kritische Besprechung von R.[udolf] Hübner: Rez. zu Georg von Below, Der deutsche Staat des Mittelalters. In: ZRG/GA 35 (1914), S. 484-506. 137) Oexle, Below (1988), S. 288, spricht von der „rastlosen Aggressivität" Belows. Fr.[iedrich] M.[einecke]: [Nachruf Georg von Below]. In: HZ 137 (1928), S.418, bezeichnete ihn als „Kämpfernatur".
2.
Verfassungsgeschichtsforschung nach 1900
83
Belows Arbeitsgebiet war die mittelalterliche Verfassungsgeschichte der Städte und der Territorien und vor allem des Staates138). Sein „bevorzugtes Studienobjekt"139), den „deutschen Staat des Mittelalters", verteidigte Below offensiv gegen alle Kritiker, denn „das, was die Dinge zusammenhält, ist doch der Staat". Er sah es als seine Aufgabe an, „den Staat des Mittelalters als Staat, die mittelalterliche Verfassung als staatliche Verfassung zu erweisen"140. Der Staat verkörperte für ihn einen Ordnungsfaktor ersten Ranges; er banne das vermeintliche Chaos, bilde eine Konstante im ständigen Wechsel und gebe dem nach Orientierung Suchenden Sicherheit141). Ohne Zweifel war das ein Reflex auf eine Geschichtswissenschaft in der Krise, auf eine Gesellschaft im Übergang, auf eine standesuntypisch tätige Persönlichkeit142). Geschichtsdeutung und Zeitdiagnose gingen bei Below Hand in Hand. Below war bekennender Etatist und bewußter Nationalist dazu. Sein wissenschaftliches Terrain war ausschließlich die deutsche Geschichte, sein Maßstab das wilhelminische Kaiserreich. Einen transnationalen Vergleich als Erkenntnismethode lehnte er kategorisch ab143). Überhaupt zeigte er sich in vieler Hinsicht ausgesprochen innovationsresistent. Nicht nur die außerdeutsche Geschichte war für ihn tabu, auch die Teildisziplin der Verfassungsgeschichte bewegte sich auf fachlich eng begrenztem Boden. Gesellschaftliche, räumliche oder psychologische Dimensionen der Geschichte blieben Below fremd, die Soziologie figurierte als Feindbild144). Allenfalls der Wirtschaftsgeschichte -
138) Würdigung des verfassungsgeschichtlichen Werkes bei Cymorek, Below (1998), bes. S. 86-135; konzis: Oexle, Below (1988), S. 293-298. 139) Marc Block. Über Georg von Below. Rez. zu Minnie von Below, Georg von Below. In: Peter Schattier (Hg.), Marc Bloch. Historiker und Widerstandskämpfer, Frankfurt a.M./New York 1999, S. 245-254 [zuerst 1931], hier S. 248. Bereits 1918 hatte Bloch in einer Besprechung Belows formuliert, daß „un des traits caractéristiques de la science politique allemande, pour qui l'État est tout, et la nation peu de chose" sei. Marc Bloch: Rez. zu Georg von Below, Der deutsche Staat des Mittelalters. In: RH 128 (1918), S. 343-347, hier S. 347. 140) Below, Staat (1914), S. VI, III. „Der Staat", so proklamierte er an anderer Stelle, sei „der umfassendste menschliche Verband, die maßgebende Organisation eines Volkes [und] das stärkste Bollwerk der Kultur". Deshalb ziele alle politische Geschichte wie überhaupt alle Geschichtsschreibung auf den Staat und nicht etwa auf die Menschheit oder auf die Kultur. Ders.: Die deutsche Geschichtsschreibung von den Befreiungskriegen bis zu unseren Tagen. Geschichte und Kulturgeschichte, Leipzig 1916, S. 113-118. 141 Below formulierte ) prägnant: „Der Staat ist ihm [dem Historiker, E.G.] der Mittelpunkt der geschichtlichen Anschauung". Below, Geschichtsschreibung (1924), S. 129. Bloch, Below (1931), S. 247, sprach von Belows „Verehrung für den Staat" und führte dies, wie Cymorek, Below (1998), S. 128, auch auf seine Herkunft zurück. 142) So schlüssig Cymorek, Below (1998), S. 128, der zudem auf das Problem hinweist, daß eine solche Verfassungsgeschichtsschreibung in einen „Zustand der Paralyse und des Wirklichkeitsverlusts" gerate, unter einer Verengung des Wahrnehmungshorizonts leide und partiell eine Neuschöpfung der Vergangenheit betreibe. 143) Ebd., S. 109. Explizit dazu G.[eorg] v. Below: Die vergleichende Methode. In: HVjS 21 (1923), S. 129-138. Kritisch dazu: Bloch, Below (1931), S. 252. 144) Oexle, Below (1988), S. 291 u. Anm. 59, S. 304f. Bloch, Below (1931), S. 247f., bemerkte spöttisch, Below habe über den deutschen Staat des Mittelalters, „ein ganzes Buch geschrieben, ohne ein einziges Wort über die Deutschen zu verlieren".
84 maß
III. Deutsche
Verfassungsgeschichtsschreibung im späten Kaiserreich
begrenzten Rang zu, stritt aber gegen die nationalökonomische Richtung. Verfassungsgeschichte bedeutete für ihn Rechtsgeschichte, und das er
einen
vor allem Institutionengeschichte145). Für diese Ansichten führte Below Fehden: gegen die Genossenschaftstheorie Gierkes, gegen die Marktrechtstheorie Sohms, gegen die Grundherrschaftstheorie Seeligers, gegen die Begriffsskepsis Sanders und gegen die Kulturgeschichte Lamprechts. Die verfassungsgeschichtliche und wissenschaftspolitische Welt Georg von Belows war voller Feinde. Angesichts dessen muß es verwundern, daß er sich als Wissenschaftsorganisator einflußreich betätigte. Er zeichnete als Mitherausgeber der „Historischen Zeitschrift" und der „Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte", war Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Akademien und historischer Kommissionen und zusammen mit Meinecke Herausgeber des „Handbuchs der mittelalterlichen und neueren Geschichte". Darüber hinaus wirkte er engagiert als akademischer Lehrer und betreute rund 170 Disserta-
hieß
tionen146).
So strikt sich Below gegen interdisziplinäre Methoden wandte, besonders sie aus dem sozialwissenschaftlichen Bereich stammten, so offen war er gegenüber der Rechtswissenschaft und der Rechtsgeschichte im speziellen eingestellt. Er kultivierte ein ausgeprägtes Interesse für die Jurisprudenz, hatte „Freude an juristischen Distinktionen"147), stilisierte sich sogar als Historiker, dem die juristische Schulung eine „Ritterrüstung" verliehen habe148). Aber vor allem in der Rückschau muß man diagnostizieren, daß er „schlichte Erklärungen", „grobe Thesen" und „polemische Zuspitzungen" bevorzugte. Was am Ende blieb und weiterwirkte war denn auch nicht sehr viel: er hat die Probleme benannt und Lösungen angeboten, resümiert sein Biograph149). So einflußreich Below auch agierte, seine Sicht der Verfassungsgeschichte hätte bereits zu seinen Lebzeiten überlebt sein können. Daß sie es nicht war, lag an der generellen Beharrungskraft der Verfassungsgeschichtsschreibung. Nach wie vor dominierte die nationalistische, etatistische, rechtsgeschichtliche Sicht. Gegenüber einer erweiterten politischen Geschichte seien „alle einzelnen kulturgeschichtlichen Disziplinen Hilfswissenschaften", stellte Below wenn
145) Die zeitgenössische Kritik an der allzu „begrifflich-konstruktiven" Auffassung Belows: Fritz Rörig: Probleme der Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte. In: HVjS 22 (1924), S. 515-524, hier S. 523. Siehe auch Cymorek, Below (1998), S. 115,117, 121. 146) Oexle, Below (1988), S. 283f.; Cymorek, Below (1998), S. 225-233. 147) Georg von Below: Der Ursprung der deutschen Stadtverfassung, Düsseldorf 1892, S. XII. Ebd., meint er auch, daß es ein Unding sei, „ohne Jurisprudenz die Verfassungsgeschichte" zu betreiben. 148) Hans Cymorek: Historiker in „Ritterrüstung"?: Georg von Below und die deutsche Rechtswissenschaft um 1900. In: ZRG/GA 116 (1999), S. 504-513. 149) Ders., Below (1998), S. 130 (ebd., alle Zitate). Bloch, Below (1931), S. 249, glaubte, daß „Belows Werk [zwar] teilweise überholt" sei, prognostizierte aber etwas vage: „bestimmte Ergebnisse werden offenbar überdauern".
2.
Verfassungsgeschichtsforschung nach 1900
85
apodiktisch fest150. Die Sozialgeschichte blieb geächtet und eine sozialwissen-
schaftlich erweiterte Verfassungsgeschichtsschreibung gleichfalls151). Das war Belows später Triumph und dies trotz eines Otto Hintze. Eines der zentralen Probleme von Belows Werk, die nahezu bedenkenlose Verwendung vor allem dem Staatsrecht entlehnter anachronistischer Begriffe, war im zeitgenössischen historiographischen Diskurs und sogar von Below selbst keineswegs unbeachtet geblieben152). Aber erst der Berliner Habilitand Paul Sander formulierte das Dilemma in seiner 1906 erschienenen Abhandlung „Feudalstaat und bürgerliche Verfassung" explizit und in extenso153). Ohne die Beseitigung „begrifflicher Unklarheiten" sei eine Erörterung der Grundprobleme der Verfassungsgeschichte schlechthin nicht möglich154). Doch dabei beließ es Sander keineswegs. Er stellte zudem die Frage, ob man nicht auch gesellschaftliche Voraussetzungen und kulturelle Wirkungen von Verfassungseinrichtungen in der historischen Darstellung angemessen berücksichtigen müsse155). Damit formulierte er eines der Kardinalprobleme der Geschichtswissenschaft um 1900, die Einbeziehung sozialer, kultureller und (womöglich) psychologischer Faktoren in die Geschichtsschreibung, wie sie vor allem Karl Lamprecht forderte. Er reklamierte geradezu eine derartige Erweiterung des Forschungsradius für das Gebiet der Verfassungsgeschichte. Kein Wunder also, daß Sanders Buch für erhebliche Aufregung sorgte und seine anstehende Habilitation zu massivem Streit in der Fakultät führte. Otto Hintze beteiligte sich intern wie extern an der Debatte um Sander und sein Buch. Im Gegensatz zu der ablehnenden Besprechung von dessen Studie über den „Feudalstaat" durch den darin attackierten Otto Gierke in der Savigny-Zeitschrift sprach sich Hintze in „Schmollers Jahrbuch" zugunsten von Sander aus156). In der Berliner Fakultät kam es im Habilitationsverfahren Sanders zu erheblichen Turbulenzen zwischen Hintze und Dietrich Schäfer. -
150) G.[eorg]
Geschichtschreibung
und Geschichtsforschung. In: Deutschland Wissenschaften/Schöne Literatur und Künste/Öffentliches Leben/Schlußwort, Berlin 1914, S. 1165-1177, hier S. 1173. Unter diese „erweiterte" politische Geschichte zählte Below z. B. auch die Forschungen Hintzes. Ebd., S. 1176. 151) Eindringlich dazu: Oexle, Below (1988), S. 303-312. 152) Nachweise bei Cymorek, Below (1998), S. 99,133; Oexle, Below (1988), S. 302f. 153) Paul Sander: Feudalstaat und bürgerliche Verfassung. Ein Versuch über das Grundproblem der deutschen Verfassungsgeschichte, Berlin 1906. 154) Ebd., S. 32-34. Sander sprach von „begrifflicher Zerfahrenheit, welche auf dem Gebiet der deutschen Verfassungsgeschichte herrscht". v.
Below:
unter Kaiser Wilhelm II. Bd. 3: Die
155) Ebd., S. 52. 156) Otto Gierke:
Rez. zu Paul Sander, Feudalstaat und bürgerliche Verfassung. In: ZRG/GA 28 (1907), S. 612-625. Gierke erkannte zwar die Problematik der Verwendung einer modernen Terminologie, aber ihm widerstrebte die Ausweitung des Verfassungsbegriffs. Er stellte ebd., S.612, fest: „Ihrem Kern nach [kann] Verfassungsgeschichte nichts Anderes als Rechtsgeschichte sein!" Dagegen: Otto Hintze: Rez. zu Paul Sander, Feudalstaat und bürgerliche Verfassung. In: Jb. für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 31 (1907), S. 1373-1379. Zur Aufregung um Sander, speziell zur Meinung Belows: Cymorek, Below (1998), S. 120-122.
86
III. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung im
späten Kaiserreich
Gerhard Oestreich hat diese Diskussionen als „zweite Auflage des Methodenstreits" charakterisiert157). Im Ergebnis setzten sich die Kritiker Sanders zunächst durch. Es blieb nicht nur die vorwiegend rechtsgeschichtliche Auffassung der Verfassungsgeschichte dominant, es herrschte nicht allein weiter eine etatistische Verfassungssicht fort, sondern auch die moderne Terminologie fand zumeist unkritisch weiter Verwendung. Das zeigte sich nicht nur, aber ganz besonders extrem bei Georg von Below. Belows Darstellung über den „deutschen Staat des Mittelalters" ist ein Beispiel dafür, daß um 1900 eine Blüte von wissenschaftlichen Zusammenfassungen zur Verfassungsgeschichte einsetzte, wie sie erst wieder in den 1930er Jahren festzustellen ist. Die Neigung zum Verfassen historischer Überblicke hing (und hängt bis heute) eng mit dem Bedarf und der Entstehung entsprechender Reihen- bzw. Fortsetzungswerke zusammen. Sie erfolgt insofern nicht selten schubweise im Generationenabstand, weil dann das inzwischen aufgestaute Grundlagen- und Spezialwissen einer erneuten synthetisierenden Sichtung und Darlegung bedarf158). Um 1900 entstanden angesichts der Spezialisierung und der Materialausweitung in den Rechts- und Geschichtswissenschaften erstmals derartige Handbuch-Projekte159), und die Verfassungsgeschichte wurde dabei angesichts ihrer gewachsenen Bedeutung angemessen mitberücksichtigt. Dies war nicht zuletzt dem Engagement Georg von Belows zu verdanken, der gemeinsam mit seinem Freiburger Kollegen Friedrich Meinecke das „Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte" initiierte160. In diesem institutionellen' Rahmen, und zwar als dritte Abteilung mit den Bereichen „Verfassung, Recht, Wirtschaft", erschienen 1910 die „Französische Verfassungsgeschichte" des Straßburger Historikers Robert Holtzmann und drei Jahre später die „Englische Verfassungsgeschichte" des Göttinger Staatsrechtlers Julius Hatschek161). Auch wenn es sich um ein historisches Handbuch handelt, ist es -
-
157) Oestreich, Hintzes Stellung (1964), S. 39*f„ das Zitat S. 39*. 15S) Eine nähere Wissenschafts- und verlagshistorische Untersuchung
Handbuchprojekten und Buchreihen wäre lohnend.
von
historischen
159) Der bekannteste und bis heute erscheinende Überblick ist das „Handbuch der deutschen Geschichte", begründet von dem Berliner Realschullehrer Bruno Gebhardt, das erstmals 1891/92 in zwei Bänden erschien. 160) Das auf vierzig Bände angelegte Handbuch erschien seit 1903 im Oldenbourg-Verlag, München. Bis 1936, inzwischen war auch Albert Brackmann Mitherausgeber, wurden in vier Abteilungen insgesamt 19 Bände veröffentlicht. So der Werbeprospekt in Fueter, Geschichte (1911/31936). 161) Julius Hatschek: Englische Verfassungsgeschichte bis zum Regierungsantritt der Königin Viktoria, München 1913 (= Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte, Abt. 3: Verfassung, Recht, Wirtschaft, 4) [Ndr. Aalen 1978], Andere „ausländische" Verfassungsgeschichten: Robert Holtzmann: Französische Verfassungsgeschichte. Von der Mitte des neunten Jahrhunderts bis zur Revolution, München/Berlin 1910 (= Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte, Abt. 3). Biographische Daten zu Holtzmann bei Weber, Lexikon (1984), S. 257, zu Hatschek: Ottobert L. Brintzinger: Hatschek, Julius. In: NDB 8 (1969), S. 57f.
2.
Verfassungsgeschichtsforschung nach 1900
87
nicht überraschend, daß die einzelnen Bände zur Verfassungsgeschichte von Juristen und von Historikern bearbeitet wurden. Hatschek und Holtzmann brachten für die deutsche Forschung die Ergebnisse von Gneist bzw. Warnkönig und Stein aus dem 19. Jahrhundert auf den neuesten Stand. Hatscheks Vorgehen ist dabei deutlich systematischer und an Institutionen orientiert, d. h. juristischer, wie auch die Rezensenten feststellten162). Holtzmanns Band dagegen ist weniger detailliert gegliedert und dadurch flüssiger lesbar. Im Unterschied zu Hatschek, der die englische Verfassungsgeschichte im letzten Abschnitt bis ins 19. Jahrhundert führt und damit die Kontinuität unterstreicht, endet Holtzmanns Darstellung mit dem Beginn der Französischen Revolution. Beide Darstellungen wirken sehr „stoffbeladen"163), führen die Forschung durch Faktenerschließung weiter, zeigen allerdings keine Spur von innovativen Forschungsmethoden. Es handelt sich um die traditionell übliche Mischung von politischer und Institutionengeschichte, gelegentlich mit vergleichenden, ansatzweise typologisierenden Seitenblicken. Nicht im Below-Meineckeschen Handbuch erschienen, aber in der Tradition „ausländischer" Verfassungsgeschichten stehend, veröffentlichte der Würzburger Rechtshistoriker Ernst Mayer zunächst 1899 eine „deutsche und französische Verfassungsgeschichte" des Mittelalters und 1909 als „Fortsetzung" eine „italienische Verfassungsgeschichte"164). Mayer beabsichtigt ausdrücklich „eine juristische Darstellung des vergangenen Rechts". Er trennt „mit Schärfe die beiden Faktoren der Verfassungsgeschichte": „das öffentliche Recht und die Herrschaft" und zeigt somit zum einen die Neigung zur juristischen Konstruktion, zum anderen eine bemerkenswerte Unsensibilität für Anachronismen165).
162)
vor allem Albert Beebe White: Rez. zu Julius Hatschek, Englische Verfassungsbis zum Regierungsantritt der Königin Victoria. In: AHR 19 (1913/14), S. 339-342, hier S. 340f.: „juristic Tendenz" sowie „Here and in many places the doctor juris is prominent." 163) So das Urteil der Neuherausgeber Kienast und Ritter in Hatschek, Verfassungsgeschichte (1913), S.V. 164) Ernst Mayer, Mittelalterliche Verfassungsgeschichte. Deutsche und französische Verfassungsgeschichte vom 9. bis zum 14. Jahrhundert. 2 Bde., Leipzig 1899; ders., Italienische Verfassungsgeschichte von der Gothenzeit bis zur Zunftherrschaft. 2 Bde., Leipzig 1909 [Ndr. Aalen 1968]. Ein Trend zur Verfassungsgeschichtsschreibung läßt sich auch an Übersetzungen fremdsprachiger und/oder außerdeutscher verfassungsgeschichtlicher Überblicke ablesen. So insbesondere: Stanislaus Kutrzeba: Grundriß der polnischen Verfassungsgeschichte, Berlin 1912 [zuerst poln. 1905]; Akos v. Timon: Ungarische Verfassungs- und Rechtsgeschichte mit Bezug auf die Rechtsentwicklung in den westlichen Staaten, Berlin 1909 [zuerst 1903]; Heinrich Marczali: Ungarische Verfassungsgeschichte, Tübingen 1910. 165) Mayer, Deutsche und französische Verfassungsgeschichte (1899), S. IXf. Vgl. auch die kritische Besprechung von Otto Hintze: Rez. zu Ernst Mayer, Deutsche und französische Verfassungsgeschichte vom 9. bis zum 14. Jahrhundert. In: Jb. für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 23, 4 (1899), S. 368-373.
geschichte
88
III. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung im
späten Kaiserreich
Ein anderes historisches Handbuch, das mit Einzelbänden zur (deutschen) Verfassungsgeschichte aufwartete, war der als Einführung in die deutsche Geschichte gedachte „Grundriß der Geschichtswissenschaft", den der Münsteraner Historiker Aloys Meister herausgab166). Im zweiten des in acht Abteilungen untergliederten Bandes über „Historische Sonderwissenschaften" erschienen 1907 die „deutsche Verfassungsgeschichte des Mittelalters" vom Grundriß-Herausgeber selbst und im gleichen Jahr die „Verfassungsgeschichte der deutschen Kirche im Mittelalter" des Greifswalder Historikers Albert Werminghoff167). 1914 kam die Verfassungsgeschichte der Neuzeit von Fritz
Härtung heraus168). Die Rechtsgeschichte
im Rahmen der „Grundriß"-Reihe bearbeitete der Münchener Rechtshistoriker Claudius von Schwerin. Sie beschränkte sich nicht nur fast ausschließlich auf die mittelalterlichen Verhältnisse, sondern reduzierte die Materie, auf Wunsch des Reihenherausgebers, auf eine systematische Darstellung des Privatrechts, der Rechtsquellen, des Straf- und Prozeßrechts. Ausgespart blieben Darlegungen zur Rechtsentwicklung im Rahmen der politischen Geschichte, weshalb in der zweiten Auflage von 1915 ausdrücklich der Titelzusatz „mit Ausschluß der Verfassungsgeschichte" gewählt wurde169). Die faktisch seit Jahrzehnten bereits angedeutete Trennung der Teilgebiete Rechts- und Verfassungsgeschichte wurde hier explizit und formell vollzogen. Sämtliche Teilbände des „Meisterschen Grundrisses" erschienen mehrfach überarbeitet und ergänzt. Die Reihe entfaltete eine beachtliche Wirksamkeit. Während sich das Below-Meineckesche Handbuch mit Bänden zur westeuropäischen, der Meistersche Grundriß wiederum mit Darstellungen zur deut-
166) Der zweite Band des „Meisterschen Grundrisses" („Historische Sonderwissenschaften") erschien in sieben Abteilungen im Leipziger Teubner-Verlag. Zwei behandelten die Wirtschaftsgeschichte, zwei die deutsche Verfassungsgeschichte, einer die deutsche Rechtsgeschichte und zwei die Kirchenverfassungsgeschichte. Zum Grundriß und seinem Herausgeber ausführlich: Bernd Mütter: Aloys Meister (1866-1925). In: Westfälische Zs. 121 (1971), S. 173-247, hier S. 205-207. 167) Meister, Verfassungsgeschichte (1907); Albert Werminghoff: Verfassungsgeschichte der deutschen Kirche im Mittelalter, Leipzig/Berlin 21913 (= Grundriß der Geschichtswissenschaft, 2,6). 168) Siehe dazu ausführlich unten Kap. III.3. 169) Claudius Frh. von Schwerin: Deutsche Rechtsgeschichte (mit Ausschluß der Verfassungsgeschichte), Leipzig/Berlin 21915 (= Grundriß der Geschichtswissenschaft, 2,5). Die
Auflage von 1912 hatte auf den Zusatz in Klammern verzichten können, weil sie vor Erscheinen des Hartungschen Grundrisses herausgekommen war. Allerdings wies der Autor im Vorwort und in der ersten Anmerkung darauf hin, daß seine „Deutsche Rechtsgeschichte" sich nicht mit dem decke, „was der Jurist unter diesem Namen zusammenfaßt", denn „es fehlt die Darstellung der Verfassungsgeschichte, wie die der Wirtschaftsgeschichte", die in der Grundrißreihe separat behandelt würden. Resigniert stellt er fest: „Meine Bemühungen um eine Änderung des Titels hatten keinen Erfolg", „der nun beibehaltene Titel [sei] im Anschluß an einen bei Historikern häufigen Sprachgebrauch gewählt". Claudius Frh. von Schwerin: Deutsche Rechtsgeschichte, Leipzig/Berlin 1912 (= Grundriß der Geschichtswissenschaft, 2,5), S. III u. S. 1, Anm. 1. erste
2.
Verfassungsgeschichtsforschung nach
89
1900
sehen Verfassungsgeschichte
begnügten, verfolgte der Herausgeber eines weiPaul vielbändigen Werkes, Hinneberg, einen höheren und thematisch weiter gespannten Anspruch. Er wollte eine allgemeine, d. h. möglichst universale und vergleichende, Verfassungsgeschichte bieten, die ihrerseits von einer Verwaltungsgeschichte ergänzt werden sollte. In der von Hinneberg herausgegebenen Buchreihe „Die Kultur der Gegenwart" erschien 1911 die erste Hälfte einer „Allgemeinen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte"170). Ihr Ziel war eine umfassende historische Darstellung von den Anfängen bei den „primitiven Völkern", über das orientalische, ostasiatische und europäische Verfassungswesen bis in die Moderne. An dem interdisziplinären Gemeinschaftsunternehmen dieses Teilbandes waren ein Soziologe, zwei Rechtshistoriker, ein Arabist, ein Sinologe und ein Staatswissenschaftler beteiligt171). Die europäische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte vom Altertum bis zum Ende des Alten Reichs im Rahmen des Hinnebergschen „Kulturwerks" übernahmen der Münchener Rechtshistoriker Leopold Wenger und sein Grazer Fachkollege Arnold Luschin von Ebengreuth172). Die zweite Hälfte des Bandes mit der europäischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte seit dem Mittelalter und der deutschen im 19. Jahrhundert hätte Otto Hintze verfassen sollen173). Aber diese Pläne wurden, wie weiter oben erwähnt, nie ausgeführt. Der österreichische Rechtshistoriker Luschin von Ebengreuth hatte 1895/96 bereits ein zweibändiges Lehrbuch zur „Österreichischen Reichsgeschichte" begleitend zu seinem entsprechenden Vorlesungszyklus verfaßt. Seine 150seitige Darstellung der deutschen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte von den „frühgermanischen Reichen" bis zum Reichsuntergang 1806 konnte nur eine Skizze sein. Die Gliederung in den drei chronologischen Kapiteln über das Reich seit dem späten 9. Jahrhundert ist zudem ausgesprochen starr. Nach einem „geschichtlichen Überblick" werden jeweils Verfasteren
no) Alfr.[ed]
Vierkandt
u.a.:
Allgemeine Verfassungs-
und
Verwaltungsgeschichte.
Erste
Hälfte, Leipzig/Berlin 1911 (= Die Kultur der Gegenwart, 2,2,1). Wie der „Grundriß der Geschichtswissenschaft" erschien das allgemein „Kulturwerk" genannte, auf fast sechzig
Bände geplante Unternehmen zu den Geistes- und Naturwissenschaften sowie zur Technik im Leipziger Teubner-Verlag. Der zweite Teil der „systematisch aufgebauten, geschichtlich begründeten Gesamtdarstellung unserer heutigen Kultur", der die zweite Hälfte der „geisteswissenschaftlichen Kulturgebiete" umfaßte, war auf zehn Bände angelegt. 171) Alfred Vierkandt war Soziologe in Berlin, Leopold Wenger und Arnold Luschin von Ebengreuth waren Rechtshistoriker in München bzw. Graz, Martin Hartmann war Arabist in Berlin, Otto Franke Sinologe und Karl Rathgen Staatswissenschaftler, beide in Ham-
burg. 172) Leopold Wenger: Die Verfassung und Verwaltung des europäischen Altertums. In: Vierkandt, Allgemeine Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte (1911), S. 136-197; Arnold Ritter Luschin von Ebengreuth: Die Verfassung und Verwaltung der Germanen und
des deutschen Reiches bis zum Jahre 1806. In: ebd., S. 198-342. 173) Hintzes Name findet sich auf dem Titelblatt der ersten Bandhälfte. nen: Neugebauer, Konzeption (1998), S. 47-50.
Vgl.
zu
den Plä-
90
III. Deutsche
Verfassungsgeschichtsschreibung im späten Kaiserreich
sung, Verwaltung und „die Stände" behandelt. Der Darstellung mangelte es an einer dynamischen Sichtweise; vielfach begegnen lediglich lieblos aufgetürmte Rechtsaltertümer. Wie die meisten damaligen verfassungsgeschichtlichen Grundrisse konzentriert sich auch Luschin von Ebengreuth fast ausschließlich auf die oberste staatliche' Ebene, das Heilige Römische Reich. Nur in den knappen Abschnitten über die Stände kommen die territorialen
Verfassungsentwicklungen zur Sprache174). Den Bereich der territorialen Verfassungsgeschichte in den deutschen Einzelstaaten behandelt auch eine bemerkenswerte Untersuchung des Königsberger Privatdozenten Hans Spangenberg. Er nimmt die „Entstehung der landständischen Verfassung" zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert in den Blick und bearbeitet damit zugleich eine der Kernfragen des epochalen Über-
gangs zwischen Mittelalter und Neuzeit, vom „Lehnsstaat zum Ständestaat"175). Der Schüler von Harry Bresslau belegt seine Ausführungen mit zahlreichen territorialen Beispielen und liefert insgesamt einen Ausschnitt „allgemeiner Verfassungsgeschichte der deutschen Territorien". Die verfassungsvergleichende Methode stellte zu seiner Zeit eine Ausnahme dar, denn die meisten Studien verblieben in landesgeschichtlichen Fragestellungen befangen176). Spangenberg knüpfte mit seiner ständegeschichtlichen Untersuchung an ältere Arbeiten, u. a. von Georg von Below, an. Dessen Spuren folgte er auch bei seiner These, daß die Stände keinen Anteil an der Ausbildung des neuzeitlichen Staates gehabt hätten, sondern diese Entwicklung vielmehr der monarchischen Gewalt der Fürsten zu verdanken sei. Diese Ansicht stieß allerdings nur auf geteilte Zustimmung177). Arnold Luschin von Ebengreuth und Hans Spangenberg drangen mit ihren Überblicken, anders als viele Verfassungsgeschichten, über die Epochenschwelle zur Neuzeit hinaus. Die ,Scheu' vor der Neuzeit hatte dabei, neben aus berufenem Munde: Fritz Härtung: Rez. zu Alfred Vierkandt Allgemeine Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. Erste Hälfte. In: HZ 111 (1913), S. 162-166. Härtung bemängelte neben einem Verdikt über Luschin von Ebengreuth generell die Unterteilung des Bandes nach geographischen statt nach chronologi-
174)
Eine scharfe Kritik
u.a.,
schen Aspekten. 175) Hans Spangenberg: Vom Lehnsstaat zum Ständestaat. Ein Beitrag zur Entstehung der landständischen Verfassung, München 1912 (= Historische Bibliothek, 29) [Ndr. Aalen 1964]. Das folgende Zitat ebd., S.VI. Zur Person: Weber, Lexikon (1984), S.555Í.; zum Werk: Krüger, Landständische Verfassung (2003), S. 50f. 176) In der einzelstaatlichen Verfassungsgeschichte hatte z. B. eine Bearbeitung der Ständegeschichte seit Mitte der 1870er Jahre eingesetzt. Den Aufschwung der Landesgeschichte rechnete sich Georg von Below selbst als Verdienst an. So Georg von Below: Territorium und Stadt. Aufsätze zur deutschen Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte, München/Berlin 21923 (= Historische Bibliothek, 11) [zuerst 1900], S. VI. 177) Der These beipflichtend: Fritz Härtung: Rez. zu Hans Spangenberg, Vom Lehnsstaat zum Ständestaat. In: HZ 113 (1914), S. 349-352. Dagegen erhob Härtung Einwände gegen die Verwendung des Begriffs „Staat", dem er für die mittelalterliche Geschichte die Bezeichnung „Territorium" vorzog. Auch habe Spangenberg „den gewaltigen Einfluß äußerer Bedingungen" vernachlässigt. Ebd., S. 351f.
2.
Verfassungsgeschichtsforschung nach 1900
91
den individuellen Vorlieben der Autoren und der unübersichtlicheren Quellenlage, handfeste inhaltliche Ursachen. Die meisten Verfassungshistoriker neigten zu einer Glorifizierung des frühen und hohen Mittelalters. Ein stark überhöhtes Germanenbild diente als Folie zur Beurteilung späterer Entwicklungen, die schnell als negative Abweichungen bewertet wurden178). Unter dem Stauferkaiser Friedrich II. begann, so die Mehrheit, eine Territorialisierung des Reiches, ein Schwinden kaiserlicher Zentralmacht. Dies deuteten sie als Verfallsprozeß, der sich im Spätmittelalter fortgesetzt und nach dem Westfälischen Frieden endgültig zu Chaos und Zersplitterung der Reichsgewalt geführt habe. Die Darstellung einer solchen historischen Negativentwicklung erschien für die Historikergeneration um 1900 wenig reizvoll, zumal sich der Wilhelminismus als legitimer Erbe eines glanzvollen alten Reiches sehen und stilisieren wollte. Die Tendenzen zur Abwertung des Spätmittelalters traten wenig verblümt in wissenschaftlichen Arbeiten zutage und zeigten sich besonders deutlich in eher populären oder skizzenhaften Darstellungen. Ein Beispiel dafür ist die „Deutsche Verfassungsgeschichte" des Basler Rechtshistorikers Andreas Heusler179). Bei seinem schmalem Bändchen handelte es sich seit dem Werk von Georg Waitz um die erste Darstellung unter diesem Titel überhaupt. Der Schweizer Heusler zielte nicht in erster Linie auf ein wissenschaftliches Publikum, sondern er beabsichtigte, „einem gebildeten Leserkreise [...] die Verfassungsgeschichte unseres [sie!] Volkes anschaulich und verständlich zu machen". Es gehe dabei um einen „Versuch, das übliche Schema der Rechtsgeschichte mit seiner Auflösung des Stoffes in eine unter sich mehr oder weniger zusammenhangslose Behandlung der einzelnen Institute des Verfassungslebens durch eine einheitliche historische Darstellung zu ersetzen"180). Heusler erzählt zwar fließender als viele Rechtshistoriker, aber entgegen seiner Ankündigung geht er innerhalb der drei chronologischen Kapitel dennoch vorwiegend nach Institutionen gestaffelt vor. In einem entscheidenden Punkt unterscheidet sich sein Überblick jedoch deutlich von den meisten Rechtsgeschichten der Zeit: Viel breiter als in anderen Darstellungen kommt bei ihm die politische Ereignisgeschichte zum Tragen. Heusler geht es um den Zusammenhang von politischer Lage und Entwicklung der Verfassung. Das Wechselspiel von historischer Erzählung und juristisch-systematischer Skizze verleiht ebenso wie die gut ausgewählten historischen Beispiele den Darlegungen eine besondere Lebhaftigkeit. Darin liegt Heuslers von den
178) Graus, Verfassungsgeschichte (1986), S. 541, 551. 179) Andreas Heusler: Deutsche Verfassungsgeschichte, Leipzig
1905. Vgl. auch, aus der Jahre 1915/16 hervorgegangen: ders.: Schweizerische Verfassungsgeschichte, Basel 1920 [Ndr. Aalen 1968]. Ein anderes Beispiel: Eduard Winkelmann: Allgemeine Verfassungsgeschichte. Als Handbuch für Studierende und Lehrer, hg. v. Alfred Winkelmann, Leipzig 1901. Bei diesem posthum erschienenen Werk eines Heidelberger Historikers handelt sich um eine stark begrenzte Auswahl aus dem Material, die zudem im 17. Jahrhundert abbricht und keine feststellbare Wirkung entfaltete. 18n) Heusler, Deutsche Verfassungsgeschichte (1905), S. V (Vorwort).
Vorlesungen
92
III. Deutsche
Verfassungsgeschichtsschreibung im späten Kaiserreich
Rezensenten hervorgehobene Stärke181). Allerdings wird die neuzeitliche Geschichte stark vernachlässigt; die Studie endet überdies mit dem Untergang des Alten Reiches. Die Überblicksdarstellung von Heusler macht noch einmal deutlich, daß sich die Disziplin der Verfassungsgeschichte um 1900 eines größeren Interesses als je zuvor erfreute. Im Bereich der Monographien häuften sich Arbeiten zur Stadtverfassung, zur Ideengeschichte des Konstitutionalismus und zu den Ursprüngen der Selbstverwaltung182). Es wurden gelegentlich auch Untersuchungen angeregt, die auf dem Vergleich von Verfassungstexten basierten183). Dieser Befund, der sich auch in wissenschaftlichen wie populären Forschungssynthesen nachweisen läßt, schlug sich zudem in der Präsenz der Verfassungsgeschichte in den universitären Vorlesungsverzeichnissen nieder184). Die erwähnten Grundrisse zur Verfassungsgeschichte mit wissenschaftlichem Anspruch folgten auf die universitären Veranstaltungen. Sie ergänzten das Vorlesungsprogramm, dienten der Vorbereitung oder Nacharbeitung für die Studenten. In einigen Fällen handelte es sich ohnehin um die Veröffentlichung der Kollegmanuskripte. Die Überblicksdarstellungen wurden zudem begleitet von Editionen, die Forschern wie Studenten eine Auswahl aus dem Quellenmaterial der deutschen Verfassungsgeschichte zur Verfügung stellten. Um die Jahrhundertwende lagen mehrere solche Ausgaben vor, wobei sich
181) Ferd.[inand] Kogler: Rez. zu Andreas Heusler, Deutsche Verfassungsgeschichte. In: DLZ 28 (1907), Sp. 53f.; Georg Jellinek. In: DJZ 11 (1906), Sp. 976; R.fudolf] Hübner. In: ZRG/GA 27 (1906), S. 335-337, hier S. 335, sprach gar von einem „literarischen Ereignis". Kritischer: [Max] Delbrück. In: PrJbb 124 (1906), S. 163f; negativ und polemisch: G.[eorg] v. Below. In: HZ 97 (1906), S. 574-576. Skizze aus heutiger Sicht zu Person und Werk Heuslers mit negativer Wertung zur Verfassungsgeschichte, der kein „größerer wissenschaftlicher Wert" zukomme: Bernd-Rüdiger Kern: Andreas Heusler Ein Schweizer Germanist. In: JuS 24 (1984), S. 916-920, hier S. 918. 182) So auch Below, Geschichtschreibung (1914), S. 1171. 183) Rudolf Oeschey: Die bayerische Verfassungsurkunde vom 26. Mai 1818 und die Charte Ludwigs XVIII. vom 4. Juni 1814. Ein Beitrag zur Lehre vom monarchischen Prinzip. Unter Berücksichtigung der bayerischen Konstitution vom 01. Mai 1808 und deren Vorbildes, der westfälischen Verfassung vom 15. November 1807, München 1914; Kurt Usée: Der Einfluß der französischen Verfassungen auf die deutschen Verfassungsurkunden der Jahre 1806-1820, Greifswald 1910. 184) GLA Karlsruhe, NL Marcks, Nr. 40. Manuskript zu einer Vorlesung über „Allgemeine Verfassungsgeschichte der Neuzeit (1450-1789)", die er im Sommersemester 1892 in Freiburg las. Den Nachweis der Aufgeschlossenheit von Marcks für eine Verfassungsgeschichte, die Verwaltung, Wirtschaft und Inneres berücksichtigt, führt Jens Nordalm: Historismus und moderne Welt. Erich Marcks (1861-1938) in der deutschen Geschichtswissenschaft, Berlin 2003 (= Historische Forschungen, 76), S. 170-176. Vom Brocke, Breysig (1971), S.49, erwähnt Übungen Kurt Breysigs zur „Sozial- und Verfassungsgeschichte". Nach Oestreich, Fachhistorie (1969), S.334, 336, las Karl Lamprecht seit 1891/92 regelmäßig „Deutsche Wirtschafts-, Sozial- und Verfassungsgeschichte". Den Anspruch des länderübergreifenden Vergleichs erwähnt [Karl] Brandi: Geschichte, Kunstgeschichte. In: W.hlhelm] Lexis (Hg.), Die Universitäten im Deutschen Reich, Berlin 1904 (= Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich, 1), S. 208-218, hier S. 211,216. -
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insbesondere der Greifswalder Privatdozent und spätere Berliner Bibliothekar Wilhelm Altmann verdient machte185). Ein merklicher Zuwachs war zudem im Bereich historischer Buchreihen zu verzeichnen. Auch hier konnte die Verfassungsgeschichtsschreibung partizipieren186). Insgesamt läßt sich von einer Verbreiterung des verfassungsgeschichtlichen Arbeitens reden, die sich u.a. in der zunehmenden didaktischen Aufbereitung zeigte. Diese Entwicklung schlug sich schließlich in der Prüfungsordnung für das „Lehramt an höheren Schulen in Preußen" nieder. Für das Hauptfach Geschichte wurden neben dem „Verständnis für Staats- und völkerrechtliche, wirtschaftsgeschichtliche und sozialgeschichtliche Fragen", auch die Bekanntschaft mit der Kulturgeschichte und der „Verfassungsgeschichte der bedeutendsten Staaten des Altertums, des Mittelalters und der Neuzeit" erwartet187). In der wissenschaftlichen Darstellung wie Dokumentation blieb allerdings eine große Lücke vor allem in der neuzeitlichen Verfassungsgeschichte bestehen. Dies zeigte sich um so nachdrücklicher, als die Vorlesungsprogramme in der Verfassungsgeschichte „im Gegensatz zu früher die jüngeren Jahrhunderte vor den älteren" bevorzugten188). Der Mangel an entsprechendem Leseund Lernstoff wurde mit dem Grundriß von Fritz Härtung aus dem Jahr 1914 geschlossen. Bis dahin hatte man im Hinblick auf das 19. Jahrhundert und den Konstitutionalismus allenfalls die Möglichkeit, sich in den historischen Partien juristischer Werke zur Allgemeinen Staatslehre oder zur Rechtsgeschichte verfassungshistorisch zu informieren.
185) Wilh.[elm] Altmann/Emst Bernheim (Hg.): Ausgewählte Urkunden zur Erläuterung der Verfassungsgeschichte Deutschlands im Mittelalter. Zum Handgebrauch für Juristen und Historiker, Berlin 1891/31904/51920; Wilh.[elm] Altmann (Hg.): Ausgewählte Urkunden zur deutschen Verfassungsgeschichte seit 1806. Zum Handgebrauch für Historiker und Juristen, Berlin 1898; Georg von ße/ow/Friedrich Keutgen (Hg.): Ausgewählte Urkunden zur deutschen Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte, 2 Bde., Berlin/Stuttgart 1901-1926; Karl Zeumer (Hg.): Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, 2 Tie, Tübingen 1904/21913 (= Quellensammlung zum Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht, 2). Siehe außerdem zur territorialen Verfassungsgeschichte: Wilh.[elm] Altmann (Hg.): Ausgewählte Urkunden zur brandenburgischpreußischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. 2 Tie, Berlin 1897. Vgl. dazu die kritische Rezension von OJtto] H.[intze]. In: FBPG 10 (1898), S. 473-475. Weiterhin: Wilh.[elm] Altmann (Hg.): Ausgewählte Urkunden zur ausserdeutschen Verfassungsgeschichte. Zum Handgebrauch für Historiker und Juristen, Berlin 1897. Zu Altmann: Philipp Losch: Altmann, Wilhelm. In: NDB 1 (1953), S.226f. 186) Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit, hg. v. Karl Zeumer, Weimar 1905ff. 187) Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen, Jg. 1917, S. 613-647 (28.7.1917), hier S. 626. 188) Brandi, Geschichte (1904), S.216.
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b) Die Beiträge der Allgemeinen Staatslehre und der Rechtsgeschichte Von juristischer Seite befaßte sich neben der Rechtsgeschichte am Ende des 19. Jahrhunderts vor allem die Allgemeine Staatslehre mit verfassungsgeschichtlichen Themen und Teilbereichen. Um die Jahrhundertwende läßt sich geradezu eine Revitalisierung und damit verbunden eine begrenzte Rehistorisierung dieses juristischen Teilgebiets konstatieren. Vorausgegangen war eine existentielle Krise der Allgemeinen Staatslehre, die unter wechselnden Namen bis Mitte des 19. Jahrhunderts noch als Grundlagenfach und teilweise sogar als Königsdisziplin der Jurisprudenz gegolten hatte189). Bei einer generalisierenden Betrachtung der Lehrbücher zur „Allgemeinen Staatslehre" um 1900 fällt allerdings sofort ein fundamentaler Unterschied zu historischen Arbeiten zur Verfassungsgeschichte ins Auge. Zwar handelt es sich inhaltlich um gleiche oder ähnliche Themen und Probleme, dennoch sind Ansatz, Aufbau und Stil der Darstellungen von Juristen und Historikern völlig verschieden. Die juristischen Überblicke, selbst wenn sie historisches Material auswerten und historisch argumentieren, sind nämlich grundsätzlich nicht chronologisch aufgebaut. Vielmehr dominiert bei den Grundrissen zur „Allgemeinen Staatslehre" ähnlich wie bei den juristischen Rechtsgeschichten, im Unterschied zu den historischen Verfassungsgeschichten, nicht eine entwicklungsgeschichtliche, sondern eine institutionell-systematische Perspektive. Die Geschichte der Verfassung, verstanden stets im weiteren Sinne, ist skelettiert in die Fragen nach Ursprung, Wesen und Struktur des Staates. Noch weit deutlicher als in den meisten historischen Überblicken dominiert (in der Natur der Sache liegend) eine etatistische Sicht, wobei im Extremfall Staat und Recht in eins fallen. Es wird gefragt nach dem Staatsbegriff, nach Grundlagen und Entstehung, Zweck und Formen, schließlich nach den Funktionen des Staates und seinem Verhältnis zu Individuum und Gesellschaft. Alles in allem handelt es sich eher um historische Verfassungslehren als um juristische Verfassungsgeschichten. Wenn an dieser Stelle ein kurzer Blick auf die historisch arbeitenden Juristen eingeflochten wird, so geschieht dies aus drei Gründen. Erstens publizierten nicht wenige Öffentlichrechtler verfassungshistorische Monographien zu Einzelthemen, die von den Historikern intensiv rezipiert wurden. Zweitens stellt die Allgemeine Staatslehre der Jahrhundertwende das Bindeglied zwischen den Reichshistorikern des 18. Jahrhunderts und den vormärzlichen Staatsrechtslehrern zur Generation der juristischen Verfassungshistoriker dar, die vor allem in den dreißiger Jahren Überblicke zur deutschen Verfassungs-
189) Im 18. Jahrhundert war die Allgemeine Staatslehre als allgemeines Naturrecht oder allgemeines Staatsrecht bzw. Staatsverfassungslehre oder Staatslehre geläufig. Die endgültige Einführung des bis heute üblichen Begriffs erfolgte erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Stolleis, Geschichte, Bd. 2 (1992), S. 122f.
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geschichte vorlegten. Schließlich gab es drittens nicht unerhebliche wechselseitige methodische Einflüsse zwischen Historikern und Juristen um 1900. Mit dem Ende des Deutschen Bundes und der zeitgleich beginnenden Durchsetzung des Positivismus der Laband-Gerberschen Richtung herrschte jenseits der Deutung rechtlicher Normen ein relativ großer Freiraum. Der „Bedarf an Reflexion über [...] die .zeitlosen' Grundlagen des Staates" wurde geringer angesichts der notwendigen Bereitstellung von Gesetzestexten und den dafür benötigten Interpretamenten190). Theoretische Erwägungen über Staatsentstehung oder den Geltungsgrund des Rechts waren angesichts einer „antiphilosophischen, nach ,Realem' geradezu hungernden Grundstimmung" nicht gefragt191). Entsprechend gering fiel in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit wie fachintern, jenseits der gleichfalls deutlich an Ansehen einbüßenden Rechtshistorie, das Interesse für die Vorgeschichte und Geschichte von Staat und Recht aus. Entscheidend war die tatsächliche Geltung der Normen, nicht ihr Zustandekommen, und als maßgeblich für ihre Auslegung erwiesen sich teleologische und funktionale, nicht aber historische Aspekte. Die rund eine Generation währende Vorherrschaft positivistisch orientierter ,Puristen' im Öffentlichen Recht192), geriet um 1900 in die Krise. Ihnen wurde eine eklatante Vernachlässigung der sozialen Wirklichkeit und eine rein technische Interpretation des Rechts vorgeworfen. Ein Neuansatz in der Allgemeinen Staatslehre, so meinten die Kritiker, müsse zwischen Recht und Gesellschaft, zwischen Gesetz und Wirklichkeit, zwischen Normativität und Faktizität vermitteln. Damit gewann eine Auffassung Raum, daß Staatsdeutung und Rechtsinterpretation ohne philosophische und historische Begrün-
dung schlechthin lückenhaft sei. Eine Allgemeine Staatslehre erschien ohne den Rückgriff auf historische oder ethnologische Rechtsvergleichung nicht tragfähig. Die kurz vor der Jahrhundertwende vorgelegten Werke von Conrad Bornhak und Hermann Rehm trugen dieser Auffassung Rechnung. Der Berliner Verwaltungsjurist Conrad Bornhak, bereits früher durch verfassungshistorische Arbeiten hervorgetreten193), legte in seinen kurzen methodologischen Ausführungen zu Beginn seiner „Allgemeinen Staatslehre" dar, daß der Staat „nicht vernunftgemäß zu konstruiren, sondern empirisch zu 190) Ebd., S.423. Ebd., S. 423^159, ein konziser Überblick über die Lage der Allgemeinen Staatslehre zwischen 1850 und 1914. Vgl. auch Jens Kersten: Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, Tübingen 2000 (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, 28), S. 74-90. 191) Stolleis, Geschichte, Bd. 2 (1992), S. 424. Bezeichnend für die stockende Entwicklung ist, daß zwischen 1870 und 1895 kaum neue Darstellungen der „Allgemeinen Staatslehre" erschienen. 192) Ebd.,S.435f. 193) Zu ihm: ebd., S.303,
Anm. 159. Bornhak legte 1903 auch eine preußische RechtsHintze ausführlich kritisch besprochen wurde. OJtto] H.[intze]: Rez. zu Conrad Bornhak, Preußische Staats- und Rechtsgeschichte. In: FBPG 18 (1905), S. 288-306, bes. S. 288-290.
geschichte
vor,
die
von
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späten Kaiserreich
erfassen" sei. Und er fuhr fort: „Eine über den konkreten einzelnen Staat hinausgehende Lehre vom Staate überhaupt läßt sich [...] auf historischrechtsvergleichender Grundlage gewinnen."194) Auch der Straßburger Staatsrechtler Hermann Rehm verfolgte ähnliche Ziele mit ähnlichen Mitteln. Er begab sich gleichfalls auf den Weg der empirisch-historisch arbeitenden, vergleichenden Staatslehre195). Aber historisches Material und zeitgenössisches Argument blieben weitgehend unverbunden. Letztlich reduzierte sich die historisierende Allgemeine Staatslehre bei Bornhak und Rehm auf eine „pragmatische Nachzeichnung des geschichtlich Gewordenen, verbunden mit der Hoffnung, im Strom des Geschichtlichen doch gleichbleibende Elemente zu entdecken"196). Nach diesen staatlichen „Elementen" aber, also systematisch, gliederte sich der Aufbau der Grundrisse, nicht etwa nach historischen Zeitaltern. Breiter historisch als seine Vorgänger Bornhak und Rehm arbeitete der Freiburger Öffentlichrechtler Richard Schmidt. In seiner mehrbändigen, allerdings unvollendet gebliebenen „Allgemeinen Staatslehre" füllte der historische Teil über „die verschiedenen Formen der Staatsbildung" fast fünfhundert Textseiten197). Es handelt sich um einen umfassenden enzyklopädischen Durchgang durch die außen- und innenpolitische Staatengeschichte Europas, allerdings unter völliger Ausklammerung der ost- und weitgehender Vernachlässigung der nordeuropäischen Entwicklungen. Dabei überwiegt die positivistische Faktenfülle, die historische Beschreibung von Staatsentstehung und -entwicklung, wogegen die vergleichende Analyse stark vernachlässigt wird. Die schärfste Klinge unter allen Kritikern führte der Verfassungshistoriker Julius Hatschek, der von einer „aus zweiter Hand geschöpften Geschichtsdarstellung" schrieb und Schmidts Methode als „verwässerte Geschichts-
schreibung" charakterisierte198).
Im Unterschied zu Rehm und Bornhaks Werken ist Schmidts verfassungshistorischer Teilband in der Grobgliederung chronologisch dreigeteilt. Schmidt differenziert zwischen dem Früh- und Hochmittelalter, dem späten Mittelalter und der „Entstehung der modernen Staatenwelt" seit dem 16. Jahrhundert. Für verfassungsgeschichtlich innovative Erkenntnisse ist die Anlage des Werkes allerdings viel zu umfassend, die Fakten wirken erdrückend, die
194)
nek
Conrad Bornhak:
(2000), S. 76f.
Allgemeine Staatslehre,
Berlin 1896, S. 6.
Vgl.
dazu
Kersten, Jelli-
195) Hermann Rehm: Allgemeine Staatslehre. Aus Handbuch des Oeffentlichen Rechts: Einleitungsband, Freiburg i. Br./Leipzig/Tübingen 1899. Vgl. dazu Kersten, Jellinek (2000), S. 78-80. 196) Stolleis, Geschichte, Bd. 2 (1992), S. 441. 197) Richard Schmidt: Allgemeine Staatslehre. Bd. 2, 2: Die verschiedenen Formen der Staatsbildung. Die Entstehung der modernen Staatenwelt, Leipzig 1903 (= Hand- und Lehrbuch der Staatswissenschaften in selbständigen Bänden, 3,2) [Ndr. Aalen 1969], 198) Julius Hatschek: Kritische Streifzüge durch die Literatur des öffentlichen Rechts. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 27 (1908), S. 260-273, hier S. 260-262.
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historischen Ergebnisse sind keineswegs neu oder spektakulär199). Der Vergleich beschränkt sich auf Ausführungen zur Geltung und Funktion einer Verfassung, er ist vorwiegend rechtstechnischer und verfassungstypologischer Natur. Das epochemachende Werk zur Staatslehre um die Jahrhundertwende schrieb ohne Zweifel der Heidelberger Staatsrechtler Georg Jellinek. Die erstmals im Jahr 1900 erschienene „Allgemeine Staatslehre" hat noch zu Lebzeiten des 1911 verstorbenen Gelehrten eine ungeheure Wirkung entfaltet und mehrere Auflagen und Übersetzungen erlebt. Es ist sein Hauptwerk geworden und hat seinen Verfasser zu einem der wenigen gemacht, „die in ihrem Fach Weltruf genossen"200). In unserem Zusammenhang interessiert weniger die generelle fachliche Bedeutung von Jellineks Schrift, sondern vielmehr sein Verhältnis zur Geschichte, seine methodologische Wirkung und sein spezifisch verfassungshistorischer Gehalt. Zunächst ist es wichtig festzustellen, daß Jellinek, anders als Richard Schmidt, keinen enzyklopädischen Anspruch besaß. Anders als dieser schrieb er nur einen einzigen Band zur „Allgemeinen Staatslehre", in dem er konzentriert alle Aspekte des Themas abhandelte. Es ist somit eine Summe verschiedener Fachbeiträge, die er in seinem Werk gleichsam integriert. Rechtsdogmatik und Rechtsvergleich kommen ebenso zur Sprache wie „sozialwissenschaftliche" und staatswissenschaftliche Fragen. Zudem verarbeitete er die Erträge der (politischen) Staatengeschichte und der Ideengeschichte. Die Historie ist nicht systematisch skelettiert, sondern sie begegnet dem Leser hauptsächlich kompakt in zwei Abschnitten über „die geschichtlichen Haupttypen des Staates"201), einer typologischen Betrachtung der Entwicklung vom altorientalischen und antiken bis zum modernen Staat sowie in einem knappen „Überblick über die Geschichte der Verfassungen"202). Dabei handelt es sich allerdings, wie schon bei Bornhak oder Rehm, nicht um eine im eigent-
199) Ähnlich kritisch im Urteil: Stolleis, Geschichte, Bd. 2 (1992), S. 441f; mehr die methodischen als die historisch-analytischen Schwächen betonend Kersten, Jellinek (2000), S. 82-85. Dagegen mit positiverer Bilanz: Thomas Duve: Normativität und Empirie im öffentlichen Recht und der Politikwissenschaft um 1900. Historisch-systematische Untersuchung des Lebens und Werks von Richard Schmidt (1862-1944) und der Methodenentwicklung seiner Zeit, Ebelsbach 1998 (= Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, 81). 200) Max Weber, zit. nach [Hagen] H.[of]: Georg
Jellinek
(1851-1911).
In:
Kleinheyerl
Schröder, Juristen (1996), S. 215-220, hier S. 217. In diesem Artikel finden sich weitere biographische und bibliographische Angaben. Jellineks „Staatslehre" galt über Jahrzehnte als „Standardwerk". Dagegen polemisch negativ: Carl Schmitt: Das „Allgemeine deutsche Staatsrecht" als Beispiel rechtswissenschaftlicher Systembildung. In: ZgStW 100 (1940), S. 5-24, hier S. 19. Weiterhin wichtig: Andreas Anter: Georg Jellineks wissenschaftliche Politik. Positionen, Kontexte, Wirkungslinien. In: PVS 39 (1998), S. 503-526. 201) Georg Jellinek: Allgemeine Staatslehre, bearb. v. Walter Jellinek, Berlin 31914 [zuerst 1900], S. 287-331. 202) Ebd., S. 505-531.
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liehen Sinne historische Darstellung. Bei Jellinek stehen die Entwicklung der Verfassungsformen und die Entstehung der schriftlichen Verfassungsurkunden im Blickpunkt. Die Wirkung von Jellineks Staatslehre auf die historische Verfassungsgeschichtsschreibung blieb zunächst begrenzt. Eine Ausnahme bildete Otto Hintze, den Jellineks Ausführungen zur Typenlehre203) und sein systematischer Denkansatz mit der Verknüpfung von juristischer und soziologischer Betrachtung des Staates nachhaltig beeindruckten. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß Jellineks Unterscheidung eines idealen und eines empirischen Typus204) in Hintzes Entwurf des Realtypus Eingang gefunden hat, selbst wenn Hintze sich dazu nicht explizit äußerte205). Jellinek hat parallel zu Max Weber die Bedeutung typisierender Forschung mit Nachdruck betont und analytisch überzeugend fundiert. Selbst wenn man zu Recht darauf hinweist, daß Juristen generell typisierend arbeiten, „wenn sie induktiv-vergleichend über soziale Wirklichkeit oder juristische Formen sprechen", bleibt Jellineks Verdienst bestehen. Es handelt sich allerdings „weniger [um] eine Gründungs-, denn [um] eine Begründungsleistung"206). Aber nicht nur in der „Allgemeinen Staatslehre" hat sich Jellineks methodische Anregung auf die Verfassungsgeschichtsschreibung ausgewirkt. Er hat vielmehr, wie auch andere Öffentlichrechtler, durch monographische Darstellungen mit verfassungsgeschichtlichem Ansatz einen direkten Beitrag in diesem um 1900 von Historikern und Rechtshistorikern dominierten Teilgebiet geleistet. Hervorgehoben seien hier, partes pro toto, ein wichtiger vergleichender Aufsatz über ,,[d]ie Entwickelung des Ministeriums in der konstitutionellen Monarchie"207) sowie seine Untersuchung über die Entstehung der Menschen- und Bürgerrechte, deren Zusammenhang mit den amerikanischen Unabhängigkeitserklärungen und deren religiöse Grundlegung er überzeu-
gend nachweist208).
203) Ebd., S. 30-42. 204) Eine ähnliche Differenzierung
war
bereits weit früher, z. B. bei Johann Caspar so explizit wie bei Jellinek ausgeführt
Bluntschli, methodologisch angedacht, aber nicht worden. Kersten, Jellinek (2000), S. 102.
205)
Generell läßt sich Hintzes Wertschätzung für Jellinek hauptsächlich implizit aufzeigen, weswegen sie nicht selten übersehen wurde. Eine Ausnahme davon bildet die etwas versteckte Stelle bei Otto Hintze: Der moderne Kapitalismus als historisches Individuum. Ein kritischer Bericht über Sombarts Werk. In: ders., Soziologie (1982), S. 374-426 [zuerst 1929], hier S. 383, wo Hintze Jellineks Bedeutung „für die politische Verfassungsgeschichte" ausdrücklich hervorhebt. Jellineks Einfluß erwähnen Oestreich, Hintzes Stellung (1964), S. 32*, und Hübinger, Staatstheorie (1988), S. 152f. u. Anm. 39. 206) Kersten, Jellinek (2000), S. 102. 207) Georg Jellinek: Die Entwickelung des Ministeriums in der konstitutionellen Monarchie. In: ders., Ausgewählte Schriften und Reden. Bd. 2, Berlin 1911 [Ndr. Aalen 1970], S. 89-139 [zuerst 1883]. 208) Ders.: Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte, Leipzig 1895 (= Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen, 1,3).
2.
Verfassungsgeschichtsforschung nach
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Neben Jellinek haben sich auch andere Öffentlichrechtler mit Themen aus der Verfassungsgeschichte beschäftigt. 1905 gaben zwei Juristen, der Berliner Rechtshistoriker Karl Zeumer und der Bonner Öffentlichrechtler Fritz von Stier-Somlo, die „Deutsche Verfassungsgeschichte" als ihr Lehrgebiet an209). Als ein Beispiel für die inhaltliche Auseinandersetzung mit verfassungsgeschichtlichen Themen sei an dieser Stelle das frühe Werk des Staats- und Kirchenrechtlers Rudolf Smend genannt210). Smend legte gleich zwei verfassungshistorische Qualifikationsschriften vor. Seine Dissertation aus dem Jahr 1904 behandelte „die Preußische Verfassungsurkunde im Vergleich mit der Belgischen"211), seine Habilitationsschrift setzte sich vier Jahre später mit „Geschichte und Verfassung" des Reichskammergerichts auseinander212). In seiner Dissertation geht Smend beim Vergleich und bei der Auslegung der Verfassungstexte vor allem historisch vor; denn die unterschiedliche Interpretation beider Urkunden führt er auf die Entstehungsgeschichte des preußischen Verfassungsentwurfs vom Mai 1848 zurück, die er einleitend rekonstruiert. Danach folgen allerdings vorwiegend rechtsdogmatische Ausführungen, die ihr Schwergewicht allein deshalb in der schlüssigen aktuellen Interpretation besitzen, weil es sich bei beiden Texten im Jahre 1904 um geltendes Ver-
fassungsrecht handelte213). Als ausschließlich historisch-„antiquarischen" Beitrag wollte Smend selbst seine Darstellung des Reichskammergerichts verstanden wissen214). Die Untersuchung trennt einen historischen von einem systematischen Teil. Im ersten wird die Geschichte des Gerichts im Rahmen der Reichsverfassung nach209) G.[ustav] Z/e/er/Th.[eodor] Scheffer: Das Akademische Deutschland. Biographischbibliographisches Handbuch für die Universitäten des Deutschen Reiches als Ergänzung
Deutschen Universitäts-Kalender. Bd. 2: Die juristischen Fakultäten, Leipzig 1905, S. 13, 54. Zeumer war 1887 in Berlin für „Deutsche Rechts- und Verfassungsgeschichte" habilitiert worden. 21°) Biographische Kurzinformation bei: M.[ichael] Stolleis: Smend, Rudolf. In: ders., Juristen (1995), S. 569-571, mit weiterer Literatur. 21') Rudolf Smend: Die Preußische Verfassungsurkunde im Vergleich mit der Belgischen, Göttingen 1904. Es handelt sich um die erweiterte Druckfassung der preisgekrönten Dissertation. 212) Ders.: Das Reichskammergericht. Tl. 1: Geschichte und Verfassung, Weimar 1911 (= Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit, 4,3) [Ndr. Aalen 1965]. Auch hier handelt es sich um eine erweiterte Ausgabe der Kieler Habilitationsschrift. Ein zweiter Teil erschien nicht. 213) Einen historisch fundierten, allerdings unvollendeten Kommentar für die Zeitgenossen lieferte Gerhard Anschütz: Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat. Vom 31. Januar 1850. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis. Bd. 1: Einleitung. Die Titel Vom Staatsgebiete und von den Rechten der Preußen, Berlin 1912 [Ndr. Aalen 1974]. Anschütz bietet eine 60seitige Einleitung zur preußischen Verfassungsgeschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (ohne Erwähnung von Smends Arbeit!). 214) Smend, Reichskammergericht (1911), S. IX (Vorbemerkung zur Neuausgabe 1965). Die Abhandlung gilt bis heute als „grundlegend". So Helmut Neuhaus: Das Reich in der frühen Neuzeit, München 1997 (= Enzyklopädie deutscher Geschichte, 42), S. 98. zum
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gezeichnet, im zweiten Teil handelt es sich mit der Betrachtung des Gerichtspersonals um einen Beitrag zur „allgemeinen Behörden- und Kanzleigeschichte"215). Ein zweiter, allerdings nie publizierter Band hätte das Prozeßverfahren, die Zuständigkeiten und die Leistungen des Gerichts schildern sollen. Smend stellt dem chronologisch-entwicklungsgeschichtlichen einen systematisch-institutionellen Ansatz gegenüber. Da das Werk ein Torso blieb, liegt ein gewisser Mangel in der ungleichgewichtigen Anwendung beider Verfahren.
Ähnlich deutlich wie Rudolf Smend rückte noch ein anderer Staatsrechtler die historische Arbeit in den Vordergrund seines Werkes: der Berliner Privatdozent, Professor an der Handelshochschule und spätere Weimarer Staatssekretär des Inneren Hugo Preuß216). Er knüpfte im Unterschied zum herrschenden staatsrechtlichen Positivismus an vormärzliberale Traditionen an. Die bürgerliche Partizipation am Staat sah er in der Idee der kommunalen Selbstverwaltung am besten verwirklicht. Er stellte sich damit in die Nachfolge der Genossenschaftstheorie von Otto Gierke, die er allerdings im Unterschied zu seinem akademischen Lehrer demokratisch deutete. Preuß' verfassungshistorisches Hauptwerk beschäftigt sich mit einem vor der Jahrhundertwende äußerst beliebten historiographischen Thema, mit der „Entwicklung des deutschen Städtewesens"217). Wie bereits Smend verbindet Preuß entwicklungsgeschichtliche und systematische Betrachtung, wobei letztere im nicht erschienenen zweiten Band folgen sollte218). Preuß behandelt die Stadtgeschichte von den Anfängen in der Antike bis in die Gegenwart. Je hundert Seiten mißt er dem Mittelalter, der Frühen Neuzeit und dem W.Jahrhundert zu. Im Zentrum aber steht gleichgewichtig im Umfang die Entstehung der preußischen Städteordnung von 1807 als „Wiedergeburt städtischer Selbstverwaltung"219). Preuß' „Städtewesen" hebt sich von vergleichbaren Werken dadurch ab, daß er erstens die Stadtgeschichte quer durch alle Perioden untersucht, zweitens das Schwergewicht der Darstellung ins W.Jahrhundert legt und drittens den entwicklungsgeschichtlichen Gedanken streng verfolgt. Gerade mit dem letztgenannten methodischen Zugriff arbeitete er anders als die meisten verfassungshistorisch tätigen Öffentlichrechtler und 215) Smend, Reichskammergericht (1911), S. XII (Vorbemerkung von 1911). 216) Kurzporträt: [Hagen] Hfofj: Hugo Preuß. In: KleinheyerlSchröder, Juristen (1996),
S. 324-327. Zu Preuß als Historiker: Gustav Schmidt: Hugo Preuß. In: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker. Bd. 7, Göttingen 1980, S. 55-68; Michael Dreyer: Hugo Preuß (1860-1925). Biographie eines Demokraten, Paderborn 2005. 217) Hugo Preuß: Die Entwicklung des deutschen Städtewesens. Bd. 1: Entwicklungsgeschichte der deutschen Städteverfassung, Leipzig 1906 [Ndr. Aalen 1965]. 218) Ebd., S. IV, führt er aus: „Gibt der erste Band gewissermaßen einen Längsschnitt der städtischen Entwicklung, so wird der zweite einen Querschnitt versuchen, indem er die Entwicklung der städtischen Kommunalverwaltung und Kommunalpolitik auf den wichtigsten Gebieten ihrer Funktionen darstellt und die daraus sich ergebenden Probleme für die weitere Entwicklung der städtischen Organisation erörtert." 219) Ebd., S. 195-290.
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Verfassungsgeschichtsforschung nach 1900
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Rechtshistoriker. Er ging eher historisch als juristisch vor. Doch mit seiner konsequent liberal-demokratischen Ausrichtung fand Preuß unter den Juristen und den Historikern kaum Nachfolger. Einer der wenigen politischen Weggenossen von Preuß, der zudem gleichfalls schwerpunktmäßig mit verfassungsgeschichtlichen Themen befaßt war, ist in diesem Zusammenhang kurz zu erwähnen, obwohl er kein Jurist war: Ludwig Bergsträsser. Er habilitierte sich 1910 im Fach Geschichte an der Universität Greifswald mit einer Arbeit zur Vorgeschichte der Zentrumspartei220). Bergsträsser, der nach 1918 beim Reichsarchiv arbeitete, war ab 1924 Reichstagsabgeordneter der DDP und seit 1930 in gleicher Funktion für die SPD tätig. Vor dem Ersten Weltkrieg legte er eine Darstellung zur „Geschichte der Reichsverfassung" von 1871 sowie eine Edition zur Verfassung von 1849 vor221). Ausdrücklich grenzt er sich im Vorwort von den „systematischen Darstellungen" der Juristen ebenso ab wie von denjenigen historischen Werken, denen es primär um die „diplomatischen Leistungen" bei der Verfassungsentstehung gehe. Er wolle dagegen die politischen Probleme untersuchen und dabei besonders die öffentliche Meinung als eigenständigen Einflußfaktor herausstellen222). Bergsträsser folgte mit seinen frühen Studien den bisher ausschließlich biographisch-ideengeschichtlich ausgerichteten Untersuchungen zur Parteiengeschichte, die Hermann Oncken über Ferdinand Lassalle und Rudolf von Bennigsen vorgelegt hatte223). Von diesen Vorgaben unterschied er sich durch seine ausgesprochen didaktisch angelegte und gegenwartsbezogene Herangehensweise sowie inhaltlich durch die Tatsache, daß er auf die von Oncken vernachlässigte Parteiprogrammatik und die Organisationsgeschichte besonderen Wert legte224). Den Weg zu einem politikwissenschaftlich orientierten, an der Parteiengeschichte besonders interessierten Historiker hatte er mit diesen wegen des Weltkriegs vergleichsweise wenig rezipierten Arbeiten vorgezeichnet. Während die Schar der historisch arbeitenden Öffentlichrechtler immer vergleichsweise überschaubar blieb, erlebte die deutsche Rechtsgeschichte um die Jahrhundertwende eine ausgesprochene Blüteperiode225). Der seit der Reichsgründung das juristische Terrain beherrschende Rechtspositivismus
220)
Elisabeth Fehrenbach:
S.101-117.
Ludwig Bergsträsser.
In:
Wehler, Historiker, Bd. 7 (1980),
) Ludwig Bergsträsser: Geschichte der Reichsverfassung, Tübingen 1914 (= AÖR, Beilageheft, 3); ders. (Hg.): Die Verfassung des Deutschen Reiches vom Jahre 1849. Mit Vorentwürfen, Gegenvorschlägen und Modifikationen bis zum Erfurter Parlament, Bonn 1913 (= Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen, 114). 222) Ders., Reichsverfassung (1914), S.V. 223) Hermann Oncken: Lassalle. Eine politische Biographie, Stuttgart/Berlin 1904; ders.: Rudolf von Bennigsen. Ein deutscher liberaler Politiker. Nach seinen Briefen und [unterlassenen Papieren, 2 Bde., Stuttgart/Leipzig 1910. 224) Fehrenbach, Bergsträsser (1980), S. 104,109f. 225) Vgl. zum folgenden konzis: Böckenförde, Verfassungsgeschichtliche Forschung (1961), S. 197-203. 221
102
III. Deutsche
Verfassungsgeschichtsschreibung im späten Kaiserreich
Gesetzgebungswelle zwischen 1870 und 1900 hatten zwar durch die Kodifizierung bisher ungeschriebenen und damit historisch auslegbaren Rechts die Rechtsgeschichte aus dem zentralen Bereich anwendungsbezogener Norminterpretation verdrängt und damit notwendigerweise marginalisiert. Doch zugleich bedeutete dies die Chance zu methodischer Selbstbesinnung und Neubelebung. Die Trennung der Rechtsgeschichte vom aktuellen Rechtsgeschehen führte zu einer Verwissenschaftlichung im Sinne einer Entpolitisierung der Disziplin. Zusammen mit einer seit der Jahrhundertmitte vollzogenen Juridifizierung und dem ausstrahlenden Einfluß des Positivismus übernahm die Rechtsgeschichte die systematische Methodik des juristischen Fachs in aller Konseund die
quenz. Politische, wirtschaftliche und soziale Zustände wurden nunmehr möglichst streng getrennt von der rechtlichen Verfassung eines Staates behandelt. Die historischen Perspektiven von Prozessen und Entwicklungen, die Probleme von Kontinuität und Diskontinuität traten völlig zurück hinter den systematischen Fragen nach Institutionen und Rechtsquellen. Historische Vorgänge wurden rechtstechnisch beurteilt und formallogisch subsumiert. „Exakte Detailforschung am Urkundenmaterial" beherrschte das Feld226). Die ohnehin schon lange beherrschende Fixierung auf das Mittelalter wurde für die Rechtsgeschichte nunmehr obligatorisch. Die Neuzeit wurde ganz an den Rand gedrängt und fast nur als Reichsgeschichte berücksichtigt. Etwas anders stellte sich die Lage in der österreichischen Rechtswissenschaft dar. Auch hier kam der Rechtshistorie lange Zeit eine zentrale Rolle in der juristischen Ausbildung zu227). Nach der Studienordnung von 1855 dominierte die „deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte" den ersten Studienabschnitt228), und das rechtshistorische Staatsexamen hatte die Funktion einer Art Zwischenprüfung. In der reformierten Studienordnung von 1893 wurde zwar der rechtshistorische Teil gekürzt, aber zugleich die „Österreichische Reichsgeschichte", genauer die „Geschichte der Staatsbildung und des öffentlichen Rechtes", als verpflichtendes Lehr- und Prüfungsfach eingeführt. Als Folge dieser verbindlichen Festlegung entstanden in den Jahren danach Lehrbücher, welche die „Österreichische Reichsgeschichte" thematisierten229). Im Unterschied zu den deutschen Rechtsgeschichten herrschte hier eine eher ent-
226) Ebd., S. 202. 227) Eingehend, wenn auch
unter geringer Berücksichtigung des Anteils der historischen Teilfächer: Elisabeth Berger. Das Studium der Staatswissenschaften in Österreich. In: ZNR 20 (1998), S. 177-211, hier S. 183-187, zu den Studienordnungen von 1855 und 1893. 228) Ebd., S. 186f. Der darauf basierende Überblick: Johann Friedrich Schulte: Lehrbuch der deutschen Reichs- und Rechtsgeschichte, Stuttgart 1861. Schultes Lehrbuch erlebte bis 1892 sechs Auflagen. Die Beschränkung auf die österreichische Reichsgeschichte in der neuen Studienordnung von 1893 verhinderte weitere Auflagen. 229) Arnold Luschin von Ebengreuth: Österreichische Reichsgeschichte (Geschichte der Staatsbildung, der Rechtsquellen und des öffentlichen Rechts). Ein Lehrbuch, Bamberg
2.
Verfassungsgeschichtsforschung nach
1900
103
wicklungsgeschichtlich strukturierte Darstellung vor. Der Grazer Rechtshistoriker Arnold Luschin von Ebengreuth hatte sich bereits in einem Gutachten von 1886 für die Einführung der Verfassungsgeschichte als juristisches Lehrfach ausgesprochen, weil „für den Juristen [...] die Kenntnis vom jeweiligen Stande der landesherrlichen Macht wichtiger [ist] als das Aufdecken diplomatischer Verhandlungen"230). Die österreichische Reichsgeschichte als Teilfach der Jurisprudenz näherte sich letztlich einer historisch aufgebauten Verfassungsgeschichte an. Eine Akzentverschiebung hin zur Neuzeit wurde
deutlich231).
Die methodischen Differenzen in der Verfassungsgeschichtsschreibung zwischen Historikern und Juristen wurden um 1900 nicht selten polemisch diskutiert. Im Vergleich zu den gegenseitigen scharfen Attacken des Rechtshistorikers Karl von Amira und des Historikers Karl Hegel232) wirkte jedoch ausgerechnet die Stellungnahme Georg von Belows versöhnlich. Vermutlich hatte er sein eigenes Idealbild eines juristisch geschulten Historikers vor Augen, als er feststellte, daß „zwischen echter Historie und echter Jurisprudenz kein unüberbrückbarer Gegensatz klafft", sondern sich beide vielmehr ergänzen233). Und der Leipziger Historiker Gerhard Seeliger fügte hinzu: „Überspannung der juristisch-konstruktiven Methode ist ebenso rechtsgeschichtlich wie allgemeingeschichtlich falsch und verwerflich. [...] Im Zusammenwirken beider Betrachtungsweisen, der juristischen und der allgemein-historischen, ist allein die Gewähr zuverlässiger Forschungsergebnisse geboten."234) Deutlich, aber
1896; Alfons Huber/A\ions Dopsch: Österreichische Reichsgeschichte. Geschichte der Staatsbildung und des öffentlichen Rechts, Wien 21901 [Ndr. Aalen 1968]; Ernst Frhr. von Schwind!Alfons Dopsch (Hg.): Ausgewählte Urkunden zur Verfassungsgeschichte der deutsch-österreichischen Erblande im Mittelalter, Innsbruck 1895 [Ndr. Aalen 1968]. Eine kritische Übersicht der damals gängigen Darstellungen bietet: Friedrich Walter: Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte von 1500-1955. Aus dem Nachlaß hg. v. Adam Wandruszka, Wien/Köln/Graz 1972 (= Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs, 59), S. 11-20. 230 Zit. nach Hans v. Voltelini: Die österreichische Reichsgeschichte, ihre Aufgaben und Ziele. In: Deutsche Geschichtsblätter 2 (1901), S. 97-108, hier S.97. Voltelini entwarf ein umfassendes Programm (ebd., S. 102) und betonte, daß die Reichsgeschichte für Juristen, Historiker, aber auch für den historischen Laien geeignet sei. 231) Luschin von Ebengreuth, Reichsgeschichte (1896). Der erste Teil über das Mittelalter umfaßte 324 Seiten, während der Neuzeit im zweiten Abschnitt insgesamt 255 Seiten zukamen. Die jüngere Geschichte von 1740 bis 1867 fiel dagegen kürzer aus (75 Seiten von 255), um Überschneidungen mit der Vorlesung zum geltenden Staatsrecht zu vermeiden. 232) Karl von Amira: Grundriß des germanischen Rechts, Straßburg 31913 (= Grundriß der germanischen Philologie), S.4; Karl Hegel: Städte und Gilden der germanischen Völker im Mittelalter. In: HZ 70 (1893), S. 442^159. 233) G.[eorg] v.[on] Below: [Nachruf auf Siegfried Rietschel]. In: HZ 110 (1913), S. 234-236, hier S. 234.
Konstruktion (1904), S. 164, 169. Zu seiner Person: L.[uise] S.[chorn-[ S.[chatte]: Seeliger, Gerhard Wolfgang. In: vom BruchlMüller, Historikerlexikon (2002),
234) Seeliger, S.304.
104
III. Deutsche
Verfassungsgeschichtsschreibung im späten Kaiserreich
ohne polemische Schärfe findet sich die Unterscheidung zwischen juristischer und historischer Verfassungsgeschichte schließlich auch bei Otto Hintze235). Trotz derartiger Abgrenzungsbemühungen von beiden Seiten kam es um die Jahrhundertwende auch zu Kooperationen zwischen Historikern und Juristen im Bereich der Rechts- und Verfassungsgeschichte. Nur ein Fall ist bekannt, bei dem sich an einen rechts- bzw. verfassungshistorischen Historikertagsvortrag eine methodologische Diskussion anschloß. Auf der Dresdener Versammlung des Jahres 1907 hatten mit Georg Caro, Otto Hintze und Friedrich Keutgen gleich drei verfassungsgeschichtlich ausgewiesene Historiker referiert236). Karl Lamprecht bemängelte, daß dem Vortrag Caros der landes- und sozialgeschichtliche Hintergrund fehle und dies seine Ursache in den fachlichen Traditionen der Verfassungsgeschichte habe. Die Verfassungsgeschichte gehe auf die im Zeitalter des Rationalismus entstandene Staatengeschichte zurück. Diese kenne jedoch nur die „Betrachtung von oben". Hier müsse die territoriale und lokale Forschung dieses Bild von unten her ergänzen und damit eine wirkliche „entwicklungsgeschichtliche Anschauung" ermöglichen. Eine Grundsatzdiskussion über solche wissenschaftsgeschichtlichen und geschichtstheoretischen Fragen wurde jedoch von den übrigen Verfassungshistorikern, wie Siegfried Rietschel und Gerhard Seeliger, abgelehnt237). Eine kritische Haltung zur Methode der Verfassungsgeschichte hatte Lamprecht bereits über ein Jahrzehnt vorher gezeigt. „Die beschreibende [staatsrechtliche] Methode [...] besteht darin", so meinte er 1895 apodiktisch, „daß unter der Fiktion, der jeweils bestehende Zustand sei in sich mindestens der Hauptsache nach widerspruchsfrei, ein systematisches Bild dieses Zustandes nach gewissen durchweg deskriptiv angelegten Kategorien entworfen wird". Damit teilte er die Kritik an dieser Art von statischem Konstruktivismus, welcher der juristischen Verfassungsgeschichtsschreibung um 1900 eigen war. Aber Lamprecht prognostizierte: „Die Zeit deskriptiver Geschichtsschreibung wird durch eine Zeit evolutionistischer Geschichtsschreibung abgelöst. [...] So löst sich denn die chronologisch geordnete Bilderreihe von Verfassungszuständen auf, und an ihre Stelle hat die Darstellung eines permanenten Flusses wirtschaftlicher, sozialer, rechtlicher Umformungen zu treten, deren jeweiliges Nebeneinander den Verfassungszustand einer bestimmten Zeit aus-
235) Hintze, Rez. Mayer (1899), S. 368-373, bes. S. 368. Er sprach von „juristisch-formaler Konstruktion", die
statt einer „lebendigen, anschaulichen Synthese" vorherrsche. Siehe ders., Rez. Ratzel (1903), S.257. 236) Hintzes Vortrag wurde als bedeutend eingestuft. Keutgens Ausführungen erregten dadurch Aufsehen, daß er das verbreitete Negativurteil über die Zersplitterung des Rei-
auch
ches entschieden zurückwies. Peter Schumann: Die deutschen Historikertage von 1893 bis 1937. Die Geschichte einer fachhistorischen Institution im Spiegel der Presse, phil. Diss. Marburg a. d. Lahn 1974, S. 215f„ 218f. 237) Bericht über die zehnte Versammlung deutscher Historiker zu Dresden. 3. bis 7. September 1907, erstattet von den Schriftführern der Versammlung, Leipzig 1908, S. 29f. Dazu: Schumann, Historikertage (1974), S.216f.
3. Fritz
Härtung und die staatsorientierte Verfassungshistoriographie
105
macht. An Stelle der juristischen Methode gelangt die morphologische Methode der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zur Herrschaft."238) Tatsächlich folgten Denkstil und Ausdrucksform um 1900 immer deutlicher den fachlich etablierten Bahnen. Die unterschiedliche disziplinäre Herkunft und Prägung verfassungshistorisch arbeitender Wissenschaftler wurde um die Jahrhundertwende zunehmend stärker hervorgehoben. Statt interdisziplinär zu forschen, gerieten viele Historiker und Juristen durch eigenes Zutun in die fachliche Isolation. Die wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung verlief demnach keineswegs in der von Lamprecht 1895 prognostizierten Richtung. Der Leipziger Ordinarius hatte die historisch arbeitenden Gustav Schmoller und Max Weber aus den Nachbarfächern Nationalökonomie und Soziologie vor Augen. Aber die Ergebnisse der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften wurden trotz Lamprechts Bemühungen zunächst kaum von der Geschichtswissenschaft rezipiert. Otto Hintze blieb mit seinen interdisziplinären Interessen und Denkanstößen die Ausnahme unter den vorwiegend politische Geschichte treibenden Historikern239). Der für Jahrzehnte maßgebliche Grundriß von Fritz Härtung zeigt, daß dies trotz Hintze auch für das engere Teilgebiet der Verfassungsgeschichtsschreibung gilt. -
-
3. Fritz Härtung und die staatsorientierte Verfassungshistoriographie Fritz Härtung wurde 1883 als Sohn einer preußischen Ministerialbeamtenfamilie in Saargemünd geboren und war damit 22 Jahre jünger als Otto Hintze240). Anders als jener, der in seiner Jugendzeit die Gründung des Kaiserreichs miterlebt hatte, wurde Härtung im bereits bestehenden Reich
238)
Karl Lamprecht: Rez. zu K. Th. v. Inama-Sternegg, Deutsche Wirtschaftsgeschichte des 10. bis 12. Jahrhunderts. In: Jbb. für Nationalökonomie und Statistik 64 (1895), S. 294-298, hier S. 294f. Vgl. dazu Oestreich, Fachhistorie (1967), S. 348f. 239) Raphael, Neue Geschichte (1997), S.59, rechnet Hintze zusammen mit Lamprecht, Breysig und Meinecke zu den „Ausnahmen im Mainstream traditioneller Ansätze und
philologischer Selbstgewißheiten". Einen biographischen Überblick gibt: Schochow, Historiker (1983). Wichtig zu Methode und Zielrichtung des Werkes: Oestreich, Härtung (1968). Weitere biographische
240)
Skizzen enthalten: Carl Hinrichs/Gerhard Oestreich: Festansprache zum 75. Geburtstag Fritz Härtung am 12. Januar 1958. In: JbGMOD 6 (1957), S.8-20; Fritz Wagner: Fritz Härtung 12.1.1883 24.11.1967. In: Jb. der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1968, S.197-200; Richard Dietrich: Fritz Härtung zum Gedächtnis. In: JbGMOD 16/17 (1968), S.721-729; ders.: Fritz Härtung \. In: HZ 206 (1968), S.525-528. Zum Werk siehe Werner Schochow: Bibliographie Fritz Härtung. In: JbGMOD 3 (1954), S.211-240, sowie dessen spätere Ergänzungen. Ders.: Nachtrag zur Bibliographie Fritz Härtung. In: Richard Dieinc/i/Gerhard Oestreich (Hg.), Forschungen zu Staat und Verfassung. Festgabe für Fritz Härtung, Berlin 1958, S. 537f; Werner Schochow: Zweiter Nachtrag zur Bibliographie Fritz Härtung. In: JbGMOD 16/17 (1968), S. 729-732.
von
-
106
III. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung im
späten Kaiserreich
Ihn prägten die späte Bismarckära und der Wilhelminismus. Härtung studierte zwischen 1901 und 1905 in Heidelberg und Berlin Geschichte, Nationalökonomie und Philosophie. Seine akademischen Lehrer hießen u. a. Otto Hintze, Gustav Schmoller und Heinrich Brunner. Sie gaben ihm jene fachlichen Neigungen mit auf den Weg, die sich in seinen späteren Forschungsinteressen widerspiegelten: Verfassungsgeschichte als staatsorientierte sowie rechtlich strukturierte politische Entwicklungsgeschichte. Im Jahre 1905 wurde Härtung, betreut von Hintze, mit einer Untersuchung über „Hardenberg und die preußische Verwaltung in Ansbach-Bayreuth von 1792 bis 1806" promoviert241). Die Anregung zu der Studie dürfte ganz wesentlich auf seinen Doktorvater zurückgehen. Denn dieser hatte 1896 einen Aufsatz über „die preußischen Reformbestrebungen vor 1806" vorgelegt, in dem er die Vorläufer der Stein-Hardenbergschen Reformen bereits in der Zeit des alten Preußen nachweisen konnte242). Hartungs Arbeit diente dazu, diese gedankliche Linie zu vervollständigen, indem er die Rolle Hardenbergs, seiner Ideen und seiner Reformleistung in einem preußischen Nebenterritorium untersuchte. Dabei betrat Härtung Neuland, indem er die Territorialgeschichte der süddeutschen Exklave Preußens nicht unter außenpolitischem, sondern unter innenpolitisch-administrativem Blickwinkel betrachtete243). Mit der verwaltungsgeschichtlichen Studie über den 1792 an Preußen gelangten deutschen Kleinstaat, der damals zum fränkischen Reichskreis gehörte, ergaben sich für Härtung weitere berufliche und thematische Anknüpfungspunkte. Von der „Gesellschaft für fränkische Geschichte" erhielt er auf Vermittlung des Hallenser Historikers Richard Fester den Auftrag zur Erforschung des fränkischen Kreises im 16. Jahrhundert244). Die 1910 veröffentlichte Arbeit bestand je zur Hälfte aus Text und Aktenedition. Härtung erkundete mit den Reichskreisen ein seinerzeit noch fast unerforschtes Terrain245). Er legte besonderen Wert auf die Entstehung der Kreisverfassung im Rahmen
groß.
) Fritz Härtung: Hardenberg und die preußische Verwaltung in Ansbach-Bayreuth von 1792 bis 1806, Tübingen 1906. Als Dissertation hatte Härtung 1905 die beiden ersten Kapitel eingereicht.
241
242) Hintze, Reformbestrebungen (1896). 243) Härtung, Hardenberg (1906), S.2f. Vgl. das positive Echo bei Otto Hötzsch: Rez. zu
Fritz Härtung, Hardenberg und die preußische Verwaltung in Ansbach-Bayreuth von 1792 bis 1806. In: Jb. für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 31 (1907), S.424f.; [Gerhard] Anschütz. In: Zentralblatt für Rechtswissenschaft 1907, 2,1. S. 182-184, Paul Darmstädter. In: HVjS 11 (1908), S. 408f. 244) Fritz Härtung (Bearb.): Geschichte des fränkischen Kreises. Darstellung und Akten. Bd. 1: Die Geschichte des fränkischen Kreises von 1521-1559, Leipzig 1910 (= Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte, 2,1). Fester selbst hatte sich in einem Vortrag von 1906 mit der fränkischen Kreisverfassung beschäftigt. Vgl. zur Entstehung die Briefe Hartungs an Fester vom 20.2.1906, 9.7.1908,19.10.1908 und 4.12.1908 (BA Ko-
blenz, N 1107, Nr. 104).
So Anton Chroust: Vorrede. In: S. XVII-XXIII, hier S. XlXf.
245)
Härtung, Geschichte des fränkischen
Kreises
(1910),
3. Fritz
Härtung und die staatsorientierte Verfassungshistoriographie
107
der Reichsreform bis 1521, die er mit Blick für die Details wie für die gesamtdeutschen Zusammenhänge würdigte246). Sein Schüler Carl Hinrichs meinte später, dem Jubilar schmeichelnd und doch auch mit Berechtigung, es habe sich dabei bereits um „eine deutsche Verfassungsgeschichte des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit in nuce" gehandelt247). Landfriedenspolitik und Reichsreform standen im Mittelpunkt der Ausführungen und sind bis heute wesentliche Forschungsschwerpunkte der Verfassungsgeschichtsschreibung des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts geblieben. Vor allem das historiographische Interesse für die innere Entwicklung des Alten Reiches hatte Härtung mit seinem Werk weiter gefördert. Die Arbeit über den fränkischen Reichskreis bildete den Grundstock zu Hartungs zeitgleich bei Fester in Halle vorgelegter Habilitationsschrift über „Karl V. und die deutschen Reichsstände von 1546 bis 1555"248). Ursprünglich hatte er sein Projekt weniger auf die Person des Kaisers zielend formuliert und von Forschungen zu den Bundes- und Verfassungsprojekten in der Mitte des 16. Jahrhunderts gesprochen, die als Vorstudien zu einer „Verfassungsgeschichte des Reichs" unter Maximilian I. und Karl V. dienen sollten249). Am Ende wurde der Titel werbender, der Inhalt blieb mit dem Schwerpunkt auf den Reichsreformbestrebungen nüchtern verfassungshistorisch. Härtung stellte, anders als sämtliche älteren Untersuchungen zu dieser Epoche, das letzte Regierungsjahrzehnt Karls V. monographisch in den Blickpunkt. Waren die Jahre zwischen Schmalkaldischem Krieg und Augsburger Religionsfrieden bis dahin ausschließlich entweder als Niedergangsphase des Kaisertums biographisch oder als „trüber Ausgang der glänzend begonnenen Reformationszeit" konfessions- und politikgeschichtlich behandelt worden, so konzentriert sich Härtung auf den verfassungsgeschichtlichen Aspekt, der „dieser Periode ihre bleibende Bedeutung für die Reichsgeschichte verleiht"250). Denn, so Härtung in seinem Vorwort, „in jenen Jahren ist die endgültige Auseinandersetzung zwischen dem Kaisertum und den Reichsständen über den Charakter der
246)
So auch Gustav Wolf: Rez. zu Fritz Härtung, Geschichte des fränkischen Kreises. In: DLZ 32 (1911), Sp. 1647-1649; G.[eorg] v. Below. In: Literarisches Zentralblatt 61 (1910), Sp. 335f. Kritischer dagegen: Andreas Walther. In: HZ 107 (1911), S. 158-161. RH 106 (1911), S.368f.: „l'histoire des institutions de l'Allemagne [...] est une domaine hérissé de difficultés et peu étudié". Otto Hintze schätzte Hartungs Darstellung als „am ausführlichsten u. besten" zu diesem Thema. StaBi Berlin, NL Johannes Balte (Brief Hintzes, 15.1.1932). Hartungs Buch sei lange Zeit „die vorbildlichste Untersuchung eines Reichskreises" gewesen, meint Winfried Dotzauer: Die deutschen Reichskreise (1383-1806). Geschichte und Aktenedition, Stuttgart 1998, S. 139. 247) Hinrichs/Oestreich, Festansprache (1957), S. 13. Auch Neuhaus, Reich (1997), S.93, konzediert, daß Hartungs Studie trotz neuerer Forschungen „maßgeblich geblieben" sei. 248) Fritz Härtung: Karl V und die deutschen Reichsstände von 1546-1555. Mit einem Vorwort zum Nachdruck von Gerhard Oestreich, Darmstadt 1971 [zuerst Halle 1910]. 249) BA Koblenz, N 1107, Nr. 104 (Härtung an Fester, 29.6.1909). 25°) Beide Zitate: Härtung, Karl V. (1910), Vorwort.
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III. Deutsche
Verfassungsgeschichtsschreibung im späten Kaiserreich
Reichsverfassung erfolgt, und damit ist die Reichsreformbewegung [...] zum endgültigen Abschluß gelangt"251). Der Hallenser Habilitand widmet seine be-
sondere Aufmerksamkeit den Plänen des Kaisers im Hinblick auf die Reichsreform. Seine Studie behält „in ihrer gedrungenen Knappheit [...] ihren eigenen Wert"252). Bereits das frühe Rezensionsecho sprach von einem „dankenswerten Beitrag zur deutschen Verfassungsgeschichte des 16. Jahrh.s"253). Mit beiden Qualifikationsarbeiten waren bereits die zentralen späteren Forschungsgebiete Hartungs benannt: Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der Neuzeit. Und auch die Zuspitzung auf Preußen-Deutschland schien hier schon vorgezeichnet. Härtung hatte sich mit seiner Habilitation ein gehöriges Maß an Reputation erworben und sich mit seinen Arbeiten als Kenner des Alten Reiches einen Namen gemacht. Besonders sein in der „Historischen Zeitschrift" gedruckter Habilitationsvortrag über die „Wahlkapitulationen der deutschen Kaiser und Könige" fand erhebliche Beachtung und gilt bis heute als wichtig254). Härtung war fachlich gut gerüstet, als ihm Aloys Meister 1912 den für einen knapp 30jährigen Privatdozenten höchst ehrenvollen Auftrag erteilte, für den „Grundriß der Geschichtswissenschaft" eine „Deutsche Verfassungsgeschichte in der Neuzeit" zu verfassen255). Im Jahr 1914 lag das mit nicht einmal zweihundert Seiten schlanke Werk vor: die „deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart"256). Damit verdiente sich Härtung die nur
251) Ebd. 252) wichtige
Hinweise gibt Gerhard Oestreich: Vorwort zum Nachdruck. In: Härtung, (1910), S. V-IX. Ebd., S. IX, das Zitat. 253) Joh.[annes] Schultze: Rez. zu Fritz Härtung, Karl V und die deutschen Reichsstände von 1546-1555. In: DLZ 32 (1911), Sp. 2608f. Positiv auch: RH 106 (1911), S.371f; dagegen kritisch: O.A. Hecker. In: HZ 111 (1913), S. 384-390; ablehnend: G.[erhard] Bonwetsch. In: MIÖG 36 (1915), S. 371-373. 254) Fritz Härtung: Die Wahlkapitulationen der deutschen Kaiser und Könige. In: ders., Volk und Staat in der deutschen Geschichte. Gesammelte Abhandlungen, Leipzig 1940, S. 67-93 [zuerst 1911]. Vgl. dazu Neuhaus, Reich (1997), S. 87f, der allerdings mit der späteren Forschung die These Hartungs zurückweist, es habe sich bei den Wahlkapitulationen um eine fest umschriebene Verfassung gehandelt. 255) Laut dem Vertragsverlag vom 29.4.1912 war dies der ursprünglich geplante Titel. Die erste Auflage sollte 2500 Exemplare umfassen; der Umfang war mit knapp 130 Seiten äußerst knapp bemessen. StaBi Berlin, NL Härtung, XXXIX, 5. Wie der Verlagsankündigung von 1907 zu entnehmen ist, war ursprünglich der Münsteraner Kollege Meisters, Georg Erler, ein Experte für das späte Mittelalter, für diese Aufgabe vorgesehen. Werbeprospekt in Meister, Verfassungsgeschichte (1907). Siehe auch Mütter, Meister (1971), Karl V.
S. 206, Anm. 198. Ob der Tod Erlers im Juli 1913 bereits im Vorfeld zum Autorenwechsel führte, muß offenbleiben. Es ist indes anachronistisch, wenn Hinrichs 1957 meinte, die Beauftragung Hartungs habe nach seinen verfassungsgeschichtlichen Vorarbeiten „gar nicht anders sein" können. HinrichslOestreich, Festansprache (1957), S. 14. 256) Härtung, Verfassungsgeschichte (1914). In seinem Vorwort erwähnt Härtung, daß er sich „vor etwa einem Jahre" vor die „Notwendigkeit" gestellt sah, „die Arbeit rasch abzuschließen". Der Druck rührte u.a. vermutlich daher, daß ab 1912 bereits verschiedene Einzelbände des „Grundrisses" in zweiter Auflage erschienen und als Termin für die Manuskriptabgabe im Verlagsvertrag vom April 1912 der Herbst 1913 vorgesehen war. StaBi Berlin, NL Härtung, XXXIX, 5.
3. Fritz
Härtung und die staatsorientierte Verfassungshistoriographie
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ein Jahr später erfolgende Ernennung zum außerordentlichen Professor in Halle, nachdem der Ruf auf die Nachfolge Meineckes in Freiburg 1914 gescheitert war257). Härtung gelang mit dem Grundrißband zur Verfassungsgeschichte ein „großer Wurf"258). Der Autor selbst sprach ganz zurückhaltend von „einem ersten Versuch", „die ganze deutsche Verfassungsgeschichte der neueren Zeit, sowohl des Reiches wie die der Einzelstaaten, kurz zusammenzufassen". Er wolle „eine brauchbare Grundlage" schaffen, „sowohl für die Orientierung über den gegenwärtigen Stand der Forschung wie für die Weiterarbeit" 259). Denn der erste Satz des Werkes, die „Vorbemerkung über die Literatur" lautet schlicht: „Eine zusammenfassende Darstellung der deutschen Verfassungsgeschichte der neueren Zeit gibt es noch nicht"260). Den drei Jahre zuvor erschienenen Überblick zur Reichsverfassungsgeschichte durch Luschin von Ebengreuth charakterisiert Härtung knapp als „unzulänglich". Und in den Werken von Heusler und Richard Schmidt werde die „neuere deutsche Ver-
fassungsgeschichte nur flüchtig gestreift"261). Härtung geht in seiner „Verfassungsgeschichte" in zwei Teilen vor. Der er-
„die Zeit des alten Reiches", der zweite, etwas kürzere, „das neunzehnte Jahrhundert". Beide Abschnitte sind unterteilt in Kapitel über das Reich einerseits, die Territorien bzw. Gliedstaaten andererseits, wobei die Ausführungen über das Reich jeweils deutlich kürzer ausfallen als jene über die „Länder". Der Beginn der Darstellung liegt im 15. Jahrhundert und folgt damit einer Festlegung des Grundriß-Herausgebers Meister und dessen eigener Darstellung. Dieser hatte in seinem letzten Kapitel über das 13. und 14. Jahrhundert bereits 1907 den transitorischen Charakter des späten Mittelalters betont, indem er den Titel „Übergang in neue Verfassungsformen" wählte. Die chronologische Trennung vom Mittelalter-Band Meisters wird von Härtung recht flexibel gehandhabt. Denn bei der Geschichte der Territorien geht er sachgemäß zurück bis in das 13. Jahrhundert. Auffällig ist zudem, daß er bei der Territorialgeschichte einen Einschnitt in den Jahren J640 bzw. 1648 macht, während für ihn in der Reichsgeschichte der Augsburger Religionsfrieden von 1555 (und eben nicht der Westfälische Frieden von 1648) die entscheidende Zäsur bildet. Die in seiner Dissertation gezeigte Vorliebe zu Preußen kommt auch in diesem Band zum Ausdruck. So ist in die Frühneuzeit-Abschnitte ein Kapitel über „den Absolutismus in Brandenburg-Preußen von 1640 bis 1806" integriert. Und die Darstellung des 19. Jahrhunderts ist ste behandelt
257) 258) 259) 260)
HinrichslOestreich, Festansprache (1957), S. 15. Schochow, Historiker (1983), S. 223.
Härtung. Verfassungsgeschichte (1914), Vorwort.
Ebd., S. 1. Eine ähnliche Klage findet sich bereits in I.[gnaz] Jastrow: Verfassung. In: Jahresberichte der Geschichtswissenschaft 11 (1888), Tl. 2, S. 376-453, hier S. 376. 261) Härtung, Verfassungsgeschichte (1914), S. 1,3.
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III. Deutsche
Verfassungsgeschichtsschreibung im späten Kaiserreich
in je ein Kapitel über den Deutschen Bund, die Mittel- und Kleinstaaten, Preußen zwischen Reichsuntergang 1806 und Reichsgründung 1871 sowie Reich und Einzelstaaten nach 1871. Die Kritik nahm Hartungs „Verfassungsgeschichte" recht wohlwollend auf. Es war von einer „vorzüglichen Einführung", einer „bemerkenswerten Leistung" und einem „wohl durchdachten und selbständig aufgebauten allgemeinen verfassungsgeschichtlichen Grundriß" die Rede262). Selbst der schärfste Kritiker von Hartungs fränkischer Reichskreis-Geschichte, Gerhard Bonwetsch, lobte das „sehr instruktiv und anregend geschriebene" Buch263). Gewürdigt wurde vor allem, daß er als erster eine zusammenfassende Darstellung der bisher ganz vernachlässigten neuzeitlichen Verfassungsgeschichte vorgelegt habe, die „in jüngerer Zeit wohl reichliche Spezialliteratur hervorgerufen hat". Kritische Einwände blieben gleichwohl nicht aus. Der österreichische Historiker Heinrich Ritter von Srbik bemängelte, daß man zur Entwicklung einzelner Reichsinstitutionen nichts finde und die „österreichische Verfassungsgeschichte fast ganz beiseite geschoben ist"264). Eine Würdigung der Staatstheorie und der Stadtgeschichte wurden ebenso vermißt wie eine ausführlichere Darstellung der neuesten Zeit seit 1866. Die Behandlung der Verwaltungsgeschichte fand zwar Lob, aber ein „Überblick über die Entwicklung des äußeren Reichsgebietes", eine „Grenzgeschichte" hätte die Darstellung ergänzen sollen265). Bemerkt wurde Hartungs „starker Glaube an die Realpolitik" und „die ausschlaggebende Bedeutung der Macht"266). Das sei die Ursache dafür, „daß diese Verfassungsgeschichte partienweise in eine politische Geschichte ausartet"267). Seine Historikerkollegen lobten den flüssigen Stil und hoben den Verzicht auf Formalismus und juristische Terminologie hervor. Insgesamt wurden vor allem die inhaltlich-thematischen Lücken kritisiert. Verfüge man über mehr Raum, z.B. bei einer Aufteilung des Stoffs auf zwei Bände, so sei es auch möglich, „die deutsche in die allgemeine internationale Verfassungsgeschichte einzuordnen, was bisher nur wenig geschehen"
aufgefächert
sei268). 262)
Die Zitate entstammen M.[elle] Klinkenborg: Rez. zu Fritz Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart. In: FBPG 28 (1915), S.594f„ hier S.595; Andr.[eas] Walther. In: HZ 117 (1917), S. 310-314, hier S.310, sowie Justus Hashagen. In: Zeitschrift für Politik 11 (1918), S. 368-372. 263) Gerhard Bonwetsch: Rez. zu Fritz Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart. In: Mitteilungen aus der historischen Literatur, NF 3 (1915), S.306f„ hier S. 307. 264) Beide Zitate aus Heinrich Ritter von Srbik: Rez. zu Fritz Härtung. Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart. In: Literarisches Zentralblatt für Deutschland 66 (1915), Sp. 285f. 265) Hashagen, Rez. Härtung (1918), S. 370. 266) Walther, Rez. Härtung (1917), S. 313. 267) Hashagen, Rez. Härtung (1918), S. 368. 268) Ebd. Vgl. generell die Antwort in Härtung, Verfassungsgeschichte (1922), S. Ulf. (Vorwort).
3. Fritz
Härtung und die staatsorientierte Verfassungshistoriographie
111
Die Rezensionen deckten allerdings auch einige Mängel und Lücken auf. Denn juristische Konstruktionen und historische Theorien blieben Härtung ebenso fremd wie die Ideengeschichte. Bei ihm stand der aktengestützt rekonstruierte realpolitische Ablauf der Geschehnisse im Vordergrund. Dazu passend lieferten meistens die erfolgreichen Personen und Institutionen den Maßstab seines Urteils. So habe das Fürstentum die Staatsbildung vorangetrieben, nicht etwa die Stände. Eine Geschichte des Verfassungsdenkens, d. h. der Staatstheorie, so wie sie sich für die Frühe Neuzeit in vielen Darstellungen findet, fehlt bei Härtung völlig. Als geschichtswissenschaftliche Subdisziplin grenzte Härtung die Verfassungsgeschichte deutlich von den Vereinnahmungsversuchen der Juristen ab. Im Vorwort zur zweiten Auflage formulierte Härtung überdeutlich: ,,[B]ei dem Übergewicht, das die begrifflich-juristische Behandlungsweise vor der genetisch-historischen zumal in der neueren Verfassungsgeschichte lange Zeit gehabt hat, schien und scheint es mir vor allem notwendig, die geschichtliche Seite der Verfassungsgeschichte zu ihrem Recht kommen zu lassen. Die Systematik, die Beschreibung des Rechtszustandes, der sein sollte, kann für den Historiker immer nur in zweiter Linie kommen nach der Darstellung dessen, was gewesen ist." Es handele sich nicht etwa um eine „Hilfsdisziplin der Staatsrechtslehre"269), eine Art Staatsrecht der Vergangenheit, so wie die Rechtsgeschichte das Recht der Gegenwart historisch herleite. Es war deshalb aus seiner Sicht konsequent, die Periodisierung der allgemeinen politischen Geschichte auf die Verfassungsgeschichte zu übertragen. Es ging Härtung um Entwicklungen, um den Prozeßcharakter der Geschichte, die ein sich wiederholendes Entstehen und Vergehen sei270). Bei den Juristen tadelte er ein starres Denken in festen Kategorien und eine Argumentation vom Ergebnis her, während er selbst ein „lebendiges Urteil nach Realitäten und historischen Gegebenheiten" anstrebe271). Einen Teil der Kritik an der juristischen, aber auch der historischen Verfassungsgeschichtsschreibung bildete die Benutzung moderner Terminologie für historische Sachverhalte. In Kenntnis des Streits um die Thesen von Paul Sander, vermied Härtung bewußt die Verwendung der Bezeichnung „Staat" für das mittelalterliche Territorium272).
269)
Nicht umsonst wurde die längere Zitatpassage gleich in einer der Rezensionen wörtlich wiedergegeben und als ein „Sichbesinnen der Verfassungsgeschichte auf ihre eigentliche Aufgabe" zustimmend bewertet. Rg. [= Fritz Rörigt]: Rez. zu Aloys Meister, Deutsche Verfassungsgeschichte von den Anfängen bis ins 15. Jahrhundert, 3. Aufl.; Fritz Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 2. Aufl. In: Literarisches Zentralblatt für Deutschland 73 (1922), Sp. 334f, hier Sp. 335. Oestreich, Härtung (1968), S.455. 27°) 271 Ebd., S. 458. ) 272) Härtung, Rez. Spangenberg (1914), S. 351. In der zweiten Auflage der „Verfassungsgeschichte" schrieb Härtung, er könne zwar Belows „Auffassung vom staatlichen Charakter des alten Reiches [...] im ganzen [...] zustimmen", aber mit dieser Betrachtungsweise sei „für die allgemeinen Fragen der deutschen Vfg. [...] nur wenig gewonnen". Ders., Verfassungsgeschichte (1922), S. 3.
112
III. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung im späten Kaiserreich
Legitimationsversuch und Abgrenzungsbemühen kennzeichneten Fritz Hartungs Strategie der Begründung einer historischen Verfassungsgeschichte. Für ihn war Verfassungsgeschichte ein Teil der politischen Geschichte, in der es um Machtausübung und Machtdurchsetzung ging. Verfassungswandel ergab sich durch Machtwechsel, durch ein neues Ausbalancieren von ins Ungleichgewicht geratenen politischen Kräften. Härtung interessierte sich von Anfang an neben der Entwicklung der Institutionen für die Geschichte politischer EntScheidungsprozesse. Die Verfassungsgeschichte stellte zugleich die Verbindung von äußerer und innerer Staatengeschichte her, die sich, der Auffassung Hintzes folgend, wechselseitig beeinflußten. Im Zentrum stand stets der Staat; von ihm gingen die Impulse für Stabilität und Wandel in der Ge-
schichte aus. Bei Hartungs Werk handelte es sich um eine Verfassungsgeschichte aus der Perspektive der herrschenden'. Viel stärker als bei Otto Hintze blieben gesellschaftliche oder wirtschaftliche Verhältnisse, erst recht psychologische oder geographische Umstände außer Betracht. Dagegen kehrte das persönliche Element, das auch bei Hintze stets präsent geblieben war, nun in deutlicherer und gegenüber den kollektiven Strukturen nachdrücklich betonter Form zurück. Im Unterschied zu Hintze hielt sich Härtung von soziologischen Theorien stets fern. Eine typologische Betrachtung der Verfassungsgeschichte lehnte er ab und betonte vielmehr, daß die einzelnen geschichtlichen Erscheinungsformen die eigentliche Beachtung des Historikers verdienten273). So habe die deutsche Verfassungsgeschichte in dem „Gegenspiel von Reich und Einzelstaaten", „wenn auch Berührungen mit dem Ausland stattgefunden haben, doch im wesentlichen ihren in der Eigenart des Reiches begründeten selbständigen Verlauf genommen"274). Die vergleichende Analyse internationaler verfassungshistorischer Entwicklungen fehlte deshalb nahezu ganz. Die Verfassungsgeschichte Fritz Hartungs blieb staatsorientiert und national konzentriert. Ein solcher nach innen gewandter Blickwinkel auf die Verfassungsgeschichte konnte in einer Zeit expandierender Fachinteressen nicht sich selbst genug sein. Dazu trat ein deutliches Bemühen um Profilierung der eigenen Position gegenüber dem Nachbarfach. Härtung zeigte beide Verhaltensmuster dieser doppelten fachlichen Identitätsbildung. Die Juristen arbeiteten aus seiner Sicht zu viel mit Konstruktionen, achteten zu sehr auf die rechtlichen Strukturen, überbetonten die Systematik gegenüber dem wirklichen lebendigen Wesen der historischen Verfassung. Eine zu starke Hervorhebung von nachrangigen Einflußfaktoren warf Härtung ex- oder implizit auch den historisch interessierten bzw. arbeitenden Nationalökonomen und Soziologen vor. Doch auch im Binnenbereich der Historiographie grenzte sich Härtung entschieden
273) Oestreich, Härtung (1968), S. 462, 464-466. 274) Härtung, Verfassungsgeschichte (1922), S. 3f.
3. Fritz
ab. Aus seiner
Härtung und die staatsorientierte Verfassungshistoriographie
113
gegen die von Friedrich Meinecke inspirierte machte kein Hehl. Zwar lehnte er die Berücksichtigung er Ideengeschichte der „geistigen Seite der Verfassungsgeschichte" nicht vollständig ab, aber er protestierte gegen ihre einseitige Bevorzugung275). Hartungs Verdienst bestand in einer ersten wirklich historischen Übersicht über die Verfassungsgeschichte der Neuzeit. Hier schlug er die Breschen für die nachfolgende Forschung, indem er das Reich und die Territorien gleichberechtigt behandelte und aus einer institutionengeschichtlich reduzierten Betrachtung befreite. Härtung ergänzte das bisher dominierende statisch-systematische Verfahren der juristischen Verfassungsgeschichtsschreibung durch eine bewußt dynamisch-politische Sicht. Die erfolgreiche Verbindung beider Vorgehensweisen sowie der klare und verständliche Stil sicherten seiner Darstellung wissenschaftliche Frische und sorgten für ihre außerordentliche Verbreitung und Wirkung über die Jahrzehnte hinweg276). Während Otto Hintzes Deutung der Verfassungsgeschichte Methoden und Inhalte von Nachbarfächern zu integrieren versuchte und daher eine Öffnung der Disziplin anzeigte, blieb Hartungs Zugang zur Verfassungsgeschichte methodisch verengt, zunächst auch national begrenzt und disziplinär befangen. Internationalität und Methodenpluralismus waren allerdings der Mehrheit der Fachhistoriker im ausgehenden Kaiserreich fremd. Die Gewißheit eigener fachlicher Leistung überwog deutlich die Einsicht in die Notwendigkeit methodischer Offenheit. Nationale Blickfeldverengung und disziplinäre Einigelung waren in der Geschichtswissenschaft am Vorabend des Ersten Weltkriegs verbreitet.
Abneigung
275) Oestreich, Härtung (1968), S. 458. 276) Zu Hartungs späteren Arbeiten und siehe unten
Kap. IV.2, V.2.h) und VI.2.b).
den
Neuauflagen
der
„Verfassungsgeschichte"
IV.
Verfassungsgeschichte und Verfassungsbegriff in der Weimarer Republik 1. Die
Verfassungsgeschichte als historisches Teilgebiet
Der Erste Weltkrieg, diese „Urkatastrophe"1) des 20. Jahrhunderts, stellt auch für die Geschichte der Geschichtswissenschaft ein ganz elementares Ereignis dar. Der Krieg veränderte die Menschen, ihren Alltag und ihre Ansichten. Er zerstörte Geschichtsbilder, und er erzeugte Mythen. Nicht zuletzt schuf er ein unmittelbares Empfinden für persönlich miterlebte Geschichte, das die Deutschen zuletzt in den Jahren der Reichsgründung ähnlich intensiv empfunden hatten. Der Philosoph Hans Driesch äußerte im Oktober 1918: „Wir erleben das, was man .Geschichte' zu nennen pflegt, in einer Stärke und Eindringlichkeit, in welcher wenige Geschlechter der Menschen es erlebt haben." Zugleich stellte er sich die Frage nach der Bedeutung dieses so „furchtbar eindrucksvollen Erlebnisses", der „Zertrümmerung von Reichen und [der] sozialen Umgestaltungen von ganz grundsätzlicher Art"2). Ganz ähnlich schätzte auch der nationalkonservativ eingestellte Günther Gründel 1932 die Lage nach Ende des Weltkriegs ein: Es handele sich um den „Zusammenbruch der Welt der Väter und alles dessen, was bisher gegolten hatte; Umsturz und .Umwertung aller Werte'"3). Der Wertewandel wurde zum geflügelten Wort des langen Weimarer Jahrzehnts. Otto Hintze schrieb 1923 an den Theologen und Wissenschaftspolitiker Adolf von Harnack, man lebe in einer „Weltwende-Zeit, wo eigentlich erst die Umwertung wen[n] nicht aller so doch sehr vieler Werte sich vollzieht, und so manches, an dem unser Herz bisher gehangen, an Kulturwerten und Kulturgütern zusammenschrumpft oder sich verflüchtigt". Dem Historismus verpflichtet, fügte er hinzu, wertbeständig sei allein die „individuelle Persönlichkeit"4).
') So, nach einem Wort von George F. Kennan: Bismarcks europäisches System in der Auflösung. Die französisch-russische Annäherung 1875 bis 1890, Frankfurt/Berlin/Wien 1981 [zuerst engl. 1979], S. 12, auch: Wolfgang J. Mommsen: Die Urkatastrophe Deutschlands. Der Erste Weltkrieg 1914-1918, Stuttgart 2001 (= Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, 17). 2) Hans Driesch: Was ist Geschichte? In: Illustrierte Zeitung v. 10.10.1918, zit. nach Ernst Schulin: Weltkriegserfahrung und Historikerreaktion. In: ders.lKüttlerlRüsen, Geschichtsdiskurs, Bd. 4 (1997), S. 165-188, hier S. 167. Zur schlüsselhaften Bedeutung des Weltkriegs grundlegend: Ulrich Sieg: Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen,
weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin 2001. E. Günther Gründel: Die Sendung der Jungen Generation. Versuch einer umfassenden revolutionären Sinndeutung der Krise, München 1932, S. 32, zit. nach Ulrich Herbert: „Generation der Sachlichkeit". Die völkische Studentenbewegung der frühen zwanziger Jahre. In: ders., Arbeit, Volkstum, Weltanschauung. Über Fremde und Deutsche im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1995, S. 31-58 [zuerst 1991], hier S. 32f. 4) StaBi Berlin, NL von Harnack (Brief vom 28.5.1923). Über Hintzes Haltung zu Weltkrieg und Weimar: Härtung, Hintze (1941), S.511, 518.
3)
1. Die
Verfassungsgeschichte als historisches Teilgebiet
115
späten Kaiserreich zwar ihre kulturelle allmählich eingebüßt. Aber als geschichtsbewußte DiagnostiDeutungshoheit ker der Gegenwart schien ihnen nun erneut eine führende Rolle zukommen Die deutschen Historiker hatten im
1930 meinte der einflußreiche Göttinger Mediävist Karl Brandi rückblickend: „Die Geschichtslehrer sahen sich vor die schwersten Probleme gestellt, da die Umwertung aller Werte und Autoritäten ihre eigenste Lebensarbeit ergriff." Es sei ihnen „die ungeheure Aufgabe [zugefallen], die akademische Jugend treu und verantwortungsvoll in die neue Zeit hinüberzuführen"6). Die drängendsten Fragen der unmittelbaren Vergangenheit und die aktuellen Probleme der Gegenwart schienen prädestiniert zu sein, um von Fachhistorikern beantwortet zu werden. Wie war es zum Weltkrieg gekommen und wie sollte die Zukunft aussehen? Die Chancen für einen bedeutenden Autoritätsgewinn für die Geschichtswissenschaft waren wie selzu
können5).
optimistisch
ten
zuvor
gegeben.
Wenn solche Erwartungen an die historische Zunft in den eineinhalb Jahrzehnten der Weimarer Republik dennoch nicht oder nur unzureichend erfüllt wurden, so lag dies nicht zuletzt daran, daß viele Historiker ganz persönlich unter dem Eindruck der jüngsten Zeitereignisse standen. Schließlich gehörten die meinungsführenden Historiker der Weimarer Anfangsjahre zur Frontgeneration der zwischen 1880 und 1900 Geborenen7). Nicht wenige unter ihnen hatten den Weltkrieg in vorderster Linie miterlebt und unter den Kriegsfolgen unmittelbar oder mittelbar zu leiden. Die Verarbeitung der Geschichte behinderte in vielen Fällen mental die Bearbeitung der Geschichte8). Der Verfassungshistoriker Fritz Härtung etwa hatte als Landsturmmann bei der badischen Infanterie gedient. Ausgelöst durch den Krieg, hatte er ein Leben lang an einer Lungeninsuffizienz und als deren Folge an einer chronischen Herzschwäche zu leiden9). Nur wenige Tage nach Kriegsende bekannte er gegenüber seinem akademischen Lehrer Richard Fester, er stehe „vor ei-
5)
Grundsätzlich zur Historiographie der Weimarer Jahre die beiden einander ergänzenden Studien von Faulenbach, Ideologie (1980), sowie Schleier, Geschichtsschreibung
(1975).
6)
Karl Brandt Mittlere und neue Geschichte. In: Gustav Abb (Hg.), Aus fünfzig Jahren deutscher Wissenschaft, Berlin usw. 1930, S. 174-191, hier S. 190. 7) Schulin, Weltkriegserfahrung (1997), S. 173-178. Zum Generationenkonzept siehe auch Peter Lambert: Generations of German historians: patronage, censorship and the containment of generation conflict 1918-1945. In: Mark Roseman (Hg.), Generations in Conflict. Youth revolt and generation formation in Germany 1770-1968, Cambridge/New York/ Melbourne 1995, S. 164-183. 8) Zur Kriegserfahrung der Historiker anregend und anschaulich: Fritz Stern: Die Historiker und der Erste Weltkrieg. Eigenes Erleben und öffentliche Deutung. In: ders., Verspielte Größe. Essays zur deutschen Geschichte, München 1996, S. 37-68 [zuerst engl. 1994]. Die Auswirkungen von Weltkrieg und Revolution auf die politische Einstellung der deutschen Historiker thematisiert Peter Lambert: The Politics of German Historians, 1914-1945, phil. Diss. (MS), Sussex 1986, S. 85-135. 9) Schochow, Historiker (1983), S. 224.
116
IV.
Verfassungsgeschichte und -begriff 1918-1933
Trümmerfeld" seiner bisherigen Überzeugungen. „Denn alles, was wir bisher für die feste Grundlage unseres staatlichen Lebens gehalten haben, liegt am Boden."10) Die professionelle Historie stand wie viele Zeitgenossen in diesen Jahren förmlich unter Schock, war paralysiert und zugleich gebannt von den Ereignissen des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegsjahre. Es zeigten sich „Symptome einer allgemeinen Desorientierung und Identitätskrise"11). Die Verunsicherung nach dem Ende des Kaiserreichs beherrschte die Gesellschaft und schlug sich selbstverständlich auch in der Wissenschaft nieder. Fritz Härtung konstatierte: „Ich kann mich als Historiker nicht entschließen, alles zu verbrennen, was ich bisher angebetet habe."12) Dennoch kamen die Deutschen nicht umhin zu akzeptieren, daß nicht nur ein Krieg verloren war. Mit ihm war eine ganze Welt versunken. Der Kulturhistoriker Walter Goetz, einer der führenden Geschichtsforscher der Weimarer Jahre, schrieb 1924 über ,,[d]ie deutsche Geschichtsschreibung der Gegenwart": „Der Weltkrieg und der deutsche Zusammenbruch mußten die Geschichtsforscher in Bewegung bringen." Und er fügte kritisch hinzu: „Es läßt sich nicht behaupten, daß die deutsche Geschichtsschreibung diese dringende Aufgabe [der Nation Orientierung zu geben, E.G.] erfüllt hätte."13) Tatsächlich blieb die „Bewegung" unter den Historikern recht verhalten. Und in den meisten Fällen bewegte man sich nach rückwärts. Nur wenige, wie beispielsweise der Ideenhistoriker Friedrich Meinecke, bekannten sich dazu, „der geistigen Krisis unserer Zeit gerade ins Angesicht [zu] schauen"14) und daraus Konsequenzen für die Zukunft zu ziehen. Die vorherrschende Tendenz läßt sich als Fluchtbewegung aus der als aussichtslos wahrgenommenen Gegenwart in eine vermeintlich harmonische, gesicherte nem
-
-
Vergangenheit beschreiben15). Nicht wenige Historiker stürzten
sich nach 1918 in vermeintlich unpolitische Detailarbeit. Konkret hieß das für viele ein Versenken in die Geschichte des untergegangenen Kaiserreichs und eine Beteiligung an der bald ausufern-
10) n)
BA Koblenz, N1107, Nr. 249 (20.11.1918). Zit. bei Schochow, Historiker (1983), S. 224. Bernd Faulenbach: Deutsche Geschichtswissenschaft zwischen Kaiserreich und NSDiktatur. In: ders. (Hg.), Geschichtswissenschaft in Deutschland. Traditionelle Positionen und gegenwärtige Aufgaben, München 1974, S. 66-85, hier S. 66. 12) BA Koblenz, N 1107, Nr. 249 (an Richard Fester, 20.11.1918). 13) Walter Goetz: Die deutsche Geschichtsschreibung der Gegenwart. In: ders., Historiker in meiner Zeit. Gesammelte Aufsätze. Mit einem Geleitwort von Theodor Heuss, hg. v. Herbert Grundmann, Köln/Graz 1957, S. 415^124 [zuerst 1924], hier S. 416. Zu Goetz: Wolf Volker Weigand: Walter Wilhelm Goetz 1867-1958. Eine biographische Studie über den Historiker, Politiker und Publizisten, Boppard a. Rh. 1992 (= Schriften des Bundesarchivs, 40). 14) Friedrich Meinecke: Kausalitäten und Werte in der Geschichte. In: HZ 137 (1928), S. 1-27, hier S. 1, Anm. 1. Siehe u.a. Harm Klueting: „Vernunftrepublikanismus" und „Vertrauensdiktatur". Friedrich Meinecke in der Weimarer Republik. In: HZ 242 (1986), S. 69-98. 15) Bernd Faulenbach hat dieses Phänomen in zahlreichen Aufsätzen unterstrichen. Die eindrucksvollsten Belege finden sich in Faulenbach, Ideologie (1980), passim. Spezieller ders., Geschichtswissenschaft (1974), S. 73 u.ö.
1. Die
Verfassungsgeschichte als historisches Teilgebiet
117
den Kriegsschulddebatte16). Die Historiker sahen sich in ihrer überwiegenden Zahl als Bewahrer des nationalen Erbes. Das förderte und forderte ein offensives, d.h. in der Regel positives Bekenntnis zur deutschen Vergangenheit. Forderungen nach einer Revision des Geschichtsbildes, die angesichts der untergegangenen Leitidee der deutschen Monarchie nahegelegen hätten, wurden eher selten erhoben. Politisch bekenntnisfreudige Historiker, wie die Linksliberalen Eckart Kehr, Veit Valentin oder Johannes Ziekursch hatten unter massiver Ausgrenzung zu leiden. Für zukunftsweisende methodische oder inhaltliche Ansätze blieb im allgemeinen wenig Raum17). Von einer Zäsur gegenüber dem Kaiserreich läßt sich bei einem Überblick über die Historiographie der Weimarer Jahre kaum reden18). Es dominierte deutlich das Bemühen um Kontinuität. Nicht selten versuchte man, an Arbeiten aus dem Kaiserreich, der Vorkriegs- und Kriegszeit anzuknüpfen. Die methodischen Vorgaben blieben dabei weitgehend konstant diejenigen, mit denen man auch im späten Wilhelminismus gearbeitet hatte. Bereits 1933 diagnostizierte der linksliberale Meinecke-Schüler Eckart Kehr: „Der Einfluß des Krieges und des Regierungswechsels auf die Geschichtsschreibung war sehr gering, wenn man gewisse Gefühle vernachlässigt und nur nach neuen Methoden und Ideen fragt."19) Die Unübersichtlichkeit der Gegenwart und die auch unter Historikern um sich greifende Orientierungslosigkeit förderte ein „reflexhaftes Festhalten" an den überlieferten Fachtraditionen20) und führte nicht selten zu einer „Idealisierung von Staat und Macht" in der Geschichte21). Die traditionelle politische Geschichtsschreibung konnte die historistischen Traditionen der Groß-
16) Dazu insgesamt: Ulrich Heinemann: Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik, Göttingen 1983 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 59), sowie Michael DreyerlOliver Lembcke: Die deutsche Diskussion um die Kriegsschuldfrage 1918/19, Berlin 1993 (= Beiträge zur Politischen Wissenschaft, 70).
n) Die Ignoranz gegenüber einer universalen kulturgeschichtlichen Sicht der Geschichte zeigt sich eindrucksvoll an der kaum erfolgten Rezeption Kurt Breysigs: vom Brocke, Breysig (1971). Der Streit um die historische Belletristik gegen Ende der zwanziger Jahre belegt zugleich paradigmatisch, wie wirksam und nachhaltig eine neue (in diesem Falle populäre und nichtwissenschaftliche) Richtung in der Historiographie bekämpft, isoliert und mit dem Vorwurf .illegitimer' Geschichtsschreibung ausgegrenzt werden konnte. Christoph Gradmann: Historische Belletristik. Populäre historische Biographie in der Weimarer Republik, Frankfurt a.M./New York 1993 (= Historische Studien, 10). 18) Bernd Faulenbach: Zäsuren deutscher Geschichte? Der Einschnitt von 1918 und 1945. In: TAJB 25 (1996), S. 15-33, hier S. 15f. 19) Eckart Kehr: Neuere deutsche Geschichtsschreibung. In: ders., Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Hans-Ulrich Wehler, Berlin 1965/21970 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 19), S. 254-268 [zuerst unveröff. 1933], hier S. 266. Faulenbach, Zäsuren (1996), S. 30. 20) 21 So Hans ) Herzfeld: Staat und Nation in der deutschen Geschichtsschreibung der Weimarer Zeit. In: ders., Ausgewählte Aufsätze. Dargebracht als Festgabe zum siebzigsten Geburtstage von seinen Freunden und Schülern, Berlin 1962, S. 49-67 [zuerst 1954], hier S. 60.
118
IV
Verfassungsgeschichte und -begriff 1918-1933
väter- und
Vätergeneration fortführen. Der biographische Zugriff und der Primat der Außenpolitik prägten die überwiegende Zahl historischer Arbeiten in der Weimarer Zeit22). Der Fokus blieb dabei vorwiegend national konzentriert und wurde allenfalls auf Europa (speziell in Beziehung zur deutschen Geschichte) ausgeweitet. Aber dabei blieb es nicht. In einer Art Gegenbewegung gegen die traditionsverhaftete politische Historiographie kam es zum Aufschwung einer Geschichtsbetrachtung, die weniger den Staat als vielmehr die Volksgemeinschaft idealisierte und organologische Anschauungen favorisierte. Für diese neue Geschichtssicht stellte der Staat keine vorrangige Bezugsgröße mehr dar23). Die so empfindenden Historiker suchten nach einem neuen Paradigma, das geeignet schien, die deutsche Geschichte fachlich unbeschränkt und territorial unbegrenzt zu betreiben. Einen solchen Neuansatz ermöglichte die Leitkategorie des Volkes24). Kennzeichnend wurde eine aus Sicht der traditionellen Historiographie überdurchschnittlich interdisziplinäre Öffnung der Volkshistoriker gegenüber benachbarten kulturwissenschaftlichen Fächern wie namentlich der Geographie, Soziologie und Ethnologie25). Da dies zugleich als Antwort auf die allgemeine Krise des Faches und seiner Methoden in den zwanziger Jahren empfunden wurde, gerieten die Volkshistoriker bisweilen in den Ruf methodischer Neuerer ein Etikett, das sie bald selbst für -
22) Vgl.
auch die grundsätzlichen Bemerkungen über die „thematische und theoretischmethodische Reduzierung" bei Peter Th. Walther: Zur Entwicklung der Geschichtswissenschaften in Berlin: Von der Weimarer Republik zur Vier-Sektoren-Stadt. In: Wolfram Fischer u. a. (Hg.), Exodus von Wissenschaften aus Berlin. Fragestellungen Ergebnisse Desiderate. Entwicklungen vor und nach 1933, Berlin/New York 1994 (= Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Forschungsbericht, 7), S. 153-183, hier S. 157f. 23) Der Staat sei nur „das politische Gefüge", Grundlage historischer Betrachtung müsse nunmehr das „Land" sein. Erich Keyser: Deutsche Landesgeschichte. In: HZ 139 (1929), S. 252-272, hier S. 266, 270. Kritik an Keysers Ansatz wegen seiner nationalen Beschränktheit und seiner „etwas düsteren Ideologie" bei Marc Bloch: L'histoire locale en Allemagne. In: Annales d'histoire économique et sociale 1 (1929), S. 306 [dt. als: Über Erich Keyser. Rez. zu Erich Keyser, Deutsche Landesgeschichte. In: Peter Schattier (Hg.), Marc Bloch. Historiker und Widerstandskämpfer, Frankfurt a.M./New York 1999, S. 243f.]. Das Zitat ebd., S. 243. 24) Dazu vor allem Oberkrome, Volksgeschichte (1993). Mit einigen Modifikationen: ders.: Entwicklungen und Varianten der deutschen Volksgeschichte (1900-1960). In: Manfred Healing (Hg.): Volksgeschichten im Europa der Zwischenkriegszeit, Göttingen 2003, S. 65-95; Raphael, Geschichtswissenschaft (2003), S. 85-90. Zur .Innovationsthese': Axel -
-
Ambivalente Innovation. Anmerkungen zur Volksgeschichte. In: GG 26 (2000), S. 653-671; Marco Wauker: .Volksgeschichte' als moderne Sozialgeschichte? Werner Conze und die deutsche Ostforschung. In: ZfO 52 (2003), S. 347-397; Friedrich Lenger: Eine Wurzel fachlicher Innovation? Die Niederlage im Ersten Weltkrieg und die „Volksgeschichte" in Deutschland Anmerkungen zu einer aktuellen Debatte. In: Horst Carl u. a. (Hg.), Kriegsniederlagen. Erfahrungen und Erinnerungen, Berlin 2004, S. 41-55. 25) Der Innsbrucker Historiker Adolf Helbok sprach von einer „Überwindung der abstrakten Fächertrennung". Adolf Helbok: Aufbau einer deutschen Landesgeschichte aus einer gesamtdeutschen Siedelungsforschung, Dresden 1925 (= Schriften zur deutschen Siedelungsforschung, 1), S. 3f„ 27f.
Flügel:
-
1. Die
Verfassungsgeschichte als historisches Teilgebiet
119
sich übernahmen, nach außen beanspruchten und effektiv stilisierten26). Bis 1933 aber bildeten die Volkshistoriker aller Anstrengungen zum Trotz eine Minderheit innerhalb der Zunft. Die Mehrheit der deutschen Historikerschaft fühlte sich der politischen Geschichtsschreibung traditioneller Art verbunden. Daneben entfaltete die Meinecke-Schule mit ihrer geistesgeschichtlichen Ausrichtung eine beachtliche Wirkung. In ihr vor allem fanden sich auch universale und transnationale Konzeptionen. Das Interesse an wirtschaftlich-gesellschaftlichen oder kulturgeschichtlichen Fragestellungen blieb hingegen eher gering. Ein Historiker mit ausgesprochenem Interesse an sozial- und wirtschaftshistorischen Problemen, wie der Meinecke-Schüler Eckart Kehr, wurde systematisch ausgegrenzt27). Ebenso konnten komparative oder typologische Ansätze kaum Raum gewinnen. Solche Forschungen gab es zwar nach wie vor, aber sie wurden in der Regel von Außenseitern betrieben28). Die nationale Verengung des Blickfeldes der Historikerzunft nach dem Ersten Weltkrieg war selbstgewollt und fremdbestimmt zugleich. Die Geschichte galt wie schon im Kaiserreich als nationale Aufgabe. Jetzt aber kamen mit der anschwellenden Kriegsschulddiskussion und dem Problem der Rückgewinnung nationalen Selbstvertrauens durch Besinnung auf und Versenkung in die glorreiche' deutsche Vergangenheit bedeutsame Wirkungsfelder auf die Geschichtswissenschaft zu. Der Staat schien der Mehrheit der Historiker territorial verstümmelt, um so mehr kam es darauf an, Volk und Nation überstaatlich und grenzüberschreitend zu definieren29). Die meisten Geschichtsdarstellungen über die Nachbarstaaten blieben somit auf den national-deutschen Blickwinkel verkürzt. Jenseits dieser selbstgewählten nationalen Perspektivverengung, der sich zudem eine methodische Selbstbeschränkung hinzugesellte30), war aber auch
26)
So beispielsweise in Erich Keyser: Die Geschichtswissenschaft. Aufbau und Aufgaben, München/Berlin 1931, S. III, grundsätzliche Bemerkungen zur „Wende" in der deutschen Geschichtswissenschaft, da die „theoretischen Grundlagen [...] vielfach erschüttert und unzulänglich geworden" seien. 27) Sein früher Tod in den USA 1933 verhinderte neben den politischen Umständen eine Rezeption in Deutschland. Diese setzte erst mit der ,Wiederentdeckung' in den sechziger Jahren ein. Kehr, Primat (1965); Hans-Ulrich Wehler. Eckart Kehr. In: ders., Historiker (1973), S. 100-113; Schleier, Geschichtsschreibung (1975), S. 482-530. Die Unterdrückung der Sozialgeschichte, die leichtfertig und absichtsvoll mit „der sozialistischen Geschichtsauffassung identifiziert" wurde, diagnostizierte Kehr selbst. Kehr, Geschichts-
schreibung (1933), S. 257-259. 268. Die Hauptrichtungen des Faches spiegeln sich im Erscheinungsbild des führenden Fachorgans, der „Historischen Zeitschrift". Dazu: Bernd Faulenbach: Die Historische Zeitschrift. Zur Frage geschichtswissenschaftlicher Kontinuität zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik. In: Tijdschrift voor Geschiedenis 99 (1986), S. 517-529. 29) So z. B. Keyser, Landesgeschichte (1929).
28)
30)
Dazu nur: Peter Schattier: Das „Annales-Paradigma" und die deutsche Historiographie (1929-1939). Ein deutsch-französischer Wissenschaftstransfer? In: Lothar Jordan/Bernd Kortländer (Hg.), Nationale Grenzen und internationaler Austausch. Studien zum Kulturund Wissenschaftstransfer in Europa, Tübingen 1995 (= Communicatio, 10), S. 200-220.
120
IV
Verfassungsgeschichte und -begriff 1918-1933
Ausgrenzung der deutschen Historiker, wie generell der deutschen Wisaus der internationalen Scientific Community der Nachkriegszeit feststellbar. Viele ausländische Kontakte rissen 1914 oder im Ersten Weltkrieg ab. Auf dem ersten Internationalen Historikerkongreß nach Kriegsende in Brüssel 1923 war man noch ausgeschlossen. Erst 1928 in Oslo kehrte man in den Kreis der ausländischen Fachkollegen zurück31). Auch die deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung ordnete sich der generellen Fachentwicklung unter. Eine herausgehobene Stellung kam ihr im allgemeinen nicht zu. Georg von Belows Beobachtung war zweifellos zutreffend, die Beteiligung der Juristen an der Verfassungsgeschichte sei „nicht mehr so eine
senschaft,
stark wie in den Tagen der Roth, Sohm, Gierke"32). Die Konkurrenz im Teilgebiet der Verfassungsgeschichte wurde dennoch nach wie vor deutlich empfunden. Dabei gingen die von beiden Seiten zur sachlichen Zusammenarbeit aufrufenden Töne im kämpferisch geführten Wortwechsel unversöhnlich gestimmter Fachkollegen unter. So lautete der Vorwurf des österreichischen Mediävisten Alfons Dopsch an Below, er stehe „unter dem Banne der herrschenden Juristenlehre"33). Belows „Juristenfreundlichkeit" war allseits bekannt, und in seiner Darstellung zur Geschichtsschreibung hatte er freimütig festgestellt: „Wir Historiker sind nicht eifersüchtig auf die Führung [der Juristen in der verfassungsgeschichtlichen Forschung, E.G.] und werden einen wieder zunehmenden Anteil um so freudiger begrüßen."34) Umgekehrt ging auch der Rechtshistoriker Heinrich Mitteis auf seine Historikerkollegen zu. 1927 formulierte er, daß bei Einbeziehung der irrationalen Faktoren der Geschichte in die Darstellung die Gefahr drohe, „daß der Jurist seine eigene Domäne verläßt und auf das Gebiet des Historikers vordringt. Dann muß er sich eben ruhig dessen Führung anvertrauen. Er wird reichen Gewinn davon haben." Geradezu hymnisch hieß es im Schlußsatz: „Und so hoffen wir, daß es der gemeinsamen Arbeit von Juristen und Historikern gelingen möge, eine Verfassungsgeschichte zu schaffen, die nicht nur Institutionen schildert, sondern lebendige Kräfte."35) Mitteis griff damit die oft wiederholte Formel auf, die Wissenschaft dürfe sich nicht in formaler Arbeit
Ökumene der Historiker. Geschichte der Internationalen
31)
Karl Dietrich Erdmann: Die
35)
Heinrich Mitteis: Politische Prozesse des früheren Mittelalters in Deutschland und
Historikerkongresse und des Comité International des Sciences Historiques, Göttingen 1987 (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, phil.-hist. Klasse. 3,158), S. 97-136 (Brüssel), S. 163-189 (Oslo). 32) Below, Geschichtsschreibung (1924), S. 127. 33) Alfons Dopsch: Wirtschaftliche und soziale Grundlagen der europäischen Kulturentwicklung aus der Zeit von Caesar bis auf Karl den Grossen. Tl. 1, Wien 21923 [Ndr. Aalen 1961], S. 357. 34) Below, Geschichtsschreibung (1924), S. 127. Der Vorwurf an Below, er argumentiere zu juristisch-formalistisch, stammte pikanterweise von einem Rechtshistoriker. Siehe Hübner, Rez. Below (1914), S. 491. Frankreich, Heidelberg 1927 (= Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse 1926/27, 3) [Ndr. Darmstadt 1974], S. 124.
1. Die
Verfassungsgeschichte als historisches Teilgebiet
121
erschöpfen, sondern müsse das volle geistige Leben darstellen. Aber von einer fruchtbaren Zusammenarbeit waren Geschichts- und Rechtswissenschaft in den zwanziger Jahren noch weit entfernt. Belows Urteil aus dem Jahre 1924 war ohne Zweifel durch fachliche Befangenheit und persönliche Eitelkeit verstellt, wenn er resümierte, daß im Bereich der Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte „der erreichte Fortschritt [...] im Verhältnis zu dem, was früher auf demselben Gebiet errungen war, wohl am größten" sei36). Nimmt man jedenfalls den Anteil der Verfassungsgeschichtsschreibung an den Vorträgen auf den Historikertagen der Weimarer Jahre als Beispiel, so kann von dem bei Below diagnostizierten und bilanzierten „Fortschritt" kaum die Rede sein. Vielmehr ist auch hier die deutliche Dominanz traditioneller Themen der politischen, vor allem außenpolitischen Geschichte feststellbar. Allenfalls wenn solche Fragen mit verfassungsgeschichtlichen Problemen zu verbinden waren, berührte ein Vortrag dieses Teilgebiet. Aber abgesehen vom Dauerthema des deutschen Föderalismus konnte sich die Verfassungsgeschichtsschreibung auf den Historikertagen der Weimarer Zeit nicht besonders profilieren37). Auf internationaler Ebene sah es, relativ betrachtet, besser aus für die Verfassungsgeschichtsschreibung. Auf dem Internationalen Historikerkongreß in Oslo 1928 hielt Fritz Härtung einen Vortrag zu den Formen der parlamentarischen Regierung in den europäischen Ländern. Zudem wurde er als deutsches Mitglied in den Ausschuß zur Sammlung moderner Verfassungen gewählt38). Beides sprach für das Ansehen, welches die deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung außerhalb der Landesgrenzen genoß. Im innerstaatlichen Bereich wirkte das Erscheinungsbild des Teilfaches „Verfassungsgeschichte" freilich eher unspektakulär. Ein Blick in die Vorlesungsverzeichnisse der Weimarer Jahre dokumentiert immerhin einen gefestigten Platz im universitären Lehrkanon39). Veranstaltungen zur Verfassungsgeschichte wurden an allen deutschen Universitäten regelmäßig angeboten. Doch ein Blick auf die Titel läßt den Verdacht aufkommen, daß sich hinter einer entsprechenden Ankündigung häufig nicht etwa ein Spezialthema, sondern eine Überblicksvorlesung zur politischen Geschichte der jeweiligen 36) Below, Geschichtsschreibung (1924), S. 126. 37) Cathrin Friedrich: „Gaudeant historiae" Die deutschen Historikertage in den 1920er
Jahren. In: Gerald DiesenerlMalthias Middell (Hg.), Historikertage im Vergleich, Leipzig 1996 (= Comparativ, 6,5-6), S. 58-71. 38) Hermann Reincke-Bloch: Der sechste internationale Historikerkongreß zu Oslo (14.-18. August 1928). In: HZ 139 (1929), S. 313-322, hier S. 316,318. Vgl. in größerem Zusammenhang: Erdmann, Ökumene (1987), S. 163-189, der allerdings Hartungs Aktivitäten in Oslo nicht erwähnt. Über die Arbeit der Kommission siehe die Briefe Hartungs an den deutschen Beisitzer des Historikerkomitees Karl Brandi aus dem Jahr 1929. ÜB Göttingen, NL Brandi, Nr. 33, fol. 144,151,162. 39) Ausgewertet wurden die Vorlesungsverzeichnisse der Universitäten Berlin, Breslau, Heidelberg, Leipzig, Marburg und München. -
122
IV
Verfassungsgeschichte und -begriff 1918-1933
Epoche verbirgt. Dafür spricht die Tatsache, daß außer einigen bekannten Verfassungshistorikern regelmäßig auch Dozenten mit Schwerpunkten in der politischen Geschichte oder sogar in den Hilfswissenschaften dem Titel nach Veranstaltungen zur Verfassungsgeschichte abhielten40). Vorlesungen mit entsprechender Benennung finden sich im übrigen zu allen Epochen, einschließlich der
Antike41).
Vorlesungsverzeichnisse einen Einblick in die Präsenz der Verfassungsgeschichte in der universitären Lehre, so vermitteln die „JahresbeGeben die
richte für deutsche Geschichte", das seit 1925 von Albert Brackmann und Fritz Härtung herausgegebene Berichtsorgan der Zunft42), ein Bild von der Lage der Verfassungsgeschichtsschreibung in der deutschen Forschung. Die Rechts- und Verfassungsgeschichte erhielt innerhalb der „einzelnen Zweige des geschichtlichen Lebens" neben der Wirtschafts-, Kirchen- und Kulturgeschichte einen eigenständigen Platz. Die in acht chronologische Abschnitte gegliederte Abteilung unterschied ab dem späten Mittelalter, dem Konzept des Hartungschen Grundriß-Bandes folgend, die territoriale von der Reichsverfassungsgeschichte. Erst im 19. Jahrhundert floß beides wieder zusammen. Ein eigener Paragraph berücksichtigte die neueren Arbeiten zum Parteiwesen. Als Bearbeiter standen neben dem Mitherausgeber Härtung für das 19. Jahrhundert der Rostocker Historiker Hans Spangenberg für die Abteilung „Territorialverfassung und Ständestaat" sowie der Tübinger Kirchenrechtler und Verfassungshistoriker Hans Erich Feine für die „Reichsverfassung bis 1806" zur Verfügung43). Den „Territorialstaat im Zeitalter des
40)
beispielsweise der Hilfswissenschaftler Michael Tangl, der in Berlin im Sommerse„Deutsche Verfassungsgeschichte von Maximilian I. bis zum Ausgang des alten Reichs" vierstündig las. 41 Der Althistoriker Eugen Täubler las in Berlin über „Verfassungsgeschichte der grie) chischen Staaten bis zum Beginn der hellenistischen Zeit" im Sommersemester 1919 zweistündig oder Edmund Meyer (Berlin) über „Verfassung und politische Theorien des AlSo
mester 1920 über
tertums" im Wintersemester 1920/21.
Die „Jahresberichte für deutsche Geschichte" (JDG) setzten die von der Historischen Gesellschaft zu Berlin zwischen 1878 und 1913 herausgegebenen „Jahresberichte der Geschichtswissenschaft" und die kurzlebigen „Jahresberichte der deutschen Geschichte" (1918-1924) fort. Neben der Hauptabteilung zur Rechts- und Verfassungsgeschichte finden sich in den benachbarten Fachgebieten die Unterkapitel „Kirchenverfassungsgeschichte des Mittelalters" sowie „Staatstheorie" (in der Abteilung Kulturgeschichte), die ebenso wie der chronologische Teil zur „Allgemeinen deutschen Geschichte" verfassungshistorische Arbeiten enthalten. In den von dem Archivar Viktor Loewe und dem Privatdozenten Manfred Summing für die Jahre 1918 bis 1924 herausgegebenen „Jahresberichten der deutschen Geschichte" wurde die Verfassungsgeschichte im Mittelalter zusammen mit der Rechts- und Wirtschaftsgeschichte, in der Neuzeit gemeinsam mit der Verwaltungsgeschichte behandelt. 43) Zu seiner Person: Karl S.[iegfried] Bader: Hans Erich Feine t. In: ZRG/KA 51 (1965), S.XI-XXXI; Martin Heckel: Hans Erich Feine. 1890-1965. In: Ferdinand Elsener (Hg.), Lebensbilder zur Geschichte der Tübinger Juristenfakultät, Tübingen 1977, S. 189-213, soin äußerlich anerkennenden Formen dem Natiowie zuletzt: Hans-Georg Hermann:
42)
„...
1. Die
Verfassungsgeschichte als historisches Teilgebiet
123
Absolutismus" bearbeitete bis 1927 der Kieler Historiker Carl Petersen; ihm folgte der Koblenzer Archivar Hans Schubert. Für das Parteiwesen zeichnete der Reichsarchivar Hans Goldschmidt verantwortlich. Das 19. Jahrhundert in der Nachfolge von Härtung ab 1930 und die seit 1932 neugebildete Abteilung für „Neuere deutsche Verfassungsgeschichte" wurde von seinem Schüler Helmuth Croon betreut. Die in den „Jahresberichten" enthaltenen Klagen über quantitativ wenig Berichtenswertes, über Lücken oder wenig ertragreiche Studien zur Verfassungsgeschichte waren Legion44). Am vergleichsweise beliebtesten erwiesen sich landesgeschichtliche Arbeiten über die Entstehung der Territorialhoheit im späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit. Der Referent Hans Spangenberg bemängelte allerdings, daß „das Problem selbst [...] verhältnismäßig wenig gefördert worden" sei, weil die zahlreichen Dissertationen nach dem „gewohnten Schema" vorgegangen seien45). Nicht weniger eindringlich lauteten die Klagen von Hans Erich Feine über die Untersuchungen zum Alten Reich. Feine gehörte zu den wenigen Verfassungshistorikern der Weimarer Republik, die, entgegen dem lange vorherrschenden und weiter fortgeführten Negativurteil über das Alte Reich, dessen positive Aspekte ausdrücklich herausstellten. Es sei „durchaus verkehrt [...], das Heilige Römische Reich nach Abschluß der Reformen des 16. Jahrhunderts als ein willensschwaches, mangelhaft organisiertes und darum im Innern nie erfolgreich handelndes Staatswesen anderen Staaten gegenüberzustellen"46). In ihm seien vielmehr „hohe geistige, dem deutschen Volk auch heute noch unverlorene Werte lebendig verkörpert". Der Untergang des Reiches 1806 sei ein „Vorgang von tieftragischer Bedeutung", der nicht etwa hausgemacht gewesen sei, sondern den „Napoleon mit allen Mitteln der List, Drohung und Gewalt [...] herbeigeführt" habe47. Die Mehrheit der deutschen Historiker beurteilte die deutsche Geschichte zwischen Reformation und Reichsuntergang indes anders. Für sie war das Reich nur noch eine leblose Hülle, ein Hort zahlreicher Partikularinteressen. Durch die verheerenden' Bestimmungen des Westfälischen Friedens sei es politisch zersplittert, territorial zerfallen und den ,fremden' Großmächten England und Frankreich ausgeliefert gewesen. Die Hohenzollern und die Habsburger hätten egoistische Sonderinteressen verfolgt und sich des Reiches und seiner Organe nur dann bedient, wenn es ihnen zum eigenen Vorteil gereicht habe. Partikularismus und einzelstaatlicher Egoismus hätten eine Blünalsozialismus Aufgabe und Verpflichtung vorzuhalten": Beobachtungen zu Hans Erich Feine (1890-1965) im Nationalsozialismus und der frühen Nachkriegszeit. In: Nehlsenl Brun, Studien (1996), S. 257-311. ") So beispielsweise JDG 1 (1925), S. 350-352, JDG 3 (1927), S.320f„ 323-325, JDG 4 (1928), S. 285, JDG 5 (1929), S. 334, JDG 8 (1932), S. 301f, 307. 45) JDG 3 (1927), S. 313. 46) JDG1 (1925), S. 344. 47) JDG 3 (1927), S. 319.
124
IV
Verfassungsgeschichte und -begriff 1918-1933
tezeit erlebt, und der in Deutschland territorial ausgeprägte Absolutismus habe solche Entwicklungen gefördert48). Der Partikularismus galt förmlich als deutsche „Krankheit"49). Im Vergleich mit England und Frankreich wurde die
ausgebliebene deutsche Nationalstaatsgründung beklagt und als Fehlentwicklung eingestuft. Vor allem groß- bzw. „gesamtdeutsch" eingestellte Historiker würdigten dagegen die positiven Aspekte der Reichstradition. Hans Erich Feine legte 1921 eine ausführliche Darstellung über die Besetzung der Reichsbistümer zwischen 1648 und 1803 sowie eine weit ausgreifende Studie zur Verfassungsentwicklung des Reiches in dieser Zeit vor50). Seitdem blieben die kirchliche Rechts- und die allgemeine Verfassungsgeschichte sein Spezialgebiet. Die Weimarer Jahre waren für das Abfassen von verfassungsgeschichtlichen Überblicksdarstellungen oder Grundrißbänden keine günstige Periode51). So verfaßte der Härtung-Schüler und wissenschaftliche Mitarbeiter der BerlinBrandenburgischen Historischen Kommission, Helmuth Croon52), seinen kurzen Abriß zur deutschen Verfassungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert nahezu abseits der deutschen Fachöffentlichkeit. Croon lieferte, durch Härtung vermittelt, den etwa einhundert Seiten umfassenden Überblick für einen durch die Internationale Historikerkommission angeregten, in Italien erscheinenden Sammelband, der einzelstaatliche Verfassungsgeschichten von allen existierenden europäischen Staaten enthielt53). Croon, Fabrikantensohn aus
48) Vgl. Faulenbach, Ideologie (1980), S. 38^42. 49) Johannes Haller: Partikularismus und Nationalstaat, Stuttgart 1926, S. 1. 50) Hans Erich Feine: Die Besetzung der Reichsbistümer vom Westfälischen Frieden bis zur Säkularisation 1648-1803, Stuttgart 1921 (= Kirchenrechtliche Abhandlungen, 97/98). Dazu: Heckel, Feine (1977), S. 198-200; Hans Erich Feine: Zur Verfassungsentwicklung des Heil. Rom. Reiches seit dem Westfälischen Frieden. In: ZRG/GA 52 (1932), S. 65-133. Es handelte sich um die erweiterte Fassung seiner Tübinger Antrittsrede von 1931. Dazu siehe unten Kap. V.2.c). 51) Auf eine populäre („wissenschaftlich-gemeinverständliche") Gesamtdarstellung braucht hier nicht näher eingegangen zu werden: Manfred Summing: Deutsche Verfassungsgeschichte vom Anfange des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Leipzig/Berlin 1920 (= Aus Natur und Geisteswelt, 639). Der Überblick eines Juristen: Philipp Zorn: Vom alten zum neuen Reich. Kurzer Abriß der deutschen Verfassungsgeschichte, Berlin 1927. 52) Zur Person: Joachim Lilla: Helmuth Croon (1906-1994): Leben und Werk. In: Die Heimat (Krefeld) 65 (1994), S. 150-156. 53) Helmuth Croon: Deutsche Verfassungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. In: La Costituzione degli Stati nell'Età Moderna. Saggi storico-giuridici a cura del Comitato Internazionale di Scienze Storiche. Bd. 1: Europa. Albanie-Hongrie, Mailand 1933, S. 17-126. Bei Lilla, Croon (1994) findet dieser Abriß keine Erwähnung. Dies wie auch die Tatsache, daß keine zeitgenössischen deutschen Rezensionen zu finden waren, spricht dafür, daß der Band außerhalb des insbesondere nach 1933 deutlich nationaler begrenzten Gesichtskreises deutscher Fachgelehrter publiziert wurde. Ein versteckter Hinweis ohne direkte Zitation: Karl Brandi: Der siebente Internationale Historikerkongreß zu Warschau und Krakau, 21.-29. August 1933. In: HZ 149 (1934), S. 213-220, hier S. 215. Der Nachweis der Vermittlung Hartungs in dessen Bescheinigungen für Croon (14.4.1947,14.10.1949; StaBi Berlin, NL Härtung, XXXVII, 1). Verhandlungen über eine deutsche Ausgabe im HeymannsVerlag verliefen offenbar im Sande. ÜB Göttingen, NL Brandi, Nr. 39/1, fol. 59-62.
1. Die
Verfassungsgeschichte als historisches Teilgebiet
125
Krefeld, war 1929 mit einer von Härtung betreuten Arbeit über „Stände und
Steuern in Jülich-Berg" im 17. und 18. Jahrhundert promoviert worden54) und beschäftigte sich seitdem mit der Bearbeitung kurmärkischer Ständeakten. Nebenbei bearbeitete er seit 1932 die Abschnitte zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte in den von Härtung mitherausgegebenen „Jahresberichten für deutsche Geschichte". Croon, der seine Darstellung, die 1933 erschien, ursprünglich bereits um 1930 abgeschlossen hatte, ergänzte sie um einen Nachtrag über die deutsche Verfassungsentwicklung bis 1932. Der Härtung-Schüler legt als Landeshistoriker in seinem Überblick einen besonderen Akzent auf die regionalen deutschen Verfassungsgeschichten. Nach Ausführungen über die Entwicklung vom Deutschen Bund zur Weimarer Republik, wandte er sich im zweiten Hauptteil ausführlich den Einzelstaaten zu, wobei Preußen besonders großes Gewicht zukam55). Croon legte eine unprätentiöse Gesamtschau vor, wie es dem Charakter als Handbuch-Beitrag entsprach. Dazu paßt, daß der Text am Ende durch ausführliche Angaben zu den Verfassungstexten in Reich und Ländern mit Druckort und Literatur abgerundet wird. Entsprechend zurückhaltend verfährt der Autor mit expliziten Bewertungen der deutschen verfassungshistorischen Entwicklung. Diese halten sich zudem in dem in der Weimarer Zeit üblichen Rahmen. Der Deutsche Bund wird als „Hindernis" für die deutsche Einheit kritisiert56), die parlamentarische Entwicklung seit 1870 als „verhängnisvolle Entfremdung" zwischen Regierung und Volk gewertet57), die Revolution von 1918 sei durch die Reformunwilligkeit der kaiserlichen Regierung verursacht worden58). Abseits der wenigen Überblickswerke wandte sich die verfassungsgeschichtliche Forschung in den Weimarer Jahren speziellen Aspekten der deutschen Geschichte zu. Bei den Themen zur Frühen Neuzeit herrschte weitgehende Kontinuität zur Geschichtswissenschaft vor dem Ersten Weltkrieg. Fragen der Verwaltungsgeschichte Preußens und Österreichs wurden ebenso eingehend behandelt wie die Geschichte einzelner Reichstage, die städtische Verfassungsgeschichte oder die frühneuzeitliche landständische Verfassung in den deutschen Territorien59).
54)
Helmuth Croon: Stände und Steuern in Jülich-Berg im 17. und vornehmlich im 18. Jahrhundert, Bonn 1929 (= Rheinisches Archiv, 10). 55) Österreich erhielt im Handbuch einen eigenen Artikel. Karl Gottfried Hugelmann: Grundriß der oesterreichischen Verfassungsgeschichte. In: Costituzione, Bd. 1 (1933), S. 135-198. 56) Croon, Verfassungsgeschichte (1933), S.26. 57) Ebd., S. 43. 58) Ebd., S. 45. 59) Einen Überblick gewinnt man durch die Auswertung der „Jahresberichte für deutsche Geschichte" (JDG) bzw. der Abteilung „Notizen und Nachrichten" in der „Historischen Zeitschrift" (HZ).
126
IV.
Verfassungsgeschichte und -begriff 1918-1933
verfassungsgeschichtliche Forschung in den Weimarer Jahren hatte eiSchwerpunkt in Studien zum 19. Jahrhundert. Allerdings läßt sich eine solche Aussage nur dann aufrechterhalten, wenn man den Verfassungsbegriff weiter auslegt, als dies Fritz Härtung tat. Bei seinem sehr engen staatsbezogenen und institutionengeschichtlich ausgerichteten Begriff der Verfassungsgeschichte beschwerte er sich wiederholt darüber, daß in diesem Zweig der Historiographie „nichts Wesentliches erschienen" sei oder daß er nur über juDie
nen
ristische Literatur zu berichten habe, aus welcher „der Historiker nichts lernen" könne60). Es falle schwer, stellte er fest, „das Besondere und Lokale vom Allgemeinen, das Verfassungsgeschichtliche vom Politischen, ja Außenpolitischen zu trennen"61). Viele Arbeiten, die Härtung nicht unter der bibliographischen Rubrik „Rechts- und Verfassungsgeschichte" behandelte, enthalten allerdings Gesichtspunkte, die sich sehr wohl darunter subsumieren lassen62). Eine selbst zugleich verfassungs- wie ideengeschichtlich interessierte Historikerin wie Hedwig Hintze äußerte jedoch indirekt Vorbehalte gegenüber „einer politischen Ideengeschichte [...], die sich im luftleeren Raum bewegt und die den Theorien zugrunde liegenden harten verfassungsgeschichtlichen Tatsachen allzuwenig beachtet"63). Im Themenfeld der Verfassungsgeschichte ist besonders auf die Forschung über politische Parteien hinzuweisen. Über sie war bereits in der Weltkriegszeit unter dem Stichwort des „älteren deutschen Parteiwesens" verhandelt worden64). Die Parteiengeschichte erlebte in den Weimarer Jahren, befördert von der aktuellen politischen Bedeutung der Parteien, einen gewissen Aufschwung. Die Anfänge dieser historiographischen Richtung seit der Jahrhundertwende waren ausgesprochen biographisch-ideengeschichtlich bestimmt gewesen. Erst mit den Studien von Ludwig Bergsträsser geriet die Organisationsgeschichte der Parteien allmählich ins Blickfeld65). In der Weimarer Zeit legte Bergsträsser einen außerordentlich erfolgreichen Überblick zur „Geschichte der politischen Parteien in Deutschland" vor,
60) JDG 2 (1926), S. 350-352. 61) Ebd., S. 395. 62) So z.B. viele ideengeschichtliche Studien. Genannt seien die Arbeiten: Gerhard Ritter: Stein. Eine politische Biographie, 2 Bde., Stuttgart/Berlin 1931; Hans Rosenberg: Rudolf Haym und die Anfänge des klassischen Liberalismus, München/Berlin 1933 (= HZ, Beih. 31); Heinrich Ritter von Srbik: Metternich. Der Staatsmann und der Mensch, 2 Bde.. München 1925.
63) Hedwig Hintze: Rez. zu E.[lie] Carcassonne, Montesquieu et le problème de la Consti-
tution française au XVIIIe Siècle. In: HZ 140 (1929), S. 179-181, hier S. 179. Siehe den Streit zwischen Friedrich Meinecke: Zur Geschichte des älteren deutschen Parteiwesens. In: HZ 118 (1917), S. 46-62, und Erich Brandenburg: Zum älteren deutschen Parteiwesen. Eine Erwiderung. In: HZ 119 (1919), S. 63-84, der sich an einem Kapitel von ders.: Die Reichsgründung, 2 Bde., Leipzig 1916, entzündet hatte. Dazu siehe Friedrich, Brandenburg (1998), S. 251-254. 65) Vgl. dazu oben Kap. III.2.b).
M)
1. Die
Verfassungsgeschichte als historisches Teilgebiet
127
der zwischen 1921 und 1932 sechs Auflagen erlebte66). Er stieg damit zum Doyen der Parteiengeschichte auf. Als weitere Schwerpunkte seiner Forschungen etablierten sich die Frankfurter Paulskirche, die Reichsverfassung von 1849 sowie die Geschichte des politischen Katholizismus im 19. Jahrhundert. Die beiden letzten Gebiete hatte er bereits vor 1914 bearbeitet, nun ergänzte er diese Studien durch Editionsbände und Darstellungen für ein breiteres Publikum67). Bergsträsser ging es dabei nicht zuletzt um eine positivere Einschätzung der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts, besonders von Parlament und Parteiwesen. Er verstand seine Studien stets auch als Beitrag zur politischen Bildung68). Als der führende Parteienhistoriker der Zeit wurde er für die Abschnitte über Parteien und Parlamentarismus in der dritten Auflage des „Handbuchs der Politik" herangezogen69). Bergsträsser zeigte neue Wege einer historischen Erforschung des Parteiwesens, obschon er nicht zu einer sozialgeschichtlichen Fundierung vordrang70). In dieser Hinsicht ging die Untersuchung des an der Deutschen Hochschule für Politik lehrenden Sigmund Neumann über „die Parteien der Weimarer Republik" deutlich weiter71). Strukturanalyse und Typisierung wiesen der Parteiengeschichtsschreibung neue Wege72). Schule machen konnte die 1932 erschienene Studie allerdings nicht mehr.
66) Ludwig Bergsträsser: Geschichte der politischen Parteien in Deutschland, Mannheim/ Berlin/Leipzig 1921/61932 (= Schriftenreihe der Verwaltungsakademie Berlin, 4)/hg. v.
Wilhelm Mommsen, München n\965, und war damit eines der erfolgreichsten historischpolitischen Bücher in der hier untersuchten Zeitspanne überhaupt. Vgl. dazu OJtto] Hintze: Rez. zu [Ludwig] Bergsträsser, Geschichte der politischen Parteien. In: Schmollers Jb. für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 45 (1921), S.287f, der resümiert: „Eine vergleichende verfassungsgeschichtliche Betrachtung könnte wohl ein breiteres und festeres Fundament auch für die deutsche Parteigeschichte schaffen". 67) Ludwig Bergsträsser: Das schwarz-rot-goldne Parlament und sein Verfassungswerk, Berlin o.J. [1919]; ders. (Hg.): Das Frankfurter Parlament in Briefen und Tagebüchern, Frankfurt a.M. 1929; ders.: Das Frankfurter Parlament und die deutsche Gegenwart, Berlin 1923; ders.: Der politische Katholizismus. Dokumente seiner Entwicklung. 2 Bde.,
München 1921/23. Ders.: Mein Weg, Darmstadt/Bonn 1953 [Privatdruck], S. 4. Ders.: Die politischen Parteien in Deutschland vor dem Kriege. In: Handbuch der Politik, hg. v. Gerhard Anschütz u.a., Bd. 1: Die Grundlagen der Politik, Berlin/Leipzig 31920, S. 369-375; Ludwig Bergsträsser: Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland. In: ebd., S. 329-336. 70) Eckart Kehr kritisierte, daß die Anfänge der deutschen Parteiengeschichte „mehr Anfänge [...] einer Ideengeschichte der Parteien [sind] als der Geschichte ihres konkreten Agierens, ihrer Taktik und ihrer Abhängigkeit von sozialen oder finanziellen Mächten". Eckart Kehr: Soziale und finanzielle Grundlagen der Tirpitzschen Flottenpropaganda. In: ders., Primat (1965), S. 130-148 [zuerst 1928], hier S. 130. 71) Sigmund Neumann: Die deutschen Parteien. Wesen und Wandel nach dem Kriege, Berlin 1932. Das Werk wurde ähnlich dem von Eckart Kehr mit der Neuherausgabe Mitte der sechziger Jahre wiederentdeckt. Sigmund Neumann: Die Parteien der Weimarer Republik, hg. v. Karl Dietrich Bracher, Stuttgart usw. 51986. 72) Eine sozialhistorisch konzipierte Studie hatte Neumann bereits mit seiner Dissertation vorgelegt: Sigmund Neumann: Die Stufen des preussischen Konservatismus. Ein Beitrag zum Staats- und Gesellschaftsbild Deutschlands im 19. Jahrhundert, Berlin 1930 (= Historische Studien, 190).
68) 69)
128
IV.
Verfassungsgeschichte und -begriff 1918-1933
erwachte Interesse für Parteiengeschichte schlug sich auch in EdiParteiprogrammen bzw. ähnlichen Schriften nieder, die von den bis Anfängen in die unmittelbare Gegenwart reichten. Die Sammlung war zunächst von dem Leipziger Historiker Felix Salomon ins Leben gerufen worden und wurde in seiner Nachfolge von den Marburger Neuzeithistorikern Wilhelm Mommsen und Günther Franz betreut73). Die wachsende Zahl von Neuerscheinungen inspirierte Literaturberichte74). Und die auch sonst verfassungsgeschichtlich arbeitenden Wilhelm Mommsen und Justus Hashagen thematisierten das Problem der „wissenschaftlichen Bedeutung" und einer „Methodik der deutschen Parteigeschichte"75). Bei den Untersuchungen zum 19. Jahrhundert mit ganz oder teilweise verfassungsgeschichtlichem Inhalt lassen sich drei Schwerpunkte feststellen: Studien zu den preußischen Reformen bzw. zur Innenpolitik Preußens, Arbeiten zur deutschen Nationalversammlung von 1848 und Abhandlungen zur Reichsgründung. Daneben sind Darstellungen zur Verfassungsgeschichte der Mittel- und Kleinstaaten zu nennen. Die preußischen Reformen galten als modellhaft und wurden nicht selten mit den Weimarer Reichsreformplänen parallelisiert, ebenso wurde auch der Zusammenbruch Preußens 1806 mit demjenigen des Reiches 1918 verglichen76). Nachdem Otto Hintze bereits um 1900 nachdrücklich auf die Kontinuität der Reformen zur Zeit davor hingewiesen hatte77), war die Basis für eine positive Sicht auf die altpreußische Zeit wie auf die Reformphase geebnet. Letztlich habe man die Staatsideen Friedrichs II. in den Reformen vollendet, hieß es. Und überhaupt sei das Ziel der preußischen Reformen die Stärkung des Staates gewesen und nicht etwa die Partizipation der Staatsbürger78). Zu guter Letzt wurde die deutsche Selbstverwaltungsidee mit dem englischen Parlamentarismusmodell kontrastiert, wobei betont wurde, daß der Parlamentarismus in Deutschland „nicht eine integrierende, sondern eine auflösende Funktion" besessen habe79). Das tionen
neu
von
Felix Salomon (Hg.): Die deutschen Parteiprogramme. Vom Erwachen des politischen Lebens in Deutschland bis zur Gegenwart, 2 Hefte, Leipzig/Berlin 1907/31924/41926 (= Quellensammlung zur Deutschen Geschichte); Wilhelm Mommsen/Günther Franz (Hg.): Die deutschen Parteiprogramme. 3 Hefte, Leipzig 51931 (= Quellensammlung zur Deutschen Geschichte). 74) Zur Methode: Hans Rothfels: Ideengeschichte und Parteigeschichte. Ein Forschungsbericht. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 8 (1930), S. 753-786. Weiterhin: Hans Speier: Neue Literatur zur Parteigeschichte. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 64 (1930), S. 166-178. 75) Wilhelm Mommsen: Zur Methodik der deutschen Parteigeschichte. In: HZ 147 (1933), S. 53-62; Justus Hashagen: Über die wissenschaftliche Bedeutung der Parteigeschichte. In: ZgStW 90 (1931), S. 73-81. 76) Faulenbach, Ideologie (1980), S. 196.
73)
77) 78)
Hintze, Reformbestrebungen (1896). Faulenbach, Ideologie (1980), S. 200. Charakteristisch: Max Lehmann: Zur Geschichte
der preußischen Heeresreform
von
1808. In: HZ 126
79) Faulenbach, Ideologie (1980), S. 77, 204.
(1922), S. 436-457.
1. Die Verfassungsgeschichte als historisches Teilgebiet
129
Man hatte also zu einer fast uneingeschränkt positiven Einschätzung der preußischen Reformzeit gefunden. Selbst die Endphase mit der mehrfach versprochenen, aber ausbleibenden Verfassungsgebung störte nicht das vermeintlich geschlossene Bild. Preußens Geschichte vor 1871, darin war man sich weitgehend einig, steuerte auf die Reichsgründung zu. In dieses teleologische Korsett wurden alle Wechselfälle der Berliner Politik gezwängt. Und da man in der Regel keine demokratisch-republikanischen Maßstäbe anlegte, erschienen weder eine vor 1848 fehlende, noch eine im Wahlrecht reaktionäre preußische Verfassung des Jahres 1850 kritikwürdig. Preußische Geschichte im 19. Jahrhundert war vielmehr Erfolgsgeschichte und zugleich Vorgeschichte der Reichsgründung. Ein verfassungshistorischer Blick auf die Details preußischer Geschichte zählte demzufolge zu den beliebten historiographischen Themen. Für das Kaiserreich nahm sich neben den umfänglichen Dokumentationen zur „Großen Politik der europäischen Kabinette" Hans Goldschmidts Aktenband zu Bismarcks Innenpolitik außerordentlich schmächtig aus80). Eine gesonderte Verfassungsgeschichte des Kaiserreichs erschien allerdings nicht. Neben den etablierten Studien zu „Bismarck und etc." legten Fritz Härtung und der Hintze-Schüler und Berliner Archivar Heinrich Otto Meisner Untersuchungen über das preußische Regierungssystem vor81). Die Kammern der preußischen Landtage stießen dagegen bezeichnenderweise auf wenig Interesse.
Dagegen kamen der Parlamentarismus in den deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts oder die Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49 mit keinem positiven Urteil davon82). Als Bewertungsmaßstab diente in der Regel die Reichsverfassung von 1871. die ihrerseits als idealer Kompromiß zwischen Staatsmacht und Volksinteresse eingeschätzt wurde. Dagegen wirkten, nicht zuletzt vor dem tagespolitischen Hintergrund einer mühsam entstehenden parlamentarischen Kultur der Weimarer Zeit, die Landtagsdebatten des Vormärz oder der Paulskirche ermüdend und zäh. Die Liberalen in den Parlamenten des 19. Jahrhunderts galten zumeist als weltfremd und kleinlich verbohrt. Für die Mehrheit der Historiker war das Scheitern der 48er-Bewegung 80)
Hans Goldschmidt (Hg.): Das Reich und Preußen im Kampf um die Führung. Von Bismarck bis 1918, Berlin 1931. Zudem geriet die einseitig unitarisch ausgerichtete Quellenauswahl scharf in die Kritik der führenden Verfassungshistoriker: Heinrich Otto Meisner: Rez. zu Hans Goldschmidt, Das Reich und Preußen im Kampf um die Führung. In: DLZ 53 (1932), Sp. 1037-1042; Fritz Härtung. In: HZ 147 (1933), S. 424-426; Otto Hintze. In: ZgStW 91 (1931), S. 355-358. 81 Fritz ) Härtung: Verantwortliche Regierung, Kabinette und Nebenregierungen im konstitutionellen Preußen 1848-1918. In: FBPG 44 (1932), S. 1-45, 302-373; Heinrich Otto Meisner: Zur neueren Geschichte des preußischen Kabinetts. In: FBPG 36 (1924), S. 39-66. 82) Zur Sicht auf die Deutsche Nationalversammlung und die Reichsverfassung von 1849: Faulenbach, Ideologie (1980), S. 208-213. Vgl. Schleier, Geschichtsschreibung (1975). S. 190-197.
130
IV
Verfassungsgeschichte und -begriff 1918-1933
einerseits eine logische Konsequenz, andererseits eine langfristige Voraussetzung für die spätere Reichseinigung83). Am politischen System des Kaiserreichs schieden sich die Geister. Die überwältigende Mehrheit der deutschen Historiker optierte für die positive Bewertung der Bismarckschen Reichsverfassung84). Der deutsche Konstitutionalismus von 1867/71 galt als sinnvolle und adäquate Lösung, als eigenständiger Verfassungstyp und nicht als kompromißhafte Übergangserscheinung. Die Verfassungsform des Reiches und die Regierungsweise Bismarcks hätten „der innersten Natur des deutschen Liberalismus, allgemeiner der unpolitischen Schwäche des Deutschen überhaupt" entsprochen, resümierte Fritz Härtung und gab damit die Leitlinie vor85). Dem konstitutionellen System der Bismarckära gebühre daher eine prinzipielle geschichtliche Legitimität. Bekannte Namen wie der Berliner Militärhistoriker Hans Delbrück oder der Tübinger Adalbert Wahl pflichteten ihm nachdrücklich bei86). Allein die linksliberalen Otto Becker, Ludwig Bergsträsser, Hans Rosenberg, Franz Schnabel oder Johannes Ziekursch widersprachen, ohne aber wie ihre Kontrahenten jemals mehrheitsfähig oder meinungsbildend zu werden87). Für sie war der Konstitutionalismus eben nicht die in sich geschlossene Staatsform, die typisch deutsch und zeitangemessen war, sondern nur eine „Halbheit"88), ein „Durchgangsstadium", eine „historische Zwischenstufe zwischen Absolutismus und parlamentarischer Demokratie"89). Damit trafen sich diese politischen
83)
Mit einer positiven Sicht auf 1848/49: Veit Valentin: Geschichte der deutschen Revolution von 1848-1849,2 Bde., Berlin 1930/31. Zu ihm: Schleier, Geschichtsschreibung (1975), S. 346-398. Elisabeth Fehrenbach: Veit Valentin. In: Wehler, Historiker (1973), S. 69-85. 84) Zusammenfassend: Faulenbach. Ideologie (1980), S. 213-248; vgl. auch Schleier, Geschichtsschreibung (1975), S. 202f. Auf die zahlreichen Arbeiten zur politischen Geschichte des Kaiserreichs, die auch Verfassungsfragen berühren, kann hier im Einzelnen nicht eingegangen werden. 85) Härtung, Verfassungsgeschichte (1922), S. 172. 86) Zu Delbrück: Andreas Hillgruber: Hans Delbrück. In: Wehler, Historiker (1973), S. 416-428. Zu Wahl: Weber, Lexikon (1984), S. 635f. Adalbert Wahl: Deutsche Geschichte. Von der Reichsgründung bis zum Ausbruch des Weltkriegs (1871 bis 1914), 4 Bde., Stutt-
gart 1926-1936.
87)
Bergsträsser: Fehrenbach, Bergsträsser (1980); Schleier, Geschichtsschreibung S. 302-345. Zu Ziekursch: Karl-Georg Faber: Johannes Ziekursch. In: Wehler, Historiker (1973), S. 343-357; Schleier, Geschichtsschreibung (1975), S. 399-451. Johannes Zu
(1975).
Ziekursch: Politische Geschichte des neuen deutschen Kaiserreiches, 3 Bde., Frankfurt a. M. 1925-1930. 88) Otto Becker: Deutschlands Zusammenbruch und Auferstehung. Die Erneuerung der Staatsgesinnung auf Grund der Lehren unserer jüngsten Vergangenheit, Berlin 1921, S. 123. Von einer „Künstelei" sprach Bergsträsser, Frankfurter Parlament (1923), S. 70f. 89) Rosenberg, Haym (1933). S.207f., mit ausdrücklichem Bezug auf Carl Schmitt in der Schlußsequenz ebd., S. 208, Anm. 2; Ziekursch, Geschichte, Bd. 1 (1925), S. 14: „ein Produkt der Studierstube", das „den Uebergang vom Absolutismus zum Parlamentarismus verlangsamte und erleichterte". Franz Schnabel: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Monarchie und Volkssouveränität, Freiburg 1933, S. 132. Zur Person die maßgebliche Untersuchung von Thomas Hertfelder: Franz Schnabel und die deutsche
1. Die
Verfassungsgeschichte als historisches Teilgebiet
131
Außenseiter unter den Historikern in der Analyse mit Carl Schmitt, der den Konstitutionalismus in seiner „Verfassungslehre" von 1928 lediglich als „dilatorischen Kompromiß" einstufte90). Generell herrschte unter den Historikern Weimars die Tendenz vor, die Bismarckära vom Wilhelminismus zu trennen. So positiv die Reichsverfassung von 1871 und ihr als deutscher Heros stilisierter Schöpfer beurteilt wurden, so negativ hob sich von dieser Folie das Zeitalter Wilhelms II. ab91). Von nun an, so sah man rückblickend, ging es mit dem Reich bergab, außen-, innen-, militar- wie verfassungspolitisch. Die von Bismarck gezügelten Probleme des verzwickten Reich-Länder-Föderalismus mit dem übermächtigen Einfluß Preußens schienen sich nun systemsprengend auszuwirken. Nach 1890 setzten sich die desintegrativen Elemente durch, wirkten Parteien und Verbände gegen das Reichsinteresse, gelang es dem Reichstag, zulasten von Kaiser und Reichsregierung seine Kompetenzen „still" zu erweitern. Nach dem Abgang des „Lotsen" lief das „Reichsschiff" förmlich aus dem Ruder. So sei der Staat innerlich zerrissen gewesen, als der Weltkrieg begann. Das historische Urteil über das Kaiserreich ließ sich freilich nicht fällen ohne eine dezidierte politische Stellungnahme. Der militärische Zusammenbruch 1918 sei zwar nicht vorhersehbar gewesen, aber politische Reformen schienen aus Sicht führender Verfassungshistoriker wie Otto Hintze und Fritz Härtung schon vorher überfällig. Bereits ein bzw. zwei Jahre zuvor hatten sie sich bei aller sonstigen Zurückhaltung für eine vorsichtige Reform des Wahlrechts in Preußen ausgesprochen92). So fanden sie sich mit dem unerwünschten Systemwechsel schließlich eher ab als die strikten Verteidiger der wilhelminischen Monarchie, wie beispielsweise Georg von Below93). Diejenigen Historiker und dabei handelte es sich um die deutliche Mehrheit die vor dem Weltkrieg den deutschen Konstitutionalismus verteidigt und ihn als die ideale Staatsform gepriesen hatten, standen nun vor einem Trümmerhaufen. 1918 lagen im Reich und in den Einzelstaaten die Monarchien am Boden. Der Konstitutionalismus als Staatsmodell war schon vor dem Krieg in die Krise geraten und wurde im Krieg umgestaltet; nun hatte er sich überlebt. 1918 wurde er endgültig überholt von jenen politischen Systemen, gegen die er kriegerisch angetreten war. Die westlichen Modelle von Re-
,
-
Geschichtswissenschaft. Geschichtsschreibung zwischen Historismus und Kulturkritik (1910-1945), 2 Tie, Göttingen 1998 (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 60). Ebd., Tl. 2, S.595, Anm. 578, zum Konstitutionalismus. W) Schmitt, Verfassungslehre (1928), S. 54, 66. Zu dieser Sicht siehe unten Kap. IV.3. 91) Faulenbach, Ideologie (1980), S. 240-248. 92) Otto Hintze: Zur Reform des preußischen Wahlrechts. In: Europäische Staats- und Wirtschaftszeitung 2 (1917), S. 432-435; siehe dazu Oestreich, Hintzes Stellung (1964), S. 18*-20*; Köhler, Bildungsbürgertum (1970), S. 155-169. Fritz Härtung: Konservativer Fortschritt. In: Das neue Deutschland 6 (1918), S. 420-423; StaBi Berlin, NL Härtung, XX, 3 (an seine Mutter, 24.11.1916). 93) Cymorek, Below (1998), S. 288-292.
132
IV
Verfassungsgeschichte und -begriff 1918-1933
publik
und Demokratie wurden nun auch in Deutschland etabliert. Beteiligt ein historisch arbeitender Jurist: der Verfassungshistoriker Hugo Preuß hatte die Grundlinien der neuen Verfassung entworfen94). Der Professor an der Berliner Handelshochschule verfolgte das Konzept eines einheitlichen Volksstaates. Der Föderalismus sollte durch eine Aufteilung Preußens gestärkt werden. Als Regierungsform wurde eine parlamentarische Demokratie eingeführt, jedoch mit starken plebiszitären Elementen. Beim Katalog der Grundrechte erfolgte ein historischer Rückgriff auf alte Vormärz- und 48erwar
Traditionen95).
Die in der Weimarer
Verfassung gewährten Freiheitsrechte stuften die meinegativ ein. Fritz Härtung meinte, die Grundrechte hätten „Unordnung und Zuchtlosigkeit" zur Folge. Die Verfassung biete keinen Schutz vor der „Zerklüftung des heutigen Lebens"96). Dennoch fiel sein Gesamturteil über die Gegenwart recht gemäßigt aus. Gegenüber Siegfried A. Kaehler faßte er seine Ansichten folgendermaßen zusammen: „Daß ich die Republik unter den gegenwärtigen Umständen, nachdem sie einmal besteht, für die beste Staatsform in Deutschland halte, weil sie die einzige ist, die nicht sten
Historiker
sofort
Auseinanderfallen der deutschen Einheit führt, das habe ich imauch nicht so pointiert, vertreten [...]. Die Revolution ist meiner mer, nach das größte Unglück, das uns im Augenblick der militäriÜberzeugung schen Niederlage hat treffen können. Sie ist [...] ein Verbrechen an dem deutschen Volk"97). Hartungs Urteil ähnelte jenem „Vernunftrepublikanismus", der für Friedrich Meineckes Haltung charakteristisch war. Man müsse sich, da die Monarchie ein für allemal abgeschafft sei und nicht wiederkehre, in die neuen Verhältnisse fügen und mit ihnen leben lernen. Sich in den Dienst der Republik zu stellen, sei ob man sie nun möge oder nicht ein Gebot der Vernunft. Unter den Verfassungshistorikern stand Härtung mit seiner Einstellung keineswegs allein. Auch bei Otto Hintze, der sich allerdings weniger explizit äußerte, findet sich eine Art notgedrungene Akzeptanz98). Als definitiver Gegner von Republik und Verfassung muß dagegen Georg von Below gelten. zum
wenn
-
-
94) 95)
Zu ihm siehe oben Kap. III.2.b). Der Torso eines Verfassungskommentars wurde posthum veröffentlicht. Hugo Preuß: Reich und Länder. Bruchstücke eines Kommentars zur Verfassung des Deutschen Reiches, hg. v. Gerhard Anschütz, Berlin 1928. %) Fritz Härtung: Deutsche Geschichte vom Frankfurter Frieden bis zum Vertrag von Versailles 1871-1919, Bonn/Leipzig 21924, Vorwort u. S. 374f. Generell zu Hartungs politischen Urteilen: Lambert, Politics (1986), S. 18f. u. passim. 97) StaBi Göttingen, NL Kaehler, Nr. 1,59, fol. 12 (4.9.1922). 98) Gerhard, Hintze Work (1970), S. 27; Oestreich, Hintze (1985), S.405; Härtung, Hintze (1941), S. 518. Von einer „kontemplativen Haltung" Hintzes nach 1918 sprach Kocka, Hintze Weber (1981), S. 77. Eckart Kehr kommentierte polemisch: „Der schärfste Imperialist des Kaiserreiches wurde in der Republik fast ein Sozialdemokrat." Aber weil er sich „zu offen als ein Vertreter des Machtstaatsgedankens bekannt" habe, sei er zwar „bedeutend [...] als Forscher", aber dennoch „nicht der führende und charakteristischste deutsche Historiker in den Jahren zwischen 1910 und 1925" gewesen. Kehr, Geschichtsschreibung (1933), S. 260.
2.
Verfassungsgeschichtsschreibung von Härtung und Hintze
Das Verhältnis
zur
Revolution und
zum
Weimarer Staat
war
133
nicht unbe-
dingt vom Lebensalter der Verfassungshistoriker abhängig. Below und Hintze zählten in der Weimarer Zeit zu den ,Altvorderen' der Verfassungsgeschichte. Sie waren 1858 bzw. 1861 geboren und gehörten wie Karl Lamprecht oder Friedrich Meinecke zur Generation der „Ranke-Epigonen"99). Dagegen repräsentierten Fritz Härtung (Jahrgang 1883) und Willy Andreas (Jahrgang 1884) bereits deren Schülerschaft, die als sogenannte Frontgeneration im Ersten Weltkrieg gedient hatte100). Während Belows oder Hintzes wissenschaftspolitischer Einfluß in den Weimarer Jahren durch Tod (Below 1925) bzw. vorzeitigen Ruhestand (Hintze 1921) eher gering zu veranschlagen ist, rückten Andreas und Härtung nun in die erste Reihe der Historiker vor.
2. Die Verfassungsgeschichtsschreibung von Fritz Härtung und Otto Hintze Andreas und Fritz Härtung begründeten als Lehrstuhlnachfolger von Otto Hintze eine spezielle Berliner Tradition des Teilfachs Verfassungsgeschichte. Den Anfang bildete die Ernennung Hintzes 1899 zum außerordentlichen Professor an der Friedrich-Wilhelms-Universität mit einem Lehrstuhl für Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte und Politik. Hintze gab sein Amt aus Gesundheitsgründen im Frühjahr 1921 auf101). Als Nachfolger wurde der seit 1919 in Rostock lehrende Willy Andreas 1922 nach Berlin berufen102). Der 38 Jahre alte Schüler von Erich Marcks hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt noch keinen besonderen Namen gemacht. Für die Nachfolge Hintzes empfahl er sich hauptsächlich deshalb, weil er nach einer Dissertation in Heidelberg 1907 mit einer „Geschichte der Verwaltungsorganisation und Verfassung Badens" im frühen 19. Jahrhundert an der Philipps-Universität Marburg 1912 habilitiert worden war. Doch nach kaum einem Jahr in Berlin zog es den gebürtigen Karlsruher wieder in die nordbadische Heimat zurück. Er übernahm den Heidelberger Lehrstuhl von Hermann Oncken. Das Berli-
Willy
99) Zu den Generationenfolgen nach Ranke: Weber, Priester (1984). 10°) Guter Überblick über die „generationelle Disposition" der Historiker
bei Schulin,
Weltkriegserfahrung (1997). 101) Hintze litt seit seiner Jugend an einer Herzschwäche, seit Ende des Ersten Weltkriegs war ein Augenleiden hinzugetreten. Erbe, Hintze (1980), S. 162. Die Entpflichtung erfolgte zum 1.4.1921. Vogler, Hintze (1985), S.38. 102) Eine Abschrift der Berufungsurkunde vom 18.2.1922 in GLA Karlsruhe, 69 N, NL Andreas, Nr. 744. Zu ihm: Weber. Lexikon (1984), S.8f; B.[ernd] Efaulenbach]: Andreas, Willy. In: vom BruchlMüller, Historikerlexikon (2002), S.6f; F.[riedrich] Facius: Willy Andreas. In: HZ 207 (1968), S. 525-528; ders.: Willy Andreas 1884-1967. Ein Gedenkblatt 10. Juli 1977 mit einer Übersicht seines schriftlichen Nachlasses im Generallandesarchiv Karlsruhe. In: ZGORh 124 (1976), S. 369-377. zum
134
IV
Verfassungsgeschichte und -begriff 1918-1933
Terrain war ihm offenbar zu fremd, thematisch für den kulturgeschichtlich interessierten Andreas möglicherweise zu eng. Als Nachfolger von Andreas wurde Fritz Härtung 1923 aus Kiel berufen. Härtung hatte nach seiner Rückkehr aus dem Krieg zunächst wieder als außerordentlicher Professor in Halle begonnen103). Doch parallel dazu hatte er auch den Berufsweg als Archivar erwogen, nachdem sich eine ordentliche Professur durch den Weltkrieg recht lange hinausgezögert hatte. Immerhin war seine Reputation auf dem Gebiet der Verfassungsgeschichtsschreibung seit seinem Grundriß-Band von 1914 so unbestritten, daß ihm die Juristische Fakultät in Köln 1922 die Ehrenpromotion verlieh104). Selbst sein Fachkollege, Berliner Vorgänger und Kieler Konkurrent Willy Andreas äußerte sich positiv über ihn, wenn auch mit Einschränkungen. An den Kieler Frühneuzeitler Arnold Oskar Meyer schrieb Andreas Ende 1921: „Härtung verdient längst eine Lehrkanzel. Ich schätze seine Tüchtigkeit, habe allerdings in einer demnächst erscheinenden Rezension der H.Z. sein Banausentum in Bildungsfragen und sein Unvermögen Geistesgeschichte zu treiben nicht verschweigen dürfen. Da er nun mit mir in Kiel vorgeschlagen ist, wünschte ich, die Besprechung hätte milder ausfallen dürfen. Die Gesamtleistung Hartungs aber ist doch so erheblich, daß Sie an ihm einen guten Griff machen werner
den."105)
Nachdem Andreas selbst in Berlin untergekommen war, setzte er sich beim nochmals für Hartungs Berufung in Kiel ein106). An der holsteinischen Landesuniversität wurde über Härtung äußerst positiv gegutachtet: „Die deutsche Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der Neuzeit ist durch keinen der lebenden Historiker reicher befruchtet worden als durch ihn." Er habe „die bisher nur von Juristen angefaßte Aufgabe einer deutschen Verfassungsgeschichte der Neuzeit zum ersten Mal in einem ausgezeichneten Grundriß als Historiker gelöst"107). Auch in Rostock erwog man, Härtung als Nachfolger für den nach Berlin abgewanderten Andreas zu
preußischen Kultusministerium
103)
Für das Sommersemester 1920 erhielt er auf Vermittlung von Richard Fester einen für „allgemeine Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte der neueren Zeit". BA Koblenz, N 1107, Nr.246, p. 9-10 (18.4.1920); siehe auch die Personalkarteikarte in BA Berlin, R 21, Nr. 10.007. 104) Die Urkunde in StaBi Berlin, NL Härtung, XXIX, 8 (17.7.1922). Er habe, so hieß es, „als erster eine zusammenfassende Darstellung der Verfassungsgeschichte Deutschlands in der Neuzeit geschaffen und mit diesem Werke das sichere Fundament gelegt [...], auf dem nunmehr Juristen und Historiker an dem weiteren Ausbau dieses für das Verständnis der Gegenwart unentbehrlichen Wissenszweiges weiterarbeiten können". 105) ÜB Göttingen, NL Meyer, Nr. 12, fol. 11 (27.12.1921). Angesprochen wird: W.[illy] Andreas: Rez. zu Fritz Härtung, Deutsche Geschichte von 1871-1914. In: HZ 126 (1922), S. 495^199. Fritz Härtung: Deutsche Geschichte von 1871 bis 1914, Bonn/Leipzig 1920. Hartungs Reaktion auf die Besprechung findet sich im Brief an Fester vom 3.10.1922 (BA Koblenz, N 1107, Nr. 246, fol. 21-22). 106) ÜB Göttingen, NL Meyer, Nr. 12, fol. 13 (Andreas an A.O. Meyer, 10.2.1922). 107) GLA Karlsruhe, 69 N, NL Andreas, Nr. 554/9.
Lehrauftrag
2.
Verfassungsgeschichtsschreibung von Härtung und Hintze
135
holen.
Hartungs Lehrer Hintze empfahl ihn seinem Nachfolger Andreas Härtung sei „auch für allgemeine neue Geschichte durchaus kompetent [...], wenn er auch litterarisch sich vorzugsweise auf dem Gebiete der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte betätigt hat. Sein Buch über die neueste deutsche Geschichte [ist] wohl ein ausreichender Beweis dafür"108). So wärmstens:
sahen es auch die Kieler, denn in seiner soeben erschienenen „Deutschen Geschichte seit 1871" sei es Härtung gelungen, „eine große Periode in der Gesamtheit ihrer Lebensäußerungen zu umfassen"109). Das Argument, daß Härtung neben der Frühen Neuzeit mit dem Werk über Sachsen-Weimar das frühe 19. Jahrhundert und nun auch die „Zeitgeschichte" erforscht hatte, mußte auf Berufungskommissionen überzeugend wirken. Härtung hatte den Mut bewiesen, die jüngst vergangene deutsche Geschichte historisch aufzuarbeiten, was vom Quellenzugang mindestens ebenso problematisch war wie von dem durch Zeiteinflüsse unvermeidlich beeinflußten politischen Urteil110). Bemerkenswert ist, daß Härtung beide Probleme in seiner Geschichte des Kaiserreichs offensiv aufgreift. Er präsentiert eine Fülle von Fakten, versteckt sein dezidiertes Urteil aber nicht dahinter. Deutlich gelangt seine Bismarckverehrung zum Ausdruck und ebenso sein Vorwurf an alle politisch Verantwortlichen, vor 1914 versagt zu haben. Härtung schreibt politische Geschichte mit einigen wirtschafts- und sozialhistorischen Ausflügen. Auch die Verfassungsgeschichte kommt natürlich zu ihrem Recht. Er habe damit, so ein Kritiker, immerhin Ansätze zu einer über die geschriebene Verfassung hinausreichenden Darstellung der „lebendigen Prozesse des deutschen Verfassungslebens" geliefert111). Methodisch ist die Monographie gleichwohl keineswegs ambitioniert. Härtung arbeitet die Geschichte des Kaiserreichs sachsystematisch ab und trennt sie in einen Teil vor und einen nach 1890. In den einzelnen Abschnitten werden auswärtige und innere Politik sowie die wirtschaftliche und soziale Entwicklung jeweils getrennt voneinander behandelt. Die Urteile über die „Deutsche Geschichte" fielen, wie man der Äußerung von Andreas entnehmen kann, nicht in allen, aber dennoch in den wesentlichen Punkten positiv aus. Andreas selbst kritisierte wie manche andere Rezensenten besonders die beiden kurzen kultur- und geistesgeschichtlichen Ka-
108) Ebd., Nr. 744 (undatiert). 109) Ebd., Nr. 554/9. Auf der Berufungsliste befanden sich hinter Härtung ex
dreas und der mann
Wätjen.
an
aequo Ander Technischen Hochschule Karlsruhe lehrende Frühneuzeitler Her-
Das Problem verschärfte sich noch bei der bis zum Jahr 1919 fortgeführten zweiten Auflage. Härtung, Deutsche Geschichte (1924). Das Werk konkurrierte mit anderen, teils mehrbändigen Überblicksdarstellungen zum Kaiserreich, so mit Johannes Hohlfeld: Geschichte des Deutschen Reiches 1871-1924, Leipzig 1924, Adalbert Wahl, Deutsche Geschichte (1926-1936), und Ziekursch, Politische Geschichte (1925-1930). 1U) Kurt Bloch. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 54 (1925), S. 824-828, hier S. 827.
no)
136
IV
Verfassungsgeschichte und -begriff 1918-1933
als völlig unzureichend112). Härtung reagierte auf die Kritik, indem er das Werk in drei wesentlich überarbeiteten und erweiterten Auflagen aktualisierte, gleichzeitig aber den einheitlichen Charakter und das abgewogene Urteil wahrte113). Auch Hartungs „Deutsche Verfassungsgeschichte" erlebte in der Weimarer Zeit insgesamt drei Neuauflagen114). Grund dafür war die nach wie vor vorhandene Monopolstellung des Werks in der neueren deutschen Verfassungsgeschichte115). Die Gesamtlinie blieb unverändert: kleindeutscher Blickwinkel und staatsorientierter Zugriff. Inhaltlich wurde der Band aktualisiert, in Teilen gekürzt, in anderen erweitert. Der Abschnitt über die Anfänge der Territorialbildung und die Entstehung der Landeshoheit, der weit ins 12. und 13. Jahrhundert zurückgriff, wurde aus der zweiten Auflage herausgenommen und dem Mittelalter-Band von Aloys Meister eingegliedert. Dafür erschien die Auflage von 1922 ergänzt um ein Kapitel über Weltkrieg, Revolution und Reichsverfassung. Weitere Hinzufügungen brachte die vierte Auflage von 1933: zunächst eine von den Rezensenten angeregte Verfassungsgeschichte Österreichs seit 1804, sodann eine Fortsetzung des Weimar-Teils bis 1932. In der aktualisierten Fortführung des Grundrisses bis nahe an die Gegenwart, den Härtung gegen Jahresende 1932 verfaßte und der 1933 erschien116), ging er mit dem Weimarer Staat, hart ins Gericht. Der Parlamentarismus habe versagt, den Parteien fehle „das wahre staatliche Verantwortungsbewusstsein". Als Folge des verlorenen Krieges und der „Aussaugung durch die Reparationsleistungen" sowie „jener falschen Auffassung der Freiheit als einer Freiheit vom Staat" drohe „jetzt eine ernste Gefahr für unser politisches Leben"117). Härtung nahm kein Blatt vor den Mund und legte seine politische Meinung offen dar. Die sachliche Linie ging in diesen Passagen zugunsten einer politisch argumentierenden Position fast ganz verloren. Kein Wunder, daß Härtung seine historisch bemäntelte tagesaktuelle Kritik mit nur einer einzigen Fußnote belegte: mit dem Verweis auf Carl Schmitts denunziatorische Schrift über ,,[d]ie geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentaris-
pitel
112) Er sprach von „auffallender Dürre und Flachheit". Andreas, Rez. Härtung (1922), S.498. Härtung verzichtete seit der zweiten Auflage darauf. Weitere Besprechungen: W.[ilhelm] Schüßler. In: DLZ 46 (1925), Sp. 826-832; Wilhelm Mommsen. In: ZgStW 78 (1924), S. 816-820; Adalbert Wahl. In: DLZ 51 (1930), Sp. 1132f.; Hans Herzfeld. In: VSWG 25 (1932), S. 71-76; [Aloys] Meister. In: HistJb 42 (1922), S. 162f.; Johannes Ziekursch. In: Frankfurter Zeitung. Literaturblatt, Nr. 7 v. 15.2.1931, S. 18. 113) Härtung, Deutsche Geschichte, 31930/Leipzig 41939/51941 und Stuttgart 61952. 114) Ders.: Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15.Jahrhundert bis zur Gegenwart, Leipzig/Berlin 21922/31928/41933 (= Grundriß der Geschichtswissenschaft, 2,4). 115) Dies betonten auch die Besprechungen der Neuauflage von J.[ustus] Hashagen. In: HZ 149 (1934), S. 154, und Ernst Rudolf Huber: Rechtswissenschaftliche Grundrisse. In: ZgStW 99 (1939), S. 374-376, hier S. 374f. 116) Das Vorwort des 1933 erschienenen Bandes ist auf Dezember 1932 datiert. Härtung, Verfassungsgeschichte (1933), S. IV. 117) Ebd., S. 230.
2.
Verfassungsgeschichtsschreibung von Härtung und Hintze
137
mus"118).
Die Stellung von Hartungs „Verfassungsgeschichte" in Forschung und Lehre blieb bis 1933 unangefochten. Gerühmt wurde an seiner Darstellung die „genetisch-historische" Methode, die notwendig sei „bei dem Übergewicht, das die begrifflich-juristische Behandlungsweise [...] zumal in der neueren Verfassungsgeschichte lange Zeit gehabt hat"119). Bei allem Lob muß eine kritische Stimme schon allein deshalb zu Wort kommen, weil sie die Grundanlage Hartungs und eine seiner zentralen Thesen in Frage stellte. Der linksliberale Johannes Ziekursch bemängelte 1930 zum einen die „borussische Neigung" Hartungs, die u. a. zum Fehlen einer aus seiner Sicht unverzichtbaren Darstellung der österreichischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert geführt habe (die Härtung 1933 hinzufügte). Zum anderen kritisierte er, daß das „Buch aus der unter den deutschen Historikern vor dem Weltkrieg herrschenden Auffassung heraus entstanden ist, daß die kleindeutsche Lösung der deutschen Frage den endgültigen Abschluß der deutschen Einheitsbewegung gebracht hat und daß die konstitutionelle Regierungsform der Bismarckschen Reichsverfassung die spezifisch deutsche Verfassungsart darstelle". Damit aber bleibe der „Zusammenbruch des Kaiserreiches in letzter Linie unverständlich". Ziekursch schloß mit einer Generalabrechnung: „Es genügt eben nicht, die deutsche Verfassungsgeschichte äußerlich bis auf die Gegenwart fortzuführen, sondern die Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit werden die deutschen Historiker allmählich zwingen, alte, liebgewordene Anschauungen fallen zu lassen."120) Doch diese ebenso wissenschaftlich wie politisch motivierte Kritik änderte nichts an der allgemeinen Hochschätzung des Hartungschen Grundrisses. Durch die ständige Aktualisierung und die wichtigen Ergänzungen hatte der Band deutlich an Wert und Einfluß gewonnen. Begriffliche Klarheit und ein schnörkelloser Duktus zeichneten das Werk aus, dem selbst Ziekursch wegen der „knappen, geschickten und zuverlässigen Zusammenfassung gewaltiger Stoffmassen" seine Anerkennung nicht vorenthalten konnte121). Mit ähnlich großem Elan wie bei der seiner Bücher ging Härtung nach seiner Berufung in Kiel an die Arbeit. Im Oktober berichtete er Richard Fester, er sehe es als seine Aufgabe an, „die Herausbildung des modernen Staates aus dem Mittelalter gründlich zu erforschen"122). In diesen Zusammenhang gehörte sein Seminar zum Thema „Reich und Reformation", das er im Winter 1922/23 anbot. Doch kaum war er richtig angekommen,
Überarbeitung
118)
Carl Schmitt: Die
21926.
geistesgeschichtliche Lage
des
heutigen Parlamentarismus,
Berlin
119) [Rg.]. In: Literarisches Zentralblatt für Deutschland 73 (1922), Sp. 334f.; vgl. auch J.[ustus] Hashagen. In: HZ 149 (1934), S. 154. Dagegen erntete er später von Ernst Rudolf Huber den Vorwurf, er habe die Verfassungsentwicklung „noch nicht in dem für unsere Zeit wesentlichen Sinn erfaßt". Huber, Grundrisse (1939), S. 374f. 120) Johannes Ziekursch. In: ZgStW 88 (1930), S. 603-605. 121) Ebd. 122) BA Koblenz, N 1107, Nr. 246, fol. 17-18 (18.10.1922).
138
IV
Verfassungsgeschichte und -begriff 1918-1933
überstürzten sich bereits die Ereignisse. Im Frühjahr 1923 ereilte ihn zunächst ein Ruf aus Hamburg, dann schließlich derjenige aus Berlin. An der FriedrichWilhelms-Universität hatte die Entscheidung politische Gründe, denn Härtung setzte sich als Favorit einer eher konservativen Fraktion gegenüber den liberalen Kräften durch, deren Kandidat der Breslauer Johannes Ziekursch gewesen war123). Härtung fiel die Entscheidung nicht schwer. Er sei „fest überzeugt, daß ich meiner ganzen Natur nach mehr für die Hintzesche Professur geeignet bin als für die mit sehr vielen unakademischen Verpflichtungen belastete Professur in Hamburg. [...] Die wissenschaftliche Aufgabe in Berlin liegt mir doch sehr, so wenig ich bedaure, hier [in Kiel, E.G.] zu einer allgemeineren Tätigkeit gezwungen gewesen zu sein. Auch hatte ich einfach die Pflicht, das Erbe Hintzes zu übernehmen." Mit einem Seitenhieb auf seinen Amtsvorgänger Andreas bemerkte er: „Ich verkenne die Begabung von Andreas nicht. Aber sie liegt nicht auf dem Gebiet der Verfassungs- u. Verwaltungsgeschichte."124) Er habe, teilte er Siegfried A. Kaehler mit, „nun kein Ziel auf Erden mehr zu erreichen". Man erwarte von ihm „die Wiederaufnahme Hintzescher Tradition als selbstverständliche Pflicht"125). Härtung blieb der Friedrich-WilhelmsUniversität bis zu seiner Emeritierung 1949 treu. Der menschlich zurückhaltende und pädagogisch begabte Gelehrte scharte einen Schülerkreis um sich, ohne aber inhaltlich eine Schule im engeren Sinne zu begründen126). Hartungs ,Abschiedsdienst' für Kiel bestand in einer Korrespondenz zur Regelung seiner Nachfolge. Ausgerechnet mit Willy Andreas nahm er deshalb Kontakt auf127). Das Karussell der Professuren mit verfassungsgeschichtlicher Ausrichtung drehte sich zwischen Berlin, Kiel und Rostock und beteiligt waren in erster Linie Willy Andreas und Fritz Härtung. Der Kreis von auf die Verfassungsgeschichte spezialisierten Historikern erwies sich Mitte der zwanziger Jahre als äußerst begrenzt. Deshalb wurde an den genannten Universitäten auch die Berufung von Nicht-Verfassungshistorikern erwogen128). Allein die Berliner Fakultät fühlte sich dem Erbe des ehemaligen Lehrstuhles von
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123) vVeöer, Priester (1984), S.266. Für Ziekursch hatten sich Hans Delbrück, Friedrich Meinecke und Karl Stählin ausgesprochen. 124) ÜB Göttingen, NL Meyer, Nr. 175, fol. 12 (an A.O. Meyer, 8.5.1923). 125) Ebd., NL Kaehler, Nr. 1,59, fol. 16 (6.5.1923). Ein deutliches Bekenntnis Hartungs zur Leistung Hintzes enthält F.[ritz] Härtung: Rez. zu Gustav Schmoller, Preußische Verfassungs-, Verwaltungs- und Finanzgeschichte. In: HZ 127 (1923), S.90f, hier S.91. Die posthume Veröffentlichung Schmollers beruhte auf Hintzes Vorlesungsmitschriften. 126) Eine einfühlsame Schilderung Hartungs findet sich neben der Nachruf-Literatur in den Erinnerungen seines Schülers Theodor Eschenburg. Theodor Eschenburg: Also hören Sie mal zu. Geschichte und Geschichten 1904 bis 1933, Berlin 1995, S. 190-196. 127) GLA Karlsruhe, 69 N, NL Andreas, Nr. 750 (Brief Hartungs vom 11.7. und Antwort Andreas' am 16. 7.1923). ,28) Ebd. In Kiel wurde über Paul Herre, Karl Alexander von Müller, Gerhard Ritter, Wilhelm Schüssler und Wolfgang Windelband diskutiert.
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Verfassungsgeschichtsschreibung von Härtung und Hintze
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Otto Hintze verpflichtet. Man beließ bezeichnenderweise die Lehrstuhlbenennung und erwartete auch ein einschlägiges Lehrangebot. Nach der vorzeitigen Emeritierung Hintzes hatten zunächst die Privatdozenten Rudolf Häpke und Carl Brinkmann Veranstaltungen zur Verfassungsgeschichte übernommen. Auch der Mediävist und Hilfswissenschaftler Michael Tangl war mit entsprechenden Lehrangeboten eingesprungen. Ab dem Sommersemester 1922 bot Willy Andreas als regulärer Hintze-Nachfolger gleich mehrstündig Vorlesungen und Übungen zur neuzeitlichen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte an129). In Berlin hielt zudem Hedwig Hintze, die Ehefrau von Otto Hintze, verfassungshistorische Lehrveranstaltungen ab. Hedwig Hintze war 1923 mit einer Studie über den Föderalismus in der Frühphase der Französischen Revolution promoviert worden und hatte sich, als zweite Frau im Fach Geschichte überhaupt, 1928 habilitiert130). Frankreich und insbesondere der Geschichte im Zeitalter der Französischen Revolution
129) Einige Veranstaltungen in Auswahl: Wintersemester 1920/21: Rudolf Häpke: Verfas-
Staaten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Sommersemester 1921: Carl Brinkmann: Allgemeine Verfassungsgeschichte der abendländischen Staatenwelt, Übungen zur vergleichenden Verfassungsgeschichte (England und Preußen); Sommersemester 1920: Michael Tangl: Deutsche Verfassungsgeschichte von Maximilian I. bis zum Ausgang des alten Reichs; Willy Andreas: Sommersemester 1922: Deutsche und französische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte 1640-1715; Wintersemester 1922/23: Geschichte der deutschen Reichsverfassung (1806-1919) im Rahmen der allgemeinen Entwicklung; Historische Übungen zur deutschen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts; Sommersemester 1923: Deutsche Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte 1648-1815. 13°) Seit der .Wiederentdeckung' Hedwig Hintzes durch die Arbeit von Schleier, Geschichtsschreibung (1975), S. 272-302, sind etliche biographische Artikel über sie erschienen. Die wichtigsten in alphabetischer Folge: Bernd Faulenbach: Hedwig Hintze-Guggenheimer (1884-1942). Historikerin der Französischen Revolution und republikanische Publizistin. In: Barbara Hahn (Hg.), Frauen in den Kulturwissenschaften. Von Lou AndreasSalomé bis Hannah Arendt. München 1994, S. 136-151, 325-330; Robert lütte: Hedwig Hintze (1884-1942). Die Herausforderung der traditionellen Geschichtsschreibung durch eine linksliberale jüdische Historikerin. In: Walter Grab (Hg.), Juden in der deutschen Wissenschaft, Tel Aviv 1986 (= Jb. des Instituts für deutsche Geschichte, Beih. 10), S. 249-278; Steffen Kaudelka: Rezeption im Zeitalter der Konfrontation. Französische Geschichtswissenschaft und Geschichte in Deutschland 1920-1940, Göttingen 2003 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 186), S. 241^408; ders.lPeler Th. Walther: Neues und neue Archivfunde über Hedwig Hintze (1884-1942). In: Jb. für Universitätsgeschichte 2 (1999), S. 203-218; Brigitta Oestreich: Hedwig Hintze, geborene Guggenheimer (1884-1942). Wie wurde sie Deutschlands erste bedeutende Fachhistorikerin? In: Annali dell'Istituto Storico Italo-Germanico in Trento 22 (1996), S. 421-432; dies., Hintze (1985); Erika Schwarz: Hedwig Hintze. In: Berliner Historiker. Die neuere deutsche Geschichte in Forschung und Lehre an der Berliner Universität, Berlin [Ost] 1985 (= Beiträge zur Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin, 13), S. 80-88. Eine leider unvollständige Bibliographie: Barbara DeppelBlisabelh Dickmann (Hg.): Hedwig Hintze (1884-1942). Bibliographie, Bremen 1997 (= Schriftenreihe des Hedwig Hintze-Instituts Bremen, 1). Wichtig ist die Edition des Briefwechsels von Hedwig mit Otto Hintze: Hintze/ sung und
Verwaltung der europäischen
Gegenwart;
Hintze, Korrespondenz (2004).
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Verfassungsgeschichte und -begriff 1918-1933
ihre Vorliebe, in den französischen Revolutionshistorikern Alphonse Aulard, Jean Jaurès und Albert Mathiez sah sie ihre fachlichen Vorbilder131). Ihr Hauptwerk, die zur Habilitation erweiterte Dissertation über „Staatsein-
galt
heit und Föderalismus im alten Frankreich und in der Revolution", war einem Thema gewidmet, das sowohl die politische Ideengeschichte wie die Sozialund Verfassungsgeschichte abdeckte132). Sie verknüpfte in ihren Veröffentlichungen die Einflüsse ihres akademischen Lehrers Friedrich Meinecke mit denen ihres Ehemannes Otto Hintze. Dem Themenfeld „Frankreich um 1800" blieb sie treu: sowohl in ihrer Arbeit als Literatur-Referentin für die „Historische Zeitschrift" als auch in weiteren wissenschaftlichen Publikationen. Ihr zweiter Forschungsschwerpunkt verband Hedwig Hintze noch mehr mit der Verfassungsgeschichte. Denn sie hatte sich nicht nur in ihren Veröffentlichungen zur Französischen Revolution als linksliberal bekannt, sondern sie publizierte auch über Person und Werk des maßgeblichen Autors der Weimarer Reichsverfassung, den demokratischen Juristen, Politiker und Historiker Hugo Preuß. Über ihn legte sie eine von politischer Sympathie getragene Lebensskizze vor133) und sorgte 1927 zudem für die posthume Publikation des ausführlichen verfassungshistorischen Teils seines Staatsrechtskommentars134). In der Einleitung zu Preuß' Schrift stellt Hintze noch einmal heraus, daß es sich um eine „gedrängte vergleichende Verfassungsgeschichte" handele, die aber weder aus der Feder eines .zünftigen' Historikers, noch von einem „rein formaljuristisch eingestellten Systematiker" stamme135). Aber schließlich sei „unsere deutsche verfassungsgeschichtliche Literatur nicht so reich an Werken, die über spezielle Nützlichkeit hinaus sich zu allgemeiner Bedeutung erheben"136).
131) Das Bekenntnis des „jungen Doktors noch dazu weiblichen Geschlechts!" zu Aulard findet sich neben den diesbezüglichen Veröffentlichungen auch in einem Brief Hedwig Hintzes an Walter Goetz vom 12.1.1927. BA Koblenz, N 1215, Nr. 35, fol. 305-306. Vgl. auch Kaudelka, Rezeption (2003), S. 336-352. 132) Hedwig Hintze: Staatseinheit und Föderalismus im alten Frankreich und in der Revolution, Berlin/Leipzig 1928. Die Habilitation selbst war wegen ihrer politischen Einstellung höchst umstritten. Auch die Frage ihres Geschlechts und ihre jüdische Abstammung mögen subkutan eine Rolle gespielt haben. Die Schrift wurde von den Rezensenten mit wenigen Ausnahmen anerkannt. Siehe dazu Rolf Reichardt: Vorwort zur Neuausgabe. In: Hedwig Hintze, Staatseinheit und Föderalismus im alten Frankreich und in der Revolution, Frankfurt a. M. 1989 [Ndr. der Ausgabe von 1928], S. V-XX, hier S. VI-XX. Ausführlich: Kaudelka, Rezeption (2003), S. 365-388. 133) Hedwig Hintze: Hugo Preuß. Eine historisch-politische Charakteristik. In: Die Justiz 2 (1926/27), S. 223-237. Siehe auch Kaudelka, Rezeption (2003), S. 284-300, zu Hintzes Preuß-Bild. 134) Hugo Preuß: Verfassungspolitische Entwicklungen in Deutschland und Westeuropa. Historische Grundlegung zu einem Staatsrecht der Deutschen Republik, hg. v. Hedwig Hintze, Berlin 1927. Darin: Hedwig Hintze: Einleitung. In: ebd., S. V-XX. 135) Ebd., S. VI. 136) Ebd., S.VII. Eine überaus lobende Besprechung: Robert Holtzmann: Rez. zu Hugo Preuß, Verfassungspolitische Entwicklungen in Deutschland und Westeuropa. In: HZ 136 (1927), S. 532-535. -
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Das Bild, das Preuß in bewußt holzschnittartigen Zügen von der deutschen Verfassungsgeschichte bis zum Ende des Alten Reichs zeichnet, trägt insgesamt den Stempel des Tragischen und Verhängnisvollen. Während sich in
England und Frankreich, durch die starke königliche Macht befördert, Nationalstaaten herausbildeten, sei die „nationale und korporative Konsolidierung Deutschlands" am Eigensinn der Territorialfürsten gescheitert137). Die Reformation und der Absolutismus hätten die Landesherren weiter gestärkt, und das Reich sei allmählich „zersetzt" worden. Preuß' Sicht eines nationalen Sonderweges Deutschlands in Westeuropa entspricht in seiner negativen Wertung der deutschen Fürsten dem mehrheitlichen Verständnis der deutschen Historikerschaft. Doch im Unterschied zur damals herrschenden Lehre' wird auch die preußische Entwicklung keineswegs positiv gesehen. Und als Konsequenz daraus hätte sich eine Fortsetzung des Manuskripts vorausgesetzt gleichfalls keine günstige Einschätzung des Kaiserreichs ergeben. Hugo Preuß habe, so Hintze in ihrer Einleitung, in seinem verfassungshistorischen Fragment versucht, „das .Anderssein' des deutschen Volkes inmitten der übrigen Völker unseres Kulturkreises zu erklären"138). Aber neben dem „Unheilvollen" habe er auch die positiven Traditionen der deutschen Geschichte deutlich herausgestrichen. Im Geiste seines Lehrers Gierke waren dies die korporativen Kräfte, besonders die Städte. Mit Preuß stimmte Hedwig Hintze insbesondere in ihrer Wertschätzung der Französischen Revolution und ihres Vermächtnisses, der „Ideen von 1789" überein. Die Herausgeberin des Fragments nutzte das Ende ihrer Einleitung, um ihr eigenes historisch-politisches Urteil erneut klarzulegen. Die Hochschätzung der Reichsverfassung von 1919, des ersten Präsidenten der Weimarer Republik, die Verurteilung von Versailles und die Hoffnung auf die Abmachungen von Locarno und Genf zeigen eine politisch engagierte Historikerin139). Bei ihr ist darüber hinaus eine disziplinenübergreifende Arbeitsweise festzustellen, die wirtschafts-, sozial- und politikgeschichtliche Aspekte aufnahm und damit zu einer erweiterten Verfassungsgeschichte als Allgemeine Geschichte gelangte140). In den Weimarer Jahren stellte sie eine Ausnahmegestalt dar. Unschwer läßt sich vorstellen, daß derart offen geäußerte politische Urteile Hedwig Hintzes weder in Inhalt noch in Form bei ihrem Ehemann auf ein positives Echo stießen. Dennoch hat er den unterschiedlichen Charakter seiner Frau nicht nur toleriert, sondern auch zu schätzen gewußt. Brigitta Oestreich -
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137) Preuß, Entwicklungen (1927), S. 55. 138) H. Hintze, Einleitung Preuß (1927), S. VIII. 139) Ebd., S. XVI-XX. Hintze spricht von dem „klassenbewußten überzeugten Sozialisten
Friedrich Ebert", der Verfassung, welche „die Feuerprobe schwerer krisenreicher Jahre bestanden hat und dem langsam genesenden deutschen Volke die Möglichkeit einer glücklichen Aufwärtsentwicklung gewährleistet", schließlich von dem „Machwerk von Versailles". Ebd., S.XVII, XIX. Kaudelka, Rezeption (2003), S. 282-327, zu Hedwig Hintzes Eintreten für die Weimarer Demokratie. 14°) So die zutreffende These bei Kaudelka, Rezeption (2003), S. 381, Anm. 425.
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Verfassungsgeschichte und -begriff 1918-1933
hat mit großer Empathie gezeigt, wie symbiotisch sich das persönliche und wissenschaftliche Miteinander im Hause Hintze während der zwanziger Jahre gestaltete. Hedwig Hintze war nicht nur Vorleserin und Schreiberin, sie stand bisweilen auch als Inspiratorin oder Ratgeberin in inhaltlichen Fragen ihrem Mann zur Seite141). Und in ihrem parallelen Interesse für verfassungsgeschichtliche Probleme trafen sich die Eheleute. Hedwig Hintze hat neben ihren Studien zur französischen Geschichte eine vergleichende Skizze zum Problem des Einheitsstaates in der deutschen Verfassungsgeschichte publiziert142). Darüber hinaus bot sie wiederholt verfassungshistorische Lehrveranstaltungen an der Friedrich-Wilhelms-Universität an143) und betonte damit die Schwerpunktsetzung des Berliner Historischen Seminars144). Auch Fritz Härtung fühlte sich nach 1923 dem Erbe Hintzes und der Bezeichnung des Lehrstuhls verpflichtet. Er unterzog sich den damit verbundenen Erwartungen, wie es scheint, ohne Mühe. Jedes Semester las er zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte. Eine „Allgemeine Verfassungsgeschichte der neueren bzw. neuesten Zeit" gehörte ebenso zu seinem zyklischen Lehrprogramm wie begleitende verfassungsgeschichtliche Übun-
gen145).
Gerade mit der „Allgemeinen Verfassungsgeschichte" nahm Härtung einen Otto Hintze lange gehegten Plan auf. Denn eine zusammenfassende Darstellung über dieses Thema war das von Hintze in seiner Akademierede 1914 angekündigte Ziel jenseits seiner zahlreichen kleineren verfassungsgeschichtlichen Arbeiten146). Es war und blieb Hintzes Vermächtnis, diese „Allgemeine Verfassungsgeschichte der neueren Staaten", die er in Vorlesungen seit 1901 behandelt hatte147), zu publizieren. Zwar arbeitete er, den Briefzeugnissen zufolge, auch in den zwanziger und dreißiger Jahren an einem entsprechenden Manuskript, ob es aber bis zu seinem Tod 1940 jemals vollständig von
141) Oestreich, Hintze (1985). 142) Hedwig Hintze: Der deutsche Einheitsstaat und die Geschichte. In: Die Justiz 3 (1928),
S. A3Í-A41. Sie kommt darin mehrfach auf Hugo Preuß zurück und schließt mit einem Bekenntnis zum „dezentralisierten Einheitsstaat". Ebd., S. 446f. 143) Reichardt, Hintze (1989), S.XIV „Überblick über die französische Verfassungsgeschichte im Mittelalter und der Neuzeit" (Sommersemester 1929) sowie „Überblick über die deutsche und französische Verfassungsgeschichte" (Wintersemester 1931/32). 144) Vgl. generell die Schilderung der Berliner Verhältnisse bei einem Meinecke-Schüler: Felix Gilbert: Lehrjahre im alten Europa. Erinnerungen 1905-1945, Berlin 1989, S. 78-86. 145) Eine Vorlesung zur allgemeinen Verfassungsgeschichte hielt er im Wintersemester 1923/24, Sommersemester 1924, Wintersemester 1928/29, Wintersemester 1929/30 und im Sommersemester 1930. Größere Fragmente dieser Vorlesung finden sich in StaBi Berlin, NL Härtung, LXIV, Nr. 107, LXIX, Nr. 1-6. 146) Hintze, Antrittsrede (1914). 147) Er las sie zwischen 1901 und 1918 insgesamt achtmal, dazu kamen Veranstaltungen zur „allgemeinen Verfassungsgeschichte der romanisch-germanischen Völker im Mittelalter" (1906/07), sowie eine „allgemeine Verfassungsgeschichte der abendländischen Staatenwelt" (1920). Vogler, Hintze (1985), S.39.
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erscheint zweifelhaft. Lediglich Fragmente sind bekannt und werden dem Nachlaß zugänglich gemacht148). Hintzes Arbeitstechnik mußte sich nach 1918/21 aus gesundheitlichen Rücksichten ändern. Archivaufenthalte waren nicht mehr möglich, so daß er sich nunmehr allein mit literarischen Studien beschäftigte und aus seinen früheren Exzerpten lebte149). Neben der Arbeit an seinem Hauptwerk hat sich Hintze in den zwanziger Jahren vor allem mit zwei Veröffentlichungsarten hervorgetan. Zum einen erschienen zwischen 1927 und 1930 ausführliche Besprechungen zu den Werken von Franz Oppenheimer, Werner Sombart und Ernst Troeltsch150). Zum anderen publizierte Hintze Vorträge, die er in der Preußischen Akademie der Wissenschaften gehalten hatte. Während die ältere Forschung von einer werkgeschichtlichen Zäsur bei Hintze mit dem Ende des Weltkriegs und seinem Ausscheiden aus der Lehrtätigkeit 1918/21 ausging, hat besonders Wolfgang Neugebauer dies vehement zurückgewiesen151). In der Tat gibt es zahlreiche Momente der Kontinuität, die eher auf ein sukzessive und ohne große Einschnitte sich entwickelndes Werk hinweisen. So hatte z.B., rein formal gesehen, Hintze bereits vor dem Krieg gelegentlich ,Großrezensionen' veröffentlicht, so daß man deshalb nicht von einer in seiner späteren Werkphase erst entstehenden Literaturgattung sprechen kann152). Auch inhaltlich lassen sich viele Gedanken der Weimarer Zeit bereits für den frühen Hintze nachweisen, so namentlich die typologische Betrachtungsweise oder das vergleichende Verfahren. Gleichwohl sind nach 1918 auch Veränderungen bei Hintze feststellbar. So hatte sich seine Einstellung zum Staat nachdrücklich gewandelt. Eine nüchterne Sicht, ein von Max Weber beeinflußter technisch-bürokratischer Blick auf das Gemeinwesen war eingekehrt. In einem Beitrag unter dem bezeichnen-
vorlag, aus
148) Hintze, Allgemeine Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte (1998). Ergänzend dazu:
Verfassungsgeschichte Polens vom 16. bis 18. Jahrhundert. In: ders., Staat und Verfassung (1970), S. 511-562. Die neuerdings edierten Manuskripte über Skandinavien, Dänemark, Schweden, Polen, Ungarn und die Niederlande entstanden vermutlich in den Jahren 1908-1910. Hintze, Allgemeine Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte (1998), S.89, 137,165f., 205, 241 (editorische Bemerkungen). 149) So Härtung, Hintze (1941), S. 511. Auch öffentliche Vorträge konnte er nicht mehr halten. Seine Auftritte beschränkten sich auf die aktive Teilnahme und die Vorträge in der ders.:
Preußischen Akademie der Wissenschaften. 15°) Otto Hintze: Soziologische und geschichtliche Staatsauffassung. Zu Franz Oppenheimers System der Soziologie. In: ders., Soziologie (1982), S. 239-305 [zuerst 1929]; ders., Kapitalismus (1929); ders.: Troeltsch und die Probleme des Historismus. Kritische Studien. In: ebd., S. 323-373 [zuerst 1927]. Kleinere Rezensionen galten den Arbeiten von und über Max Weber: ders.: Max Webers Religionssoziologie. In: ebd., S. 126-134 [zuerst 1922]; ders.: Max Webers Soziologie. In: ebd., S. 135-147 [zuerst 1926]; ders.: Max Weber, ein Lebensbild. In: ebd., S. 148-154 [zuerst 1927]. 151) Neugebauer, Konzeption (1993), S. 91f„ 95, spricht von einem Perspektivenwechsel von Preußen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte in den Jahren 1905/06. 152) Beispiele sind: Hintze, Roschers Entwicklungstheorie (1897), ders., Rez. Bornhak, Preußische Staats- und Rechtsgeschichte (1905).
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den Titel „Der Staat als Betrieb und die Verfassungsreform", der 1927 in der liberalen Halbmonatsschrift „Wille und Weg" erschien, stellte Hintze fest: „Zu der Zeit, da wir Älteren jung waren und mit unserem Reich auch die Andacht zum Staat noch in der Blüte stand, wäre es fast als eine Blasphemie erschienen, die Majestät des Staates durch den Vergleich mit einer wirtschaftlichen Unternehmung herabzuwürdigen." Die alte Staatsverehrung eines Ranke sei aber seit dem „moralisch-politischen Zusammenbruch am Ende des Großen Krieges" dahin, „der alte Nimbus des Staates" sei „zerstört". Er sei nichts anderes mehr als „ein mit Zwangsgewalt ausgerüsteter Anstaltsbetrieb", der für ein „sehr bescheidenes Maß an Wohlfahrt und Kultur zu sorgen" habe153). Angesichts des „entarteten Nationalismus" plädierte Hintze nun für die „Herstellung eines wahrhaften Völkerbundes"154). Zwar hatte Hintze sich auch schon früher mit seiner Sicht auf den Staat von vielen Juristen und Historikern unterschieden, indem dieser die „als konkrete Einheit aufgefaßte Gesamtheit von Staat und Gesellschaft" verkörperte155). Nun aber war der Staat noch mehr versachlicht, hatte allen metaphysischen Glanz verloren und wurde als „Unternehmung" geradezu ökonomisiert. Der Staat sei kein „Naturprodukt", sondern ein „Kulturerzeugnis". Die Verfassungsgeschichtsschreibung habe dies zu berücksichtigen und dürfe nicht die Verfassungsgeschichte als einen „rein immanenten Entwicklungsprozeß ohne gewaltsame äußere Eingriffe [...] konstruieren"156). Doch trotz dieses partiellen Abrückens vom Staat ging es für Hintze nicht ganz ohne ihn. Insbesondere trat nun an die Stelle der Monarchie als „überdauernder Kontinuitätsträger" die Bürokratie157). Zwischen 1921 und 1925 fällt eine Phase geringerer Publikationstätigkeit Hintzes. Aber 1922 erschien eine ausführliche Besprechung von Max Webers Arbeiten zur Religionssoziologie, der wiederum 1926 ein Beitrag über dessen Soziologie folgte. Die Aufsätze der Jahre 1926 bis 1932 zeigen, welch tiefe Wirkung das Studium des verstorbenen Heidelberger Ordinarius auf Hintze hinterlassen hatte158). In direkter Rezeption Webers gelangte er zu einer historischen Typenlehre, die er in seinen Akademievorträgen zum Feudalismus, Ders.: Der Staat als Betrieb und die Verfassungsreform. In: ders., Soziologie (1982), S. 205-209 [zuerst 1927], hier S. 205f. 154) Ders.: Der deutsche Staatsgedanke. In: Zs. für Politik 13 (1924), S. 114-131, hier S. 130f. 155) Ders., Röscher (1897), S. 41. 156) Ders., Staatsauffassung (1929), S.285f. An anderer Stelle schrieb Hintze: Dem Staat stehe man heute „anders als noch vor dem Kriege mit geringerer Andacht und stärkerer Kritik gegenüber". Ders.: Rez. zu G. Salomon, Allgemeine Staatslehre. In: ZgStW 94 (1933), S. 509-512, hier S.512. Vgl. generell Kocka, Hintze (1973), S.289Í.; Oestreich, Hintzes Stellung (1964), S. 23*. 60*. 157) So zutreffend Reinhard Blänkner: „Absolutismus" und „frühmoderner Staat". Probleme und Perspektiven der Forschung. In: Rudolf Vierhaus (Hg.), Frühe Neuzeit Frühe Moderne? Forschungen zur Vielschichtigkeit von Übergangsprozessen, Göttingen 1992 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 104), S. 48-74, hier S. 55. 158) Kocka, Weber (1981).
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Typologie ständischer Verfassungen, zu den weltgeschichtlichen Bedingungen der Repräsentativverfassung, zum modernen Kapitalismus sowie zum Wesen des modernen Staates anwandte159). Auch Hintzes vertiefte Erkenntnis eines Zusammenhangs zwischen Calvinismus und staatlicher Machtentfaltung verdankte Weber die entscheidende Anregung160). In diesen Arbeiten zeigt sich ein weiterer wesentlicher Unterschied zu Hintzes Studien vor 1918. Denn Preußen, das ihm einst als Paradigma galt, ist nunmehr an die Peripherie gerückt. Thomas Ertman hat festgestellt, daß vor 1918 Preußen in 170 von 263 Publikationen Thema war, während es danach nur in elf von über 100 Aufsätzen zur Sprache kommt161). Hintze geht in den Weimarer Jahren universalgeschichtlich vor. So untersucht er beispielsweise den japanischen Feudalismus des 7. bis 16. Jahrhunderts im Rahmen seines Feudalismus-Aufsatzes sowie in der Studie über „die weltgeschichtlichen Bedingungen der Repräsentativverfassung"162). In der Feudalismus-Abhandlung aus dem Jahre 1929 entwickelt Hintze die These, daß der voll ausgebildete Feudalismus nur in den Nachfolgestaaten des karolingischen Reiches, d.h. in Frankreich, Deutschland, Teilen von Italien und Spanien, entstanden sei163). Darüber hinaus gebe es ihn in Rußland, dem arabischen und osmanischen Reich sowie in Japan. Nur dort habe sich der Feudalismus vollständig herausbilden können, wo es von einer lockeren Stammes- und Sippenverfassung über den Umweg einer imperialistischen Großstaatsbildung zu einer festen Staatsordnung gekommen sei. Der Feudalismus existierte als idealtypisches Phänomen zwischen dem 7. und 19. Jahrhundert. In ihm finde sich in dynamisch-funktioneller Sicht ein Prinzip der Staatenund Ständebildung. Hintze unterscheidet drei feudalistische Faktoren: den politischen, den ökonomisch-sozialen und den militärischen. Er differenziert überdies drei Phasen: den Frühfeudalismus bis Ende des 12. Jahrhunderts, der militärisch geprägt sei, den Hochfeudalismus bis zum 16./17. Jahrhundert, der politisch dominiert werde, und den Spätfeudalismus bis zur Gegenwart, der vor allem ökonomisch-soziale Kennzeichen trage164). zur
159) Hintze, Feudalismus (1929); ders.: Typologie der ständischen Verfassungen des Abendlandes. In: ders., Staat und Verfassung (1970), S. 120-139 [zuerst 1930]; ders.: Weltgeschichtliche Bedingungen der Repräsentativverfassung. In: ebd., S. 140-185 [zuerst 1931]; ders.: Wirtschaft und Politik im Zeitalter des modernen Kapitalismus. In: ders., Soziologie (1982), S. 427^152 [zuerst 1929]; ders.: Wesen und Wandlung (1931). 160)
Ders.: Kalvinismus und Staatsräson in Brandenburg zu Beginn des 17. Jahrhunderts. ders., Regierung (1967), S.255-312 [zuerst 1931]. 161) Ertman, Hintze (1999), S.27, 31, folgert daraus einen „auffälligen Bruch im Werk
In:
Hintzes".
162) Hintze, Weltgeschichtliche Bedingungen (1931). 163) Ders., Feudalismus (1929). 164) Oestreich, Tradition (1978), S. 136; Vierhaus, Hintze (1983), S. 102. Generell zur Kon-
zeption im Vergleich: Hannes Krieser: Otto Hintzes Feudalismus-Typologie und die sozialhistorische Begriffsbildung in Frankreich (1830-1930). In: BüschlErbe, Hintze (1983), S. 111-116.
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Verfassungsgeschichte und -begriff 1918-1933
Der Rechtshistoriker Heinrich Mitteis zählte Hintzes Darstellung „zu den besten Leistungen der Verfassungsgeschichte". Hintzes „Sehweise paßt viel mehr zu der dynamisch-relativistischen Darstellungsart des heutigen Staatsrechts, das überall hinter den juristischen Formen die lebendigen politischwirtschaftlichen Triebkräfte sucht". Der antipositivistische Affekt mit der Betonung der lebendigen Form (statt einer gesetzten Norm) ist unverkennbar. Mitteis prognostizierte: „Diese knapp 30 Seiten werden die Forschung nachhaltiger beeinflussen als manches umfangreiche, aber doktrinär festgefahrene oder gar politisch verfärbte Buch"165). Nicht weniger einflußreich als der Feudalismus-Artikel, dessen Wirkung bis in die 1950er Jahre spürbar ist166), war der Aufsatz über die „Typologie der ständischen Verfassungen des Abendlandes"167). Hintze unterscheidet hierin neben dem allgemeinen Typus der Stände, der korporativen Vertretung der Gesamtheit des Landes gegenüber dem Herrscher, zwei spezielle Gruppen. Für den einen biete England das charakteristische Beispiel, wo Wahlkönigtum, Selbstregierung und Parlamentarismus mit einem Zweikammersystem vorzufinden seien. Für den anderen Typus führte Hintze Frankreich als Exempel an, indem es hier dynastische Erbfolge, monarchisch-bürokratische Verwaltung und einen Absolutismus mit einem Dreikuriensystem gegeben habe. Zwei Ursachen seien für diese unterschiedliche Entwicklung maßgeblich. Zum einen die verschiedene Form und Struktur der Staatenbildung, da in den karolingischen Nachfolgestaaten der Feudalismus eine dynastisch-territoriale Neubildung ermöglicht habe, während in den Randstaaten wie England diese Entwicklung ausgeblieben sei, und damit traditionelle Landesverbände und lokale Selbstregierungen überleben konnten. Zum anderen habe sich das römische Recht in den ehemals karolingischen Staaten viel stärker ausgewirkt und sei dem herrschaftlichen Faktor zugute gekommen168).
165)
Heinrich Mitteis: Rez. zu Otto Hintze, Wesen und Verbreitung des Feudalismus. In: HZ 142 (1930), S. 308-313, hier S.313. Kritisch dagegen: Marc Bloch: Féodalité, Vassalité, Seigneurie: à propos des quelques travaux récents. In: Annales d'histoire économique et sociale 3 (1931), S. 246-260, hier S. 247f. Generell: Michael Borgolte: Die Erfindung der europäischen Gesellschaft. Marc Bloch und die deutsche Verfassungsgeschichte seiner Zeit. In: Peter Schöttler (Hg.), Marc Bloch. Historiker und Widerstandskämpfer, Frankfurt/New York 1999, S. 171-194. 166) Zur Fernwirkung siehe u.a. Rothacker, Methode (1957), S. 27-29; Otto Brunner: „Feudalismus". Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte. In: ders., Neue Wege der Verfassungsund Sozialgeschichte, Göttingen 31980, S. 128-159 [zuerst 1958], hier S. 157f; Otto Gerhard Oexle: Die Entstehung politischer Stände im Spätmittelalter Wirklichkeit und Wissen. In: Reinhard BlänknerlBemhard Jussen (Hg.), Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens, Göttingen 1998 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 138), S. 137-162, hier bes. S. 155-157. -
167) Hintze, Typologie (1930). 168) Zu Konzeption und Wirkungsgeschichte: Ständewesen im Werk Otto Hintzes. In:
1969].
Gerhard Oestreich: Ständestaat und
ders., Strukturprobleme (1980), S. 145-160 [zuerst
2.
Verfassungsgeschichtsschreibung von Härtung und Hintze
147
Noch in einem weiteren Aufsatz setzt sich Hintze mit typologischen Betrachtungsmustern auseinander. Im Zusammenhang mit seiner Besprechung einer Abhandlung Werner Sombarts erläutert er die „historischen Zusammenhänge zwischen dem modernen Kapitalismus und dem Imperialismus in der neueren Staatenwelt"169). Kapitalismus und Imperialismus werden als politische Korrelate dargestellt, wobei Hintze unter Imperialismus das „allgemein-historische Prinzip der Machtpolitik" versteht. Er ordnet den drei Epochen des Früh-, Hoch- und Spätkapitalismus drei Markttypen zu: den territorialstaatlichen, den nationalen und den Weltmarkt. Dem entsprechen wiederum drei Richtungen der Wirtschaftspolitik: die fiskalische des Absolutismus, die kapitalistische des Parlamentarismus und die sozialpolitische „der sich anbahnenden demokratischen Diktatur"170). Hintze entwickelt in den zwanziger Jahren eine sich immer mehr ausdifferenzierende Staatenbildungs- und Staatsformensystematik. Es scheint fast so, als ob es ihm ein dringendes Anliegen war, Verfassungsgeschichte und Allgemeine Staatslehre in typologisch kondensierter Form miteinander zu verbinden. Letztlich dienen solche Typologien ebenso wie alle Epocheneinteilungen in der Geschichte einem systematischen Zweck. Sie sollen gewissermaßen eine Ergänzung und Abrundung der allgemeinen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der neueren Staaten sein. In seinen ,Großrezensionen' beschäftigt sich Hintze vor allem mit geschichtsphilosophischen und geschichtstheoretischen Fragen. Er betont mehr noch als in seinen Vorkriegsarbeiten die Notwendigkeit, soziale Strukturanalysen und psychologische Motive in die historische, speziell die verfassungsgeschichtliche Betrachtung mit einzubeziehen. Dabei entwickelt er das Konzept eines „pragmatischen Historismus", der sich von den jeweiligen Sichtweisen Meineckes und Troeltschs unterscheidet, indem er einerseits eine Beschränkung auf die Grundkategorien von Individualität und Entwicklung ablehnt, andererseits Geschichtslogik und Wertbeziehungen kategorisch trennen
möchte171).
Hintze befindet sich mit der ausführlichen Rezeption der Typenlehre Max Webers auf dem Weg zu einer historischen Soziologie. Webers „Typen der Herrschaft" erscheinen ihm als „eine glänzende Entdeckung". Sie seien ein Prinzip, „das mit enormer Leuchtkraft die Dämmerung der herkömmlichen Ansichten durchdringt und der Geschichte wie dem System der Staats- und Gesellschaftsverfassung gestattet, sich ganz anders als bisher zu orientieren"172). Hintze stellt sich auf den Standpunkt einer „verstehenden Soziolo-
169) 17°)
Hintze, Sombart (1929).
Eine Zusammenfassung: ders.: Historische Zusammenhänge zwischen dem modernen Kapitalismus und dem Imperialismus in der neueren Staatenwelt. In: Forschungen und Fortschritte 4 (1928), S. 228f. m) Oestreich, Hintzes Stellung (1964), S. 40*^15*. 172) Hintze, Webers Soziologie (1926), S. 143.
148
IV.
Verfassungsgeschichte und -begriff 1918-1933
im Sinne Max Webers. Das unterscheidet ihn vor allem von der Auffassung Franz Oppenheimers. Hintze hebt hervor, daß „ein volles Verständnis soziologischer Vorgänge erst [zu] gewinnen [sei], wenn wir sie auf das sinnhaft verständliche Handeln oder Verhalten einzelner Menschen" zurückführen können173). Die Erklärung sozialer Vorgänge aus dem Kollektivbewußtsein lehnt er ab. Er betont aber die grundsätzliche Ergänzung der beiden Arbeitsgebiete Soziologie und Geschichte und wünscht ihre fruchtbare Kooperation. „Der Geschichte [fällt] die Erforschung und Darstellung der konkreten Sinnzusammenhänge des sozialen Handelns [zu], während die Soziologie sich mit den [sich daraus ergebenden] Abstraktionen zu beschäftigen hat."174) Beide könnten sich des Vergleichs bedienen, das Ziel sei jedoch verschieden. „Man kann vergleichen, um ein Allgemeines zu finden, das dem Verglichenen zu Grunde liegt, und man kann vergleichen, um den einen der vergleichenden Gegenstände in seiner Individualität schärfer zu erfassen und von dem anderen abzuheben. Das erstere tut der Soziologe, das zweite der Historiker."175) Hintzes typologische und vergleichende historische Arbeiten in den späten Weimarer Jahren erfreuten sich allgemeiner Anerkennung. Auch die durchaus prominenten Vortrags- bzw. Druckorte, die Preußische Akademie der Wissenschaften und die „Historische Zeitschrift", führten zu einer gewissen Resonanz. Dennoch fiel die tatsächliche Rezeption und erst recht die historiographische Umsetzung der Hintzeschen Anregungen und Ergebnisse eher bescheiden aus. Gegenüber den traditionellen Fachgebieten von politischer und Ideengeschichte, besonders aber im Vergleich mit der expandierenden Volksgeschichte, wirkte Hintzes Programm für viele Historiker wenig attraktiv176). Deshalb blieb die Wirkung Hintzes begrenzt. Dies läßt sich selbst dann feststellen, wenn man berücksichtigt, daß der politische Umbruch des Jahres 1933 die Rezeption in Deutschland durch Emigration einerseits und fachliche Umorientierung andererseits deutlich erschwerte. Denn auch vor 1933 agierte Hintze als einsamer ,Rufer in der Wüste'. Selbst die deutschen Verfassungshistoriker reagierten auf Hintzes Forschungen zurückhaltend. Ein eindrucksvolles Beispiel lieferte Fritz Härtung. In einem kurzen Beitrag für die „Historische Zeitschrift" des Jahres 1932 beschäftigte er sich mit einem schon seit Ende des 19. Jahrhunderts mehrfach
gie"
173) Ders., Staatsauffassung (1929), S.264. Siehe dazu Oestreich, Hintzes Stellung (1964),
S.55*.
174) Hintze, Staatsauffassung (1929), S. 250. Die Annahme von Oestreich, Hintzes Stellung (1964), S. 61*, es gebe an dieser Stelle einen „Wortausfall" ist zurückzuweisen. Das Zitat ist aus meiner Sicht sinngemäß ergänzt. m) Hintze, Staatsauffassung (1929), S.251. In der HZ 140 (1929), S. 193, war von einer „Flurbereinigung zwischen Soziologie und Geschichte" die Rede. 176) Reinhard Blänkner sprach zugespitzt von einer „zu spät gekommenen Innovation" Hintzes, die dann „Opfer des volkssoziologischen Modernisierungskonzepts" geworden sei. Die Volkwerdung habe die Staatsbildung als Paradigma abgelöst. Blänkner, Absolutismus (1992), S. 55f.
3. Debatten über den
behandelten
149
Verfassungsbegriff bei den Juristen
Thema, den „Epochen der absoluten Monarchie in der neueren
Geschichte"177). Hierin würdigt er zwar Hintzes Forschungen und stellt fest: „Die Typisierung [scheint] für vergleichende verfassungsgeschichtliche Be-
trachtung eine bessere Grundlage zu sein als die Periodisierung". Aber wenig später schränkt er ein: „Das letzte Wort verfassungsgeschichtlicher Betrachtung kann freilich auch die Typisierung nicht sein", denn sie sei zu statisch und zu sehr analytisch trennend178). Härtung kommt zum Ergebnis, daß man die „typisierend-trennende" und die „chronologisch zusammenfassende" Methode stets in Verbindung sehen müsse. Seine Differenzierung zwischen einem „werdenden" und einem „reifen Absolutismus" bleibt allerdings recht blaß179). Die Distanzierung zu Hintze kam indes mehr als deutlich zum Ausdruck. Hintzes Anliegen bestand in einem belebenden Austausch der Historiographie mit benachbarten Disziplinen. Aber trotz vielfältiger Rezeptionen lassen sich die deutlichen Abgrenzungsbemühungen von beiden Seiten nicht übersehen. Was für die Soziologie galt, galt ebenso für die Rechtswissenschaft. Auf diesem Gebiet trafen sich Hintzes Überlegungen zu einer theoretischen Grundlegung und praktischen Umsetzung einer allgemeinen Verfassungsgeschichte mit einem in den zwanziger Jahren sich ausweitenden „Methodenstreit". In der juristischen Kontroverse nahm die Frage nach Wesen und Begriff der Verfassung einen herausgehobenen Rang ein.
3. Die Debatten über den
Verfassungsbegriff bei den Juristen
zwanziger Jahren vollzog sich ein gesellschaftlicher und intellektueller Wandel, der sich wissenschaftsgeschichtlich in Abkehr und Neubeginn zugleich ausdrückte. Was unter dem Stichwort „Methoden- und Richtungsstreit" in der Rechtswissenschaft geläufig ist180), war eine wissenschaftliche KehrtIn den
wende in mehrfacher Hinsicht. Um es verkürzt zu sagen: es war die Abwendung vom Historismus in der Geschichtswissenschaft, vom Neukantianismus in der Philosophie, vom Positivismus in der Jurisprudenz181). Die als grundstürzend und existentiell empfundenen Erfahrungen des Weltkriegs und seine politisch-gesellschaftlichen Folgen schlugen sich im wissenschaftlichen Den-
177)
Härtung: Die Epochen der absoluten Monarchie in der neueren Geschichte. (1932), S. 46-52.
Fritz
HZ 145
178) Ebd., S. 50. 179) Ebd.,S.51f. 180) Die zeitgenössische Verwendung
In:
des Begriffs bei Erich Schwinge: Der Methodenstreit in der heutigen Rechtswissenschaft, Bonn 1930. 181) Eine Ideengeschichte der Weimarer Republik fehlt nach wie vor. Der Klassiker für das .rechte Spektrum': Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 31992 [zuerst 1962]. Zuletzt: Stefan Breuer: Ordnungen der Ungleichheit die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871-1945, Darmstadt 2001. -
150
IV. Verfassungsgeschichte und
-begriff 1918-1933
ken der
Zwischenkriegszeit nieder und hinterließen im Geistesleben tiefe Spuren, die sich forschungsleitend auswirkten. Das Gefühl einer tiefen „geistigen Krisis" war in den publizistischen Reden wie wissenschaftlichen Veröffentlichungen der Historiker und Juristen in den zwanziger Jahren überall zu
greifen182).
Der „Methoden- und Richtungsstreit" in der Rechtswissenschaft und der Werturteilsstreit in den Sozialwissenschaften sind in dieser Hinsicht nur zwei Seiten ein und derselben Medaille. Dabei verliefen die wissenschaftlichen Fronten in der theoretischen Debatte unter den Öffentlichrechtlern der Weimarer Republik quer zu den politischen183). Zwar fanden sich mit Gerhard Anschütz und Richard Thoma zwei der bekanntesten Verteidiger des Weimarer Verfassungsrechts auf der Seite der Positivisten184); doch die Riege der Kritiker umfaßte mit Erich Kaufmann, Günther Holstein185), Rudolf Smend und Carl Schmitt nicht nur dezidiert deutschnational-konservative und antidemokratisch-antiliberale Skeptiker, sondern mit Hermann Heller an der Spitze auch demokratische Verfechter des Weimarer Staates und seiner Verfassung186).
182) Siehe dazu als zeitgenössische Diagnose: Hermann Heller: Die Krisis der Staatslehre. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 55 (1926), S. 289-316, hier S. 289. Rudolf Smend: Verfassung und Verfassungsrecht. In: ders.: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, Berlin 21968, S. 119-276 [zuerst 1928], hier S. 121, stellte fest: „Seit längerer Zeit stehen Staatstheorie und Staatsrechtslehre in Deutschland im Zeichen der Krise, mindestens des Übergangs." Siehe auch Günther Holstein: Von Aufgaben und Zielen heutiger Staatsrechtswissenschaft. In: AÖR 50 (1926), S. 1^10, bes. S. 25^10, hier S.26. Zur Vorgeschichte: Stefan Korioth: Erschütterungen des staatsrechtlichen Positivismus im ausgehenden Kaiserreich. Anmerkungen zu frühen Arbeiten von Carl Schmitt, Rudolf Smend und Erich Kaufmann. In: AÖR 117 (1992), S. 212-238, bes. S.213, Anm. 9, das Zitat von Erich Kaufmann. 183) Meisterhafte Analyse der Ausgangsbedingungen des sogenannten Methodenstreits: Stolleis, Geschichte, Bd. 3 (1999), S. 153-158. 184) Sehr differenziert: Werner Heun: Der staatsrechtliche Positivismus in der Weimarer Republik. Eine Konzeption im Widerstreit. In: Der Staat 28 (1989), S. 377^103, hier S. 395, zur schwierigen politischen Zuordnung. Siehe dazu bereits Holstein, Aufgaben (1926), S. 37f. Zu den Protagonisten biographisch: Ernst-Wolfgang Böckenförde: Gerhard Anschütz. In: Wilhelm Doerr u.a. (Hg.), Semper Apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386-1986. FS in sechs Bänden. Bd. 3: Das zwanzigste Jahrhundert 1918-1985, Berlin usw. 1985, S. 167-185; Gerhard Anschütz: Aus meinem Leben, hg.v. Walter Pauly, Frankfurt a. M. 1993 (= lus Commune. Sonderheft, 59); Carl Hermann Ute: Gerhard Anschütz Ein liberaler Staatsrechtslehrer des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. In: Der Staat 33 (1994), S. 104-112. Hans-Dieter Rath: Positivismus und Demokratie. Richard Thoma 1874-1957, Berlin 1981 (= Schriften zur Rechtsgeschichte, 22). 185) Manfred Friedrich: Erich Kaufmann. In: Der Staat 26 (1987), S. 231-249; Otto von Campenhausen: Günther Holstein. Staatsrechtslehrer und Kirchenrechtler in der Weimarer Republik, Pfaffenweiler 1997. 186) Zu Person und Werk u.a. Wolfgang Schluchter: Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat. Hermann Heller und die staatstheoretische Diskussion in der Weimarer Republik, Baden-Baden 21983; Gerhard Robbers: Hermann Heller. Staat und Kultur, BadenBaden 1983; Christoph Müller/Wse Staff: Staatslehre in der Weimarer Republik. Hermann Heller zu ehren, Frankfurt a.M. 1985. -
3. Debatten über den
Verfassungsbegriff bei den Juristen
151
Gefordert wurde eine „geisteswissenschaftliche" Methode187), die Hinwendung der Wissenschaften zum Leben, eine ganzheitliche Auffassung und die Entwicklung einer „Wirklichkeitswissenschaft", wie sie der Leipziger Ordinarius Hans Freyer für den Aufbau einer „deutschen Soziologie" 1930 propagierte188). Der bis dahin dominierenden positivistischen Staatsrechtslehre wurde ein philosophisch, historisch und soziologisch unterfüttertes Rechtsdenken gegenübergestellt. Man argumentierte mit Ganzheitsbezug, histori-
schem Fundament sowie Volks- und Lebensnähe189). Vor diesem Wandel auf dem wissenschaftlichen ,Ideenmarkt' vollzog sich die Entstehung eines neuen Verständnisses des Begriffs der Verfassung. Es liegt auf der Hand, daß sich von diesen theoretischen Debatten auch die Historiker angesprochen fühlten, hingen doch vom Verfassungsbegriff ganz unmittelbar Definition und Inhalt der Verfassungsgeschichte ab. Gleichfalls wenig überraschend ist die Tatsache, daß die neuen Debatten sich verwoben mit den früheren Diskursen um die Methode und den Standort der Verfassungsgeschichtsschreibung als solcher und zum Teil mit den alten Argumenten geführt wurden. Grundlegende und teilweise bis heute debattierte Neuentwürfe wurden vor allem in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre vorgelegt. Schon in den Anfangsjahren der Republik waren hingegen die lange zurückreichenden Diskussionen zwischen der historischen Verfassungs- und der juristischen Rechtsgeschichte sowie der Allgemeinen Staatslehre erneut aufgeflammt. Von Sei-
187)
Die Begriffsprägung stammt von Holstein, Aufgaben (1926). S.31. der ebd., S.38. auch einen „Zug der Lebensnähe" in der Staatsrechtswissenschaft feststellte. Siehe Campenhausen, Holstein (1997), S. 50f. 188) Hans Freyer: Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Logische Grundlegung des Systems der Soziologie, Leipzig 1930/Stuttgart 21964. 189) Die differierenden Positionen sind dargestellt bei Stolleis, Geschichte, Bd. 3 (1999), S. 158-186. Die Literatur zum Methodenstreit ist insgesamt kaum mehr überschaubar. Zusammenfassend: Max-Emanuel Geis: Der Methoden- und Richtungsstreit in der Weimarer Republik. In: JuS 29 (1989), S. 91-96; Heun, Positivismus (1989); Wolfgang März: Der Richtungs- und Methodenstreit der Staatslehre, oder der staatsrechtliche Antipositivismus. In: Knut Wolfgang /Vorr/Bertram Sc/ie/o/d/Friedrich Tenbruck (Hg.), Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik, Stuttgart 1994 (= Methoden der Geisteswissenschaften), S. 75-133; Manfred Friedrich: Der Methoden- und Richtungsstreit. Zur Grundlagendiskussion der Weimarer Staatsrechtslehre. In: AÖR 102 (1977), S. 161-209; ders.: Die Grundlagendiskussion in der Weimarer Staatsrechtslehre. In: PVS 13 (1972), S. 582-598; ders.: Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, Berlin 1997 (= Schriften zur Verfassungsgeschichte, 50), S. 322-376; Klaus Rennen: Die „geisteswissenschaftliche Richtung" in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik. Untersuchungen zu Erich Kaufmann, Günther Holstein und Rudolf Smend, Berlin 1987 (= Schriften zum Öffentlichen Recht, 518). Zu den Wirkungen vgl. mit persönlicher Note: Ernst Rudolf Huber: Verfassungswirklichkeit und Verfassungswert im Staatsdenken der Weimarer Zeit. In: Hans-Wolf Thümmel (Hg.), Arbeiten zur Rechtsgeschichte. FS für Gustav Klemens Schmelzeisen. Bd. 2, Stuttgart 1980 (= Karlsruher kulturwissenschaftliche Arbeiten, 2), S.126-141.
152
IV.
Verfassungsgeschichte und -begriff 1918-1933
der Historiker ergriff Otto Hintze nachdrücklich das Wort. Zu der von dem Frankfurter Juristen Friedrich Giese 1920 publizierten „Preußischen Rechtsgeschichte" stellte er fest, daß an einigen Stellen „fast so etwas wie die Ansicht hervor[trete], daß es eine besondere wissenschaftliche Wahrheit für die Juristen und für die Historiker gebe"190), wurde er an einer Stelle in seiner Kritik deutlich. In der Anlage des Buches mache sich „die Spaltung zwischen Jurisprudenz und Historie, die in keinem anderen Kulturlande so schroff wie in Deutschland hervortritt, ganz besonders verhängnisvoll bemerkbar. Das preußische Staatswesen läßt sich nun einmal nicht vom bloß juristischen Standpunkt aus verstehen und darstellen. Der belebende Hauch, der von der Politik ausgeht, ist durch juristische Dogmatik nicht zu ersetzen. Was dabei herauskommt, ist eine abschreckende Dürre." Es fehlten in diesem wie in anderen juristischen Darstellungen die „lebendigen Kräfte" und die „dynamischen Faktoren". Giese beschränke sich darauf, „Tatsachenmaterial übersichtlich zu gruppieren und durch das Band juristischer Systematik zu verbinten
den"191).
In einer weiteren Buchbesprechung aus dem Jahr 1925 setzte sich Hintze mit einem „Abriß der Staatstheorien im Rahmen des „Allgemeinen Staatsrechts" des Breslauer Öffentlichrechtlers Hans Helfritz auseinander192). Helfritz habe es unternommen, „den Staat unter rein juristischem Gesichtspunkt zu konstruieren". Das sei zwar nützlich für die juristische Schulung, aber gefährlich „für die politische Bildung der akademischen Jugend". Denn der Staat sei „eben doch nicht bloß ein Rechtsgebilde", sondern „er beruht vor allem auf Machtverhältnissen und auch auf wirtschaftlich-sozialen Bedingungen, die hier von der Betrachtung ganz ausgeschaltet werden". Es sei, so Hintze weiter, „eine deutsche Eigentümlichkeit, die man beklagen, aber schwerlich ändern kann, daß sich die Wissenschaft des öffentlichen Rechts geflissentlich von den historischen, philosophischen und volkswirtschaftlichen Studien abgesondert hat, während sie z.B. in England und Amerika einen engen Zusammenhang mit diesen bewahrt"193). Hintze grenzte sich kritisch von den ohne historisches Verständnis arbeitenden Öffentlichrechtlern und Rechtshistorikern ab, die sich auf das historiographische Feld begaben. Er warf ihnen vor, die dynamischen Prozesse, die historischen Entwicklungen ebenso zu ignorieren wie die realen Machtverhältnisse. Sie lebten für ihn in einer ahistorischen, künstlichen Welt. Hintze äußerte zudem Zweifel daran, „ob dieser staatsrechtliche Schematismus auf die
19°) Otto Hintze: Rez. zu Friedrich Giese, Preußische Rechtsgeschichte. In: HZ 122 (1920), S. 515-519, hier S.516, hier S.519, äußerte er sich insgesamt versöhnlich über die „soliden, intelligenten und korrekten Arbeit". 191) Ebd„S.517f. 192) Ders.: Rez. zu
liche Recht. In:
Hans Helfritz, Allgemeines Staatsrecht ZgStW 79 (1925), S. 733-736.
193) Ebd.,S.733f
als
Einführung in
das öffent-
3. Debatten über den
Verfassungsbegriff bei den Juristen
153
öffentlichen Verhältnisse, unter denen Deutschland heute zu leben gezwungen ist, überhaupt noch anwendbar ist"194). Wenn Hintze den deutschen Juristen Amerika und England als Beispiel empfahl, wo auch historische, philosophische und ökonomische Erkenntnisse einbezogen würden, so war der Seitenhieb auf die deutschen Historiker und deren Ignoranz gegenüber der amerikanischen Forschung eines Charles Beard kaum verhüllt erkennbar. Hintzes bereits zur Jahrhundertwende erhobene Forderung nach einem interdisziplinären Zugriff auf die Geschichte kam hier erneut deutlich zum Ausdruck. Hintze hatte seine Kritik an den juristischen Kollegen bis Mitte der zwanziger Jahre im Rahmen von Buchbesprechungen über .praktische' Arbeiten aus dem Gebiet der Allgemeinen Staatslehre, der Rechts- und Verfassungsgeschichte geäußert. In den Jahren 1927 und 1929 bot sich ihm die Gelegenheit, auf rechtstheoretische Grundlagenwerke kritisch einzugehen. Hintze nutzte den Rezensionsteil der „Historischen Zeitschrift", um sich mit den Staats- und Verfassungslehren von Hans Kelsen, Carl Schmitt und Rudolf Smend auseinanderzusetzen. Der Wiener Staatsrechtler Hans Kelsen war, als 1925 seine „Allgemeine Staatslehre" im Rahmen der „Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaften" erschien, bereits eine Berühmtheit. Seit seiner Habilitationsschrift von 1911 über die „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre" hatte er sich neben Adolf Merkl als führender Kopf der sogenannten Wiener Schule des Öffentlichen Rechts etabliert. Deren Programm bestand in einer Reinigung der Rechtslehre von allen naturrechtlichen und metaphysischen Faktoren. Ausgehend von den rechtsphilosophischen Grundsätzen des Neukantianismus wurden Sein und Sollen streng voneinander geschieden. Das Recht sollte nunmehr als reine Norm interpretiert werden, wertfrei und voraussetzungslos, unabhängig von seinen historischen, ökonomischen oder soziologischen Zusammenhängen. Dies galt selbstverständlich auch für die Verfassung, deren Vorrangstellung lediglich auf ihrer Position an der Spitze der einzelstaatlichen Normenhierarchie beruhe. Die Verfassung stelle kraft ihrer Originarität und Unabgeleitetheit die „Grundnorm" des staatlichen Rechtssystems dar. Der Staat existiere nur als Rechtsstaat, weil er allein durch seine Rechtsordnung überhaupt Staat sein könne195). Die Schar der zeitgenössischen Kritiker an dieser methodenreinen Staatslehre war vor allem unter den Juristen zahlreich. Otto Hintze sah sich als einer der wenigen Historiker zu einer deutlichen Stellungnahme aufgefordert. Immerhin zehn Seiten widmet er der Besprechung von Kelsens „Allgemeiner
194) Ebd., S. 734. 195) Zur Entstehung und
Wirksamkeit Kelsens und seiner .Schule': Stolleis, Geschichte, Bd. 3 (1999), S. 163-171. Lebensskizze bei: Norbert Leser: Hans Kelsen (1881-1973). In: Neue Österreichische Biographie 20 (1979), S. 29-39. Eine Rekonstruktion der Reinen Rechtslehre bei Horst Dreier: Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, Baden-Baden 1986 (= Fundamenta Jurídica, 1).
154
IV.
Verfassungsgeschichte und -begriff 1918-1933
Staatslehre" in der „Historischen Zeitschrift" und signalisierte somit, welchen Stellenwert er dem Werk auch für die Historiographie beimaß196). Hintze referiert im ersten Teil Kelsens Grundgedanken, indem er konsta-
tiert: „Dieses System will rein juristisch sein; es verschmäht alle soziologischen und historisch-politischen Denkformen"197). An verschiedenen Stellen erkennt man seine Vertrautheit mit den rechtstheoretischen Methodendiskussionen der Zeit. Kelsen breche sowohl mit der „herrschenden Lehre" als auch mit neuen Interpretationsansätzen; er grenze sich vom Rechtsstaatsgedanken Gneists ebenso ab wie von Smends Unterscheidung zwischen Regierung und Verwaltung198). Im zweiten Teil konzentriert sich Hintze auf eine geharnischte Kritik Kelsens. Für „juristische Zwecke" möge eine solche, das Recht künstlich isolierende Staatslehre „besonders brauchbar" sein, aber „in jeder anderen Beziehung wird diese Behandlungsweise als unzulänglich, ja als öde und subaltern erscheinen". Geradezu empört schreibt er: „Der Staat ist doch nicht bloß eine Angelegenheit der Juristen; eine allgemeine Staatslehre geht doch eigentlich jeden Staatsbürger an; und auch der Jurist ist doch sozusagen ein Staatsbürger." Die Historiker, die Bildung und Wandel der Staaten untersuchen, werden jedenfalls, so Hintze, ebenso wie die Politiker mit Kelsens Staatslehre „wenig anzufangen wissen". „Eine Staatslehre, die den Begriff der Macht gänzlich ausschaltet, die keine anderen Beziehungen der Staaten untereinander kennt, als rechtliche, die eigentlich überhaupt den wirklichen historischen Einzelstaat nur als Teilordnung der Universalrechtsordnung eines allgemeinen Weltstaates begreifen kann, streift doch nahe an die Utopie". Kelsens Lehre stelle wie die „brutale Macht- und Gewaltlehre Spenglers [...] ein Symptom gefährlicher Erkrankung des politischen Lebens und Denkens"
dar199).
Es war wenig überraschend, daß sich viele Historiker mit Kelsens Werk schwer tun würden. .Reines Recht' und pure Rechtslogik widersprachen ganz historischen Denkkategorien. Die Anhänger der Wiener Schule blendeten die Wirksamkeit geschichtlicher Kräfte völlig aus und versuchten die Verfassung nur aus sich selbst heraus zu interpretieren. Für Hintze bedeutete Kelsens Auffassung indes noch eine weit größere Herausforderung. Denn die „Reine Rechtslehre" negierte aus seiner Sicht nicht nur die historischen und soziologischen Entstehungszusammenhänge von Rechtsordnungen, sie ignorierte zudem auch die interdisziplinäre Arbeitsweise der Verfassungsgeschichtsschreibung, wie sie Hintze seit Jahrzehnten praktizierte und forderte. Deshalb focht Hintze nicht nur für eine reale, die Machtfaktoren berücksichtigende Sicht-
196) Otto Hintze: Kelsens Staatslehre. In: HZ 135 (1927), S. 66-75. 197) Ebd., S. 66. 198) Ebd., S. 70. 199) Ebd., S.74f. Mit Spengler hatte sich Hintze kurz vorher auseinandergesetzt.
Otto Oswald Spengler, Der Staat; ders., Neubau des Deutschen Reiches; ders., Politische Pflichten der deutschen Jugend; Otto Koellreutter, Die Staatslehre Oswald Spenglers. In: ZgStW 79 (1925), S. 541-547.
Hintze: Rez.
zu
3. Debatten über den
Verfassungsbegriff bei den Juristen
155
weise des Staates, der keineswegs mit der Rechtsordnung identisch sei, sondern er verteidigte zudem im Rahmen der Kelsen-Rezension die Staatsanschauung Max Webers. Daß es für den Verfassungshistoriker wichtig sei, sich speziell mit dem Phänomen der Macht zu beschäftigen, betonte auch der Rechtshistoriker Heinrich Mitteis. Mitteis erhoffte sich u. a. von der Erforschung der „Machtverhältnisse in der Verfassungsgeschichte" Aufschlüsse über die Entstehung der Regeln für die korporative Willensbildung. Er sah es zudem als „eine Aufgabe des Verfassungshistorikers" an, das Verhältnis von „Rasse, Umwelt, Landschaft" und Erbgut auf die Entstehung des „Nationalcharakters" zu untersuchen200). Eine entsprechend verfahrende vergleichende Verfassungsgeschichte nahm Mitteis Anfang der dreißiger Jahre in Angriff201). Mit dem Ansatz, die europäische Verfassungsgeschichte des Mittelalters mit komparativen Verfahren zu analysieren, gingen Hintze und Mitteis einen parallelen Weg, der von deutschen Historikern nur vereinzelt eingeschlagen wurde202). Einen weiten internationalen Blick pflegten indes auch einige Juristen, die sich, ähnlich wie Kelsen, an dem Methodenstreit beteiligten und rechtstheoretische Werke zu Staat und Verfassung veröffentlichten. Als einer der prononciertesten Intellektuellen auf dem Feld zwischen Staatsrecht und Rechtsphilosophie, Ideen- und Begriffsgeschichte betätigte sich der Öffentlichrechtler Carl Schmitt203). Seine Abkehr von dem im Kaiserreich dominierenden staatsrechtlichen Positivismus Labandscher Prägung erfolgte bereits in den letzten Jahren vor dem Weltkrieg. Damit stand er nicht allein, sondern traf
200)
Heinrich Mitteis: Rez. zu Ladislas Konopczynski, Le Liberum Veto. In: HZ 145 (1932), S. 564-569, hier S. 565. 201 Das ) Ergebnis: ders.: Lehnrecht und Staatsgewalt. Untersuchungen zur mittelalterlichen Verfassungsgeschichte, Weimar 1933. Vgl. dazu Bernhard Diestelkamp: Heinrich Mitteis .Lehnrecht und Staatsgewalt' im Lichte moderner Forschung. In: Peter Landaul Hermann /VeWsen/Dietmar Willoweit (Hg.), Heinrich Mitteis nach hundert Jahren (1889-1989). Symposion anläßlich des hundertsten Geburtstages in München am 2. und 3. November 1989, München 1991 (= Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, phil-hist. Klasse, NF 106), S. 11-21. 202) Zur Methodik des Vergleichs unter den zeitgenössischen Verfassungshistorikern einschlägig, aber in Deutschland nicht rezipiert: Marc Bloch, Vergleich. In: ders., Aus der Werkstatt des Historikers. Zur Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft, hg. v. Peter Schattier, Frankfurt a. M./New York 2000, S. 113-121 [zuerst 1930]. 203) Seit seinem Tod 1986 ist eine Flut an Sekundärliteratur erschienen. Prägnante Überblicke: Reinhard Mehring: Carl Schmitt zur Einführung, Hamburg 1992/22001; Norbert Campagna: Carl Schmitt. Eine Einführung, Berlin 2004. In Teilen apologetisch: Helmut Quaritsch: Positionen und Begriffe Carl Schmitts, Berlin 31995. Grundlegend: Hasso Hofmann: Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, Berlin 21992; Andreas Koenen: Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum „Kronjuristen des Dritten Reiches", Darmstadt 1995; mit neuen Erkenntnissen: Dirk Blasius: Carl Schmitt. Preußischer Staatsrat in Hitlers Reich, Göttingen 2001. Wichtig: Helmut Quaritsch (Hg.): Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt. Vorträge und Diskussionsbeiträge des 28. Sonderseminars 1986 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 1988 (= Schriftenreihe der Hochschule Speyer, 102).
156
IV
Verfassungsgeschichte und -begriff 1918-1933
sich mit Rudolf Smend, Heinrich Triepel und Erich Kaufmann. Sie legten um 1910 Werke vor, die, entgegen dem positivistischen Dogma einer Trennung des Rechts von allen sonstigen Sphären, Politik und Geschichte als selbstverständliche Rechtsquellen ansahen und in ihre Betrachtung einbezogen204). Ein Jahr nach dem Erscheinen von Kelsens erstem Hauptwerk entwickelte Schmitt 1912 seine Lehre von der Entscheidung, der „Dezision" als grundlegendem Normerzeugungsfaktor des Rechts205). Doch die Wirkungsgeschichte dieser rechtstheoretischen Schriften begann erst rund ein Jahrzehnt später. Die Schriften der Positivismus-Kritiker entfalteten in den zwanziger Jahren Breitenwirksamkeit. Dies lag zum einen am Ersten Weltkrieg, der den Methodendiskurs gegenüber den praktischen Rechtsproblemen in den Hintergrund gedrängt hatte, zum anderen begünstigte die Berufung der Antipositivisten auf öffentlich-rechtliche Lehrstühle nach 1918 die Rezeption ihrer Ideen. Mit Kelsen, Smend und Schmitt kam die Generation der 1880er Geburtsjahrgänge, die Frontgeneration, zum Zuge. Kaum zufällig fanden ihre inspirierenden Gedanken eine Leser- und Hörerschaft, die der nach neuen Wegen und Zielen suchenden Kriegsjugendgeneration angehörte. Auch schon vor seinem Hauptwerk, der 1928 erschienenen „Verfassungslehre", deren verfassungshistorische Passagen die Zeitgenossen beeindruckten, hatte sich Carl Schmitt mit historischen Themen befaßt. Einen wichtigen Bezugspunkt bildeten dabei immer wieder die Staatstheoretiker der Frühen Neuzeit sowie die politische Ideenwelt und das deutsche Verfassungssystem des 19. Jahrhunderts. Dies galt, um nur zwei einprägsame Beispiele herauszugreifen, für die 1919 erschienene „Politische Romantik" ebenso wie für die 1923 vorgelegte Schrift über ,,[d]ie geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus"206). In beiden Studien wählte Schmitt das frühe W.Jahrhundert als Thema, einerseits zur Kritik an der vielfach idealisierten deutschen Romantik, andererseits zur Schilderung eines idealisierten frühen deutschen Parlamentarismus' als Folie für eine Fundamentalkritik der Weimarer Zustände. Diese Schriften hatten bereits vereinzelte Kritik im Lager der Hi-
204) Korioth, Erschütterungen (1992);
Ulrich M. Gassner: Heinrich
Triepel.
Leben und
Werk, Berlin 1999 (= Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht, 51), S. 222-290;
Pauly: Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus. Ein Beitrag Entwicklung und Gestalt der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht im 19. Jahrhundert, Tübingen 1993, S. 240-245 („Erosion [...] des staatsrechtlichen Positivismus"). 205) Carl Schmitt: Gesetz und Urteil. Eine Untersuchung zum Problem der Rechtspraxis, Berlin 1912, bes. S. 71-119 („Die richtige Entscheidung"). 206) Carl Schmitt-Dorotic: Politische Romantik, München/Leipzig 1919; ders., Parlamentarismus (1923). Walter
zu
207) Fr.[iedrich] Meinecke: Rez. zu Carl Schmitt-Dorotiê: Politische Romantik. In: HZ 121 (1920), S. 292-296; GJerhard] Masur: Rez. zu Carl Schmitt, Politische Romantik. In: HZ 134 (1926), S.373-377; [ders.:] Rez. zu Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. In: HZ 137 (1928), S.349; H.[ans] Rothfels: Rez. zu Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus. In: HZ 142 (1930), S. 316-319. Auch Otto Hintze betätigte sich als Schmitt-Rezensenl. OJtto] Hintze: Rez. zu Carl Schmitt, Die Kernfrage des
3. Debatten über den
Verfassungsbegriff bei den Juristen
157
storiker hervorgerufen207). Schmitt argumentierte auch in seinem grundlegenden Werk zur „Verfassungslehre" explizit historisch208). In der „Verfassungslehre" entwickelt Schmitt mehrere voneinander zu unterscheidende Verfassungsbegriffe. Als Kontrapunkt zur positivistischen Verfassungsdefinition, die einen „relativen Verfassungsbegriff" geprägt habe, setzt er seinen „absoluten Verfassungsbegriff". Verfassung im relativen Sinne meine lediglich das Verfassungsgesetz als positiven Rechtsakt oder die Gesamtheit der Verfassungsgesetze, z.B. eine geschriebene Verfassung wie etwa die in Weimar 1919 verabschiedete. Demgegenüber beschreibe der absolute Verfassungsbegriff „den konkreten Gesamtzustand politischer Einheit und sozialer Ordnung". Damit werden, anknüpfend an die Reichsrechtstradition des 17. und 18. Jahrhunderts, alle rechtlichen und politischen Institutionen als Verfassung bezeichnet209). Am wichtigsten ist aber bei Schmitt ein dritter, nämlich ein „positiver Verfassungsbegriff". Denn für diesen ist die Entscheidung zur Bildung einer politischen Einheit konstitutiv, die positive Verfassung bezeichnet also nichts geringeres als die „Gesamt-Entscheidung über Art und Form der politischen Einheit"210). Damit aber ist Schmitts positiver Verfassungsbegriff genau das Gegenteil von einem positiven Gesetz. Die positive Verfassung hat nämlich überhaupt keinen normativen Charakter mehr. Es triumphiert das Existentielle über das Formale, die wirkliche Entscheidung über die abstrakte Norm211). Und das hat weitreichende Folgen. Schmitts Verfassungsbegriff ist außerordentlich weit gefaßt und rekurriert auf die fundamentale politische Dezision eines Volkes. Er ist damit deutlich im Vorfeld juristisch faßbarer Normierung, quasi im vorstaatlichen Kosmos, angesiedelt. Schmitt folgert einen grundlegenden Unterschied zwischen der Verfassung als einer im metajuristischen Bereich getroffenen Grund- und Gesamtentscheidung und dem Verfassungsgesetz als einem daraus resultierenden normlogischen Fixpunkt der Gesetzgebung. Die Verfassung in Gestalt eines formalen Gesetzes wird ausgespielt gegen die materielle, quasi übergesetzliche Verfassung. Formales Verfassungsrecht und materielle Verfassungswirklichkeit treten in der Konsequenz auseinander. Eine Verfassungsgeschichte, die sich diesem positiven Verfassungsbegriff verpflichtet weiß, kann sich mit der Totalität der menschlichen Existenz beschäftigen, muß über eine rein politisch-rechtlich fundierte Institutionengeschichte hinausgehen und zu einer „histoire constitutionnelle totale" werden.
Völkerbundes. In: HZ 134 (1926), S.620f.; ders.: Rez. zu Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. In: HZ 146 (1932), S.589. Schmitt hatte seinerseits bereits früher in der „Historischen Zeitschrift" veröffentlicht. Carl Schmitt-Dorotic: Politische Theorie und Romantik. In: HZ 123 (1921), S. 377-397.
208) De«., Verfassungslehre (1928). 209) Ebd.,S.3. 210) Ebd., S. 20. 2U) Vgl. ebd., S. 107.
158
IV
Verfassungsgeschichte und -begriff 1918-1933
zeitgleich mit Schmitts „Verfassungslehre" erschien die Untersuchung „Verfassung und Verfassungsrecht" des Berliner Staats- und Kirchenrechtlers Rudolf Smend212). Smends staatstheoretisches Hauptwerk entstand als Bruchstück einer von ihm niemals vollendeten Allgemeinen Staatslehre. Als Fast
Hauptgegner sah Smend die „Reine Rechtslehre" Kelsens an. In enger Anlehnung an die Theorie des Leipziger Kulturphilosophen Theodor Litt213)
versucht Smend in seiner Integrationslehre, die Lebenswirklichkeit des Staates und die Totalität staatlichen Lebens verständlich zu machen. In seiner Verfassungslehre erscheint der Staat als geordnetes Einheitsgefüge des individuellen Lebens der einzelnen Staatsbürger. Er ist ein dynamisches Gebilde und zeigt sich den Bürgern in seinen Lebensäußerungen, in Gesetzen, Gerichtsurteilen, diplomatischen Akten und in der Staatssymbolik. Der Staat als realer Willensverband existiert geradezu aus diesen sichtbaren Vorgängen, den sich laufend vollziehenden Integrationsprozessen; er lebt, wie Smend es in Anlehnung an Ernest Renans Nationsdefinition ausdrückt, von einem „Plebiszit, das sich täglich wiederholt"214). Die Verfassung eines Staates gewährleistet dessen Einheit und dient als Anregung und zugleich Schranke des Integrationsprozesses. Ihre Aufgabe ist die Gewährleistung und Gewährung des institutionellen Rahmens für die offene politische Integration. Auch Smend stellt wie Schmitt die geltende Weimarer Reichsverfassung wegen ihres Mangels an organischem Gehalt grundlegend in Frage. Statt eines juristischen schwebt Smend ein eher soziologisch definierter Verfassungsbegriff vor. Anklänge an ständestaatliche Konzepte oder faschistische Vorbilder sind nicht völlig von der Hand zu weisen. Eine frühe Reaktion von Historikerseite auf die verfassungstheoretischen Neuentwürfe von Schmitt215) und Smend wurde in der „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft" keineswegs zufällig von Fritz Härtung veröffent-
Zu Person und Werk Smends: E.[rnst] R.[udolf] Huber: Rudolf Smend. In: Jb. der Akademie der Wissenschaften in Göttingen für das Jahr 1976, Göttingen 1977, S. 105-121; Peter Badura: Staat, Recht und Verfassung in der Integrationslehre. Zum Tode von Rudolf Smend (15. Januar 1882 5. Juli 1975). In: Der Staat 16 (1977), S. 305-325; Manfred Friedrich: Rudolf Smend. In: AÖR 112 (1987), S. 1-25. Smends Bedeutung für die Angehörigen seiner Generation betont Ernst Rudolf Huber in seinen Schreiben an Smend, die mir Rudolf Smend, jun. (Göttingen) freundlicherweise aus seinem Privatarchiv zugänglich gemacht hat. 213) Die Bezugnahme erfolgt explizit im Methodenkapitel: Smend, Verfassung (1928), S. 123-135. Verwendet wird nachfolgend der leichter greifbare Neudruck in der zweiten Auflage von 1968. 214) Ebd., S. 136. 215) Einschlägig für die Rezeption der Verfassungslehre Carl Schmitts: Hans-Christof Kraus: Verfassungslehre und Verfassungsgeschichte. Otto Hintze und Fritz Härtung als Kritiker Carl Schmitts. In: Dietrich Murswiek/Uhich Siorasi/Heinrich A. Wolff (Hg.), Staat Souveränität Verfassung. FS für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag, Berlin 2000 (= Schriften zum Öffentlichen Recht, 814), S. 637-661.
212) Smend, Verfassung (1928).
-
-
-
3. Debatten über den
Verfassungsbegriff bei den Juristen
159
licht216). Schmitts „Verfassungslehre" sei „historisch stärker begründet, aber doch in den Grundgedanken mit Smends „geistreichem Buch" „verwandt". Beide Studien seien „Ausdruck des lebendigen Ringens um eine neue Grundlegung der Staatslehre, Zeichen der Besinnung auf das Wesen des Staates". Die Ähnlichkeit beider Bücher sieht Härtung zu Recht in der „Kritik an der bisherigen Staatslehre". Was den neuen Verfassungsbegriff angeht, stellt er lapidar fest, daß die „Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz [...] für den Historiker, der längst gewöhnt ist, auch die Geschichte von nicht gesetzlich festgelegten Verfassungen zu untersuchen, [...] freilich nicht eben neu" sei217). Und fast triumphierend im Hinblick auf die Konkurrenz zwischen Juristen und Historikern auf dem Gebiet der Verfassungsgeschichte beurteilt Härtung die Tatsache, daß Schmitt den normativ definierten, juristischen, von Schmitt relativ genannten Verfassungsbegriff „völlig aufgegeben" und „die Frage auf das politische Gebiet der Willensbildung hinübergespielt" habe. „Diese Art der Betrachtung", so fährt er fort, „erscheint mir als durchaus fruchtbar"218). Erneut ist es hier der Historiker, der einem Juristen deshalb Beifall zollt, weil dieser die politischen Elemente der Verfassungsgeschichte anerkenne. Aber bei diesem vordergründigen Lob bleibt es nicht. Härtung kritisiert an Schmitts positiven Verfassungsbegriff, daß er zu wenig dynamisch ausfalle. „Eine dogmatische Betrachtung, die den Staat und seine Verfassung als etwas Starres behandelt, ist notwendig unfruchtbar, weil wirklichkeitsfremd."219) Daß Schmitt als Hürde gegen eine zu hohe Dynamik der positiven Verfassung festlegt, daß deren Substanz nicht veränderlich sein dürfe, hält Härtung für „politisch bedenklich". Dies sei „eine die künftige Entwicklung einengende Bindung, juristisch [...] unbrauchbar wegen der Unklarheit des Begriffs der .Substanz' der Verfassung, und historisch läßt sich damit gar nichts anfangen"220). Auf diesen Punkt geht Härtung anschließend ausführlich ein und präsentiert historische Beispiele für Verfassungsänderungen in verschiedenen nord- und westeuropäischen Staaten. Die Beurteilung des Charakters des Konstitutionalismus als Staatsform und des deutschen Kaiserreichs durch Carl Schmitt kommentiert Härtung erstaunlicherweise nicht. So äußert er zu Schmitts „Frontalangriff"221) auf die traditionelle Deutung des Konstitutionalismus nur sehr vage: „Ueber die Einzelheiten seiner [Schmitts, E.G.] Darstellung der konstitutionellen Monarchie möchte ich hier nicht rechten, sie scheinen mir zum Teil anfechtbar zu Carl Schmitt, Verfassungslehre]. In: ZgStW S. 225-239, hier S.225. Ein Hinweis auf die Rezension findet sich bereits bei Oestreich, Härtung (1968), S. 460f. 217) Ebd., S. 226. 218) Ebd., S. 227. 2)9) Ebd. 22°) Ebd., S. 228.
Härtung: Verfassungslehre [Rez. zu
216)
Fritz
221)
Kraus, Verfassungslehre (2000), S. 635.
87
(1929),
160
IV.
Verfassungsgeschichte und -begriff 1918-1933
sein."222) Festzustellen ist allerdings, daß Härtung nach 1918 seine früher sehr
positive Bewertung der konstitutionellen Monarchie deutlich abschwächt und vielmehr den Kompromißcharakter des Bismarckschen Systems betont223). Insgesamt reagiert Härtung abwartend-kritisch. Er halte Schmitts „Verfassungslehre" für einen „Versuch, durch vergleichende Betrachtung mehrerer moderner Verfassungen zu nichtigen' Grundsätzen des Verfassungslebens zu gelangen". Doch gehe es tatsächlich in einer modernen Verfassungslehre um die „Beschreibung sowohl der gemeinsamen wie der besonderen Erscheinungen" des Verfassungslebens224). Härtung kommt es als Historiker nicht auf einen allgemeinen Typus von Verfassung an, nach dem Schmitt als Jurist sucht, sondern auf die Vielfalt von exemplarischen und exzeptionellen Verfassungsformen. Schmitts „Verfassungslehre" sei somit ein „anregender Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen" und verdiene als „kühner Wurf" die „ernsteste Betrachtung"225). Den Kern von Schmitts Verfassungslehre könne er je-
doch „nicht als wissenschaftlich fruchtbar" anerkennen226). Politisch sei er bedenklich, weil er zu der Unmöglichkeit führe, „die Verfassung dem Wandel der Zeiten anzupassen" 227). Auch Otto Hintzes Besprechung der „Verfassungslehre" Schmitts in der „Historischen Zeitschrift" war bei aller Anerkennung der Leistung nicht grundsätzlich positiv. Er lobt zwar die „leidenschaftslose Sachlichkeit" sowie den „Geist und [die] Gründlichkeit [des] ausgezeichneten Buches"228). Aber zugleich meldet er „gewichtige historische Bedenken" gegen verschiedene Passagen des Werkes an. So äußert er Kritik an der strikten Trennung zwischen ständischer und repräsentativer Verfassung. Während Schmitt die ständischen Verfassungsverhältnisse „lediglich als Ausläufer des Feudalismus" betrachte, seien sie seiner Auffassung nach das „erste Stadium des modernen Staates" 229). Erstaunlich ist, daß Hintze ähnlich wie Härtung zu Schmitts Deutung des Kaiserreichs und des deutschen Konstitutionalismus keine Stellung be-
222) Härtung, Verfassungslehre (1929), S. 227. 223) Ders., Verfassungsgeschichte (1922), S. 170-178,
-
185-190.
sungslehre (2000), S. 656-658. 224) Härtung, Verfassungslehre (1929), S.232.
Vgl.
auch Kraus, Verfas-
225) Ebd., S. 233,239. 226) Ich weiche hier im Gesamturteil von Kraus, Verfassungslehre (2000), S. 658, ab, der Hartungs Stellungnahme „bei
deutet.
aller Kritik im Detail
im ganzen
keineswegs negativ"
-
227) Härtung, Verfassungslehre (1929), S. 231. 228) Otto Hintze: Rez. zu Carl Schmitt, Verfassungslehre. hier S. 563.
229) Ebd.,
In: HZ 139
(1929),
S. 562-568,
S.565. Diese Einwände führen insgesamt zu einer reservierten Einstellung Schmitts „Verfassungslehre". Dies ist ausdrücklich der Annahme von Kraus entgegenzusetzen, daß Hintze „von einigen sehr speziellen historischen Einwänden abgesehen, den Hauptthesen Schmitts im wesentlichen" zugestimmt habe. Kraus, Verfassungslehre (2000), S. 650.
Hintzes
zu
3. Debatten über den
Verfassungsbegriff bei den Juristen
161
zieht. Hatte Hintze bis zum Weltkrieg die „monarchisch-konstitutionelle Regierungsweise" als „das eigenartige preußisch-deutsche System" charakterisiert, das „gegenwärtig in einer ganz reinen und entschiedenen Form nur bei uns" bestehe230), so sah Schmitt in der konstitutionellen Monarchie keine eigenständige Verfassungsform, sondern eine „Übergangserscheinung", einen Scheinkompromiß und letztlich ein zum Parlamentarismus tendierendes ,Auslaufmodell'231). Der fehlende Widerspruch Hintzes ist allerdings nicht ohne weiteres als Zustimmung zu werten, sondern vermutlich eher seiner durch den Untergang des Kaiserreichs verunsicherten politisch-historischen Haltung ge-
schuldet232).
Ähnlich wie bei Härtung und wie in Hintzes früheren Rezensionen juristischer Studien sind es Bedenken aus fachhistorischer Sicht, die der Berliner Emeritus gegen Schmitt ins Feld führt. Der Verfassungsbegriff, der auf der Entscheidung einer politischen Einheit beruhe, negiere den Faktor der „nationalen Unabhängigkeit". „Dadurch erhält der Verfassungsbegriff einen formal-juristischen Charakter [...], der dem ganzen Werke seinen Stempel aufdrückt"233). Hintze betont, daß Schmitt mit dieser Art formal-juristischer Einschätzung den wahren Zustand der Weimarer Republik falsch beurteile. Deshalb vor allem bleiben ihm „Zweifel [...] vom historisch-politischen Standpunkt aus", welche „durch das vorliegende, als juristische Leistung gewiß sehr hoch zu bewertende Werk keineswegs restlos beseitigt werden" kön-
nen234).
Auch mit Rudolf Smends Darstellung hat sich Otto Hintze in demselben Heft der „Historischen Zeitschrift" ausführlich befaßt. Er sieht in ihr „den Versuch einer neuen erkenntnistheoretischen Grundlegung", der „nicht bloß durch den Krieg [...], sondern mehr noch durch eine Veränderung der wissenschaftlichen Denkweise hervorgebracht" worden sei. Georg Jellineks System habe „abgedankt" und Kelsen den Staat nur als Rechtsordnung ohne jede „soziologische Wirklichkeit" angesehen235). Insofern lobt er Smends Vorhaben zunächst einmal als verdienstvoll. Aber sein Buch sei lediglich die Anwendung der Erkenntnistheorie Theodor Litts auf die Staatslehre. Zudem begehe Smend den Fehler, die Staatstheorie als „reine Geisteswissenschaft" statt als Kulturwissenschaft zu betreiben. Die von Smend mit dem Begriff der Integration versehenen verschiedenen staatlichen „Lebensäußerungen" habe man „bisher weniger gelehrt als ,das Staatsleben' zu bezeichnen" gepflegt. Hintze kritisiert, daß der Begriff der Integration, ohnehin ein „mathematisches Bild",
23°) Hintze, Das monarchische Prinzip (1911), S. 359f. 231) Schmitt, Verfassungslehre (1928), S. 53f. 232) Auch Kraus, Verfassungslehre (2000), S. 648-650, bietet hierfür keine Erklärung, deutet
Hintzes
Haltung aber offenbar tendenziell als Zustimmung.
233) Hintze, Rez. Schmitt (1929), S. 563. 234) Ebd., S. 568. 235) Ders.: Rez. zu Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht. S. 557-562, hier S. 557.
In: HZ 139
(1929),
162
IV
Verfassungsgeschichte und -begriff 1918-1933
„kein glücklicher ist und im Interesse der Klarheit der allgemein-wissenschaftlichen Terminologie besser unterblieben wäre"236). Für Hintze ist der wissenschaftliche Gewinn durch Smends Verfassungslehre insgesamt eher begrenzt. Immerhin habe er die bisher bei den Juristen vorherrschende „statische, substantielle Auffassung" von Staat und Verfassung durch „eine dynamische, funktioneile" ersetzt. Doch es gehe zu weit, die statische Sicht durch die dynamische ganz zu verdrängen. Da Smend zudem die „eigentliche historische ,Staatbildung'" gar nicht erwähne, sei „seine Theorie für die historische Betrachtung des Staates und seiner Verfassung ziemlich unfruchtbar"237). Hintze kritisiert nachdrücklich die negative Sicht Smends auf Max Weber und seine Liberalismus-Kritik. Am Ende konstatiert er eine deutliche politische Distanz zu Smend: dessen „Neigungen gehen mehr nach der faschistischen Seite. Faschistische Methoden sind aber für uns in Deutschland ausgeschlossen, aus mehr als einem Grunde; darum sollten wir einen EdelIndividualismus nicht verlästern, denn er ist die einzige moralisch-politische Kraftquelle, die uns in unserer gegenwärtigen Lage geblieben ist"238). Es wird deutlich, wie wenig Hintze sich mit Smends verfassungstheoretischen Ansichten einverstanden erklärte. Für ihn stellten sie mehr ein juristisches Konstrukt dar als eine Theorie für die gesellschaftliche und historische Lebenswirklichkeit des Staates. Nach Hintzes Dafürhalten war die Integrationslehre einesteils zu wenig theoretisch durchdacht, anderenteils falsch bezeichnet. Sie schien ihm für Historiker kaum brauchbar und politisch überaus bedenklich. Deutlich positiver als bei Härtung und Hintze schnitten die beiden Verfassungslehren in der gemeinsamen Besprechung durch den Hamburger Historiker Justus Hashagen ab239). Die Bücher von Schmitt und Smend hätten eine „allgemeine, weit über Staatstheorie und Staatsrecht hinausreichende Bedeutung", weil „sie den Staat mit äußerster Kraft bejahen"240). Von Schmitt zeigt sich Hashagen tief beeindruckt, wenn er dessen „profundes historisches Wissen und eine mehr als gewöhnliche historisch-politische Urteilskraft" lobt. Das „Verfassungs- und sonstige historische Material", das Schmitt heranziehe, sei „zweifellos höchst umfassend", allein die Bemerkungen zur Weimarer Reichsverfassung schienen ihm in einer allgemeinen Verfassungslehre zu ausführlich241). Hashagen stimmt dem Verfassungsbegriff Schmitts ohne Vorbehalte zu und rühmt den Autor, daß er Ordnung in die „Begriffsverwirrung" gebracht habe, „die sich des Ausdrucks ,Verfassung' weithin bemächtigt hat"242). 236) Ebd., S. 559. 237) Ebd,S.560. 238) Ebd., S. 562. 239) Justus Hashagen:
Zwei Neuerscheinungen zu Verfassungstheorie und Verfassungsrecht. In: Schmollers Jb. für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 53 (1929), S. 127-139. 24°) Hashagen, Neuerscheinungen (1929), S. 135. 241) Ebd., S. 132. 242) Ebd., S. 127.
3. Debatten über den Verfassungsbegriff bei den Juristen
163
Bei Smends Integrationslehre hegt Hashagen mehr Bedenken. Keine Einwände hat er gegen den Integrationsbegriff. Auch hält er die Verfassungstheorie für „vortrefflich geeignet, das Bewegliche, das Ruhelose, das Dynamische, das Krafterfüllte in den Lebensbetätigungen des Staates in helles Licht zu setzen"243). Aber die Verfassung werde in einer „verwaschenen Formulierung" als „'Gesetz des politischen Gesamtlebens des Staates' bezeichnet", so daß „die geschriebene Verfassungsurkunde als etwas verhältnismäßig Nebensächliches" erscheint und damit „einer peinlichen Entwertung ausgesetzt" werde. Hatte Hashagen noch mit viel Respekt gegenüber Schmitts „Verfassungslehre" festgestellt, daß er nur als Historiker darüber urteilen könne, so meint er jetzt, daß „selbst der juristische Laie, sofern er nur über ein gewisses Maß von verfassungsgeschichtlicher Erfahrung verfügt, [...] hier einige Fragezeichen machen" dürfte244). Er habe „gegen Smends Konstruktionen auch sonst mancherlei einzuwenden". Dennoch zollt er auch Respekt vor der „Größe der geistigen Leistung" Smends und attestiert beiden Staatstheorien, daß sie Zeugnis ablegten „für das rege Leben [...], das in der neusten deutschen Verfassungslehre herrscht"245). In der Tat erkannten Hintze, Härtung und Hashagen gleichermaßen aus Sicht der historischen Disziplin, welche enorme fachinterne wie fachübergreifende Bedeutung den Monographien von Carl Schmitt und Rudolf Smend zukam. Ihre Verfassungstheorien gehörten neben den Lehren von Hans Kelsen und Hermann Heller zu den meistdiskutierten der Weimarer Zeit. Ihnen gemeinsam war die deutliche Erweiterung des Staats- und Verfassungsverständnisses über die engen Grenzen des traditionellen Rechtspositivismus hinaus. Der daraus resultierende weite Verfassungsbegriff ermöglichte eine in die allgemeine politische Geschichte ausgreifende Darstellung der Verfassungsgeschichte, wie sie seit den dreißiger Jahren vorgelegt wurden. Hier herrschte die Tendenz vor, die Darstellung historisch-genetisch und nicht mehr systematisch zu konzipieren. Dies führte zu einer endgültigen Emanzipation der juristischen Verfassungsgeschichtsschreibung von der einem Institutionenverständnis stärker verhafteten und damit der Rechtssystematik enger verpflichteten
Rechtsgeschichtsschreibung.
Die fachliche Trennung von Rechts- und Verfassungsgeschichte kam auch in den juristischen Studien- und Prüfungsordnungen zum Ausdruck. Neben den methodischen Fragen spielte hier vor allem die notwendige Heranführung der Rechtsgeschichte an die Gegenwart eine wichtige Rolle. Bereits seit der Jahrhundertwende kannte die preußische Juristenausbildung Veranstaltungen zur inneren Rechtsentwicklung. Angesichts der weiterhin mit deutlichem mittelalterlichen Schwerpunkt gelehrten Rechtsgeschichte entschied eine Konferenz der Juristenfakultäten 1920 in Halle, daß „die neue deutsche Rechts- und Verfassungsentwicklung bis 1918 eingehender als bisher zu be-
243) Ebd., S. 135.
244) Ebd., S. 137. 245) Ebd., S. 139.
164
IV
Verfassungsgeschichte und -begriff 1918-1933
rücksichtigen und gegebenenfalls zu einer besonderen Vorlesung über neuere deutsche Rechtsgeschichte auszugestalten sei"246). Nach langjährigen Reformdiskussionen wurde 1931 eine obligatorische Vorlesung zur „Verfassungsgeschichte der Neuzeit" in die preußische Studienordnung eingefügt247). Seitdem nahmen die Juristen verfassungsgeschichtliche Themen, die schon vorher regelmäßig angeboten worden waren, verbindlich in ihr Lehrspektrum auf248). Die Reformer beabsichtigten damit, „das Interesse der heutigen Jugend an historischen Vorlesungen [...] wachzuhalten" und „die Allgemeinbildung der Studenten zu fördern"249). Die Debatten um eine Neufassung der juristischen Verfassungsgeschichte wurden durch diese Modifikation des juristischen Studiums zweifellos stimuliert. Die Kontroverse um den Verfassungsbegriff zwischen Schmitt und Smend einerseits sowie Hintze und Härtung andererseits erwies sich letztlich als ein Vorspiel für alle juristischen Neuentwürfe einer deutschen Verfassungsgeschichte der Neuzeit, wie sie in den dreißiger Jahren entstanden und wie sie von den Reformen der Studienordnung mitinspiriert
worden waren und werden sollten250). Wie Sensoren hatten Ende der zwanziger Jahre mit Hintze und Härtung keineswegs zufällig die beiden führenden deutschen Verfassungshistoriker auf die grundlegenden Begriffsdebatten unter den Juristen reagiert. Derartige Neudefinitionen des Verfassungsbegriffs ließen mit dem Aufkommen neuer juristischer Überblicksdarstellungen seit Mitte der dreißiger Jahre die historische Traditionslinie der deutschen Verfassungsgeschichtsschreibung zunehmend in die Defensive geraten.
246)
Rudolf Hübner: Wert und Bedeutung der Vorlesung über Deutsche
Leipzig/Erlangen 1922, S.37.
247)
Rechtsgeschichte,
Erlaß des Preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 17.2.1931. Fritz Stier-Somlo: Die neue juristische Studienreform. Erlaß des Preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 17.2.1931, Berlin 1931 (= Stilkes Rechtsbibliothek, 114), S. 33^47. Zu den allgemeinen Zusammenhängen: Knut Wolfgang Nörr: Rechtsbegriff und Juristenausbildung. Bemerkungen zur Reformdiskussion im Kaiserreich und in der Weimarer Republik am Beispiel Preußens. In: ZNR 14 (1992), S. 217-226, hier S. 223-225. Ohne Nennung der Verfassungsgeschichte als 1931 neu eingeführter Disziplin: Kühn, Reform (2000), S. 124-126. Dasselbe gilt für die ausführlichste Darstellung der Reformentstehung: Anna-Maria Gräfin von Lösch: Der nackte Geist. Die Juristische Fakultät der Berliner Universität im Umbruch von 1933, Tübingen 1999 (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, 26), S. 69-73. 248) Ab dem Sommersemester 1931 wechselten sich z.B. in Breslau Eugen RosenstockHuessy und Hans Helfritz bei der Vorlesung zur „Neueren deutsche Verfassungsgeschichte" semesterweise ab. 249) So die Formulierung in einem Reformplan des preußischen Kultusministeriums vom Mai 1930. Stier-Somlo, Studienreform (1931), S. 12f. 25°) Diese inspirierende Kraft der Reform erhoffte sich Fritz Härtung: Rez. zu Conrad Bornhak, Deutsche Verfassungsgeschichte vom westfälischen Frieden an. In: VSWG 28 (1935), S. 91-94, hier S. 91.
V. Die Verfassungsgeschichtsschreibung unter
nationalsozialistischer Herrschaft
Die Erforschung der Wissenschaftsgeschichte in der Zeit des Nationalsozialismus hat in jüngster Zeit erhebliche Fortschritte vorzuweisen1). Die wissenschaftliche Erkundung von Universitäten, Hochschullehrern und Fachentwicklungen hat sich unter den Stichworten Differenzierung, Spezialisierung und Entideologisierung von früheren Geschichtsbildern entweder ganz verabschiedet oder sie wesentlich zu dekonstruieren vermocht. Starre Dichotomien, wie sie noch die Vorlesungsreihen und Veröffentlichungen der sechziger Jahren bestimmten1), wie diejenigen von ,guter', .reiner' Wissenschaft und .schlechter' politisierter .Pseudoforschung', von Schuld und Unschuld, von Tätern und Opfern, wurden inzwischen aufgebrochen und weitestgehend verworfen. Das simplifizierende Bild von den „wildgewordenen Studienräten"3) gegenüber den ideologiefernen Professoren wurde differenziert und abgelöst vom Entdecken einer Wissenschaftslandschaft, die von Selbstgleichschaltung, Mitwirkung und aktiver Förderung ebenso gekennzeichnet war wie von In-
') Jüngere Überblicke und Problemaufrisse zu Wissenschaft und Hochschulpolitik im Nationalsozialismus: Michael Grüttner: Wissenschaft. In: Wolfgang Benz/Hermann Gramil Hermann Weiß (Hg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, Stuttgart 1997, S. 135-153; Michael Grüttner: Die deutschen Universitäten unter dem Hakenkreuz. In: ders.llohn Connelly (Hg.), Zwischen Autonomie und Anpassung: Universitäten in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, Paderborn usw. 2003, S. 67-100; Lutz Raphael: Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft: Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime. In: GG 27 (2001), S. 5-40; Ulrich Sieg: Strukturwandel der Wissenschaft im Nationalsozialismus. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 24 (2001), S. 255-270; Margit Szöllösi-Ianze: „Wir Wissenschaftler bauen mit" Universitäten und Wissenschaften im Dritten Reich. In: Bernd Sösemann (Hg.), Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft. Einführung und Überblick, Stuttgart 2002, S. 155-171. Generell besteht für die Wissenschaftsgeschichte des Nationalsozialismus jedoch nach wie vor Bedarf sowohl an Grundlagenforschung wie an Synthese. Einzelstudien bei Bayer! Sparing/Woelk, Universitäten (2004). Datenmaterial bei Grüttner, Biographisches Lexikon (2004). Unzureichend (in seinem .Faktenchaos'): Heiber, Universität (1991-1994). 2) Andreas Flitner (Hg.): Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus. Eine Vortragsreihe der Universität Tübingen mit einem Nachwort von Hermann Diem, Tübingen 1965; Wolfgang Abendroth u. a.: Nationalsozialismus und die deutsche Universität, Berlin 1966 (= Universitätstage der Freien Universität Berlin, 1966); Helmut Kuhn u. a.: Die deutsche Universität im Dritten Reich. Acht Beiträge, München 1966. Differenzierter: Karl Ferdinand Werner: Das NS-Geschichtsbild und die deutsche Geschichtswissenschaft, Stuttgart usw. 1967; materialreich: Helmut Heiber. Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 15). 3) Hans Rothfels: Die Geschichtswissenschaft in den dreißiger Jahren. In: Flitner, Geistesleben (1965), S. 90-107, hier S. 99. Ähnlich apologetisch: Günther Franz: Das Geschichtsbild des Nationalsozialismus und die deutsche Geschichtswissenschaft. In: Oswald Hauser (Hg.), Geschichte und Geschichtsbewußtsein. 19 Vorträge, Göttingen/Zürich 1981, S. 91-111. -
166
V.
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
dienstnahme und Instrumentalisierung4). Vor allem die vielen Zwischenstufen und die wechselnden Verhältnisse zwischen Wissenschaft und Politik, zwischen Hochschule auf der einen sowie Staat und Partei auf der anderen Seite sind genauer untersucht worden. Die Legenden von einer grundsätzlichen nationalsozialistischen Wissenschaftsfeindschaft und von einer NS-,Pseudowissenschaft' sind ebenso widerlegt wie diejenige von der generellen Rückständigkeit deutscher Forschung in der NS-Zeit. Trotz weiterhin feststellbarer Forschungslücken ist ein Anfang gemacht: die Netzwerke der Wissenschaft sind erkundet, die Beteiligung bedeutender Wissenschaftler an politisch instrumentalisierbaren Forschungen ist aufgedeckt, die Ideologisierung vermeintlich ,normaler' Wissenschaft ist erkannt worden5). Nicht zuletzt wurden auch die Zäsuren der Jahre 1933 und 1945 von der jüngeren Wissenschaftsgeschichte zu Recht in Frage gestellt und vielfältig relativiert. In vielen Fächern gab es bereits zur Weimarer Zeit Forschungsrichtungen, die nach der Machtübernahme adaptiert werden konnten, weil sie adaptierbar waren, indem sie vielfache Affinitäten zu NS-Ideologemen aufwiesen. Und nicht selten wurden Forschungen nach 1945 weitergeführt, die vorher konzipiert und bisweilen sogar ausformuliert worden waren6). Schließlich überlebten auf diese Weise intentional oder funktional Denkstile, Wahrnehmungsmuster und Feindbilder, von denen man hätte annehmen sollen, daß sie mit dem politischen Einschnitt von 1945 verschwunden gewesen wären. Die neuere Wissenschaftsgeschichte betont mehr denn je die ideen- und forschungsgeschichtlichen Kontinuitäten über die politischen Zäsuren hinweg. Dies gilt für die Historiographie im allgemeinen und für die deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung im speziellen.
4)
Gleichwohl wird das frühere Bild von einer .sauberen' Wissenschaft gelegentlich wieder ,aufgewärmt', in der lediglich „Außenseiter [...] die Kernpunkte nationalsozialistischer Geschichtsauffassung [...] übernommen" hätten. So Ursula Wiggershaus-Müller: Nationalsozialismus und Geschichtswissenschaft. Die Geschichte der Historischen Zeitschrift und des Historischen Jahrbuchs 1933-1945, Hamburg 1999 (= Studien zur Zeitgeschichte, 17). S. 265 (Zitat), und Wolf, Litteris (1996), bes. S. 404f. Ebd., S. 82-99, der untaugliche Versuch einer „Klassifizierung" der Ordinarien in drei Gruppen: „politisch stark engagierte", „politisch mäßig engagierte" Historiker und diejenigen, über die keine Aussage möglich sei. 5) Die wichtigsten Forschungen zur Geschichtswissenschaft aus dem letzten Jahrzehnt: Schönwälder, Historiker (1992); Oberkrome, Volksgeschichte (1993); Fahlbusch, Wissenschaft (1999); Haar, Historiker (2000). Provokativ: Goetz Aly: Macht Geist Wahn. Kontinuitäten deutschen Denkens, Berlin 1997. Durch Alys Forschungen angeregt, sind besonders einzelne Historiker-Biographien, wie diejenigen von Otto Brunner, Werner Conze, Karl Dietrich Erdmann und Theodor Schieder in das Blickfeld der Historiographiegeschichte geraten. Gadi Algazi: Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter. Herrschaft, Gegenseitigkeit und Sprachgebrauch, Frankfurt a.M./New York 1996 (= Historische Studien, 17), zu Brunner; Etzemüller, Sozialgeschichte (2001), zu Conze; Martin Ä>dger/Roland Thimme: Die Geschichtsbilder des Historikers Karl Dietrich Erdmann. Vom Dritten Reich zur Bundesrepublik. Mit einem Vorwort von Winfried Schulze, München 1996; Angelika Ebbinghaus/Karí Heinz Roth: Vorläufer des „Generalplans Ost". Eine Dokumentation über Theodor Schieders Polendenkschrift vom 7. -
-
1. Die
1. Die
167
Institutionalisierung in der Rechtswissenschaft
Institutionalisierung der Verfassungsgeschichte in der Rechtswissenschaft
Das Jahr 1933 bedeutete für die deutsche Verfassungsgeschichte einen tiefen Einschnitt7). Universitäten und Wissenschaften waren davon ganz massiv betroffen. Auch auf die Entwicklung der deutschen Verfassungsgeschichtsschreibung hat die Machtübergabe an die Nationalsozialisten eine nachhaltige Wirkung ausgeübt. Der Wandel, der durch die „nationale Revolution" eintrat8), läßt sich in mehrfacher Hinsicht greifen: 1. Veränderungen im Personalbestand der juristischen und historischen Institute, 2. Modifikation der Studienbedingungen, insbesondere eine Reform der juristischen Studienordnung, 3. Neustrukturierung von Zeitschriften und Lehrbüchern, und 4. verstärkte Neuorientierung bei Methode und Inhalten der Verfassungsgeschichtsschreibung. Der nach 1933 einsetzende Personalumbau an den deutschen Hochschulen und besonders an den juristischen Fakultäten wirkte sich auch auf das Teilfach Verfassungsgeschichte aus9). Da der Anteil jüdischer Hochschullehrer in der Oktober 1939. In: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 7 (1992), S. 62-94. Grundlinien bei: Bernd Faulenbach: Tendenzen der Geschichtswissenschaft im „Dritten Reich". In: Renate Knigge-Tesche (Hg.), Berater der braunen Macht. Wissenschaft und Wissenschaftler im NS-Staat, Frankfurt a.M. 1999, S. 26-52; Elvert, Geschichtswissenschaft (2002). 6) Dies war u. a. der Gegenstand einer Interviewreihe: Hohls/Iarausch, Versäumte Fragen
(2000).
7)
Dies kann allerdings keine Begründung dafür sein, Darstellungen zur Verfassungsgeschichte getreu dem Motto „die Verfassungsgeschichte hört hier auf" mit dem Jahr 1933 enden zu lassen. So aber Robert Scheyhing: Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, Köln usw. 1968 (= Academia Iuris. Lehrbücher der Rechtswissenschaft). Von den älteren, in der NS-Zeit erstmals erschienenen oder damals konzipierten Werken: Ernst Forsthoff: Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, Stuttgart usw. 41972 [zuerst Berlin 1940]; Huber, Verfassungsgeschichte (1957-1991). Michael Stolleis hat zu Recht auf den Irrglauben hingewiesen, man könne das .Dritte Reich' gleichsam wissenschaftsgeschichtlich überspringen. Stolleis, Geschichte, Bd. 3 (1999), S. 247f. 8) Zum Terminus im Überblick: Gerhard Dannemann: Legale Revolution, Nationale Revolution. Die Staatsrechtslehre zum Umbruch von 1933. In: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hg.), Staatsrecht und Staatsrechtslehre im Dritten Reich, Heidelberg 1985, S.3-22. Der Begriff „nationale Revolution" wurde von Heinrich Triepel geprägt. Zur Interpretation der Historiker und dem Topos eines bestimmten deutschen Revolutionstypus': Bernd Faulenbach: Die „nationale Revolution" und die deutsche Geschichte. Zum zeitgenössischen Urteil der Historiker. In: Wolfgang Michalka (Hg.), Die nationalsozialistische Machtergreifung, Paderborn usw. 1984, S. 357-371, hier S. 359f. 9) Formen und Phasen dieser „Gleichschaltung" bzw. „Selbstgleichschaltung" der deutschen Hochschulen sind vielfach einzeln und im Zusammenhang behandelt worden. Ich verzichte an dieser Stelle auf die Erwähnung von Arbeiten zu einzelnen Universitäten und Fakultäten. Pars pro toto nenne ich die in Dokumentation und Kommentierung vorbildliche Edition von Anne Christine Nagel (Hg.): Die Philipps-Universität Marburg im Nationalsozialismus. Dokumente zu ihrer Geschichte, bearb. v. ders./Ulrich Sieg, Stuttgart 2000 (= Pallas Athene, 1). Zur personellen Gleichschaltung siehe die instruktive Einleitung: ebd., S. 37-56. -
-
168
V.
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
Rechtswissenschaft besonders hoch war, sollte sie in ihrem Personalbestand systematisch „gereinigt", verjüngt und damit im nationalsozialistischen Sinn erneuert werden10). Bei dieser personellen „Gleichschaltung" handelte es sich um eine grundlegende und einschneidende personelle Zäsur, die u.a. den Bereich des Öffentlichen Rechts betraf. Sie wirkte sich damit zugleich auf diejenigen Hochschullehrer aus, die sich oft neben ihrem Hauptforschungs- und Lehrgebiet mit Verfassungsgeschichte beschäftigten bzw. später beschäftigen sollten11).
a) Die „Stoßtruppfakultät" Kiel Im Zentrum der wissenschaftlichen Neuaufbaubemühungen der Nationalsozialisten im Bereich der Juristenausbildung stand die Universität Kiel. Die Neustrukturierung begann hier bereits kurz nach der Machtübernahme. 1935 wurde die norddeutsche Juristische Fakultät in der neuen juristischen Studienordnung ausdrücklich als „politischer Stoßtrupp", d. h. als Vorreiter einer generellen Umgestaltung, bezeichnet12). Die Vorbildfunktion Kiels und der an ihr gebildeten sogenannten Kieler Schule in der Rechtswissenschaft hielt sich bis in die Kriegsjahre13). Gleichfalls bis in diese Zeit ist auch ein bestimmender
lü) Vgl. generell
zur
NS-Rechtswissenschaft: Dieter Grimm: Die „Neue Rechtswissen-
Über Funktion und Formation nationalsozialistischer Jurisprudenz. In: Peter Lundgreen (Hg.), Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt a.M. 1985, S.31-54 [auch in: ders., Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1987, S. 373-395]; sowie spezieller zur Rechtsgeschichte: StolleislSimon, Rechtsgeschichte (1989); Rückertl schaft".
Willoweit
(1995);
Michael Stolleis: Recht im Unrecht. Studien
zur
Rechtsgeschichte
des
Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1994. Zum Staats- und Verwaltungsrecht grundlegend: Ders., Geschichte, Bd. 3 (1999), S. 246-414; Horst Dra'erAValter Pauly: Die deutsche Staats-
rechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus. In: Berichte und Diskussionen auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Leipzig vom 4. bis 6. Oktober 2000, Berlin/New York 2001 (= Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, 60), S. 9-105, mit anschließender Aussprache und Schlußworten, S. 106-147. ") Die nachfolgenden Ausführungen stellen somit nur einen kleinen Ausschnitt aus den umfangreichen personellen Veränderungen der Jahre nach 1933 dar. Für den Bereich des Öffentlichen Rechts einschlägig: Stolleis, Geschichte, Bd. 3 (1999), S. 254-299, sowie ergänzend Bettina Limperg: Personelle Veränderungen in der Staatsrechtslehre und ihre neue Situation nach der Machtergreifung. In: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hg.), Staatsrecht und Staatsrechtslehre im Dritten Reich, Heidelberg 1985, S. 44-67. Daneben gibt es inzwischen zahlreiche Arbeiten über einzelne juristische Fakultäten. Beispiele dafür: Lösch, Geist (1999), sowie Herwig Schäfer: Juristische Lehre und Forschung an der Reichsuniversität Straßburg 1941-1944, Tübingen 1999 (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, 23). 12) Karl August Eckhardt: Das Studium der Rechtswissenschaft, Hamburg 1935 (= Der deutsche Staat der Gegenwart, 11), S. 9. Zur Studienordnung siehe unten Kap. V.l.c). 13) Nach 1937 amtierte der Jurist Paul Ritterbusch als Rektor. Sein Bericht: Paul Ritterbusch: Die Entwicklung der Universität Kiel seit 1933. In: Kieler Blätter 1941, S. 5-23, hier bes. S. llf. Der Begriff u.a. bei einem der prononciertesten Gegner dieser .Richtung': Heinrich Lange: Die Entwicklung der Wissenschaft vom Bürgerlichen Recht seit 1933. Eine Privatrechtsgeschichte der neuesten Zeit, Tübingen 1941 (= Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart, 128), S. 11 u. passim.
1. Die
Institutionalisierung in der Rechtswissenschaft
169
Einfluß ehemaliger Kieler Professoren zu bemerken, die in der Zwischenzeit an anderen Universitäten lehrten, aber ihre früheren Verbindungen nutzten und nach wie vor wissenschaftspolitisch einflußreich agierten14). An der Juristischen Fakultät in Kiel waren die Voraussetzungen für einen personellen Neuanfang im Sinne des Nationalsozialismus besonders günstig. Denn hier gab es erstens einen sehr hohen Anteil jüdischer Juristen, die nach den NS-Rassegesetzen aus dem Dienst entlassen wurden15), und zweitens war man sich besonderer Fürsorge der NS-Kultusverwaltung sicher, weil in ihr der frühere Kieler Rechtshistoriker Karl August Eckhardt wirkte. Karl August Eckhardt war bereits 1928 im Alter von 27 Jahren auf den Kieler Lehrstuhl für Rechtsgeschichte, Bürgerliches Recht und Handelsrecht berufen worden16). Er hatte sich durch zahlreiche Veröffentlichungen und Editionen zu den mittelalterlichen Rechtsbüchern als ein allgemein anerkannter und ungemein produktiver Experte auf diesem Gebiet erwiesen17). 1930 wechselte er an die Handelshochschule Berlin, 1932 an die Universität Bonn. Seine Kontakte nach Kiel blieben auch nach seinem Weggang eng. Darüber hinaus hatte er in Berlin an derselben Hochschule wie Carl Schmitt gelehrt und in Bonn u. a. den jungen Staatsrechtler und Schmitt-Schüler Ernst Rudolf Huber kennengelernt. Im Frühjahr 1934 kehrte Eckhardt auf den Lehrstuhl für Deutsche Rechtsgeschichte nach Kiel zurück. Politisch hatte sich der Rechtshistoriker bei den Wahlen der Weimarer Zeit für die Deutschnationale Volkspartei oder die Deutsche Volkspartei entschieden, bevor er zum 1. März 1932 in die NSDAP eintrat.
Zum Komplex der .Kieler Schule': Jörn Eckert: Was war die Kieler Schule? In: Franz Säcker (Hg.), Recht und Rechtslehre im Nationalsozialismus. Ringvorlesung der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, BadenBaden 1992 (= Kieler Rechtswissenschaftliche Abhandlungen, NF 1), S. 37-70; Ralf Walkenhaus: Gab es eine „Kieler Schule"? Die Kieler Grenzlanduniversität und das Konzept der „politischen Wissenschaften" im Dritten Reich. In: Wilhelm Bleek/Hans J. Lietzmann (Hg.), Schulen der deutschen Politikwissenschaft, Opladen 1999, S. 159-182. Ältere Studien zu Kiel: Erich Döhring: Geschichte der Christian-Albrechts-Universität Kiel 1665-1965. Bd. 3, Tl. 1: Geschichte der juristischen Fakultät 1665-1965, Neumünster 1965, S.201-220; Karl Dietrich Erdmann: Wissenschaft im Dritten Reich. In: ders., Geschichte, Politik und Pädagogik. Aufsätze und Reden. Zum 60. Geburtstag, Stuttgart 1970, S. 325-340 [zuerst Kiel 1967]. 15) Heiber, Universität, Bd. 2,2 (1994), S.406, erwähnt diese Wahrnehmung des Betriebswirtschaftlers Martin Lohmann. Hans Hattenhauer stellt fest, daß sich in Kiel diejenigen bekannten Juristen gesammelt hätten, die anderswo nicht unterzubringen waren. Hans Hattenhauer: Einleitung. In: ders. (Hg.), Rechtswissenschaft im NS-Staat. Der Fall Eugen Wohlhaupter, Heidelberg 1987 (= Motive Texte Materialien, 45), S. 1^10, hier S. 9. 16) Biographisch ausführlich: Hermann Nehlsen: Karl August Eckhardt t. In: ZRG/GA 104 (1987), S. 497-536. Dazu ergänzend: Hermann Krause: Karl August Eckhardt. In: DA 35 (1979), S. 1-16; Heiber, Frank (1966), S. 857-890, 928-930; zuletzt: Lösch, Geist (1999), S. 405^126, 440-447. 17) Nehlsen, Eckhardt (1987), S. 502: „Kein Germanist seiner Generation war in der Weimarer Zeit so erfolgreich wie Eckhardt."
14)
Jürgen
-
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170
V.
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
verfügte durch seine Bekanntschaft mit Carl Schmitt und seine Mitgliedschaft in der SS seit Oktober 1933 über exzellente Kontakte nach Eckhardt
Berlin, ehe er seit dem 1. Oktober 1934 als für Geschichts- und Rechtswissen-
zuständiger Referent im Reichserziehungsministerium wirkte18). Das wissenschaftspolitische Netzwerk Eckhardts funktionierte bereits vor der
schaft
Machtübernahme der Nationalsozialisten. Denn seit spätestens 1932 war der Rechtshistoriker für seine Kollegen in Bonn und Berlin ein wichtiger Ansprechpartner in Berufungsangelegenheiten19). Dies betraf auch und in ganz besonderem Maße seine frühere Wirkungsstätte Kiel. Die Juristische Fakultät in Kiel wurde in den ersten Wochen nach der Machtübernahme entschlossen gleichgeschaltet. Der Unterstützung der Studentenschaft konnte man sich bei allen Maßnahmen gewiß sein, denn bereits seit 1930 besaß der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund die Mehrheit in den studentischen Gremien der norddeutschen Hochschule. Anfang Februar 1933 wurde ein Hörerstreik durchgeführt, der sich mit massiven Verleumdungen gegen die „zu 80 Prozent verjudete Professorenschaft" richtete20). Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933 bot die Handhabe für eine „Reinigung" des Lehrkörpers von jüdischen oder politisch „unzuverlässigen" Hochschullehrern. Bei den Kieler Juristen wurde man schnell fündig. Bereits am 13. April erfolgte die Beurlaubung von Hermann Kantorowicz, am 25. April wurden Gerhart Husserl, Otto Opet, Karl Rauch und Walther Schücking vorläufig von ihrem Lehramt entbunden21). Doch damit nicht genug: Hans von Hentig wechselte nach Bonn, Heinrich Hoeniger nach Frankfurt, Fritz Poetzsch-Heffter nach Leipzig, und Werner Wedemeyer wurde vorzeitig emeritiert. Von zehn juristischen Lehrstuhlinhabern lehrte allein der Völkerrechtler Walther Schoenborn nach 1935 noch in Kiel22). Diese Vakanzen sollten planmäßig durch die Berufung jüngerer und vor allem politisch zuverlässiger Juristen ausgeglichen werden. Für Kiel bedeutete dies die Neubesetzung der wichtigsten drei Lehrstühle noch im April 1933. Die Schlüsselposition zur Durchführung dieser Maßnahme bekleidete im preußischen Kultusministerium der Referent Wilhelm Ahlmann23). Zunächst
18) Ebd., S. 502-520; Heiber, Frank (1966), S. 857-860, 880f. 19) Dies zeigt die im NL Eckhardt (FA Eckhardt) überlieferte Korrespondenz, z. B.
mit dem Zivil- und Handelsrechtler Paul Gieseke, der von 1924 bis 1934 an der Handelshochschule Berlin lehrte. Ich danke Albrecht Eckhardt, Oldenburg, für die Möglichkeit, den im Privatbesitz befindlichen Nachlaß seines Vaters auswerten zu dürfen. 20) Schleswig-Holsteinische Volkszeitung vom 13.2.1933, zit. nach Eckert, Kieler Schule (1992), S. 43. Siehe auch ebd., S. 4L 21) GStA Berlin, Rep. 76 V a, Sekt. 9, Tit. 4, Nr. 4, Bd. 7, fol. 395. 22) Ebd. Eckert, Kieler Schule (1992), S.44f. Nach Edward Yarnall Hartshorne: The German Universities and National Socialism, London 1937, S. 94, wurden bis 1936 12,1 % aller Kieler Lehrenden entlassen. 23) GStA Berlin, Rep. 76 V a, Sekt. 9, Tit. 4, Nr. 4, Bd. 7, fol. 398, 413 (zu Huber), Bd. 8, fol. 19-30 (Eckhardt, Larenz, Huber, Bente); BA Berlin, R 4901, Nr. 1872/4 (Reichserziehungsministerium an Universitätskurator Kiel). Zu einem eindringlichen Gespräch des
1. Die
171
Institutionalisierung in der Rechtswissenschaft
wurden Lehraufträge vergeben, die rückwirkend zum 1. August 1933 und damit rechtzeitig zum Wintersemester in Ordinariate umgewandelt wurden. Davon profitierten zunächst der Strafrechtler Georg Dahm, der Rechtsphilosoph Karl Larenz und der Staatsrechtler Ernst Rudolf Huber. Später traten die Neuberufungen von Karl Michaelis, Paul Ritterbusch, Friedrich Schaffstein und Wolfgang Siebert hinzu. Sie bildeten eine Arbeitsgemeinschaft zum Aufbau einer „Neuen Rechtswissenschaft". Ein Referent im Reichserziehungsministerium teilte auf Anfrage mit, „daß die Neuberufungen an die Juristische Fakultät Kiel von uns unter einheitlichem Gesichtspunkt durchgeführt wurden, daß also die einzelnen Dozenten wenn ich so sagen darf aufeinander abgestimmt sind. Diese neugebildete Fakultät stellt einen ersten Versuch dar, mit einer Gruppe'junger Dozenten die neuen Aufgaben an der Hochschule zu lösen"24). Und Karl August Eckhardt berichtete, man wolle „unserem jungen Nachwuchs" die Gelegenheit geben, „an einer kleinen Universität und unbeschwert von alter wissenschaftlicher Tradition kämpferisch zu wirken und grundlegend Neues zu gestalten"25). Zwar gab es eine gemeinsame nationalsozialistische Grundüberzeugung, vor allem das Theorem des „konkreten Ordnungsdenkens"26), schließlich gemeinschaftsstiftende und Gruppenidentität erzeugende Dozentenlager, wie insbesondere dasjenige in Kitzeberg bei Kiel im Mai 193527). Aber die Zu-
-
einflußreichen Hilfsreferenten Ahlmann mit den drei neuen Ordinarien, das Karl Larenz in späteren Briefen an Erdmann und Dreier schilderte: Erdmann, Wissenschaft (1967), S. 335, Anm. 18; Horst Dreier: Karl Larenz über seine Haltung im „Dritten Reich". In: JZ 48 (1993), S. 454-457. Kritisch dazu: Josef Kokert: Briefe, die Geschichte schreiben Karl Larenz und die nationalsozialistische Zeit. In: ZNR 18 (1996), S. 23^43. Larenz berichtete, Ahlmann habe angeblich die neu ernannten Kieler Professoren ermahnt, die Nationalsozialisten „auf einen vernünftigen Weg zu bringen". Dreier, Larenz (1993), S. 456 (Zitat aus einem Brief Larenz' vom 15.2.1987). Zur Person: Ralf Frassek: Von der „völkischen Lebensordnung" zum Recht. Die Umsetzung weltanschaulicher Programmatik in den schuldrechtlichen Schriften von Karl Larenz (1903-1993), Baden-Baden 1993 (= Funda-
menta
24)
Jurídica, 29).
GStA Berlin, Rep. 76 V a, Sekt. 9, Tit. 4, Nr. 4, Bd. 8, fol. 55 (Achelis an den bayerischen Ministerialrat Müller, 16.9.1933). Anlaß war eine Anfrage wegen der gewünschten Berufung Eckhardts nach München. Konkurrierend zu Kiel planten auch die Juristen in Leipzig, „die alten verkalkten Dozenten zu eliminieren und eine Nationalsozialistische Hochburg zu errichten." Ebd., fol. 107 (Kultusminister Thierack an Rust, 30.1.1934). 25) Ebd., fol. 237-238 (an den sächsischen Ministerialrat Studentkowski, 9.11.1934). Rit-
terbusch meinte 1941, man habe eine „Fakultät aus den besten Kräften der jungen Rechtswissenschaft neugebildet, in einer geistigen Geschlossenheit und Homogenität, wie sie keine andere deutsche Fakultät aufweisen konnte". Ritterbusch, Entwicklung (1941), S. 11. 26) E.[rnst]-W.[olfgang] Böckenförde: Ordnungsdenken, konkretes. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg.v. Joachim Ä/ffer/Karlfried Gründer, Bd. 6, Darmstadt 1984, Sp. 1312-1315. Zur ideen- und wirkungsgeschichtlichen Rolle des konkreten Ordnungsdenkens: Raphael, Ordnungsdenken (2001), S. 15-17. 27) Franz Wieacker: Das Kitzeberger Lager junger Rechtslehrer. In: Deutsche Rechtswissenschaft 1 (1936), S. 74-80. Dazu: Bernd Rüthers: Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, München 1988, S. 42^18.
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V.
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
sammenarbeit war nicht schulbildend im akademisch-generationellen Sinne, als daß der Begriff der ,Schule' anwendbar wäre28). Auf Dauer blieb eine enge Verbundenheit der Kieler, die selbst Hochschulwechsel und Krieg über-
stand29).
Neben den einflußreichen Ministerialreferenten Ahlmann und Eckhardt stand in den Anfangsjahren der NS-Herrschaft noch eine andere mächtige Figur hinter vielen wissenschaftspolitisch wegweisenden Personalentscheidungen in der Rechtswissenschaft: der Berliner Staatsrechtler Carl Schmitt. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 ließ Schmitt in die Rolle des staatsrechtlichen „Kronjuristen" hineinwachsen. In seinem Gefolge gelang es zudem einem intellektuellen Schülerkreis jüngerer Wissenschaftler, die Professuren entlassener oder emigrierter Hochschullehrer zu übernehmen. Verfassungsgeschichte betrieben vor allem zwei von ihnen: Ernst Rudolf Huber und Ernst Forsthoff erhielten bereits mit dreißig Jahren die Lehrstühle von Walther Schücking in Kiel und Hermann Heller in Frankfurt. Mit der deutschen Verfassungsgeschichtsschreibung hat sich von den Kieler juristischen Hochschullehrern Ernst Rudolf Huber beschäftigt. Doch diesen Zweig seiner Wirksamkeit entfaltete er erst seit Mitte der dreißiger Jahre. Das Jahr 1933 bedeutete für ihn gleichwohl eine entscheidende Zäsur, weil sich in ihm der Aufstieg zur Professur vollzog. Dies erlaubte ihm fortan, die von ihm bevorzugten Themengebiete, wie z.B. die deutsche Verfassungsgeschichte, durch seine Aktivitäten in Lehre, Forschung und Wissenschaftspolitik besonders zu fördern.
b) Der Aufstieg des Verfassungshistorikers Ernst Rudolf Huber Mit Ernst Rudolf Huber rückte ein Dozent in die Riege der Hochschullehrer auf, der sich bereits vor 1933 als Verfassungs-, Kirchen- und Wirtschaftsrechtler einen Namen gemacht hatte. Im Alter von dreißig Jahren erhielt er einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Wirtschafts- und Arbeitsrecht in Kiel30). In
28)
So überzeugend Walkenhaus, Kieler Schule (1999), S. 179. Geplant war „eine Verschmelzung der Fakultät zu einem politisch und weltanschaulich homogenen Ganzen"; deshalb wurden andersdenkende Professoren, wie z.B. Fritz von Hippel, für Kiel abgelehnt. GStA Berlin, Rep. 76 V a, Sekt. 9, Tit. 4, Nr. 4, Bd. 8, fol. 132-136 (Predöhl an Rust, 17.4.1934). 29) Nur zwei Beispiele dafür bei Huber, der allerdings nicht von einer Schule, sondern vorsichtiger nur von einer Richtung spricht: Er betont die Zusammengehörigkeit der Kieler beim Aufbau der Straßburger Fakultät 1941. Ernst Rudolf Huber: Rechts- und Staatswissenschaften. In: Die Bewegung 9 (1941), H. 48/49, S. 7. Noch 1988 hob er die „alte Verbindung" zum Kieler Staatsrechtler Walther Schoenborn hervor, die „auch nach dem Krieg" fortbestanden habe. Claus-Nis Martens: Walther Schoenborn (1883-1956). Ein Staatsrechtler in den verfassungsrechtlichen Epochen unseres Jahrhunderts, Frankfurt a.M. usw. 1990 (= Europäische Hochschulschriften, 2, 965), S. 109 (Brief Hubers an Edzard Schmidt-Jortzig vom 19.4.1988). 30) GStA Berlin, Rep. 76 V a, Sekt. 9, Tit. 4, Nr. 4, Bd. 8, fol. 78-81 (28.10.1933).
1. Die
Institutionalisierung in der Rechtswissenschaft
173
der Folgezeit avancierte er zu einem der führenden Staatsrechtler des ,Dritten Reichs'. Seit Mitte der dreißiger Jahre beschäftigte sich Huber mit der deutschen Verfassungsgeschichte. Die seitdem entstehenden umfangreichen Arbeiten haben ihn für die Entwicklung der deutschen Verfassungsgeschichtsschreibung im 20. Jahrhundert zu einer der zentralen Persönlichkeiten werden lassen. Ernst Rudolf Huber wurde am 8. Juni 1903 in Oberstein an der Nahe, heute Idar-Oberstein, geboren31). Der Sohn eines mittelständischen Kaufmanns evangelischer Konfession aus dem oldenburgischen Fürstentum Birkenfeld studierte seit 1921 an den Universitäten in Tübingen, München und Bonn, zunächst Literatur und Philosophie, dann Nationalökonomie, schließlich Jura. In Bonn wurde er 1926 mit einer Arbeit über „Die Garantie der kirchlichen Vermögensrechte in der Weimarer Verfassung" bei Carl Schmitt promoviert32). Es folgten das Referendarexamen und ab 1928 eine fünfjährige Assistentenzeit am Industrierechtlichen Seminar des Wirtschaftsjuristen Heinrich Göppert in Bonn. Dort habilitierte sich Huber 1931 mit einer Monographie
31)
Hubers Lebensweg ist in zahlreichen Artikeln und Nachrufen skizziert. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Ernst Rudolf Huber zum 70. Geburtstag. In: AÖR 98 (1973), S. 255-259; Grothe, Angelegenheit (1999), S.983f; F.[lorian] Herrmann: Huber, Ernst Rudolf. In: Stolleis, Juristen (1995), S. 297f.; Hans H. Klein: Zum Gedenken an Ernst Rudolf Huber (1903 bis 1990). In: AÖR 116 (1991), S. 112-119; Reinhard Mußgnug: Nachruf Ernst Rudolf Huber. In: DÖV 44 (1991), S. 243-245; Werner v. Simson: Ernst Rudolf Huber t. In: NJW 44 (1991), S. 893f; Christian Starck: Ernst Rudolf Huber. 18. Juni 1903 28. Oktober 1990. In: Jb. der Akademie der Wissenschaften in Göttingen für das Jahr 1991, Göttingen 1992, S. 232-243. Monographisch zum Werk: Walkenhaus, Staatsdenken (1997), S. 11-13, zum Lebensweg; Norpoth, Norm (1998). Eine SpezialStudie: Max-Emanuel Geis: Kulturstaat und kulturelle Freiheit. Eine Untersuchung des Kulturstaatskonzepts von Ernst Rudolf Huber aus verfassungsrechtlicher Sicht, Baden-Baden 1990; Ralf Walkenhaus: Totalität als Anpassungskategorie. Eine Momentaufnahme der Denkentwicklung von Carl Schmitt und Ernst Rudolf Huber. In: ifers./Alfons Söllner/Karm Wieland (Hg.), Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997, S. 77-104. Ein bis 1973 reichendes Schriftenverzeichnis bei: Tula Huber-SimonslAlbrecht Huber: Bibliographie der Veröffentlichungen von Ernst Rudolf Huber. In: Ernst ForsthofffWemer WeberfFranz Wieacker (Hg.), Festschrift für Ernst Rudolf Huber zum 70. Geburtstag am 8. Juni 1973, Göttingen 1973 (= Göttinger rechtswissenschaftliche Studien, 88), S. 385416. Eine umfassende Biographie Hubers ist ohne Zweifel ein Desiderat. Der NL Huber im B A Koblenz (N 1505) enthält mit wenigen Ausnahmen (darunter: 1 Bd. Personalia, 3 Bde. Manuskript „Deutsches Staatsdenken von Leibniz bis Hegel", 1 Bd. Deutsche Verfassungsgeschichte: „Germanische Frühzeit", 1 Bd. Briefwechsel mit Carl Schmitt) nur Materialien nach 1944/45. Der Rest ist offenbar auf der Flucht in Straßburg -
zurückgeblieben.
32)
Ernst Rudolf Huber: Die Garantie der kirchlichen Vermögensrechte in der Weimarer Verfassung. Zwei Abhandlungen zum Problem der Auseinandersetzung von Staat und Kirche, Tübingen 1927. Es folgte: ders.: Verträge zwischen Staat und Kirche im Deutschen Reich, Breslau 1930 (= Abhandlungen aus dem Staats- und Verwaltungsrecht sowie aus dem Völkerrecht. 44). Siehe dazu Walkenhaus, Staatsdenken (1997), S. 45-56. Zu den staatskirchenrechtlichen Ansichten Hubers nach 1933: Jörg Winter: Die Wissenschaft vom Staatskirchenrecht im Dritten Reich, Frankfurt a. M. usw. 1979 (= Europäische Hochschulschriften, 2,212), bes. S. 195-216.
174
V
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
über das „Wirtschaftsverwaltungsrecht", einem neuen Rechtszweig an der Schnittstelle von Staat und Wirtschaft33). Lebensweg und Lebensleistung standen nicht nur für Huber, sondern generell für die Angehörigen seiner Generation in besonders enger Wechselbeziehung. Ein ausgeprägtes Krisenempfinden und dessen Rückwirkungen auf den Verfassungsbegriff hat Huber später beschrieben: „Wir bald nach der Jahrhundertwende Geborenen sind in Verfassungskrisen [seit den Reichstagswahlen von 1912, E.G.], in Verfassungskonflikten, im Verfassungsumsturz, in mühsamem Verfassungsneubeginn und bald in neuen Verfassungskrisen aufgewachsen. Wir haben .Verfassung' nicht als gesicherte normative schutzgewährende Ordnung, sondern als einen gefährdeten, umstrittenen, schutzbedürftigen, aber auch reformbedürftigen Gesamtzustand erlebt. [...] [D]ie Verfassung war für unsere Generation ein Stück konkret erlebter Wirklichkeit."34) Diese Wahrnehmung der Verfassung als potentiell bedrohter normativer Ordnung spiegelte sich in einem „existentiellen, auf Wirklichkeit und Wert bezogenen Staats- und Verfassungsdenken" wider. Die Methode des staatsrechtlichen Positivismus mit ihrem Postulat der unpolitischen Wertneutralität erschien dagegen überlebt. Dadurch werde „die Verfassung auf ein normatives Legalitätssystem reduziert, statt sie als einen Inbegriff .wirklicher Fundamentalprinzipien' von ,überlegaler Würde' in das Bewußtsein zu heben" und sie damit „anschaubar und erlebbar" zu machen35). An anderer Stelle schrieb Huber rückblickend über seine Erfahrungen in den zwanziger Jahren, die er als eine „anhaltende europäische und zugleich innere Krisenzeit" empfunden habe. „Die ersten Nachkriegsjahre waren erfüllt von äußerer Bedrückung, von inneren Not- und Gewaltzuständen und
33)
Ernst Rudolf Huber: Wirtschaftsverwaltungsrecht. Institutionen des öffentlichen Arbeits- und Unternehmensrechts, Tübingen 1932. Einflußreich war auch sein erweitert veröffentlichter Habilitationsvortrag: ders.: Das Deutsche Reich als Wirtschaftsstaat, Tübingen 1931 (= Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart, 85). Siehe dazu Walkenhaus, Staatsdenken (1997), S. 57-77, sowie Clemens Zacher: Die Entstehung des Wirtschaftsrechts in Deutschland. Wirtschaftsrecht, Wirtschaftsverwaltungsrecht und Wirtschafts Verfassung in der Rechtswissenschaft der Weimarer Republik, Berlin 2002 (= Schriften zum Wirtschaftsrecht, 153), bes. S. 164f„ 263-291. Zu den Bonner Jahren Hubers mit Auswertung der dortigen Personalakte: Matthias Maetschke: Ernst Rudolf Huber. Im Schatten Carl Schmitts Ernst Rudolf Hubers Bonner Jahre 1924-1933. In: Mathias Schmoeckel (Hg.), Die Juristen der Universität Bonn im „Dritten Reich", Köln usw. 2004 (= Rechtsgeschichtliche Schriften, 18), S. 368-386. Zur Habilitation mit den Gutachtern Göppert und Johannes Heckel: ebd., S. 375-380. 34) Huber, Verfassungswirklichkeit (1980), S. 134. 35) Ebd., S. 131, 134. Interessant ist, daß Schmitt, dem Huber diesen Aufsatz zuschickte, keineswegs mit der Deutung einverstanden war, er habe die führende Rolle unter den deutschen Staatsrechtlern der Zeit eingenommen. Dieses Abschieben der Verantwortung der „damals Jungen" (ebd., S. 131) auf ihn bezeichnete er in einem kurzen Kommentar als „vergifteten Liebesgruß". Zit. nach Blasius, Schmitt (2001), S. 24. -
1. Die
Institutionalisierung in der Rechtswissenschaft
175
den zu ihrer Überwindung bestimmten Notmaßnahmen."36) Huber zählte „Generation der Sachlichkeit", wie sie Detlev Peukert und Ulrich Herbert beschrieben haben37). Zu dem Generationsstil dieser sogenannten Kriegsjugendgeneration, der zwischen 1900 und 1910 Geborenen, gehörten Krisenervon
zur
fahrung und Wertewandel, die für eine republikfeindliche Haltung ideologisch präformierten38). Er sei „enttäuscht" gewesen „von der parlamentarischen Demokratie des Weimarer Stils", gab Huber kurz nach 1945 zu Protokoll39). Ein Vertrauen in die „überlegale Würde" der Weimarer Verfassung konnte auf der Basis von Mißtrauen gegenüber einem krisengeschüttelten Staat und der demoralisierenden und demütigenden Wirkung des Versailler Vertrages nicht wachsen. Die Angehörigen dieser Generation waren tief-greifend verunsichert und orientierten sich bei ihrer Suche nach persönlichem Halt und einer verläßlichen staatlichen Ordnung zumindest nicht primär an den Weimarer Institutionen und Organisationen, geschweige denn an den prorepubli-
kanischen Verbänden und Parteien. Die Staatskrise konnte aus ihrer Sicht nur durch den Appell an eine starke autoritäre Führung überwunden werden. Huber engagierte sich seit seiner Schulzeit in der Jugendbewegung und gehörte zu den Gründungsmitgliedern des völkisch orientierten Nerother Wandervogels40). Elitegedanken und Männerkult, Nationalismus und politischer Protestantismus hießen die wirksamen Einflüsse der Studienjahre und Assistentenzeit. Besonders seine Herkunft aus der linksrheinischen oldenburgischen Exklave Birkenfeld und seine Bonner Studienzeit in dem Anfang der
36)
Ernst Rudolf Huber: Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit. In: HelQuaritsch (Hg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt. Vorträge und Diskussionsbeiträge des 28. Sonderseminars 1986 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 1988 (= Schriftenreihe der Hochschule Speyer, 102), S. 33-50, hier S. 34. 37) Herbert, Generation der Sachlichkeit (1991); Detlev J.K. Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a.M. 1987 (= Neue Historische Bibliothek), bes. S. 94-100. 38) Zum Generationenkonzept in Anwendung auf Historiker: Schulin, Weltkriegserfahrung (1997). Generell: Ulrich Herbert: Drei politische Generationen im 20. Jahrhundert. In: Reulecke, Generationalität (2003), S. 95-114, hier S. 97-102. Ein konkretes Beispiel für einen Historiker des Jahrgangs 1902 bietet Herbert Grundmann. Zu ihm: Anne Christine Nagel: „Mit dem Herzen, dem Willen und dem Verstand dabei". Herbert Grundmann und der Nationalsozialismus. In: Lehmann/Oexle, Nationalsozialismus (2004), S. 593-618. 39) Aus einem auf das Jahr 1947 zu datierenden, 19seitigen Exposé Hubers im NL Rudolf Smend sen. (im folgenden zit. als: Exposé Huber), das mir freundlicherweise von Michael Stolleis zur Verfügung gestellt wurde. Zu dem Dokument ausführlich unten mut
Kap.VI.l.b).
40)
Nähere Informationen dazu bei Werner Kindt (Hg.): Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit. Quellenschriften. Mit einem Nachwort von Hans Raupach, Düsseldorf/Köln 1974 (= Dokumentation der Jugendbewegung, 3), S. 211-224; Rudolf Kneip: Jugend der Weimarer Zeit. Handbuch der Jugendverbände 1919-1938, Frankfurt a.M. 1974 (= Quellen und Beiträge zur Geschichte der Jugendbewegung, 11), S. 190-192. Briefliche Auskunft von Tula Huber-Simons an Ralf Walkenhaus, 7.9.1994. BA Koblenz, N 1505, Nr. 554.
176
V
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
Jahre französisch besetzten Rheinland prägten ihn politisch und wissenschaftlich41). Der Kreis der Bonner Schüler von Carl Schmitt pflegte einen engen Gedankenaustausch. Mit Ernst Forsthoff, Ernst Friesenhahn, Karl Lohmann und Werner Weber verbanden Huber zeitlebens persönliche Freundschaften, die neben dem vertrauten wissenschaftlichen Austausch auf
zwanziger
einem weitgehenden politischen Konsens beruhten42). In den regelmäßigen Beiträgen Hubers zu völkischen Zeitschriften kam eine nationalkonservative Haltung zum Ausdruck. Er veröffentlichte zwischen 1930 und 1932 über sechzig publizistische und populärwissenschaftliche Kurzanalysen und Kommentare zu Politik und Zeitgeschehen43). Darin wurde die politische Lage der Weimarer Republik als wenig aussichtsreich charakterisiert. Der Reichstag sei „arbeitsunfähig"44) durch den zerstörerischen Pluralismus der Parteien; er habe seine „repräsentative Funktion" verloren. Es bedürfe seiner „vorübergehenden völligen Ausschaltung" und einer deutlichen Stärkung der exekutiven Gewalt, um ihn „aus dem Sumpf der Interessenwirtschaft zur Würde eines Repräsentanten der Nation zu erheben"45). Huber sah in der untergegangenen konstitutionellen Monarchie, in welcher der Kaiser und die Exekutive als neutrale Gewalten zum Wohl des Volkes agiert hätten, die Möglichkeit einer wahren Repräsentation des Volkswillens.
seine Äußerungen im Brief an Carl Schmitt, 21.2.1940. HStA Düsseldorf, NL Schmitt, RW 265, Nr. 6270. Vgl. auch Exposé Huber, S. If. Weiterhin, autobiographisch ge-
41) Vgl.
an seinen Schwiegervater: Ernst Rudolf Huber: Walter Simons 1861-1937. In: Wuppertaler Biographien. 9. Folge, Wuppertal 1970 (= Beiträge zur Geschichte und Heimatkunde des Wuppertals, 17), S. 61-79, hier S. 71f. Siehe auch den Brief von Tula Huber-Simons an den Verfasser vom 2.7.1997. 42) Huber, Schmitt (1988), S. 35. Er widmete Ernst Forsthoff Bd. 4 und Ernst Friesenhahn „im Gedenken an die gemeinsamen Bonner Jahre" Bd. 6 seiner „Deutschen Verfassungsgeschichte", ders., Verfassungsgeschichte, Bd. 6 (1981 ), S. V. Lohmann sandte er zahlreiche Publikationen mit persönlichen Widmungen. Außerdem veröffentlichte er Beiträge in den Festschriften für Forsthoff und Weber. 43) Huber-SimonslHuber, Bibliographie (1973), S. 389-392. Eine zusammenfassende Kurzanalyse bietet: Dieter Grimm: Der Akteur als Historiker. Zum Abschluß von Hubers Deutscher Verfassungsgeschichte. In: RJ 5 (1986), S. 83-90. Konzis: Walkenhaus, Staatsdenken (1997), S. 88-97. Zur jungkonservativen Publizistik im Geiste Carl Schmitts: Breuer, Ordnungen (2001), S. 132f.; Berthold Petzinna: Erziehung zum deutschen Lebensstil. Ursprung und Entwicklung des jungkonservativen „Ring"-Kreises 1918-1933, Berlin 2000, S.256, 261. Vgl. Heinrich Keßler: Wilhelm Stapel als politischer Publizist. Ein Beitrag zur Geschichte des konservativen Nationalismus zwischen den beiden Weltkriegen, Nürnberg 1967. Hubers Aufsätze werden hier, S. 148, Anm. 3, als „gemäßigt-ständestaatlich orientiert" eingestuft. Die bibliographischen Angaben zu den einschlägigen Organen finden sich bei Armin Mohler: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932. Ein Handbuch. Darmstadt 41994, Hauptband, S.293. **) Ernst Rudolf Huber [unter dem Pseudonym Lothar Veeck]: Verfassungsnotstand. In: Deutsches Volkstum 14 (1932), S. 983f, hier S. 983. 45) Ernst Rudolf Huber [unter dem Pseudonym Manfred Wild]: Repräsentation. In: Der Ring 3 (1930), S. 545-547, hier S. 547.
prägt, eine Passage in den Erinnerungen
1. Die
Institutionalisierung in der Rechtswissenschaft
177
Die aktuelle Verfassungslage sei aussichtslos, meinte er Ende 1932, und bei drohender „dauernder Lähmung" der Staatsgewalt könne eine Lösung nur „jenseits der juristischen Ueberlegungen" liegen. Es stelle sich die „Frage nach der geschichtlichen Rechtfertigung eines Handelns, das den Boden der Verfassung verläßt, um das Reich zu erhalten"46). Die verfassungstheoretischen Überlegungen verwandelten sich Ende 1932 ins Verfassungspraktische47). Huber wurde durch Carl Schmitt zu den Verhandlungen am Leipziger Staatsgerichtshof über den sogenannten Preußenschlag von Reichskanzler Franz von Papen vom Juli 1932 hinzugezogen48). Gegen Ende der Weimarer Republik plädierten Schmitt und Huber für eine zeitweilige kommissarische Diktatur, die unter Durchbrechung der verfassungsmäßigen Legalität den Bestand des Staates und die Grundwerte des Volkes sichere. Systemwandel und Verfassungsumbau hießen die Rezepte ihres Krisenmanagements. Ziel war in jedem Fall kein demokratisches Gemeinwesen, sondern ein berufsständisch-bündischer Staat mit völkischer Ausrich-
tung49).
Während Huber Schmitt
vor
Gericht unterstützte und die beschriebenen
politischen Visionen gedanklich und publizistisch durchspielte, hatte der Bonauch in bewußter Absetzung von seinem akademischen ner Privatdozent -
46) Huberl[Veeck], Verfassungsnotstand (1932), S.984. Vgl.
Hubers geläuterte Ansichten in: Ernst Rudolf Huber: Zur Lehre vom Verfassungsnotstand in der Staatstheorie der Weimarer Zeit. In: Hans SchneiderlVolkmar Götz (Hg.), Im Dienst an Recht und Staat. FS für Werner Weber zum 70. Geburtstag dargebracht von Freunden, Schülern und Kollegen, Berlin 1974, S. 31-52. Wenig Beachtung findet in der Forschung die mit Huber gegen Schmitt argumentierende zeitgenössische Schrift von Otto Koellreutter: Volk und Staat in der Verfassungskrise, Berlin o.J. [1932], bes. S. 24,32. 47) So auch Walkenhaus, Totalität (1997), S. 85. 48) Dazu die in Ansätzen zur Schmitt-Apologetik neigenden Arbeiten von Lutz Berthold, Wolfram Pyta und Gabriel Seiberth, sowie mit deutlicher Distanz dazu: Blasius, Schmitt (2001). Zu Hubers praktischer Tätigkeit: ebd., S. 55-57, 68. Lutz Berthold: Carl Schmitt und der Staatsnotstandsplan am Ende der Weimarer Republik, Berlin 1999, bes. S. 32-35 (insgesamt oberflächlich zu den Erinnerungen Hubers); Wolfram Pyta: Verfassungsumbau, Staatsnotstand und Querfront: Schleichers Versuche zur Fernhaltung Hitlers von der Reichskanzlerschaft August 1932 bis Januar 1933. In: ders./Ludwig Richter (Hg.), Gestaltungskraft des Politischen. FS für Eberhard Kolb, Berlin 1998, S. 173-197; Gabriel Seiberth: Anwalt des Reiches. Carl Schmitt und der Prozeß „Preußen contra Reich" vor dem Staatsgerichtshof, Berlin 2001 (= Zeitgeschichtliche Forschungen, 12); ders.: Legalität oder Legitimität? „Preußenschlag" und Staatsnotstand als juristische Herausforderung für Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit. In: Piet Tommissen (Hg.), Schmittiana. Beiträge zu Leben und Werk Carl Schmitts. Bd. 7, Berlin 2001, S. 131-164. Siehe auch Maetschke, Huber (2004), S. 381-384. 49) So ist etwa das Argumentationsziel gegen die parlamentarischen Parteien in: Ernst Rudolf Huber [unter dem Pseudonym Friedrich Landeck]: Die deutschen Parteien. In: Deutsches Volkstum 14 (1932), S. 590f. In einem Brief an Carl Schmitt sprach er 1930 von einem „Ständestaat germanischer Prägung" (15.7.1930; HStA Düsseldorf, NL Schmitt, RW 265, Nr. 6249). Walkenhaus, Staatsdenken (1997), S. 98, konstatiert einen „autoritären Etatismus" bei Huber vor 1933.
178
V.
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
Lehrer zugleich sein eigenständiges wissenschaftliches Profil geschärft50). Innerhalb weniger Jahre erschienen Arbeiten zum Staatskirchenrecht, zum Wirtschaftsverwaltungsrecht sowie die im Rahmen der Reichskrise des Jahres 1932 publizierten Studien zum Staatsgerichtshof und zu den Grundrechten im Rahmen der Weimarer Verfassung51). Carl Schmitt empfahl den zu „seiner Jüngerschaft" gezählten Huber gegenüber dem Heidelberger Staatsrechtler Walter Jellinek als eine „der größten Hoffnungen und Potenzen unseres Faches" mit einer „ungewöhnlichen, durchaus originalen Produktivität"52). Bereits im Winter 1932/33 war der knapp Dreißigjährige für eine Berufung entweder als Nachfolger Schmitts an der Handelshochschule in Berlin oder an die Universität Königsberg im Gespräch53). Huber war somit alles andere als ein unbeschriebenes Blatt, als er im Mai 1933 einen Lehrauftrag in Kiel erhielt, der schließlich in die Berufung zum ordentlichen Professor mündete. Der NSDAP trat Huber zum 1. Mai 1933 bei54). Huber avancierte in seinen Kieler Jahren zwischen 1933 und 1937 zu einem der führenden Vertreter des Verfassungsrechts im .Dritten Reich'. 1934 und 1935 veröffentlichte er in der von Carl Schmitt betreuten Reihe „Der deutsche Staat der Gegenwart", die bei der Hanseatischen Verlagsanstalt erschien, zwei Broschüren über ,,[d]ie Gestalt des deutschen Sozialismus" und über „Wesen und Inhalt der politischen Verfassung"55). 1937 publizierte er in der -
50)
Ernst Rudolf Huber: Verfassung und Verfassungswirklichkeit bei Carl Schmitt. In: Blätter für Deutsche Philosophie 5 (1931/32), S. 302-315. Vgl. auch die spätere Kritik: ders.: „Positionen und Begriffe". Eine Auseinandersetzung mit Carl Schmitt. In: ZgStW 101 (1941), S. 144. Im Schriftverkehr der beiden kommt Hubers tiefe Verehrung für Schmitt mehr als einmal zum Ausdruck. So etwa in den Schreiben vom 30.5.1939 und 21.2.1940. HStA Düsseldorf, NL Schmitt, RW 265, Nr. 6269 und 6270. 51 Besondere ) Anerkennung, aber auch Kritik erfuhr: Ernst Rudolf Huber: Bedeutungswandel der Grundrechte. In: AÖR, NF 23 (1933), S. 1-98. 52) BA Koblenz. N 1242, Nr. 25 (30.12.1932). 53) FA Eckhardt. Gieseke an Eckhardt, 24.11.1932 u. 29.1.1933; Schmitt an Huber. 9.7.1932. BA Koblenz, N 1505, Nr. 198. 1931 gab es eine Anfrage für eine Vertretung in Köln. Ebd., Nr. 708 (27.10.1931). 54) BA Berlin, R 21, K. 10.009 Huber. Die Mitgliedsnummer lautete: 3.144.494. 55) Ernst Rudolf Huber. Die Gestalt des deutschen Sozialismus, Hamburg 1934 (= Der deutsche Staat der Gegenwart, 2); ders.: Wesen und Inhalt der politischen Verfassung, Hamburg 1935 (= Der deutsche Staat der Gegenwart, 16). Siehe die detailscharfe Studie von Siegfried Lokatis: Hanseatische Verlagsanstalt. Politisches Buchmarketing im „Dritten Reich". In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 38 (1992), S. 1-189. Zu der Reihe „Der deutsche Staat der Gegenwart", in der bis 1936 zwanzig Hefte erschienen: ebd., S. 52-59, sowie zur Broschürenliteratur dieser Jahre: Alfred Voigt. Die Staatsrechtslehrer und das Dritte Reich. Eine Auswahl. In: ZRGG 31 (1979), S. 195-202; Horst Dreier: Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus. In: Berichte und Diskussionen auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Leipzig vom 4. bis 6. Oktober 2000, Berlin/New York 2001 (= Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, 60), S. 9-72, hier S. 18, Anm. 44. Hubers „Deutscher Sozialismus" erreichte die stattliche Verkaufszahl von 1.800 Exemplaren. Lokatis, Hanseatische Verlagsanstalt, S. 54. Die Broschüre sei „zu Schulungszwecken geeignet", lobte die Buchkritik. H.G.: Rez. zu Ernst Rudolf Huber, Die Gestalt des deutschen Sozialismus. In: Deutsches Recht 5 (1935), S. 108.
1. Die
Institutionalisierung in der Rechtswissenschaft
179
ihm selbst mitherausgegebenen Reihe „Grundzüge der Rechts- und Wirtschaftswissenschaft" das maßgebliche Lehrbuch zum Staatsrecht des .Dritten Reichs' unter dem von der Studienordnung vorgegebenen schlichten Titel „Ver-
von
fassung". von
Für die zweite Auflage von 1939 wurde es nach dem „Anschluß" Österreich aktualisiert und erweitert als „Verfassungsrecht des Großdeut-
schen Reiches" veröffentlicht56). Hubers staatsrechtliches Hauptwerk bietet einen Überblick über das Verfassungsrecht des ,Dritten Reichs', wie er vorher nur selten, nachher nicht mehr in Angriff genommen wurde. In neun Abschnitten versucht er, Entstehung und Strukturen der „völkischen Verfassung" in sich schlüssig zu erläutern. Das ist selbstverständlich nicht ohne Kompromisse möglich, denn viele verfassungsrechtliche Maßnahmen der Nationalsozialisten gehorchten nicht der Systematik des bisherigen Staatsrechts und waren deshalb schwer einzuordnen. Huber gelingt trotzdem ein weitgehend abgerundetes Bild. Die Darstellung orientiert sich allein mit den Gliederungspunkten Volk, Führer und Bewegung konsequent an den ideologischen Vorgaben57). Von den Zeitgenossen wurde Hubers Grundrißband zum Verfassungsrecht sowohl als „aufschlußreicher Kommentar zur Zeitgeschichte" wie als gelungener Versuch, „die Verfassung des Dritten Reiches von einem einheitlichen Standpunkt aus zu schauen", gepriesen58). Das Urteil des „Reichsarbeitsblatts" von 1937 über Hubers Verfassungsstudie lautete: „Die den einzelnen Abschnitten vorangeschickten kurzen verfassungsgeschichtlichen Rückblicke erscheinen [...] besonders wertvoll"59). Das verwies bereits auf jenes Forschungsgebiet, dem sich Huber seit Mitte der dreißiger Jahre verstärkt zuwandte. Denn seitdem widmete er sich, von Schmitts Verfassungsbegriff aus-
56)
Ernst Rudolf Huber: Verfassung, Hamburg 1937 (= Grundzüge der Rechts- und Wirtschaftswissenschaft, A) [erweitert u. d. T.: Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, Hamburg 21939]. Huber war gemeinsam mit Georg Dahm und Karl August Eckhardt
Herausgeber der Reihe. Siehe dazu unten Kap. V.l.d). 57) Eine ausführliche Interpretation von Hubers „Verfassungsrecht"
führt in diesem
Zusammenhang zu weit. Vgl. statt dessen: Stolleis, Geschichte, Bd. 3 (1999), S. 348f. 58) [o.V.]: Leben und „Verfassung". Staatsrechtliche Grundlinien des Nationalsozialismus. In: Frankfurter Zeitung 81 (1937), Nr. 183/184 vom 11.4.1937, S.5; S.[tephan] Verosta. In: Zs. für Öffentliches Recht 19 (1939), S. 164-168. Weitere Rezensionen der ersten bzw. zweiten Auflage: Kieper. In: Deutsche Justiz 99 (1937), S. 1095f.; Werner Best. In: Deutsches Recht 10 (1940), S.676f; J.[ohannes] Heckel. In: KritV, NF 31 (1941), S. 245-264; H.[ans] Spanner. In: Zs. für Öffentliches Recht 20 (1940), S. 295-301. Kritisch dagegen: Wilhelm Merk. In: AÖR, NF 29 (1938), S. 99-114; Roger Bonnard: Constitution et administration du IIIe Reich allemand. In: Revue du droit public et de la science politique en France et à l'étranger 54 (1937), S. 603-617; [Eduard] His. In: Zs. für schweizerisches Recht, NF 56 (1937), S. 405-407; Hans Huber. In: Schweizerische Juristenzeitung 37 (1940/41), S. 238f. Hans Peters schrieb Huber anläßlich der Übersendung der zweiten Auflage am 26.7.1939, sein Buch sei „einzig dastehend in seiner Art". BA Koblenz, N 1220, Nr. 15.
59) Georg
Hartrodt: Rez.
zu
Ernst Rudolf Huber,
(Nichtamtlicher Teil), Jg. 1937, S. 129.
Verfassung.
In: Reichsarbeitsblatt II
180
V.
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
gehend, vor allem Studien zur Militärverfassungs- und zur Verfassungsideengeschichte60). Eine deutliche Akzentverschiebung vom staatsrechtlichen zum verfassungsgeschichtlichen Metier ist unverkennbar. Ein historisches Interesse hatte Huber bereits im Studium bei Johannes Haller und Adalbert Wahl in Tübingen sowie bei Hermann Oncken in München entwickelt. Wahl und Oncken war neben einem Interessenschwerpunkt in der politischen Geschichte eine verfassungshistorische Neigung eigen, die sich in ihren Arbeiten zur Parteiengeschichte zeigte61). Huber hatte bereits in seiner Erstlingsschrift zum Staatskirchenrecht auch einen kurzen historischen Abriß geboten62). 1932 beklagte er den Mangel an verfassungsgeschichtlichen Studien zur Staatsgerichtsbarkeit63). Und 1934 stellte er fest, daß es „heute notwendig" sei, „sich mit der Verfassungsgeschichte des ,zweiten Reiches' zu beschäftigen", um „aus den politischen und verfassungsgeschichtlichen Erfahrungen der Bismarckzeit etwas für die heutige Verfassungsgestaltung zu ler-
nen"64).
Was die staatstheoretische Grundlegung des Verfassungsbegriffs angeht, hatte Huber bereits Anfang der dreißiger Jahre den Dezisionismus seines Doktorvaters Schmitt als zu eng gefaßt kritisiert und auch dessen Verfassungsbegriff lediglich modifiziert übernommen. Die Verfassung sei nicht, wie bei Schmitt, die Entscheidung selbst, nicht der Entstehungsvorgang, sondern der daraus entstandene Zustand65). „Gegenstand einer wirklichen Verfassungstheorie [ist] gerade die Spannung [...], die zwischen der geltenden' Verfassung und den Erscheinungen der Verfassungswirklichkeit' besteht, daß also weder eine rein statische noch eine rein dynamische Betrachtung zu einer wirklichen Verfassungstheorie führt"66). Stärker als bei Schmitt kam in Hubers Verfassungslehre zudem eine vom Neuhegelianismus geprägte deutlichere Einbeziehung des Staates zum Tragen. Ende 1934 schrieb er seinem Mentor, „daß die Staatswissenschaft nicht zurückstehen wird, wenn der Staat selbst im nächsten Jahre in den entscheidenden Abschnitt des Kampfes eintritt." Schmitts Schriften hätten dafür „das Rüstzeug und die geistigen Losungsworte geliefert"67).
m) Monographisch:
Ernst Rudolf Huber: Heer und Staat in der deutschen Geschichte,
Hamburg 1938/21943. Dazu und zu den zahlreichen Aufsätzen siehe unten Kap. V.2.d). 61) Siehe oben Kap. III.2.a) und IV.l. 62) Huber, Garantie (1927), S. 1-6. 63) Brief von Tula Huber-Simons an den Verfasser vom 1.4.1997.
M)
Ernst Rudolf Huber: Rez. zu Fritz Demmler, Bismarcks Gedanken über Reichsführung. In: JW 63 (1934), Bd. 2, S. 1553. 65) Ders., Verfassung (1931/32), bes. S. 305. 66) Huber an Schmitt, 29.4.1931. HStA Düsseldorf, NL Schmitt, RW 265, Nr. 6250. Huber sah die Rezension der Schriften seines akademischen Lehrers zu Recht als „sehr heikle Aufgabe" an, die er „nicht ohne Einvernehmen mit Ihnen erledigen" wolle. Ein weiterer Brief zur Differenz im Hinblick auf den Verfassungsbegriff: Huber an Schmitt, 22.11.1931. Ebd., Nr. 6253. 67) Ebd., Nr. 6267 (30.12.1934).
1. Die
Institutionalisierung in der Rechtswissenschaft
181
Der Weg vom Verfassungsrecht zur Verfassungsgeschichte war für Huber nicht weit68). Ende 1934 intervenierte er bei Karl August Eckhardt für eine Einfügung der Verfassungsgeschichte in die neue Studienordnung69). Und kaum daß diese seit Januar 1935 in Geltung war, äußerte sich der Kieler Staatsrechtler selbst zur Bedeutung des neuen Grundlagenfachs „Verfassungsgeschichte". In der von ihm als Mitherausgeber gerade übernommenen traditionsreichen Tübinger „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft" veröffentlichte Huber einen programmatischen Aufsatz über „die deutsche Staatswissenschaft"70). Die neue Staatswissenschaft sei eine „Wissenschaft von der politischen Totalität" des Staates, eine „politische Wirklichkeitswissenschaft", deren Grundbegriff das Volk sei71). Zur Staatslehre gehöre „als erstes Stück" die Verfassungsgeschichte. Indem sie „die Kräfte und die Formen des vergangenen Seins erforscht, [sei sie][...] für eine gegenwartsnahe Staatswissenschaft unentbehrlich"72). Carl Schmitt war begeistert über Hubers Darlegungen, die „eine ausgezeichnete Generalstabskarte für die künftige Arbeit"
darstellten73).
Huber hatte nach etwa einem Jahr in Kiel einen
so
guten Stand, daß
er
programmatisch und wissenschaftspolitisch, zumal in seiner Funktion als zeitweiliger Dekan, eine gewichtige Stimme besaß. Er war, so urteilte die Reichsstudentenführung, „durch die Sauberkeit und Klarheit seiner politischen Haltung den Kieler Studenten zum kaum ersetzbaren Lehrer geworden"74). In den folgenden Jahren setzte er sich mit voller Kraft für den Aufbau einer juristischen Arbeitsgemeinschaft ein, der er mit seinen staatsrechtlichen Veröffentlichungen einen spezifischen Stempel aufdrücken wollte. Mit der Bedes Strafrechtlers Friedrich Schaffstein und des Zivilrechtlers Karl Michaelis in den Jahren 1934/35 wurde die Kieler Rechtswissenschaft aus Hubers Sicht optimal vervollständigt. Er selbst hatte mit Unterstützung durch Carl Schmitt entscheidenden Anteil daran, daß Kiel sich durch die Neuberufungen „immer mehr zu einer geschlossenen Kameradschaft" entwickelte75).
rufung
68)
Noch bevor 1937 sein „Verfassungsrecht" und seine erste dezidiert verfassungshistorische Schrift über Dahlmann erschienen, bezeichnete sich Huber selbst als „Verfassungshistoriker" (an Schmitt, 28.9.1935). BA Koblenz, N 1505, Nr. 198. 69) Siehe unten Kap. V.l.c). 70) Ernst Rudolf Huber: Die deutsche Staatswissenschaft. In: ZgStW 95 (1935), S. 1-65. Kritik an der „Doppeldeutigkeit" des Staatsbegriffs in diesem Aufsatz bei Gottfried Neeße: Verfassungsrechtliches Schrifttum. In: ZgStW 96 (1936), S. 388403, hier S. 397-399. Zu Hubers Herausgeberschaft siehe unten Kap. V.l.d). 71) Huber, Staatswissenschaft (1935), S. 1,28. 72) Ebd., S. 50. 73) BA Koblenz, N 1505, Nr. 198 (1.12.1934). 74) Zit. nach Heiber, Universität, Bd. 2,2 (1994), S. 407. 75) GStA Berlin, Rep. 76 V a, Sekt. 9, Tit. 4, Nr. 4, Bd. 8, fol. 251 (an das preußische Kultusministerium, 24.10.1934). Vgl. den Briefwechsel Huber-Schmitt in BA Koblenz, N 1505, Nr. 198.
182
V
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
Die Kieler Arbeitsgemeinschaft bestand in ihrem Kern allerdings nur wenige Jahre. Seit 1936 mehrten sich die Zeichen der Auflösung. Bei einer Besprechung zwischen dem Dresdener und dem Berliner Ministerium fiel Mitte des Jahres die Bemerkung, „daß zwar nicht sofort aber doch in einiger Zeit der jetzt in Kiel versammelte Kreis auch einmal wieder aufgelöst werden müsse. Prof. Huber-Kiel werde dann u.[nter] U.[mständen] für Leipzig greifbar sein"76). Nachdem vorher die Tübinger, Münchener und Heidelberger Avancen bei Huber auf Ablehnung gestoßen waren77), kam damit der Stein ins Rollen. Die Leipziger witterten ihre Chance, und Hans Gerber als Inhaber des anderen öffentlich-rechtlichen Ordinariats setzte alles daran, Huber in die Stadt des Reichsgerichts zu holen. Die Juristenfakultät unterstützte diesen Wunsch und äußerte sich mit wärmster Zustimmung. Huber sei „zweifellos unter den jüngeren Vertretern des öffentlichen Rechts der am besten ausgewiesene und aussichtsreichste Gelehrte", der zudem „wertvollste Anregungen" zur Fortbildung der Verfassungs- und Verwaltungsrechtswissenschaft „im Sinne der nationalsozialistischen Idee von Volk und Staat" zu geben vermöge. Da außerdem verlautete, es gebe in Kiel Streit zwischen Huber und Dahm, machten sich die Leipziger konkrete Hoffnungen78). Erst im Frühjahr 1937 zog das Reichserziehungsministerium seinen Widerstand gegen eine Herauslösung Hubers aus dem Kieler Kreis zurück79). Zuvor
76)
HStA Dresden, Ministerium für Volksbildung, Nr. 10.200/50, fol. 53 (Besprechung zwiOberregierungsrat Studentkowski und Staatsarchivrat Engel vom Reichserziehungsministerium, 24.6.1936). Am 30.4.1934 hatte Huber an Oskar Siebeck geschrieben, daß trotz Verhandlungen in Stuttgart eine Berufung nach Tübingen wohl deshalb nicht möglich sei, weil es „nicht wahrscheinlich [ist], daß ich von hier fortgehen kann" (VA schen
Mohr, K. 477). BA Berlin, R 21, Nr. 10.009; GStA Berlin, Rep. 76 V a, Sekt. 9, Tit. 4, Nr. 4, Bd. 8, fol. 165-170,193 (Schriftverkehr Juni-September 1934); BA Koblenz, N 1505, Nr. 708. Zu den
77)
Tübinger Angeboten: Uwe Dietrich Adam: Hochschule und Nationalsozialismus. Die Universität Tübingen im Dritten Reich. Mit einem Anhang von Winfried Setzier, „Die Tübinger Studentenfrequenz im Dritten Reich", Tübingen 1977 (= Contubernium, 23), S. 126,131. Der Heidelberger Dekan Engisch schrieb am 24.2.1936 im Berufungsverfahren über Huber, er sei „einer der bestqualifizierten jüngeren Staatsrechtslehrer", ein „umfassend gebildeter Kenner nicht nur des Rechts, sondern auch der Wirtschaft, der Geschichte und der Philosophie". Er sei „hervorgetreten als Kämpfer für den zentralen Reichsgedanken und Verfechter des Prinzips der Staatsautorität" und „zählt zu den bedeutendsten Neugestaltern des nationalsozialistischen Staatsrechts". GLA Karlsruhe, Abt. 235, Nr. 29851. Widerstände gegen Huber entstanden trotzdem
bigkeit'.
aus
Zweifeln
an
seiner NS-,Gläu-
HStA Dresden, Ministerium für Volksbildung, Nr. 10.200/50, fol. 75-76 (28.9.1936). Gerbers zustimmende Äußerung in einem Gespräch mit Studentkowski am 22.9. Ebd., fol. 70. Von Spannungen mit Dahm und dem dadurch motivierten Rücktritt Hubers als Dekan wird in den Gesprächen am 29.9.1936 und 27.1.1937 berichtet (ebd., fol. 71-72, 86-87). 79) Ebd., fol. 94 (Reichserziehungsministerium an Reichsstatthalter, 19.3.1937). Noch im Oktober 1936 hatte es im Reichserziehungsministerium geheißen, eine Wegberufung Hubers aus Kiel komme frühestens in eineinhalb Jahren in Frage. Ebd., fol. 80 (Besprechung
78)
Studentkowski-Engel, 21.10.1936).
1. Die
Institutionalisierung in der Rechtswissenschaft
183
Leipziger deutlich zum Ausdruck gebracht, daß sie die erwogene Entsendung von Carl Schmitt wegen dessen „politischer Vergangenheit" ablehnen würden80). Wenig überraschend kehrte kurz darauf das politische Argument im Falle Huber wieder. Die NSDAP-Kreisleitung Kiel hatte gegenhatten die
über dem sächsischen Reichsstatthalter über seinen Charakter geäußert, er sei „anständig und zuverlässig" und biete die Gewähr, „sich jederzeit für die Bewegung einzusetzen"81). Weit zurückhaltender erklärte dagegen der Sicherheitsdienst Dresden-Bautzen Anfang Juni 1937: „Der angefragte Prof. Dr. Ernst Rudolf Huber ist einer der stärksten Vertreter eines autoritären Staates aber ausgesprochen im Sinne Moeller v. d. Brucks. Huber ist keineswegs Nationalsozialist im wahrsten Sinne des Wortes. An der Kieler Universität heißt Huber ,Kronjurist des Herrn v. Papen'"82). Aber das politische Störmanöver konnte die bereits laufenden Berufungsverhandlungen nicht mehr aufhalten. Huber selbst, der auch Mitdirektor des Instituts für Politik, ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht wurde und sein Gehalt gegenüber dem Kieler Salär erheblich steigerte, bat um die Festlegung einer Venia legendi in umfassendem Sinne: er lehrte seit dem Wintersemester 1937/38 „Staatsund Verwaltungsrecht, Völkerrecht, Arbeits- und Wirtschaftsrecht und Verfassungsgeschichte"83). In einem Lebensrückblick stellte er fest: Seit der Leipziger Zeit sei ihm bewußt gewesen, „daß geltendes Verfassungsrecht ohne verfassungsgeschichtliche Vorkenntnisse nicht zulänglich ausgelegt werden kann". Er sei „nicht aus Resignation", sondern aus Überzeugung Verfassungshistoriker geworden84). Huber saß nach seinem Amtsantritt in Leipzig als Wissenschaftler endgültig fest im Sattel. Die in den Folgejahren aus München, Prag und Wien eintref-
80) Ebd.,
fol. 88, 90
(Besprechung Gerber-Studentkowski, 11.2.1937;
Studentkowski
an
Grüninger, 18.2.1937).
81) Ebd., fol. 79 (22.10.1936). 82) Ebd., fol. 105 (an das sächsische Volksbildungsministerium, 7.6.1937).
Politische Bedenken gegen Huber hatte auch gegen das Votum der Fakultät die Studentenschaft Heidelbergs am 3.3.1936 geäußert: man müsse den Lehrstuhl des nach Berlin gegangenen Reinhard Höhn freihalten, „bis seine Besetzung mit einem jungen, ganz aus der Bewegung hervorgegangenen Mann erfolgen kann". GLA Karlsruhe, Abt. 235, Nr. 29851. 83) HStA Dresden, Ministerium für Volksbildung, Nr. 10.200/50, fol. 110-112,116-119,129 (22, 29.6, 10.7.1937). Tula Huber-Simons bestätigte in einem Brief an den Verfasser vom 1.4.1997, ihr Mann habe damals „darum gebeten, bei der Festlegung des mit der Professur verbundenen Fachgebiets die Verfassungsgeschichte ausdrücklich einzubeziehen". Huber sprach von einer „Ehre und Auszeichnung", die ihm mit einem Ruf aus Leipzig widerfahre (8.6.1937; ebd., fol. 106). Die Nennung der „Verfassungsgeschichte" in der Venia legendi war in diesen Jahren durchaus üblich. Sie erfolgte auch auf dessen Wunsch bei Walter Merk 1936 in Freiburg. GLA Karlsruhe, Abt. 235, Nr. 42990 (Vermerk, 9.12.1935; Berufung am 22.2.1936). Weitere Beispiele: 1938 habilitierte sich Hermann Ibler für Staatslehre und Verfassungsgeschichte in Graz, und 1941 wurde Erich Becker in Innsbruck zum Ordinarius für Öffentliches Recht, Rechts- und Verfassungsgeschichte ernannt. 84) BA Koblenz, N 1505, Nr. 712 (Ansprache zum 80. Geburtstag).
184
V
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
Anfrage aus Köln lehnte er ab85). Mit seiner Darstellung zum Verfassungsrecht aus dem Jahr 1937 festigte er seine Position im Öffentlichen Recht zusätzlich. So ist das positive Zeugnis des Amtsleiters im Reichserziehungsministerium über seine Person und wissenschaftliche Leistung aus dem Jahr 1938 wenig überraschend: „Prof. Huber, Leipzig, ist ein fenden Rufe sowie eine
ausgezeichneter Gelehrter, vor allen Dingen als Staats- und Verwaltungsrechtler bedeutend. Seine Arbeiten liegen auf dem Boden berufsständischer Organisation (Kammern, ständische Ordnung, Wirtschaftsrecht usw.). Huber war Schüler von Carl Schmitt, hat sich aber von ihm durch seine selbständige wissenschaftliche Entwicklung weit entfernt. Er ist ein ehrlicher und anständiger Charakter."86) Von dem früher angedeuteten Verdacht nationalkonservativer Neigungen war keine Rede mehr. Statt dessen wurde, knapp zwei Jahre nach dem ,Sturz' von Schmitt, Hubers Distanz zu ihm ausdrücklich herausgestellt. Auf der Basis der positiven Einschätzung, die in wissenschaftlichen Kreisen weit verbreitet war, konnte Huber seine ehrgeizigen verfassungshistorischen Forschungs- und Publikationspläne ab Mitte der dreißiger Jahre in Angriff nehmen. Hubers Position unter den deutschen Staatsrechtslehrern läßt sich ohne weiteres als wichtig und wenig umstritten charakterisieren. Daran vermochten kleinere wissenschaftliche Dispute, so etwa mit Reinhard Höhn und den Kreisen der SS, nichts grundlegend zu ändern. Er hatte es vielmehr verstanden, sich nicht so stark wie Schmitt oder Eckhardt zu exponieren, deren mächtige Stellung sie angreifbar gemacht hatte. Er hatte sich anpassungsbereit gezeigt, war aber rechtzeitig auf Distanz gegangen. Seine wissenschaftliche Reputation zeigt sich auch an einem anderen Umstand. Denn nicht allein aus alter Kieler Verbundenheit rührte es her, daß Paul Ritterbusch ihn zum Herausgeber der verfassungsrechtlichen Abteilung des Gemeinschaftswerks des „Kriegseinsatzes der Deutschen Geisteswissenschaften" berief87). Huber leitete die erste Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer nach neun Jahren, die Anfang Oktober 1940 in Leipzig stattfand und gab auch die daraus resultieAusweislich seiner Personalkarteikarte im BA Berlin, R 21, Nr. 10.009, und der Akte im Nachlaß: BA Koblenz, N 1505, Nr. 708. Die Anfrage aus München erfolgte 1937, die Vorschläge aus Prag und Wien 1940. Zum Wiener Ruf siehe Oliver Rathkolb: Die Rechtsund Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien zwischen Antisemitismus. Deutschnationalismus und Nationalsozialismus 1938, davor und danach. In: Gernot Heiß u.a. (Hg.), Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938-1945, Wien 1989 (= Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik, 43), S. 197-232, hier S. 208-212. 86) BA Berlin, BDC, R 2 Pers., Rühland, Curt, WI (an Prof. Hämmerle, Innsbruck, 8.6.1938). Die Beurteilung der Kandidaten Rühland, Huber, Maunz und Walz erfolgte im Rahmen des Auswahlverfahrens in Innsbruck 1939. 87) Dazu materialreich im Zusammenhang mit den anderen Projekten des Gemeinschaftswerks: Hausmann, Geisteswissenschaft (2002), S. 317-322. Belege für eine von Huber geplante Tagung finden sich in BA Berlin, R 4901, Nr. 2843; eine Einladung an Hans Peters vom 19.9.1940 in BA Koblenz, N 1220, Nr. 15.
85)
1. Die
Institutionalisierung in der Rechtswissenschaft
185
rende Publikation, den ersten Band des Gemeinschaftswerks, unter dem Titel „Idee und Ordnung des Reiches" heraus88). Eine weitere geplante internationale Tagung zu dem verfassungsgeschichtlich-staatsrechtlichen Thema „Die Verfassung des Reiches hinsichtlich ihrer Entwicklung und ihrer heutigen Gestalt" wurde ihm allerdings „durch Ritterbuschs Eingreifen" aus der Hand
genommen89).
Im Januar 1941 erreichte Huber ein Ruf an die neu errichtete Reichsuniversität Straßburg90). Der dortige Aufbau einer Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät stellte für den Leipziger Ordinarius eine reizvolle Herausforderung dar. Es sei „nicht leicht" für ihn gewesen, schrieb Huber an Schmitt, Leipzig zu verlassen, aber es sei ihm „nationalpolitisch" und „hochschulpolitisch wichtig" erschienen, „zu zeigen, daß es unter den heutigen Voraussetzungen möglich ist, eine fachlich qualifizierte und menschlich achtbare Fakultät an dieser Stätte deutscher Überlieferungen und deutscher Hoffnungen neu zu gründen"91). So setzte Huber seine Laufbahn und seine in Kiel begonnenen und in Leipzig intensivierten verfassungsgeschichtlichen Forschungen seit 1941 im deutsch besetzten Elsaß fort. Um den Lehrkörper anderer Hochschulen durch Wegberufungen nicht über Gebühr zu belasten, beschränkte das Reichserziehungsministerium die Höchstzahl der Hochschullehrer, die von einer einzigen Universität nach Straßburg gehen sollten, auf sechs. Insofern war es spektakulär, daß allein fünf Professoren aus Leipzig ausgewählt wurden, von denen wiederum drei Rechtswissenschaftler waren92). Ein Protest aus Leipzig bewirkte, daß am Ende nur drei Hochschullehrer von dort ins Elsaß gingen: der Historiker
88)
Darin u. a. Ernst Rudolf Huber: Bau und Gefüge des Reiches, Hamburg 1941 (= Idee und Ordnung des Reiches). Er habe auf dieser Tagung, schrieb er später, die „Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer" wiedergründen wollen. Exposé Huber, S.9. Die Broschüre und eine Rede unter dem gleichen Titel auf einer Tagung der „Akademie für Deutsches Recht" seien ein „Aufruf zur Gerechtigkeit, zum Maßhalten im Siege, zur Achtung vor dem Besiegten, zur Verantwortung für Europa" gewesen. Ebd., S. 11. Gemeint war: ders.: Bau und Gefüge des Reiches. In: Deutsche Rechtswissenschaft 6 (1941), S. 22-32. 89) HStA Düsseldorf, NL Schmitt, RW 265, Nr. 6272 (1.5.1941). Die Tagung habe nach Ritterbuschs Plänen einen anderen Charakter, sei größer, und damit sei klar, „daß ich nicht der Mann bin, um Veranstaltungen dieses Gepräges zu organisieren". Es handelte sich vermutlich um eine Konferenz im Rahmen des „Kriegseinsatzes", die in der Untersuchung von Hausmann, Geisteswissenschaft (2002), S. 317-322, nicht erwähnt wird. 90) BA Koblenz, N 1505, Nr. 708 (8.1.1941). Zum ersten Mal habe Huber am 26.10.1940 im Reichserziehungsministerium von den Straßburger Plänen erfahren. BA Koblenz, N 1505, Nr. 656 (Tula Huber-Simons an Anja Münster, 14.6.1996). 91) HStA Düsseldorf, NL Schmitt, RW 265, Nr. 6272 (1.5.1941). Später schrieb er, er habe die Hoffnung gehabt, „daß es gelingen werde, diesen unserm Volk entfremdeten Stamm wiederzugewinnen". Exposé Huber, S. 12. Zum Aufbau Straßburgs: Schäfer, Lehre (1999), S. 30-60; Lothar Kettenacker: Nationalsozialistische Volkstumspolitik im Elsaß, Stuttgart 1973, bes. S. 184-194. 92) Archives départementales du Bas-Rhin, Strasbourg, 125 AL 414 (28.2.1941).
186 Hermann
Huber93).
V
Heimpel
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945 sowie die Juristen
Georg
Dahm und Ernst Rudolf
Die personelle Zusammensetzung der Straßburger Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät hatte ganz maßgeblich Ernst Rudolf Huber in Zusammenarbeit mit dem Reichserziehungsministerium gesteuert94). Dies galt für die Berufung von Dahm und Schaffstein95). Außerdem hatte der Staatsrechtler seinen ehemaligen Bonner Mitdoktoranden Ernst Forsthoff für Straßburg vorgeschlagen. Forsthoff, der in Königsberg mit dem dortigen Gauleiter kollidiert war, galt allerdings als politisch unzuverlässig und kirchlich gebunden, so daß ein Ruf nicht zustande kam96). Hubers Einfluß reichte zudem über den Rahmen der engeren Fakultät hinaus: so erfolgte die Besetzung des historischen Ordinariats mit seinem Leipziger Freund Hermann Heimpel vermutlich auf seinen Rat97). Und auch die Einrichtung eines Lehrstuhls für Soziologie, die Huber als wichtigen Bestandteil der Staatswissenschaften ansah, sowie die entsprechenden Berufungsvorschläge mit Hans Raupach und Helmut Schelsky gingen auf Huber zurück98). Das Teilgebiet des Öffentlichen Rechts war mit drei Lehrstühlen in Straßburg außergewöhnlich breit vertreten. Huber hatte mit der bewußt politischen Ausrichtung der juristischen Ausbildung in Straßburg und der wachsenden Bedeutung des Verwaltungsrechts im Krieg argumentiert. Der Kriegseinsatz der beiden anderen Lehrstuhlinhaber, Ulrich Scheuner und Herbert Krüger, führte indes dazu, daß fast nur Huber das Öffentliche Recht kontinuierlich vertrat99). Neben den Hauptvorlesungen zum Verfassungs-, Verwaltungs- und Völkerrecht, die er jeweils in den Wintersemestern anbot, pflegte er in StraßZu den Änderungen siehe u. a. BA Berlin, R 43 II, Nr. 940a, fol. 40-42 (Anrieh an Stadtkommissar Ernst, 23.5.1941). Für die Details siehe Schäfer, Lehre (1999), S. 30f., 54f. Die wenig erfreute Haltung in Leipzig über den Weggang von gleich zwei Juristen dokumentiert ein Schreiben des Dekans an das sächsische Volksbildungsministerium vom 25.6.1941 (HStA Dresden, Ministerium für Volksbildung, Nr. 10.200/57, fol. 1-2). 94) Huber selbst befand sich auch deshalb in einer guten Verhandlungsposition, weil er 1940 zeitgleich mit den Straßburger Planungen zwei Rufe nach Prag und Wien vorzuweisen hatte. Schäfer, Lehre (1999), S. 79. 95) Ebd., S.72f. Aus der Sicht des 1942 nach Straßburg berufenen Ludwig Raiser zählten Dahm, Schaffstein und Huber zu den „politisch prononcierten Köpfen", mit denen er allerdings übereingekommen sei, „für das Recht einzustehen". Ludwig Raiser: Fünfzig Jahre Juristenleben. In: ders., Vom rechten Gebrauch der Freiheit. Aufsätze zu Politik,
93)
Recht, Wissenschaftspolitik und Kirche, Stuttgart 1982 (= Forschungen und Berichte der
Evangelischen Studiengemeinschaft, 38), S. 59-74 [zuerst 1973], hier S. 65. %) Schäfer, Lehre (1999), S. 84-86. 97) Dazu wenig erhellend: Hartmut Boockmann: Der Historiker Hermann Heimpel, Göttingen 1990 (= Kleine Vandenhoeck-Reihe), S. 19f. 98) Schäfer, Lehre (1999), S. 113f. Raupach scheiterte
am Widerspruch der Parteileitung, wurde berufen, diente aber ununterbrochen bei der Wehrmacht. Er habe die Professoren „ohne Rücksicht auf Parteizugehörigkeit, allein nach wissenschaftlichem Rang" ausgewählt, bemerkte Huber nach 1945. Exposé Huber, S. 13. 99) Schäfer, Lehre (1999), S. 75f.
Schelsky
1. Die
Institutionalisierung in der Rechtswissenschaft
187
auf das sich seit einigen Jahren seine Forschungsaktivität konzentrierte: die deutsche Verfassungsgeschichte. Huber las nicht nur in jedem Sommersemester die „Verfassungsgeschichte der Neuzeit" ein- bis dreistündig, sondern er bot zudem im Wechsel damit eine Vorlesung sowie ein Seminar zur „Volks- und Staatslehre" an100). Die „Volks- und Staatslehre" interpretierte er dabei vorwiegend unter ideengeschichtlichen Aspekten. Er behandelte mit dem Reichspatriotismus, der Staatsidee Friedrichs des Großen, dem Volksbegriff bei Herder, der politischen Romantik und den preußischen Reformen bevorzugt Themen, zu denen er öffentlich vorgetragen und einschlägige Forschungsergebnisse vorgelegt hatte101). Im Sommersemester 1944 dozierte und diskutierte Huber über die Weimarer Reichsverfassung102). Er sorgte zwischen 1941 und 1944 für eine dezidiert verfassungshistorische Ausgestaltung des Studiums des Öffentlichen Rechts in Straßburg, die sich mit entsprechenden Veranstaltungen der Historiker zur Reichs- und vergleichenden Verfassungsgeschichte
burg jenes Gebiet,
ergänzte103).
Das Straßburger Wintersemester 1944/45 fand infolge der alliierten Eroberung des Elsaß' nicht mehr statt. Huber floh Ende November über den Rhein104). Zur Lehre war er bereits kurz vorher an die Universität Heidelberg abgeordnet worden105). Hier traf er auf einen früheren Bonner Mitdoktoranden, der sich als Hochschullehrer gleichfalls mit der deutschen Verfassungsgeschichte der Neuzeit beschäftigte: Ernst Forsthoff.
100)
Personal- und
Vorlesungsverzeichnis der Reichsuniversität Straßburg,
Winterseme-
ster 1941/42-Wintersemester 1944/45.
101) Schäfer, Lehre (1999), S. 131, bes. die Vorlesungsmitschrift von Guy Sautter aus dem Wintersemester 1942/43. Vgl. die Publikationsliste bei Huber-SimonslHuber, Bibliographie (1973), S. 398. 102) Schäfer, Lehre (1999), S. 132. Anlaß war das 25jährige Jubiläum. 103) Personal- und Vorlesungsverzeichnis Straßburg (1941-1945). Als Beispiel ist das Sommersemester 1943 zu nennen: Der Mediävist Hermann Heimpel bot eine vierstündige Vorlesung zum Staat des Mittelalters und eine zweistündige Veranstaltung zur Geschichte des Reichsgedankens an. Günther Franz las zweistündig über den Westfälischen Frieden von 1648. Der Soziologe Helmut Schelsky hatte im übrigen eine dreistündige Veranstaltung zum politischen Denken von Machiavelli bis Rousseau angekündigt (die nicht statt-
fand). m) Schäfer,
Lehre (1999), S. 247. Bericht Hubers über die Flucht im B A Berlin, BDC Personalakte, sowie Heiber, Universität, Bd. 2,1 (1992), S. 252-254. Siehe dazu auch BA Berlin, R 21, Nr. 794, und den Bericht Heimpels an Kaehler, 11.11.1944. ÜB Göttingen, NL Kaehler, Nr. 1, 62, fol. 3. 105) UA Heidelberg, Rektorat, PA 4307 (Personalakte Huber); ebd., H-II-822/2; BA Koblenz, N 1505, Nr. 708 (14.11.1944). Vgl. auch Schäfer, Lehre (1999), S. 247f. Die meisten
Hochschullehrer wechselten von Straßburg nach Tübingen, wohin auch die Universitätsund wo schließlich die Hochschule abgewickelt wurde. Dazu: Joachim Lerchenmüller: Die Reichsuniversität Straßburg: SD-Wissenschaftspolitik und wissenschaftliche Karrieren vor und nach 1945. In: BayerlSparinglWoelk, Universitäten (2004), S. 53-79.
verwaltung ausgelagert
188
V
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
Forsthoffs Karriere war nach 1933 im Gegensatz zu derjenigen Hubers sehr diskontinuierlich verlaufen106). Forsthoff, wie Huber Schmitt-Schüler und 1930 in Heidelberg habilitiert, hatte sich 1933 mit einer Broschüre über den „totalen Staat" einerseits zu seinem Lehrer bekannt und zugleich aus jungkonservativer Sicht sich den Nationalsozialisten anzudienen versucht107). Er erhielt noch im gleichen Jahr als Nachfolger von Hermann Heller dessen Lehrstuhl in Frankfurt am Main108). Danach folgten Rufe nach Hamburg 1935, nach Königsberg 1936 und schließlich nach Wien 1941. Bereits in der Königsberger Zeit war er mit dem dortigen Gauleiter kollidiert. In Wien kam
heftigen Auseinandersetzungen mit Reichsjugendführer Baidur von Schirach sowie der dortigen NS-Studentenführung109). Nach seiner Suspension konnte Forsthoff froh sein, in seiner früheren akademischen Heimat Heidelberg unterzukommen. Forsthoff verstand sich in erster Linie als Staats- und Verwaltungsrechtler. Als Lehrstuhlvertreter des Öffentlichen Rechts oblag ihm allerdings die regelmäßige Aufgabe, eine Vorlesung zur „Verfassungsgeschichte der Neuzeit" abes zu
106)
Dies
zeigt
auch eindrucksvoll seine besonders ausführliche Personalkarteikarte im
Berlin, BDC, PA Forsthoff sowie die Personalakte in B A Berlin, R 22, Nr. 056068. Biographisch, außer Lexikonartikeln und Nachrufen, allerdings keineswegs abschließend: BA
Willi Blümel (Hg.): Ernst Forsthoff. Kolloquium aus Anlaß des 100. Geburtstags von Prof. Dr. Dr. h. c. Ernst Forsthoff, Berlin 2003 (= Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, 30); Ulrich Storost: Staat und Verfassung bei Ernst Forsthoff, Frankfurt a.M./Bern/Las Vegas 1979 (= Europäische Hochschulschriften, 2,204); Karl Doehring: Ernst Forsthoff. Leben und Werk. In: Doerr, Semper Apertus, Bd. 3 (1985), S. 437^463; Ideologiekritisch: Gerhard Mauz: Ernst Forsthoff und andere... In: Karl Corino (Hg.), Intellektuelle im Bann des Nationalsozialismus, Hamburg 1980, S. 193-203; Richard Saage: Konservatismus und Faschismus. Anmerkungen zu Ernst Forsthoffs Entwicklung vom „Totalen Staat" zum „Staat der Industriegesellschaft". In: PVS 19 (1978), S. 254-268. Hochideologisiert und deswegen unbrauchbar ist das DDR-Schrifttum. 107) Ernst Forsthoff: Der totale Staat, Hamburg 1933. Die polemische Schrift wurde allerdings von Roland Freisler, Alfred Rosenberg und der SS scharf attackiert, weil sie implizit Begrenzungen der Führergewalt enthielt. Walter Pauly: Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus. In: Berichte und Diskussionen auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Leipzig vom 4. bis 6. Oktober 2000, Berlin/ New York 2001 (= Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, 60), S. 73-105, hier S.80f.; Dreier, Staatsrechtslehre (2001), S.17 u. Anm. 39. Hans H. Klein: „Der totale Staat". Betrachtungen zu Ernst Forsthoffs gleichnamiger Schrift von 1933. In: Blümel, Forsthoff (2003), S. 21-39. 108) GStA Berlin, Rep. 76 V a, Sekt. 5, Tit. 4, Nr. 2, Bd. 3, fol. 171, 199-200. Auf Aktenbasis: Ilse Staff: Hermann Heller. In: Bernhard Diestelkamp/Michae\ Stolleis (Hg.), Juristen an der Universität Frankfurt a.M., Baden-Baden 1989, S. 187-199, hier S. 198; sowie Notker Hammerstein: Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von der Stiftungsuniversität zur staatlichen Hochschule. Bd. 1: 1914 bis 1950, Neuwied/Frankfurt a.M. 1989, S. 310-312. 109) Vgl. dazu die knappen Bemerkungen bei Rathkolb, Fakultät (1989), S. 211f. Hier hatte Forsthoff mit Erich Becker, Hans Gerber und Werner Weber konkurriert. Generell zu seiner Laufbahn und den vielfältigen Problemen vor 1943 die Personalakten Forsthoffs in UA Heidelberg, Rektorat, PA 3787, 3790, die auch einen eigenhändigen Lebenslauf enthalten.
1. Die
Institutionalisierung in der Rechtswissenschaft
189
zuhalten. Daraus ergab sich die schriftliche Fixierung dieses Kollegs und seine Veröffentlichung110). Anders als bei Huber, für den sich die Verfassungsgeschichte mehr und mehr zur wissenschaftlichen ,Ausweiskarte' entwickelte und der dieses Forschungsgebiet weiter auszubauen gedachte, spielte die Verfassungsgeschichte für Forsthoff nie eine dominierende Rolle. Trotzdem diente sie als Hilfsargument bei seiner Heidelberger Berufung111). Als man dort 1942 einen Ersatz für den nach Straßburg abgewanderten Herbert Krüger suchte, hatte man zunächst eine Berufungsliste mit der Kandidatenfolge Arnold Köttgen, Ernst Forsthoff und Gerhard Wacke aufgestellt. Zur Qualifikation von Forsthoff schrieb der Dekan der Juristischen Fakultät an das Rektorat: der Öffentlichrechtler sei „im Kreise der Wissenschaftler, die heute Ernst Rudolf Huber nahestehen dürften, mit unter die angesehendsten zu rechnen". Er habe einen „flüssig geschriebenen Grundriß" zur deutschen Verfassungsgeschichte vorgelegt112). Als über ein halbes Jahr später der Heidelberger Dozentenbundsführer Schmidhuber sich für Forsthoff aussprach, stand dem Ruf von Wien nach Heidelberg nichts mehr im Wege. Der Grundrißband zur Verfassungsgeschichte hat bei Forsthoffs Berufung nach Heidelberg eine kleine, aber bemerkenswerte Rolle gespielt. Hatte man sich bei seinen früheren Kandidaturen stets auf seinen Doktorvater Schmitt bezogen und dies positiv oder negativ gewertet, so erwähnte der Heidelberger Dekan Forsthoffs Nähe ausgerechnet zu Huber. Daß er zudem die „Verfassungsgeschichte" Forsthoffs von 1940 anführt, zeigt eine in der Sache und in der Person zweifach abgesicherte Argumentation. Forsthoffs, aber vor allem Hubers Engagement für das juristische Teilfach Verfassungsgeschichte kam nicht von ungefähr. Es wird weiter unten inhaltlich näher geprüft, inwieweit man bei den verfassungshistorischen Publikationen von einem Abrücken von der nationalsozialistischen Ideologie' und einem Rückzug in die vermeintlich unverfängliche Geschichte sprechen kann113). In jedem Fall erfüllten Huber und Forsthoff mit ihren verfassungsgeschichtlichen Lehr- und Forschungsaktivitäten eine Aufgabe, die den juristischen Hochschullehrern seit Erlaß der Studienordnung des Jahres 1935 mit Nachdruck empfohlen worden war.
no) Forsthoff, Verfassungsgeschichte (1940). nl) Inwieweit die 1940 in Königsberg publizierte „Verfassungsgeschichte" bei der Wiener
Berufung eine Rolle spielte, muß offen bleiben. Rathkolb, Fakultät (1989), erwähnt davon nichts. Dagegen wurde das „sehr brauchbare" Lehrbuch auch in Göttingen als Argument angeführt. Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät Göttingen an Reichserziehungs-
ministerium, 4.8.1941. BA Berlin, BDC, Wi, R 2 Pers., Berber, Fritz, p. 54-56. 112) GLA Karlsruhe, Abt. 235, Nr. 29851 (30.7.1942). Auch bei der erwogenen Berufung als Nachfolger Hubers nach Leipzig wurde die „Verfassungsgeschichte" fälschlich als „die erste
Behandlung dieses Gegenstandes aus der Feder eines Staatsrechtlers" gelobt.
HStA
Dresden, Ministerium für Volksbildung, Nr. 10.200/57, fol. 3a-5 (Dekan der Juristenfakultät
Ministerium für Volksbildung, Siehe unten Kap. V.2.
an
113)
25.6.1941).
190
V
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
c) Die juristische Studienreform von 1935 Nicht nur biographisch, wie bei Forsthoff und Huber, sondern auch institutionell machte sich der Umschwung des Jahres 1933 deutlich bemerkbar. Er betraf die Veränderung von Studienordnungen, den Umbau des Zeitschriftenwesens und die Entstehung neuer Lehrbücher. Das Teilfach Verfassungsgeschichte war davon vor allem in der Jurisprudenz betroffen. Die sich auf Verfassungsgeschichte spezialisierenden Historiker dagegen blieben von diesen Wandlungen deshalb verschont, weil ihr Fachgebiet Anfang der dreißiger Jahre kaum institutionalisiert war. Es gab nur einen einzigen Lehrstuhl für Verfassungsgeschichte, den von Fritz Härtung in Berlin, und keine entsprechend spezialisierte Zeitschrift. Ebensowenig existierten reichsweite Studienordnungen für das Fach Geschichte, in denen das Teilfach einen besonderen Rang hätte einnehmen können. Und Lehrbücher im klassischen Sinne sind der Geschichtswissenschaft bis vor wenigen Jahrzehnten ohnehin fremd geblieben. Bei dem einzigen historischen Handbuch zur Verfassungsgeschichte waren dagegen keine sachlichen Veränderungen festzustellen. Denn der Grundriß-Band von Fritz Härtung erschien in seiner vierten Ausgabe 1933, weitere Auflagen folgten erst nach 1945114). Ganz anders sah der Eingriff der Kultusbürokratie im Bereich der Jurisprudenz aus. Hier partizipierte die Verfassungsgeschichte an dem generellen Umbau des Faches. Schließlich sahen sich die neuen Machthaber vor der Herausforderung, möglichst viele nationalsozialistisch eingestellte „Rechtswahrer" und Rechtswissenschaftler für den geplanten Neuaufbau des Staates zur Verfügung zu haben. Zudem galt es, die neue Gesetzgebungsflut durch eine nationalsozialistisch argumentierende und damit die Rechtsveränderungen legitimierende Rechtswissenschaft abzusichern. Zu diesem Zweck sollten Rechtspraktiker, d. h. Richter, Rechtsanwälte und Verwaltungsbeamte, im nationalsozialistischen Sinne ausgebildet werden. Es kann keine Rede davon sein, daß das NS-Regime Recht und Rechtswissenschaft ignoriert hätte, weil es ohnehin rechtsfeindlich eingestellt war. Vielmehr diente das neue nationalsozialistische Recht als .Verhüllungsinstrument'. Ungeachtet der Tatsache, daß man selbstverständlich nicht mit einem Schlag alles bisherige Recht außer Kraft setzen konnte, es auch nicht mußte und es auch gar nicht wollte, versuchte man, die praktisch und ideologisch wichtigen Bereiche, wie Staatsorganisation und Rassengesetzgebung, möglichst schnell neu zu regeln bzw. umzustrukturieren. Um so dringender schien es geboten, die vielen Rechtsfelder, in denen man zunächst nur Einzelheiten korrigierte, wie Strafrecht oder Bürgerliches Recht, nationalsozialistisch auslegen zu können und interpretieren zu lassen115). Dafür waren Juristen von-
114) Siehe dazu Kap. V2.h). n5) Umfangreichere Vorhaben, wie ein neues Strafgesetzbuch oder ein Volksgesetzbuch,
kamen nicht zustande.
1. Die
Institutionalisierung in der Rechtswissenschaft
191
von nun an unter dem Primat politischen Rechts stand. Die Reform der Juristenausbildung war daher eine Aufgabe, die noch 1933 unverzüglich in Angriff genommen wurde116). Neben den neuen politischen Herausforderungen wurden dabei auch ältere Reformpläne in die Überlegungen einbezogen. Schließlich herrschte zu Beginn der dreißiger Jahre allgemein die Überzeugung, daß eine Reform der Juristenausbildung längst
nöten, deren Ausbildung
überfällig war.
Den Befürwortern einer neuen Justizausbildungs- und Studienordnung kam entgegen, daß in Preußen seit dem Erlaß der Studienreform vom Februar 1931 die Diskussion fortgesetzt worden war117). In Umfragen über die Erfahrungen mit der Neuregelung zeigten sich erschreckende Ergebnisse im Hinblick auf die Schulbildung der Jurastudenten. Gerade wenn man, wie in der preußischen Studienreform von 1931, auf eine breite Ausbildung Wert legte und ausdrücklich die historischen Kenntnisse der angehenden Juristen fördern wollte, konnte man mit den schulischen Voraussetzungen nicht zufrieden sein. Der Königsberger Dekan Fritz von Hippel wertete die Allgemeinbildung als „Katastrophe" und sprach von einem „unter jedem geistigen Existenzminimum liegenden Bildungsgrad"118). Sein Münsteraner Kollege Erwin Jacobi konstatierte einen „Tiefstand der allgemeinen Bildung", zumal in der Geschichte, und folgerte: „Die Schule versagt vollständig, in der Ausbildung, wie in der Auslese."119) Die Verfassungsgeschichte als neu eingeführtes Lehrgebiet war besonders aufgerufen, den unzureichenden historischen Kenntnissen der juristischen Studienanfänger abzuhelfen. An allen preußischen Universitäten wurden seit 1931 Vorlesungen zur „Verfassungsgeschichte der Neuzeit" angeboten. In Göttingen ergänzte man die einstündige Vorlesung über „neuere deutsche Verfassungsgeschichte" um eine einstündige Veranstaltung zur Rechtsentwicklung in Preußen120). Im Januar 1933 holte das preußische Kultusministerium Auskünfte von den juristischen Prüfungsämtern ein, die den Befund der Fakultäten bestätigten und zugleich in vieler Hinsicht konkretisierten. Das Prüfungsamt beim Kam-
n6) Zu Studienplänen und Prüfungsordnungen bei den Juristen nach 1933 zusammenfassend: Michael Grüttner: Studenten im Dritten Reich, Paderborn usw. 1995 (= Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart), S. 178-183. 117) Zur Studienordnung von 1931 siehe oben Kap. IV.3. Zur Debatte von 1931 und den NS-Plänen zeitgenössisch: Hans-Heinrich Jescheck: Die juristische Ausbildung in Preußen und im Reich Vergangenheit und Gegenwart, Berlin 1939 (= Neue deutsche Forschungen. Abt. Bürgerliche Rechtspflege, 2), S. 117-136. 118) GStA Berlin, Rep. 76 V a, Sekt. 1, Tit. 7, Nr. 89, Bd. 8, fol. 382-390 (an das preußische -
Kultusministerium, 2.8.1932). 119) Ebd., fol. 438439 (an den Kurator, 19.12.1932). 120) Ebd., fol. 375-381 (27.5.1932). Es ist insofern, bezogen auf die Verhältnisse in Preußen, falsch, wenn sich gelegentlich in der Sekundärliteratur die Feststellung findet, die
„Verfassungsgeschichte der Neuzeit" sei durch die Studienreform von 1935 erstmals eingeführt worden. Hinzuzufügen ist, daß es vorher wegen der Kultushoheit der Länder keine reichsweit geltenden Studienordnungen gab.
192
V
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
mergericht Berlin meldete: „Besonders beklagenswert ist das ungemein geringe Interesse großer Teile der Kandidaten für Geschichte, Verfassungsgeschichte und Rechtsgeschichte. Daß Kandidaten über die Ereignisse von 1848, 1864 und 1866, über Stein, Bismarck, Savigny, Ihering usw. keinerlei Bescheid wissen, ist eine leider immer wiederkehrende Erscheinung."121) Die Studenten richteten ihr Augenmerk auf ein schnelles Studium, dabei werde die Ge-
schichte hintangesetzt. Der Vorsitzende des Prüfungsamtes beim Oberlandesgericht Köln sah das ähnlich und schrieb: „In der Geschichte, namentlich der neueren Verfassungsgeschichte, begegnet man stets erschrecklicher Unkenntnis; so ist es nicht selten, daß von 5 oder 6 Kandidaten kaum einer etwas weiß vom Deutschen Bund oder Norddeutschen Bund."122) In einer Rede am 12. Mai 1933 auf einer Kundgebung für deutsches Recht und deutsche Rechtspflege hatte der Reichskommissar für die Gleichschaltung der Justiz in den Ländern und für die Erneuerung der Rechtsordnung, Hans Frank, bereits eine Rechtsreform angekündigt, bei der das deutsche Recht verstärkt im Mittelpunkt stehen und das römische demgegenüber zurücktreten solle123). Das Justiz- und das zum l.Mai 1934 neu gegründete Reichserziehungsministerium sollten diese Wünsche unverzüglich umsetzen124). Es stand eine „Verreichlichung" des Rechts, der Justiz und des Unterrichtswesens bevor125). Der Marburger Dekan Felix Genzmer deutete die kursierenden Gerüchte um eine bevorstehende Studienreform richtig und bat bereits vor Aufstellung des Vorlesungsplans für das Wintersemester 1933/34 um die Bekanntgabe wenigstens vorläufiger Richtlinien126). Tatsächlich kündigte das preußische Kultusministerium bereits Ende Juni 1933 an, daß eine „Neugestaltung des juristischen Studiums [...] in nächster Zeit erfolgen"
werde127).
121) Ebd., fol. 616 (10.1.1933). 122) Ebd., fol. 623. Ähnlich äußerte
sich u.a. das Prüfungsamt beim Oberlandesgericht Königsberg. Ebd., fol. 625-626. 123) Der „alte Kämpfer" Hans Frank war seit 1930 Chef der Rechtsabteilung der NSDAPReichsleitung und zugleich seit April 1933 bayerischer Justizminister. Klaus A. Lankheit: Frank, Hans. In: Hermann Weiß (Hg.), Biographisches Lexikon zum Dritten Reich,
Frankfurt a. M. 1998, S. 126f. 124) Eine Studie über das von Bernhard Rust geleitete Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung zählt zu den bedeutendsten Desiderata der Wissenschaftsgeschichte im .Dritten Reich'. Anne Chr. Nagel (Gießen) bereitet eine entsprechende Untersuchung vor. Die zeitgenössisch und in der Sekundärliteratur auch unter Reichswissenschafts- bzw. Reichsunterrichtsministerium firmierende Institution wird nachfolgend einheitlich als Reichserziehungsministerium bezeichnet. 125) Zu den „Verreichlichungstendenzen" und ihrem weitgehenden Scheitern vgl. Notker Hammerstein: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Wissenschaftspolitik in Republik und Diktatur 1920-1945, München 1999, S. 235-247. 126) GStA Berlin, Rep. 76 V a, Sekt. 1, Tit. 7, Nr. 89, Bd. 8, fol. 555 (16.5.1933). 127) Ebd., fol. 569 (an das sächsische Kultusministerium, 27.6.1933).
1. Die
Die
193
Institutionalisierung in der Rechtswissenschaft
Überlegungen für eine Reform der Justizausbildung liefen parallel zur Zuge der Maßnahmen Rechtsvereinheitlichung und „Gleicheine neue Justizausbildungsordnung, die
Studienreformdebatte, und sie kamen ihr
zuvor.
Im
Reichskommissar Hans Frank am 22. Juli 1934 am 1. Oktober 1934 in Kraft trat128). Auch hierin hatte man neben „einer gründlichen, gewissenhaften Fachausbildung" an die historischen Kenntnisse der Prüflinge im Rahmen der „allgemeinen völkischen Bildung" gedacht. Eine von fünf Klausuren mußte zudem einem historischen Thema gewidmet sein129). Dennoch ergaben sich aus der Nichterwähnung der Rechtsgeschichte Zweifel, ob man dieses Fach insgeheim aus dem Jurastudium ausschalten zur
von
schaltung" erging
wolle130).
So schnell wie bei der reichseinheitlichen Justizausbildungsordnung kam bei der Studienreform nicht voran. Aber angesichts der von Frank angekündigten Zusammenlegung des preußischen Kultusministeriums mit einem neuen Reichserziehungsministerium beeilte man sich in der Berliner Kultusbürokratie und bei einzelnen juristischen Fakultäten mit entsprechenden Planungen131). Auch außerhalb Preußens blieb man nicht untätig. So berichtete der Freiburger Dekan Eduard Kern dem badischen Kultusministerium am 7. September 1933 von den Überlegungen innerhalb seiner Fakultät. „Ziel der Ausbildung", so Kern, „ist neben der Fähigkeit zur praktischen Anwendung des Rechts die Übermittlung der notwendigen allgemeinen rechtswissenschaftlichen und politischen Bildung. Zur Gewinnung dieser politischen Bilman
12f!) RGB1 I 1934, S. 727-736. Die Neuregelung von 1934 löste in Preußen das mehrfach modifizierte Gesetz über die juristischen Prüfungen von 1869 ab. Siehe generell Ina Ebert: Die Normierung der juristischen Staatsexamina und des juristischen Vorbereitungsdienstes in Preußen (1849-1934), Berlin 1995 (= Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 9). Ebd., S. 401410, zur Regelung von 1934. Weiterhin: Nicolas Lührig: Die Diskussion über die Reform der Juristenausbildung von 1945 bis 1995, Frankfurt a. M. usw. 1997 (= Rechtshistorische Reihe, 165), S.44f, 89. Beide Studien beschränken sich allerdings auf die Justizausbildung, d. h. Struktur und Ablauf der Prüfungen. Die hier relevanten Fragen nach dem Inhalt des Studiums bleiben weitgehend (Lührig) oder ganz (Ebert) außen vor. Vgl. auch Jescheck, Ausbildung (1939), S. 136-159; Lösch, Geist (1999), S. 279-284. Zeitgenössisch war davon die Rede, daß es sich bei der Justizausbildungsordnung von 1934 um ein Werk des Justizstaatssekretärs Roland Freisler gehandelt habe. So Lange, Entwicklung (1941), S. 9. 129) Justizausbildungsordnung, § 4. RGB1 I 1934, S.728. Diese Formulierung findet sich ebenso in der überarbeiteten Justizausbildungsordnung vom 4.1.1939, §§ 5, 6. RGB1. I 1939, S. 5-20, hier S.6f. 130) Diethelm Klippel: Entstehung und heutige Aufgaben der ..Privatrechtsgeschichte der Neuzeit". In: Gerhard Köbler (Hg.), Wege europäischer Rechtsgeschichte. Karl Kroeschell zum 60. Geburtstag, Frankfurt a.M. usw. 1987 (= Rechtshistorische Reihe, 60), S. 145-167, hier S. 152. Vgl. auch Jescheck, Ausbildung (1939), S. 153, der betont, daß die Rechtsgeschichte „im organischen Zusammenhang mit dem geltenden Recht studiert und geprüft werden" solle.
131) So eine Notiz Burmeisters Nr. 89, Bd. 9.
vom
1.3.1934. GStA Berlin,
Rep.
76 V
a,
Sekt. 1, Tit. 7,
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Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
dung ist zu Beginn des
Studiums eine eingehende Vorlesung über die politische Geschichte insbesondere die Verfassungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert erforderlich."132) Die deutsche Verfassungsgeschichte wurde hier bereits frühzeitig ins Gespräch gebracht und bezeichnenderweise sogleich funktional in den Bereich politischer Bildung eingeordnet. Es zeigt sich, daß der Ausbau der historischen Ausbildung der Jurastudenten von vornherein auf eine politische Schulung zielte. Besonders umfangreiche Aktivitäten entwickelte das preußische Kultusministerium. Am 14. September 1933 legte Regierungsrat Wilhelm Burmeister Ministerialrat Johann Daniel Achelis ein Memorandum zur „Reform des juristischen Studiums in Preußen" vor133). Zu Beginn des Jahres 1934 traten die Planungen in eine konkrete Phase134). Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildete die inzwischen überarbeitete Denkschrift Burmeisters. Auffällig war hierin das Studienangebot zu „Geschichte und Politik", das insgesamt 26 Semesterwochenstunden umfaßte und damit den Bereich der „allgemeinen und rechtshistorischen Vorlesungen" mit 15 Stunden deutlich übertraf. Enthalten waren neben Veranstaltungen zur „deutschen politischen Geschichte" vom Mittelalter bis zur Gegenwart auch drei Semesterwochenstunden „Staats- und Verfassungsgeschichte seit 1648", die für das dritte Studiensemester vorgesehen waren. Verfassungsgeschichte und Rechtsgeschichte wurden in der Denkschrift systematisch in getrennte Bereiche eingeordnet: die Verfassungsgeschichte wurde der politischen Bildung zugeschlagen. Ihr Weg als von der herkömmlichen Rechtsgeschichte separierte Disziplin im Gebiet des Öffentlichen Rechts, der 1931 in Preußen festgelegt worden war, wurde fortgesetzt und damit ,zementiert'. Zur Begründung der Studienreformpläne hieß es in der Denkschrift des preußischen Kultusministeriums: „Neben der juristischen Ausbildung des Studenten findet eine eingehende geschichtliche und politische Bildung statt. [...] Die deutsche politische Geschichte muß von jedem Juristen wenigstens in den Grundzügen, die neueste Geschichte auch in Einzelheiten beherrscht werden. Ebenso müssen ihm die Einzelheiten der Staats- und verfassungsgeschichtlichen Entwicklung lebendig sein. [...] Jeder Student muß damit rechnen, daß die Kenntnis bestimmter historischer Vorgänge von ihm im Examen verlangt wird. Hierzu gehört die Entstehung des Preußischen Staates, die Geschichte des Preußischen absoluten Staates, die Stein-Hardenbergschen Reformen, Bismarcks Reichsgründung sowie die Kriegs- und Nachkriegsgeschichte in ihren Einzelheiten."135) Begleitend dazu wolle man in den Schulen auf eine
132) UA Freiburg, B 1 Rektorat, Nr. 3761. 133) Biographische Angaben zu beiden bei Grüttner, Biographisches Lexikon (2004), S. 13,33. 134) Ein Studienreformausschuß wurde noch Ende 1933 gebildet. Am 29.12.1933 unter-
richtete das Preußische Kultusministerium die Deutsche Studentenschaft darüber, daß sich ein juristischer Studienplan „in Vorbereitung" befinde. GStA Berlin, Rep. 76 V a, Sekt. l.Tit. 7, Nr.89, Bd.9. 135 Ebd. (Denkschrift mit Korrekturen, 15.2.1934). )
1. Die
Institutionalisierung in der Rechtswissenschaft
195
„stärkere Ausgestaltung des Geschichtsunterrichts nach der rechts- und verfassungsgeschichtlichen Seite" hinwirken. Statt „reiner Tatsachenübermittsollten dem Schüler „von der Darstellung des deutschen Volksgeistes auch die Grundlagen der deutschen Rechts- und Verfassungsentwicklung verständlich gemacht werden". Im Studium folge dann ein „System der Parallelität juristischer, historisch-politischer und volkswirtschaftlicher Vorlesun-
lung" aus
gen"136).
Die in Aussicht genommene eingehende „geschichtliche und politische Bildung" folgte selbstverständlich handfesten ideologischen Vorgaben. Ziel dieser Vorlesungen sei es, „Sinn für politische Größe und heldisches Leben zu wecken". Geschichte und Politik wurden eng miteinander verknüpft, indem Staatssekretär Wilhelm Stuckart vom preußischen Justizministerium im August 1934 eine Veranstaltung mit der Bezeichnung „Staatsbürgerkunde und Verfassungsgeschichte" vorschlug137). Nach diesen ersten Studienreformentwürfen schien zudem bereits festzustehen, daß man die Rechtsgeschichte der Neuzeit separat vom Mittelalter behandeln und in zwei Vorlesungen aufteilen wollte. „Verfassungsgeschichte" und „Privatrechtsgeschichte der Neuzeit" hießen die ins reichsweite Reformprogramm neu aufgenommenen Vorlesungen. Die Denkschrift aus dem preußischen Kultusministerium kursierte im Frühjahr 1934 in weiten Fachkreisen. Befaßt waren damit das Reichs- und das preußische Justizministerium, die Länderkultusministerien, die Rektorenkon-
ferenz, die Preußische Dozentenschaft, die Deutsche Studentenschaft sowie ausgewählte „jüngere nationalsozialistische Dozenten". Auf der Liste von Ministerialrat Achelis standen dabei vor allem Rechtshistoriker und Öffent-
lichrechtler138).
Besonders die Kieler Fakultät trat nachdrücklich für eine der historischen Fächer ein. Ernst Rudolf Huber schrieb im Juni Stuckart, er „begrüße [...] die Erweiterung des Studiums um die ge-
Stärkung 1934
an
136) Ebd. (Änderungsvorschläge Burmeisters, 10.4.1934). Die Vorschläge erfolgten aufgrund der Stellungnahmen aus dem Amt Wissenschaft der Deutschen Studentenschaft sowie der Staatssekretäre im preußischen Justizministerium, Roland Freisler und Wilhelm Stuckart, vom 12. und 22.3.1934. Die am 16.7.1937 erlassenen Richtlinien für die Ausbil-
dung für das Lehramt an höheren Schulen sahen allerdings keine besondere Rolle für die Verfassungsgeschichte vor. Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 3 (1937), S. 363-365. Ebenso wenig traf dies auf die Prüfungsordnung zu. Vgl. Ordnung der Prüfung
für das Lehramt an Höheren Schulen im Deutschen Reich, Berlin 1940. 137) GStA Berlin, Rep. 76 V a, Sekt. 1, Tit. 7, Nr. 89, Bd. 9 (an Achelis, 8.8.1934). Wilhelm Stuckart: Nationalsozialistische Rechtserziehung, Frankfurt a.M. 1935. Ebd., S. 39-56, zum Thema „Hochschule und Recht". Grundgedanke war die „Einheit und Ganzheit wissenschaftlichen Denkens auf völkischer Grundlage" (ebd., S. 41 ). Speziell ebd., S. 43f„ zur Bedeutung der Geschichte für das juristische Studium. Zur Person Stuckarts: [Eva] Rifmmele]: Stuckart, Wilhelm. In: Weiß, Lexikon (1998), S.452f. 138) GStA Berlin, Rep. 76 V a, Sekt. 1, Tit. 7, Nr. 89, Bd. 9. In einem undatierten Vermerk von Achelis zum Verteilungsplan wurden die Rechtshistoriker Justus Wilhelm Hedemann (Jena), Ernst Heymann (Berlin), Carl August Fischer (Hamburg) und die Öffentlichrechtler Georg Dahm (Kiel), Ernst Rudolf Huber (Kiel), Otto Koellreutter (Jena), Paul Ritterbusch (Kiel) und Friedrich Schaffstein (Kiel) genannt.
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schichtlichen und politischen Fächer. [...] Dieser Vorschlag hat die Billigung der Kieler Fakultät gefunden"139). Die Unterstützung der Pläne durch die Vorzeige-Fakultät Kiel wirkte als positives Signal140). Noch im Herbst 1934 wurde die überarbeitete Denkschrift in der „Zeitschrift der Akademie für deutsches Recht" veröffentlicht141). Den weiteren Gang des Verfahrens übernahm nun federführend das Reichserziehungsministerium. Als treibende Kraft agierte dort, unterstützt vom Justizsstaatssekretär Stuckart, der seit 1. Oktober amtierende Leiter der Hochschulabteilung und Hauptreferent für die Fächer Recht, Staat, Politik, Wirtschaft und Geschichte: Karl August
Eckhardt142).
Mit Eckhardt trat ein leidenschaftlicher Rechtshistoriker an die entscheidende Schaltstelle im Ministerium, der es als seine bevorzugte Aufgabe betrachtete, die Fächer Jurisprudenz und Historie miteinander zu verbinden und deutlich aufzuwerten. Insofern trat der prononciert politische Aspekt des Studiums zugunsten des historischen, der selbstverständlich auch politisch war, etwas mehr in den Hintergrund. Anfang Dezember 1934 kündigte das Reichserziehungsministerium kurzfristig eine Hochschullehrertagung an, die von Carl Schmitt als Fachgruppenleiter des „Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen" zum Thema Studienreform einberufen wurde. Bereits in der Mitteilung des Ministeriums war davon die Rede, daß die Reform „alsbald bekannt gegeben werden" solle und zum Sommersemester 1935 in Kraft trete143). Am 20./21. Dezember 1934 fand in Berlin die Tagung zur juristischen Studienreform in Anwesenheit von über 170 Hochschullehrern statt. Mit Aus-
139) Ebd. (16.6.1934). Zwar votierte Georg Dahm für eine Reduzierung der obligatorischen Vorlesungen im historischen Bereich, aber Veranstaltungen zur Rassenkunde. Staats- und Verfassungsgeschichte sowie zur politischen Geschichte seit 1648 wollte auch er verpflichtend einführen (19.6.1934; ebd.). Huber behauptete nach 1945 allerdings, er sei gegen die Studienreformpläne eingetreten. Exposé Huber, S. 9. 140) Dagegen wird in den Stellungnahmen von Ernst Heymann (9.7.1934) und Friedrich Klausing (22.7.1934) die Zahl der historischen Vorlesungen als zu hoch kritisiert. Die Deutsche Studentenschaft lobte wiederum, daß im zweiten Semester „im wesentlichen Geschichte in all ihren Formen zu betreiben sein" werde (25.6.1934). GStA Berlin, Rep. 76 V a, Sekt. 1, Tit. 7, Nr. 89, Bd. 9. 141) Wilhelm Stuckart: Ziel und Weg einer nationalsozialistischen juristischen Studienreform. In: Zs. der Akademie für deutsches Recht 1 (1934), S. 53-55. Am 30.8.1934 bat die Zeitschrift um Übersendung der Denkschrift und sagte die Verteilung von 5 000 Sonderdrucken zu. Ebd. 142) Zu Eckhardts Rolle: Lösch, Geist (1999), S. 440-447. Eckhardt amtierte seit 1.10.1934 im Ministerium und wurde zum 1.1.1935 an die Universität Berlin berufen. Die Initiative Stuckarts bezeugt Eckhardt, Studium (1940), S.7, der auch feststellt, daß es damals zwischen Staats- und Parteistellen einen „erbitterten Kampf aller gegen alle" gegeben habe. 143) GStA Berlin, Rep. 76 V a, Sekt. 1, Tit. 7, Nr. 89, Bd. 9 (13.12.1934). Ankündigung auch in einem Rundschreiben sowie in der .Hauszeitschrift': Deutsches Recht 4 (1934), S. 566. Die Mitglieder des „Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen" waren zuvor aufgefordert worden, „kurz gefaßte Vorschläge" für eine Studienreform einzureichen. UA Freiburg, B 1 Rektorat, Nr. 3761 (Dekan an badisches Kultusministerium, 10.12.1934).
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nähme von Reichsjustizminister Franz Gürtner war die Spitze der deutschen Juristen anwesend: Reichsjuristenführer Hans Frank, Staatssekretär Roland Freisler und Reichsfachgruppenleiter Carl Schmitt144). Das Fach Verfassungsgeschichte wurde in den einzelnen Referaten von dem Münchener Staatsrechtler Johannes Heckel kurz, allerdings nur indirekt, angesprochen. In einem ganz im NS-Jargon gehaltenen Vortrag wies Heckel darauf hin, daß der „berühmteste deutsche Geschichtsforscher [...] dem gewaltigsten deutschen Staatsmann des letzten Jahrhunderts" gesagt habe, der Politiker könne „auch der Lehrer des Historikers" sein. Somit solle in einer „Vorlesung über politische Rechtsgeschichte der neueren deutschen Vergangenheit [...] unserer Jugend im Blick auf die große Wende ihres Schicksals der verfassungsrechtliche Sinn der neueren deutschen Geschichte neu gedeutet" werden. „Aus der Gesamtschau der einzelnen Verfassungsepochen des völkischen Gemeinschaftslebens" erhalte die Gegenwart „die ihr zukommende Geschichtstiefe"145). Bei Heckel bekam die Verfassungsgeschichte somit per se einen politischen Zuschnitt und einen unmittelbaren Gegenwartsbezug. Vor diesem Hintergrund war die Zurückdrängung von möglicherweise unpolitisch argumentierenden Historikern gegenüber den vom neuen Recht her deutenden Juristen nur konsequent. Im Anschluß an die insgesamt 13 Beiträge aus allen Rechtsgebieten hielt Karl August Eckhardt das Schlußreferat, in dem er seine Kollegen nachdrücklich zur aktiven Gestaltung des Rechtslebens aufrief und alles Abwarten verurteilte: „Wenn wir uns zurückhalten, dann wird jede Gesetzesreform ohne uns gemacht, wenn wir aber auf dem Gebiete der Studienreform vorstoßen, dann können wir unter Umständen außerordentlich viel leisten"146). Eckhardt war jemand, der „vorstoßen" wollte und die Möglichkeiten dazu besaß147). Er war ein ,Macher' mit Macht. Sein Referat wurde, schenkt man den mitabgedruckten Reaktionen des Publikums Glauben, abwechselnd mit „großer Heiterkeit" und „lebhafter Zustimmung" aufgenommen148). Eckhardt legte besonderen Nachdruck auf die historischen Fächer, die er zur Betonung ihrer Wichtigkeit mit bis zu zwei Sternen in der Studienordnung markieren ließ. Die frühere Vorlesung zur Deutschen, nun Germanischen Rechtsgeschichte
144) Kurzbericht von der Tagung in: Deutsches Recht 5 (1935), S. 21. 145) Johannes Heckel: Staats-, Verwaltungs- und Kirchenrecht im Dritten Reich. In: dm./[Heinrich] Henkell[G\islav Adolf] Wa/z/[Karl] Larenz, Berichte über die Lage und das Studium des öffentlichen Rechts, Hamburg 1935 (= Der deutsche Staat der Gegenwart,
12), S. 9-29, hier S. 25.
146) Eckhardt, Studium (1935), S. 16. 147) Eckhardts Gegenspieler auf der Tagung
war
der Breslauer Zivilrechtler Heinrich
Lange.
148)
Das Referat vom 21.12.1934 findet sich in Eckhardt, Studium (1935), S. 16-32. Zur Entstehung der Studienordnung von 1935: Nehlsen, Eckhardt (1987), S.504f; Klippel, Entstehung (1987), S. 152-155; Ralf Frassek: Weltanschaulich begründete Reformbestrebungen für das juristische Studium in den 30er und 40er Jahren. In: ZRG/GA 111 (1994), S. 564-591, hier S. 569-571; ders.: Steter Tropfen höhlt den Stein Juristenausbildung im Nationalsozialismus und danach. In: ZRG/GA 117 (2000), S. 294-355, hier S. 300-302. -
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beschränkte sich auf das Mittelalter. In der neuzeitlichen Rechtsgeschichte unterschied man die beiden neu eingeführten Vorlesungen zur Verfassungsgeschichte der Neuzeit und zur Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. Nur hier galt noch die ansonsten abgeschaffte Trennung von öffentlichem und privatem Recht. Die Verfassungsgeschichte der Neuzeit umfaßte drei bis vier Stunden, sollte im zweiten Semester gehört werden und erhielt einen Stern149). Eckhardt betonte ganz am Ende seiner Ansprache besonders die nichtjuristischen historischen Veranstaltungen, weil dadurch die Studenten „einen Hauch der universitas literarum verspüren" könnten. In diesem Zusammenhang führte er aus: „Ferner muß jeder Student nach meiner Ansicht eine historische Vorlesung, möglichst über die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts, hören. Gerade auf historischem Gebiete ist das Unwissen der Studenten am katastrophalsten. Viele wissen z. B. nicht, was der Deutsche Bund ist. Ich habe die tollsten Dinge auf diesem Gebiete erlebt und jeder von Ihnen kann mir diese Wahrnehmung bestätigen."150) Am Richtlinienentwurf wie er bereits vor der Tagung festgelegt worden war, wurde trotz der unterschiedlichen Konferenzbeiträge und verschiedener Interventionen im Nachgang weitgehend festgehalten. Ernst Rudolf Huber hatte wegen der ihn interessierenden Vorlesungen „Verfassung", „Verwaltung" und „Verfassungsgeschichte der Neuzeit" noch einmal mit seinem ehemaligen Kieler Kollegen Eckhardt konferiert. Im Ergebnis wurde allerdings nur für die Vorlesung über „Verfassung" eine Stunde mehr eingeplant. Huber glaubte gleichwohl, am Ende von einer „im Ganzen doch erfreulichen und erfolgreichen Tagung" sprechen zu können151). Gerade einmal den Jahreswechsel ließ das Ministerium verstreichen, bevor bereits am 11. Januar, eine Woche vor der amtlichen Bekanntgabe, Eckhardt den juristischen Fakultäten den neuen
Studienplan mitteilte152).
In den „Richtlinien für das Studium", die Reichserziehungsminister Bernhard Rust am 18. Januar 1935 offiziell verkündete153), wurde die Rechtswisneben Eckhardt, Studium (1935), S.25, die ergänzenden Ausführungen in der Auflage: ders., Studium (1940), S. 13. 15°) Ders., Studium (1935), S.30f. Die Formulierung findet sich fast wörtlich übernommen, allerdings ohne das Beispiel am Schluß, in der Einführung der zweiten Auflage. Ders., Studium (1940), S. 17. Der gleiche Vorwurf der „Unwissenheit" auch bei Julius von Gierke: Die neue rechtswissenschaftliche Studienordnung in Deutschland. In: Zs. für das gesamte Handelsrecht und Konkursrecht 100 (1935), S. 145-198, hier S. 169. 151) HStA Düsseldorf, NL Schmitt, RW 265, Nr. 6267 (an Carl Schmitt, 30.12.1934). Nach einer brieflichen Mitteilung von Tula Huber-Simons an den Verfasser am 2.7.1997 ging die Einfügung der „Verfassungsgeschichte der Neuzeit" in die Studienordnung „auf die Initia-
149) Vgl.
zweiten
tive" ihres Mannes zurück. 152) So beispielsweise an die Heidelberger Fakultät. UA Heidelberg, H-II-822/2. Die Eile rührte daher, daß man den Studienplan rechtzeitig für das Sommersemester in Kraft setzen wollte. 153) Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1 (1935), S. 48-50; Eckhardt, Studium (1935), S.7-15. Nach Eckhardt erfolgte die Inkraftsetzung angeblich bereits am 10.1.1935.
1. Die
Institutionalisierung in der Rechtswissenschaft
199
senschaft in ihren Grundfesten politisiert und historisiert. Mit dem Aufruf „Die deutsche Rechtswissenschaft muß nationalsozialistisch werden" wurden die Richtlinien eingeleitet. Beim „Neubau der Universitäten" sollten zunächst die rechtswissenschaftlichen Fakultäten in Kiel, Breslau und Königsberg bevorzugt werden, da sie „als politischer Stoßtrupp ausersehen sind"154). Dem Fachstudium ging ein politisches Grundstudium voraus, in dem Vorlesungen über Rasse, Sippe und Volkskunde auf dem Programm standen. Außerdem wurden „Vorgeschichte", „Antike" und „Germanische Rechtsgeschichte", „Privatrechtsgeschichte der Neuzeit", „Neueste politische Geschichte" und „Verfassungsgeschichte der Neuzeit" als Grundlagenfächer in den Vorlesungskanon vornehmlich der frühen juristischen Fachsemester festgeschrieben. Jeder Student müsse, so hieß es einleitend, „die völkischen", d. h. besonders die historischen „Grundlagen der Wissenschaft kennen lernen"155). Diese Einführung solle „an das Gemeinschaftserlebnis anknüpfen, das er [der Student, E.G.] in der SA, in der HJ, im Arbeitsdienst gehabt hat", und dazu dienen, daß der angehende Jurist „auf völkischer Basis deutsches Recht beurteilen und fremdes Recht erkennen" könne156). Die kämpferisch-programmatische Popularisierung der neuen Studienordnung erfolgte unmittelbar im Anschluß an die Tagung in zwei Heften der weitverbreiteten Broschürenreihe „Der deutsche Staat der Gegenwart"157). Diese Reihe wurde von Carl Schmitt herausgegeben und erschien im Hausverlag mehrerer juristischer Partei- und Staatsstellen, der Hanseatischen Verlagsanstalt158). Karl August Eckhardt ließ sein Tagungsreferat vom Dezember 1934 zusammen mit den Richtlinien und einem Studien- und Semesterplan abdrucken. Dem Studienplan zufolge lag im zweiten Semester der Schwerpunkt auf dem historischen Sektor. In einer drei- bis vierstündigen Vorlesung über „Neueste Politische Geschichte" sollte „die Entwicklung des deutschen Volkes in den letzten 100 Jahren", besonders die „Geschichte der Parteien" und die „Nationalsozialistische Bewegung", behandelt werden. Zur Vorlesung „Ver-
154) Ebd., S. 9. Die Feststellung Wieackers, die Studienordnung sei „wesentlich nicht politisch motiviert" gewesen, verzeichnet den Charakter der Richtlinien. Franz Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, Göttingen 21967, S.555. So auch Ralf Frassek: Juristenausbildung im Nationalsozialismus. In: KJ 37 (2004), S. 85-96, hier S. 86. 155) Eckhardt, Studium (1935), S. 7. 156) Reinhard Höhn: Die neue Studienordnung für Rechtswissenschaft im Rahmen der Universitätsreform. In: Deutsches Recht 5 (1935), S. 51-53, hier S. 51f. 157) Eckhardt, Studium (1935). Die Broschüre erschien mit einem Vorwort vom 20.1.1935 als Heft 11. HeckellHenkellWalzILarenz, Berichte (1935), enthielt als Heft 12 die Referate zum Bereich des öffentlichen Rechts. Ein zeitgenössischer Beitrag zur Privatrechtsgeschichte: Justus Wilhelm Hedemann: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. In: Festschrift für Rudolf Hübner zum 70. Geburtstag, Jena 1935, S. 5-18. 158) Zur „verlegerischen Betreuung der Studienreform": Lokatis, Hanseatische Verlagsanstalt (1992), S.61f.
200
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fassungsgeschichte der Neuzeit" hieß es erläuternd: „Umfaßt die Entwicklung des sogenannten öffentlichen Rechts vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Kann auch als .Rechtsentwicklung der Neuzeit' angekündigt werden, wenn die (auch als Wahlvorlesung erwünschte) Geschichte des Straf- und
einbezogen wird. Rechtsvergleichende Ausblicke dringlichst zu wünschen."159) Geplant war somit ein inhaltlich ausgesprochen breit angelegter Überblick, der neben dem Kern einer Verfassungsgeschichte auch rechtshistorische sowie rechtsvergleichende Kenntnisse vermitteln sollte. Ein solches Programm erscheint ebenso anspruchsvoll für Zweitsemester wie schwer durchführbar innerhalb des vorgegebenen engen Zeitrahmens von drei bis Prozeßrechts
vier Wochenstunden160). Die umfangreichsten Einwände gegen die Studienordnung richteten sich auf das Vorlesungsprogramm im Bürgerlichen Recht, das durch eine Gliederung in Lebensbereiche zu einer systematischen Aufspaltung der verschiedenen Bücher des Bürgerlichen Gesetzbuches führen werde161). Überhaupt standen praktische Probleme der Umsetzung, wie z.B. die unklare Bezeichnung vieler Vorlesungsinhalte durch abstrakte Begriffe, im Vordergrund der Kritik. Am weitaus unumstrittensten erwiesen sich die neu eingeführten historischen Vorlesungen. Nur ein Jahr nach Erlaß der Studienordnung äußerte sich Carl Schmitt als Reichsfachgruppenleiter des „Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen" „über die neuen Aufgaben der Verfassungsgeschichte"162). „Das neue Fach ist nicht als eine aus Teilstücken, zum Beispiel aus der früheren Rechtsgeschichte, der politischen Geschichte, allgemeinen Staatslehre usw. zusammengesetzte, bloße Materienkombination, sondern als wissenschaftliche Einheit gedacht." Es solle die bisher übliche „Trennung einer ,rein juristischen' von einer ,rein geschichtlichen' Betrachtungsweise" überwinden. Es werde ein „zusammenfassendes Geschichtsbild entstehen, das die Rechtsentwicklung als eine Schöpfung deutschen Lebens in ihrer volklichen Einheit erkennen lässt. [...] Mit dem Lehrfach ,Verfassungsgeschichte' beginnt hoffentlich
159) Eckhardt, Studium (1935), S. 13. In der zweiten Auflage ders., Studium (1940), S. 24f, heißt es: „Bietet [...] die Entwicklung der Verfassung allein oder ergänzt durch die Geschichte des Straf- und Prozeßrechts vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart." Die inhaltlichen Erläuterungen dieses „Semesterplans" fehlen im Text der Richtlinien. 16°) So Hans Fehr: Das Rechtsstudium im Deutschen Reiche. In: Schweizerische JuristenZeitung 31 (1934/35), S. 277-279; 32 (1935/36), S.4-7, hier S.279. Vgl. auch Cl.[audius] Frhr. von Schwerin: Rechtsgeschichte und Geschichtswissenschaft. In: Zs. der Akademie für deutsches Recht 5 (1938), S. 15-17. 161) Dies steht im Mittelpunkt der gründlich recherchierten Aufsätze von Ralf Frassek. Frassek, Reformbestrebungen (1994), ders., Tropfen (2000), bes. S. 302-307, und ders., Juristenausbildung (2004).
Carl Schmitt: Über die neuen Aufgaben der Verfassungsgeschichte. In: ders., Positiound Begriffe im Kampf mit Weimar Genf Versailles 1923-1939, Hamburg 1940, Ndr. Berlin 1988, S. 229-234 [zuerst in: Jb. der Akademie für Deutsches Recht 3 (1936), S. 10-15].
162)
nen
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Institutionalisierung in der Rechtswissenschaft
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auch ein neuer Abschnitt der Geschichtswissenschaft."163) Carl Schmitt brachte die zutiefst ideologisierten Grundgedanken der Studienordnung von 1935 mit Blick auf die Verfassungsgeschichte auf den Punkt. Es ging um die Vermittlung eines neuen dem Nationalsozialismus gemäßen Geschichtsbildes. Schmitt forderte seine Hochschullehrerkollegen auf, „echte, aus den Grundsätzen der nationalsozialistischen Weltanschauung gestaltete Formen der Lebensordnungen des deutschen Volkes" herauszuarbeiten164). Außerdem hoffte er über die inhaltliche Neuausrichtung der Verfassungsgeschichte, generell ein ideologisch einwandfreies' Geschichtsbild zu installieren. Trotz der inhaltlichen und programmatischen Bemühungen von Huber und Schmitt war die Diskussion über die Studienreform keineswegs abgeschlossen. Im Mai 1937 erfolgte eine Befragung juristischer Fakultäten über die Erfahrungen mit der Studienordnung. Während die Heidelberger Juristen davon sprachen, daß sich die „Einteilung der geschichtlichen Vorlesungen [...] bewährt" habe, monierten ihre Freiburger Kollegen die Häufung historischer Veranstaltungen in den ersten beiden Semestern. So werde „manchen Studenten zwei Semester lang verhüllt [...], worum es sich beim rechtswissenschaftlichen Studium überhaupt handelt"165. Die Umfrage ergab zudem, daß eine
Vorlesung
zur
Verfassungsgeschichte
zwar
überwiegend angeboten wurde,
aber z.B. an den Universitäten in Köln, Königsberg und Münster fehlte. Der zeitliche Umfang dieser Veranstaltung schwankte ebenso wie das Semester, in dem sie durchgeführt wurde166). 1938/39 beschäftigte sich ein Ausschuß der „Akademie für Deutsches Recht" mit einer „Überprüfung der rechtswissenschaftlichen Studienordnung", also einer möglichen Reform der Reform. Auch hier erwiesen sich die historischen Vorlesungen als die mit Abstand anerkanntesten Veranstaltungen167). Zwar versuchten einzelne Rechtshistoriker, die Verfassungsgeschichte zugunsten einer Rechtsgeschichte der Neuzeit im Stundenumfang zu
163) Ebd.,S.231f. 164) Ebd., S. 234. 165) GLA Karlsruhe,
Abt. 235, Nr. 4620 (Dekan Krause, Heidelberg, 26.5.1937; Dekan Maunz, Freiburg, 6.7.1937). 166) BA Berlin, R 22, Nr. 1729 (Akademie für Deutsches Recht an Reichsjustizministerium, November 1938). Der Umfang reichte von ein bis drei Semesterwochenstunden, der
Zeitpunkt lag zwischen dem ersten und dem siebten Semester. Eine Stichprobe in den entsprechenden Vorlesungsverzeichnissen ergab, daß in Breslau Hans Helfritz die „Verfassungsgeschichte der Neuzeit" regelmäßig dreistündig las. In Heidelberg war Carl Bilfinger für die „Verfassungsgeschichte" zuständig, in Leipzig lasen sie Ernst Rudolf Huber und der Strafrechtler und Rechtshistoriker Eberhard Schmidt (in allen Fällen dreistündig). 167) Material dazu in BA Berlin, R 61, Nr. 348, bes. fol. 144-162 (Protokoll der zweiten Ausschußsitzung, 5./6.5.1939). Zur Geschichte der „Akademie" generell, allerdings sehr organisationsgeschichtlich ausgerichtet: Hans-Rainer Pichinot: Die Akademie für Deutsches Recht. Aufbau und Entwicklung einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft des Dritten Reichs, jur. Diss, Kiel 1981; Hans Hattenhauer: Die Akademie für Deutsches Recht (1933-1944). In: JuS 1986, S. 680-684.
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kürzen, aber damit stießen sie auf den entschiedenen Protest der Öffentlichrechtler. Die Verfassungsgeschichte ermögliche dem Staatsrechtler, „die poli-
Entwicklung unseres Volkes in seinen Ideen und in seinen Formen zu es ebenso apodiktisch wie inhaltlich nichtssagend in einer Kieler Stellungnahme168). Letztlich beruhte der Gegensatz zwischen der Aka-
tische
schildern", hieß
demie und der Kieler Fakultät, wie zu Recht vermutet worden ist, auf einer Auseinandersetzung zwischen dem „Bollwerk Eckhardtscher Positionen" aus dem Lager der SS und dem Kreis um Carl Schmitt169). Da jedoch beide Parteien an der deutlichen historischen Ausrichtung des Studiums festhielten und gerade die Verfassungsgeschichte sich als eine der unangreifbarsten Materien etabliert hatte, blieben die historischen Gebiete von Kompetenzgerangel und Gremienzwist weitgehend verschont170). Selbst im Rahmen einer Fundamentalkritik, wie sie Ernst Forsthoff Anfang der vierziger Jahre äußerte, als er die Studienordnung insgesamt als „glatten Fehlschlag" bezeichnete, kam die Vorlesung zur Verfassungsgeschichte positiv davon. „Die Verfassungsgeschichte übernimmt mit gutem Erfolg einen Teil des Stoffes der früheren Allgemeinen Staatslehre. Die Vorlesung hat sich sehr bewährt und muss mit einer gewissen Modifikation [...] bleiben." Mit dieser „Modifikation" war eine Veranstaltung gemeint, welche die frühere Allgemeine Staatslehre voll abdeckte. Forsthoffs Vorschlag bestand darin, eine zweistündige Vorlesung zur Verfassungsgeschichte chronologisch mit dem Wiener Kongreß abzuschließen und eine Veranstaltung neu einzuführen, welche die „Verfassungs- und Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts" drei- bis vierstündig behandle und 1918 ende. „Diese Vorlesung würde eine Verbindung zwischen der Verfassungsgeschichte und der Staats- und Rechtssoziologie herstellen. [...] Sie soll sich nicht auf die deutschen Verhältnisse beschränken, sondern in großen Zügen die Sozialgeschichte der wesentlichen europäischen und außereuropäischen Staaten behandeln."171) Interessanterweise kam die Novelle der Studienordnung von 1944 diesem Vorschlag sehr nahe. Die Diskussion um die Juristenausbildung ließ auch während der Kriegsjahre keineswegs nach172). Das läßt darauf schließen, daß man die Bedeutung
168) Kieler Stellungnahme zum Studienplan-Entwurf der „Akademie für Deutsches Recht" aus dem Frühjahr 1939. Zit. nach Frassek, Reformbestrebungen (1994), S. 586-591, hier S. 589. 169) Ders., Tropfen (2000), S.314f„ dort auch weitergehende Zusammenhänge und Schlußfolgerungen zur Position der SS in diesem Streit. Eckhardt selbst mußte nach Auseinandersetzungen mit Walter Frank und Alfred Rosenberg seit Herbst 1935 seine wissenschaftspolitischen Machtpositionen räumen. Er schied aus dem Ministerium aus und wechselte im Sommer 1937 an die Universität Bonn. Heiber, Frank (1966), S. 865,911. 17°) Aufschlußreich ist die Untersuchung der praktischen Umsetzung der Studienordnung anhand der Beispiele Halle-Wittenberg und Tübingen: Frassek, Tropfen (2000), S. 321-331. 171) GStA Berlin, Rep. 76, Nr. 192 (undatiert). 172) Unberührt davon erschien die Broschüre Eckhardts zur Studienordnung in wenig veränderter Form in zweiter Auflage: Eckhardt, Studium (1940).
1. Die
Institutionalisierung in der Rechtswissenschaft
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des Themas hoch einschätzte. Zweimal jährlich trafen sich die Vertreter der juristischen Fakultäten des Reiches173). Besonders die Staatsrechtler beschwerten sich, daß dem Öffentlichen Recht nicht der angemessene Stellenwert zukomme. Für eine Vorlesung zur „Verfassungsgeschichte des Reichs" im ersten Semester veranschlagte eine Arbeitsgruppe unter Leitung von Ernst
Rudolf Huber im Januar 1941 drei bis fünf Stunden174). Sie solle als „Einführung in das politische und das verfassungsrechtliche Denken" dienen, „die deutsche Verfassungsentwicklung seit dem mittelalterlichen Reich darstellen und dabei die Erscheinungen des politischen, sozialen und geistigen Lebens einschließen". „Das Schwergewicht" solle „auf den Epochen des modernen Staates liegen" und der Stoff „mindestens bis zum Jahre 1918" behandelt werden175). Auch in einem Kieler Vorschlag war eine „Deutsche Reichsgeschichte" vierstündig im ersten Semester und eine die Reichsgeschichte „rechtsvergleichend" ergänzende „Verfassungsgeschichte der Neuzeit" zweistündig im zweiten Semester vorgesehen176). 1942 wurde die Verfassungsgeschichte auch in die Studienplanentwürfe für den „Verwaltungsführernachwuchs" integriert177). An den Planungen war erneut Ernst Rudolf Huber beteiligt. In seinem „Gesamtplan" „für die Neugestaltung des staatswissenschaftlichen Studiums", den er im September 1942 an seinen ehemaligen Kollegen und späteren Kieler Rektor, den neuen starken Mann im Reichserziehungsministerium, Paul Ritterbusch, sandte, waren die „Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der Neuzeit" mit vier bis fünf Stunden sowie zwei „weitere Hauptvorlesungen aus dem Gebiet der Geschichte [...] nach Wahl" mit weiteren vier bis fünf Stunden veranschlagt178). Selbst in dem auf vier Semester und zwei Zwischenkurse verkürzten Jurastudium für Kriegsteilnehmer sollten in drei Wochenstunden des ersten Semesters die „Grundzüge der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der deut-
173) Frassek, Tropfen (2000), S. 331. 174) BA Berlin, R 22, Nr. 1729, fol. 115-121 (Huber an Otto Palandt, 10.1.1941). Bei der Zusammenkunft im Oktober 1940 waren außer Huber (Leipzig) noch Ernst Forsthoff (Königsberg), Hans Gerber (Leipzig), Arnold Köttgen (Greifswald), Ulrich Scheuner (Göttingen)
und Werner Weber (Berlin) anwesend. Die Vorschläge lagen im September 1941 den Fakultäten des Reichs vor. GStA Berlin, Rep. 76, Nr. 192 u. 193. i") BA Berlin, R 22, Nr. 1729, fol. 119. 176) GStA Berlin, Rep. 76, Nr. 193, fol. 130-144 (an den Berliner Dekan, 14.10.1941).
Auch der Leipziger (Michaelis, 2.10.1942) und der Straßburger Dekan (Schaffstein, 20.9.1941) schlugen drei- bis fünfstündige Vorlesungen zur deutschen Verfassungsgeschichte der Neuzeit vor. Ebd., fol. 43-60. 86-104. Abweichend davon sah ein Leipziger Semesterplan statt Verfassungsgeschichte im fünften Semester eine dreistündige „Rechtsgeschichte der Neuzeit" vor, die „insbesondere den Zusammenhang des Rechts mit der politischen Verfassung zu entwickeln" habe. Ebd., Nr. 194, fol. 72-79 (Michaelis an Ritterbusch, 30.8.1942). 177) Ebd., Nr. 194, fol. 173-176 (undatiert). 178) Ebd, fol. 176a-181 (12.9.1942). Diese Planungen wurden im übrigen als „kriegswichtig" klassifiziert (29.7.1942). BA Berlin, R 4901, Nr. 805, fol. 26-34.
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sehen Länder, vornehmlich Preußens seit dem Großen Kurfürsten und Österreichs seit Joseph II. bis zur Machtergreifung" vermittelt werden179). Als diese Planungen jedoch darauf hinausliefen, die Verfassungsgeschichte mit der Rechtsgeschichte zusammenzulegen, erhob sich bei einigen Dekanen Widerstand. „Die ,Verfassungsgeschichte der Neuzeit' und die .Privatrechtsgeschichte der Neuzeit' [haben sich] bestens bewährt und auch literarisch anregend gewirkt", war aus Münster zu hören. Und der Leipziger Dekan Karl Michaelis pflichtete bei: Werde die Verfassungsgeschichte der Neuzeit „in die allgemeine Rechtsgeschichte [...] einbezogen, so kommt erfahrungsgemäss die Neuzeit oft zu kurz."180) Der Hintergrund der Proteste war eindeutig: es ging einerseits um den weiteren Verbleib der Verfassungsgeschichte im Öffentlichen Recht, und es sollte andererseits die Rechtsgeschichte nicht erneut auf das Mittelalter reduziert werden. Die Pläne wurden hin- und hergewälzt. Die Probleme einer Zusammenlegung von Rechts- und Verfassungsgeschichte und einer Trennung von Mittelalter und Neuzeit wurden wiederholt diskutiert. Aber die „Verfassungsgeschichte der Neuzeit" stand bei allen Diskussionen nie grundsätzlich zur Disposition, sondern es ging lediglich um ihre Verknüpfung mit der Rechtsgeschichte einerseits oder der Verwaltungsgeschichte andererseits. Die Reformpläne wandelten sich, aber der historische Ausbildungsbestandteil blieb erhalten. Die Verfassungsgeschichte hatte sich als juristisches Teilfach mit eigener Vorlesung fest etabliert. In das Planungswirrwarr griff nach einem ersten Vorstoß Ende 1939 im Dezember 1943 erneut die Parteikanzlei der NSDAP ein, da sonst ein Abschluß der Beratungen nicht absehbar schien. Die letzten Rücksprachen zwischen dem Reichserziehungsministerium und einem Kreis von zehn Experten fanden im Mai 1944 statt. Die Leitung der Beratungen oblag dem Berliner Arbeitsrechtler Wolfgang Siebert181). Auffällig ist, daß die meisten Beteiligten bei den Diskussionen über eine Studienreform in den dreißiger und vierziger Jahren früher in Kiel gelehrt hatten. Dies traf für Siebert ebenso zu wie für Dahm, Eckhardt, Huber, Michaelis, Ritterbusch und Schaffstein. Derjenige aus diesem ,Alt-Kieler' Kreis, welcher sich mit Nachdruck für die Verfassungsgeschichte stark machte und eine der zentralen Figuren bei den Beratungen darstellte, war Ernst Rudolf Huber182). Auf einer Tagung der juristischen Dekane in Posen am 10. Juli 1944 wurde die neugestaltete Studienordnung beschlossen und zum 1. Oktober 1944 in Kraft gesetzt. Die „Neuordnung des Studiums in den Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultäten" sah im ersten Semester eine vierstündige Vorle-
179) BA Berlin, R 21, Nr. 471 (Reichserziehungsministerium an Reichsinnen- und justizministerium, 6.3.1943). 180) GStA Berlin, Rep. 76, Nr. 190, fol. 80-83, 86-88 (6.10.1943). 181) Ebd., Nr. 191 (24.1„ 14.3. und 26.5.1944). 182)
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Reichs-
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sung zur „Deutschen Rechtsgeschichte" sowie eine zweistündige zur „Politischen Geschichte Europas seit dem 18. Jahrhundert" vor. Im zweiten Semester folgte dann eine zweistündige Vorlesung zur „Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der Neuzeit". Das Konzept ähnelte damit den früheren Gedanken Ernst Forsthoffs. Das für Kriegsteilnehmer von sechs auf vier Semester verkürzte Studium enthielt exakt die gleiche Anzahl und den gleichen Umfang an historischen Veranstaltungen. In einem ersten „Zwischenkurs" sollte außerdem die Vorlesung zur „Verfassung" „einschließlich Volk und Staat und Verfassungsgeschichte" wiederholt werden183). Da die „Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der Neuzeit" jedoch für das zweite Studiensemester vorgesehen war und die Reform erst zum Winter 1944/45 umgesetzt wurde, fand im Sommersemester 1945 diese Veranstaltung kriegsbedingt nicht mehr statt184).
d) Lehrbücher und Zeitschriften Die Diskussion über die juristische Studienordnung hatte erhebliche Auswirkungen im Bereich des wissenschaftlichen Buchmarktes. Denn im juristischen Hochschulbetrieb war es seit langem Usus, daß begleitend zu den Vorlesun-
gen Studienbücher erschienen, die den Stoff für eine Nacharbeitung übersichtlich aufbereiteten. Bereits kurz nach der nationalsozialistischen Machtübernahme hatte der Verlagssektor in Erwartung der Veränderungen neue Buchreihen konzipiert, alte umgeformt oder neu betitelt, um den politischen Erwartungen inhaltlich zu entsprechen. Auch die Reichsfachgruppe Hochschullehrer im „Bund nationalsozialistischer deutscher Juristen" hatte 1934 eine „Reform der Lehrmittel, insbesondere der Lehrbücher" angekündigt185). Ernst Rudolf Huber betonte, „wie wichtig die Frage der Lehrmittelreform ist"186). Zwar sei er „an sich an Grundrissen und Lehrbüchern persönlich gar nicht interessiert [...]. Aber ich fürchte, daß wir uns dieser so außerordentlich wichtigen Aufgabe nicht entziehen können."187) Die „nationale Revolution" in der Politik führte zu einem Aufbruch im Publikations- und Verlagswesen. Zunächst ging es darum, den Erfordernissen der Studienreform zu genügen. Generell aber beabsichtigte man, die Neuordnung von Staat und Recht im Sinne des Nationalsozialismus ohne die zügige Ausbildung eines politisch indoktrinierten Juristenstandes durch geeignete
183) Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 10 (1944), S. 202-204. Die Bekanntmachung erfolgte am 15.7.1944. 184) In den stichprobenartig erhobenen Fällen ist für das Sommersemester 1945 kein Vorlesungsverzeichnis mehr erstellt worden. 185) Carl Schmitt: Bericht über die Fachgruppe Hochschullehrer im BNSDJ. In: Deutsches Recht 4 (1934), S. 17. 186) BA Koblenz, N 1505, Nr. 198 (an Schmitt. 8.7.1934). 187) Ebd. (an Schmitt, 19.10.1934). Schmitt kündigte für die Studienreform-Tagung an, daß „eine Hauptfrage [...] die Grundrisse betreffen" werde. Ebd. (an Huber, 10.12.1934).
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Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
Studienliteratur zu unterstützen. Um dies zu erreichen, sollten vor allem die alten „liberalistischen" Lehrbücher neuen Grundrissen weichen, die das politisierte Recht vermittelten188). Bei den Publikationen im Bereich des Öffentlichen Rechts konnten allein kosmetische oder semantische Korrekturen nicht genügen. Da die Weimarer Verfassung zwar nicht formell, aber faktisch außer Kraft gesetzt war, mußten die Lehrbücher des neuen Staatsrechts völlig neu konzipiert und an den Erfordernissen des nationalsozialistischen Führerstaats ausgerichtet werden. Gleiches galt auch für die seit 1935 notwendigen Überblickswerke zur deutschen Verfassungsgeschichte. Ernst Rudolf Huber stand bei dieser „Reform der Lehrmittel" im Bereich des Öffentlichen Rechts in vorderster Linie. Er verstand es mit Geschick, seine Position gegenüber den Verlagen so weit auszubauen, daß er bald als umworbener wissenschaftlicher Autor galt, der zudem die Redaktion eines der wichtigsten Periodika übernahm. Für das Teilfach der Verfassungsgeschichte besaßen alle drei Funktionen Hubers als Autor, Buchreihen- und Zeitschriftenherausgeber Bedeutung. Die Bemühungen der Hochschullehrer um eine geeignete publizistische Plattform zur Präsentation neuer Überblickswerke korrespondierte mit einem starken verlegerischen Interesse. Im Falle des auch auf juristisches Schrifttum spezialisierten Tübinger Traditionsverlages Mohr Siebeck versuchte dessen Inhaber Oskar Siebeck, die Neugestaltung seines Programms parallel in den Sektoren Zeitschriften und Lehrbücher durchzuführen189). Er nutzte dabei seine guten Kontakte zu Carl Schmitt und dessen Schülerkreis, die seit Ende der zwanziger Jahre bestanden190). Deshalb wandte er sich im Januar 1934 an Huber, um die Konzeption juristischer Einführungsliteratur anzuregen. Siebecks Plan zielte auf eine Studienbuchreihe, die alle Rechtsgebiete umfaßte. Hubers Rolle konnte sowohl die eines Reihenherausgebers wie die eines Autors sein. Siebeck dachte zunächst an ihn als Verfasser eines Staatsrechts-Lehrbuchs. Huber bekundete umgehend sein nachdrückliches Interesse. Er bedankte sich höflich für die „ehrenvolle Aufforderung [...], eine solche Darstellung des deutschen Staatsrechts zu schreiben", wies aber im Januar 1934 auf die Probleme hin: „solange das Staatsrecht [...] so in Bewegung ist,
188) Grüttner, Studenten (1995), S. 155-205, untersucht in seinem Abschnitt über „Ausbildung und Lehre" nicht die Lehrmittel. 189) Oskar Siebeck: Die Aufgabe des wissenschaftlichen Verlags im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Tübingen 1934. Siebeck sprach von der „Krisis des wissenschaftlichen Lehrbuchs" (ebd., S. 11-18), die nur durch kurzgefaßte Darstellungen überwunden werden
könne. Ebd., S. 16-18. 19l)) Die Korrespondenz mit Huber, dessen Dissertation 1927 bereits bei Mohr Siebeck verlegt wurde, bezog sich auf eine Empfehlung von Carl Schmitt (VA Mohr, K. 458; Huber an Siebeck, 15.5.1931). Zur gleichen Zeit verhandelte Siebeck auch wegen des Drucks der Habilitationsschrift von Ernst Forsthoff (ebd.; Siebeck an Huber, 2.6.1931). 1932 erschienen sowohl Hubers Antrittsvorlesung als auch seine Habilitationsschrift über „Wirtschaftsverwaltungsrecht" bei Mohr Siebeck. Ebd., K. 458 u. 466.
1. Die
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wie es in dem letzten Jahre war, [...] wird es kaum denkbar sein, eine systematische Darstellung zu veröffentlichen". Und er fügte hinzu: „Es fragt sich auch, ob es nicht notwendig ist, den Erlaß einer neuen Verfassung abzuwar-
ten."191)
Die weiteren Verhandlungen zwischen Huber und Siebeck zeigen deutlich das gemeinsame Interesse an der Sache. Huber machte deutlich, daß „Darstellungen des neuen Staats- und Verwaltungsrechts" von Autoren stammen sollten, die „von einer gemeinsamen politischen und wissenschaftlichen Grundlage ausgehen". Demnach müsse das Verwaltungsrecht „von Jemandem geschrieben werden, mit dem ich sachlich kooperieren kann". In erster Linie dachte er an Ernst Forsthoff192). Auch später hielt er daran fest, dass eine ideologische Nähe Voraussetzung für eine fachliche Zusammenarbeit sei. Im Herbst 1934 betonte er nochmals, daß „eine Grundrißreihe dieser Art [...] nur sinnvoll [ist], wenn die einzelnen Beiträge aus einheitlichem Geiste geschaffen sind". Diesmal verwies er den Verleger an die „Ihnen bekannte Gruppe junger Rechtswissenschaftler" in Kiel und erwähnte vor allem Georg Dahm. Eine Zusammenarbeit mit dem Breslauer Heinrich Lange könne er sich auch vorstellen, nicht aber mit dem Münsteraner Dozenten Karl Siegert oder mit Otto Koellreutter, deren Ansichten „nicht in den Rahmen unserer Reihe passen"193). Huber und Siebeck konnten sich am Ende nicht über das Publikationsvorhaben einigen194). Ihre Zusammenarbeit beschränkte sich fortan auf den Zeitschriftensektor. Hubers Monographien und Broschüren erschienen bei der Hanseatischen Verlagsanstalt195). Im Bereich juristischer Buchreihen gab es mehrere Verlage, die mit ihren Produkten in Konkurrenz standen. Die bei Mohr Siebeck erscheinenden „Grundrisse des Deutschen Rechts" wurden von den beiden Zivilrechtlern Heinrich Stoll und Heinrich Lange herausgegeben und hatten ihren Schwerpunkt dementsprechend in diesem Bereich. Ein ähnliches Unternehmen eta191
) Ebd., K. 477 (25.1.1934). Ebd. (11.3.1934). Ebd. (15. und 19.10.1934).
192) 193)
Otto Koellreutter zählte bereits vor 1933 zu den Anhängern des Nationalsozialismus und ging erst Ende der dreißiger Jahre auf Distanz zum Regime. Wegen seiner frühen NS-Nähe glaubte er gegenüber Carl Schmitt, die führende Rolle als Verfassungsrechtler beanspruchen zu können. Eine lückenhafte Biographie: Jörg Schmidt: Otto Koellreutter 1883-1972. Sein Leben, sein Werk, seine Zeit, Frankfurt a. M. usw. 1995 (= Rechtshistorische Reihe, 129). 194) Die letzten Kooperationsbemühungen im Bereich der Monographien: Huber an Siebeck, 28.11.1934 (VA Mohr, K. 477), sowie die Einladung der Kieler Professoren Bente, Dahm, Huber, Larenz, Michaelis und Predöhl zu einem Gespräch über die „Grundrisse des deutschen Rechts" am 15.12.1934. Ebd. 195) Huber war 1935 auch für die Übernahme einer Darstellung des neuen Staatsrechts im Rahmen der „Enzyklopädie der Rechtswissenschaft" (hg. von Hans Peters und Eduard Kohlrausch) im Gespräch. Huber erteilte Kohlrausch eine Absage, weil er „an einem nationalsozialistischen Sammelunternehmen beteiligt sei". Kohlrausch an Peters, 22.7.1935. BA
Koblenz, N 1220, Nr. 17.
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Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
blierte die Hanseatische Verlagsanstalt unter ihrem Verleger Benno Ziegler. Dem Hamburger Verleger war es gelungen, anknüpfend an frühere Kontakte zu Huber im Zusammenhang mit jungkonservativen Gruppierungen, ihn als Reihenherausgeber zu gewinnen. Die inhaltlich breiter als die Tübinger Reihe konzipierten „Grundzüge der Rechts- und Wirtschaftswissenschaft" mit geplanten 31 Bänden wurden von den Kielern Georg Dahm, Karl August Eckhardt und Ernst Rudolf Huber als Herausgebern betreut196). Der Verlag sprach in seiner Werbung von einer „Gemeinschaftsarbeit einer einheitlichen Gruppe von jungen Kämpfern", die „von einer einheitlichen politischen Grundhaltung durchdrungen" seien197). Die Reihe zählte zur amtlich empfohlenen Ausbildungsliteratur198). Eckhardt war Motor der Schriftenreihe, die er auf dem Kitzeberger Dozentenlager 1935 vorgestellt hatte. Huber legte innerhalb der „Grundzüge" seine beiden Auflagen der „Verfassung" bzw. des „Verfassungsrechts des Großdeutschen Reiches" 1937 bzw. 1939 vor199). In beiden Buchreihen erschienen Lehrbücher zu den neu zugeschnittenen Vorlesungsthemen der Studienordnung des Jahres 1935. Zur deutschen Verfassungsgeschichte der Neuzeit verfaßte 1937 der Tübinger Rechtshistoriker und Kirchenrechtler Hans Erich Feine eine Darstellung, die 1940 in zweiter und 1943 sogar in dritter Auflage bei Mohr Siebeck publiziert wurde200). Der geplante Band der Hanseatischen Verlagsanstalt zur Verfassungsgeschichte, den der Öffentlichrechtler Paul Ritterbusch verfassen sollte, kam allerdings nicht zustande. Das mag mit Krieg und Kriegsende oder dem neuen Tätigkeitsfeld von Ritterbusch im Reichserziehungsministerium seit 1941 in Zusammenhang stehen. Vielleicht war aber auch eine gewisse Übersättigung des Marktes eingetreten. Ähnliche Gründe, wie Krieg oder Arbeitsbelastung des Autors, dürften auch bei einem anderen Handbuch-Projekt, der „Enzyklopädie der Rechtswissenschaft", für das Scheitern ausschlaggebend gewesen sein. In dieser Reihe befand sich gleichfalls ein Band zur „neueren Verfassungsgeschichte" in Planung. Der Herausgeber Hans Peters hatte vor 1933 den Leipziger Öffentlichrechtler Erwin Jacobi als Verfasser verpflichtet, der wie es 1947 hieß 1933 bereits ein abgeschlossenes Manuskript „in seinem Schreibtisch" liegen -
-
196) Sie erschienen in zwei getrennten Reihen mit (teils nur geplanter) erheblicher Beteiligung von Kieler Hochschullehrern. Zwischen 1936 und 1944 wurden insgesamt zwölf Bände vorgelegt. Neben den Herausgebern wirkten mit: Karl Larenz, Karl Michaelis. Paul Ritterbusch. Friedrich Schaffstein, Wolfgang Siebert. Franz Wieacker (Recht) sowie Hermann Bente. Jens Jessen und Andreas Predöhl (Wirtschaft). Siehe die Verlagswerbung in Huber. Verfassung (1937), nach S. 338. 197) Börsenblatt des deutschen Buchhandels, 7.9.1935, abgebildet in: Lokatis, Hanseatische Verlagsanstalt (1992), S. 63. Zur Reihe generell: ebd., S. 62f. ,98) Bekanntmachung des Reichserziehungsministeriums vom 1.10.1935. Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1 (1935), S. 432. 199) Siehe oben Kap. V.l.b). 20°) Hans Erich Feine: Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, Tübingen 1937/ 21940/31943 (= Grundrisse des Deutschen Rechts).
1. Die
Institutionalisierung in der Rechtswissenschaft
209
gehabt habe201). Infolge seiner Entlassung aus rassischen Gründen kam er allerdings als Autor nicht mehr in Frage. Mitte 1935 wandte sich Peters an den
Münchener Staatsrechtler Johannes Heckel. Gedacht war an einen Überblick über die deutsche Verfassungsgeschichte seit Beginn des 19. Jahrhunderts, wofür 50 bis 65 Seiten eingeplant wurden. Heckel forderte zunächst etwa einhundert Seiten Platz, bat aber um Bedenkzeit und lehnte schließlich das Angebot ab202). Eine Anfrage an Rudolf Smend in Göttingen scheiterte zum Leidwesen von Peters gleichfalls203), so daß schließlich keine verfassungsgeschichtliche Darstellung im Rahmen der „Enzyklopädie" zustande kam. Schließlich publizierte auch die Leipziger Abteilung des Kohlhammer-Verlages in ihrer von dem pensionierten Oberlandesgerichtsrat Carl Schaeffer herausgegebenen Reihe „Neugestaltung von Recht und Wirtschaft" einen Band zur „Deutschen Verfassungsgeschichte" mit den Autoren Walther Eckhardt und Harry von Rozycki204). Zudem erschienen in der Reihe „Rechtswissenschaftliche Grundrisse" bei Junker & Dünnhaupt durch Ernst Forsthoff und in der Reihe „Wissenschaft und Bildung" bei Quelle und Meyer durch Dieter Cunz eine deutsche bzw. eine „Europäische Verfassungsgeschichte"205). Darüber hinaus ist daran zu erinnern, daß die Lehr- und Handbücher zur Verfassungsgeschichte aus der Zeit vor 1935 von Conrad Bornhak und Hans Helfritz und schließlich auch der Band des Historikers Fritz Härtung noch lieferbar waren und weiter verkauft und von den Jurastudenten benutzt wur-
den206).
Hatten sich Huber und Siebeck nicht auf eine Lehrbuchreihe einigen können, so gestaltete sich ihre Kooperation im Zeitschriftensektor erfolgreich. Hubers Veröffentlichungen zur Verfassungsgeschichte erschienen vor allem in einem von ihm selbst herausgegebenen Periodikum: in der „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft"207). Die Tübinger Zeitschrift bestand zwar weder
) Dies ist der Begründung des Berufungsvorschlags für einen Lehrstuhl des Öffentlichen Rechts in Heidelberg 1947 zu entnehmen. Dekan an Universitätspräsident, 7.8.1947. UA Heidelberg, H-II-563/7. 202) Der Schriftwechsel aus den Jahren 1935/36 findet sich, allerdings unvollständig, in BA Koblenz, N 1220, Nr. 15. 203) Smend an Peters, 22.6.1938. Ebd., Nr. 22. 204) Walther Eckhardt/Harry von Rozycki: Deutsche Verfassungsgeschichte vom germanischen Volksstaat bis zum Dritten Reich, Leipzig 1940 (= Neugestaltung von Recht und Wirtschaft 13,3). Es handelte sich um die umbenannte traditionsreiche Reihe „Schaeffers Grundriß des Rechts und der Wirtschaft", die auch nach 1945 fortgesetzt wurde. Zu den Neuauflagen dieses Bandes nach 1945 siehe auch unten Kap. VI.2.b). 205) Forsthoff, Verfassungsgeschichte (1940); Dieter Cunz: Europäische Verfassungsgeschichte der Neuzeit, Leipzig 1936 (= Wissenschaft und Bildung, 304). 206) Zu Bornhak siehe unten Kap. V.2.b). Hans Helfritz: Volk und Staat. Verfassungsgeschichte der Neuzeit. Mit einem Abriß der Staatstheorien, Berlin 31938/41944; Härtung, Verfassungsgeschichte (1933). Bornhaks Werk erschien im Ferdinand Enke Verlag, Helfritz' Buch wurde bei Carl Heymanns und Hartungs Band bei Teubner verlegt. 207) Allgemein zu den juristischen Zeitschriften in der NS-Zeit: Lothar Becker: „Schritte auf einer abschüssigen Bahn". Das Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) und die deut201
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Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
hauptsächlich aus verfassungsgeschichtlichen Beiträgen noch konnte man sie oder ein anderes zeitgenössisches Periodikum als das führende Organ dieses Teilfachs bezeichnen. Aber als diejenige Zeitschrift, die von dem wichtigsten Verfassungshistoriker unter den Juristen geleitet wurde, besaß sie einen erheblichen publizistischen und damit wissenschaftspolitischen Einfluß208).
Das traditionsreiche, fast hundert Jahre alte Periodikum, das von dem altliberalen Staatswissenschaftler Robert von Mohl gegründet worden war, wurde bis 1933 von dem Wirtschaftshistoriker Georg Brodnitz herausgegeben. Es galt bis dahin als das führende Organ dessen, was seit dem 19. Jahrhundert mit dem Begriff der Staatswissenschaft(en) bezeichnet wurde209) und, dem Fächerkanon des beginnenden 20. Jahrhunderts entsprechend, als interdisziplinärer Bereich in die Fachgebiete von Rechts-, Wirtschafts-, Sozial- und Geschichtswissenschaft fiel210). Noch im April 1933 trennte sich der Verleger Oskar Siebeck von dem schon vorher erfolglosen und als liberal geltenden Brodnitz211). Zugleich hatte er sich die Zusage von Carl Schmitt als neuen Herausgeber der Zeitschrift gesichert212). Siebecks Strategie lief auf eine generelle „Neuordnung [sjeiner rechts- und staatswissenschaftlichen Zeitschriften" hinaus. In einem Rundschreiben vom 31. Juli 1933 gab er bekannt: „Nachdem [...] die nationale Revolution eine entscheidende Etappe erreicht hat, ist es an der Zeit, bei denjenigen Zeitschriften, deren Herausgeberstab unter den neuen Verhältnissen sehe Staatsrechtswissenschaft im Dritten Reich, Tübingen 1999 (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20.Jahrhunderts, 24); ders.: Die „Selbstgleichschaltung" juristischer Zeitschriften im Nationalsozialismus. In: Michael Stolleis (Hg.), Juristische Zeitschriften. Die neuen Medien des 18.-20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1999, S. 481-500; Götz-Thomas Heine: Juristische Zeitschriften zur NS-Zeit. In: Peter Salje (Hg.), Recht und Unrecht im Nationalsozialismus, Münster 1985, S. 272-293; Horst Göppinger: Juristen jüdischer Abstammung im „Dritten Reich". Entrechtung und Verfolgung, München 21990, S. 374-392, sowie Stolleis, Geschichte, Bd. 3 (1999), S. 299-311. 208) Zur Geschichte der „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft" im Nationalsozialismus: Becker, Selbstgleichschaltung (1999), S.491, 494, 497f.; Stolleis, Geschichte, Bd.3 (1999), S. 303; Göppinger, Juristen (1990), S. 388f.; wenig erhellend: Hauke Janssen: Nationalökonomie und Nationalsozialismus. Die deutsche Volkswirtschaftslehre in den dreißiger Jahren, Marburg 1998 (= Beiträge zur Geschichte der deutschsprachigen Ökonomie, 10), S. 162-169. 209) Allgemein: David F. Lindenfeld: The Practical Imagination. The German Sciences of State in the Nineteenth Century, Chicago/London 1997. 210) Allerdings vollzog sich bereits nach der Jahrhundertwende die zunehmende Einengung des Begriffs der Staatswissenschaft auf die Nationalökonomie. Die Wendung der Tübinger Zeitschrift hin zu einem rein nationalökonomischen Periodikum, das seit 1986 unter einem englischen Titel firmiert, skizziert: Terence W. Hutchison: From Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft (ZgS) to Journal of Institutional and Theoretical Economics (JITE), 1844-1994. In: Journal of Institutional and Theoretical Economics 150 (1994), S. 1-10. 2») Siebeck an Koellreutter, 10.4.1933. VA Mohr, K. 472. Becker, Schritte (1999), S.63f. 212) VA Mohr, K. 471, 472 (Siebeck an Heckel, 2.6.1933). Siebeck hatte an den Heidelberger Carl Brinkmann als Mitherausgeber gedacht. Vgl. Becker, Selbstgleichschaltung (1999), S.491.
1. Die
Institutionalisierung in der Rechtswissenschaft
211
nicht unverändert bleiben kann, die teilweise schon seit Monaten vorbereiteten Neubesetzungen und Ergänzungen der Redaktionen durchzuführen."213) Damit hatte der Verleger, ohne direkten politischen und akut ökonomischen Zwang, die Strategie der freiwilligen Selbstgleichschaltung gewählt. Schließlich drängten auch Autoren und Mitherausgeber auf die Entfernung „nichtarischer" oder politisch ,anstößiger' Herausgeber aus den Redaktionen214). Nach dem Scheitern von Kieler Plänen für eine teilfachübergreifende „Zeitschrift für die gesamte Rechtswissenschaft"215) schaltete sich Huber im März 1934 in die Zeitschriftenfrage ein. Sein Interesse an der Tübinger Zeitschrift war von vornherein sehr hoch, denn bereits das Kieler Projekt hatte ein fachlich möglichst breit konzipiertes Periodikum im Auge gehabt. Nun meinte Huber: „An sich müßte [...] eine Zeitschrift, die Staats- und Verwaltungsrecht, Soziologie und Volkswirtschaft einheitlich behandelt von großer Bedeutung sein." Daß er zudem an eine Berücksichtigung der Verfassungsgeschichte dachte, darf man bei seinen ausgeprägten historischen Interessen und an dem dargelegten interdisziplinären Anspruch unterstellen216). Siebeck griff Hubers Initiative bereitwillig auf, denn seit Erscheinen des letzten Bandes der „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft" war bereits ein Jahr ins Land gegangen, und es galt, die Zeitschrift allmählich wiederzubeleben. Am 19. April 1934, gut einen Monat nach Hubers Schreiben, sandte der Verleger einen ausführlichen Rundbrief an insgesamt acht Herausgeberkandidaten, unter ihnen Huber. Er versuchte hierin, den überkommenen Begriff der Staatswissenschaften gegen Vorwürfe, er gehöre „zum absolutistischen Fürstenstaat und zum Liberalismus", zu rechtfertigen. Die Zeitschrift solle die Idee der einheitlichen Staatswissenschaften zu „einer neuen, ihrer eigentlichen
Verwirklichung" führen217). Huber bedankte sich umgehend höflich für die Anfrage, ließ aber zugleich keinen Zweifel daran, daß „der in Aussicht genommene Kreis von Herausge213)
VA Mohr, K. 471. Generell zur ideologisch anpassungsbereiten Haltung Siebecks seiBroschüre: Siebeck, Aufgabe (1934). 214) So verlangten Carl Bilfinger und Ernst Forsthoff ultimativ die Entbindung von Albrecht Mendelssohn Bartholdy von seinem Herausgeberposten beim „Archiv des öffentlichen Rechts". Becker, Schritte (1999), S. 85-87. Im übrigen führt die Wiedergabe eines Briefwechsels zwischen Heckel und Siebeck bei ders., Selbstgleichschaltung (1999), S.496, in die Irre. Von Huber war nämlich, bei der Frage, wie man im AÖR „einen starken Nazi-Einschlag" erreichen könne, überhaupt nicht die Rede. Heckel an Siebeck, 20.10.1933; VA Mohr, K. 471. 215) VA Mohr, K. 471 (Larenz an Heckel, 25.8.1933). Erste Andeutungen durch Schmitt teilte Siebeck bereits vorher Heckel mit (ebd.; 31.7.1933). Siehe dazu Becker, Schritte (1999), S. 98-100. HStA Düsseldorf, NL Schmitt, RW 265, Nr. 6262 (Huber an Schmitt, 23.7.1933); BA Koblenz, N 1505, Nr. 198 (Huber an Schmitt, 10.8.1933). Siebeck an Heckel, 17.10.1933, über das Scheitern. VA Mohr, K. 471. 216) Huber an Siebeck, 11.3.1934. VA Mohr, K. 477. 217) Ebd. Es ist nicht auszuschließen, daß der sehr historisch argumentierende Entwurf dieses .Programms' eventuell nicht von Siebeck, sondern von Huber stammt. Vgl. dazu und zum Folgenden auch die Ausführungen von Becker, Selbstgleichschaltung (1999), S. 497f, der die Adressaten fälschlich als „bisherigen Herausgeberkreis" bezeichnet. ne
212
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Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
bern [...] gerade das vermissen [läßt], was mir bei einer Zeitschrift heute unentbehrlich erscheint: die strenge und geschlossene Einheit der weltanschaulichen und politischen Grundhaltung". Eine solche Zeitschrift könne „heute nur dann erfolgreich geführt werden [...], wenn sie in der Hand von Mitgliedern einer Fakultät liegt". Und er setzte hinzu: „Ohne enge Fühlung mit dem zuständigen Hochschulministerium wird sich ein so weittragendes Vorhaben aber nicht verwirklichen lassen."218) Politische Einigkeit, zentrale Steuerung und enge Bindung ans Ministerium waren aus Hubers Sicht unabdingbar. Dies erläuterte er kurz darauf noch einmal ausführlicher. Wissenschaftlich müsse eine Zeitschrift für Staatswissenschaft „von einem einheitlichen Wissensgrunde" ausgehen, politisch solle sie „auf die Idee des Nationalsozialismus gegründet sein", und die Herausgeber müßten einer einzigen Fakultät angehören. Die besten Voraussetzungen seien dafür in Kiel gegeben, wo die Nationalökonomen Hermann Bente, Andreas Predöhl und er selbst „die volle Unterstützung" des preußischen Kultusministeriums und des Reichserziehungsministeriums besäßen219). Dieser überzeugenden Argumentation Hubers konnten sich das Reichserziehungsministerium und der Verleger nicht entziehen220). Intern äußerte Huber gegenüber Schmitt, daß die Zeitschrift ,,[n]icht organisatorisch, aber in der Sache [...] ein Organ der Kieler Fakultät und des Kieler Instituts sein" solle. Es müsse „verhindert werden, daß diese Zeitschrift in ungeeignete Hände kommt und ein Instrument reaktionärer Kräfte wird"221). Anfang November 1934 erschien das erste Heft des 95. Bandes der Tübinger Zeitschrift unter dem Kieler Dreigestirn als neuen Heraus-
gebern. Hubers Idee, mit der „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft" den Markt einer teilfachübergreifenden juristischen Zeitschrift weitgehend abzudecken, schlug jedoch fehl. Zwar konnte er Pläne seiner Kieler juristischen Kollegen 1935 erneut abwehren, aber die SS gründete 1936 mit der Zeitschrift „Deutsche Rechtswissenschaft" unter Eckhardts Herausgeberschaft ein eigenes „kompromißlos nationalsozialistisch" ausgerichtetes Organ222). Angesichts
218)
VA Mohr, K. 477 (22.4.1934). Falls die Vermutung, Huber könnte die Anfrage im Auftrag Siebecks entworfen haben, stimmt, hätte seine Antwort nur der äußeren Form ge-
nügt.
219)
Ebd. (8.5.1934). Zu Andreas Predöhl: Ulf Beckmann: Von Löwe bis Leontief. Pionieder Konjunkturforschung am Kieler Institut für Weltwirtschaft, Marburg 2000 (= Beiträge zur Geschichte der deutschsprachigen Ökonomie, 15), S. 30-34. 220) Die positive Antwort Siebecks erfolgte, dem Vermerk auf Hubers Schreiben zufolge, am 12.5. VA Mohr, K. 477. Das Absageschreiben an die anderen Herausgeberkandidaten datiert vom 8.6.1934. 221) BA Koblenz, N 1505, Nr. 198. 222) So Karl August Eckhardt: Zum Geleit. In: Deutsche Rechtswissenschaft 1 (1936), S. 3-5, hier S. 4. Die Aufgabe der Zeitschrift sei „der Kampf um eine neue Rechtslehre und die Arbeit an der neuen Hochschulverfassung". Ebd., S.5. Zur Gründung in Konkurrenz mit anderen juristischen Organen: Rüthers, Entartetes Recht (1988), S. 48-52. re
1. Die
Institutionalisierung in der Rechtswissenschaft
213
der bei den Absatzzahlen spürbaren Konkurrenz223) hob Huber in fachlicher Hinsicht den interdisziplinären Charakter der Zeitschrift hervor224). Diese Ausrichtung wollte er bei der Artikel- und Rezensionsauswahl ausdrücklich zur
Geltung bringen.
Auf Hubers Schultern ruhte nicht nur das hauptsächliche Redaktionsgeschäft, sondern das Renommee der Zeitschrift war geradezu von ihrem juristischen Teil und damit von dem Verfassungshistoriker abhängig. Da sich Bente und Predöhl mit eigenen Beiträgen ebenso zurückhielten wie mit ihrer redaktionellen Tätigkeit225), waren es nicht zuletzt die verfassungshistorischen Aufsätze des Hauptherausgebers selbst, die weithin Beachtung fanden226). Sie befaßten sich zunächst mit Fragen der Militärverfassungs-, später mit Problemen der Verfassungsideengeschichte. Hubers Ziel bestand in einer gelungenen Mischung aus verschiedenen staatswissenschaftlichen Themen. So ist es kennzeichnend, daß möglichst in jedem Band sowohl juristische, nationalökonomische, soziologische und historische Fragen behandelt wurden. An den Historiker Gerhard Ritter schrieb er, die Zeitschrift lege „Wert darauf, nicht nur die Rechts- und Wirtschaftswissenschaft zu pflegen, sondern das Gesamtgebiet der politischen Wissenschaften überhaupt zu umspannen, dazu gehört natürlich in erster Linie die Geschichtswissenschaft"227). Huber verstand die Aufgabe der Staatswissenschaft integral und damit seine Zeitschrift im besten Sinne fachübergreifend. Bei der Einwerbung historischer Artikel tat sich Huber jedoch offenbar schwer. In den ersten Jahren, als er selbst sich noch nicht mit verfassungsgeschichtlichen Themen beschäftigte, fehlten historische Beiträge bisweilen völlig. Auch in den Bänden der Jahre 1940 und 1941 gab es keinen entsprechenVA Mohr, K. 483 (Huber an Siebeck, 16.9. u. 28.9.1935). Becker, Schritte (1999), S. 144. Trotz der Konkurrenz verfaßte Huber eine freundliche Besprechung über die neue Zeitschrift. Ernst Rudolf Huber: Rez. zu Deutsche Rechtswissenschaft, Bd. 1. In: ZgStW 97 (1937), S. 724-727. Von einer „ausgesprochenen Gegengründung" von Mitgliedern der „doktrinär-nationalsozialistischen Staatsrechtswissenschaft" (Höhn, Ritterbusch) sprach Huber nach dem Krieg. Exposé Huber, S. 7. Die Zahl der Abonnenten der ZgStW betrug 1934/35 332,1939 359 und 1941 nur noch 323. VA Mohr, K. 500. Allein die Hälfte der Abonnements vor 1933 kam aus dem Ausland. Ebd., K. 483. Angaben über die Auflagenhöhe waren nicht zu ermitteln. Sie erreichten bei anderen juristischen Zeitschriften Ziffern zwischen 5.500 (DJZ) und 85.700 (Deutsches Recht). Heine, Zeitschriften (1985), S. 292, Anm. 51,55,58,66. 224) VA Mohr, K. 494 (Huber an H.G. Siebeck, 25.3.1939). 225) Das ist der Tenor der Dauerklagen in der Korrespondenz zwischen Huber und Hans Georg Siebeck in den Jahren 1938 bis 1944. Ebd., K. 491, 494, 496, 498, 500-502. 226) Ebd., K. 500 (H.G. Siebeck an Huber, 11.9.1942). Die Redaktion des juristischen Teils war mit Huber von Kiel nach Leipzig und schließlich nach Straßburg gezogen. Die insgesamt sechs umfangreichen verfassungshistorischen Beiträge Hubers in der ZgStW zwischen 1937 und 1944 sind aufgeführt bei Huber-SimonslHuber, Bibliographie (1973), S. 395-398. Die beiden ersten flössen ein in die Monographie zur Militärverfassungsgeschichte: Huber, Heer (1938/1943). 227) BA Koblenz, N 1166, Nr. 358 (Huber an Ritter, 31.5.1941). Mit einem historischen Beitrag „würde die notwendige Zusammenarbeit über die Grenzen der Fakultäten hinaus entscheidend gefördert".
223)
214 den
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Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
Aufsatz228). Dafür expandierte der historische Anteil in den letzten drei
Huber herausgegebenen Bänden der Jahre 1942 bis 1944, wozu anfangs allem jüngere Wissenschaftler beitrugen229). So lieferten um nur zwei Beispiele zu nennen die Berliner Privatdozenten Hans Schneider und Werner Hahlweg im Jahrgang 1942 Artikel zur preußischen Verfassungs- und sächsischen Verwaltungsgeschichte230). Darüber hinaus erschienen einige Studien zur Verfassungsideen- und politischen Verfassungsgeschichte231). Doch alle Anstrengungen des Herausgebers fruchteten am Ende nicht. 1944 wurde die Zeitschrift trotz ihres inländischen Ansehens und zahlreicher ausländischer Abonnenten wegen akuten Papiermangels eingestellt, weil sie „sich keinen Platz [habe] erobern können, der ihre Aufrechterhaltung im Rahmen der totalen Kriegführung rechtfertige"232). Das Ende der „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft" kam zu einem Zeitpunkt, als die Probleme des Krieges die Wissenschaft längst erreicht hatten. Die existentiell bedrohliche Situation überlagerte das Nachdenken über die Geschichte. Gehörte die Verfallsdiagnose zu den Topoi verfassungshistorischer Analysen zum Alten Reich, zum Wilhelminismus oder zur Weimarer Republik, so widersprachen die optimistischen Aussichten über „die deutsche Rechtserneuerung"233) aus der Mitte der dreißiger Jahre nun diametral der realen Verfassungslage. Zu diesem Zeitpunkt, kurz vor dem Ende des Krieges und damit des NS-Regimes, waren die regelmäßig und bis hinein in die Kriegsjahre hochgestimmten Ausblicke am Schluß verfassungshistorischer Überblicksdarstellungen durch die Gegenwart überholt.
von
vor
-
-
228)
Huber versuchte
vergeblich,
Ritter für einen
31.5.1941; Ritter an Huber, 4.6.1941. Ebd.
Beitrag zu gewinnen.
Huber
an
Ritter,
Im Rezensionsteil wurden nur gelegentlich historische Werke besprochen. Rechtsgeschichtliche Darstellungen behandelte regelmäßig der Kieler Eugen Wohlhaupter. Unter den eher seltenen Rezensionen zur allgemeinen und zur Verfassungsgeschichte ragen diejenigen von Ernst Rudolf Huber heraus. So insbesondere die streitbarsten unter ihnen: Ernst Rudolf Huber: „Verfassungskampf und Heereseid". Eine Auseinandersetzung mit Reinhard Höhn. In: ZgStW 103 (1943), S. 546-558; ders.: „Machtstaat und Utopie". In: ZgStW 102 (1941), S. 168-176, eine Besprechung des gleichnamigen Werkes von Gerhard Ritter. 230) Hans Schneider: Die Entstehung des Preußischen Staatsrats 1806-1817. Ein Beitrag zur Verfassungsreform Preußens nach dem Zusammenbruch. In: ZgStW 102 (1942), S. 480-529; Werner Hahlweg: Die Grundzüge der Verfassung des sächsischen Geheimen Kabinetts 1763-1831. Zur Geschichte der absolutistischen Staatsverwaltung seit Mitte des 18. Jahrhunderts. In: ZgStW 103 (1943), S. 1-37. 231) Rudolf Oeschey: Montesquieu und die Verfassungen des deutschen Frühkonstitutionalismus. In: ebd., S. 361-389; Karl Gottfried Hugelmann: Der Verfall des Habsburgerrechts [sie!] und die deutsche Verfassungsgeschichte. In: ZgStW 104 (1944), S. 202-211. 232) VA Mohr, K. 502 (Huber an H.G. Siebeck, 24.8.1944). Huber zitiert eine ihm kolportierte Aussage aus dem Reichswirtschaftsministerium. Die ersten beiden Hefte vom Bd. 105 (1945) befanden sich in der Korrektur. Druckfahnen und Korrespondenz in BA Koblenz, N 1505, Nr. 212. Vgl. zum Ende des AÖR im Dezember 1944. Becker, Schritte (1999), S.212f. 233) So u. a. Ernst Rudolf Huber: Die deutsche Rechtserneuerung. In: Europäische Revue 10 (1934), S. 693-702.
229)
2. Neue
2. Neue
215
Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
a) Begriff und Methode der ,neuen' Verfassungshistoriographie Die Verfassungsgeschichtsschreibung konnte sich durch die personellen, vor allem aber durch die einschneidenden institutionellen Wandlungsprozesse in der Zeit des ,Dritten Reiches' als Grundlagenfach der Jurisprudenz durchsetzen. Seit 1935 war die „Verfassungsgeschichte der Neuzeit" in den Lehrplan der reichseinheitlichen juristischen Ausbildung integriert, die Staatsexamina enthielten einen historischen Anteil. Als Folge davon entstanden juristische Lehrbücher zur Verfassungsgeschichte, die einerseits der grundlegenden, andererseits der vertiefenden Vermittlung von Kenntnissen in diesem bis dahin nur marginal vertretenen juristischen Teilfach dienten. Die Verfassungsgeschichte, die zuvor im Schatten der Rechtsgeschichte gestanden hatte, etablierte sich Mitte der dreißiger Jahre als juristisches Lehr- und Forschungsgebiet, das dem Öffentlichen Recht zugeordnet wurde. Als Teilfach des Öffentlichen Rechts geriet die Verfassungsgeschichtsschreibung in die Grundsatzdiskussionen des sogenannten juristischen Methodenstreits. Denn in dieser Debatte stand seit den zwanziger Jahren der Begriff der Verfassung im Mittelpunkt. Unmittelbare Auswirkungen auf die Verfassungsgeschichtsschreibung als Disziplin hatte diese Kontroverse, so hart sie geführt und so intensiv sie auch im Nachbarfach Geschichte wahrgenommen wurde, aber zunächst nicht gehabt. Das änderte sich allerdings nach 1933. Nun wurde nämlich die Frage nach Begriff, Form und Inhalt der Verfassung, der einer neu auszurichtenden Verfassungsgeschichtsschreibung zugrunde zu legen sei, prinzipiell debattiert und praktisch erprobt.
Geändert hatten sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten freilich Themen und Teilnehmer des neu belebten Verfassungsdiskurses. Inhaltlich stand nicht länger die Frage im Raum, ob man eine „geisteswissenschaftliche" oder eine positivistische Methode bevorzugen solle. Die antipositivistische Position hatte sich um 1930 auf breiter Front, allerdings in recht unterschiedlichen Varianten durchgesetzt234). Zudem verloren fast alle Vertreter des Rechtspositivismus durch den personellen Umbruch nach 1933 ihre Lehrstühle. Während die Emigranten und diejenigen, welche eine .innere Emigration' vorzogen, aus der verfassungsrechtlichen Debatte ausschieden, stritten systemkonform arbeitende ehemalige Nationalkonservative und über-
Siehe dazu allgemein die oben in Kap. IV.3. angegebene Literatur. Es wäre grob simplifizierend zu behaupten, die Methodendebatten wären mit dem Jahr 1933 abrupt beendet gewesen. Zu den feinen Differenzierungen bei den „Antipositivisten" (auch nach 1933) die wichtige Arbeit von Oliver Lepsius: Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung. Methodenentwicklungen in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisie-
234)
rung der Rechtswissenschaft unter dem Nationalsozialismus, München 1994 ner
Universitätsschriften, 100).
(= Münche-
216
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Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945 um die Deutungshoheit bei den verfassungsgeschichtlichen Proble-
zeugte Anhänger des Nationalsozialismus
verfassungsrechtlichen
men235).
Nach 1933
und auch bei den
galt es vor allem, die Frage nach Inhalt und Funktion des Verfas-
sungsbegriffs
zu klären. Die Staatsrechtslehre sah sich zumal mit dem Problem konfrontiert zu untersuchen, ob im nationalsozialistischen Staat die Weimarer Reichsverfassung teilweise oder gar nicht fortgelte236). Die Verfassungsgeschichtsschreibung ihrerseits konnte sich angesichts der aktuellen Verfassungslage endgültig nicht mehr mit einem Verfassungsbegriff begnügen, der sich primär auf die historische Entwicklung der geschriebenen Verfassungen und des öffentlich-rechtlichen Rechtsgebietes konzentrierte. Die juristische Verfassungshistoriographie mußte sich, weil ein traditionell politikgeschichtlich verengter Verfassungsbegriff ideologisch obsolet geworden war, zwangsläufig inhaltlich verbreitern. Die Überlegungen für eine methodologische Grundlegung dieses politisch motivierten neuartigen Verfassungsverständnisses begannen bereits in den ersten Jahren des NS-Regimes. Den ausführlichsten Beitrag in der methodischen Diskussion um die neuen Begriffsinhalte von Verfassung und Verfassungsgeschichte leisteten demzufolge nicht die Fachhistoriker oder die Rechtshistoriker, sondern die Öffentlichrechtler, allen voran Ernst Rudolf Huber. Der Kieler Hochschullehrer legte 1935 zwei Broschüren und einen programmatischen Aufsatz vor, um dieses Thema sowohl Fachkreisen als auch einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln. Diese Schriften dienten zugleich einer Art theoretischer Selbstvergewisserung und bildeten die methodische Grundlage für seine parallel begonnenen Arbeiten über Verfassungsrecht und Verfassungsgeschichte. In der zum zweiten Jahrestag der nationalsozialistischen .Machtergreifung' in Kiel gehaltenen Rede über den „Sinn der Verfassung" sowie in einer längeren Abhandlung über „Wesen und Inhalt der politischen Verfassung" machte Huber deutlich, daß es sich beim Terminus „Verfassung" um den Zentralbegriff des Staatsrechts handele237). Allerdings sei im Rahmen des neuen Rechtsdenkens nicht mehr von einem „substanzlos-formalen", sondern von
Diese Differenzierung nach vier Gruppen unternimmt überzeugend: Dreier, Staatsrechtslehre (2001), S. 15-18. In der Unterscheidung der beiden konkurrierenden Richtungen ist sich die neuere Literatur einig, die Bezeichnungen gehen je nach den Schwerpunkten der inhaltlichen Beschreibungen allerdings auseinander. Pauly differenziert zwischen etatistischen und „völkisch-vitalistischen" Staatsrechtlern, Walkenhaus zwischen „ordotheoretischen Hegelianern" und „anarchotheoretischen Sympathisanten von SA, SS [und] SD". Walkenhaus, Totalität (1997), S. 95; Pauly, Staatsrechtslehre (2001), S. 76-88. 236) Dazu knapp zusammenfassend: Dannemann, Legale Revolution (1985), S. 14f.; Dreier, Staatsrechtslehre (2001), S. 20-24. 237) Ernst Rudolf Huber: Vom Sinn der Verfassung. Rede, gehalten am 30. Januar 1935, anläßlich der Feier des Reichsgründungstags und des Tags der deutschen Revolution, Hamburg 1935 (= Kieler Universitätsreden, NF 4); ders., Wesen (1935). Siehe auch die ausführliche Wiedergabe des Inhalts der Kieler Rede bei [Hermann] Reuß: Rez. zu Ernst Rudolf Huber, Vom Sinn der Verfassung. In: AÖR, NF 27 (1936), S. 364-369.
235)
2. Neue
Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
217
„substanzhaft-politischen", einem völkischen Verfassungsbegriff auszugehen, der die ganze Fülle der lebendigen politischen Wirklichkeit umfasse. Er verkörpere damit nicht länger ein „formaljuristisches [...] System abstrakter Kategorien [...] und Normen", sondern vielmehr die seit 1933 geschaffene „konkrete, lebendige [...] Grundordnung der völkischen Einheit und Ganzheit"238). Die Verfassung sei nicht mehr ein reines Normensystem, um das „Chaos" der Lebens- und Rechtswirklichkeit systematisch zu ordnen, sondern sie bilde das weitgehend ungeschriebene „Fundament für das politische Sein und Handeln des Volkes"239). Diese „Fundamentalordnung" gehe „unmittelbar aus der politischen Tat" hervor. Sie sei nicht selbst eine Entscheidung, einem
sondern sie beruhe auf einer solchen, nämlich auf „der hoheitlichen Tat des verfassungsbildenden Mannes", des Führers240). Durch ihn sei das völkischer Einheit und Ganzheit" verwirklicht. Im Zuge der „natio„Prinzip nalen Revolution" sei die Bismarcksche „bürokratische Verfassung" und die Weimarer „Funktionärsverfassung" durch die nationalsozialistische „Führer-
Staats- und
verfassung" abgelöst worden241). In einem Leipziger Vortrag von 1940 ergänzte Huber seinen Verfassungsbegriff um Bemerkungen zur Dynamik der „ständig aus inneren Kräften und Prinzipien neu zu gewinnenden Ordnung". Es handele sich in der Verfassungsgeschichte also nicht um ein „Verfaßt-Sein", sondern um „ein ständiges
Verfaßt-Werden". In diesem historischen Prozeß entstünden in der Verfassungswirklichkeit auch Verfassungskrisen, die als existentielle Situationen „hinter dem äußeren Gefüge von Normen und Institutionen, von Kompetenzen und Methoden die innere Gestalt einer politischen Ordnung sichtbar"
machten242).
Bei Huber spiegeln sich mehrere Grundmotive der neuen methodischen Ausrichtung der Verfassungsgeschichtsschreibung wider. Es soll die Dynamik von Vorgängen beschrieben, die Zustände sollen in ihrer Ganzheit erfaßt und in ihrem Wesen erkannt werden. Es geht um eine prinzipielle Abwendung von jeglichen analytisch-rationalen Denkprozessen und die Konzentration auf das wesensmäßige Erfassen konkreter Wirklichkeiten, um ein „ganzheitlicherfühlendes Denken"243). Dazu wird vor allem eine wenig greifbare, aber an-
238) Huber, Wesen (1935), S.6. Die Nachweise beschränken sich auf diese ausführlichere der beiden genannten
Schriften, die sich inhaltlich stark überschneiden.
239) Ebd., S. 23, 39. 240) Ebd., S.59. Hier variiert Huber, wie
bereits in einer Besprechung von 1931/32, den Dezisionismus Carl Schmitts. Huber, Verfassung und Verfassungswirklichkeit (1931/32). Siehe oben Kap. V.l.b). 241) Ders., Wesen (1935), S.78,82. 242) Ders.: Verfassungskrisen des Zweiten Reiches, Leipzig 1940 (= Leipziger Universitätsreden, 1), S. 4. Der Anklang an die von Carl Schmitt betonte Situation des politischen Ausnahmezustandes wird hier mehr als deutlich. Bemerkenswert ist allerdings, daß Huber den naheliegenden Begriff ebenso wie den ausdrücklichen Bezug vermeidet. 243) Eindringlich dazu Lübbe, Verfassungsgeschichtsschreibung (1989), S. 71.
218
V.
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
die insbesondere ausdrucksstarke Dichotomien enthält: ein „substanzloses", formales, normatives und „individualistisches" System wird mit einem substanzhaften, politischen-dynamischen und ganzheitlichen Ordnungsgefüge kontrastiert. Bei allem Anspruch, sich mit dem neuen politischen Verfassungsbegriff von früheren, insbesondere dem normativen, positivistischen Verfassungsverständnis abzusetzen, nimmt Huber dennoch etliche Aspekte älterer Definitionen auf. So liegt im Sinn der Verfassung, die staatliche Einheit zu schaffen und zu entfalten, zugleich eine Parallele zu der von Rudolf Smend beschriebenen Integrationsfunktion jeder effektiven Verfassung244). Und der Gedanke, daß eine Verfassung nicht nur das formale Recht, sondern zugleich auch die sozialen Strukturen und tatsächlichen Machtverhältnisse widerspiegele, findet sich ähnlich bereits gut siebzig Jahre früher bei Ferdinand Lassalle245). Schließlich ähnelt die Verfassungskrise bei Huber dem politischen Ausnahmezustand bei Carl Schmitt, indem beide auf eine existentiell bedrohliche Verfassungslage rekurrieren. Aber jenseits der Frage einer gedanklichen Rezeption einzelner Bestandteile seines Verfassungsbegriffs bleibt zu konstatieren, daß die originelle Kombination verschiedener Grundgedanken die Bedeutung der Definition Hubers ausmacht. Er füllt viele Begriffe der nationalsozialistischen Rechtslehre überhaupt erst konkreter aus: Volk, Reich, Ordnung, Ganzheit, Gestalt, Einheit und Führung als neue Leitbegriffe setzt er ins Verhältnis zu den traditionellen staatsrechtlichen Termini wie Verfassung, Staat und Gesetz. Dabei versucht er, die Suggestivität der Begriffe rechtslogisch bzw. rechtsphilosophisch zu konkretisieren246). Es gelingt ihm, das von Carl Schmitt 1934 entworfene „konkrete Ordnungsdenken" staatsrechtlich und später verfassungsgeschichtlich umzusetzen247). Dabei wird „Ordnung" zu einem Schlüsselbe-
geblich lebensnahe' Terminologie verwendet,
244) So beispielsweise in Smend, Verfassung (1928), S. 205. 245) Ferdinand Lassalle: Über Verfassungswesen, Darmstadt 1958 (= Libelli, 41) [zuerst 1862],S.27f. 246) Eine langwierige Kontroverse zwischen Huber und Reinhard Höhn resultierte u. a. aus dem von Huber abgelehnten, von Höhn aber favorisierten Begriff der „Gemein-
schaft". Vgl. dazu Lepsius, Begriffsbildung (1994), S. 62-69. Von einer „Fehde" mit Höhn sprach Huber nach 1945. Exposé Huber, S. 7. 247) Neben den späteren verfassungshistorischen Arbeiten kommt dies u. a. bereits in einer Rezension zum Ausdruck: Ernst Rudolf Huber: Rez. zu Albrecht Wagner, Der Kampf der Justiz gegen die Verwaltung in Preußen. In: ZgStW 97 (1937), S. 367-371, hier S. 368. Wagners Arbeit sei ein „Versuch [...], das .konkrete Ordnungsdenken' als Methode verfassungsgeschichtlicher Betrachtung einzusetzen". Grundlegung der Methode bei Carl Schmitt: Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg 1934 (= Schriften der Akademie für Deutsches Recht), bes. S. 11-24. Dazu: Böckenförde, Ordnungsdenken (1984); Klaus Anderbrügge: Völkisches Rechtsdenken. Zur Rechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, Berlin 1978 (= Beiträge zur Politischen Wissenschaft, 28), S. 106-120; Lepsius, Begriffsbildung (1994), S. 205-211. Zur Wirkungsgeschichte: Raphael, Ordnungsdenken (2001), S. 15-17.
2. Neue
Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
219
griff erhoben248). Vor allem möchte Huber die Ambivalenz der Terminologie beseitigen. Dabei ergeben sich jedoch in nicht wenigen Fällen semantische Doppeldeutigkeiten, die schon unter den Zeitgenossen Debatten über die ,richtige' Auslegung und Interpretation einer nationalsozialistischen ,Rechts-
lehre' auslösten249). Zu den schwierigsten methodologischen Manövern Hubers gehörte es, neben den neuen Leitbegriffen Volk, Führung und Reich auch Reste alter Terminologie in die neue Zeit zu transponieren. Insbesondere versuchte er dies bei den Begriffen Staat und Stand. Gerade mit der zeitgenössisch verbreiteten Überbetonung des Volkes tat sich Huber indes schwer250). 1934 stellte er fest: „Der Staat als Herrschaftsordnung ist vielmehr die Lebensform des politischen Volkes. Der Staat ist das Volk selbst, das seine politische Form gefunden hat." Noch deutlicher wird die Staatsbezogenheit Hubers in folgender Passage: „das Volk ohne Staat versinkt in die unpolitische Selbstgenügsamkeit oder in die ungeformte Dumpfheit des Massedaseins. Im Staat erst ergibt sich die vollkommene Gestalt der völkischen Idee und vollendet sich die Wirklichkeit des politischen Volkes."251) Hubers Bemühungen, das Volk in Beziehung zum Staat zu setzen und es über den Staatsbegriff zu definieren, trugen ihm allerschärfste Angriffe, vor allem aus der Richtung Reinhard Hohns, ein, der seinerseits das Volk und die Volksgemeinschaft als Grundelemente des neuen Staatsdenkens betonte. Auch die Verknüpfung von Staat und Volk sowie ihre Überhöhung im Reichsbegriff gelang Huber nicht für alle überzeugend. Bis zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft hielt Huber an seiner ,staatszentrierten Grundkon-
248) Oexle, Zusammenarbeit (2000), S. 9-11. 249) Zu Hubers Kritikern in der verfassungsrechtlichen Diskussion der dreißiger und frü-
hen vierziger Jahre zählten insbesondere Reinhard Höhn und Hans Gerber. Hans Gerber: Der politische Begriff des Volkes. Eine kritische Betrachtung zur Volkslehre von E.R. Huber. In: AÖR, NF 31 (1940), S. 129-153; Reinhard Höhn: Volk und Verfassung. In: Deutsche Rechtswissenschaft 2 (1937), S. 193-218; die Stellungnahmen Hubers: Ernst Rudolf Huber: „Auf dem Wege zum neuen Reiche". Bemerkungen zu den politischen Schriften von Hans Gerber. In: ZgStW 95 (1935), S. 545-551; ders.: Verfassungskampf (1943). Zu den Ambivalenzen bei Huber: Lepsius, Begriffsbildung (1994), S. 147-149. Diese Kontroversen, die nur einen kleinen Ausschnitt aus anderen wissenschaftlichen Debatten dieser Jahre repräsentieren, verdeutlichen indes, wie problematisch es ist, von einer auch nur ansatzweise einheitlichen NS-Staatslehre auszugehen. Zur „Offenheit" der Staatsrechtslehre bes. Pauly, Staatsrechtslehre (2001), S. 76-88. Der Entwurf eines nationalsozialistischen Verfassungsbegriffs bei: G.[ustav] A.[dolf] Walz: Der Begriff der Verfassung, Berlin 1942 (= Schriften der Akademie für Deutsches Recht. Gruppe Verfassungs- und Verwaltungs-
recht, 4).
250) Vgl. auch seine untergründig kritische Rezeption der Volkswissenschaft von Max Hil-
debert Boehm: Ernst Rudolf Huber: Rez. zu Max Hildebert Boehm, Das eigenständige Volk. In: Blätter für deutsche Philosophie 7 (1933/34), S.205f. 251) Ders.: Die Totalität des völkischen Staates. In: Die Tat 26 (1934/35), S. 30-42, hier S. 39, 42. Der Artikel verteidigte die von Carl Schmitt und Ernst Forsthoff geprägte Formel vom „totalen Staat" gegen seine Kritiker Roland Freisler und Alfred Rosenberg.
220
V.
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
im Staatsrecht wie in der Verfassungsgeschichte fest. Der Staat war Wertgefüge sui generis. Er stellte, historisch betrachtet, einen Ordnungsgaranten und ruhenden Pol inmitten von Verfassungskrisen und Verfallsvorgängen dar252). Der Staat diente als Fixpunkt innerhalb von dynamischen Prozessen. Die Verfassung bildet für Huber nicht nur das Abbild der konkreten Wirklichkeit von Volk und Staat, sie ist nicht allein „Ausdruck der völkischen Art", sondern sie dient zudem dazu, „die geschichtliche Idee, die dem Volke innewohnt, neu [zu] erkennen und [zu] verwirklichen"253). Die Verfassung im Huberschen Sinn ist insofern multifunktional, in jedem Fall aber geschichtlich gegründet. Die nationalsozialistische Verfassung erweise sich aber nicht einfach als die .Vollenderin' früherer Grundordnungen, sondern sie sei durch einen revolutionären Akt entstanden und habe, indem sie die geschichtliche Sendung der Deutschen verwirkliche, die früheren unzulänglichen Verfassungen und Verfassungszustände überwunden. Konkret habe die nationalsozialistische Verfassungsordnung „die wortreiche Weimarer Verfassung" mit ihrer Fülle von „Wertvorstellungen und Prinzipien, die sich jedoch weithin widersprachen" und zumeist auf „dilatorischen Formelkompromissen" beruhten, faktisch außer Funktion gesetzt254). Basierte aber die Verfassung auf einem historischen Fundament völkischer Ideen, die schon längere Zeit im Volk verborgen vorhanden waren, so galt es als eine der vornehmsten Aufgaben einer neu zu fundierenden Verfassungsgeschichtsschreibung, einerseits diese geschichtlichen Grundlagen als Vorläufer des Nationalsozialismus im Zusammenhang zu erforschen und andererseits die Irrwege der deutschen Geschichte herauszuarbeiten. In seinem programmatischen Aufsatz über die Inhalte und Aufgaben der deutschen Staatswissenschaft und an etwas abgelegener Stelle in einer Buchbesprechung führte Huber diese Funktion der Historiographie näher aus. In der neuen Verfassungsgeschichtsschreibung gehe es darum, meint Huber, „in der geschichtlichen Überlieferung die lebendigen und kräftigen Ströme des Volkes, aber auch die in der völkischen Eigenart gegebenen besonderen Gefahren und Zersetzungsmöglichkeiten zu erfassen"255). Der Verfassungsgeschichtsschreibung gebühre eine politische Aufgabe. Sie erfülle eine eminent wichtige Funktion, indem sie dem Nationalsozialismus ein historisches Fundament verleihe. Denn, so Huber in der Besprechung von Bornhaks Überblicksdarstellung, „gerade die Verfassungsgeschichte [erforscht] [...] die Grundkräfte und Grundformen des politischen Seins". Wie die allgemeine Geschichte „muß auch die Verfassungsgeschichte immer wieder umgeschrie-
zeption' ihm ein
252) So insbesondere Pauly, Staatsrechtslehre (2001), S. 82-84, das Zitat ebd., S. 83. 253) Huber, Wesen (1935), S. 77, in einer Passage, in der Huber das „unentziehbare Recht [des Volkes, E.G.] zur Revolution" thematisiert. 254) Ebd., S. 78. 255) Ders., Staatswissenschaft (1935), S. 50.
2. Neue
Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
221
ben werden. Insonderheit verlangt unsere Zeit nach einer neuen Darstellung der deutschen verfassungsgeschichtlichen Entwicklung". Schließlich „zeigen sich uns [...] in der Verfassungsgeschichte unseres Volkes neue Werte, Kräfte und Formen, an denen die frühere Geschichtsschreibung vorbeiging". Ganz unverkennbar soll die neue Art der Verfassungsgeschichtsschreibung einen ausdrücklichen Gegenwartsbezug aufweisen, sie muß selbstverständlich national ausgerichtet und im nationalsozialistischen Sinne politisch sein. „Eine Verfassungsgeschichte, die heute geschrieben wird, muß danach beurteilt werden, ob sie die Fragen, die unsere Zeit an sie stellt, gehört und beantwortet hat. Jede Verfassungsgeschichte ist eine politische Verfassungsgeschichte, d.h. sie befruchtet die wissenschaftliche Erkenntnis nur, wenn sie auf die lebendige politische Ordnung, in der sie steht, sinnvoll bezogen ist."256) Zum Neuschreiben der deutschen Verfassungsgeschichte leistete auch Carl Schmitt seinen methodischen Beitrag. 1936 schrieb er zu den Aufgaben des ein Jahr vorher in die juristische Studienordnung eingefügten Faches: eine „wirkliche ,Verfassungsgeschichte der Neuzeit'" dürfe sich „nicht auf die Geschichte der typischen Normenkodifikationen" seit dem 19. Jahrhundert beschränken257). Die Darstellung müsse vielmehr weit über das hinausgreifen, was man bisher unter dem ,,,konstitutionalistischen' Verfassungsbegriff" subsumiert habe: „In der neuen Verfassungsgeschichte wird sich der nationalsozialistische, nicht mehr liberale, auch nicht mehr nationalliberale, und nicht mehr freimaurerisch-demokratische Verfassungsbegriff rechtswissenschaftlich bewähren müssen, indem er sich auf die Einheit und Ganzheit der Lebensordnung des deutschen Volkes richtet."258) Es dürften nicht bloß die „vordergründigen Streitfragen" in der Verfassungsgeschichte behandelt werden. Generell müsse man die unselige Trennung des „,rein Juristischen' vom ,rein Historischen'" überwinden. „Es stehe ein „Umdenken und Umpflügen der überlieferten Begriffe" bevor, die nunmehr auf der Grundlage der „neuen rechtwissenschaftlichen Arbeit" definiert werden müßten259). Die Frage der juristischen und historischen Terminologie wurde von den Verfassungshistorikern ebenso gegenwarts- wie vergangenheitsbezogen diskutiert. Einerseits schien es unausweichlich, in der aktuellen Verfassungsdebatte Abschied zu nehmen von rechtspositivistisch geprägten Begriffen und Inhalten, andererseits sollte auch und gerade die Verwendung dieser vorwiegend
256) Huber, Rez. Bornhak (1934), S.983. 257) Schmitt, Aufgaben (1936), S.229. Zum Verfassungsgeschichtsverständnis
Schmitts insbesondere: Fulco Lanchester: Carl Schmitt e la storia costituzionale. In: Quaderni costituzionali 6 (1986), S. 487-510. Eine bisher wenig beachtete gedankenreiche Studie. 258) Schmitt, Aufgaben (1936), S.230. 259) Ebd., S. 231f. Zur Begriffsumbildung allgemein: Bernd Rüthers: Wir denken die Rechtsbegriffe um... Weltanschauung als Auslegungsprinzip, Zürich/Osnabrück 1987 (= Texte und Thesen, 199). Das titelgebende Schmitt-Zitat bei Rüthers findet sich in Carl Schmitt: Nationalsozialistisches Rechtsdenken. In: Deutsches Recht 4 (1934), S. 225-229, hier S. 229.
222
V.
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
im 19. Jahrhundert sachlich gefüllten staatsrechtlichen Begriffe für die ältere deutsche Geschichte einer Prüfung unterzogen werden. Die Termini „Staat" und „Verfassung" standen bei der beabsichtigten Revision der Verfassungsgeschichtsschreibung besonders im Blickpunkt. Von einer Neuausrichtung der Verfassungsgeschichtsschreibung war bereits kurz nach der nationalsozialistischen Machtübernahme die Rede. Einigen Historikern und Juristen konnte es nicht schnell genug gehen, die Geschichte im Sinne der „nationalen Revolution" umzuschreiben. Selbst bereits abgeschlossene Manuskripte wurden noch eilig um Vor- oder Nachworte ergänzt, die explizit die neueste politische Entwicklung auf die historische Bewertung des Geschehens bezogen. Ein besonders auffälliges Beispiel bietet ein Aufsatz des Stuttgarter Historikers Erwin Hölzle. Der Kenner der südwestdeutschen Landesgeschichte ergänzte seinen am 14. September 1932 gehaltenen Vortrag über das napoleonische Staatensystem, der im Jahrgang 1933 der „Historischen Zeitschrift" erschien, um ein Nachwort von einer halben Seite, in dem er kundtat, daß inzwischen „eine längst erhoffte große Bewegung die nationalpolitische Einheit des Reiches vollkommen hergestellt hat". Um dem Leser gleich die Konsequenzen für die Historiographie zu verdeutlichen, schrieb er: „Wir verstehen heute deutlicher als früher das zeitlich Bedingte und Begrenzte der unter dem Zeichen Napoleons erfolgten Umbildung der deutschen Staa-
tenwelt."260)
Zwei Jahre
später kritisierte der Freiburger Frühneuzeitler Arnold
Ber-
ney261) das ungewöhnliche Nachwort Hölzles und nutzte es zu einer generel-
für die deutsche VerfasZwar könne „der Umbruch der verfassungsrechtlichen Ordnung [im Jahr 1933, E.G.][...] dem Sinne der landesverfassungsgeschichtlichen Wandlungen der Napoleonischen Zeit keine andere Richtung" geben263). Aber eine „neue längsschnittliche, deutsch-verfassungsgeschichtliche Betrachtungsweise" werde „stärker als die Spannung .Einheit len
Bemerkung über die gewandelten Bedingungen
sungsgeschichtsschreibung262).
Erwin Hölzle: Das napoleonische Staatssystem in Deutschland. In: HZ 148 (1933), S. 277-293, hier S. 292f. Bemerkenswert ist, daß der HZ-Herausgeber Meinecke an dem politisch motivierten Zusatz scheinbar keinen Anstoß nahm. Hölzle war Referent für Landesgeschichte beim Statistischen Landesamt in Stuttgart und erhielt bis 1945 keine Professur. 261) Zur Person die detailgenaue Studie von Michael Matthiesen: Verlorene Identität. Der Historiker Arnold Berney und seine Freiburger Kollegen 1923-1938, Göttingen 1998. Ebd., S. 72-76, zu den weiteren Hintergründen und Folgen der Kontroverse mit Hölzle. 262) Arnold Berney: Zur Problematik der inneren Geschichte des 19. Jahrhunderts. In: VSWG 28 (1935), S. 41-50. 263) Dem widersprach aufs Heftigste der angegriffene Hölzle, indem er feststellte, es sei das „historisch-wissenschaftliche Recht jeder Zeit, ihr eigenes Geschichtsbild zu bilden". Berney jedenfalls habe „die für ihn seiner Abstammung nach besonders gebotene politische Zurückhaltung nicht geübt". Die in diesen Worten zum Ausdruck kommende Verunglimpfung Berneys als Jude gehört zu den perfidesten persönlichen Angriffen unter Historikern in der NS-Zeit, die publiziert wurden. Erwin Hölzle: Vom deutschgeschichtlichen Sinn einer Landesgeschichte. In: VSWG 28 (1935), S. 149-155, hier S. 155.
26°)
2. Neue
Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
223
heutigen Tage die allgemeine wie die besondere geschichtliche Verfassungserforschung beherrscht, [...] die Frage nach den Werdensbedingungen und Wesenseigenschaften staatlicher Autorität" in den Vordergrund rücken. Und er folgerte: die Verfassungsgeschichtsschreibung „bedarf mehr als irgend ein anderer [Bereich unseres historischen Bewußtseins, E.G.] des neubelebenden geistigen Atems. Ohne diese Neubelebung wird die Wissenschaft der neueren Verfassungsgeschichte gleich ihren ermatteten Schwesterdisziplinen zur ,ancilla' der Verfassungslehre, der vergleichenden Soziologie und der Publizistik entarten müssen."264) Aus Berneys Sicht war eine nationale Ausrichtung ebenso wie eine spürbare Vereinnahmung der Verfassungshistoriographie für die Geschichtswissenschaft vonnöten, um sie nicht in das Fahrwasser anderer Disziplinen abgleiten zu lassen. Angesichts der 1935 gerade erschienenen juristischen Studienordnung schien die Gefahr einer Entfremdung der Verfassungsgeschichtsschreibung aus Sicht der Historiographie besonders akut zu sein. Diesem Prozeß müsse methodisch und inhaltlich begegnet werden. Berney rückte die Nation und die Frage der Autorität ins Zentrum künftiger verfassungshistorischer Forschung. Seit Mitte der dreißiger Jahre mehrten sich die Appelle für eine methodisch-inhaltliche Ausweitung der historischen Teildisziplin Verfassungsgeund Vielheit', welche bis
zum
schichte. Der Wiener Archivar Otto Brunner stellte fest, daß eine formaljuristische Bearbeitung der Verfassungsgeschichte nicht ausreiche. Es stelle sich die Aufgabe, „die Verfassung eines konkreten geschichtlichen Gebildes so zu verstehen, daß daraus das Spiel der politischen Abläufe unmittelbar einleuchtend wird"265). Bei der Beschreibung dieser „konkreten politischen Ordnung" müsse man sich freimachen „von den Dogmen einer positivisti-
264) Berney, Problematik (1935), S. 48-50. 265) Otto Brunner: Zum Problem der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. In: Zeitschrift für
Nationalökonomie 7 (1936), S. 671-685, hier S. 675f. Zu Brunners Person und Werk und seiner Konzeption der Verfassungsgeschichte ist seit seinem Tod 1982 viel veröffentlicht worden. Die wichtigsten Titel: Algazi, Herrengewalt (1996); ders.: Otto Brunner „Konkrete Ordnung" und Sprache der Zeit. In: Schattier, Geschichtsschreibung (1997), S. 166-203; Reinhard Blänkner: Von der „Staatsbildung" zur „Volkwerdung". Otto Brunners Perspektivenwechsel der Verfassungshistorie im Spannungsfeld zwischen völkischem und alteuropäischem Geschichtsdenken. In: Luise Schorn-Schütte (Hg.), Alteuropa oder Frühe Moderne. Deutungsmuster für das 16. bis 18. Jahrhundert aus dem Krisenbewußtsein der Weimarer Republik in Theologie, Rechts- und Geschichtswissenschaft, Berlin 1999 (= ZHF; Beih, 23), S.87-135; ders.: Nach der Volksgeschichte. Otto Brunners Konzept einer „europäischen Sozialgeschichte". In: Hettl'mg, Volksgeschichten (2003), S. 326-366; Hans Boldt: Otto Brunner. Zur Theorie der Verfassungsgeschichte. In: Annali dell'Istituto Storico Italo-Germanico in Trento 13 (1987), S. 39-61; ders.: Otto Brunner und die deutsche Verfassungsgeschichte. In: Karl-Egon Lönne (Hg.), Historismus in den Kulturwissenschaften, Tübingen/Basel 2003, S. 193-206; Christof Dipper: Otto Brunner aus der Sicht der frühneuzeitlichen Historiographie. In: Annali dell'Istituto Storico ItaloGermanico in Trento 13 (1987), S. 73-96; Valentin Groebner: Otto Brunner und die alteuropäische Ökonomik. In: GWU 46 (1995), S. 69-80; Robert Jütte: Zwischen Ständestaat und Austrofaschismus. Der Beitrag Otto Brunners zur Geschichtsschreibung. In: Jb. des -
224
V.
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
sehen Jurisprudenz"266). Es komme auf eine .richtige' Darstellung der historischen Entwicklungen an, die mehr als nur die rechtliche Seite berücksichtige, vielmehr auch die politischen, möglichst sogar soziale und wirtschaftliche Aspekte mit einbeziehe267). „Aufgabe der deutschen Verfassungsgeschichte" sei es zudem „den geschichtlichen, letztlich germanischen Wurzeln von Führung und Volksgemeinschaft nachzugehen"268). Eine genetische Längsschnittanalyse à la Berney war gefragt im Gegensatz zu der institutionengeleiteten querschnittartigen Methode der Juristen. Die Verfassungsgeschichtsschreibung sollte Prozesse beschreiben und nicht Zustände schildern. Gefragt war die Dynamik von historischen Vorgängen gegenüber der Statik rechtlicher Normen. Nicht selten schwang in den offensiven Äußerungen der Historiker auch ein leicht aggressiver Ton gegenüber den juristischen Kollegen mit. Besitzstandswahrung im Interesse des eigenen Faches bedeutete inneruniversitär den Kampf um Macht, Einfluß und Finanzmittel. Der Göttinger Mittelalterhistoriker Percy Ernst Schramm kritisierte die institutionengeschichtlich dominierte französische Verfassungsgeschichtsschreibung und hatte zugleich auch die deutschen Rechtshistoriker im Blick, wenn er konstatierte, daß die bisherigen Darstellungen zur Verfassungsgeschichte lediglich einzelne Zeiträume zusammenfaßten und verschiedene Bilder einander gegenüberstellten. „Sie bringen die Geschichte gleichsam zum Gefrieren, um sie rechtsgeschichtlich faßbar zu machen." Damit drohe allerdings die „Gefahr einer Vergewaltigung des Geschehens", wogegen „möglichst viel von den .Kräften' der Geschichte
Instituts für Deutsche Geschichte 13 (1984), S. 237-262; Howard Kaminski/James Van Horn Melton: Translators' Introduction. In: Otto Brunner, Land and Lordship. Structures of Governance in Medieval Austria, Philadelphia 1992, S. XIII-LXI; David M. Nicholas: New Paths of Social History and Old Paths of Historical Romanticism. An Essay Review on the Work and Thought of Otto Brunner. In: Journal of Social History 3 (1969), S. 277-294; Otto Gerhard Oexle: Sozialgeschichte Begriffsgeschichte Wissenschaftsgeschichte. Anmerkungen zum Werk Otto Brunners. In: VSWG 71 (1984), S. 305-341; James Van Horn Melton: From Folk History to Structural History: Otto Brunner (1898-1982) and the Radical-Conservative Roots of German Social History. In: ders./Hartmut Lehmann (Hg.), Paths of Continuity. Central European Historiography from the 1930s to the 1950s, Cambridge, Mass./Melbourne 1994 (= Publications of the German Historical Institute Washington, D.C.), S. 263-292; Max Weltin: Der Begriff des Landes bei Otto Brunner und seine Rezeption durch die verfassungsgeschichtliche Forschung. In: ZRG/GA 107 (1990), S. 339-376. 266) Otto Brunner: Politik und Wirtschaft in den deutschen Territorien des Mittelalters. In: Vergangenheit und Gegenwart 27 (1937), S. 404422, hier S. 406. 267) Für eine breitere Berücksichtigung der Wirtschafts- und Sozialgeschichte in der Verfassungsgeschichte traten auch Helmuth Croon und Justus Hashagen ein. H.[elmuth] Croon: Neuere Verfassungsgeschichte. In: JDG 11 (1935), S. 325-330, hier S.327; Hashagen, Rez. Feine (1937), S. 399. 268) Otto Brunner: Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter, Brünn/München/Wien 21942 (= Veröffentlichungen des Instituts für Geschichtsforschung und Archivwissenschaft in Wien, 1), S. XI. -
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2. Neue
Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
225
festzuhalten" sei269). Das las sich als Plädoyer für eine dynamische Sicht gegenüber der als statisch angegriffenen juristischen Methode. Ein antijuristischer Affekt war auch bei Walther Kienast, seinerzeit Privatdozent für Mittelalterliche Geschichte in Berlin und Redaktionsmitglied der „Historischen Zeitschrift", feststellbar270). Die verfassungsgeschichtliche Arbeit sei gelähmt durch eine Blickverengung auf die deutsche Geschichte. Es müsse ein „Primat der staatlich-wirtschaftlichen Machtverhältnisse" herrschen. Und gegen eine positivistische juristische Deutung gewandt, machte er auf die Gefahr der Teleologie aufmerksam: „Die deutsche Verfassungsgeschichte läßt sich nicht begreifen als notwendiges und sozusagen vorherbestimmtes Ergebnis von Rechtssätzen und Einrichtungen."271) Der Marburger Mediävist Theodor Mayer äußerte sich hingegen versöhnlicher und stellte 1939 in der Sache fest: „Die statische, dogmatisch-institutionelle Richtung der juristischen Forschung ist durch die dynamisch-funktionelle Betrachtungsweise der Historiker [...] umgestaltet und ergänzt worden."272) Neben der Betonung der entwicklungsgeschichtlichen Methode rückten einige Historiker die volksgeschichtliche Deutung in den Vordergrund und hoben sie insbesondere von der bisher nicht nur unter den Juristen vorherrschenden etatistischen Ausrichtung ab. Hatte Fritz Härtung 1936 die Verfassung als „die Gesamtheit der den Bau eines Staatskörpers ausmachenden und sein Leben ermöglichenden Kräfte" sowie als „die Ordnung ihres gegenseitigen Verhältnisses" bezeichnet273), so bestanden einige seiner Berliner Schüler auf einer volksgeschichtlichen Variante dieser Definition. Sowohl Hans Haussherr als auch Gerhard Oestreich forderten eine „Volksdeutsche Verfas-
269) Percy
Ernst Schramm: Der König von Frankreich. Wahl, Krönung, Erbfolge und vom Anfang der Kapetinger (987) bis zum Ausgang des Mittelalters. In: ZRG/KA 25 (1936), S. 222-354, hier S. 225f. Schramm übernahm diese Passage wörtlich in das Vorwort seiner Monographie: ders.: Der König von Frankreich. Das Wesen der Monarchie vom 9. zum 16. Jahrhundert. Ein Kapitel aus der Geschichte des abendländischen Staates. Bd. 1: Text, Weimar 1939, S. VI. Zur Person: Joist Grolle: Der Hamburger Percy Ernst Schramm ein Historiker auf der Suche nach der Wirklichkeit, Hamburg 1989. 27,)) Zur Person Kienasts: Weber, Lexikon (1984), S. 301f. 27 ') Walther Kienast: Lehnrecht und Staatsgewalt im Mittelalter. Studien zu dem Mitteis'schen Werk. In: HZ 158 (1938). S.3-51, hier S.4, 50f. Es handelt sich um eine weiterführende Besprechung über die epochale Darstellung des Rechtshistorikers Heinrich Mitteis, Lehnrecht (1933). 272) Theodor Mayer: Die Ausbildung der Grundlagen des modernen deutschen Staates im hohen Mittelalter. In: HZ 159 (1939), S. 457^187, hier S.457. Zur Person: Anne Nagel: Zwischen Führertum und Selbstverwaltung. Theodor Mayer als Rektor der Marburger Universität 1939-1942. In: Winfried Speitkamp (Hg.), Staat, Gesellschaft, Wissenschaft. Beiträge zur modernen hessischen Geschichte, Marburg 1994 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, 55). S. 343-364; Weber, Lexikon (1984), S. 371f. 273) Fritz Härtung: Staatsverfassung und Heeresverfassung. In: ders., Volk und Staat in der deutschen Geschichte. Gesammelte Abhandlungen, Leipzig 1940. S. 28^10 [zuerst 1936], hier S.28. Wortgleich auch in ders.: Antrittsrede. In: Jb. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Jg. 1939, S. 136-138, hier S. 138.
Königsidee
-
226
V.
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
sungsgeschichte"274)
bzw. eine Verfassungsgeschichte, welche „die Rückwirinstitutionellen der Kräfte auf die völkischen Gegebenheiten selbst kungen zur Darstellung bring[t]. Neben die Staatsverfassungsgeschichte muß als Teil und ihre Ergänzung die Volksverfassungsgeschichte nicht im alten soziologischen, sondern allgemein-politischen Sinne treten."275) Härtung hielt demgegenüber an seiner etatistischen Sicht weitgehend fest. Zwar sei „die Beschäftigung mit dem Volke statt mit dem lange bevorzugten Staate als dringlichste Forderung gestellt", dennoch tue „eine geschichtlich begründete Kenntnis des Staates unbedingt" not276). Einer volksgeschichtlichen Ausrichtung der Verfassungsgeschichtsschreibung standen auch viele Juristen wohlwollend gegenüber. Die Verwaltungsjuristen Heinrich Muth, Walther Eckhardt und Harry von Rozycki, die Rechtshistoriker Heinrich Mitteis und Claudius von Schwerin sowie der Innenstaatssekretär Wilhelm Stuckart bekannten sich zu einem volksgeschichtlich erweiterten Verfassungsbegriff und einer entsprechend aufgebauten Verfassungsgeschichtsschreibung, die aus ihrer Sicht eine primär juristische Teildisziplin war277). Insbesondere bei den Mitarbeitern des Berliner „Instituts für Staatsforschung" unter der Leitung von Reinhard Höhn vertrat man eine kämpferische Haltung gegenüber der vorwiegend staatsbezogenen traditionellen Verfassungsgeschichtsschreibung bei Historikern und Juristen. Auch bei den Historikern zeigten sich entschlossene Revisionisten'. Von einem kämpferischen' Anliegen zeugt die Art, wie Erwin Hölzle zukünftig Verfassungsgeschichte zu schreiben gedachte. Man müsse fortan den „ganzen Beziehungsreichtum, [...] die Dynamik des Verhältnisses der einzelnen Institutionen, [...] die Verbindung und Verwirrung ideeller Kräfte und konkreter politischer Interessen" schildern. Solchen Erfordernissen könne die „alte verfasHans Haussherr: Verfassungstypen deutscher Volksgruppen im Auslande. In: HZ 160 (1939), S. 35-78, hier S. 38. Zu Haussherr: Weber, Lexikon (1984), S. 215. 275) G.[erhard] Oestreich: Rez. zu Hans Erich Feine, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit. In: HZ 159 (1939), S.327Í., hier S.328. Haussherr sprach in einem Brief an Härtung (11.2.1938) davon, es gehe darum, dessen „rein staatlichen Verfassungsbegriff nach der volklichen Seite" zu ergänzen. StaBi Berlin, NL Härtung, XXXVII, 1. Zu Oestreich siehe als Kurzinformation: Bernhard vom Brocke: Oestreich, Gerhard. In: NDB 19 (1999), S.463f. Siehe Kap. VI.2.a). 276) Härtung, Antrittsrede (1939), S. 138. 277) Heinrich Muth: Grundlinien der neueren deutschen Verfassungsentwicklung. Bemerkungen zu dem Buch von Prof. Dr. Ernst Forsthoff: Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit. In: Deutsches Recht 11 (1941), S. 1269-1272, hier S. 1269; Eckhardt/Rozycki, Verfassungsgeschichte (1940), S.7; Heinrich Mitteis: Land und Herrschaft. Bemerkungen zu dem gleichnamigen Buch Otto Brunners. In: HZ 163 (1941), S. 255-281, 471^189, hier S. 256; Claudius Frh. v. Schwerin: Rechts-, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. Zu
274)
Otto Brunners „Land und Herrschaft". In: Jbb. für Nationalökonomie u. Statistik 156 (1942), S. 158-167, hier S. 163; Wilhelm Stuckart: Die Neuordnung der Kontinente und die Zusammenarbeit auf dem Gebiete der Verwaltung, zit. nach Werner Frauendienst: Der innere Neuaufbau des Reiches als Beitrag zur europäischen Ordnung. In: Jb. der Weltpolitik 1 (1942), S. 112-139, hier S. 127.
2. Neue Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
227
Art" der Darstellung nicht genügen278). Das Zitat zeigt deutlich das Bemühen um Abgrenzung, legt aber zugleich die inhaltliche Unbestimmtheit des neuen Verfassungsdenkens offen. Mitteis und Schwerin schlössen sich in ihren Buchbesprechungen jenem Bild der Verfassungshistorie an, welches Otto Brunner in seinem Werk „Land und Herrschaft" 1939 maßgeblich inhaltlich gefüllt hatte. Brunner selbst rekurrierte methodisch auf den Verfassungsbegriff von Ernst Rudolf Huber, der seit Ende der dreißiger Jahre gleichfalls volksverfassungsgeschichtlich arbeitete279). Der Wiener Historiker publizierte gleichzeitig mit seiner Furore machenden Studie über „Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter" methodologische Überlegungen unter dem Titel „Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte"280). Darin setzte er sich in polemisch-zugespitzter Weise mit der historischen und juristischen Rechts- und Verfassungsgeschichtsforschung der vorangegangenen Jahrzehnte auseinander. Den Historikern „der letzten Generationen" warf Brunner vor, „das Feld der Rechts- und Verfassungsgeschichte [...] verlassen und sich in das Gebiet der Wirtschafts- und Sozialgeschichte" zurückgezogen zu haben281). Tatsächlich beinhaltete diese Behauptung bereits eine unzulässige Übertreibung und eine einseitige Verkürzung. Allenfalls für die mittelalterliche Geschichte war es richtig, von einem Rückzug der Historiker und einer eindeutigen Dominanz der Rechtshistoriker zu sprechen. Aber selbst auf diesem Gebiet ignorierte Brunner mit einer derart generellen Feststellung beispielsweise die Forschungen seines österreichischen Landsmannes Theodor Mayer oder die auch sozial- und wirtschaftsgeschichtlich ausgerichteten Studien von Hermann Aubin, Franz Steinbach oder Rudolf Kötzschke. Aber Differenzierung lag nicht in Brunners Absicht. Ihm ging es um schroffe Gegenüberstellung, um sachliche Konfrontation zur Betonung der eigenen abweichenden Position. Den Juristen wiederum legte Brunner zur Last, rein systematisch vorgegangen zu sein und im übrigen mit positivistischen Begriffen aus dem 19. Jahrhundert gearbeitet zu haben. Macht und Recht seien, zuletzt noch bei Heinrich Mitteis, als unterschiedliche Sphären getrennt behandelt worden. Diese problematische und unhistorische Trennung von ,Sphären' sowie die daraus resultierende Begrifflichkeit hätten die Historiker leichtsinnig und fahrlässig übernommen; sie seien von den Juristen „in stärkstem Maße geistig abhän-
sungsgeschichtliche
278) Höhle, Sinn (1935), S. 150. 279) Der explizite Bezug auf Huber u.a. in Brunner,
Politik (1937), S.406f„ Anm. 5. Zu Brunners Schmitt-Rezeption einschlägig: Algazi, Brunner (1997); ders., Herrengewalt (1996), S. 111-115,123-125. 280) Otto Brunner: Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte. In: MIÖG, Erg.-Bd. 14 (1939), S. 513-528. In Ansätzen finden sich die theoretischen Erwägungen Brunners bereits in zwei früheren Aufsätzen: ders., Problem (1936), und ders., Politik (1937). 281) Ders., Verfassungsbegriff (1939), S. 513.
228
V
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
Die Lage sei inzwischen unhaltbar, denn: „Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte sondern Volk und Reich."282) Demzufolge komme es nunmehr darauf an, mit einem neuen von Carl Schmitt und Ernst Rudolf Huber geprägten Verfassungsbegriff zu arbeiten, für die der Staat „die Gesamtheit der in ihm geordneten menschlichen Verbände" und die Verfassung „der konkrete Gesamtzustand politischer Einheit und sozialer Ordnung eines bestimmten Staates" sei. Es gelte Abschied zu nehmen von einer „Staatsverfassungslehre", denn „dem Nationalsozialismus ist nicht mehr der Staat sondern das Volk oberstes Prinzip des politischen Denkens"283). Daß Brunner auf eine Politisierung der Verfassungsgeschichtsschreibung und dies in einer rassistisch unterlegten Version abzielte, macht folgender Satz deutlich: „.Volk' ist [...] eine blut- und rassenmäßig geprägte Wirklichkeit, die in einer konkreten Volksordnung lebt und sich dieser Einheit im Erlebnis der Volksgemeinschaft bewußt wird." Das war ein rassistisch verschärfter Huberscher Verfassungsbegriff. Die Trennung von Staat und Gesellschaft, das Erbe des 19. Jahrhunderts, sei mit einer volksgeschichtlich orientierten Verfassungsgeschichtsschreibung aufgehoben, die „ungeschriebene Grundordnung" bilde „die Verfassung im eigentlichen und echten Sinne". Dies habe Huber für das gegenwärtige Verfassungsrecht exemplarisch
gig".
vorgeführt284). Im Gegensatz
anderen Darstellungen der Rechts- und Verfassungsgevor mit einem liberalen Verfassungsbegriff arbeiteten, der Staat und Gesellschaft einander entgegensetze, möchte Brunner fortan die ungeschriebene Verfassung als weiten Begriff unterscheiden von der Konstitution „als Verfassung des .bürgerlich-liberalen Rechtsstaates', dem Verfassungsbegriff im engen Sinne einer geschriebenen Verfassungsurkunde"285). Brunners Ziel ist die Überwindung des ungeschichtlich positivistisch verengten Verfassungsbegriffs, der sich lediglich auf die geschriebenen Konstitutionen beziehe, und die Darstellung der wirklichen mittelalterlichen Rechtsauffassung. Mit dieser Verfassungssicht ließen sich „alle großen Streitfragen" der Verfassungsgeschichtsschreibung der letzten Generationen lösen: als Beispiele nennt er die Auseinandersetzung um den deutschen Staat des Mittelalters zu
schichte, die nach wie
282) Ebd.,
S.516. Vor der „Projektion" des neuzeitlichen Staatsbegriffs in ältere historihatte früher bereits Fritz Härtung gewarnt. Siehe oben Kap. III.3. Für die erneute kritische Sich! auf die Terminologie erhielt Brunner später die Zustimmung von Carl Schmitt. Carl Schmitt: Staat als ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff. In: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958, S. 381-385 [zuerst 1941], hier S.384 (Glossen sche
von
283)
Epochen
1958).
Brunner, Verfassungsbegriff (1939), S.517, unter Bezugnahme auf Schmitt, Verfassungslehre (1928), S.3-5. Brunners Rezeption von Huber wird in der Forschung allenfalls erwähnt, aber nicht näher untersucht.
284) Brunner, Verfassungsbegriff (1939), S. 517. 285) Ebd., S.518. Als Beispiel für die überkommene Begriffsverwendung Claudius Frh.
v.
Schwerin: Germanische
Rechtsgeschichte.
führt er Ein Grundriß, Berlin 1936.
an:
2. Neue
und
Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
229
diejenige um den „Repräsentationscharakter" der Landstände286). Brun-
schließt mit dem hoffnungsfrohen Plädoyer, die Rechtsgeschichte müsse endlich „die geschichtlichen Grundlagen von Recht und Verfassung des Dritten Reichs" aufdecken. Mit der Abkehr von dem „veralteten Begriffsapparat der Rechtsgeschichte [...] ist der Historie der Weg zu einem neuen Verständnis ner
der Vergangenheit und zugleich zum Dienst an der Gegenwart eröffnet"287). Die neue Verfassungsgeschichtsschreibung kann es nach Brunners Verständnis nicht allein bei einer historischen Verfassungsdeutung belassen. Ihr komme eine politische Funktion in der Gegenwart zu. Die Berufung des Historikers Brunner auf die Juristen Schmitt und Huber führt eindringlich vor Augen: So sehr Historiker und Juristen sich in gegenseitigen Abgrenzungsbestrebungen übertrafen, so sehr profitierten sie gleichzeitig voneinander und rezipierten sich gegeneinander. Sie teilten im übrigen in Fragen der Terminologie die Auffassung, daß es gelte, den „inneren Bau" und die „Formen" von Institutionen zu untersuchen und den „lebendigen Kräften" der Verfassungswirklichkeit nachzugehen288). Und sie übertrafen sich gegenseitig in den Appellen, zur historischen Grundlegung des neuen Staates und seiner Bewegung einen politischen Beitrag zu leisten. In der Verfassungshistoriographie hatten sich derart politisch motivierte methodologische Über-
legungen praktisch zu bewähren.
b) Die .traditionelle' Verfassungsgeschichtsschreibung: Bornhak und Schulte Das wissenschaftliche Terrain der Verfassungsgeschichtsschreibung teilten Juristen und Historiker nicht erst seit 1933 miteinander. Es stellt sich aber auch für diese Periode die Frage, inwieweit sich juristische und historische Deutungsangebote der Verfassungshistoriographie deckten, überschnitten bzw. inwiefern sie sich unterschieden oder miteinander konkurrierten. Ausgewählte Studien zu diesem Themengebiet werden nachfolgend unter den Aspekten von Aufbau, Leitgedanken, Geschichtsbildern und Vermittlungsstrategien untersucht. Juristische Abhandlungen zu Einzelthemen oder zum Gesamtbereich der deutschen Verfassungsgeschichte wurden nach 1935 unter dem Einfluß der Studienreform geschrieben und publiziert. Bis zu diesem Zeitpunkt entstanden Schriften, die auf die Aufnahme der Verfassungsgeschichte ins juristische Lehrprogramm der preußischen Fakultäten aus dem Jahr 1931 reagierten289) oder unabhängig von solchen Lehrangebotsvorgaben verfaßt wurden. Eines
286) Brunner, Verfassungsbegriff (1939), S. 524-526. 287) Ebd., S. 528. 288) So u.a. Härtung, Staatsverfassung (1936), S.28; ders.,
Rez. Bornhak (1935), S.91; Huber, Rez. Bornhak (1934), S.983; Schwerin, Rechts-, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte (1942), S. 163. 289) Siehe dazu oben Kap.
V.l.d).
230
V.
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
der umfangreichsten Werke aus den Jahren 1933/34 stellt die „Verfassungsgeschichte" von Conrad Bornhak dar. Der emeritierte Berliner Statsrechtler des Geburtsjahrgangs 1861, Conrad Bornhak, gehörte der Generation von Otto Hintze und Friedrich Meinecke an290). Bereits um die Jahrhundertwende hatte er eine „Allgemeine Staatslehre" vorgelegt und mit seiner „Preußischen Staats- und Rechtsgeschichte" ein Standardwerk verfaßt, das als nahezu konkurrenzloses Kompendium kurz als „der Bornhak" bezeichnet wurde291). Auch seine 1934 publizierte „Deutsche Verfassungsgeschichte vom westfälischen Frieden an" wirkte bereits auf den ersten Blick wie eine umfassende Materialsammlung292). Mit ihr wollte er, ausweislich des Vorworts, nicht allein die „Fachgenossen der Juristen und Historiker", sondern „weiteste Kreise des deutschen Volkes" erreichen293). Die Deutungslinie seiner Darstellung spricht Bornhak bereits im Vorwort an. Bei der „deutschen Verfassungsentwicklung [...] handelt [es] sich im wesentlichen um ein Trauerspiel, den Jahrhunderte dauernden Todeskampf des alten Reiches, die trübe Zeit des Rheinbundes und die Öde des deutschen Bundes". Bornhaks Werk endet, anders als es der offen formulierte Titel andeutet, bereits 1871. Die Reichsgründung ist Schlußpunkt der Darlegungen, denn die „Zeit des Aufstiegs" seit den Befreiungskriegen gelange damit an ihr Ziel. Bezeichnenderweise datiert der Autor sein Vorwort auf den Tag der Versailler Kaiserproklamation294). Die sprachlich wenig ansprechende, sehr schematisch verfahrende und sich in Teilen wiederholende Darstellung konnte weder dem damaligen Forschungsstand entsprechen295), noch die Wünsche der neuen Machthaber erfüllen. Bornhak ignorierte nämlich neuere Forschungserträge, z.B. Hintzes oder Mitteis' Arbeiten der Jahre um 1930, zudem bot er außer einigen offen-
290) Kurzporträt: Stolleis, Geschichte, Bd. 2 (1992), S.303 u. Anm. 159, der feststellt, daß
Bornhak nirgends originell gewesen sei. „Bei großer äußerer Produktivität" habe „sein Talent eher in der ansprechenden Aufbereitung der ,herrschenden Meinung'" gelegen. 291) Conrad Bornhak, Preußische Staats- und Rechtsgeschichte. Mit einer Rechtskarte des preußischen Staates, Berlin 1903. Besonders kritisch dazu: 0.[tto] H.fintzef In: FBPG 18 (1905), S. 288-306. Siehe oben Kap. III.2.b). 292) Conrad Bornhak: Deutsche Verfassungsgeschichte vom westfälischen Frieden an, Stuttgart 1934 (= Bibliothek des öffentlichen Rechts, 7) [Ndr. Aalen 1968]. Mit 460 Seiten übertraf das Buch an Umfang sämtliche anderen bis dahin erschienenen Hand- und Lehrbücher zur neuzeitlichen deutschen Verfassungsgeschichte und blieb auch nach 1945 in dieser Hinsicht lange unerreicht. 293) Ebd., S. III.
294) Ebd.,S.IIIf. 295) Unglücklich waren
um nur zwei Beispiele zu nennen die Teilung der frühneuzeitlichen Geschichte an der (verfassungshistorisch bedeutungsarmen) Schnittstelle des Jahres 1763 (Hubertusburger Frieden) und die fehlende Darstellung der Reichsverfassung von 1871. Ungewöhnlich wirken Formulierungen wie die „Futterkrippenwirtschaft" für die Verfassungsverhältnisse in den frühneuzeitlichen Reichsstädten (ebd., S. 267) oder der „Froschmäusekrieg" für die Verfassungskämpfe im Vormärz (ebd., S. 374). Eine ausführliche Mängelliste bietet vor allem die Besprechung von Härtung, Rez. Bornhak (1935). -
-
231
2. Neue Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
kundigen Verbeugungen gegenüber dem „neuen Staat der Volksverbundenheit"296) keine in sich geschlossene Deutung, die das ,Dritte Reich' als vorläufigen End- oder Höhepunkt der deutschen Geschichte zeigte. Er präsentierte sich vielmehr in erster Linie als ein Anhänger der alten Monarchie und versuchte lediglich durch verbale Zugeständnisse an die neue Ideologie', sein eigentliches Ideal zu verhüllen297). Seine Behauptung, er habe „die Ideen des
Nationalsozialismus vertreten, ehe an Nationalsozialismus zu denken war", ist dafür ein bemerkenswerter Beleg298). Bornhaks „Verfassungsgeschichte" wirkte in jedem Fall wie ein fehlerreicher und lieblos umgestürzter Zettelkasten299). Die Tatsache, daß der Berliner Jurist neben dem Historiker Aloys Schulte im Grunde als erster Forscher zwei Jahrzehnte nach Härtung es wieder gewagt hatte, eine überblicksartige Verfassungsgeschichte der Neuzeit vorzulegen, sicherte ihm zwar eine breite Besprechungsresonanz, aber keine dementsprechende Anerkennung oder zeitgenössische Nachwirkung300). Dies konnte angesichts des politischen Hintergrunds erst recht nicht der Fall sein, da Bornhak die verfassungsgeschichtliche Entwicklung, wie Ernst Rudolf Huber zutreffend bemerkte, „in der herkömmlich-konventionellen Art behandelt" habe301). S. III. Auffällig ist die mehrfache Titulierung der Reichsfarben schwarz-rot-gold als „Mostrichflagge" (u. a. ebd., S. 403). Konzessionen an den Zeitgeist moniert besonders eine Schweizer Besprechung: Hermann Rennefahrt. In: Zeitschrift für Schweizerische Geschichte 15 (1935), S.83f. 297) So auch Lübbe, Verfassungsgeschichtsschreibung (1989), S. 67-69. 298) Zit. nach Heiber, Universität, Bd. 1 (1991), S. 386. Bornhak hatte die These, die preußische Judenemanzipation von 1812 habe den „ersten Schritt [...] zur Verjudung des ganzen öffentlichen Lebens" bedeutet (ebd., S. 335), wörtlich bereits 1925 vertreten. Siehe Conrad Bornhak: Preußen unter der Fremdherrschaft 1807-1813, Leipzig 1925, S. 134. Dies ist die bei Lübbe, Verfassungsgeschichtsschreibung (1989), S.68f, nicht erwähnte „Schattenseite" der NS-„Reserve" Bornhaks. 299) Hans J. Wolff meinte, es handele sich „eher um die Addition als die Integration der Lebensarbeit eines Gelehrten". H.[ans] J. Wolff: Rez. zu Conrad Bornhak, Deutsche Verfassungsgeschichte vom westfälischen Frieden an. In: DLZ 56 (1935), Sp. 1625-1627, hier Sp. 1625. 30°) Die wichtigsten Rezensionen, die ablehnend bis extrem negativ ausfielen: H.[einrich] Meisner. In: FBPG 48 (1936), S. 427f; Hans Erich Feine. In: HZ 152 (1935), S. 580-582; Ernst Rudolf Huber. In: Reichsverwaltungsblatt 55 (1934), S.983; Härtung, Rez. Bornhak (1935); HJeinrich] Mitteis. In: ZRG/GA 55 (1935), S. 366-368; H.[elmuth] Croon: Deutsche Verfassungsgeschichte. In: JDG 9/10 (1934/35), S. 406-413, hier S.406. Bei der Anzahl der Verrisse von renommierten Rezensenten erstaunt der Nachdruck aus dem Jahr 1968. 301) Huber, Rez. Bornhak (1934). Ganz ähnlich: Friedlich] Giese. In: JW 63 (1934), S. 1958f Bornhak ergänzte seine „Verfassungsgeschichte" noch im folgenden Jahr mit dem Werk: Conrad Bornhak: Genealogie der Verfassungen, Breslau 1935 (= Abhandlungen aus dem Staats- und Verwaltungsrecht mit Einschluß des Völkerrechts, 50). Das Buch zeigt die „Verwandtschaft aller neueren Verfassungen" auf und teilt die konstitutionelle Welt sehr schematisch in sechs „Verfassungskreise" ein. Bornhak sprach zeitgemäß davon, daß „das Zeitalter des Konstitutionalismus mit seiner Entartung im Parlamentarismus [...] vergangen" sei und es sich deshalb um einen „Nekrolog" handele. Ebd., S. VIf. Die Kritiker verfuhren mit der Studie ähnlich unsanft wie mit der „Verfassungsgeschichte".
296) Bornhak, Verfassungsgeschichte,
O.jtto]
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232
V.
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
Neben Bornhaks Opus gab es noch ein weiteres Werk, in dem ein Gelehrter gleichsam die Summe seines Forscherlebens in einer Überblicksdarstellung zu bündeln versucht hatte. Der aus Münster gebürtige Katholik Schulte hatte von 1903 bis 1925 den Konkordatslehrstuhl für Geschichte in Bonn innegehabt302). 1910 hatte er bereits mit einer Monographie über den „Adel und die deutsche Kirche im Mittelalter" auf sich aufmerksam gemacht, die als Grundlagenwerk zur „Sozial-, Rechts- und Kirchengeschichte" 1922 und noch einmal 1958 nachgedruckt wurde303). Im Alter von 76 Jahren legte er zu Beginn des Jahres 1933 sein etwa 500 Seiten umfassendes Hauptwerk unter dem be-
reits mehrfach von Mediävisten benutzten Titel „Der deutsche Staat" vor304). Schultes Darstellung über „Verfassung, Macht und Grenzen" des deutschen Staates erschien in den Wochen der nationalsozialistischen Machtübernahme. Während der Verfasser im Vorwort, das er auf den 4. Januar 1933 datiert, von „unserer Generation" spricht, die „sich mehr als irgend eine vergangene bewußt vor die Aufgabe der Zukunftsgestaltung gestellt sieht", stellt er im undatierten Zusatz zum Schlußwort fest, daß „wir in eine Zeit neuer Staatsformung eingetreten sind". Diese habe „im Volke die Liebe zum Vaterlande gesteigert, wie nur je in den besten Tagen der deutschen Geschichte"305). Solche Vor- und Schlußwortrhetorik nach dem Januar 1933 klingt trotz ihres anerkennenden Tonfalls äußerst zurückhaltend im Vergleich mit anderen Verbeugungen von Historikerkollegen, die sich in euphorischen bis enthusiastischen .Ergüssen' ergingen306). Aber Schulte ließ sich zu keinen emotionaleren Stellungnahmen hinreißen. Nüchternheit und Präzision zeigen sich auch in Schultes Verfassungsgeschichtsschreibung. Schulte hatte seit 1893 zunächst in Freiburg, dann in Breslau und schließlich in Bonn Vorlesungen über „deutsche Verfassungsgeschichte in dem Gesamtumfange" abgehalten. Sie bildeten die Grundlage für das Buch. Er vereinigt dabei, wie er es im Vorwort ankündigt, historische mit juristischen Betrachtungen, indem er Strukturen und Institutionen in ihrer Entwicklung untersucht und dabei vor allem deren Dynamik betont. Die insgesamt 105 Kapitel sind in zehn Abschnitte aufgeteilt, von denen nach einer Einleitung zwei die mittelalterliche, drei die frühneuzeitliche und schließlich vier das .lange 19. Jahrhundert' bis zum Kriegsbeginn 1914 behandeln. Die Kapitelüberschriften zeugen dabei von strenger Einfachheit, bisweilen bestehen sie nur aus einem Stichwort wie „Finanz-" oder „Heerwesen".
302) Zur Person: Gerhard Koller: Schulte, Aloys. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 9 (1995), Sp. 1115-1118; Weber, Lexikon (1984), S.539f. 303) Aloys Schulte: Der Adel und die deutsche Kirche im Mittelalter. Studien zur Sozial-, Rechts- und Kirchengeschichte, Stuttgart 1910 (= Kirchenrechtliche Abhandlungen, 63/64) [Ndr. 1958].
304)
Ders.: Der deutsche Staat. Verfassung, Macht und Grenzen 919-1914, Stuttgart/Berlin 1933. Unter dem um den Zusatz „des Mittelalters" erweiterten Haupttitel hatten bereits Georg von Below 1914 und Friedrich Keutgen 1918 Werke publiziert. 305) Ebd., S.491. 306) Beispiele für Vorwortrhetorik bringt Schönwälder, Historiker (1992).
2. Neue
Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
233
Schulte untersucht den Staat in seinen Grundgegebenheiten. Ohne daß er selbst in seinen wenig theoretisierenden Vorbemerkungen anspricht, folgt die Untersuchung der Trias von „Verfassung, Macht und Grenzen" einem bestimmten Muster. Denn hinter den Begriffen schimmert so etwas ähnliches wie die von Georg Jellinek entwickelte sogenannte Drei-Elemente-Lehre des Staates hervor. Zumindest spiegeln sich in der Analyse der Macht die Staatsgewalt und in der Untersuchung der Grenzen das Staatsgebiet. Etwas weniger naheliegend ist die Zuordnung von Verfassung und Staatsvolk. Der Verfasser betont besonders den Entwicklungsaspekt und das Wechselspiel von Einheit und Vielheit als spezielles Kennzeichen der deutschen Geschichte. Das Herausstellen von Dynamik und Varianz prägt seine lebhafte und gut komponierte Studie. Populär erscheint Schuftes Werk nicht nur durch die verständliche, zupakkende Sprache. Auch der vollständige Verzicht auf einzelne Nachweise deutet auf die Zielgruppe einer breiteren als der fachlichen Öffentlichkeit hin. Inhaltlich nimmt er sich immer wieder die Freiheit, Parallelen mit späteren oder gar zeitgenössischen Verhältnissen zu ziehen. Diese bieten sich bei dem leitmotivisch wiederkehrenden Thema „Föderalismus" an. In Schuftes Verfassungsgeschichte sind Zentralstaat und Territorien die ewigen Machtkonkurrenten in der deutschen Geschichte. Der Partikularismus blockiert den Zentralstaat und ist somit eine der Ursachen für die Schwäche Deutschlands, seine Zersplitterung und seinen Niedergang um 1800. Aber Schulte spricht nicht etwa moralisierend von Schuld. Seine Stärken liegen in Analyse und Diagnose. Seine Urteile zeichnen sich durch hohe Sachlichkeit aus, und seine Wertungen sind klar, wenn er dies für angebracht hält. Wenig überraschend für einen Historiker seiner Generation ist, daß das machtlose Reich der Frühen Neuzeit nicht gut abschneidet. Es ist von „Chaos" bei der Territorialbildung die Rede, von-der Langsamkeit des Reichstags, den Rivalitäten der Stände, der „Eigensucht" der Fürsten und dem Einfluß des Auslands auf die Reichsgeschicke, bis der „Niedergang" schließlich durch Napoleons Eroberungen zur „tiefsten Erniedrigung Deutschlands" führt307). Doch mit den preußischen Reformen, mit der „Befreiung" Deutschlands beginnt der Aufstieg. Trotz diverser Rückschläge schildert Schulte dies als eine Erfolgsgeschichte. Bismarck ist eine glanzvolle, aber keine schattenlose Gestalt. „Deutschland blühte vor dem Weltkriege" „trotz seiner Gebrechen". 1914 ist das Deutsche Reich „eingekreist", der Weltkrieg wird ihm „aufgezwungen", ebenso wie die „unerhörten" Bestimmungen des „Diktatfriedens"308). Schulte zeichnet ein nationalistisch getöntes Bild von Kaiserreich und Weltkrieg, wie es die Mehrheit der deutschen Historiker in der Weimarer Republik teilte. es
-
307) Schulte, Staat (1933), S. 89,188f„ 271f, 275. 308) Ebd., S. 488-490.
234
V.
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
Während der Autor selbst wegen des bereits weit vorangeschrittenen Druckes nur in seinem Schlußwortnachtrag die nationalsozialistische Machtübernahme kommentieren konnte, stand die Rezeption des Werkes bereits in deren Zeichen. Das kam besonders deutlich in der Besprechung des Berliner Härtung-Schülers Gerhard Oestreich in der „Historischen Zeitschrift" zum Ausdruck309). Oestreich lobte, wie bereits vor ihm der Rechtshistoriker Heinrich Mitteis310), die straffe Behandlung der mittelalterlichen Geschichte. Auch der von Schulte weniger stark als sonst üblich herausgestellte, aber dennoch nicht übersehbare Niedergang des Reiches seit dem Spätmittelalter fand
Zustimmung. An der Einschätzung der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung in der Neuzeit schieden sich indes die Geister. Während Oestreich Schultes Deutung zu milde und versöhnlich erschien, lobte Mitteis, daß Schulte die „positiven und entwicklungsfähigen Seiten der alten Reichsverfassung" betont und sich „von der üblichen Unterschätzung der Reichsgewalt jener Zeit" ferngehalten habe311). Dennoch erhoben die Kritiker einen gewichtigen methodischen Einwand. Sie monierten einen „Bruch" in der „Grundanlage", der in den Neuzeit-Pas-
sagen sichtbar werde. Hier trete die „verfassungsgeschichtliche Linie" zu sehr „zurück und das Buch weitet sich zu einer allgemeinen deutschen Geschichte aus"312). Indem die politische, insbesondere die außenpolitische und militärgeschichtliche Entwicklung viel zu stark berücksichtigt würden, sei der „verfassungsgeschichtliche Rahmen [...] gesprengt". Das „Kernproblem einer neu ausgerichteten Verfassungsgeschichtsschreibung" werde zukünftig das „Verhältnis von Persönlichkeit und Institution" sein. Oestreich verwies auf die Definition der Verfassungsgeschichte, wie sie sein Lehrer Fritz Härtung 1936 ge-
geben habe313).
vielen in den ersten Jahren nach 1933 erschienenen Überdeutschen Verfassungsgeschichte konzentrierte sich oftmals darauf, daß die Darstellung noch nicht die geänderten Maßstäbe einer gegenwartsbezogenen .neuen' Verfassungsgeschichtsschreibung umgesetzt habe. Die Diskussion um eine Umdeutung der Verfassungsgeschichte hatte zu dem Zeitpunkt, als die Überblicke von Bornhak und Schulte erschienen, jedoch Die Kritik
blickswerken
an
zur
gerade erst begonnen.
Gerhard Oestreich: Rez. zu Aloys Schulte, Der deutsche Staat. In: HZ 157 (1938), S. 319-323. 31°) Heinrich Mitteis: Rez. zu Aloys Schulte, Der deutsche Staat. In: ZRG/GA 54 (1934), S. 309-314. 311) Ebd., S. 312. 312) Oestreich, Rez. Schulte (1938), S.320. Ähnlich auch Mitteis, Rez. Schulte (1934), S. 313; Fritz Härtung. In: FBPG 47 (1936), S. 184-186, hier S. 185. Zu beider Rezensionen: Härtung an Oestreich, 6.10.1937. StaBi Berlin, NL Härtung, LXIX. 1. 313) Oestreich, Rez. Schulte (1938), S. 322. Gemeint war Härtung, Staatsverfassung (1936).
309)
2. Neue
Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
235
c) Politische Annäherung und Anpassung: Heimpel und Feine Im führenden bibliographischen Organ der Historikerzunft, den „Jahresberichten für deutsche Geschichte", machte sich bemerkbar, daß die Verfassungsgeschichtsschreibung von dem politischen Umbruch des Jahres 1933 erheblich beeinflußt wurde. Vor diesem politischen Hintergrund muß das Schreiben des Herausgebers Fritz Härtung an seinen Ko-Editor, den Berliner Mediävisten Albert Brackmann, aus dem Jahr 1934 gesehen werden: man müsse für das Grenzgebiet zwischen Geschichte und Jurisprudenz auf die Suche nach einem „Referenten für die neuere Staatsanschauung" gehen314). Diese Bemerkung spiegelt symptomatisch die von den Historikern mit Aufmerksamkeit verfolgte, mit der preußischen Studienreform 1931 einsetzende und seit 1933 verstärkte Hinwendung des Öffentlichen Rechts zur Verfassungsgeschichte wider. Hartungs Schreiben deutet neben der Tendenz zur Juridifizierung der Verfassungsgeschichtsschreibung auf die einsetzende Ideologisierung des Teilfachs hin, auf die er glaubte reagieren zu müssen. Härtung engagierte seinen Schüler Helmuth Croon, der durch regionalhistorische Arbeiten zur bergischen und brandenburgischen Verfassungsgeschichte ausgewiesen war und dem neuen Regime freundlich gegenüberstand315). Helmuth Croon übernahm ab dem Berichtsjahr 1932, das erst 1935 bearbeitet wurde, neben dem 19. Jahrhundert von Härtung auch die Frühe Neuzeit von seinen Vorgängern Feine, Petersen und Spangenberg. Als Folge der neuen juristischen Studienordnung wurden die bisherigen fünf Neuzeit-Abteilun-
Verfassungsgeschichte seit 1935 unter der Rubrik „Neuere (deutsche) Verfassungsgeschichte" zusammengeführt316). Croon beurteilte das frühneugen
zur
zeitliche Reich wesentlich kritischer als Feine dies vor 1933 getan hatte. Mangels anderer Studien kam er auf diejenigen seiner Vorgänger als Berichterstatter, Härtung und Feine, zu sprechen: „Nur wenig ist bisher die Verfassungsentwicklung des Reiches seit dem Westfälischen Frieden behandelt worden. Verständlicherweise wandte sich die Forschung mehr den lebenskräftigen werdenden Staaten zu als dem absterbenden Gebilde des Reiches. Von neueren Forschern hat bisher nur Härtung die Geschichte des ausgehenden Reiches, wenn auch nur in Umrissen dargestellt. Einen Abriß, keine vollständige Geschichte gibt auch Feine [...]. F.[eine]s Ziel ist es, die lebendigen Kräfte darzustellen, die hinter den alten erstarrten Formen versteckt waren, die neuen Formen aufzuzeigen, die sich allmählich gestalteten." Die „föderativen Elemente [haben] bis 1648 zunächst zersetzend" und am Ende „hemmend, aber
314)
GStA Berlin, Rep. 92 NL Brackmann, Nr. 11 (21.4.1934). Zu Person und Werk Croons siehe oben Kap. IV. 1. Bis zum Berichtsjahr 1931 einschließlich wurde zwischen den Abschnitten „Territorialstaat und Ständestaat", „Reichsverfassung bis 1806", „Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts" und „Parteiwesen" differenziert. Für das Berichtsjahr 1932 hieß es „Neuere deutsche Verfassungsgeschichte", 1933/34 „Deutsche Verfassungsgeschichte" und seit 1935 „Neuere Verfassungsgeschichte". JDG 7 (1931)45/16 (1939/40).
315) 316)
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nicht aufbauend" gewirkt317). Die Einschätzung der historischen Rolle von Reich und Territorien in der Frühen Neuzeit hatte sich mit dem Umbruch der Zeiten und dem Wechsel des Bearbeiters entscheidend ins Negative gewandelt. Blickt man auf die folgenden Jahrgänge der „Jahresberichte" und nimmt man die „Historische Zeitschrift" als das führende Fachorgan hinzu, so lassen sich daraus nur wenige generelle Aussagen zur Verfassungsgeschichtsschreibung im Nationalsozialismus herleiten. Es ist festzustellen, daß sich die Forschung jenseits der historischen Überblickswerke und juristischen Grundrisse hauptsächlich in Einzelfragen der deutschen Verfassungsgeschichte vertiefte. Dabei fallen eine gewisse Konzentration der Studien im Bereich der preußischen Geschichte und vor allem gegen Ende der dreißiger Jahre in der Institutionen- bzw. Verwaltungsgeschichte ins Auge318). Zeitliche Schwerpunktsetzungen sind insbesondere für den Bereich des 19. Jahrhunderts feststellbar, wo intensiv über die Bedeutung des deutschen Konstitutionalismus gestritten wurde319). In den Grenzbereichen zu den Nachbarfächern fand besonders die Wehrverfassungsgeschichte eine erhöhte Beachtung320). Bemerkenswert ist schließlich, mit welcher Selbstverständlichkeit der politische Umbruch von 1933 als neuer historischer Bewertungsmaßstab akzeptiert wurde. Was die „Grundlage einer nationalsozialistischen Staatsrechtslehre sein kann" wurde von Croon ebenso diskutiert, wie andererseits eine „demokratische Haltung" als ursächlich für die Verzeichnung der Vergangenheit vermutet wurde321). -
-
Croon: Neuere deutsche Verfassungsgeschichte. In: JDG 8 (1932), S. 301-308, hier S. 301f. Die Ausführungen beziehen sich auf Feine, Verfassungsentwicklung (1932) und Härtung, Verfassungsgeschichte (1928). 318) Begleitend zur Fertigstellung der Stein- (1931-1937) und Bismarck-Ausgaben (19241935) erschienen verschiedene Einzelstudien zu den beiden führenden preußischen Staatsmännern, die als Wegbereiter des Nationalsozialismus vereinnahmt wurden. An Institutionen- bzw. verwaltungsgeschichtlichen Arbeiten aus der Vorkriegszeit sind beispielhaft zu nennen: Gerhard Oestreich: Das persönliche Regiment der deutschen Fürsten am Beginn der Neuzeit. In: Die Welt als Geschichte 1 (1935), S. 218-237, 300-316; Conrad Bornhak: Die Entstehung der preußischen Ministerien. In: FBPG 52 (1940), S. 52-65; Heinrich Otto Meisner: Militärkabinett, Kriegsminister und Reichskanzler zur Zeit Wilhelms I. In: FBPG 50 (1938), S. 86-103. 319) Dazu siehe weiter unten Kap. V2.g). 320) In den „Jahresberichten für deutsche Geschichte" wurde 1936 eine eigene Rubrik zur „deutschen Wehr- und Heeresgeschichte" eingerichtet, die Hans Gackenholz betreute. JDG 12 (1936), S. 362-366. Zuvor waren Studien zur „Wehrverfassung" in der Abteilung „Deutsche Verfassungsgeschichte" behandelt worden. So H.[elmuth] Croon. In: JDG 9/10
317) H.[elmuth]
( 1933/34), S.407f.
So ders. In: JDG 11 (1935), S.326 (zu Reinhard Höhn), 330 (zu Ludwig Waldecker). Waldecker bat bezeichnenderweise um die Richtigstellung, daß er „nichts mit irgend einer politischen Partei und insbesondere nichts mit einer der demokratischen Parteien der Vergangenheit gemein" habe. JDG 13 (1937), S.396, Anm. 1. Eine tendenziell ähnliche Rezension von Fritz Härtung mit entsprechender Reaktion von Waldecker findet sich in der HZ 153 (1936), S. 398f. sowie HZ 157 (1938), S. 228.
321)
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Einer der ersten, der die notwendige Um- bzw. Neudeutung der nationalen Entwicklung explizit in der Verfassungsgeschichtsschreibung vollzog, war der Freiburger Mittelalter-Historiker Hermann Heimpel322). In einer vielbeachteten, 1933 publizierten Rede über den „Staat des abendländischen Mittelalters" rief er dazu auf, „der deutschen Geschichte ihr eigenes Gesetz [zu] geben" und das „Unglück Deutschlands" nicht als „unentrinnbar" anzusehen, sondern als „germanisches Schicksal". Indem er die deutsche Geschichte des Mittelalters im Kontrast zu seinen westlichen Nachbarn als tragisch bewerte, bahne er zugleich den Weg für eine neue Art „vergleichender Verfassungsgeschichte"323). Gerade mit Blick auf Frankreich handele es sich bei der deutschen Verfassungsgeschichte nicht ausschließlich um eine „Verfallsgeschichte", sondern vielmehr um eine „Geschichte geringerer Staatlichkeit"324). Neubewertung heißt bei Heimpel zugleich Neuausrichtung. Das nationalgeschichtliche Motto lautet: „Wir verstehen unseren Staat in seinem germanischen Urgrund und in seinem deutschen Schicksal umso besser, je deutlicher wir sein Wesen abheben von den Verfassungen des Auslandes."325) Nicht der negative Verlauf der deutschen Geschichte solle betont werden, sondern ihre Andersartigkeit. Diese wiederum habe ihre Ursache im „germanischen Erbgut", im mittelalterlichen Dualismus von König und machthungrigem Adel und im ursprünglich starken zentralen Staat bei gleichzeitig schwacher Staatlichkeit in den Territorien. Heimpels Ausführungen gipfeln in dem Aufruf, auf der Grundlage neuer Erkenntnisse und angesichts dessen, „was wir der Zukunft schuldig sind", „eine Geschichte des Deutschen Staates" zu schreiben, gemeint war: neu zu schreiben und umzuschreiben326). Auch wenn Heimpel in seiner Rede ein explizites Bekenntnis vermied, so befand er sich mit dem Aufruf einer Neubewertung und eines Umschreibens der Geschichte in der Nähe politischer Geschichtsschreibung. Er lädt zudem bewußt zu einer ideologischen Deutung seiner auf den ersten Blick unpolitisch wirkenden Äu-
ßerungen ein327).
322)
Zu seiner Person: Boockmann, Heimpel (1990); Ernst Schulin: Hermann Heimpel und die deutsche Nationalgeschichtsschreibung, Heidelberg 1998 (= Schriften der phil.-hist. Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 9); Pierre Racine: Hermann Heimpel à Strasbourg. In: Schulze!Oexle, Historiker (1999), S. 142-156. Eine Biographie ist ein Desiderat, allerdings ohne Zugang zum bisher gesperrten Nachlaß schwer realisierbar. 323) Hermann Heimpel: Der Staat des abendländischen Mittelalters. In: ders., Deutschlands Mittelalter- Deutschlands Schicksal. Zwei Reden, Freiburg i.Br. 1933 (= Freiburger Universitätsreden, 12), S. 35-55, hier S. 35. 324) Ebd.. S.42f 325) Ebd., S. 35. 32fl) Ebd., S. 55. 327) Die Rede läßt sich jedenfalls schwerlich, wie Hartmut Boockmann meint, als „Kampfansage an das nun kommende .völkische' Mittelalter" auffassen. Auch daß Heimpel nicht gemeint habe, was er schrieb, ist kaum nachvollziehbar. Boockmann, Heimpel (1990), S.53, Anm. 32. Gerhard Ritter machte Heimpel in einem Schreiben vom Februar 1946 den Vorwurf, sich 1933 „auf einen politischen Irrweg" begeben zu haben. BA Koblenz, N 1166, Nr. 490.
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Zeitlich nahezu parallel zu Heimpel entwickelte Hans Erich Feine in einem Vortrag an der Universität Tübingen Ende Juli 1933 erste Grundzüge einer neuen Reichsverfassungsgeschichte328). Im Unterschied zu dem eher unter-
schwellig ideologisch argumentierenden Heimpel läßt Feine keinen Zweifel daran aufkommen, daß er „eine der größten Staatsumwälzungen der deutschen Geschichte" uneingeschränkt begrüßt. Es gelte nunmehr, „das gesamte
deutsche Kulturleben auf allen Gebieten von undeutschen Elementen zu reinigen und auf volksmäßig deutscher Grundlage weiterzubauen". „Der Weg von Weimar [sei] ein Irrweg" gewesen. „Deutschland stand vor dem staatlichen Chaos, wenn nicht die feste Hand des Reichspräsidenten noch rechtzeitig eingegriffen und Adolf Hitler den Willen der Nation vollstreckt hätte."329) Hitler habe mit „der nationalen Revolution des Jahres 1933 [...] die Folgerungen aus der Entwicklung der letzten 60 Jahre mit schöpferischer Kraft" gezogen330). Zwar habe Bismarck mit der Reichsgründung „die größte Umgestaltung des deutschen Staatslebens durchgeführt", aber seine „Epigonen" hätten die notwendige Reichsreform versäumt331). Zwei Hauptfragen hätten die deutsche Verfassungsgeschichte in der Neuzeit geprägt: das Verhältnis von Führer, Volk, Staat und Parteien bzw. das Problem des Parlamentarismus einerseits und die Beziehung Reich-Länder bzw. Reich-Preußen andererseits. Beide Probleme, virulent teilweise seit dem späten Mittelalter, seien durch die Tat Hitlers gelöst worden; dem deutschen Volk stehe somit „die Erfüllung tiefster Sehnsucht" bevor: die Gründung eines „großen Heiligen Reiches Deutscher Nation"332). Hitler und seine Partei hätten die „Reichssehnsucht" erfüllt, hätten das Reich nach einer beispiellosen Verfallsgeschichte errettet und damit eine nationale Mission erfüllt. Der Führer und seine Bewegung waren für Feine zum Telos der deutschen Geschichte geworden. Bemerkenswert ist, welche politisch-historische Umorientierung Feine innerhalb nur eines Jahres vollzogen hatte. Vergleicht man nämlich diese Ausführungen mit seiner 1932 publizierten Studie zur Verfassungsentwicklung des Alten Reiches seit 1648, dann ist eine deutlich negativere Bewertung des
328)
Hans Erich Feine: Nationalsozialistischer Staatsumbau und deutsche Geschichte. In: Deutschland in der Wende der Zeiten. Öffentliche Vorträge der Universität Tübingen. Bd. 2, Stuttgart/Berlin 1934, S. 203-226, hier S.205. Der Vortrag wurde am 26. Juli 1933 gehalten. Die Grunddaten über Feine in der Hochschullehrerkartei in BA Berlin, R 21, K. 10.004. Zur Person weiterhin: Bader, Feine (1965); Heckel, Feine (1977); Hermann, Feine (1996). Zu Feines Vortrag: ebd., S. 273-275. Prägnant dazu im größeren Zusammenhang: Dieter Langewiesche: Die Universität Tübingen in der Zeit des Nationalsozialismus: Formen der Selbstgleichschaltung und Selbstbehauptung. In: GG 23 (1997), S. 618-646, hier S. 628. 329) Feine, Staatsumbau (1934), S. 207f. 33°) Ebd., S. 223. 331) Ebd., S. 206. 332) Ebd., S. 225. Angesichts der hier zitierten Textpassagen wirkt die Formulierung von Hermann, Feine (1996), S. 269, 275, Feine habe bei dem Vortrag eine „Affinität" zum Nationalsozialismus gezeigt, stark untertreibend.
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Untersuchungsobjekts unverkennbar.
1932 hatte Feine zwar auch massive Kritik an den Zerfallstendenzen des Reiches im 17. und 18. Jahrhundert geübt. Zugleich hatte er jedoch betont, daß „Leben und Bedeutung des Deutschen Reiches" darin bestanden hätten, daß es „Träger tausendjähriger Gedanken war und daß es seit Jahrhunderten die Lebensform bildete, in welcher der Deutsche die Erfüllung seiner universalmenschheitlichen wie nationalen Ideale gesehen hatte und weiter erwartete"333). Feine hatte damit zwar eine reichskritische, aber dennoch eine Position eingenommen, die sich von den zumeist kleindeutsch-befangenen Verdikten über das Reich der Frühen Neuzeit, wie sie die Historiographie im Kaiserreich und in der Weimarer Zeit beherrschten, abgrenzte. Zwar meinte er 1932 bereits, „die schicksalhafte Mittellage Deutschlands im Herzen Europas drängt heute stärker als ehedem zu politischer Neugestaltung"334). Aber dies war in eine Ungewisse Zukunft hineingeschrieben und eher visionär als realistisch gemeint. Nun jedoch schien sich Deutschlands Schicksal erfüllt zu haben, die Reichssehnsucht gestillt zu sein. Damit änderte sich auch der Blick auf das sogenannte Erste Reich. Positive Aspekte wurden ihm jetzt überhaupt nicht mehr zugeschrieben. Reformation und Dreißigjähriger Krieg hätten „den gesunden politischen Sinn des Volkes zerstört", statt dessen „territoriale Zersplitterung" und einen „fortschreitenden Auflösungsprozeß des Reiches" herbeigeführt335). Ganz auf der Linie solcher Neubewertung lagen auch die verfassungsgeschichtlichen Arbeiten, die Feine diesem Vortrag in den nächsten Jahren folgen ließ. Zunächst legte er 1935 eine populäre Broschüre, ein Jahr später eine umfangreiche Darstellung zum „Werden des deutschen Staates" von 1800 bis 1933 vor, und schließlich erschien 1937 ein „Grundriß" zur „Deutschen Verfassungsgeschichte der Neuzeit". Mit Blick auf die Zahl der verkauften Exemplare war Hans Erich Feine vermutlich der Spitzenautor der deutschen Verfassungsgeschichtsschreibung im ,Dritten Reich'336). In dem mit knapp fünfhundert Seiten umfangreichsten Werk zur Verfassungsgeschichte untersucht Feine die deutsche Verfassungsentwicklung zwischen Reichsuntergang und NS-Machtübernahme337). Im Gegensatz zu seinem Forschungsgebiet, der Frühen Neuzeit, geht es in dieser Darstellung nicht um „neue wissenschaftliche, quellenmäßig begründete Erkenntnisse", sondern um einen Überblick. Bereits im Vorwort legt er den aktuellen Bezug der Darlegungen offen: „Sind wir doch in eine Zeit gewaltigen geschichtlichen Geschehens hineingestellt, in ein Erleben, das nicht oft einem Volke zuteil
333) Feine, Verfassungsentwicklung (1932), S. 66. Siehe dazu: Heckel, Feine (1977), S. 197f. 334) Feine, Verfassungsentwicklung (1932), S. 68. 335) Ders., Staatsumbau (1934), S. 209. 336) Die Auflage der Broschüre betrug 13.000 Exemplare. Der Grundriß wurde dreimal, das „Werden des deutschen Staates" zweimal aufgelegt. Ders.: Das Werden des deutschen Staates seit dem Ausgang des Heiligen Römischen Reiches 1800 bis 1933. Eine verfassungsgeschichtliche Darstellung, Stuttgart 1936/21944.
337)
240
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wird." An der angeblich lange ersehnten und nunmehr erreichten Einheit der Nation läßt der Autor den Leser durch eine zielgerichtete historische Erzählung teilhaben. Gegenstand des Buches sei „das Reich" als der „verfassungsmäßige Gesamtausdruck deutschen volkhaften Lebens". Von dem „gegebenen Endpunkt" des Jahres 1933 aus „können wir heute die in vielem so rätselhafte deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts betrachten, weil uns die Tat eines großen Staatsmannes Sinn und Aufgaben deutschen Geschehens neu erschlossen hat"338). Wie so oft in den historischen Arbeiten dieser Jahre gerät die gesamte Entwicklung zu einer Art Vorgeschichte des Nationalsozialismus, zu einem zielgerichteten und insgesamt „zustimmungsfähigen Prozeß", der in der Gegenwart zu seiner historischen Erfüllung kommt339). Zur Methode seines Vorgehens äußert sich Feine hier wie generell nur in Andeutungen. Es gehe ihm nicht um die ideengeschichtlichen Grundlagen, sondern um das „unmittelbar staatliche Geschehen"340). Politische Verfassungsgeschichte möchte er also schreiben, nicht Geistesgeschichte in der Manier Meineckes. Verbunden fühlt er sich dem gesamtdeutsch argumentierenden und agitierenden Wiener Historiker Heinrich von Srbik341). Er teilt mit ihm insbesondere die Vorstellung einer weiterlebenden gesamtdeutsch-österreichischen Reichsidee über das Jahr 1806 hinaus. Mit dem .Dritten Reich' sahen beide in gewisser Weise ihre Ideen von einem großdeutsch beherrschten Mitteleuropa in die Realität umgesetzt. Feine beginnt seine Darstellung mit einem Überblick über das Alte Reich, bevor er die Epochen von Deutschem Bund und Kaiserreich behandelt, die er zu Recht als bis dahin verfassungsgeschichtlich wenig durchleuchtet bezeichnet342). Die Kapitel über das „Zwischenreich von Weimar" und den „Umbruch zum Dritten Reich" sind deutlich kürzer gehalten und erfüllen den Zweck eines Epilogs. Die verfassungshistorisch ausgerichtete Studie behandelt die Probleme konsequent entwicklungsgeschichtlich. Systematische Erörterungen fehlen fast ganz, institutionengeschichtliche Passagen werden chronologisch eingeflochten. Bemerkenswert ist die durchgängige Beschränkung der Darstellung auf die oberste staatliche Ebene. Die Territorien im Alten Reich, im Deutschen Bund wie im Kaiserreich kommen als eigenständige politische Objekte kaum zur Sprache, wenn man von der 1932 bei Feine bereits
338)
Ebd., S. Vf.
339) vgl. die ähnlichen allgemeinen Überlegungen geschichtsschreibung (1989), S.73. 340) Feine, Werden (1936), S. VII.
und das Zitat bei Lübbe,
Verfassungs-
) Zur Person: Karen Schönwälder: Heinrich von Srbik. „Gesamtdeutscher" Historiker und „Vertrauensmann" des nationalsozialistischen Deutschland. In: Doris Kaufmann (Hg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung. Bd. 2. o.O. [Göttingen] 2000, S. 528-544. Staa342) So auch L.[othar] Groß: Rez. zu Hans Erich Feine, Das Werden des Deutschen tes seit dem Ausgang des Heiligen Römischen Reiches 1800 bis 1933. In: DLZ 59 (1938), Sp. 606-610, bes. Sp. 607f.
341
2. Neue Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
241
betonten Reich-Länder-Problematik einmal absieht. Inhaltlich ist neben der aus früheren Studien bekannten Verurteilung des Reiches zu erwähnen, daß dem Deutschen Bund auch positive Aspekte abgewonnen werden und die Revolution von 1848/49 als Versuch einer Einigung Deutschlands vergleichsweise positiv gewertet wird343). Das literarische Echo fiel überwiegend positiv aus, weil anerkannt wurde, daß Feine die Lücke einer Verfassungsgeschichte des Deutschen Bundes und des Kaiserreiches erstmals gefüllt hatte. Allenfalls seine weitreichende Einbeziehung der politischen Geschichte sowie der fast vollständige Verzicht auf wirtschafts- und sozialgeschichtliche Bezüge sowie die Verfassungsgeschichte der Einzelstaaten wurden kritisch angemerkt344). Einen ganz populären Abriß zur deutschen Verfassungsgeschichte seit dem frühen Mittelalter hatte Feine bereits 1935 herausgebracht345). Der reißerisch wirkende Titel „Tausend Jahre deutscher Reichssehnsucht und Reichswirklichkeit" gab bereits die Parole aus, unter welcher der gut sechzig Seiten schmale Essay stand: das Spannungsverhältnis zwischen dem gewünschten einheitlichen Reich und der Realität einer zerrissenen deutschen Staatenwelt. Das Schwergewicht lag absichtlich auf den Epochen, in denen sich der deutsche Partikularismus nach Feines Ansicht besonders deutlich ausgewirkt habe: auf dem Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit. In vielem zeigte sich eine Wiederholung, ja sogar eine wörtliche Übernahme der Thesen aus dem Tübinger Vortrag des Jahres 1933. Das Werk war von enormer Breitenwirkung, erschien 1935 bereits in fünfstelliger Auflagenhöhe und bis 1941 in zwei weiteren Ausgaben346). In der außerfachlichen Öffentlichkeit weniger präsent, dafür aber in Forschung und Lehre von hoher Wirksamkeit war Feines Grundriß-Band zur „Deutschen Verfassungsgeschichte der Neuzeit", der 1937 zum ersten Mal erschien und wie die populäre Broschüre zur tausendjährigen Reichsgeschichte
343) Feine, Werden (1936), S. 85-87,170-172. 344) So namentlich bei Justus Hashagen: Rez. zu Hans Erich Feine, Das Werden des Deutschen Staates seit dem Ausgang des Heiligen Römischen Reiches 1800 bis 1933. In: VSWG 30 (1937), S. 399-401. Weitere Rezensionen: H.[elmuth] Croon. In: JDG 12 (1936), S. 375; G.[erhard] Oestreich. In: FBPG 50 (1938), S. 369-371; Richard Dietrich. In: HVjS 31
(1937-39), S.595f.; Werner Grieshammer. In: HZ 160 (1939), S. 141-145; R.[udolf] StadelIn: Vergangenheit und Gegenwart 30 (1940), S. 34f.; H.[ans] P.[eter] Ipsen. In: Zs. der Akademie für deutsches Recht 5 (1938), S. 247f. 345) Hans Erich Feine: Tausend Jahre deutscher Reichssehnsucht und Reichswirklichkeit, Köln 1935 [auch u.d.T: Tausend Jahre Deutsches Reich. Eine Staats- und verfassungsgeschichtliche Studie, Köln 31941]. Siehe dazu Lübbe, Verfassungsgeschichtsschreibung (1989), S. 74. 346) Bader erwähnt in seinem Nachruf auf Feine, dieser habe „nachträglich selbst erkannt und öffentlich ausgesprochen", daß er „zu sehr der Versuchung, sich einer damals zeitgemäßen Diktion zu bedienen", erlegen sei. Die Formulierung ist allerdings insofern verhüllend, als Feines Deutung nicht allein wegen der Diktion, sondern vor allem auch wegen der generellen Tendenz problematisch ist. Bader, Feine (1965), S. XXII. Herunterspielend mann.
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Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
Auflagen erlebte347). Es handelte sich um die erste Überblicksneuzeitlichen Verfassungsgeschichte, die sich explizit auf die zwei Jahre vorher in der Studienordnung reichsweit eingeführte Vorlesung bezog348). Da Hartungs Lehrbuch „doch etwas umfangreich" sei, fehle es den Jurastudenten an Hilfsmitteln „für die hochbedeutsame neue Vorlesung". Feine benötigte mit 150 Seiten gerade einmal der Hälfte des Umfangs der vierten Auflage des „Härtung". Ganz ähnlich wirkte jedoch der Aufbau des Werkes, zwei weitere
darstellung
zur
indem Feine, obwohl er als Jurist vornehmlich für Studenten der Rechte schrieb, nicht etwa überwiegend institutionengeschichtlich vorging, sondern „die innere Dynamik der Verfassungsgeschichte, die geistig-politischen Kräfte der Entwicklung" herausstrich. Nur so könne die „tiefe Verknüpfung mit Gegenwart und Zukunft von Volk und Reich" verstanden und vermittelt werden349). Ganz in Fortführung der argumentativen Linie seiner Studien seit 1933 stand auch hier das politisch-pädagogische Argument, die Geschichte solle den Zeitgenossen als Wegweiser dienen, im Vordergrund350). Solchen aktuellen Bezügen war zu erheblichen Teilen auch die inhaltliche Gestaltung des Bandes verpflichtet. Denn den Epochen des Alten Reiches, des Deutschen Bundes und des Kaiserreiches waren jeweils historische Überblicke vorangestellt, die neben einer knappen Zusammenfassung der Entwicklung regelmäßig einen Bogen zur Gegenwart schlugen und das historische Geschehen aus der Perspektive des ,Dritten Reiches' einordneten. So schloß der Ausblick bis 1806 mit den in die Zukunft weisenden Worten: die „großen Fragen deutscher staatlicher Zukunft hat erst das 19. Jahrh. entschieden, zugleich aber auch die Keime des Großdeutschen Volksreiches ge-
Breitenwirkung ist das Urteil von Hermann, Feine (1996), S. 268: FeiDarstellung „Tausend Jahre..." erweise sich „in ihren Wirkungen weit entfernt davon,
im Hinblick auf die nes
in relevanter Weise ihr affirmatives Potential für die Realität des III. Reiches zu entfalten". Die in wesentlichen Teilen NS-gemäße Deutungslinie des Werkes sowie das ausgeprägte Pathos werden verkannt, wenn ebd. festgestellt wird, daß Hitler und der Nationalsozialismus „nur in rahmenartiger Umrankung zu Beginn und am Ende Erwähnung finden". So lautet der Schlußsatz Feines in der dritten Auflage, Feine, Tausend Jahre (1941), S. 64: „Möge aus diesem schicksalhaften Kampf [dem Zweiten Weltkrieg, E.G.] hervorgehen das heißersehnte, große, mit dem Blut seiner Söhne erkaufte, friedevolle und friedenbringende Heilige Germanische Reich Deutscher Nation!"
347) Feine, Verfassungsgeschichte (1937/2l940/31943). 348) Die einschlägigen Grundrisse zur deutschen Rechtsgeschichte (Fehr, Mitteis, Planitz, Schwerin)
untersucht unter dem Blickwinkel des
Reichsgedankens:
Elmar Wadle: Visio-
„Reich". Streiflichter zur Deutschen Rechtsgeschichte zwischen 1933 und 1945. In: RückertlWilloweit, Rechtsgeschichte (1995), S. 241-299, hier S. 277-297. 349) Feine, Verfassungsgeschichte (1937), vorderer Umschlag innen (Vorwort). 35°) Baders Deutung vermittelt erneut einen verharmlosenden Eindruck, wenn davon die Rede ist, daß „gewiß nicht der Inhalt der Hauptteile [...] nachträglich Anstoß hätte erregen können, als vielmehr die etwas unbesonnene Fortführung in die jüngsten Epochen". Bader, Feine (1965), S. XXIII. Übereinstimmend mit Bader das spätere Urteil von Heckel, allein „die Schlußkapitel [...] fallen freilich aus dem Rahmen", der Rest sei „frei von Verfänglichkeiten". Heckel, Feine (1977), S. 196. Kritisch dazu: Hermann, Feine (1996), S. 262f. nen vom
2. Neue
Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
243
weckt"351).
Noch deutlicher wurde Feine im Vorspann auf das Kapitel über den Deutschen Bund: vor allem „die Person des Führers und die Erhebung des Jahres 1933 haben die innere Einheit hergestellt und die widerstrebenden
Kräfte [des Partikularismus, E.G.] überwunden"352). Auch Bismarck wurde von Feine unvermeidlich dem politisch .besserwisserischen' Urteil des nach 1933 Lebenden unterworfen. Im Überblick über die Zeit zwischen Kaiserreich und Gegenwart war zu lesen: „Wir freilich sehen heute in der Reichsgründung Bismarcks nicht mehr die Vollendung der deutschen Einheit schlechthin, sondern die bedeutsamste, schwerste und folgenreichste Stufe ihrer Erringung."353) Bismarck sei, hieß es an anderer Stelle, beim „Meisterwerk" der Reichsgründung durch den Ausschluß Österreichs „auf halbem Wege" stehengeblieben354). Das Lob für den ersten Reichskanzler mußte zwangsläufig begrenzt bleiben, da es galt, den Führer positiv von ihm abzuheben. Feines Darlegungen sind gekennzeichnet von dem Bestreben, dem Leser besonders wichtige Wertungen, wie diejenige, welche implizit die Differenz zwischen Bismarck und Hitler betont, nachdrücklich einzuprägen. Das führt bis zur wörtlichen Wiederholung ganzer Sätze an verschiedenen Stellen des Werkes. So ist über den Reichsgründer von 1871 fast gleichlautend zweimal zu lesen: „Nicht das Volkstum war für Bismarck das Entscheidende. Mittelpunkt seines Denkens und Schaffens blieb der Staat und nicht das Volk."355) Ein dem Staat verpflichteter Reichskanzler wurde einem dem Volk verbundener Führer gegenübergestellt. In das Bild des auf die Gegenwart bezogenen Geschichtsbildes passen die Bemerkungen über den verderblichen Einfluß „westlicher Ideen" sowie die dominierende Bedeutung jüdischer Parteiführer im Kaiserreich356). Die Betonung, ja geradezu Hypostasierung des Reichsgedankens in der NS-Zeit stand in gewisser Kontinuität zu Feines wissenschaftlichen Schwerpunkt und seinem Weltbild vor 1933. Ein idealisiertes Reich galt dem Rechtshistoriker bereits als visionäres Ziel, bevor die Nationalsozialisten mit der Ideologisierung und Mythologisierung des Reichsbegriffs begannen. Nun aber riß Feine dieser Gedanke mit, den er fortan vielfach stilisierte und leitmoti-
351) Feine, Verfassungsgeschichte (1937), S. 8. Der zweite Teil des Zitats wurde erst in der
Auflage hinzugefügt. Ders., Verfassungsgeschichte (1940), S. 8. Ders., Verfassungsgeschichte (1937), S. 53. Ebd., S. 103. Ebd.,S.52f. Ebd., S. 53, 103. Die Abweichungen beschränken sich auf ein eingefügtes „aber" und
zweiten
352) 353) 354) 355)
geänderte Satzzeichen. 356) Ders., Verfassungsgeschichte (1937), S. 104. Feine äußert sich an anderer Stelle deutlich antisemitisch Ders., Verfassungsgeschichte (1940), S. 140: „Reinigung des öffentlichen Lebens von rasse- und volksfremden Elementen" usw. Deshalb ist Hermann, Feine (1996), S. 278-281, zu widersprechen, wenn er eine „deutliche Reserviertheit gegen den Rassenwahn" festzustellen meint und sogar von einer „nonkonformen Haltung" spricht.
244
V
Verfassungsgeschichtsschreibung
1933-1945
visch einsetzte und der als Topos einer „Reichssehnsucht" seine verfassungsgeschichtlichen Publikationen durchzog357). Das „Reich" fungierte bei Feine bereits als Signalbegriff, ehe sich andere Staatsrechtler, Historiker und vor allem die Verfassungshistoriker seiner intensiver annahmen, indem sie den Reichsbegriff geradezu sakralisierten358). Hymnisch tönten bei Feine insbesondere die wie ein Ceterum censeo formulierten Schlußsätze verschiedener Darstellungen. In der Auflage von 1944 schrieb er: „So ist durch Adolf Hitler das Großdeutsche Reich erstanden [...]. Alte Reichssehnsucht ist damit in Er-
füllung gegangen"359). Während die Darstellung des frühneuzeitlichen Reiches im Grundriß-Band Feines aus konzeptionellen und Platzgründen spürbar zurücktrat, wurden die Entwicklungen im 19. Jahrhundert betont, die inhaltlich seinem Werk über das „Werden des Deutschen Reiches" verpflichtet waren. Der Grundriß schloß in der ersten Auflage mit dem Jahr 1918 und wurde erst für die Überarbeitung drei Jahre später bis zur unmittelbaren Gegenwart fortgeführt. Dementsprechend wirken die Ausführungen über das Weimarer „Zwischenreich" gegenüber dem Hauptteil des Buches wie ein Epilog. Dies erscheint konzeptionell nicht konsequent. Denn einerseits wird in der Darstellung laufend die „Vollendung" vieler historischer Abläufe durch die „Tat" des Führers angekündigt und geradezu das historische .Endziel' vorweggenommen, andererseits aber fehlt dem Verfasser der Raum, um diesen Höhepunkt der deutschen Verfassungsentwicklung ausführlich zu würdigen360). Feines Überblick richtet sich konsequent nach den in den Erläuterungen zum Studienplan angesprochenen Vorgaben. Er bezieht neben der staatlichWadle. Visionen (1995). S. 261-265, 273-275. An der weiteren Propagierung des in der Rechtsgeschichte beteiligten sich der in Münster lehrende Österreicher Karl Gottfried Hugelmann und Gustaf Klemens Schmelzeisen. Ebd., S. 265-270. Schlüsseltexte Hugelmanns: Karl Gottfried Hugelmann: Die Gestalt des Reiches in Idee und Wirklichkeit im Wandel der deutschen Geschichte. In: Zs. für öffentliches Recht 16 (1936). S. 433-447; ders., Verfall (1944). Zur Person: Wilhelm Wegener: Karl Gottfried Hugelmann t. In: ZRG/GA 77 (1960). S. 524-534. 35S) So namentlich Johannes Heckel. Staats-, Verwaltungs- und Kirchenrecht (1935), S. 12, das Reich sei „künftig der Zentralbegriff unserer publizistischen Wissenschaft". Reinhard Höhn: Volk, Staat und Reich. In: Volk im Werden, Jg. 1936, S. 370-375. Vgl. auch Faulenbach, Tendenzen (1999), S.43^45, über einschlägige Schriften von Otto Westphal und Richard Ganzer. 359) Feine, Werden (1944), S. 480; ähnlich: ders., Tausend Jahre (1935), S. 64. Zum Reichsbegriff Feines siehe auch Hermann, Feine (1996). S.268. Anm. 47, S.277f. Generell zum Reichsbegriff: Lothar Kettenacker: Der Mythos vom Reich. In: Karl Heinz Bohrer (Hg.). Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Frankfurt a.M. 1983, S. 261-289; Wadle, Visionen (1995): Frank-Lothar Kroll: Die Reichsidee im Nationalsozialismus. In: Franz ßosixjc/i/Hermann Hiery (Hg.). Imperium/Empire/Reich. Ein Konzept politischer Herrschaft im deutsch-britischen Vergleich, München 1999 (= Prinz-AlbertStudien. 16), S. 179-196. 360) Daß es s¡cn um einen absichtlichen „Affront" gegen das NS-Regime gehandelt haben könnte, wie Hermann, Feine (1996), S.264, vermutet, ist auch angesichts der Tübinger Rede von 1933 auszuschließen.
357)
Reichsbegriffs
2. Neue
Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
245
politischen Geschichte nicht nur die Verwaltungsgeschichte mit ein, sondern wirft auch noch Seitenblicke auf die rechtsgeschichtliche Entwicklung, indem er z. B. die Peinliche Gerichtsordnung Karls V, das preußische Allgemeine Landrecht und die Entstehung von Bürgerlichem und Handelsgesetzbuch mitbehandelt. In weilen Teilen lehnt sich Feine an Einschätzungen Hartungs an, die er in nicht wenigen Fällen sogar wörtlich zitiert. Mit historischen und politischen Werturteilen hält sich der Tübinger Rechtshistoriker nicht zurück. So schildert er auf der einen Seite in drastischen Farben den „Verfall der Reichsordnung" nach der Reformation und die „Zersetzung" des Reiches nach 1648361). wie er auf der anderen Seite die Stärke Brandenburg-Preußens hervorhebt. Die preußischen Reformen, die Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts und die „Volksbewegung des 48er Jahres"362) werden ausdrücklich gelobt, dagegen Deutscher Bund und kleinstaatlicher Partikularismus scharf verurteilt. Das Kaiserreich sei schließlich durch den „westlichen" Parlamentarismus innerlich zerstört worden. Den historischen Einschnitt des Ersten Weltkriegs betonte Feine nicht nur in seinem Kurzlehrbuch. Schließlich bedeutete der Krieg für ihn eine tiefe lebensgeschichtliche Zäsur, da er als Frontsoldat gedient hatte363). So sehr ihn die Niederlage und ihre Folgen persönlich getroffen halten, so sehr begeisterten ihn die deutschen Erfolge im Zweiten Weltkrieg. Feine datierte das Vorwort zur zweiten Auflage des Grundrisses auf den 14. Juni 1940. den Tag des Einmarsches deutscher Truppen in Paris und Versailles364). Feines Bild der deutschen Verfassungsgeschichte trug neben dem klaren Bekenntnis zum Nationalsozialismus zugleich nationalkonservative Züge365). Der Tübinger Gelehrte, Jahrgang 1890. gehörte zu der Generation von Hochschullehrern, welche die Kriegsniederlage nicht verwunden, dem alten Kaiserreich hinterhergetrauert und dem Weimarer Staat mit deutlicher Distanz gegenübergestanden hatten. Nun transponierte er seine frühere Verfassungsgeschichtsauslegung in die neue Zeit. Dadurch radikalisierte sich nicht allein die Diktion, es kam nicht nur zu Konzessionen in Vorwort. Einleitungs- und Schlußpassagen, sondern es wandelte sich subtil, aber spürbar, auch die generelle Deutungslinie. Die politischen Verbeugungen waren mehr als bloße Anbiederungen an den Zeitgeist. Vielmehr resultierten sie aus der Überzeugung, daß der Nationalsozialismus viele der nationalkonservativen politischen Wünsche verwirklicht habe bzw. verwirklichen werde. In Anlehnung an einen 361
) Feine, Verfassungsgeschichte ( 1937). S. 25,43. 3ft2) Ebd.. S. 51.
3*J)
Ausweislich der Hochschullehrerkartei wurde Feine mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Eisernen Kreuz zweiler Klasse. BA Berlin. R 21. K. 10.004. 364) /.(,,,„, Verfassungsgeschichte (1940). S. Ulf. Heckel weilet diese Datierung lediglich als „Unvorsichtigkeit". Heckel, Feine (1977). S. 196. -1*5) Dies belegen eindrucksvoll die zahlreichen Zitate Feines aus seinem Nachlaß bei Hermann, Feine (1996), passim. Feine halte zumindest 1919/20 der DNVP angehört. Ebd.. S.269. Anm. 50.
246
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Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
Feineschen Buchtitel formuliert: aus der „Reichssehnsucht" vor 1933 wurde die „Reichswirklichkeit" seitdem. Hitler und der Nationalsozialismus erfüllten aus Feines Sicht ihre Mission, indem sie die deutsche Geschichte vollendeten. Dennoch ging die Symbiose von nationalkonservativem Denken und nationalsozialistischer .Ideologie' nicht in völliger Kongruenz auf. Es ergaben sich feine, aber für den Fachkollegen deutliche Bruchlinien, die sich in Wortwahl und Akzentsetzung erkennen ließen. Aus diesem Blickwinkel ist die Kritik an Feines Werk zu verstehen, die der Reihenherausgeber Heinrich Lange hinter den Kulissen äußerte. Lange formulierte seine Einwände in einem Brief, den er nicht direkt an den Autor, sondern an den Verleger Hans Georg Siebeck richtete. Er befürchtete, daß sein eigener Ruf und das Ansehen der GrundrißReihe Schaden nehmen könnten. Er sah die Gefahr von „Mißdeutungen", die „Übelwollende" dazu veranlassen könnten, den Vorwurf „einer gewissen reaktionär-stahlhelmerischen Gesinnung" zu erheben. Lange kritisierte einzelne Formulierungen Feines, so den Begriff der „nationalen Revolution", die Erwähnung Otto Gierkes366) sowie eine zu deutliche Betonung des „Frontgeistes" und forderte zudem eine stärkere Hervorhung der Person des Führers. Zwar wirken auf den ersten Blick die Mónita unerheblich und leicht korrigierbar, aber die Tatsache, daß Lange erwog, Feines Darstellung müsse möglicherweise „außerhalb unserer Grundrißreihe erscheinen", zeigt den Stellenwert seiner Kritik367). Zugleich beweist dieser Fall, daß sich nicht nur das tatsächliche
Eingreifen
der Parteiamtlichen
Prüfungskommission
auswirkte. Es
genügten bisweilen nur vermutete Änderungswünsche oder ein vermeintlich drohendes Publikationsverbot, damit Verleger, Herausgeber und Autoren be-
reits vorauseilend mit Selbstzensur reagierten. Die Rezensenten nahmen Feines Darstellung im allgemeinen recht positiv auf, vor allem weil er mit seinem Studienbuch die Lücke in der studienbegleitenden Lektüre gefüllt hatte368). Mit freundlichen Worten wurde die Kennerschaft des Autors betont und seine Synthese-Leistung anerkannt, die deutsche Verfassungsgeschichte eines halben Jahrtausends auf gerade einmal 120 Seiten zusammenzufassen. Ernsthafter waren die Einwände von zwei Rezensenten, die auf dem gleichen Gebiet forschten. Gerhard Oestreich wandte ein, im
366)
Die Gierke-Kritik findet sich besonders pointiert bei Reinhard Höhn: Otto von Gierkes Staatslehre und unsere Zeit zugleich eine Auseinandersetzung mit dem Rechtssystem des 19. Jahrhunderts, Hamburg 1936 (= Rechtswissenschaftliche Abhandlungen). 367) Lange an Siebeck, 10.10.1937 (VA Mohr, K. 487). Siebeck reichte den Brief Langes am 15.10. an Feine weiter. Dazu: Bader, Feine (1965), S. XXIII; Hermann, Feine (1996), S. 266f. u. Anm. 40, mit Abdruck des Briefes aus dem NL Feine im UA Zürich. Feine hat Langes Kritik dennoch nur teilweise berücksichtigt, wie ders., ebd., S. 267, Anm. 42, nachweist. 368) Hans Thieme strich heraus, daß durch Feines Werk „die bedauerliche Unbildung [...], die gerade auf diesem Gebiet [der Verfassungsgeschichte, E.G.] in unseren Referendarprüfungen immer wieder zutage tritt", behoben werden könne. Hans Thieme: Rez. zu Hans Erich Feine, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit. In: AÖR, NF 30 (1939), S.117f., hier S. 118.
2. Neue
Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
247
Tübinger Studienbuch werde „die völkische Seite der deutschen Verfassungsgeschichte, wie sie unsere neue Geschichtsauffassung fordert", gegenüber der „Staatsverfassungsgeschichte" zu wenig berücksichtigt369). Ernst Rudolf Huber wurde noch deutlicher. Er warf der Studie vor, sie halte sich „im ganzen doch noch in den Bahnen überlieferter Betrachtung, indem sie zwar gelegentlich die Akzente verschiebt, ohne jedoch aus grundsätzlich neuer Schau der geschichtlichen Zusammenhänge die Verfassungstheorie und die Verfassungsrechtslehre entscheidend zu befruchten"370). Neben geringen Einwänden an einzelnen Punkten, z.B. zum angeblich zu positiv gesehenen repräsentativen Charakter der frühneuzeitlichen Stände, wurde überdies der Mangel an ideen- und militärgeschichtlichen Abschnitten bedauert371). Genau in dieser Richtung aber lag ein bezeichnender Zug der deutschen Verfassungsgeschichtsschreibung im,Dritten Reich'.
d) Der Aufschwung der Militärverfassungsgeschichte: Höhn und Huber Vor allem zwei Öffentlichrechtler widmeten sich Ende der dreißiger Jahre der deutschen Militärgeschichte, oder, um es in der zeitgenössischen Diktion zu sagen, der Geschichte der Wehrverfassung372): Reinhard Höhn und Ernst Rudolf Huber. Beide lagen damit in einem historiographischen Trend. Denn inspiriert von der wachsenden Militarisierung der nationalsozialistischen Gesellschaft, standen Wehrpolitik, Wehrrecht und Wehrgeschichte, wie überhaupt die sogenannten Wehrwissenschaften, seit J935 hoch im Kurs373). Im
369) Oestreich, Rez. Feine (1939), S. 328. 37°) Huber, Grundrisse (1939), S. 375. 371) So die Kritik bei Oestreich, Rez. Feine (1939), S. 327f„ und K.[arl] G.[ottfried] Hugel-
Rez. zu Hans Erich Feine, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit. In: Zs. für öffentliches Recht 18 (1939), S. 641. 372) Zur Begriffserläuterung: Gerhard Oestreich: Vom Wesen der Wehrgeschichte. In: HZ 162 (1940), S. 231-257, hier S. 250, der betonte, daß die Gefahr bestehe, daß dieses Teilgebiet der Geschichte „durch die rechtswissenschaftliche Ausrichtung der Autoren mit einer dogmatischen Hypothek belastet" werde. Oestreich selbst sorgte für eine populäre Verbreitung seiner wehrgeschichtlichen Thesen: Gerhard Oestreich: Wehr, Volk u. Staat in der deutschen Geschichte. Die Geschichte des deutschen Soldatentums ein Spiegelbild des deutschen Lebens der vergangenen Jahrhunderte. In: Der Schulungsbrief 6 (1939), S. 101-113. 373) Zur Debatte über den Bereich der Wehrgeschichte, an der von den Verfassungshistorikern auch Fritz Härtung und Gerhard Oestreich beteiligt waren. Fritz Härtung: Rez. zu Paul Schmitthenner, Politik und Kriegführung in der neueren Geschichte. In: HZ 158 (1938), S. 584-587; Paul Schmitthenner: Politik und Kriegführung als wehrpolitisches Problem. Eine grundsätzliche Erwiderung. In: HZ 159 (1939), S. 538-550; Fritz Härtung: Entgegnung. In: HZ 159 (1939), S. 550-552; Oestreich, Wehrgeschichte (1940). Die Debatte ist angedeutet bei Peter N. Miller: Nazis and Neo-Stoics: Otto Brunner and Gerhard Oestreich before and after the Second World War. In: Past & Present 176 (2002), S. 144-186. Einen Überblick geben die Berichte von Hans Gackenholz zur „deutschen Wehr- und Heeresgeschichte" in den JDG seit 1936. Allgemein zur Beliebtheit wehrwissenschaftlicher Studien: Wiggershaus-Müller, Nationalsozialismus (1999), S. 183-185. mann:
-
248
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Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
Ausnutzen solcher politisch favorisierter und publizistisch gefragter Themen erwiesen Höhn wie Huber ein bemerkenswertes Geschick374). Bei Reinhard Höhn handelte es sich um einen der deutschen Juristen, die nach 1933 innerhalb nur weniger Jahre eine steile Karriere hinter sich brachten. Als ehemaliger Mitarbeiter Arthur Mahrauns hatte er sich bereits seit Mitte der zwanziger Jahre in der völkischen Bewegung engagiert. Noch im Juli 1933 wurde er Mitglied der NSDAP, im Dezember des Jahres trat er der SS bei. 1934 erfolgte die Habilitation und ein Jahr später erhielt er eine Professur in Heidelberg. 1936 wechselte er nach Berlin, um dort die Direktion des „Instituts für Staatsforschung" zu übernehmen. Zugleich amtierte er als Hauptabteilungsleiter im Reichssicherheitshauptamt375). Nach 1933 war Höhn mit Arbeiten hervorgetreten, deren Ziel es war, den Gemeinschaftsgedanken im nationalsozialistischen Rechtsdenken besonders herauszustellen und unter diesem Leitgedanken die juristische Terminologie grundlegend zu verändern376). Das ideologische Konstrukt der gemeinsam empfindenden und gemeinsam agierenden Volksgemeinschaft, die, durch Treue verbunden, ihrem Führer folgt, besaß nach Ansicht Hohns eine ebenso faszinierende Ausstrahlung wie legitimierende Funktion. Höhn profitierte bei seinem beruflichen Aufstieg allerdings weniger von der Überzeugungskraft seiner Argumentation als vielmehr von den Ressourcen der SS, die seine Vorhaben unterstützte. So gelang es ihm nicht allein, das vorher unter Leitung von Fritz Poetzsch-Heffter in Kiel ansässige „Institut für Staatsforschung" nach Berlin zu verlegen, sondern er gründete mit der Zeitschrift „Reich, Volksordnung, Lebensraum" 1940 auch ein eigenes Publikationsorgan. Höhn agierte bei der SS in engem Schulterschluß mit Werner Best, Reinhard Heydrich und Wilhelm Stuckart und publizierte gemeinsam mit Hans Frank, Heinrich Himmler und Theodor Maunz zum Polizeirecht377). Wie weitreichend sein Einfluß war, läßt sich daran erkennen,
374)
wie Huber in seinen weiter unten genannten Arbeiten legte auch Höhn ein ganzes Bündel historischer und „volkstheoretischer" Untersuchungen vor. Er wurde dabei von den Mitarbeitern seines Instituts, Carl Dernedde und Heinrich Muth, unterstützt. In der Bibliographie Hohns aus den achtziger Jahren wurden diese politisch .anstößigen' Schriften allesamt unterschlagen. Gisela Böhme u. a. (Hg.): Spiegel des Schaffens. Eine Bibliographie der Schriften und Aufsätze von Reinhard Höhn, Bad Harzburg 21984. 375 Siehe die ) Angaben von [Eva] Ri[mmele]: Höhn, Reinhard. In: Weiß, Lexikon (1998), S.224Í., Heiber, Frank (1966), S.881-887, sowie Bernd Rüthers: Reinhard Höhn, Carl Schmitt und andere Geschichten und Legenden aus der NS-Zeit. In: NJW 53 (2000), S. 2866-2871, hier S. 2866; zu seiner Vorgeschichte und seiner Habilitation in Heidelberg: Reinhard Mußgnug: Aussprache. In: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (2001), S.115Í. 376) So Stolleis, Geschichte, Bd. 3 (1999), S.257Í., Anm. 65, mit Nachweis der einschlägigen Titel, sowie Pauly, Staatsrechtslehre (2001 ), S. 84-86. 377) Stolleis, Geschichte, Bd. 3 (1999), S. 257-259. Vgl. auch Rüthers, Höhn (2000), S. 2866f. Zur Gruppe um Best, Höhn und Stuckart: Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903-1989, Bonn 21996, S.278f. -
2. Neue Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
daß
er
Ende 1936
wirkte378).
an
der
,Kaltstellung'
von
Carl Schmitt
maßgeblich
249 mit-
1938 veröffentlichte Höhn eine umfangreiche Monographie über das Verhältnis von Heer und Staat im Vormärz. Es habe ein „Verfassungskampf" stattgefunden, der um die Macht- und Führungsposition im Staat entbrannt sei. Die Armee habe sich in diesen Auseinandersetzungen als selbständiger geistiger und politischer Faktor erwiesen, wodurch sie ihre unabhängige, verfassungsexemte Stellung habe sichern können. Dies zeige sich insbesondere bei dem mißlungenen Versuch des Bürgertums, das Heer durch eine Eidesleistung in den bürgerlichen Verfassungsstaat zu integrieren. Höhn hatte mit Unterstützung von Mitarbeitern seines Instituts für sein Werk über den Verfassungskampf vor allem eine große Zahl von Flugschriften ausgewertet. Die Deutung des Materials folgt allerdings eigenwilligen Vorgaben. So verschiebt Höhn die Perspektive, wenn er die eigentliche Kontroverse zwischen Fürsten und Landtagen umdeutet zu einem „Kampf" um das Heer. Der Faktor des Militärischen, ein unzweifelhaft wesentlicher in der Verfassungsgeschichte der zweiten Jahrhunderthälfte, wird dadurch für den Vormärz wesentlich aufgewertet. Bei der Auswertung der Flugschriften fällt auf, daß sich Höhn regelmäßig und ganz quellenunkritisch die Sicht der Militärs zu eigen macht, während er auf der anderen Seite kaum ein gutes Haar an den liberalen Gegenpositionen läßt. So habe das Heer legitime Machtpositionen verteidigt, und „Widerstand [...] gegen die andringende Welt des liberalen Bürgertums" geleistet. Das angebliche Hauptziel der Liberalen, „die Verbürgerlichung des Heeres" durch einen Verfassungseid, sei dabei ebenso gescheitert wie die Versuche, durch die Einrichtung von Bürgerwehren ein bürgerliches Ersatzmilitär zu etablieren. Der Bogen zur Gegenwart ließ sich mit solchen Thesen zwanglos schlagen: der Zwiespalt zwischen Heer und Volk sei erst durch den Nationalsozialismus überwunden worden. Insofern ermögliche die historische Wende von 1933 eine „neue Sicht" auf die „Darstellung geistiger Strömungen im 19. Jahrhundert"379). Der Staatsrechtler Höhn beabsichtigte, seinen .Ausflug' in die Geschichte fortzuführen. Noch im Erscheinungsjahr des Buches 1938 stellte er einen Antrag auf Zuschüsse beim Reichserziehungsministerium, um „eine für die Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts so entscheidende Untersuchung" fortsetzen zu können. Es gelte, „die Versöhnung des liberalen Bürgertums mit dem Heere durch den vom König [...] geleisteten Eid auf die Verfassung" ebenso zu schildern wie „andererseits darzulegen sein [wird], wie das Heer sich durch das Wort vom sogenannten unpolitischen Soldaten bewusst gegen s
378)
Zu den Vorgängen im Detail und Hohns Beteiligung: Koenen, Schmitt (1995), S. 651-764, bes. S. 692, 714, 723. 379) Alle Zitate aus der thesenhaft formulierten Einführung: Reinhard Höhn: Verfassungskampf und Heereseid. Der Kampf des Bürgertums um das Heer (1815-1850), Leipzig 1938, S. XIX-XXIV
250
V.
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
alle Versuche der Verbürgerlichung des Heeres abzusetzen und sich so aus dem Parteienstreit herauszuhalten wusste, ohne so in Konflikt mit dem durch den König auf die Verfassung geleisteten Eid zu kommen"380). Hohns Antrag scheiterte, ohne daß die Ursachen dafür bekannt sind. An der Unterstützung aus Freundeskreisen kann es jedenfalls nicht gelegen haben. Denn sowohl Wilhelm Stuckart, Staatssekretär im Innenministerium, wie Werner Best als Chef des Amtes Verwaltung und Recht im Hauptamt Sicherheitspolizei der SS, befürworteten die ministerielle Zuwendung für die „Bearbeitung staatspolitisch wichtiger Aufgaben [...], die im Zusammenhange mit der Staatsorganisation im Kriege stehen"381). Und Theodor Maunz hatte im „Archiv des öffentlichen Rechts" von der „hohen wehrrechtlichen und wehrpolitischen Bedeutung" sowie „methodologischen Tragweite" von Hohns Studien gesprochen382). Vernichtende Kritik kam allerdings von Ernst Rudolf Huber. Höhn gehe in seinem Buch von „vorgreifend festgelegten Thesen" aus. Er zerreiße willkürlich die historischen Zusammenhänge, indem der „Angriff des Bürgertums" und der Widerstand des Heeres getrennt dargestellt würden383). Huber unternahm in seiner längeren Rezension eine chronologische Rekonstruktion dieses Abschnitts der Wehrverfassungsgeschichte aus seiner Sicht. Dabei bemängelte er vor allem, daß Höhn die Ansichten von Militärs und Liberalen ganz einseitig verzerrt habe und vor allem die nationalen Ideen der Liberalen ignoriere. Hubers Einwände, so zutreffend sie auch im Detail waren, zielten auf grundsätzliche Meinungsunterschiede über die aktuelle wie die historische Deutung der Verfassung. Zudem handelte es sich um eine Art .Retourkutsche', hatte doch Höhn zu den schärfsten Kritikern seines Grundrisses zum Verfassungsrecht gehört384). Dies zeigte sich auch in einem weiteren wesentlichen Punkt: Höhn hatte Huber 1937 vorgeworfen, er habe an überkommenen Vorstellungen festgehalten. Er habe die Verfassung des ,Dritten Reiches' am Maßstab des „totalen Staates" aus der Sicht Carl Schmitts von 1931/32 gemes-
38°)
GStA Berlin,
Rep. 76, Nr. 324, fol. 262-263 (26.8.1938), und ebd., fol. 286-287, ein erAntrag vom 22.5.1939. 381) Ebd., fol. 300-301 (Stellungnahmen vom 11.12.1939 und 8.11.1939). Das Zitat stammt neuter von
Stuckart.
382) Theodor Maunz: Rez. zu Reinhard Höhn, Verfassungskampf und Heereseid. In: AÖR, NF 33 (1943), S. 78-81, hier S.79; ders.: Geschichtliches Denken und neues Staats-
recht. Zugleich Bemerkungen zu Reinhard Höhn, „Verfassungskampf und Heèreseid". In: Deutsche Verwaltung 16 (1939), S. 486-489. Positiv auch: Gerhard Oestreich. In: ZRG/GA 59 (1939), S. 585-588. Referierend: H.felmuth] Croon: Neuere Verfassungsgeschichte. In: JDG 14 (1938), S. 350-353, hier S. 350f. 383) Huber, Verfassungskampf (1943), S. 546. Parallel dazu erschien mit Huber, Staatspatriotismus (1943), in der Thesenführung ein ,Anti-Höhn'. Eine Ansammlung von Ausfällen gegen Huber findet sich schließlich in: Reinhard Höhn: Revolution, Heer, Kriegsbild, Darmstadt 1944, S. 43, Anm. 1, S. 460f., Anm. 1, S. 545, Anm. 3, S. 656, Anm. 2, u. passim. 384) Ders., Volk und Verfassung (1937).
2. Neue
Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
251
und dabei dem Staat ein viel zu großes Gewicht beigelegt. Demgegenüber seien in der Darstellung die „neuen Prinzipien" und Maßstäbe, nämlich Volk und Reich, vernachlässigt worden385). Huber kritisierte seinerseits Höhn deshalb, weil er den nationalen Gedanken des Volkes im 19. Jahrhundert nicht berücksichtigt habe, ohne den die Gründung des „nationalen Reichs der Deutschen" durch Bismarck nicht denkbar gewesen wäre386). Sichtbar wird an dem Konflikt zwischen Huber und Höhn, wie intensiv politische Wertungen die verfassungsgeschichtlichen Veröffentlichungen nach 1933 durchsetzten und wie sehr die wissenschaftliche Auseinandersetzung einem Kampf um die Terminologie Platz gemacht hatte. Huber hatte seine Position zeitgleich mit seinem Kontrahenten in einer Monographie niedergelegt. Sein Werk „Heer und Staat in der deutschen Geschichte", das, aufbauend auf zwei zuvor separat veröffentlichten Aufsätzen387), erstmals 1938 und in zweiter Auflage 1943 erschien, bot einen militärverfassungsgeschichtlich ausgerichteten Durchgang durch die deutsche Geschichte von den Germanen bis zum Ende des Ersten Weltkriegs388). Mit der Verknüpfung von militärischer und politischer Geschichte beschritt Huber keinen völlig neuen Weg. So hatte der Berliner Historiker Hans Delbrück zwischen 1900 und 1920 eine siebenbändige „Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte" verfaßt389). Otto Hintze hatte 1906 die Kohärenz zwischen „Staatsverfassung und Heeresverfassung" dargelegt390). Und zuletzt hatte Carl Schmitt 1934 den Zwiespalt zwischen politischer und militärischer Verfassung als Ursache für „den Zusammenbruch des Zweiten Reiches" benannt391). Schließlich erfreute sich die Wehrgeschichte seit der Wiedereinführung der Wehrpflicht 1935 und der Remilitarisierung des sen
385)
Zur Kritik an Hubers Volksbegriff siehe unten Kap. V.2.e). Von einem Mitarbeiter Hohns erfolgte auch eine deutliche Kritik an anderen Arbeiten Hubers: Heinrich Muth: Die verfassungsrechtliche Stellung des Beamtentums. In: Reich, Volksordnung, Lebensraum 3 (1942), S. 328-340. 386) Huber, Verfassungskampf (1943), S. 558. 387) Ders.: Deutsche Wehrordnung und Verfassung bis zum Ende des Absolutismus. In: ZgStW 97 (1937), S. 29-70; ders.: Volksheer und Verfassung. Ein Beitrag zu der Kernfrage der Scharnhorst-Boyenschen Reform. In: ebd., S. 213-257. 388) Ders., Heer (1938/1943). Die Thesen in gedrängter Form: ders.: Die staatsbildende Kraft des Heeres. In: Zs. für Deutsche Geisteswissenschaft 3 (1940), S. 1-10. Unter aktuellen Aspekten: ders.: Wehrverfassung und politische Ordnung. In: Deutschlands Erneuerung 24 (1940), S. 410-418. 389) Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. 7 Bde., Berlin 1900-1936. Die letzten Bände erschienen nach Delbrücks Tod im Jahr 1929. 39°) Otto Hintze: Staatsverfassung und Heeresverfassung. In: ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, hg. v. Gerhard Oestreich, mit einer Einleitung v. Fritz Härtung, Göttingen 31970 (= Gesammelte Abhandlungen. 1), S. 52-83 [zuerst 1906]. 391) Carl Schmitt: Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches. Der Sieg des Bürgers über den Soldaten, Hamburg 1934 (= Der deutsche Staat der Gegenwart, 6). Zu diesem Werk siehe unten Kap. V2.g).
252
V.
Verfassungsgeschichtsschreibung
1933-1945
Rheinlands bei Historikern und Staatsrechtlern steigenden Interesses392). Huber knüpfte an die Überlegungen seiner wissenschaftlichen .Vorläufer' an, indem er die Wehrverfassung als „die stärkste unter den verfassungsbildenden Kräften" definierte. Er wolle „nicht nur ein wesentliches Kapitel deutscher Verfassungsgeschichte darstellen, sondern zugleich die Fruchtbarkeit eines Rechtsdenkens erproben, das nicht die abstrakte Norm, sondern die lebendige Ordnung als das wirkliche Recht zu begreifen strebt"393). Huber suchte damit explizit Anschluß an die Konzeption Carl Schmitts, aus dessen Sicht nicht die geschriebene Verfassung, sondern die konkreten Ordnungen in der Verfassungswirklichkeit im Vordergrund der Verfassungsgeschichtsschreibung stehen müßten. Die historische Linie, die Huber in „Heer und Staat" zeichnet, zeigt durchgängig die Interdependenz von Staatsform und Wehrverfassung, zwischen militärischer und politischer Ordnung. Je nachdem, wie harmonisch oder wie widersprüchlich deren Verhältnis bewertet wird, fällt das Urteil über die Epoche aus. Die Einheit von Volk und Wehrgemeinschaft bilde ein „großartiges Zeugnis der staatsbildenden Kraft des Germanentums"394). Die Staatlichkeit im frühen Mittelalter habe auf „personhafter Führung und Gefolgschaft" beruht395), und das damalige Reich sei ein vollkommener Verfassungsstaat, mehr noch, es sei der Ursprung der Idee einer „societas civilis" gewesen. Mit dem Aufstieg partikularer Gewalten im 12. und 13. Jahrhundert habe der Niedergang des Reiches eingesetzt. Der Pluralismus des Ständestaates seit dem späten Mittelalter und die national gemischten Söldnerheere statt der „kernhaft deutschen" Landsknechte in der Neuzeit hätten das Reich in eine
„geschichtsunfähige Staatlosigkeit" gestürzt396).
Allein in Preußen habe sich eine starke Wehrmacht und die Elite eines Offizierskorps erhalten, wenn auch das Volk als Träger jeder gestalteten positiven Verfassungsordnung gegenüber einem überbetonten Staat vernachlässigt worden sei. Die guten Vorsätze der preußischen Reformer, insbesondere des Freiherrn vom Stein, seien nur ansatzweise verwirklicht worden, darin liege die „Tragik" der deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert397). Erst Bismarck
392)
Dies zeigen verschiedene Aufsätze und Vorträge: Hermann Anbin: Wehrkraft. Wehrverfassung und Wehrmacht in der deutschen Geschichte, Breslau 1937 (= Jahresberichte der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur, 109); Härtung, Staatsverfassung (1936); S.[iegfried] A. Kaehler: Wehrverfassung und Volk in Deutschland von den Freiheitskriegen bis zum Weltkriege. Rede zur Reichsfeier am 30. Januar 1937 gehallen in der Aula der Georgia Augusta. In: Mitt. des Universitätsbundes Göttingen 18 (1937), S. 1-27; Hermann Conrad: Geschichte der deutschen Wehrverfassung. Bd. I: Von der germanischen Zeil bis zum Ausgang des Mittelalters, München 1939. Ein zweiter Band erschien nicht. Wí) Haber, Heer ( 1938), S. 8, 11. 394) Ebd., S. 22. 395) Ebd., S. 29. 39f>) Ebd., S.67I'. -w) Ebd.. S. 165.
2. Neue
Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
253
habe Partikularismus und Pluralismus überwunden und das „große Werk der nationalen Einigung" vollendet398). Bismarck und Wilhelm I. hätten die „Autonomie der Wehrverfassung" gewährleistet, indem sie sie gegen Marxismus, Ultramontanismus und Radikalliberalismus verteidigt hätten399). Die Jahre 1888/90 beurteilt Huber als die „große Wende im deutschen Verfassungsleben"400). Danach habe eine „allgemeine politische Lähmung" eingesetzt, Wehrverfassung und politische Ordnung seien in einen verhängnisvollen Gegensatz geraten, die Zeit „wirklicher Königsherrschaft" sei erloschen401). Das Versagen Wilhelms II. und eine in Rückstand geratene militärische Rüstung zusammen mit den unseligen ,Einbrüchen' des westlichen Parlamentarismus hätten zur Weltkriegsniederlage geführt. Mit dem Zusammenbruch 1918 seien dem deutschen Volk „Einheit und Ordnung" verlorengegangen. „Es geriet außer Verfassung und versank im Chaos, im Umsturz und im Bürgerkrieg."402) Hubers Deutung des Geschichtsablaufs ist monokausal und fatalistisch zugleich. Zum einen erscheint der Zusammenhang zwischen Militär- und Staatsverfassung als allein entscheidend für das historische Geschehen, zum anderen verläuft die Entwicklung des deutschen Volkes historisch fast geradlinig. Huber sieht die deutsche Historie seit der ausgehenden Stauferzeit als nahezu permanente Verfallsgeschichte. Ausnahmen davon sind mit Einschränkungen die preußische Entwicklung des 17. und 18. Jahrhunderts sowie die Epoche Bismarcks. Die Geschichte entwickelt sich schicksalhaft und geradezu heilsgeschichtlich vorbestimmt auf einen Endpunkt zu403). Die größte Leistung der Wehrordnung vor 1918 sei gewesen, daß der „Geist der Front" die „geistige Erneuerung des ganzen Volkes durchführte und damit die Grundlage einer neuen Verfassung der völkischen Einheit und Ganzheit schuf"404). Somit „erbrachte die alte Wehrverfassung noch im Versinken ihre stärkste geschichtliche Leistung" und bot den „Ansatz für einen neuen Aufbau des Volkes und für die Wiederherstellung des Volksheeres in einem erneuerten Reich"405). Dem Leser bleibt es überlassen, die kleine Brücke von 1918 bis zur Gegenwart, bis zur Erfüllung der Geschichte in der „nationalen Revolution" von 1933 zu schlagen. Doch fehlen in der historischen Darstellung durchaus nicht die .Hilfspunkte' und Gegenwartsbezüge. Huber ergeht sich in pejorativen Bemerkungen über das positivistische Staatsrecht und insbesondere gegen ei-
398) 399) 40°) m) 4t)2) 403) 404)
Ebd., S. 238. Ebd., S. 269.
Ebd.,S.317f. Ebd.,S.280,318f. Ebd., S. 444.
Vgl. auch die Deutung bei Lübbe. Verfassungsgeschichtsschreibung (1989), S. 72. Huber, Heer (1938), S.377. „[Aus] dem Erlebnis der Front [wurde] staatsbildender Wille und staatsgestaltende Tat", formulierte Huber zwei Jahre später. Ders.. Kraft (1940), S.9.
405) Ders., Heer (1938), S. 444.
254
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Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
ihrer führenden jüdischen Fachvertreter. An zeithistorischen Stellungnahmen gegen Parlamentarismus, Pluralismus, Partikularismus und Pazifismus mangelt es gleichfalls nicht. Demgegenüber werden Führertum und Gefolgschaft, Dienst und Treue hervorgehoben. Auch der eigenständige und nicht selten ,einsame' Verlauf der deutschen Geschichte erfährt bei Huber eine besondere Betonung. Die „eigenständige politische Existenz" des deutschen Volkes verteidigt Huber gegen die Vorwürfe von „Überfremdung", wie sie stets für Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht werden. In der Rezension einer kurzen Schrift des Marburger Mediävisten Edmund E. Stengel, in der dieser die These von einer germanischen und damit „romfreien Kaiseridee" aufgestellt hatte, steift Huber fest: „Die deutsche Verfassungsgeschichte ist keine Geschichte von Rezeptionen [des römischen Rechts, E.G.], sondern eine Geschichte eigenständiger Selbstentfaltung"406). Huber erhielt für sein Werk fast ungeteiltes Lob. Inhaltlich hieß es, daß er „eines der Kardinalprobleme unserer völkisch-politischen Geschichte" behandelt habe407). Und methodisch fand Anerkennung, daß seine „konkretgeschichtliche Verfassungsbetrachtung [...] nicht in einem soziologischen Positivismus [versandet], sondern [...] nach dem verborgenen inneren Gesetz" strebe408). Auch Gerhard Ritter, selbst mit einem großen Werk über „Staatskunst und Kriegshandwerk" befaßt, zollte Huber noch 1950 Respekt für seine
nige
Leistung409).
Kritik kam allerdings von zwei Seiten: aus dem Berliner „Institut für Staatsforschung" und aus Wien. Der österreichische Verfassungsrechtler Stephan Verosta widmete der Heeresverfassungsgeschichte Hubers einen Aufsatz, in
406)
Ernst Rudolf Huber: Rez. zu Edmund E. Stengel, Kaisertitel und Souveränitätsidee. ZgStW 100 (1940), S. 242-244, hier S. 244. 407) Wolfgang Herrmann: Rez. zu Ernst Rudolf Huber, Heer und Staat in der deutschen Geschichte. In: Buchberichte für größere Büchereien 2 (1939), S. 105f. 408) [o.V.]: Wehrmacht und Staat. In: Deutsche Rechtspflege 3 (1938), S. 346f„ hier S. 346. Weitere wichtige Rezensionen: [Albrecht Erich] G.[ünther]: Wehrordnung und Verfassung. In: Deutsches Volkstum 20 (1938), S. 539-543; Hermann Conrad. In: ZRG/GA 59 (1939), S. 340-343. In:
409)
Gerhard Ritter: Deutsche Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. In: GWU 1 S. 81-96, 129-137, hier S.133, Anm. 16. Ders.: Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des „Militarismus" in Deutschland, 4 Bde., München 1954-1968. Zur Person grundlegend: Christoph Cornelißen: Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001 (= Schriften des Bundesarchivs, 58). Anläßlich der Monographie von Gerhard Ritter: Machtstaat und Utopie. Vom Streit um die Dämonie der Macht seit Machiavelli und Morus, München/Berlin 1940, ließ sich Huber auf eine Auseinandersetzung mit dem Freiburger Ordinarius ein. Huber, Machtstaat (1942). Ritter antwortete in einem Anhang der dritten Auflage von 1943, S. 175-195. Dazu Huber an Ritter, 14.3.1943. BA Koblenz, N 1166, Nr. 489; Ritter an Ulrich Scheuner, 8.1.1943. Ebd., Nr. 488. Gerhard Ritter: Ein politischer Historiker in seinen Briefen, hg. v. Klaus Schwabe! Rolf Reichardt, Boppard a.Rh. 1984 (= Schriften des Bundesarchivs, 33), Nr. 101 (Ritter an Huber, 11.3.1943). Vgl. dazu die Bemerkungen der Herausgeber ebd., S.51f, sowie Cornelißen, Ritter (2001), S. 322f.
(1950),
2. Neue
dem
er
die Thesen mit
Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
langen
Zitaten ausführlich
darlegte.
Dabei
255
zeigte
er
auf, daß Huber sich zwischen einem Primat der politischen Verfassung oder einem der Wehrordnung nicht eindeutig entschieden habe. Durch seine „Vorliebe für Preußen" habe er zudem die außerdeutsche bzw. außerpreußische Entwicklung nicht genügend berücksichtigt410). Dies bemängelte auch Heinrich Muth, ein Mitarbeiter von Reinhard Höhn. Hubers Interpretation der Bismarckschen Reichsverfassung sei einseitig „royalistisch", kleindeutsch und vernachlässige vor allem die Sicht des Heeres411). Methodisch wandte er ein, daß Huber praktisch keine Quellen ausgewertet habe: er liefere „ein historisches Werk ohne historisches Material". Dies führe notwendig zu „schiefen Ergebnissen", denn der Rückgriff auf frühere historische Forschungen „muß in Zeiten des weltanschaulichen Umbruchs [...] für die Staatswissenschaft zu untragbaren Konsequenzen führen"412). Muths Kritik berührte damit tatsächlich einige Schwächen der Studie. Denn die fehlende Auswertung von Quellen und die preußenzentrierte Sicht sind tatsächlich gravierende Einwände. Hubers Monographie weist trotz der Kritik aus SS-nahen Kreisen um Reinhard Höhn deutliche Ähnlichkeiten zum Geschichtsverständnis vieler Nationalsozialisten auf. Ganz ohne Zweifel handelte es sich um Geschichtsschreibung in politischer Absicht. Der emigrierte Meinecke-Schüler Felix Gilbert meinte aus der Rückschau von 1947. Hubers Buch habe „rather more of a treatise on political science than on history"413). Besonders deutlich wird die vorherrschende Tendenz bei der Idealisierung der Germanenzeit einerseits und der Bewertung der Neuzeit als Epoche des „beispiellosen Rechtsund Kulturverfalls" andererseits414). Der historische Ablauf erfährt mit seinem Endpunkt in der NS-Zeit, dem organologischen Schema von AufstiegBlüte-Verfall folgend, eine geradezu schicksalhafte Komponente415). Huber schließt seine Wehrverfassungsgeschichte mit dem hoffnungsfrohen Ausblick, daß ein Volk im Krieg zu sich selbst finde, ihn um Selbsterhaltung und Selbstverwirklichung führe und geradezu seine historische Mission in einem totalen Krieg erfülle. 1938 war dies noch Prognose, 1943 bei der Neuauflage histori-
-
410) Stephan Verosta: Heer und Staat in der deutschen Geschichte. Bemerkungen zu Ernst Rudolf Hubers gleichnamigem Buch. In: Zs. für öffentliches Recht 21 (1941), S. 94-120, hier S. 116. Heinrich Muth: Staatswissenschaft und historische Forschung. In: Deutsche Rechtswissenschaft 3 (1938), S. 346-367. 412) Ebd., S. 359, 364, 366. 413) Felix Gilbert: German Historiography during the Second World War: A Bibliographical Survey. In: AHR 53 (1947/48), S. 50-58, hier S. 57. 414) Generell zum Topos des Verfalls in der Rechtsgeschichtsschreibung: Andrea Nunweiler: Das Bild der deutschen Rechtsvergangenheit und seine Aktualisierung im „Dritten Reich", Baden-Baden 1994 (= Fundamenta Jurídica, 31). Das Zitat ebd., S. 195. 415) Michael Stolleis: Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, Berlin 1974 (= Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, 15), S. 27, spricht diesbezüglich von einem „Drei-Stadien-Gesetz", das einem „säkularisierten heilsge-
4")
schichtlichen
Erlösungsmodell" entspreche.
256
V
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
sehe Realität. Die Geschichte nahm für die von der Wiedergewinnung nationaler Größe und Erfüllung alter Reichsträume begeisterten Deutschen eine im Ergebnis verhängnisvolle Wende. Die Verfassungsgeschichte wandelte sich in der Realität, nicht nur in der historischen Konstruktion zur Verfallsgeschichte für Staat und Volk gleichermaßen.
e) Verfassungsgeschichte als Volksgeschichte und Ideengeschichte Neben dem historischen Verlaufsmodell, das der neuzeitlichen Geschichte aufgeprägt wurde, dominierte ein Leitgedanke zunehmend die Huberschen Aufsätze: die Bedeutung des Volkes als historischer Faktor. In den verfassungsgeschichtlichen Arbeiten, die der Staatsrechtler seit Ende der dreißiger Jahre vorlegte, zeigte sich die generell spürbare und sich laufend verstärkende Tendenz zur Volksgeschichte. Huber befaßt sich in diesen ideengeschichtlichen Aufsätzen mit dem 17. bis 19. Jahrhundert, wobei das Thema stets das Volk und der Volksgedanke ist. Es geht u.a. um den Volksbegriff der Reichsrechtswissenschaft, um den „preußischen Staatspatriotismus", die Entstehung des „historisch-individuellen Volksbegriffs" und den „Volksgedanken in der Revolution von 1848"416). Insgesamt neun Aufsätze zur „Volks"-Thematik hat Huber, beginnend mit dem Vortrag über Friedrich Christoph Dahlmann von 1937, zwischen 1940 und 1944 veröffentlicht417). Sie variieren das Thema Volk und „Volkwerdung" und bilden damit eine gedankliche Einheit. Die Grundannahme Hubers ist, daß das 19. Jahrhundert von einem Ringen der Deutschen um „Volkwerdung" gekennzeichnet sei. In allen politischen Strömungen des 19. Jahrhunderts sei ein deutscher Volksgedanke, ein „nationales Wollen" lebendig gewesen. Es gebe eine Art unverlierbarer Volksidentität. Der vormärzliche Politiklehrer Friedrich Christoph Dahlmann erscheint aus seiner Perspektive in erster Linie nicht als liberal, sondern als national eingestellt. Seine Politiklehre sei Vorläufer der nationalsozialistischen „politischen Wissenschaft"418). Auch die Revolution von 1848/49 werde in ihrem eigentlichen Charakter verkannt, wenn man sie gedanklich dem westeuropäischen Liberalismus zurechne, denn sie Ernst Rudolf Huber: Der Volksgedanke in der Revolution von 1848. In: ZgStW 99 (1938/39), S. 393^139; ders.: Reich, Volk und Staat in der Reichsrechtswissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts. In: ZgStW 102 (1942), S. 593-627; ders.: Aufstieg und Entfaltung des deutschen Volksbewußtseins, Straßburg 1942 (= Straßburger Universitätsreden, 2); ders.: Der preußische Staatspatriotismus im Zeitalter Friedrichs des Großen. In: ZgStW 103 (1943), S.430-468; ders.: Lessing, Klopstock, Moser und die Wendung vom aufgeklärten zum historisch-individuellen Volksbegriff. In: ZgStW 104 (1944), S. 121-159. Dahl417) Zu den oben erwähnten fünf Aufsätzen treten hinzu: ders.: Friedrich Christoph mann und die deutsche Verfassungsbewegung, Hamburg 1937; ders.: Adam Müller und der Preußische Staat. In: Zs. für deutsche Geisteswissenschaft 6 (1943/44), S. 162-180; ders.: Goethe und der Staat. In: Das Innere Reich 11 (1944/45), S. 1-19. 418) Ders., Dahlmann (1937), S. 9.
416)
2. Neue
Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
257
sei „ein eigentümlich deutsches Gebilde" gewesen419). Der Volksgedanke habe seinerzeit allerdings kein „gemeinsames Bewußtsein und [keinen] einheitlichen Willen" erzeugen können, weil ihm „die politische Tat eines staatsgestaltenden Führertums" gefehlt habe420). Statt dessen sei die revolutionäre nationale Bewegung von fremden Ideen und Einflüssen, wie Demokratie, Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus, Katholizismus und Judentum, „überwuchert" worden und daran letztendlich gescheitert. Das Volk erscheint bei Huber als „ursprüngliche Substanz des politischen Daseins", als „selbstverständlich gegebene, vitale" oder „geschichtlich-politische, [...] auf staatliche Formung angelegte Einheit"421). Es ist gleichsam die „bewegende, lebendige Kraft", welche, ausgehend von der Idee des Reiches, im Staat seine politische Existenzform findet422). Doch dazu bedürfe das Volk notwendig „der weisen, bildenden, gestaltgebenden Führung" und ihrer schöpferischen, auch „kriegerischen Tat"423), damit es aufhöre, nur Menge und Masse zu sein. So könne es zum Ideal einer „gebundenen Existenz", zu einer „gefugten Ordnung", nämlich zur „Volkheit" gelangen424). Volksgeschichte bedeutet für Huber einen oft verschlungenen, dennoch im Kern zielgerichteten Selbstfindungsprozeß eines Volkes, den lediglich ein Führer stellvertretend erkennen und leiten könne. „Volksbewußtsein und Volkswille sind lebendig nur im Regenten und Gesetzgeber, der für das Volk denkt, will und handelt", formulierte Huber 1944425). Volk und Staat gingen bei Huber in den vierziger Jahren in ein eigentümliches Amalgam über. Form und Inhalt verschmolzen zu einem „gestalteten Gefüge", ohne daß eine Priorität klar erkennbar war. Schließlich wurde die historische Reichsidee wiederbelebt: „Das Reich", so Huber 1937, „ist die konkrete politische Gestalt, in der das deutsche Volk zum Staat geworden ist. In der Ordnung des Reiches unterscheidet sich der Staat des deutschen Volkes von den politischen Formen, die andere Völker ihrer Staatlichkeit gegeben
419) Ders., Volksgedanke (1940),
S. 12. Dazu auch Lübbe, Verfassungsgeschichtsschreibung (1989), S. 75. 420) Huber, Volksgedanke (1940), S. 14,20. 421) Ders., Staatspatriotismus (1943), S.465; ders., Lessing (1944), S. 121,139. 422) Ders., Lessing (1944), S. 121. 423) Ders., Goethe (1944/45), S. 7,16. 424) Ebd., S. 13, 18. An dieser und vielen anderen Stellen bezieht sich Huber auf den „politischen Volksbegriff" von Hans Freyer und grenzt sich von den Volksauffassungen Reinhard Hohns und Max Hildebert Boehms ab. Hans Freyer: Der politische Begriff des Volkes, Neumünster 1933 (= Kieler Vorträge über Volkstums- und Grenzlandfragen und den nordisch-baltischen Raum, 4); Max Hildebert Boehm: Gesamte Staatswissenschaft oder gesamte Volkswissenschaft. In: Volksspiegel 2 (1935), S. 36-41; Höhn, Volk und Verfassung (1937); kritisch auch: Gerber, Begriff (1940). Vgl. generell zum Volksbegriff im Nationalsozialismus: Lepsius, Begriffsbildung (1994), S. 32-49: zu den gleichwohl unterschiedlichen Positionen Hubers und Freyers: Paul Nolte: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 151-153. 425) Huber, Goethe (1944/45), S. 5.
258
V
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
haben"426). Hubers etatistische und nationalistische Konzeption von Anfang
und Mitte der dreißiger Jahre blieb subkutan erhalten, wurde nur überschrieben von den Ideen über Volk und Volkwerdung427). Die Volkwerdung avancierte zum Leitkonzept verfassungsgeschichtlich relevanter Prozesse und ersetzte traditionelle Deutungsmuster der deutschen Verfassungsgeschichtsschreibung wie dasjenige der Staatenbildung428). In seinen Studien zur Verfassungsideengeschichte griff Huber bis ins 17. Jahrhundert und dort speziell auf Leibniz zurück, um die Idee von Volk und Nation historisch nachzuweisen. Er wollte zeigen, daß die Nation nicht allein ein „Erzeugnis französischen Geistes" gewesen sei, sondern auf einem ursprünglich deutschen Gedanke beruhe429). Zudem grenzte er sich deutlich von Meineckes These einer deutschen „Kulturnation" ab. Neben dem geistighumanitären habe es in der deutschen Ideengeschichte immer schon den politisch-staatlichen Nationsbegriff gegeben. Die alte Reichsidee habe ein „eigentümlich deutsches Nationalbewußtsein" erzeugt und eine „auch die Jahrhunderte staatlichen Verfalls übergreifende deutsche Kontinuität" gestiftet430). Leibniz habe zwar in einer Zeit gelebt, in der „für das wagende Handeln eines deutschen Staatsmanns noch kein Raum war", dennoch habe er zukunftsweisend den „Führungsanspruch der deutschen Nation in der Gemeinschaft der abendländischen Völker" proklamiert431). Im 18. Jahrhundert habe das Deutschtum „als ein selbständiger und mitbestimmender Faktor der europäischen Ordnung" nur in den Territorien, und besonders ausgeprägt in Gestalt des preußischen Staatspatriotismus, erhalten bleiben können432). Als gedanklicher Gewährsmann Hubers erscheint in dieser Epoche Justus Moser. Er zuvörderst habe in „Abkehr vom abstrakten Denken [der Aufklärung] und [mit][...] Wendung zum konkreten Ergreifen der Lebenswirklichkeit" das Volk in seiner historischen Individualität als „geschichtlich-politische [...] Einheit" erkannt433). Allein diese wenigen Beispiele aus Hubers Texten verdeutlichen, wie sehr bei ihm die historischen Interpretationen von der Sprache der Gegenwart geprägt wurden. Ordnung und Führung, Nation und Gemein-
426) Ders., Verfassung (1937),
S. 70. Eine
„Wendung"
vom
Staat
zum
Reich konstatiert
Walkenhaus, Staatsdenken (1997), S. 240-253.
427)
So auch S. 35f.
Pauly,
Staatsrechtslehre
(2001), S.82f; Dreier,
Staatsrechtslehre
(2001),
428) „Volkwerdung" durch ein „In-eins-Setzen von Volk, Staat und Reich durch eine dem
Wesen des deutschen Schicksals gemäße Verfassung" forderte Rudolf Stadelmann: Das geschichtliche Selbstbewußtsein der Nation, Tübingen 1934 (= Philosophie und Geschichte, 47), S.21. Vgl. generell Blänkner, Staatsbildung (1999). 429) Huber, Reich (1942), S. 594. 430) Ebd., S. 596. Es handelt sich hier um eine zielgerichtete Adaption des Begriffs der „germanischen Kontinuität", den Otto Höfler in die zeitgenössische Debatte eingebracht hatte. Otto Höfler: Das germanische Kontinuitätsproblem. In: HZ 157 (1937), S. 1-26. 431) Huber, Reich (1942), S. 610f. 432) Ders., Staatspatriotismus (1943), S.432. 433) Ders., Lessing (1944), S. 154,139.
2. Neue
galten als Wertprinzipien. schaft
259
Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
zentrale und
zugleich
historisch fast
beliebig
verwendbare
Huber hatte sich mit seinen Aufsätzen zur Verfassungsideengeschichte ein weiteres wissenschaftliches Themenfeld neben der Militärverfassungsgeschichte erschlossen. Eine noch 1944 im Manuskript abgeschlossene ideengeschichtliche Monographie mit dem Titel „Deutsches Staatsdenken von Leibniz bis Hegel", dem Werk „Heer und Staat" für die Militärgeschichte vergleichbar, konnte infolge der Kriegsereignisse nicht mehr erscheinen434). Zusammen mit den früheren juristischen Arbeiten zu den Bereichen Wirtschaft und Kirche deckten die Themen über Militär und politische Ideen ein ganzes Spektrum historiographischer Felder ab435). Noch 1944 begann Huber mit der Konzeption und Niederschrift der ersten Kapitel einer großen Darstellung zur deutschen Verfassungsgeschichte436). Letztlich entdeckte Huber bereits seit Ende der dreißiger Jahre in Ansätzen den weitausgreifenden Kosmos, den er in späteren Arbeiten, insbesondere seiner „Deutschen Verfassungsgeschichte seit 1789", unter einem weit in andere historische Bereiche ausgreifenden Ver-
fassungsbegriff subsumierte437). In seiner „Straßburger Einleitung" zur deutschen Verfassungsgeschichte äußert sich Huber über „Sinn und Aufgaben" einer solchen Darstellung. Dabei spielt seine Haltung als Staatsrechtler eine bedeutende Rolle. Schließlich gehe es bei der Verfassungshistorie um „die verfassungstheoretische Durchdringung des verfassungshistorischen Materials". „Verfassungsgeschichte, so Huber weiter, „ist nicht Politik oder Soziologie; sie ist nicht Wirklichkeitswissenschaft, sondern Normwissenschaft". Und noch einmal bekennt
er sich zur aktuellen politischen Aufgabe der Verfassungsgeschichte, indem diese dazu dienen solle, „die kommende Ordnung des nationalen Daseins vorzubereiten". „Sie ist keine Flucht aus der Gegenwart in den neutralen Raum der Vergangenheit, sondern ein Beitrag zu gegenwärtigen Problemen im Spiegel eines vergangenen und doch in uns dauernden Seins."438)
434)
BA Koblenz, N
438)
BA
1505,
Nr. 24,
205, 206. Das in den Jahren 1941-1944 entstandene
Manuskript umfaßt zwölf Kapitel mit fast 1 500 Seiten. VA Mohr, K. 503 (an Pauline Siebeck, 29.7.1945). 1945 suchte Huber noch einen Verleger. Das Werk erschien später ebenso wenig wie ein fertiggestellter Aufsatz über „Humanität und Nationalität im Denken Herders", der für die ZgStW 105 (1945) vorgesehen war. BA Koblenz, N 1505, Nr. 212. 435) Daß dies die Konzeption seines Vaters gewesen sei, berichtete der älteste Sohn Konrad Huber in einem Gespräch am 22.1.1999. 436) BA Koblenz, N 1505, Nr. 226 und 227. Im NL Huber findet sich eine „Straßburger Einleitung" (8 S.) sowie ein noch im Elsaß verfaßtes erstes Kapitel über „Die Germanische Frühzeit" (404 S.). 437) Zum Thema der Sozialverfassung: Ernst Rudolf Huber: Lorenz von Stein und die Grundlegung der Idee des Sozialstaates. In: ders., Nationalstaat und Verfassungsstaat. Studien zur Geschichte der modernen Staatsidee, Stuttgart 1965, S. 127-143 [zuerst als Vortrag 1941/42], Hinzugefügt hat Huber auch den Bereich der Kulturverfassung. Ders.: Zur Problematik des Kulturstaates, Tübingen 1958 (= Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart, 212). Dazu kritisch: Geis, Kulturstaat (1990). Koblenz, N 1505, Nr. 227.
260
V.
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
Mit seinen Aufsätzen aus den Kriegsjahren rezipierte und propagierte Huber das Paradigma „Volk", welches die Geschichtsforschung seit 1933 beherrschte: „Volksgeschichte heißt das Gebot der Stunde", formulierte Otto Brunner 1939439). Wie für die Protagonisten der Volksforschung verband sich auch für Huber damit eine Betonung des Volkes als Träger der Geschichte. Doch im Gegensatz zur Geschichtsdeutung der Volkshistoriker, wie Günther Ipsen oder Adolf Helbok, traten Staat und Einzelperson bei Huber nicht annähernd so deutlich in den Hintergrund. Er versuchte vielmehr eine organische Verknüpfung von Idee und Wirklichkeit in der Geschichte, indem das Reich die Idee, das Volk die Kraft und der Staat die Form verkörperten. Gestalter und Handelnder in diesem Beziehungsdreieck war eine Führungsperson, die durch die „politische Tat" den Volksgedanken in Verfassungswirklichkeit umsetzte. Im Unterschied zum Anspruch der Volkshistoriker verfuhr Huber weder im methodischen Zugriff noch in der Darstellung besonders interdisziplinär oder innovativ440). Vielmehr bewegte er sich weitgehend in den klassischen Bahnen der Ideengeschichte und baute auf hermeneutische Textanalyse althergebrachter Art. Volksgeschichte war für ihn Ideengeschichte über das Volk. Indem Hubers volks- und ideengeschichtliche Forschungen der Kriegszeit zusammen mit seinen wehrgeschichtlichen Studien das .Dritte Reich' als ,Vollendung' und ,Erfüllung' der deutschen Verfassungsgeschichte stilisierten, bildeten sie einen Beitrag zur spezifischen Deutung der deutschen Verfassungsgeschichte in politischer Absicht441). Huber leistete mit seinen verfassungshistorischen Arbeiten einen politisch instrumentalisierbaren Beitrag zur „ethnozentrischen Identitätsstiftung"442) im Sinne des Nationalsozialismus. Weit deutlicher in die Richtung einer Verbindung von Volksgeschichte und Verfassungsgeschichte und dies im Zusammenhang mit einer ideologisch aufgeladenen Ostforschung bewegten sich jene Studien, die sich mit der Verfassungshistorie in sogenannten Grenzräumen bzw. mit der Volksgruppenforschung befaßten. Beispiele dafür lieferten der Härtung-Schüler Hans Haussherr oder Otto Brunner443). Der Königsberger Neuzeit-Historiker Theodor Schieder untersuchte vergleichend die landständische Verfassung in Livland, Westpreußen und Siebenbürgen zwischen dem 16. und dem 18. JahrOtto Brunner: Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter, Wien 1939 (= Veröffentlichungen des österreichischen Instituts für Geschichtsforschung, 1), S. 194. 44Q) Zu den Grenzen der „Innovation" bzw. „Modernität": Flügel, Innovation (2000); Wauker, Volksgeschichte (2003); Lenger, Wurzel (2004). 441 ) Vgl. zu Hubers Volksgeschichtskonzeption: Walkenhaus, Staatsdenken (1997), S. 254-273. M2) Oberkrome, Volksgeschichte (1993), S. 225. 443) Haussherr, Verfassungstypen (1939), studierte deutsche Volksgruppen im Ausland. Otto Brunner exemplifizierte seine Forschungen an den Gebieten „Südostdeutschlands" bzw. nach 1945 Österreichs. Brunner, Land (1939).
439)
2. Neue
hundert. Es
Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
261
gehe dabei um die Frage, inwieweit durch die Landstände in den
„Frontabschnitten der Reichs- und Volksgrenze [...] dauernde oder vorüber-
gehende Gebietsverluste und Grenzschwächungen" entstanden seien444). Das auffälligste Phänomen in diesen „Außenposten deutschen Volkstums" sei die „Durchdringung der ständischen mit den nationalen Problemen der ostmitteleuropäischen Völkermischzone"445). Schon die Sprache klingt rassistisch, wenn
Schieder feststellt, daß im Volksbewußtsein dieser Grenzräume sich ein
„Gefühl für die natürlich-bluthaften Zusammenhänge und Lebensgesetze der
Reinerhaltung von Rasse und Art besonders stark lebendig" erwiesen habe446). Nun gelte es, so das Resümee, die deutsch-völkischen Elemente in Ostmitteleuropa und deren völkisches Empfinden wiederzubeleben. Die Geschichtswissenschaft habe sich dabei insbesondere gegen „polnische Geschichtsklitterungen" zu wehren447). Welche Folgen er bei einer „vollen Ausbildung [...] des Volksgruppenrechts" in Osteuropa voraussah, die er zu den „großen Aufgaben der Reichspolitik im gegenwärtigen Europa" zählte, ließ Schieder in seiner verfassungsgeschichtlichen Studie allerdings offen. Nicht zufällig arbeiteten Theodor Schieder und Otto Brunner über osteuropäische Gebiete. Hier ließen sich Verfassungsgeschichte und Volkstumsforschung verbinden und ohne große Mühe politisieren. Das eröffnete neue Forschungsfelder, ermöglichte neue methodische Ansätze und erschloß im Zweifelsfall auch neue Finanzierungsquellen. Im Umfeld des „Handwörterbuchs des Grenz- und Auslanddeutschtums" und der „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften" bildete sich ein Netzwerk von wissenschaftspolitischen Kontakten448). Die hier vertretenen historischen Forschungsansätze umfaßten eine Vielzahl von methodischen und inhaltlichen Aspekten, unter denen die Verfassungsgeschichte nur ein kleines Segment darstellte. Hubers Absicht lief indes nicht auf eine Volksgeschichte im Sinne von Brunner und Schieder hinaus. Es ging ihm nicht um die politisch-ideologische .Eroberung', sondern vielmehr um das Erfassen und Rekonstruieren eines geistigen Raumes in der Geschichte, um die geistesgeschichtliche Signatur be444)
Theodor Schieder: Landständische Verfassung, Volkstumspolitik und Volksbewußtsein. Eine Studie zur Verfassungsgeschichte ostdeutscher Volksgruppen. In: Hermann Aubin u. a. (Hg.), Deutsche Ostforschung. Ergebnisse und Aufgaben seit dem ersten Weltkrieg. Bd. 2, Leipzig 1943, S. 257-288, hier S.259. Schieder gilt spätestens seit Entdeckung der sogenannten Polen-Denkschrift als einer der umstrittensten Historiker im Nationalsozialismus. EbbinghausIRoth, Vorläufer (1992). Götz Aly: Theodor Schieder, Werner Conze oder Die Vorstufen der physischen Vernichtung. In: SchulzelOexle, Historiker (1999), S. 163-182. Zum Königsberger Umfeld von Schieder: Haar, Historiker (2000). t45) Schieder, Verfassung (1943), S. 279, 264. 446) Ebd., S. 283. t47) Ebd., S. 285. 448) Zu diesen Fragenkomplexen siehe die Studien von Oberkrome, Volksgeschichte (1993), und Fahlbusch, Wissenschaft (1999); ders.: Die „Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft". Politische Beratung und NS-Volkstumspolitik. In: Schulzel Oexle, Historiker (1999), S. 241-264.
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Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
stimmter historischer Epochen. In diesem Bemühen um eine ideengeschichtliche Fundierung der von den Juristen bis dahin vielfach institutionenbezogen betriebenen Verfassungsgeschichtsschreibung traf er sich mit seinem Studienfreund Ernst Forsthoff.
f) Die Ideologisierung der Lehrbücher Von den nach der Studienreform des Jahres 1935 neu entstandenen Überblickswerken zur deutschen Verfassungsgeschichte stellt Ernst Forsthoffs Grundriß von 1940 eines der interessantesten Beispiele dar449). Die Darstellung des Königsberger Öffentlichrechtlers ist ganz aus der Vorlesung für das zweite juristische Semester hervorgegangen. Sie endet mit Bismarcks Reichsgründung, weil dem Autor zufolge das Verfassungsrecht des Kaiserreichs in der Vorlesung über „Verfassung" behandelt werden sollte450). Angestrebt ist ein Durchgang durch die deutsche Geschichte der Neuzeit mit besonderer Rücksicht auf die politische, soziale und geistige Verfassung der jeweiligen Epoche. Forsthoff möchte sich nicht auf die Präsentation von Daten und Fakten beschränken, sondern darüber hinaus besonders „auf ihre Einordnung in die geistigen Strömungen der Zeit" Wert legen, um „ein plastisches Bild der wesentlichen Verfassungsepochen zu vermitteln"451). Die Gliederung seiner „Verfassungsgeschichte" umfaßt drei Phasen: die Zeit bis zum Westfälischen Frieden, die Epoche des Absolutismus und das Zeitalter des Nationalstaates. Als Leitbegriffe dienten Forsthoff, ganz dem „konkreten Ordnungsdenken" Carl Schmitts verpflichtet, die Ordnung und Gestaltung von Volk und Staat, die sich als verfassungshistorische Kernbestandteile in einem permanenten Ringen um Verfassung befänden. Bestimmend für die Deutung der deutschen Verfassungsgeschichte ist ganz ähnlich dem Huberschen Schema für die Neuzeit-ein selten unterbrochener Dekompositionsprozeß: von „Krise", -
„Niedergang", „Auflösung", „Aushöhlung", „Ende", „Scheitern", „Verfall", 449) Forsthoff, Verfassungsgeschichte (1940). Die frühere Sicht Forsthoffs auf das 19. Jahr-
hundert findet sich in ders., Der totale Staat (1933). Eine zweite Auflage der „Verfassungsgeschichte" hatte Forsthoff 1944/45 geplant; sie kam vermutlich wegen Krieg und Papiermangel zunächst nicht zustande. ÜB Freiburg, NL 66 Wolf, Nr. 2444 u. 2445 (an Erik Wolf, 3.3.1944, 4.1.1945); DLA Marbach, NL Stapel (Forsthoff an Stapel, 15.7.1944; 20.11.1944). Zu den Nachkriegsauflagen siehe Kap. VI.2.b). 450) So jedenfalls die Begründung bei Forsthoff, Verfassungsgeschichte (1940), S. If. Ein Rückgriff auf die Zeit vor 1918 war indes in den meisten Vorlesungen über „Verfassung" nicht vorgesehen. Auch Hubers Lehrbuch zum Verfassungsrecht sah eine solche verfassungshistorische Hinführung nicht vor. Zur geplanten Fortführung seiner „Verfassungsgeschichte" bis 1933 in einer Zweitauflage bemerkte Forsthoff gegenüber Erik Wolf: Dies sei „für die Zeit nach 1918 ein verdrießliches Geschäft, weil hier die gebotene Fachlichkeit leicht in Widerspruch zu allgemeinen Vorurteilen tritt, zumal wenn man sich des Jargons nicht bedienen will, auf den Feine in den entsprechenden Partien seines Buches herabgekommen ist". ÜB Freiburg, NL 66 Wolf, Nr. 2445 (4.1.1945). 451) Forsthoff, Verfassungsgeschichte (1940), S. 1. -
-
2. Neue
„Zersplitterung"
Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
263
und „Zusammenbruch" ist allein das Inhaltsverzeichnis
übervoll452).
In den einzelnen historischen Epochen wird diese im Überblick angedeuteGeschichtssicht bestätigt. Im ausgehenden Mittelalter diagnostiziert Forsthoff eine Krise von Kaisertum, Kirche und Kommerz. Die Welt der mittelalterlichen Universitas sei an ihr Ende gelangt, lautet eines der Resümees in einem Abschnitt über „die geistige Lage". Die Ansätze zur Reichsreform seien weitgehend gescheitert, die „Ordnungen des Reiches" hätten sich im Stadium der Auflösung befunden. Immer wieder schiebt Forsthoff zwischen die Darlegungen zu den Verfassungszuständen kleine Abschnitte über geistige Wortführer der Epoche, so etwa Duns Scotus und Wilhelm von Ockham im späten Mittelalter oder Jean Bodin im 16. Jahrhundert. Die Verfassungsgeschichte im Zeitalter des Absolutismus wird in einem dreigeteilten Kapitel behandelt, nämlich zunächst in den Territorialstaaten Brandenburg-Preußen, dann in Österreich und anderen, zuletzt im Reich. Ein Übergewicht Preußens fällt hier ebenso auf wie die Tatsache, daß gerade mit Blick auf die Verwaltung im 18. Jahrhundert, und dies in Absetzung von der generellen verfassungshistorischen Auslegungslinie, Erfolge konstatiert werden. Die ausführlichsten Erörterungen gelten dem 19. Jahrhundert. In Forsthoffs drittem Kapitel nähert sich die Darstellung weitgehend einer faktenreichen politischen Geschichte an, wenn auch strukturelle Verfassungsfragen stets im Vordergrund stehen. Ein kurzes Intermezzo über die „geistigen und sozialen Bewegungen in der bürgerlichen Welt" geht fast unter, die Interpretation der politischen Strömungen tritt gegenüber einer Ereignisschilderung deutlich in den Hintergrund. Bei der Bewertung des Konstitutionalismus als Staats- und Regierungsform schließt sich Forsthoff ganz der „Verfassungslehre" seines akademischen Lehrers Carl Schmitt an453). Der süddeutsche Konstitutionalismus erscheint ihm „wenig ansprechend"454), wie überhaupt die in der Verfassungsgeschichte immer wieder begegnenden Kompromisse ihm unsympathisch' sind455). Dies gilt selbstverständlich auch für denjenigen im preußischen Verfassungskonflikt. Forsthoff bezieht sich bei seiner Schilderung explizit auf die Ergebnisse von Huber, Schmitt und den Ritterbusch-Schüler Kaminski456). Die Reichsverfassung von 1871 lasse ähnlich wie die preußische Verfassung von 1850 alle „so willkommenen prinzipiellen Festlegungen vermissen" und die Machtfrage in der Schwebe. Sie sei eine „Schöpfung der Staatskunst, nicht der angewandten Theorie oder Ideologie". Alle wichtigen Funktionen seien ungerete
-
-
452) Ebd., S.V-XI. 453) Ebd., S. 199, Anm. *. 454) Ebd., S. 146. 455) So hätten die Verfassungen als „Kompromisse zwischen Staat und Gesellschaft" dem Staat „Ethos und Würde" genommen und ihn „innerlich aus[ge]höhlt". Ebd., S. 156. 456) Ebd., S. 177-187.
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Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
gelt, die Verfassung weise mit gesetzesförmigen und bündischen Elementen zudem eine „Doppelnatur" auf457). Je mehr die Verfassung selbst die wahre Lage verschleiere, desto eher komme der Geschichtsschreibung die Aufgabe zu, in der Verfassungswirklichkeit die tatsächlichen historischen Wandlungsprozesse jenseits der Normen zu erfassen. Unter diesem Blickwinkel erscheine die Reichsverfassung von 1871 als Werk auf Zeit. „Eine Verbindung monarchischer und bürgerlich-konstitutioneller Verfassungselemente" könne es „nur als praktisch-politische Verklammerung, nicht aber als geistige Verschmelzung geben"458). Die Haltbarkeit der Verfassung sei an die Staatskunst
Bismarcks gebunden gewesen, weshalb auch dessen Rücktritt, übereinstimmend mit Huber, als „Wendepunkt" und Verfassungskrise gewertet wird459). Letztlich hätten Parlamentarismus und Parteiwesen die ,überverfassungsrechtlich' legitimierte Monarchie ausgehöhlt und zerstört. Forsthoff wies mit seiner Darstellung gleich in mehrfacher Hinsicht auf Versäumnisse der neueren Verfassungsgeschichtsschreibung hin. Zum einen behob er mit seinen ideengeschichtlichen Exkursen einen spürbaren Mangel in der nach 1935 entstandenen Lehrbuch-Literatur. Denn durch den Fortfall einer Veranstaltung zur Allgemeinen Staatslehre fehlte es an einer ausführlicheren Erörterung der klassischen Staatstheorien im Vorlesungsspektrum. Unter diesem Aspekt ist es wenig verwunderlich, daß eine bereits 1924 und 1928 publizierte Übersicht wie diejenige des Breslauer Öffentlichrechtlers Hans Helfritz unter dem der Studienordnung angepaßten Titel „Volk und Staat. Verfassungsgeschichte der Neuzeit" 1938 und 1944 neu aufgelegt wurde. Mit einem „Abriß der Staatstheorien" ergänzte er die fühlbare Lücke, die besonders in der Verfassungsideengeschichte der Frühen Neuzeit entstanden war460). Zum anderen bezog Forsthoff in mehreren Passagen seines Überblicks die (west-)europäischen Bezüge der deutschen Geschichte ein. Er steuerte damit gegen die zunehmende nationale Blickverengung in der Verfassungsgeschichtsschreibung. Seit Hintzes vergleichenden Studien hatte es eine über die nationalen Grenzen hinausweisende Verfassungshistoriographie schwer. Auffällig ist, daß gerade in der Geschichtsschreibung zum Mittelalter in den dreißiger Jahren mehrere Werke zur vergleichenden, vor allem westeuropäischen Verfassungsgeschichte erschienen461). Die einzige entsprechende Darstellung
457) Ebd., S. 198-200. Vgl. dazu Storost, Staat (1979), S. 502f. 458) Forsthoff, Verfassungsgeschichte (1940), S. 206. 459) Ebd., S. 208 u. Anm. *. 46°) Hans Helfritz: Allgemeines Staatsrecht als Einführung in das öffentliche Recht. Mit
einem Abriß der Staatstheorien, Berlin 1924/21928; ders., Volk (1938/1944). Die „Verfassungsgeschichte der Neuzeit" wird bei ihm ganz nach Art einer Allgemeinen Staatslehre konsequent systematisch-institutionengeschichtlich behandelt, ders., Volk (1938), S. 89-248. Das hat zur Folge, daß er den Nationalsozialismus ausschließlich typologisch erörtert, ihn mit dem italienischen Faschismus vergleicht und dabei äußerst knapp und in der Bewertung zurückhaltend verfährt. Ebd., S. 159-164. 461) So namentlich Mitteis, Lehnrecht (1933), sowie Schramm, König (1939).
2. Neue
Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
265
Historiographie, eine knappe Studie von Dieter Cunz „europäischen Verfassungsgeschichte"462), konnte die im Titel geweckten Erwartungen in keiner Weise erfüllen. Es handelte sich um eine lediglich skizzierende und viel zu faktenorientierte Staatengeschichte, die, wie Gerhard Oestreich monierte, obendrein auch neuere Forschungsergebnisse ignorier-
in der neuzeitlichen zur
te463).
Die Kritik
Forsthoffs „Verfassungsgeschichte" zeigte demgegenüber ein aber auch uneinheitliches Erscheinungsbild464). Ganz unzweireichhaltiges, felhaft schlug sich darin die Streitbarkeit des Verfassers nieder, der mit seinen Meinungen häufiger Anstoß erregte und mehrfach dienstliche Versetzungen über sich ergehen lassen mußte465). Einig war man sich im Lob für das Bemühen Forsthoffs, die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge der historischen Epochen zu betonen. Vereinzelt wurde der frühzeitige Abschluß der Darlegungen mit dem Jahr 1871 bemängelt und bisweilen das Problem des begrenzten Raumes als Ursache dafür vermutet. Besonders scharf formuliert war die Kritik, die Forsthoff aus dem ,Hause' Höhn entgegenschlug. Heinrich Muth bedachte den Grundriß mit einem ausführlichen Verriß. Er beklagt zunächst, daß in den letzten Jahrzehnten „die historische Komponente" der Verfassungsgeschichtsschreibung allzusehr im Vordergrund gestanden habe eine kaum verhüllte Kritik an Hintzes und Hartungs Forschungen sowie vermutlich auch an dem Grundriß-Band Feines, der ja ausdrücklich auf die Dynamik der historischen Entwicklung Wert legte. Dagegen müsse man „auf die gemeinsamen politischen Prinzipien" achten, wenn man die verfassungsgeschichtliche Forschung „aus einem unverdienten Antiquitätendasein herausreißen" wolle. Der Rezensent wirft Forsthoff vor, in vieler Hinsicht noch einem überholten Bild der Verfassungsgeschichte verpflichtet zu sein. So kritisiert er „die schamhaft vorsichtige Behandlung der Geschichte des Reichsverfalls", die in der borussischen Tradition Heinrich von Treitschkes stehe und von einer dynastischen Rücksichtnahme auf die Hohenzollern geprägt sei466). Forsthoff habe verkannt, daß die historische Entwicklung von Staat und Volk seit der Reformation in zwei getrennten Bahnen verlaufe. Muth bezieht sich explizit auf die Forschungsergebnisse von an
-
462) Cunz, Verfassungsgeschichte (1936). 463) G.[erhard] Oestreich: Rez. zu Dieter Cunz, Europäische Verfassungsgeschichte
der Neuzeit. In: HZ 156 (1937), S.605. Abgesehen von diesem Verriß blieb die Studie ohne weiteres Forschungsecho. 464) Die wichtigsten Besprechungen: [Carl Hermann] Ule. In: AÖR, NF 33 (1943), S.296f.; Muth, Grundlinien (1941); Wilh.[elm] Troitzsch. In: Reichsverwaltungsblatt 62 (1941), S. 143f.; Georg Dahm. In: Straßburger Monatshefte 4 (1940), S. 769-773; Hans Tümmler. In: Vergangenheit und Gegenwart 32 (1942), S. 196; Ulrich Scheuner. In: ZgStW 102 (1942), S. 736-738; K.[arl] G.[ottfried] Hugelmann. In: Zs. für öffentliches Recht 23 (1944), S. 359-361. 465) Forsthoff absolvierte in zwölf Jahren insgesamt fünf Stationen. Siehe oben Kap.
V.l.b).
466) Muth, Grundlinien (1941), S. 1269.
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Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
Reinhard Höhn und Gerhard Oestreich, die für die Frühe Neuzeit nachgewiehätten, daß weder Staat und Verwaltung noch die Beamten und Soldaten jener Epoche mit anachronistischen Vorstellungen erfaßbar seien467). Forsthoff idealisiere den preußischen Staat des 17. und 18. Jahrhunderts, weil er ideologisch befangen sei. Im 19. Jahrhundert wiederum ignoriere er den „völkischen Aufbruch" und das politische Volksbewußtsein des sich emanzipierenden Bürgertums. Nur „der Staat in seiner anstaltlichen Form" habe den Neuaufbau eines Reiches verhindert und die Macht in den partikularen Teilstaaten erhalten468). Muth wirft Forsthoff eine Glorifizierung Preußens und eine allzu staatsbezogene Verfassungsgeschichtsschreibung vor. Dies spiegelt die paradoxerweise antietatistische Haltung des „Instituts für Staatsforschung" unter der Leitung Reinhard Hohns wider469). Auch andere staatsbezogene „Verfassungsgeschichten" wie die ältere von Härtung und die jüngere von Huber mußten zwangsläufig mit harschen Kritiken aus dieser Richtung rechnen. Georg Dahm, der Strafrechtslehrer und Straßburger Kollege Hubers, verfuhr mit seiner Kritik an Forsthoff ebenfalls nicht sehr zurückhaltend. So bemängelte er eine schiefe Sicht auf den Absolutismus, ein Schlagwort das in seiner Allgemeinheit ohnehin „problematisch" sei. Auch die Aufklärung sei nicht richtig beurteilt; der Deutsche Bund komme zu gut weg, während der nationale Gedanke zu wenig berücksichtigt werde. Insgesamt wurden die „aphoristischen Hinweise" Forsthoffs nicht selten als „mehr geistreich als sen
richtig" abgetan470). Gegenüber solcher Kritik mußte das Urteil des gleichfalls im Elsaß lehren-
den Staatsrechtlers Ulrich Scheuner ohne Zweifel wie Balsam wirken. Forsthoff, so ist hier gerade im Gegensatz zur Kritik von Muth vermerkt, habe die „Notwendigkeit, neue Wertungen vorzunehmen, erkannt und beherzigt". Insbesondere die positivere Sicht auf den Deutschen Bund, bei Dahm heftig angegriffen, wurde ausdrücklich mit Lob bedacht. Insgesamt sei ein „durchaus persönlich gefärbter Überblick über die Verfassungsgeschichte, nicht aber ein kurzes Kompendium entstanden"471). Unter die Rubrik der „kurzen Kompendien" fällt indes eine andere „Verfassungsgeschichte". Sie erschien wie die Darstellungen von Feine und Forsthoff ebenfalls in einer Lehrbuchreihe, wandte sich damit an ein studentisches Publikum und diente als Begleitmaterial der einschlägigen Vorlesung sowie -
467)
-
Gemeint waren: Reinhard Höhn: Der Soldat und das Vaterland während und nach dem Siebenjährigen Kriege. In: Festschrift für Ernst Heymann zum 70. Geburtstag. Bd. 1, Weimar 1940, S. 250-312, sowie Oestreich, Regiment (1935). 468) Muth, Grundlinien (1941), S. 1271. 469) Höhn sprach einmal von der „Kampfstellung gegen den Staat" und gegen die ihm folgenden Verfassungslehren. Höhn, Volk, Staat und Reich (1936), S.373. 470) Dahm, Rez. Forsthoff (1940), S. 770f. 471) Scheuner, Rez. Forsthoff (1942), S. 736.
2. Neue
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Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
Vorbereitung der Prüfung. Gemeint ist die „Deutsche Verfassungsgevom germanischen Volksstaat bis zum Dritten Reich", welche die Regierungsräte Walther Eckhardt und Harry von Rozycki in der von Carl Schaeffer herausgegebenen Reihe „Neugestaltung von Recht und Wirtschaft" des Kohlhammer-Verlags veröffentlichten472). Der Überblick zeichnet sich durch extreme Knappheit aus, denn er beansprucht mit 164 Seiten für die gesamte deutsche Geschichte deutlich weniger zur
schichte
Raum als die Lehrbücher Feines und Forsthoffs, die sich auf die Neuzeit beschränken. Die Gliederung des Textkorpus' drückt bereits eine ideologische Zielrichtung aus, indem nach einem Einleitungskapitel über den „Volksstaat der Germanen" und das Frankenreich in drei Abschnitten das „Erste", „Zweite" und „Dritte Reich" behandelt werden. Bezeichnend für die Deutungslinie sind gleichfalls die Kapitelüberschriften: nachdem das Hochmittelalter unter „Glanz und Größe" abgehandelt wird, befindet sich das Reich in der Zeit zwischen 1256 und 1648 „im Niedergang", von da an „in der Auflösung". Später ist vom „Weimarer Zwischenreich" und schließlich vom „nationalsozialistischen Volksreich" die Rede. Der Kürze entsprechend, sind die Aussagen von meist thesen-, oft aber nur stichwortartigem Charakter. Sie wirken inhaltlich zum einen oft banal, zum anderen sind sie in ideologisch besonders wichtigen Passagen in einem apodiktischen Tonfall gehalten. Verstärkt wird der Eindruck noch durch Hervorhebungen im Fettdruck bzw. die Verwendung von Petitschrift für weniger wichtige Textteile. Ganz zu Anfang findet sich die schlichte „methodische" Bemerkung, daß unter „Verfassungsgeschichte die Geschichte der Formen, die ein Volk sich gegeben, unter denen es gelebt hat", verstanden werde. Von Eckhardt und Rozycki wird ein Bild der deutschen Verfassungsgeschichte vermittelt, welches den oben erwähnten Topoi einer verbreiteten NSDeutung entsprach. Findet bei den Germanen das Führertum eine besondere Hervorhebung, so wird im Spätmittelalter die Führungs- und Machtlosigkeit des Reiches betont. Das Reichsende 1806 wird als „tiefste nationale Entwürdigung" und „nationales Unglück" gewertet473). Angesichts der „Entfremdung" zwischen Regierung und Volk und der Niederhaltung des politischen Lebens in Vor- und Nachmärz wirkt Bismarcks „Meisterleistung" der Reichsgründung um so heroischer474). Dennoch habe es sich aus der Gegenwart betrachtet nur um eine historische „Zwischenstufe" gehandelt, denn „erst -
-
472) Eckhardt/Rozycki, Verfassungsgeschichte (1940).
Der zweite Verfasser wechselte
möglicherweise seinen Nachnamen, denn seit der vierten Auflage heißt er bei identischem Text Harry von Rosen v. Hoewel. Eckhardt/von Rosen von Hoewel, Verfassungsgeschichte (1943). Das Pendant für die neuzeitliche Rechtsgeschichte in derselben Reihe (allerdings mit dem alten Reihentitel) umfaßte gerade einmal 73 Textseiten Rudolf Bechert: Rechtsgeschichte der Neuzeit, Leipzig 1939 (= Schaeffers Grundriß des Rechts und der Wirtschaft, 23,2). 473) Eckhardt!Rozycki, Verfassungsgeschichte (1940), S. 72. -
-
474) Ebd., S. 92,111.
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Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
Adolf Hitler war es vorbehalten, die 1809 beginnende Entwicklung eines Zusammenschlusses der deutschen Staaten zu einem neuen Staatenverbande durch Begründung des Einheitsstaates zum Abschluß zu bringen"475). Mit Bismarcks Sturz nimmt die Ideologisierung in der Darstellung endgültig Überhand. Die letzten vierzig Seiten über Wilhelminismus, Weltkrieg und Weimar strotzen nur so von Ausfällen gegen die „Reichsfeinde" (Liberalismus, Klerikalismus, Marxismus) sowie die „fremdvölkischen Minderheiten"476). Die antisemitischen Stereotypen erreichen bei der Erörterung der Weimarer Zeit einen Höhepunkt. Das Jahr 1933 markiert den „Beginn der Wiedergeburt Deutschlands zu neuer Größe", indem „der Bauschutt aus allen Jahrhunderten deutscher Verfassungsgeschichte [...] beseitigt" werde477). Eckhardt/Rozyckis Darstellung der deutschen Verfassungsgeschichte soll in diesem Zusammenhang als Beispiel dafür dienen, wie ausgeprägt Teile der deutschen Verfassungsgeschichtsschreibung nach 1933 ideologisiert waren. Es handelt sich immerhin um ein Werk, das von vielen Studenten der Rechtswissenschaft zur Vorlesungs- und Prüfungsvorbereitung benutzt wurde und in einer erfolgreichen und auflagenstarken Buchreihe erschien478). Das Lehrbuch von Eckhardt und Rozycki steifte keineswegs eine Ausnahme oder einen Einzelfall dar. Im Jahr 1943 legte der Liegnitzer Regierungspräsident Alfred Bochalli eine „Deutsche Geschichte einschließlich Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte" vor, die dem Verwaltungsnachwuchs Grundkenntnisse zum Thema vermitteln sollte. Insbesondere die „verfassungs- und verwaltungsgeschichtlichen Zusammenhänge [sind] für den Beamten und in gesteigertem Maße für den Beamten der politischen Verwaltung unerläßlich und von größter Bedeutung", hieß es im Vorwort479). Auf rund 130 Seiten wurden Fakten in Fülle vermittelt, wobei eindeutige nationalsozialistische Wertungen nicht zu kurz kamen. Dies galt um so mehr, je näher die Gegenwart rückte. Weiterhin erschien in der Reihe „Rechtspflege und Verwaltung", die der Referendarausbildung und Justizpraxis dienen sollte, ein „Leitfaden" von
475) Ebd., S. 122. 476) Ebd., S. 126-129. Vgl. auch Nunweiler, Bild (1996), S.202f, 227. 477) Eckhardt!Rozycki, Verfassungsgeschichte (1940), S. 155,158. 478) Das Lehrbuch von Eckhardt/Rozycki erschien innerhalb von vier Jahren in vier Auflagen. Zwei
der wenigen Rezensionen: Hermann Reuß. In: Deutsches Recht 10 (1940), S. 1090; Mirow. In: Reichsverwaltungsblatt 64 (1943), S. 140. Stolleis, Geschichte, Bd. 3 (1999), S. 345f, weist darauf hin, daß die Schaefferschen Grundrisse zu 90 Pfennig bei Abnahme von 500 Stück vertrieben wurden. Es wäre nicht angemessen, solche Darstellungen als historiographische Auswüchse zu verharmlosen und dadurch im Hinblick auf ihre Wirkung zu marginalisieren. Allerdings gilt es zugleich festzustellen, daß solche Schriften allenfalls den Charakter von Repetitorien erfüllen und wissenschaftlich wertlos sind. So das Urteil ebd., S. 346. 479) Alfred Bochalli: Deutsche Geschichte einschließlich Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Berlin/Wien 1943 (= Die Bücher der Verwaltung, 4), S. 5. -
2. Neue
Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
269
Johann von Leers zur deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte, in dem ganz ähnliche extrem ideologisierte Ansichten vertreten werden480). Der Verfasser fungierte nicht nur als Bundesschulungsleiter des „Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes", sondern er war darüber hinaus ein vielfältig aktiver politischer Publizist und amtierte seit 1940 als Professor für die Geschichte von Bauerntum und Handwerk in Jena481). Er gehe bei seiner Darstellung „von dem Gedanken von Rasse und Volkstum" aus, kündigt Leers bereits im Vorwort an482) und so liest sich auch sein Werk. Es ist bezeichnend, daß sich auch Autoren am Rande des fachwissenschaftlichen Spektrums um die Verbreitung verfassungsgeschichtlicher „Grundkenntnisse" bei den Studenten bemühten. Ein hochgradig nationalsozialistisch durchwirk tes Geschichtsbild wurde demnach als unerläßlich für die Tätigkeit eines nationalsozialistischen „Rechtswahrers" angesehen. Leers und Eckhardt/Rozycki popularisierten darüber hinaus nur diejenigen ,Forschungserträge', die angesehene Historiker und Juristen zum Teil lediglich in besser verhüllter sprachlicher Form vorformuliert hatten. Läßt man den verkürzenden Stil und die aggressive Sprache einmal beiseite, kann man in beiden Werken Geschichtsbilder nachweisen, die in den Grundzügen z. B. auch Hans Erich Feine vertrat. Gerade die Gesamtlinie der Interpretation, das Schema von idealer Urzeit, Niedergang und Erlösung, findet sich in den meisten „Verfassungsgeschichten" nach 1933 einmal mehr, einmal weniger ideologisch verzerrt wieder. Neben der hier vor allem berücksichtigten Lehrbuch-Literatur erschien eine Vielzahl von einzelnen Forschungsarbeiten, die ihre Untersuchung zu bestimmten Abschnitten oder zu Einzelproblemen der Verfassungsgeschichte gleichfalls unter das Diktat der ideologischen Vorgaben des Nationalsozialismus stellten. Ein besonders aussagekräftiges Beispiel hierfür ist die Broschüre des Berliner Juristen Herbert Meyer über „das Wesen des Führertums in der germanischen Verfassungsgeschichte" aus dem Jahr 1938. Die Studie bietet eine bisweilen krude anmutende Mischung von archäologischen, historischen, psychologischen und volkskundlichen Elementen, die darauf hinauslaufen, neben die stets betonte Volksgemeinschaftsidee bei den Germanen das Führertum zu stellen. Die Diktion Meyers spricht für sich, wenn er konstatiert: „Auch Tacitus hebt die furchterregend harten blauen Augen der Germanen hervor. Wie fast überall, hat er auch in diesem Punkt und bei der -
-
480)
Leers: Deutsche Rechtsgeschichte und Deutsches Rechtsdenken, Berlin und Verwaltung, 6). Zur Interpretation vgl. Joachim Rücken: Der Rechtsbegriff der Deutschen Rechtsgeschichte in der NS-Zeit: der Sieg des „Lebens" und des konkreten Ordnungsdenkens, seine Vorgeschichte und seine Nachwirkungen. In: ders./Willoweit, Rechtsgeschichte (1995), S. 177-240, hier S. 184f. 481) [Eva] Rifmmelej: Leers, Johann von. In: Weiß, Lexikon (1998), S.293f. Leers war einer der radikalsten und polemischsten Antisemiten der NS-Zeit. t*2) Leers, Rechtsgeschichte (1939), S.7. 1939
Johann
von
(= Rechtspflege
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V.
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
Schilderung des Führertums die germanischen Verhältnisse treffend gezeichnet."483) Meyer bleibt allerdings nicht in germanischer Zeit stehen, sondern weitet seinen Überblick bis in die Gegenwart aus, wenn er von der „göttlichen Berufung des gebornen Führers" spricht484). Gegen die Annahme von politisch verblendeten' einzelnen Wissenschaftlern spricht das Interesse, auf das Darstellungen von der Art Meyers selbst in
Fachkreisen zählen durften. So widmete der anerkannte Kieler Rechtshistoriker Eugen Wohlhaupter Meyers Studie eine fast fünf Seiten umfassende Besprechung im führenden Fachorgan, der Savigny-Zeitschrift für Rechtsgeschichte. Zwar meinte er, daß nicht alle Ausführungen Meyers Zustimmung fänden, aber im Hinblick auf dessen generelle Forschungsarbeit stellte er im resümierenden Schlußsatz fest, „daß hier eine gewaltige und fruchtbare Arbeit geleistet worden ist, deren Ergebnisse und anregende Kraft nicht übersehen werden dürfen"485).
g) Die Kontroverse über den deutschen Konstitutionalismus: Schmitt und Huber Neben Synthesen und Monographien zu Einzelthemen erschienen auch Broschüren, die eine hohe Verbreitung aufweisen konnten. Eine spektakuläre
Studie zur deutschen Verfassungsgeschichte zählt zu ihnen. Bei dem von Carl Schmitt 1934 publizierten, nur rund fünfzig Seiten schmalen Heft über „Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches" handelte es sich um das am meisten diskutierte verfassungshistorische Werk in der NS-Zeit486). Diskussionsstoff erwuchs aus der Art, wie Schmitt seine Quellen benutzte und aus der Tatsache, daß er Belege unterdrückte, die nicht seiner zentralen These
Die Brisanz der Darstellung ergab sich aus der Deutung des deutschen Konstitutionalismus. Eine solche Bewertung hatte Schmitt zwar bereits in früheren Arbeiten aus der Weimarer Zeit, insbesondere seiner „Verfassungslehre" von 1928, angedeutet, aber nirgendwo so explizit und zugespitzt ausgeführt487). Wie Hans-Christof Kraus herausgestellt hat, radikali-
entsprachen.
483)
Herbert
Meyer: Das
Wesen des Führertums in der
schichte, Wien 1938, S. 23. 484) Ebd., S. 39. 485) Eugen Wohlhaupter: Rez.
germanischen Verfassungsge-
zu Herbert Meyer, Das Wesen des Führertums in der gerVerfassungsgeschichte. In: ZRG/GA 59 (1939), S. 298-302, hier S. 302. 486) Schmitt, Staatsgefüge (1934). Die Entstehung gehe auf intensive Gespräche mit Johannes Popitz, den damaligen preußischen Finanzminister, zurück, gab Schmitt später zu Protokoll. Lutz-Arwed Bentin: Johannes Popitz und Carl Schmitt. Zur wirtschaftlichen Theorie des totalen Staates in Deutschland, München 1972 (= Münchener Studien zur Politik, 19), S. 126. Die wichtigsten Thesen Schmitts enthält bereits ein im März erschienener Vortrag vom 24. Januar 1934: Carl Schmitt: Die Logik der geistigen Unterwerfung. In: Deutsches Volkstum 16 (1934), S. 177-182. W) Insbesondere ders., Verfassungslehre (1928), S. 53-55,63-65,313f.
manischen
2. Neue
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sierte Schmitt aber seine Position nicht nur, sondern er widersprach auch seinen früheren Positionen in markanten Punkten488). Die Kernthese von Schmitts Studie findet sich gleich zu Beginn: „Regierung und Parlament, Staat und Gesellschaft, Heer und Wirtschaft, Soldat und Bürger standen in dem Gesamtgefüge des .konstitutionellen' Preußen in einem Gegensatz, der sich nach der Reichsgründung auch auf das Deutsche Reich übertrug und es politisch und geistig in zwei Teile spalten mußte." Die Spannungen, die dem Soldatenstaat Preußen durch die liberale Bewegung 1848 im konstitutionellen System aufgezwungen worden seien, hätten das gesamte 19. Jahrhundert bestimmt und seien im preußischen Verfassungskonflikt 1862-1866 offen zutage getreten. Dieser Vorgang sei zum „Brennpunkt", zum „Zentralereignis der innerdeutschen Geschichte des letzten Jahrhunderts" geworden, weil in dieser Situation der bis dahin verdeckte Zustand der Verfassung seinen wahren Kern enthüllt habe489). Der Verfassungskonflikt sei nicht entschieden, sondern vertagt worden, der grundsätzliche Gegensatz zwischen König und Bürgertum habe sich in den späteren Debatten um die Heeresvorlagen wiederholt gezeigt. Das Ende des Streits, die Indemnitätsvorlage Bismarcks von 1866, habe noch weit schlimmer als der Scheinkompromiß der preußischen Verfassung von 1850 keinen echten Ausgleich bedeutet, sondern die wahre Verfassungslage lediglich verschleiern können. Der „Dualismus von preußischem Soldatenstaat und bürgerlichem Verfassungsstaat" habe unüberbrückbare Gegensätze hervorgerufen490), die nur durch Bismarck notdürftig überwunden worden seien. Die liberale Verfassung von 1871 sei auf Kosten des Soldatenstaates ins Leben getreten. Nach Bismarcks Entlassung sei das Reich vollends führungs- und regierungslos gewesen. Die ursprünglich innerpreußische Auseinandersetzung habe nun auf das Reich übergegriffen. Als sich die militärische Lage kritisch entwickelt habe, sei der lediglich kompromißhaft überdeckte, nicht aber innerlich überwundene Konflikt zwischen Soldatenstaat und Verfassungsstaat offen ausgebrochen. Die militärische Führung habe in der Defensive gestanden, die Armee sei „führerlos in einen Weltkrieg gezogen"491). Der Zusam-
-
488)
Hans-Christof Kraus: Soldatenstaat oder Verfassungsstaat? Zur Kontroverse zwischen Carl Schmitt und Fritz Härtung über den preußisch-deutschen Konstitutionalismus (1934/35). In: JbGMOD 45 (1999), S. 275-310. 489) Schmitt, Staatsgefüge (1934), S.9f. Eine ausführliche Wiedergabe von Schmitts Gedankengang und Argumentation bei Kraus, Soldatenstaat (1999), S. 278-283. In der übrigen Schmitt-Literatur geht die Broschüre zumeist unter. Dagegen: Hofmann, Legitimität (1992), S.90f.; Lanchester, Schmitt (1986), S.496, 507. Weiterführend vor allem: Blasius, Schmitt (2001), S. 128-141. Annotationen eines Schmitt-Schülers: Günther Krauss: Erinnerungen an Carl Schmitt Teil 4: Neuer Anfang in Berlin. Teil 5: Das Jahr 1934. In: Piet Tommissen (Hg.), Schmittiana II, Brüssel 1990 (= Ecléctica, 79-80), S. 73-111, hier S. 85-89. 490) Schmitt, Staatsgefüge (1934), S. 14. 491) Ebd., S. 24. -
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menbruch von 1918 habe die „Unterwerfung unter das geistige Kriegsziel des Feindes" vollendet492), indem man sich bereits mit der Friedensresolution von 1917 und der Reichsreform vom Oktober 1918 den Rechtsbegriffen des bürgerlichen Verfassungsstaates endgültig gebeugt und 1919 schließlich ein völlig fremdes liberales Regierungssystem eingeführt habe493). Die Weimarer Verfassung sei die „verspätete Auseinandersetzung mit dem nicht mehr vorhandenen preußischen Soldatenstaat", der ,posthume' Sieg der liberalen Demokratie gewesen. Sie stelle nicht einmal eine „Zwischenverfassung" dar, sondern nur noch ein bürgerliches Überbleibsel aus dem Staatsgefüge des zweiten Reiches494). Überhaupt, so ergänzte Schmitt später einmal, seien Konstitutionalismus und Parlamentarismus im Wesen dasselbe495). Der Dualismus von Versailles sei lediglich dem Pluralismus von Weimar gewichen. Der „Preußenschlag" des Jahres 1932 sei ein „Ruhmestag" der deutschen Reichswehr gewesen496), weil Preußen aus dem System des Reiches herausgebrochen worden sei. Die Reichsgerichtsentscheidung habe indes die „Vollendung und Krönung des bürgerlichen Verfassungsdenkens" mit dem Erreichen des „Nullpunktes [...] zur politischen Führung" bedeutet497). Die „Rettung Deutschlands" sei durch die nationalsozialistischen Bewegung erfolgt und von ihrem „politischen Soldaten" Adolf Hitler durchgeführt worden. Führer und Bewegung seien nun auf dem Weg, „das deutsche Volk von der hundertjährigen Verwirrung des bürgerlichen Konstitutionalismus zu befreien und, statt normativer Verfassungsfassaden, das revolutionäre' Werk einer deutschen Staatsordnung in Angriff zu nehmen"498). Der Führerstaat des Nationalsozialismus habe den Gegensatz von Soldatenstaat und Verfassungsstaat aufgehoben, indem die ganze staatliche Macht dem Führer übertragen worden sei.
492) Ebd., S. 42. 493) Die Leitung
des Staates habe bei einem ..Menschentypus" gelegen, „der artmäßig dem bürgerlichen Verfassungsdenken, nicht aber dem preußischen Soldatenstaat zugeordnet war". Ebd., S.22f. 494) Ebd., S. 43. Die Begriffsprägung „Zwischenverfassung" bei Gustav Adolf Walz: Das Ende der Zwischenverfassung. Betrachtungen zur Entstehung des nationalsozialistischen Staates, Stuttgart 1933. 495) Carl Schmitt: Nachwort. In: Lorenz von Stein, Zur Preußischen Verfassungsfrage. Berlin 1940 (= Dokumente zur Morphologie, Symbolik und Geschichte), S. 61-70, hier S. 68f. Darin erläutert er, daß es sich 1850 um eine „sekundäre und nur taktische Kompromißunterscheidung von konstitutioneller und parlamentarischer Monarchie" gehandelt habe. Schmitt betrachtete Stein als posthumen „Kronzeugen" für seine Interpretation der deutschen Verfassungsgeschichte. Den Aufsatz Steins von 1852 entdeckte er aber erst gegen Ende der dreißiger Jahre. Vgl. dazu Blasius, Schmitt (2001), S. 203-213; ders.: Zeitdiagnosen: Carl Schmitt und Lorenz von Stein. In: Der Staat 43 (2004), S. 23-34. Ebd.. der Beleg, daß Schmitt u. a. mit Huber, Forsthoff und Härtung 1942 sowie 1958 mit Böckenförde über den Text Steins gesprochen hat. 4%) Schmitt, Staatsgefüge (1934), S.47. 497) Ebd., S. 49. 498) Ebd.
2. Neue Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
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Geschichtsdeutung der bisherigen deutschen Verfassungsgeschichtsschreibung in mehrfacher Hinsicht in Frage. Zum einen denunzierte er ihre Begriffe als ,artfremd'. Zum anderen erschien der Konstitutionalismus als Regierungssystem nicht mehr als die einzigartige preußischdeutsche Regierungsform, sondern allenfalls als „Scheinkompromiß", den nicht einmal Bismarck vollständig habe beherrschen können. Und indem der Schmitts Studie stellte die
Übergangszustand
des Konstitutionalismus mit seinem führte und die „logische Untereinem Ende parlamentarischen System stellte sich Weimar nicht mehr als auch außenpolitisch akzeptierte, werfung" Kaiserreichs sondern als dessen des dar, Negativfolie Fortsetzung, als letzte der 1866. der Nationalsozivon musste Peripetie Demgegenüber Konsequenz alismus nicht allein Deutschlands Macht und Größe wiederherstellen, wie es auch andere Zeitgenossen und viele Historiker sahen. Darüber hinaus oblagen Führer und Bewegung die Aufgabe, ein ,ehrliches' und nicht kompromißhaftes Regierungssystem einzuführen, das jeden Dualismus vermied und jeden Partikularismus und Pluralismus entschieden zurückwies. Der Führerstaat überwand als Synthese in einer Art Hegelscher Dialektik den Widerspruch zwischen der These Soldatenstaat und der Antithese Verfassungsstaat499). Die Broschüre Schmitts erschien im Frühjahr 1934 als sechstes Heft der von ihm selbst herausgegebenen Reihe „Der deutsche Staat der Gegenwart". Es handelte sich dabei nicht um ein zufällig im Jahr der ,Röhm-Morde' publiziertes Manuskript. Der Inhalt hatte vielmehr ganz pragmatisch die Aufgabe, das vergleichsweise junge Regime Hitlers gegen widerstrebende Gruppen im Innern historisch zu legitimieren und dadurch zu stabilisieren500). Reaktionen standen bei dem provokativen Inhalt zu erwarten. Noch im Herbst desselben Jahres begann Fritz Härtung mit der Abfassung einer längeren Besprechung für die „Historische Zeitschrift". Er hatte sich bereits 1929 ausführlich mit Schmitts „Verfassungslehre" auseinandergesetzt501). Auch Schmitts wissenschaftliche Entwicklung nach 1928 und insbesondere seine Wandlung im Jahre 1933 hatte er genau beobachtet. Als dieser zum Herbst 1933 sein Professorenkollege in Berlin wurde, bemerkte er gegenüber dem Wirtschaftshistoriker Gustav Aubin, er finde es „merkwürdig, wie manche Leute es verstehen, es allen Richtungen recht zu machen. Das gilt ja auch von dem Staatsrat C. Schmitt"502). Im Januar 1934 berichtete er demselben Briefpartner über einen Vortrag des Berliner Ordinarius, den dieser seiner Weimarer Staat den
zu
So die zutreffende Analyse von Kraus, Soldatenstaat (1999), S. 284. So überzeugend Blasius, Schmitt (2001), S. 127f„ der die Empathie Schmitts für politische Situationen beschreibt. Zum Pragmatismus Schmitts: Lanchester, Schmitt (1986), S.507. 501) Siehe oben Kap. IV.3. 502) StaBi Berlin, NL Härtung, LXXIX, 4 (20.9.1933). Im NL Härtung findet sich zudem eine Materialsammlung, die vermutlich zur Vorbereitung der HZ-Miszelle über Schmitt diente: ebd., LVI, 10.
499) 50°)
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Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
späteren Publikation zugrunde legte. Dieser sei, „wie der ganze Schmitt, sehr
und geistreich, aber eben ein Spielen mit Begriffen ohne daß die wirklichen Kräfte des geschichtlichen Lebens zur Anschauung gebracht worden wären, und in den Schlußworten, in denen das Verhältnis von Heer und Staat etwa seit 1930 behandelt wurde, teils Eiertanz, teils unwahr"503). Hartungs Ankündigung einer größeren Rezension stieß beim Herausgeber der „Historischen Zeitschrift" Friedrich Meinecke sogleich auf größtes Interesse. Noch vor Abgabe des Manuskripts schrieb er Härtung, daß er sich „über den in Aussicht gestellten Aufsatz" freue. Und er fügte hinzu: „Das Un- und fast Antihistorische in Seh.s Denk- u. Arbeitsweise ist mir schon längst als Objekt für eine gründliche Auseinandersetzung vor Augen."504) Und nach Empfang der Miszelle äußerte er grundsätzliche Zustimmung und betonte, daß es „der Sinn für die lebendig wandelbaren Kräfte der Geschichte" sei, „worauf
geschickt
es
ankommt"505).
Die Besprechung erschien im Frühjahr 1935. Härtung geht darin mit Schmitt hart ins Gericht. Zwar halte er es, so jedenfalls in einer Art salvatorischer Klausel zu Beginn, für „unvermeidlich, daß vor allem die Geschichte der letzten Jahrzehnte neu untersucht und dargestellt wird". Aber dabei zähle es zu den Grundbedingungen, daß Quellen unvoreingenommen geprüft würden und an Rankes Objektivitätsgebot festgehalten werde. „Sobald ein Forscher von diesen Grundvoraussetzungen unserer wissenschaftlichen Arbeit abweicht, verliert er den festen Boden unter den Füßen und läuft Gefahr, statt eines Abbildes der Vergangenheit ein Zerrbild zu geben, gegen das Einspruch zu erheben die Pflicht einer ihrer Verantwortung bewußten Wissenschaft ist."506) Genau dazu sah sich der Berliner Historiker nunmehr aufgerufen. Härtung wirft Schmitt eine Verkürzung der historischen Realität vor, die seine Darstellung „blaß und unwirklich mache". „Er arbeitet mit blutleeren Schemen statt mit lebendigen Kräften." Dies tue der „Wirklichkeit Gewalt" an507). Quellen würden in „sinnzerstörender Weise [...] zurechtgestutzt", eine „innere Logik" werde „nach [...] Belieben konstruiert"508). Alles in allem sei Schmitts Auffassung „mit der geschichtlichen Wirklichkeit nicht zu vereinigen". Er verwende zudem statt der zeitgenössischen Begriffe solche „aus
503) Ebd., LXXIX, 4 (29.1.1934). Schmitt, Logik (1934).
Dazu ausführlich anhand der Materialien des Schmitt-Nachlasses: Blasius, Schmitt (2001), S. 128-134. 504) StaBi Berlin, NL Härtung, XXXIII, 4 (1.12.1934). 505) Ebd. Druck des Briefes bei Kraus, Soldatenstaat (1999), S.305f. (8.12.1934), hier S. 305. Vgl. dazu auch die Erläuterungen ebd., S. 290f. 506) Fritz Härtung: Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches. In: HZ 151 (1935), S. 528-544. Ausführliche Wiedergabe der Rezension bei Kraus, Soldatenstaat (1999), S. 285-289. Vgl. auch Wiggershaus-Müller, Nationalsozialismus (1999), S. 224-226, 231f; Faulenbach, Revolution (1984), S.364f Erste Notiz von Hartungs Miszelle und den Reaktionen nahm Schochow, Historiker (1983), S.231. 507) Härtung, Staatsgefüge (1935), S. 529f. 508) Ebd., S. 531,534.
2. Neue
Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
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der politischen Terminologie unserer Tage". Hartungs Resümee lautet: Schmitts „Art, Geschichte zu schreiben, ist eine Gefahr für die politische Bildung der heranwachsenden Generation"509). Dieser methodischen Kritik entspricht ein entschiedener Widerspruch Hartungs gegen Schmitt in zentralen inhaltlichen Fragen. So sei die Gegenüberstellung der Antitypen Soldat und Bürger zu knapp und überspitzt, um die historische Realität abzubilden. Auch hätten Staats- und Heeresverfassung keineswegs im Gegensatz zueinander gestanden, sondern sich vielmehr ergänzt. In Wirklichkeit habe der politische Streit zwischen Adel und Bürgertum das 19. Jahrhundert geprägt. Mit der Indemnitätsbitte sei nicht etwa die „Preisgabe des erfochtenen Sieges" erfolgt, „sondern [sie] war die folgerichtige Fortsetzung einer über den sozialen Klassen und den politischen Parteien stehenden, wahrhaft führenden Politik"510). Insgesamt verzerre Schmitt den Ausgangspunkt seiner Argumentation so sehr, daß ihm der Blick für die verfassungspolitische Entwicklung des Kaiserreichs völlig fehle. Er ignoriere wesentliche Kennzeichen der inneren Geschichte und verzeichne vor allem die politischen Strömungen, indem er den Liberalismus nicht differenziert betrachte und Sozialdemokratie und politischen Katholizismus außen vor lasse. Von einer „unbefangenen Betrachtung der Geschichte" könne demnach keine Rede sein511). Härtung bezog gegen eine von Schmitt geplante Umdeutung der letzten hundert Jahre deutscher Verfassungsgeschichte deutlich Stellung. Mit der Versendung von über vierzig Sonderdrucken an seine Kollegen wollte er überdies ein Zeichen setzen512). Die Reaktionen blieben nicht aus. Härtung erhielt Post sowohl von einigen Historikern als auch von verfassungsgeschichtlich interessierten oder selbst auf diesem Gebiet arbeitenden Juristen. Von den Historikern meldete sich neben Meinecke auch Otto Hintze zu Wort. Härtung, so lobte er, habe „die schielende Dialektik des Herrn C. Schmitt mit dem Rüstzeug einer gesunden und vernünftigen historischen Kritik zu überwinden [versucht] und das von ihm entworfene Zerrbild der historischen Zusammenhänge durch eine dem Gegenstand wirklich angemessene (objektive') Auffassung" ersetzt513). Hartungs Freund, Siegfried August Kaehler, be-
so9) Ebd.,S.543f. 51°) Ebd., S. 535. 5n) Ebd., S. 544. 512) Auf der Rückseite des ersten Briefs von Meinecke (1.12.1934) notierte Härtung die
43 vorgesehenen Empfänger von Sonderdrucken. StaBi Berlin, NL Härtung, XXXIII, 4. Dies erklärt die Resonanz, die bei Kraus, Soldatenstaat (1999), S. 290-295, für
insgesamt
die wichtigsten Korrespondenzpartner detailliert wiedergegeben wird. Im Anhang hat Kraus fünf Briefe abgedruckt. Ebd., S. 305-310. Von den mit einem Sonderdruck bedachten reagierten etliche selbst verfassungshistorisch arbeitende Kollegen offenbar nicht bzw. allenfalls mit der Gegengabe eines Sonderdrucks, so u. a. Aubin, Feine, Hinrichs, Mayer, Meisner, Mitteis, Smend und Triepel. Über eine breite Rezeption berichten auch Huber und Schmitt. BA Koblenz, N 1505, Nr. 198 (6.4., 14.4.1935). 513) StaBi Berlin, NL Härtung, XXXIII, 4 (4.4.1935). Druck bei Heinrich, Hintze (1983), S.55f, bes. S.56.
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merkte über den „Anti-Schmitt", diese Kritik werde Schmitt „auch einen der gläubigen Leser kosten [...], auf die es ihm ankommt. Mit der Antithese .Soldat-Bürger' kann die Phantasie angenehm spielen, kann an ihr Enttäuschungen abreagiren u. Hoffnungen konstruktiv nähren"514). Der Philosoph Eduard Spranger fragte: „Weshalb sind so tapfere Schwimmer in dem gräßlichen Strudel so selten!?"515) Die Mehrheit der Reaktionen stammte bezeichnenderweise von Juristen aus dem Öffentlichen Recht bzw. der Rechtsgeschichte. Der Schweizer Rechtshistoriker Hans Fehr schrieb in seiner Karte: „Es ist Zeit, dass die deutsche Wissenschaft gegen Sch.[mitt] Front macht. In der Schweiz glaubt man diesem Manne schon längst nicht mehr. Ihre Kritik zeigt, was einseitige Zuspitzung zu leisten vermag. Alles u. nichts! Das haben Sie an einem klassischen Beispiel bewiesen u. ich danke Ihnen herzlich für die gute Gabe."516) Schließlich erntete Härtung Lob von einer Garde bekannter Staatsrechtler. Gerhard Anschütz, in Heidelberg 1933 freiwillig aus dem Amt geschieden, äußerte seine „grimmige Freude" über die Besprechung und setzte hinzu: „Es wäre schlimm, es wäre ein Armutszeugnis für die Geschichts- wie für die Rechtswissenschaft gewesen (- vielleicht hätte es auch einen Mangel an Schneid u. Zivilkurage bedeutet), wenn sich Niemand gefunden hätte, der ausgerüstet mit voller Sachkenntnis u. Urteilskraft, die Schrift Ihres Gegners als das gekennzeichnet hätte, was sie ist, nämlich als eine jedes Anhalts in den Quellen entbehrende politische Tendenzschrift."517) An Härtung schrieb auch ein dezidierter Schmitt-Gegner: der Jenenser bzw. Münchener Staatsrechtler Otto Koellreutter. Er sprach von einer „glänzenden Kritik". „Da ich bisher fast ganz allein gestanden habe, begrüsse ich es umsomehr, dass gerade Sie vom Standpunkte des Historikers aus die Geschichtskonstruktion Schmitt's unter die Lupe genommen haben." Er nutzte das Schreiben zu einer generellen Einschätzung des wissenschaftspolitischen Einflusses des „Kronjuristen": „Sie werden ja auch die Erfahrung machen, dass Karl Schmitt viel zu feige ist, um sich wissenschaftlich zu wehren sondern dass er sich hinter den Parteiapparat verkriecht." Schmitt sei „der klassische Typus eines politischen Wandervogels", der „ausgerechnet im nationalsozialistischen Staat im Hochschulwesen noch einen grossen Einfluss
StaBi Berlin, NL Härtung, LIX, 2 (23.9.1935). Vgl. auch die positive Reaktion des Direktors der Forschungsanstalt für Kriegs- und Heeresgeschichte, Wolfgang Foerster (17.5.1935). StaBi Berlin, NL Härtung, XXXIII, 4. 515) StaBi Berlin, NL Härtung, LUI, 5 (12.4.1935). Siehe Schochow, Historiker (1983), S.231. 516) StaBi Berlin, NL Härtung, XXXIII, 4 (25.5.1935). Siehe Schochow, Historiker (1983), S.231. Vgl. auch die Zustimmung von Rudolf Hübner aus Jena (1.4.1935). StaBi Berlin, NL Härtung, XXXIII, 4. Druck bei Kraus, Soldatenstaat (1999), S. 307f. 5n) StaBi Berlin, NL Härtung, XXXIII, 4 (12.4.1935). Druck bei Kraus, Soldatenstaat
514)
(1999),S.309f.
2. Neue
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hat, und die ganze Atmosphäre vergiftet. Ich beneide die Berliner nicht
darum."518)
Bemerkenswert ist insbesondere die Stellungnahme des Staatsrechtlers Erich Kaufmann, weil er die Arbeitstechnik Schmitts polemisch vor Augen führt: ,,[D]as Ergebnis wird durch eine behauptete Antithetik vorweggenommen und mit einer bluffartigen glänzenden Formulierung an den Anfang gestellt. [...] Die Zitate und Belege werden willkürlich zusammengetragen [...], nicht einmal Lesefrüchte, sondern Blätterfrüchte, die den Schein ungeheurer Belesenheit und Gelehrsamkeit erwecken. [...] M.E. ist das psychologisch und moralisch Furchtbare der Sache, daß das mit aller Absicht und vollem Bewußtsein geschieht [...], aus einer fast hysterischen intellektuellen Machtgier". Nachdenklich zweifelnd fügte er hinzu: „Ob es in absehbarer Zeit möglich sein wird, diese Methode der Lichtreklame, der Film-Vergröberung und des propagandistischen Einhämmerns aus dem Wissenschaftsbetriebe wieder zu entfernen? In meinem Fach sehe ich schwarz; hoffentlich und fast scheint es so hält sich Ihr Fach besser!"519) Beide Fächer hielten sich, sieht man von Hartungs Reaktion einmal ab, mit Besprechungen von Schmitts Broschüre zurück. Außerhalb der „Historischen Zeitschrift" erschienen Rezensionen hauptsächlich in publizistischen bzw. etwas entlegenen Organen520). Zurückhaltend fielen die Bemerkungen im „Berliner Tageblatt" aus, wo Anfang Juni zu lesen war: „Die Geschichtsbetrachtungen Karl Schmitts sind in ihrer Form und in ihrem Inhalt stets interessant, auch für den, der nicht bereit ist, ihnen vorbehaltlos zu folgen." Schmitts Polemik gegen den Rechtsstaatsbegriff sei „missverständlich"521). Werner Frauendienst, Mitarbeiter an der Bismarck-Ausgabe, wandte sich gegen die „Zuspitzung" in Schmitts These, war aber nicht grundsätzlich anderer Meinung522). Der Oncken-Schüler Egmont Zechlin wies gegen Schmitt auf „die zeitbedingten Notwendigkeiten und die positiven Seiten der Indemnitäts-
-
518)
StaBi Berlin, NL
(1999),S.308f.
Härtung, XXXIII,
4
(4.4.1935).
Druck bei Kraus, Soldatenstaat
519)
StaBi Berlin, NL Härtung, XXXIII, 4 (31.3.1935). Druck bei Kraus, Soldatenstaat (1999), S. 306f. Wie Blasius, Schmitt (2001), S. 129, feststellt, schrieb Kaufmann den Brief am Tag seiner Amtsentsetzung als Hochschullehrer, an der Schmitt hinter den Kulissen
mitwirkte. 520) Die Bemerkung bei Kraus, Soldatenstaat (1999), S. 290, die Reaktion sei „eine interne" gewesen, ist insofern zu relativieren. Er erwähnt insgesamt nur drei Stellungnahmen. Es lassen sich aber insgesamt fast dreißig Rezensionen nachweisen. Die wichtigsten werden im Anschluß genannt. 521) [o.V.]: Neue Legalität. Bemerkungen zu einem Buch von Carl Schmitt. In: Berliner Tageblatt 63 (1934), Nr. 264 vom 7.6.1934. Eine weitere Besprechung in der Tagespublizistik: [Carl Dyrssen]: Bürger- oder Soldatenstaat. In: Schlesische Zeitung 193 (1934), Nr. 263 vom 27.5.1934, S. If. Schmitt wird hier als ein „hervorragender Nationalsozialist" und als „Kronjurist" vorgestellt. 522) Werner Frauendienst: Deutsche Staatsführung. In: Der Weg zur Freiheit 16 (1936), S. 6-10, hier S. 7f„ das Zitat S. 8.
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politik" hin523).
V.
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
Sehr lobend
dagegen
äußerten sich die Rezensenten in den
„Baltischen Monatsheften", im „Deutschen Recht" sowie in der Zeitschrift „Wissen und Wehr"524). Positiv zurückhaltend verfuhr Gottfried Neeße in der „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft". Er hob vor allem hervor, daß Schmitt „die innere Einheitlichkeit des wilhelminischen und des weimarischen
.Systems'" aufgezeigt habe
und stimmte damit einer der zentralen Thesen
zu525).
Hartungs Kritik wurde in der Zeitschrift „Deutsches Volkstum" aufs Korn genommen: Die Berufung auf Objektivität lasse sich erkennen als „Ausfluß der naiven Ineinssetzung der eigenen politischen Stellungnahme mit dem Bilde der historischen Gegebenheiten"526). Johannes Heckel meinte in den „Deutschen Verwaltungsblättern", daß Härtung „trotz quellenkritischer Berichtigungen und historischer Ergänzungen die rechtsdogmatischen Feststellungen Schmitts nicht berührt habe" und insofern „die Verschiedenheit der wissenschaftlichen Methode wie des politischen Urteils, vor allem aber auf einem tiefen Gegensatz der Weltanschauung und des Rechtssinns" beruhten527). Kritik an Schmitt äußerte dagegen wenig überraschend Helmuth Croon in Hartungs ,Hausorgan', den „Jahresberichten für deutsche Geschichte". Croon warf Schmitt eine „völlige Verzeichnung des geschichtlichen Geschehens" vor, nicht zuletzt weil dieser „Gegensätze" sehe, „wo keine sind"528). Die „rein antithetische Betrachtungsweise" des Berliner Juristen fand auch Reinhard Hohns Mitarbeiter Heinrich Muth problematisch529). -
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523) Egmont Zechlin: Zur Kritik und Wertung des Bismarckreiches. In: Neue Jbb. für Wis-
senschaft und Jugendbildung 10 (1934), S. 538-547, hier S. 539. 524) [o.V]: Die Arbeit am neuen deutschen Recht. In: Baltische Monatshefte 35 (1935), S. 361-363, hier S.362; Hartmann. In: Deutsches Recht 5 (1935), S.263; [Hans] Gackenholz. In: Wissen und Wehr 1934, S. 696. Das Lob reicht von „genial" über „meisterhafte Schrift" bis hin zu „Überzeugungskraft", der man sich „kaum entziehen kann". Insofern ist die Annahme bei Kraus, Soldatenstaat (1999), S.294, es sei keine „ernstzunehmende positive Reaktion" bekannt, einzuschränken. 525) Neeße, Schrifttum (1936), S.392. Huber ließ im übrigen einen Kieler Promovenden die Kontroverse prüfen. Justus Ide: Die Entwicklung der preußischen Armee als Verfassungsbestandteil vom Tode Friedrichs II. bis zur Gründung des Norddeutschen Bundes, jur. Diss., Kiel 1936, S. 78-81, der allerdings zu Schmitts Ansichten tendierte. 526) [Fff u. G.]: Die Objektivität des Fehlschlusses. In: Deutsches Volkstum 17 (1935), S. 408f. Ob es sich bei dem Autor um Ernst Forsthoff handelt, wie Kaminski meint, ist zweifelhaft. Kurt Kaminski: Verfassung und Verfassungskonflikt in Preußen 1862-1866. Ein Beitrag zu den politischen Kernfragen von Bismarcks Reichsgründung, Königsberg/ Berlin 1938 (= Schriften der Albertus-Universität. Geisteswissenschaftliche Reihe, 13), S. 2f. 527) Johannes Heckel: Wehrpflicht und Verfassung. In: DVB1 83 (1935), S. 158-164, hier S. 159, Anm. 6. Heckel setzt sich aber im Laufe des Aufsatzes in mancher Hinsicht seinerseits von Schmitt ab, so u.a. ebd., S. 160, in der Einschätzung des Verfassungskonflikts. 1939 allerdings schloß er sich bei der Beurteilung der Reichsverfassung von 1871 Schmitt gegen Huber an. Ders.: Wehrverfassung und Wehrmacht des Großdeutschen Reiches. Tl. 1: Gestalt und Recht der Wehrmacht. Der Waffendienst, Hamburg 1939, S. 40f, Anm. 16. 528) Croon, Verfassungsgeschichte (1934/35), S. 410. 529) Muth, Staatswissenschaft (1937), S. 352.
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Härtung hatte im übrigen seinem Kontrahenten einen Sonderdruck zugeleitet, auf den Schmitt ursprünglich reagieren wollte, dann aber seinen Briefentwurf offenbar nicht absandte. Er stellte in scharfem Ton fest: „Meine Abhandlung sieht die Entwicklung zum Staate Adolf Hitlers im Lichte eigener geschichtlicher Wahrnehmungen und Erfahrungen. [...] Daher habe ich auch das Recht, meinen wissenschaftlichen Weg weiterzugehen und zu Ihrem Aufsatz zu schweigen"530). Härtung selbst äußerte sich im nachhinein stolz über seine öffentlich bekundeten Einwände. Er habe Schmitt „ausgiebig zerpflückt", schrieb er an seinen Kollegen Friedrich Thimme531). Albert Brackmann gegenüber betonte er seine methodischen Einwände: „[Vielfach haben die Juristen einen anderen Kopf als wir Historiker, namentlich wenn sie ihre juristische Logik an die Stelle der Quellen setzen wollen."532) Gegenüber Kaehler bezog er anläßlich des Angriffs von Walter Frank gegen Hermann Oncken533) noch einmal deutlich Position: „Ich kann nicht auf einmal mit meinem historischen Denken aufhören und politische Propaganda treiben. Ich könnte es auch nicht, wenn ich in meinem demnächst erscheinenden Artikel in der HZ nicht gerade für die Objektivität eingetreten wäre. Denn ich würde darin nicht nur mich selbst verleugnen müssen, sondern auch bewußt zum Ruin der deutschen Wissenschaft beitragen. Ich erkenne das Recht der jungen Generation, eine ihr gemäße Art der Geschichtsschreibung zu schaffen, grundsätzlich an. Aber was ich von ihren Leistungen bisher gesehen habe, verstößt gegen die Grundbegriffe der Wissenschaft und ist auch politisch sehr fragwürdig."534) Auf Koellreutters Anfrage, ob Schmitt auf die Rezension reagiert habe, antwortete Härtung: „Ich bin zwar nie so liberal gewesen, wie manche Leute aus meinem Aufsatz gegen C. Schmitt herauslesen, in dem die Ablehnung der willkürlichen Konstruktion von S. meine stets geübte Kritik an dem politischen Versagen des deutschen Liberalismus nicht hat deutlich werden lassen. Aber ich gehöre doch zu der älteren Generation der Historiker, die in der Objektivität keine Schwäche sondern ein erstrebenswertes Ziel sieht. Schmitt hat sich, so weit mir bekannt ist, bisher in Stillschweigen gehüllt. Ob er hintenherum gegen mich arbeitet, ahne ich nicht."535) 53°)
HStA Düsseldorf, NL Schmitt, RW 265, Nr. 13069 (Entwurf, 9.4.1935). Der Brief Hartungs ist ebensowenig überliefert wie ein abgesandtes Schreiben Schmitts. Dazu: Kraus, Solda-
(1999), S. 295 u. Anm. 87. Das Verhältnis von Schmitt und Härtung war zwar zwischenzeitlich gestört, konnte aber 1941 offenbar wiederhergestellt werden. Siehe ebd., S.295f. 531) BA Koblenz, N 1058, Nr. 8 (3.7.1935). Wilhelm Mommsen teilte er zwei Jahre später mit, er habe „s. Zt. trotz Bedenken von Meinecke den inzwischen abgesägten C. Schmitt angegriffen". StaBi Berlin, NL Härtung, LIX, 19 (23.2.1937). 532) GStA Berlin, Rep. 92, NL Brackmann, Nr. U, fol. 150 (31.12.1934). 533) Zu diesem vielleicht bekanntesten Vorfall in der Geschichtswissenschaft während der NS-Zeit: Heiber, Frank (1966), S. 172-212. 534) ÜB Göttingen, NL Kaehler, Nr. 1, 59 (9.2.1935). 535) StaBi Berlin, NL Härtung, LIX, 7 (30.5.1935). Koellreutters Frage findet sich in einem Schreiben vom 27.5.1935. Er wollte Härtung für einen Grundriß-Band über die politische Geschichte der letzten hundert Jahre gewinnen, was dieser aber ablehnte, weil er nicht so schreiben könne, „wie es heute gewünscht wird". Ebd. tenstaat
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In jedem Fall war die Rezension Hartungs Thema im Briefwechsel zwischen Schmitt und Huber. Anfang April schrieb Schmitt: Der Aufsatz Hartungs habe auf ihn „keinen Eindruck gemacht; ich wundere mich nur, mit welcher perfekten Ahnungslosigkeit diese Historiker ihr eigenes Todesurteil aussprechen und vollziehen. Gerade die Schrift ,Staatsgefüge und Zusammenbruch' ist doch, wie Sie wissen, aus der intensivsten Beobachtung und Teilnahme an den geschichtlichen Ereignissen der letzten Jahre entstanden. Deshalb hatte ich vermutet, daß gerade ein Historiker den geschichtlichen Ernst einer solchen Schrift verstehen würde. Aber vielleicht verhält es sich eben umgekehrt und erscheint diese Art von Beteiligung unseren Historikern instinktiv als etwas unwissenschaftliches' und sogar ungebildetes'." Huber berichtete in seiner Antwort, die Besprechung habe „einigen älteren Herren" nicht aber den „Jüngeren" imponiert. „Ich bekam die Rezension erst dieser Tage zur Hand, und ich kann nur sagen, daß ich mehr erwartet hätte. So schlecht war das zweite Reich nicht, daß es nicht bessere Verteidiger verdient hätte! Man müßte sich eine Gegnerschaft Treitschkes gegen Ihre Arbeit vorstellen, um die Vision eines wissenschaftlichen Kampfes zu haben. So bleibt es bei einer kleinlichen Rechthaberei. Ein Historiker, der heute bei gesicherten Ergebnissen' stehen bleibt, der nicht jede geschichtliche Epoche neu zu sehen vermag, ist ein schlechter Repräsentant des deutschen Geistes."536) Die Debatte um die Schrift Carl Schmitts verstummte nach den ersten stürmischen, wenn auch vielfach nur internen Reaktionen spätestens nach etwa einem Jahr fast ganz. Allein die Arbeit des Königsberger Juristen Kurt Kaminski über den preußischen Verfassungskonflikt kam zwangsläufig noch einmal auf die Kontroverse zu sprechen. Der Verfasser schloß sich für einen Ritterbusch-Schüler wenig verwunderlich Schmitt weitgehend an537). Der Berliner Ordinarius selbst vermied es, in seinem programmatischen Aufsatz ,,[ü]ber die neuen Aufgaben der Verfassungsgeschichte" explizit auf Hartungs Gegenrede einzugehen. Allerdings monierte er vielsagend und für die Eingeweihten leicht durchschaubar: „Der rechtwissenschaftlich weniger geübte und weniger gebildete ,reine' Historiker der nahen Vergangenheit ist hier oft der Gefahr erlegen, solche überlieferten festen Vorstellungen als unbestreitbare Wirklichkeiten hinzunehmen und seine Objektivität darin zu erblicken, daß er sich ihrer ohne gründliche rechtwissenschaftliche Kritik bedient."538) Über die von Schmitt aufgeworfene Frage des deutschen Konstitutionalismus entspann sich seit Ende der dreißiger Jahre eine Diskussion, welche die Bewertung des preußischen Verfassungskonflikts und der Bismarckschen Reichsverfassung in das Zentrum des Interesses rückte. Beteiligt daran war -
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536) BA Koblenz, N 1505, Nr. 198 (6.4. und 14.4.1935). 537) Kaminski, Verfassung (1938). Die Beurteilung bei Kraus, Soldatenstaat (1999), S. 297. Kaminski und Schmitt kündigten eine konflikt an, die allerdings nie erschien. 538) Schmitt, Aufgaben (1936), S. 231.
eigene
Studie Ritterbuschs über den
Verfassungs-
2. Neue
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als Kontrahent von Schmitt nunmehr sein eigener Schüler: der inzwischen hauptsächlich über verfassungsgeschichtliche Fragen arbeitende Staatsrechtler Ernst Rudolf Huber. Huber bezog in seinem Werk „Heer und Staat in der deutschen Geschichte" aus dem Jahr 1938 auch zur Frage des preußischen Verfassungskonflikts und zum Problem des Konstitutionalismus Stellung. Es wirkt zunächst wenig überraschend, daß Huber auf den verfassungsgeschichtlichen Arbeiten seines Lehrers aufbaut. Aber bei näherem Hinsehen ergibt sich, daß er auf deren Basis in den Einzelheiten andere Schlüsse zieht und zu abweichenden Ergebnissen gelangt539). Für Huber stellt sich die preußische Verfassung von 1850 weder als „dilatorischer Kompromiß" noch als „Scheinkompromiß" dar, wie Schmitt sie beurteilt540). Der Mangel dieser Deutung liege darin, daß sie die geschriebene Verfassung zum Maßstab nehme, während tatsächlich doch wie gerade Schmitt gezeigt habe „nicht die Verfassungsnorm, sondern die Verfassungswirklichkeit [...] die wahre Verfassung" sei541). Von dieser Voraussetzung ausgehend, folgert Huber: „Das Prinzip der Verfassung [von 1850] war die Königsherrschaft; die Einfluß- und Mitwirkungsrechte der Volksvertretung waren bloße Modifikationen dieses politischen Grundsatzes."542) Somit habe die preußische Verfassung „auf der echten, unabhängigen Königsgewalt" beruht, die als „wirkliche Herrschaft [...] eine umfassende und durchdringende, autoritäre politische Gewalt darstellte"543). Auch bei der Beurteilung des Verfassungskonflikts gelangt Huber zu anderen Resultaten als Schmitt. Der Streit sei primär „wehrrechtlicher Art" gewesen und nicht etwa budgetrechtlicher544). Es habe sich um den Versuch des Radikalliberalismus gehandelt, das Scheitern der Revolution von 1848/49 zu revidieren. „Das Ergebnis war die fortbestehende Scheidung der militärischen Ordnung von den parlamentarischen Institutionen der geschriebenen Verfassung." Staat und Heer wurden sowohl „vor der Erstarrung im Absolutismus wie vor dem Zerfall im Parlamentarismus bewahrt"545). Das Parlament habe seine Niederlage im Verfassungsstreit mit der Annahme der Indemnität anerkannt546). In Abwandlung eines Diktums von Schmitt stellt er fest: „Souverän ist, wer über die Wehrmacht gebietet"547). Da dies weiterhin der König gewesen sei, sei die Indemnitätsbitte nicht etwa ein „Scheinkompromiß", sondern nur ein scheinbarer Kompromiß gewesen. Auch in der späteren Reichsver-
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539) 54°) 541) 542) 543) 544) 545) 546)
Mit ähnlicher Deutung: Kraus, Soldatenstaat (1999), S. 297-299. Huber, Heer (1938), S. 181, 183. Ebd., S. 187 u. Anm. 1. Ebd., S. 181. Ebd., S. 185. Ebd., S. 208,239. Ebd., S.242f. Ebd., S. 234f., der unmittelbare Widerspruch zu Schmitt und die gehende Polemik Hartungs wird ebd., S.225, Anm. 1 u. 2, erklärt. 547) Ebd., S. 245.
am
Kern vorbei-
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fassung habe hinter den „parteienstaatlich-parlamentarischen" Kräften die „einseitige Entscheidungsgewalt des Kaisers als Ordnung und Einheit bewahrende, politische Grundkraft" gestanden548). Beim militärischen Oberbefehl habe es sich um keinen „dilatorischen Kompromiß", sondern um einen „echten Kompromiß" gehandelt549). Die Verfassung von 1871 sei selbst mit ihrem „hegemonialen Föderalismus" keine gelungene Konstruktion gewesen, stellte Huber bereits 1934 fest, sie habe schlichtweg „versagt"550). Bismarck habe erst auf der Grundlage seines Erfolges im Verfassungsstreit sein „großes Werk der nationalen Einigung" durchführen können551). Aber nach seiner Entlassung sei eine „allgemeine politische Lähmung" des Reiches eingetreten552). Die „Einbrüche des parlamentarischen Denkens" seien immer stärker geworden und hätten schließlich die „zerfahrene Lage dieser Spätzeit des wilhelminischen Systems" hervorgerufen553). Anders als Schmitt, der in den Vorgängen von 1866 den entscheidenden Wendepunkt für die spätere Entwicklung sieht, vollzieht sich für Huber in den Jahren 1888/90 die „Verfassungswende"554). Die „wirkliche Königsherrschaft [war] erloschen", die Jahre bis 1918 seien durch einen „unverhüllten Gegensatz zwischen der Wehrordnung und der bürgerlichen Verfassung" gekennzeichnet555). Auch wenn sie die Zäsur ganz verschieden datieren, in der Diagnose sind sich Schmitt und Huber immerhin einig: Der Gegensatz von militärischen und bürgerlichen Elementen in der Verfassungswirklichkeit habe Kriegsniederlage und Systemwechsel maßgeblich verursacht. Während Schmitt 1939 seine Thesen
von
1934
nur
leicht variierend wieder1940 über die „Verfas-
holte556), blieb auch Huber in einer Rede des Jahres
des Kaiserreichs auf seinem einmal eingeschlagenen ArgumenWeiterhin spricht er von der 1850 erhalten gebliebenen Königsherrschaft, vom „Sieg" Bismarcks im Verfassungsstreit und von dem nach 1871 errichteten „Kanzlersystem"558). Die Wende sei 1890 in Gestalt einer „folgenschweren Änderung der materiellen Verfassung" eingetreten, indem
sungskrisen"
tationsweg557).
548) 549) 55°) 551) 552)
Ebd., S. 260. Ebd., S. 255. Ders., Rez. Demmler (1934), S. 1553. Ders., Heer (1938), S. 238. Ebd., S. 280. 553) Ebd., S. 310. 554) Ebd.,S.317f.,395. 555) Ebd.,S.318f.
556)
Carl Schmitt: Neutralität und Neutralisierungen. Zu Christoph Steding „Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur". In: ders., Positionen und Begriffe (1940), S. 271-295, hier S. 275-284. Er wertete Hubers Einwände darin als „Bestätigung", behielt sich aber „eine ausführliche Darlegung" vor. Ebd., S.277, Anm. 1. Siehe dazu: Kraus, Soldatenstaat (1999), S. 299-302. 557) Huber, Verfassungskrisen (1940), sowie ders., Kraft (1940), S. 6f. 558) Ders., Verfassungskrisen (1940), S. 13.
2. Neue
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das „persönliche Regiment" das Kanzlersystem abgelöst habe559). Seitdem habe eine „Dauerkrise" für Staat und Verfassung nur „durch die verfassungserhaltenden Elemente des Heeres und des Beamtentums über ein Vierteljahrhundert hin aufgehalten werden" können560). Der Zusammenbruch der Monarchie 1918 sei nur eine Frage der inneren Logik gewesen. Carl Schmitt und Ernst Rudolf Huber legten in sich geschlossene Interpretationen der Staatsform des deutschen Konstitutionalismus vor, die sich in zwei wesentlichen Punkten voneinander unterschieden, ja sich diametral gegenüberstanden und widersprachen. Dies war zunächst die Frage der Stabilität und der Eigenständigkeit des konstitutionellen Systems. Schmitt sprach mit Blick auf die Verfassungen in Preußen 1850 und im Reich 1871 von Schein- bzw. Formelkompromissen. Huber dagegen betonte die Durchsetzung der Königsherrschaft als Verfassungsprinzip in beiden Konstitutionen, das allerdings nur solange ein stabiles System gewährleistet habe, wie es von einem virtuosen Kanzler in Gestalt Bismarcks beherrscht worden sei. Die zweite Differenz zwischen Huber und Schmitt zeigte sich in der Frage, wo sie die entscheidende Zäsur für den Niedergang von Staatsform und Regierungssystem sahen. Schmitt plädierte für das Jahr 1866, in dem durch den Verfassungsstreit die Machtbalance zugunsten des Verfassungsstaates und gegen den Soldatenstaat entschieden worden sei. Danach habe der Verfall der monarchischen Regierungsgewalt eingesetzt. Huber dagegen sah im Königtum den Sieger des Jahres 1866 und diagnostizierte eine Verfassungswende erst in den Jahren 1888/90. Vorher habe Bismarck den Staat trotz zentrifugaler Kräfte zusammengehalten. Mit Kaisertod und Kanzlersturz sei der Konstitutionalismus allerdings von einer Krise in die nächste geraten, was schließlich zu Kriegsniederlage und Regimewechsel geführt habe. Für Schmitt war der Konstitutionalismus aus der Sicht des Jahres 1934 nur eine Zwischenlösung, eine Übergangsform zwischen Absolutismus und Parlamentarismus. Huber dagegen betonte 1941 in einer ausführlichen Besprechung eines Sammelbandes von Schmitt noch einmal: „Konstitutionalismus war in Deutschland in der Zeit Bismarcks, also durch 30 Jahre hin, eine lebendige Wirklichkeit und eine tragfähige, leistungsstarke politische Form." „Der Konstitutionalismus", so Huber, war „in seinem besonderen, dem westeuropäischen Parlamentarismus entgegengesetzten ,deutschen Stil' die adäquate Form des ,Verfassungsstaates' in Deutschland". Dagegen habe es „einen lebendigen und echten Parlamentarismus in Deutschland überhaupt nicht gegeben; der Parlamentarismus war tot, als er sich in der Weimarer Verfassung erfüllte, und sein Sieg war ein bloßer Scheinsieg"561).
559) Ebd., S. 20. 56°) Ebd., S. 25. 561) Huber, Positionen (1941), S. 18-21, die Zitate S.20f. Eine weitere deutliche Differenz
sich in der Beurteilung Preußens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Schmitt positiv, Huber ganz negativ sieht. Ebd., S. 10.
zeigt
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Es ist eine nicht eindeutig zu beantwortende Frage, welche Sichtweise, diejenige von Schmitt oder die Hubers, sich nach 1940 in der Verfassungsgeschichtsschreibung schließlich durchgesetzt hat. Zu wenige einschlägige verfassungshistorische Arbeiten liegen vor, um ein definitives Urteil zu fällen. Zumindest aber läßt sich konstatieren, daß bereits nach 1934 die Rezeption von Schmitts „Staatsgefüge" in der Geschichtswissenschaft gering gewesen zu sein scheint. Generell zeigten sich bei vielen Historikern Aversionen gegen den äußerst forschen und kämpferischen Stil des Nicht-Fachhistorikers562). Es ist bezeichnend, daß Gerhard Ritter 1941 seinem von den Nationalsozialisten verdrängten Kollegen Hermann Oncken schrieb, „dass wir Historiker die Pflicht haben, den Staatstheoretikern von der Art Karl Schmitts [...] das Feld bei der Bearbeitung politischer Lebensfragen nicht allein zu überlas-
sen"563).
In der Sache selbst ist für die Juristen festzustellen, daß beispielsweise Georg Dahm, Hubers Straßburger Kollege, in seinem Überblickswerk über das „Deutsche Recht" aus dem Jahr 1944 sich mit Blick auf den preußischen Verfassungskonflikt und die Konstitutionalismus-Deutung eindeutig für Huber und gegen Schmitt aussprach564). Dem schloß sich bei allen sonstigen Vorbehalten gegen Huber Heinrich Muth aus dem Umkreis von Reinhard Höhn an565). Und auch Ernst Forsthoff und Hans Erich Feine entschieden sich in ihren Grundrissen bei der Kontroverse um den deutschen Konstitutionalismus für Hubers Sicht566). Der berufenste Fachmann für eine Stellungnahme zum Streit um den deutschen Konstitutionalismus wäre Fritz Härtung gewesen. Aber aus unbekannten Gründen hielt er sich zurück. Er betonte, daß „der ganze preußischdeutsche Konstitutionalismus dualistisch blieb" und „der Pluralismus von politischer und militärischer Führung, von innerer und äußerer Politik vor und in dem Weltkrieg gezeigt hat", daß in der Regelung der militärischen Exekutive ein Problem für das „gesamte Gefüge des Kaiserreichs" bestanden habe567). In Fortführung der Thesen Hintzes stellte er fest, daß der Konstitutionalismus „eine selbständige, auf den besonderen Lebensbedingungen des deutschen Staatswesens beruhende Weiterführung des monarchischen Absolutismus" gewesen sei. Auch in Preußen habe nach 1850 und nach 1866 trotz aller Anstrengungen der Liberalen ein „monarchisches Übergewicht" be-
-
562) Zum „drastischen" („drástica") Stil Schmitts, der damit die Verfassungsgeschichte gleichsam „entweiht" („dissacratore") habe: Lanchester, Schmitt (1986), S.508. 5«) BA Koblenz, N 1166, Nr. 488 (27.2.1941). 564) Georg Dahm: Deutsches Recht, Hamburg 1944 (= Grundzüge der Rechts- und Wirtschaftswissenschaft.
Rechtswissenschaft, A), S. 186,191,
194.
565) Muth, Staatswissenschaft (1937), S. 350-352. 566) Forsthoff, Verfassungsgeschichte (1940), S. 187; Feine, Verfassungsgeschichte (1940), S.91. Fritz Härtung: Rez. zu H.[einrich] HZ 163 (1941), S. 372-375, hier S. 374f.
567)
OJtto] Meisner, Der Kriegsminister 1814-1914. In:
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285
standen568). Selbst wenn dies eine Entscheidung zugunsten von Huber erah-
läßt letztlich ging Härtung nicht explizit auf die Kontroverse zwischen den beiden Staatsrechtslehrern ein. Schmitt und Huber haben sich mündlich und schriftlich über ihre kontroverse Deutung ausgetauscht, ohne sich letztlich einigen zu können. Bismarck habe, so versicherte Huber gegenüber Schmitt in einem Schreiben von 1939, das Problem einer dauerhaften Stabilisierung der inneren Verfassung nicht gelöst. Die .wahrhaft gute' innere Verfassung beruhe nämlich „nicht auf Institutionen oder Ideologien, sondern auf Auslese und Haltung"569). Von Hubers Leipziger Vortrag über die „Verfassungskrisen" war Schmitt seinerseits sehr angetan. „Man müßte von diesem Aufsatz aus eine neue Verfassungsgeschichte des Zweiten Reiches schreiben", äußerte er gegenüber Huber im Mai 1940570). Ein Jahr später gab Huber das Kompliment zurück. Angesichts von Schmitts Wiederentdeckung und Edition einer 1852 entstandenen Studie Lorenz von Steins „zur preußischen Verfassungsfrage" schrieb er: „Die deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung und Verfassungstheorie müßte unter dem Eindruck dieser Arbeit in eine neue Phase treten, und nichts zeigt den neuen Anfang, an dem wir in der Verfassungswissenschaft stehen, deutlicher, als daß erst jetzt das Verständnis für diesen Aufsatz zu reifen beginnt."571) Weder Schmitt noch Huber schrieben in diesen Jahren eine solche neue Verfassungsgeschichte. Aber es ist anzunehmen, daß bei Huber in dieser Zeit erstmals Ideen für eine umfassende Sicht der deutschen Verfassungsgeschichte reiften, die dann 1944 in seine entstehende Gesamtdarstellung einflössen. Die „Studien über den Volksgedanken [...] fesseln mich durch den Zauber, den die antiquarischen Gegenstände ausstrahlen", schrieb er seinem Lehrer Schmitt 1943. Während für Schmitt die Probleme des Konstitutionalismus nicht geschichtlich, sondern nur aktuell in der Auseinandersetzung mit England zu lösen waren572), inspirierte gerade die Gegenwart die verfassungshistorischen Gedanken Hubers. „So lehrt die Verfassungsgeschichte uns nur die Probleme, aber nicht die Lösungen erkennen."573) Huber beabsichtigte eine generelle theoretische Grundlegung einer politischen Verfassungswissenschaft. Dies zeigt eine Briefpassage an Schmitt: Er habe, berichtete Huber in seinem Weihnachtsbrief von 1940, „in einem intimeren Kreis von Historikern und Philosophen über den Konstitutionalismus" nen
-
568)
Ders.: Die Entwicklung der Konstitutionellen Monarchie in Europa. In: ders., Volk und Staat in der deutschen Geschichte. Gesammelte Abhandlungen, Leipzig 1940, S. 183-229 [zuerst 1939], hier S. 186,212,217,218,223. 569) HStA Düsseldorf, NL Schmitt, RW 265, Nr. 6269 (30.5.1939). 57°) Ebd., Nr. 13101 (2.5.1940). 571) Ebd., Nr. 6272 (1.5.1941). Schmitt selbst hatte in seinem Nachwort betont, daß die Schrift Steins die Grundlage „für eine wirkliche Geschichte des deutschen Konstitutionalismus und Parlamentarismus" bilde. Schmitt, Nachwort (1940), S. 70. 572) BA Koblenz, N 1505, Nr. 198 (an Huber, 4.11.1940). 573) Ebd. (an Schmitt, 11.11.1941).
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gesprochen. Dabei sei ihm klar geworden, daß „die wichtigste wissenschaftliche Aufgabe der nächsten Zukunft" darin bestehe, „eine wirkliche Theorie der Politik zu entwickeln". Bisher fehlten nämlich „alle echten Begriffe". „Denn dass das ideologische Gerede über Führung und Gemeinschaft, zu dem sich die Wissenschaft bemüssigt gesehen hat, mit echter Theorie und wirklicher Begrifflichkeit nichts zu tun hat, bedarf kaum der Feststellung. Da ich, wie ich
gerne bekenne, als Wissenschaftler konservativ' bin [...], d. h. genauer, da ich die Tradition deutscher Wissenschaft in mir lebendig weiss ebenso wie ich unser Volk in seinen wirklichen Ordnungen durch lange Überlieferungen bestimmt empfinde, scheint es mir notwendig, auch für eine neue politische Theorie überlieferte Fundamentalbegriffe fruchtbar zu machen". Ausgerechnet dem Begriffs-,Fetischisten' Schmitt schrieb er mit wenig Zurückhaltung ins Stammbuch: „Heute scheint es mir fast, Sie hätten richtiger getan, 1934 an dem Begriff des institutionellen Denkens festzuhalten, statt vom konkreten Ordnungsdenken zu sprechen". So wäre Mißbrauch vermieden worden und „präziser bezeichnet [gewesen], [...] woran es uns fehlt. Im Mangel an echten Institutionen sehe ich unser eigentliches Verfassungsproblem."574)
h) Das Problem der Politisierung der Verfassungsgeschichte: Fritz Härtung Mit politischen Urteilen hielten sich die Verfassungshistoriker generell nicht
zurück. Sie taten dies teils aus Überzeugung, teil aus taktischem Kalkül, bisweilen aus beiden Motiven. Die offenen Bekenntnisse zum Nationalsozialismus wie sie Feine, Huber und seltener oder nur vorübergehend Forsthoff und Härtung äußerten, wurden selbstverständlich gerne gesehen. Kritik an den Ausfällen einzelner SS-Ideologen, wie sie bei Huber punktuell, ganz zurückhaltend und zuweilen indirekt anklingt, wurde aber zumeist nur hinter vorgehaltener Hand geäußert. Offene Angriffe gegen das Regime führten schnell zu Repressionen, die bei Hochschullehrern nicht selten zur Versetzung an eine andere Hochschule führten. Unter den verfassungshistorisch arbeitenden Juristen waren Heinrich Mitteis und Ernst Forsthoff von derartigen Zwangsmaßnahmen betroffen. Beide wurden mehrfach ,strafversetzt'. Als Beispiel für eine intern kritische Haltung ist dagegen auf Fritz Härtung zu verweisen. Ganz unbekannt blieb eine partielle politische Reserviertheit Hartungs auch den NS-Dozentenbundführungen nicht. Nicht nur in den Kreisen der SS zeigte sich eine deutliche Reserve gegen die „ältere Generation deutschnationaler Historiker", zu denen man Härtung ebenso wie Erich Marcks oder Arnold Oskar Meyer zählte575). Reichsdozentenbundsführer Walther HStA Düsseldorf, NL Schmitt, RW 265, Nr. 6271 (23.12.1940). Hermann Löffler: Entwicklung und Aufgaben der Geschichtswissenschaft in Deutschland. In: Joachim Lerchenmüller: Die Geschichtswissenschaft in den Planungen des Sicherheitsdienstes der SS. Der SD-Historiker Hermann Löffler und seine Denkschrift „Entwicklung und Aufgaben der Geschichtswissenschaft in Deutschland", Bonn 2001 (= AfS, Beih. 21), S. 189-239, hier S. 213.
574) 575)
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Schultze576) beispielsweise stellte 1941 fest, der Berliner Lehrstuhlinhaber ge-
höre „zu den führenden Historikern der älteren Generation" und vertrete in seinen „gross angelegten und gründlichen Arbeiten [...] einen ausgesprochenen preussischen Standpunkt". Und er fuhr fort: „Charakterlich ist Prof. Härtung durch unbestechliche Ehrenhaftigkeit gekennzeichnet. Er hat niemals einen Hehl daraus gemacht, dass er im Innersten den Nationalsozialismus nicht mehr voll in sich aufnehmen könne. Dabei bemüht er sich offenkundig bei aller Zurückhaltung um ein Verstehen der jüngeren nationalsozialistischen Generationen und ihrer Wissenschaft. Auch hat er früher in schwierigen Jahren der Bewegung aus seinem starken Gerechtigkeitssinn manchmal Nationalsozialisten beigestanden. [...] Seine weltanschauliche Haltung ist daher als durchaus loyal aber durch frühere Tradition begrenzt zu bezeichnen"577). In der Sichtweise des Sicherheitsdienstes der SS wurde diese „begrenzte Loyalität" selbstverständlich erheblich kritischer beurteilt: Härtung gehöre zu den „Gegnern einer weltanschaulich-politisch ausgerichteten Geschichtswissenschaft"578). Der Verfassungshistoriker stand tatsächlich in vieler Hinsicht für diejenigen Angehörigen seiner Generation, die sich mehrheitlich äußerlich anpaßten, ohne aber mit voller innerer Überzeugung Anhänger des Nationalsozialismus zu werden. Es finden sich aber auch diverse Belege für eine teilweise nonkonforme Haltung Hartungs gegenüber den Nationalsozialisten579). So teilte er zwar antisemitische Ressentiments, aber die nationalsozialistische Hochschulpolitik ging ihm mit der Entlassung jüdischer Kollegen entschieden zu weit. Im August 1933 schrieb er an Kaehler: „Im allgemeinen verstehe ich den Kampf gegen die Juden durchaus, angesichts mancher zu 90 % verjudeten Universitätsinstitute; aber manches Einzelschicksal wird unerhört hart betroffen."580) Vor allem mißfiel ihm die Haltung der „Aasgeier arischer Abstammung aber jüdischer Gesinnung, die es gar nicht abwarten wollen, bis sie sich auf die
576)
Zu dem Mediziner, der seit 1919 NSDAP-Mitglied war: [Eva] RijmmeleJ: Schultze, Walther. In: Weiß, Lexikon (1998), S. 419f. 577) BA Berlin, BDC, PK Härtung (an den Stellvertreter des Führers, 4.4.1941). Wörtliche Übernahmen in einer politischen Auskunft des Gaudozentenbundsführers von Berlin an die NS-Gauleitung vom 12.8.1941. Ebd. 578) Hans Schick: SD-mäßige Beobachtungen hinsichtlich der Arbeitssitzung des Kriegseinsatzes der neueren Historiker und Völkerrechtler vom 20.-23. Juli zu Weimar. In: Lerchenmüller, Geschichtswissenschaft (2001), S. 262-269, hier S. 267. 579) Zu seiner Haltung: Schochow, Historiker (1983), S. 228-234; Wiggershaus-Müller, Nationalsozialismus (1999), S. 240-243. 58°) ÜB Göttingen, NL Kaehler, Nr. 1,59, fol. 30 (3.8.1933). Ähnlich BA Koblenz, N 1107, Nr. 246, fol. 66f. (23.8.1933). An Gustav Aubin berichtete er am 22.12.1933: „Im einzelnen stösst man doch immer wieder auf viel Tragik bei den Auswirkungen des Antisemitismus". StaBi Berlin, NL Härtung, LXXIX, 4. Vgl. Wiggershaus-Müller, Nationalsozialismus (1999), S. 242. Weitere Beispiele für Antisemitismus in Publikationen bietet: Karen Schönwälder: Akademischer Antisemitismus. Die deutschen Historiker in der NS-Zeit. In: Jb. für Antisemitismusforschung 2 (1993), S. 200-229, hier S. 204. zu Härtung.
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Leichen ihrer jüdischen Kollegen stürzen und ihre Lehraufträge erben können sondern schon jetzt sich melden oder erkundigen"581). Einen Eintritt in die NSDAP lehnte Härtung entschieden ab, weil es ihm nicht in den Sinn komme, sich „anzubiedern"582). Ende 1933 berichtete er, deutlich irritiert, an Gustav Aubin über einen „Besuch von Pg Kaehler": „Wie er zur Meldung in die Partei sich hat entschliessen können, ist mir nach dem Besuch noch unbegreiflicher als schon vorher, selbst wenn ich starke körper-
Ermattung einrechne"583). Hartungs anfängliche Skepsis gegenüber
liche
dem Nationalsozialismus verrinMit Blick auf die Hochschulreformen kriLaufe der Jahre nicht. sich im gerte tisierte er die „Intrigenwirtschaft", welche die frühere „Kollegialität" verdrängt habe584). Die „Erzeugnisse der neuen nationalsozialistischen Richtung" in der Geschichtswissenschaft fand er alles andere als überzeugend585). Von Willy Andreas Mitte 1936 wegen einer Beteiligung an der Neuausgabe der Propyläen-Weltgeschichte auf einen Abschnitt über den „Weltkrieg" angesprochen, äußerte er Zweifel, „ob ich in den heutzutage ja weit mehr als früher durch politische Rücksichten bestimmten Rahmen des Gesamtwerks hineinpasse". Zur Begründung teilte er mit, er weiche bei der Beurteilung des Ersten Weltkriegs in drei Punkten „von der heute in politischen und militärischen Instanzen herrschenden Ansicht ab": 1. hinsichtlich der Beurteilung der Chancen auf den Gewinn des Krieges, die er kaum gegeben sah, 2. in bezug auf die Unmöglichkeit eines Verständigungsfriedens nach dem ersten Kriegswinter, 3. in der Bewertung der Revolution von 1918. „Ich sehe in ihr nicht nur den Dolchstoss von Juden und Marxisten, so gewiss sie die Drahtzieher gewesen sind, sondern zugleich die begreifliche Reaktion auf die Ueberspannung unserer Kräfte." Bisher, schrieb er an Andreas, habe er „keine Konzessionen" gemacht und trotzdem „keinerlei Schwierigkeiten" gehabt, das solle so bleiben. Er wolle zwar den „neuen Anforderungen der Zeit" aufgeschlossen gegenüberstehen, aber „keinerlei Versuch der Anpassung an heutige Stimmungen und neue Darstellungen [...] machen"586).
StaBi Berlin, NL Härtung, LXXIX, 4 (an Gustav Aubin, 14.5.1933). Es gebe „seltStreber, die es nicht abwarten können [...], aber auch scharfe Kritiker des heutigen Rassekurses". ÜB Göttingen, NL Kaehler, Nr. 1,59, fol. 30 (3.8.1933). Zur „Zwischenposition" Hartungs auch: Haar, Historiker (2000), S. 155. 582) StaBi Berlin, NL Härtung, LXXIX, 4. „Ich fühle mich zur Führung im Sinne des nat.soz. Staates nicht berufen", schrieb er als Dekan an Kaehler. ÜB Göttingen, NL Kaehler,
581)
same
Nr.
583) 584)
1,59, fol. 33 (29.10.1933). StaBi Berlin, NL Härtung, LXXIX, 4 (an Gustav Aubin, 22.12.1933). ÜB Göttingen, NL Kaehler, Nr. 1,59, fol. 33 (29.10.1933). Im Brief vom 12.10.1933
schrieb er, er fürchte ein „wüstes Klüngelwesen". Ebd., fol. 31. 585) StA Oldenburg, Best. 271-14, NL Oncken, Nr. 201. 586) GLA Karlsruhe, 69 N, Nr. 821 (8.6.1936). Als Beispiel für solche neuen angepaßten Darstellungen nannte er die Arbeiten Srbiks. Härtung lieferte 1938 ein Manuskript für den sechsten Band der „Neuen Propyläen-Weltgeschichte", der aber aus Kriegsgründen
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Diese kritischen Äußerungen Hartungs werden allerdings geradezu konterkariert durch viele verbale und reale Konzessionen, die der Berliner Gelehrte gegenüber dem Nationalsozialismus einging587). So ließ Härtung sich im Oktober 1935 von Walter Frank in den Sachverständigenbeirat des „Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands" berufen, wo er mit dezidiert regimefreundlichen Historikern an einem Tisch saß588). Dazu erklärte er Kaehler: „Ich habe es für richtig gehalten, mich bereit zu erklären, obwohl ich finde, dass Frank die Eignung für seinen Posten doch noch etwas besser beweisen müsste. Aber mit persönlichen Empfindlichkeiten nützen wir, wie ich glaube, der Wissenschaft gar nicht."589) Es ist füglich anzuzweifeln, daß Härtung in dieser Position der Geschichtswissenschaft nutzte. Ganz im Gegenteil muß man annehmen, daß solche Verbeugungen vor den Machthabern von der Öffentlichkeit sehr wohl wahrgenommen wurden590). 1940 erklärte Härtung zwar seine Vorbehalte gegenüber einer ideologischen Mobilisierung und Instrumentalisierung der Geschichtswissenschaft591). Er kritisierte, daß „die von dem Kieler Juristen Ritterbusch betreute Geisteswissenschaft [...] mobil gemacht [wird], um mit dem Westen geistig abzurechnen. Platzhoff und Th. Mayer besorgen das für die Geschichte" [...]. Ich fürchte, wir blamieren uns nicht weniger als vor 25 Jahren mit Händler und Helden und ähnlichem."592) Als dann im Februar 1941 aber die erste Historikertagung im Rahmen des „Kriegseinsatzes der Geisteswissenschaften" in Nürnberg stattfand, war Härtung trotz solcher Beteuerungen beteiligt593). Neben den von ihm zuvor kritisierten Mayer, Platzhoff und Ritterbusch nahm auch Carl Schmitt an der Konferenz teil. Zwar hatte Härtung vorher an Platzhoff nicht erscheinen konnte. Es befindet sich in StaBi
Schochow, Historiker (1983), S. 246.
587) Entsprechend kritisch wertend: Hans-Erich
Berlin,
NL
Härtung, XLI,
6. Dazu:
Volkmann: Deutsche Historiker im Umgang mit Drittem Reich und Zweitem Weltkrieg 1939-1949. In: ders. (Hg.), Ende des Dritten Reichs Ende des Zweiten Weltkriegs. Eine perspektivische Rückschau, München/ Zürich 1995, S. 861-911, hier S. 900f. 588) HZ 153 (1936), S. 220. Beiratsmitglied war u. a. auch Hartungs Lehrer, Richard Fester. Siehe generell zum Institut: Heiber, Frank (1966). 589) StaBi Berlin, NL Härtung, LIX, 2 (21.9.1935). 59°) Ein anonymer, eventuell von dem emigrierten Historiker George W. Hallgarten verfaßter Artikel im Pariser Tageblatt. Nr. 671 vom 7.11.1935, sprach von „KonzessionsGelehrten", „diesen wenigstens handwerklich einwandfreien Professoren wie Fritz Härtung, der einmal eine gute Verfassungsgeschichte geschrieben hat". 591 Nach den ersten ) Weltkriegserfolgen und dem Sieg über Frankreich reagierten manche sonst eher regimeferne Gelehrte euphorisiert. Beispiele bei Schönwälder, Historiker (1992), S. 176-184. Dagegen findet sich Kriegskritik von Härtung in dem Briefwechsel mit Oestreich bereits 1940. StaBi Berlin, NL Härtung, XLIX, 5. 592) ÜB Göttingen, NL Kaehler, Nr. 1, 59 (3.7.1940). Die Anspielung bezieht sich auf die Kriegspropaganda deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg, insbesondere die Schrift von Werner Sombart: Händler und Helden. Patriotische Besinnungen, München/Leipzig 1915. 593) Hausmann, Geisteswissenschaft (2002), S. 220-226. -
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geschrieben, „die Begegnung mit C. Schmitt" sei ihm „unangenehm" und „wenn ich davon gewußt hätte, würde ich meinen Vortrag nicht übernommen haben"594). Aber am Ende erschien sein Beitrag im selben Tagungsband595),
und auch sein Verhältnis zu Schmitt scheint sich, zumindest wenn man eine Dankeskarte vom September 1942 als Maßstab nimmt596), wieder normalisiert zu haben. Hartungs zwiespältige Haltung zum NS-Regime und dessen Anhängern in der Rechts- und Geschichtswissenschaft schlägt sich in seinen verfassungshistorischen Forschungen nur teilweise nieder. Auf der einen Seite finden sich seine Auseinandersetzungen mit Carl Schmitt oder der Wehrgeschichte, auf der anderen Seite steht seine ideologisch fügsame Hintze-Ausgabe oder die Annahme des Postens im Institut von Walter Frank. Doch es blieb nicht allein bei loyalen Anpassungsleistungen in Form von Ämtern und Tagungsteilnahmen, sondern es kam auch zu verbalen Konzessionen. Härtung verstieg sich beispielsweise 1943 zu der kühnen Behauptung, mit dem Anschluß Österreichs sei der „Bau einer neuen dauernden Ordnung" eingeleitet worden, dessen „Vollendung [...] das große Ergebnis des jetzigen Krieges sein" werde597). Seinen Einleitungsessay in der Aufsatzsammlung „Volk und Staat in der deutschen Geschichte" von 1940 beendete er mit einem wahren Hymnus auf das ,Dritte Reich', das „den Kreislauf der deutschen Staatsentwicklung vollendet" habe. Überhaupt zeigte der Sammelband einen eklatanten Widerspruch: das Übergewicht staatsbezogener Verfassungsgeschichtsschreibung auf der einen und der mißlungene Versuch einer Einbeziehung des Volkes als der „natürlichen Grundlage" des Staates durch den Titel und seinen einführenden Beitrag598). Zit. nach Krauss, Erinnerungen (1990), S. 108, Anm. 63. Fritz Härtung: Die Ausbildung des absoluten Staates in Österreich und Preußen. In: Theodor Mover/Walter Platzhoff (Hg.), Das Reich und Europa, Leipzig 1941, S. 75-90; Carl Schmitt: Staatliche Souveränität und freies Meer. Über den Gegensatz von Land und See im Völkerrecht der Neuzeit. In: ebd., S. 91-117. 596) Härtung an Schmitt, 21.9.1942. HStA Düsseldorf, NL Schmitt, RW 265, Nr. 5737. Vgl. dazu Kraus, Soldatenstaat (1999), S.295f. 597) Fritz Härtung: Die deutschen Mächte und der Osten seit Bismarck. In: Hermann Aubin u. a. (Hg.), Deutsche Ostforschung. Ergebnisse und Aufgaben seit dem ersten Weltkrieg. Bd. 2, Leipzig 1943 (= Deutschland und der Osten, 21), S. 104-120, hier S. 120. 598) pr¡tz Härtung: Volk und Staat in der deutschen Geschichte. In: ders., Volk und Staat in der deutschen Geschichte. Gesammelte Abhandlungen, Leipzig 1940, S. 7-27, hier S. 27. Der Schlußsatz lautete: „Nach dem glückhaften Auftakt des Krieges von 1939/40 darf das deutsche Volk mit ruhiger Sicherheit der Zukunft entgegen gehen." Auch andere Passagen, wie die Ausführungen über den germanischen Grundzug der normannischen Staatsbildung (ebd., S. 7), belegen die Anpassung Hartungs an den zeitgenössischen Jargon. Die Rezensionen des Sammelbandes waren durchweg positiv. Die wichtigsten sind: Adalbert Wahl. In: DLZ 62 (1941), Sp. 1041-1045; Heinrich Otto Meisner. In: FBPG 53 (1941), S. 400-403; Wilhelm Mommsen. In: Göttingische Gelehrte Anzeigen 203 (1941), S. 142f.; Fritz Wagner. In: HZ 164 (1941), S. 381-385. Nur vereinzelt wurde auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Titel, dem ersten Beitrag und dem Rest der Sammlung hin-
594) 595)
gewiesen.
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Härtung legte in den Jahren des .Dritten Reiches' keine größere monographische Darstellung vor. Trotz der nachdrücklichen Aufforderung durch den Teubner-Verlag konnte er sich vorerst nicht zu einer Neuauflage seiner „Verfassungsgeschichte" entschließen. Die Motive sind unklar. Denn eine nach 1940 zu datierende Notiz macht deutlich, daß er die Aufgabe, eine Verfassungsgeschichte auszuarbeiten, welche die „ständige lebendige Bewegung von
[...] beobachtet u. [...] beschreibt", auch nach den „neueren von JuriFeine u. Ernst Forsthoff geschriebenen] Grundrissen" für wichtig hielt599). Meinte er, dem Zeitgeschmack Tribut zollen zu müssen oder Kräften
sten wie H. E.
fehlten ihm Zeit und Muße für eine Überarbeitung? Oder ging es ihm etwa gegen den Strich, daß man den Grundriß-Band über das Mittelalter an den regimetreuen Theodor Mayer vergeben hatte? Ohne eine weitere Auflage drohe die „Gefahr", daß das Buch „allmählich in Vergessenheit geraten würde, [...] wenn nicht in absehbarer Zeit etwas geschieht", betonte der Verlag 1942. Doch selbst dies rief offensichtlich nicht die erhoffte Wirkung beim Autor hervor600). Es erschienen immerhin zwei Neuauflagen von Hartungs „Deutscher Geschichte 1871-1919"601). Daneben publizierte er verschiedene Abhandlungen, vorwiegend zur Verwaltungsgeschichte. Das Thema hatte dabei sicher auch einen politischen Hintergrund. Galten Härtung doch die Beamten als diejenigen, welche gegenüber wechselnden politischen Situationen die Kontinuität eines Staates verkörpern. Diesen Garanten der Stabilität wandte sich Härtung nicht zufällig in Kriegszeiten zu. Die Studien zur preußischen Bürokratie in der Frühen Neuzeit sowie über die Institution des Oberpräsidenten gingen aus Vorträgen an der „Preußischen Akademie der Wissenschaften" hervor. Dies gilt auch für seine Abhandlungen über das monarchische Herrschaftssymbol der Krone und den preußischen König Friedrich Wilhelm I.602) Es
599) StaBi Berlin, NL Härtung, LXXIII, 1. «»j Ebd., XXXIX, 5 (5.1.1942). Weiterer Schriftverkehr in dieser Angelegenheit ist aus
diesen Jahren nicht überliefert. Eine briefliche Bemerkung Hartungs, er wolle sich mit der Verfassungsgeschichte des 16. Jahrhunderts auseinandersetzen, deutet darauf hin, daß er 1943 mit einer Neubearbeitung begann. ÜB Göttingen, NL Kaehler, Nr. 1, 59 (an Kaehler, 12.9.1943). Die fünfte Auflage der „Verfassungsgeschichte" wurde jedoch erst 1950 im Koehler-Verlag (Stuttgart) publiziert. Dazu siehe unten Kap. VI.2.b). m) Härtung, Deutsche Geschichte (41939/51941). Härtung selbst bezeichnete die fünfte Auflage, die nahezu identisch mit der vierten war, als „etwas kriegsmäßig", womit er vermutlich auf die karge Ausstattung anspielte. ÜB Göttingen, NL Kaehler, Nr. 1, 59 (an Kaehler, 6.4.1942). Die „Deutsche Geschichte" wurde vom Oberkommando der Wehrmacht ebenso wie vom „Völkischen Beobachter" nachdrücklich empfohlen. Siehe die als Lesezeichen gestalteten Werbezettel aus dem Jahr 1940, die in den Sammelband Härtung, Volk (1940), eingelegt wurden. 602) In chronologischer Folge: ders.: Die Krone als Symbol der monarchischen Herrschaft im ausgehenden Mittelalter, Berlin 1941 (= Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1940, phil.-hist. Klasse, 13); ders.: König Friedrich Wilhelm I. Der Begründer des preußischen Staates, Berlin 1942 (= Vorträge und Schriften der Preußischen Akademie der Wissenschaften, 11); ders.: Studien zur Geschichte der preußischen Verwal-
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handelt sich jeweils um gediegene Forschungsleistungen, die aber unspektakulär wirken und kriegsbedingt wenig Echo auslösten. Gedacht waren die verwaltungsgeschichtlichen Skizzen als Vorstudien für eine gemeinsam mit Hermann Aubin geplante Reihe von Beamtenbiographien603). Die Veröffentlichungen und Vorträge Hartungs in den Kriegsjahren zeigen seine stille Weiterarbeit, zumal seine Stärke ohnehin nicht im glanzvollen öffentlichen Auftritt, sondern in der soliden Forschung lag. Im September 1943 bezeichnete er diese Arbeiten als „unzeitgemäß"604). Ohne Zweifel lagen solche Studien weder ideologisch im Trend, noch paßten sie so recht in die Kriegssituation. Härtung hielt auch in der Kriegszeit unbeirrt an seiner etatistischen Auffassung der Verfassungsgeschichte fest: „Mag heute auch die Volksgeschichte im Mittelpunkt der Forschung stehen, das staatliche Gefüge als der feste Knochenbau des Volkskörpers behält trotzdem seine Bedeutung, und deshalb bleibt es eine wichtige Aufgabe, sein Werden kennenzulernen." Er erkannte zwar, daß „der trockene Gegenstand der Behördengeschichte [...] sich heute natürlich keiner besonderen Beliebtheit [erfreut]"605). Doch gilt es diesem anspornend gemeinten Diktum zum Trotz festzustellen, daß die Verwaltungsund Institutionengeschichte gerade seit Ende der dreißiger Jahre einen gewissen
Aufschwung verzeichnete606).
Während die Akademieabhandlungen im Jahresabstand erschienen, setzte sich Härtung auch mit anderen verfassungshistorischen Veröffentlichungen auseinander. Rezensionen einschlägiger Arbeiten beweisen dies ebenso wie briefliche Äußerungen etwa zu Hubers Forschungen. 1935 hatte Härtung ihm nach der Zusendung der Rede über den „Sinn der Verfassung" geschrieben, daß er ihm bezüglich der deutschen Entwicklung zwar beipflichte, aber das „Urteil über das bürgerliche Zeitalter" mit Blick auf England und Frankreich „doch wohl etwas [zu] modifizieren" sei. Die Schwäche der deutschen Getung. Tl. 1: Vom 16. Jahrhundert bis zum Zusammenbruch des alten Staates im Jahre 1806, Berlin 1942 (= Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1941, phil.hist. Klasse, 17); ders.: Studien zur Geschichte der preußischen Verwaltung. Tl. 2: Der
Oberpräsident,
Berlin 1943
(= Abhandlungen
der Preußischen Akademie der Wissen-
schaften, 1943, phil.-hist. Klasse, 4). m) ÜB Göttingen, NL Kaehler, Nr. 1,59 (an Kaehler, 6.4.1942; 12.9.1943).
Ebd. (12.9.1943). Fritz Härtung: Rez. zu Friedrich Walter, Die Geschichte der österreichischen Zentralverwaltung in der Zeit Maria Theresias (1740-1780). In: HZ 161 (1940), S. 600-604, hier S. 601,604. 606) Neben den Beiträgen Hartungs sind u. a. zu erwähnen: Heinrich Otto Meisner: Der Kriegsminister 1814-1914. Ein Beitrag zur militärischen Verfassungsgeschichte, Berlin 1940; Gerhard Oestreich: Der brandenburgisch-preußische Geheime Rat vom Regierungsantritt des Großen Kurfürsten bis zu der Neuordnung im Jahre 1651. Eine behördengeschichtliche Studie, Würzburg-Aumühle 1937 (= Berliner Studien zur neueren Geschichte, 1). Parallel dazu ist im Öffentlichen Recht eine „Wendung zur Verwaltung" festgestellt worden. Stolleis, Geschichte, Bd. 3 (1999), S. 351-380.
m) 605)
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schichte sei gewesen, daß der Parlamentarismus zuerst in den Kleinstaaten erprobt worden sei, nun gelte es, die „Reste kleinstaatlicher Gesinnung" zu überwinden607). Über Hubers „Heer und Staat" äußerte sich Härtung in Briefen an Alexander Graf zu Dohna recht kritisch. Er halte die darin aufgestellten Thesen über die Hochschätzung des Krieges im Leben der Völker und die „politische und moralische Minderwertigkeit des Liberalismus" für „ebenso geschickt wie gefährlich". Er bleibe statt dessen bei seiner Ansicht, „daß der normale Zustand des Lebens nicht der Krieg, sondern der Friede ist und daß das Heer Mittel zu diesem Zweck nicht Selbstzweck ist"608). Ein großer Organisator war Fritz Härtung nie. So diente ihm die Wissenschaftspolitik lediglich als Instrument, nicht als Selbstzweck. Dies galt für seine Mitarbeit in der Internationalen Historikerkommission ebenso wie für das Engagement in anderen Forschungseinrichtungen. Auch seinen Beiratsposten im Frankschen Institut betrieb er mit geringem Aufwand609). Allein in seiner Arbeit als Mitherausgeber der „Jahresberichte für deutsche Geschichte" fühlte er sich offenbar wohl und zeigte Engagement. Als Härtung 1939 als Nachfolger Hintzes in die „Preußische Akademie der Wissenschaften" gewählt wurde, war ihm dies wegen der Anerkennung und Ehre wichtig. Er nutzte die Akademie fortan gerne als Plattform. Für die Leitung der „Acta Borussica" gab es 1938 jedenfalls keinen geeigneteren Kandidaten als den Berliner Ordinarius610). Doch Härtung konnte das inzwischen längst abgewirtschaftete Unternehmen nicht mehr retten. Denn Edieren galt als unmodern. Außerdem hatte man bald die Hälfte der Mitarbeiter wegen der Rassegesetzgebung entlassen müssen. Härtung übernahm die Leitung in maroder Finanzlage611). Ende Dezember 1938 schrieb Hintze an Oncken über das „fragwürdig gewordene Werk der Acta Borussica". Er selbst sehe seine „Lebensaufgabe [...] mehr in einer allgemeinen, vergleichenden Verfassungsgeschichte". Gleichwohl werde er sich „mit Eifer und gutem Erfolg der Aufgabe unterziehen", das Editionswerk zu leiten612). Noch im Mai 1939 glaubte Hintze gegenüber seinem Mitarbeiter Carl Hinrichs, man werde die Edition noch zu einem „verkürzten Abschluss" führen613). Im September 1939 teilte Oncken jedoch der Akademie mit, daß man das Unternehmen „bis auf Weiteres"
eingestellt habe614).
«") StaBi Berlin, NL Härtung, XXXVII, 1 (5.5.1935). 608) Ebd., XXXIX, 4 (1.5.1939; 31.7.1939). Siehe auch die Passage bei Schochow, Historiker (1983), S. 232.
m) Heiber, Frank (1966), S. 597; Schochow, Historiker (1983), S. 230. 610) Zu verweisen ist auf die Darstellung nach mündlicher Mitteilung
von Werner Schochow bei Neugebauer, Ende (1999), S. 55f. 6n) Ders., Geschichtswissenschaft (1999), S. 190, 194. 612) StA Oldenburg, Best. 271-14, NL Oncken, Nr. 228 (21.12.1938). Dieses Dokument ist zu den ansonsten äußerst gründlich belegten Ausführungen bei Neugebauer zu ergänzen. 613) StaBi Berlin, NL Härtung, XXXVII, 1 (8.5.1939). 614) Zit. nach Neugebauer, Geschichtswissenschaft (1999), S. 196; ders., Ende (1999), S. 56.
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In seiner Antrittsrede in der „Preußischen Akademie" hatte Härtung, ganz in Hintzes Tradition, betont, „daß ein volles Verständnis [der deutschen Verfassungsgeschichte, E.G.] erst aus der Erforschung der allgemeinen Verfassungsgeschichte erwachsen könne"615). Er verfolgte den Plan einer „Allgemeinen Verfassungsgeschichte der neuesten Zeit" weiter, den er bereits seit den zwanziger Jahren gehegt hatte. Aus dem Sommersemester 1937 ist ein ausgearbeitetes Manuskript von knapp 140 Seiten überliefert616). Aufbau und Darstellungsweise zeigen noch einmal deutlich, wie sehr Härtung trotz des von Hintze übernommenen Titels das typologische Verfahren seines Lehrers ablehnte. Ihm ging es um Formung und Form der Staaten und die Dynamik ihrer Veränderungen. „Das Ziel der Verfassungsgeschichte ist zu zeigen, wie sich die einzelnen Staaten in ihren Verfassungen im Laufe der Jahrhunderte entwickelt haben."617) Härtung beabsichtigte nicht einen synthetischen typologischen Vergleich, sondern den Nachweis der einzelstaatlichen Vielfalt. Er wolle nicht das Ähnliche entdecken, sondern dem Besonderen sein Recht geben618). Die Darstellung erweist sich als staatsorientiert und konzentriert sich auf die politische Verfassungsgeschichte. Dies zeigt auch die Veröffentlichung von Teilen dieser umfassenden Studie, die sich mit der „Entwicklung der konstitutionellen Monarchie in Europa" oder dem „aufgeklärten Despotismus in Preussen und in den deutschen Kleinstaaten" befaßten619). Härtung hatte aber Größeres vor. Er wollte den alten Hintze-Plan erheblich modifiziert verwirklichen. Doch Disposition und Konzeption bereiteten ihm zu große Schwierigkeiten, und das allgemeine Zeitklima war dem Vorhaben gleichfalls nicht förderlich620). Die Vollendung seines Projekts blieb Härtung, trotz kontinuierlicher Weiterarbeit, auch später verwehrt621). Darin teilte er Hintzes Schicksal. Otto Hintze hatte sich nach 1933 weitgehend aus der wissenschaftlichen Welt zurückgezogen. Ein 1938 erweitert nachgedruckter Aufsatz aus dem Jahr 1929 und ein Vorwort zum letzten „Acta Borussica"-Band von 1936 blieben
615) Härtung, Antrittsrede (1939), S. 137. 616) StaBi Berlin, Handschriften-Abteilung,
Msz. 125. Das Manuskript trägt „Allgemeine Verfassungsgeschichte der neuesten Zeit (1789-1936)".
617) Ebd. 618) Härtung,
den Titel
Antrittsrede (1939), S. 137. Er wehrte sich in Anspielung auf Hintze und Weber dagegen, „einen abstrakten Typus zu konstruieren". 619) Ders., Entwicklung (1939); ders.: Die geschichtliche Bedeutung des aufgeklärten Despotismus in Preussen und in den deutschen Kleinstaaten. In: Bulletin of the international committee for historical sciences 9 (1937), S. 3-21. 62°) Am 17.7.1944 erklärte der Leipziger Verlag Meiner seinen „vorbehaltlosen Verzicht auf Erfüllung des Vertrages" über die „Allgemeine Verfassungsgeschichte" mit den vielsagenden Worten: „Ein Buch zusammenfassender Art auf einem Gebiet, auf dem immer wieder sich Probleme auftun, wo man lange Zeit hindurch alles geklärt geglaubt hatte, erfordert nun einmal eine gewisse Keckheit." StaBi Berlin, NL Härtung, LIX, 6. 621) In StaBi Berlin, NL Härtung, finden sich etliche Konvolute mit Notizen für das geplante Werk.
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seine letzten publizierten Arbeiten622). Wie man dieses Schweigen deuten kann, darüber läßt sich weitgehend nur spekulieren. Handelte es sich um eine Art „innere Emigration" des Mittsiebzigers623), eine „zunehmende Protesthaltung"624), war er zu alt oder zu krank625), oder war er etwa noch zu eifrig mit seiner Lebensaufgabe, der „Allgemeinen Verfassungsgeschichte", beschäftigt? Fest steht, daß er für das NS-Regime allein durch seine Ehe mit einer linksliberalen Jüdin als „Persona ingrata" gelten mußte626). Nach einem Konflikt mit Meinecke über die Beendigung der Redaktionsarbeit seiner Frau aus rassischen Gründen kündigte Hintze seine Mitarbeit bei der „Historischen Zeitschrift" auf627). 1933 verließ er die „Historische Reichskommission"628). Als auch die „Preußische Akademie der Wissenschaften" sich nach seiner „Mischehe" erkundigte, trat Hintze freiwillig von seiner Mitgliedschaft zurück629). Durch den daraus resultierenden Verlust der Leitung der „Acta Borussica" verlor er seine letzte wissenschaftspolitische Bastion. Die nationalsozialistische Dozentenschaft urteilte herablassend, Hintze pflege „keinerlei Berührung und Beziehung" zum Nationalsozialismus, seine Ehe sei eine „Instinktlosigkeit" und eine Tätigkeit für die Arbeitsfront sei daher „keinesfalls
erwünscht"630).
Als Otto Hintze im April 1940 starb631), hinterließ er einen wissenschaftlichen Nachlaß, den er verbrannt wissen wollte. Die Einzelheiten über den Verbleib von Texten und Manuskriptteilen sind nicht restlos geklärt632). Aber bereits wenige Tage nach Hintzes Ableben nahm Härtung mit den Angehöri-
622)
Otto Hintze: Vorwort. In: Acta Borussica. Denkmäler der
preußischen Staatsverwal-
tung im 18. Jahrhundert, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Die Be-
hördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert. Bd. 15: Akten vom April 1769 bis zum September 1772, bearb. v. Ernst Posner, Berlin 1936, S. V-X; Otto Hintze: Wesen und Verbreitung des Feudalismus. In: Die Welt als Geschichte 4 (1938), S. 157-190 [zuerst 1929]. Ein weiteres Manuskript Hintzes wurde von derselben Zeitschrift 1938 abgelehnt. Neugebauer, Geschichtswissenschaft (1999), S. 191, Anm. 92. 623) Oestreich, Hintze (1989), S.302. Vgl. dazu den Briefwechsel: HintzelHintze, Korrespondenz (2004), S. 97-221. 624) Dies., Hintze (1985), S. 419. 625) Nach Oestreich, Hintzes Stellung (1964), S. 67*. ist Hintze „fast blind und wirklich einsam" gestorben. Julie Braun-Vogelstein berichtet, Hintze habe 1939 weder sprechen noch schreiben wollen und „in einsamer Verbitterung den Tod" herbeigesehnt. Julie BraunVogelstein: Was niemals stirbt. Gestalten und Erinnerungen, Stuttgart 1966, S.387. 626) Oestreich, Hintzes Stellung (1964), S. 5*. 627) Heiber, Frank (1966), S. 280. 628) Dazu: Haar, Historiker (2000), S. 176. 629) Neugebauer, Geschichtswissenschaft (1999), S. 195. 630) Zit. nach Vogler, Hintze (1985), S.48 (Juli 1939). Er sei ein „Greis [...], der weder politisch noch charakterlich geeignet erscheint für den Einsatz zu wissenschaftlichen Aufga-
ben der Partei und des Staates". 631 Seine Frau ) Hedwig hatte emigrieren müssen, hielt sich lange in Holland auf und pflegte von dort, so gut es ging, den Kontakt zu ihrem Mann. Oestreich, Hintze (1985). 632) Einige Teile gelangten schließlich ins GStA. Die daraus entstandene Edition: Hintze, Allgemeine Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte (1998).
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gen und dem Leipziger Verlag Koehler & Amelang Verhandlungen über die Publikation von gesammelten Abhandlungen auf633). Ende 1940 fehlte Härtung nur noch die Zustimmung der Parteiamtlichen Prüfungskommission, die, so hoffte er, trotz der „jüdischen Versippung Hintzes" keine Probleme bereiten werde. Härtung hatte diese Frage bereits bei seinem Gedenkartikel in den „Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte" berücksichtigt634), wie er Gerhard Ritter ziemlich unverblümt mitteilte: „Ich habe im Nachruf mit voller Absicht die Frau und die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten Hintze müsste aus der Akademie ausscheiden, sie hat von seinem Tod auch keinerlei Notiz genommen übergangen. Die Frau lebt in Holland."635) Bereits 1941 erschien der erste Band mit Hintzes Studien über die allgemeine Verfassungsgeschichte. Die dritte und letzte Abteilung mit den Beiträgen zur preußischen Geschichte konnte 1943 noch herausgebracht wer-
-
den636).
Probleme ideologischer Natur traten bei der Publikation des zweiten Bandes auf. Härtung berichtete darüber in einem Schreiben an Kaehler: „Der zweite Band bringt vor allem die methodologischen Aufsätze, die Auseinandersetzung mit Lamprecht, Troeltsch, Sombart. Die mit Oppenheimer über die Abgrenzung zwischen Geschichte und Soziologie kann leider nicht gedruckt werden, weil sie aus dem Jüdischen nicht herausgelöst werden kann. Auch die mit Scheler ist von der Zensur gestrichen worden. Aber es bleibt auch so noch genug, um ein Bild von Hintzes Wesen und Schaffen zu geben. Deshalb habe ich auch keinen Konflikt mit der Parteiamtlichen Prüfungskommission angefangen, denn es ist besser, wir bringen das, was erlaubt wird, als dass das Ganze gefährdet wird."637) Am Ende mußte Härtung auch auf die Aufsätze über Max Weber und Hans Kelsen verzichten und damit insgesamt auf manches, was, wie er selbst zugab, „methodisch gerade für die Verfassungsgeschichte sehr wesentlich ist"638). Bei der ideologischen Anpassung von
633) An Kaehler, 3.7.1940. ÜB Göttingen, NL Kaehler, Nr. 1,59. 634) Härtung, Hintze (1941). 635) StaBi Berlin, NL Härtung, XLVI, 8 (30.12.1940). Hedwig Hintze nahm sich
1942 im niederländischen Exil das Leben. 636) Otto Hintze: Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte. [Bd. 1], hg. v.Fritz Härtung, Leipzig 1941; Otto Hintze: Zur Theorie der Geschichte. Gesammelte Abhandlungen. [Bd. 2], hg. v. Fritz Härtung, Leipzig 1942; Otto Hintze: Geist und Epochen der preußischen Geschichte. Gesammelte Abhandlungen. [Bd. 3], hg. v. Fritz Härtung, Leipzig 1943. 637) ÜB Göttingen, NL Kaehler, Nr. 1, 59 (6.4.1942). 638) Ebd. (20.12.1942). Die sieben Aufsätze der ersten Auflage wurden anders als bei den nur leicht ergänzten Bänden 1 und 3 in der zweiten Auflage von 1964 auf insgesamt 16 Studien zum Themenkreis „Soziologie und Politik" erweitert, die auch die Beiträge zu Kelsen, Oppenheimer, Scheler und Weber umfaßten. Hintze, Abhandlungen, Bd. 2 (1964), S. 3-312. Im Vorwort versuchte Härtung kurz, die wichtigsten Grundgedanken Hintzes aus den weggelassenen Aufsätzen wiederzugeben. Fritz Härtung: Vorwort des Herausgebers. In: Hintze, Abhandlungen, Bd. 2 (1942), S. 5-11, hier S. 8f -
-
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2. Neue Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
Hintzes Werkausgabe stand Härtung indes keineswegs allein. Auch der Berliner Archivar Heinrich Otto Meisner stellte in seinem Nachruf in der „Historischen Zeitschrift" die vermeintlichen Anknüpfungspunkte Hintzes zum nationalsozialistischen Staat heraus639). Härtung hat mit der Edition der sehr verstreut publizierten Aufsätze ohne Zweifel Hintzes Werk besser erschließbar gemacht640). Das wurde auch von der kriegsbedingt geringen Zahl der Rezensenten positiv gewürdigt641). Bei grundsätzlicher Anerkennung gerieten allerdings die Grenzen von Hintzes Geschichtsauffassungen in die Kritik. Der Königsberger Privatdozent Theodor Schieder stellte fest, daß Hintzes Arbeiten wie auch Härtung es andeute „manchem nicht mehr zeitgemäß erscheinen, weil sie vom Staat und seinen Institutionen handeln [und] nicht das Volk [...] zum unmittelbaren Gegenstand" hätten. Es komme in diesen Zeiten auf die „Erfassung der konkreten Züge bestimmten Volkstums" an. Schieder folgerte: „Ähnlich wie Max Weber hat Hintze das alte positivistische Wissenschaftssystem aus sich selbst heraus überwunden, ohne zu einem neuen vorzustoßen, was beiden Forschern etwas wie tragische Größe verleiht."642) Für Hartungs Vorgehen bei der Hintze-Ausgabe ist charakteristisch, daß er einen Konflikt mit den Parteistellen zunächst riskieren wollte, dann aber im entscheidenden Moment aus taktischen Erwägungen vermied. So zeigt sich gerade bei der Hintze-Edition seine zwiespältige Einstellung zum Nationalsozialismus. Nicht kritiklos verlebte er die zwölf Jahre, aber auch nicht übermäßig widerstrebend und im Zweifel vor allem loyal und konzessionsbereit. Er repräsentierte damit eine Haltung, die nicht wenige Historiker in der NSZeit an den Tag legten. -
-
i) Die Revision der mittelalterlichen Verfassungshistoriographie: Otto Brunner Zu denjenigen Historikern, die sich dem nationalsozialistischen Regime andienten, zählte auch Otto Brunner. Brunner verstand sich von Beginn an als politischer Historiker. „Persönliche Überzeugung, Karrieregründe, [...] wissenschaftliche" sowie wissenschaftspolitische Aspekte motivierten seine gesamt-
639)
Heinrich Otto Meisner: Otto Hintzes Lebenswerk (27. August 1861 25. April 1940). In: HZ 164 (1941 ), S. 66-90, hier insbesondere S. 72f„ S. 84, Anm. 2, S. 89f. 640) Vorher existierte nur eine kleine, wenig rezipierte Auswahl im Oktavformat: Otto Hintze: Historische und politische Aufsätze, 4 Bde., Berlin o.J. [1908] (= Deutsche Büche-
rei, 94-101).
M1)
Die wichtigsten der (zeitbedingt) wenigen Rezensionen zum ersten Band: [Wilhelm] Treue. In: Auswärtige Politik 9 (1942), S.278f.; A.[lbert] Brackmann. In: DA 6 (1943), S.272f.; Heinrich Otto Meisner. In: FBPG 54 (1943), S. 182-184; Carl Brinkmann. In: HZ 167 (1943), S. 358-360. M2) Th.[eodor] Schieder: Rez. zu Otto Hintze, Staat und Verfassung. In: Altpreußische Forschungen 19 (1942), S. 107f„ hier S. 107. Zur Hintze-Rezeption Schieders nach 1945 siehe unten Kap. VI.2.d).
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deutsche Geschichtsauffassung, die er in den Dienst der völkischen Bewegung und ab 1938 des Nationalsozialismus stellte643. Bereits vor dem .Anschluß' Österreichs hatte er sich zu seiner völkischen Haftung bekannt. Und bei seinem Parteiaufnahmeverfahren 1943 stand seine politische Orientierung außerhalb jeden Zweifels. So eröffnete der Wiener Gaustabsamtsleiter Rothe der dortigen Gauleitung, daß Brunner „schon immer eine einwandfreie nationalsozialistische Haltung bekundet und zu einer Zeit sich für das nationalsozialistische Ideengut eingesetzt hat, zu der es für einen Hochschulprofessor immerhin eine gewisse Gefahr bedeutete"644). Brunners Lebensweg und wissenschaftliche Laufbahn sind ähnlich wie bei Huber durch die Krisenerfahrungen der Zeit vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg nachhaltig beeinflußt worden. Der vielbeschriebene „Zerfall der Werte" vollzog sich in Österreich zeitgleich mit einem Zusammenbruch der staatlichen Struktur. Das „nationalpolitische und memoriale Vakuum" in Deutsch-Österreich nach 1918 löste bei vielen Zeitgenossen eine Suche nach staatlicher Einheit und Macht aus645). „Altösterreichertum" und Austrofaschismus trafen sich in dem gemeinsamen Bestreben nach einem staatlichen Anschluß an das Deutsche Reich. Oft schlugen sich die Visionen der Gegenwart in einer Reflexion auf die Vergangenheit nieder. Bei den Historikern kam dies in einer gesamtdeutschen Geschichtsauffassung zum Ausdruck, zu deren .Gründervätern' Heinrich von Srbik und Harold Steinacker zähl-
-
ten646).
Methodisch ist bei Brunner bereits in den zwanziger und beginnenden dreißiger Jahren eine Abwendung von der Politik- und Kulturgeschichte feststell-
bar, deren Überwindung er in einer volkswissenschaftlichen Revision und Re-
form der Geschichtsschreibung sah. Der „politisch-sozialen Komplexität der Moderne" setzte er das „Gegenbild einer radikal-totalitären Gemeinschaftsbildung" entgegen647). Eine gesamtdeutsch gedachte „Volkswissenschaft" sollte die Widersprüche der bürgerlichen Klassengesellschaft und das politische Chaos des Parteienstaates beseitigen. Den Integrationsdefiziten der modernen Gesellschaft wurde als Kontrast ein reduktionistisch harmonisiertes
Das Zitat ebd., S.91. Blänkner warnt einem „vorschnellen Richterspruch" über Brunner, betont aber zugleich mit Dipper, daß der politische Aspekt bei Brunner „keinesfalls [...] akzidentieller Natur" gewesen sei. Dipper, Brunner (1987), S. 95. M4) BA Berlin, BDC, PK Brunner (18.12.1943). In der Beurteilung übereinstimmend: Gaudozentenbundsführer Knoll an den NSDAP-Kreisleiter Wien, 10.12.1943. Ebd. MS) Blänkner, Staatsbildung (1999), S. 96. M6) Ebd., S. 96-98. M1) Luise Schorn-Schütte: Religion, Kultur und Staat. Deutungsmuster aus dem Krisenbewußtsein der Republik von Weimar. Eine Einleitung. In: dies. (Hg.), Alteuropa oder Frühe Moderne. Deutungsmuster für das 16. bis 18. Jahrhundert aus dem Krisenbewußtsein der Weimarer Republik in Theologie, Rechts- und Geschichtswissenschaft, Berlin 1999 (= ZHE Beih. 23), S. 7-24, hier S. 19.
643) Grundlegend: Blänkner, Staatsbildung (1999). vor
2. Neue
Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
299
entgegengehalten648).
Dies kam in einem volkswissenund bewußt antietatistischen schaftlich grundierten Verfassungsbegriff zum forderte Brunner eine Umkehr der Rechts- und VerAusdruck649). Zugleich im Hinblick auf ihre fassungsgeschichtsschreibung bisherige Terminologie. Bereits in seinem Erfurter Historikertagsvortrag von 1937, und damit zwei Jahre vor der Monographie „Land und Herrschaft" und deren Nebenprodukt, dem Aufsatz über den „modernen Verfassungsbegriff und [die] mittelalterliche Verfassungsgeschichte", stellte er die kämpferische Forderung einer „Revision der Grundbegriffe" auf650). Brunner war 1937, ein Jahr vor dem .Anschluß' Österreichs, nach wie vor Archivrat beim Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv. 1929 hatte er sich habilitiert, und 1931 war er zum außerordentlichen Professor an der HauptstadtUniversität ernannt worden651). Der Durchbruch gelang ihm aber erst in den Jahren 1939/40. Voraussetzung war dafür zum einen der politische Umschwung durch Österreichs ,Heimholung' ins Reich, zum anderen der wissenschaftliche und publizistische Erfolg der Untersuchung über „Land und Herrschaft" nach 1939. Nur ein Jahr später berief die Wiener Fakultät Brunner auf eine ordentliche Professur, und 1942 übernahm der Ordinarius das renommierte „Institut für österreichische Geschichtsforschung" von seinem akademischen Ziehvater Hans Hirsch. Außerdem war er in führender Position bei der „Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft" tätig652). Ausschlaggebend für Brunners Aufstieg waren die vielfältigen wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Verbindungen, die er zuvor geknüpft hatte. Sein Auftritt in Erfurt bewies seine innerzünftische Stellung ebenso wie seine ideologische deutsches Mittelalter
Anschlußfähigkeit653).
Brunners programmatisch vorgetragene Forderungen nach Begriffsrevision und Neuverortung der mittelalterlichen Geschichte als „leitende Orientierungsepoche"654) ließen sich bestens verknüpfen mit den Erträgen und Inter-
M8) Blänkner, Staatsbildung (1999), S. 99. M9) Siehe oben Kap. V2.a). 65°) Brunner, Politik (1937), S.422. Ebd., heißt es dann: „Unerträglich ist der Zustand, daß Begriffe, die einer toten Wirklichkeit entstammen, noch immer die wesentlichen Maßstäbe und Fragestellungen für eine Zeit bestimmen, deren innerer Bau durchaus anderer Art gewesen ist. Die Forderung kann gar nicht radikal genug formuliert werden." 651) Zum Lebensweg siehe oben die in Kap. V.2.a). aufgeführte Spezialliteratur. Überblick bei L.[uise] S.fchorn-jS.fchüttej: Brunner, Otto (1898-1982). In: vom Bruch/Müller, Historikerlexikon (2002), S. 40f.
652) Fahlbusch, Forschungsgemeinschaft (1999). 653) Das Programm der Erfurter Tagung war mit Personen und Vortragsthemen ganz auf
ein NS-gemäßes Geschichtsbild abgestellt. Siehe den ausführlichen Bericht von Ulrich Crämer: Der 19. Deutsche Historikertag in Erfurt vom 5.-7. Juli 1937. In: Vergangenheit und Gegenwart 27 (1937), S. 345-369. In demselben Heft wurden mehrere der Vorträge, u. a. derjenige Brunners, gedruckt. Vgl. dazu Heiber, Frank (1966), S. 708-716; Schumann, Historikertage (1974), S. 406-434. 654) Blänkner, Staatsbildung (1999), S. 99.
300
V
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
zweier Seitenfächer. Einmal ergaben sich Bezüge zur Volksforschung, die der Soziologe Hans Freyer in Leipzig betrieb, zum anderen berief sich Brunner explizit auf die Ergebnisse der neueren Staatsrechtswissenschaft, insbesondere auf die Publikationen von Carl Schmitt und Ernst Rudolf Huber. Und zu guter Letzt ließen sich Brunners Ergebnisse hervorragend einbauen in die Forschungszusammenhänge von Volksgeschichte und Ostforschung im .Dritten Reich'. Brunners Hauptwerk vor 1945, „Land und Herrschaft", befaßt sich mit den „Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter"655). Das Buch wirkt etwas inhomogen, da es sich nicht um eine chronologisch aufgebaute oder sachlich gegliederte Darstellung aus einem Guß handelt, sondern eigentlich um fünf weitgehend eigenständige Teile, die mal mehr historisch-sachlichen, mal mehr methodisch-fachlichen Problemen gewidmet sind656). Quellenstudien zu Fehde und Grundherrschaft wechseln sich ab mit räsonnierenden Bemerkungen über die Grundbegriffe der Verfassungsgeschichte und das Problem der Terminologie. Im Zentrum steht die Frage, was im Mittelalter der neuzeitlichen Souveränität entsprach. Die Antwort Brunners lautet: das Land. Es handele sich dabei um eine Gemeinschaft von Grundherren, die eine Landgemeinde bilden, nach eigenem Landrecht unter besonderen Landessitten leben und deshalb ein besonderes Landesbewußtsein ausbilden. Brunner grenzt sich von den meisten Mediävisten dadurch ab, daß er das Land in den Mittelpunkt seiner Überlegungen rückt und nicht etwa den Staat betont657). Auch das Lehnswesen findet bei Brunner kaum Beachtung, während es in diesen Jahren durch Heinrich Mitteis rechtsvergleichend als Angelpunkt der Staatsbildung hervorgehoben wurde658). Brunner stellt heraus, daß insbesondere die Hausherrschaft Grundlage der Landesordnung sei, weil nur ein Herr seinen Grundholden Schutz und Schirm gewähren könne. Nach außen und innen
essen
Brunner, Land (1939). Die wichtigsten methodologischen Passagen finden sich ebd., S. 132-194, 505-512. Viele Thesen des Buches über „Schutz und Schirm", „Rat und Hilfe" sowie die Begriffe „Land" und „Haus" fanden sich bereits in seinem Historikertagsvortrag von 1937. Brunner, Politik (1937). 656) Heinrich Mitteis sprach von einem „kühnen und eigenwilligen Aufbau". Heinrich Mitteis: Rez. zu Otto Brunner, Land und Herrschaft. 3. Aufl. In: ZRG/GA 64 (1944), S. 410-419, hier S.410. Diesen Eindruck vermitteln auch die knappen Übersichten von Michael Borgolte: Otto Brunner (1898-1982), Land und Herrschaft. In: Volker Reinhardt (Hg.), Hauptwerke der Geschichtsschreibung, Stuttgart 1997 (= Kröners Taschenausgabe, 435), S. 68-71, und Raphael, Geschichtswissenschaft (2003), S. 93-95. 657) Mit der schwierigen Begriffsdefinition des Landes bei Brunner hat sich auch die wissenschaftsgeschichtliche Literatur befaßt: Othmar Hageneder: Der Landesbegriff bei Otto Brunner. In: Annali dell'Istituto Storico Italo-Germanico in Trento 13 (1987), S.153-178;
655
Weltin, Begriff (1990).
658) Mitteis, Lehnrecht (1933); Heinrich Mitteis: Der Staat des hohen Mittelalters. Grund-
linien einer vergleichenden Verfassungsgeschichte des Lehnszeitalters, Weimar 1940. Zu Leistung und Grenzen von Mitteis' „Lehnrecht": Diestelkamp, Mitteis (1989).
2. Neue Wege der Verfassungsgeschichtsschreibung
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sichere der Landesherr sein Recht durch die Fehde, die als eine Form
legitiGewaltanwendung gelte659). Im Gegensatz zu den meisten Historikern, die äußerst reserviert auf die Ergebnisse der von den Öffentlichrechtlern vorgelegten Untersuchungen zur Verfassungsgeschichte reagierten, setzte sich Brunner nicht nur positiv mit deren Methode auseinander. Er ging vielmehr dazu über, deren Voraussetzungen und Grundannahmen in die Geschichte zu transponieren. So gelte es, die für das Mittelalter verwendete, zumeist von positivistisch eingestellten Juri-, sten entwickelte Begrifflichkeit anhand der Quellensprache zu überprüfen und dabei vor allem das moderne und damit unhistorische „Trennungsdenken" mit der Differenzierung zwischen Staat und Gesellschaft zu überwinden. Dieses habe dazu geführt, daß angeblich selbständige Sondergebiete abseits der Verfassungsgeschichte, wie beispielsweise Wirtschafts- oder Verwaltungsgeschichte, von dieser getrennt wurden und sich schließlich die Verfassungsgeschichte zur Geschichte des geschriebenen Verfassungsrechts entwikkelt habe. Darüber hinaus habe man die moderne Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht ganz unkritisch auf das Mittelalter übertramer
gen. Seine wissenschaftlichen Kontrahenten sieht Brunner in einer erstarrten historischen Verfassungsgeschichtsschreibung und in der rein systematisch verfahrenden juristischen Rechtsgeschichtsschreibung. Auch von wissenschaftlichen Vorgängern wie Georg von Below, Otto Gierke und Otto Hintze grenzt Brunner sich deutlich ab. In zahlreichen Passagen von „Land und Herrschaft" schimmert darüber hinaus die politische Botschaft durch. Das inhärente Bekenntnis zu Führertum und Volksgemeinschaft war deutlich erkennbar. Anerkennung erfuhr Brunner von einer Seite, von der er es vermutlich nicht unbedingt erwartet hätte: von Heinrich Mitteis. Der von den Nationalsozialisten inzwischen nach Rostock .abgeschobene' international bekannte Rechtshistoriker hätte sich durch Brunner in mehrfacher Hinsicht herausgefordert fühlen können: zum einen, weil das Buch einen massiven Angriff auf die Rechtshistoriker enthielt, zum zweiten, weil Brunner das Lehnswesen als Faktor der Staatsbildung fast ganz ignorierte, und zum dritten, weil die politisierte Geschichte à la Brunner diametral dem wissenschaftlichen Ethos und der politischen Haltung von Mitteis widersprach660).
659) 66°)
Zu diesem Punkt ausführlich kritisch: Algazi, Herrengewalt (1996). Zu Mitteis' „unzuverlässiger" politischer Einstellung vgl. BA Berlin, BDC, PK Mitteis, die Gutachten des Dozentenbunds München (1938) und der NSDAP-Gauleitung Wien (1939) sowie die Stellungnahme des Wiener Dozentenbundes gegenüber dem Frankfurter Dozentenbundsführer Heinrich Guthmann, 14.10.1942. BA Koblenz, N 1266, Nr. 221. Für den Hinweis auf dieses Dokument danke ich Matthias Schönwald (Wuppertal). Georg Brun: Leben und Werk des Rechtshistorikers Heinrich Mitteis unter besonderer Berücksichtigung seines Verhältnisses zum Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. usw. 1991 (= Rechtshistorische Reihe, 83), geht auf seine Rezensionen zu Brunner nicht ein.
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V.
Verfassungsgeschichtsschreibung 1933-1945
Gleich zu Beginn seiner Rezension in der „Historischen Zeitschrift", legt Mitteis sich auf eine Generallinie fest: „Das Buch des Wiener Historikers Otto Brunner", so begann er, „gehört zweifellos zu den bedeutsamsten und eigenartigsten Erscheinungen der letzten Zeit"661). Nahezu fünfzig Seiten, also mehr als eine durchschnittliche Aufsatzlänge, nahm sich Mitteis Raum, um sein Urteil über Brunners Werk näher auszuführen, denn es gehe um „entscheidende Fragen der Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung überhaupt, über methodologische Probleme von weitestreichender Bedeutung"662). Denn, so Mitteis weiter, Brunners „Buch ist das erste, das für die verfassungsgeschichtliche Forschung die Staatsrechtslehre des neuen Deutschland fruchtbar macht". Der Wiener Mediävist habe „nichts Geringeres im Sinne [...], als die Bausteine zu liefern zu einem völligen Neubau der deutschen Verfassungsgeschichte, und zwar unter Abkehr von den bisherigen begrifflichen Ausgangspunkten, ja unter Zerstörung des bisherigen, von den Historikern vorwiegend durch Anlehnung an die Jurisprudenz gewonnenen Begriffsapparates". „Diese Ausgangsposition, diese kämpferische Haltung prägt den Stil des Brunnerschen Buches."663) Während Mitteis mit der „leidenschaftlichen Ergriffenheit" des Wiener Historikers wenig anfangen konnte, sie allenfalls als Provokation empfand, freute er sich, einen „Mitstreiter gegen den reinen Positivismus in der Rechtsgeschichte begrüßen" zu können664). Die Vorbehalte gegen die politische Einstellung Brunners klingen zumindest an: „Sicher liegt eine gewisse Gefahr für jede staatsrechtsgeschichtliche Arbeit darin, daß der zur Zeit ihrer Abfassung bestehende Staat als ein von Anfang an vorbestimmter Endpunkt, als endlich erreichtes Ziel angesehen wird und alle Hemmungen auf dem Wege zu ihm als unliebsame Störungen beiseite geschoben werden."665) Übereinstimmung äußert Mitteis mit dem Grundanliegen Brunners, nämlich dem „Hochziel" einer „Verfassungsgeschichte, die zugleich die Grundlagen alles politischen Handelns verstehen lehrt und auf das Ganze der Volksverfassung gerichtet ist"666). Skepsis aber meldet er an, wenn es um die Frage geht, ob jede verfassungsgeschichtliche Studie nunmehr ihren Blick auf das Ganze des „sozialen und wirtschaftlichen Unterbaus" richten müsse und ob die Anwendung moderner Begrifflichkeit sich wirklich ganz vermeiden lasse667). Aber Mitteis' Einwände bleiben insgesamt zaghaft und zahm. So meint er, daß Brunner „die Elemente der Führung" bei der Entstehung und Ent-
) Mitteis, Land (1941), S.255. Brunner reagierte auf die Kritiker vor allem in seiner Auflage, blieb aber durchweg bei seinen früheren Ansichten. Brunner, Land (1942),S.X-XXIV 662) Mitteis, Land (1941).
661
zweiten
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