Zwischen Apokalypse und Alltag: Kriegsnarrative des 20. und 21. Jahrhunderts [1. Aufl.] 9783839410455

Wie vom Krieg erzählen? Die Frage nach den Möglichkeiten und Notwendigkeiten, aber auch nach der schuldhaften Verstricku

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German Pages 328 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung: Kriegsnarrative
Eskalation eines Narrativs. Vier Idealtypen zur Entwicklung der »Ideen von 1914«
Krieg und Posthistoire in Alfred Döblins »Berge Meere und Giganten«
Ernst Jünger: Photographie und Bildpolitik
Der Krieg hat (k)eine Grenze: die Negation des totalen Krieges bei Philosophinnen der 1930er Jahre
Zwischen dem privaten und dem staatlichen Menschen. Die Mechanisierung des Menschen und der Exzess der Freiheit in Józef Wittlins und Andrzej Bobkowskis Kriegsnarrationen
Die Zerstörung Galiziens oder: Der Ethnologe als Kriegsberichterstatter
»… darin die Echos des Krieges widerhallten«: Die Spuren des Zweiten Weltkriegs in der Generationenliteratur
Pastorale Hoff nungslosigkeit. Cormac McCarthys Melancholie und das Böse
Das Trauma des Kriegers
Kontingente Feindschaft? Die Jugoslawienkriege bei David Albahari und Miljenko Jergovic
Ein Kriegsfoto aus Bosnien: Beglaubigungen und Verweigerungen durch Ron Haviv, Susan Sontag und Jean-Luc Godard
Erzfeind und Herzensbruder. Der Deutsche in sowjetischen Kriegsnarrativen
Uniform und Katachrese. Die Armee im russischen Gegenwartsfi lm und die Neuentdeckung Aleksandr Kuprins
Autorinnen und Autoren
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Zwischen Apokalypse und Alltag: Kriegsnarrative des 20. und 21. Jahrhunderts [1. Aufl.]
 9783839410455

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Natalia Borissova, Susi K. Frank, Andreas Kraft (Hg.) Zwischen Apokalypse und Alltag

2009-10-16 13-32-29 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02c4223593545398|(S.

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2009-10-16 13-32-29 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02c4223593545398|(S.

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Natalia Borissova, Susi K. Frank, Andreas Kraft (Hg.) Zwischen Apokalypse und Alltag. Kriegsnarrative des 20. und 21. Jahrhunderts

2009-10-16 13-32-30 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02c4223593545398|(S.

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Diese Arbeit ist im Rahmen des kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs SFB 485 »Norm und Symbol. Die kulturelle Dimension sozialer und politischer Integration« der Universität Konstanz entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Umschlagbild stammt mit Genehmigung der Betreiber von der Internetseite: http://retro.babr.ru Lektorat: S.K. Frank, N. Borissova, A. Kraft Satz: Jörg Burkhard, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1045-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2009-10-16 13-32-30 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02c4223593545398|(S.

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Inhalt

Einleitung: Kriegsnarrative ................................................................... Susi K. Frank (Konstanz/Berlin)

7

Eskalation eines Narrativs. Vier Idealtypen zur Entwicklung der »Ideen von 1914« ..................... Matthias Schöning (Konstanz)

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Krieg und Posthistoire in Alfred Döblins »Berge Meere und Giganten« ................................................................ Lars Koch (Siegen/Berlin)

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Ernst Jünger: Photographie und Bildpolitik ........................................ Bernd Stiegler (Konstanz) Der Krieg hat (k)eine Grenze: die Negation des totalen Krieges bei Philosophinnen der 1930er Jahre .................................................... Nadežda Grigor’eva (Tübingen/Moskau) Zwischen dem privaten und dem staatlichen Menschen. Die Mechanisierung des Menschen und der Exzess der Freiheit in Józef Wittlins und Andrzej Bobkowskis Kriegsnarrationen .......... Renata Makarska (Tübingen)

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Die Zerstörung Galiziens oder: Der Ethnologe als Kriegsberichterstatter ............................................. Annette Werberger (Tübingen)

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»… darin die Echos des Krieges widerhallten«: Die Spuren des Zweiten Weltkriegs in der Generationenliteratur .... Andreas Kraft (Konstanz)

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Pastorale Hoffnungslosigkeit. Cormac McCarthys Melancholie und das Böse ................................... Christoph Schneider (Konstanz)

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Das Trauma des Kriegers ....................................................................... Davor Beganović (Konstanz)

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Kontingente Feindschaft? Die Jugoslawienkriege bei David Albahari und Miljenko Jergović .... Miranda Jakiša/Sylvia Sasse (Berlin) Ein Kriegsfoto aus Bosnien: Beglaubigungen und Verweigerungen durch Ron Haviv, Susan Sontag und Jean-Luc Godard ................................. Tanja Zimmermann (Erfurt/Konstanz) Erzfeind und Herzensbruder. Der Deutsche in sowjetischen Kriegsnarrativen ................................. Natalia Borissova (Konstanz)

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Uniform und Katachrese. Die Armee im russischen Gegenwartsfi lm und die Neuentdeckung Aleksandr Kuprins ............................................... 289 Thomas Grob (Basel) Autorinnen und Autoren .......................................................................

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Einleitung : Kr iegsnarrative Susi K. Frank (Konstanz/Berlin)

Narrative waren und sind ein unerlässliches Instrument, Kriege zu einem historischen Ereignis zu machen, Kriegen Sinn zu verleihen, Kriege in Frage zu stellen oder Kriege in ihrer inneren Logik, in ihrer Funktionsund Wirkungsweise zu erforschen. Seit je wurden Kriege mithilfe von Narration als gerechte Kriege bzw. Verteidigungskriege legitimiert oder als ungerechte Kriege (z.B. Überfall gegen Wehrlose) verurteilt, als einschneidende historische Ereignisse konstruiert, als zentraler Bestandteil von Gründungs- oder anderen Anfangsnarrativen (Befreiung, Wiedergeburt etc.) oder auch von Untergangs- oder Endnarrativen (Apokalypse) eingesetzt. In den letzten 150 Jahren wurden Kriege mithilfe künstlerischer Narration aber auch immer tiefer gehend und gerade in Hinblick auf die Bedeutung von Narration für den Krieg als politische und kulturelle Institution erforscht. Aber auch umgekehrt scheint der Zusammenhang zwischen literaturwissenschaftlicher Narratologie, d.h. zwischen der Entwicklung der Theorie des Erzählens und Krieg als Gegenstand von Narration sehr eng. Wenn man »Krieg« weiter fasst und darunter auch Zweikämpfe und andere ritualisierte Formen der gewaltsamen, kämpferischen Auseinandersetzung fasst, so kann man sagen, dass Erzählungen von Kriegen den zwei zentralen Typen bzw. Richtungen von Narrationstheorien der modernen Literaturwissenschaft zugrunde liegen. Auf der einen Seite den narratologischen Funktions- und Aktantenmodellen, denn diese wurden zunächst am Material von Folkloregattungen wie Märchen und Heldensage entwickelt, bei denen immer eine kämpferische Auseinandersetzung den Kern des Sujets bildet. Da hier kriegerische Auseinandersetzungen einen zentralen Bestandteil jenes rituellen Verhaltens bilden, das den Helden konstituiert1, sind diese 1. Dementsprechend wurde die narratologische Untersuchung der Zauber-

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Theorien auf konstante, für die Narration konstitutive Rollen und auf ihnen basierende Handlungsmuster ausgerichtet. Die zweite narrationstheoretische Richtung geht von Kriegsdarstellungen in künstlerischen Erzähltexten aus, ist daher primär historisch orientiert und somit zentral an narrativen Konzeptualisierungen von Ereignissen interessiert. Wie wichtig und paradigmengebend Krieg auch hier ist, zeigt sich darin, dass dieser immer wieder in theoretisch-narratologischen und philosophischen Texten, aber auch in erzählenden Texten selbst als Paradigma von Ereignis behandelt wurde, wobei das Ereignis bzw. bestimmte Konzepte von Ereignis gemäß den an künstlerischen Darstellungen orientierten narratologischen Maßstäben den Kern, das zentrale Strukturelement eines Narrativs bildet.2 Legt man den Maßstab der von Wolf Schmid aufgezählten Aspekte von Ereignishaftigkeit3 an, so erweist sich, wie wichtig die Kategorie der Ereignishaftigkeit für die narrative Konstruktion von Kriegen war/ist. Fünf Merkmale nennt Schmid: 1. Relevanz der Veränderung 2. Imprädiktabilität (Unvorhersagbarkeit, Kontingenz) 3. Konsekutivität (Folgenschwere) 4. Irreversibilität 5. Non-Iterativität (Unwiederholbarkeit, Einmaligkeit) Drei dieser Kriterien, so scheint es, werden in den meisten narrativen Konstruktionen von Krieg als Ereignis aktiviert: Relevanz der Veränderung, Folmärchen und Bylinen (Propp) auch im sog. Aktantenmodell (Greimas), d.h. einem Rollenmodell weiterentwickelt und hat nicht zur Konzeptualisierung eines komplexen narratologischen Ereignisbegriffs geführt. 2. In gewissem Sinn, meine ich, lassen sich diese beiden Richtungen der Narrationstheorie wenigstens auf die beiden ersten Etappen der historischen Entwicklung narrativer Kriegsdarstellung verrechnen. 3. Vgl. Schmid (2005: 20-27) Gerard Genette widmet diesem Aspekt in seiner Erzähltheorie leider wenig Aufmerksamkeit. Vgl. dazu auch Lotmans Bestimmung der kulturellen Funktion von Narration bzw. Sujetkonstruktion: »Das Sujet ist ein wirksames Mittel, um das Leben zu verstehen. Erst durch die Entstehung erzählender Kunstformen hat der Mensch gelernt, den Sujetaspekt der Realität zu erkennen, das heißt, einen nichtdiskreten Strom von Ereignissen in diskrete Einheiten zu zerlegen, diese mit Bedeutungen zu verknüpfen (also semantisch zu interpretieren) und zu Ketten anzuordnen (syntagmatisch zu interpretieren). Das Wesen des Sujets liegt genau darin, dass Ereignisse – diskrete Sujeteinheiten – unterschieden und mit einer bestimmten Bedeutung versehen, zugleich aber auch in eine bestimmte zeitliche, kausale oder sonstige Ordnung gestellt werden.« (Lotman 2009: 205)

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genschwere und Irreversibilität liegen gewissermaßen der Definition von Krieg als Ereignis zugrunde. Den maximalen Grad an Ereignishaftigkeit können im Vergleich dazu nur Schicksalsschläge, Naturkatastrophen und vor allem der Tod erreichen, bei denen alle genannten Kriterien ausnahmslos zutreffen. Signifi kanterweise gehören Schicksalsschläge und Naturkatastrophen – wenigstens dann, wenn es um Darstellungen aus einer Opferperspektive geht – zum zentralen Bestand der Metaphern, mit denen Krieg immer wieder umschrieben wurde. Und der Tod ist ein zentraler Bestandteil des Krieges selbst, das Mikro-Ereignis um dessen massenhaftes Vorkommen herum der Krieg als Makro-Ereignis konstruiert wurde bzw. wird. Seine Darstellung im Detail, die Darstellung des Einzelschicksals im Krieg gab Anlass, dem Krieg entweder als kollektiver Opferung narrativ Sinn zu verleihen oder in der Darstellung des Kriegstodes als kontingentes Ereignis die Sinnhaftigkeit des Krieges narrativ in Frage zu stellen. Die beiden Aspekte von Ereignishaftigkeit, die narrative Konstruktionen des Krieges manchmal nicht aufweisen, hängen mit seinem Status als politische Institution, deren Aktionsrahmen ritualisiert ist, und – im Zusammenhang damit – als angekündigte, intentionale Handlung zusammen. Genau an diesen beiden Aspekten, so scheint es, scheiden sich zwei Typen narrativer Konzeptualisierung von Krieg als Moment von Geschichte bzw. als historisches Ereignis: Jene, die Krieg als konzertierte kollektive Handlung nach dem Beschluss des Herrschenden auffasst, und die über weite Strecken (z.B. etwa in der das Moment der Ritualisierung mit rhetorischen Mitteln hervorkehrenden Herrscherpanegyrik) bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts Gültigkeit hatte, und die, die Krieg als der Kontrolle des Einzelnen entgleitendes, eigendynamisches und schwer beschreibbares komplexes und in zahllose Einzelhandlungen zerfallendes Geschehen auffasst. Die Entstehung dieser Sichtweise stand im Zusammenhang der Reflexion von Geschichtsmodellen, von historischer Teleologie und der Kritik von Herrschaftsgeschichte und hat eine historische Reichweite von Tolstoj und dem von ihm zitierten Stendhal bis hin zu Gilles Deleuze, der im Rückbezug auf diese Autoren des 19. Jahrhunderts die Schlacht und den Krieg generell als Paradigma zur Veranschaulichung seines Ereignisbegriffs gewählt hat: »Wenn die Schlacht kein Ereignisbeispiel unter anderen ist, sondern das Ereignis in seiner Essenz, dann zweifellos deshalb, weil sie auf vielfältige Weise gleichzeitig abläuft und jeder Teilnehmer sie auf einer unterschiedlichen Verwirklichungsebene in ihrer wandelbaren Gegenwart erfassen kann: So etwa in den mittlerweile klassischen Vergleichen zwischen Stendhal, Hugo, Tolstoi hinsichtlich ihrer »Sicht« der Schlacht und der Art, ihre Helden die Schlacht sehen zu lassen. Dies jedoch vor allem deshalb, weil die Schlacht ihr eigenes Feld

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überfliegt, neutral ist gegenüber ihren zeitlichen Verwirklichungen, neutral und unerschütterlich gegenüber Siegern und Besiegten, gegenüber den Feigen und den Mutigen und darum um so schrecklicher, niemals gegenwärtig, stets noch bevorstehend und schon vergangen; sie kann also nur durch den Willen erfasst werden, den sie selbst dem Namenlosen eingibt, einen Willen, den man wohl einen der »Indifferenz« eines tödlich verwundeten Soldaten zu nennen hat, der nicht mehr mutig oder feige ist und nicht mehr Sieger oder Verlierer werden kann, so schon jenseits von allem, dort, wo sich das Ereignis aufhält, und so an dessen furchtbarer Unerschütterlichkeit teilhabend. »Wo« ist die Schlacht? Deshalb sieht der Soldat sich fliehen, wenn er flieht, sich aufbäumen, wenn er sich aufbäumt, dazu bestimmt, jede zeitliche Verwirklichung aus der Höhe der ewigen Wahrheit des Ereignisses zu betrachten, die sich in ihr und so schmerzhaft in seinem Fleisch verkörpert.«4

An einer späteren Stelle der »Logik des Sinns« fragt Deleuze: »Warum ist jedes Ereignis vom Typus der Pest, des Krieges, der Verwundung, des Todes?« und gibt die Antwort, diese Ereignisse machten die »Doppeltheit« jedes Ereignisses sichtbar, die in der untrennbaren Kombination von privater Singularität und unpersönlicher, kollektiver und allgemeiner Bedeutung bestehe.5 Entscheidend für die Verbindung zwischen Tolstoj und Deleuze ist unter narratologischen Gesichtspunkten die Auffassung des Krieges als Ereignis, gerade weil Krieg nicht als kontrollierte Handlung zu verstehen sei. Narratologisch auf die Spitze getrieben wird diese Position von Derrida, in dessen kleiner Schrift zur »unmöglichen Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen« (Derrida 2003) Krieg zwar nur ein peripheres Beispiel ist, wo jedoch die Problematisierung der Erzählbarkeit von Ereignis bzw. die komplexe und paradoxale narrative Konstruktion des als Ereignis aufgefassten Geschehens, einen retrospektiven Vergleich mit Tolstoj nahelegen. Dass Krieg als Grundereignis menschlicher Erfahrung aufgefasst wurde, lag sicher nicht nur daran, dass es unter einem Begriff zusammengefasste Formen gewaltsamer Auseinandersetzung zwischen Kollektiven immer gab, seit es menschliche Gesellschaften und Kulturen gibt. Davon, wie einschneidend seine Ereignishaftigkeit wahrgenommen wurde, zeugt auch die Tatsache, dass Krieg – neben der Liebe – zu den ältesten Themen von Literatur gehört. In Darstellungen von Krieg und Liebe – mit den homerischen Epen – wird der Anfang der abendländischen Literatur gesehen6. Dementsprechend waren die literarischen wie überhaupt die künst4. Deleuze 1993: 132. 5. Ebd.: 189ff. 6. Wenn man bedenkt, dass zwar Krieg als Metapher bestimmter Entwick-

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Einleitung

lerischen Formen der Kriegsdarstellungen ebenso zahlreich und ausdifferenziert wie die der Liebesdarstellung: Topik und Metaphorik für beide Themen haben eine ähnlich lange Geschichte, waren über Jahrhunderte vergleichbar standardisiert und zugleich vielfältig 7. Dieser poetischen Standardisierung entspricht auf Seiten der realen Institution Krieg eine analoge Standardisierung bzw. Ritualisierung der Verhaltensnormen, mit der alle Situationen des militärisch-kriegerischen Alltags abgedeckt und Gewaltakte institutionell aufgefangen, mit symbolischem Wert versehen und ästhetisiert werden. In den Epochen normativer und rhetorisierter Poetik war die Darstellung von Kriegen als höchste Rituale politischen bzw. herrschaftlichen Kräftemessens den hohen Gattungen (Epos, Ode) und der höchsten Stilebene vorbehalten. Dies ist eine Zuordnung, die aussagekräftig ist für die kollektive Bedeutung von Krieg: Künstlerischen Kriegsnarrationen kam zentrale Bedeutung bei der Legitimierung von Herrschermacht und für die Begründung kollektiver Identität zu. Mit ihnen wurden Abgrenzungen gegen das kulturelle und v.a. religiöse Gegenüber vorgenommen, das als »Feind«, als Bedrohung durch das Böse gewertet wurde. Zugleich wurden damit (auch mithilfe typologischer Vergleiche mit historisch früheren Kriegen) Anfänge, Ursprünge und Neugründungen der Gemeinschaft gesetzt und die eigene Geschichte in einen größeren historischen Zusammenhang gestellt (sei es heilsgeschichtlich, sei es weltgeschichtlich). Selbstkonzeptualisierungen als »Opfer« und die Konzeptualisierung des »Feindes« spielten eine zentrale Rolle bei Entwürfen kollektiver Identität, die sich über Kriegsdarstellung vollzogen. Solche Kriegsdarstellungen dienten der Konzeptualisierung des Heroischen als Verhaltensnorm, mit deren Hilfe dem massenhaften Leiden und dem Tod ein Sinn gegeben werden konnte, so dass Zweifel am Krieg als Institution nicht auf kamen. Kriegsdarstellungen dienten der Legitimierung und Verklärung von Herrschermacht oder der Motivierung der Krieger, der Armee, des Volkes – überhaupt zu kämpfen und gegen den speziellen Gegner als »Feind« vorzugehen. Sämtliche dieser das Kollektiv und den Einzelnen als Teil des Kollektivs lungen in der Liebe verwendet wird, aber Liebe doch eher schlecht als Metapher für Krieg verwendet werden kann, könnte man auf die Idee kommen, den Krieg als Motiv literarischer Beschreibungen sozialer Beziehungen als noch grundlegender zu erachten. Diese Vermutung wird auch durch die Tatsache gestützt, dass die dem Krieg vorbehaltenen Gattungen und Stile in der Gattungs- und Stilhierarchie über denen der Liebesdarstellungen stehen, es sei denn es geht um tragische Liebe. 7. Zum sog. Petrarkismus in der Liebesdichtung der Renaissance und des Barock, für den die Kriegsmetaphorik zentral war, vgl. z.B. Lachmann (1994)

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betreffende Konzepte werden mithilfe von Narration entwickelt, genauer: mithilfe narrativer Muster, die erlauben, dem betreffenden Krieg eine Position und eine Bedeutung im temporalen Kontinuum zu geben und Kriege zu einem zentralen, markiert-gliedernden Element innerhalb des Meganarrativs Geschichte zu machen, das mit nicht-markierten Perioden alterniert und so Geschichte strukturiert. Solche Muster wie »Apokalypse« oder »Anfang« haben die Herausgeber für den dem Band zugrunde liegenden Workshop als Titel gewählt. Auch innerhalb dieser narrativen Muster wird mithilfe von Rollenzuschreibungen in Aktantenstrukturen politische und kulturelle Identität durch Gegenüberstellung und Abgrenzung konstruiert, wodurch narrative Darstellungen von Krieg der Etablierung von Rollenund Positionskonstellationen über die Grenzen des Krieges hinaus dienen. Eine reflexive und kritische Auseinandersetzung mit dem Erzählen des Krieges und mit seiner Ereignishaftigkeit zeichnete sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ab und wurde für die Poetik des Krieges im 20. Jahrhundert entscheidend. In ihren Anfängen stand sie im Kontext 1. einer Kritik der heroisierenden und ästhetisierenden Tradition der Kriegsrepräsentation, die mitunter – wie z.B. beim frühen Tolstoj oder schon früher, in der bildenden Kunst, bei Goya – bis zu einer Infragestellung der Institution Krieg als solcher gehen konnte; und 2. des Einsatzes neuer Medien, Gattungen, und Möglichkeiten der Kriegsbeobachtung. Durch neue Pressemedien wie die illustrierte Wochenzeitung stieg zum einen die Informiertheit der Öffentlichkeit an, durch Illustrationen (zunächst meist auf der Grundlage von Fotos angefertigte Lithographien) wurde die Vorstellung vom Krieg auch in bisher ungewohnten Aspekten (z.B. Gefangenentransporte, Lazarette, Schlachtfelder mit Toten etc.) konkreter. Durch die neue Figur des den Krieg von seinen ›Rändern‹ her beobachtenden Augenzeugenreporters kamen neue Aspekte und Perspektiven in den Blick und zugleich wurde die (auch die technisch avancierteren Distanzwaffen bedingte) »Unsichtbarkeit« des eigentlichen Krieges, des Kampfes zu einem Thema. Die Problematik der Wahrnehmbarkeit und der Konstruiertheit des Krieges als Ereignis bzw. seine tatsächliche Gestalt als Ansammlung unzähliger Einzelereignisse und die Fragwürdigkeit des Verständnisses als organisierte, gesteuerte und konzertierte kollektive Handlung rückten durch den Augenzeugenreporter in den Blick. Diese Problematisierung der Wahrnehmbarkeit war zudem mitbedingt durch das Medium der Photographie, dessen Entdeckung und Anwendung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zugleich neue Maßstäbe in puncto Authentizität setzte und die subjektive Einschränkung jeder Art von Perspektivierung, d.h. die prinzipielle Verwobenheit von Authentizität und Subjektivität klarmachte

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Einleitung

und damit auch den prinzipiell fi ktionalen Charakter objektiver Darstellung (Frank 2009)8. Gerade literarische narrative Texte wurden so zu einem wichtigen Instrument, die Bedeutung von Narration für Kriege erzählerisch darstellend zu erforschen und ihre kulturelle Funktion zu reflektieren. Ab diesem Zeitpunkt traten Strategien des Bezeugens als Zusatz, als Konkurrenz zum Erzählen, oder als anti-narratives Gegenmodell der Kriegsrepräsentation auf den Plan (vgl. im Folgenden zu Tolstoj). Für diese Etappe der historischen Entwicklung der Kriegsnarrativik lassen sich bislang drei z.T. parallel verlaufende Ausrichtungen ausmachen und eine vierte, die, so scheint es, in den 1990er Jahren ihren Anfang im Bereich der künstlerischen Kriegsdarstellung genommen hat und heute den Fokus der wissenschaftlichen Erforschung der Kriegsnarrativik bildet: 1. Reflexion von Wahrnehmung, Erzählung, Ereignis (Bezeugen 1) 2. Reflexion von »Propaganda« und reflektierter Einsatz narrativer Strategien zur Konstruktion kollektiver Identifi kationsmuster 3. Reflexion und Darstellung der Traumatisierung: Erzählen der Nichterzählbarkeit (Bezeugen 2) sowie 1. Narrative Entgrenzungen des Krieges und narrative Reflexionen der Entgrenzung des Krieges

1. Narrative Reflexion von Kr ieg als Ereignis Die erste Ausrichtung entwickelte sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts und neben Stendhal kann vor allem Lev N. Tolstoj mit seinen Kriegserzählungen über den russischen Kaukasuskrieg, über den Krymkrieg (»Sevastopoler Erzählungen«) (vgl. Frank 2009) und später auch mit seinem monströsen Monumentalroman »Krieg und Frieden« als Begründer dieser Ausrichtung gelten. Tolstoj – inspiriert durch Stendhals Darstellung der Schlacht von Waterloo sowie durch die Photographie und das damals neue Pressemedienformat der illustrierten Wochenzeitungen – entwickelte gerade in den frühen Kriegserzählungen eine für die Poetik der Epoche des Realismus wegweisende Perspektivierungstechnik, mit dem auktorialen Erzähler als zentralem Instrument zur Explizierung der Gedanken und Gefühle der Figuren. Diese Technik fungierte zum einen als Authenti8. Vgl. zu diesen sich in der medialen Rezeption des Krimkriegs abzeichnenden Konstellationen und Einstellungen auch Keller (2001) und Daniel (2006).

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sierungsstrategie und diente zum anderen der Entblößung und Hinterfragung der stereotypen Konzepte und Narrative wie jene vom »Heldentum«, »Ruhm« und der »Schlacht« als geordnetes, überschaubares Geschehen in der Kriegsdarstellung der älteren Literatur und der aktuellen Presse. So wurde auch schon das gerade erst in der Literatur und im Rahmen der neuen Pressegattung der Reportage entwickelte Konzept des Augenzeugen (vgl. Daniel 2006: 40ff.) von Tolstoj mithilfe der Instrumente fi ktionalen Erzählens einer Reflexion unterzogen9. Bereits an diesem Anfangspunkt der fi ktionalen Reflexion von Kriegsnarration bzw. der Metanarrativik des Krieges bei Tolstoj zeigt sich, dass es keinen direkten und notwendigen Zusammenhang zwischen der Reflexion von Narration, selbstreflexiven Narrationsstrategien und einer bestimmten Wertungshaltung gegenüber dem Krieg gibt. Denn obwohl in Tolstojs ersten Erzählungen narratologische Reflexion und prinzipielle Kritik am Krieg Hand in Hand gingen – Tolstoj war vielleicht einer der ersten und sicherlich in seiner Zeit einer der ganz wenigen, die Krieg mit Mord gleichsetzten –, so stellte er bereits in den »Sevastopoler Erzählungen« die neue narrative Technik in den Dienst einer patriotischen Propaganda und der Konzeptualisierung neuer »Helden« für das Vaterland, die dem »Volk« Vorbild sein und seine nationale Identität – über die Niederlage des Krimkriegs hinweg – retten und stärken sollten. Ähnliches gilt für »Krieg und Frieden«, dessen diskursive Kernstrategie eine literarische Auseinandersetzung mit dem historiographischen Diskurs bildet, wobei der Begriff des historischen Ereignisses, die Möglichkeit es zu bestimmen und in der ganzen Komplexität seiner unzähligen Faktoren adäquat zu beschreiben im Zentrum steht. Diese Möglichkeit wird der Geschichtsschreibung ab-, aber der Literatur zugesprochen: verkürzt gesagt, weil jene nur stark reduktionistisch allzu einfache kausale Zusammenhänge und Abläufe konstruieren kann, während diese durch Multiperspektivismus in der Lage ist, Komplexität narrativ und beschreibend zu rekonstruieren. Zugleich verfolgt dieser Roman ein rhetorisch-didaktisches Ziel und konkurriert in dieser Hinsicht ebenfalls mit der Historiographie: Die Darstellung der Schlacht von Borodino und des Endes des Napoleonfeldzugs 1812 nach seinem Einmarsch in Moskau als Sieg des russischen Volkes unter dem Feldherrn Kutuzov als weisem Volksführer. Als eine mit dem historischen Roman narrativ in Hinblick auf die 9. Manuel Köppen (2005: 55ff.) spricht in Bezug auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts in Anlehnung an Walter Benjamin von sogar einer Krise der Repräsentation, die bis zum ersten Weltkrieg im Kontext des sukzessiven Einsatzes der neuen Medien Photographie und Film die Narrationstechniken verunsichert hätte.

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Einleitung

Kriegsdarstellung konkurrierende bzw. polemisierende Gattung erscheint der pikareske Roman: Nicht nur, dass es sich dabei um die einzige Gattung zu handeln scheint, die prinzipiell mit einer bestimmten, nämlich negativen Wertung des Krieges einhergeht – Krieg wird in der pikaresken Tradition durchgängig als verkehrte Welt gedeutet (und fungiert damit semantisch als Zuspitzung des Normalzustands der real existierenden Welt) –, der pikareske Roman polemisiert auch mit der Auffassung des Krieges als ›großes‹ Ereignis der Geschichte, indem er seine Ereignishaftigkeit mit narrativen Mitteln in Frage stellt. Obwohl in der potentiell unendlichen Aneinanderreihung von abenteuerlichen Episoden hypernarrativ, kann man in pikaresken Kriegsromanen – paradigmatisch hier insbesondere Jaroslav Hašeks Švejk oder Joseph Hellers Catch 22 – insofern antinarrative Strukturen ausmachen, als sie gerade mithilfe der Iterarisierung von Ereignissen, mithilfe permanenter Enttäuschung von Ereigniserwartung, mithilfe der jegliche Teleologie hintertreibenden Zyklizität bzw. Kreisstruktur des Chronotops u.ä. den Krieg als nicht-erzählbar erweisen und ihn damit als Nicht-Ereignis erkennbar machen. Als Zeitgenosse der Avantgarde und als Teilnehmer des Ersten Weltkriegs parodiert Hašek in seinem Roman reflexiv Kriegsgeschichtsschreibung als Negativ-Folie, gegen die sein eigener Text – gewissermaßen als pikareske Variante von Šklovskijs sujetloser Prosa – anschreibt. In Hinblick auf narrative Reflexivität in Verbindung mit dem Einsatz narrativer Verfahren als Element einer politischen Strategie lässt sich ein Bogen zunächst von Tolstoj zur Kriegsnarration und zum Kriegsverständnis der Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts und dann sogar noch weiter zur Kriegskritik als prinzipieller Narrationskritik, die spätestens mit Adorno nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzt, schlagen. Man kann diese Positionen in 1. die Phase der Entwicklung einer reflexiven und zugleich performativen Poetik der Kriegserzählung und 2. die Phase der anti-narrativen Reflexivität einteilen. Mit je eigenen und weit auseinanderliegenden politischen Zielen erzählen die Kriegstexte von Futuristen und Avantgardisten wie Majakovskij, Marinetti oder Šklovskij nicht nur vom Krieg, sondern machen selbst Krieg, d.h. sie führen Krieg performativ vor und reflektieren diese performative Dimension als genuin literarische, also als eine, die der Literatur schon immer eignete. Zahlreiche Werke der russischen Literatur, die thematisch dem nach-revolutionären Bürgerkrieg gewidmet sind und strukturell bzw. erzähltechnisch die spätavantgardistische Poetik der sogenannten »Faktographie« realisieren, verfolgen das performative Ziel einer aktiven Beteiligung an dem als Fortsetzung bzw. Höhepunkt der Revolution bzw. als kreative Neukonstruktion der Welt bzw. »Lebenbauen« (žiznestroenie) der sowjetischen Welt verstandenen Bürgerkrieg. Narratologische Selbstrefle15

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xivität führte hier (noch) nicht primär zu einem ›Rückzug‹ aufs Bezeugen, sondern zu einem Entfalten der performativen Potentiale eines reflexiv aufgebrochenen Erzählens. Und zur selben Zeit verstehen die ersten Literaturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts, die russischen Formalisten, Šklovskij und Tynjanov, Literatur selbst in ihrer historischen Dynamik als permanenten Kampf, d.h. als Krieg. Auch für Viktor Šklovskij, der als Truppenführer zum Einsatz kam, war Krieg durchaus eine Selbstverständlichkeit. Šklovskij erprobte sein (anhand von Vasilij Rozanov und Laurence Sterne entwickeltes) Konzept der »sujetlosen Prosa« erstmals in seinem autobiographischen Prosatext über den Ersten Weltkrieg, den er mit einem hochgradig literarischen (antidokumentarischen) Titel »Sentimentale Reise« nennt. In einem Text, der mithilfe des Montageprinzips, Entblößung intertextueller Bezogenheit und einer Engführung von autobiographischer Erzählung und literaturtheoretischer Reflexion die Mechanismen konventioneller (Kriegs)narration – v.a. die Erzeugung von Kohärenz- und Kausalitätseffekten – unterlaufen will, treibt Šklovskij die narrative Reflexion der Kriegsnarration noch weiter … und verfolgt doch die Absicht – gerade so –, authentisch zu erzählen. Im folgenden Zitat manifestiert sich die Komplexität und vielleicht auch Widersprüchlichkeit der narrativen Position Šklovskijs: Er hebt an mit einer Kritik des in den Weltkriegsjahren als Meister der authentischen Kriegsdarstellung gefeierten Autors von »Le Feu«, Henri Barbusse: »Ich habe nichts übrig für ›Le Feu‹ von Barbusse, es ist ein gekünsteltes, konstruiertes Buch.« – und fährt fort, indem er seine Absicht zu erzählen bekundet: »Über den Krieg zu schreiben, ist sehr schwer. … Genauso schwierig ist es, die Stimmung an der Front zu beschreiben, ohne seine Zuflucht zu den üblichen verlogenen Gemeinplätzen zu nehmen. … Aber ich will erzählen. Ich will versuchen zu erklären, wie ich die Ereignisse auffasste.« (Šklovskij 1964: 85) An anderer Stelle reduziert er sein Vorhaben wiederum auf einen sich der kritischen Wertung enthaltenden Bericht: »… ich will nicht Kritiker der Ereignisse sein, ich will nichts weiter, als dem Kritiker ein wenig Material liefern./Ich will nur von den Ereignissen berichten und der Nachwelt als anatomisches Präparat dienen.« (Šklovskij 1964: 33)

Gerade für diese Periode, die künstlerische Epochenformation der Avantgarde ist eine in Hinblick auf rhetorische und politische Absicht sowie auf Kriegsverständnis und Menschenbild völlig gegensätzliche Verwendung der die Narration auf brechenden Verfahren auffallend. Marinettis futuristische Kriegsapotheosen, die mit dem Krieg zugleich die Zerstörung des Subjekts und seine Ersetzung durch die Maschine feiern (vgl. SchulzBuschhaus 1993), stehen krass jenen mit Texten gegenüber, die parallel zu 16

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Freuds Entwicklung einer Traumatheorie und Walter Benjamins »Choc«Begriff versuchen, den aus den psychisch nicht zu bewältigenden Kriegsereignissen resultierenden Verlust der Erfahrung und die daraus folgende Nicht-Mehr-Mitteilbarkeit des Krieges dennoch narrativ adäquat wiederzugeben (vgl. zu dem späteren Beispiel von Claude Simon Albers 2002). Auf einer poetologischen Ebene den futuristischen Texten durchaus vergleichbar, werden z.B. in den Texten von Herrmann Köppen (vgl. Horn 2001) Verfahren entwickelt, die eine Kohärenz stiftende und Kontinuität herstellende Narration verunmöglichen, anti-narrative Verfahren also, die Traumatisierung vorführen wollen als eine nachhaltige Beschädigung der Möglichkeit, Erfahrenes als Erlebnis in eine kohärente Lebensgeschichte zu integrieren.

2. Narrationskr itik durch Metanarrativ ik und Antinarrativ ik Von Marinetti lässt sich eine historische Linie zu Ernst Jünger und seinen narrativen Realisierungen des Konzepts des »totalen Krieges« 10 ziehen, von Freud und Benjamin eine zu Adorno und der Poetik der deutschen KriegsDokumentarliteratur der 1960er – 1990er Jahre (von Alexander Kluge bis Walter Kempowski). Nach der Erfahrung des Holocaust radikalisierte Adorno Benjamins Position: der Krieg und der Holocaust blieben der Erfahrung notwendig entzogen und Erzählen sei nicht mehr in der Lage, Kontinuität herzustellen in einer Folge von »zeitlosen Schocks, zwischen denen Löcher, paralysierte Zwischenräume klaffen.« (Minima Moralia) Adorno nahm den von ihm erlebten Krieg als »Zerfall« wahr als einen Krieg, »an dessen Anfang sich schon keiner mehr erinnern kann, wenn er zu Ende sein wird«, als »diskontinuierliche, durch leere Pausen getrennte Feldzüge«, von denen keiner mehr erzählen könnte »wie noch von den Schlachten des Artilleriegenerals Bonaparte erzählt werden konnte« (Adorno, Minima Moralia, zitiert nach Schulz-Buschhaus 1992). Ausgehend von Adornos radikaler Absage an eine »Kunst nach Auschwitz« versuchten vor allem deutsche Autoren ab den 1960er Jahren den Zweiten Weltkrieg mithilfe von an der Avantgarde geschulten antinarrativen und metanarrativen Verfahren wenn nicht zu verarbeiten, so doch zu erforschen und damit aktiv am kollektiven Gedächtnis zu arbeiten und Verdrängungsmechanismen entgegen zu wirken. 10. Vgl. zu diesem Konzept die Beiträge von Schöning, Stiegler und Grigor’eva in diesem Band.

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In wichtigen Texten z.B. von Alexander Kluge (Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945 und Schlachtbeschreibung) und später W.H. Sebald (Luftkrieg und Literatur) und Walter Kempowski (Das Echolot) bedeutet »mit narrativen Mitteln erforschen« in erster Linie immer auch die Erforschung des narrativen Umgangs – sei es direkt im Alltag der konkreten Erfahrung, sei es retrospektiv erinnernd – mit Erfahrungen, die nicht integriert, nicht verarbeitet werden können, und für die es keine Sprache gibt. Erzählungen fungieren also als Bestandteile eines bezeugenden Zeigens und werden so in ihrer Beschränktheit und Inadäquatheit in Bezug auf das Ganze ausgestellt. Sie entwickeln sozusagen eine »Sprache des Bezeugens« ganz im Sinne von Agamben: »Die Sprache des Zeugnisses ist eine Sprache, die nicht mehr bedeutet, die aber in ihrem Nicht-Bedeuten eindringt in das, was ohne Sprache ist – bis sie ein anderes Nicht-Bedeuten aufnimmt, das des vollständigen Zeugen.« (Agamben 2003: 34) Es scheint, als hätte sich diese Strategie als rein anti-narrative gegenwärtig erschöpft. Aber kann das an den Autoren, die das Wort nach und entgegen Adornos Apodiktik erhoben haben? Sie haben doch bis ins Letzte die narrativen Möglichkeiten der Darstellung unter der Bedingung des Nicht-adäquat-Erzählen-Könnens reflektiert und neue narrative Strategien entwickelt. Denn in einer Situation, in der es darum ging 1. Traumatisierung sowie das psychisch nicht zu verarbeitende Ausmaß der von Menschen verursachten Tragödie adäquat darzustellen und 2. sich nicht zum Instrument einer als politisch verwerflich eingestuften Strategie der integrierenden, Kohärenz stiftenden Narration schuldig zu machen, sollten neue Wege des Erzählens gesucht werden, die in der Lage sein sollten zu bezeugen ohne sich durch narrative Sinnstiftung schuldig zu machen. Parallele und je sehr eigene Wege anti-narrativen Erzählens wurden hier eingeschlagen. Alexander Kluge, der den Krieg als »administratives Gebilde« deklarierte, führte – fingierte oder authentische – »personale Narrationen« als Elemente der »Katastrophe«, des »Unglücks« und z.T. als Teile der »die Kriegsmaschine stabilisierenden ideologischen Praxis« vor (Volkening 2007) und erzählte selbst indirekt mithilfe der Montage von markiertem (Dokumentar-)material oder durch Aufzeigen der Widersprüche, die sich aus der Zusammenschau anderer Erzählungen ergeben. Dabei handelt es sich um ein Verfahren, durch das die Listen des Erzählens aufgespürt werden. So z.B im Untertitel zu Kluges Stalingrad-Text, »Der organisatorische Auf bau eines Unglücks«, wo durch das paradoxe Aufeinanderprallen der inkompatiblen Begriffe »Organisation« und »Unglück« auf die Ohnmacht der Sprache und zugleich auf die Verschlagenheit narrativer Strategien hingewiesen wird. Dennoch, anders als etwas später Walter Kempowski, der auf der Basis eines monumentalen Sammelwerks die Bände des Echolot als reine Zitaten-Montage präsentiert, griff Kluge – nicht einmal besonders 18

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versteckt – auf Formen des auktorialen Erzählens zurück, mit dessen Hilfe so nie artikulierte Befindlichkeiten artikuliert und Situationen des unmittelbaren Kriegserfahrung sozusagen von innen an ein Leserbewusstsein vermittelt werden können (z.B. im Luftangriff auf Halberstadt). Auch wenn Kluge die Absicht äußerte, auf eigene Narration völlig zu verzichten und »im eigenen Text keinen historischen Sinn herzustellen«, so beweist er doch mit seinen Texten, die sehr deutlich mit narrativen Mitteln die Veranschaulichung seines kritischen Kriegsverständnisses inszenieren, das Gegenteil (vgl. zu Kluges Narrativität bereits Carp 1988). Bei Kluge wie z.B. auch bei Danilo Kiš, der wie Kluge den fi ktionalen Umgang mit Dokumenten nicht scheute und auch im Fingieren von Dokumenten ein adäquates Instrument der Erlangung einer »tieferen Authentizität« sieht (vgl. dazu Sasse 2001 und Lachmann 2004), wird also das gegen Narrativität ausgespielte Bezeugen selbst in die metanarrative und narratologische Reflexion der Fiktionalität miteinbezogen. Autoren wie diese haben im Gefolge und zugleich in Abgrenzung von Adorno eine im Gegensatz zur Avantgarde, auf der sie poetologisch betrachtet ja basieren, zutiefst kriegs- und gewaltkritische Kriegsliteratur dadurch geschaffen, dass sie versuchten, die dem Erzählen eigene mnemonische Funktion zu bewahren, sich jedoch der sinn- und identitätsstiftenden zu verweigern. W.G. Sebald dagegen wählte anstelle des metanarrativen den narratologischen Weg der Verweigerung narrativer Integration, indem er seine Geschichte des Zweiten Weltkriegs in eine Kritik anderer ›faktionaler‹ Weltkriegsromane verpackte. Aber auch bei ihm geht es darum, die »Realität der Erfahrung« gebrochen durch die »Reflexion ihrer Erschütterung« (Volkening 2005) zu zeigen11. Zu diesen narratologischen Reflexionen der Kriegsrepräsentation finden sich interessante Parallelen in jenen modernen Medien, die als Möglichkeiten authentischen Bezeugens die härtesten Konkurrenten literarischer Kriegsdarstellung waren: im Film und in der Dokumentarfotografie. Im Gegensatz zur Fotografie arbeitet der Film ähnlich der Erzählung mit 11. Freilich geht es hier nicht darum, transkulturell zu generalisieren. Denn aus französischer Perspektive lagen die Dinge schon etwas anders, wie Paul Virilios Worte von 1984 zeigen: In der Veränderung der Kriegsnarrativik diagnostizierte er nicht primär den Versuch anti-narrativer Strategien politische Mitschuld zu vermeiden, sondern ein Symptom der Postmoderne, der Epoche des ›Verlusts‹ der »großen Narrative« – über den J.F. Lyotard und dann auch H. White geschrieben haben: »Die große Erzählung vom totalen Krieg ist zerbrochen zugunsten eines fragmentierten Kriegs, der seinen Namen nicht nennt, eines inneren Kriegs, gleichsam in den Eingeweiden der Gesellschaft« (Der reine Krieg, dt. 1984)

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der narrativen Möglichkeit des Faktischen (Lachmann) bzw. des Ereignisses (Paech) und hat insofern vergleichbare Möglichkeiten durch Antinarrativität Authentizität zu gewinnen. Auf ein Filmbeispiel, dessen Signifi kanz unabhängig zu sein scheint von der Differenz zwischen digitalem und analogem Film, hat Joachim Paech verwiesen: Das Beispiel eines im Irakkrieg getöteten Kameramanns, dessen Kamera seinen Tod im Kippen der Bilder in ein Flimmern und Rauschen bezeugt, indiziert die Nicht-Erzählbarkeit des wichtigsten Ereignisses, das den Einzelnen im Krieg betreffen kann, des Todes. Aber auch im Medium der Fotografie, deren der Indexikalität und damit der unbedingten Referentialität geschuldeter Authentizitätseffekt von Walter Benjamin bis Susan Sontag mit dem Begriff »Choc« bezeichnet wurde, und die seit ihren ersten Einsätzen als Medium der Kriegsrepräsentation gerade wegen ihres prinzipiell nicht narrativen Charakters als Maßstab literarischer Authentizität, aber zugleich als defizitär und der narrativen Auslegung bedürftig galt, wird, bedingt durch die Möglichkeiten der Digitalisierung – die die indexikalische Qualität wenigstens partiell aufhebt –, Dokumentarität immer wieder als Effekt von Konstruktion vorgeführt und reflexiv mit den medienspezifischen Wahrnehmungsgewohnheiten des Betrachters gespielt. Wichtige Beispiele hierfür wären z.B. die digital hergestellten und mit anti-narrativen bzw. anti-referentiellen Titeln versehenen ›Kriegsbilder‹ von Jeff Wall – wie z.B. »Dead Troops Talk (A vision after an ambush of a Red Army patrol, near Moquor, Afghanistan, winter 1986 (1992)«, ein Bild, das Sontag als »Antithese eines Dokuments« verstanden und begrüßt hat, weil es keine Möglichkeit zu verstehen oder sich etwas vorzustellen lässt: »We truly cannot imagine what it was like […]. Can’t understand, can’t imagine.« (Sontag 2003: 125f.) Obwohl Sontag hier von einem gelungenen Antikriegsbild spricht, scheint es doch offensichtlich, dass dieser Effekt nicht durch das Bild selbst, sondern erst durch die Struktur des Untertitels erzielt werden kann, die den fiktionalen bzw. narrativen und den anti-dokumentarischen Charakter des auf den ersten Blick als Dokumentarfoto gewerteten Werks explizit macht. Zusammenfassend lassen sich drei wichtige Ziele dieser radikal narrationskritischen Richtung der Kriegsdarstellung seit den 1960er Jahren, die den Gipfel- und gewissermaßen auch einen vorläufigen Endpunkt jener Entwicklung markiert, die Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Anfang genommen hatte, ausmachen: 1. die adäquate narrative Repräsentation von Repräsentationsunmöglichkeiten: der Unmöglichkeit zugleich authentisch (subjektiv) zu sein und den Krieg als ›historisches Ereignis‹ zu erzählen; der Unmöglichkeit der reinen Referentialität ohne intertextuelle Bezugnahme; der Unmöglich20

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keit, den Tod als zentrales, jeden einzelnen (potentiell) betreffende Ereignis des Krieges authentisch zu erzählen; und schließlich der Unmöglichkeit, die Zerstörung des Subjekts und seine Traumatisierung narrativ zu repräsentieren. 2. zu erzählen und sich dabei trotzdem vom Verdacht der Komplizenschaft des Erzählens freizuhalten (vgl. dazu z.B. Das Handwerk des Tötens von Norbert Gstrein, in dem die Unentscheidbarkeit zwischen Fakt und Fiktion mithilfe einer komplex verschachtelnden Perspektivierungstechnik narrativ entfaltet wird).12 Und 3. den Krieg als Zerstörung jeder Ordnung und Kohärenz performativ, d.h. z.B. auch in der Erzählordnung mit zu vollziehen. Lenkt man den Blick auf den auch für die Zusammenstellung der Beiträge in diesem Band relevanten Aspekt des Kulturvergleichs, so zeichnen sich kultur- bzw. landesspezfische Entwicklungen der Kriegsnarrativik im 20. Jahrhundert ab, die etwas zu tun zu haben scheinen, mit der historischen Rolle des Landes in Kriegssituationen. Stellt man etwa die auf dem Bewusstsein von Täterschaft einerseits und Kriegsverlust andererseits basierende deutsche Literatur der 60er Jahre der russischen Literatur der Nachkriegszeit gegenüber, die auf einer Kombination von Sieger- und Opferbewusstsein basiert, so liegt der Schluss nahe, dass sich die hohe Narrativitätssensibilität der deutschen Dokumentarliteratur nicht zuletzt der Auseinandersetzung mit der Täterrolle verdankt, während die russische Literatur ungeachtet einer affirmativen oder aber kritischen Haltung gegenüber der politischen Führung konzertiert mit bewährten narrativen Mitteln an einem Opferdiskurs arbeitet. Alle innerliterarischen narratologischen Reflexionen sind nicht nur dank der außerliterarischen Entwicklungen im diskursiven und medialen Bereich zustande gekommen, sondern haben auch auf diesen Bereich zurückgewirkt. Dies allerdings ohne dabei eine Weiterführung der narrativen Praxis im Rückgriff auf narrative Muster zu verhindern bzw. die durch Abgrenzungen und Feindbilder Integration und Kontinuität sichernde Funktion der Kriegsnarrative zu beeinträchtigen und ohne die prinzipielle Politisierung bzw. politische Instrumentalisierung von Kriegsnarrativen (und Anti-Narrativen) zu verändern. Narrative Muster sind weiterhin zentral für den kulturellen und politischen Umgang mit Krieg als spezifischer 12. Vgl. zu diesem Roman Peter Braun, der schreibt, dass durch die durch Perspektivierung erzielte »Reliefwirkung ein spezifischer transformationeller Raum zwischen [Fakten und Fiktionen] entsteht, der die eingespielten Rezeptionshaltungen referentialisierender versus fiktionalisierender Lektüre in einem kontinuierlichen ambivalenten Gleiten unterläuft und für den Leser eine beständige Unruhezone schafft.« (Braun 2007: 260)

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Situation der Gesellschaft, des Staates etc. Die große Mehrzahl von KriegsRepräsentationen steht entweder im Dienste von Informations-, Konfrontations- oder Gedächtnispolitik oder dient einfach dazu – z.B. in Gestalt von visionären Science-Fiction-Romanen (die Äquivalente in Spielfi lmen oder digitalen Kriegsspielen haben können) –, das Imaginationspotential der Kultur bzw. Gesellschaft in Hinblick auf den Krieg auszuloten. Und auch in der sogenannten Höhenkammliteratur hat sich letztlich erwiesen, dass Erzählen gerade in Hinblick auf die kulturelle Bewältigung von Krieg unverzichtbar ist und bleibt, dass es weder beim Bekenntnis des Unsagbaren noch bei der Anklage der politischen oder ethischen Verstrickung von Narration bleiben kann, sondern dass es immer nur darum gehen kann, die den historischen Umständen entsprechende Form und den entsprechenden Ansatz zu finden und dass narrative Schuld immer wieder nur durch Narration aufgedeckt, angeklagt und gesühnt werden kann.

3. Narrative Reflexion der Abgrenzbarkeit von Kr ieg Obwohl sich in der narrationskritischen Linie der Entwicklung der Kriegsnarration gerade auch durch intermediale Bezüge und die im Kontext der digitalen Medien aufgekommene neue Problematisierung des Dokumentarischen immer wieder neue, narratologisch relevante Aspekte ergeben, hat sich der Fokus der Kriegsnarration und ihrer Erforschung in den letzten Jahren immer mehr auf Entgrenzungen des Krieges verschoben. Wie eingangs erwähnt, bilden nicht nur das Ereignis und die lineare Anordnung des Geschehens entlang der Zeitachse und der Geschichte konstitutive Strukturmerkmale des Narrativs, sondern auch Anfang und Ende13. Nachdem bis in die 70er und 80er Jahre hinein die in der Tradition der Avantgarde stehenden Strategien der narrativen Selbstreflexivität, der metanarrativen Reflexion von »Ereignis« und »Geschichte« in literarisch anspruchsvollen Kriegstexten dominierten, schiebt sich seit den 1990er Jahre die Frage nach Anfang und Ende und damit nach der Ein- und der Abgrenzbarkeit des Krieges, die Frage seiner Fortsetzung, seines Nachwirkens nach seinem offiziellen Ende u.ä. ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Natürlich hat auch diese Entwicklung einen zeitgeschichtlichen Kontext, den zu benennen in den letzten Jahren Formulierungen wie »new wars« (Kaldor 1999), »neue Kriege« (Münkler 2004) oder »Nicht-Krieg« 13. Über Anfang und Ende als zentrale Momente des Narrativen vgl. Lotman 1986. Auch der angeblich letzte Text Lotmans »Der Tod als Problem des Sujets« (russ. 1992) kehrt wieder zu diesem Thema zurück.

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(Tagung Weimar 2007) gewählt oder auf Carl Schmitts Begriffs »Ausnahmezustand« (Agamben 2004) zurückgegriffen wurde14. Dieser Kontext hat eine räumliche und eine zeitliche Dimension: In räumlicher Hinsicht wurde das Modell von zwischenstaatlichen Kriegen mit klaren Fronten von Kriegsformen abgelöst, die sich nicht mehr genau lokalisieren lassen, Kriegen, die wie im extremen Fall von Terrorismus als Form der Kriegsführung, überall plötzlich ›auftauchen‹ und wieder verschwinden können. Damit erweisen sich diese Kriegsformen der Gegenwart als zeitlich ebenso schwer ab- und eingrenzbar, da es auch in dieser Dimension keine allgemeingültigen Regeln (mehr) gibt, nach denen Kriege »erklärt« und beendet bzw. »Frieden geschlossen« werden müsste. Diese immer mehr von alten, bis in die 1980er Jahre anerkannten Vorstellungen abweichenden Kriegsformen hat der Politologe Herfried Münkler unter dem Stichwort »neue Kriege« zusammengefasst. Münkler unterscheidet und subsumiert darunter: Zerfallskriege (wie im Fall Jugoslawiens), Ressourcenkriege (an den Rändern der sog. »Wohlstandszone«), Pazifizierungskriege (d.h. Interventionskriege z.B. im Irak oder in Afghanistan) und terroristisch motivierte Verwüstungskriege, worunter Münkler den internationalen Terrorismus versteht. Wie schon einige der Beschreibungsbegriffe selbst andeuten, handelt es sich um Kriege, die mit den traditionellen Definitionen der interstaatlichen Institution Krieg nicht mehr übereinstimmen, insbesondere weil sie eines von deren konstitutiven Merkmalen, nämlich die strenge Unterscheidung und Abgrenzung von Krieg und Nicht-Krieg bzw. Frieden unterlaufen. Und auch das Vokabular in Münklers weitergehender Beschreibung zeigt auf, dass Prozesse der Auflösung der binären Differenzierung zwischen Krieg und Nicht-Krieg bzw. Frieden im Gang sind, die eine Klassifi kation der neuen Formen von Gewaltausübung nach dem alten Muster erschweren: »An die Stelle des Krieges zwischen regulären Armeen, die sich gegenseitig niederzuringen suchten, um den politischen Willen der Gegenseite wehrlos zu machen und zur Kapitulation zu zwingen, ist ein diffuses Gemisch unterschiedlicher Gewaltakteure getreten, das von Interventionskräften mit dem Mandat internationaler Organisationen bis zu lokalen Warlords reicht, denen es um die Sicherung von Macht und Einfluss innerhalb eines begrenzten Gebietes geht.« (Münkler 2004: 180)

Im Fall der neuen Kriege, so Münkler, könne man auch nicht mehr zwischen Staaten- und Bürgerkrieg, zwischenstaatlichen Kriegen und mit Gewalt ausgetragenen innergesellschaftlichen Konflikten unterscheiden, die 14. Vgl. ganz ähnlich in der Diagnose Kristin Platt (2003).

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»klassische Trennlinie« zwischen beiden sei aufgelöst und »beide Kriegstypen [würden] zunehmend diff undieren«. Das beträfe auch die Unterscheidung zwischen Krieg und Polizeiaktion, die durch die normativ legitimierte »Entsendung multinationaler Streitkräfte mit dem Auftrag der Friedenserzwingung« ebenfalls hinfällig geworden sei. Weiterhin machen neue, bevorzugt asymmetrische Kampfweisen, die sich weder um »Landkriegsordnungen« noch um sonstige internationale Konventionen und Regularien scheren, die Klassifi kation nach altem Muster unmöglich. »Der Terrorismus als eine globale Strategie«, so Münkler, »ist der vorläufige Endpunkt einer Entwicklung, in deren Verlauf sich der Krieg aus einer Konfrontation professioneller Militärapparate in eine Abfolge von als Zivilisten getarnten Kämpfern an Zivilisten veranstalteten Massakern verwandelt hat. Die wichtigste Errungenschaft des Kriegsvölkerrechts, die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten, ist damit hinfällig geworden.« (Münkler 2004: 180)

Merkmal der neuen Kriege ist es auch, dass sie einen unbestimmten, kontingenten Anfang haben und – in Entsprechung dazu – sich nur schwer beenden lassen, dass sie also auch in zeitlicher Hinsicht zu Unbestimmtheit und Entgrenzung tendieren. Etwas anders entfaltet Giorgio Agamben eine ähnliche Diagnose zur Ubiquität und Unabgrenzbarkeit von Krieg in der Gegenwart, indem er feststellt, der »Ausnahmezustand« sei »in der Politik der Gegenwart immer mehr als das herrschende Paradigma des Regierens« zu betrachten. (Agamben 2004: 9) Diese Diagnosen, in denen ja nicht nur von einer grundlegenden Transformation der Kriegsformen die Rede ist, sondern auch von einem Eindringen des Krieges bzw. der Kriegskonditionen in den Alltag, scheinen darauf hinzudeuten, dass hier eines der ältesten Verständnisse von Krieg neue Aktualität erhält: Der »Krieg als der Vater aller Dinge«, wie es Heraklit zugeschrieben wird, oder Krieg als natürliche conditio des Menschen, der durch den Staat (oberflächlich) Abhilfe geschaffen werden kann, wie Hobbes meinte, oder Krieg als normale zwischenmenschliche Situation des Menschen, worauf Schmitt, aber auch Clausewitz (obwohl bei ihnen das Verständnis von Krieg als interstaatlicher Konfrontation vorausgesetzt wird) hinweisen. All das waren Positionen der Vergangenheit, in denen der Krieg ›normalisiert‹ wurde, Positionen, die die Kontiguität zwischen Krieg und Nicht-Krieg betonen und nicht den Gegensatz. Folgen die neuen Deutungen des Phänomens Krieg diesen früheren Positionen? Oder geht es heute vielmehr gerade umgekehrt darum, Kriegskonditionen auch dort zu entdecken, wo sie hinter den Fassaden von ›Normalität‹ versteckt sind? 24

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Die narrativen Entwicklungen, die sich in den literarischen Kriegsdarstellungen der letzten fünfzehn Jahren abzuzeichnen beginnen, können schon als Reaktion auf diese veränderten Erscheinungsformen von Krieg in der Gegenwart gedeutet werden, als Versuche, Kriegsformen, die sich aufgrund ihrer Strukturlosigkeit und Kontingenz einer ›Ordnung‹ durch Narration zu entziehen scheinen, dennoch narrativ zu erfassen. Und auch die in der Literaturwissenschaft entwickelten aktuellen Fragestellungen an Kriegsnarrationen scheinen von diesem neuen Aspekt und diesen neuen Möglichkeiten der narratologischen Auseinandersetzung mit Krieg inspiriert. Die im Folgenden kurz vorgestellten Beiträge dieses Bandes zeigen, dass solche Phänomene von – narrativer oder realer – Kriegsentgrenzung den zentralen Gegenstand sowohl der untersuchten zeitgenössischen literarischen Texte bilden als auch der literaturwissenschaftlichen Analysen, die sich z.T. ja auch auf historisch frühere Texte beziehen.

4. Narratologische Analysen narrativer Entgrenzungen Im Rückblick auf das frühe 20. Jahrhundert, auf die Epoche des Ersten Weltkriegs, erscheint es heute aus narratologischer Perspektive besonders interessant, neben der Analyse der Wahrnehmung dieses Krieges als apokalyptisches Ereignis, als tiefer Einschnitt in der Weltgeschichte – in Texten von Karl Kraus bis Henri Barbusse – und neben der Analyse einer neuen, im Kontext der Avantgarde entstehenden, antirealistischen, und dabei in ihrem Authentizitätsstreben viel radikaleren Poetik des Krieges (in Texten des Futuristen Majakovskij und des Literaturtheoretikers Šklovskij) zu verfolgen, wie das narrative Grundmuster, das sich seit Beginn des Krieges herausgebildet und gefestigt hatte, nach dem Ende des Krieges weiterwirkte und eskalierte und dabei zum zentralen Instrument einer neuerlichen Kriegspropaganda wurde. In seinem Aufsatz zeigt Matthias Schöning diesen Prozess anhand des deutschen Kriegsnarrativs, das mit seinem einfachen narrativen Muster von »Krise (Vorkriegssituation) – Zäsur (Kriegsausbruch) – Auf bruch (Krieg + danach: Neukonstituierung der Gemeinschaft: Nationale Wiedergeburt)« bereits während des Ersten Weltkriegs von weitreichender Wirkungsmacht war. Nachhaltig erwies sich diese Wirkungsmacht nach dem Krieg, als verschiedentlich versucht wurde, mithilfe desselben Narrativs die Enttäuschung über die Nichtrealisierung, das Nichtzutreffen des vom Narrativ beschworenen positiven, eine neue nationale Gemeinschaft konstituierenden Ausgangs zu bewältigen. Diese Strategie wurde von radikal nationalistisch gesinnten Autoren wie Ernst Jünger, Hans Freyer und anderen verfolgt, die das Narrativ durch eine Mo25

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difi kation des Ausgangs, der nunmehr als entferntes Ziel dargestellt wurde, weiterschrieben. Sie verstanden die gegebene Situation als eine mehrjährige Inkubationszeit, die in den anvisierten Aufschwung erst dann münden könne, wenn das mit dem Krieg begonnene Zerstörungswerk vollendet sein werde. »Hier«, urteilt Schöning, »wird die 1914 als zäsurierendes Ereignis begrüßte Destruktion dem Programm nach terroristisch.« Mit Blick auf den Einsatz des Bildmediums Photographie schließt Bernd Stiegler in gewisser Weise an die Argumentation Schönings an. Ernst Jüngers ›Bilderbücher‹ aus den Jahren um 1930 können als spezifische Variante von Kriegspropaganda und als Fortsetzung des Krieges in Friedenszeiten verstanden werden. Als Autor und Künstler, der in diesen Jahren mithilfe der Kombination von Text und Bilder politische Absichten verfolgt, ist Jünger kein Einzelfall, wenn man z.B. an Heartfield und Tucholsky denkt. Zentral für Jüngers Bände wie z.B. »Die veränderte Welt« oder »Das Antlitz des Krieges« ist aber, dass Jünger eine dezidiert anti-avantgardistische Darstellungsstrategie verfolgt – z.B. indem er Bild und Text streng voneinander abgrenzt, auf ein ästhetisches Spiel mit Typographie ganz verzichtet, und indem er nicht eine neue Welt konstruieren, sondern Wahrheit als evident erscheinen lassen möchte. Dabei baut Jünger auf die Wirkung der Photographie bzw. des »Lichtbilds als Mittel im Kampf« (wie er einen gleichzeitig erschienen Essay nannte), auf ihre Möglichkeiten als dokumentarisches Medium Evidenz zu erzeugen, die auch schon während des Ersten Weltkriegs, des ersten großen Medienkriegs, zum Einsatz gekommen waren. Jüngers zweites strategisches Hauptinstrument, das er in seinen mit dem Untertitel »Bilderfibel« schon als Instrumente von Indoktrination deklarierten Fotobänden anwendet, ist Narration. Die Bilder werden in eine Reihenfolge gebracht, um Ordnung zu schaffen und um Weltgeschichte – in ihrer Geordnetheit – zu demonstrieren. Dabei kommt es auch darauf an, Kontingenz auszuschließen und durch eine ›Naturalisierung‹ der Geschichte den Eindruck von Schicksalhaftigkeit zu erwecken. Die als »sichtbare Materialisation kollektiver Deutung« angesehenen Bildbände sollen als naturkatastrophische »Umwälzung historischer Formationen« deutbar und damit in Termini von Evolution beschreibbar machen. Als eine Art Motor wird Krieg als dauerhaftes Moment von Kultur aufgefasst, als Moment dessen Wirken allein tiefe Einsichten in das Historische, »Wesenschau« ermöglicht. Was Stieglers Analyse deutlich macht, ist, wie Jünger das alte Diktum Heraklits vom »Krieg als Vater aller Dinge« – wie in denselben Jahren auch Carl Schmitt – reaktualisiert und, indem er es mithilfe einer in Bildern gefassten Symbolik des Schwankens zwischen Manifestheit und Latenz sukzessive in das Konzept des »totalen Krieges« transformiert, den Krieg, von dem er eigentlich handelt, narrativ entgrenzt und damit gewis-

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sermaßen die beiden Endpunkte des Weltkriegsnarrativs: Apokalypse und Neuanfang aufhebt. In seinem visionären, mythopoetischen Zukunftsroman »Berge, Meere und Giganten« von 1924 nahm Alfred Döblin den Ersten Weltkrieg, den er – vergleichbar allenfalls dem 30-jährigen Krieg – als »Zäsur im Nachdenken über die Sinnhaftigkeit des historischen Verlaufs« ansah, als Ausgangspunkt der narrativen Entfaltung einer Zukunftsvision, die die Konsequenzen aus der Geschichte und der Gegenwart veranschaulicht. In den Momenten der Gegenwartsdiagnose erweist sich Döblins monströses Opus auf der einen Seite in guter Gesellschaft zeitgenössischer literarischer und kulturkritischer Entwürfe, die in apokalyptischem Duktus den Untergang des Abendlandes und den Verlust des auf klärerischen Glaubens an die Perfektibilität des Individuums beschworen und den Menschen der Gegenwart als von rücksichtslosem Machtwillen und Gewaltbereitschaft gekennzeichneten beschrieben. Soziale Kohäsion beruht auf Gewalt und bestimmt sich einzig über ihr Verhältnis zur Technik. Andererseits entwickelt Döblin das Bild des Krieges als katastrophische Urkraft der Geschichte. Auch er renaturalisiert Geschichte, stellt sie als einen katastrophischen Prozess von umwälzender Elementargewalt (dem weiblichen Prinzip) dar. Das Ende und Neuanfang implizierende apokalyptische Narrativ wählt Döblin nicht zugunsten einer latenten Verdauerung von Krieg, sondern eines ent-teleologisierten, quasi-zyklischen Auf-der-Stelle-Wankens zwischen wechselnden Zuständen, in dem Kontingenz nicht aufgehoben, sondern vermehrt erscheint. Döblins Text, so das Fazit von Lars Koch, ist als Narrativ selbst vom Krieg geprägt: als zerstörtes, der Kohärenz und der narrativen Logik beraubtes und damit formloses und entgrenztes Narrativ. Von der Warte der Philosophiegeschichte beschäftigt sich der Beitrag Nadja Grigor’evas mit dem Konzept des »totalen Krieges« und untersucht insbesondere Positionen weiblicher Philosophinnen, die gegen dieses mit der Politik des Totalitarismus genuin verwandte Konzept anzuschreiben und Konzepte des partiellen, eingeschränkten Krieges dagegenzuhalten versuchten. Wie Grigor’eva in der Analyse von Texten von Simone Weil, Hannah Arendt und Ol’ga Frejdenberg aufzeigt, ging es den Autorinnen, die im Angesicht der Naziherrschaft und der totalitären Vorkriegs-Sowjetunion schrieben, vor allem auch darum, den »totalen Krieg« als Fiktion und als (utopisches) narratives Konstrukt zu entlarven, dem es durch Gegennarrative Einhalt zu gebieten galt. Eine geokulturologische Ausrichtung erhält ein Narrativ, welches den Krieg als über die Phase direkter kriegerischer Auseinandersetzungen hinausreichenden Zustand darstellt,.in den polnischen Texten, die Renata Makarska untersucht. Josef Wittlin und Andrzej Bobkowski haben weder biographisch noch als Autoren auf den ersten Blick viele Gemeinsamkei27

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ten: Wittlin schreibt aus der Kriegserfahrung, Bobkowski aus dem fernen südfranzösischen Exil, Wittlin thematisiert aus der Perspektive des nahenden Zweiten den Ersten Weltkrieg, Bobkowski den Zweiten Weltkrieg und die eigenartige Phase der »Normalisierung« danach. Wittlin schreibt einen Roman (»Das Salz der Erde«), Bobkowski nennt seinen Text »Tagebücher«. Aber im Vergleich ergibt sich neben der Tatsache, dass beide aus einer Erfahrung des Faschismus und des Zweiten Weltkriegs schreiben, eine deutliche Parallele: dass beide Krieg und Staat gleichsetzen, dass sie den Krieg nur als Radikalisierung der ›normalen‹ Herrschaftsbeziehung zwischen Staat und Individuum auffassen und deshalb keine strenge Trennlinie zwischen Krieg und Nachkrieg ziehen. Vielmehr spüren sie im Nachkrieg nicht nur die Spuren, sondern auch die Fortsetzung des Krieges auf und finden darin das Hauptindiz für ihre Grundthese. Insbesondere im westeuropäischen Staat, so Makarska, erkennen beide Autoren den Staat als Feind der freien Persönlichkeitsentfaltung, als Entmündigungsund Mechanisierungsapparat. Und dem Krieg gleich könne Totalitarismus als Gipfel dieser Art der Gewaltausübung des Staates über das Individuum angesehen werden. Krieg ist hier Bild/Metapher der Staatsgewalt in ihrer maximalen Form, die die Autoren in der Staatlichkeit der (west)europäischen Länder lokalisieren. Konsequenterweise problematisieren beide vor diesem Hintergrund den Feind, indem sie Kontingenz und Willkür von Feindschaft ausstellen. In den Konsequenzen, die sie ziehen, stehen beide Autoren einander freilich wieder gegenüber. Beide entscheiden sich zwar für ein neues, anderes Leben im Exil, in der sogenannten Neuen Welt: Wittlin geht in die USA, Bobkowski nach Guatemala. Während Wittlin aber die Lage als ausweglos ansieht (und die geplante Trilogie nicht weiterschreibt), hält Bobkowski eine individuelle Befreiung unter der Bedingung eines kompletten Verzichts (auf staatliche Privilegien etc.) für möglich und versteht seine Auswanderung als ein Europa, dem Ort der Staatsherrschaft (= des Krieges), Den-Rücken-Kehren. Die Pointe der Analyse besteht darin, dass es sich hier nicht um generelle – etwa anarchistische – Kritik am Staat an sich handle, sondern um Kritiken aus einer osteuropäischen Perspektive am »westlichen« bzw. westeuropäischen Staatsmodell, Kritiken, die ihre Motivation gewissermaßen aus der imperial(istisch)en Erfahrung der Autoren bzw. in diesem Fall der polnischen Kultur beziehen. Eine umgekehrte Perspektive der Entgrenzung des Krieges nimmt Annette Werberger in ihrem Aufsatz über »Khurbm Galitsye« (Die Zerstörung Galiziens), die Galizienchronik des Ethnographen und Schriftstellers Semen An-skijs, eines Pioniers der Erforschung der jüdischen Volkskultur, ein. Sie interessiert, dass und wie An-skij Kontinuitäten und Modifi kationen der mündlichen Erzähltraditionen in der Zeit des Ersten Weltkriegs in 28

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Galizien erforscht und dargestellt hat. Nicht nur, dass die ›kleinen‹ mündlichen Gattungen wie Legende und Gerücht sich im Krieg in normalerweise weit von der traditionellen Folklorekultur entfernten Kreisen, unter Intellektuellen und im gehobenen Bürgertum, als besonders produktiv erweisen. Sie übernehmen anscheinend über soziale Grenzen hinweg gemeinschaftsstiftende Funktionen. Damit interessiert An-skij nicht mehr die gedächtnisstiftende, sondern vielmehr die performative, Gemeinschaft und kulturelle Kontinuität in der Situation der katastrophischen Diskontinuität des Krieges konstituierende Funktion. Nicht was erzählt wird, sondern wie und wo erzählt wird, steht im Vordergrund. Nicht ob etwas wahr oder falsch ist, interessiert ihn in erster Linie, sondern welche Konfl ikte und Spannungen sich in einer Erzählung verbergen und durch sie ausgetragen werden, und welche alten Gattungen durch die Situation Konjunktur haben wie z.B. die Wunderlegende, die historische Legende (z.B. über Chmelnicky), die durch historische Parallelisierung die gegenwärtige Situation relativiert und damit – wiederum durch Kontinuitätsstiftung – ihren Schrecken abschwächt, oder das Gerücht. Gerüchte nehmen für die Kriegssituation erforderliche (stereo)typisierende Zuordnungen (Charakter- oder Kompetenzzuschreibungen) zu Gruppen und Kriegsparteien vor und bringen so ›Klarheit‹ in die Konfliktsituation. Eigennamen verschwinden merklich hinter typisierenden Gruppennamen, wodurch Gruppenidentität und kollektive Feindschaften wiederum befördert werden. An-skij konzentrierte seine Forschung zwar auf den jüdischen Teil der Bevölkerung und auf die »jüdische Katastrophe«, konnte aber dennoch auch aufzeigen, wie – aus jüdischer Perspektive – Polen, Russen und Deutsche in der die Welt neu semiotisierenden Alltagsnarration modelliert werden. Im Wechsel der Rollenzuschreibung in den wandernden Narrativen der mündlichen Kultur erkennt An-skij ein typisches Phänomen nicht nur des Krieges, sondern insbesondere auch des transnationalen Raumes Galizien generell (z.B. Juden und huzulische Bauern erscheinen in der Opferrolle austauschbar). Aus An-skijs Studien resultiert vor allem zweierlei: zum einen, dass mündliche Erzähltraditionen, deren Verbreitung vorher bereits weitgehend auf kleine relikthafte Bevölkerungsgruppen zurückgegangen war, in Kriegszeiten eine neue Produktivität erfahren und so durch Identitätsstiftung den Bruch, den der Krieg darstellt, abmildern, Kontinuität gewährleisten. Und zum anderen, dass dabei ganz bestimmte Gattungen wie das Gerücht, die Wunderlegende und die historische Legende in den Vordergrund treten und mittels ihrer Verbreitung in weiten Kreisen der Bevölkerung zwei Funktionen erfüllen: Klärung und Polarisierung des Weltbilds im Sinne der Kriegführung, aber auch der Kontinuitätswahrung über den Krieg hinaus. Cormac McCarthy, der auch über die Verfi lmungen seiner Romane be29

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kannte amerikanische Zeitgenosse des Jahrtausendwechsels, beschäftigt sich in seinen Romanen mit den Konsequenzen und Folgen einer ganz auf Krieg, auf das gewaltsame Erzielen von Herrschaft ausgerichteten Kultur; einer Kultur, für die der Krieg vom Ausnahme- zum Dauerzustand transformiert und zur conditio menschlicher Existenz avanciert ist. Im Vergleich mit europäischen Autoren, die entweder das Böse durch seine ›Nichtung‹ (z.B. in der deutschen Gegenwartsphilosophie oder in den ausschließlich auf Sinnstiftung ausgerichteten Basisnarrativen der Kultursoziologie) ausgeblendet oder aber ästhetisierend verklärt haben (wie z.B. Ernst Jünger) zeigt Christoph Schneider anhand von Cormac McCarthy noch eine andere Möglichkeit seiner narrativen Darstellung. McCarthy’s Texte und insbesondere sein Roman »Abendröte im Westen« führen mit narrativen Mitteln die Konsequenzen aus der – für den amerikanischen Mythos des Westens konstitutiven – Absolutsetzung des Autonomie- und Souveränitätsstrebens eines Einzelnen vor Augen: Richter Holden, der Protagonist, versucht absolute Souveränität durch Verdinglichung alles Lebendigen und absolute Herrschaft über den Code zu realisieren, und erweist sich als einer, der so von einem Kriegsbewusstsein geprägt ist, dass er das Leben generell als Kriegszustand, als auf Dauer gestellten Ausnahmezustand auffasst. Erzählend zeigt der McCarthys Text, dass Holdens Leben keine Geschichte werden kann, weil sie keinen Anfang, kein Ende, keinen Ort – die Schauplätze sind end- und formlose Grenzräume, Niemandsland zwischen den USA und Mexiko – und damit auch keinen Sinn haben kann. Alle in den maximal grausamen und grauenerregenden Szenarien der Skalpjägerei auf die Spitze getriebenen Allmachts- und Souveränitätsphantasien des Einzelsubjekts in seiner maßlosen Hybris erweisen sich nur als parasitäre Imitationen echter Autonomie. Und die Schaff ung eines personalen Ausnahmezustands zur Konstitution einer Art ›Hyperidentität‹ zersetzt diese im Zuge seiner Verwirklichung gleichzeitig selbst schon wieder. Holden, ein Demiurg im gnostischen Sinn, eine »ins Mythische übersteigerte Figur des Sadistischen beziehungsweise dämonisierte Allegorie des Totalitaristischen«, vertritt einen »divinisierten Bellizismus«, der – an Roger Caillois‹ Thesen zum Zusammenhang von Krieg und Fest gemahnend – den Krieg als »geheiligtes Spiel« versteht, aber an Heiligung scheitert. Indem er seine (vermeintliche) Souveränität in der gewaltsamen Entkopplung von Dingen (bzw. Verdinglichtem) und Zeichen erprobt, schaff t Holden, so Schneider, eine antimelancholische Welt, die, in sich selbst gefangen, keine Hoffnung auf ein »Dahinter« mehr kennt, und bleibt selbst, jeder Transzendenz beraubt, im Diesseits gefangen, weil er die vermittelnde Ebene des Symbolischen, das einen Möglichkeitsraum entwirft, gekappt hat. McCarthy’s Erzählung lässt stets das »unbestimmte Empfinden eines tiefen Verlusts« mitschwingen, und führt mit der Auto30

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nomie der selbstermächtigten Gewalt (und d.h. auch mit dem amerikanischen Kolonisationsmythos) auch deren ästhetische Potenz ad absurdum. Der Gegensatz zur Ernst Jünger könnte krasser nicht sein. Denn Jünger selbst war es ja, der in seinem Erzählen eine Strategie der Perpetuierung des Kriegszustands verfolgt hat, während McCarthy im Gegenteil die fatalen Konsequenzen dieser Perpetuierung darlegt. Mit der Perpetuierung des Krieges und dem Nachwirken der durch ihn verursachten Traumatisierungen in identitätskonstitutiven Familiennarrativen beschäftigt sich Andreas Kraft am Beispiel der deutschen »Generationenliteratur«. Anhand der Romane »Abschied von den Kriegsteilnehmern« von Hans-Josef Ortheil und »Die Unvollendeten« von Reinhard Jirgl benennt Kraft das Basissujet dieser Generationenliteratur: Der Krieg wirkt in Form von Narrativen in den Familien über Generationen weiter, wobei sich in diesen Narrativen Kriegstraumata manifestieren, welche so tradiert werden und die Identität der Familie belasten. Und nur wiederum narrative Mittel, ein narrationales Auf brechen der verfestigten Narrative, so zeigen die analysierten Romane, kann gegen die Traumatisierung helfen. Darin, so argumentiert Kraft, veranschaulichen die fi ktionalen Texte Strategien, die Psychologen zu therapeutischen Zwecken anwenden. Denn auch in neueren psychotherapeutischen Ansätzen versucht man, traumatisierte Erzählungen durch Gegennarrative auszuhebeln und so – nach mindestens zwei Generationen – die das soziale und psychische Gleichgewicht erschütternde Kontingenzerfahrung des Krieges durch Überführung in eine neue narrative Ordnung zu bewältigen. Davor Beganović definiert die Bosnische Kultur der Gegenwart als eine Kultur des Übergangs, der »Transition«, vom Zustand des Krieges, in dem sich das Land in der ersten Hälfte der 1990er konkret befand, in einen Zustand, in dem die Kultur vielleicht nicht mehr von den Traumata des Krieges gezeichnet sein und das Hauptthema der Literatur nicht mehr der Krieg sein wird. Beganović befasst sich gleichsam in gegenwartsdiagnostischer Absicht mit der bosnischen Literatur dieser Nachkriegszeit und unterscheidet zwei Textgruppen bzw. Grundausrichtungen: Eine, deren Grundton melancholisch sei, könne als »topographisch« bezeichnet werden, weil sie vor allem auf die Raumordnungen und ihre Verletzungen, Irritationen und Zerstörungen durch den Krieg ausgerichtet ist. Die zweite fokussiert Traumatisierung anhand der Figur des Kriegers. Beganovićs Analyse konzentriert sich auf zwei Texte der zweiten Gruppe, Josip Mlakićs Roman »Wenn sich die Nebel lichten« und Faruk Šehićs Erzählungssammlung »Unter Druck«, die noch eine weitere Gemeinsamkeit teilen, nämlich die Inbezugsetzung von Krieg und Psychiatrischer Anstalt als den beiden Hauptschauplätzen. Die beiden Texte führen in je spezifischer Weise die Unvermittelbarkeit der Erfahrungen im Krieg und der Situation nach dem 31

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Krieg, d.h. ihre Nichtintegrierbarkeit in ein lineares, konsekutives Narrativ und damit die Nichtbewältigbarkeit der Traumatisierung vor. So setzt Mlakić zwei Arten von Narrativen als Manifestationen der zwei entgegengesetzten Situationen gegeneinander: Konversationen des Protagonisten mit verschiedenen Personen und Funktionsträgern in der Nachkriegszeit und fragmentarische Auszüge aus dem Kriegstagebuch. Ihre unvermittelte Nachbarschaft führt gewissermaßen die Unüberwindbarkeit des sinnentleerten Dazwischen vor, eines Dazwischen, das immer nur wieder Wiederholungen, aber weder ein Entkommen noch ein Vorankommen zulässt. Šehić’s Erzählungen sind vorwiegend direkten Kriegserfahrungen gewidmet. Šehić’s Schreibweise knüpft deutlich an den Meister der kroatischen Kriegsprosa der Moderne, Krleža, an und arbeitet mit Verfahren der Groteske. Allerdings in solcher Weise abgewandelt, dass das narrative Ergebnis dem des Romans von Mlakić ähnelt: Die Groteske dient hier nicht der Bewältigung durch Schock oder/und Komik, ist nicht karnevalesk und damit befreiend, sondern sie bleibt sozusagen auf halbem Weg stecken, scheitert im gewollt Peinlichen oder Unpassenden, das einen unüberwindlichen Bruch markiert. Miranda Jakiša und Sylvia Sasse, die sich mit der Darstellung der Kontingenz des Feindes und der Feindschaft in Texten der bosnischen bzw. serbischen Autoren Milenko Jergović und David Albahari beschäftigen, lenken dabei – inspiriert von Joseph Vogls Ausführungen zum Amokläufer (2003) – den Blick auf ein weiteres interessantes Moment der narrativer Entgrenzung des Krieges oder, besser gesagt, der narrativen Problematik der Grenzziehung zwischen »Frieden« und »Krieg«. Die analysierten Texte bringen die Kontingenz des Feindes dadurch zum Ausdruck, dass entweder weder die eine noch die andere Seite auch während der Verübung aggressivster Gewalttaten weiß, warum man einander (auf einmal) Feind ist – D.h. es gibt keine irgendwie motivierte Handlungsabfolge, was bedeutet, dass der Bruch mitten im Narrativ verläuft. Oder aber durch ein plötzliches Erkennen der Kontingenz des Feindes gerät auch die eigene kulturelle Identität, die ebenfalls auf konstitutiven Narrativen basiert, ins Wanken: Als konstruierte erscheint auch sie kontingent. So dass schlussendlich nicht nur der Krieg – als plötzliche, kontingente Abgrenzung und Schaff ung eines Feindbildes –, sondern auch der Zustand nach dem Krieg und jede auf Konstruktion und narrativer Imagination basierende Form kollektiver Identität als willkürlich und damit fragwürdig erscheinen. Literarisch wird Kontingenz in den Erzähltexten zum einen durch verfremdende Perspektivierung (Kinder, Asoziale etc.) zum Ausdruck gebracht, und zum anderen durch stilistische Strategien wie unmotivierte Ellipsen u.ä. Damit wird – auch für den Leser – deutlich, dass Sinnhaftigkeit (und damit Kontingenzreduktion) in die Kriegserfahrung ex post nur durch einen Bezug auf Metanarrative 32

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gebracht werden kann. Genau gegen das Mitwirken an solchen Metanarrativen aber wehren sich die analysierten Texte, indem sie die Kontingenz wie die Gefahr insbesondere auch dieser (gemeinschaftsstiftenden) Metanarrative in Kriegs- wie in Friedenszeiten aufzeigen, die ja Ereignisse wie den Krieg motivieren, Feindschaften begründen und durch narrative Muster Anfang und Ende setzen und ›kausale‹ Abläufe konstruieren. Nebenbei: Hier wie auch bei den von Beganović untersuchten Texten ist wiederum ein geokultureller Aspekt interessant; Wie Jakiša/Sasse aufzeigen, widerlegen die untersuchten Texte – egal ob sie in polemischer Absicht verfasst wurden oder nicht – jene kulturellen Zuschreibungen, die im Zusammenhang der Jugoslawienkriege gegenüber den Nationalisierungsbestrebungen auf dem sogenannten »Balkan« von Seiten des »Westens« vorgenommen wurden. Denn sie führen mit ihren Demontagen des Konzepts der »imagined community« eine narrative Reflexionsstufe vor, die jenseits nicht nur eines ›wilden‹ und ›blinden‹, sondern jeglichen Nationalismus liegt. Anhand einer Dokumentar-Fotografie aus dem Bosnien-Krieg und deren vielfältiger medientheoretischer Rezeption untersucht Tanja Zimmermann die semantischen und symbolischen Auswirkungen der vielfachen Reproduktion von Pressefotos und ihrer Versetzung in den Kontext des kunsttheoretischen Diskurses. Dass das Foto des New Yorker Photographen Ron Haviv, »Serbische Paramilitionäre beim Aufspüren und Töten moslemischer Zivilisten in Bijeljina«, so oft reproduziert wurde und von so vielen namhaften Intellektuellen und Künstlern wie Susan Sontag, David Rieff, Jean-Luc Godard – der es zum Anlass einer Film-Meditation machte –, Bernard Kouchner und Haviv selbst besprochen und zum Anlass theoretischer Reflexionen über den Krieg und die Dimensionen des bezeugenden Repräsentierens genommen wurde, hatte nachhaltigen Einfluss auf die symbolische Qualität des Fotos und auf seine Auswirkungen auf den symbolischen Status dessen, was es darstellt, so Zimmermann. Denn gerade in Kombination mit seiner Rezeption verändert es die Wahrnehmung des Krieges. Gerade durch den Versuch, ihm größere Wirksamkeit zu verleihen, wird das Foto in eine absurde, leere Bewegung gebracht, so dass es als Simulakrum des wahren Ereignisses bald ein Eigenleben entfaltet. Durch seine Medialisierung in der europäischen Kultur wird der Ausnahmezustand in Bosnien von der Ausnahme zur Regel und der Krieg verliert die Kontur, wird entgrenzt und damit allgegenwärtig und zugleich ungreif bar. Im Gegensatz zum Holocaust-Topos, so Zimmermann, ist der Bosnien-Krieg – obwohl immer wieder mit dem Holocaust verglichen – nicht mehr der Ort, an dem ein Riss zwischen Stummheit und Beredsamkeit, zwischen Undarstellbarkeit und Darstellbarkeit klaff t. In Text- und Bildnarrativen, im wiederholten, nachträglichen und unerträglichen Nach33

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Erzählen, im Wieder-Zeigen werden die primären Kriegsereignisse bis hin zur ethnischen Säuberung in verschiedenen medialen Erzählmodi reproduziert und, abgekoppelt vom Ereignis, als ›Text‹ oder ›Bild‹ rezipiert. Die Medien und Künste im Ausnahmezustand sind nicht in der Lage, über die Ausnahme als solche zu berichten, die Narrative oder Narrativisierungen der Bilder versagen im Versuch einer differenzierenden Festlegung: als Ausnahme, als historisches Ereignis, als Gewaltverbrechen, als Krieg. In dem Beitrag »Erzfeind und Herzensbruder. Der Deutsche in russischen Kriegsnarrativen« zeigt Natal’ja Borissova, dass bestimmte symbolische Dispositionen der sowjetischen Kultur eine narrative Verfestigung des Deutschen als Feind verhindert und dazu geführt haben, dass es eine über die Kriegszeiten und auch über die Grenzen der sowjetischen Kultur hinausreichende Kontinuität eines immer wieder modifizierten, aber in seiner Ambivalenz konstanten Bild des Deutschen gibt. In der sowjetischen Kultur kam dem »Feind« als solchem seit Beginn der 30er Jahre eine eminent wichtige Bedeutung zu. Anhand der Revolution und insbesondere des nachfolgenden Bürgerkriegs, der als ihre Fortsetzung aufgefasst wurde, wurde das sowjetische Gründungsnarrativ als Kriegsnarrativ konzipiert. Der Ursprung der Sowjetkultur wurde als Geschichte von Kampf und Sieg über den Klassenfeind und seine Transformation in einen Freund dargestellt. Das hatte, wie Borissova argumentiert, gravierende Folgen für die narrative Bearbeitung des Zweiten Weltkriegs: Denn diesem Gründungsnarrativ und der marxistisch-leninistischen Ideologie folgend, war fortan eine nationale Zuordnung des »Feindes« nicht mehr möglich und die Opposition zwischen »außen« und »innen«, zwischen äußerem und innerem Feind wurde prinzipiell aufgehoben. Ab den 1930er Jahren war die sowjetische Kultur insgesamt von einer den Alltag, die Medien und die Literatur gleichermaßen dominierenden Kampf- und Kriegsrhetorik so tief durchdrungen, dass die Gegenüberstellung von »Krieg« und »Frieden« für diese Phase obsolet scheint. Eine narrative Abgrenzung des darauf folgenden Weltkriegs wurde so erschwert. Das Motiv der Wandelbarkeit des Feindes bewirkte eine Instabilität von Feindbildern und das Sichtbarwerden ihrer Kontingenz. Und dadurch, dass auf der Basis des Gründungsnarrativs jeder konkrete Krieg als rituelles Reinactment des ursprünglichen revolutionären Kriegs verstanden wurde, war es von vornherein nicht möglich, den Zweiten Weltkrieg in seiner historischen Singularität symbolisch zu modellieren. Seine sowjetische Bezeichnung als »Großer Vaterländischer Krieg« zeugt vielmehr von einer für die Epoche Stalins typischen historisierenden Rückkopplung und Einordnung in eine typologische Reihe von ›Vaterlandsverteidigungen‹. Was die Modellierung des Deutschen als Feind betriff t, so fällt auf, dass der Holocaust dabei kaum eine Rolle spielte: Wichtig war nur die Beziehung zu und der Angriff auf Sowjetrussland. All 34

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diese Faktoren führten schließlich zu einem entspannten und oft spielerischen Umgang mit dem Deutschen als Feind, machten es möglich sich mit ihm zu identifizieren, sich als Feind zu verkleiden und schließlich sogar mit ihm Freundschaft zu schließen im Unterhaltungsfi lm der postsowjetischen Gegenwart, in dem die Nazisymbolik den Spaßfaktor erhöht. An diesen Aufsatz und an den zur deutschen Generationenliteratur schließt der Beitrag von Thomas Grob zur Kriegsthematik im russischen Unterhaltungsfi lm und in der Literatur der Gegenwart an. Ausgehend von der Beobachtung, dass der Kriegsfi lm als produktivstes Genre der Gegenwart betrachtet werden könne, wobei alle Kriege der jüngeren Vergangenheit (Zweiter Weltkrieg, Afghanistan und Tschetschenien), aber auch die älteren (Neuverfilmung von »Krieg und Frieden«) thematisiert werden, formuliert Grob seinen Verdacht, der Kriegsfi lm sei gegenwärtig in Russland ein Hauptinstrument national(istisch)er Selbstdarstellung (und –reflexion) und übernehme damit jene Rolle, die über Jahrhunderte die Literatur in der russischen Kultur gespielt hatte. Symptomatisch hierfür erscheint auch, dass der Autor Kuprin gerade in populären Verfi lmungen seiner Kriegstexte wiederentdeckt wird, so z.B. in der Serie »Junkera«, die eine lange Reihe von Fersehfi lmen oder Serien mit Armeegruppen im Titel fortsetzt, die 2004 mit Soldaty (Soldaten) begonnen hatte, worauf bereits Kursanty (Offiziersschüler), Oficery (Offiziere), Kadety (Die Kadetten), Kadetstvo (Die Kadettenschaft) und Diversanty (Die Diversanten) folgten. Die Literatur dagegen übe sich zunehmend in Skepsis gegenüber narrativen und imaginativen Konstruktionen von Gemeinschaft. Für signifi kant erachtet Grob, dass es sich dabei um eine Militarisierung allein im Inneren handle, die nicht des Bildes eines äußeren Feindes bedürfe. Das kommt auch in den narrativen Strategien, mit deren Hilfe der militärische Patriotismus entfaltet wird, zum Ausdruck. Was das »Außen« betriff t, so lässt sich vielleicht eher ein Rückgriff auf die russische imperiale Vergangenheit erkennen: dieselben Filme betreiben eine auff ällige Strategie der maximalen Inklusivität in Hinblick auf ethnische Differenzen und die Betonung der ethnischen Vielfalt der Armee und dementsprechend auch Russlands. Im Vergleich der für die populäre russische Filmproduktion typischen narrativen Strukturen mit dem von Wolfgang Müller-Funk herausgearbeiteten nationalen Basis- bzw. Gründungsnarrativ wird ein signifi kanter Unterschied darin erkennbar, dass die Aktantenrolle des Kontrahenten oder Gegners nicht eine andere Nation, nicht ein äußerer Feind, sondern ein Widersacher im Innern ausfüllt. Das der postsowjetisch neo-nationalen »imagined community« zugrunde liegende Narrativ erscheint somit in mehrfacher Hinsicht als Fortsetzung des sowjetischen Gründungsnarrativs: In Hinblick auf die Ausklammerung des äußeren Feindes und in Hinblick auf den Krieg als Kernmoment nationaler Identitätskonstitution. 35

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Auch wenn man vielleicht beobachten kann, dass das Narrativ der aktuellen »Kriegs-« bzw. Militärfi lme eine solche Konzeptualisierung von Gemeinschaft ermöglicht, in der soziale Integration und starke (widerspenstige) Individualität keinen Gegensatz bilden, so scheint die konstante Dominanz des Kriegerischen in den Narrativen des Ursprungs und der Grunddisposition der russischen Kultur ein Faktor von noch größerer Signifi kanz. Die literarische, photographische und filmische Kriegsdarstellungen aus verschiedenen Kulturen behandelnden Beiträge zeigen jenseits allfälliger kulturspezifischer Entwicklungen, die nicht zuletzt den unterschiedlichen Rollen der jeweiligen Kultur in durchlebten Kriegssituationen (»Täter«, »Verlierer«, »Sieger«, »Opfer«) geschuldet sein könnten, eine epochale Konvergenz in Hinblick auf die narrativen Problematisierungen bzw. Auflösungen der räumlichen und zeitlichen Abgrenzbarkeit von Krieg, eine epochale Konvergenz, die sich sicherlich nicht zufällig parallel zu der globalen Herausbildung neuer Kriegsformen abzeichnet und zugleich den Blick auf historische Formen der Kriegsentgrenzung zurücklenkt. Das den im vorliegenden Band versammelten Beiträgen gemeinsame Forschungsinteresse an Formen narrativer Entgrenzung des Krieges reiht sich ein in den Kontext von Gegenwartsdiagnosen (z.B. Münklers Begriff der »Neuen Kriege« oder Agambens Dikussion des »Ausnahmezustands«, Agamben 2004) einerseits und in den Kontext historischer Analysen von Kriegen und ihren Nachwirkungen andererseits. Als symptomatisch für dieses historisches Interesse kann beispielsweise auch Jörg Barberowkis Bezeichnung des Stalinismus als »Fortsetzung des Bürgerkriegs mit anderen Mitteln« (Barberowski 2007) angesehen werden. Mit seinem narratologischen Schwerpunkt weist der Band auf die narratologische Dimension dieses Interesses und dieser Befunde hin: dass Erzählungen nicht nur Kriege jenseits ihres Endes im Gedächtnis präsent halten und in der Imagination wieder aufleben lassen, sondern, indem sie die für jedes Erzählen konstitutiven Kategorien von Anfang und Ende mit narrativen Mitteln problematisieren, auch die zeitliche Begrenzung und Begrenzbarkeit von Kriegen, die Bestimmung von Krieg in Abgrenzung von einem anderen, von Krieg freien Zustand in Frage stellen. Die untersuchten Narrationen zeigen, wie Krieg unabgrenzbarer und Nicht-Krieg immer utopischer erscheint.

D ANK SAGUNG Für die Finanzierung des Workshops Anfang März 2007 sowie der Druckkosten bedanken sich die Herausgeber bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft und beim Sonderforschungsbereich 485 »Norm und Symbol« der Universität Konstanz. 36

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Eskalation eines Narrativs. Vier Idealtypen zur Entwicklung der »Ideen von 1914« Matthias Schöning (Konstanz)

Der vorliegende Beitrag zeichnet eine historische Entwicklung nach, die in schlagender Weise veranschaulicht, welche Wirkungsmacht Narrative in historischen Umbruchsituationen entfalten können. Die Fallstudie gilt den so genannten »Ideen von 1914« und dem zugrunde liegenden »Augusterlebnis«, das die Deutschen bei Beginn des Ersten Weltkriegs gehabt haben wollen bzw. sollen. Der Begriff »Augusterlebnis« hat eine realgeschichtliche und eine ideen- oder ideologiegeschichtliche Seite. Realgeschichtlich bezieht er sich auf die tatsächlich sehr heterogenen, in ihrer Erregtheit aber gleichsinnigen Reaktionen zunächst auf die drohende Kriegsgefahr im Juli, dann die allgemeine Mobilmachung und schließlich den Kriegsbeginn am 3. August 1914. Diese Ereignisse können hier nicht im Einzelnen referiert werden, aber es muss festgehalten werden, dass sie sehr heterogene Reaktionen zum Ausdruck bringen. Diese reichen von politischer ebenso wie unpolitischer Kriegsbegeisterung, begleitet von Radaupatriotismus und inszenierten Aufmärschen, über Hamsterkäufe und konkrete Sorgen wie die Bewirtschaftung des Hofes im Fall der Mobilmachung der Männer, bis zu manifesten Ängsten vor dem Tod der Söhne oder dem Einmarsch der Russen in Ostpreußen. Bis zu den ersten Siegen im Westen war die Stimmung deshalb ernst und keineswegs begeistert (vgl. Ziemann 1997; Verhey 2000). Ideengeschichtlich dagegen bezeichnet der Begriff »Augusterlebnis«, was die deutschen Intellektuellen in den Wochen zwischen Kriegsbeginn und Advent 1914 daraus gemacht haben. Im Ergebnis dieser Deutungs41

Matthias Schöning

arbeit steht der »August 1914« für einen kollektiven Auf bruch der Deutschen, denen der Krieg zum Anlass wird, alle individuellen Sorgen und mehr noch den Individualismus selbst abzuschütteln und sich zu einem organischen Volkskörper zu einen. So schrieb z.B. Marianne Weber: »Jeder fühlte sich über sich selbst hinauswachsen im Einswerden mit einem größeren Ganzen. Die Erschütterung der Seele durchbrach die Schranken unseres Einzelseins, und das einsame begrenzte bedürftige Ich flutete hinüber in den großen Strom der Gemeinsamkeit […]. In der Ahnung eines riesenhaften welthistorischen Geschehens, das für Jahrhunderte Schicksal bestimmend ist, fühlten wir uns, in nie erlebter Leibhaftigkeit zum ›Volke‹ vereint, zum lebendigen Organismus, in dem alle Glieder durch dieselbe starke Liebe zum Vaterland und, in der Stunde der Not, durch dieselben menschlichen Schicksale und Aufgaben verbunden wurden. Und im Untergang unserer Ichheit und seines Sonderseins in dieser lebendigen Einheit empfingen wir uns selbst zurück als Wesen von höherer sittlicher Würde, einer Würde, die in der bedingungslosen Bereitschaft zum Einsatz des Selbst für das Ganze bestand« (Weber 1919: 158).

Die Bilder, die die verschiedenen Intellektuellen im Einzelnen zeichnen, sind natürlich unterschiedlich nuanciert. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass das vermeintliche Kollektiverlebnis die ›Geburt‹ einer nationalen Gemeinschaftlichkeit stiften soll. Alle Ausgestaltungen, die sich an die mythische Initialzündung des frisierten »Augusterlebnisses« anlagern, um das Projekt der nationalen ›Wiedergeburt‹ Deutschlands als Gemeinschaft auf den Weg zu bringen, bezeichnet der Ausdruck »Ideen von 1914«.

1. Das Narrativ: Krise, Ereignis, Aufbruch Insgesamt bleibt festzuhalten, dass es sich beim »Augusterlebnis« also um alles andere als ein Erlebnis handelt, sondern vielmehr um den Kern eines autonomen Narrativs, das den diff usen und heterogenen individuellen Empfindungen retrospektiv einen kollektiv einheitlichen Sinn verleihen soll und im Deutschland des ersten Kriegsjahrs wohl auch tatsächlich verleiht. Dabei verstehe ich den Begriff »Narrativ« als Bezeichnung für ein elementares Erzählschema, das in robuster Form eine sequenzielle Struktur von aufeinander folgenden Erzähleinheiten etabliert. Die strukturierte Einheit der Erzähleinheiten kann in recht verschiedener Weise zu konkreten Narrationen ausformuliert werden, die jedoch alle gleichsam den Stempel des Narrativs tragen, das ihnen Reihenfolge und Verlaufsform der Elemente einschreibt. – Oder anders herum formuliert, da es sich um ein 42

Eskalation eines Narrativs

analytisches Konzept handelt, das eine verborgene Tiefenstruktur rekonstruiert: Wenn gezeigt werden können soll, dass verschiedenen tatsächlich gegebenen »Narrationen« (Genette 1998: 151ff.) oder »Oberflächendiskursen« (Stierle 1973: 533) ein gemeinsames Narrativ zugrunde liegt, dann müssen sie durch dessen Strukturvorgabe erkennbar geprägt sein, so dass sich unschwer Wittgensteinsche Familienähnlichkeiten aufdecken lassen. Kein Hinderungsgrund für die Rekonstruktion solcher tiefenstrukturell bedingter Familienähnlichkeiten ist es, wenn mit den gegebenen »Narrationen« oder »Oberflächendiskursen« in programmatischer Hinsicht ganz unterschiedliche Ziele verfolgt werden. Auch können Trägergruppe und Adressatenkreis je nach Profi lierung stark variieren, so dass auf den ersten Blick die Unterschiede, ja Gegensätze dominieren, bis nach ein wenig analytischer ›Bohrtätigkeit‹ die Gemeinsamkeit des Narrativs zu Tage tritt. Im Gegenteil: Lässt sich eine gemeinsame Struktur divergenter Programme nachweisen, zeigt dies gerade die Wirkungsmacht des Narrativs. Das Narrativ, um das es hier im Speziellen geht, ist das dem so genannten »Augusterlebnis« und der darauf auf bauenden »Ideen von 1914« zu Grunde liegende Darstellungsschema von lang währender Krise, ereignishafter Zäsur und sehnsuchtsvollem Auf bruch, das die Stellungnahmen, mit denen deutsche Intellektuelle dem Beginn des Ersten Weltkriegs Sinn verleihen, bestimmt. Unschwer ist in dieser sequenziellen Struktur eine Inversion des klassischen Tragödienschemas zu erkennen, der gemäß man sich bei Kriegsbeginn auf dem Umschlags- oder Sattelpunkt befindet, der die kulturelle Talfahrt der Vorkriegszeit beendet und den Beginn einer fundamentalen Umkehr der Geschichte verspricht. Die tatsächliche Wirkungsmacht des Narrativs besteht im konkreten Fall zunächst darin, dass es in der weltgeschichtlich höchst bedeutenden Umbruchsphase zwischen 1914 und 1918 konkurrierende und sogar konträre Versuche, politisch-programmatische Situationsbeschreibungen kommunikativ durchzusetzen, durchgängig strukturiert. Darüber hinaus erweist sich seine Wirkungsmächtigkeit daran, dass es trotz insgesamt mangelnder Faktizität eine geradezu unheimliche Passgenauigkeit mit der historischen Lage aufweist, so dass es deren dynamische Transformation unproblematisch mit vollziehen kann. Synchron und diachron flexibel, verbindet es sich je nach Situation und programmatischer Zielsetzung anderen Paradigmen und beherrscht dadurch den deutschen Diskurs der Kriegszeit, dass die Kompatibilität mit dem Narrativ zur Voraussetzung jeder möglichen Rede über den Waffengang wird. Sowohl konservativ als auch progressiv und reaktionär zu nennende Positionen, die in der zweiten Kriegshälfte um Meinungsführerschaft kämpfen, zeigen sich nach wie vor vom skizzierten Narrativ bestimmt. Auf fatale Weise eskaliert die erstaunliche Wirkung des einfachen 43

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Musters schließlich in dem Moment, in dem es mit Kriegsende eigentlich seinen pragmatischen Zweck verloren haben sollte. Zu dieser Eskalation kommt es dadurch, dass das vom Narrativ als Phase 3 schematisierte Versprechen der nationalen ›Wiedergeburt‹ als Gemeinschaft zugleich als unerreicht klassifiziert und deshalb aufgeschoben, aber gleichwohl als Telos festgeschrieben wird, um es über den Krieg hinaus in die Weimarer Republik zu tragen. Für eine kleine aber lautstarke Gruppe rechtsradikaler soldatischer Nationalisten markiert der Beginn des Krieges demnach nicht einen Umschlagpunkt, sondern den Eintritt in eine mehrjährige In- oder vielmehr ›Exkubationszeit‹, die in den anvisierten Aufschwung erst dann münden kann, wenn das mit dem Krieg begonnene Zerstörungswerk bis zur finalen Tilgung aller Vergangenheitsbestände fortgesetzt worden ist. Hier wird die 1914 als zäsurierendes Ereignis begrüßte Destruktion dem Programm nach terroristisch. Im Überblick über die Gesamtlinie dieser Rekonstruktion eines Ausschnitts aus der deutschen Ideengeschichte verhält es sich also so, dass aus dem von einer breiten Bevölkerungsmehrheit getragenen und konzeptuell integrativen Nationalismus der »Ideen von 1914« im Verlauf des Krieges, der Niederlage und der Nachkriegszeit ein elitär soldatischer, exklusiver und in letzter Konsequenz terroristischer Radikalnationalismus wird. Die evolutionistischen Implikationen dieser Formulierung sind mit Bedacht gewählt. In der Tat soll die These vertreten werden, dass den Ideen von 1914 das Potential zum Radikalnationalismus der Nachkriegszeit bereits inhärent ist, es zur Entfaltung dieses Potentials aber des Kriegsverlaufs und der Niederlage bedurfte, zu denen der Radikalnationalismus sich verhält wie das konzentrierte Gift zum Prozess seiner Gewinnung in der Zentrifuge. Insofern handelt es sich – wie im Titel angezeigt – um die Eskalation eines Narrativs.

2. Ausgangssituation 1914 Geht man nun die einzelnen Stationen dieser Evolution durch, so hat man es demnach 1914 mit einer unreinen Ausgangslage zu tun. Das Narrativ von Krise, Zäsur und Auf bruch bündelt die verschiedensten Motivationen, den beginnenden Krieg zu bejahen. Durch die Verknüpfung der drei Phasen zu einem Narrativ, das ihnen qua Verlaufsstruktur einen rudimentären Sinn, d.h. eine Art Richtungssinn verleiht, treten so unterschiedliche Positionen wie die ästhetizistische oder expressionistische Kulturkritik zwischen Hofmannsthal und Franz Marc mit den militärischen Vabanquespielern des großen Generalstabs unter ein gemeinsames Dach. Die Einigkeit, mit der die Vorkriegszeit zur Epoche der Krise erklärt und der Kriegs44

Eskalation eines Narrativs

ausbruch zum Zäsur setzenden Ereignis stilisiert wird, an das sich eine Zukunft fortschreitender Reinigung, Genesung etc. anschließen soll, verdankt sich nicht zuletzt der kulturkritischen Vorbereitung, die wiederum die Arbeitsteilung von Diagnostik bzw. Intellektuellen und Therapie bzw. Militärs vorbereitet. Die Zahl der Belege ist Legion. Es werden hier nur die bekanntesten Textstellen aufgegriffen, die der charakteristischen Engführung von Kulturarbeit und Soldatentum besonders starke Aufmerksamkeit widmen. Die »konzentrierteste Zusammenfassung der deutschen Kriegsrhetorik der ersten Stunde« (Sprengel 2004: 799) bieten Thomas Manns »Gedanken im Kriege«, die im Rückblick auf die Juli-Krise und die ersten Kriegstage zwischen Mitte August und Anfang Oktober 1914 formuliert wurden, bevor sie im November-Heft der Neuen Rundschau erscheinen: »Erinnern wir uns des Anfangs – jener nie zu vergessenden ersten Tage, als das Große, das nicht mehr für möglich Gehaltene hereinbrach! Wir hatten an den Krieg nicht geglaubt, unsere politische Einsicht hatte nicht ausgereicht, die Notwendigkeit der europäischen Katastrophe zu erkennen. Als sittliche Wesen aber – ja, als solche hatten wir die Heimsuchung kommen sehen, mehr noch: auf irgendeine Weise ersehnt; hatten im tiefsten Herzen gefühlt, daß es so mit der Welt, mit unserer Welt nicht mehr weitergehe./Wir kannten sie ja, diese Welt des Friedens und der cancanierenden Gesittung […].Wimmelte sie nicht von dem Ungeziefer des Geistes wie von Maden? Gor und stank sie nicht von den Zersetzungsstoffen der Zivilisation? […] Wie hätte der Künstler, der Soldat im Künstler nicht Gott loben sollen für den Zusammenbruch einer Friedenswelt, die er so satt, so überaus satt hatte!« (Mann 1914: 31f.).

Thomas Manns vordinglicher Impuls, das ist offensichtlich, geht dahin, seinen Zeitgenossen den Krieg vor allem als Wendepunkt zu empfehlen, der sich vor der lustvoll ausgemalten Folie des kulturellen Niedergangs als unabweisbar ausnimmt. Sieht man von der gewaltsamen Gleichsetzung von »Kunst und Krieg« bzw. Künstler und Soldat ab, die Thomas Mann als verschwisterte Ausdrucksformen des Prinzips der »Organisation« darstellt (ebd.: 29), so ist vom tatsächlichen Kriegsgeschehen überhaupt nicht die Rede. Vielmehr geht es Thomas Mann darum, den Krieg als begrüßenswert darzustellen, was auch immer er sei. Dabei schlägt er zwei Fliegen mit einer Klappe, indem er die diachrone Struktur des Narrativs mit der synchronen Opposition von »Zivilisation und Kultur« (ebd.: 27) überblendet, die zugleich den Gegensatz der sich an der Westfront gegenüberstehenden Kriegsparteien, insbesondere zwischen Frankreich und Deutschland, kulturphilosophisch überhöht. Dank der Überblendung von diachronem Verlauf und synchronem Gegensatz fällt der Aufstieg aus der eigenen ›ver45

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worfenen‹ Vorkriegszeit mit der Abwendung von der westlichen Zivilisation zusammen. So wird der Krieg zu einer Reinigung stilisiert, die nicht anders als eben durch Krieg zu vollziehen ist, weil die ›Wiedergeburt‹ der deutschen Nation ein genuin deutsches Wesen freilegt, das substantiell anders ist als die Zivilisationen des Westens, die es zwangsläufig als schwarzes Loch innerhalb ihres Universalismus ansehen müssen. Will man wissen, wie man sich die Eigentümlichkeit deutscher Kultur im Gegensatz zu westlicher Zivilisation vorzustellen hat, so findet man Antwort zum Beispiel bei Georg Simmel, der nicht wie Thomas Mann primär die Krankheitssymptome der Phase 1 vor Augen stellt, sondern nach Beschreibungsmöglichkeiten sucht, um das für Phase 3 Ersehnte zu konkretisieren. Zu diesem Zweck arbeitet sich Simmel am von Ferdinand Tönnies entworfenen Gegensatz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft ab, der mit der Opposition von Kultur und Zivilisation eine Isotopieebene bildet: Für gewöhnlich kommt der einheitliche Zusammenhang zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen auf arbeitsteilige Weise zustande […]. Während dies natürlich weiterbesteht, hat in diesen Tagen noch eine ganz andere Art von Einheit sich unseres Gefühls bemächtigt: nicht erst durch den Kanal eines differenzierten Tuns oder Seins, sondern ganz unmittelbar ist auf einmal der Einzelne in das Ganze eingegangen, an und in jeden Gedanken und jedes Gefühl ist eine überindividuelle Ganzheit gewachsen. Diese Gesamtheit ist nicht nur die Verwebung von Einzelwesen und ihrer Einzelkräfte, ist aber auch nicht ein Etwas jenseits der Einzelnen, wie sublime Soziallehren es mit einer teilweisen Richtigkeit darstellen. Sondern [I]n dem jetzigen Erlebnis leuchtet aus dem neuen Grad, der neuen Art von Verantwortung und von Opfer auch ein neues Verhältnis von Individuum und Gesamtheit auf, dessen begriffl icher Ausdruck schwierig oder widerspruchsvoll ist und dessen reinste Anschaulichkeit [aber] der Krieger im Felde ist: daß gleichsam der Rahmen auch des individuellsten Lebens durch das Ganze ausgefüllt ist. Zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen besteht kein Jenseits mehr, so daß selbst ›Hingebung‹ kein ganz zutreffendes Wort ist: man braucht sich nicht erst hinzugeben, wo das Gefühl von vornherein keine Scheidung zeigt (Simmel 1999: 15). In ihren operationalen Vollzügen bleibt die Gesellschaft so arbeitsteilig wie zuvor. Die von allen frühen Soziologen geteilte Einsicht in die Vermitteltheit des gesellschaftlichen Zusammenhangs bleibt unwidersprochen und wird auch für die Zukunft angenommen. Dank des Krieges aber wird sie fundiert durch eine unverbrauchte Gemeinschaftlichkeit, die »von zwei Seiten her für die Verschmälerung jenes Risses« (ebd.: 40) sorgt, der die moderne Konfiguration von Individuum und Gesellschaft bestimmt. Die Gemeinschaftlichkeit, die der Krieg entdeckt, ist zwar epistemologisch sekundär, insofern ihre Erkenntnis die Mittel ausdifferenzierter Wissen46

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schaft voraussetzt, aber ontologisch primär. In ihr besteht eine ursprüngliche Sozialität fort, zu der es als Lebensform zwar keine Rückkehr gibt, deren Bindekräfte aber durch die Evolution der Gesellschaft bis dato nicht aufgezehrt wurden, sondern diese im Gegenteil stützen, wie der Krieg jetzt zeigt. Dabei ist es der alleinige Vorzug Deutschlands, diese Bindekräfte der Gemeinschaft, die zugleich Garanten echter Kultur sind, in ihrem Wert erkannt und zugleich an sich selbst wieder entdeckt zu haben, woraus die weltgeschichtliche Sendung folgt, diese Erkenntnis des fundamentalen Kulturwerts Gemeinschaft durchzusetzen und die immer seltener werdende Substanz gemeinschaftlicher Bindung zu pflegen (vgl. Schöning 2009: 25).

3. Zwischenergebnis: Sinndimensionen der »Ideen von 1914« Die wenigsten Texte, die den Ideen von 1914 ihre ursprüngliche Gestalt geben, sind so anspruchsvoll wie die von Georg Simmel, der sich erkennbar bemüht, trotz des nahezu verbindlichen Mythos vom Augusterlebnis, demgemäß der gemeinschaftliche Zusammenhalt aller Deutschen bei Kriegsbeginn jedermann spürbar wurde, nicht hinter den Stand der modernen Sozialtheorien zurückzufallen. Simmel bietet die subtile Variante dessen, was sich als nationales Projekt seit Kriegsbeginn mehr und mehr durchsetzt. Demnach soll sich auf deutschem Boden eine Umkehr der sozialen Evolution vollziehen. Aus einer Gesellschaft soll wieder eine Gemeinschaft werden, deren Vorzug darin besteht, durch unmittelbare und unbedingte Bindung konstituiert zu sein. Durchforstet man das Korpus der Texte, die den »Ideen von 1914« ihre ursprüngliche Gestalt geben, dann lassen sich drei Dimensionen rekonstruieren, die das Projekt der nationalen Wiedergeburt konstituieren. Man kann sie mit Niklas Luhmann (1994: 112ff.) als Zeitdimension, Sachdimension und Sozialdimension unterscheiden . Die Zeitdimension wird durch das Narrativ bestimmt. Wie gesagt haben wir es mit einer dreigliedrigen sequenziellen Struktur zu tun, die das Verlaufsschema der Tragödie umkehrt. Dementsprechend folgt auf eine lange Phase des Niedergangs, die Phase 1, ein kurzer, zunächst als Ereignis gedachter Moment, der sich allerdings in späteren Ausgestaltungen des Narrativs durch elaborierte Narrationen zu einer länger andauernden Phase 2 auswächst, an die wiederum eine projektierte Phase 3 anschließt, in der die Krise überwunden und der Neuanfang gewagt wird. In der Sachdimension wird das Telos, das im Narrativ nur formal angezeigt wird, nämlich als Überwindung einer in der Vergangenheit lie47

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genden Krise, inhaltlich ausbuchstabiert. Was wir bei Georg Simmel gesehen haben, gilt im Kern als verbindliches Ziel: Die ›Wiedergeburt‹ der als substantiell eigentümlich vorgestellten Nation als eng verwobene Gemeinschaft, in der das nationale Ganze für jeden Einzelnen, der eigentlich gar kein Einzelner ist, sondern als abhängiges Glied eines Organismus verstanden wird, selbstverständlichen Vorrang genießt. In der Sozialdimension geht es um die konzeptuell vorgesehene Trägergruppe der »Ideen von 1914« und deren Adressaten. Konzeptuell und faktisch lässt sich für beide Seiten des Kommunikationszusammenhangs sagen, dass die Ideen von 1914 ›allinklusiv‹ angelegt sind. Die Beiträger zum Diskurs rekrutieren sich sowohl überkonfessionell als auch überparteilich und interdisziplinär. Jüdische Philosophen wie Hermann Cohen tragen nichts prinzipiell anderes bei als protestantische Theologen wie Ernst Troeltsch oder katholische Denker wie Max Scheler. Zwar träumen Historiker und Ökonomen, mit der äußeren Seite der Macht beschäftigt, mehr von deutsch dominierten Großräumen, während Philosophen und Theologen der Umkehr im Inneren größeres Gewicht beilegen, ihre Schnittmenge jedoch ist das äußere Innere, die gemeinschaftliche Gestaltung der Nation, die beide Kriegsziele zur notwendigen Voraussetzung haben. Was als Kultur der nationalen Gemeinschaft entworfen wird, soll auch performativ als solche fungieren. Jeder trägt in mehr oder weniger eminenter Weise zur deutschen Kultur bei, selbst wenn er davon gar nichts weiß oder sich sogar mehr der Romania verbunden fühlt, wie Thomas Mann in seinen »Betrachtungen eines Unpolitischen« am Beispiel seines Bruders Heinrich Mann vorführt. Dabei verficht Thomas Mann z.B. einen extrem weiten Begriff von deutscher Kultur, der den romantischen Topos von der Unterbestimmtheit deutscher Kultur aufnimmt und deren Eigentümlichkeit gerade in ihrer ironischen Vielgestaltigkeit sieht (vgl. Mann 1918: 19f., 112). Entscheidend ist darüber hinaus, dass alle drei Dimensionen, auch Sach- und Sozialdimension, den vom Narrativ in der Zeitdimension eingeführten Projektcharakter der »Ideen von 1914« mittragen. Dass der Krieg gemeinschaftliche Bindekräfte freilegt, ist ein Versprechen, das aktuell Sinn verleiht, indem es eine Hypothek auf die Zukunft aufnimmt. Damit aber wird ein Modus der Sinnstiftung gewählt, der sich derart von Unwägbarkeiten abhängig macht, dass er riskanter nicht sein könnte. Die Schwierigkeiten folgen denn auch auf dem Fuße. Bald nachdem der Krieg sich an der Westfront festgerannt hat, zeigte sich einerseits die geringe Belastbarkeit der Gesamtarchitektur des dreidimensionalen Sinnversprechens. Andererseits jedoch erweist sich das Narrativ, das sich jeder neuen Lage problemlos anzupassen versteht, als über alle Maßen stabiles Fundament – mit fatalem Effekt. 48

Eskalation eines Narrativs

4. ›Ideen von 1916‹: konservative, progressive und reaktionäre Filiationen Das Beispiel Thomas Manns ist vor diesem Hintergrund insofern aufschlussreich, als es die Abhängigkeit der Wirkung des Narrativs von der Ausgestaltung im historischen Kontext demonstriert. Thomas Mann hält, wie seine »Betrachtungen eines Unpolitischen« belegen, bis zum Kriegsende weitgehend am Konzept der 1914 von ihm mit entworfenen Ideen fest. Während andernorts auf der Basis des beibehaltenen Narrativs ab 1916 eine zunehmende Ausdifferenzierung der darauf gegründeten »Ideen von 1914« stattfindet (vgl. Bruendel 2003; Flasch 2000), die sich vor allem durch Variation der Sach- und Sozialdimension ausdrückt, bleibt Thomas Mann der ursprünglichen Position weitgehend treu. Seine Perspektive ist insofern als konservativ zu bezeichnen, ohne dass die bald anschließende Bekehrung des Autors zur Demokratie überraschen muss. Im Gegenteil: Was 1914 als Beitrag zur geistigen Mobilmachung gemeint war, wirkt 1918, nach vier Jahren realer gesellschaftlicher Mobilmachung bis an den Rand des totalen Krieges, moderierend. Der Funktionswandel derselben Narration zeigt sich insbesondere dann, wenn man sie mit jenen vergleicht, die auf die veränderten Kontextbedingungen reagieren und auf der Basis des identischen Narrativs die gesellschaftliche Mobilmachung kritisch oder affirmativ beobachten. Nachdem der vielfach erwartete schnelle Sieg nicht hat erfochten werden können, löst sich der fi ktive Konsens auf, um dem realen Dissens einer »Klassengesellschaft im Krieg« (Kocka 1988) Platz zu machen. An der Westfront herrscht mehrere Jahre eine militärische Patt-Situation, die trotz geradezu grotesker Anstrengungen nicht aufgebrochen werden kann, bis Deutschland langsam die Ressourcen ausgehen, um einem ab 1917 durch die Amerikaner verstärkten Gegner länger standzuhalten. In dieser Situation, die ab 1916 den Horizont des Diskurses bestimmt, entwickeln sich zunächst zwei weitere Positionen. Einerseits kommt es zu einer Stärkung der demokratischen oder allgemeiner progressiven Kräfte. Wie das Beispiel Max Webers zeigt, muss man dabei noch nicht einmal ein eingefleischter Demokrat sein. Ein unbestechlicher machtpragmatischer Realismus reicht aus, um einzusehen, dass der Krieg keine fundamentale Neuordnung der europäischen Landkarte mit sich bringen wird. Ergo ist es an der Zeit, den Einsatz nicht immer weiter zu erhöhen, sondern sich zu überlegen, wie man künftig weiter miteinander leben will. Ab »der Schwelle des dritten Kriegsjahres« ist Weber in Reden und Vorträgen immer wieder gegen die intellektuelle Mobilmachungsrhetorik zu Felde gezogen, die Politik auf Willensanstrengung reduziert und unbeeindruckt von der Realität Illusionen verbreitet: 49

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»Ja, wofür sterben heute unsere Leute im Felde? ›Geistreiche‹ Personen haben sich zusammengetan und die ›Ideen von 1914‹ erfunden, aber niemand weiß, welches der Inhalt dieser ›Ideen‹ war. Großartig waren sie, großartiger als jene von 1870, die nur ein Rausch waren gegen die majestätische Erhebung des deutschen Volkes zum jetzigen Kampf um seine ganze Existenz. Sich im Kriege zusammenzuschließen und zu organisieren, ist nichts Besonderes; dazu braucht man keine neuen Ideen. Was würden unsere Leute im Felde antworten, wenn man ihnen sagen würde: Ihr laßt euch draußen totschießen, und die daheim erfinden die Ideen? Entscheidend werden die Ideen von 1917 sein, wenn der Friede kommt; jetzt gilt das Recht des Schwertes. Viel schlichter spielt sich der Kampf draußen im Felde ab« (Weber 1988: 332f.).

Webers Ironisierung der »Ideen von 1914« zielte darauf ab, Regierung, Militär und Bevölkerung mental friedensfähig zu machen, ganz unabhängig vom Ausgang des Krieges, von dem auch Weber für Deutschland Positives erhoff te. Er hat die Sackgasse gesehen, in welche die forcierte Mobilmachung bei gleichzeitiger Ausblendung pragmatischer Kriegsziele führen musste: in einen beinahe apokalyptischen Nationalismus, der aus »Angst vor dem Frieden« (Weber 1988b: 24) den Zusammenbruch provoziert und auch nach der Niederlage vom Krieg nicht lassen kann. Schützenhilfe erhielt er dabei bald von Ernst Troeltsch, seinem früheren Heidelberger Kompagnon, dessen ausgedehnte Kriegspublizistik in den letzten beiden Kriegsjahren zunehmend für De-Mobilmachung plädiert und das Individuum gegenüber der Gemeinschaft wieder aufwertet. Nachdem er in seinem Vortrag »Das Volksheer« noch die »einheitliche Seele unseres Volkes« beschworen hatte (Troeltsch 1914: 9), wird ab Mitte des Krieges zunächst die »Individualität der freien geistigen Bildung« betont (Troeltsch 1925: 103), bevor im letzten Kriegsjahr explizit für die »Demobilisierung der Geister« geworben wird (vgl. Troeltsch 1975: 216 u. dagegen Volkelt 1918). Diese Progressiven, die in der Weimarer Republik dann mindestens zur Gruppe der Vernunftrepublikaner zählen werden, halten in der Zeitdimension und auch in der Sozialdimension weiter an den Ideen von 1914 fest. Es gilt für sie nach wie vor, dass die Vorkriegszeit krisenhaft und eine Zäsur nötig war. Auch sind sie inklusiv gesonnen. Neu zu justieren ist nur das programmatische Ziel in der Sachdimension. Der außenpolitische Gegensatz ist zu minimieren und analog dazu ist das überspannte Ziel nationaler Selbstgeburt als Gemeinschaft zugunsten eines modernen realistischen Gesellschaftsbildes aufzugeben. Später folgen der Einsicht in die gesellschaftliche Konstitution Deutschlands, die sich sozialontologisch in nichts von ihren westlichen Nachbarn unterscheidet, entsprechende Verfassungskonzeptionen nach. 50

Eskalation eines Narrativs

Während Weber, Troeltsch und andere also ihre Erwartungen an die gesellschaftliche Integrationsdichte senken und zunehmend den Einzelnen mit seinem Eigensinn als kleinste soziale Einheit anerkennen, werden auf nationalistischer Seite die Inklusionsmodalitäten zunehmend verschärft und in völkischer Perspektive dekulturalisiert. Symptomatisch für die zunehmende Durchsetzung exklusiver Nationalitätskonzepte ist die »Konfessionsstatistik« des deutschen Heeres, besser bekannt als »Judenzählung«, die von reaktionären Kräften 1916 iniitiert wird, um der verleumderischen Behauptung, die deutschen Juden leisteten einen lediglich unterproportionalen Anteil bei der Verteidigung des Vaterlandes, Gewicht zu verleihen (vgl. Sieg 2003). Auf demselben Gebiet tut sich z.B. der seinerzeit bekannte Philosoph Bruno Bauch u.a. Herausgeber der einflussreichen Kant-Studien, hervor, der den jüdischen Philosophen, wie z.B. den Neukantianern der Marburger Schule, die Fähigkeit zum Verständnis deutscher Philosophie rassebedingt abspricht. An die Stelle der inklusiv angelegten Kulturnation, an der jeder mögliche Träger deutscher Kultur teilhaben kann (vgl. Cassirer 2001), tritt bei denen, die wie Bauch am Telos der »Ideen von 1914« kontrafaktisch festhalten, ein völkischer Nationalismus, der nicht nur den Kreis der Zugehörigen enger zieht, sondern auch die Inklusionsmedien Kultur und Geschichte durch Rasse, Blut und Boden ersetzt und damit eine Form von organischer Gemeinschaft entwirft, welcher der Einzelne ohne Rücksicht auf Biographie und Lebensentwurf entweder zugehört oder nicht: »Die Nation als Gemeinschaft der ›Mitgeborenen‹ ist natürliche Abstammungsgemeinschaft als Grundlage der völkischen Einheit. In diese Gemeinschaft werde ich hineingeboren. Ich gehöre ihr nicht erst an durch einen bestimmten Willensakt und Entschluss meinerseits, ich bedarf auch nicht erst einer besonderen, wiederum auf Willensentschluss und Beschluss von Seiten der übrigen Glieder gegründeten, Aufnahme. […] Ohne zu fragen, und ohne Antwort zu heischen, ohne ausdrücklichen beiderseitigen Willen gehöre ich dem Ganzen meiner Nation einfach durch mein nasci, durch mein Geboren-Werden an. Die Gemeinschaft des Blutes ist das einigende Band im natürlichen Bestande der Nation, und diese ist zunächst ein natürlicher organischer Gemeinschaftsverband, eine Naturgegebenheit« (Bauch 1917: 140).

Die Konfessionsstatistik und der Fall Bruno Bauch (vgl. Sieg 1991; Schöning 2008) sind nur zwei Beispiele für eine erste Radikalisierung des Nationalismus, die sowohl in der Zeitdimension am Narrativ festhält als auch in der Sachdimension an der Zielsetzung nationaler Wiedergeburt. Hier findet zwar insofern eine Änderung statt, als die Grundlage der Nation nicht mehr im Bereich der Kultur, sondern im Bereich der Abstammung 51

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gesucht wird. Die Auswirkungen werden jedoch vor allem in der Sozialdimension spürbar. Der entscheidende Radikalisierungsschritt besteht darin, dass der Kreis der Adressanten und Adressaten deutlich enger gezogen wird und insbesondere die deutschen Juden vom Projekt der Nationwerdung ausgeschlossen werden. Was vormals als eine durchaus verbreitete, gleichwohl aber randständige Position angesehen werden musste, wird nun von einer der zentralen gesellschaftlichen Institutionen offiziell getragen und vom akademischen Establishment artikuliert. Sucht man nach dem Impuls für die Kündigung des kulturnationalistischen Konsenses, der die ursprünglichen Ideen von 1914 kennzeichnet, so ist vor allem an die verschärfte Kriegslage zu denken. Trotz der gewaltigen Anstrengungen, insbesondere vor Verdun, geht es militärisch nicht weiter. Da liegt es unter den gegebenen diskursiven Voraussetzungen nahe, nach Verrätern in den eigenen Reihen zu suchen. Weil man die ›Wiedergeburt‹ der Nation als Gemeinschaft zur Voraussetzung dafür gemacht hat, an einen militärischen Sieg trotz massiver strategischer Nachteile überhaupt glauben zu dürfen, müssen die Gründe für das Ausbleiben desselben mit einer gewissen Zwangsläufi gkeit an der Heimatfront gesucht werden. »Man kann sogar mit gutem Grund behaupten, daß die Dolchstoß-Legende das direkte und notwendige Korrelat zum ›Mythos vom Geist von 1914‹ […] darstellte. Der Mythos deutscher Einigkeit und gemeinsamer Anstrengung, um den ›Einkreisungs-Ring‹ zu zerbrechen, ließ sich als […] sozial-moralische Finalität [des Krieges] nur aufrechterhalten, wenn die [drohende und später die tatsächliche] Niederlage von 1918 nicht als […] Konsequenz der militärtechnischen Überlegenheit der Gegner aufgefaßt wurde, sondern als Verrat« (Krumeich 2001: 585). Um am Mythos des »Augusterlebnisses« festhalten zu können, das als Scharnier des ›Narrativs von 1914‹ (Zeitdimension) dient und innerkonzeptuell das Projekt der nationalen ›Wiedergeburt‹ initiiert (Sachdimension), wird die tatsächliche länger währende Integration der Gesellschaft (Sozialdimension) aufgekündigt und das Projekt des Nationalismus gegen Teile des eigenen Staatsvolks gewendet.

5. Der Radikalnationalismus als letzte Gestalt der »Ideen von 1914« Noch deutlicher werden sowohl die Persistenz des Narrativs als auch die Form seiner Eskalation, wenn man zu den rechtsradikalen Ideen der vierten und letzten Gruppe übergeht. Die bisher genannten Erben der »Ideen von 1914« haben die Zeitdimension und deren Schematisierung sowie mindestens eine weitere Dimension konstant gehalten (vgl. Schema 1): 52

Eskalation eines Narrativs

konservativ

progressiv

reaktionär

rechtsradikal deformiertes Zeitdimension Narrativ 1914 Narrativ 1914 Narrativ 1914 Narrativ FrontgemeinSachdimension Gemeinschaft Gesellschaft Gemeinschaft schaft maximal Sozialdimension inklusiv inklusiv exklusiv exklusiv

Schema 1: Sinndimensionen/Idealtypen der Ideen von 1914 in ihrer Entwicklung Der bis aufs äußerste forcierte Radikalnationalismus nun zeichnet sich dadurch aus, dass er das Ideologem der Reinigung, mit dem bisher der Umschlagspunkt zwischen Krise und Neubeginn semantisch ausgestaltet wurde, auf den Komplex der »Ideen von 1914« selbst anwendet. Das ganze Repertoire an schiefen Bildern und gepflegten Illusionen, mit dem die gesellschaftliche Kriegsbereitschaft zwischen 1914 und 1918 aufrecht erhalten wurde, fällt dem ›Großreinemachen‹ ebenso zum Opfer wie die imperialen Fassaden des Kaisertums und der Standesdünkel des preußischen Offizierskorps. Übrig bleibt für die radikalen soldatischen Nationalisten nur das nackte Narrativ von Krise, Umschlag (bzw. Zäsur) und nationalem Auf bruch. Die Sachdimension reduziert sich ganz auf das konzeptuell unbestimmte Ziel, einer neuerlichen Mobilmachung der Nation durch das Abräumen aller ideologischen Trümmer den Boden zu bereiten. In der Sozialdimension ist die Reduktion ebenso radikal. Adressant und Adressat ist ausschließlich jener »Typ des Grabenkämpfers, der es während endloser Nachtwachen längst aufgegeben hatte, nach dem Warum zu fragen« (Jünger 2001a: 90), und deshalb in der Lage sein soll, die de facto inexistente Nation bis zu ihrer totalen Wiedermobilmachung zu vertreten. Die Generation der jungen Frontleutnants, die die Erfahrung gemacht haben, wie es um das von Simmel idealisierte Verhältnis von Krieger und Nation tatsächlich bestellt ist, und nun in die Position von Sinnproduzenten einrücken, entwickeln einen Radikalismus, der den reaktionären Nationalismus unheilvoll überbietet. Sie behalten das Zeitschema bei (vgl. Jünger 1980: 12), überdehnen aber die mittlere Phase des Narrativs derart, dass aus dem kurzen Augenblick des Umschwungs, der das Narrativ im August 1914 kennzeichnet, eine mehrjährige Umbruchsphase radikaler Zerstörung wird. Diese als Säuberung zu denkende Zerstörung ist mit dem Krieg nicht vorbei, sondern soll im Gegenteil nach der Niederlage verstärkt fortgesetzt werden, damit sie zur Voraussetzung eines Sieges im nächsten Weltkrieg wird. So schreibt Ernst Jünger in seinem zweiten Kriegsbuch »Der Kampf als inneres Erlebnis« aus dem Jahr 1922: Das glühende Abendrot einer versinkenden Zeit ist zugleich ein Mor53

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genrot, in dem man zu neuen, härteren Kämpfen rüstet. Weit hinten erwarten die riesigen Städte, die Heere von Maschinen, die Reiche, deren innere Bindungen im Sturme zerrissen werden, den neuen Menschen, den kühneren, den kampfgewohnten, den rücksichtslosen gegen sich selbst und andere. Dieser Krieg ist nicht das Ende, sondern der Auftakt der Gewalt. Er ist die Hammerschmiede, in der die Welt in neue Grenzen und neue Gemeinschaften zerschlagen wird. […] Der Krieg ist eine große Schule, und der neue Mensch wird von unserem Schlage sein (ebd.: 73). Insofern er die Krise beseitigt, übt der Krieg hier die gleiche syntagmatische Funktion aus wie in den ursprünglichen »Ideen von 1914«. Jedoch referiert die Pathosformel »Der Krieg« keineswegs mehr nur auf den Ersten Weltkrieg. Nach der Niederlage und dem Vertrag von Versailles gelten die Jahre von 1914 bis 1918 vielmehr bloß als Auftakt zu einem viel umfassenderen Zerstörungswerk. Noch 1928 heißt es in einem bis zum Äußersten gehenden Text: »Unsere Hoffnung ruht in den jungen Leuten, die an Temperaturerhöhung leiden, weil in ihnen der grüne Eiter des Ekels frißt […]. Sie ruht im Aufstand, der sich der Herrschaft der Gemütlichkeit entgegenstellt, und der der Waffen einer gegen die Welt der Formen gerichteten Zerstörung, des Sprengstoffs bedarf, damit der Lebensraum leergefegt werde für eine neue Hierarchie« (Jünger 2000: 133f.).

Damit hat das Narrativ von 1914 seine letztmöglich Gestalt angenommen. Es ist zu der sich selbst mahlenden Mühle geworden, von der Novalis einst gesprochen hat. In der Sozialdimension ist die nationale Gemeinschaft zu einem Haufen versprengter »Frontschweine« und Freikorpssoldaten geschrumpft, die erst zur Ruhe kommen, wenn in der Sachdimension alle Bestände getilgt sind. Zugleich soll dieser tabula-rasa-Radikalismus sie allein ermächtigen, den ersehnten, aber immer wieder aufgeschobenen Neubeginn endlich ins Werk zu setzen. Weil dabei die Zerstörung alles Hergebrachten zur Voraussetzung gemacht wird, muss auch das Phantasma von der ›Wiedergeburt‹ der Nation als Gemeinschaft begraben werden. Den projektierten Auf bruch zum »nationalen, sozialen, wehrhaften und autoritativ gegliederten Staat aller Deutschen« (Jünger 2001c: 504), wie Jünger reichlich formelhaft wiederholt, muss man sich deshalb als reinen Willkürakt vorstellen, mit dem aus dem Nichts heraus die »neue Erde« geschaffen wird. Im Radikalnationalisten walten nach der großen Reinigung keine kulturellen Eigenarten mehr, wie sie konservative und reaktionäre Stimmen ihrem Konzept von Nation zugrunde legen. Die beanspruchte Schöpferkraft, die die Macht der Zerstö-

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rung einmal ablösen soll, bezieht der radikalnationalistische Demiurg aus rein tellurischen Urkräften, wie Hans Freyer noch im Felde formuliert: »Der Mensch steht auf der Erde als ihr freigelassener Sohn. […] [S]eine eigentümliche Kraft ist, wie zuvor, einbezogener Teil und gebundenes Erbe, und noch sein freiester Wille bleibt, bloß in eine neue Energie zusammengefasst, das Blut der Mutter. Die Stromkreise der Erde gehen ihm durch Leib und Seele und regenerieren sein Wesen in jedem Moment, wie sie es aufgebaut haben. Aber was sie aufbauen, das ist ein eigenmächtiges freies Leben, ein unendlicher Fonds von Kraft, Ungetüme auszurotten, Hesperidenäpfel zu pflücken und aus der Erde von gestern nach Willkür eine neue Erde zu machen. Der Mensch auf der Erde ist Riese Antäus und Held Herakles zugleich« (Freyer 1918: 5).

Weil die Geschichte auf dem Umschlagspunkt des Narrativs von 1914, das den Diskurs allzu erfolgreich organisiert, steckengeblieben ist, der Gesamtsinn des nationalen Auf bruchs wegen der in seinem Zeichen erbrachten Entbehrungen in den Augen vieler aber nicht zur Disposition gestellt werden darf, wird das Auf-der-Stelle-Treten des Nationalismus zur Abbrucharbeit verklärt, die nur zu Ende gebracht werden muss, damit sich der seit 1914 aufgeschobene Beginn der Nation endlich vollziehen kann. Damit allerdings hat der Radikalnationalismus einen Modus der Sinnstiftung etabliert, der sich von der Realgeschichte derart zurückgezogen hat, dass er selbst dem Nationalsozialismus mangelnde Radikalität vorwerfen kann (vgl. Jünger: 2001b).

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Krieg und Posthistoire in Alfred Döblins »Berge Meere und Giganten« Lars Koch (Siegen/Berlin)

Beschäftigt man sich mit dem Zusammenhang von Krieg und Narration in der deutschsprachigen Literatur der Moderne, so kommt man an dem Essayisten und Romancier Alfred Döblin nicht vorbei. Seine nach dem Ersten Weltkrieg verfassten Texte kreisen in unterschiedlichen thematischen Fokussierungen und stilistischen Akzentuierungen immer wieder um das Verhältnis von Vernunft, Fortschritt und gewalttätiger Regression, immer wieder stellt sich ihr Autor der Reflexion über die für die Moderne insgesamt konstitutiven Fragen nach der Bewertung des geschichtlichen Prozesses im Angesicht seines katastrophischen Verlaufs. 1 Die Antworten, zu denen Döblin dabei in seinem belletristischen wie essayistischen Werk gelangt, bleiben allerdings ihrem Orientierungswert nach prekär. Im Lichte der epochemachenden Beobachtung, dass »die Kunst, Geschichten zu erzählen, zu Ende geht« (Benjamin 1980: 1010), begibt sich Döblin auf die Suche nach neuen Schreibverfahren, die im Kontext seiner Zeitgenossenschaft immer den Status einer Vorläufigkeit innehaben. Angesichts der Zäsur einer drei Jahrzehnte andauernden und alle Teleologien zusehends ad absurdum führenden Zersplitterung der Wirklichkeit sucht er Zeit seines Lebens in seinem Schreiben nach neuen Authentifizierungsstrategien, denen es nicht mehr um die authentische Darstellung der Realität der Erfahrung gehen kann, sondern nur noch um die Reflexion ihrer Erschütterung. Im Hinblick auf den in der Moderne schwankend gewor1. »Moderne« wird hier als ein deskriptiver Sammelbegriff verstanden, der auf die mit den rapiden gesellschaftlichen Transformationsprozessen der Neuzeit einhergehenden Kontingenzerfahrungen, Verunsicherungspotenziale und Sinndefizite verweist (vgl. Makropoulos 1997).

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denen normativen Boden sind in Döblins Lektüre der Geschichte daher unterschiedliche Gewichtungen und Wertungen zu verzeichnen, einzelne Deutungsmuster treten in den Vordergrund und werden im Rekurs auf sich verändernde politische und gesellschaftliche Ereigniskonstellationen wieder von anderen verdrängt. Als Medien der gesellschaftsbezogenen Reflexion2 bemühen sich die Döblin’schen Texte um das Festhalten an einer sinnhaften Transzendierung des Faktischen, zugleich verweisen sie aber auf ein zusehends desillusioniertes Denken im Prozess. Die Divergenz der Narrative, die Döblin im Kontext seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit Krieg und Gewalt heranzieht, belegt so indirekt die These Walter Benjamins, dass die Geschichte Ergebnis einer Konstruktion sei, deren Ort die jeweilige »Jetztzeit« (Benjamin 1981: 701) bilde. Im Hinblick auf das Döblin’sche Romanwerk stellt der vor dem Hintergrund der Erfahrungen als Lazarettarzt im Ersten Weltkrieg geschriebene »Wallenstein« eine erste kritische Auseinandersetzung mit dem kollektiven Gewaltpotenzial der Gegenwart dar.3 In diesem, 1920 veröffentlichten Text, nähert Döblin sich dem Thema Krieg aus dem Blickwinkel der großen Politik, die in ihrem Führungs- und Gestaltungsanspruch im Angesicht des tausendfachen Totentanzes in Frage gestellt wird. Das historische Massensterben des Dreißigjährigen Krieges setzt Döblin in Parallele zum Krieg 1914/18 und interpretiert es auf diese Weise als Allegorie auf die ewige Wiederkehr der sozialen Praxis von (männlicher) Gewalt. 4 Krieg – in dieser Einschätzung berührt sich Döblins Denken der 1920er Jahre mit dem so unterschiedlicher Autoren wie etwa Thomas Mann, Robert Musil und Oswald Spengler – gehört zu den gefährlichen Anlagen des menschlichen Daseins. Auch wenn der Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts die destruktive Seite des Menschseins lange verleugnet habe, könne 2. Döblin hat zeitlebens seinem Schaffen eine dezidiert gesellschaftsbezogene Aufgabe beigemessen. Paradigmatisch kommt diese Haltung in seinem Essay »Kunst ist nicht frei, sondern wirksam: ars militans« zum Ausdruck. Dort heißt es: »Die Kunst ist wirksam und hat Aufgaben, – es heißt diesen Satz nach allen Seiten, gegen die Künstler, den Staat, das Publikum, hart durchzukämpfen.« (Döblin 1989b: 245). 3. In einigen publizistischen Texten, die zwischen 1914 und 1918 veröffentlicht wurden, hatte sich Döblin noch weit weniger ablehnend mit dem Krieg auseinander gesetzt, sondern ihn in futuristisch-expressionistischer Manier als großen Verflüs-siger erstarrter gesellschaftlicher Strukturen überhöht (vgl. Mayer 1981: 88ff). 4. Genau diese Einsicht bringt die Figur Wallenstein zum Ausdruck, wenn sie feststellt, der Krieg von gestern sei nicht anders als der von vorgestern (Döblin 2003: 646).

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man angesichts der zurückliegenden »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« (Kennan 1979: 3) vor deren faktischer Wirkungsmacht aber nicht mehr länger die Augen verschließen.5 Wie jene, kaum ein Ende nehmen wollende Verwüstung großer Teile des Europas des 17. Jahrhunderts, so erscheint Döblin auch der aktuelle Krieg als ein eigendynamischer Prozess6, der nicht mehr mit den tendenziell kontrollierbaren Kabinettskriegen des 19. Jahrhunderts zu vergleichen ist. Im literarischen Reflex auf das umfassende Scheitern des diplomatischen bzw. völkerrechtlichen Krisenmanagements im Sommer 1914 imaginiert der Roman die Entfesselung bis dato ungeahnter Vernichtungspotenziale in Konkurrenz zur traditionellen Geschichtsschreibung in großer Plastizität und stellt diese als eine Grundsituation des menschlichen Daseins aus. Mag es hier und da Momente heldenhafter Menschlichkeit geben – das machen die expressionistisch gestalteten Schlachtenszenarien des Romans deutlich – so steht ihr als dominierende Gegebenheit die Dauer entindividualisierter Unmenschlichkeit gegenüber. Die Figur des in »mythisierender Bildlichkeit« (Sander 2001: 152) dargestellten Wallenstein wird vor diesem epochendiagnostischen Hintergrund zum ins Typologische überzeichneten und von Habgier, rücksichtslosem Machtwillen und Gewalttätigkeit bestimmten Tatmenschen, in welchem Döblin eine personale Signatur der historischen Epoche der Moderne auszumachen glaubt. »Angesichts der Übermacht der Natur« – so Waltraud Maierhofer im Hinblick auf die Triebbestimmtheit des hemmungslos dahinmetzelnden Figurenensembles in Döblins Roman – »gilt der alte aufklärerische Glaube an das Individuum und seine Perfektibilität nicht mehr« (Maierhofer 1997: 106). Kann damit als ein erstes diagnostisches Zwischenergebnis der frühen 5. Mit dieser antihistoristischen und zugleich »vorpolitischen« Einschätzung des Phänomens »Krieg« steht Döblin in der Tradition konservativen Nachdenkens über den bellizistischen Charakter des Lebens. So versteht etwa auch der Thomas Mann der »unpolitischen Betrachtungen« den Krieg als Naturkonstante: »Sind die Greuel des Krieges haarsträubend, – nun, mir sträubten sich einmal die Haare, als in sechsunddreißig Stunden ein Mensch geboren wurde. Das war nicht menschlich, es war höllisch, und solange es das gibt, darf es meinetwegen auch Krieg geben. Jedermann fühlt und weiß, daß im Kriege ein mystisches Element enthalten ist: es ist dasselbe, das allen Grundmächten des Lebens, der Zeugung und dem Tode, der Religion und der Liebe eignet.« (Mann 1918: 471). 6. In diesem Sinne vergleicht auch ein anderer großer Epochendiagnostiker der deutschen Literaturgeschichte, Ernst Jünger, den Ersten Weltkrieg als eine mit »Blut gespeiste Turbine«, die eigenen Gesetzlichkeiten folgt. (vgl. Jünger 2001: 564).

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Döblin’schen Geschichtsschau der an den Schriften Nietzsches orientierte Befund7 einer pessimistischen Anthropologie angesehen werden, so verschiebt sich der Fokus in Döblins 1924 veröffentlichtem Roman »Berge Meere und Giganten« weg von einer Phänomenologie menschlicher Gewaltaffinität und hin zu einem grundsätzlichen geschichtsphilosophischen Verortungsversuch, der sich im epischen Entwurf eines Zukunftsromans mit der Frage befasst, was aus dem Menschen wird, »wenn er so weiterlebt« (Döblin 1986: 310). Wie jede Zukunftsschau erwächst auch »Berge Meere und Giganten« aus einem »Leiden an der Geschichte« (Demandt 1993: 203). Für Döblin, das machen die ersten Sätze seines rund 600 Seiten starken Romans deutlich, ist der Erste Weltkrieg eine Zäsur im Nachdenken über die Sinnhaftigkeit des historischen Verlaufs. Der zurückliegende Krieg wird in diesem Text zum Ausgangspunkt für die Deutung des Epochenzusammenhangs: »Es lebte niemand mehr von denen, die den Krieg überstanden hatten, den man den Weltkrieg nannte. In die Gräber gestürzt waren die jungen Männer, die aus den Schlachten zurückkehrten, die Häuser übernahmen, welche die Toten hinterlassen hatten, in ihren Wagen fuhren, in ihren Ämtern dienten, den Sieg ausnutzten, die Niederlage überstanden. In die Gräber gestürzt die jungen Mädchen, die so schlank und blank über die Straße gingen. Als wäre nie ein Krieg zwischen Männern in Europa gewesen. In die Gräber gestürzt die Kinder dieser Männer und dieser Frauen, die heranwuchsen, an den Häusern bauten, die sie übernommen hatten, die Fabriken bevölkerten, die die Toten errichtet und stehen gelassen hatten.« (Döblin 2006: 13)

Im Fortlauf des in neun Bücher untergliederten Romans wird die hier schon angedeutete Genealogie der Menschheit in einer Vielzahl von kriegerischen Konfrontationen und Übermächtigungsszenarien durchgespielt. Krieg verliert so in der Entfaltung des Romans den in der Repräsentationspraxis des 19. Jahrhunderts etablierten Status als Ereignis und wird gemäß der eigenen poetologischen Vorgaben einer Orientierung an den »Elementarsituationen des menschlichen Daseins« (Döblin 1989a: 218) als situativer Gesamtzusammenhang neu gefasst. Der Handlungsraum des Textes erweist sich dabei extensiv in Höhe, Tiefe und Breite gedehnt. Ein Zentrum, von dem aus der Erzähler die Lesbarkeit der Welt nutzerfreund7. Noch in der »Schicksalsreise« (Döblin 1996: 125-136.) weist Döblin mehrmals auf seine intensiven Nietzsche-Lektüren, besonders die der »Genealogie der Moral« hin. Dort wie auch in »Jenseits von gut und böse« dekonstruiert Nietzsche die menschliche Kultur als Überbauphänomen, unter dem die wahre Tier-Natur des Menschen verborgen sei.

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lich gestalten könnte, existiert nach dem Tode Gottes und vor dem Hintergrund der mit dem Medienumbruch 1900 eingeleiteten Krise der Repräsentation nicht mehr. Schauplatz ist eine globalisierte Welt, in der in Resonanz auf die geobiopolitischen Konfrontationslinien (vgl. Werber 2007) des Ersten Weltkriegs verschiedene Akteure und Kollektive mittels technischer Machtmaximierung den Versuch der dauerhaften Beherrschung von Mensch und Natur betreiben. Die literarische Form des Science-Fiction signalisiert dabei gemäß ihrer Genre-Konventionen eine temporale Fortschreibung bestehender soziokultureller Tendenzen, die Ausweitung der Erzählperspektive auf rund 700 Jahre lässt zunächst vermuten, dass eine von einem Anfangs- und Endpunkt markierte und einer internen Verlaufslogik folgende Entwicklung dargestellt wird. Diese Vorannahmen legen bei oberflächlicher Textkenntnis eine Lesart des Romans nahe, die »Berge Meere und Giganten« als eine literarische Gestaltung einer umfassenden Verfallsgeschichte begreift und den Text so an den im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nahezu inflationär auftretenden apokalyptischen Geschichtsdiskurs ankoppelt (vgl. Vondung 1988). Einzelne Textpassagen, die von den Schrecknissen berichten, die aus einem »hypertrophen technischen Wachstum« (Geißler 1998: 163) resultieren, scheinen eine solche Verortung des Romans im Nahbereich programmatischer Weltuntergangsdeutungen auch zu rechtfertigen. So ist etwa der im zweiten Buch geschilderte »Uralische Krieg« – eine infernalische Konfrontation zwischen den nach dem Niedergang der parlamentarischen Demokratien autoritär regierten Stadtschaften des Westens auf der einen Seite und den »Asiaten« (Döblin 2006: 103) auf der anderen – in einer Bildlichkeit erzählt, die eindeutig an die Motivik der christlichen Apokalypse anschließt: »Feuer Rauch, den Horizont abschließend, keine Lücke lassend, die rollende Mauer. Soweit sie konnten, näherten sich die Flieger dem Brand, in Furcht, von Strahlen gefasst zu werden. Sahen zuletzt das Feuer sich von der Erde erheben, aus dem Boden spritzen, Hügel Berghöhen überklimmen, über fl aches Land Gebirge hochrennen. Es hielt vor keinem Flusslauf. […] Blauschwarze Schwaden, niedrighängende, zogen nach Polen Galizien Rumänien, wo das Laub an den Bäumen schwarz wurde, das Vieh auf der Weide starb, die Menschen sich nach Westen wandten. Im leeren Osten schäumte die grüne Flut über der abgetragenen Erde.« (Ebd.: 188ff.)

Der Krieg als ein Weltenbrand, so könnte man meinen, der eine soziale und kulturelle Katharsis forciert und sich so im hegelianischen Sinne als Agent des Weltgeistes bewährt. Tritt man jedoch aus Döblins suggestivem Untergangsdrama heraus und betrachtet den Text als ganzen, so zeigt sich, dass die apokalyptische Lesart aufgrund seiner anti-narrativen Kom63

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position nicht durchzuhalten ist. Die zeitliche Organisation der Handlung folgt einem temporalen Strukturmodell, das nicht dem das apokalyptische Narrativ prägenden Modus von endgültigem Weltende und quasi-transzendentem Neubeginn folgt, sondern eher im Begriff der Statik zu erfassen ist. In gewisser Weise wird so in der Absage an eine Zielorientierung des menschlichen Zivilisationsprozesses die Wirkweise des Krieges als eines Agenten der Zerstörung jeder Ordnung und Kohärenz auf der Textebene nachvollzogen. Trotz aller Herrschaftsnahmen, kriegerischer Konfrontationen, Orts- und Zeitsprünge, die es dem Leser schwer machen, die Handlungsebene zu überblicken, trotz aller »action«, wirkt der Text insgesamt merkwürdig entschleunigt. Eine eindeutige Teleologie positiver oder negativer Akzentuierung, die auch dem apokalyptischen Narrativ in dem Motiv des Umschlags eingeschrieben ist, kann für »Berge Meere und Giganten« nicht festgestellt werden. Vielmehr negiert der Roman die Tradition des linearen, auf Ereigniskohärenz zielenden Erzählens und stellt diesem – wie Klaus R. Scherpe ausgeführt hat – ein auf Ungleichzeitigkeiten und Asymmetrien des geschichtlichen Verlaufs fokussiertes Beobachtungs- und Beschreibungskonzept gegenüber: »Wie Foucault, der in seinen Vorlesungen von 1975 am Collège de France von den ›Asymmetrien‹ der Geschichte handelt und die im 20. Jahrhundert eskalierende Kriegsführung der Rassen und Klassen und die biotechnologische Machtergreifung zum Thema macht, genau so beschreibt Döblin in ›Berge Meere und Giganten‹ die kriegerische Eskalation der Technologien, ohne das Ganze – und das ist erstaunlich – noch einmal der Inszenierung einer apokalyptischen Katharsis zu unterstellen.« (Scherpe 2002a: XVf.)

In diesem Sinne erscheint der Roman insgesamt durch eine Polarität gegenüberstehender Extreme bestimmt, deren Komplementärbeziehungen auf der Ebene des Plots in unterschiedlichen Konstellationen und auf unterschiedlichen energetischen Niveaus durchgespielt werden. Wenn angesichts der »Leichen der Geschichte« (Döblin 1972: 82) überhaupt so etwas wie der Versuch einer »Sinngebung des Sinnlosen« (Theodor Lessing) unternommen wird, dann besteht die Kernaussage einer solchen Transzendierung in der Betonung mittlerer Intensitäten, die sich in einem zirkulären Spiel der Kräfte endlos fortsetzen. In diesem Sinne ist die bei anderen literarischen Texten der Weimarer Republik angesichts der Katastrophe des Ersten Weltkriegs zu verzeichnende Theologie des Weltuntergangs durch eine pessimistische Ökologie der Welterhaltung ersetzt worden. Leitend ist in »Berge Meere und Giganten« nicht mehr die Frage: ›Was darf ich hoffen?‹, sondern vielmehr die Frage: ›Was muss ich fürchten, wenn die Gesellschaft das rechte Maß verliert?‹ 64

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Wie dieses rechte, d.h. mittlere Maß genauer zu definieren ist, welche naturphilosophischen Qualitäten ihm Döblin zuspricht und an welchen Daseinssphären der Roman die polare Ausgleichsmechanik durchspielt, soll im Weiteren im Hinblick auf ihren geschichtsdeutenden Effekt genauer dargestellt werden. Zunächst jedoch möchte ich für Nicht-DöblinExperten in knapper Form einen groben Überblick über den Verlauf der Romanhandlung geben. Der Text setzt, wie bereits angemerkt, in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ein und berichtet in einer Art Universalchronik über die Entwicklung der Menschheit bis ins 27. Jahrhundert. Das Personal, das in dieser tour d’horizont auftritt, ist in seiner jeweiligen individuellen Biografie wenig profi liert, sondern eher typologisch überzeichnet. Die zeittypischen Sozialfigurationen – Ingenieure, Arbeiter, Soldaten und in toto ›die Massen‹ – agieren in unterschiedlichen Settings als personelle Träger bestimmter, über ihr Verhältnis zur Technik vermittelter, Zugriffsintensitäten auf Mensch und Natur. Sie repräsentieren hierbei differierende Formen gesellschaftlicher Macht und entfalten ihre Aktivität in dem in den 1920er Jahren zunehmend umkämpften Spannungsfeld der Geschlechterpolaritäten. Zwar ist die Erzählperspektive des Textes chronologisch perspektiviert, die Bewegungsrichtung der Romanhandlung pendelt jedoch zwischen einem radikalen naturwissenschaftlichen Positivismus und einer romantischen Gegenbewegung hin und her. Die asyndetische, ateleologische Handlungsführung ist dabei dem thematisierten normativen Orientierungsverlust der technischen Dynamisierung analog. Geschichtliche Veränderung folgt textintern zwar dem Schema von actio und reactio, eine wirkliche intentionale Motivation der Handlung ist jedoch nicht erkennbar. Die für die 1920er Jahre als äußerst drastisch zu bezeichnende Darstellung sexueller und gewalttätiger Exzesse, die im Leser unweigerlich den Eindruck einer seriellen Produktion von Folter und Mord hervorrufen müssen, werden – was die Eindringlichkeit des Buches weiter intensiviert – in ihrer Entstehung weder individualpsychologisch noch direkt politisch-soziologisch begründet. Döblin erzählt die zwischen lozierender, raptiver und autotelischer Stoßrichtung changierende Gewaltdynamik nicht (Reemtsma 2008: 104ff.), er beschreibt sie bloß – ein Verfahren, das die schockartigen Verwerfungen des Ersten Weltkriegs und seine Effekte auf Mensch und Natur in dem unmittelbaren historischen Kontext enthobenen literarischen Neukonfigurationen tableauartig ansichtig macht. Nicht um die Herausstellung einer einzelnen physischen Gewalttat oder eines bestimmten blutigen Details geht es dem Text dabei, vielmehr wird die »Zeichenfläche des gesamten Romans« (Scherpe 2002b: 111) in ihrer Archivierung von technischer Hybris und gewalttätigem Irrsinn zu einer textuellen Sprengkapsel, die den Vernunftglauben des 19. Jahrhunderts in seine Einzelteile zerlegt. Die sich nach den Erfahrungen 65

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von Verdun mit neuer Intensität stellende Frage nach der Darstellbarkeit von Gewalt schlägt auf diese Weise auf die literarische Form des Gesamttextes durch. Wo bildungsbürgerliche Kriegsautoren – zu denken ist hier etwa an den äußerst erfolgreichen Wandervogel Walter Flex (vgl. Koch 2005) – das Kriegserlebnis einige Jahre zuvor noch nach bekannten Mustern des Bildungsromans gestalten konnten, tritt bei Döblin ein poetologisches Programm der Nachzeichnung in Kraft, das die »Entzifferung der Asymmetrien« (Foucault 1999: 92) als seine Hauptaufgabe begreift und – wie Döblin in dem Essay »Über Roman und Prosa« schon 1917 notiert hatte – den semifiktiven Gang der Dinge zu beschreiben versucht, ohne ihn auf ein finales Ziel auszurichten: »Was heißt im Roman darstellen? Vorgänge plastisch ablaufen lassen. Da zeigt sich die künstlerische Minderwertigkeit des bloßen Erzählers gegenüber dem Darsteller. Der Historiker erzählt, die Sachen sind abgelaufen, vorbei, er hält das Abstrakte von ihnen in Händen und vor unsre Nase. Der darstellende Autor, viel gebundener, läßt keusch die Dinge gewähren, […] schweigt, erzählt nicht, verwandelt sich gänzlich in den konkreten Vorgang.« (Döblin 1985: 228)

Aus diesem selbstreflexiven Schreibgestus resultiert die überbordende Fülle einzelner Beobachtungen, die »Berge Meere und Giganten« als Lesestoff so herausfordernd und seine (literaturkritische) Handhabung so schwierig macht. Die Rekonstruktion des Handlungsfadens, die aufgrund der hier verhandelten stilistischen Besonderheiten des Romans nur ebenso kursorisch wie selektiv ausfallen kann, mündet demnach in eine Zusammenfassung, die in ihrer Ansammlung von einzelnen Handlungsmomenten den Charakter des Romans zwangsläufig verfehlen muss. Gleichwohl ist sie wichtig, um angesichts der zu verhandelnden »maßlosen Textgebilde« (Scherpe 2002b: 103) ein Mindestmaß an Orientierung zu ermöglichen. In den ersten beiden Büchern wird gezeigt, wie eine vom Machbarkeitsdenken dominierte Gesellschaft den »Uralischen Krieg« vom Zaun bricht, als Konsequenz aus dieser Katastrophe etabliert sich im dritten Buch in der Stadtschaft Berlin ein technikfeindliches System. Diese Herrschaft des Konsuls Marduk8 wiederum wird im vierten Buch von den Heeren der benachbarten Stadtschaften gestürzt, was im fünften Buch dazu führt, dass sich eine Anti-Städter-Bewegung etabliert. Als diese eine immer größere Zustimmung erfährt, beschließen die bedrohten Machthaber, durch ein großes technikbasiertes Umgestaltungsprojekt die Zustimmung der Massen zurück zu gewinnen. Zwar gelingt es, mithilfe der Enteisung Grönlands neuen Siedlungsraum zu erschließen, die dazu umgeleiteten Energien der 8. Historisches Vorbild war der babylonische Kriegsgott Marduk.

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isländischen Vulkane erwecken jedoch ein Sammelsurium von Urzeit-Tieren und Riesensauriern zum Leben, das den Fortbestand der Menschheit bedroht. Zur Verteidigung kreieren die Menschen im achten Buch aus einer Mischung organischer und anorganischer Materie die so genannten »Giganten«, riesige Turmmenschen, die als Symbol eines übersteigerten faustischen Selbst- und Weltverständnisses die nächste Runde im Kampf gegen Natur und Mensch einleiten und die großen Städte – Brüssel, New York, Mailand, Berlin – mit Furcht und Schrecken überziehen. Im letzten Buch tritt neben die Technokratie der Stadtschaften das in der Liebesprophetin Venaska veranschaulichte Alternativmodell eines anderen Lebens, das sich wieder den natürlichen Ursprüngen des Daseins zuwenden will. Ob Döblin in der Figur Venaskas im Hinblick auf die Bewertung des textinternen Handlungsverlaufs wie der textexternen Zeitläufte eine eigene Positionsbestimmung formuliert, soll am Ende meiner Überlegungen diskutiert werden. Zunächst einmal möchte ich aber genauer jene krisenhaften Polaritäten bestimmen, die die Grenzen des Text- und Handlungsraumes markieren und als Einbruch monströser Gewalt den eigentlichen Fluchtpunkt des Romangeschehens darstellen.

1. Kr ise der Politik : Der Einzelne und die Masse »Berge Meere und Giganten« entstand in der Zeit einer mühsamen gesellschaftlichen Konsolidierung, die den kulturellen Rahmenbruch des zurückliegenden politischen Systemwechsels noch nicht wirklich verarbeitet hatte. Schlimmer noch, gerade unter den Intellektuellen der Weimarer Republik machte sich eine erste Welle großer Enttäuschung über die im Winter 1918 verspielte Chance einer fundamentalen gesellschaftlichen Erneuerung breit, die durch die Auswirkungen der Hyperinflation weiter befeuert wurde. Das hieraus resultierende Gefühl, »zwischen den Kriegen« (Lethen 1994) zu leben, findet sich auch in Döblins Roman wieder. Eines der Grundsatzthemen des Textes ist in diesem Sinne die Frage nach dem Verhältnis des Einzelnen und der Masse sowie dem damit verbundenen Problem politischer Herrschaft. Döblin entwirft das Bild einer durch den technischen Fortschritt zunehmend vom Naturzusammenhang emanzipierten Gesellschaft, die die gewonnenen Freiräume aber nicht zur Gestaltung der gemeinsamen Zukunft nutzt, sondern vielmehr in autoritären Machtstrukturen stagniert. Die Phase des demokratischen Parlamentarismus, von dem Carl Schmitt 1922 schrieb, er sei »einer Zeit sozialer Kämpfe nicht gewachsen« (Schmitt 1922: 109), ist in »Berge Meere und Giganten« bereits beendet. Nach dem »Zermorschen der politischen Gewalten« (Döb67

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lin 2006: 12) sind quasi-faschistische Stadtschaften entstanden, die von einer elitären Clique von Wirtschaftsführern und Wissenschaftlern beherrscht werden. Ihre Macht über die Massen organisieren diese »neuen Herren« durch eine elaborierte Strategie allgemeiner Bedürfnisbefriedigung, welche Aspekte der von Adorno und Horkheimer analysierten Kulturindustrie ebenso antizipiert, wie die in den späten 1920er Jahren an den radikalen politischen Rändern formulierten Programme eines individualitätsverneinenden »social engineerings«. Mensch und Natur erscheinen unter der Herrschaft der Stadtschaften als Material omnipotenten technischen Gestaltungswillens. Paradigmatisch wird dies anhand der in distanzierter Kühle beschriebenen Versuche veranschaulicht, die der Senator Mecki zur Entwicklung synthetischer Nahrung an menschlichen »Gästen« durchführen lässt: »Es waren Menschenopfer, die man für die Versuche brauchte, sobald sie in ein gewisses Stadium getreten waren. Sie sahen aus wie die anderen; allmählich veränderte sich ihr Anblick, sie wurden durch andere ersetzt. […] Es wurde niemand den Grünen gleichgültig, wenn er starb und das verlor, was man oberfl ächlich seinen ›Geist‹, sein Leben nannte. Aus den Speisesälen und Laboratorien stiegen sie auf den Friedhof, maßen weiter Wärme, entnahmen Flüssigkeiten, setzten Stoffe zu, regulierten die Gaszuführung […], jagten Strahlen durch die ruhenden Teile.« (Ebd.: 86)

Die sich im Verschleiß menschlichen Probandenmaterials verwirklichende Biopolitik als Machtpolitik zeigt auf Dauer jedoch nicht den gewünschten Effekt politischer Legitimität. Die Massen werden immer träger, sie degenerieren und werden »widerwillig finster« (ebd.: 93). In der Folge des an Geschwindigkeit zunehmenden Entfremdungsgeschehens kommt es daher immer wieder zu Unruhen und eruptiven Ausbrüchen von Gewalt. Das technokratische Herrschaftssystem destabilisiert sich zusehends, ohne dass die Massen in den dargestellten pathologischen Szenarien ein Gegenmodell politischer Gestaltung entwickeln könnten. Die permanenten kriegerischen Konfrontationen gestaltet Döblin im starken Widerspruch zu der unter dem Einfluss der Nietzsche-Popularisierung seit der Jahrhundertwende zunehmenden Lesart des Krieges als eine Umwertung aller Werte und eine leerlaufende Revolutionierung ohne eigentliche Idee. Das Kommen und Gehen der Machthaber folgt keinem übergeordneten ideenpolitischen Programm, sondern stellt lediglich einen momentanen Druckausgleich gesellschaftlicher Energien her.9 9. In diesem Sinne hat auch Thomas Mann in seinem »Zauberberg« die Vorkriegszeit als eine »lange angesammelte Unheilsmenge an Stumpfsinn und Ge-

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Dass die textinterne Gewalt keine qualitativen Veränderungen in Sinne teleologischer oder evolutionärer Entwicklung einleitet, sondern lediglich die jeweils aktuelle Pendelstellung im polaren Spannungsfeld von Macht und Ohnmacht markiert, wird auch an dem märkischen Herrschaftssystem deutlich, das der Konsul Marduk im Sinne der reactio nach dem »Uralischen Krieg« in Berlin errichtet. Das neue Regime zeichnet sich zwar durch eine radikal andere Einstellung zur Technik aus, verbindet seine rückwärtsgewandte Ideologie der Technikferne aber mit einer Herrschaftsausübung, die gleichwohl nicht weniger autoritär und gewalttätig ist, als die der am anderen Technik-Pol befindlichen Stadtschaften. Sind diese nach dem Model von Elite-Kaste und atomisierter Masse organisiert, so weist das System Marduk eine höhere soziale Dichte auf, die allerdings mit Mitteln ideologischer Gewalt hergestellt wird. Auch im Märker-System erscheint das Individuum nur insoweit als wertvoll, wie es seine Kampfkraft dem eigenen Stamm und der von ihr betriebenen Kriegsmaschine zur Verfügung stellt. Die märkischen Horden etwa erweisen sich als extrem barbarisch und grausam, ihr auf Unterwerfung und Unterdrückung beruhendes Mit- bzw. Gegeneinander erweist sich als ein auf Dauer gestellter Kampf ums Dasein: »Marduks alte Feinde, die Männer und Frauen der Apparate, der hohen, wollten dem Land an die Gurgel, sein Werk zerstören. […] Als sie am folgenden Vormittag […] nicht eingestanden, gab er sie den Kriegern am Abend zum Mord frei. […] Es ist Tatsache, dass an diesem Abend auf dem europäischen Kontinent wieder Menschenzähne Menschenfleisch zerrissen und Menschenlippen Blut tranken. Das Rasen der Krieger um die Gefangenen […] war beispiellos.« (Döblin 2006: 233)

Marduk setzt seine Politik der Reagrarisierung und Enttechnisierung mit diktatorischer Entschlossenheit durch, er mobilisiert dazu bestehende Zweifel an der Technik und setzt ein Programm autoritärer Umerziehung in Kraft, das sich nicht davor scheut, Unbelehrbare zu eliminieren. Auch die märkische Gesellschaft gründet somit auf einer hierarchischen Struktur, diese ist aber im Hinblick auf die Herstellung von politischer Legitimität den außengelenkten Stadtschaften im Sinne ideologischer Innenlenkung gegenüber gestellt: Die Märker, die »durch Markes Marduks Regiment eine Art geworden« (ebd.: 214) waren, waren keine »unterjochte kleine waffenlose Bevölkerung, mürrische stumpfe Knechte.« (Ebd: 215) Sie waren »erstaunlich energische Männer und Frauen, die sich den fanati-

reiztheit« literarisiert, die sich in jenem großen »Donnerschlag« kriegerischer Gewalt am Ende des Romans entlädt.

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schen Absichten Marduks angepasst hatten, seine Tyrannei nicht empfanden, denen er unbedenklich Waffen anvertraute.« (Ebd.: 216) Vor dem Hintergrund einer grundsätzlichen Krise der Politik ist somit festzuhalten, dass die beiden in »Berge Meere und Giganten« thematisierten Gesellschaftsentwürfe, die man textextern mit den weltanschaulichen Konkurrenz-Programmen einer »reaktionären Modernität« auf der einen und einem »rückwärtsgewandten Vitalismus« auf der anderen Seite in Verbindung bringen kann, nicht mehr von einer übergeordneten Ethik oder Religion normativ organisiert werden. Soziale Kohäsion beruht auf Gewalt und bestimmt sich einzig über ihr Verhältnis zur Technik. Beide Systeme sind antiindividualistisch und inhuman. Sowohl die Stadtschaften wie auch die Herrschaft Marduks kanalisieren gesellschaftliche Dynamik nicht diskursiv, sondern indem sie versuchen, diese an die eigenen Grenzen zu leiten und dort über die Prinzipien Gewalt und Kampf zu nivellieren. Dabei steht der »kalten« Eliminations- und Manipulationslogik der Technokratie komplementär das »heiße« Wüten der technikfeindlichen Horden Marduks gegenüber.10

2. Kr ise der Mobilmachung : Technik und Natur Ist das Phänomen »Technik« bislang vor allem in seinem Verhältnis zu Macht und Herrschaft thematisiert worden, so soll es nun in einem zweiten Schritt in seinem polaren bzw. dichotomischen Verhältnis zur Natur reflektiert werden. Die Technokratie der Stadtschaften, dies hoffe ich verdeutlicht zu haben, verfolgt eine Technisierung der Welt aus einem puren Machbarkeitsdenken heraus, das keinen normativen Zielsetzungen mehr nachgeht. Ohne Wertorientierung aber ist subjektive Autonomie als Sphäre menschlichen Daseins nicht denkbar. Die Menschen verfallen der Technik, sie wird ihnen zu »Wunderapparaten«, mit denen sie sich in einem Rausch der Unterwürfigkeit vereinigen wollen: »Die Menschen, die sich jetzt an die Apparate warfen, […] waren heißer, als die sie ablösten. Kosend, in stürmischem Überschwang, glückschwellend krochen Männer und Frauen an die Maschinen, die jetzt ihre waren. Das Eisen erschien ihnen beseelt wie ihr eigenes Fleisch.« (Döblin 2006: 69) Durch die Selbstfunktionalisierung der Menschen, die in den Maschinen nicht mehr Mittel zu einem Zweck sehen, sondern sie verabsolutieren, verlieren sie die Möglichkeit der Distanznahme auch zu ihrer inneren Natur. Die Dekadenzerscheinungen in 10. Zu den weltanschaulichen Implikationen der im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts sehr populären heiß-kalt-Dichotomie vgl. den Klassiker von Helmut Lethen (Lethen 1994).

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den technokratischen Stadtschaften erweisen sich so als Folge einer kollektiven Selbstaufgabe. An die Stelle von Ethik und Moral – auch hier scheint das Getöse der Materialschlachten des Ersten Weltkrieges als Hintergrundrauschen vernehmbar – tritt eine Herrschaft der Triebe, die auf der Handlungsebene ein ganzes Ensemble von Degenerationserscheinungen und psychischen und physischen Defekten zur Folge hat. Paradigmatisch für diese Dynamik der Dehumanisierung stehen die Giganten, welche von den in den Untergrund getriebenen Menschen im Nachgang der Grönlandenteisung geschaffen werden, um die ihrerseits durch die Technik entfesselten Urtiere abzuwehren. Zusammengesetzt aus tierisch-pflanzlichen und menschlichen Anteilen sind sie das Produkt einer Grenzüberschreitung, das die bis dato geltenden Kategorien des Wissens entwertet. Die Giganten sind synthetische Figurationen der Idee des Übermenschen, entstanden in technischen Laboren und als organische Konstruktionen bestimmt von überbordenden Allmachtsphantasien. Ihr Anführer Delvil ist der letzte einer Reihe von despotischen Führergestalten, und wie vor ihm Marke, Marduk und Zimbo nutzt er alle Techniken der Gewalt, um seinen Herrschaftsanspruch durchzusetzen. Konsequenterweise brechen er und seine Artgenossen daher mit ihren menschlichen Schöpfern. Sie fi nden sich von einer Lust an der Zerstörung dominiert, die das radikalisierte faustische Prinzip in seiner Pervertiertheit auch praktisch kenntlich macht: »Tief war die Verachtung der Giganten auf die Menschen ihrer Stadtschaften. Die Maschinen Fabriken Anlagen ließen sie arbeiten, nur um sich mächtig zu fühlen. Sie brauchten die Menschenmassen um sich an ihnen auszulassen. […] Schrankenlos sprachen sich die grauenhaft entstellten hochmütigen Wesen […] aus. Sagten, die Zeit des wirklichen Menschentums nähere sich erst.« (Ebd.: 540)

Der im 19. Jahrhundert von der französischen Aufklärungsphilosophie, in anderer Akzentuierung aber auch von Kant und Hegel, formulierte Glaube an die Perfektabilität der Menschheitsgeschichte findet im Bild der Giganten sein negatives Gegenstück. Alle Errungenschaften der Moderne – Staat, Gesellschaft, Technik – werden von den durch sie ausgegrenzten Elementarkräften eingeholt und einem Diktat entfesselter Energien unterworfen. Ebenso wie »Berge Meere und Giganten« das Verhältnis von Individuum und Masse in eine polare Matrix einspannt, lässt der Roman auch im Hinblick auf die in den Giganten dargestellte biotechnische Herrschaftsnahme eine polare Gegenposition erkennen, die ihrerseits als Verlust eines mittleren Maßes kenntlich gemacht wird. Gemeint ist die technikfeindliche Regression, die Teile des Figurenensembles als weiblich kodierte Ein-

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heit mit den Naturgewalten erleben, die allerdings als Preis wiederum die Aufgabe der subjektiven Autonomie beinhaltet: »Neu fühlte man sich in das Gewitter ein, in den Regen, den Erdboden, die Bewegungen der Sonne und der Sterne. Man näherte sich den zarten Pfl anzen, den Tieren. […] Zeichen von Tieren, Holzbilder Idole tauchten an vielen Gegenden auf. Man verehrte sie, stellt sich unter ihren Schutz. Stündlich war man von geheimnisvollen Kräften umgeben; Geisterglaube wurde sehr lebendig.« (Ebd.: 625)

Der die Diskurse der Weimarer Republik vielerorts kennzeichnende »Hunger nach Ganzheit« (Peter Gay) entlädt sich so in »Berge Meere und Giganten« punktuell als eine Apotheose des Irrationalen, das sich etwa im Versumpfen Berlins unter der Herrschaft Marduks ebenso zeigt, wie in der die apollinisch-individualistischen Körpergrenzen sprengenden Wirkung der Urtiere: »Wen die Fasern des Gewebes berührten, was von dem dampfenden blasenwerfenden Blut bespritzt wurde, veränderte sich im Augenblick. […] Bei Hamburg erfolgte das erste große Verderben der Menschen. Siedler und Einwohner der Stadtschaft wurden betroffen. In die Häuser hinein wurden im Bogen das Blut und der Schleim der verendenden Untiere gesprenkelt. Menschen, die am Kopf oder den Gliedmaßen begossen wurden, verloren im Augenblick die Besinnung. Ihre wuchernden Organe erdrosselten sie selbst.« (Ebd. 500f.)

Auch für das Verhältnis von Technik und Natur lässt sich also die den gesamten Textraum organisierende Komplementärstruktur nachweisen. Ist der Technik-Pol in seiner äußersten Zuspitzung durch die Indices »apollinisch«, »kalt«, »männlich«, »zerstörerisch« und »logozentrisch« gekennzeichnet, so steht dem ein überhöhtes Natur-Bild gegenüber, das sich als »dionysisch«, »warm«, »weiblich«, »wuchernd« und »mythisch« erweist. Die sich aus diesem Polaritätsdenken ergebenden semantischen Felder spielt »Berge Meere und Giganten« in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen durch. Entscheidend für die Ausgangsüberlegungen von Krieg und Narration ist, dass Döblin den Ersten Weltkrieg zwar einerseits als eine kulturelle Zäsur begreift, die wie in einem Brennspiegel zentrale Diskurs- und Denkgenealogien der Geschichte kenntlich macht, dass er zugleich aber aus dem zurückliegenden Krieg im Roman keine Determinanten eines zukünftigen Geschichtsverlaufs ableitet. Vielmehr denkt er – dies möchte ich abschließend darstellen – Geschichte als offenes System, dessen gesellschaftliches Ineinander mit Hilfe solcher Koordinaten wie Macht und Ohnmacht, Technik und Natur retrospektiv reflektiert nicht aber in einer zukünftigen Zwangsläufigkeit prognostiziert werden kann. 72

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3. Kr ise der Geschichte : Das Posthistoire mittlerer Intensitäten Döblins Nachdenken über die Geschichte oszilliert in den 1920er Jahren zwischen der Forcierung von Gegenwartstendenzen und dem Versuch ihrer denkerischen Zurücknahme. Der 1924 veröffentlichte Essay »Der Geist des Naturalistischen Zeitalters« etwa plädiert für eine kompromisslose Bejahung der Technik und kommt dabei – wahrscheinlich vermittelt durch Nietzsches Denkfigur des »amor fati« – Ernst Jüngers ein paar Jahre später zum Programm erhobenen »totalen Mobilmachung« der Welt sehr nahe. In dem 1927 publizierten Text »Das Ich über der Natur« wiederum geht Döblin den genau umgekehrten Weg und versucht, die technische Wirklichkeit im Entwurf einer romantischen Naturphilosophie wieder sinnhaft aufzuheben: »Wird aber die Welt, ständig, augenblicklich, jetzt, real durch eine andere, ganz übermächtige Urmacht, so fühlen wir, an diesem Geheimnis sind wir beteiligt, das hat große Wichtigkeit, jetzt erst bekommen die Dinge ein Zentrum, eine eigentümliche Sicherheit, es ist ein Anker da, dessen Tau wir vielleicht selbst in der Hand halten.« (Döblin 1927: 191) Indem Döblin im Fortgang dieses Essays den Menschen als »Stück und Gegenstück« der Natur, als Subjekt und Objekt bestimmt, wird eine Ausgleichslogik deutlich, die auch für die in »Berge Meere und Giganten« aufgeworfene Frage nach dem den disparaten geschichtlichen Raum dynamisierenden Gewaltimpuls von Relevanz ist. Naturverehrung wie Technikaffirmation denken in essentialistischen Gegensätzen, die vor dem Hintergrund einer prinzipiell kontingenten Möglichkeitssphäre nach tumultöser Entladung streben. Die Perspektive, die Döblin in seiner spezifischen Nachkriegs-Reflexion hingegen aufwirft, wird von dem Leitmotiv einer fürsorgenden und einnehmenden Natur bestimmt, auf deren Wert der Mensch sich besinnen soll, ohne sich in ihr zu verlieren. In »Berge Meere und Giganten« wird dieses Denkmotiv anhand der die Giganten befriedenden Liebesgöttin Venaska und der von dem geläuterten Grönlandfahrer Kylin angeführten Siedlerbewegung angedeutet, die gegen Ende des Romans in Südfrankreich ein anderes Lebensmodell verwirklichen will. Zwischen Technik-Pol und Natur-Pol positioniert, symbolisiert sie eben jenes mittlere Maß, das Döblin zeitweise als Ausweg aus den konfrontativen Weltanschauungsdebatten der Weimarer Republik ansah. Der Komplex einer forcierten technischen Vernunft, der in den Stadtschaften zu einer totalen Dominanz des instrumentellen Denkens radikalisiert war, depotenziert sich bei der Siedlerbewegung ebenso wie die Dynamik triebhafter Entgrenzung zu einem Inbild menschlichen Strebens und menschlicher Emanzipation. Die Siedler erscheinen als autonome Individuen, die sich dem Prozess technischer Entfremdung entziehen, ohne in einen regressiven Rousseauismus zu verfallen, wie er vor und nach dem Ers73

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ten Weltkrieg etwa von Ludwig Klages in aktualisierter Form vertreten wurde. Die Siedler sind in ihrem Tun von einem »autochthonen Gesellschaftsdrang« (Döblin 1920: 199) bestimmt und finden sich aktiv schöpferisch und zugleich passiv empfangend in die natürlichen Prozesse verwoben: »Wir haben die Giganten im Gedächtnis. […] Wir haben auch das Feuer. Es ist uns nicht entschwunden. Wir müssen dies festhalten. […] Das Land nimmt uns, aber wir sind etwas in dem Land. Es schlingt uns nicht. Wir haben keine Furcht vor der Luft und dem Boden […]. [W]ir haben die Kraft, das wirkliche Wissen und die Demut. […] Wir sind die wirklichen Giganten. Wir sind es, die durch den Uralischen Krieg und Grönland gegangen sind. […] Man wird uns bald auf der ganzen Erde sehen.« (Döblin 2006: 630)

Gegen die in teleologischen Kausalmechanismen argumentierenden Großideologien und die von ihnen konfrontativ kanalisierten sozialen Energien setzt Döblin nach dem Erfahrungsbruch des Ersten Weltkriegs demnach eine Haltung der Selbstbescheidung, die die Hoffnung auf eine transzendente Erlösung oder einen säkularen Endzustand – das Himmelreich, die klassenlose Gesellschaft oder blutreine Volksgemeinschaft – aufgibt, dafür aber die mittlere Intensität als Weg zu einer verstetigten Nachhaltigkeit propagiert. Qualitative Entwicklungssprünge wären in einem solchen Raum zeitloser Präsenz kaum oder nur mehr als punktuelle Disharmonie denkbar. Die in traditionellen Entwicklungsmodellen anzutreffende Unterscheidung der definierbaren Intervalle Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft haben in einem solchen Gesellschaftsentwurf nur noch insofern eine Bedeutung, als sie das Ablaufen von Zeit markieren. Ein metaphysischer oder geschichtsphilosophischer Mehrwert, der allen essentialistisch bzw. finalistisch argumentierenden Geschichtsentwürfen eingeschrieben ist, ist mit ihnen jedoch nicht mehr verbunden. »Berge Meere und Giganten« diskutiert damit letztlich lange vor der postmodernen Philosophie Jean-Francois Lyotards die Frage, ob es angesichts der zurückliegenden Verwüstung Europas noch möglich sei, »Ereignisse nach der Idee einer allgemeinen Geschichte der Menschheit« (Lyotard 1987: 40) zu organisieren. Der Text führt inhaltlich wie formal vor, dass die ›großen Erzählungen‹ vom Sinn der Geschichte de facto ins Leere laufen. Dass die Beschreibung eines solchen in der Siedlerbewegung präsentierten Posthistoire im Vergleich mit der Darstellung der technokratischen und technikfeindlichen Denkstile nur einen sehr kleinen Raum in der »Lesematerialschlacht« (Scherpe 2002b: 108) von »Berge Meere und Giganten« einnimmt, macht implizit jedoch den Stellenwert deutlich, den Döblin ihm im Deutungskampf der Weltanschauungen zubilligte. Das rechte Maß, das der Text in seinem anti-teleologischen Schreibverfahren als einen ganz anders gearteten Auszug aus der entzau74

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berten Welt andeutet, hat es schwer gegen die radikalen Denkentwürfe der zeitgenössischen politischen Rechten und Linken. Dort, wo politisch scheinbar gegenläufige Autoren wie Ernst Jünger oder Johannes R. Becher den im Ersten Weltkrieg schockartig erlebten Einbruch der Kontingenz literarisch in neuen, tendenziell totalitären Ganzheitsentwürfen begegneten, bleibt Döblin verhalten. Im Sinne einer depotenzierten Sachlichkeit relativiert »Berge Meere und Giganten« die anhand des Romans »Wallenstein« skizzierte, pessimistische Anthropologie früherer Jahre. Die Siedlerbewegung veranschaulicht, dass die Phänomene Gewalt und Krieg zwar als brisante Möglichkeiten menschlicher Existenz vorhanden sind, den Menschen aber in seinem Tun nicht determinieren. In »Berge Meere und Giganten« erscheint Geschichte damit als offener Möglichkeitsraum, in dem sich die Menschen, zur metaphysischen Obdachlosigkeit verurteilt, auf sich selbst und die Welt in der sie leben zurückgeworfen finden. Wie lebensfreundlich sich ein solches Posthistoire nach dem Ende der großen Erzählungen gestaltet, ist indes eine Frage, auf die nicht nur Döblin nach den Erfahrungen der nationalsozialistischen Herrschaft sehr düstere Antworten geben wird.

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Ernst Jünger: Photographie und Bildpolitik Bernd Stiegler (Konstanz)

»Das Notwendige begründet sich von selbst.« (Jünger 1928: 11)

»Zu den mannigfaltigen Anzeichen einer neuen Primitivität gehört auch die Tatsache, daß das Bilderbuch wieder eine Rolle zu spielen beginnt«, schreibt Ernst Jünger in seinem Aufsatz »Das Lichtbild als Mittel im Kampf« (Jünger 1931: 65), der in der Kampfzeitschrift der nationalbolschewistischen Bewegung »Widerstand« 1931 erschien. Diese Einschätzung sollte ihn jedoch keineswegs davon abhalten, als Herausgeber solcher Bilderbücher tätig zu werden: In der Zeit zwischen 1928 und 1933 erschienen gleich mehrere solcher Bände (vgl. Meyer-Kalkus 2004; Werneburg 1994; sowie umfassend: Encke 2006: 15-110). Und schon zwei Jahre nach der Erstpublikation von »Das Lichtbild als Mittel im Kampf« verwendete Jünger sogar den gleichen Text, um ihn nun einem von ihm herausgegeben Bildband als Einleitung voranzustellen. »Die veränderte Welt. Eine Bilderfibel unserer Zeit« lautet der Titel dieses Bilderbuchs, dessen Klappentext das bildpolitische Programm in deutliche Worte fasst: »Der Sinn dieses Buches ist der einer vorurteilslosen und rücksichtslosen Führung durch eine neue Formenwelt. Die Belehrung, die der Betrachter empfängt, besteht in der Vernichtung der Phrase, die mit Worten wie Freiheit, Wahrheit und Friede als mit leeren Begriffen hantiert. Diese Belehrung ist umso vernichtender, als sie nach dem alten Grundsatze verfährt, dass das Gelächter am sichersten zerstört. Über diese Zerstörung hinaus werden die Mittel und Wege gezeigt, deren sich der moderne Machtkampf bedient. Die Landschaft, die sich eröffnet, wirkt wie ein geheimnisvolles, erschreckendes Märchenland. Es ist so ein Werk

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Abbildung 1: Schulz, Edmund (Hg.) (1933): Die veränderte Welt. Eine Bilderfibel unserer Zeit. Mit einer Einleitung von Ernst Jünger, Breslau, Umschlaggbild, Abbildung 2: Ebd. 33. entstanden, das sich nicht nur auszeichnet durch eine sichere Beherrschung der technischen Mittel, sondern sich auch dieser Mittel jenseits der Zone einer billigen Objektivität mit Kühnheit und Treffsicherheit bedient. So wird das Buch zu einer Weltgeschichte unserer Epoche, die einen geistigen Umsturz von bisher ungeahnten Ausmaßen brachte.« (Schulz 1933: o.S.)

Der Bildband, der sich die Zerstörung und Vernichtung zur Aufgabe einer neuen Form der Geschichtsschreibung gesetzt hat, präsentiert dann ein regelrechtes politisches Bildprogramm, das mit Gegenüberstellungen historischer und zeitgenössischer Photographien und einer Typographie operiert, die den Kommentar nicht selten über Doppelseiten laufen lässt und die Bilder als konfligierende historische Abbreviaturen oder suggestive Kompositionen zum Sprechen bringt. »Der Zusammenbruch der alten Ordnungen«, »Das veränderte Gesicht der Masse«, »Das veränderte Gesicht des Einzelnen«, »Das Leben«, »Innenpolitik«, »Die Wirtschaft«, »Nationalismus«, »Mobilmachung« und »Imperialismus« lauten die Kapitel dieser neuen Fibel der Geschichte, die dem Leser oder Betrachter eine neue Sprache der Bilder wie der Geschichte beibringen soll. Die insgesamt gut dreihundert Bilder stammen fast durchweg aus Pressebildstellen und kommen ohne jede Photographennennung aus. Die Anonymisierung und die Verwendung von ohnehin bereits publizierten oder zur Publikation in der Tagespresse bestimmten Bildern gehören mit zum 78

Photographie und Bildpolitik

Programm des Bandes, der sich nicht nur in diesem Punkt dezidiert von anderen Bilderfibeln dieser Zeit absetzt. Zu nennen sind hier etwa Heartfields und Tucholskys »Deutschland, Deutschland über alles« und Bertolt Brechts »Kriegsfibel«, die, obgleich erst 1955 publiziert, mit der Frage der Lesbarkeit von Photographien einsetzt und so explizit an die Tradition der Avantgarde-Alben anknüpft. Jüngers »Bilderfibel« entwirft ein dezidiertes anti-avantgardistisches Bildprogramm, das nicht allein auf Verfahren der

Abbildung 3-6: Ebd., 44, 45, 54, 55. 79

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Abbildung 7-8: Ebd., 68, 69. Montage oder der Collage verzichtet, sondern diesen sogar eine festgefügte Bilderfront entgegenstellt. Jünger verwirft die Montage als künstlerisches Verfahren, folgt hingegen dem Begriff der Montage als industrielle Fertigung – denn der quasi-industriellen Fertigung von maschinengleichen Wesen und der Omnipräsenz wie historisch unwiderruflichen Dominanz der Technik gilt sein ganzes Augenmerk. Jüngers Montagebegriff ist Ausdruck eines konstruktivistischen Radikalismus, ist Konsequenz einer technizistischen wie metahistorischen Betrachtungsweise, die sehenden Auges in faschistische Theoreme mündet. Die Avantgardephotographie hatte zwischen 1925 und 1930 zahlreiche Bücher hervorgebracht, die sich in ähnlicher Weise als Fibeln verstanden und sich eine photographische Alphabetisierung zum Ziel steckten. So entstanden in rascher Folge Bände wie »Malerei Fotografie Film«, »Urformen der Kunst«, »Die Welt ist schön«, »Antlitz der Zeit«, »Es kommt der neue Fotograf!«, »Foto-Auge«, oder »Köpfe des Alltags« – sämtlich Bildbände, die fast ohne Text auskommen und die zum Teil mit ähnlichen Gegenüberstellungen arbeiten, die auch für Jüngers »Veränderte Welt« charakteristisch sind. Allen diesen Bänden geht es um eine Revolution der Sehgewohnheiten. Die Photographie erscheint dabei weit mehr noch als der Film als neue Bildsprache, die eine explizite politische Funktion hat: Sie soll nicht nur den Menschen an die veränderten Bedingungen der Moderne, des Großstadtlebens und der sozialen wie technischen Beschleunigung anpassen, sondern sie soll auch neue Rezeptionsformen ausbilden, die dann zu einer neuen Denkungsart führen. In allen diesen Bänden geht 80

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es ähnlich wie bei Jünger um eine radikale Abrechnung mit der Tradition, die, so wollen es etwa Moholy-Nagy und Rodčenko, die Wahrnehmung des Menschen verstellt habe. Demgegenüber soll die Photographie eine neue, nüchterne, sachliche, unverstellte und auch objektive Weltsicht eröffnen. Durch das Neue Sehen zur neuen Weltsicht zum Neuen Menschen und einer neuen Gesellschaft – das ist, zugespitzt gesprochen, das Programm. Die Lesbarkeit von Photographien muss dabei, so wollen es Theoretiker wie Franz Roh, Laszlo Moholy-Nagy oder Walter Benjamin, wie eine neue Sprache und Kulturtechnik überhaupt erst gelernt werden. »›Nicht der Schrift-, sondern der Photographieunkundige wird«, so paraphrasiert Walter Benjamin in seiner »Kleinen Geschichte der Photographie« ein Diktum Moholy-Nagys, »der Analphabet der Zukunft sein. Aber muß nicht weniger als ein Analphabet ein Photograph gelten, der seine eigenen Bilder nicht lesen kann? Wird die Beschriftung nicht zum wesentlichsten Bestandteil der Aufnahme werden? Das sind die Fragen, in welchen der Abstand von neunzig Jahren, der die Heutigen von der Daguerreotypie trennt, seiner historischen Spannungen sich entlädt.« (Benjamin 1977: 385) Was bei Benjamin hier als historische Spannung zwischen der Frühzeit der Photographie und der damaligen Gegenwart gefasst wird, erscheint nun in der Gegenüberstellung von Jüngers Bildband und jenen der Avantgarde als politische Spannung (vgl. Stiegler 1996: 51-74).1 Es geht um nichts Geringeres als um eine dezidierte Bildpolitik, d.h. um die Frage, wie Photographien politisch gelesen werden können und sollen. Es geht, mit anderen Worten, um die Rolle der Photographie in einem Kampf der Bilder. Die kriegerische Metaphorik und die Rede vom Bilderkrieg ist auch Folge einer Übertragung: Der Erste Weltkrieg war, wie etwa Anton Holzer in seinem jüngst erschienen Buch »Die andere Front« (Holzer 2007) überzeugend gezeigt hat, der erste dezidierte Medienkrieg. Ernst Jünger, der mit seinen Büchern über die Erfahrung des Ersten Weltkriegs bekannt geworden war, macht nun eine neue medienpolitische Front auf: Im Weltkrieg hatte er beobachten können, dass die Photographie plötzlich eine wichtige Rolle zu spielen begann und die Kameras wie die Waffen auf Freund und Feind gerichtet waren (vgl. etwa Jünger 1930: 10). Daher möchte er nun trotz seiner ostentativen Abneigung gegenüber dem technischen Bildmedium dieses nicht einfach dem anderen Lager überlassen. Ernst Jüngers Bildbände folgen einer strategischen Entscheidung im Bilderkrieg und sind Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln und an anderen Fronten. Auch in der Zwischenkriegszeit spricht Ernst Jünger, wenn er von Politik spricht, vom Krieg oder zumindest in Metaphern des Krieges. So ist im Klappentext 1. Benjamin hatte Jüngers Buch »Krieg und Krieger« außerordentlich kritisch rezensiert.

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von »Die veränderte Welt«, wenn die Aufgabe eines Bilderbuchs bestimmt werden soll, die Rede von »rücksichtsloser Führung«, von »Vernichtung«, »Zerstörung« und »modernem Machtkampf«, von »sicherer Beherrschung der technischen Mittel« und »Kühnheit und Treffsicherheit« – sämtlich Begriffe aus einem bellizistischen Vokabularium, das sich auch in Jüngers Weltkriegstexten findet. Ich möchte nun im Folgenden in einem ersten Schritt einige Grundzüge der photographischen Bildpolitik Jüngers zu skizzieren versuchen, um sie dann in einem zweiten von den Verfahren der Avantgarde abzusetzen. Abschließend werde ich dann zu zeigen versuchen, welche Folgen dies auch für eine Rhetorik des Krieges hat.

1. Ernst Jüngers photographische Bildpolitik »Das Sehen ist ein Angriffsakt.« (Jünger 1980: 182)

»Was die innere Form dieser Untersuchung betriff t,« schreibt Ernst Jünger in seinem Aufsatz »Über den Schmerz«, »so beabsichtigen wir die Wirkung eines Geschosses mit Verzögerung, und wir versprechen dem Leser, daß er nicht geschont werden soll.« (Jünger 1980: 146) Der Text soll wie ein Geschoss wirken und seine Wirkung auf den Leser nicht verfehlen. Allerdings soll der Leser keineswegs – wie es die Metapher nahelegt – Schmerz verspüren, sondern vielmehr gerade seine Unempfindlichkeit gegenüber einer solchen rhetorischen Verletzung. Der Leser soll, mit anderen Worten, wahrnehmen, dass der Schmerz längst eine andere Gestalt angenommen hat und seine Eigenwahrnehmung anderen Regeln und Modellen gehorcht. Der Leser soll sich so wahrnehmen, als blicke er sich mit dem gläsernen und nüchternen Auge einer Kamera an. Er soll eine sachliche Bestandsaufnahme unternehmen, in der sich nach Jünger zu zeigen hat, dass die »die Technik unsere Uniform ist« und das auch für die Photographie als Technik gelte (ebd.: 174). So nimmt es kaum Wunder, dass sich die Metapher des Geschosses in diesem Aufsatz auch im Zusammenhang mit der Photographie wiederfi ndet. »Die [photographische] Aufnahme steht«, so heißt es dort, »außerhalb der Zone der Empfindsamkeit. Es haftet ihr ein teleskopischer Charakter an; man merkt, daß der Vorgang von einem unempfindlichen und unverletzlichen Auge gesehen ist. Sie hält ebensowohl die Kugel im Fluge fest wie den Menschen im Augenblick, in dem er von einer Explosion zerrissen wird. Das

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ist die uns eigentümliche Art zu sehen; und die Photographie ist nichts anderes als ein Werkzeug dieser unserer Eigenart.« (Ebd.: 182)

Die Photographie als Geschoss bezeichnet nicht einen Ausnahmezustand, sondern vielmehr die Regel; sie steht für eine Haltung, die auch außerhalb des Krieges längst zur alltäglichen Wahrnehmung geworden sei. Die Photographie erscheint wie eine technische Materialisierung des modernen Sehens, das sich durch Empfindungslosigkeit, Kälte und Sachlichkeit auszeichne und Ausdruck der Tatsache sei, dass Individualität ohnehin längst der Vergangenheit angehöre und die Rede vom »letzten Menschen« dahingehend ein Euphemismus sei, da dieser bereits verschwunden sei. Die Photographie ist die technische Wahrnehmungsform des modernen Menschen, da sich der neue Typus durch die Fähigkeit auszeichne, »sich selbst als Objekt zu sehen« (ebd.: 181) und somit außerhalb der Zone des Schmerzes zu stehen komme. Die »revolutionäre Tatsache der Photographie« liege gerade darin, dass ihr einerseits »Urkundencharakter zugebilligt« werde, sie aber andererseits als »künstliches Auge« imstande sei, »auch Räume einzusehen, die dem menschlichen Auge verschlossen sind« (ebd.: 181f.). Objektivität einerseits, Überschreitung der Grenzen der Subjektivität durch die Artifizialität der Technik andererseits: das ist das Programm, das die Photographie zu denken aufgibt. Die Photographie ist für Jünger das paradigmatische Medium der Distanzierung, die zu einer regelrechten Haltung geworden ist und auch seine eigene Theorie nachhaltig prägt. Es ist daher nicht überraschend, dass sich in den Publikationen Jüngers eine Dominanz von optischen Verfahren der Distanzierung konstatieren lässt. Seine privilegierten Perspektiven sind der »teleskopische Blick«, auf den er immer wieder zu sprechen kommt, oder aber die Nahaufnahme, die sich etwa als regelrechtes poetologisches Verfremdungsverfahren in zahlreichen Texten in »Das Abenteuerliche Herz« findet. In seiner photographischen Publizistik lässt sich weiterhin eine Verschiebung seiner theoretischen Grundeinstellung beobachten: Während seine frühen Kriegstexte sich am Paradigma der Zeit ausrichten – man denke etwa an Bohrers Analyse der »Plötzlichkeit«, der genau diese eigentümliche Figur der Zeitlichkeit herauspräpariert (vgl. Bohrer 1978) –, kommt es in seinen Publikationen zur Photographie zu einem spatial turn: Nun ist der Raum die bestimmende Kategorie und selbst die Landschaft spielt plötzlich eine wichtige Rolle. Zeitlichkeit wird dementsprechend in sichtbare historische Formationen umcodiert und so in räumliche Kategorien gefasst.2 Wenn Jünger nun in »Über den Schmerz« auch auf den »Arbeiter« ver2. Ich verdanke Matthias Schöning den Hinweis auf die Bedeutung der Landschaft als Indikator der Bedeutung des Raumes.

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weist, so ist dies Hinweis auf eine noch dezidiertere politische Positionierung – wenn das überhaupt noch möglich ist, zeichnet sich doch auch der Essay, wie zuletzt Albrecht Koschorke gezeigt hat, durch eine faschistische Haltung aus (vgl. Koschorke 2000). Wenn sich im »Arbeiter« die Bestimmung der Photographie als »politische Angriffswaffe« findet (Jünger 1981: 126), die eher globale Ziele anvisiert, so ist »Über den Schmerz« eher dem Nahkampf verpflichtet. Doch auch hier heißt es: »Das Sehen ist ein Angriffsakt.« (Jünger 1980: 182) Und auch dieser Essay nimmt größere politische Ziele in den Blick: »Auch in der Politik gehört das Lichtbild zu den Waffen, deren man sich mit immer größerer Meisterschaft bedient. Insbesondere scheint es dem Typus ein Mittel darzubieten, den individuellen, das heißt: den seinen Ansprüchen nicht mehr gewachsenen Charakter des Gegners aufzuspüren; die private Sphäre hält dem Lichtbild nicht stand.« (Ebd.) Die Photographie ist für Jünger Ausdruck eines umfassenden wie unaufhaltsam verdinglichenden Zugs der Technik, die vor nichts halt macht. Sie ist ein »mechanisch verkleideter Angriff, der kälter und unersättlicher ist als jeder andere« (ebd.: 148), der das Leben fossilisiert, den Einzelnen zum Typus macht und die Seele in metallische Oberfläche verwandelt. So deutet Jünger auch die Gestalt der Sportler in den Illustrierten: Ihr photographiertes Gesicht sieht anders aus: »es ist seelenlos, wie aus Metall gearbeitet oder aus besonderen Hölzern geschnitzt, und es besitzt ohne Zweifel eine echte Beziehung zur Photographie. Es ist eins der Gesichter, in denen der Typus oder die Rasse des Arbeiters sich zum Ausdruck bringt.« (Ebd. 186) Die Photographie dient einer Eskamotierung des Privaten und Individuellen zugunsten eines nüchternen, sachlichen und globalen teleskopischen Blicks, dem es auf Strukturen und Gesetze, auf geopolitische Verwerfungen und Gestaltwandel, nicht aber auf fi ligrane Unterscheidungen, individuelle Äußerungen oder subjektive Ausdrucksformen ankommt. Die Photographie ist weiterhin technischer Ausdruck wie theoretische Metapher einer neuen Haltung des Individuums im Zeitalter des Typus, des Arbeiters und der Gestalt. Sie ist eine Art Reflexionsfigur, die Beobachtung in Selbstbeobachtung überführen soll und dabei zugleich auch ein Switchen zwischen politischer Intervention und neutraler Beobachtung, zwischen dem Status des Textes als politischer Agitation und diagnostischem Seismographen gestattet. Eine solche fundamentale Ambivalenz findet sich auch in den Details von Jüngers Argumentation. So zielt diese etwa auf eine Überführung von technischer Verdinglichung, die er als Prozess der Globalisierung beobachtet, in politische Instrumentalisierung, die dem Individuum abverlangt wird. Diese Beziehung nimmt unter der Hand die Form eines Imperativs 84

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an: Weil eine generalisierte Verdinglichung zu beobachten ist, gilt das auch für die Individuen; daher soll der Einzelne nicht nur sich selbst zum Gegenstand machen, sondern diesen auch als Mittel zum Zweck im politischen Kampf einbringen. Das Individuum ist dabei Subjekt wie Objekt der Vergegenständlichung, und die Verdinglichung historischer Prozess wie metaphysische Struktur. Oft ist von einer höheren Ordnung oder aber von einer Tiefe des Elementaren3 die Rede. Doch auch hier gilt die Ambivalenz einer überzeitlichen metaphysischen Struktur einerseits und einer erst herzustellenden politischen Ordnung andererseits. Einzig der Imperativ ist klar; er dient der Ordnung: »Es gilt,« so formuliert Jünger das Ziel der technischen Disziplinierung, »das Leben völlig in der Gewalt zu halten, damit es zu jeder Stunde im Sinn einer höheren Ordnung zum Einsatz gebracht werden kann« (ebd.: 159). Und da, so Jünger, »der Appell an die unmittelbare Anschauung kräftiger und einschneidender wirkt als die Schärfe des Begriffs« (Jünger 1931: 65), folgen auch die Bilderfibel und die Photobücher diesem Ordnungsruf. Sie sollen Ordnungen zeigen und Ordnungen erzeugen. Sie sind konstative und performative Bildakte zugleich.

2. Bilderbücher »Überall ist unbestreitbar, daß der Appell an die unmittelbare Anschauung kräftiger und einschneidender wirkt als die Schärfe des Begriffs.« (Jünger 1931: 65)

Wenn man Ernst Jüngers photographische Bildpolitik von derjenigen der Avantgarde unterscheiden will, könnte es hilfreich sein, Bilder auf Begriffe zu bringen und Unterscheidungen vorzunehmen. Ich möchte drei Begriffspaare vorschlagen: Topographie statt Typographie; Photographie als propagandistischer Filter statt Befreiung von dem Schleier der Tradition und schließlich mathematische Dämonie und böser Blick statt objektivem Sehen.

TOPOGR APHIE

S TAT T

TYPOGR APHIE :

Der Titel »Die Eroberung der Maschinen« hätte von Ernst Jünger stammen können, wäre dann aber wohl eher als Genitivus subjectivus zu verstehen 3. Vgl. etwa »Über den Schmerz«: »Die Oberfl äche der allgemeinen Begriffe beginnt brüchig zu werden, und die Tiefe des Elements, das immer vorhanden war, schimmert dunkel durch die Risse und Fugen hindurch.« (Jünger 1980: 152).

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gewesen und nicht als objectivus, wie es uns der Plot von Franz Jungs Roman nahelegt. Bei Jünger haben die Maschinen längst die Herrschaft angetreten und seine politische Publizistik wie auch der »Arbeiter« und auch sein Spätwerk sind voller Sentenzen über ihren imperialen Eroberungszug. Der Umschlag von Jungs Buch stammt von John Heartfield, dem wohl bekanntesten wie wichtigsten Photomonteur der 1920er und 1930er Jahre. Werner Gräff wählte ihn für sein Buch »Es kommt der neue Fotograf!« aus, um die besondere und historisch durchaus neue Bedeutung der Photographie für die Typographie zu illustrieren. »Typofoto« lautete die neue Zauberformel für den Einsatz von Photographie im Reich der Texte. In allen Bildbänden der Avantgarde findet das Typofoto seinen Ort und seine Aufgabe. Text und Bild gehen hier komplexe Beziehungen ein und folgen meist einer formalen visuellen Logik, die auf eine unmittelbare wie suggestive Lesbarkeit der Textbilder und Bildtexte zielt. Bei Jünger hingegen tritt sie in der Hintergrund: Hier erscheinen die Bilder entweder in serieller Form auf eingeschossenen Seiten auf Hochglanzpapier oder aber in Gestalt von monolithischen Bilderblöcken. Einer Dynamisierung der Bilder und Texte stehen eine Kristallisierung, Verfestigung und Strukturierung des Bildarrangements gegenüber. Während das Typophoto auf, wie Moholy-Nagy es formuliert, »Gehirngymnastik« zielt, kommt es Jünger auf Strukturen und Topographien, auf die bildliche Bestandsaufnahme von historischen Formationen an, die wie geologische betrachtet werden. Daher auch die recht zahlreichen Luftaufnahmen in seinen Büchern, die sich deutlich von jenen ebenso zahlreichen in den Bildbänden der Avantgarde unterscheiden. Während es Jünger auf das Strukturwerden von Geschichte ankommt, zielen die Avantgardephotographen auf eine Formwerdung von natürlichen Figurationen. Mit anderen Worten geht es Jünger um eine Naturalisierung von Geschichte, der Avantgarde hingegen um eine künstlerische und somit implizit gesellschaftliche Konstruktion von Natur.

P HOTOGR APHIE B EF RE IUNG

F ILTER S TAT T TR ADI T ION :

AL S PROPAGANDI S T I SCHER VON DEM

S CHLE IER

DER

Ernst Jünger macht in der Photographie gerade nicht, wie Moholy-Nagy es programmatisch tut, eine »objektive Sehform unserer Zeit« (Moholy-Nagy 1936: 120ff.), sondern vielmehr eine Absetzung von dieser aus. Es geht ihm nicht um die Befreiung von der Tradition, wie das Rodčenko vielleicht am deutlichsten proklamiert, sondern um eine Verwendung der Photographie im Dienste einer dezidierten propagandistischen Verschleierung. Die der Photographie zugeschriebene und von der Avantgarde als Theorem neu entdeckte Objektivität gehört, so Jünger, der Vergangenheit an und ist längst überlebt. Und gerade diese Abkopplung macht sie erst zu einem 86

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Mittel im politischen Kampf. Während sie früher noch ein »neutrales oder ›objektives‹, und damit von der politischen Sphäre ausgeschlossenes Mittel« darstellte, und daher »von einer wirksamen Anwendung der Photographie innerhalb der Propaganda nicht die Rede sein kann«, gilt das für die Gegenwart nicht mehr. Spätestens Ėjzenštejns »Panzerkreuzer Potemkin« (Bronenosec Potemkin) habe gezeigt, dass Photographien unterschiedlich wirken und andere Funktionen übernehmen können. »Das technische Verfahren gleicht einem Filter, der nur für eine ganz bestimmte Schicht der Wirklichkeit durchlässig ist.« (Jünger 1931: 65) Dieser sei – historisch betrachtet – zwar für denjenigen, der dieser Zeit angehört, nicht wahrzunehmen, gleichwohl könne man diesen Charakter einer impliziten Wertung der Photographie, die »bereits durch den reinen Akt der ›Aufnahme‹ […] stattfindet« (ebd.: 67), ausnutzen, um weitere Filter vorzuschalten und die Rezeption zu programmieren. Jünger ist zwar der Ansicht, dass das Lichtbild »den demokratischen Mitteln zuzuzählen« ist (ebd.: 68), versucht aber zugleich, es im Sinne einer Bildpolitik zu funktionalisieren, die auf Suggestion setzt. »Die Tatsache, die sich hinter dieser merkwürdigen Erscheinung [dass Photographien unterschiedlich wirken, B.S.] verbirgt«, so merkt Jünger an, »ist die, daß die Technik den Sinn eines existentiellen Mittels besitzt, demgegenüber die Verschiedenheit der Meinungen nur eine untergeordnete Rolle spielt« (ebd.: 65). Photographie sei zwar nicht objektiv, gleichwohl aber den Meinungen vorgeschaltet. Wenn man nun Mittel technisch präziser als Medium übersetzt, so ergibt sich eine neue Rolle der Photographie: Sie soll, so will es Jünger, ein existentielles Medium sein. Sie soll Geschichte objektivieren, soll eine sichtbare Materialisation kollektiver Deutungsformen sein. 4

M ATHEMAT I SCHE D ÄMONIE

UND BÖSER

S TAT T OB JEK T I VEM

B L ICK

S EHEN :

»Die Photographie ist also ein Ausdruck der uns eigentümlichen, und zwar in einer grausamen, Weise zu sehen. Letzten Endes liegt hier eine Form des Bösen Blickes, eine Art von magischer Besitzergreifung vor« (Jünger 1980: 183), so heißt es in Jüngers Aufsatz »Über den Schmerz«. Photographien sind existentielle Medien der Aneignung. Und da der Mensch nicht nur Subjekt, sondern auch Objekt der Aneignung ist, haben wir es mit einer 4. Vgl. auch »Luftfahrt ist not!«: »Sicher ist«, so orakelt Jünger in seinem Vorwort, »dass in einer technischen Welt, die gleichsam zur zweiten Natur geworden ist, und so gewohnt, dass sie kaum noch gesehen wird, sich auch die Natur des Menschen wieder freier und unbefangener entfalten kann.« (Jünger 1928: 12).

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generalisierten Form der aneignenden Vergegenständlichung zu tun, die Verdinglichung zum universellen technischen Prinzip macht, dem auch Omnipräsenz zugeschrieben wird: In seinem Aufsatz »Über die Gefahr«, die dem von ihm herausgegeben Band »Der gefährliche Augenblick« vorangestellt ist, nimmt Jünger die Metapher des bösen Blicks wieder auf und spricht nun von »Bildern von einer mathematischen Dämonie« (Jünger 1931a: 16). Diese zeichnen sich weiterhin dadurch aus, dass, wenn sie schon nicht allgegenwärtig sind, es doch bald werden: »Es gehört,« so prognostiziert Jünger, »keine prophetische Begabung dazu, vorauszusagen, daß bald jedes beliebige Geschehnis an jedem beliebigen Punkte sowohl zu sehen wie zu hören sein wird.« (Ebd.) Während die Photographietheorie der Avantgarde in der Objektivität der Photographie gerade eine Befreiung des modernen Menschen für die Gegenwart und für eine neue Wahrnehmung erhoff t, identifiziert Jünger im Prinzip einer generalisierten Objektivierung eine Aneignung durch die Technik, die zeitliche wie räumliche Entfernungen aufhebt und Unterschiede nicht aufzeigt, sondern aufhebt. Die Photographie ist keineswegs das Medium einer neuen Gegenwart und der Konstruktion eines neuen befreiten Menschen und einer neuen Gesellschaft, sondern inmitten der Übergangszeit dieses Zeitalters5 ein untrügliches Zeichen des sich ankündigenden Übergangs in die Posthistoire. Dementsprechend folgt Jüngers Argumentation in »Über die Gefahr« einer Überblendung von Kontingenz und Prädestination in der Gestalt des Schicksals. Der Weltkrieg ist nicht nur, so Jünger, ein »großer roter Schlussstrich unter das bürgerliche Zeitalter«, sondern auch Vorbote einer Verwandlung der Gesellschaft, in der die Gefahr »die andere Seite unserer Ordnung« darstellt und fortan »das elementare Geschehnis auf das engste mit dem Bewußtsein verbunden ist.« (Jünger 1931a: 14f.) Und diese historische Formation ist auf Dauer gestellt, denn: »Das Elementare ist ewig« (ebd.: 15).

3. Rhetor ik des Kr ieges »Was not tut, ist eine neue Topographie.« (Jünger 1979: 14)

Ernst Jünger gab 1930 einen weiteren Bildband mit dem Titel »Das Antlitz des Weltkrieges« heraus. Anders als August Sanders »Antlitz der Zeit« geht es ihm nicht um eine bildsoziologische Bestandsaufnahme der Gegenwart, 5. Insbesondere in »Über den Schmerz« wird die eigene Zeit als Übergangsund Umbruchszeit charakterisiert.

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Abbildung 9-10: Jünger, Ernst (Hg.) (1930): Das Antlitz des Weltkrieges, Berlin, o.S

Abbildung. 11: Ernst Jünger (1931a), Der gefährliche Augenblick, Berlin, 17

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Abbildung 12: Jünger, Ernst (Hg.) (1930): Das Antlitz des Weltkrieges, Berlin, 298. sondern um die Bergung eines »Schatzes an Bildern« (Jünger 1930: 10). Die Photographien zeichnen sich, so Jünger, nicht nur dadurch aus, dass sie »Dokumente von besonderer Genauigkeit« sind, sondern dass sie eine Zerstörung dokumentieren, die die Geschichte längst ad acta gelegt hat. Auf den Photographien sind die Zerstörungen zu sehen, während die Geschichte bereits wieder, so Jünger in seiner Einleitung, »Gras über die Verwüstung« hat wachsen lassen. Photographien sind Residuen historischer Erfahrung und daher in vieler Hinsicht mit Fossilien zu vergleichen. Sie sind, so will es Jünger, »Abdruck des äußeren Geschehens« und daher Fossilien ähnlich. Ernst Jünger unternimmt also eine Art Paläontologie des Krieges und deutet diesen auch nicht als Revolution der Technik, sondern als Evolution der Gesellschaft und des Lebens (vgl. ebd.: 222). Der Krieg ist in dieser Logik eine »andere Seite des Lebens, die selten an die Oberfläche tritt, aber eng mit ihm verbunden ist« (ebd.: 223). Der Krieg ist, mit anderen Worten, eine Umwälzung von historischen Formationen, durch die Leitfossilien an die Oberfläche gebracht werden, die die Verwandlung der Kultur in Kategorien der Evolution der Natur deutbar machen. Krieg ist Eröffnung und Ermöglichung einer Wesensschau. Diese eigentümliche Perspektive ist auch deshalb von besonderem rhetorischen Interesse, da sie eine der Konstanten von Jüngers Schlacht90

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beschreibungen darstellt. Während im Vorwort noch recht unspezifisch davon die Rede ist, dass der Leser und Betrachter »hinter den Abbildern eine versunkene Welt, hinter den Ruinen den Atem großer Taten und Leiden« erspüren soll und dies als die Aufgabe der Photographien beschrieben wird, die diese »wie jedes Dokument […] aus den Zonen vergangener Kämpfe dem aufmerksamen Betrachter« vor Augen führt, so übertragen die in diesen Band aufgenommenen Texte die Paläontologie auf den Krieg insgesamt. Chiffre einer Verwandlung von Kultur, die sich im Krieg in Stein verwandelt, ist dabei Pompei. In seinem Text »Der letzte Akt«, einem der von ihm verfassten Beiträge für »Antlitz des Weltkriegs«, vergleicht er Combles mit einem »modernen Pompei«, das den »Eindruck eines sehr gefährlichen Raumes« erweckt (Jünger 1930: 106f.). »Das Bild dieser vesuvischen Landschaft in der vollen Gestalt ihres Aufruhrs wäre der Beobachtungsgabe eines jüngeren Plinius würdig gewesen.« (Ebd.: 107) Ernst Jünger als Plinius redivivus macht nun auch in der Landschaft des Weltkriegs ein »Spiel des Feuers« aus, »dessen wechselnde Formen etwas Elementares besaßen« (ebd.: 108). Und auch seine Beschreibung folgt der Logik der Lichtbilder, auch sie versucht unterhalb der Oberfläche der Zerstörung einen Schatz an Bildern zu bergen, der sich als »Ablösung der Formen« artikuliert. »Und doch«, schreibt Jünger, »lässt sich sagen, daß, wenn in unserer Zeit sich eine bedeutende Revolution vollzog, sie den wirksamsten Teil ihrer Leistung unter der Oberfläche des Krieges selbst entwickelte.« (Jünger 1930: 238) Die Revolution ist mithin Ausdruck einer tieferliegenden Evolution und genau dieser Doppelgestalt von Oberfläche und Tiefe gilt sein Augenmerk. In gewisser Hinsicht nimmt sie alte Topoi der Photographietheorie wieder auf, die an den Lichtbildern die Kontingenz be- und das Wesen einklagte. Jünger versucht nun Kontingenz in schicksalhaften Gestaltwandel zu überführen und diesen erst historisch zu bestimmen, um ihn dann gleich in metaphysische Ordnungsformen zu bringen. So sieht er auch im Schmerz zuallererst »den negativen Abdruck einer metaphysischen Struktur« (Jünger 1980: 191) und verbleibt somit im Vokabular der Paläontologie. »Und«, so fährt er fort, »es erhebt sich die Frage, ob diesem Zweiten Bewusstsein, das wir so unermüdlich an der Arbeit sehen, denn auch ein Zentrum gegeben ist, von dem aus sich die wachsende Versteinerung des Lebens in einem tieferen Sinne rechtfertigen lässt.« (Ebd.: 183) Dieses Zentrum einer Betrachtung der Kultur in paläontologischer Absicht befindet sich nun keineswegs inmitten des Krieges, sondern weit entfernt. »Die geheime Anlage der künstlichen Sinnesorgane zeigt Räume an, in denen die Katastrophe eine große Rolle spielt« (ebd.: 185) und ermöglicht zugleich ein Gedankenexperiment, das sich den teleskopischen Charakter der Photographie, von dem ja bereits die Rede war, zunutze macht. »Stel91

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len wir uns«, so imaginiert Ernst Jünger eine photographieanaloge Form des teleskopischen Sehens im »Arbeiter«, eine »Stadt aus einer Entfernung vor, die größer ist, als wir sie jetzt mit unseren Mitteln zu erreichen vermögen – etwa so, als ob sie von der Oberfläche des Mondes teleskopisch zu betrachten sei. Auf eine so große Entfernung schmilzt die Verschiedenheit der Ziele und Zwecke ineinander ein. Die Anteilnahme des Betrachtenden wird irgendwie kälter und brennender zugleich, auf jeden Fall aber anders als die Beziehung, die der Einzelne dort unten als Teil zum Ganzen besitzt. Was vielleicht von dort aus gesehen wird, ist das Bild einer besonderen Struktur, von der aus mannigfaltigen Anzeichen zu erraten ist, daß sie sich aus den Säften eines großen Lebens ernährt.« (Jünger 1981: 69) Was sich hier als Metamorphose von Kultur in Natur offenbaren soll, wird dann in seinem »Sizilianischen Brief an den Mann im Mond« (Jünger 1979) wiederum mit der Photographie korreliert, nun aber in ein poetologisches Prinzip umgedeutet. »Uns hier unten«, schreibt Jünger dem Mann im Mond mit einem gewissen Bedauern, »aber ist es selten vergönnt, den Zweck dem Sinne eingeschmolzen zu sehen. Und doch gilt unser höchstes Bestreben jenem stereoskopischen Blick, der die Dinge in ihrer geheimeren, ruhenderen Körperlichkeit erfasst.« (Ebd.: 20) Und das genau können nach Jünger Stereoskopbilder leisten, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts eines der ersten photographischen Massenmedien darstellten. »Das war das Wunderbare, das uns an den doppelten Bildern entzückte, die wir als Kinder durch das Stereoskop betrachteten: Im gleichen Augenblick, in dem sie ein einziges Bild zusammenschmolzen, brach auch die neue Dimension der Tiefe in ihnen auf.« (Ebd.: 22) Es mag nicht verwundern, dass die historische Fortsetzung der Stereoskopien des 19. Jahrhunderts die Raumbildalben waren, die sich vor allem einem Gegenstand widmeten: den Schlachten des Ersten und später des Zweiten Weltkriegs.

Literatur Benjamin, Walter (1977): »Kleine Geschichte der Photographie«. In: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. II.1. Frankfurt a.M., 368-385. Bohrer, Karl Heinz (1978): Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk. München. Encke, Julia (2006): Augenblicke der Gefahr. Der Krieg und die Sinne. 19141934. München. Holzer, Anton (2007): Die andere Front. Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg. Darmstadt.

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Jünger, Ernst (Hg.) (1928): Luftfahrt ist not!. Leipzig–Nürnberg [darin insbesondere das von Ernst Jünger verfasste »Vorwort«, 9-13]. Jünger, Ernst (Hg.) (1930): Das Antlitz des Weltkrieges. Berlin [darin insbesondere Jüngers Beiträge »Krieg und Lichtbild«, 9-11, »Der letzte Akt«, 105-111, »Krieg und Technik«, 222-237, sowie »Das große Bild des Krieges«, 238-251]. Jünger, Ernst (1931): »Das Lichtbild als Mittel im Kampf«. In: Widerstand 6, Heft 3, 65-69. Jünger, Ernst (1931a): »Über die Gefahr«. In: Ernst Jünger (Hg.), Der gefährliche Augenblick. Berlin, 11-16. Jünger, Ernst (1979): »Sizilianischer Brief an den Mann im Mond«. In: Ernst Jünger, Sämtliche Werke, Zweite Abteilung, Essays III, Bd. 9. Stuttgart, 9-22; Erstdruck 1930 in: Mondstein. Magische Geschichten. 20 Novellen, mit einem Vorwort von Franz Schauwecker. Berlin, 7-21. Jünger, Ernst (1980): »Über den Schmerz«. In: Ernst Jünger, Sämtliche Werke, Zweite Abteilung, Essays I, Bd. 7, Stuttgart, 143-191; Erstdruck 1934 in: Jünger, Ernst, Blätter und Steine. Hamburg. Jünger, Ernst (1981): Der Arbeiter, Sämtliche Werke, Zweite Abteilung, Essays II, Bd. 8. Stuttgart. Koschorke, Albrecht (2000): »Der Traumatiker als Faschist. Ernst Jüngers Essay »Über den Schmerz«. In: Inka Mülder-Bach (Hg.), Modernität und Trauma 1910-1930. Wien. Meyer-Kalkus, Reinhart (2004): »Der gefährliche Augenblick – Ernst Jüngers Fotobücher«. In: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 2.1, Bildtechniken des Ausnahmezustandes, 54-75. Moholy-Nagy, Lászlo (1936): »fotografie: die objektive sehform unserer zeit«. In: telehor 1-2. Schulz, Edmund (Hg.) (1933): Die veränderte Welt. Eine Bilderfibel unserer Zeit. Mit einer Einleitung von Ernst Jünger. Breslau. Stiegler, Bernd (1996): »Die Zerstörung und der Ursprung: Ernst Jünger und Walter Benjamin«. In: Les Carnets Ernst Jünger, Nr. 1, Visions et visages d’Ernst Jünger, 51-74. Werneburg, Brigitte (1994): »Die veränderte Welt: Der gefährliche anstelle des entscheidenden Augenblicks. Ernst Jüngers Überlegungen zur Fotografie«. In: Fotogeschichte 14, Heft 51, 51-67.

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Der Kr ieg hat (k)eine Grenze : die Negation des totalen Kr ieges bei Philosophinnen der 1930er Jahre NadeŽda Grigor’eva (Tübingen/Moskau)

In ihrem Buch »Das andere Geschlecht« (1949) definierte Simone de Beauvoir die Frau als biologisches Mängelwesen, welchem es misslungen war, ein wahrer Mensch zu werden. Beauvoir zufolge dient der Frauenkörper »einem sich eigenwillig bekundenden fremden Leben, das sich jeden Monat ein Nest in ihr schaff t und es wieder zerstört […] wie der Mann ist die Frau ihr Leib: aber ihr Leib ist etwas anderes als sie« (Beauvoir 1990: 43). Das ist weibliches »Unglück«, »dass sie biologisch für die bloße Fortsetzung des Lebens vorbestimmt ist« (ebd.: 72). Dieses Unglück hindert die Frau daran, ihr Bedürfnis für die »männliche« Transzendenz zu befriedigen, aber gleichzeitig konstruiert es etwas anderes: eine »biologische« Transzendenz. Die weibliche Andersheit bedeutet einen ewigen Kampf ohne Armee und ohne Waffen: Beauvoir interessiert sich nur für die unblutige Sorte des »Krieges«, nämlich für die Schlacht zwischen der ewigen Weiblichkeit (L’Éternel feminin) und der ewigen Männlichkeit (L’Éternel masculin): »Es handelt sich nicht mehr um einen Krieg zwischen Individuen, die jedes in seiner Sphäre eingeschlossen sind: Eine ganze Kaste stellt Ansprüche, geht zum Angriff über und wird von der privilegierten Kaste in Schach gehalten. Es sind zwei Transzendenzen, die aufeinanderprallen. Statt sich gegenseitig anzuerkennen, will jede Freiheit die andere beherrschen.« (Ebd.: 669)

Der Krieg um Transzendenz bei Beauvoir lässt sich als Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg mit seinen maßlosen fatalen Konsequenzen und Millio95

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nen von Toten interpretieren. Die blutlose Schlacht von Transzendenzen wird mit dem totalen Vernichtungskrieg konfrontiert, der alle Grenzen der militärischen Anstrengungen überschreitet und »sich nicht nur gegen die Streitkräfte, sondern auch unmittelbar gegen die Quellen der kriegerischen Kraft, das Volk in der Heimat [richtet]« (Hierl 1923 zitiert nach: Förster 1967: 69). Einer der ersten Theoretiker des totalen Krieges war Erich Ludendorff: während des Ersten Weltkriegs revidierte er Clausewitzs Formel vom »absoluten Krieg«, der zur vollständigen Mobilisierung politischer und wirtschaftlicher Ressourcen führte. Später in seinem Buch »Der totale Krieg« (1935) schlägt Ludendorff in der Polemik mit Clausewitzs Formel der »Verschiedenartigkeit der Kriege« seinen eigenen Terminus »der totale Krieg« vor. Ludendorffs Text spielt eine prinzipielle Rolle bei der Popularisierung des Begriffs des totalen Krieges, aber der Autor sollte nicht als origineller Theoretiker des totalen Krieges angesehen werden:1 es war Clausewitz, der die Totalität des Kriegs definiert hat als basierend auf einer speziellen Wechselwirkung von Militärpersonen und Politiker; und es war Clausewitz, der zum ersten mal die »politische« Dimension des Kriegs diskutiert hat.2 Clausewitz verstand den »absoluten Krieg« als eine allumfassende Art des Krieges, die Politik und Wirtschaft einschloss. In seinem Buch »Begriff des Politischen« (1932) stellt Carl Schmitt die Idee von Clausewitz auf den Kopf und behauptet, Politik schließe Krieg ein. In seinen politischen Studien konzipiert Schmitt den Gegensatz von »Freund« und »Feind« als politische Grundrelation und baut darauf seine Anthropologie auf. Schmitt zufolge braucht man für die Konzeptualisierung des Staats keine abstrakten Kategorien; ein Feind existiere immer in concreto: »Worte wie Staat, Republik, Gesellschaft, Klasse, ferner: Souveränität, Rechtsstaat, Absolutismus, Diktatur, Plan, neutraler oder totaler Staat usw. sind unverständlich, wenn man nicht weiß, wer in concreto durch ein solches Wort getroffen, bekämpft, negiert und widerlegt werden soll« (Schmitt 1987: 31). Nicht Politik allein soll im totalen Krieg betroffen werden3. Ludendorff beschreibt einen Krieg, »der nicht nur Angelegenheit der Streitkräfte ist, sondern auch unmittelbar Leben und Seele jedes einzelnen Mitgliedes der kriegführenden Völker berührt…« (Ludendorff 1939: 5). Im Jahre 1930 publizierte Ernst Jünger seinen Essay über die totale Mobilmachung, in welchem er das deutsche Volk zum Einsatz für die Kriegsführung in allen Lebensbereichen ermuntert hat. Für Jünger war die totale Mobilma1. Siehe dazu: Chickering, Förster 2005: 9. 2. Über Clausewitz siehe z.B. Aron 1980. 3. S. dazu: Chickering, Förster 2005: 2.

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chung eine Operation »durch die das weit verzweigte und vielfach geäderte Stromnetz des modernen Lebens durch einen einzigen Griff am Schaltbrett dem großen Strom der kriegerischen Energie zugeleitet wird« (Jünger 1960: 130). Totale Mobilmachung verwandelt sich in eine anthropologische Transgression, weil niemand aus einer solchen Militäraktion ausgeschlossen werden darf – sogar das Kind in seiner Wiege wird zum legitimen Objekt militärischer Gewalt. Jünger schreibt: »Der Geschwaderführer, der in nächtlicher Höhe den Befehl zum Bombenangriff erteilt, kennt keinen Unterschied zwischen Kämpfern und Nichtkämpfern mehr, und die tödliche Gaswolke zieht wie ein Element über alles Lebendige dahin. Die Möglichkeit solcher Bedrohungen aber setzt weder eine partielle, noch eine allgemeine, sie setzt eine Totale Mobilmachung voraus, die sich selbst auf das Kind in der Wiege erstreckt. Es ist bedroht wie alle anderen, sogar noch stärker.« (Ebd.: 132)

Bei Roger Caillois, der einen »Trieb« zum Krieg in Betracht zieht, gewinnt der abstrakt-anthropologische Status des totalen Kriegs eine biologische Dimension. In seinem Buch »Der Mensch und das Heilige« (L’homme et le sacré, 1939) beschreibt Caillois den Krieg als Exzess, der per definitionem keine Grenze hat: »Der Krieg ist zweifellos der Paroxysmus im Leben der modernen Gesellschaften. Er stellt das Totalphänomen dar, das sie aufwühlt und völlig verwandelt und einen schrecklichen Kontrast zur ruhig verlaufenden Friedenszeit bildet« (Caillois 1988: 220). Caillois betont die Ähnlichkeit von Krieg und Fest: beide »Exzesse« haben das gleiche Ziel, die Gesellschaft zu erneuern und die Menschen zu neuem Leben zu erwecken. Die sakrale und exzessive Regeneration des Krieges und der festlichheiligen Zeit stellt sich der profanen Degeneration des Alltagslebens entgegen. Die Totalität des Kriegs sowie des Festes zieht eine positive Bilanz des sozialen Lebens des Volkes: »Die Ähnlichkeit von Krieg und Fest ist hier also absolut: Beide leiten eine Periode starker Vergesellschaftung, völliger Zusammenlegung von Hilfsmitteln und Kräften ein; sie unterbrechen die Zeit, in der die Menschen einzeln in vielen unterschiedlichen Bereichen tätig waren.« (Ebd.: 221)

Der Krieg ohne Grenzen führt zur großen Verausgabung der Ressourcen auf der einen Seite und zur unendlichen Serie der Zerstörungen auf der anderen. Immerhin interpretiert Caillois die Unmenschlichkeit des Kriegs als Wunder: »Er/der Krieg/ist unmenschlich; das genügt, dass man ihn für

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göttlich hält. Man geht nicht fehl. Und von dieser höchsten Weihe erwartet man sich Ekstase, Jugend und Unsterblichkeit.« (Ebd.: 235) Später, als die monströse Wirklichkeit des Zweiten Weltkriegs vorbei war, betonte Caillois in seinem Buch »Bellone oder die Neigung zum Krieg« (»Bellone, Ou La pente de la guerre«, 1963), dass der Krieg ein biologischer Instinkt ist, eine Veranlagung zu kämpfen und alle Grenzen zu überqueren, um eine Regeneration zu erreichen. Jedoch klang sein Denken zu dieser Zeit nicht mehr so radikal wie in der Vorkriegszeit. Es ist zu berücksichtigen, dass die Anthropologie des totalen Krieges in den dreißiger Jahren im höchsten Grad negativ war. Unter der »negativen Anthropologie« verstehe ich hier eine Menschenlehre, die den Menschen als unvollkommenes Wesen begreift und ihn vor allem mit negativen Merkmalen charakterisiert. Diese Art Anthropologie folgt subversiv der negativen Theologie nach, die alle Definitionen Gottes konsequent verneint. Wenn aber die Apophatik mit ihrer Negativität den Gott verteidigt, ist die negative Anthropologie bereit, auf ihr Objekt zu verzichten. Die »Kriegsanthropologie« treibt die Negation des Menschen auf eine absurde Spitze: sowohl Jünger als auch Caillois glaubten, dass jedes Humanwesen zum Ziel und Mittel einer annihilierenden militärischen Aktion werden soll. Es klingt paradox, aber die oben genannten Philosophen verwandeln die Negativität des Krieges in eine Positivität. Die Rechtfertigung des (totalen) Krieges entsteht vor allem dadurch, dass der Begriff des Krieges nicht nur eine anthropologische, sondern auch eine ontologische Dimension gewinnt. In seinem Buch »Totalität und Unendlichkeit« (»Totalité et Infini«, 1961) vergleicht Emmanuel Lévinas den Krieg mit dem Sein und definiert die totale Militäraktion als ontologisches Ereignis: »Sobald er ausbricht, sobald die Schleier in Flammen aufgehen, zeigt sich der Krieg als die reine Erfahrung des reinen Seins. Das ontologische Ereignis, das sich in dieser schwarzen Klarheit abzeichnet, ist die Mobilisierung der bis dahin in ihrer Identität verankerten Seienden; die absoluten Seienden werden mobilisiert kraft eines absolutes Befehls, dem sie sich nicht zu entziehen vermögen. Die Kraftprobe ist die Probe auf die Wirklichkeit« (Lévinas 1987: 19-20). Das Ereignis des Krieges besteht laut Lévinas darin, dass der Krieg jede Identität zerstört. Der Krieg zeigt sich als Totalität, die jedes Humanwesen in seiner Individualität nivellieren soll. Jedoch war sogar Lévinas – ein Mann der Dreißiger – von den monströsen Folgen des Zweiten Weltkrieges erschüttert und stellte der Totalität die Kategorie der Unendlichkeit gegenüber: die Unendlichkeit des Seins bewältigt die Totalität (des Krieges u.a.).

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Kr itik des totalen Kr ieges bei Simone Weil und Hannah Arendt Die Kategorie der »Totalität« konstituierte das Narrativ der Epoche der 1930er-1940er Jahre. Totalität 4 tritt zutage als narratives Verfahren, das alle Personen gleich macht und alle Unterschiede auf hebt. Die Totalität findet ihren Höhepunkt in der Kunst des Krieges, was philosophische Narrative dieser Zeit reflektieren. Die Wendung zum »Totalen« in der ersten Hälfte der 1930er Jahre führte zum Verlust der Fähigkeit zu unterscheiden: zwischen Front und Hinterland, zwischen Militär und Zivilisten, zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen Gut und Böse.5 In seinem Text »Der Hüter der Verfassung« (1931) bezeichnet Carl Schmitt drei Stadien der Staatsentwicklung: »vom absoluten Staat des 17. und 18. Jahrhunderts über den neut ra len Staat des liberalen 19. Jahrhunderts zum tot a len Staat der Identität von Staat und Gesellschaft« (Schmitt 1985: 79). Die Neutralisierung der Unterschiede, den Trend zum »Totalen« versteht Schmitt als eine neue Militarisierung des Menschen. Laut Schmitt liegt die moderne Welt in einer Krise, in der man »nicht nur nicht zwischen gerechtem und ungerechtem Krieg, sondern überhaupt nicht einmal zwischen Krieg und Nicht-Krieg unterscheiden vermochte« (Schmitt 1938: 2). In seinem Buch »Theorie der Erzählung. Einführung in die ›totalitären Sprachen‹« (»Théorie du récit. Introduction aux langages totalitaires«, 1972) analysiert Jean-Pierre Faye verschiedene Diskurse von deutschen und italienischen Faschisten6 mit dem Fazit, dass das deutsche Wort »total« lange Zeit als Übersetzung der italienischen »totalitario« funktioniert 4. »Das Andere« des Totalitarismus in dieser Zeit entwickelt Richard Nicolaus Coudenhove-Kalergi mit seiner »Pan-Europa«-Idee. In seinem Buch »Totaler Staat, totaler Mensch« kritisierte er den »permanente Kriegszustand des totalen Staates nach innen und außen« (Coudenhove-Kalergi 1937: 88). Dem totalitären Staat mit seinem totalen Krieg setzte er das Konzept des »totalen Menschen« entgegen, der alle Rassen und Klassen umfassen konnte und ein vereinigtes Europa schaffen sollte. 5. Drei deutsche Denker haben zu gleicher Zeit den Begriff »total« in den Texten zu verschiedenen Aspekten der politischen Anthropologie benutzt: Ernst Jünger spricht über die »totale Mobilmachung«, Carl Schmitt diskutiert über den »totalen Staat« und Erich Ludendorff konstruiert den Begriff des »totalen Krieges«. S. dazu: Schäfer 2003: 121-127. Schäfer betont, dass das Phänomen des Totalen in diesen drei Fällen aus einer religiösen Perspektive betrachtet wurde. 6. Z.B. Faye analysiert den Diskurs von Carl Schmitt und zeigt damit, wie verschiedene Grenzen unter dem Einfluss des Begriffs des »totalitären Staates« verschwinden: die Grenze zwischen der Legislative und den Vollzugsorganen,

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hätte, »bevor es von dem ausländischen Neologismus der wörtlichen Übersetzung durch totalitär ersetzt wird« (Faye 1977: 90). Faye stellt fest, dass »totalitario« als morphologisches Analogon und semantische Gegenüberstellung von »frammentario« erscheint. Im offiziellen Diskurs steht der »starke« totalitäre Staat der »schwachen« und »fragmentarischen« liberalen Staatsform gegenüber.7 Es ist bemerkenswert, dass dieselbe Opposition von »total« und »fragmentarisch« sich auch schon bei Karl Marx findet. In der Einleitung »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« identifiziert Marx das Totale mit dem Radikalen und weist darauf hin, dass mit dem Radikalen das Fragmentarische kontrastiert. Dabei wird die Fragmentarität zum Synonym der Politik, die sich nicht als das Allgemeinmenschliche verstehen lässt: »Nicht die radikale Revolution ist utopischer Traum für Deutschland, nicht die allgemein menschliche Emanzipation, sondern vielmehr die teilweise, die nur politische Revolution« (Marx 1976: 388). Stattdessen möchte Marx, eine radikale – »totale« – Revolution mit der Philosophie an der Spitze in die Tat umsetzen. Die erste politisch-anthropologische Totalitätstheorie entstand an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit und stammt nach Ulrich Sonnemann von Nikolaus von Cues, den er den Vater der sog. »Ganzheitslehren« nennt. Cusanus trat gegen die Glaubenskriege und Spaltungsprozesse auf, die Deutschland in der Mitte des 15. Jahrhunderts in Stücke gerissen hatten. Um diese politische Fragmentarität zu überwinden, wandelte Cusanus in seinem Buch »Über das Globusspiel« (»De ludo globi«) Politik in Anthropologie um und postulierte, dass der Mensch ein Mikrokosmos sei und als Teil des Universums das Ganze widerspiegle. Daher sei der Mensch mehr als andere Lebewesen dazu geschaffen, die Totalität in die Welt zu bringen.8 In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts freilich ist die Situation eine ganz andere: Nicht die Totalität des Menschen ist jetzt primär, sie ist auch nicht mehr unbestreitbar. In dem Maße, in dem die radikale Anthropologie sich nicht den totalitären Regimen anpasste, sondern sich dem Totalitarismus entgegenstellte, oszillierte sie zwischen der »totalen« und der »fragmentarischen« Vorstellung vom Menschen. Ein besonders prägnantes Beispiel für dieses Verhältnis sind die Philosophinnen der Dreißiger. Statt die Totalität des Krieges zu bewundern (wie Jünger, Schmitt und Caillois) sprechen diese Denkerinnen über die Grenze der militärischen Aktionen, um zwischen »gerechtem und ungerechtem Krieg« zu unterscheiden. Ich die zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen Staat und Wirtschaft, zwischen Staat und Kultur, zwischen Staat und Mensch. 7. S. dazu: Faye 1977: 82. 8. Vgl.: Sonnemann 1981: 141ff.

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möchte hier zwei Narrative vergleichen, die dem totalen Ereignis des Krieges Widerstand leisten, und zwar: das Narrativ der »Einwurzelung« bei Simone Weil und das Anti-Totalitarismus-Narrativ bei Hannah Arendt. In ihrem Buch »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« interpretiert Arendt den Kriegsenthusiasmus als Pathologie der Revolutionsgeneration der 1910er Jahre: »Für diese Generation wurde der Erste Weltkrieg zu dem großen Vorspiel des Zusammenbruchs der Klassen und ihrer Umwandlung in Massen. Der Krieg in seiner unbeirrbar mörderischen Willkür wurde zum Symbol für den ›großen Gleichmacher‹ Tod und damit zum wahren Vater einer neuen Weltordnung.« (Arendt 1955: 528)

So gesehen, begründet der Krieg ein gefährliches Narrativ, das die irrsinnige Hoffnung artikuliert, dass die ganze Weltzivilisation in »Stahlgewittern« untergehen wird. Diese Sehnsucht nach dem Krieg findet Arendt vor allem bei Schriftstellern und Philosophen »von Nietzsche und Sorel bis Pareto, von Rimbaud und T. E. Lawrence bis Jünger, Brecht und Malraux, von Bakunin und Netschajew bis Alexander Blok« (Arendt 1955: 527). Später in ihrem Buch »Was ist Politik?« besteht Arendt darauf, dass die Menschheit die zulässige Grenze der Gewalt schon überschritten hat: die neuen Waffen können die ganze Bevölkerung auf der Erde vernichten. Die »totale« Gewalt ist nicht mehr möglich: stattdessen diskutiert Arendt über die »partielle« Zerstörung: »Hier war, vielleicht zum ersten Mal in der Neuzeit, wenn auch keineswegs in der von uns erinnerten Geschichte überhaupt, eine dem gewaltsamen Handeln inhärente Begrenzung überschritten, der zufolge die durch Gewaltmittel er folgende Zerstörung immer nur partiell sein, immer nur Stücke von Welt und eine wie immer geartete Zahl von Menschenleben betreffen darf, nie aber das ganze Land oder ein ganzes Volk.« (Arendt 1993: 88)

Diese Tendenz, den Krieg »partiell« vorzustellen, kennzeichnet auch Simone Weils Theorie. Es ist bekannt, dass Weil keine konsequente Position zum Krieg hatte: zuerst hielt sie sich an Pazifismus, später kämpfte sie im Spanischen Bürgerkrieg, danach verteidigte sie non-interventionistische Politik in Europa in der Hoffnung, einen europäischen Krieg zu vermeiden, und schließlich propagierte sie den bewaff neten Widerstand gegen Hitler (Weil 1987b: 229). Diese Inkonsequenz resultiert offensichtlich aus dem ›partiellen‹ Denken der Philosophin. In ihrem Artikel »Reflexionen über den Krieg« (1933) spricht Weil vom Problem der Verschiedenartigkeit der Kriege und kritisiert die moderne Art des Kriegs, die sie als eine totale 101

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Schlacht bezeichnet. Sie betrachtet den modernen Krieg als Staatsveranstaltung, die sich gegen die Menschheit richtet (Weil 1987b: 242). Das Wesen des modernen Krieges besteht darin, dass jede Differenz zwischen defensiven und offensiven, imperialistischen und nationalistischen Kriegen neutralisiert wird. Auf Grund seines oppressiven Apparats soll jeder Krieg, sogar wenn dieser von den Revolutionären geführt wird, als reaktionär interpretiert werden. (Ebd.) Laut Weil muss sich die in den Krieg hineingezogene Revolution zur Konterrevolution transformieren. (Ebd.: 245) In diesen frühen Überlegungen charakterisiert Weil die Versuche, den Krieg als Mittel des antifaschistischen Kampfes zu adoptieren, als Absurdität. (Ebd.: 246) Letztendlich mündet ihr Pazifismus dann in den Anarchismus: egal, schreibt Weil, welche Namen das Regime trägt – Faschismus, Demokratie, Diktatur des Proletariats – der Hauptfeind für die Menschen ist der Staat- und Kriegsapparat. (Ebd.: 248) Später, in den Vierzieger, ändert Weil dann doch ihre Meinung über die Teilnahme am Krieg. Dank ihres ›partiellen‹ Denkens konstruiert sie folgende Theoreme: »Entweder ist die Eroberung immer ein Übel; oder sie ist immer ein Gut; oder sie ist bald ein Gut und bald ein Übel« (Weil 1956: 218). In ihrem Buch »Die Einwurzelung, Einführung in die Pfl ichten gegenüber dem menschlichen Wesen« (»L’Enracinement«) rechtfertigt Weil die Kriege, deren Kraft die »Einwurzelung« ist, und negiert die Kriege der »Entwurzelung«: »Eine Entwurzelung findet jedesmal dann statt, wenn ein Land mit Militärgewalt erobert wird, und in diesem Sinne ist die Eroberung fast immer ein Übel. Die Entwurzelung beschränkt sich auf ein Minimum, wenn die Eroberer ein Wandervolk sind, das sich in dem eroberten Land niederläßt, sich mit der einheimischen Bevölkerung vermischt und selber wurzelständig wird. Dies war der Fall der Hellenen in Griechenland, der Kelten in Gallien, der Mauren in Spanien.« (Weil 1956: 72).

Als gefährlichste Kräfte in der Geschichte erweisen sich Proletarier (für Weil – »Entwurzelte«), entlaufene Sklaven (die Hebräer) und Abenteurer (»Die Spanier und Engländer, die seit dem sechzehnten Jahrhundert die farbigen Völkerschaften hingemetzelt oder geknechtet haben«). All diese Kategorien von Menschen entsprechen der Formel: »Wer entwurzelt ist, entwurzelt.« (Ebd.: 78) Weil zufolge verwandelt sich der Krieg im totalitären Staat in eine grenzenlose und totale Militäraktion, aber es ist eben der Krieg, der den Staat totalitär macht. So wurde z.B. Frankreich in der Zeit von Ludwig XIV. wegen des Krieges zu einem quasi-totalitären Staat gemacht: »Indem der Krieg noch ein übriges tat – der Krieg ist von Anfang an die treibende Kraft 102

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dieser ganzen Entwicklung –, näherte sich der Staat […] immer mehr dem Totalitarismus.« (Ebd.: 179) Die Inkonsequenz von Weils Denken über den Krieg ähnelt auf den ersten Blick dem Fall der russischen Revolutionärin Alexandra Kollontai. Kollontai publizierte während des Ersten Weltkrieges zwei Pamphlete: das erste heißt »Wer braucht den Krieg?«, das zweite wurde gerade umgekehrt betitelt – »Sei kein Deserteur!«. In seinem Buch »The Women’s Liberation Movement in Russia« behauptet Richard Stites, dass Kollontais Kommentar zum Ersten Weltkrieg mehr emotional als intellektuell geschrieben wurde (Stites 1991: 286). Ich kann dieser Meinung nicht zustimmen: im Fall Kollontais sehe ich keine Emotionen, sondern bloß Propaganda. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Partei determinierte den Diskurs der Frauen während der russischen Revolution. Nach der Revolution jedoch lag die Gender-Spezifi k der weiblichen Überlegungen zum Krieg darin, dass jeder Krieg Grenzen haben soll und niemals zu einer Totalität entwickelt werden darf. Diesen ›begrenzten‹ Krieg thematisiert auch Hannah Arendt: die Philosophin zog den Militäraktionen den politischen Agon vor, der nach dem Modell der Griechischen Agora gebildet wurde.

Der Trojanische Kr ieg als Archetyp des totalen Kr ieges Während Jünger und Caillois die Konzepte der anthropologischen Transgression und der biologischen Regeneration benutzten, um den Kriegszustand zu verteidigen, verurteilen die Philosophinnen Weil und Arendt den totalen Krieg als Kern eines schlechten Sequel und gefährlichen Narrativs. Die »weibliche« Version der negativen Anthropologie der dreißiger Jahre lässt uns zwischen zwei polarisierten Einstellungen zum Krieg unterscheiden: zwischen der biologistischen Glorifizierung des totalen Krieges einerseits und der Ablehnung desselben als einer oppressiven narrativen Struktur andererseits. Offenbar fanden die Philosophinnen der Dreißiger die so genannten »großen Erzählungen«, d.h. die ideologisch beladenen historischen Narrative die auf Universalität und Geschlossenheit ausgerichet waren, problematisch. Sie zogen eher fragmentarische und »partielle« Denkmodelle den »totalen« vor. Man sieht dies auch daran, im Rahmen welcher literarischen Gattung sie ihre Schriften verfassten: Simone Weil bevorzugte Tagebücher und kurze Aufsätze, vermied jedoch »große« Formen; Edith Stein hat ihre anthropologischen Hauptwerke »Kreuzeswissenschaft« und »Was ist der Mensch?« nicht beendet und als Fragmente belassen; Hannah Arendt gab den Klassifi kationen und Deskriptionen Vorzug, verzichtete aber auf uni103

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versalistische Ansätze. Sie pflegte eine spezifische, fragmentarische Narrativität und ließ das Sujet quasi degenerieren: Es setzte an, erfuhr aber keine Kulmination und fand keinen Abschluss.9 Die Andersheit der Frauen führte nicht nur zur Negation der politischen und anthropologischen Fiktionen, sondern auch zum Kampf gegen das Narrativ. So betrachtet, erscheint es nicht zufällig, dass Arendt die totalitären Regime des Sowjetischen Kommunismus und des deutschen Nationalsozialismus als »fi ktive« bezeichnet hat. Es scheint, dass die Philosophinnen der Dreißiger bestimmte narrative Strukturen als oppressives System wahrgenommen haben – als System, das dem Krieg sehr ähnlich war. Das war der Grund, warum sie die Quellen des totalen Krieges nicht in der realen Geschichte, sondern im fiktionalen Narrativ zu finden versuchten – und zwar in der Ilias bei Homer.10 Weils Überlegungen zu Homer lassen einen Vergleich mit Arendts Analyse zu. In ihrem Buch »Trois femmes dans de sombres temps« entdeckt Sylvie Courtine-Denamy eine Parallele zwischen beiden Philosophinnen: sowohl für Arendt als auch für Weil erscheint der Trojanische Krieg als Archetyp des »Krieges ohne Grenze« oder des »Vernichtungskrieges« vor (Courtine-Denamy 2000: 116). In ihrem Artikel »Nicht nochmals der Trojanische Krieg« (»Ne recommençon pas la guerre de Troie«, 1937) behauptet Weil, dass der ›Krieg ohne Grenzen‹ seinen Ursprung im Trojanischen Krieg habe. Arendt widmet ein Kapitel ihres Buches »Was ist Politik?« dem Begriff des »totalen Krieges« und bezieht sich dabei ebenfalls auf Homers Epos, die Ilias. Das Hauptmerkmal von Homers Erzählen ist eine stereoskopische Betrachtungsweise, die die destruktive Kraft des totalen Kriegs von verschiedenen Seiten entlarvt. Mithilfe dieser Darstellungsstrategie wird klar, dass die Kraft des Krieges ohne Grenze nicht nur den Feind, sondern auch den Aggressor selbst zerstört. Homers plurale Perspektive wurzelt in seiner bekannten Unparteilichkeit und seiner wunderbaren Fähigkeit »ein und dieselbe Sache erst von entgegengesetzten und dann von allen Seiten zu sehen« (Arendt 1993: 96). Für Arendt hat der Autor der Ilias eine erweiterte Sicht: »Der Krieg gegen Troja hat zwei Seiten, und Homer sieht ihn mit den Augen der Trojaner nicht weniger als mit denen der Griechen.« (Ebd.: 95) Arendt 9. Zu Widersprüchen bei Arendt siehe: Seitz 2002. 10. Diese Interpretation des totalen Krieges als Narrativ kommt der modernen Auffassung des Krieges sehr nahe. Autoren des Sammelbandes »World War II and the Theory of Total War« sprechen über den »idealen Typ« des Krieges, der während der Kriegsaktionen realisiert werden soll. Roger Chickering vermutet, dass der Zweite Weltkrieg auf Grund seiner privilegierten Proximität zum idealen Typ des totalen Krieges, als »master narrative« der modernen Militärgeschichte genannt werden soll (Chickering/Förster 2005: 4).

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kritisiert diese Sichtweise Homers und bemerkt, dass die »zwei Seiten aller Dinge« erst in der Situation des Kampfes zutage kommen: »Diese Homersche Weise darzutun, daß alle Dinge zwei Seiten haben, die erst im Kampf in Erscheinung treten, liegt auch noch dem Wort Heraklits, daß der Krieg ›der Vater aller Dinge‹ sei, zugrunde.« (Ebd.: 94) Der totale Krieg erwies sich als eine Sorte der totalen Vision, die im Grunde fiktional ist. Dem negativen, »fiktionalen« Krieg stellt Arendt einen positiven, »realen« Kampf gegenüber: den politischen Agon. In seinem Buch »L’Écran du désert: chronique de guerre« (1991) schreibt Paul Virilio, dass die Stadt – die Polis – bereits den Konflikt des Krieges enthielt (Virilio 2002: 5). Er meint damit, dass »die Stadt aus dem Krieg entsteht, zumindest aus seiner Vorbereitung« (Virilio 1984: 9). Besonders die Griechische Stadt schließt für Virilio eine implizite Gefahr des Krieges in sich ein. Virilio spricht von einer »doppelten Konstruktion« des Theaters von Militäraktionen: erstens, vor der Stadtmauer und zweitens im Mittelpunkt der Stadt – die Agora ist der Ort, wo politische Schlachten von Ideen und Interessen gleichzeitig konkret und metaphorisch stattfinden (Virilio 2002: 8). Es scheint, als ob Virilio Arendts Dichotomie zwischen Krieg und Polis bezweifelt hätte. Laut Arendt schließt die Agora den Krieg aus: »Der Krieg […] und die mit ihm verbundene Gewalt wurde aus dem eigentlich Politischen, das zwischen den Gliedern einer Polis entstanden und gültig [war], ganz und gar ausgeschieden« (Arendt 1993: 93). Die Politik, so Arendts Hoffnung, könnte dem totalen Krieg eine Grenze setzen. Die Agora sollte ein Platz für Verhandlungen – nicht für Krieg sein. Es dürfte weder Herrschende noch Gehorchende auf dem Markt geben, wo der Agon der Gleichen ausgetragen wird. (Ebd.) Der agonale Geist der Griechen hat seinen Prototyp im Kampf zwischen Achill und Hektor bei Homer. Arendt möchte diesen Kampf vom Krieg trennen und als politische Aktion verstehen: »Dabei ist es, als ob die Griechen den Kampf, ohne den weder Achill noch Hektor je wirklich hätten in Erscheinung treten und zeigend beweisen können, wer sie sind, von dem Kriegerisch-Militärischen, in dem die Gewalt ursprünglich beheimatet ist, abgetrennt und ihn dadurch zu einem integrierenden Bestandteil der Polis und des Politischen gemacht hätten.« (Ebd.: 101)

Ebenso wie Weil behauptet Arendt einen unlösbaren Zusammenhang zwischen dem totalen Krieg und dem totalitären Staat: »Der Vernichtungskrieg ist der einzige Krieg, der dem totalitären System angemessen ist.« (Ebd.: 87) Im Buch »Was ist Politik?« zerstört der Vernichtungskrieg nicht nur die ›temporäre‹ Welt, sondern auch die unsterbliche Dimension der intersubjektiven Kontakte. Letztere ist als Ort der Freiheit zu verstehen, der nicht nur im Inneren des Menschen, sondern auch in einem »Zwischen105

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Raum« existiert: »Ihr Entstehungsort liegt niemals in einem wie immer gearteten Inneren des Menschen, seinem Willen oder seinem Denken oder seinem Fühlen, sondern in dem Zwischen-Raum, der überhaupt nur entsteht, wo mehrere zusammenkommen, und der nur solange bestehen kann, als sie zusammenbleiben.« (Ebd.: 99) Die Bedingung der Freiheit und Unsterblichkeit wird im Moment der öffentlichen Intimität verwirklicht und von räumlichen Koordinaten begrenzt:11 »So war Freiheit für griechisches Denken selber noch einmal verwurzelt, an einen Standort gebunden und räumlich begrenzt, und die Grenzen des Raumes der Freiheit 11. Es muss darauf hingewiesen werden, dass die räumlichen Grenzen des intersubjektiven Feldes negativ bei Arendt betrachtet werden. Für Arendt endet Politik in Griechenland und startet wieder bei Römern: »Was sich ereignete, als die Nachkommen Trojas auf italischen Boden kamen, war nicht mehr und nicht weniger, als dass Politik genau dort entstand, wo sie bei den Griechen an ihre Grenzen kam und ihr Ende fand, nämlich in dem Zwischenbereich nicht zwischen den gleichgestellten Bürgern einer Stadt, sondern zwischen den einander fremd und ungleich gegenüberstehenden Völkern, die erst der Kampf zusammengeführt hatte« (Arendt 1993: 108). Arendt zufolge verwandeln sich Vernichtungskriege von Griechen zu »begrenzten« Kriegen bei Römern: »Es ist […] von Bedeutung, dass der auf italischem Boden wiederholte Trojanische Krieg, auf den das römische Volk seine politische und geschichtliche Existenz zurück führte, nicht seinerseits wieder mit einer Vernichtung der Besiegten endete, sondern mit einem Bündnis und einem Vertrag« (ebd.: 106). Laut Arendt begründen die Römer ein neues politisches Feld, weil sie den totalen Krieg mit Hilfe von Vereinbarungen und politischen Pakten bewältigen: »Dies Aufeinandertreffen selbst ist kriegerisch, und das lateinische Wort ›populus‹ meint ursprünglich ›Heeresaufgebot‹ (Altheim), aber dieser Krieg ist nicht das Ende, sondern der Anfang der Politik, beziehungsweise eines neuen, im Friedens- und Bündnisvertrag entstehenden politischen Raumes« (ebd.: 115). Arendt behauptet, dass die Römer die Außenpolitik erfunden haben: »Es ist unzweifelhaft, dass der Begriff einer Außenpolitik und damit die Vorstellung einer politischen Ordnung außerhalb der Grenzen des eigenen Volks- oder Stadtkörpers ausschließlich römischen Ursprungs sind« (ebd.: 121). Diese Erfindung war nicht kostenlos, sondern ging auf Rechnung von »fiktionaler »Macht des Narrativs« – im Unterschied zu Griechen konnten Römer keine »große Erzählung« schaffen: »die Römer bezahlten ihre unerhörte Fähigkeit der Bundesgenossenschaft […] mit dem Verlust der griechisch-homerischen Unparteiischkeit, dem Sinn für das Große und Überragende in allen seinen Gestalten, […] und dem Willen, es durch Rühmen unsterblich zu machen« (ebd.: 120). Im Gegensatz zu Arendt spricht Weil über die nahe gelegene Ähnlichkeit zwischen antiken Römern und modernem faschistischen Staat (»Gedanken über den Ursprung des Hitlerismus«), vgl. Courtine-Denamy 2000: 111.

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fielen mit den Mauern der Stadt, der Polis oder, genauer gesagt, der von ihr eingeschlossenen Agora, zusammen.« (Ebd.) Das Ziel des totalen Kriegs ist Vernichtung nicht nur des einzelnen Menschen, sondern auch aller zwischenmenschlichen Beziehungen. (Ebd.: 90) Obwohl Arendt nicht zu den negativen Anthropologen gerechnet werden darf, stimmt sie mit diesen in der These überein, dass der moderne Mensch seinen »Zwischen-Raum« verloren hat. Und zwar in einem doppelten Sinn: Einerseits verliert das Humanwesen seine Humanität aufgrund der Verwandlung des Menschen in einen homo faber; andererseits verschwinden die positiven Grundsätze der Agora im totalitären Staat. Während Arendt behauptet, dass Homer die Geschichte vom Trojanischen Krieg zu Unrecht besungen und die Griechen zu fiktiven Helden gemacht hat, erkennt Weil in Homers »Ilias« einen Text, der ähnlich wie später das Evangelium das menschliche Leiden berühmt gemacht hat. Für Weil hat die griechische Geschichte ihren Ursprung in einem scheußlichen Verbrechen, im Trojanischen Krieg. Aber diese ›primäre Sünde‹ weckte bei den Griechen Gewissensbisse, die bei Homer in epischer Form zur Darstellung kamen. Und Weil zufolge erwiesen sich die Griechen gerade dadurch als ein besseres Volk als die Römer, die Karthago zerstörten, aber keine Reue für ihr Verbrechen zeigten und, was noch wichtiger ist, – keine »Ilias« hervorbrachten. In ihrem Essay »Ilias: Dichtung der Gewalt« (L’Iliade ou le poème de la force, 1940/41) bemerkt Weil: »Das Evangelium ist die letzte und herrlichste Äußerung des griechischen Genius, wie die Ilias seine erste ist; der Geist Griechenlands lässt sich in ihm erkennen, nicht nur weil wir aufgefordert werden, kein anderes Gut als »das Reich und die Gerechtigkeit unseres himmlischen Vaters« zu suchen, sondern auch, weil das menschliche Elend bloßgelegt wird, und das an einem Wesen, das zugleich göttlich und menschlich ist. Die Passionserzählungen zeigen, wie ein göttlicher Geist, dem Fleisch vereinigt, vor dem Leiden und dem Tod zittert, da ihn das Unglück heimsucht « (Weil 1951: 124).

Weils Analyse der Unglücks-Narrative lässt sich als eine Form der negativen Anthropologie betrachten. Der tatsächliche Gegenstand von Weils Analyse ist nicht Politik, sondern Qual. Dabei wird die menschliche Qual dem totalen Krieg gegenübergestellt: sie entsteht unter dem Einfluss des Krieges und ist die Kraft, die dem Krieg widerstehen kann. In Weils Essay funktioniert »Gewalt« als Synonym für »Krieg«. Laut Weil, « [ist] der wahre Held, der wahre Gegenstand, das Zentrum der Ilias die Gewalt« (Weil 1951: 115). Diese Gewalt hat einen schädlichen Einfluss auf das Humanwesen: der auffallendste dieser Effekte besteht im Akt der Verwandlung des Lebenden in den Toten: alles, was diese Gewalt berührt, verwandelt sich in eine träge 107

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Materie, in ein Ding (Holoka 2005: 71). Es gibt viele Verkörperungen der Gewalt in der Welt: »Von der Macht, einen Menschen zu einer Sache zu machen, indem man ihm das Leben nimmt, leitet sich eine andere Macht ab, […] die, aus einem Menschen, der leben bleibt, eine Sache zu machen« (Weil 1951: 116). Solche ›lebenden‹ Dinge verlieren ihre Identität und versuchen die Toten zu imitieren: »Als seien sie nicht da, so bewegen sich die anderen vor ihnen; und sie selbst, bedroht, in einem Augenblick in nichts verwandelt zu werden, ahmen dieses Nichts nach. Gestoßen, stürzen sie; gestürzt, bleiben sie liegen, bis zufällig jemandem der Gedanke kommt, sie aufzuheben.« (Ebd.: 117) Die Verdinglichung des Menschen wird bei Weil zum Thema der negativen Anthropologie: »Daß ein Mensch ein Ding wird, ist ein logischer Widerspruch; wo aber dieses Unmögliche Wirklichkeit wird, bedeutet es ein Zerreißen der Seele. Immer und immer wieder möchte dieses Ding ein Mann, eine Frau sein, und nie gelingt es ihm.« (Ebd.: 118) Weil demonstriert, dass alle Helden in der »Ilias« ein ähnliches Schicksal haben: »Die Ilias teilt die Menschen nicht in Besiegte, Sklaven, Bittende und, auf der anderen Seite, in Sieger und Befehlende ein; da ist niemand, der nicht irgend einmal gezwungen wäre, sich der Gewalt zu beugen. […] Selbst Achill, den stolzen, unbesiegten Helden, zeigt uns die Dichtung gleich zu Beginn weinend, gedemütigt und in ohnmächtigem Schmerz.« (Ebd.: 118-119)

Genauso wie Arendt spricht Weil über die außerordentliche Unparteilichkeit von Homer in der »Ilias«. Diese Unparteilichkeit und die plurale Perspektive bei ihm macht es möglich, eine Welt der totalen Gleichheit von Helden in ihren Qualen zu schaffen. Es gibt keine wirklich unverwundbaren Menschen in diesem Epos: Folgen ihrer Gewaltaktionen schaden immer den Aktanten selbst: »die Hörer der Ilias wußten, daß Hektors Tod Achill nur eine kurze Freude geben würde, Achills Tod nur eine kurze Freude den Torjanern, Trojas Vernichtung nur eine kurze Freude den Achäern. Die Gewalt zermalmt.« (Ebd.: 120) Weil schreibt, dass die Griechen »nicht weniger als alles«, und zwar »alle Reichtümer Trojas […] als Schutt, alle Frauen und Kinder als Sklaven, alle Männer als Leichen« wollen. (Ebd.) Dieses »alles« wird im Finale zum Synonym der Nichtexistenz und des Unsinns. Die Philosophin bemerkt, dass der Krieg keinen Sinn hat: »So löscht der Krieg jede Idee eines Zieles aus, selbst die Idee eines Kriegszieles. Sogar den Gedanken, dem Krieg ein Ende zu setzen, lässt er nicht auf kommen.« (Ebd.: 121) In den 1930er Jahren wurde Weil zufolge das Phantom der Helena, dessentwegen Griechen und Trojaner einander töteten, durch andere Objekte ersetzt: nämlich durch »sinnlose Wörter« wie »Faschismus« und »Kommunismus«. Aus 108

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dieser Perspektive, sagt Weil, gäbe es keinen Gegensatz zwischen Faschismus und Kommunismus. Nicht nur der Krieg zwischen gleichen Systemen hat keinen Sinn – selbst die Krieger haben keine Vernunft. Nach Weils Auffassung ist Thersites der einzige Soldat, der »Worte der Vernunft« in der Ilias sagt: »Zuweilen werden in der Ilias Worte der Vernunft gesprochen, aber sie fallen ins Leere«12 (Weil 1951: 120). Die »vernünftigen« Worte von Thersites sind durch sein hässliches Äußeres und seinen niedrigen sozialen Status diskreditiert: er wird bestraft und zum Schweigen gebracht.

Der Kr ieg ohne Grenze : zum Schluss Jünger und Caillois entwarfen eine neue Anthropologie, in der der Krieg zum Hauptfaktor der menschlichen Geschichte erklärt wurde. Arendt und Weil dagegen negierten solches Lob des Krieges. Für Arendt zerstört der Krieg den spirituellen Raum zwischen den Menschen, für Weil schaltet der Krieg den Mechanismus der Unterdrückung ein. Verallgemeinernd kann man sagen, dass die Philosophinnen der dreißiger Jahre eine Auseinandersetzung mit der männlichen Denkweise begannen und versuchten, deren Thesen in Frage zu stellen. Es scheint als gäbe es eine Spezifik der weiblichen kritischen Prüfung der Kriegsideen. Wie schon gezeigt wurde, wollten die Philosophinnen der Dreißiger weder die totale Akzeptanz noch die volle Verneinung der Kriege und Revolutionen. Vielmehr sollte das »totale Denken« der männlichen Philosophie im ›partiellen Denken‹ der weiblichen Philosophie dieser Zeit überwunden werden. Die Philosophinnen differenzieren in Bezug auf den Krieg zwischen dem Teil und dem Ganzen, zwischen dem Guten und dem Bösen, zwischen Front und Hinterland. Aus dieser ›partiellen‹ Perspektive ließen sich sowohl Kriege als auch Revolutionen als »verfemter Teil«13 begreifen, den man zu isolieren hoff te. Während der 1930er Jahre wurde diese ›partielle‹, differenzierende Perspektive in extrem totalitären Kontexten wie Russland14 aufgehoben. 12. Aus unbestimmten Gründen sind alle Refl exionen über Thersites aus der ersten deutschen Übersetzung des Artikels entfernt. Die Analyse von der Figur Thersites findet man im französischen Original des Textes: Weil 1999: 529-552. 13. Zu Überlegungen zu der Rolle des Krieges in der Politökonomie von Georges Bataille siehe: Schmidt 1990: 139-161. 14. Zum »Grade der Staatstotalität« siehe z.B. Coudenhove-Kalergi 1937: »Der totale Staat ist ein Grenzfall, der nur von einem einzigen Staat erreicht wird: der Sowjetunion. Nur hier umfasst die Staatstotalität alle drei Dimensio-

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Der totalitäre sowjetische Staat schaff te die Differenz zwischen Frau und Mann fast ab. Dort feierte die Kunst, Individuen zu verschmelzen, ihren Höhepunkt. In der Sowjetunion erforschte die Philosophin und Altphilologin Ol’ga Frejdenberg denselben Gegenstand wie ihre westeuropäischen Kolleginnen: den Trojanischen Krieg. Dabei entwickelt Frejdenberg aber kein spezifisches Interesse für den Krieg um Troja. Nur das primäre Bild des Lebens und des Todes war wichtig für sie: »In der Ilias sind die Zweikämpfe mit dem Tod in Kriege verwandelt […] Die Ilias zeigt klar den Zusammenhang von Epos und Drama mit dem Kult der Toten«.15 Frejdenberg beschäftigte sich auch mit der Welt des Narrativs, aber ihr geht es um das totale Narrativ, das alle Differenzen der Seienden negiert. Die sowjetische Wissenschaftlerin erforschte die prähistorische Welt als eine, die keine Unterschiede machte zwischen Objekt und Subjekt, Zeichen und Ding usw. – eine Sorte der totalen Mimikry. In diesem wissenschaftlichen Interesse scheint Frejdenberg Roger Caillois verwandt: Obwohl Frejdenberg nicht den totalen Krieg besingt, preist sie dieselbe totale Welt ohne Differenzen, die auch Caillois entworfen hatte. Symptomatisch für diese Affinität ist auch das folgende Faktum: Als Frejdenberg im Jahre 1930 einen Essay über Thersites – den einzigen Gegner des Kriegs in der »Ilias« publizierte, machte die sowjetische Philosophin ihn nicht etwa wegen seiner pazifistischen »Vernunft« oder seiner sozialen Erniedrigung zum Haupthelden ihres Essays über die Ilias. Frejdenberg sah Thersites als eine Figur des Karnevals: für sie war Thersites der Trickster, der die aktuelle Verbindung zwischen der Humanwelt und ihren prähistorischen Anfängen herstellte. Diese Verbindung, so zeigt Frejdenbergs Argumentation, lag in der permanenten Wiederholung des Anderen – als ob es überhaupt keinen »Anderen« geben würde. Z.B. analysiert Frejdenberg die folgende Situation: der König (Agamemnon) triff t vor der Schlacht den Dummkopf (Thersites), der den Kampfgeist des Königs mit Schimpfworten anstachelt. In diesem Prozess wiederholt Thersites die Schimpfworte eines anderen Königs – von Achilles – so als ob Thersites an die Stelle von Achilles getreten wäre. nen, in denen sich das Menschenleben auswirkt: Politik – Geist – Wirtschaft. Ein volltotalitärer Staat kann nicht nur keine politische Freiheit anerkennen – sondern auch keine Gewissensfreiheit und kein Privateigentum« (CoudenhoveKalergi 1937, 97). 15. Übersetzung aus dem Russischen von Nade žda Grigor’eva, »В »Илиаде« поединки со смертью обращены в войны […] »Илиада« внятно показывает связь эпоса, как и драмы, с культом мертвых и выход из заплачек по умершим, из похоронной хвалы покойнику, победившему смерть; вот почему вся она и состоит из этих подвигов-рукопашных« (Frejdenberg 1997: 235)

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Es scheint, als ob Thersites ständig eine Art Mimikry betreiben würde: »Thersites ist Achilles, Odisseus, Agamemnon, Zeus – und gleichzeitig ist er der Farmak, der Sündenbock, der Narr von Saturnalien etc. – obwohl in dieser Phase noch keine dieser Figuren historisch ausgestaltet werden konnte. Hier ist der Tod – der gute Aspekt des Lebens, hier ist die Hölle – ein Revers des Himmels«.16 Frejdenberg interpretiert Homers »Poem des Krieges« genauso wie Caillois die Militäraktionen deutet – im Krieg findet sie Fest und Regeneration: »Dieser Narrenkönig ist genausoviel der König wie der Sklave; die Idee des Festes ist, der Übergang vom Tode zum Leben darzustellen: Regeneration aus dem gestrigen Sterben […] ins heutige neue Leben […]. Der Narr trägt die Funktionen dieses Überganges, weil er die Personifizierung der Invektive (Geschimpfe – Spötterei), des Lachens und der Dummheit (drei metaphorische Gestalte des fruchtbaren Todes) ist«.17

Während aber Caillois von der »realen« Zerstörung träumt, die die Menschheit ins Goldene Zeitalter zurückführen soll, analysiert Frejdenberg nur die narrativen Strukturen der »Ilias«. In ihrem Hauptwerk »Poetik des Sujets und des Genres« (1936) schreibt sie, dass der Krieg in der »Ilias« nur eine Seite des Kampfes zwischen Leben und Tod ist. Und später, als Frejdenberg sich selbst in der Situation des realen Kriegs fand, fing auch sie – als Philosophin – einen Kampf mit dem Militarismus an. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach und Frejdenberg in Leningrad zusammen mit 3 Millionen anderen Bewohnern eingeschlossen war, begann sie genauso wie Simone Weil oder Hannah Arendt gegen den totalen Krieg zu schreiben. Und es klingt fast, als ob Frejdenberg in ihren Memoiren »Die Belagerung des Menschen« mit Ernst Jüngers Konzept der »totalen Mobilmachung« polemisiert hätte: 16. »…Терсит есть Ахилл, Одиссей, Агамемнон, Зевс – и фармак, жертва

очищения, шут Сатурналий и т.д. – хотя именно в этой ранней стадии еще не могло быть никого из них исторически оформлено. Здесь смерть – благой аспект жизни, преисподняя – реверс неба« (Frejdenberg 1930: 250) 17. »Этот шутовской царь есть столько же царь, сколько и раб; так сказать, идея праздника заключается в том, чтобы представить переход смерти в жизнь, смену старого и нового года, регенерацию из вчерашнего умирания […] в сегодняшнее новое оживание (»царствование«). Функции этого перехода несет шут, как олицетворение инвективы (брани – насмешки), смеха и глупости – трех метафорических передач образа плодородящей смерти« (Frejdenberg 1930: 233).

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»Luftangriffe und Feuerbeschuss waren grausam und unmenschlich. Vom Morgen bis in die Nacht, vom Abend bis zum Morgen wurde die zivile Stadtbevölkerung den Attacken des Todes ausgesetzt. Dreieinhalb Millionen Einwohner wurden in der belagerten Stadt wie in einem Käfig eingesperrt und dienten als Zielscheibe. Oh, es war schrecklicher als an der Front! An der Front gab es keine vierstöckigen Häuser, die mit den Kindern, Frauen und Alten gefüllt wurden. An der Front gab es ein ganzes System von Schutzeinrichtungen und Befestigungen. […] Hier aber wurden Zivilisten wie Opfertiere geschlachtet.«18

Literatur Arendt, Hannah (1986): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München. Arendt, Hannah (1993): Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß. München. Aron, Raymond (1980): Clausewitz, den Krieg denken. Frankfurt a.M. Beauvoir, Simone de (1990): Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Hamburg. Cabaud, Jacque (1968): Simone Weil. Die Logik der Liebe. Freiburg–München. Caillois, Roger (1950): L’Homme et le Sacré. Paris. Caillois, Roger (1963) : Bellone, Ou La pente de la guerre. Bruxelles. Caillois, Roger (1988): Der Mensch und das Heilige. Berlin. Chickering, Roger/Förster, Stig (2005): A world at total war. Global conflict and the politics of destruction, 1937-1945. Washington, DC. Coudenhove-Kalergi, Richard Nicolaus (1937): Totaler Mensch – totaler Staat. Wien. Courtine-Denamy, Sylvie (2000): Three women in dark times. Edith Stein, Hannah Arendt, Simone Weil; or amor fati, amor mundi. Cornell University Press, Ithaca [u.a.]. Förster, Gerhard (1967): Totaler Krieg und Blitzkrieg. Berlin. Frejdenberg, Ol’ga (1930): »Tersit«. In: Jafetičeskij sbornik VI, 231-253. 18. »Налеты и обстрелы были немилосердны и нечеловечны. С утра до ночи, от вечера и до утра мирное население города подвергалось атакам смерти. Три с половиной миллиона жителей было заперто в осажденном городе, как в ящике, и служило мишенью. О, это было страшнее фронта! На фронте не стояли пятиэтажные дома, наполненные детьми, женщинами, стариками. На фронте существовала целая система защит и укреплений. […] Мирных людей […] убивали и ранили, как искупительную жертву« (Frejdenberg 1991: 13).

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Frejdenberg, Ol’ga (1997): Poetika sjužeta i žanra. Moskva. Frejdenberg, Ol’ga (1986): »Budet li moskovskij Njurnberg? (Iz zapisok 1946-1948)«, hg. von Jurij M. Kogan. In: Sintaksis 16, 149-163. Frejdenberg, Ol’ga (1991): »Osada čeloveka«. In: Minuvšee 3, 7-44. Jünger, Ernst (1960): Werke. Bd 5. Essays I. Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart. Kabanov, Annette (2002): Ol’ga Michajlovna Freidenberg (1890-1955). Eine sowjetische Wissenschaftlerin zwischen Kanon und Freiheit. Wiesbaden. Kollontaj, Aleksandra (1917): Komu nužna vojna? Sankt-Peterburg. Lévinas, Emmanuel (1987): Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Freiburg–München. Marx, Karl (1976): »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung«. In: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, Berlin, 378-391. Schmidt, Hajo (1990) Sozialphilosophie des Krieges: staats- und subjekttheoretische Untersuchungen zu Henri Lefebvre und Georges Bataille. Essen. Schmitt, Carl (1985): Der Hüter der Verfassung. Berlin. Schmitt, Carl (1938): Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff. München. Seitz, Jakob Stefan (2002): Hannah Arendts Kritik der politisch-philosophischen Tradition. München. Stites, Richard (1991): The Women’s Liberation Movement in Russia: Feminism, Nihilism, and Bolshevism 1860-1930. Princeton University Press, Princeton. Virilio, Paul/Lotringer, Sylvère (1984): Der reine Krieg. Berlin. Virilio, Paul (2002): Desert Screen. War at the Speed of Light. London [u.a.]. Weil, Simone (1956): Die Einwurzelung. Einführung in die Pflichten dem menschlichen Wesen gegenüber. München. Weil, Simone (1975): Unterdrückung und Freiheit: politische Schriften. München. Weil, Simone (1978): Fabriktagebuch und andere Schriften zum Industriesystem. Aus d. Franz. übers. und eingel. von Heinz Abosch, Frankfurt a.M. Weil, Simone (1987): Aufmerksamkeit für das Alltägliche: ausgewählte Texte zu Fragen der Zeit. München. Weil, Simone (1987): Formative writings: 1929-1941. Hg. und übers. von D. Tuck McFarland, Amherst. Weil, Simone (1991): Oeuvres complètes. Bd. 2. L’expérience ouvrière et l’adieu à la révolution: Juillet 1934 – Juin 1937. Paris. Weil, Simone (1999): Oeuvres. Hg. von Florence de Lussy. Paris.

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Zwischen dem pr ivaten und dem staatlichen Menschen. Die Mechanisierung des Menschen und der Exzess der Freiheit in Józef Wittlins und Andrzej Bobkowskis Kr iegsnarrationen Renata Makarska (Tübingen)

»Es existiert in unserer Zivilisation etwas, was ich Kadaverismus nennen würde«1, schrieb Józef Wittlin (1896-1976) in seinem Kleinen Kommentar zum Roman Sól ziemi (Das Salz der Erde) im Jahre 1936. Diese Aussage wiederholte er 35 Jahre später (1970) – mit dem Unterschied, dass er bereits von der ›sogenannten Zivilisation‹ sprach (Wittlin 1991: 290).2 Mehrmals kommentierte der polnische Schriftsteller und Übersetzer seinen den Beginn des Ersten Weltkrieges markierenden Roman; auch einige seiner Essays, die in den 1920er Jahren entstanden sind, beziehen sich auf das Thema ›Krieg‹. Während der Arbeit an Sól ziemi (1925-1935), also während sich Wittlin die Alltagsbegebenheiten der Kriegsjahre anhand der Zeitungsberichte vergegenwärtigte3, erlebte er Hitlers Machtergreifung. Dadurch be1. »Istnieje w naszej cywilizacji coś, co nazwałbym kadaweryzmem« (Wittlin 1991: 290). 2. »W naszej tak zwanej cywilizacji utrwaliło się coś, co nazwalibyśmy kadaweryzmem…«, zit.n.: Wittlin 1991: 294 (Postscriptum do Soli ziemi); in der deutschen Übersetzung des Postscriptums wurde die Formulierung »tak zwanej« leider weggelassen (Wittlin 1986: 386). 3. Wittlin, der eigene Kriegserfahrungen gemacht hat (er diente 1916-1918 in der österreichisch-ungarischen Infanterie), musste während der Arbeit am

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kam der Text einen fast manifestartigen Antikriegscharakter: Er sprach sich nicht nur gegen den Krieg als solchen, sondern auch gegen den Staat aus, der den einzelnen Menschen zum Körper degradiert, zum Teil der Biomasse umwandelt, um ihn anschließend in den Kriegen zum ›Kadaver‹ zu machen. Das wichtigste Element von Wittlins Kriegsbild ist m.E. die Gegenüberstellung des Menschen als private Person (die sich selbst und seiner Menschlichkeit verpflichtet ist) und des Menschen als Bürger (mit seinen Pflichten dem Staat gegenüber): »…die Moral eines Individuums, also eines Menschen, lässt sich nicht mit der Moral eines Bürgers vereinbaren«, schreibt Wittlin in dem Kleinen Kommentar. 4 Sichtbar hängt seine Abneigung gegen die Institution des Staates sowie gegen das Militär mit der Auffassung des Expressionismus zusammen, der jede Art des ›staatlichen Gemeinsystems‹ ablehnte und diese mit ›Mauern‹, ›Grenzen‹ sowie mit dem Prinzip ›Gewalt‹ assoziierte (Rothe 1977: 19f.).5 Der Konflikt Mensch – Bürger oder eigentlich Individuum – Staat bildet auch einen der wichtigsten Themenbereiche der Tagebücher Szkice piórkiem (dt. Wehmut? Wonach zum Teufel?) von Andrzej Bobkowski (1913-1957), die 1940-1944 im besetzten Frankreich entstanden und 1957 in Paris veröffentlicht wurden. Gattungsspezifisch verfolgen Szkice piórkiem andere narrative Muster als Wittlins Roman: Sie stellen eine Chronik des Lebens im ›freien‹ französischen Süden sowie im besetzten Paris dar, vor allem aber sind sie der Ort der kultur- und zivilisationskritischen Reflexion. Bobkowskis Tagebuchaufzeichnungen konzentrieren sich nämlich nicht nur auf die Ereignisse des Krieges, also auf den Ausnahmezustand, sondern auch Roman noch viele Recherchen durchführen, vgl. Wittlin 1986: 385: »Ich durchstöberte die Memoiren und Tagebüchern von Kriegsteilnehmern, ich stöberte in alten Zeitungen, ich schaute mir Stiche und Fotografien aus den Jahren 19141918 an, ich mußte mein Vorstellungsvermögen künstlich anstacheln, um ein Abbild jener eigentlich nicht so fernen Ereignisse in mir wachzurufen.«/Wittlin 1991: 293: »Szperałem w pamiętnikach i dziennikach kombatantów, w starych gazetach, ogl ądałem ryciny i fotografie z lat 1914-1918, musiałem sztucznie podniecać wyobra źnię, żeby wywołać w niej kliszę owych, tak niedawnych stosunkowo, wydarzeń.« 4. »…moralność jednostki, a więc człowieka, nie daje się pogodzić z moralnością obywatela«, Wittlin 1991: 288f. 5. Vgl. Anz 2002: 124-127, 132-141 sowie zu Wittlin – Jakowska 1977. Wittlin kannte sich sehr gut mit der deutschsprachigen expressionistischen Literatur aus, selbst zählte er jedoch nicht zu den Theoretikern des Expressionismus. Außer Sól ziemi weisen vor allem seine Hymny (Hymnen) zahlreiche Elemente der expressionistischen Poetik auf. Vgl. Wiegandt 1991: XIII-XXIV.

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auf die sogenannte ›Normalisierungsgesellschaft‹ (Foucault) danach.6 Die Gegenüberstellung bzw. der Konflikt: Mensch – Bürger (człowiek – obywatel) betriff t seines Erachtens beide Zustände. Ausgehend von der These, dass die Kriegsreflexion in beiden Texten auf den Konflikt Mensch – Bürger fokussiert ist, möchte ich folgende Aspekte dieses Konflikts genauer untersuchen: die Mechanisierung (und Disziplinierung) des einzelnen Menschen, die Angst und die Subordination (den Gehorsam) im Dienste des Krieges, die Apathie und Willenlosigkeit der Soldaten-Bürger sowie die Konstruktion des Feindes. Schließlich möchte ich auch die Versuche der beiden Texte schildern, gegen Mechanisierung, Angst und Apathie vorzugehen. Die Kritik, die sich in den Texten gegen den Krieg richtet, meint, wie bereits erwähnt, eigentlich den Staat und – noch allgemeiner – die (westliche) Zivilisation. Die Unterordnung des Menschen unter den Staat ist nämlich – so die Aussage von Sól ziemi und Szkice piórkiem – ein »Unrecht, das sich der Mensch selbst antut«.

Die Mechanisierung des Menschen Im Roman Sól ziemi, der an der Peripherie der k. u. k. Monarchie – in den Ostkarpaten – spielt, wird der Krieg mit den Augen eines einfachen Menschen, des Protagonisten Piotr Niewiadomski, gesehen. Der Krieg (bisher in der Gegend unbekannt) kündigt sich ihm mit einem Schreiben des Kaisers (der Kriegseinberufung) an. Obwohl Niewiadomski eine für die multiethnische Gegend typische hybride Figur darstellt (er versteht sich zum Teil als Huzule, zum Teil als Pole), hält er sich für einen treuen Untertanen des Kaisers. Und obwohl er ein Analphabet ist, folgt er gehorsam dem kaiserlichen Schreiben, das er für einen persönlichen Brief hält: Der Protagonist glaubt fest an die ihm vorgelesenen Zeilen wie an Gottes Worte. Der Kaiser ist für ihn allgegenwärtig wie Gott, dessen Bildnis in jeder Stube hängt – das Staatswappen ist überall zu sehen7: »der schwarze doppelköpfige Vogel, der Adler mit den drei Kronen« (Wittlin 1986: 15) ruht über allem 6. »Ein wirkliches Chaos wird nach dem Krieg beginnen« schreibt Bobkowski am 5. Mai 1943, vgl. Bobkowski 2007: 408. Wie erwähnt erschienen die Tagebücher zuerst 1957 in Paris, eine zweite Exilausgabe wurde 1985 in London veranlasst, in Polen waren in den 1980er Jahren Samizdat-Exemplare des Buches im Umlauf, die erste offizielle Veröffentlichung erfolgte dann 1996, ich zitiere die Ausgabe aus dem Jahr 2007. 7. Wittlin 1986: 66: »Plötzlich schaute Kaiser Franz Joseph Piotr Niewiadomski an. Er schaute vom Kreuz herunter, das auf dem Hemd des Gendarmen an einem rot-weißen Bändchen hing.«

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wie der Heilige Geist. Ähnlich wie Gott kennt der Kaiser alle Menschen beim Namen8 und er verschickt an sie ›persönliche Briefe‹: »Więc tak? Więc cesarz o mnie wie? Wie, że w gminie Topory-Czernielica, w śniatyńskim powiecie, na linii Lwów-Czerniowce-Ickany, ż yje i od wielu lat wiernie Mu słu ż y tragarz Piotr Niewiadomski, syn Wasyliny? Więc cesarz mnie zna? Potrzebuje mnie i dlatego pisze do mnie: pan? Pan Piotr Niewiadomski! Ładne słowo! I widział cesarza, jak siedzi we Wiedniu, w swojej kancelarii […] i pisze listy do wszystkich Hucułów. Do panów Hucułów.« (Wittlin 1991: 58) »So ist es also? Der Kaiser weiß von meiner Existenz? Er weiß, daß in der Gemeinde Topory-Czernielitza, im Bezirk Śniatyń, auf der Linie Lemberg-Czernowitz-Itzkany, der Träger Piotr Niewiadomski, der Sohn Wasylinas, lebt und ihm treu seit zwanzig Jahren dient? Er kennt mich also, der Kaiser? Er braucht mich, deswegen schreibt er mir: Herr? Herr Piotr Niewiadomski! Ein schönes Wort! Und Piotr sah den Kaiser, wie er in Wien in seiner Kanzlei sitzt […] und Briefe schreibt an alle Huzulen. An >die Herren< Huzulen.« (Wittlin 1986: 69)

Niewiadomskis Vorstellung von einer Individualbeziehung zwischen Mensch und Kaiser, zwischen Bürger und Staat muss sich bald als naiv erweisen. Dem Schreiben folgend macht der Protagonist drei Stationen der Kriegsvorbereitung durch: Er fährt zur Musterung, dann im Viehwaggon zur Kaserne, schließlich unterzieht er sich der Umwandlung vom Menschen in einen Soldaten. Der Roman geht von der Schilderung des Menschen als einem individuellen Körper unmittelbar zur Darstellung des ›menschlichen Materials‹ über – die naive Perspektive des Protagonisten wird durch die des allwissenden Erzählers komplementär ergänzt. »W owych dniach ciała mężczyzn wa żono i mierzono. Sortowano je podług gatunków, przebierano jak kartofle, jak owoce strz ąśnięte z drzewa ż ywota. Brano je masowo: kopami, cetnarami, wagonami, odrzucając wszystko, co nieudane, nadpsute, chore. Wielki bowiem urodzaj był na ludzkie ciała od ostatniej wojny.« (Wittlin 1991: 60) »In jenen Tagen wurden die Körper der Männer gewogen und gemessen. Man sortierte sie nach Gattungen, man klaubte sie aus wie Kartoffeln, wie Früchte, vom Baum des Lebens geschüttelt. Man nahm sie in Massen: schockweise, zentnerweise, waggonweise, und warf alles weg, was ungeraten war, verdorben,

8. Vgl. Jesaja 43:1.

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krank. Denn groß war seit dem letzten Krieg die Saat an menschlichen Körpern.« (Wittlin 1986: 71)

Der individuelle Körper hat demzufolge keine Bedeutung mehr, er wird zu einem Teil der Biomasse, die der Staat im Krieg einsetzt (daher Wittlins Bezeichnung »Kadaverismus«). Dieser Körper wird in Sól ziemi gemessen, gewaschen und angezogen, mit einer Nummer versehen, dann diszipliniert und gedrillt. Er »geht in eine Machtmaschinerie ein, die ihn durchdringt, zergliedert und wieder zusammensetzt«, schreibt Michel Foucault über die Disziplinierung des Soldatenkörpers (1994: 176). Der Umwandlung in einen Soldaten wird ein fast religiöser Charakter verliehen – so erfolgt auch ihre Legitimierung. Der Mensch wird für den Krieg auserwählt und empfängt mit Liebe seine Attribute: »Jedes Mannes Leib muss, bevor er die Uniform anlegt, ein reinigendes Bad nehmen, wie der Leib eines Weibes, bevor es den Liebhaber empfängt« (Wittlin 1986: 24)9 – das Wort ›oblubieniec‹ steht fast ausschließlich für den göttlichen Liebhaber. Auf diese Weise entstehen die ›heiligen‹ Mörder (›święci‹ zabójcy), die für den Staat »mit strahlendem Blick ihr Leben lassen« (Wittlin 1986: 330). Die letzte Konsequenz einer solchen Mechanisierung des Menschen bildet eben der Tod an der Front, im Roman als »der gesunde Tod« (Wittlin 1991: 264) bezeichnet. Die Diagnose, die Wittlin bereits in dem Essay Wojna, pokój i dusza poety (Krieg, Frieden und die Dichterseele, 1923-1924) formulierte, »der Tod [sei] vom Staat monopolisiert, wie der Tabak, der Alkohol und die Streichhölzer« (Wittlin 1986: 346)10, wird auch in Sól ziemi bestätigt. Der Tod wird einerseits den Bürgern vom Staat untersagt, andererseits wird er, wenn es sich um die ›ausländischen Menschen‹ handelt, eingesetzt: »Aus dem Verbrechen des Tötens wird im Handumdrehen die Tugend des Soldaten« (Wittlin 1986: 329). Die Erlaubnis und den Befehl, zu töten, erhält der Mensch-Soldat durch die »staatliche Verpackung der Körper« (Wittlin 1986, 275).11 Der Staat mechanisiert den Menschen also für den tödlichen 9. Wittlin 1991: 235: »Ciało mężczyzny, nim włoż y mundur, musi wziąć oczyszczającą kąpiel jak ciało niewiasty, na przyjęcie oblubieńca«. 10. Der selbe Satz findet sich auch paraphrasiert in Sól ziemi wieder: »Cesarz bowiem miał monopol nie tylko na tabakę i sól, lecz i na ubój ludzi« (Wittlin 1991: 246); die deutsche Ausgabe überträgt ›ubój ludzi‹, wörtlich ›Abschlachten der Menschen‹, als ›Töten der Menschen‹: »Der Kaiser besaß nämlich das Monopol nicht nur Tabak und Salz, sondern auch für das Töten der Menschen« (Wittlin 1986: 275). 11. Wittlin 1991: 275: »Er konnte es gut verstehen, daß man in einer Uniform einen Menschen töten darf, und nur in der Banderole, in staatlicher Ver-

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Dienst und zeigt stets ein »reges Interesse am Verbrechen und an der Kontrolle des Verbrechens« (Wittlin 2000: 31). In Bobkowskis Tagebuch kommt das Problem der Mechanisierung des Menschen schon sehr früh zum Ausdruck. Es wird jedoch nicht nur mit dem Zustand des Krieges in Zusammenhang gebracht, sondern betriff t jede Form der Machtausübung und wird als generell typisch für die westliche Zivilisation angesehen. Eine solche Einbettung des Krieges in einen breiteren Kontext ist sicherlich durch Bobkowskis biographischen Hintergrund beeinflusst worden: Anders als Józef Wittlin wurde er nicht in die Armee einberufen; die Kriegsjahre hat er als Zivilist in Frankreich erlebt.12 In einem längeren Gespräch erklärt das diaristische (intellektuelle) Ich seinem (eher proletarischen) Begleiter Tadzio die Quellen und die Entwicklung der europäischen Kultur, auch ihren momentanen Zustand, den er nicht Totalitarismus, sondern ›Totalismus‹ nennt: »Für den Totalismus gibt es nichts Unantastbares, und du bist als Mensch nicht als erstes Tadzio, sondern – je nach deinen Fähigkeiten – eine Schaufel, eine Spitzhacke, ein Schraubenzieher oder eine Feile« (Bobkowski 2007: 59).13 Die Eigenschaften des ›Totalismus‹ schreibt er keinesfalls nur den totalitären Mächten zu, der ›Totalismus‹ ist für ihn allgegenwärtig und betriff t mehr als irgendein gesellschaftliches System »die Formation der Seele und des Geistes des Bürgers« (Bobkowski 1970: 82). Der Figur des Bürgers, der vom Staat erschaffen worden ist und dem Staat dient, stellt Bobkowski die Figur des Menschen, der sich nicht von der staatlichen Macht zum Gehorsam zwingen lässt, entgegen.

packung sozusagen, ist der Tod für den Kaiser gültig.«/Wittlin 1986: 246: »[Niewiadomski] dobrze rozumiał, że tylko w mundurze wolno zabijać człowieka, i tylko w banderoli, w państwowym opakowaniu ciał, wa żna jest śmierć za cesarza«. 12. Offen bleibt nach wie vor die Frage, warum Bobkowski nicht in die Armee eingezogen worden ist. Er selbst gibt an, sich gemeldet zu haben, aber einfach nicht genommen worden zu sein, vgl. Bobkowski 2007: 28; Basil Kerski versucht dies mit den »Querelen innerhalb der polnischen politischen Elite« zu erklären, Bobkowskis Onkel war nämlich in Polen vor dem Zweiten Weltkrieg Vize-Transportminister, vgl. Kerski 2000: 356. 13. »Dla totalizmu nie ma nic nietykalnego, a ty jako człowiek, zale żnie od twoich umiejętności, nie jesteś przede wszystkim Tadziem, lecz tylko łopat ą, kilofem, śrubokrętem, pilnikiem itd.« Wenn nicht anders angegeben, stammt die Übersetzung von der Verfasserin. Der 2000 veröffentlichte erste Band der Tagebücher (Jahre 1940-1941) bietet lediglich eine Auswahl des Textes.

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Angst, Gehorsam und Apathie Im Prozess der »Mechanisierung des Menschen für den tödlichen Dienst« (Wittlin 2000: 31) ist das Erzeugen der Angst besonders behilflich, die Angst wird zusätzlich durch den Eid intensiviert, den die Soldaten (auch der Protagonist Niewiadomski) zu leisten haben. Das Wissen darüber bildet den ersten Schritt der Erkenntnis des Krieges: »I nagle zrozumieli cywile, że w tej kadrze gospodarzem jest strach. On zarz ądza całym tym folwarkiem wojny, do niego prowadzi przysięga, uroczyście złożona cesarzowi. Strach, strach zamienia ż ywych ludzi w sztywne czworoboki, w rytmicznie maszerujące kolumny. Wszystkie te piękne marsze, defilady, powstają z ludzkiego strachu.« (Wittlin 1991: 183) »Und plötzlich verstanden die Zivilisten, daß in dieser Kaserne die Angst Herr ist. Zu ihr führt der Eid, den sie dem Kaiser feierlich geleistet haben. Angst, Angst verwandelt lebendige Menschen in steife Vierecke, in rhythmisch marschierende Kolonnen. All diese schönen Märsche und Paraden entstehen aus menschlicher Angst.« (Wittlin 1986: 205)

Die größte Angst haben die in diesem Zitat erwähnten Zivilisten paradoxerweise nicht vor dem Kaiser und nicht vor dem Tod – die größte Angst haben sie vor der SUBORDINATION (sie wird ähnlich wie der STAAT in Sól ziemi groß geschrieben), vor der Unterordnung, Disziplinierung, dem Gehorsam, die zu einer Entfremdung des Menschen führen. Zum Verständnis dieser Subordination bietet sich Foucaults Begriff der apatheia an, den er in seinem Vortrag Omnes et singulatim. Zu einer Kritik der politischen Vernunft im Zusammenhang mit der Beschäftigung mit christlichem Gehorsam einsetzt. Sie bedeutet im griechischen Christentum – ähnlich wie ursprünglich in der Philosophie – den Zustand der »Herrschaft, die das Individuum dank seiner Vernunft über seine Leidenschaften ausübt« (Foucault 2005: 201). Im Fall eines Soldaten wird »die Herrschaft über die Leidenschaften« jedoch an die Vorgesetzten übertragen, deren Anordnungen der Soldat gehorsam befolgen muss: Der Gehorsam führt also unmittelbar zum Zustand der apatheia. Das Ordensgelübde, welches das Verhalten der Mönche regelt, lässt sich an dieser Stelle vorsichtig mit dem Eid vergleichen, den ein Soldat dem Staat gegenüber leistet. Die apatheia (Apathie) kann jedoch im Fall eines Soldaten leicht zur Willenlosigkeit oder Teilnahmslosigkeit werden. Während Sól ziemi zuerst die Apathie eines Menschen-Bürger-Soldaten diagnostiziert, gehen die Kriegsaufzeichnungen Szkice piórkiem einen Schritt weiter und argumentieren bewusst gegen die Apathie des Gehor121

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sams, gegen die Willenlosigkeit. Das Tagebuch-Ich versucht sich selbst der Angst zu entziehen – der Angst im Krieg: »Die Deutschen müssen nichts organisieren, niemanden zu etwas zwingen; sie MACHEN ANGST. Der Rest geschieht von alleine. […] Ich spüre, dass ich selber auch zusammenbrechen würde, wenn ich Angst hätte. Und daher will ich keine Angst haben« (Bobkowski 2000: 250).14 In Bobkowskis Reflexion ist die Angst nicht nur das Mittel der Disziplinierung des Menschen im Kriegszustand, sie ist das Schlüsselwort seiner Zivilisationskritik überhaupt, sie wird als das einzig wahre Gefühl gehandhabt, das im Abendland überhaupt noch wahrgenommen wird: »Der ganze Fortschritt fraß sich ins Blut mit dem einzigen großen und wahren Gefühl ein – mit der ANGST« (Bobkowski 2007: 352).15 Gegen diese Angst setzt der Diarist die Mittel der jugendlichen Vitalität, der Kraft, des sportlichen Körpers und schließlich auch des Abenteuers ein. Besonders stark kommt dies in den Aufzeichnungen vom Sommer 1940 zum Ausdruck, die Bobkowskis abenteuerliche Rückkehr (Fahrradtour) von Carcassonne nach Paris dokumentieren. Der Protagonist möchte nicht im ›freien‹ Süden, wo er kurz nach Frankreichs Kapitulation zusammen mit polnischen Mitarbeitern einer Pariser Munitionsfabrik evakuiert worden ist, bleiben. Er fasst den Entschluss, in die besetzte Hauptstadt, wo seine Frau alleine geblieben ist, zurück zu kehren. Die Fahrradtour nach Paris (über Montpellier, Tulon, Le Lavandou und Monte Carlo) wird zu einem Fest des individuellen, jungen und sportlichen Körpers, zu einem Fest der Freiheit – trotz des Krieges, dem Gehorsam zum Trotz: »Es ist herrlich, jung zu sein und sich straflos, nur zum Vergnügen, quälen, ziellos quälen zu können, aus reiner Freude am Leben«, schreibt er am 19. September 1940 im Alter von 27 Jahren (Bobkowski 2000: 180).16 Bobkowskis diaristischer Protagonist versucht etwas gegen die Apathie der beschränkten Bewegungsfreiheit zu unternehmen und wählt nicht unbedingt den kürzesten Rückweg nach Paris. Anstatt der patriotischen Pflicht folgt er seinem Bedürfnis nach Freiheit und Unabhängigkeit.17 14. »Niemcy nie musz ą niczego organizować, do niczego zmuszać ; oni

STRASZ Ą. Reszta robi się sama. […] Czuję, że gdybym się bał, runąłbym przed samym sobą. I dlatego NIE CHCĘ się bać« (Bobkowski 2007: 155). 15. »Cały postęp w ż arł się w krew jedynym wielkim i prawdziwym uczuciem – STRACHEM.« 16. Bobkowski 2007: 114: »Tak przyjemnie być młodym i móc bezkarnie męczyć się dla przyjemności, męczyć się bez celu, dla radości ż ycia«. 17. Ein Jahr später schreibt er erneut: »…ich könnte vor kindischer Freude und Leichtigkeit beinahe zerspringen. Alles gefällt mich, alles ringsum ist Musik. […] Ich fühle mich wohl, weil ich jung bin und stark; ich fühle mich wohl, weil ich ich selber bin und so frei denke wie nie zuvor.« (Bobkowski 2000:

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Der Mensch, als Feind bezeichnet In den beiden Texten, die zwar verschiedene Kriege thematisieren, jedoch fast identisch die einzelnen Facetten des Konflikts zwischen Mensch und Bürger ausspielen, bleibt ein für die Kriegsnarrative wichtiger Platz unbesetzt – der des Feindes. Sowohl der Roman von Józef Wittlin als auch Bobkowskis Tagebuch halten »den Feind« für ein Konstrukt, das ausschließlich zum Zweck des Krieges ins Leben gerufen wird – von den »selbsternannten Sprechern der Völker« (Wittlin 1986: 327). Sie verstehen den Feind keinesfalls als eine notwendige Kategorie des Politischen, wie dies Carl Schmitt Anfang der 1930er Jahren formulierte. »Der Feind« erscheint sowohl in Sól ziemi als auch in Wittlins Essays immer in Anführungszeichen, manchmal sogar ist von dem »sogenannten Feind« die Rede. 1970 schreibt Wittlin über sich selbst in dem erwähnten Postskriptum: »Er hat wie die Mehrheit seiner Kameraden keinen Haß gegen die Feinde empfunden, die er in den Russen, Italienern, Serben und Rumänen sehen sollte. Im Gegenteil – er hat sich während dieses Krieges mit den russischen Kriegsgefangenen befreundet« (Wittlin 1986, 388).18 Auch sein Protagonist Niewiadomski, ein Analphabet, der die linke Hand nicht von der rechten unterscheiden kann, tut sich mit »dem Feind« schwer: Zwar kennt er persönliche Feinde, aber keine ›Staatsfeinde‹. Von dem Feind im Krieg hat er keine wirkliche Vorstellung: »Man sagt, der Russe muß geschlagen werden, weil er orthodox ist und statt des Heiligen Vaters in Rom sein Väterchen, den Zaren, anerkennt…« (Wittlin 1986: 147).19 Seine einzige Vorstellung von dem ›Feind‹ entnimmt er ›künstlerischen‹ Darstellungen – Zeichnungen oder Bildern: »Piotr Niewiadomski […] ostatnim wysiłkiem słabnących ramion spychał przeciwnika na dno. Przeciwnik raz był Moskalem z długą brodą, […] to znów wąsa299f.)/»[…] rozsadza mnie jakaś głupia radość i lekkość. Wszystko mi się podoba, wszystko wokoło jest jak muzyka. […] Dobrze mi, bo jestem młody i silny; dobrze mi, bo jestem sobą i myślę tak swobodnie jak nigdy dot ąd« (Bobkowski 2007: 189). 18. Schon wieder ist die deutsche Übersetzung ungenau und verzichtet auf die doch sehr wichtigen Einführungszeichen, ohne die das Wort ›Feind‹ bei Wittlin kaum vorkommt, vgl. Wittlin 1991: 295: »Podobnie jak większość jego kamratów nie czuł on ż adnej nienawiści do ›wrogów‹, za jakich kazano mu uwa ż ać Rosjan, Włochów, Serbów i Rumunów. Przeciwnie: w czasie tej wojny zaprzyja źnił się z rosyjskimi jeńcami…« 19. Wittlin 1991: 131: »Mówią, że Moskala trzeba bić, bo on prawosławny i zamiast Ojca Świętego w Rzymie uznaje swego batiuszkę cara…«.

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tym Serbem o nadludzkiej sile. […] Przypomniała mu się widocznie jakaś stara rycina z wojny bałkańskiej.« (Wittlin 1986: 87f.) »Piotr Niewiadomski […] stieß […] mit letztem Kraftaufwand seiner geschwächten Arme den Gegner in die Tiefe. Der Gegner war einmal ein Russe mit einem langen Bart, […] dann wiederum ein schnurrbärtiger Serbe von übermenschlicher Kraft. […] Es kam ihm wahrscheinlich irgendein altes Bild aus dem Balkankrieg in Erinnerung.« (Wittlin 1991: 101f.)

Bobkowski benutzt das Wort »Feind« lediglich als ein Teil der Kriegspropaganda – den Krieg hält er für eine völlige Kompromittierung der ganzen abendländischen Zivilisation. Es gibt in ihm daher keine Freunde und Feinde, sondern ausschließlich Kompromittierte: Im gleichen Atemzug werden Deutschland, Frankreich und England genannt. Um wieder mit Wittlin zu sprechen – »er klagt die ganze menschliche Natur an, der Ankläger ist gleichzeitig der Angeklagte« (Wittlin 2000: 25).

Ausweglosigkeit? – Das Unrecht, das sich der Mensch selbst antut Der Staat macht also durch seine Machttechnologie den individuellen Menschen zu einem Teil der Biomasse. Dies betriff t sowohl den Krieg als Ausnahmezustand im Wittlins Roman als auch die Normalisierungsgesellschaft (Foucault) in Bobkowskis Reflexion über das Nachkriegseuropa. In beiden Situationen wird der Mensch der Technologie des Staates ausgesetzt und muss sich ihr fügen. Die Moral des Individuums lässt sich dabei nicht mit der Moral eines Bürgers vereinbaren, schreibt Wittlin in dem Kleinen Kommentar zu Sól ziemi (Wittlin 1991: 288f.). Dort, wo sich die beiden Moralordnungen jedoch freiwillig begegnen und in Harmonie nebeneinander existieren, lässt sich beobachten, wie der Wert des menschlichen Individuums abnimmt: »ein Verwandeln der Geister, Herzen, Charaktere, Geschmäcker und Emotionen in eine Kaserne«.20 Die Ausweglosigkeit dieser Situation wird in Sól ziemi immer wieder angesprochen – wie gut wäre es, wenn der Mensch zwei Leben hätte und nicht wählen müsste: »Jakby to było dobrze, gdyby człowiek miał dwa ż ycia: Jedno dla cesarza, dla ojczyzny, a drugie dla siebie. Oddawszy ż ycie dla cesarza, na l ądzie, na wodzie, lub w powietrzu – zawsze jeszcze mógłby wrócić do domu z drugim ż yciem. A tak – ani sobie dogodzić nie można, ani cesarzowi. Chcesz ż yć, dezerterujesz 20. Ebenda: »Koszarowanie umysłów, serc, charakterów, gustów i uniesień.«

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– krzywdzisz cesarza, i cesarz funduje ci za to kulę w łeb. Jego prawo, boś przysięgał. I gnijesz w ziemi. A pchasz się na front, leziesz w najgorszy ogień – krzywdzisz siebie i te ż le ż ysz w ziemi. I tak źle, i tak źle.« (Wittlin 1991: 153) »Wie gut wäre es, wenn der Mensch zwei Leben hätte: eines für den Kaiser, das Vaterland, und das zweite für sich selbst. Nachdem man das Leben für den Kaiser, zu Lande, zu Wasser oder in der Luft geopfert, könnte man immer noch mit dem zweiten Leben nach Hause zurückkehren. Und so kann man es weder sich noch dem Kaiser recht machen. Willst du leben, fliehst du – tust du dem Kaiser Unrecht, und der Kaiser spendiert dir dafür eine Kugel in den Kopf. Sein Recht ist es, denn du hast geschworen. Und du wirst in der Erde faulen. Und drängst du dich an die Front, kriechst in das schlimmste Feuer – tust du dir Unrecht und liegst auch in der Erde. Es ist so und so schlecht.« (Wittlin 1986: 171)

Eben gegen dieses Unrecht, das der Mensch sich selbst antut, schreibt Bobkowski in seinem französischen Tagebuch an. Er betreibt Zivilisationskritik, eine Unterstützung hierfür findet er in seinen Kriegslektüren: Bobkowski liest Comentarii de bello Gallico und vergleicht dabei Cäsar mit Hitler (14.08.1940).21 Aus der Kritik zieht er wesentliche Schlussfolgerungen für seine individuelle Moral und sein künftiges Leben. Der Protagonist der Tagebücher meldet sich nicht aus der Verpflichtung dem Vaterland gegenüber zur Armee, sondern aus Angst, als Deserteur zu gelten.22 Bei dieser Motivation handelt es sich keinesfalls um eine Absage an die Pflichten eines politischen Menschen, sondern um eine vollkommene Ablehnung der Mechanisierung (Normalisierung) des Menschen durch den Staat (durch seine Politik leben zu machen, sterben zu lassen; vgl. Foucault 1977: 165). Der Tagebuchschreiber lehnt nicht die Verantwortung für die Heimat (ojczyzna), sondern das Prinzip der Heimat selbst ab.23 Der Bürger, der der 21. »Caesar ist schrecklich. […] Ich lese es voller Haß. Sein Latein ist mir genauso widerlich wie das Deutsch von Hitlers ›Mein Kampf‹. Die Bücher haben gewisse Ähnlichkeiten. Beide Autoren ergötzen sich daran, jemanden zu unterjochen. In beiden Büchern findet man dieselbe Heuchlerei, dieselbe Lüge und Brutalität.« (Bobkowski 2000: 73)/»Cezar jest okropny. […] Czytam to z nienawiścią. Jego łacina jest mi tak samo wstrętna jak niemiecki z ›Mein Kampf‹ Hitlera. Te książki mają w sobie coś pokrewnego. I jeden, i drugi zbawiają podbojem. Ta sama jest w nich obłuda, to samo kłamstwo i buta« (Bobkowski 2007: 48). 22. Ähnlich wie der Protagonist in Gombrowiczs Roman Trans-Atlantik, der nach der Ankunft in Argentinien sich mit seinem Verhalten der dortigen polnischen Diaspora fügen möchte. 23. Vgl. Bobkowski 2007: 417: »Anstatt ein homo sapiens zu sein, gehören

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Heimat dient, erlebt sich nicht mehr als ein Individuum, er dient nur noch dem Staat: »Europejczyk […] stał się posłuszny Państwu i Państwom obcym. […] I uwierzył ju ż, że spokojne, ›kulturalne‹ stosowanie się do coraz to nowych ustaw i przepisów Państwa jest właśnie dowodem kultury. […] Europejczyk, który nie chce być wolnym, przestaje być Europejczykiem. Aby nim pozostać, musiałem wyjechać« (Bobkowski 1970: 80), »Der Europäer […] hat sich dem STAAT und den fremden STAATEN gefügt. […] Und er glaubt bereits, dass ein ruhiges ›kultiviertes‹ Anwenden von immer neuen Gesetzen und Anordnungen des STAATES eben ein Zeichen der Kultur sei. […] Ein Europäer, der nicht frei sein möchte, hört auf, Europäer zu sein. Um einer zu bleiben, musste ich wegfahren«,

schreibt Bobkowski 1949 bereits aus Guatemala und entwirft den Begriff eines rationalen Ungehorsams (racjonalne nieposłuszeństwo), der sicher nicht mit den Pflichten eines guten Bürgers zu vereinbaren wäre. Dort, wo Wittlins Roman eine Ausweglosigkeit diagnostiziert, tendiert Bobkowskis Narration zu einer kompromisslosen Entscheidung.

R ÜCK WANDLUNG VOM B ÜRGER ZUM M ENSCHEN . D A S L EBEN IM J E T Z T Der Krieg führt bei Bobkowski zu einer Entfremdung von der abendländischen Kultur und zu einer beschleunigten philosophischen Reifung. Er verlässt Polen noch vor dem Ausbruch des Krieges, ähnlich dem Protagonisten in Gombrowiczs Trans-Atlantik, und geht nach Frankreich, wo er sich von dem Zwang »der Heimat dienen zu müssen« lösen möchte. ›Erlöst‹ wird er aber gleichzeitig von seiner Begeisterung für die französische Kultur und von seiner Achtung gegenüber der abendländischen Zivilisation.24 Das Tagebuch-Ich trennt sich von seiner Vergangenheit, von Frankwir zur Rasse eines homo polacus, zu jener menschlichen Rasse, die von der Heimat verblödet und zu Kretins eines krankhaften Patriotismus und Nationalismus verkommen ist« (6.7.1943)/»Zamiast być ›homo sapiens‹, nale ż ymy do rasy ›homo polacus‹, do rasy ogłupionej ojczyzną, do kretynów chorobliwego patriotyzmu i nacjonalizmu«. 24. Bobkowski 2000: 143: »Schon nach sechsundzanzig Jahren, in so jungem Alter, kommt mir Europa zu den Ohren und der Nase heraus… Es tut mir leid, dass ich es nicht mehr geschafft habe wegzufahren.« (13.9.1940)/Bobkowski 2007: 92: »Ju ż po dwudziestu sześciu latach, w tak młodym wieku, Europa

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reich, von Europa. Der erste Eintrag dieser Art stammt bereits vom 9. Juni 1940: »Ich habe das Gefühl, daß ich […] für immer von allem Abschied nehme: von diesem Frankreich, das wie ein Traum schien und nun wie ein Traum zerstoben ist; von meiner ganzen Jugend – vielleicht von der ganzen Epoche« (Bobkowski 2000: 15).25 Der durch den Staat entfremdete Mensch kommt zu einer Erkenntnis über sich selbst sowie über die Welt und trennt sich – in Konsequenz dessen – von sich selbst und von eben dieser Welt. Das Ich empfindet diese Trennung als eine Erlösung und Befreiung: Diese Trennung geschieht ›endlich‹ und sie ist ›wunderbar‹: »Teraz, kiedy to piszę, czuję, że pękło coś we mnie. Może nast ąpiło zerwanie z przeszłością. Nareszcie. Jestem wolny w tym zamieszaniu. Może nawet zerwałem z samym sobą. Wspaniale. Rozpiera mnie. Żal? Za czym, do diabła? Za tamtym ż yciem? To był koszmar, bezustanne duszenie się.« (Bobkowski 2007: 24f.) »Jetzt, in dem Augenblick, da ich es niederschreibe, spüre ich, daß da etwas in mir gerissen ist. Vielleicht ist das der Bruch mit der Vergangenheit. Endlich. Ich bin frei in diesem Durcheinander. Vielleicht habe ich sogar mit mir selbst gebrochen. Wunderbar. Es droht mir die Brust zu sprengen. Wehmut? Wonach zum Teufel? Nach einem solchen Leben? Das war ein Alptraum, ein ständiges Ersticken.« (Bobkowski 2000: 32)

Besonders schmerzlich verläuft die im Tagebuch mehrmals thematisierte Trennung von la douce France: Frankreichs Kultur war für den jungen Bobkowski ein Dogma, als reifer Mensch muss er sie jedoch – schweren Herzens – ablehnen.26 Er trennt sich schließlich von Frankreich wie von einer untreuen Geliebten, die ihn verraten und sich den Nazis ohne Kampf hingegeben hat.27 wychodzi człowiekowi bokiem i gardłem. Kolebka kultury… Żal mi, że nie zdąż yłem ju ż wyjechać.« 25. Bobkowski 2007: 15: »Miałem uczucie, że […] żegnam się bezpowrotnie ze wszystkim: z t ą Francją, która była jak sen i pryska jak sen; z całą młodością – może z całą epoką.« 26. Bobkowski 2000: 46f: »Ich spüre, dass damit ein bestimmtes Kapitel zu Ende ist. Frankreich war so etwas wie ein Dogma. Jetzt sehe ich Frankreich vor mir und habe nicht die Kraft, es zu überwinden«/»Czuję, że pewien rozdział został zamknięty. Francja była dogmatem. Teraz patrzę na nią i nie mam siły go odrzucić«, Bobkowski 2007: 33. 27. Vgl. Bobkowski 2000: 130 – »In meinem ganzen Leben habe ich alles aus Liebe getan. […] Auch mit Frankreich habe ich mich aus großer Liebe verheiratet. Und hier in Toulon sehe, fühle, verstehe ich mit einemmal alles […].

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›Morgen‹, ›später‹, ›in der Zukunft‹ bilden für Bobkowski Kategorien aus einer anderen (bereits abgeschlossenen) Epoche. Das Tagebuch-Ich kann und will sich nur auf das Jetzt konzentrieren: Im Sommer 1940 schreibt er: »Ich möchte nur ›jetzt‹ leben« (Bobkowski 2000: 55) und »am wichtigsten ist das Leben, das ganz gewöhnliche Leben« (Bobkowski 2000: 69). Im Juli 1944 fügt er zu ›jetzt‹ und ›Leben‹ noch ›Mensch‹ hinzu: »Nur der Mensch ist keine Fiktion – außer ihm ist alles eine Fiktion. Die ganze Welt kann die Heimat sein, und jeder Mensch – Bruder. Denn die Welt das ist der Mensch, das ist vor allem der Mensch« (Bobkowski 2007: 522).28 Ähnlich solidarisiert sich der Erzähler in Sól ziemi mit dem (einfachen) Menschen: »Mój brat – to czytelnik brukowego pisemka. Mój brat – to woźny w kantorze pewnego domu handlowego. […] Mój brat jest prostym człowiekiem. Moi bracia – to ludzie prości: fryzjerzy, szewcy, kolejarze, konduktorzy tramwajowi, […] kelnerzy, chłopi. Chłopi. Moja siostra jest prost ą kobiet ą.« (Wittlin 1991: 4) »Mein Bruder: er ist Leser eines Lokalblättchens. Mein Bruder – er ist Angestellter in einem Handelsbüro. […] Mein Bruder ist ein [einfacher] Mensch. Meine Brüder: das sind [einfache] Menschen – Barbiere, Schuster, Eisenbahner, Straßenbahnschaffner, […], Kellner, Bauern. Ja, Bauern. Meine Schwester ist eine einfache Frau.« (Wittlin 1986: 15f.)

Bobkowski entscheidet sich nach der Erfahrung des Krieges und der Erkenntnis über die Normalisierungsgesellschaft für JETZT – LEBEN – MENSCH und verbringt die letzten zehn Jahre seines Lebens in Guatemala. Seine Szkice piórkiem, die auf Notizen aus den Kriegsjahren basieren, liefern Beobachtungen, stellen Diagnosen und schlagen ebenso Lösungen vor. Bobkowskis Kriegstagebücher sind somit ein Ort der Überwindung der Angst und Apathie. Da Wittlins Roman lediglich der erste Teil einer geplanten Trilogie ist, liefert er fast ausschließlich Beobachtungen und Diagnosen – über den Krieg und die Technologie der Mechanisierung des Menschen. Von ›Lösungen‹ kann hier keine Rede sein, denn die Narration Hier sehe ich Frankreich nackt vor mir, wie es in Toulon liegt wie eine Hure. Sie wartet und lächelt resigniert, macht die Beine breit… Sie betrügt mich…«/ Bobkowski 2007: 84f: »W całym moim ż yciu żeniłem się ze wszystkim z miłości. […] Z Francją ożeniłem się z wielkiej miłości młodego. I nagle tu, w Tulonie widzę […]. Tu widzę Francję nagą, le żącą w Tulonie jak dziwka. Czeka i uśmiecha się z rezygnacją, rozchyla nogi… Zdradza mnie.« 28. »Tylko człowiek nie jest fikcją – wszystko inne jest fikcją. Cały świat może być ojczyzną, a ka żdy człowiek bratem. Bo świat, to człowiek, to przede wszystkim człowiek.«

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weist immer wieder auf die Ausweglosigkeit der menschlichen Existenz hin. Über weitere Teile der Trilogie lassen sich leider keine Aussagen treffen, mit der Ausnahme der Fragmente, die 1972 unter dem Titel Zdrowa śmierć (Der gesunde Tod) in der Exilzeitschrift Kultura in Paris erschienen sind. Der gesunde Tod, der Tod an der Front, sei das Ziel, das der Staat für seine Soldaten-Bürger entworfen hat. Seine Antikriegstrilogie hat Józef Wittlin, der seit 1941 in New York lebte, nie zu Ende gebracht. Einen plausiblen Grund dafür nannte Gustaw Herling-Grudziński im Tagebuch – er hielt Sól ziemi nämlich für abgeschlossen: »Sól ziemi ist ein Poem in zehn Liedern, das eventuell hätte fortgesetzt werden können, dies war aber keine Notwendigkeit. Ehrlich gesagt, zweifle ich daran, ob dies möglich gewesen wäre« (Herling-Grudziński 1980: 159). Im Unterschied zu der im Wittlins Roman diagnostizierten Ausweglosigkeit der menschlichen Existenz, greift Bobkowskis Tagebuch-Ich immer wieder die Idee einer kompromisslosen Lösung auf: der gänzlichen Trennung von Europa und ›dem Staat‹. Bobkowski selbst verließ Polen, Frankreich, Europa, er trennte sich innerlich wie äußerlich von dem ›normalisierten Menschen‹. Der Sohn polnischer Diplomaten wählt zwar das Exil wie viele andere, er geht jedoch einen Schritt weiter und verzichtet auf Privilegien seiner Herkunft – »er ›deklassiert‹, proletarisiert sich«29 –, er lebt »von der Arbeit seiner Hände und seines Hirns, ganz unabhängig von seinem Schreiben« (Terlecki 2006: 30)30. Der Normalisierung und Mechanisierung des Menschen – besonders im Kriegszustand – stellt er sein romantisches Projekt der uneingeschränkten Freiheit und vollkommenen Verantwortung für sich selbst entgegen. An dem Projekt nimmt er selbst teil, als »Hooligan der Freiheit«31.

29. Vgl. Terlecki 2006: 30f. Bobkowski leitet in Guatemala City einen kleinen Laden mit selbstgebastelten Flugzeugmodellen. 30. Tymon Terlecki bezeichnete ihn daher als »eine[n] der wenigen proletarischen Schriftsteller« (Terlecki 2006: 30f.). 31. Als »chuligan wolności« bezeichnete sich Bobkowski selbst (Terlecki 2006: 12). Den Namen greifen viele Texte und Dokumente über Andrzej Bobkowski auf, vgl. u.a. der Dokumentarfilm von Marcin Więcław aus dem Jahr 1993 Andrzej Bobkowski – chuligan wolności. 60 Jahre nach der Übersiedlung des Schriftstellers nach Guatelmala und 50 Jahre nach seinem Tod ehrte die polnische Hauptstadt den Autor mit einer Ausstellung unter demselben Titel.

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Die Zerstörung Galiziens oder: Der Ethnologe als Kr iegsber ichterstatter Annette Werberger (Tübingen)

1. Jakobson im Feld oder der Feldforscher als Spion Im Mai 1915 machen sich die Studenten Roman Jakobson, Nikolaj Jakovlev und Petr Bogatyrev auf den Weg zu einem Feldforschungsaufenthalt im Vereja-Distrikt südlich von Moskau, um die dortigen Dialekte aufzuzeichnen und Folklore zu sammeln.1 Sie vermerken über 200 Märchen, Reime, Lieder oder Rituale. Obwohl Ethnographen auch in Friedenszeiten häufig auf Misstrauen treffen und als Spione betrachtet werden, leben Folkloristen in Kriegszeiten weitaus gefährlicher – selbst wenn sie sich abseits der Front befinden. So schreibt Bogatyrev fünfzehn Jahre später in einer deutschsprachigen wissenschaftlichen Zeitschrift über die Reaktion der Bevölkerung im ersten Kriegsjahr: »Die Bauern hielten uns für Brunnenvergifter, die von den Deutschen hergeschickt worden seien und hätten uns um ein Haar gelyncht« (Bogatyrev 1930: 333). Auch Jakobson schreibt rückblickend über diese Erfahrungen im VerejaDistrikt. Die Volkserzählungen und Zaubermärchen, die man ihnen erzählt, seien eine »coalescence of truth and fancy, of actualities and stereotyped fictions, migratory in time and space« (Jakobson 1966: 643). Aber die gleichen Erzähler (»remarkable narrators«) erzählen den jungen Forschern eben 1. Siehe hierzu den gemeinsamen Text von Petr Bogatyrev und Roman Jakobson von 1929 »Die Folklore als eine besondere Form des Schaffens« (Jakobson 1966: 1-15).

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nicht nur historische, sondern auch aktuelle Geschichten, die Ereignisse im fernen Petersburg und an der Front beinhalten – von Rasputin oder Sieg und Niederlage der russischen Armee. Zu seiner Verwunderung zeigen diese zeitgenössischen Kriegserzählungen und Gerüchte (»gossip«) Analogien zu den historischen, »traditionellen Erzählformen« (the traditional pattern of folk tales), die seine Vorstellung von Folklore als einer nur historischen Tradition der europäischen Landbevölkerung verunsichern mussten (ebd.). Schließlich werden die Forscher, wie Bogatyrev schon anmerkte, selbst zu Opfern von phantasiereichen Erzählungen ihrer Untersuchungsobjekte: »The espionage fictions circulating in Novinskoe were applied to all three of us by an inventive local woman. The slander was rapidly caught up, first by the women of the village and then by the men, who usually made fun of females‹ wild gossiping, mockingly calling them ›the Village Herald‹, but nonetheless hastened to share the womens’s discovery. Rumors were growing: we were ›heard‹ talking German to each other, we were ›seen‹ poisoning wells. Surrounded by a defiantly hostile crowd, we were ordered to open our bags and to unfold their entire content. When N.F. shook out a shirt to show that nothing was hidden inside, an old woman howled: Batjuški, napuščet, napuščaet! (›God Heavens, he is conjuring!‹). The searchers suspected that vials with poisons were concealed in our bosoms or under our arms. Our documents were declared to be fake and our glasses were considered evidence of our Germanity. New People arrived and were provided by the company with more and more elaborated and fantastic information about the three unmasked ›Germans‹. We were witnessing a drastic example of the rise, multiplication and diffusion of formulaic responses to the burning topics. As it was stated in our report, ›something sprang up that probably might be called collective creation‹.« (Jakobson 1966: 644).

Diejenigen, die dem Volk auf den Mund schauen, ihre kollektiven Erzählungen aufzeichnen, werden selbst zu Objekten der Beobachtung gemacht. Das harmlose Sammeln historischer Erzählungen wird zu einem explosiven Unternehmen, weil die Folkloristen als deutsche Feinde betrachtet werden. Das Erbe des Volkes, die Folklore, wird in Zeiten des Kriegs um eine Textsorte erweitert: nun zirkulieren Spionagegeschichten (Espionage fictions). Fast zur selben Zeit, Ende 1914, bricht auch der Ethnograph und Schriftsteller Semen An-skij von St. Petersburg zu einer Reise auf, die ihn westwärts an die Front des Ersten Weltkriegs führt. Er wird nach seiner Rückkehr 1916 sogar noch ein zweites Mal dorthin reisen.2 Noch drei Jahre zuvor, im Sommer 1912, hatte sich An-skij nach einer langen Vor2. Der Ansiedlungsrayon ist ein Gebiet, in dem Juden seit Ende des 18.

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bereitungsphase mit einer aus Photographen, Malern, Komponisten und Musikern bestehenden Expedition aus Sankt Petersburg schon einmal in dieselbe Richtung aufgemacht.3 Sein damaliges Ziel war die ethnographische Untersuchung der jüdischen Bevölkerung des Ansiedlungsrayons (insbesondere Volhynien und Podolien). Im Dezember 1914 hat An-skij im Gegensatz zu der Gruppe um Jakobson aber kein dezidiert ethnographisches Ziel mehr, sondern möchte den zwischen die Fronten geratenen Juden in Galizien helfen, die unter den Generalverdacht der Spionage gefallen sind (siehe hierzu Budnickij 2005b). An-skij schreibt bei seiner Reise durch die Ostfront – die für Russland eine Front im Westen war – Tagebuch. Diese nur teilweise erhaltenen Tagebücher bilden die Basis für seine auf Jiddisch geschriebene dreibändige Galizienchronik Der yidisher Khurbm fun Poyln, Galitsye un Bukovina, fun togbuch 1914-1917 (Die jüdische Zerstörung Polens, Galiziens und der Bukowina, aus dem Tagebuch der Jahre 1914-17), die 1921 posthum erschien und meist abgekürzt Khurbm Galitsye (Die Zerstörung Galiziens) genannt wird. 4 Schriftstellerisch mündet An-skijs ethnologische Tätigkeit interessanterweise also in einer Kriegschronik, die er im Gegensatz zu seinen ethnologischen Studien vor seinem Tod zum Abschluss bringen kann.5 Ich möchte im Folgenden die Interferenzen und Affinitäten beider Tätigkeiten An-skijs herausarbeiten – seiner Arbeit als Ethnograph einerseits und als Kriegsbeobachter und humanitärer Helfer andererseits. Im Mittelpunkt steht vor allem An-skijs ethnographischer Blick auf den Krieg, der meiner Meinung nach das Besondere von Khurbm Galitsye darstellt, weil An-skij hier neben der Beschreibung der Zerstörung und seinen Interventionen bei der Militärverwaltung und anderen Institutionen und ihren Vertretern die mündlichen Erzählungen, Gegenerzählungen und Gerüchte in den Blick nimmt, die dem Krieg entspringen und ihn zugleich befördern. Khurbm Galitsye ist somit nicht nur von historischem Interesse bezüglich Jahrhunderts dauerhaft wohnen durften. Zugleich wurde Ihnen aber eine Wohnstatt in den zentral gelegenen Teilen des Russischen Reiches verboten. 3. Die Fakten und Daten zur dieser Reise entnehme ich den Schriften Irina Sergeevas (2003 und 2006 und ihrer Einführung zu An-skij 2006), die bei ihrer Darstellung auf das Archiv der Vernadskij-Bibliothek in Kiev zurückgreifen konnte, das sicherlich die meisten Dokumente aus An-skijs Nachlass besitzt. 4. Der Begriff »Khurbm« ist heute der gebräuchliche Begriff im Jiddischen für die Shoah, er bezieht sich im Gegenteil zu Shoah und Holocaust auch auf die Tempelzerstörung, vgl. hierzu Roskies 1984: 261. 5. Roskies (1984: 137) verweist darauf, dass An-skijs Chronik das Vorbild wurde für die Memoiren von Emanuel Ringelblum oder Herman Kruk und von diesen gerade während des Zweiten Weltkriegs aufmerksam wiedergelesen wurde.

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der detaillierten Beschreibung des Kriegs in Galizien,6 es ist auch ein Text, der über die verheerende und zugleich hoffnungserhaltende Wirkung von Narrativen im Krieg spricht, weil An-skij von Anfang an an »den Gerüchten, den Denunziationen und den falschen Beschuldigungen« (rekhiles, mesires un bilbulim) interessiert ist (An-ski 1921: 6), die zu ihm schnell nach Kiev und Petersburg eilen. An-skij fürchtet zu Recht die »rekhiles« wegen »der fast übernatürlich schnellen und unkontrollierbaren Verbreitung der Gerüchte durch Ohren und Münder der Menschen« (Brokoff 2008, 17). Der einzige Ausweg, den An-skij angesichts der Ereignisse sieht, ist die Überführung dieser mündlichen Gerüchte in Schriftlichkeit, in den textuellen Rahmen einer Chronik, die damit der Flüchtigkeit des Gerüchts die Dauerhaftigkeit einer Chronik und seiner Ursprungs- und Urheberlosigkeit eine symbolische oder funktionale Theorie und Analyse entgegenstellt. Meine Ausführungen münden in einer Untersuchung der Performanz und des Kontexts dieser Kriegserzählungen, die unter den Menschen zirkulieren und die An-skij in seiner Galizienchronik aufzeichnet – »wildeste und fantastischste Legenden« (vildste un fantastishste legenden), wie er sie gleich zu Anfang nennt (An-ski 1921, 6). Dabei werde ich oft in der Begrifflichkeit An-skijs von »Legenden« (legenden) sprechen, selbst wenn es sich nur in wenigen Fällen tatsächlich um Legenden handelt, sondern eher um »Gerüchte« oder »Alltagserzählungen«. Er gebraucht diesen Terminus offensichtlich deswegen so gerne, weil er an seine Forschungen der chassidischen Legenden anschließt, auch wenn der Begriff »Sage« aus erzähltheoretischer Sicht passender wäre (Ecker 1996).7 6. Noch immer ist die Ost-Front des Ersten Weltkriegs historisch weniger genau und umfassend untersucht als die Front im Westen. Auch die literarischen Texte, die sich mit dem Weltkrieg befassen, sind im Gegensatz etwa zu Remarque und mit Ausnahme von Jaroslav Hašeks (1883-1923) Švejk (Osudy dobrého vojáka Švejka za světové války, 1921-23) relativ unbekannt geblieben: Zu nennen wären hier zumindest Miloš Crnjanskis Tagebuch über Čarnojević (Dnevnik o Čarnojeviću) auf Serbisch/Kroatisch, Viktor Šklovskijs Sentimentale Reise (Sentimental’noe putešestvie) auf Russisch, Józef Wittlins Das Salz der Erde (Sól ziemi) auf Polnisch sowie Uri-Zvi Grinbergs Kriegsgedichte Im Geräusch der Zeit (In tsaytns geroysh) in Jiddisch. An-skijs Khurbm Galitsye ist sicherlich noch um einiges unbekannter als die genannten Texte. Das bezeugt allein schon die Tatsache, dass sein Text nach 1921 keine neue Aufl age erfahren hat. Er ist nur in Auszügen in den 1990er Jahren und schließlich als eigenständiges (gekürztes) Buch im Jahre 2002 auf Englisch erschienen. Ein russischer Auszug, den Anskij selbst für eine Zeitung vorbereitete, ist erst 2006 erschienen (siehe An-skij 2006). 7. Eventuell kannte er auch Arnold van Genneps Buch zur Legende von 1910.

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2. Mimesis im Feld und an der Front Als der Erste Weltkrieg An-skij daran hindert, seine ethnographische Tätigkeit fortzusetzen, evakuiert An-skij seine Sammlung nach Kiev und Petersburg und macht sich schon im Herbst 1914 daran, als Rot-Kreuz-Offizier ein Hilfskomitee für galizische Juden ins Leben zu rufen. In die sich daran anschließende kriegsbedingte Galizienreise von 19141917 bringt An-skij seine Erfahrungen aus der ethnographischen Expedition von 1912-14 mit ein, auf der er alle Seiten des jüdischen Alltags (evrejskij byt) zu erfassen und die durch Verfolgung, Säkularisierung und Emigration am Verschwinden begriffene jüdische Kultur des russischen Ansiedlungsrayon aufzuzeichnen versucht hatte.8 Es sind vor allem zwei Aspekte seiner ethnologischen Erfahrung, die für seine Tätigkeit als Kriegsbeobachter Bedeutung erlangen: Seine Erfahrung beim interkulturellen Kontakt und sein Wissen um die Produktion, Zirkulation und Funktion von mündlichen Alltagserzählungen. In An-skijs Expedition ergaben sich einige für Ethnologen typische interkulturelle Probleme, von denen unter anderem der mitreisende Komponist Juli Ėngel’ in seinen Erinnerungen an das erste Shtetl Ru ž in beim ersten Kontakt mit einer Person aus dem Forschungsfeld berichtet: Der Erstkontakt findet mit dem Kutscher Genoch (Henoch) statt, der die Ethnologen von der ›einen‹ in die ›andere‹ Welt bringt und sich seine ganz eigene Vorstellung davon macht, wen er an diesem Tag in seiner Kutsche transportiert: »С момента прибытия на станцию у нас решено было говорить только поеврейски. Это был путь единственно правильный, хотя для меня и тяжелый, ибо я с языком знаком был больше книжно, чем в живой речи. Постепенно, однако, и я кое-как вошел в колею. Оказалось, впрочем, что на еврейскую речь не всегда можно получить еврейский ответ. Мы сразу натолкнулись на это у балаголы, т.е. извозчика, которого сняли, чтобы свезти нас в Ружин. Звали его Генохом. Анский спрашивает у него… а Генох отвечает по-малорусски: ›Э… какой город, такой заезд‹. Он мог бы прибавить: ›Какой город, такой и извозчик‹, потому что повозка его была ужасна. И так шло дальше: мы по-еврейски, он по-русски – очевидно, думая, что 8. Er betrieb damit das klassische Salvage-ethnography-Programm (Clifford 1993), das seine Legitimation und Dringlichkeit dadurch erhielt, dass man glaubte, eine durch die Moderne bedrohte Kultur und Tradition müsse durch Beobachtung, Sammlung und Beschreibung im aktuellen Zustand einfangen werden.

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мы шутки шутим. Генох принял нас сначала за актеров, потом Ан-ского за хазана, а меня за регента. Эта мысль привела его в восторг. Оказалось, что синагогальное пение его страсть […].« (Ėngel’ 2004: 292f.) 9 »Vom Augenblick unserer Ankunft an hatten wir beschlossen, dass wir nur auf Jiddisch sprechen. Das war der einzig richtige Weg, obwohl es für mich recht schwer war, kannte ich doch die Sprache mehr aus Büchern als aus lebendigen Gesprächen. Doch allmählich ging es besser. Es zeigte sich jedoch, dass man auf eine jiddische Frage nicht unbedingt eine jiddische Antwort erwarten durfte. Wir sind auf dieses Problem sofort bei unserem Balagol, d.h. Kutscher gestoßen, den wir gebeten hatten, uns nach Ru ž in zu bringen. Er hieß Genoch. An-skij erfragt etwas bei ihm… und Genoch antwortet auf Kleinrussisch: ›Oh wie die Stadt, so die Herberge.‹ Er konnte hinzufügen: ›Wie die Stadt, so der Kutscher‹, weil sein Wagen schrecklich war. Und so ging es immer weiter: wir auf Jiddisch, er auf Russisch – offensichtlich dachte er, dass wir scherzten. Genoch hielt uns zuerst für Schauspieler, dann An-skij für einen Kantor und mich für einen Sänger. Dieser Gedanke versetzte ihn in Begeisterung. Es zeigte sich, dass der synagogale Gesang seine Passion war […].«

Bei dieser Begegnung zwischen Fremden nehmen beide Seiten einander wahr und deuten die Rolle des anderen. Genoch betrachtet die Ethnologen als Schauspieler und Vorsänger, An-skij und Ėngel’ sehen wiederum in ihm zunächst einen komischen Kauz, der keine Informationen liefern möchte. An-skijs Gruppe hat also mit einigen Problemen der Feldforschung zu tun, selbst wenn sie noch keine klassische Feldforschung und teilnehmende Beobachtung im Sinne Malinowskis betreiben. »Teilnehmende Beobachtung« bedeutet Fritz Kramer zufolge »sich so wenig wie möglich auff ällig machen […]. Man kann nicht ständig durch ein exotisches Verhalten aus der Rolle fallen, man ist zur Mimesis gezwungen.« (Kramer 2005: 197f.) Dass dies misslingen kann, ist, wie das Beispiel Genochs zeigt, offensichtlich. Zuerst gilt es, sich den Gepflogenheiten der Umgebung anzupassen, weswegen die Ethnographen beschließen, nur noch Jiddisch, die Umgangssprache der Juden in Volhynien zu sprechen. Eine eigentliche Mimesis scheint aber anfänglich nicht zu gelingen. Nicht nur durch die Sprache, den städtischen Habitus und die säkulare Kleidung fallen sie auf, auch die damals noch seltenen mitgeführten Apparate und Instrumente zum Aufzeichnen der Musik werden einen befremdlichen Eindruck hin9. Sofern nicht anders angeben, stammen die Übersetzungen von der Verfasserin.

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terlassen haben. Mit der Zeit allerdings erweist sich insbesondere An-skij als äußerst geschickt bei der Kontaktaufnahme mit den Shtetl-Bewohnern, weswegen die anderen Teilnehmer meist in seinem Schatten agieren. Er ermöglicht es ihnen, Gesänge aufzunehmen und Geschichten und Legenden schriftlich zu fi xieren. (Rekhtman 1958: 290-2 bzw. Kugelmass 2006: 351) An-skij kehrt also mit diesen Erfahrungen in ein Feld zurück, das sich in eine Front verwandelt hat und bringt dem Teil des russischen Reiches Hilfe, den er vorher ethnographiert hat. Er fungiert nicht zuletzt durch dieses mimetische Training erfolgreich als Vermittler zwischen den Ethnien und Institutionen – kennt er doch als Ethnograph und Freund vieler russischer Intellektueller und Politiker die Codes und Sprachen verschiedener Milieus gut genug, um solche Vermittlungsarbeit leisten zu können. Er reist teilweise inkognito und erhält bei vielen ethnischen Gruppen und in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kreisen Informationen, indem er je nach Situation als Jude, als Russe oder als Adliger auftritt. Trotzdem sind die oben skizzierten Schwierigkeiten interkulturellen Kontakts nun um ein Vielfaches gesteigert: Misstrauen ist offener Feindschaft gewichen. Man läuft als Ethnograph Gefahr nicht mehr nur als Schauspieler betrachtet, sondern, wie der Fall Jakobsons zeigt, als Spion behandelt zu werden.

3. »Warlore« : Der Erste Weltkr ieg als Kr ieg der Geschichten Die zweite Erfahrung, die An-skij aus dem ethnographischen Feld mit an die Front bringt, ist seine Erfahrung mit Alltagserzählungen. Er sammelte sie während seiner ethographischen Expedition, um sie für diejenigen bereitzustellen, die über diese Volkserzählungen, Melodien und magischen Sprüche jüdische Traditionsvermittlung neu organisieren: Schriftsteller und Künstler. Er nahm aktiv an der Neuformierung einer jüdischen säkularen Kultur teil, und fungierte persönlich als Medium folkloristischen Wissens in den Zentren des Russischen Reiches und im geteilten Polen. In seinen Erinnerungen an einen der wichtigsten jiddischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, Yitskhok Leybush Perets (1852-1915), den Initiator der Wende jiddischer Schriftsteller zur Folklore,10 beschreibt An-skij dieses Zirkulieren von mündlicher Folklore und ihrer Wiedererfindung in der Schriftkultur durch sein eigenes mündliches Erzählen von aufgezeichneten Informantenerzählungen:

10. Zur Bedeutung Perets für die Wende zur Folklore siehe Kiel (1992).

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»Yedes mol, ven ikh bin geven in varshe, flegt perets mir ›aniderzetsen‹ dertsehlen ihm khsidishe mayses. Oftmol flegt ikh sheh’n lang zitsen un dertsehlen ihm eyn mayse nokh der anderer. Er hot tsugehert un nisht gekont zikh onzetigen.«, Ans-ki 1925, 166f.).11 »Jedes Mal, wenn ich in Warschau war« schreibt An-skij, »wollte Perets, dass ich mich zu ihm ›hinsetze‹ und chassidische Geschichten erzähle. Sehr oft saß ich lange Zeit bei ihm und erzählte eine Geschichte nach der anderen. Er hörte zu und konnte nicht genug bekommen.«

Anschließend beschreibt An-skij ausführlich, wie Perets aus An-skijs »Geschichte« (mayse), die dieser von einem namentlich nicht genannten Informanten aus dem Ansiedlungsrayon erhalten hat, durch Reinigung, Weglassungen und Zugaben eine »volkstümliche Geschichte« (geshikhte) gestaltet.12 Perets erhält über An-skijs Sammlertätigkeit die Möglichkeit, volkstümliche Stoffe und Motive umzuarbeiten. Deren Bearbeitung betrachten sowohl Perets als auch An-skij nicht als einen Verlust von Authentizität, sondern als einen Gewinn an Wirkung, als eine folgenreiche ›Erfindung einer Tradition‹. Folklore wurde als orale und damit scheinbar geschichtslose, ursprüngliche und kollektive Volkskultur ein Mittel zur Installierung einer jüdischen säkularen Schreibweise, die von einzelnen Mitgliedern der hauptstädtischen Intelligencija mit großem und bis heute anhaltendem Erfolg befördert wurde. An-skij hatte also bei Perets erfahren, wie mündliche Texte neu kontextualisiert werden und welche Performanz und Kohärenz sie bei der Bearbeitung gewinnen konnten. Dies sollte seinen Fokus auch bei der Beobachtung im Krieg bestimmen. Was hatte sich beim Besuch An-skijs an der Kriegsfront verändert? Er besucht zum Teil dieselben Städte und Dörfer, er bleibt Beobachter, befragt Menschen, hört ihnen zu, aber er versucht auch zu handeln und sich einzumischen. An-skij untersucht jetzt nicht mehr den jüdischen Alltag, sondern gerät in den Ausnahmezustand des Krieges. Den Groß11. Ich verwende für die hebräischen Buchstaben die am Englischen angelehnte YIVO-Umschrift. Allerdings behalte ich die noch nicht standardisierte Orthographie An-skijs bei und passe sie nicht dem heutigen YIVO-Standard an. 12. Durch den Prozess der Verschriftlichung und die Zirkulation wird hier eine Geschichte umgearbeitet, so dass danach zumindest zwei schriftliche Versionen entstehen, die ›einfache‹ Volkserzählung und die künstlerisch höher gestellte Kunsterzählung. Das Recht auf Verwendung der ›Volkserzählung‹ bezieht sich stillschweigend auf die Annahme, dass die aufgezeichnete »mayse« kollektives, orales Eigentum eines »Volkes« ist.

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teil der Ereignisse bekommt er erzählt. Er zitiert Augenzeugen oder auch nur ihm mitgeteilte Gerüchte, die von den Plünderungen, Pogromen und Vergewaltigungen etwa der Kosakentrupps berichten, von willkürlichen Hinrichtungen und Zwangsarbeit. Manchmal gibt er den Erzählrahmen und Kontext (Erzähler, Ort, Umstände) genauer an, manchmal belässt er es bei Gerüchten mit einem vagen Hinweis: »an einem Ort sagen sie…«. Seine ethnologische Beobachtungspraxis macht die Chronik insgesamt aber zu etwas Besonderem, weil sie dem Text eine Vielstimmigkeit gibt. Die Mündlichkeit der aufgezeichneten Information erhält -trotz aller Vorsicht, die wir nach der medialen Szene mit Perets in Bezug auf die Authentizität schriftlicher Wiedergaben oraler Erzählungen haben müssen – einen paradigmatischen Platz in Khurbm Galitsie. Neben der Beobachtung und Beschreibung von Zerstörung, bricht hier An-skijs Aufmerksamkeit gegenüber »einfachen Formen« (André Jolles) oraler Narration durch. Aufmerksam notiert er Gerüchte, Legenden und Verleumdungen, bringt sein Erstaunen zum Ausdruck, dass selbst gebildete Menschen diesen Gerüchten glauben schenken, versucht ihre Herkunft zu klären oder sie psychologisch zu durchdringen. Wir finden lange Passagen, in denen er seine Informanten (Polen, Russen, Juden; Frauen und Männer; Soldaten und Zivilisten) zitiert. Er zeichnet aus seinem ethnologischen Interesse an Alltagserzählungen sehr ausführlich die mündlichen Zeugnisse der unterschiedlichen Gruppen auf. Allerdings notiert er nur die Fälle, an denen angeblich Juden beteiligt sind, sei es als Opfer, sei es als Täter. Auch wenn er, wie oben erläutert, den Erzählkontext und Erzählrahmen nicht immer mitteilt, so versucht er doch insgesamt in Khurbm Galitsye die Geschichten kritisch zu rahmen, um den »Verleumdungen«, die sich mit Schneeballeffekt ungehindert weiterverbreiten, eine textuelle Begrenzung, ein »framing« zu geben, die den Schneeball stoppt: »der bilbul hot zikh gekeykelt vi a hoyfen shney, iz gevaksen, hot bekumen di shoyderhafteste formen, hot zikh fershpreyt in der armee, funandergegosen zikh iber’ngantsen land […]« (An-ski 1921: 7f.) »Die Verleumdung rollte sich zu einem Schneeball zusammen, wuchs, nahm die schauderhaftesten Formen an, breitete sich in der Armee aus und sich über das ganze Land ergossen […]«

An-skijs Fokus liegt auf der Decouvrierung der Kommunikationswege und der Wirkung der Geschichten. Anders als beim Sammeln chassidischer Legenden sucht er jetzt an der Front nicht mehr nur nach den ältesten und authentischsten Legenden, nach alten Informanten und Interviewpartnern, auch wenn er in seiner Galizien-Chronik die Legende, die er auf der 141

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Expedition angeblich in fünfzehn oder sechzehn Shtetl erzählt bekommen hat, erneut anführt: die Legende vom heiligen Brautpaar, das die Truppen Chmel’nickyjs bei der Hochzeitszeremonie angeblich getötet haben und dessen Grab im Zentrum der kleinen Städte er jedes Mal gezeigt bekommt (An-ski 1921: 41). Die ethnographische Erfahrung mit Serienerzählungen gehen nun in die Beurteilung von Kriegslegenden ein, die neu entstehen und ebenfalls überall kursieren. In den zerstörten Dörfern und Städten beobachtet An-skij mit eigenen Augen wie in kürzester Zeit solche mündliche Literatur entsteht, zirkuliert, variiert und letztendlich auch zerstört wird. Fügt er Folklore wie die Legende vom Brautpaar als kulturelles Erbe in sein Drama Der Dibbuk ein, so sieht er nun in der ›Warlore‹13 nicht mehr in erster Linie ›cultural heritage‹, eine narrative Strategie der kulturellen Wissensvermittlung, sondern eine aus dem Krieg resultierende Überlebensstrategie, die Vergemeinschaftung in der Krise stiftet, Misstrauen und Hass schürt oder die Bedrohungen durch Gegenerzählungen überformt. Kam er in den Ansiedlungsrayon, um die Krise der jüdischen Lebenswelt vor ihrem Untergang zu kartographieren und implizit dadurch auch seine eigene Krise als moderner Jude zu bewältigen, ist er jetzt mit einer Krise von ganz anderen Ausmaßen konfrontiert. Beide Male richtet er sein persönliches, schriftstellerisches und ethnographisches Interesse weniger auf die rein faktographische Seite der Berichte als vielmehr auf die narrative: Er nutzt sie nicht nur als Quellen, um die Handlungen der Menschen wiederzugeben, sondern führt vor allem ihre Erzählweisen darüber vor. In Khurbm Galitsye betreibt An-skij »oral history« anhand von Kriegsfolklore, indem er die fi ktionalen und halb-fi ktionalen Entwürfe und Lesarten von Menschen und Kollektiven über Kriegsereignisse kritisch aufzeichnet und analysiert. Für An-skij sind diese Erzählungen mehr als einfache Lügengeschichten. Er versucht sie nicht allein nach der Kategorie wahr/ falsch zu beurteilen, oder sie als Propaganda und Gegenpropaganda zu betrachten, sondern innere Konflikte abzulesen oder sie zu rationalisieren. So spricht er in Zusammenhang mit der Legende von einem jüdisch-russischen Patienten in einem Militärhospital von einer symbolischen und historischen Wahrheit: Angeblich hat dieser hospitalisierte Soldat einen österreichischen (jüdischen) Soldaten erstochen, der kurz vor seinem Tod noch das ›Shma Israel‹ ausrief, woraufhin der jüdisch-russische Soldat wahnsinnig geworden sei. Sein Misstrauen gegenüber diesem Bericht erwacht, 13. Der Begriff Folklore wurde 1846 vom Altphilologen und Altertumsforscher W.J. Thoms durch einen Artikel in der Zeitschrift Athenaeum eingeführt, als »good Saxon compound, Folk-Lore – the Lore of the people« (Bausinger 1984). Man könnte An-skijs Aufzeichnungen über Galizien somit als eine Studie über »Warlore« sehen.

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nachdem ihm zwei ähnliche Versionen von unterschiedlichen Personen vorgetragen werden, so dass er das anfängliche Selbstzeugnis schließlich als »oysgetrakhte mayse« (ausgedachte Geschichte) bezeichnet: »Dos iz geven an’oysgetrakhte mayse, nor dos iz nisht geven keyn bevustziniger ligen. Vi bey yeder legende-shafung, hot der erzehler ferloyren di grenets fun faktishen emes, veyl in zeyn unterbevustzinigen gedank hot gelebt an’anderer ›emes‹, a simbolisher, a historisher.« (An-ski 1921: 44) »Es war eine ausgedachte Geschichte, aber keine bewusste Lüge. Wie bei jeder Legendenbildung hat der Erzähler die Grenze der faktischen Wahrheit aus den Augen verloren, weil in seinem Unterbewusstsein eine andere ›Wahrheit‹ lebte, eine symbolische, historische.«

An-skijs Aufzeichnungen betrachten hier die Wirksamkeit von Fiktionen im Krieg. Sein Interesse an den kleinen Formen oraler Fiktionen wird durch ihre Realitätsverfälschung nicht vermindert, sondern eher geweckt. Diese Fiktionen und Gerüchte sind gesellschaftliche Selbstwahrnehmungen in Zeiten den Krieges, die die ästhetischen Spielräume fi ktionalen Erzählens nützen, um eigene Bilder von Bedrohung und Feindschaft zu erzeugen. Die aufgezeichneten Gerüchte schreiben mit ihren Praktiken kultureller Semiotik und medialer Vermittlung neben den faktualen Ereignissen des Krieges auch Geschichte. Das Gerücht scheint dabei tatsächlich das Genre zu sein, das sich am besten eignet, um viele der oralen Erzählungen in An-skijs Khurbm Galitsye zu charakterisieren. Gerüchte zeichnen sich dadurch aus, dass sie kurz, knapp und direkt sind, weil die Details bei der Weiterkommunikation und Serienvermittlung verloren gehen oder gar nicht erst verwendet werden. Zudem werden sie meist in der 3. Person erzählt, sie verschieben also die Zeugenschaft meist auf eine nicht-anwesende Person. Auch die Rahmung von Gerüchten – »Ich habe gehört…« – gehört zu den inhaltlich zweifelhaften moralischen Spekulationen dieser Textsorte (Fine/Severance 1984). Alloport und Postman beschreiben das Gerücht deswegen als »a specific (or topical) proposition for belief, passed along from person to person, usually by word of mouth, without secure standards of evidence being present« (Fine/Severance 1984: 1102). Die Forschung zur »Fama«, welche das Gerücht personifiziert, hat eine vergleichbare Haltung zum Gerücht, wie An-skij sie ansatzweise oben zeigt. Sie interessiert sich weniger für die Inhalte der Gerüchte als für ihre Kommunikationswege und die Voraussetzungen für ihre Wirksamkeit: »Dass Gerüchte Realität verfälschen, ist für die Forschung sekundär«, schreibt Hans-Joachim Neubauer, »entscheidend ist, dass sie symbolische 143

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Wirklichkeiten konstruieren. Gerüchte arbeiten mit Verschiebungen, also metonymisch; auch konstruieren sie Metaphern, sie verdichten. […] Vielleicht sind sie ja so etwas wie ein kollektives Phantasma: der Traum der Gesellschaft von ihrem Gegenüber.« (Neubauer 1998: 219f.) Im Krieg scheint dieser Traum dann auch zu einem Alptraum vom Gegenüber zu werden, in dem auf Kreativität verweisende Termini wie Symbol, Phantasie oder Metapher einen nicht mehr künstlerischen, sondern militärischen Kontext bekommen und sogar die Kriegszeit überleben: So hat Oleg Budnickij in Rossijskie evrei meždu krasnimi i belymi (Russische Juden zwischen Roten und Weißen, 2005) die Stellung der Juden im Bürgerkrieg umfassend untersucht und dabei eine von An-skij referierte aggressive Kriegserzählung, die vor allem unter Soldaten (An-skij spricht von Kosaken) zirkulierte, auch für die Zeit nach dem Weltkrieg konstatiert. Es handelt sich dabei um die Erzählung vom jüdischen Mädchen, das aus einem Laden auf die russischen Truppen schoss und An-skij zufolge nur einen Grund zu Plünderung und Vergewaltigung bot.14 Im Mittelpunkt aller von An-skij aufgezeichneten »Warlore« stehen Juden. An-skij erzählt teilweise sogar ohne einmischende Kommentare von den Verleumdungen gegen sie, indem er Interviewpartner um Interviewpartner zitiert, sich widersprechende Berichte aneinanderstellt und jüdische Gegenerzählungen nennt, die von falschen Beschuldigungen, von unschuldigen Opfern und Rettung in letzter Minute berichten. Im Zentrum der jüdischen Gegengeschichten steht vor allem die kollektive Bedrohung, als potentielle Spione und Verräter gehandelt zu werden, gelten doch die Juden aufgrund ihrer höheren Mobilität durch Handel – Slezkine nennt sie in seiner Studie The Jewish Century deswegen Merkurianer –, durch ihre Mehrsprachigkeit und die jüdische Diaspora schnell als innere Feinde (Slezkine 2006). Zudem wird ihre Sprache, das Jiddische, besonders auf russischer Seite als eine Sprache betrachtet, die als Jargon und ›verderbtes Deutsch‹ der Sprache zweier Gegner sehr nahe steht: den Mittelmächten Deutschland und Österreich-Ungarn. Die Juden waren sicherlich durch ihre prekäre historische und rechtliche Stellung (v.a. im Russischen Reich) besonders stark vom Krieg betroffen. Aber An-skij beschreibt bei seiner Konzentration auf die jüdische Katastrophe auch wie Polen oder Russen im Zuge der Kriegshandlung in die Neusemiotisierung der Welt durch Alltagsnarration hineingezogen werden, welche die bisherige Ordnung der Dinge umschreibt. Bestimmten Gruppen werden durch Prozesse der Neuzuschreibung und durch Akte der Vereindeutigung verschiedene neue Affinitäten, Fähigkeiten und Men14. Vgl. hierzu die Anmerkungen von I. Sergeeva in An-skij (2006: 28) bzw. Budnickij (2005a: 275-320).

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talitäten zugesprochen und die mündlichen Narrationen und Gerüchte bilden gewissermaßen die performative Umsetzung dieser neuen Kriegsordnung, in der jedes Ding, jeder Beruf einen nom de guerre erhält. An-skijs Bericht über seine einmonatige Zwangspause in Warschau auf dem Weg nach Galizien zeigt, wie etwa alles Technische zu etwas ›typisch Deutschem‹ umcodiert wird und die Juden, durch die erneute Zuschreibung ihrer Germanophilie in diesen Sog der Germanisierung und Dämonisierung aller Technik (also nicht nur der Militärtechnik) hineingeraten. So werden schließlich Zeppeline »teuflische Maschinen« (teyflishe mashinen) und »Bejlis« (An-ski 1921: 24 und 7) genannt – nach dem Namen des angeblichen Ritualmörders an einem ukrainischen Jungen, Mendel Bejlis und dem bekannten Prozess von 1913, der nach sechs Wochen mit einem Freispruch endete und den An-skij und andere Mitglieder der Intelligencija genau verfolgten. An-skij hört in diesem Zusammenhang eine Vielzahl von polnischen Telefongeschichten, in denen Juden über Telefone angeblich Informationen weitergeben oder polnische Telefone sabotieren. An-skij gibt dabei jeweils den Kontext der Erzählung wieder, um seinerseits Authentizität zu suggerieren. So erzählt ihm ein polnisches Zimmermädchen – in der Annahme er sei ein russischer Adliger im Hotel Europa in Warschau: »Telefonen! – entfert zi unbeshtimt, – vegn alts giben zey bald tsu visen di deytshen. Zuntog, beshas es zenen aher gekumen di luft-mashinen, hoben di ›zshides‹ durkh alerley simonim. gegeben tsu visen, az in koshtsiol gefinen zikh di greste generalen. Hoben yene ongehoyben varfen bombes oyf’n koshtsiol. Tsum glik, hoben zey nisht getrofen.« (An-ski 1921: 25) »›Die Telephone!‹, sagt sie undeutlich, ›sie [die Juden] berichten den Deutschen alles. Am Sonntag, als die Flugmaschinen kamen, haben die Juden ihnen alle Arten von Signalen gesendet, damit die Deutschen verstanden, dass sich in der Kirche die höchsten Generäle versammelt haben. Dann haben sie begonnen Bomben auf die Kirche abzuwerfen. Zum Glück haben sie nicht getroffen‹.«

Hier kommen alle Ingredienzien zusammen, die das Gerücht braucht, also vage und austauschbare Orte und Bezüge: Die Technik der Deutschen, der christliche Sonntag, die Kirche, in welche die christlichen Generäle gehen und die Infamie der jüdischen Spione, die den Feinden geheime Signale senden; vor allem aber das wundersame Verfehlen der Bomben, das die Geschichte erstaunlicherweise nicht unglaubwürdig macht, sondern ihre Wahrheit bezeugen soll. Es werden keine Einzelpersonen, keine Namen genannt, sondern Kollektive: die Deutschen, die Juden, die Generäle.

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4. Die Legende vom vergif teten Hafer An-skij erwähnt – wie schon beschrieben – auch historische Legenden, die im Krieg wiedererzählt werden. Am auff älligsten ist hier der Bezug auf Bohdan Chmel’nickyj, den Kosakenhetman des 17. Jahrhunderts. Die Allusion auf Chmel’nickyj erzeugt dabei die Kontinuität der antijüdischen Bedrohung, ist zugleich Maß allen Schreckens und relativiert gleichsam die Kriegsereignisse. Ein weiteres Genre sind an den Krieg angepasste Wunderlegenden, die sich ebenfalls An-skij zufolge eng an historische Formen anlehnen. In einem russischsprachigen Brief und in Khurbm Galitsie erzählt er so eine moderne Zaddiklegende, die ihm Beleg dafür ist, wie sich chassidische Viten aus dem 19. Jahrhundert auch noch im 20. Jahrhundert erzählen lassen, um den Ängsten der Chassidim im Krieg zu begegnen und die Verbundenheit des Zaddiks mit seinem Hof und seiner Tradition zu stärken: In der Chronik gibt An-skij als extradiegetischer Erzähler die intradiegetische Erzählung wieder, die am Hof eines Zaddik angesiedelt ist, der sich zu Kriegsbeginn mit seiner ganzen Familie nach Hamburg zurückgezogen hat. Auch An-skijs Informant und intradiegetischer Erzähler, Lipo Shvager, weilte dort. Nachdem die russische Armee Galizien eingenommen hat, gibt der Rebbe ihm den Auftrag, zwei Briefe des Baal Shem Tov zu retten, auch auf die Gefahr hin, dass er dabei sein Leben verliert. Nach vielen Wirren schaff t er es, die Briefe zu retten, aber die Schrift auf den Briefen ist auf wundersame Weise bis auf die Unterschrift des Baal Shem Tov verblasst. Auf sein Insistieren bekommt An-skij schließlich sogar die Briefe gezeigt. Es handelt sich um eine Legende, in der auch ein entsprechendes chassidisches Wunder geschieht, das man braucht, um die Geschichte als Wunderlegende plausibel zu machen.15 Es gibt aber auch Legenden, die sich weit vom chassidischen Typus entfernen und das Überleben in einer aussichtlosen Situation nur ›im Modus‹ des Wunders oder des Wunsches ohne Beweis oder Beispiel erzählen. Eine frühe Untersuchung von Gerüchten des 2. Weltkriegs in den USA teilt Gerüchte in drei Untergattungen ein: Schreckensgerüchte (bogie-rumors), in denen kollektive Ängste erzählt werden, Wunschgerüchte (pipe-dream-rumors), die Sehnsüchte als vollendete Tatsachen erzählen und desintegrative Gerüchte, die »verbreitete Vorurteile widerspiegeln«.16 Zwei Drittel aller untersuchten Gerüchte funktionieren nach dieser Unter15. In einem Brief An-skijs an Roza Ettinger vom 15. 12. 1916 erzählt er die gleiche Legende, allerdings haben die Akteure andere Namen und die Legende spielt an einem anderen Ort (der Zaddik emigrierte zum Beispiel nach Wien), siehe An-skij (2006: 11f.). 16. Vgl. Fine/Severance (1984).

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suchung desintegrativ. Viele von An-skijs Wunderlegenden würden nach diesem Erzählregister also zu den Wunschgerüchten gehören. Von diesen Wunderlegenden kursieren An-skij zufolge unter den Juden zahllose Varianten, die er wegen seiner vielen tagtäglichen Reisen immer wieder erzählt bekommt und die insgesamt bezeugen, dass diese wundersamen Kriegslegenden mit dem Gerücht verwandt sind: »Di legende hob ikh gehert in alerley varianten, ohn a guzme in akht oder tsehn erter: in peterburg, moskve, minsk, kiev, varshe bekitser umetum, vu ikh hob zikh begegent mit yudishe soldaten oder heymloze. Kharakteristish iz, az kimat umetum hot men zi dertsehlt nisht vi a mayse, nor vi a fakt, vos hot getrofen mit dem un dem.« (An-ski 1921: 42) »Ich habe die Legenden in vielen Varianten gehört, wohl ohne Übertreibung an neun oder zehn Orten: In St. Petersburg, Moskau, Minsk, Kiev und Warschau, kurz überall, wo ich auf jüdische Soldaten und Flüchtlinge traf. Charakteristisch war, dass man sie beinah überall nicht wie eine Erzählung, sondern wie ein Ereignis erzählt hat, das diese oder jene Person betraf.«

An-skij erzählt eine weitere solche Legende nach, diesmal ohne sie als Zitat einer mündlichen Erzählung zu kennzeichnen. Es handelt sich um die Geschichte von sechs Juden, Händlern, die die russische Armee angeblich mit vergiftetem Hafer belieferten, so dass die Pferde der Russen sofort starben, worauf die Juden zum Tode verurteilt werden: Fünf werden hingerichtet, nur der sechste, der später verurteilt worden war, fi ndet die Zeit, auf einen polnischen Gutsbesitzer X zu verweisen, der den Hafer verkauft haben soll. Letztendlich erweist sich der polnische Gutsbesitzer als derjenige, der in dieser Legende den Hafer vergiftet hat, so dass der sechste Gefangene befreit werden kann und der Gutsbesitzer statt seiner hingerichtet wird. Die Volkskunde hat sich – wie oben gezeigt – mit solchen kollektiven fi ktionalen Erzeugnissen des Krieges beschäftigt, zu denen nicht nur Alltagserzählungen, sondern auch Spionageromane und -filme gerechnet werden können, deren Wirksamkeit sich allerdings über andere mediale Kanäle und Medien vollzieht. Eva Horn kommt mit Bezug auf Spionagegeschichten in ihrem Der geheime Krieg zu dem Schluss: »So instabil und verzerrt ihr Verhältnis zur Wirklichkeit sein mag, so ist die Fiktion doch eine in höherem Maße wirksame Erzählung. Wer sie hört, wird von ihr ebenso verändert wie der Gegenstand und Erzähler der Geschehnisse.« (Eva Horn 2007: 48). Gerade die Überdeterminiertheit von fi ktionalen Texten unterstütze dabei die höhere Wirksamkeit der Erzählung. Teilweise treffen diese Ausführungen Eva Horns zur HöhenkammSpionageliteratur auch auf orale Erzählungen wie die populäre Legende 147

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vom vergifteten Hafer zu. Auch hier werden die Zuhörer und Verbreiter der Legenden durch das Hören und Erzählen verändert, zumindest beschreibt An-skij die negativen Auswirkungen der massenhaften Zirkulation von Erzählungen über jüdische Sabotage und Spionage sehr anschaulich. Die Erzählungen haben eine eigene »Autopoesis«, eine eigene Erzählwirklichkeit, die eine folgenreiche Wirkung in der »›normalen‹ Wirklichkeit« entfaltet (Neubauer 1998: 74): Sie mögen im Fall dieser speziellen Legende vom vergifteten Hafer zum Beispiel die Hoffnung aufrecht erhalten, dass es eine Rettung aus falscher Anklage geben kann und die Gerechtigkeit siegt oder zumindest das unschuldige Opfer fünf hingerichteter Menschen in Erinnerung halten. Die Legende vom vergifteten Hafer zeigt aber auch, dass ihre Wirksamkeit nicht nur durch Überdeterminiertheit und einen Überschuss an Sinn zustande kommen kann, sondern hier die Legende erfolgreich in eine galizische Konstellation eingepasst wird, deren Hauptfiguren den sozialen und historischen Gegebenheiten Galiziens mit seiner langen multiethnischen Geschichte entnommen sind. Auff ällig ist die Namenlosigkeit der Akteure und die fehlende Ortsund Zeitangabe – auch wenn An-skij darauf verweist, dass diese in den Varianten Namen erhalten haben. Alloport und Postman haben denn auch die Nivellierung (levelling; Einebnen von Besonderheiten), Zuspitzung (sharpening) und Assimilation (assimilation; Anpassen an den Informationskontext samt Informationslenkung und Netzdiff usion) als das dreiteilige Grundgesetz des Gerüchts bezeichnet (Fine/Severance 1984: 1107f. und Neubauer 1998: 216), das auch bei An-skijs Legende gültig ist. Die Assimilation ist in einem multiethnischen Gebiet eine komplexe Aufgabe, so ist hier die Kopplung von Beruf/Rang (Gutsbesitzer) und Ethnie (Pole) ein Nachweis dafür, dass das Gerücht für ein galizisches Ohr erzählt wurde. Die Legende zielt somit nicht in erster Linie auf rein nationale Stereotypen, wie wir es aus vielen Witzen kennen, sondern denkt Nation und Ethnie immer aus der transnationalen Alltagswelt Galiziens heraus, die auch im Krieg noch bestehen bleibt: Es sind russische Soldaten, polnische Gutsbesitzer und jüdische Händler – wie sie auch in der zeitgenössischen Literatur zu finden sind. Diese Figurenzusammenschau appelliert an Besonderheiten der galizischen Lebenswelt, so dass die Nennung eines polnischen Gutsbesitzers bei jüdischen Zuhörern sogleich den Verdacht der Schuld entfachen wird. Trotzdem lässt sich die ganze Geschichte recht einfach kippen und eine Gegengeschichte erschaffen, in der nicht mehr das unschuldige Opfer der Juden erzählt wird, sondern das huzulischer Bauern, was ein Fund in der ukrainischen Literatur der 1920er Jahre bezeugen kann: Während in der obigen Geschichte der polnische Gutsbesitzer der Schuldige ist, 148

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der nicht nur russische Pferde tötet, sondern auch den Tod der jüdischen Händler in Kauf nimmt, findet man in einem ukrainischen Erzählzyklus von Marko Čeremšyna (1874-1924) über ein ukrainisches Dorf im 1. Weltkrieg, Selo za vijny (Dorf im Krieg, 1925), eine Version des Gerüchts von der falschen Anklage, die eine ganz ähnliche Dreierkonstellation in Szene setzt – allerdings ohne wundersame Rettung und mit sehr ausführlichen antisemitischen Details versehen. Erneut ist ein Einzelner der Saboteur, die das Land besetzenden Russen das auslösende Moment für einen Verrat und eine dritte Gruppe die Opfer. Der »reiche« Jude und Wirtshausbesitzer Dzel’man spielt den russischen Soldaten und Kosaken mit (dieses Mal) russischen Sprachkenntnissen Informationen zu und verrät damit die ukrainischen Bauern (eine Gruppe, die bei An-skij selten auftaucht), um an ihr Hab und Gut zu kommen. Čeremšyna zeichnet Dzel’man nicht nur als geldgierig und hinterlistig, sondern bringt ihn auch in Verbindung mit Spionage und Sabotage – mischt also Vorkriegsstereotype mit Stereotypen aus Kriegszeiten. So fragen Kosaken, die ins Dorf reiten Dzel’man sofort: »Ty špion, ž ide?« (Bist Du ein Spion, Jude?, Čeremšyna 1987: 126). Fast scheint es, als habe Čeremšyna eine Kriegslegende zum Ausgangspunkt seiner Erzählung gemacht; oder ist hier eine Alltagserzählung in einen schriftlichen Kontext gesprungen? Orales und schriftliches Erzählen sind hier so eng miteinander verflochten, dass sicherlich auch Figuren aus schriftlichen Quellen in Alltagserzählungen hinüberwechseln konnten. Der reiche jüdische Wirtshausbesitzer in einer ukrainischen Erzählung ist mit dem Stereotyp des reichen polnischen Gutsbesitzers in einem jüdischen Erzählzusammenhang vergleichbar. Je nach Kontext und Erzählperspektive werden also anscheinend die Rollen umbesetzt und entsprechend andere Schuldzuweisungen vorgenommen. Die von An-skij aufgezeichneten Legenden von Spionage, Verrat und Falschheit werden somit in einem besonderen transnationalen europäischen Raum erzählt. Im Alltag ist der Weg zum anderen, zum fremden einheimischen Nachbarn immer schon eine religiöse, sprachliche oder ethnische Grenzüberschreitung, die mal mehr und mal weniger gelingt. Im Krieg werden diese Konstellationen vor allem dann brüchig, wenn Narrationen wie die genannten Kriegserzählungen über jüdische Telefonspionage Konflikte modellieren und Feindschaft erschaffen, indem sie den jüdischen Nachbarn zum inneren Feind umcodieren oder militärische Verluste nachträglich durch Sabotageerzählungen erläutern. An-skij selbst interessieren persönlich besonders die Wunderlegenden oder Wunschgerüchte als narrative Krisenbewältigung der Galizianer, die Geschichten, die Rettung aus der Not suggerieren und andere Kriegsparteien schuldig sprechen, von Opfern und Verlusten erzählen, Menschen auf wundersame Weise aus Gefängnissen befreien oder Synagogen unter 149

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der Erde finden. Sie begegnen seinem eigenen Krisenbewusstsein als moderner säkularer Jude: Deswegen schaut sich An-skij in Galizien diese narrativen Strategien während der Kriegshandlungen bei den Shtetlbewohnern als Überlebenspraxis ab. Sein parallel zur Chronik geschriebenes Drama Der Dibbuk (russ. Dibuk, jidd. Dibek) ist inspiriert von diesen Formen heilenden, produktiven kollektiven Erzählens – einer Alltagspraxis, die in Friedenzeiten traditionelles und neues Wissen vermitteln kann, aber in Zeiten des Krieges auch dem bedrohlichen Kriegsalltag durch Gegenerzählungen Gestalt gibt.

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»… dar in die Echos des Kr ieges widerhallten«: Die Spuren des Zweiten Weltkr iegs in der Generationenliteratur Andreas Kraft (Konstanz)

Einleitung Der vorliegende Beitrag ist den Spuren des Zweiten Weltkriegs in jenen Texten gewidmet, die oft als Generationenliteratur bezeichnet werden: diese ›Gattung‹ ist durch ihre Schilderung von Generationenbeziehungen definiert, die durch die Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges in weitestem Sinne überschattet sind. An diesen Texten wird deutlich, dass der Krieg, der die Gesellschaft erschütterte, in dieser weiterhallt und damit auf eine längere Zeit wahrnehmbar bleibt. Das Zitat im Titel hebt genau auf diesen Tatbestand ab: es stammt aus dem Roman »Die Unvollendeten« von Reinhard Jirgl, den ich unter anderem näher besprechen möchte. Analog zu diesem Widerhallen des Krieges in der Gesellschaft kommt es auch zu einem Nachklingen des Krieges in den Psychen der Generationen. Die fi ktionalen Texte der Generationenliteratur veranschaulichen, dass dieses Widerhallen, dieses Insistieren sich in Gestalt von Narrativen vollzieht, Narrativen, die durch Traumatisierungen geprägt sind und nur anhand von anderen, von Gegen-Narrativen unterlaufen, aufgehoben und damit bewältigt werden können. Im Folgenden soll es zunächst darum gehen, einige grundlegende Überlegungen und Beobachtungen zum Problem des transgenerationalen Weiterwirkens des Krieges in der Generationenliteratur zu formulieren und dabei die Frage nach der Rolle der Väter in den Mittelpunkt zu stellen. In einem zweiten, längeren Teil werden die Romane »Abschied von den Kriegsteilnehmern« von Hans-Josef Ortheil und »Die Unvollendeten« von 153

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Reinhard Jirgl unter dem Aspekt der transgenerationalen ›Weitergabe‹ des Krieges und deren narrativer Bewältigung genauer analysiert.

Kr ieg, Gesellschaf t und die psychische Dimension Laut Sofsky bildet der Krieg eigene Gesellschaftsformen, die sich von jenen in Friedenszeiten unterscheiden. Doch zum Krieg gehören auch Situationen wie die Belagerung von Städten, die Flucht, die Vertreibung aber auch das Geschehen auf dem Schlachtfeld, in denen das Soziale mehr oder weniger weitgehend zerfällt. Über den Kampf an der Front schreibt Sofsky: »So geordnet der Aufmarsch vor sich gegangen ist, mit dem Überschreiten der Feuerlinie ändert sich alles. Ordnung, Disziplin, Hierarchie brechen auseinander. […] Das Soziale wird zersprengt, die Primärgruppen werden auseinandergerissen. Unter dem Druck der Turbulenzen zerspalten sich die sozialen Moleküle in ihre Elemente.« (Sofsky 2002: 118)

Diesem Zerfallen des Sozialen in seine einzelnen Elemente wird u.a. eine militärische Ordnung entgegengestellt, die den Zustand der Auflösung so weit wie möglich unter Kontrolle zu halten versucht, um dadurch das Chaos des Kampfes kontrollier- und damit handhabbar zu machen. In dem Moment, in dem eine der Parteien der anderen nicht nur unterliegt, sondern von dieser völlig vernichtet wird, zerbricht häufi g die militärische Ordnung des Verlierers und das Chaos beginnt zu regieren. Dem Sieger fällt hier in diesem Moment die Aufgabe zu, das Chaos zu verwalten, d.h. wieder in eine Ordnung zu überführen, damit die Situation nicht in gefährlicher Weise sich verselbstständigt. Aber nicht nur direkt an der Front mit ihren Kampf handlungen erzeugt der moderne Krieg eine Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung: moderne Kriege greifen auch auf das Hinterland über und beeinflussen häufig jene Werte, Normen und die sozialen Strukturen, die für die Gesellschaft im Frieden gelten. Dies gilt besonders dort, wo die Kampfhandlungen etwa durch den Bombenkrieg oder durch die Besatzung eroberten Geländes das Hinterland zur Heimatfront verwandeln und die nicht militärisch organisierte Bevölkerung in Mitleidenschaft ziehen. Aus der Perspektive der Individuen bricht sowohl im Krieg, als auch in jener Phase direkt nach dem Krieg immer wieder eine lebensbedrohliche Kontingenz in das sonst geordnete und überschaubare Leben ein. Rechtsnormen werden im Krieg, aber auch gelegentlich in der ersten Besatzungszeit ignoriert, Werte, nach denen in Friedenszeit oft unhinterfragt das Le154

Die Spuren des Zweiten Weltkr iegs in der Generationenliteratur

ben organisiert wird, verlieren ihre Gültigkeit. Zu der Erfahrung des Krieges gehört aber vor allem auch, dass Grausamkeiten, die in einer normalen gesellschaftlichen Ordnung – wenn überhaupt – nur unter bestimmten kontrollierten Bedingungen einen Platz haben, nun plötzlich irgendwo und irgendwann stattfinden können. Diese Erfahrung der Kontingenz, die die herrschende gesellschaftliche Ordnung mehr oder weniger weitgehend aushöhlt, kann bei den Individuen ihre psychischen Spuren hinterlassen. Die psychische Entwicklung von Identität ist laut Erikson ein Prozess, der stark von der Gesellschaft her geprägt ist, und in dem die Gesellschaft mit ihrer Ordnung, ihren Normen und ihren Strukturen ein Teil der psychischen Disposition des Individuums wird. (Erikson 1993) Die Psyche des Menschen ist also eine Ordnung von seelischen Dynamiken, in die auch die Erfahrungen des Sozialen, des Gesellschaftlichen an zentraler Stelle eingeschrieben sind. So ist jeder Krieg, der die Ordnung der Gesellschaft erschüttert, oder gar, wie direkt auf dem Schlachtfeld, bei der Belagerung oder der Flucht, suspendiert und dem Chaos anheimgibt, auch ein Angriff auf eben die Psyche als Ort der verinnerlichten gesellschaftlichen Ordnung.1 Psychologisch betrachtet kann die lebensbedrohliche Kontingenzerfahrung des Krieges hier nachhaltig das Urvertrauen und damit das Fundament eines ausgeglichenen Seelenlebens erschüttern. Dort, wo Krieg die Grundlagen der psychischen Persönlichkeit zerrüttet hat, besteht die Gefahr, dass diese Zerrüttung über eine transgenerationale Weitergabe auf die folgenden Generationen einwirkt. Die Entwicklung einer stabilen Identität ist abhängig von einem ebenso psychisch stabilen Gegenüber. Wo dieses Gegenüber seelisch geschädigt ist, perpetuieren sich psychische Defizite von einer Generation in die nächste. Dies geschieht, indem die seelisch verwundeten Eltern in der Erziehung ihrer Kinder deren psychische Entwicklung mit ihrem Verhalten negativ beeinflussen. Wie besonders in der Opferforschung nach dem Holocaust festgestellt wurde, produzieren traumatisierte Eltern neurotisierte Kinder, die auch an dem Trauma der Eltern laborieren. Dieses Muster der intergenerationellen Weitergabe von seelischen Schäden gilt nun auch für Kriegserfahrungen. (Schmidbauer 1998) Für das Verständnis solcher Prozesse der Weitergabe seelischer Verwundungen ist die Einsicht wichtig, dass wir in Ordnungen von Narrativen leben, die uns helfen im Leben auch mit dem fertig zu werden, was uns mehr oder weniger unvorbereitet zustößt. Diese Narrative und Sinnhori1. Hier ist nicht der Platz der Frage nachzugehen, inwiefern der Krieg aber immer auch gewisse psychische Bedürfnisse befriedigt, die in der Gesellschaft in Friedenszeit keinen Ort haben. Siehe hierzu besonders Stavros 2002.

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zonte ermöglichen es uns, Ereignisse in unsere Welt einzuordnen, in der zwischen der Realität und unserer Phantasie unterschieden wird. Traumatische Erfahrungen wie etwa das lebensbedrohliche Einbrechen von Kontingenz im Krieg sind nun solche, die sich der narrativen Einbindung in unsere erzählte Welt sträuben und dadurch deren Ordnung bedrohen. Das, was hier in der Kontingenz in die Ordnung einbricht, wird gelegentlich auch als das Reale bezeichnet, das eben jenseits der Signifikanten liegt und das der Ursprung einer traumatischen Erfahrung sein kann. Von diesem muss das, was man Realität nennt, unterschieden werden: letztere ist gerade aus den Narrativen und der Ordnung der Zeichen kollektiv konstruiert und ein Produkt eines gesellschaftlichen Konsenses. Dieser Hypothese, nach der der Mensch die Welt erzählerisch zu erfassen und zu bewältigen versucht, folgt unter anderem auch die neuere narrative Psychotherapie. (Grossmann 2003 und White/Epston 2002) Diese geht hinaus über die »talking cure« der Psychoanalyse: es geht nicht nur darum, Worte zu finden, die eine psychische Heilung ermöglichen, weil durch diese das Individuum wieder in den Sinnhorizonten jener Kultur ankommt, die die Realität bestimmt und an die das Individuum sich mit dem Realitätsprinzip orientieren muss. Die narrativen Ansätze der neueren Psychotherapie versuchen vielmehr dezidiert die narrativen Vernetzungen von Worten sichtbar zu machen um damit die Möglichkeit zu eröff nen, alternative Erzählungen zu ermöglichen. Diesem Ansatz liegt die Einsicht zugrunde, dass psychische Pathologien gerade durch Narrative gefestigt sind. Im Fall einer Traumatisierung bedeutet dies, dass die Kontingenzerfahrung des Realen durch die bestehenden Narrative nicht erfolgreich in jene Realität, die das Produkt einer konsensfähigen Erzählung ist, übersetzt werden kann. Aufgabe der Therapie ist es darum, diese unzureichenden oder schädlichen Narrative zu entwerten bzw. umzuschreiben und neue, tauglichere Narrative entstehen zu lassen. Konkret kann dies bedeuten, dass jenes Narrativ, mit dem der Patient seine eigene Identität konstruiert, in unguter Weise von jenen Erzählungen der Eltern geformt ist, mit der diese Aussagen über ihr Kind machen. Im Fall jener Eltern, die zur Kriegsgeneration gehören, sind diese Erzählungen häufig auch von jenen Kriegserfahrungen durchdrungen, die sie selbst nicht ausreichend verarbeiten konnten. Eine narrative Therapie würde hier das Ziel verfolgen, zuerst diese Narrative sichtbar zu machen, mit denen das Kind seine psychisch problematische Identität festschreibt, um dann in einem zweiten Schritt eine alternative Erzählung zu formulieren, durch die das Individuum sich von den impliziten oder expliziten Zuschreibungen durch die Eltern absetzen kann. Die Ersetzung einer »beherrschenden Erzählung« (White 2002: 31) durch eine neue ist dabei nicht nur eine kritische Auseinandersetzung mit innerfamiliären sondern auch mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen, 156

Die Spuren des Zweiten Weltkr iegs in der Generationenliteratur

da die innerfamiliären Narrative immer auch eingebunden sind in die größeren gesellschaftlichen Erzählungen.

Väter als Kr iegsteilnehmer Das Verhältnis von alternativer Narration und Identitätsvergewisserung lässt sich besonders schön an einem Beispiel aus Peter Henischs VaterBuch »Die Kleine Figur meines Vaters« aufzeigen. Der Text schildert, wie der Sohn seinen Vater vor dessen Tod über seine Vergangenheit als Kriegsphotograph in der SS befragt. Zu Beginn des Textes formuliert Henisch das Ziel, das er mit seinem Text verfolgt: »Jetzt, da ich hier sitze und schreibe, die Geschichte meines Vaters, MEINE Geschichte meines Vaters zu schreiben versuche, ist mir zweimal hintereinander der gleiche Tippfehler passiert. Ich möchte, habe ich geschrieben und deswegen zweimal ein neues Blatt in die Schreibmaschine eingespannt, dass du mir MEINE Lebensgeschichte erzählst. Ich glaube nicht, dass ich mich meinem Vater gegenüber damals in ähnlicher Weise versprochen habe. Aber später habe ich ihm gestanden, dass ich wissen möchte, wer ER ist, um mir darüber klar zu werden, wer ICH bin.« (Henisch 1975: 11)

Dem Autor geht es in seinem Text also darum, sich in Abgrenzung zum Vater seiner eigenen Identität zu vergewissern. Dabei sieht er sich mit dem Problem konfrontiert, dass zwischen seiner und der väterlichen Identität die Grenzen zu fließen scheinen. Psychologisch betrachtet ist der Wunsch nach Identitätsvergewisserung Teil eines normalen Prozesses in der ontogenetischen Entwicklung, bei dem es darum geht, sich aus einer allzu einseitigen Identifi kation mit den Eltern zu lösen, um so zu einem eigenständigen Erwachsenen zu werden. Ziel ist es hierbei, ein eigenständiges Selbstbild zu entwickeln, ohne dabei alle verinnerlichten Idealisierungen, die das Individuum im Laufe der Kindheit mit dem Bild der Eltern verbunden hat, zu zerstören; oder, anders gesagt, eine Balance zu finden zwischen Identifi kation und Abgrenzung (siehe bes. Stierlin 1989). Dieses Ringen um Identität ist ein zentrales Motiv vieler Texte der Generationenliteratur. Henischs Zitat macht deutlich, was in all diesen Texten zudem von Bedeutung ist: die Identitätssuche, bzw. Selbstvergewisserung ist vor allem ein narrativer Prozess, bei dem es darum geht, die Geschichte des Vater zu erzählen, um dabei zugleich die eigene Geschichte besser in Worte fassen zu können. Eine wichtige Rolle bei diesem narrativen Prozess spielt die normative Bewertung des Vaters, wobei die eigenen grundlegenden Wertvorstellun157

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gen in Bezug zu jenen gesetzt werden, die dem Vater in seinem vergangenen Leben zur Orientierung dienten. Henischs Buch ist ein Beispiel dafür, dass für die Söhne der Kriegsteilnehmer häufig die Frage im Zentrum steht, ob der Vater an dem Grauen und den Verbrechen im Krieg beteiligt war, wie er diese wahrnahm und mit ihnen umging. In Peter Henischs autobiographischem Roman erfährt der Sohn, dass dem Vater als Kriegsberichterstatter die Kamera als ein Instrument diente, mit dem er Distanz zwischen sich und den schrecklichen Erfahrungen herstellen konnte. So sagt der Vater seinem Sohn: »Wenn ich vor einem brennenden Haus stehe und ich sehe, wie die Leute aus den Fenstern springen, so wird mir das ALS MENSCH furchtbar Leid tun. ALS FOTOGRAF aber wird es mir Motiv sein, und ich werde, den Finger am Auslöser, davorstehen, -knien oder -liegen und lauern. Und mein Fotografengehirn wird nichts anderes im Sinn haben als die genaue Entfernung, die richtige Belichtungszeit und die entsprechende Blende. Und wenn die Frau, die soeben aus dem vierten Stock springt, genau am zweiten Stock vorbeikommt, drück ich ab.« (Henisch 1975: 48)

Indem der Kriegsberichterstatter beim Fotografieren sich gänzlich auf das Foto als ästhetisch-technisches Produkt konzentriert und damit das eigentliche Geschehen ausblendet, schützt er sich vor dem traumatisierenden Einbruch des Realen, das den Krieg charakterisiert. Die Unterscheidung zwischen Fotograf und Mensch, die der Vater im Krieg auf diese Weise vollzog, erscheint dem Sohn unmenschlich, unverständlich und nicht akzeptabel. Aber nicht immer sah sich der Vater in der Lage, sich mithilfe der Kamera vor dem Realen des Krieges zu schützen: »Und trotzdem: gewisse Bilder bleiben im Kopf. Zum Beispiel das Bild einer alten, verängstigten Frau. Die hält den Stiefel eines Soldaten umfasst. Aber der Stiefel tritt sie einfach beiseite. Oder das Bild eines angeschossenen Hundes. Sein Hinterleib ist zerfetzt, er schleift ihn nach. Und dann bleibt er liegen und schaut nur, liegt nur und schaut. Gewisse Bilder wirst du nie wieder los.« (Ebd.: 86)

Indem der Sohn die Erzählungen des Vaters in seiner Erzählung wiedergibt, befragt er die moralisch-ethische Haltung des Vaters angesichts des Grauens, das Teil des Krieges ist und nur bedingt Platz in der Friedensgesellschaft hat. Der Krieg ist hier also in dem Text des Sohnes in verschiedener Form präsent: zum einen in den Grausamkeiten des Krieges, von denen der Vater berichtet, zum anderen aber auch dort, wo die Mentalität des Kriegsteilnehmers befragt wird, also in der früheren Haltung des Va158

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ters als Soldat, d.h. als ein Individuum, das den Mustern der Gesellschaft des Krieges folgte, in der Werte und Moral oft anders bewertet werden, als in Gesellschaften in Friedenszeiten. Solche Konfrontationen mit dem Schrecken des Krieges und den veränderten Werthorizonten der kriegerischen Gesellschaft sind für die Kindergeneration in der Regel eine Belastung, der man lieber ausweicht. Uwe Timm schildert in seinem Buch »Am Bespiel meines Bruders« genau solch ein Ausweichen: ein Eintrag im Tagebuch des älteren Bruders, der als SSMann an der Ostfront war, ist für ihn lange Anlass, sich der Auseinandersetzung mit diesem Bruder zu verweigern. »Brückenkopf über den Donez. 75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG. Das war die Stelle, bei der ich, stieß ich früher drauf […] nicht weiterlas, sondern das Heft wegschloß. Und erst mit dem Entschluß, über meinen Bruder, also auch über mich, zu schreiben, das Erinnern zuzulassen, war ich bereit, dem dort Festgeschriebenen nachzugehen.« (Timm 2003: 19)

Das Menschenverachtende, das in diesem Satz des MG-Schützen deutlich wird, bietet einen Blick in eine Soldatenmentalität, die in ihrer Kaltblütigkeit dem jüngeren Uwe Timm unerträglich ist, da sie dem Bild des idealisierten älteren Bruders zuwiderläuft. Diese Mentalität sagt nun aber nicht nur etwas über den Bruder aus, sondern ist zugleich auch Widerhall jener militärischen Gesellschaft des Schlachtfeldes, in dem Menschlichkeit als Wert keine Rolle mehr spielt. Dieser Widerhall jener militärischen Gesellschaft findet sich weit verbreitet in der Mentalität jener Väter, die in der Generationenliteratur als ehemalige Kriegsteilnehmer beschrieben werden. Der dabei in den Texten geschilderte Vater-Typ verbindet militärische Sozialisation mit einem wilhelminischen Männlichkeitsideal. Es ist gekennzeichnet durch Härte gegen sich selbst und andere, Gefühle werden als Sentimentalitäten abgetan und die Welt wird als Ort mit hierarchischen Machtverhältnissen verstanden, in denen es keinen Raum für Widerspruch und Diskussion gibt. Dementsprechend ist der Vater in diesen Texten in der Regel autoritär, versteht sich als machthabendes Familienoberhaupt und wurde für die 68er Revolte zum Repräsentanten einer autoritären Gesellschaft. Gerade in diesem Charakterprofi l der Väter verbindet sich nahtlos eine militärische Prägung mit wilhelminischen Männlichkeitsvorstellungen. Brigitte Schwaiger schildert in ihrem Text »Lange Abwesenheit« einen jähzornigen, launischen Vater als besonders drastisches Beispiel eines solchen Kriegsvaters:

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»Mit dem Besteck so umgehen, wie du es auf der Offiziersschule gelernt hast. Wir haben alles gelernt von dir und auch früh gelernt, andere Menschen wegen ihrer Tischsitten zu verachten. Wenn du deine Hauptmannsuniform aus dem Krieg daheim getragen hättest von Anfang an, dann wäre vielleicht vieles deutlicher geworden.« (Schwaiger 1980: 24)

Die Tochter macht deutlich, wie sehr die militärische Prägung des Vaters noch dessen Rollenverständnis als Familienoberhaupt bestimmt. Dabei lebt er immer wieder einen tyrannischen Jähzorn aus, der deutlich die Züge eines psychisch-emotionalen Defekts trägt. Jedes Be- und Verurteilen von Familienmitgliedern durch einen jähzornig-autoritären Vater kann das Muster einer aggressiven Traumabewältigung sein, in dem sich ein psychisches Verhaltensmuster fortsetzt, das z.B. in Kriegssituationen erworben wurde: »Der Partner, das Kind müssen entweder alle Erwartungen erfüllen, oder sie taugen nichts. Was ›gut‹ ist, wird beschützt, was ›schlecht‹ ist, wird fallengelassen und – wenn es nicht leicht loszuwerden ist, wie ein Kind oder ein Ehepartner – gehasst. Das vereinfacht die Welt unter den Bedingungen schneller Entscheidungen und unmittelbarer Bedrohung, aber es macht das Zusammenleben mit solchen Personen schwer erträglich.« (Schmidbauer 1998: 198f.)

Die Väter in den Vater-Texten tragen alle mehr oder weniger deutlich noch eine ›seelische Uniform‹ und gehören damit immer noch der Sphäre des Krieges an. Aber sie sind nun nicht nur durch die militärische Sozialisation, durch ihre frühere Teilnehmerschaft an den Regeln der Gesellschaft des Krieges geprägt, sondern oft auch durch traumatisierende Erfahrungen. So ist der Vater in jenem Buch, das ich im Folgenden näher besprechen will, weniger durch die militärische Sozialisation geprägt, als durch die Traumatisierung, die er und seine Familie im Krieg erlitten haben.

Hanns-Josef Or theil : »Abschied von den Kr iegsteilnehmern« Ortheils Roman schildert die Trauerarbeit eines Autors, die er nach dem Tod des Vaters als eine Form der Selbsterkundung leisten muss. Der Roman beginnt mit der Beerdigung des Vaters, nach der der Sohn flieht und eine Reise antritt, die ihn nach Amerika führt. Erst dort, nach einigen Umwegen, wird ihm klar, dass er eben als Autor sich der Trauer um seinen Vater und seiner Familie stellen muss: die Aufarbeitung der Vergangen160

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heit beginnt in dem Moment, in dem er als Autor zuerst über seinen Vater, dann über sich selbst zu schreiben beginnt. Bald wird aber klar, dass die Trauer, die der Sohn bewältigen muss, nicht erst mit dem Tod des Vaters begonnen hat. Die Familie des Erzählers scheint sich schon vor dem Tod des Vaters in einem chronischen Zustand der Trauer befunden zu haben, da der frühe Verlust von vier Brüdern des Erzählers nie wirklich überwunden wurde. So wird von der Mutter gesagt, das Leben »in einem Sud von Erinnerungen« (Ortheil 2005: 13) an ihre gestorbenen Kinder hätte sie fast getötet und sie hätte sich ganz in jener Trauer über die toten Söhne eingerichtet. Für sie, die obsessiv Trauernde, gibt es nur den Verlust und die Vergangenheit. Die in der Familie kursierende Darstellung dieser Vergangenheit, die wir durch den Sohn als Erzähler berichtet bekommen, verbindet kausal den endlos betrauerten Tod der Söhne mit dem Krieg, der als der einzige Grund für das Unglück der Familie betrachtet wird. Dieses Unglück begann schon damit, dass der Krieg zur Entwurzelung des jungen, noch kinderlosen Ehepaares führte, indem er dieses vom Westen in den Osten, nach Berlin, verschlug. Hier, fern der Heimat, konnte sich das junge Paar nur mühselig akklimatisieren: als dann der Vater weiter nach Kattowitz versetzt wurde, half ihnen die Erwartung auf das erste Kind ihr Schicksal zu ertragen und das Heimweh zu vergessen. (Ebd.: 87) Als dann aber das Kind wohl aufgrund des Bombenterrors tot zur Welt kommt, verliert vor allem die Mutter den Lebensmut. Dann aber erwarten sie ein neues Kind, das wieder Hoffnung bringt. Der Vater wird zur Trümmerbeseitigung nach Berlin geschickt und dort verletzt. Als er aus dem Krankenhaus nach Hause kommt, wird er nach kurzer Zeit nach Berlin zum Endkampf entsandt, aus dem er nur knapp davonkommt und der ihn traumatisiert. (Ebd.: 99-101) Noch nicht ganz genesen, flieht er dann zu Fuß auf Krücken quer durch Deutschland nach Hause, wo er erfährt, dass sein zweiter Sohn durch eine Granate ums Leben gekommen ist. Der Mutter hat es in der Trauer die Sprache verschlagen und sie beginnt sich psychisch auff ällig zu verhalten. (Ebd.: 104f) Der Vater bemerkt, dass er »dem Krieg nicht, wie gedacht, entkommen sei, sondern dass der Krieg ihn eingeholt und endlich doch noch zu fassen bekommen habe.« (Ebd.: 105) Er schwört nun, nie mehr nach Osten zu fahren und konsequenterweise ist jede Reise, die er dann viele Jahre später mit seinem einzigen Sohn unternimmt, eine Reise in den Westen. Er bewirbt sich nach dem Krieg um eine Stelle in Köln, die er auch bekommt. Beförderungen schlägt er aus, wenn diese mit einem Umzug in Richtung Osten verbunden wären. (Ebd.: 105f.) In ihren Erzählungen beschreiben sich die Familienmitglieder als Opfer eines Krieges, der die Lebensentwürfe der Menschen jenen mili161

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tärischen und sozioökonomischen Sachzwängen eines gewaltigen Eroberungskrieges opferte. Die Entwurzelung aus der Heimat, die die kriegerische Expansion nach sich zieht wird in diesen Familiennarrativen direkt mit dem Tod der Söhne in Beziehung gesetzt. Auch die zwei kurz nach dem Krieg gezeugten Söhne überleben nicht, da sie an einem schwachen Herzen leiden. In der Deutung, die sich die Familie zurechtgelegt hat, sind auch sie Opfer des Krieges geworden. Der Sohn formuliert, indem er den verstorbenen Vater anredet, im Rückblick: »Du hast geglaubt, Du kannst den Krieg hinter Dir lassen, irgendwie kommt man zu Fuß über alles hinweg, doch der Krieg hat dich noch lange nicht freigegeben. Du Kriegsteilnehmer, ja, Kriegsteilnehmer, Du und Deine vier Söhne, Kriegsteilnehmer seid ihr gewesen!« (Ebd.: 245) Diese »Kriegsteilnehmer« suchen den schreibenden, trauernden Sohn als Gespenster heim. Er, der Trauernde, muss sich seiner eigenen Identität gegenüber den Geistern der Brüder erwehren, die schon in seiner Kindheit das ganze Leben der Familie bestimmten: in der Trauer um die toten Kinder war kaum Platz für den einzigen lebenden Sohn in der Familie. So wird das Ringen des trauernden Sohnes um eine eigenständige Identität zum Ringen mit dem Krieg, der in Form der Gespenster der Brüder das Familienleben noch weit nach 1945 bestimmte. Dieses Bild der gespensterhaften Fortsetzung des Krieges nach seinem realen Ende hat einen Prätext in Abel Gance’s Film »J’accuse«, in dem Gance 1918/19 in einer Traumsequenz die toten Soldaten des Ersten Weltkrieges aus den Gräbern wieder auferstehen lässt. Gespenster tragen eine Vergangenheit in die Gegenwart und stellen den Lebenden die Aufgabe, sich klärend, d.h. deutend, sinngebend mit dem Geschehenen auseinanderzusetzen. Gespenstergeschichten handeln von ungehörten Botschaften, uneingelösten Versprechungen, gebrochenen Schwüren und unschuldig Verurteilten. Es geht in ihnen immer um Schuld und moralische Verantwortung, deren Bedeutung die Gespenster, die erscheinen, den Lebenden vor Augen führen wollen bzw. müssen. Sie überbringen eine Botschaft, die vielleicht artikuliert, aber noch nicht gehört bzw. verstanden wurde. (Görling 2005: 190) Und so gehen die Gespenster der gefallenen Soldaten im Film von Abel Gance auch in die Stadt zu den Lebenden um zu sehen, ob ihr Opfer, ihr Leiden wirklich eine sinnvolle Spur im Leben der Menschen, der Gesellschaft hinterlassen hat. Die Frage, die die Gespenster der Gefallenen stellen, ist also die nach dem Sinn des Krieges, der zu guter Letzt doch sinnlos ist: so wird ihr Erscheinen zu einem warnenden Menetekel vor dem Krieg und ein Appell für den Frieden. (Winter 1995) Das, was sich im Bild der Gespenster – in Ortheils Roman wie in Gance’s Film – ereignet, die Wiederkehr oder die anhaltende Präsenz der Verstorbenen, ist wiederum auch ein Gegenstand der Psychotherapie: sie 162

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hat sich nämlich ebenfalls mit dem in Ortheils Roman beschriebenen ›Symptom‹ zu beschäftigen, dass verstorbene Familienmitglieder über ihren Tod hinweg in der Familie eine psychische Präsenz haben und das System der Familie – oft ohne dass es dieser bewusst würde – nachhaltig beeinflussen können. In Hanns-Joseph Orteils Roman erlebt der Sohn sich immer wieder wie aufgesogen von der Identität des toten Vaters und der toten Brüder, die in der Familie immer präsent sind und die ihn verfolgen. Der Krieg ist nicht nur durch die Trauer der Mutter, sondern in Form der Gespenster der toten Brüder in der Familie immer anwesend. Der Sohn lebt somit zwar in der Gegenwart, er ist aber zugleich an die Kriegsvergangenheit gebunden, die ihm keine Möglichkeit gibt, eine eigenständige Identität zu entwickeln. Erst durch das Schreiben, durch die Besinnung auf seine Identität als Autor schaff t es der Sohn, sich vom Vater zu emanzipieren und von den Geistern des Krieges zu lösen. Ortheils Vater-Text ist nun nicht einfach ein Beispiel dafür, wie das transgenerationale Weiterwirken des Krieges mit narrativen Mitteln therapeutisch bewältigt werden soll. Der Text schildert vielmehr die Geschichte eines Schriftstellers, also eines Individuums, dass gerade im schriftlichen Erzählen seine Lebensaufgabe und seine soziale Rolle findet. Die dargestellte Entwicklung erscheint dabei als Geschichte einer narrativen Loslösung: Nach und nach tauscht der Protagonist die Rolle eines ›Familienschreibers‹, der die familienstabilisierenden Narrative formuliert, gegen die Rolle eines selbstständigen Autors ein, der seine eigene Interpretation der Familiengeschichte erzählt. Der Weg des Protagonisten als Schreibender beginnt in dem Moment, in dem die Mutter, der die Trauer über ihre toten Söhne die Sprache verschlagen hat, diese wieder mühselig erlernt. Sie tut dies, indem sie ihrem jungen Sohn den bewussten Umgang mit Sprache, das Schreiben beizubringen versucht. Dabei aber wird klar, dass es eigentlich er ist, der der Mutter die Sprache wieder beibringt, denn in Wirklichkeit machte er immer schneller Fortschritte als sie, was er aber ihr gegenüber immer verheimlichte. (Ortheil 2005: 263)2 Eine seiner Aufgaben war es bei diesem gemeinsamen Lernprozess, die Tagesabläufe für die Mutter aufzuschreiben: »denn durch das Lesen meines Geschriebenen hat meine Mutter wieder Kontakt zu sich selbst gefunden, und so war mein Schreiben für sie oft die einzige Rettung, sich an alle Einzelheiten genau zu erinnern.« (Ebd.: 263) Etwas später hatte der Vater von ihm auf den Reisen verlangt, eine Art ›Reisetagebuch‹ als faktenorientierte Dokumentation zu führen. 2. Das 1983 erschienene Buch »Hecke« von Hanns-Josef Ortheil hat diesen Prozess zum Gegenstand.

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Die Berichte waren für die Mutter gedacht, die immer daheim blieb. Zu Hause wieder angekommen, las dann der Sohn der Mutter und dem Vater dieser Berichte vor, so dass sie zu dritt die Reise noch einmal durchleben konnten. Neben diesen dokumentierenden Schreiben versuchte der Sohn durch Briefe, die er an die toten Brüder schrieb, mit diesen in Kontakt zu treten. »In der ersten Zeit habe ich auch für meine Brüder geschrieben, ich habe meinen Brüdern lange Briefe geschrieben und sie angehalten, mich zu besuchen oder sonst in Erscheinung zu treten. Mein Schreiben ist ein Schreiben für meine toten Brüder gewesen, und ich habe meinen Brüdern eine Botschaft senden wollen auf ihren fernen Kontinent. Bis zu meinem elften Jahr habe ich ihnen geschrieben, dann habe ich meine Lockversuche aufgegeben. Wichtiger noch sind diese Briefe an meine Brüder für meine Mutter gewesen, durch diese Briefe habe ich unsere Familie ihrer Meinung nach zusammengehalten, und so habe ich durch meine Briefe die Einheit der Familie beschworen und das Band zwischen den Lebenden und den Toten geknüpft.« (Ebd.: 265)

Deutlich ist zu erkennen, dass sein Beginn als Schreibender in der Familie durch die Übernahme einer Funktion stattfand, die das durch Trauer und Leid – also durch die Nachwirkungen des Krieges – angeschlagene Familiensystem stabilisieren sollte. Neben der Funktion als schreibender Sohn erfährt sich der Protagonist vor allem auch als Stellvertreter der toten Brüder, denen Vater und Mutter immer noch nachtrauern. Die Brüder scheinen mehr Realität für diese zu haben als er selbst: in der Familie nimmt ihn niemand als eigenständiges Individuum war, sondern immer nur in Bezug auf jene Toten. Gefangen in den familiären Rollenzuweisungen, die ihm keine Möglichkeit boten, eine eigenständige Identität zu entwickeln, begann er im Laufe der Zeit für sich selbst zu schreiben, womit er für sich »ein winziges Stück Freiheit« (ebd.: 264) verwirklichte. Damals habe er in seinem Schreiben zu phantasieren begonnen, weil er es im Dienst des Vater nicht mehr aushielt: »Durch das Phantasieren habe ich mir eine andere Möglichkeit des Schreibens beigebracht, durch das Phantasieren habe ich mir den letzten Rest von Freiheit zu erhalten versucht.« (Ebd.: 262) Genau dieses Stück Freiheit durch das selbstbestimmte Schreiben eröff net ihm ein Feld, auf welchem er mithilfe der neu gewonnen Identität als Schriftsteller die fremdbestimmte Rolle als Familienschreiber ablegen kann. (Ebd.: 264) Auf einer letzten großen Reise mit dem Vater findet die endgültige Loslösung von der Rolle als Familienschreiber statt. (Ebd.: 260-262) Auf der Schiffspassage, auf der wenig passiert, wird dem Sohn das Verfassen des faktenorientieren Reiseberichts so öde, das er beginnt, kleine Geschichten 164

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hinzuzuerfinden. Als der Vater dies merkt, ärgert dieser sich und versucht den Sohn zu korrigieren. (Ebd.: 261) Dieser durchschaut aber das Problem, das der Vater mit diesem Schreiben hat: »Plötzlich hatte er begriffen, daß das Schreiben noch andere, für ihn dubiose Möglichkeiten barg. Mit dem Schreiben war mehr anzufangen als bloßes Festhalten und Konstatieren, ein dürftiges Sammeln der Eindrücke zur Aufbewahrung für die Zukunft, das Schreiben war auch dazu geeignet, die Eindrücke zu verwandeln, sie umzuerzählen in eigenständigen, sich von den Eindrücken ablösenden Geschichten.« (Ebd.: 261)

Während der Vater für Phantasie nichts übrig hat und nur im dokumentarischen Schreiben einen Sinn sieht, ist sich der Sohn als Literat der transformierenden Fähigkeit des Narrativen bewusst, die dort besonders mächtig wird, wo sich das Schreiben der Möglichkeiten des Imaginären bedient.3 Diese Schiffspassage markiert das endgültige Zerwürfnis zwischen dem Vater und seinem Familienchronisten. Von nun an dachte der Sohn nur noch an Flucht (»wilde Fluchtgedanken« Ortheil 2005: 266) und versteckte sich in der elterlichen Wohnung vor Vater und Mutter. Mit diesem Zerwürfnis zerbricht auch die Einheit der Familie, die sich über seine Rolle als Familienschreiber und Stellvertreter der toten Brüder konstituierte: »Die dichte, zuvor durch mein Schreiben zusammengehaltene Familienzelle ist auseinandergebrochen, und wir haben von dieser Zeit an zwei Parteien gebildet.« (Ebd.: 266) Dieser Bruch zwischen der Rollenzuweisung durch die Familie und dem Selbstbild als selbstbestimmter Autor ist der Grund für die Unfähigkeit des Protagonisten, sich der Trauerarbeit nach dem Tod des Vaters zu stellen. Erst als er spät auf der Flucht vor der Trauer beginnt, sich eben als solch selbstbestimmter Autor dem Leben des Vaters und der Familie zu widmen, kann er die Trauerarbeit leisten, die die ganze Zeit schon notwendig war. Im Selbstgespräch mit dem verstorbenen Vater formuliert er: »Auf mein Schreiben warst Du ganz scharf, ich war dein oberster und einziger Schreiber, Dein Schreiberstolz, Dein Stolzschreiber! Gut, jetzt haben wir wieder Frieden geschlossen, nicht war? Noch heute werde ich wieder mit dem Schreiben anfangen, ich verspreche es Dir. […] Siehst Du, ich bin zuverlässig, das mußt Du zugeben, ja, danke Dir, ich stehe wieder zu Diensten!« (Ortheil 2005: 247) 3. Bezüglich der »Nutzbarmachung des Fiktiven« in narrativen Formen der Therapie siehe Grossmann 2003: 151-162.

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In diesem Schreiben als Trauernder verbindet er nun aber die Rolle als Familienschreiber mit seiner neuen, selbstständigen Identität als Autor. Der Schreibprozess, der mit der Trauer einsetzt, verschiebt sich sukzessive: »[…] langsam hatte ich mich von diesen Erinnerungen gelöst und mit ersten Aufzeichnungen über mein eigenes Leben begonnen. Ich hatte nicht vorgehabt, damit sehr weit zu kommen, nein, ich hatte mich mit den Erinnerungen an das eigene Leben nur absetzen wollen von den Erinnerungen an das Leben mit meinem Vater.« (Ortheil 2005: 260) Indem er die Narrative des Vaters aufdeckt, kann er beginnen jene Erzählungen zu formulieren, die ihn als selbstständiges Individuum bestätigen, so dass in Anerkennung der Differenz der beiden Leben – »ganz verschiedene Leben, mit unterschiedlichen Hoff nungen«. (Ortheil 2005: 268) – eine Versöhnung mit dem Toten möglich wird. So endet die Geschichte mit einer traumhaft-phantastischen Szene, in der der Sohn den Vater und seine verstorbenen Brüder, also die Kriegsteilnehmer, ein zweites Mal zu Grabe trägt und damit sich selbst von der Kriegsvergangenheit und ihren Gespenstern befreit.

Reinhard Jirgl : »Die Unvollendeten« Nach diesem Beispiel einer gelungenen, bannenden Narrativierung des Krieges möchte ich zum Abschluss kurz einen Text ansprechen, der das Misslingen einer solchen Bewältigung zum Thema hat. In Reinhard Jirgls Roman »Die Unvollendeten«, der die Vertreibung und das Ankommen einer Flüchtlingsfamilie in der DDR schildert, spielen nun die Väter keine große Rolle: es ist vielmehr ein Roman der Mütter und Großmütter, die den Krieg mit seinem Chaos im Hinterland durchleben müssen. Dabei schildert der Roman das Missglücken des Lebensentwurfs einer Familie, die über vier Generationen hinweg es nicht schafft, dieses Scheitern zu überwinden und die Nachwirkungen des Krieges und der Vertreibung zu verarbeiten. Einmal entwurzelt, gelingt es auch dem Urenkel nicht, ein erfülltes Leben zu leben und die Wirkung des Krieges abzuschütteln. Im ersten Teil des Buchs mit dem Titel »Von Hunden & Menschen« wird in verschiedenen Szenen besonders eindringlich jenes Zerfallen der sozialen Ordnung, das den Krieg charakterisiert, geschildert. So gesehen, illustriert der Text jenen Prozess, von dem Sofsky im Zusammenhang mit belagerten Gesellschaften schreibt: »Die Gesellschaft geht zugrunde durch Verelendung, Dissoziation, Apathie und den Überlebenskampf eines jeden gegen jeden anderen. Es ist eine fortschrei-

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tende Auflösung, eine Serialisierung des Sozialen, von der am Ende auch die Kernstruktur der Verwandtschaft befallen ist.« (Sofsky 2002: 121)4

Die tierische Verrohung der Menschen, die sich hier im Chaos des Krieges, d.h. auf der Flucht aus den »Ostgebieten« Bahn bricht, findet sich symbolisch in einer Szene wieder, in der geschildert wird, wie ein Rudel Hunde einen geschwächten Hund zerfetzen. (Jirgl 2003: 46) Die zu Bestien gewordenen Haustiere sind ein Bild für die Verrohung, die jenseits der Friedensgesellschaft im Krieg einsetzen kann. Im Roman wird dies dann durch die Geschichte eines Massakers, von dem ein junger SS-Soldat berichtet, dem Leser vor Augen geführt. (Jirgl 2003: 73f) Während der junge Soldat sich bei der Bewachung eines Gefangenentransports darüber Gedanken macht, dass die ausgehungerten Knochenmänner im Transport keine Schwerverbrecher sein können, bemerkt er, dass es nach faulem Fleisch riecht und einige seiner Kameraden sich darum übergeben müssen. (Ebd.: 73f.) Die Situation eskaliert, als der Dobermann des Scharführers einen Gefangenen angreift und dieser in Notwehr den Hund mit einem Stein erschlägt: daraufhin werden alle Gefangenen wie im Blutrausch von der SS mit Maschinengewehren niedergemäht. (Ebd.: 75f.) Aber nicht nur in den verbrecherischen Taten der SS ist der Zivilisationszerfall zu beobachten: auch unter den Flüchtlingen brechen die Werthorizonte, die Teil normalen gesellschaftlichen Lebens sind, zusammen. So finden Landarbeiter auf einem Gehöft, von dem die Bauern in den Westen geflohen sind, in einem Keller riesige Essensvorräte und wollen diese plündern. (Ebd.: 47f.) Als Johanna, die Urgrossmutter der Familie, dann erscheint, hält sie die Plündernden mit der Aussage auf, dass all dies ein unrechtes Verhalten sei: »[…] das ist keine Frage des Sattwerdens, das ist eine Frage des Anstands«. (Ebd.: 50) Dies Festhalten an Werten charakterisiert die Familie. In einer Umwelt des Krieges und Chaos‹, in dem zur Befriedigung grundlegender Bedürfnisse alle Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens außer Kraft gesetzt werden, halten diese Flüchtlinge an den Regeln der Gesellschaft fest. So ist auch Johannas kategorischer Imperativ zu verstehen, der durchaus mit einem Schmunzeln im Roman formuliert wird: »Ernähre dich so, daß der Zugriff auf dein Mahl jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Tafel=Gesellschaft gelten könnte!« (Ebd.: 51) Die Familie erscheint in Jirgls Text als letzte soziale Gruppe, in der Werte gelten, die der Krieg und die Vertreibung weggespült zu haben scheinen. Verant4. Zum Thema Flucht und die Auflösung sozialer Ordnung siehe besonders Sofsky 2002: 122-124.

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wortlich für den Familienzusammenhalt ist zum einen Johanna aber auch ihre Tochter Hanna, die zu Beginn das Familienmotto formuliert, das im Roman immer wieder zitiert wird und in dem Familienloyalität mit moralischen Standards verschränkt wird: »Wer seiner Familie den Rücken kehrt […], der taugt Nichts – Alles, was man besitzt kann einem genommen werden, aber Anstand u Stolz, die kann einem !keiner nehmen«. (Ebd.: 8f.) In einer Umwelt, in der die soziale Ordnung sich im Zustand der Auflösung befindet, erscheint diese Familie wie eine zivilisatorische Monade, die sich gegen das Chaos, das um sie herum herrscht, abschottet. Im zweiten Kapitel »Unter Glas« wird das Geschick der Flüchtlingsfamilie in der jungen DDR geschildert. Im Fortgang des Romans wird deutlich, dass die Flüchtlingsfamilie nie wirklich in der DDR als Gesellschaft ankommt. Die Familie als zivilisatorische Monade kann sich im sozialen Umfeld der neuen Heimat nirgendwo niederlassen und angliedern, da vor allem Johanna und Hanna immer noch an die Rückkehr in die alte Heimat glauben. Bindungen an andere Menschen außerhalb der Familie werden darum als Gefahr wahrgenommen, da man so an jenem neuen Ort Wurzeln schlagen würde, den man doch so bald wie möglich wieder verlassen will. Besonders Anna, die Tochter von Hanna, glaubt nicht an die Rückkehr und versucht Beziehungen aufzubauen, die ihr ein normales Leben ermöglichen würden, was Mutter und Großmutter ihrerseits unterbinden wollen, da solche Bindungen den Weg der Familie zurück in die alte Heimat erschweren oder gar verunmöglichen könnten. Auf diese Weise beginnt die Familie als Monade die Nachwirkungen der Flucht und des Krieges, nämlich das Gefühl der Fremde und Heimatlosigkeit, zu konservieren. Nicht unähnlich der Familie in Ortheils Roman sieht sich die jüngere Generation, Anna und dann später ihr Sohn Reiner, mit dieser unverarbeiteten Kriegsvergangenheit, auf die die Familie anscheinend festgeschrieben ist, konfrontiert. Das letzte Kapitel schildert das Leben und Sterben von Reiner, dem Sohn von Anna. Als Zahnarzt leidet er schrecklich unter seinem Beruf und phantasiert davon, wie er im Zorn seine Instrumente wegwerfen, sich auf dem Boden wälzen und als ein »anderer Mensch« (ebd. 160) aus der Praxis stürmen würde. Er lebt ein entfremdetes Leben, das ihm wie eine unerträgliche Maskerade vorkommt. »Aus den Jahren der DeDeR, der Hochschule für Aus-Reden, hast du das Wissen mitgebracht: Jede Wirklichkeit tötet; das sieht zu verschiedenen Zeiten nur verschieden aus. Darum lösche auch heute deine Spuren u Lebe verborgen hinter der Maske EISERNE RUHE.« (Ebd.: 161) Das entfremdete, maskenhafte Leben der DDR-Gesellschaft entspricht jener Existenz, zu der die Mitglieder seiner Familienmonade immer verdammt waren: man spielte dort in der Gesellschaft mit, wo man sich befand, aber 168

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eigentlich lebte man innerlich in einer parallelen Welt, in der man sich nach einer anderen Existenz sehnte. Für die Großeltern und Eltern war dieser Ort des Sehnens die alte Heimat. Für Reiner, den Urenkel von Johanna, hat zwar diese alte Heimat keine Bedeutung mehr. Er leidet aber genau wie seine Vorfahren darunter, keine erfüllte Existenz in der Gegenwart führen zu können. Seine Sehnsucht richtet sich auf die Verwirklichung seines Kindheitstraumes, nämlich einer Buchhandlung. In seinem Buchladen soll der Leser Bücher finden, in denen ungehörte Geschichten jenseits des Mainstream zu finden sind. »Ich meinte, ich müsse Lesern nur die Angebote auf noch Ungelesenes machen, und sie würden aufmerken wollen. So mein simpler=Traum. Der, wie alle Träume u alle Ausbrüche der Wut-im-Kopf, letztlich frei und vergebens.« (Ebd.: 164.) Der Traum von einem sinnvollen, wirklich gelebten Leben ist für ihn direkt verbunden mit dem Hör- bzw. Lesbar-Machen von ungehörten Geschichten. Auch wenn der Text es nicht ausformuliert: die eigene Geschichte in einer Flüchtlingsfamilie ist in jener Zeit in Deutschland solch eine ungehörte Erzählung. Zugleich ist der Traum jenes Buchgeschäfts, zu dessen Realisierung er sich zu spät entschließt, Teil eines alternativen Narrativs, das der Urenkel aber nicht wirklich schaff t jenem Familiennarrativ der Heimkehr gegenüberzustellen. Zwar versucht er nach der Wende tatsächlich den Neuanfang mit einem Buchgeschäft, aber zu spät und vergeblich, da er bereits an jenem Krebs leidet, der ihn als zerstörerische Materialisierung des ungelebten Lebens der Familie töten wird: »Nach derWende, aus dem ekelhaften Zahnarztberuf, war ich aufgebrochen in meinen lange gehegten Traum, wie das lange gehegte Geschwür in meinen Magen: das Zeugma die Leben’s Spur, & jeder Schritt ein fremder Schritt in der eigenen Rüstung zum Glück ….« (Ebd.: 164) Am Ende bleibt ihm nur noch der Wunsch, das falsche Leben, das ihn krank und wütend machte, mit einem Knall zu verlassen: er dreht die Gasflasche im Büchergeschäft auf, so dass, wenn seine Frau das Licht anschaltet, diese eine Explosion auslöst: der Roman schließt vor diesem Knall, auf den er hindeutet als hilflosen Ausdruck eines Lebens, das noch nach vielen Generationen unter den Nachwirkungen des Krieges scheiterte.

Literatur Erikson, Erik H. (131993): »Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit«. In: Ders., Identität und Lebenszyklus, Drei Aufsätze übers. von Käte Hügel, 13. Aufl. Frankfurt a.M, 55-122.

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Pastorale Hoffnungslosigkeit. Cormac McCar thys Melancholie und das Böse Christoph Schneider (Konstanz)

1. Metaphysisches Heimweh »Die Versetzung des Mythos in den Roman, wie sie in der Abenteuererzählung sich vollzieht, verfälscht nicht sowohl jene, als dass sie den Mythos mitreißt in die Zeit, den Abgrund aufdeckend, der ihn von Heimat und Versöhnung trennt.« (Horkheimer/Adorno 2006: 86)

Sucht man nach Worten, vermittels derer sich die letzthin entscheidende Atmosphäre beschreiben ließe, die Cormac McCarthys Werk zugrunde liegt, dann wären ›Dunkelheit‹, ›Schwermut‹ und ›Gewalt‹ zumindest vordergründig an erster Stelle zu nennen. In Büchern wie »Die Abendröte im Westen« (»Blood Meridian, Or the Evening Redness in the West«, 1985), auf das sich die folgenden Erörterungen konzentrieren werden, stehen wir fassungslos vor einer als Diesseitshölle beschriebenen und darin hermetisch geschlossenen Welt voller in Gleichmut geschilderter Trostlosigkeit, an der unser virtuos geschultes Repertoire modernisierter Theodizeen zu zerschellen droht. In »Die Abendröte im Westen« oder auch in »Die Straße« befinden wir uns in Zeiten nach einem Krieg, in deren Wirrnis und Anarchie indes das eigentliche, hinter der sozialen Gussform des ›offiziellen Krieges‹ liegende Prinzip der Gewalt erst gänzlich zu Tage tritt. In »Die Abendröte im Westen«, das Richard B. Woodward in der New York Times als »blodiest book since ›The Iliad‹« bezeichnete und das im Jahre 2006 ebenfalls in der New York Times auf den dritten Platz der bedeutendsten 171

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amerikanischen Bücher der letzten fünfundzwanzig Jahre gewählt wurde, ist es die Zeit nach dem amerikanisch-mexikanischen Krieg, in der Freischärler und Skalpjäger den Krieg auf eigene Faust und auf eigene Rechnung fortsetzen. In »Die Straße« wandert ein unbenannt bleibender Vater mit seinem ebenfalls namenlosen Sohn durch ein völlig zerstörtes und von archaischen Banden beherrschtes Amerika, wobei wir nicht einmal erfahren, ob die vorangegangene Zerstörung das Resultat eines Atomschlags oder einer ungeheuren Naturkatastrophe war. Die für das aufgeklärte Denken wesentliche Unterscheidung zwischen malum physicum und malum morale (vgl. Neiman 2006: 27) kollabiert allein deshalb, weil wir von McCarthy in eine Welt gestellt werden, in der die Natur und die sich in ihr bewegenden Akteure, in der Subjekt und Objekt, Beseeltes und Unbeseeltes sich miteinander vermengen und ein mythisches Drittes bilden, aus dessen Raum heraus eine Gewalt zur Entladung kommt, die im Niemandsland zwischen Naturgesetz, Schicksal und menschlichem Willen umhergeistert. McCarthy ergründet damit genau jene Gewalt, die wir in Ermangelung entsprechender Krisensemantiken kaum mehr intellektuell beherrschen können. Wenn Jan Philipp Reemtsma unserer Kultur die Unfähigkeit attestiert, jene von ihm »autotelisch« genannte, das heißt zum selbstbezüglichen Vernichtungsakt gewordene Gewalt intellektuell zu befrieden (Reemtsma 2008: 116ff.), dann legt McCarthy an dieser Stelle den Hebel an. Vom soziologischen Standpunkt ist diese Perspektive auf Gewalt ein Skandal, da sie sich dem Zugriff vermittles des Begriffs »Sinn« und damit auch dem der »Sinnlosigkeit« letztendlich widersetzt. Der in der soziologischen Theorie von säkularisiertem Weihrauch umflorte Begriff »Sinn« weist insofern auf die falsche Fährte, da Sinn bereits auf einer Entscheidung für und gegen etwas beruht. »Sinn« ist bereits bearbeiteter und entsprechend kanalisierter Wille. Man kann das so genannte »Sinnlose« dann zwar zähmen, indem Sinn – von Niklas Luhmann schon annähernd obsessiv durchdekliniert – als eine »unnegierbare Kategorie« (Luhmann 2002: 22) erscheint, die zirkulär über die Figur des »Sinns des Sinnlosen« stets in den eingehegten Raum sinnhafter Ordnung zurückfällt. Die Unterscheidung »Sinn oder Sinnlosigkeit« bleibt damit eine sowohl beobachtungs- als auch entscheidungsabhängige »innersemantische Frage« (Koschorke 2008: 323; kursiv im Orig.), die selbst das Sinnlose – »sinnlose Gewalt« beispielsweise – in den Raum des prinzipiell Deutbaren hinüberrettet beziehungsweise von dort erst gar nicht entlässt. Bei McCarthy allerdings ist Gewalt weder sinnvoll noch sinnlos, vielmehr stellt sich die Frage nach ihrem Sinn gar nicht. Wenn diese Frage hier dennoch gestellt werden muss, dann wäre die tentative Antwort, dass diese Gewalt nicht sinnlos, sondern sinnvernichtend sei. 172

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Daraus ergibt sich gerade aus soziologischer Perspektive ein interpretatorisches Problem hinsichtlich exzessiver Destruktion. Die nachmetaphysischen Schöpfungsnarrative der Soziologie beerbten die Theologie zu einem Zeitpunkt, zu dem letztere, auch dank philosophischer Amtsbeihilfe, den »Teufel« längst exkommuniziert hatte. Erinnert die soziologische »Ommnipräsenz von Sinn« an »theologische Denkfiguren« (Koschorke 2008: 320), so kann dem hinzugefügt werden, dass es sich um eine Orientierung an Schöpfungsmythen handelt, deren Ausgangsfrage zwar nach wie vor darin liegt, wie überhaupt »Sinn in die Welt kommt«, der aber zugleich jegliches Gespür für die Möglichkeit eines Willens nach Nicht-Sinn abhanden gekommen ist. Insbesondere die Soziologie kennt zwar verdiesseitigte Schöpferfiguren (»Subjekt«, »Evolution«, »Autopoiesis« etc.), sie kennt aber keine Figuren des Widersachers mehr. Es ließe sich auch sagen, dass gerade die Soziologie in besonderem Maße der ontologischen Depotenzierung des Bösen gefolgt ist, die seit Augustinus darin bestand, das Böse mit dem Nichts gleichzusetzen (vgl. Häring 1999: 89). Zum Nichts geworden, kann das entdramatisierte Böse entweder vernachlässigt oder aber zur Kunstfigur des Sinnlosen deklariert werden. Solange die Hegemonie des Begriffs »Sinn« herrscht, kann das »Sinnlose« wiederum als Sinn auf sich selbst rückverweisen und damit im Deutungsspiel intellektuell oder ästhetisch sublimiert werden. Der »Sinn der Sinnlosigkeit« wird zur Kunstfigur hermeneutischer oder besser gesagt hermetischer Deutungsgalanterie. Das dem eigenen Anspruch nach antihermeneutische Sinnvernichtende dagegen bleibt davon ausgeschlossen und taucht erst gar nicht im Raum des Denkmöglichen auf. Ein interpretatorischer Rettungsanker könnte darin erkannt werden, dass der Gewalt bei McCarthy eine Qualität inne wohnt, die es nahe legt, sie in die Nähe des Sakralen und Außerordentlichen zu stellen. Es ist kaum bestreitbar, dass es sich in McCarthys Werk um Gewaltschilderungen handelt, die längst jenseits dessen angesiedelt sind, was mit konventionellen soziologischen, psychologischen oder überhaupt mit logischen Konzepten im Sinne benennbarer Ursachen zu erklären wäre. »Gewalt« – »walten« – oder auch das lateinische »vis« und »violentia« verweisen auf eine semantische Spur, die das Phänomen der Gewalt einer sakralen Dimension zuführt, wie sie sich in der Absolutheit des Willens und in der reinen Potenz der Tat verdichtet (vgl. Soeff ner 2004: 71). Was indes eine gewisse Zurückhaltung gebietet, die Gewaltschilderungen in »Die Abendröte im Westen« einer sakralen Deutung zu unterstellen, ist der Umstand, dass mit einer solchen Deutung jener Pathos und Souveränitätsdünkel allein in stilistischer Imitation zur Geltung käme, wie er von den Hohenpriestern der Gewalt selbst gerne gepflegt wird; so auch besonders von jenem dämonischen »Richter Holden« aus »Die Abendröte im Westen«, von dem 173

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noch ausführlich die Rede sein wird. Es mag sein, dass sich die Gewalt bei McCarthy auf einer Ebene abspielt, die den Anschein erweckt, nicht mehr von dieser Welt zu sein, obgleich sie sich in aller Härte in ihr ereignet. Die metaphysische Aura der Gewalt entbehrt jedoch jeglicher Grandiosität und desjenigen Heroismus und des Mutes, mit dem sie sich selbst zu schmeicheln beliebt. Ohne es auszusprechen, bleibt die Gewalt in ihrem sadistischen Totalitätsanspruch bei McCarthy letztlich feige. Ihre Souveränität gründet hauptsächlich in der Vernichtung Schwächerer, ohne dabei im hegelianischen Sinne den Einsatz des Todes als Garant der Bestätigung eigenen Selbstbewusstseins im Kampf zu wagen. Bei McCarthy herrscht indes nicht die Gewalt des Kampfes, sondern diejenige der Auslöschung. Es wird im letzten Abschnitt davon die Rede sein, dass die Erhabenheit der Gewalt eine narzisstische Liaison mit jener Erhabenheit des Künstlers, Literaten oder Intellektuellen einzugehen droht, der eine Ästhetik oder Theorie des Grauenvollen entwirft und dass diese ästhetische oder auch intellektuelle Erhabenheit insgeheim jedoch immer noch am Tropf der Gewalt selbst hängt, um nun das ursprüngliche Spiel der ›erhabenen‹ Gewalt ohne eigenen Todeseinsatz als Interpretationsspiel ohne moralischen Einsatz zu wiederholen. Es ist dabei nicht das Ansinnen McCarthys, uns eine Welt vor Augen zu führen, deren Dunkelheit das eine oder andere nihilistische Aperçu gestatten würde, um sich an der Eleganz eines ›radical chic‹ zu delektieren. Für ästhetische Entgrenzungsphantasien aus intellektueller Vogelperspektive taugt McCarthy schlichtweg nicht, weil er nämlich die sakrale Perspektive auf Gewalt gleichzeitig mit der Perspektive des elegischen kindlichen Blicks kontrastiert, der auf eine Welt fällt, die sich annähernd ausnahmslos in ihrer Rettungs- und Haltlosigkeit erschöpft. Ich möchte auf einen weiteren Punkt hinweisen, der eine intellektuelle Konsumption McCarthys erschwert. Man kann in McCarthys Werk in mancherlei Hinsicht eine manichäische Tendenz erkennen, ist bei ihm doch die Welt in eine allumfassende, nur noch von Gewalt strukturierte Dunkelheit und Trostlosigkeit gehüllt, an der an ganz wenigen Stellen und nur hervortretend als Aussparung aus dem ansonsten herrschenden Dunkel ein Hoffnungsfunken erkennbar ist, der etwas anzeigt, was sich gegensätzlich zum allumfassenden Prinzip der Gewalt verhält. Diesen Gegenpol wie er in McCarthys Spätwert »Die Straße« in melancholischer Schönheit herausgearbeitet wird, kann man in einem tiefreligiösen Sinne nur noch entweder als »Liebe«, oder als »Glaube« bezeichnen. Das eigentliche manichäische Ärgernis entgegen säkularen Gestaltbarkeitsoptimismen liegt damit weniger in der grundsätzlichen Polarisierung, derer McCarthy sich bedient, sondern darin, dass beide Pole in einer außergesellschaftlichen Sphäre angesiedelt sind, die sich der sozialen Domestikation entzieht. Es 174

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handelt sich einerseits um eine außersoziale Gewalt und, genauso ärgerlich, die einzige Rettung, sollte sie überhaupt möglich sein, ist ebenfalls nicht durch Geschichte, Kultur und Gesellschaft möglich, sondern erfolgt nur fern abseits säkularer Neoeschatologien in Form einer religiös aufgeladenen, gleichsam augustinischen Bejahung: »amo: volo ut sis« – »Ich liebe: ich will, dass du seiest.« Was indes den stärksten Widerstand entgegen sowohl modernen als insbesondere intellektuellen Weltbeherrschungsprogrammatiken provoziert, ist McCarthys melancholische Schwermut. Die Einstellung des Schwermütigen wird von Gisela Dischner in Auseinandersetzung mit Schopenhauer folgendermaßen wiedergegeben: »Sein Hadern mit Gott als dem Unbekannten ist ein Hadern über das Leid der Welt, ein Gefühl der Sinnlosigkeit und Brutalität des Daseins, dem ohne Reflexion und Besonnenheit keine Katharsis folgen kann. […] In der Dialektik von tiefster todesbedrohter Trauer und der geistigen Geburt zum Dasein erlebt der Schwermütige das dionysische Zerstückelungs- und Wiederherstellungsritual, das wir in allen Kulturen als entscheidende Stufe der Einweihung erkennen können.« (Dischner 1999: 38).

Die zitierte Passage liest sich, als sei sie auf ein Buch wie »Die Abendröte im Westen« maßgeschneidert worden. Das Leitthema von McCarthys Prosa gründet in einem schwer in Worte fassbaren »metaphysischen Heimweh«, das in dieser Welt keine Erfüllung finden wird, sondern sich in einem unablässigen Nomadentum durch ein chaotisches Pandämonium stetig weiterschiebt (vgl. Guillemin 2002: 254ff.). Sind Trauer und Melancholie für Kultur- und Forschrittsoptimisten eine Todsünde (weil Melancholie die Entwertung des Diesseitigen bedeuten würde; vgl. Kristeva 1989: 102), so erfolgt bei McCarthy hier eine Gegenbewegung. Heimweh, Unbehaustheit und Verlorenheit richten sich einerseits auf eine transzendenzverlustige Welt, sie entzünden sich gleichzeitig nicht nur an der Ferne des Himmels und eines Gottvaters, sondern auch am Verlust generationaler Harmonie. In »Die Abendröte im Westen«, »Child of God«, »The Orchard Keeper«, »Draußen im Dunkel« oder »Die Straße« spielt McCarthy immer wieder in unterschiedlichen Variationen das Thema des alleingelassenen, verwaisten, oder stetig von Verwaisung bedrohten Kindes durch, genauer gesagt: des Knaben oder Jünglings, der vaterlos (oder wie in »Die Straße« an der Seite eines bereits halbtoten Vaters) und in völliger Abwesenheit der Mutter und überhaupt des weiblichen Prinzips eine trostlos bedrohliche, restlos maskulin dominierte und durch und durch gewaltvolle Welt zu durchwandern hat. Im folgenden Abschnitt wird gezeigt, inwiefern sich darin gnostische Motive wiederfinden lassen. 175

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2. »Et in Arcadia ego« »Die Abendröte im Westen« beginnt mit den Worten: »Seht das Kind.« Und weiter: »[…] Nacht deiner Geburt. Dreiunddreißig. Leoniden wurden sie genannt. Gott, wie die Sternschnuppen fielen. Ich suchte nach Schwärze, nach Löchern im Firmament. Der Himmelswagen jagte dahin. Die Mutter, seit vierzehn Jahren tot, trug damals das Wesen im Schoß, das sie hinwegraffen sollte. Der Vater sagt nie ihren Namen, das Kind kennt ihn nicht. […] Er kann weder lesen noch schreiben; ein Hang zu sinnloser Gewalt brütet bereits in ihm. […] Mit vierzehn läuft er davon. Er sieht die eisige, im dunklen Vordämmer liegende Küche nie wieder. Das Brennholz, die Spülkübel. Er zieht westwärts bis Memphis, ein einsamer Wanderer in der fl achen, pastoralen Landschaft. […] Eine düstere Agonie über allem. Im langsamen Dämmer bewegen sich Gestalten vor der sinkenden Sonne am papierdünnen Horizont entlang. Ein einsamer, dunkler Landmann hinter Maultier und Egge strebt übers regengeblähte Schwemmland der Nacht entgegen.« (11).

»Der Junge«, wie er im Folgenden namenlos benannt wird, gerät auf seiner ziellosen Wanderung schließlich zu einer Bande US-amerikanischer ›Skalpjäger‹, die im Auftrag eines mexikanischen Gouverneurs erwerbsmäßig Indianer ausrotten. Was die Rahmenhandlung betriff t, so orientiert sich McCarthy an historischen Vorlagen. Um in den späten 1840er Jahren der verstärkten Angriffen der Comanchen Herr zu werden, zahlte der Gouverneur von Chihuahua pro gelieferter indianischer Kopf haut beziehungsweise pro abgetrenntem Kopf 200 $ (Kopfhäute – so genannte »proofs« – von Frauen und Kindern wurden geringer veranschlagt), während ein Gefreiter in der regulären US-Armee zu dieser Zeit etwa 15 $ im Monat verdiente. Banden wie diejenige eines gewissen James Kirker haben damit teilweise bei einer einzigen ›Indianerjagd‹ in kurzer Zeit 30 000 $ verdient (Sepich 1993). An diesem genozidalen Söldnertum beteiligte sich auch die Bande John Joel Glantons, wie sie von Samuel Chamberlain in seinen Memoiren »My Confessions: The Recollections of a Rogue« erwähnt wird (vgl. Wallach 1995: 126; Sepich 1993: 122). Ebenso wie Glanton wird auch die von Chamberlain am Rande erwähnte historische Person des »Richters Holden« in »Die Abendröte im Westen« zur zentralen Figur. Holden, der in der Wüste wie aus dem Nichts auftaucht (er sitzt plötzlich in satanischer Manier auf einem großen Felsbrocken, als würde er die Ankunft der Bande gleichsam erwarten), schließt mit Glanton eine Art faustischen Pakt, und was folgt, ist eine nicht abreißende Blutspur, entlang der sich Massaker an Massaker reiht, während 176

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sich die Menschenjäger immer tiefer im Niemandsland der Wüste verlieren und unablässig unter einem als ›entgöttert‹ geschilderten Himmel in eine pastorale aber gleichwohl in düstersten Farben gemalte Landschaft hineinreiten, die Pferde mit Kopfhäuten beladen, das Zaumzeug aus Menschenhaut gefertigt, die Reiter selbst behangen mit Ketten aus menschlichen Ohren und ähnlichen Trophäen ihres ›Handwerks‹. Wenn Wolfgang Kayser darauf verweist, das Groteske sei die »entfremdete Welt«, in der »die Kategorien unserer Weltorientierung versagen« (Kayser 1980: 44 f; kursiv im Orig.), so spiegelt sich das Prinzip des Grotesken allein in der dominierenden Gestalt des Richters Holden. Holden ist eine hybride Zwischengestalt, einerseits riesengroß, aber mit säuglingshaften Zügen, bleich, aufgedunsen und völlig unbehaart – eine Perversion des »Kindchenschemas«. Er ist trotz seiner von ihm selbst heroisierten Souveränität keine dem Westerngenre entsprechende ›Heldengestalt‹, sondern ein hässlich überproportioniertes, regelrecht hypertrophierendes Fleischgebilde ohne Konturen, der die auswuchernde Unabgeschlossenheit seines formverweigernden Körpers immer wieder in exhibitionistischen Akten präsentiert (zur Theorie des »grotesken Leibes« vgl. Bachtin 1980). Er ist halb Dämon, halb Mensch, er ist sadistisch, pervers und gleichzeitig hochgebildet, er ist barbarisch und auch kultiviert, ein Mörder schlechthin, aber mit guten Manieren (Owens 2000: 16). In der Figur des Richters vereinigen sich etliche allegorische Verweise auf das Teuflische und Dämonische, ohne eine eindeutig benennbare Gestalt zu ergeben, er hat viele Masken und Gestalten, aber keine Identität. Eine der überzeugendsten Interpretationen von »Die Abendröte im Westen« stammt von Leo Daugherty, der den Roman als »gnostische Tragödie« liest und in Holden die Figur eines die diesseitige Welt beherrschenden »Archons« erkennt (Daugherty 1992). Orientieren wir uns im Sinne Daughertys an Hans Jonas Deutung der Gnosis, so ist es in der Tat naheliegend, »Die Abendröte im Westen« als Allegorie eines gnostischen Gefängnisses im abgeriegeltem Diesseits zu begreifen, in dem sich zentrale Motive der Gnosis wie »Fremdheit«, »Unbehaustheit«, die Figur des »unbekannten Vaters«, »Verlorenheit«, »Heimweh« und die Vermengung von »Licht und Finsternis« finden lassen (vgl. Jonas 1991). In seiner Rolle als gnostischer Archon predigt Holden einen divinisierten Bellizismus, der den Krieg als »geheiligtes Spiel«, als »Gott« einsetzt, und so ist es vielsagend, wenn Holdens Gewehr mit der Gravur Et in Arcadia ego verziert ist. Das damit angedeutete Motiv der pastoralen Dichtung, wonach selbst im goldenen Zeitalter und in lieblicher Hirtenlandschaft der Tod ist, eröffnet neben dem gnostischen Motivstrang eine der ergiebigsten Interpretationsmöglichkeiten. In seinem Aufsatz »Et in Arcadia ego. Poussin und die Tradition des Elegischen« weist Erwin Panofsky darauf hin, Vergil habe in 177

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seinem Arkadien den »Abend« für die Dichtung entdeckt (Panofsky 1996: 356). Die Entdeckung der Dunkelheit und des Elegischen, schließlich des Sehnsüchtigen, wie es dann auch der Pastoraldichtung der Renaissance wesentlich war, gehört zu den Leitthemen McCarthys. So allumfassend und in entsetzlicher Drastik die Gewalt bei McCarthy auch immer auftritt, sie erschöpft sich nicht in sich selbst, vielmehr erzeugt sie in allegorischer Darstellung stets ein Nichtbenanntes, sie verweist auf einen tiefen Verlust, der nur selten die Oberfläche des Textes berührt. Wenn »Die Abendröte im Westen« insgesamt wesentliche Merkmale des Allegorischen aufweist – narrative Muster der Reise, der Suche, des Kampfes, des Traums, entlegene und befremdliche Orte, episodische Struktur, lakonische Stillage (vgl. Kurz 1982: 46ff.) –, so ist es die allegorisch nebenherlaufende Doppeldeutigkeit, die einen Roman wie »Die Abendröte im Westen« vor dem Nihilismus bewahrt, indem sie jene Atmosphäre einer gleichmütigen Trauer herauf beschwört, die ihren eigentlichen Gegenstand dadurch erzeugt, indem sie zwar sein Gegenteil, ihn selbst indes nie benennt. So steht bei McCarthy jenseits der Gewalt doch noch die amerikanische Hoff nung nach dem einfachen, guten Leben inmitten pastoraler Natur. Das Erlösungspotential des Symbolischen, verstanden als Anzeiger von Transzendenz, darf damit nicht verwechselt werden. Vermittelt das Symbol die Anwesenheit des nichtanwesenden Transzendenten, so ist McCarthys Prosa radikal unsymbolisch, indem sie zwar keineswegs auf die Nichtexistenz, jedoch auf eine stetige Nichtanwesenheit von Transzendenz verweist. Wenn »Die Abendröte im Westen« in die Tradition der Pastoraldichtung eingereiht werden soll, so ist es aufschlussreich, folgendem Hinweis Bruno Damianis und Barbara Mujicas bezüglich Sannazaros pastoralen Arkadien zu folgen: »Unlike the Spaniards who follow him, Sannazaro does not introduce violence through evil characters. Violence and evil exist not in the person of the villain, but as omnipresent underlying realities, common to both man and nature.« (Damiani/Mujica 1990: 9). Auch bei McCarthy gibt es im eigentlichen Sinne keine »Charaktere«, die willentlich und intentionalitätsbewehrt Gewalt ausüben, und selbst »der Richter« erscheint in Gestalt eines mythischen Wesens, das mehr das Prinzip der Gewalt als deren personale Zurechnung versinnbildlicht. Orientieren wir uns an Georg Lukács »Theorie des Romans«, so steht »Die Abendröte im Westen« für jenen Typus, dessen Figuren kaum über »Innerlichkeit« und entsprechende »innere Konflikte« verfügen und deren »Seelen« nach Lukács daher »schmäler« als die gefahrendurchsäte Außenwelt sind, die es zu überwinden gilt (vgl. Lukács 1971: 83ff.). Lesen wir daher folgende Passage:

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»Die Dämonie der Verengung der Seele ist die Dämonie des abstrakten Idealismus. Es ist die Gesinnung, die den direkten, ganz geraden Weg zur Verwirklichung des Ideals einschlagen muss; die in dämonischer Verblendung jeden Abstand zwischen Ideal und Idee, zwischen Psyche und Seele vergisst; die mit dem echtesten und unerschütterlichsten Glauben aus dem Sollen der Idee auf ihre notwendige Existenz schließt und das Nichtentsprechen der Wirklichkeit dieser apriorischen Anforderung als ihr Verzaubertsein ansieht, das von bösen Dämonen vollbracht, durch das Finden des lösenden Wortes oder durch das mutige Bekämpfen der Zaubermächte zur Entzauberung und Erlösung geführt werden kann.« (Lukács 1971: 83).

Dass sich diese Passage problemlos auf gnostische Narrative anwenden lässt, muss kaum betont werden, kann doch schließlich »das Finden des lösenden Wortes« die dämonische Verzauberung der Welt überwinden. Aus diesem Blickwinkel ist McCarthy kein Voyeur der Gewalt, sondern in der Tat ein glühender Idealist mit unerschütterlichem Glauben, dessen Melancholie aus jenem »Nichtentsprechen der Wirklichkeit« resultiert, die an einer dämonisch verzauberten Welt gebrochen wird. Worin besteht nun die Kraft dieser »Dämonen und Zaubermächte« in »Die Abendröte im Westen«? Jenseits der eigentlichen physischen Gewalt verfügt Richter Holden über zwei buchstäbliche Domänen, aus denen er seine Macht schöpft. Dazu sei folgender Abschnitt zitiert, in dem der Richter einen Vortrag über den Ursprung der Welt hält: »Einige der Zuhörer zitierten aus der Heiligen Schrift, um ihn in Verlegenheit zu bringen, wenn er das Urchaos zum Ausgangspunkt der Äonen bestimmte und andere lästerliche Theorien ins Feld führte. Er hatte nur ein Lächeln dafür. Bücher lügen, sagte er. Gott lügt nicht. Nein, sagte er. Gott nicht. Und das hier sind seine Worte. Er hielt einen Steinklumpen in die Höhe. Gott spricht in den Steinen und Bäumen, in den Knochen von Lebewesen. Die zerlumpten Flüchtlinge nickten; wenig später verloren sie alle Skepsis, hielten alle Theorien, die dieser Gelehrte vorbrachte, für richtig. Holden, dadurch befeuert, machte sie nach und nach zu echten Anhängern der neuen Weltordnung, um sie dann wie Hanswürste auszulachen.« (138)

Holden tritt zum einen als Prophet der Transzendenzlosigkeit auf, der die Welt auf ihre reine Materialität reduziert und darin einschließt. Holden ist jedoch nicht nur ein radikalpositivistischer Materialist, er ist ein ebenso radikaler Semiotiker. So mäandern durch »Die Abendröte im Westen« etliche episodische Einsprengsel, in denen Holden alle möglichen Dinge 179

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und Begebenheiten in seinem kleinen Notizbuch festhält und einmal, auf die Frage hin, warum er das tue, zur Antwort gibt, er »wolle sie aus dem Gedächtnis der Menschheit tilgen« (164). Setzt Holden einerseits auf einen nackten, transzendenzentbundenen Materialismus, so strebt er andererseits danach, die ganze Welt in die Zeichenordnung seines Büchleins zu überführen und die Gegenstände nach ihrer Semiotisierung selbst auszulöschen. Gründet die eine Seite seines Machtanspruchs auf Fakten und Dingen, so ist er andererseits bestrebt, im Sinne Jean Baudrillards die Realität in die »Hyperrealität des Codes und der Simulation« zu überführen (Baudrillard 2005: 8). Der Zangengriff seiner Herrschaft – hier die in sich geschlossene Welt des Empirischen, dort die ebenso in sich geschlossene Welt der Zeichen – produziert damit eine doppelt abgesicherte Hermetik, die darin kulminiert, eine entsymbolisierte Weltsicht herzustellen, zu der keine Alternativen und kein spielerisches als ob mehr denkbar sind, da sie in beiderlei Hinsicht dem Fetischismus einer gesperrten Perfektabilität im rein Diesseitigen unterliegt. Diesem ist dabei, so ließe sich in Anlehnung an Baudrillard formulieren, seit Beginn etwas »Totes« eingeschrieben (vgl. ebd.: 12). Nach Walter Benjamin speist sich die satanische Figur im Trauerspiel aus diesen beiden Quellen: »Das schlechthin Materialistische und jenes absolute Geistige sind Pole des satanischen Bereichs« (Benjamin 1972: 261). Aus jenem von Benjamin beobachteten Dualismus einer einerseits »gottlosen Geistigkeit« (ebd.: 261), die man auch als transzendenzverlustige Selbstreferenzialität einer um sich selbst kreisenden Sinn- und Zeichenordnung bezeichnen könnte und einem andererseits ebenso auf sich selbst reduzierten Materialismus entstehen jene Illusionen, die Benjamin dem satanischen Prinzip zuschreibt: Scheinfreiheit, Scheinselbstständigkeit, Scheinunendlichkeit. Die Figur des Richters Holden findet genau darin ihre Erfüllung. Julia Kristeva wiederum erkennt in der Melancholie den Wunsch, nach der Erfahrung eines fundamentalen Verlusts das Reich der Dinge mit dem Reich der Zeichen wieder in Harmonie zueinander zu bringen (vgl. Kristeva 1989: 6ff.). Richter Holden versucht genau das zu verhindern, indem er als Hohepriester derjenigen Domänen auftritt, die, voneinander getrennt, als Eckpfeiler (post-)modernen intellektuellen Weltverständnisses gelten können: hier gänzlich empirischer Reduktionismus, dort die gänzlich realitätsentkoppelte Herrschaft der Zeichen. Damit triff t die archaische Gewalt in »Die Abendröte im Westen« hintergründig doch noch auf die späte »Moderne«, vereint in ihrem exzessiven Anspruch auf Beherrschung und Einverleibung der Welt. Indem der Richter damit letzten Endes die Melancholie vernichten will, unterdrückt er die Möglichkeit eines Denkens jenseits des Empirischen einerseits und der zeichenhaften Ordnung anderer-

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seits und entwirft damit eine antimelancholische Welt, die, in sich selbst gefangen, keine Hoffnung auf ein »Dahinter« mehr kennt. Damit sind zwei Motive angedeutet, die in den nächsten beiden Abschnitten behandelt werden, einmal die Entgrenzung und dann die Einverleibung. In »Die Abendröte im Westen« finden wir zwar das amerikanische Motiv der offenen und entgrenzten Landschaft (vgl. Tatum 1998), gleichwohl spiegeln sich in der endlosen Weite nicht mehr die Tugenden freier, das Land erobernder Männer in klassischer Western-Tradition. Das entgrenzte Land wird nicht zum »promised land«, sondern zum begrenzten Kerker, der gerade durch seine Grenzenlosigkeit einen unübersteigbaren Aus- und Einschluss jenseits jeglicher Freiheit hervorbringt. Vielmehr wird die Weite der Landschaft zu einer zwar immer noch mythischen, allerdings zu einer ins Negative gekehrten mythischen Bühne: »[Es; C.S.] ritten die Männer durch den grauen, peitschenden Regen, mit ihren primitiven Kutten wirkten sie wie Sendboten einer düsteren Sekte auf Seelenfang. Die Landschaft lag wolkig und dunkel vor ihnen. Sie zogen durchs lange Zwielicht, die Sonne sank, kein Mond ging auf, im Westen erbebten die Berge immer wieder im dröhnenden Rund, verglühten endgültig im Dunkel, der Regen zischte durchs blinde Nachtland.« (215).

Die positive Identifi kationsleistung der amerikanischen Pastoralästhetik, die darin besteht, die raue Kraft der Natur mit amerikanischen Tugenden gleichzusetzen, scheitert bei McCarthy (vgl. Guillemin 2004: 142ff.). Aus der Offenheit der Landschaft wird die Ausweglosigkeit des Niemandslandes, aus Entgrenzung wird Begrenzung.

3. Die Entgrenzung der Grenze : »Blood Mer idian« Der amerikanische Originaltitel von »Die Abendröte im Westen« – »Blood Meridian or the Evening Redness in the West« – verweist bereits auf die topografische Ausnahmelage. Es ist der »blutgetränkte Meridian«, irgendwo zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten, ein entgrenztes Niemandsland, das zur gewalterschütterten Wiege des amerikanischen »Westens« wird. Dieses Niemandsland besitzt dabei eine negative Sakralität. Michel Leiris, der in »Das Heilige im Alltagsleben« danach fragt, welche Gegenstände und Orte der Kindheit mit Anzeichen des Sakralen behaftet sind, gibt uns folgende Beschreibung:

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»Von den Orten im Freien stehen mir […] noch zwei vor Augen, die dem übrigens frommen Kind, das ich damals war, von einem Charakter der Heiligkeit geprägt zu sein schienen: die Art von Buschland oder Niemandsland, das sich zwischen der Zone der Befestigungen und der Rennbahn von Auteuil erstreckte […] Wenn wir uns schon einmal dort zum Spielen aufhielten, warnte man uns denn auch vor den Unbekannten (in Wirklichkeit, wie ich heute weiß: vor den Satyren, den Lüstlingen), die unter irgendwelchen fadenscheinigen Vorwänden hätten versuchen können, uns ins Dickicht zu locken. Ein Milieu außerhalb des Normalen, mit außerordentlichen Tabus belegt, ein tief vom Übernatürlichen und Heiligen durchdrungener Bereich, grundverschieden von den öffentlichen Anlagen, in denen alles vorhergesehen ist, geordnet«. (Leiris 1977: 231).

Bei einem solchen Niemandsland, wie es cineastisch wohl am eindrücklichsten in Andrej Tarkowskiys »Stalker« umgesetzt wurde, kann es sich aus kindlichem Blick um einen nur schmalen, unkrautüberwucherten Streifen inmitten der ansonsten gepflegten und topografisch einsortierten Stadtlandschaft handeln, und dennoch entsteht die besondere Atmosphäre, das Gefühl, in einen dämonisierten Bannraum fernab von »hier« und »dort« eingetreten zu sein. Bei McCarthy erstreckt sich genau diese sowohl kindliche als auch mythische Sichtweise auf das Niemandsland über die ganze Welt, und die Satyrn, von denen Leiris redet, lauern überall und werden zu allmächtigen Herrschern eines grenzenlos ausgedehnten »Dazwischens«. Ein derart gefasstes Niemandsland legt es nahe, von »Grenzen« und deren »Überschreitung« zu reden. Allerdings würde das dem eigentlichen Phänomen nicht gerecht werden. Michel Foucault weist darauf hin, dass eine Grenze, die überhaupt nicht überschritten werden kann, im Grunde keine Grenze ist, während andererseits eine Grenze, deren Überschreitung nicht den geringsten Widerstand erfordert, ebenfalls nicht als solche bezeichnet werden kann (Foucault 1974: 73). So sinnvoll dieser Hinweis auch ist, die Grenze selbst kommt darin zu kurz. Sie wird letztlich auf eine Linie reduziert. Wir haben es jedoch bei niemandslandartigen Passagen mit einer räumlich entgrenzten Grenze zu tun, bei der das Prinzip der Grenzübertretung in ein fortwährendes Kontinuum gestellt wird. Man begeht hier die Grenzübertretung permanent, solange man sich im Grenzraum aufhält. Daher ist es angebracht, die Grenzlinie vom Grenzstreifen zu unterscheiden (Hohnsträter 1999). Der Grenzstreifen – das Niemandsland, die Übergangszone – muss seinerseits begrenzt werden, denn: »die Ausdehnung des Grenzstreifens auf alles würde ja die Grenze selbst zum Verschwinden bringen und damit ihr Ziel mit dem Erreichen des Zieles aufheben.« (Hohnsträter 1999: 242). Wir werden noch sehen, dass dieses topografische Problem analog auch für personale Identitätsentgrenzungen gilt. 182

Cormac McCar thys Melancholie und das Böse

Das ›Ziel‹ des Grenzstreifens ist das Spiel mit der Differenz. Auch die entgrenzte Grenze muss eine Differenz herstellen, der entgrenzte Grenzraum darf nicht hypertrophieren. Erst damit wird der Umgang mit Vagheit und Ambivalenz als Spiel mit Möglichkeiten konstituiert. Was in »Die Abendröte im Westen« geschieht, ist dagegen genau dasjenige, was so betrachtet eigentlich vermieden werden soll: die Ausdehnung des Grenzstreifens auf alles und damit die Auf hebung der Differenz und damit wiederum das Verschwinden von anderen Möglichkeiten jenseits der allumfassenden Entgrenzung. Die Entgrenzung der Grenze produziert damit eine paradoxe Situation. Alles ist be- und zugleich entgrenzt. Der Zustand der Entgrenzung wird für sich genommen unüberschreitbar. Erinnern wir uns an Foucaults Definition, die unüberschreitbare Grenze sei eigentlich keine Grenze mehr, so vernichtet die totale Entgrenzung die Eigenschaft des Grenzsetzenden, indem sie keine Differenz mehr zulässt. Umso mehr das Niemandsland alles andere zu überwuchern beginnt und einen Anspruch auf Alleinherrschaft geltend macht, umso mehr wird die Begrenzung gerade im Modus der Entgrenzung total. Umgrenzt wird nun die Welt von einem transzendenzentleerten Horizont ohne ein Dahinter. Orientieren wir uns weiterhin an Luhmanns Hinweis, der eigentliche religiöse Code sei nicht »Transzendenz«, sondern die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz (Luhmann 1994: 238), so kann die hypertrophe Entgrenzung der Grenze symbolisch als räumliche Chiffre einer expansionistischen Transzendenzvernichtung gelesen werden, an deren Ende nur noch alternativlose Immanenz bestehen bleibt. Die Welt wird kerkerhaft vereindeutigt, auf sich selbst reduziert und damit jeglicher Zufluchtsorte in- und außerhalb ihrer selbst beraubt. Mit Koschorke könnte man gerade in Hinsicht auf »Die Abendröte im Westen« von einer »Remythisierung des Raumes« sprechen (Koschorke 1990: 256), in der nicht nur die Unendlichkeit der Welt, sondern auch diejenige der menschlichen Seele zurückgenommen und beispiellos verengt wird. Der in seiner Entgrenztheit beschränkte Raum spiegelt sich analog auch auf zeitlicher Ebene. Gleich wie Erich Auerbach den homerischen Stil mit den Worten charakterisiert, er kenne »nur gleichmäßig beleuchtete, gleichmäßig objektivierte Gegenwart« (Auerbach 1994: 9), so ist auch »Die Abendröte im Westen« (und ebenfalls »Draußen im Dunkel« oder »Die Straße«) ganz auf Gegenwärtigkeit ohne Vergangenheit, ohne Zukunft, überhaupt: ohne Geschichtlichkeit abgestellt. So verfügen die Figuren McCarthys gleich denen Homers kaum über ein hintergründiges Innenleben und daher über keine geschichtliche Tiefe, vielmehr stehen sie alle gemeinsam im gleichen Mythos. Beherzigen wir den Hinweis Ludwig Wittgensteins, dass »Ewigkeit« nicht »unendliche Zeitdauer«, sondern »Unzeitlichkeit« bedeute und dass daher derjenige »ewig lebt«, der »in der 183

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Gegenwart lebt« (Wittgenstein 1998: 252), so herrscht in »Die Abendröte im Westen« eine auf reine Gegenwart eingegrenzte Ewigkeit, verstanden als Unzeitlichkeit. Diese reine, auf sich selbst zurückgeworfene Gegenwart ist wie der Raum gleichzeitig be- und entgrenzend. Sie ist einerseits gleichsam »ewig«, und gleichzeitig ist die stetige Gegenwart in höchstem Maße begrenzend, weil sie sich weder nach der Vergangenheit noch nach der Zukunft hin transzendieren lässt. Symbolisiert wird diese ›Grenzzeit‹ durch das andauernde Zwielicht, die Dämmerung und Abendröte, demnach durch jene Lichtverhältnisse, die eigentlich ein temporäres Übergangsstadium markieren, die aber von McCarthy in einem solchen Maße eingesetzt werden, dass wir uns in einer andauernden zeitlichen Passage gefangen finden, die so gut wie nie gänzlich Tag oder Nacht, sondern permanente Dunkelheit ist. Vergegenwärtigen wir uns, dass nach gnostischer Lehre die Welt eine Mischung aus Licht und Finsternis ist, wobei letztere überwiegt, so kann die Permanenz des Zwielichts (oder des »Restlichts« wie es in der Fotografie genannt wird) als verstetigtes Symbol des fundamentalen gnostischen Konflikts gelesen werden. Die auf sich selbst zurückgeworfene Gegenwart ist allerdings in ihrer Augenblicklichkeit nicht erfüllt, sondern entleert. Es ist keine Augenblicklichkeit, von der man wünscht, sie möge nicht vergehen, sondern eine mit tragischem Gleichmut präsentierte, narrativ unvermittelte und sinnentleerte Augenblicklichkeit, die mehr einem zeitlich in sich selbst zusammengezogenen und darin endlosen Vakuum als einem ewigkeitsgleichen Moment ähnelt. Diese Form negativer Augenblicklichkeit ist die inhaltliche Umkehrung der divinen Zeit des Plötzlichen, wie sie in »Die Abendröte im Westen« oftmals als Zeitmodus der Gewalt erscheint und dadurch gleichsam zu einer in sich verkehrten Epiphanie des Destruktiven wird. »Der Weg führte durchs Gefels und wurde schmal; wenig später sahen sie weiter vorn einen mit toten Säuglingen behängten Strauch. In der Hitze schwankend, blieben sie nebeneinander stehen. Den winzigen Opfern, sieben oder acht an der Zahl, waren Löcher in die Unterkiefer geschlagen worden, an den Kehlen baumelten sie von den brüchigen Zweigen eines Mezquitos, starrten blicklos zum nackten Himmel. Kahlköpfig, bleich und aufgedunsen, im Larvenstadium eines undefinierbaren Seins. Die Versprengten trotteten vorüber, drehten sich noch einmal um.« (73).

Indem der Strauch mit den toten Kindern zum allegorischen Stilleben eines Diesseitsnihilismus wird, kehrt eine melancholische Stille ein, und gleichzeitig wird »die unnennbare ewige Qual der einen Sekunde« von der Horkheimer und Adorno im Falle der Erhängung der Mägde in der Odyssee sprechen, in einem entleerten Akt des Aussetzens von Zeit auf 184

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Dauer gestellt (vgl. Horkheimer/Adorno 2006: 87). Es ist der Erwähnung wert, dass die dermaßen bestialisch zu Tode gekommenen Kinder in ihrer jetzigen Gestalt physiognomisch dem Richter Holden ähneln: »kahlköpfig, bleich und aufgedunsen«, als eine Art »Larve«, noch unfertig und ohne Kontur, demnach Eigenschaften, mit denen McCarthy ebenfalls die Gestalt des Richters beschreibt, so als ob der groteske Leib des Richters sich in den hingeschlachteten Kindern spiegelt, um sie allein morphologisch in sein Reich zu vereinnahmen (vgl. Bachtin 1980 und Lachmann 2004). In »Die Abendröte im Westen« oder auch in »Kein Land für alte Männer« und in »Draußen im Dunkel« korrespondiert die liminale Raum- und Zeitkonstruktion einer in ihrer verdiesseitigten Form beschränkten Endlosigkeit mit ebenfalls liminalen Figuren, die, gleich dem Raum und der Zeit, in einem immerwährenden »Dazwischen« verortet sind. Zwischen der Liminalität des Raumes, derjenigen der Zeit und der Liminalität der Figuren lassen sich Parallelen erkennen. Jonas weist darauf hin, dass das Wort »Dämonen« gleichzeitig Raum- und Personenbegriff sei, da etwa in den »Äonen«, die ursprünglich ein reiner Zeitbegriff waren und später auch in personifizierter Gestalt auftraten, ebenso die Zeit als dämonisiert erscheine (Jonas 1999: 79ff.). Die Überwindung der dämonischen Archonten, deren Macht mit der Einkerkerung in Raum und Zeit steht und fällt, ist daher nur als Durchquerung des dämonisierten Raumes und als Durchwanderung der Weltzeiten möglich. Auf der personalen Ebene lässt sich das handlungsgenerierende Prinzip in »Die Abendröte im Westen« weder als Willensfreiheit noch als Schicksal bezeichnen. An einer entscheidenden Stelle wird beispielsweise die Welteinstellung Glantons (des zweiten Führers der Bande) folgendermaßen wiedergegeben: »Dem Nachgrübeln über Konsequenzen hatte er längst abgeschworen; für ihn waren die menschlichen Schicksale vorherbestimmt, er leistete sich die Überzeugung, dass alles, was er je in der Welt und die Welt für ihn sein würde, bereits in ihm enthalten sei, aber selbst wenn sein Lebensweg in Urgestein gemeißelt gewesen wäre, so hätte er doch auf Handlungsfreiheit bestanden und sagte das auch, dann würde er die gnadenlose Sonne ins endgültige Dunkel treiben, als hätte er sie von Anbeginn der Zeiten gelenkt, noch ehe es irgendwelche Bahnen gab, noch ehe es Menschen oder Sonnen gab, die sich auf ihnen hätten bewegen können.« (276).

So endlos und unbegrenzt das Niemandsland auch erscheinen mag, es bietet trotz seiner grenzenlosen Weite keinen Ort des Rückzugs, gleich wie der ins Ewige gestellten Gegenwart niemals zu entkommen ist. Ähnliches gilt für Wille und Schicksal, deren Dualismus in einer Mischzone seine 185

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Konturen verliert (vgl. Shaviro 1992: 117). Schicksal ist gemeinhin zweierlei: vorherbestimmt und unabänderlich einerseits, mit einem Telos ausgestattet andererseits. Freiheit bedarf ebenfalls zweierlei Komponenten: einmal Wille und zweitens Entscheidung. In »Die Abendröte im Westen« jedoch herrscht Schicksal, aber ohne Telos, es herrscht Wille, aber ohne Entscheidungsmöglichkeit, und der auf sich selbst reduzierte nackte Wille, zum Bestandteil eines ziellosen Schicksals geworden, entzieht sich damit der menschlichen Gestaltbarkeit, ohne jedoch zum Ausgleich auf ein jenseitiges Telos göttlicher Herkunft vertrauen zu dürfen. Möchte Glanton schließlich »die gnadenlose Sonne ins endgültige Dunkel treiben«, so muss diese Stelle als antitheistischer Frontalangriff gegen einen allmächtigen Gott gelesen werden, der gleichzeitig in und trotz seiner Allmacht und Allwissenheit ein Wesen mit freiem Willen schuf, dessen Autonomie damit in einem Atemzug zum göttlich festgeschriebenen Schicksal wurde (vgl. Mackie 1985: 254ff.). Auch die zentrale Figur des Richters Holden ist wie das Terrain und die Zeit, die er beherrscht, gleichzeitig völlig be- und entgrenzt, oder besser gesagt: er ist gleichzeitig Triumphator und Gefangener der eigenen Entgrenztheit. Darin und in anderer noch zu nennender Hinsicht ähnelt er der Figur des »Vampirs«, der zwar ewig lebt und darin absolute Souveränität besitzt, der aber gleichzeitig auf raptive Konsumption anderer angewiesen ist, deren Lebenskraft er in Ermangelung eigener Lebendigkeit in sich aufsaugt, und der seine Herrschaft daher nur über denjenigen permanenten Prozess stabilisiert, den man treffend mit René Girard als »mimetische Gewalt« bezeichnen kann (Girard 1999). Denn wie ließe sich der von Girard beschriebene Ansteckungseffekt der Gewalt besser versinnbildlichen, als durch den Biss des Vampirs, der Beseeltheit nimmt aber ewiges Leben gibt? In der Figur des Richters Holden spiegelt sich allegorisch – und in etlichen Anspielungen auf John Miltons »Paradise Lost« – die satanische Dramatik einer in sich selbst gefangenen maßlosen Souveränität, die, um die in ihrer eigenen Leere eingeschriebene Selbstauslöschung zu verhindern, den Akt des Vernichtens auf Andere richtet, um über diesen Vernichtungsakt selbst bestehen zu bleiben. Wenn eine Figur wie Holden gleichzeitig be- und entgrenzt, gleichzeitig einerseits völlig unfrei und andererseits völlig souverän ist, dann lässt sich diese paradoxe Situation folgendermaßen erklären. In Die psychologische Struktur des Faschismus hält Georges Bataille fest: »Souveränität kommt allein demjenigen zu, der prinzipiell alles negiert, was die Autonomie seiner Entscheidungen einschränkt.« (Bataille 1978: 48). Treibt man diesen Gedanken auf die Spitze, dann entsteht entgrenzte Souveränität erst dann, wenn in letzter Konsequenz die Selbstverpflichtung auf eine eigene Entscheidungsprämisse abgelegt wird. 186

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Das Problem der Souveränität, an dem sich jüngst Giorgio Agamben in Auseinandersetzung mit Carl Schmitt abarbeitete, besteht bekanntermaßen darin, dass der Souverän gleichzeitig in- und außerhalb der Rechtsordnung steht (Agamben 2002: 25ff.). Schmitts Modell zielt dabei auf den »Staat« ab. Was geschieht aber, wenn es sich nicht um staatskonstituierende, sondern um absolute personale Souveränität handelt, wenn es demnach um die Hybris identitätskonstituierender Souveränität geht? Auch die Souveränität des eigenen Willens müsste nun gleichzeitig in- und außerhalb der eigenen Entscheidungsgrundlage stehen. Man müsste sich hier aus sich selbst ›herausnehmen‹, gleich wie der rechtssetzende Ausnahmezustand aus dem Recht ›herausgenommen‹ ist. So wie Rechtsetzung nicht im Recht gründen kann, so kann hier Identitätsbildung nicht auf Identität rückgreifen. So führt entgrenzte Souveränität, die sich dem Primat eines auf sich selbst reduzierten ›Willens nach Wille‹ verpflichtet, letzten Endes zu einer nihilistischen unio mystica mit einem Selbst, das in seiner Souveränität nicht einmal zur Selbstverpflichtung fähig und willens ist und daher das eigentliche Ziel – die Realisierung des personalen Ausnahmezustands im Sinne einer Art ›Hyperidentität‹ – im Zuge seiner Verwirklichung gleichzeitig zersetzt. Ähnlich wie im auswuchernden Niemandsland die Ausdehnung des topografischen Ausnahmezustands die Grenze selbst und deren Dahinter zum Verschwinden bringt, so geschieht hier ein Gleiches mit der niemandslandartigen Identität der Grenzfigur. Die Realisierung ihrer Identitätsimagination wäre gleichzeitig ihr Ende. Genau hier offenbart sich damit der sakrale Charakter der Souveränität. Mit Luhmann ließe sich argumentieren, eine solche Souveränität wolle ein Unmögliches erreichen, nämlich eine in der Tat souveräne Form von Selbstbeobachtung, die keinen blinden Fleck mehr produziert, die damit – zum Maßstab ihrer selbst geworden – den absoluten Grenzfall desjenigen Problems darstellt, das darin besteht, dass jede Selbstbeschreibung eines »Sich-selbst-Voraussetzens der Beschreibung, also eines Unterlaufens der Unterscheidung von Beschreiben und Beschriebenen« bedarf (Luhmann 2002: 328). Folgen wir Luhmann, so kann das wiederum nur einer: nämlich Gott, denn: »Gott braucht keinen ›blinden Fleck‹« (ebd.: 158). Genau diesen Zustand will eine satanische Figur wie diejenige des Richters Holden letztlich imitieren. So gesehen ist es aufschlussreich, wenn Jack Katz in »Seductions of Crime« das hinter dem eigentlichen Gewaltakt liegende souveräne Identitätsphantasma des Gewalttäters folgendermaßen beschreibt: »One cannot be blindly enraged, cooly sadistic, or secretly thrilled at will, simply by the conscious choice to be evil, no more than one can transport himself to erotic heights simply and instantly by opting for pleasure. For a person to experience being influenced or determined, he must lose a reflective awaren-

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ess of the abiding, constructive workings of his subjectivity. Thus, part of the challenge is to recognize steps in raising a spirit of determinism that are sufficiently subtle that their contingencies go unnoticed.« (Katz 1988: 7).

Insbesondere schwerste Gewaltexzesse ohne erkennbaren Sinn stellen nach Katz Selbsttranszendierungen dar, und zwar nicht etwa weil Souveränität in ihnen aus einem Höchstmaß an selbstbewusster Subjektivität und Selbstbeherrschung gewonnen würde, sondern deshalb, weil sich im Übergriff eine Souveränität offenbart, die zwar dem Anderen gegenüber völlig entgrenzt und intersubjektiv entpflichtet ist, die jedoch gleichzeitig jenseits des gesteuerten Entscheidens seitens des Täters liegt. Diese Figur einer absoluten Souveränität, wie sie in McCarthys Richter Holden exemplarisch verdichtet wird, macht es so gesehen verständlich, dass Sören Kierkegaard das »Dämonische« folgendermaßen charakterisiert: »Das Dämonische ist die Unfreiheit, die sich abschließen will.« (Kierkegaard 1984: 112). »Die Freiheit« ist nach Kierkegaard im Dämonischen »als Unfreiheit gesetzt« (ebd.: 112). Das Dämonische erfährt seine Unfreiheit als Freiheit und möglicherweise auch umgekehrt, denn selbst dem Dämonischen ist nach Kierkegaard ein Rest an Angst gegeben: die Angst vor dem Guten (ebd.: 109). Dazu sei aus »Die Abendröte im Westen« folgende Passage zitiert: »Der Richter legte die Hände auf den Boden. Er blickte den Fragesteller an. Die Erde ist meine Domäne. Und doch gibt es überall noch Schlupfwinkel voll autonomen, ungebundenen Leben. Damit ich es mir untertan machen kann, darf nichts ohne meine direkte Einflussnahme geschehen. […] Und was hat das damit zu tun, dass Sie Vögel fangen? Die Ungebundenheit der Vögel beleidigt mich. Am liebsten würde ich sie alle in einen Zoo sperren. Das wär ja dann’n richtiger Höllenzoo. Der Richter lächelte. Ja, sagte er. Ganz recht.« (228).

An dieser Stelle lohnt es sich, einen Blick auf den amerikanischen Originaltext zu werfen, in dem ein kleines, aber nicht unwesentliches Detail besser zum Ausdruck gebracht wird. So lautet ein Teil der zitierten Stelle im Original: »[…] This is my claim, he said. And yet everywhere upon it are pockets of autonomous life. Autonomous. In order for it to be mine…« (199). Die stockende Wiederholung des Wortes »Autonomous« ist die einzige Stelle im Roman, an der der ansonsten so selbstsichere und rhetorisch gewandte Richter für einen Moment auf einen Widerstand zu stoßen scheint. Diese Angst oder vielmehr der Neid auf Ungebundenheit und Autono188

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mie lässt sich besser verstehen, wenn wir im folgenden Abschnitt zweierlei Versionen des Begriffs »Entgrenzung« betrachten, einmal die parasitäre Transgression im Sinne des Marquis de Sade und zum anderen eine auf Selbstbegrenzung basierende Selbstüberschreitung wie wir sie bei Georg Simmel finden können.

4. Parasitäre Transgression Am Schluss von »Die Abendröte im Westen«, nachdem der Richter seinen Ziehsohn und insgeheim auserkorenen, aber abtrünnig gewordenen ›Kronprinzen‹ (den »Jungen«) doch noch in einem saturnianischen Akt vernichtet hat, lässt McCarthy den Richter seine Unsterblichkeit feiern: »Er schwenkt den Hut, die Mondkuppel seines Schädels schwebt fahl unter den Lampen dahin, er wirbelt herum, greift sich eine der Fiedeln, dreht Pirouetten, streicht einmal, zweimal die Saiten, tanzt und fiedelt zugleich. Seine Füße bewegen sich leicht und behände. Er schläft nie. Er sagt, er wird niemals sterben. Er tanzt im Licht und im Schatten, er ist aller Liebling. Er schläft niemals, der Richter. Er tanzt und tanzt. Er sagt, er wird niemals sterben.« (375).

Damit endet der Roman. Der »Tanz« geht immer weiter, und der Richter, so ließe es sich mit Baudrillard ausdrücken, feiert sich selbst in einer »luziferischen Verzückung an der Exzentrizität von Anfang und Ende« (Baudrillard 1991: 222), die nach Baudrillard das Gegenteil der Utopie des Jüngsten Gerichts ist. Nicht nur hier, sondern auch an anderen Stellen tritt der Richter als »Tänzer« auf, Krieg und Tanz gehen dabei ineinander über, und der Krieg wird zum geheiligten Fest, zum Blutritual. »Die Abendröte im Westen« liest sich unter diesem Gesichtspunkt als literarische Bestätigung von Roger Caillois Thesen zum Zusammenhang von Krieg, Heiligem, Blut und Fest, wobei der Krieg sich zunehmend der liturgischen Ordnung des Festes entkleidet, um in einen orgiastisch entgrenzten Zustand überzugehen (vgl. Caillois 1988: 202ff.). So lässt McCarthy den Richter kurz vor der zuletzt zitierten Stelle folgendermaßen sprechen: »Ich sage dir folgendes. Wenn der Krieg nicht mehr in Ehren gehalten und seine Würde in Frage gestellt wird, sind die Redlichen, die die Heiligkeit des Blutes anerkennen, vom Tanz ausgeschlossen; da aber der Tanz die ureigene Sache des Kriegers ist, gerät der Tanz ohne ihn zu einem falschen Tanz, werden die Tänzer zu falschen Tänzern. Und doch, einen echten Tänzer wird es immer geben; was meinst du wohl, wer das ist? Sie sind doch’n Nichts.

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Das ist wahrer gesprochen, als du denkst. […] Hör zu, mein Junge, sagte er. Auf der Bühne ist nur ein Platz für ein einziges Tier. Die übrigen müssen zurück in die Nacht, in die ewige, anonyme Nacht.« (Ebd.: 371)

Dass sich der Richter als das »Tier« bezeichnet, das die Welt beherrscht, ist nur einer der vielen biblischen Verweise auf die Herkunft des Bösen. Interessanter an der angeführten Stelle ist etwas anderes. Einerseits feiert sich der Richter als den »einen echten Tänzer«, als das »Tier«, das alles beherrscht. Auf die Entgegnung »Sie sind doch’n Nichts« entgegnet er dann allerdings: »Das ist wahrer gesprochen, als du denkst«. Wie ist dieses Verhältnis zu verstehen? Der biblische Mythos vom Sündenfall hinterließ den Menschen, der vom Baum der Erkenntnis, nicht aber vom Baum des Lebens gegessen hatte, mit einem »Zuviel an Wissen und einem Zuwenig an Leben« (Assmann 2001: 6). Dieses »Wissen« – nach Jan Assmann kann man hierfür auch Begriffe wie »Geist«, »Vernunft« oder »Reflexion« einsetzen – verbindet den Menschen mit der Götterwelt und trennt ihn von den Tieren. Die Sterblichkeit wiederum verbindet den Menschen mit den Tieren und trennt ihn vom Göttlichen. Sowohl beim Vampir als auch bei einer vampirhaften Figur wie dem Richter ist dieses Verhältnis geradezu auf den Kopf gestellt. Der Vampir hat vom Baum des Lebens, nicht aber vom Baum der Erkenntnis gegessen. Der Mensch wurde nach dem Sündenfall »wie Gott«, denn, so die Genesis: »Seht, der Mensch ist geworden wie wir; er erkennt Gut und Böse.« (Gen 3, 22). Verbindet das Wissen – die Unterscheidungsmöglichkeit, die Reflexion – den Menschen mit Gott, so trennt die Unterausstattung mit Erkenntnis (mit »Geist«, »Reflexion«, versinnbildlicht im vampiresken Verlust des eigenen Spiegelbilds) den Vampir von Gott. Er kann nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden, er ist, darin dem Übermenschen Nietzsches ähnlich (vgl. Borrmann 1998: 150), jenseits von Gut und Böse, und deshalb ist er nicht wie Gott. In dieser Hinsicht ist er wie ein Tier, und das heißt: er ist unfrei. Was ihn mit der Götterwelt verbindet, ist dagegen seine Unsterblichkeit. Das Problem vampirhafter Gestalten ist nicht ein »Zuviel an Wissen« und »Zuwenig an Leben«, sondern ein »Zuviel an Leben« und »Zuwenig an Wissen«. Figuren wie der »Vampir«, der »Übermensch« aber auch der »intellektuelle Dandy« hegen in ihrem aristokratoiden Überlegenheitsgestus eine unverhohlene Verachtung gegenüber »gewöhnlichen Menschen« (Borrmann 1998: 151), gleichwohl müssen sie, um ihre Unsterblichkeit zu wahren, zu den gewöhnlichen Menschen ein parasitäres Verhältnis pflegen. Assmann erkennt in der menschlichen Unterausstattung an Leben bei gleichzeitig gegebenem Erkenntnispotential den Ursprung kultureller Tätigkeit. Das menschliche Problem lautet daher: »Ich bin schöpferisch und geistreich, aber ich werde trotz alledem 190

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ein Ende haben. Das vampirhafte Problem lautet entsprechend: »Ich bin unsterblich, aber innerlich leer, geist- und seelenlos.« Aus dieser Figuration ergibt sich das »Unheimliche« solcher Gestalten. Anhand von E.T.A. Hoffmanns Erzählung »Der Sandmann« stellt Stanley Cavell – entgegen der diesbezüglichen Interpretation Sigmund Freuds – eine schlichte aber dennoch bemerkenswerte These über das »Unheimliche« auf. Das Unheimliche stelle sich dann ein, wenn sich das »Beseelte« nicht mehr vom »Unbeseelten« unterscheiden lasse, wenn sich demnach, so möchte ich ergänzen, ein Drittes herausbildet, das als Grenzgänger zwischen Leben und Tod oszilliert (vgl. Cavell 2002: 79). Es muss die Frage aufgeworfen werden, was denn eigentlich mit diesem »Dritten« gemeint sein könnte. Um sich dieser Frage zu nähern, muss zunächst besprochen werden, was unter dem »Beseelten« zu verstehen sei. »Beseelt sein« heißt im platonischen Sinne, dass ein »Leib« seine Bewegung »in sich selbst und aus sich selbst hat« (so im »Phaidros«; Platon 1974: 212). Erst das aus sich selbst heraus Bewegte ist wiederum unsterblich, denn nur was sich selbst bewegt, kann weder Anfang noch Ende haben. Wer indes seine Bewegung von außen her enthält, ist unbeseelt. Zwischen diesen Polen – hier das autonom Selbstbewegte, das in seiner Eigenbewegung Ruhende und dort das Fremdbewegte, daher Unbeseelte und darum wiederum Tote –, steht ein Drittes: das in Ermangelung innerer Bewegung Ruhelose. Hier setzt die Unheimlichkeit ein, nämlich, abermals platonisch, in jener Konfrontation mit Lebewesen ohne eigene Beseeltheit (vgl. Figal 1991: 80), denen wir dann in McCarthys »Kein Land für alte Männer« in Gestalt des Mörders Anton Chigurgh oder in »Die Abendröte im Westen« in Gestalt des Richters Holden begegnen. Dieser Mangel an Beseeltheit und eigener Bewegung ist der Stachel im Fleisch der ansonsten so allmächtig agierenden Figuren. Von hier aus ist es naheliegend, den Schritt zur Gewalt zu vollziehen. Begreifen wir das Prinzip der Gewalt als Hypertrophie reiner Selbstbehauptung, so muss der darin vollzogene Wille nach grenzenlosem Verfügen-Können über den Anderen mitsamt der darin zum Vorschein gelangenden Souveränitätsphantasien als parasitäre Imitation echter Autonomie bezeichnet werden. Es wurden damit zweierlei Formen von Entgrenzung angedeutet. In der Gewaltsoziologie geht der Entgrenzungstopos auf Heinrich Popitz zurück (Popitz 1992). Bedeutete bei Popitz Entgrenzung soviel wie »Befreiung von Handlungszwängen und Handlungshemmnissen« (ebd.: 48), so bleibt unklar, worauf diese Befreiung eigentlich beruht. Ich möchte daher zwei Konzeptionen von Entgrenzung gegeneinanderstellen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, einmal diejenige Simmels und dann diejenige de Sades. Simmel beginnt mit einer Grundannahme, wie sie auch bei Helmuth Plessner oder Arnold Gehlen zu finden ist, und wie sie in der Fol191

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ge in unterschiedlichen Variationen in unterschiedlichen Soziologien fest verankert wurde. Menschen müssen sich demnach selbst begrenzen, sie müssen sich in Ermangelung natürlicher Verhaltensdeterminanten eine eigene Form geben und sich dabei zwischen denkbaren Möglichkeiten entscheiden. Darin erkennt Simmel einen Akt der Selbsttranszendenz, den er als »Hinausschreiten des geistigen Lebens über sich selbst« (Simmel 1918: 6) bezeichnet. Wir sind daher in der Lage, uns selbst zu transzendieren, allerdings nur auf Grundlage vorangegangener Selbstbegrenzung. Nur wer sich begrenzt, kann sich in einem das faktisch Aktuelle überschreitenden, imaginativen Möglichkeitsraum transzendieren. Be- und Entgrenzung bedingen sich damit gegenseitig. Selbsttranszendierung wird damit zu einem Entgrenzungsakt, der die Grenzen des eigenen »Selbst« überschreitet, indem er eine Selbstbegrenzung vornimmt. Diese Selbsttranszendierung besitzt dabei ihren eigenen Zeitmodus: »die Gegenwart des Lebens besteht darin, dass es die Gegenwart transzendiert.« (Simmel 1918: 10). Die »Gegenwart« verliert damit an Bedeutung oder besser gesagt: jenseits der Fesseln des Gegenwärtigen beginnt erst die eigentliche Gegenwart des eigenen Selbst. Ist Simmels Konzeption der Selbstentgrenzung von selbstgenügsamer und im besten Sinne souveräner Autonomie gekennzeichnet (einer Souveränität über sich selbst), so verhält sich jene Form von Entgrenzung gegensätzlich dazu wie sie mit de Sade in Verbindung gebracht wird. Der Akt sadistischer Grenzüberschreitung ist derjenige eines Selbst, das sich aufgrund der inneren substantiellen Leere gar nicht selbst überschreiten kann und daher die Selbsttranszendierung nach außen, das heißt auf Andere hin übertragen muss. Damit werden »die Anderen« zum Teil des eigenen, defizitären Selbst. Wenn Erich Fromm festhält, der Kern des Sadistischen jenseits seiner Engführung auf rein Sexuelles bestehe darin, »absolute und uneingeschränkte Herrschaft über ein lebendes Wesen auszuüben« (Fromm 1998: 326; kursiv im Orig.), so liegt genau darin die Wesensart des Richters Holden, dem nichts mehr zuwider ist als die Autonomie und daher Lebendigkeit beziehungsweise Beseeltheit anderer Wesen. Zwischen Simmels und de Sades Konzeption menschlicher Entgrenzung bestehen damit zwei fundamentale Unterschiede. Simmels Entgrenzungskonzept kann als soziologischer Kommentar auf die Genesis gelesen werden: Wenn wir uns selbst übersteigen, dann nur nach dem Geistigen, nach der Erkenntnis hin. Diese Form der Entgrenzung findet ihre eigentliche, ihre geistige Gegenwart jenseits der zeitlichen Fesseln des faktisch Gegenwärtigen. Sade hingegen jagt der tatsächlichen Gegenwart hinterher, wie sie sich in seinem Werk im Furor der Redundanz sadistischer Übergriffe wiederspiegelt, die in reiner Präsenz und Performanz der Tat im Augenblick, in stetiger Wiederholung und in unterschiedlichen Variationen des Grausamen den 192

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Punkt der reinen Gegenwärtigkeit zu bannen trachten. Es ist der Punkt nihilistischer Epiphanie, an dem alles nur noch Gegenwart und nur noch Materie ist, als ob die reine Gegenwärtigkeit in ihrer Entzeitlichung ewiges Leben spende. Der sadistische Transformationsakt, der Beseeltes in unbeseelte Dinge transformieren und diesen Zustand auf Dauer stellen möchte, ist so betrachtet ein Beschwörungsritual, wie es auch vom Richter Holden andauernd vollzogen wird. Der andere Körper wird zur reinen Materialität und gleichzeitig zum reinen, abstrakten Signifi kanten, anhand dessen der Sadist sich selbst eine grandiose Bedeutung in Ermangelung eines Eigensinns zumessen möchte. Der zweite Unterschied zwischen Simmel und de Sade besteht demnach darin, dass Simmel im Entgrenzungsakt einen nie gänzlich beherrschbaren Möglichkeitsraum beseelter Autonomie eröffnet, während de Sades Entgrenzung auf Vereindeutigung und Beherrschung beruht, die vampirhaft in einer Art mythischem Zeremoniell sich das Beseelte der Beherrschten einverleiben möchte oder doch zumindest danach giert, den anderen in die eigene substantielle Leere mitzunehmen. Es wurde bereits auf die Parallele zwischen der Zeit-, Raum- und Personenebene hingewiesen, und in diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich, wenn Holden die Wüste folgendermaßen beschreibt: »Die Wüste, in der so viele zugrunde gegangen sind, ist weit und verlangt nach einer weiten Seele; zugleich aber ist sie unendlich leer. Sie ist rau, sie ist kahl. Ihre eigentliche Natur ist Stein« (McCarthy 370). Im Grunde artikuliert Holden hier ein auf die Landschaft projiziertes Psychogramm seiner selbst. Holden, als eine ins Mythische übersteigerte Figur des Sadistischen beziehungsweise als dämonisierte Allegorie des Totalitaristischen, vertraut, wie bereits ausgeführt, auf zwei entgegengesetzte Zustände, die ihm jeweils uneingeschränkte Kontrolle ermöglichen. Einmal erscheint er als Prophet der reinen Materialität der Dinge, die, so betrachtet, mit dem Grundsatz von de Sades Programmatik korrespondieren, der Mensch sei ausschließlich der radikal immanenten Gesetzmäßigkeit der Materie und der »Natur« unterworfen (vgl. Friedrich 1998: 150ff.). Auf der anderen Seite gründet Holdens Machtanspruch in der völligen Herrschaft über die Ordnung der Zeichen, demnach in einem ebenso rigiden Simulationsspiel, das genauso wie der reine Materialismus die Welt völlig vereindeutigt und begrenzt und nur noch die gestohlene Scheinautonomie und Entgrenzung des Machthabers kennt. Was dagegen ausgespart bleibt, ist die vermittelnde Ebene des Symbolischen, das einen Möglichkeitsraum entwirft, der über den transzendenzentleerten Terror der Materialität und die ebenso transzendenzentleerte Herrschaft des Bedeutungsgewebes an sich leerer Signifi kanten hinausweist. Dass in »Die Abendröte im Westen« den Skalpjägern menschliche Kopfhäute zur ›Währung‹ werden, ist der wohl entscheidende Verweis auf jenes Prinzip des völligen Transzendenzverlusts, 193

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indem im Akt der Gewalt menschliches Leben in reine Materialität transformiert und schließlich völlig in ein relational organisiertes Zeichensystem – in eine Währung – eingespeist wird.

5. Auswege »Die Abendröte im Westen« ließe sich gattungsgemäß in die Reihe des »Anti-Westerns« einreihen, in der die nordamerikanischen Mythen von Heldenmut, Freiheit und der Weite des »Gelobten Landes« dekonstruiert werden. Dass der klassische Mythos des Westerns Schaden nimmt, steht außer Frage, gleichwohl ist McCarthy kein politischer Schriftsteller, seine Themen stehen außerhalb der Polis, vielmehr muss sein Werk als eine Form literarisierter Anti-Soziologie betrachtet werden. Weder wartet McCarthy mit einem säkular anschlussfähigen Erlösungsnarrativ auf (Owens 2000: 7), noch setzt er die geringste Hoffnung in Geschichte und Kultur (Holloway 2002). Stellen wir die Frage, warum der nach einem Zeitsprung von dreißig Jahren inzwischen zum Mann gewordene »Junge« doch noch zugrunde gehen muss und am Ende von »Die Abendröte im Westen« vom Richter in den Latrinen – dem Orkus des nekrophilen Charakters schlechthin – in einem unbenannt bleibendem Akt vernichtet wird. Der heimat- und vaterlose »Junge« und der in seiner Physiognomie als grotesk verzerrtes Kind auftretende Richter bilden insgeheim eine Doppelgestalt, die sich gegenseitig begehrt: der verwaiste Junge sucht den Vater, und der Richter sucht das Kind, um sich in dessen Einverleibung selbst zu regenerieren. Der groteske Leib und derjenige des Kindes teilen ein gemeinsames Schicksal. So charakterisiert Bachtin den »grotesken Leib« folgendermaßen: »Im grotesken Leib dagegen beendet der Tod nichts Wesentliches, denn er betriff t nicht den Leib der Gattung; diesen erneuert er in neuen Generationen. […] Der eine Leib gibt seinen Tod, der andere Leib seine Geburt. In der zweileibigen Gestalt sind sie verschmolzen.« (Bachtin 1980: 201). Sowohl der Richter als auch der Junge sind letztendlich thanatologische Figuren, deren Wunsch nach »Einssein« im Akt des Verschlingens und Verschlungenwerdens zur tragischen Erfüllung kommt (vgl. Kristeva 1989: 12). Es bleibt die Frage, warum es dem Jungen nicht gelingt, Holden – den Archon, den Saturn, den Dämon – zu überwinden. Erinnern wir uns an das weiter oben angeführte Zitat Lukács, so bestehen zwei Wege, die Dämonen zu schlagen: einmal die Bekämpfung durch die »Tat« und ebenso das »lösende Wort«. Beides scheitert in »Die Abendröte im Westen«. Der Held der mythischen Erzählung überwindet nach Lukács die Widersacher der dämonisierten Außenwelt in seiner Heldentat auch deshalb, weil er von 194

Cormac McCar thys Melancholie und das Böse

»höheren Mächten«, von »Göttern« geführt wird. Auch »der Junge« will nach Zerschlagung der Skalpjägerbande Holden durch die Tat vernichten und zielt schon mit dem Revolver auf ihn. Ihm zur Seite steht allerdings keine »höhere Macht«, sondern deren heruntergekommenes Überbleibsel in Gestalt des Ex-Priesters Tobin, der, ebenfalls Mitglied der Skalpjäger, ihn dazu ermutigen will, Holden zu erschießen, wovor »der Junge« dann allerdings zurückschreckt. Entscheidender ist jedoch, dass es ihm nicht gelingt, Holden, seinen Dämon, durch das Wort zu besiegen. Erfahren wir zu Beginn, »der Junge« sei ein Analphabet, obwohl sein leiblicher Vater ein ehemaliger Lehrer war, so führt er am Ende zwar eine Bibel mit sich, kann jedoch immer noch nicht lesen. Zwar versucht er, Holden zu benennen (»Sie sind doch’n Nichts.«), gleichwohl bleibt er dem Richter rhetorisch unterlegen und kann das rechte Wort letzten Endes doch nicht finden. Indem er von Holden nicht die Antwort auf die große Frage des Romans erzwingen kann, nämlich wer er, der Richter, wirklich ist, kann er auch nicht erkennen, wer er selber ist, womit wir bei dem gnostischen Motiv angekommen sind, dass die Rettung letzthin in Selbsterkenntnis besteht, die dem Subjekt Autonomie über das eigene Schicksal verleiht. Was in »Die Abendröte im Westen« nicht gelingt, ist das Durchbrechen des Mythos wie Horkheimer/Adorno es folgendermaßen beschreiben: »Mythische Unausweichlichkeit wird definiert durch die Äquivalenz zwischen jenem Fluch, der Untat, die ihn sühnt, und der aus ihr erwachsenen Schuld, die den Fluch reproduziert.« (Horkheimer/Adorno 2006: 66). Wenn im »Moment des Kreislaufs« der Mythos den »Schuldzusammenhang als Gesetz« (ebd.) installiert, so steht der Richter für das mythische Gesetz. Und so ist es auch zu verstehen, dass uns mitgeteilt wird, zur Geburtsstunde des »Jungen« sei ein Meteoritenschauer vorbeigezogen, und in dem Moment vor seinem Ende beobachtete er »noch einmal die Spur der Sterne, wie sie sich lautlos hinter den Hügeln verlor«. (S. 374). Anfang und Ende bilden ein kosmisches Fatum, dessen Ende im Beginn bereits eingeschrieben war, alles endet nicht nur, sondern begann auch mit dem Richter. Wie bereits zitiert, finden wir gleich zu Beginn des Romans folgende Passsage: »Nacht deiner Geburt. Gott, wie die Sternschnuppen fielen. Ich suchte nach Schwärze, nach Löchern im Firmament.« (11; Kursiv C.S.). Welches »Ich« erhebt sich hier für einen Augenblick aus der ansonsten auktorialen Erzählperspektive (vgl. dazu Stanzel 1995)? Es muss eine Figur aus der fi ktionalen Welt des Romans sein, und es ist sehr naheliegend, dass hier der Richter spricht, der damit bereits bei der Geburt des »Jungen« zugegen war. Warum wäre schließlich die Benennung die Rettung aus dem Mythos? Vielleicht weil der Akt der Kennzeichnung die wahre Gestalt des Dämons offenbaren würde. So hält Kayser fest: »Sobald wir die Mächte benennen und ihnen eine Stelle in der kosmischen Ordnung anweisen könnten, ver195

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löre das Groteske an seinem Wesen« (Kayser 1980: 45). Ich möchte dem ein weiteres Zitat hinzufügen, diesmal aus »Das Dämonische« des Theologen Paul Tillich: »Es ist eine merkwürdige Erfahrung: einer Rede über das Dämonische folgt Wildheit oder Leere oder beides: Der Dämon rächt sich dafür, dass er gekennzeichnet ist. Nur der Prophet, der ihn besiegt, kann ihn ohne Schaden nennen.« (Tillich 1926: 4). Womöglich liegt genau darin das eigentliche literarische Verlangen McCarthys, nämlich das Prinzip des Bösen zu benennen – es nicht als »Leere«, als augustinisches »Nichts« zu belassen –, ihm demnach eine Gestalt zu verleihen, ohne dabei jedoch auf der anderen Seite der Gefahr zu unterliegen, im Zuge der Ästhetisierung einen mimetischen Ansteckungseffekt zu erzeugen, in dem sich der verführerische Scheinheroismus des Bösen selbst gefallen könnte. Nach Guillemin ziehen sich drei Kompositionsstränge durch McCarthys Werk: Melancholie, Allegorie und das pastorale Thema, verstanden als »the principal quest for harmony in a better world.« (Guillemin 2004: 3). Erst aus dem letztgenannten Blickwinkel erschließt sich McCarthys literarisches Manifest. Das unbestimmte Empfinden eines tiefen Verlusts wie es bei McCarthy kontinuierlich im Hintergrund mitschwingt, ließe sich nach Kristeva zwar in einem ästhetischen »hypersign« kompensieren (vgl. Kristeva 1989: 98ff.; kursiv im Orig.), indem die Idealisierung des »Schönen« zur letzten enttäuschungsfesten Ekstasis wird, um Verlust und drohende Leere zu kompensieren. Auf das Schöne zu setzen, hat jedoch seinen eigenen Preis: »Sublimation alone withstands death. The beautiful object that can bewitch us into its world seems to us more worthy of adoption than any loved or hated cause for wound or sorrow. Depression recognizes this and agrees to live within and for that object, but such adoption of the sublime is no longer libidinal. It is already detached, dissociated, it has already integrated the traces of death, which is signified as lack of concern, absentmindedness, carelessness.« (Kristeva 1989: 100).

Die Flucht der Melancholie in die Ästhetisierung ist gleichzeitig – verstanden als Akt des Bannens –, eine Bewegung hin zum Leblosen. McCarthy betreibt jedoch keine literarische Ästhetisierung des Grauenvollen im Sinne einer solchen Bannung, in der die Unbeseeltheit des Bösen in ebenso toter Ästhetik gefangen wird. Wenn daher Karl-Heinz Bohrer die Frage aufwirft, ob das Kunstwerk, welches das Böse darstellt, selbst damit Anteil am Bösen habe (Bohrer 2004), so übersieht er, aus dieser Perspektive betrachtet, ein wesentliches Detail. Bohrers These lautet, im Gegensatz insbesondere zur französischen Literatur habe die deutsche Literatur und Philosophie das Böse idealistisch zu verdrängen versucht. Als Hauptver196

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dächtige dieser Ausklammerung des Bösen und dessen damit einhergehender Depotenzierung führt er Autoren wie Hegel, Habermas und Günter Grass an, und letztlich führe die ästhetisch-philosophische Blindheit gegenüber dem Bösen zu einer moralingesättigten Tugendliteratur, in der das Böse nur noch als blasse Folie diene, um das Gute vorzuführen. Das Böse, so Bohrers Schreckgespenst, wird dadurch ästhetisch kastriert, um nur noch in homöopathischen Dosen zugelassen zu werden, um dann in einer Statistenrolle dem Reich der wahren Ideen den Steigbügel zu halten. Für Bohrer bestehen in dieser Hinsicht nur zwei Wege. Entweder man lässt in der Kunst die Ästhetisierung des Bösen gewähren oder man versinkt in der Banalität kleinbürgerlich provinzieller Moralpamphlete, an deren Verachtungswürdigkeit aus dem Blickwinkel des überlegenen Ästheten kein Zweifel gelassen wird. Bohrer unterscheidet allerdings nicht zwischen Ästhetisierung und Sympathisierung oder anders formuliert: eine sympathielose Ästhetik scheint er erst gar nicht zu kennen. An McCarthy lässt sich jedoch dokumentieren, dass eine Ästhetik des Grausamen auch ohne Sympathie vollzogen werden kann, anders als beispielsweise bei Ernst Jünger, den Bohrer immer wieder als Kronzeugen seiner These heranzieht. Wie bei Jünger erhält die Gewalt bei McCarthy zwar auch eine autonome Gestalt und ästhetische Potenz, allerdings ohne dabei einen sublimierten intellektuellen Voyeurismus zu bedienen, in dem das Prinzip entgrenzter Souveränität sich selbst in Wohlgefallen wiederfi nden könnte. Was nämlich vor allem bei McCarthy zertrümmert wird, ist die nitzscheanisch erhabene Romantik des heroisch-libertinären Subjekts.

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In der bosnischen Literatur des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts zeichnet sich eine starke Fixierung auf die Thematik des Krieges ab, der von 1992-95 dort wütete. Selbst die Literatur, die den Krieg nicht direkt thematisiert, nimmt ihn oft als Hintergrund für die Handlung und stellt durch so ein indirektes Erzählen seine katastrophalen Folgen für die Gesellschaft besonders eindrucksvoll dar. Diese neuere bosnische Literatur formiert eine spezifische Kultur der Transition, die dazu neigt, die Veränderungen, welche die bosnische Gesellschaft nach dem Friedensabkommen von Dayton erleben und erleiden musste, zu apostrophieren und diese ausschließlich der verheerenden Wirkung des Krieges zuzuschreiben. Darin liegt gleichzeitig ihre Stärke und ihre Schwäche. Denn allzu oft führt diese Konzeption zu Vereinfachungen und Verflachungen in der Darstellung der extrem komplexen und nicht leicht auf einen gemeinsamen Nenner zurückzuführenden Wirklichkeit. Gleichzeitig aber widmet sie sich intensiv allen Problemen, die Bosnien in der Phase des gnadenlosen Übergangs zum ›Manchester-Kapitalismus‹ begleiten. Das heißt, dass sie sich mit Phänomenen wie Kriminalität, einer de facto Fremdherrschaft, die in den Aktivitäten der OHR sichtbar ist, mit Auswanderung, der Erfahrung von Ausweglosigkeit und grundloser Gewalt auseinandersetzt, die sie allesamt als Kriegsfolgen auffasst.1 1. Die interessantesten Autorinnen und Autoren dieser relativ jungen Generation sind Veselin Gatalo (»SFOR«, 2004), Namik Kabil (»Sam«, deutsch: Allein 2004), Lamija Begagić (»Godišnjica mature«, deutsch: Abiturtag 2006) und Mustafa Zvizdić (»Muzika zidnih satova«, deutsch: Musik der Wanduhren 2004). Zudem sind auch die Romane »Otac moje kćeri« (Vater meiner Tochter 2004) und »Sahib« (2005) des schon bekannt gewordenen Nenad Veličković zu nennen. Die wichtigsten Vertreter der Kultur des Übergangs im Bereich der Film-

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Während sich diese ›transitorischen‹ Texte in einem gefährlichen Raum der unmittelbar affizierten Interpretation der jüngsten Ereignisse befinden, knüpfen andere, die den Krieg als Ausgangspunkt zu deuten versuchen und ihn aus einer gewissen historischen Distanz betrachten, an eine literarische Tradition an, die ihren Anfang in den Texten der Modernisten hatte. In vielen Fällen bildet die Topik der Gewaltdarstellung den Berührungspunkt zwischen literarischer Tradition und literarischer Gegenwart. Schon die Literatur, die sich mit dem Ersten Weltkrieg befasste, versuchte einen Topos der Undarstellbarkeit der Gewalt zu kanonisieren. Die sogenannte realistische Literatur hat aber im Gegenteil immer einen direkten Zugang zur Gewalt, eine absolute Darstellbarkeit der Grausamkeit für sich in Anspruch genommen. Für sie war prinzipiell alles darstellbar, es gab, angeblich, keinen Halt vor den Erscheinungen des Zerfalls und der Zerstörung. Die Modernisten kehren dieses realistische Prinzip um, und zwar im Namen einer noch größeren Realität. Sie haben das Grauen des Krieges selber kennen gelernt und suchten gerade deshalb nach anderen erzählerischen Methoden, um so nah wie möglich an ihre unvorstellbar grausame, aber trotzdem ›wahre‹ Wirklichkeit heran zu kommen. Bei ihnen ist eine direkte Positionierung des Erzählers im Kriegsfeld nicht zu übersehen. Er ist derjenige, der als Zeuge das Geschehen miterlebt hat und der als Überlebender das Recht behält, über die Gräueltaten zu berichten. In diesem Sinne ist zum Beispiel auch die englische Kriegslyrik, die im Zeichen der Schützengrabenschlachten entstanden ist, und deren wichtigste Vertreter Siegfried Sasson, Wilfred Owen, Herbert Read oder Charles Hamilton Sorley sind, eine Kunst der drastischen Darstellung des zerstückelten männlichen Körpers. Das Grauen wird hier unmittelbar an die Leserschaft weitergeleitet, ja es wird zur Schau gestellt in einem Festspiel der Zeichen; die Distanz minimierende Schreibweise wirkt sogar grotesk. In den Literaturen des jugoslawischen Modernismus finden sich genügend Beispiele, die einer solchen Wahrnehmung der Wirklichkeit entsprechen. Miroslav Krleža im »Kroatischen Gott Mars«, oder Miloš Crnjanski im »Tagebuch über Čarnojević« lassen ihre Helden im Schlamm an der Ostfront baden. Ihre Körper zerfallen in der Sinnlosigkeit eines Krieges, der im Namen einer fremden Macht geführt wird. Gerade durch ihre Übertragungsleistung in eine neue narrative Welt, welche die Pseudorationalität der kriegerischen Handlungen entlarvt, wird die Groteske so zu einem ersten und sehr effektiven Mittel der drastischen und zugleich antimimetischen Darstellung des Skandalösen, des Entsetzlichen. Die grotesken Erzählstrategien haben eine gesellschaftskritische kunst sind die international anerkannten und mehrfach ausgezeichneten Regisseure Jasmila Žbanić und Srđan Vuletić.

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Das Trauma des Kr iegers

Funktion. Die grotesk entstellten Körper werden, sozusagen, entmündigt. Ihnen wird die Dignität gebende Eigenständigkeit entzogen und sie bleiben zerstreut, disseminiert, sowohl im Raum als auch in der Zeit. Eine, vielleicht unfreiwillige, Komik mindert die Gefühle des Rezipienten, oder, besser gesagt, lenkt sie in eine Richtung, welche von der Erfahrung der Unerzählbarkeit dominiert und autorisiert wird. Eine andere Strategie, die man in den nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Texten der jugoslawischen Literaturen verfolgen kann, ist eine gewisse Tendenz zur Poetisierung der dargestellten Wirklichkeit. Sie ist nicht in direkte Verbindung mit den kriegerischen Handlungen zu bringen, sondern bezieht sich auf Erfahrungen der Ausgeschlossenheit, Vertreibung, Exkommunizierung. Ein dadurch verursachtes Unbehagen im Raum steht z.B. im Zentrum zweier Bände von Ivo Andrić, »Ex Ponto« und »Unruhen«. Die Angst wird generiert durch ein Gefangensein in extremen Umständen; die Zeit, welche man in Unmengen besitzt, beginnt zu zirkulieren und steuert auf einen apokalyptisch-melancholischem Ausgang zu. Die Narrativierung der Handlungen und Ereignisse wird in Form von Psychologisierung ins Innere der Protagonisten verlagert, die Zeit wird suspendiert, ihre Bewegungen zum Stillstand gebracht. Damit steigt die Rolle des Raums in der Konzipierung der Texte. Es wird schwierig, ihr Genre zu bestimmen, sie balancieren an der Grenze zwischen Lyrischem und Epischem und sind hybride Konstrukte, die Angst in eine unheimliche Textualität übersetzen. Andrić erweist sich als Meister dieser Darstellungsstrategie und avanciert mit diesen zwei Texten zum Gründer einer literarischen Richtung, die über Krieg schreibt, ohne den Krieg als solchen zum Hauptthema zu haben. Der Erste Weltkrieg war für die jugoslawischen Schriftsteller eine Erfahrung, die mit Heldentum nur wenig zu tun hatte. Ganz entgegengesetzt war es im Fall des Zweiten Weltkrieges. Der Kult des Heldentums der Partisanen wird sogar in jenen Texten beibehalten, die eigentlich kritisch gegenüber dem ›Volksbefreiungskrieg‹ sein wollten. Der Grund dafür ist, wie der Philosoph Ugo Vlaisavljević betont, in der »narrativen und magischen Natur des konstitutiven politischen Mythos des Kommunismus Titos« (Vlaisavljević 2007: 138) zu suchen, d.h. in dem Mythos von Brüderlichkeit und Einheit, der auf dem Sieg über den starken Gegner von außen und den ›schwachen‹ Gegner von innen beruhen. Dieser ›master narrative‹ wurde perpetuiert durch endlose Wieder- und Nacherzählungen, die sich am Rande verschiedenster Feierlichkeiten vollzogen. Diese Strategien haben wiederum zu einer Erstarrung und einer Suspendierung der Geschichte geführt, durch deren Wirkung die psychologische und historische Bearbeitung traumatischer Ereignisse unmöglich geworden ist. Wenn Vlaisavljević sich der Aufarbeitung der neuesten Kriege in Jugo203

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slawien widmet, beobachtet er eine seltsame Entwicklung. »Die Modernität ethnologisiert und evoziert immer archaischere und authentischere Kulturen.« (Ebd.: 138) Das ist eine sehr zugespitzte These, die sich sicherlich durch die zeitliche Nähe des Geschehens legitimiert. Sie gibt einer Verwunderung über die Anziehungskraft des neuen Ethnonationalismus Ausdruck, der seinerseits die großen Mythologeme seines kommunistischen Vorgängers als Betrug bloßstellt. Er »entwirft die berühmte Brüderlichkeit als Verrat, die kommunistische Ideologie des Krieges als maskierte imperiale Kultur, die Wirklichkeit des Weltkrieges als Fiktion.« (Ebd.: 138) Gleichzeitig bedeutet dies aber, dass eine ›Aufarbeitung‹ der jüngsten blutigen Auseinandersetzung im Diskurs des Heroischen auf sich warten lassen wird, wodurch Platz frei wird für kritische fi ktionale Texte, die den Schrecken des Krieges nicht in einem Akt des persönlichen Heroismus aufzuheben versuchen. Ob dies als eine Entwicklung im Sinne der freien Meinungsäußerung zu sehen ist, bleibt noch unklar. Aber die Möglichkeit der offenen Kritik ist in der Kultur der Transition weit größer als sie es in den Zeiten der Formierung des totalitären Tito-Regimes nach 1945 war. So betrachtet, scheinen Film und Literatur, die die Aufarbeitung des Bürgerkriegs in Bosnien zu ihrer Aufgabe gemacht haben, an die Kunst des klassischen Modernismus anzuknüpfen, die in der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen entstanden ist. Gleichzeitig stellt sie einen Bruch mit der Kriegsliteratur dar, die nur mit den Mythen der Nationsgründung, der Bewahrung und Festigung vorgeschriebener Traditionen etwas anfangen konnte. Oder, noch zugespitzter, man könnte diese Literatur als eine offene Polemik mit den literarischen Erfahrungen der vorherigen Generation verstehen, als einen Versuch ihre letztendlich ästhetisch neutralen oder sogar misslungenen Texte gründlich in Frage zu stellen, sie vom Thron des unangefochtenen Anspruchs auf historische Wahrheit zu stoßen. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass diese Strategie gegenwärtig in zwei thematisch zentrierten Gruppen oder Genres verfolgt wird, die in poetologischer Hinsicht jeweils ihren eigenen Gesetzen folgen. Das eine Genre hat Riccardo Nicolosi die Literatur des belagerten Sarajevo genannt (vgl. Nicolosi 2007: 136-7), das andere Genre würde ich, unter Vorbehalt, als eines charakterisieren, das sich dem Trauma des Kriegers widmet. In meiner literarhistorischen Periodisierung würde ich gerne das erste mit der von Andrić inaugurierten, eher räumlichen, Konzeption der Darstellung des Krieges, das andere mit den poetologischen Prinzipien Krležas verbinden, die auf einer starken Bevorzugung der zeitlichen Komponente beruhen. In meinem Beitrag werde ich mich vorwiegend auf das Genre, das das Kriegstrauma thematisiert, konzentrieren und ihre apokalyptische Vorstellung von Körperlichkeit in den Vordergrund stellen. Zuerst aber möchte ich aber einige Differenzen zwischen den erwähnten Genres ausarbeiten. Eine 204

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wichtige Differenz liegt meiner Meinung nach in der Rolle des Raums. Die Sarajevoer-Erzähltexte sind topographisch, die Trauma-Erzähltexte eher zeitlich. Der Raum spielt durch eine Fokussierung auf seine klaustrophobische Verengung in den ersteren eine Schlüsselrolle. Er wird zum Merkmal einer in sich und an sich geschlossenen Welt, die sich vom Ort des Eigenen zum Ort der Fremdheit wandelt und dadurch zu einer Heterotopie2 im Sinne Foucaults wird. Die Wandlung, welche die vertraute Landschaft durchmacht, erscheint so essentiell, dass man den Ort kaum wiedererkennen kann. Ihre Entstellung, macht die Landschaft zum negativen Kunstobjekt, welches ästhetisch entleert, aber nicht durch ethische Inhalte erfüllt ist. Die Prosa der Belagerung will nicht ethisch wirken. Wenn sie das auch tut, dann nur am Rande, in seltenen Betrachtungen der Zerstörungswut und Rücksichtslosigkeit der Belagerer und ihrer Auftraggeber. Diese Konzentration auf den Raum zieht in der Sarajevoer Belagerungsliteratur weitere Konsequenzen nach sich. Das Individuum und eine Bearbeitung seiner psychologischen Zustände bleiben hier fast unberücksichtigt, was vielen Autorinnen und Autoren die Anschuldigung angeblicher Gefühllosigkeit eingebracht hat. Dabei wird vergessen, dass dieser Verzicht auf Psychologisierung eine konsequente Ablehnung der Postulate des klassischen Modernismus und der dominanten Diskurse der existentialistisch geprägten Prosa der sechziger Jahre in Jugoslawien bedeutet. Wenn Semezdin Mehmedinović, Aleksandar Hemon, Miljenko Jergović oder Alma Lazarevska ihren Figuren jeglichen Realismus entziehen und sie frei in einem vom Sinn entleerten Raum agieren lassen, dann wollen sie nicht nur performativ ihre Machtlosigkeit vor dem unvermittelten Grauen des Krieges zum Ausdruck bringen, sondern sie versuchen ein neues Paradigma zu schaffen, das dazu fähig wäre, das Gefühl der Ausweglosigkeit spürbar präsent zu machen. Insofern hat der Krieg eine befreiende Wirkung auf die junge bosnische Prosa ausgeübt. Kanonisierte Normen und Modelle wurden durch neue abgelöst, die sich stark an topographischen, postmodernistischen Formen orientieren. Das zweite Genre der Kriegsliteratur, für welches die Texte von Miroslav Krleža modellhaft wirken, entwickelt ebenfalls eine spezifische Topographie. In Texten dieser Richtung ist die Front der erste und die psychiat2. Nach Foucault üben Heterotopien »gegenüber dem übrigen Raum eine Funktion [aus], die sich zwischen zwei extremen Polen bewegt. Entweder sollen sie einen illusionären Raum schaffen, der den ganzen realen Raum und alle realen Orte, an denen das menschliche Leben eingeschlossen ist, als noch größere Illusion entlarvt […] Oder sie schaffen einen anderen Raum, der im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung aufweist.« (Foucault 2006: 326)

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rische Klinik der zweite Austragungsort der Handlung. Anders als die Belagerungstexte, die das Kriegstrauma oft mit klaustrophoben Phantasien darstellen und somit die pathologischen Auswirkungen des Krieges auf den Raum projizieren, sind die Fronttexte eher agoraphob und konzentrieren sich auf das Innenleben der Protagonisten. Deshalb findet hier auch die viel stärkere Ausrichtung auf das Psychologische, die letztendlich auch Platz für die diskursive Darstellung des Traumas bietet. Das Trauma, wie es schon von Freud in »Jenseits des Lustprinzips« gezeigt wurde (vgl. Freud 1920: 21), hat ein narratives Potenzial, das sich aus seiner Urgeschichte ablesen lässt. Freuds Beispiel, erinnern wir uns, ist die Szene aus Tassos »Gerusalemme liberata«, in welcher der Held Tancredo aus Versehen seine geliebte Clorinda umbringt. Später, durch einen verzauberten Wald wandernd, der allen Kreuzrittern Angst und Schrecken einjagt, versucht er seine Armee durch Schläge gegen die Bäume zu befreien. Er triff t auf einen Baum, der ihn mit Clorindas Stimme darauf hinweist, dass er sie noch einmal getötet hat. Für Freud ist hier die Wiederholung der Handlung besonders wichtig. In der Literatur führt diese Wiederholung zur Abschaff ung von linearem Erzählen und wird zum Markenzeichen der Traumanarrative. Vor diesem Hintergrund wende ich mich nun dem Roman von Josip Mlakić (»Kad magle stanu«/Wenn sich die Nebel lichten) und der Geschichtensammlung von Faruk Šehić (»Pod pritiskom«/Unter Druck) zu. Die beiden sind Kriegsteilnehmer und fungieren, oder könnten sowohl Zeugen als auch als Autoren fungieren, machen aber wider Erwarten ihre Erfahrungen – offensichtlich bestimmt durch spezifische Verpflichtungen gegenüber ihrer individuellen und kollektiven Identität – auf eine eher unautobiographische Art erzählbar und anderen zugänglich. Dabei gehen sie einen Pakt mit der Leserschaft ein, der aber ein Risiko beinhaltet, welches Margot Norris wie folgt beschreibt: »Readers of twentieth century war writing enter into communion with acts of witnessing that entail both psychological and ethical risks, as well as well as ontological and ethical responsibilities. The crudest negative risks – of having representations of violence exciting pleasure, or having images of cruelty feed what Michael André Bernstein calls ›an appetitive fascination with evil‹ – are most oft incurred by war writing that is not testimonial in structure or intention.« (Norris 2000: 30)

Mlakić und Šehić ist diese Gefahr bewusst. Die Strategien, die sie benutzen, um sie zu umgehen, sind unterschiedlich. Während Mlakić durch mehrfache Brechung eine Identifizierung mit einem der vielen Erzähler oder die Dominanz einer einzelnen Erzählstimme untergräbt, nähert sich 206

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Šehić gefährlich dem Leser, vermeidet aber explizite ethische Aussagen oder Beurteilungen. Durch das Fehlen eines ethischen Metakommentars schaff t auch er eine Distanz zu den erzählten Ereignissen und transzendiert sie zumindest teilweise trotz ihrer ständigen und gelegentlich penetranten Präsenz. Jenseits dieser Unterschiede, weisen die beiden Autoren auch gemeinsame Schnittstellen auf, die ich hier kurz untersuchen möchte. Die erste Gemeinsamkeit ist genrespezifisch und besteht darin, dass beide Texte einen doppelten Austragungsort haben: Die Kriegsfront und die psychiatrische Klinik. Die beiden Orte sind miteinander quasi kausal verbunden: die Front ist der Ort, an dem das Trauma entsteht, die Klinik ist der Ort, an dem es geheilt werden sollte. Aber sowohl die Front als auch die Psychiatrie erweisen sich als topographische Einheiten, die sich nicht überschneiden, und die daher nicht dazu fähig sind, die narrative Linie von Trauma und Heilung zu entwickeln und zu einem sinnvollen Schluss zu bringen. Die Front ist per se ein Ort des psychologischen und emotionalen Notstands, der keine Möglichkeit für Stabilisierung bieten kann. Andererseits bleiben die Krankenhauspatienten im endlosen Kreis der Wiederholungen der traumatischen Ereignisse gefangen, und die Ärzte, die sie aus ihrer Gefangenschaft befreien sollen, sind genauso machtlos wie lustlos bei ihrer Arbeit. Es entsteht ein Teufelskreis, aus welchem es kein Entkommen gibt. Josip Mlakić3 thematisiert gerade diese doppelte Unfähigkeit, aber er tut es auf eine innovative Art und Weise. Seinem Erzähler ist bewusst, dass er nur durch die Konstruktion eines zusammenhängenden Narrativs einen Ausweg aus dem Krankhaften finden kann. Deshalb versucht er auch, seine Geschichte zu erzählen. Diese Versuche bleiben erfolglos, weil er sie nur in Form von Fragmenten formulieren kann. Das fragmentarische Erzählen wird in Kapitel, die den Titel Slika (Das Bild) tragen, unterteilt. Durch diese Benennung wird das Augenblickliche, etwas, was nur einen räumlichen, aber keinen zeitlichen Kontinuum hat, unterstrichen. Die Bild-Kapitel sind lediglich ein bruchstückartiges Abbild des Geschehenen – die therapeutische Funktion bleibt ihnen verweigert. Und zwar des3. Josip Mlakić wurde 1964 in Bugojno geboren. Er hat Maschinenbau in Sarajevo studiert und lebt heute in Uskoplje. »Kad magle stanu« (Wenn sich die Nebel lichten, 2001), ist sein erster Roman. Danach veröffentlichte er die Romane »Živi i mrtvi«, (Die Lebenden und die Toten, 2002), »Psi i klaunovi« (Die Hunde und Clowns, 2006) und »Tragom zmijske košuljice« (Auf der Spur der Schlangenhaut, 2007) sowie auch die Erzählsammlung »Ponoćno sivo« (Mitternacht Grau, 2004). Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet. Der Roman »Die Lebenden und die Toten« wurde 2006 unter gleichnamigem Titel verfilmt und erhielt im selben Jahr den Preis die Goldenen Arena als bester Film.

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halb, weil sie das Zusammenhanglose bevorzugen, weil sie, genauso wie die Psyche des Protagonisten, unfähig sind konsistent, kausal und sinnvoll zu erzählen. In diesem Punkt nähert sich der Erzähler der Vorstellung von Undarstellbarkeit des Traumas, oder besser, der traumatischen Ereignisse an, die, wie bereits bei Freud beschrieben, ein sine qua non dieser Krankheit bilden. So entsteht die folgende Erzählsituation: Der Erzähler, der geheilt werden soll, kann nicht geheilt werden, weil er seine Geschichte nicht in eine lineare Erzählung einbinden kann. Daraus ergibt sich eine das Trauma stets wiederholende Konstruktion (d.h. eine Wiederholung der Wiederholung), in welcher sich mimetisch die Strukturen des Traumas selbst widerspiegeln. Unfähig, das zu verarbeiten, verzettelt sich der Erzähler in immer neue nichts aussagende Fragmente, die wiederum in ein Scheitern der Therapie umschlagen. »Wenn sich die Nebel lichten« besteht aus fünf Teilen. Jeder Teil beginnt mit einer kurzen Einführung, in der die Ereignisse aus dem Krankenhaus beschrieben werden. Diese kurzen Einführungen sind in der dritten Person geschrieben. Die Hauptfigur, Jakov, wird in seinen Kontakten mit Ärzten, Krankenschwestern, anderen Patienten oder Familienmitgliedern dargestellt. Diesen Schilderungen wiederum folgen, wie schon erwähnt, kürzere Abschnitte, Slika (Bild) genannt, deren Hauptteil Jakovs in der Schreibtherapie entstandene Notizen bilden. Slike sind reine IchErzählungen. Ihre Funktion ist die Wiedergabe der Kriegsereignisse, die letztendlich zu Jakovs Aufenthalt in der Neuropsychiatrischen Klinik geführt haben. Dadurch baut sich eine Spannung zwischen Jakovs früherem und seinem jetzigen Dasein auf, die – auch medizinisch – keine richtige Lösung zu finden vermag. Genau in diesen Zwischenraum ist die ganze Geschichte des Krieges aus der Sicht eines bosnisch-kroatischen Soldaten eingeschrieben. Es ist ein Ort der Unentschlossenheit, in welchem alle Erinnerungen an das frühere Zusammenleben mit der Wahrnehmung der jetzigen Feindschaften zusammenprallen. Gerade wegen der Unmöglichkeit, eine richtige Entscheidung bezüglich des ethischen Dilemmas zu treffen bildet sich eine explosive Lage, aus der kein Ausweg zu finden ist. Dieses Dazwischen ist in »Wenn sich die Nebel lichten« ein Raum, in welchem sich die negativen Energien des Narratives sammeln. Es befi ndet sich – ungreif bar und unbegreif bar – zwischen einer noch-nicht-vergessenen Vergangenheit und einer noch-nicht-erlebten Gegenwart. Die tragische Geschichte Jakovs ist dort als ein Zeichen des ethischen Risses, der sich zwischen zwei ethnischen Gemeinden geöffnet hat, angesiedelt. 4 Als 4. Enver Kazaz (2008:143) weist darauf hin, dass Mlakićs Erzähler eine marginale Figur ist, die alle Manipulationen mit dem Begriff der heldenhaften kollektiven Identität aufdeckt und deshalb eine unanfechtbare moralische Positi-

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solches bedeckt es sowohl die zeitliche als auch die räumliche Dimension des Erzähltextes. Eine Entscheidung die in diesem Dazwischen getroffen werden soll, kann niemals eindeutig sein, sie ist nie etwas anderes als eine fi ktive, mehr oder weniger tragische Inschrift in der labilen Textur des Erzähltextes. Davon zeugt auch der wichtigste Erzählstrang des Textes: Die Geschichte von einem Scherz, der am falschen Ort zur falschen Zeit gemacht wurde.5 Ausgangspunkt dieser Geschichte ist eine typische bosnische Freundschaft, die sich nicht für die nationale oder religiöse Zugehörigkeit der Menschen interessiert. Mirsad (ein Muslim) ist Jakovs Freund aus der Kindheit. Während der Kämpfe wurde er gefangen genommen und in das Militärgefängnis in der Stadt Prozor gebracht. Währenddessen erobert eine kroatische Einheit das Postgebäude. Sie findet dort Geheimaufzeichnungen der Telefongespräche, die von der Staatssicherheit aufgenommen wurden. Keške, ein Soldat, der schon vorher als Bösewicht aufgefallen ist, nutzt diese Situation aus, um Jakov irrezuführen und schreibt auf ein Blatt Papier, dass seine Frau ihn mit Mirsad betrogen habe. Jakov ›findet‹ das Papier und rastet aus. In einem Wutanfall fährt er nach Prozor zum Gefängnis und erschießt Mirsad auf der Stelle. Danach ergibt er sich den Wächtern. Das ist die Fabula. In der Entfaltung des Sujets verfährt Mlakić auf andere Art. Er kehrt die Chronologie teilweise um und erzeugt eine Brechung in der Kontinuität der Handlung. Gleichzeitig sind in die Textstruktur etliche selbstreferentielle Aussagen eingeflochten, die den zeitlichen Ablauf zusätzlich in Frage stellen. Die Einleitung für »Achtes Bild (Papiere)« enthält solch eine Aussage: »Ova slika je potpuna rekonstrukcija, ali potrudit ću se opisati je kao da sam bio tu. Saznao sam kasnije dovoljno detalja za takvo što: nešto mi je ispričao Mato, a nešto Kifl a. Doduše, možda neke stvari neće odgovarati istini, ali u svakom slučaju neće mnogo utjecati na cjelinu slike.« (Mlakić 2001: 57) »Dieses Bild ist eine vollständige Rekonstruktion, aber ich werde mich bemühen, es so zu beschreiben, als wäre ich dort gewesen. Ich habe hierfür später genügend Details erfahren: Einiges hat Mato mir erzählt, einiges Kifl a. Viel-

on gewinnt. Er verwirft die binäre Opposition wir/sie und ersetzt sie durch eine neue/alte Geschichte über die hybride kollektive Identität. 5. Entsprechend der fragmentarischen Zusammensetzung des ganzen Romans, wird auch diese Geschichte nicht geradlinig erzählt, sondern durch viele Analepsen und Prolepsen, die dazu dienen, die Kontinuität zu brechen und die ganze diskontinuierliche Natur des Geschehens zusätzlich zu unterstreichen.

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leicht werden einige Dinge nicht der Wahrheit entsprechen, aber auf keinen Fall wird dies das Bild in seiner Gesamtheit stark beeinflussen.« (Mlakić 2006: 57f.)

Danach wird nur kurz berichtet, dass Mirsad verhaftet ist (ebd.: 57), als eine Vorbereitung für die wichtigste Szene des bösartigen Scherzes, dessen Opfer Jakov wird. Die narrative Komplexität wird durch ein Wechselspiel zwischen Ellipse und Analepse erzeugt: Die Ellipse zeigt uns, dass Jakov in seinem Auto von der Frontlinie in eine Richtung fährt, die wir als Leser nicht kennen, aber erahnen können. Die Analepse erzählt von den zwei Fußballspielen zwischen Jakov und Mirsad, die vor vielen Jahren stattgefunden haben. Dieses Bild (Nummer 12 – Der Baumstumpf) hat eine doppelte Funktion: Auf der einen Seite bringt es eine Retardation in die angespannte Struktur des Erzähltextes, auf der anderen konstruiert es eine Situation in welcher sich ein und dieselbe Geschichte der potentiellen Auseinandersetzung in unterschiedlichen Facetten zeigt. Es spielen Vlachen gegen Türken, (2006: 74) eine typische herabwürdigende Bezeichnung für Christen und Muslime, bei der aber ein alltäglich-ironischer Unterton mitschwingt. Zwei Kinder geraten während des Spiels in Streit: »Mirsad je ponovo uzeo loptu; siguran sam da ju je želio nasumce ispucati kao i onda. Ja sam potrčao prema njemu i gurnuo ga iz sve snage. Lopta mu je ispala iz ruku i ja sam je uzeo, ali se Mirsad nije dizao. Pokušali smo ga dignuti ali ni tad nije dolazio svijesti. Kosa mu je bila krvava i svi smo se prepali.« (Ebd.: 71) »Mirsad nahm den Ball, und ich bin mir sicher, dass er ihn wie damals blindlings wegschießen wollte. Ich lief auf ihn zu und stieß ihn mit ganzer Kraft weg. Der Ball fiel ihm aus der Hand, und ich nahm ihn an mich. Mirsad stand nicht auf. Er war mit dem Kopf auf einen Stein gefallen und bewusstlos geworden. Wir versuchten ihn hochzuheben, aber auch da kam er nicht zu Bewusstsein. Sein Haar war voller Blut, und wir alle waren erschrocken.« (Ebd.: 74f.)

Das Ganze wird durch die Intervention von Jakovs Vater gelöst, der zuerst den Ball in Stücke schneidet und dann seinen Sohn am gleichen Abend zu Mirsads Haus führt. Es stellt sich heraus, dass die Verletzung nicht so gefährlich ist und Mirsads einladende Geste (»Als ich hineinkam, lächelte er nur und machte mir neben sich am sećija Platz.«/»Kad sam ušao, samo se nasmijao i napravio mi mjesto pored sebe na sećiji«; ebd.: 71) zeigt, dass die Sache schon vergessen ist. In der Motivierungsstruktur des Erzähltextes dient dieses Bild als Kontrapunkt zu den Ereignissen, die in der Zeit des Krieges stattfinden. Das, was der Vater mit einer Versöhnungsgeste zustande gebracht hat, ist in der 210

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verkehrten, traumatisierten Welt der Krieger nicht machbar. Eine Garantie des Alltags mit all seinen Ritualen, in dem man sein Gegenüber ironisch als einen »Türken« bezeichnen konnte, ohne ihn zu beleidigen, ist für immer verloren gegangen. Stattdessen ist eine neue Welt auf den Plan getreten, deren Hauptmerkmal grenzenlose Zerstörungswut ist. Erst in dieser Welt wird es möglich, dass Jakov seinen Kindheitsfreund aufgrund der Lüge eines unmoralischen Kriegskameraden fast teilnahmslos und kaltblütig umbringt. In dieser neuen Welt geht es nicht nur um die Vernichtung des Gegners, sondern vielmehr darum, die Werte der Vorkriegsgesellschaft zunichte zu machen. Natürlich verursacht dies bei den beteiligten Protagonisten psychische Schaden, besonders bei denjenigen, die diese Werte immer noch für nicht überholt halten. Gerade bei diesen bildet sich jener Zwischenraum, von welchem zuvor die Rede war. In ihm sind hier nun alle zentralen Aspekte des Narrativs engstens miteinander verwoben. Das Neue und das Alte, deren Zusammenprall die ganze Energie des Erzählens bündelt, motivieren die kontrapunktische Struktur des Textes. Das Trauma des Kriegers ist durch diese negative Energie verursacht. Aber Mlakićs Erzähler will keine nostalgische Position einnehmen, die das Alte als einen Idealzustand der verloren gegangenen Eintracht wahrnimmt. Sein Trauma, und die vergeblichen Versuche seiner Beseitigung in der Klinik, sind für ihn ein Zeichen dafür, dass die alten Verhaltensmuster ausgedient haben und an ihre Stelle keine neuen getreten sind. Das Neue ist dementsprechend sinnentleert, aus ihm können keine positiven Werte geschöpft werden, ihm bleiben nur die Traumata der geschundenen Körper. Jakovs Kommentar nach Mirsads Ermordung zeugt am deutlichsten von diesem Zustand der Sinnlosigkeit: »Ne znam to bolje opisati, pokušat ću to pojasniti ovako: u vašoj blizini pogine čovjek kome ne znate pošteno ni ime. Vi u prvo vrijeme ne osjećate ništa, osim straha da se to moglo desiti vama i nekog osjećaja praznine; bili smo oguglali poput kamena. I onda, ugledate recimo na tom čovjeku džemper koji mu je oplela žena, mater ili sestra i nešto se promijeni u vama. Pomislite na sve te, kojima taj čovjek nešto znači, a koji u ovom trenutku razmišljaju o njemu kao o živom čovjeku. Prvo osjetite da vam pomalo nedostaje zraka, pa vam se polako počinje stezati grlo, pa nakon toga osjetite neku gorčinu; jednostavno, smrt dobija svoju uobičajenu dimenziju. […] Naprosto, kao da iziđete iz stanja nekakve obamrlosti i sve vidite drugim očima: onim očima kad ste bili normalan čovjek, koji, ako je i znao razliku između automatske i poluautomatske puške nije razmišljao o sličnim glupostima.« (Ebd.: 84) »Ich kann das nicht besser beschreiben und werde versuchen, es so zu erklären: In eurer Nähe stirbt ein Mensch, von dem ihr nicht einmal den Namen kennt.

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Zuerst empfindet ihr nichts außer der Angst, dass euch das auch passieren könnte, und irgendein Gefühl der Leere. Wir waren abgestumpft wie ein Stein. Und dann seht ihr, sagen wir, an diesem Menschen den Pullover, den ihm seine Frau, Mutter oder Schwester gestrickt hat und etwas in euch verändert sich. Ihr denk mit einem Mal an all diejenigen, denen dieser Mensch etwas bedeutet hat, und die in diesem Augenblick an ihn als lebenden Menschen denken. Ihr spürt, wie euch die Luft wegbleibt. Dann schnürt es euch langsam die Kehle zu, und schließlich empfindet ihr Bitterkeit: Der Tot erlangt einfach die gewohnte Dimension […] Es ist einfach, als erwacht ihr aus einer Betäubung und seht alles mit anderen Augen: Ihr seht es mit euren Augen, als ihr noch ein normaler Mensch wart, ein Mensch, der an den Unterschied zwischen einem automatischen und einem halbautomatischen Gewehr keinen Gedanken verschwendete, selbst wenn er ihn kannte, dann wozu sollte er sich über solche Dummheiten den Kopf zerbrechen.« (Ebd.: 86)

Mlakićs Roman hat im Original einen Titel, dessen Bedeutung in der deutschen Übersetzung (Wenn sich die Nebel lichten) verloren geht. »Kad magle stanu« ist ein ungewöhnlicher Ausdruck, der auch in der kroatischen Standardsprache nicht idiomatisch ist, man würde in dem Fall eher sagen: »die Nebel werden gehoben«. Dies würde aber suggerieren, dass das »Heben« von Nebeln eine endgültige und endgültig Klarheit bringende Handlung ist. Im kroatischen Originaltitel aber »hören die Nebel auf« (stati bezeichnet hier wortwörtlich die Unterbrechung einer Handlung), was eine rückgängige oder fortsetzende Handlung nicht ausschließt. Der Titel könnte so als eine Metapher für das sich wiederholende Trauma gedeutet werden. Diese Interpretation wird auch durch die Konstruktion des Erzähltextes gestützt. Der angekündigte Boykott der Schreibtherapie wird durch ihre schleichende Akzeptanz relativiert. Während sich Jakov scheinbar weigert, mit dem Arzt zu kooperieren, schreibt er trotzdem seine Kriegserinnerungen nieder. In diesen wird der Fokus auf die Körperlichkeit verlagert und die körperliche Wunde übernimmt eine dominierende Funktion. Das Trauma, obwohl als eine seelische Verletzung verstanden, wird hier auf die körperliche Verletzung bezogen: betreffe es nun den eigenen oder den fremden Körper. Manchmal führt das zur partiellen Suspendierung der Groteske und zur Herstellung des Sentimentalen, was jedoch keine Überwindung des Traumas bedeutet: »Umro je već sutradan, nadam s lako; bili smo pošteđeni onog stravičnog molećivog pogleda umirućih. (Gledao sam to samo jedanput, ali je i to bilo dovoljno za sto života. Momka je granata bila totalno prokinula, ali je do smrti – došla je brzo – imao bista i jasan pogled. Sve do smrti je neprestano gledao u nas i dugo nakon toga imao samosjećaj kao da nas je molio da ga spasimo. Taj pogled

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me dugo proganjao, najviše me je podsjećao na onaj molećivi pogled bolesna djeteta upućen svemoćnim roditeljima.)« (Ebd.: 36) »Er starb schon am nächsten Tag, ich hoffe, leicht; wir wurden verschont von dem entsetzlichen, flehenden Blick der Sterbenden (ich habe das nur einmal gesehen, aber das war genug für hundert Leben. Eine Granate hatte den Jungen total zerfetzt, aber bis zum Tod – er kam sehr schnell – hatte er einen klaren und hellen Blick. Bis zum Tode schaute er uns ständig an, und lange danach hatte ich das Gefühl, als ob er uns gebeten hätte, ihn zu retten. Dieser Blick verfolgte mich lange, am stärksten erinnerte er mich an den flehenden Blick eines kranken Kindes, der auf die allmächtigen Eltern gerichtet ist.)« (Ebd.: 39)

Es ist dann mehr oder weniger unwichtig, ob Jakov Serdar seine aufgezeichneten Erinnerungen zerstört (wie er das dem Arzt gegenüber behauptet) oder sie an Kriegskameraden, die sie bewahren wollen, weiterleitet – so oder so bleiben sie nur der Literatur verpflichtet, die kaum als Therapie geeignet ist. Faruk Šehić6 hat mit seinem Buch »Pod pritiskom« (Unter Druck) ein wichtiges Kapitel der Trauma-Literatur geschrieben, und dieses Genre stark geprägt. Ähnlich wie Mlakić ist Šehić ein Soldat gewesen und stellte in seinem Text zum Teil seine eigenen Erfahrungen dar. Zudem wurde auch er im Krieg schwer verwundet, was als biographische Tatsache bei der Interpretation berücksichtigt werden muss. Sein Buch besteht aus drei Teilen, in welchen die Kriegserfahrungen auf unterschiedliche Weise thematisiert werden. Im ersten Teil, »Hijerarhija stvari« (Hierarchie der Dinge) dominiert eine innere Perspektive, die zusätzlich durch einen IchErzähler unterstrichen ist. In diesem Teil wird äußerst explizit über die Kriegsereignisse berichtet. Hier nähert sich Šehić am deutlichsten jenem Diskurs, den ich in der Einführung als ein réécriture der Poetik der Moderne bezeichnet habe. Deshalb werde ich mich damit später ausführlicher beschäftigen. Der zweite Teil, »Potraga za toplinom« (Die Suche nach der Wärme), verlässt diesen Modus und literarisiert die Ereignisse. Intertextualität ist

6. Faruk Šehić wurde 1970 in Bihać geboren. Er hat Veterinärmedizin in Zagreb studiert. Heute arbeite er als Journalist in Sarajevo. Er hat die Gedichtsammlungen »Pjesme u nastajanju« (Entstehende Gedichte, 2000), »Hit depo« (Hit Depot, 2003) und »Transsarajevo«, 2006 veröffentlicht. »Pod pritiskom« (Unter Druck, 2004) ist seine erste Erzählsammlung. 2007 wurde »Apokalipsa iz Recycle bina« (Die Apokalypse aus dem Recycle bin), eine Sammlung lyrischer Notizen, veröffentlicht.

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ein Verfahren dieser Strategie. Apollinaire wird zitiert 7, es sind aber auch metatextuelle Kommentare eingefügt, die oft an Zynismus grenzen: »Priča nije zadovoljila na literarnom konkursu za najbolji esej ili crticu sa zadanom temom ›Kako vidim svog neprijatelja‹ […] jer je žiri ocijenio da joj nedostaje moralno-rodoljubivih motiva, i da sve pliva u nekim nerazumljivim sferama […] te da autor ne posjeduje izraženu nacionalnu i religijsku svijest o pripadnosti muslimanskom narodu…« (Šehić 2004: 61).8 »Die Geschichte wurde beim literarischen Wettbewerb der Heimatvereinigung »bosnisches Bollwerk« in Cazin, bei dem der beste Aufsatz zum Thema »Wie ich meinen Feind sehe« ermittelt werden sollte, nicht berücksichtigt, weil die Jury der Meinung war, dass ihr moralisch patriotische Motive fehlten, und dass alles in irgendwelchen unverständlichen Sphären schwämme; außerdem besäße der Autor kein ausgeprägtes nationales oder religiöses Bewusstsein der Zugehörigkeit zu dem muslimischem Volk in den schweren Zeiten, die für es angebrochen seien.«

Der Zynismus bezieht sich hier auf die Versuche der Übertragung von typischen Merkmalen der patriotischen Prosa über den Zweiten Weltkrieg auf die nicht erzählbaren Ereignisse des Bürgerkriegs. Im nächsten Satz wechselt die vom Erzähler ironisch wiedergegebene Meinung der Juroren von inhaltlicher Kritik zu einem (quasi unausgesprochenen) metapoetischen Kommentar: »Über die ästhetischen Errungenschaften des Textes selbst, dem man die fehlende Fabula vorwerfen könnte, bzw. die Abwesenheit der Ereignishaftigkeit (was selbstverständlich auch sein Vorteil sein kann), hat sich die Jury nicht geäußert« (ebd.: 61).9 Die Stimme des impliziten Autors, der hier in den Erzähltext eingreift hebt sich deutlich vom Ich-Erzähler ab und übernimmt eine quasi kritische Position, die ex negativo jedoch das ästhetische Credo des Textes formuliert. Die vermeintlichen Mängel des intradiegetisch diskutierten Textes: die nichtexistente Fabula oder sein fragmentarischer Charakter sind Hauptmerkmale einer

7. Apollinaires Gedichte, versammelt in »Calligrame – poème de la paix et de la guerre«, gehören zu den wichtigsten Texten der Modernisten über die Gräuel des Krieges und sind deshalb auch für die Ästhetik von Miroslav Krleža von großer Bedeutung. 8. Die Zitate aus Šehić wurden aus dem Bosnischen übersetzt von Mara Rusch. 9. »O estetskim dometima samog teksta, kojem bi se mogao prigovoriti nedostatak fabule, odnosno odsustvo događajnosti (što, naravno, može biti i njegova prednost) žiri se nije izjašnjavao«

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Trauma-Erzählung und die einzigen Mittel der Darstellung des traumatisierten und fragmentierten Bewusstseins der Protagonisten. Der dritte Teil, »Dark and Dark«, hat wiederum eine im Vergleich zum ersten und zum zweiten Teil andere Erzählstruktur. Die zeitliche Dimension spielt hier eine wesentlich größere Rolle als in den beiden anderen. Es werden temporale Markierungen eingefügt, die zu einer genauen, oder zumindest ungefähren, Rekonstruierung des Zeitpunkts des Geschehens dienen. Das Ziel dieser Umgestaltung ist eine Anknüpfung an die Vergangenheit einerseits und eine Projektion auf die ungewisse und trübe Zukunft andererseits. In diesem letzten Teil kann man also auch Elemente der zu Beginn des Artikels kurz erwähnten Kultur der Transition finden. Sie beziehen sich hauptsächlich auf demobilisierte Soldaten, die nicht fähig sind, sich in die zivile Nachkriegsgesellschaft wieder einzugliedern. Sie stehen als Verlierer da und ihr Trauma ist mit einem mehrdeutigen Verlust verbunden: Sowohl mit dem Verlust des vorherigen Lebens im Frieden, als auch mit dem Verlust der im Krieg geschlossenen Kameradschaften.10 Ein Beispiel der Darstellung dieser Ausweglosigkeit findet sich im letzten Absatz der Erzählung »Kvart u konzervi« (Stadtviertel in der Dose): »Ljudi nezainteresirano tonu u hrpe vlastitog tijela. Jutrom iskašljavaju poluprovarene čikove Drine, povećavaju kravlju masnoću, umire se od infarkta, raka pluća, debelog crijeva, želuca. Umire se od smrti, to je objašnjenje. Valja mrijeti od nečega. U zagrobnom životu čeka pravo izobilje, orgije, potoci, alkohol i cigarillosi. ›onostrani emulgatori‹. Do grada se ide zbog porođaja i sahrana. Vrijeme je ovdje balzamovano kao lice Ramzesa Drugog. Svevišnji je kovertirao zadnji potez. On je već poznat. Laku noć, ljudi iz konzerve.« (Ebd.:135) »Die Menschen sinken interesselos in Haufen ihres eigenen Körpers zusammen. Morgens husten sie halbverdaute Stummel der Drina aus, kotzen Rinderfett, man stirbt an Infarkt, Lungenkrebs, Dickdarmkrebs, Magenkrebs. Man stirbt am Tod, das ist die Erklärung. An etwas muss man sterben. Im Leben nach dem Tod erwartet einen Überfluss, Orgien, Bäche, Alkohol und Zigarillos. »Emulgatoren aus dem Jenseits« zur Stadt geht man wegen der Geburt und der Beerdigung. Die Zeit ist hier einbalsamiert wie das Gesicht des Ramses II, der Allmächtige hat seinen letzten Zug kuvertiert. Er ist schon bekannt. Gute Nacht, Menschen aus der Dose!«

Ich möchte mich hier jetzt auf drei paradigmatische Geschichten aus dem ersten, für meine Untersuchung wichtigsten, Teil konzentrieren, die die 10. Dazu siehe auch: Nachwort von Enver Kazaz, »Riječ urednika« (Das Wort des Redakteurs). (Šehić 2004: 162)

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Frontlinie – »Pod pritiskom« (Unter Druck), »Užas je naša furka« (Das Schrecken ist unser Antrieb) – und die psychiatrische Klinik – »Na neuropsihijatriji« (Auf der Neuropsychiatrie) – als Austragungsort thematisieren. »Pod pritiskom« berichtet über eines der schrecklichsten Ereignisses des Krieges – über den Kampf zwischen den sog. »autonomaši« und den regulären Einheiten der Armee von Bosnien und Herzegowina, wobei sowohl die einen als auch die anderen zu den Bosniaken gehörten. Es handelt sich hier also um einen Bruderkrieg im wahrsten Sinne des Wortes, was wahrscheinlich auch der Grund dafür war, dass die Erzählungen über diesen Krieg an Grausamkeit kaum zu überbieten sind. Die Geschichte ist gekennzeichnet durch eine außergewöhnliche Poetik und erweist sich als eine komprimierte Version der Sammlung. Genau wie die Sammlung als ganze ist sie auch in drei Teile gegliedert. Diese hängen wenig miteinander zusammen, schildern aber auf jeweils unterschiedliche Weise den Alltag an der Frontlinie. Teil eins könnte man als eine dramatische Vorbereitung auf bevorstehende kriegerische Handlungen bezeichnen. Ein erfahrener Frontsoldat triff t zuerst ein und berichtet über die Ereignisse des Tages. Der Ich-Erzähler kann seine Ironie kaum verbergen: »Najljepše su ove linije, na koje prvi put dolaziš. Sve je novo, neobično i čupavo do jaja. Pogotovo kada preuzimaš liniju noću, a sutra, kada se razdani, shvatiš da se nalaziš na vrhu eksera.« (Šehić 2004: 18) »Die schönsten sind die Linien, auf welche du das erste Mal kommst. Alles ist neu, ungewöhnlich und behaart bis zu den Eiern. Besonders wenn du die Linie in der Nacht übernimmst, und morgen, wenn es heller wird, verstehst du, dass du dich auf der Nagelspitze befindest.«11

Die Ironie des Erzählers soll hier nicht nur die dramatische Lage an der Front unterstreichen, sondern auch einen krassen Widerspruch zwischen einem Zustand »vorher« und einem Zustand »nachher« zum Vorschein bringen. In diesem zweiten ironischen Modus werden die Dinge, Bücher, Zitate aus dem Leben vor dem Krieg in einem neuen Kontext ad absurdum geführt. Der Ort der Handlung, die Front, verfremdet alles Alltägliche, was besonders deutlich am Beispiel der psychologischen Tests aus den populären Zeitungen gezeigt wird. Gefragt nach einem unerfüllten Wunsch, ant11. Es ist wichtig, die gleiche Erfahrung im Film Niemands Land von Danis Tanović zu detektieren. Ausgangssituation des Films ist die Lage einer Spähereinheit, die im Nebel verloren geht, hinter die feindlichen Linien gerät und niedergemetzelt wird.

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wortet einer der Helden: »Unerfüllter Wunsch: Das ein Splitter auf mein Gesicht eine Narbe macht, so dass ich gefährlich aussehe, wenn ich in die Kneipe eintrete.« (»Neostvarena želja: Da mi geler napravi ožiljak na licu, da budem zajeban, kad uđem u kafanu.«; ebd.: 20). Teil zwei und Teil drei ähneln einander deutlich; dennoch sind feine Unterschiede festzustellen. Der zweite, kürzeste Teil, schildert eine Episode, welche die Absurdität des Krieges zur Schau stellt. Die Soldaten wetten darum, ob einer von ihnen das Feld, welches dem feindlichen Beschuss ausgesetzt ist, überqueren kann. Die Wette zeugt von Gefühllosigkeit und Abstumpfung, die durch die Grausamkeiten des Alltags entstanden sind. Der Verlierer versucht den Wetteinsatz (5 DM) nicht bar, sondern in Zigaretten auszuzahlen. Selbst das Objekt der Wette, Čelični – der Stählerne, erscheint, nachdem er seinen Gang über das Feld erfolgreich gemeistert hat, als jemand, der die Gefahr eher instinktiv als rational begriffen hat: »Čelični leđima oslonjen o hladni zid kuće vadi slomljene cigare iz džepa. Drhtavim prstima pripaljuje pola cigare. Popravlja frizuru. Skida prašinu i zemlju s uniforme. Krv mu se vraća u lice. Noć pada kao kec na desetku u kartama.« (Ebd.: 21) »Der Stählerne, angelehnt an die kalte Wand des Hauses, zieht auseinander gebrochene Zigaretten aus der Tasche. Mit zitternden Händen zündet er die Hälfte der Zigarette an. Er streicht seine Haare zurück. Putzt Staub und Erde von seiner Uniform. Blut kehrt in sein Gesicht zurück. Die Nacht fällt wie ein Ass auf einen Zehner.«

Das Haare-Zurückstreichen und das Putzen der Uniform sind als Gesten der Selbstverteidigung zu deuten. Der »Stählerne«12 ist entzweit zwischen Reflexen, die seine Angst bloßstellen (zitternde Hände) und Willensaktionen, die zeigen, wie unerschrocken er seinen Lauf zu Ende gebracht hat. Was bleibt, ist eine vom Sinn entleerte Situation. Die Wette endet in dem bedeutungslosen Kommentar »apsolutno romantićno«, bei dem die Kursivsetzung, die Rechtschreibfehler (ć anstatt č) und die Wiederholung davon zeugen, dass die sich Unterhaltenden und wettenden Soldaten selber nicht mehr weiter wissen. 12. In seinem Spitznamen ist, neben der Erleuchtung des Erzählers (»Nazvan tako zbog kožne narukvice sa niklovanim bodljama.« – »So genannt wegen einem Lederarmband mit vernickelten Stacheln.«) (Šehić 2004: 20), auch der Name Stalins unübersehbar. Welche Funktion er in der militärischen Hierarchie tatsächlich hat, bleibt in der fragmentarischen Struktur des Erzähltextes unklar.

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Ich möchte jetzt noch auf ein Beispiel aus dem dritten Teil zu sprechen kommen und dabei mit einem Zitat beginnen: »Zgemba noktom skida ljudski mozak s maslenice. Kida komade desnom rukom, umače u so i stavlja u usta. Prstima druge ruke, iz bijele najlonske kese (poprskane smjesom mozga i krvi) mezi mladi kravlji sir. Faca mu je garava od barutnih gasova. U krilu drži puškomitraljez kal. 7,62 mm. Prije pet minuta u ovom rovu sjedili su autonomaši. Preko grudobrana, presavijen je još uvijek vruć leš. Rafal mu je prepolio lobanju. Okrećem ga na leđa. Iz unutrašnjeg džepa njegove smb-vjetrovke vadim novčanik. Gledam u njegovu fotografiju. Imao je visoko čelo i izražene zaliske. Krupne i melanholične oči. Oštrom ivicom njegove fotografije vadim komade jabuke između zuba.« (Šehić 2004: 21) »Zgemba kratzt mit dem Fingernagel das menschliche Gehirn vom Blätterteig. Mit der rechten Hand reißt er die Stücke ab, tunkt sie in Salz und steckt sie in den Mund. Mit dem Finger der zweiten Hand isst er, aus einem weißen Plastikbeutel (bespritzt mit einer Mischung aus Gehirn und Blut) Quarkkäse. Sein Gesicht ist rußgeschwärzt von Pulvergasen. In seinem Schoß hält er ein automatisches Gewehr, Kaliber 7,62 mm. Fünf Minuten vorher saßen in der Schanze die Autonomen. Über der Wehranlage liegt, gebeugt, eine immer noch warme Leiche. Eine Gewehrsalve hat seinen Schädel entzweit. Ich drehe ihn auf den Rücken. Aus der inneren Tasche seiner olivgrünen Jacke ziehe ich den Geldbeutel raus. Ich schaue mir sein Foto an. Er hatte eine hohe Stirn und schütteres Haar. Große und melancholische Augen. Mit dem scharfen Rand seines Fotos nehme ich die Apfelstückchen, die zwischen den Zähnen stecken, raus.«

Das Grauen wird hier durch eine Vermischung von Kulinarischem und Makaberem erzeugt. In die Schanzen vorgedrungene Soldaten (der IchErzähler und Zgemba) bedienen sich an den Resten, die sie dort gefunden haben. Um das Essen genießbar zu machen, muss man es von der Verschmutzung befreien und die Verschmutzung ist in diesem Fall menschliches Gehirn. Der gefallene feindliche Soldat ist nicht mehr zu erkennen, weil sein Schädel zertrümmert ist, aber der Ich-Erzähler kann sein Aussehen durch das im Portemonnaie gefundene Foto rekonstruieren. Besonders auff ällig sind die melancholischen Augen. Das Foto wird schließlich – ein Zeichen der Entmenschlichung – als Zahnstocherersatz benutzt. »Užas je naša furka« (eine Anspielung auf das Lied der gesellschaftskritischen Rockband »Azra« aus den 80er Jahren) besteht wieder aus drei losen Fragmenten, die unterschiedliche Kriegserfahrungen zusammenzufassen versuchen. Sie sind nur durch die Figur des Erzählers verbunden, welcher die drei Situationen in Zusammenhang bringt: Die Wiederausgrabung der Leiche des Feindes und ihr Tausch gegen Nahrungsmittel, 218

Das Trauma des Kr iegers

Alkohol- und Drogenkonsum während des kurzen Urlaubs sowie die Verwundung des Erzählers und seine dadurch ausgelösten suizidalen Gedanken. Alle drei Skizzen bewegen sich an der Grenze zum Grotesken, aber überschreiten diese letztendlich nicht. Der Grund dafür ist wieder in einem Überschuss an Gräuel zu suchen, das kein Sicherheitsventil im Komischen, in der verkehrten Welt zu fi nden vermag. Es bleibt bei einer kargen Darstellung des Alltags der Krieger, komplementiert mit dem Blick auf zerfallene und verstümmelte Körper des Gegners und einem Ausblick auf den eigenen, der sich bald im gleichen Zustand befinden wird. Zuletzt soll noch auf die den Band abschließende Geschichte »Na neuropsihijatriji« eingegangen werden. Hier findet man wieder Elemente der Groteske: »Die Wunde war riesig. Das Fleisch klaff te auseinander. Es sah wie ein zertrümmertes Kalbsschnitzel aus.« (Rana je bila ogromna. Iz nje je zjapila kost. Meso je bilo razježeno. Izgledalo je kao zdrobljena teleća šnicla.), aber es bleibt bei einem unrealisierten Potential. Wie bei Mlakić, geht es auch Šehić darum zu zeigen, dass die Therapie abgelehnt wird. Das manifestiert die knappe Sprache seines Textes, kurze Sätze, die sich weigern, Informationen, Eindrücke oder Beschreibungen weiterzuleiten, und in gewissem Sinne in der geschlossenen Welt des Kriegers bleiben. Erst langsam fängt der Protagonist an, sich aus der Gefangenschaft im eigenen Bewusstsein zu befreien und zu berichten. Aber auch der lange Monolog, der den initiierenden Dialog ablöst, bringt keine Beruhigung. Er ist nur eine Nacherzählung des Traumas. Der Misserfolg gipfelt in einem symbolischen Epilog, in welchem sich der Erzähler mit einem Kameraden unterhält, dessen Sprachfähigkeiten durch eine Wunde im Halsbereich verloren gegangen sind. Deshalb unterhalten sie sich ›schriftlich‹ und die Gestik unterstreicht, was auf dem Papier geschrieben wurde: »Wenn er sich aufregte, kamen aus seiner Kehle unterirdische Phoneme, die Stimmen gebaren aus den Zeiten, in welchen die Wörter eine ursprüngliche Natur der Dinge widerspiegelten.« (»Kad bi se uzbudio iz grla su mu izlazili podzemni fonemi, rađajući glasove iz vremena kada su riječi odražavale iskonsku prirodu stvari.«) Der Duktus dieser Szene ist ähnlich zu dem, was Cathy Caruth am Schluss ihres Essays über »Hiroshima, mon amour« behauptet: »It is the event of this incomprehension and in our departure from sense and understanding that our own witnessing may indeed begin to take place.« (Caruth 1996: 56) Hier ist auch die wichtigste Unterscheidung der Trauma-Texte von Krležas Art zu suchen. Minimalismus und Verknappung dominieren auf der einen Seite, hohe rhetorische Verdichtung auf der anderen. Während Krleža mit großem Aufwand eine rhetorisch determinierte Welt der grotesken Körper bildet, versuchen Šehić und Mlakić eine Konstruktion zu Stande zu bringen, die durch ihre Wortarmut überzeugt. Die Welt des 219

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Kriegers ist, wenn man ihrer Poetik folgt, mit solchen Mittel am besten zu rekonstruieren. Meine Thesen lassen sich jetzt wie folgt zusammenfassen: Die jugoslawischen Literaturen haben im Modernismus zwei Diskurse über den Krieg entwickelt. Einer davon befasst sich mit den Auswirkungen des Krieges auf diejenigen, die von den kriegerischen Handlungen nicht direkt betroffen sind, diese aber nachträglich spüren. Es ist eine topographische Literatur, die durch starke Melancholie geprägt ist. Der andere Diskurs konzentriert sich auf die Figur des Kriegers und versucht dessen Traumata literarisch zu fassen. Die Mittel, die dafür zur Verfügung stehen, sind oft grotesk oder karnevalesk. Die bosnische Literatur, die während und nach dem Krieg 199295 entstanden ist, folgt diesem Muster und spaltet sich in einen melancholischen und einen traumatischen Zweig, ohne beide klar von einander zu trennen. In ihren besten Werken folgt sie den beiden narrativen Linien des jugoslawischen Kriegsdiskurses der Moderne und entwickelt sie weiter.

Literatur Caruth, Cathy (1996): Unclaimed Experience. Trauma, Narrative, and History. Baltimore–London. Foucault, Michel (2006): »Von anderen Räumen«. In: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a.M., 317-329. Freud, Sigmund (1920/1940): »Jenseits des Lustprinzips«. In: Gesammelte Werke, Bd. XIII, Frankfurt a.M. Kazaz, Enver (2008): Neprijatelj ili susjed u kući. Interliterarna bosanskohercegovačka zajednica na prelazu milenija. Sarajevo. Mlakić, Josip (²2001): Kad magle stanu. Zagreb. Mlakić, Josip (2006): Wenn sich die Nebel lichten. Aus d. Kroat. übersetzt von Goran Krnić (et al.), Klagenfurt. Nicolosi, Riccardo (2007): »Fragmente des Krieges. Die Belagerung Sarajevos in der neueren bosnischen Literatur«. In: Davor Beganović/Peter Braun (Hg.), Krieg Sichten. Zur medialen Darstellung der Kriege in Jugoslawien, München, 129-150. Norris, Margot (2000): Writing War in the Twentieth Century. Charlottesville–London. Šehić, Faruk (2004): Pod pritiskom. Zagreb–Sarajevo. Šehić, Faruk (2007): Hit depo, Pod pritiskom, Transsarajevo, Apokalipsa iz Recycle bina. Zagreb. Vlaisavljević, Ugo (2007): Rat kao najveć i kulturni događaj. Ka semiotici etnonacionalizma. Sarajevo. 220

Kontingente Feindschaft? Die Jugoslawienkr iege bei David Albahar i und Miljenko Jergović Miranda JakiŠa/Sylvia Sasse (Berlin)

1. Balkanische Sitten Im geflügelten Wort der ›balkanischen Sitten‹, das so vielfach während der Kriege in Jugoslawien in den 1990er Jahren Verwendung fand, ist eine vermeintlich affektiv geladene Grunddisposition des homo balkanicus eingefangen, die sich auf eine kulturell angelegte Neigung zur Herstellung von Feindschaften bezieht. Die lebhafte Balkanismus-Debatte des letzten Jahrzehnts hat diese Frage unterschiedlich behandelt, je nachdem, ob davon ausgegangen wurde, der Balkan sei qua historischer Entwicklung zu wenig institutionalisiert, oder ob man diskursiv unterdrückende, europäische Mächte am Wirken sah. Im ersten Fall erscheint eine feindselige Grundhaltung und die gewaltsame Konfliktregelung als Rudiment von familiären Sippen- und Freundschaftsstrukturen (Kaser 2001: 27), die auf dem sogenannten ›Balkan‹ überlebt haben, oder schlicht als Erbe ehemals osmanischer Präsenz (Hemmo 2001: 124); im zweiten wird die Zuschreibung von Gewaltaffinität als unlautere Deutung historischer Fremdherrschaften und imperialer Balkanisierung aufgefasst, die ›westliche‹ Machtpolitik (und ihr gewaltsames Vorgehen auf dem Balkan) als Charakterfehler der von ihr Unterworfenen kaschiert (Todorova 1994: 460). An der Literatur, die sich stets ausführlich mit den feindlichen, teilweise kriegerischen Aktionen der eigenen Kultur auseinandersetzt hat, sind beide polaren Erklärungen nicht spurlos vorbei gegangen. Die literarische Beschäftigung mit den innerkulturellen Feindschaften kann sowohl als Reaktion auf die Zuschreibung atavistischer Verhaltensweisen in vermeintlichen ›Feindkultu221

Miranda Jakiša/Sylv ia Sasse

ren‹ wie auch als ihr Ausdruck gelesen werden. Entsprechend findet sich eine Neigung zur Hostilität als Selbstetikettierung wie als zurückgewiesenes Stereotyp in literarischen Texten des 20. und 21. Jahrhunderts. Auch taucht in literarischen Texten von Ivo Andrić bis Dimitré Dinev die Frage auf, ob nicht die wechselvolle Geschichte und der Synkretismus des Kulturraums – ebenfalls eine gängige Annahme in wissenschaftlichen Arbeiten zum Balkan (Beč 2004/Malcolm 1994) – Prozesse des Aushandelns, des Streits und der Versöhnung vorgeben. Vor dem Hintergrund solcher angenommener Korrelationen von Geographie und Affekt wollen wir im Folgenden der Frage nachgehen, wie Narrative der Feindschaft literarisch aufgegriffen und kommentiert werden. Dabei konzentrieren wir uns auf das Phänomen der kontingenten und beliebigen Feindschaft und den Befund, dass literarische Texte zu den Sezessionskriegen in Jugoslawien auff ällig häufig die Beliebigkeit von Feindschaft und die Kontigenz der Kriegsereignisse thematisieren. Auf welche Weise und warum werden die Kriege der 90er Jahre in der Retrospektive so häufig als beliebige Feindschaften dargestellt?

2. Das unbeantwor tete ›Warum‹ oder ›Warum‹ als Antwor t David Albahari, der als serbischer Jude in den 90er Jahren seine Heimat verließ und seither in Kanada lebt, betitelt seine 2007 im Sammelband »Der andere nebenan« (Drugi pored mene) erschienene Erzählung mit eben einem solchen »Warum?« (Zašto?). »Warum?« ist nicht nur der Titel der Erzählung, sondern steht auch an ihrem Ende. Nachdem der Ich-Erzähler eine ihm zuvor unbekannte junge Frau brutal gefoltert hat, fragt diese: »Warum tust du mir das an?« (Zašto mi to radiš?). Der Ich-Erzähler entgegnet: »Ich weiß es nicht« (Ne znam) und setzt nach: »Ich wußte es wirklich nicht« (Jer doista nisam znao) (Albahari 2007: 21). Während das »Warum?« der Frau ohne Antwort bleibt, lässt sich das »Warum?« der Erzählung zweifelsohne als Antwort auf eine andere Frage lesen, und zwar auf die Frage, die der Herausgeber des Sammelbandes, der schwedische Journalist Richard Swartz, allen Autoren zuvor gestellt hatte: »Why this strife and struggle, why conflict, why the neighbour as an adversary and not as a partner? What is the relation to the ›other‹?« (Veličković 2007: 271). Albahari gibt die typische Balkanismen beinhaltende und Balkanismen provozierende Frage an den Herausgeber zurück. In seiner Erzählung »Warum?« entwirft er, quasi als Gegenreaktion, eine maximal durch Kontingenz gesteuerte Geschichte, die in der Folter der jungen Frau endet. Für die Tat gibt es in der Erzählung kein Motiv, keine rationale Erklärung, Op222

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fer und Täter kennen sich nicht einmal. Diese Erzählung gibt keine Erklärung für das »Warum?« der jungen Frau, des Krieges oder der Logik von Feindschaft, sondern sie stellt die Frage danach selbst aus.1 Indem Albahari das Warum der Frau und das Warum von Swartz gegeneinanderstellt, wird aber sichtbar, worauf beide Fragen jeweils zielen. Während die junge Frau tatsächlich nach dem Grund für die an ihr begangene konkrete Gewalttat sucht, will Swartz Antworten hören, deren Metanarrativ er in seiner Frage schon vorgibt. Worauf zielt ein solches Fragen, scheint Albahari ihm zu antworten, ab? Impliziert eine solche Frage eine kulturspezifische Logik von Feindschaft? Impliziert sie gar eine kulturspezifische Determiniertheit von Feindschaft?

3. Kontingente Feindschaf t Definiert man Kontingenz als das, »was auch anders möglich ist« (Makropoulos 1998: 59), dann wird deutlich, dass Albaharis Anti-Antwort weniger auf einen Grund, einen Ursprung oder einen Determinismus zielt, der in Swartz Frage – wie in allen Balkanismen – angelegt ist, sondern auf die Möglichkeit, dass auch eine andere Entscheidung hätte getroffen werden können. Feindschaft ist, so gedacht, nicht gegeben, sondern über Feindschaft kann jeder einzelne im Grunde selbst entscheiden, auch wenn diese Entscheidung durch Metanarrative (Religion, Politik, Familie) medial und diskursiv präfiguriert wird. Kontingente Feindschaft ist, das zeigt Albaharis Erzählung, zugleich auch die grausamste Form von Feindschaft, gerade weil sie keine Erklärungen liefert. Die Grausamkeit der Grundlosigkeit steht damit der Möglichkeit, die in dieser Grundlosigkeit steckt, gegenüber, und zwar, Feindschaft nicht als historisch oder anthropologisch festgelegte Kategorie betrachten zu müssen. Das Modell kontingenter und beliebiger Feindschaft, wie sie in Albaharis »Warum?« als Antwort entworfen wird, widerspricht jedoch den gängigen Feindmodellen und -mustern. Kristin Platt schreibt in ihrem Artikel über Feindmuster, Kriegsmuster und das Profil des Fremden, dass es »keinen zufälligen Feind, keine unbegründete Feindschaft, keine Feindschaft ohne begründende Narration oder politische Tradition« (Platt 1. In seinem ebenfalls 2007 erschienenen Roman »Die Ohrfeige« (im Original »Pijavice«, dt. Blutegel) hatte Albahari die Frage nach Kontingenz von Ereignissen und Handlungen generell gestellt. In dem Roman heißt es zu Beginn: »Heute, sechs Jahre danach, weiß ich, daß auch alles sich hätte anders abspielen können« (Sada, šest godina kasnije, znam da je sve moglo drugačije da se odigra) (Albahari 2007b: 5).

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2003: 13) gibt. Was Platt in ihrem Text beabsichtigt, ist nicht zu sagen, dass Feindschaft immer schon gegeben ist, sie will vielmehr die Frage nach dem »Warum«, der die Idee eines »Sinns«, der »Natur« oder des »Wesens« von Feindschaft innewohne (Brehl/Platt 2003: 9), auf die Frage nach dem »Wie« umlenken. Denn dass es Gründe gibt, Feinde zu entwerfen, so Platt, darüber scheint in politologischen, psychologischen oder soziologischen Modellen eher Konsens zu bestehen. So ging Thomas Hobbes, folgenreich für die Staatstheorie, von der grundsätzlich feindseligen Haltung aller Menschen untereinander aus, die selbst vor dem eigenen Haushalt und den eigenen Kindern keinen Halt machte (Hobbes 1990 [1651]: 116). Hobbes begründet die ›Wolfsnatur‹ des Menschen in dessen Streben nach Gewinn, nach Sicherheit und nach Ruhm, das er durchzusetzen sucht (Hobbes 1990 [1651]: 115). Sigmund Freud führt Feindschaft auf den Aggressionstrieb des Menschen zurück, der von einem kulturellen (und damit künstlichen) Überbau in Schach gehalten werden muss (Freud 1974: 249).2 Und nicht zuletzt lehrt etwa Carl Schmitt in seiner politischen Theologie, dass das Politische in der Unterscheidung von Freund und Feind gründet (Schmitt 1996 [1932]: 26), da das Eigene erst in der Absetzung zum Andersartigen fassbar werde. Letzteres aber motiviert dessen Klassifi kation als Feind. Feindschaft ist in all diesen Konzeptionen, ob es nun um das Begründen von Identität oder das Erlangen von Macht, Herrschaft und Besitz geht, begründetes und begründbares Phänomen. Wenn auch äußerster Störfall des Sozialen, so ist feindschaftlicher Ausbruch – und sei es als Ausnahmezustand – vorherseh- und erklärbar. Allerdings erklärt das »Warum« über den Sinn und das Wesen von Feindschaft, das sich in den unterschiedlichen Theorien findet, nicht die konkrete Wahl oder Entscheidung darüber, wer in einer bestimmten Situation als Feind gewählt wird. Der Frage nach dem konkreten Feind kann kein allgemeines bzw. verallgemeinerbares Motiv zugrunde liegen, auch wenn man pauschal sagen kann, dass es sich um ›den Anderen‹ oder noch etwas ›konkreter‹ um ›den Fremden‹ handeln muss. Selbst wenn Feindschaft (wie bei Hobbes und bei Freud) als gegeben oder als natürlich betrachtet werden kann, ist der konkrete Feind niemals festgelegt, er ist immer erst zu wählen und damit kontingent. Modelle beliebiger oder kontingenter Feindschaft und Theoretisierungen kontingenter Feindeswahl sind jedoch eine Ausnahme in den Theo2. Freud schreibt dort: »Für alles Weitere stelle ich mich also auf den Standpunkt, daß die Aggressionsneigung eine ursprüngliche, selbständige Triebanlage des Menschen ist, und komme darauf zurück, daß die Kultur ihr stärkstes Hindernis in ihr findet« (Freud 1974: 249f.).

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rien des Feindes und der Feindschaft. Joseph Vogl etwa hat in »Beliebige Feindschaft« gezeigt, wie sich die Beliebigkeit des Feindes in der Wissensfigur des Amokläufers konzentriert.3 Der Amokläufer, wie er im 20. Jahrhundert beschrieben wird, ist gekennzeichnet durch ein anfallartiges »grund- und wahlloses Töten, dessen Objekte meist beliebige Opfer sind«, wobei das Töten »durch eine vollständige Amnesie« aus dem Gedächtnis der Täter gelöscht wird (Vogl 2003: 212). Der Amokläufer, so könnte man Vogl lesen, besetzt in Feindschaftsmustertheorien die Funktion des Modells von Kontingenz. Damit erfüllt der Amokläufer beispielsweise für die sich als Wissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausdifferenzierende Psychiatrie eine spezifische Funktion. Der Amokläufer wird, wie Vogl in Anlehnung an Foucault 4 schreibt, gleichzeitig zur Herausforderung wie auch zur Rechtfertigung der Wissenschaft von der Psyche, die erklären soll, wie und warum Gewalt, »die ohne Vorzeichen, ohne Motiv und ohne Vernunft geschieht« (ebd.: 214), hervorbricht. Der Amokläufer, der homo aleator, das ist Vogls Beobachtung, wird in der psychiatrischen Modellbildung zu einer Figur der Auskunft über die Unmöglichkeit kausal-logischer Erklärungen und steht für die Ablösung der »Welt der Gründe durch die Welt der Ereignisse« (ebd.: 223). Der Amokläufer steht für den Unfall, auch für den Unfall der Theorie, und damit bedeutet er eine Gefahr sowohl für die Gesellschaft als auch für die Welt kausal-logischer Erklärungen. Bezogen auf die Feindschaftsmuster ließe sich auch schlussfolgern: Der Amokläufer verkörpert ein Modell der bloßen Feindschaft ohne konkreten Feind. Auf einen ganz anderen Aspekt von Kontingenz im sozialen Zusammenspiel geht Hans Robert Jauß in seinem Aufsatz »Probleme des Verstehens« ein. Jauß widmet sich darin vor allem der Freundschaft und fragt danach, was sich ergibt, »wenn dem Verstehen«, das für die Freundschaft konstitutiv ist, »nicht mehr ein privilegierter Anderer entgegenkommt, sondern ein beliebiger Anderer begegnet« (Jauß 1998: 479).5 In diesem 3. Vogl zeigt, wie sich der Amoklauf von einem kriegerischen malaiischen

Ritual zu einem psychiatrischen Vorfall in der westlichen Kultur entwickelt, der über den Umgang mit Bedrohung und Gefahr Auskunft gibt. 4. Vogl zitiert hier Foucault: »Wenn das Verbrechen hereinbricht, plötzlich, ohne Vorzeichen, ohne Wahrscheinlichkeit, ohne Motiv und Grund, dann tritt die Psychiatrie auf den Plan und sagt: ›Während niemand sonst im voraus dieses hereinbrechende Verbrechen würde aufdecken können, so werde ich es sein – ich als Wissen, als Wissenschaft der Geisteskrankheit, ich, die ich den Wahnsinn kenne-, die jene für alle anderen dunkle und merkliche Gefahr wird aufdekken können‹« (Foucault 1999: 112). 5. Jauß schreibt ferner: »Wohl in keiner anderen Tradition begegnet der

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Übergang vom privilegierten Anderen zum beliebigen Anderen als Freund sieht er den Übergang vom antiken (amicitia) zum christlichen (agápe) Freundschaftskonzept. Aristoteles hatte in seinem Freundschaftsmodell, das die Tugend- von der Nutzenfreundschaft und von der lustbasierten Freundschaft unterscheidet, die Tugendfreundschaft als vollkommene Freundschaft vorgestellt, in der der Freund nie beliebig ist, sondern durch »Wesensgleichheit« (Eichler 2000: 34) zum Freund prädestiniert sei. Für das Christentum gelte eben dieses Modell nicht mehr. Liebe den Nächsten, nicht um des Verstehens willen, sondern um Gottes Willen – das ist Jauß‹ These in Bezug auf das Christentum. Gott ersetzt als Metanarrativ hier den konkreten Anderen6, dessen Verstehen in der antiken Freundschaftskonzeption noch konstitutiv ist. (Eine Freundschaftskonzeption, die sich unter Berücksichtigung aller Unterschiede auch auf die sozialistischen Staaten übertragen lässt, in der Gott durch die kommunistische Idee ersetzt wird). Ausgehend von Jauß‹ Thesen, müsste man fragen, welche Konsequenzen die der Beliebigkeit folgende Freundschaftskonzeption für den Feind hat? Vorerst ließen sich über Vogl und Jauß zwei Modelle der Kontingenz in der Konzeption von Feindschaft und Freundschaft unterscheiden. In Vogls Beobachtungen fungiert Kontingenz als Figur einer Gefahr und eines Unfalls, die die Kausallogik von Feindbildern durch neue alogische Narrative ersetzt, bei Jauß kommt Kontingenz als Figur einer De-Privilegierung ins Spiel. Wenn der Freund nicht der Gleiche sein muss, sondern auch der Andere sein kann, dann könnte dies unter umgekehrten Vorzeichen auch für den Feind gelten – ohne hier behaupten zu wollen, dass die Differenz zum Anderen dabei im Sinne eines: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« wieder aufgehoben wird.

4. Die Darstellung von Feindschaf t und die Funktion von Kontingenz Albaharis literarische Antwort auf die Frage nach der Logik und dem Warum der Feindschaft auf dem Balkan ist, wie bereits angedeutet, keine Ausnahme, weder in Swartz‹ Sammelband, noch insgesamt in Texten, die sich mit den jugoslawischen Kriegen und deren Folgen auseinandergesetzt haben. Kontingenz ist dort eines der bestimmenden Antinarrative, ohne dass Mitmensch als der beliebige, fremde Andere in so reiner Kontingenz wie in der des biblischen und hernach christlichen Gebots der Liebe zum Nächsten« (Jauß 1998: 480). 6. Entsprechend bezeichnet Hermann Lübbe Religion als »Kontigenzbewältigungspraxis« (Lübbe 1975: 177).

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dabei auf die A-Logik des Amoklaufs oder auf die Folge von kontingenter Freundschaft im Christentum zurückgegriffen werden kann. Wie wird Kontingenz in den Erzählungen dargestellt? Und welche Funktion erfüllt sie im Kriegsnarrativ? Wir wollen im Folgenden einigen Darstellungen kontingenter Feindschaft in der Literatur nachgehen, die sich Begründungen und der Begründbarkeit von Feindschaft und Krieg mit unterschiedlichen Konsequenzen entgegenstellt. Kontingenz wird in Erzählungen über die jugoslawischen Kriege durch unterschiedliche Verfahren dar- und hergestellt. Häufig fehlt den Texten ein Rahmen, d.h. die Vorgeschichte und das Ende und damit eine narrative Motiviertheit für die Geschehnisse, die sich auf diese Weise sinngebender Sequenzierung verweigern. Die fehlende Rahmung lässt sich auch innerhalb der Erzählungen, in der Mikroschau, ausmachen, also in der Betrachtung von Details, die die Beschreibung des Ganzen des Geschehens sinnfällig ersetzen. Manifestiert in lediglich minimalen Kriegsfolgen (etwa ein Riss im Spiegel in Jergovićs Erzählung »Kaktus« oder eine Granate im Bücherregal in Karahasans »Dnevnik selidbe«), fokussiert durch eine intellektuell minderbemittelte oder nicht fertig sozialisierte Figur (wie der einfältige Mitläufer aus Albaharis »Warum?« oder das unschuldige Kind aus Stanišićs »Dass kein Frühling kommen kann«) erscheinen die kriegerischen Ereignisse, ihr politisches und historisches Umfeld und somit Genese und Ablauf des Krieges zwangsläufig unverständlich und unmotiviert. Auf solche Weisen narrativ entfaltete Kontingenz bestätigt die Beliebigkeit von Kriegsgründen und hebt die Beispiellosigkeit von kriegerischen Grausamkeiten gerade dann hervor, wenn aus der Warte von Einzelpersonen erzählt wird. Auch machen sich die Erzählungen die Eingeschränktheit der Perspektive zunutze, um Krieg nicht wirklich beschreiben und einordnen, ihn nicht erzählen zu müssen. Details lassen ohne Vorwissen letztlich keine Rückschlüsse auf das Ganze zu; Teile nehmen nur im Ausnahmefall vollständiger Regelmäßigkeit das System vorweg. Dennoch verführt das (kontingente?) Detail dazu, Vorstellungen vom (notwendigen?) Ganzen zu entwickeln. Niklas Luhmann spricht hier von Komplexitätsreduktionen, die durch verengende Wahl einer Systemreferenz, sprich eines Deutungsrahmens erreicht werden.7 Das Pars pro toto ermöglicht es, in den literarischen Kriegsnarrativen über das Begehren des Lesers, Gründe herzuleiten, Ereignisse einzuordnen und Zusammenhänge zu stiften, ein integriertes Vorstellungsbild zu generieren, das den Krieg verstehbar macht. Man könnte auch von einem bewussten Verzicht auf ein Metanarrativ sprechen, dass 7. Luhmann schreibt: »Je nach Wahl der Systemreferenz stellen dieses Verhältnis [System/Umwelt] und die Möglichkeiten seiner Veränderung sich in verschiedener Perspektive dar.« (Luhmann 1991 [1970]: 144).

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die Einzelnarrative der Erzählung erst im Akt des Lesens zusammenhält. Das Metanarrativ wird überhaupt erst durch die Lektüre im Rezipienten hervorgerufen, indem historische und territoriale Marker in den Texten das vermeintliche Vorwissen zu den Kriegen in Ex-Jugoslavien aktivieren und in einen ›realen‹ bzw. ›realistischen‹ Zusammenhang stellen. Der Leser glaubt so mehr zu wissen, als die Figuren im Text. Erst durch dieses externe Narrativ wird ein nachvollziehbares Ganzes zusammengesetzt, das der Text zwar nicht vorgegeben, durch seine Lückenhaftigkeit aber provoziert hat. Man könnte sogar behaupten, dass die Texte einen Erklärungsmechanismus vorexerzieren, der auf ein bestimmtes Problem aufmerksam machen soll: Es bedarf immer eines äußeren Zusammenhangs oder eines Metanarrativs, das Feindschaft erklärbar macht. Durch das Fehlen dieses Metanarrativs und die damit einhergehende Kontingenz der Ereignisse wird der Leser an den Krieg ›herangeführt‹ und dazu provoziert, entweder gängige Erklärungsmuster von Feindschaft in den Text zu projizieren und an diesen Erklärungsmustern letztlich zu scheitern, oder sich mit der Frage von Kontingenz im Kontext von Krieg selbst auseinanderzusetzen. Eine Funktion der Kontingenz in den Kriegsnarrativen kann also in der Kontingenzwirkung auf den Leser ausgemacht werden, die darauf abzielt, ästhetisch produzierte affektive Nähe zur Kriegserfahrung herzustellen. Der Krieg, platziert zwischen einem harmlosen Davor (beispielsweise umgesetzt als YU-Nostalgie, in Alltagsdarstellungen oder als gänzlich ausgelassene Vorgeschichte) und fassungslosem Ende (zukunftsloser Ausblick, Ende als offene Fragen etc.), dieser Krieg, der eben nicht in Genese, Verlauf und Gründen ausbuchstabiert, sondern anspielungsreich angedeutet ist, ruft – dargestellt als zufälliger, beliebiger, plötzlicher – die menschliche Erfahrung der Alltagserschütterung im Krieg auf, stellt (nach dem Strickmuster des Amoklaufs) sowohl Opfer (wie auch Täter) als zufällige Opfer und durch die Umstände Involvierte dar und setzt schonungslos die nackte Ausgeliefertheit, die der Mensch im kontingenten Umfeld erlebt, als Erfahrung des Lesers mit dem Text um. Dieser wird vom Text, wie die Figuren von den Ereignissen, überrascht. Entsprechend überrollt ist der Leser vom plötzlichen Krieg.8 Entsprechend ›beliebig‹ wird er auch zum Opfer von (Text-)Gewalt, der er sich nicht entziehen kann (wie im Falle von Albaharis unvermittelter Folterdarstellung). Die KontingenzErzählungen konfrontieren den Leser im Überraschungsangriff mit Grausamkeit und Willkür von Krieg. Hierin liegt eine performative Qualität der Texte. Sie stellen den Krieg nicht nur dar oder thematisieren ihn, sondern sie demonstrieren die Logik oder Alogik von Feindschaft im Krieg. 8. Die Inszeniertheit dieser Überraschung wird sichtbar, wo auf das Leserwissen aufgebaut wird.

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Solchermaßen erzählte und zugleich aufgeführte Kontingenz überzeugt doppelt. Wird sie zur Leser-Erfahrung gemacht, verbürgt sie Glaubwürdigkeit, die darüber hergestellt wird, dass die literarischen Figuren Kontingenz nicht nur erleben, sondern dass erlebte Kontingenz als Kriegsbegleiterscheinung (im Hobbes’schen Sinne von »Krieg aller gegen alle« [Hobbes 1990 [1651]: 115]) strukturell erfahrbar gemacht und, im Falle der Rezipienten, die den Krieg selbst erlebt haben, als solche wiedererkannt wird. Doch die Kontingenz der jugoslawischen Sezessionskriege, auch so lässt sich die narrativ realisierte inhaltliche Kontingenz lesen, wird nicht nur von den Texten erzählt und demonstriert und für das Narrativ nutzbar gemacht, sie wird gewissermaßen auch erst von den Texten postuliert. Die Kriegstexte ›behaupten‹, existente Erklärungsversuche umgehend, dass ›ihr‹ Krieg zufällig, beliebig und eben nicht erklärbar ist. Kontingenz (als Gegensatz von Notwendigkeit) steht auch für den Erklärungsnotstand, den der Krieg mit sich gebracht hat und dessen Behebung und nachträgliche Erklärung das Narrativ sich zur Aufgabe macht. Die Tatsache, dass alles hätte auch anders sein können, die Leerstelle (die aus Albaharis »Warum?« spricht) wird, so betrachtet, durch ein Erzählen gefüllt, das sich zwar der Kontingenzbewältigung verweigert, aber dennoch eine Erzählung hervorbringt. Aus dieser Warte ist auch Kontingenz allein schon ex post-Begründung: Krieg ist Kontingenz, so wie nach Vogl die Beliebigkeit der Opfer als integraler Bestandteil zur Figur des Amoks gehört (Vogl 2003: 212). Unerklärbarkeit wird somit zur Erklärung für Feindschaft und für Krieg gemacht. Deren substantielle Nicht-Begründbarkeit wird Erklärungsmodellen, die Feindschaft rahmen, objektivieren und zum nachvollziehbaren Phänomen des Sozialen erklären, entgegengehalten. Auch ist die Behauptung von Kontingenz ein Statement zum Krieg in Ex-Jugoslawien, denn dessen (angebliche) Ursachen und Gründe (kulturell präsent und allen bekannt etwa als ›separatistische Bestrebungen‹, ›wiedergekehrte Nationalismen‹, ›Verteidigungen gegen erlittene Unterdrückungen‹, ›Genozidvorwürfe‹ etc.) werden verleugnet oder zumindest von den Erzählungen vielsagend ignoriert. Die Texte verschließen sich kursierenden Deutungsmustern und beteiligen sich durch ›Kontingenzdarstellungen‹ nicht an der Suche nach möglichen Kriegsursachen. Steht die Kontingenz in den Sezessionskriegserzählungen also auch für die Weigerung, kriegstreiberische Gründe nachzuerzählen und dadurch zu reproduzieren? Diese Frage verweist auf einen weiteren Aspekt der ›Unterentwickeltheit‹ von Kriegsgründen in den Erzählungen zur ›kontingenten Feindschaft‹ der YU-Kriege und betriff t die potentielle Breite der Leseradresse. Sind die Erzählungen, die als bosnisch-, kroatisch- und serbisch-sprachi229

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ge von allen Ex-Jugoslawen verstanden werden, an ein exjugoslawisches Gesamtpublikum gerichtet? Gerade dessen ›Unterschiedlichkeit‹ kursiert ja als weitgehend akzeptierter Kriegsgrund und -hintergrund. Wenn die Kriegstexte ausgerechnet diese Erklärung für den jugoslawischen Zerfall auslassen, sichert dies ihnen nicht nur die Offenheit der gesamten von der (letztlich einen) Sprache erreichbaren Leserschaft. Die Kriegserzählungen nehmen auch, in Allianz mit ihrem ›idealen‹ Leser (dem durch die neuštokavische Sprache Sammeladressierten), eine Metaposition gegenüber den erzählten Ereignissen ein, die in der ›Verbrüderung‹ der potentiellen Leserschaft ein integratives Gegenzeichen setzt. Auch die Notwendigkeit, das von den Erzählungen Ausgelassene im eigenen Leseakt aufzufüllen, trägt zur lesenden Gemeinschaftsstiftung bei. Anthologien, wie die eingangs erwähnte Swartzsche, die Autoren von Slowenien bis Albanien vereint, stehen für das kulturelle Bedürfnis der Re-Integration. Dabei liegt die Gemeinsamkeit eben weniger in der vermeintlichen kulturellen Neigung zur Desintegration, die der Herausgeber nahe legt, sondern in der Bereitschaft der Autoren, sich der balkanistisch-diffamierenden Frage gemeinsam zu stellen. Die multiple Leseradresse, die sich die Texte offen halten, und die Balkanismen zurückweisenden literarischen Antworten gehen einher mit ihrer simultanen Gerichtetheit an ein außenstehendes, internationales Publikum, das sie von vornherein mit einkalkulieren. Albaharis »Warum?«, eingangs als Antwort und Frage eingeführt, zitiert neben dem eigenen auch das Unverständnis der internationalen Kriegsbeobachter, die ›den Balkan‹ als Ort nicht nachvollziehbarer Stammesfehden wahrnehmen mussten. Jergovićs »Kaktus« beschreibt, den selben Zusammenhang aufnehmend, wie selbst die fortgegangenen Einheimischen aus dem Ausland zurück blickend, nicht zu verstehen vermochten, was sich ›in Wirklichkeit‹ abspielte. Die literarischen Texte vom kontingenten Krieg in Jugoslawien betrachten sich somit über den Umweg ›westlicher‹ Außensicht selbst und bieten Kontingenz auch als Antwort auf die Auffassung vom »unverständlichen, anachronistischen, atavistischen Balkan« (Sundhaussen 1999: 1) an.

5. Dav id Albahar i und Miljenko Jergov ić : Details ohne Narrativ David Albaharis Erzählung »Warum?«, die von einem jungen Serben handelt, der weder rational erklärbar, noch durch äußere Anlässe motiviert zum Kriegsverbrecher, Mörder und sexuellem Peiniger wird, ist aus der Ich-Perspektive des Helden erzählt. Dieser Held ist nicht in der Lage, die Zeichen und Handlungen, die ihn umgeben zu lesen: »Die Welt veränderte 230

Kontingente Feindschaft?

sich, daran bestand kein Zweifel, auch, wenn ich nicht verstand, warum« (Svet se menjao, nije bilo sumnje, iako nisam razumeo zbog čega) (Albahari 2007: 10). Weder kann er die Anzeichen von religiöser Fanatisierung (Allgegenwart des Popen), den schwelenden Separatismus (religiös-ethnische Kennzeichnung von Klingelschildern, die Unterscheidung von ›wir‹ und ›sie‹) erkennen, noch die beginnenden Kriegsvorbereitungen (heimlicher Transport von Waffenkisten) in einen Zusammenhang stellen. Erst der mit den Jugoslawienkriegen vertraute Leser fügt an Stelle des Protagonisten die Details zueinander und weiß, dass es sich um eine Erzählung handelt, in der die Sezessionskriege unmittelbar bevorstehen. Besonders deutlich wird dies in einer Szene, in der es um die Herstellbarkeit und Lesbarkeit von Feindschaftsmerkmalen geht. Der Held, der von sich selbst sagt, dass er keine Zeitungen liest und nicht fern sieht, sondern die Welt nur durch eigene Erfahrungen und Horchen wahrnimmt, trägt mit seinem Unwissen über zeithistorische Zusammenhänge gerade zur Beliebigkeit des Tötens bei. Weil er nicht versteht, was durch die Kennzeichnung der Klingelschilder mit einem Kreuz, einem schwarzen Punkt und einem kleinen Kreis angezeigt wird, kann er auch nicht wissen, welche Folgen es hat, einen der Punkte wegzuwischen. Mit der Veränderung der ethnisch-religiösen Symbole hinter den Namen auf den Klingelschildern provoziert der junge Serbe, dass Serben, ohne sich dessen bewusst zu sein, einen vermutlich serbischen Offizier als vermeintlichen Feind töten und dessen Tochter vergewaltigen. Die Markierung des Anderen und des Feindes durch ein Zeichen ist wohl das radikalste Beispiel dafür, Unterscheidungen und Feindzuschreibungen, die auf einer Metaebene gemacht werden, (Politik, Religion) auf die Mikroebene zu übertragen. Durch das Zeichen, das einzig erkennbare Unterscheidungsmerkmal, wird unüberwindliche Differenz erst hergestellt und Feindschaft postuliert. Zugleich unterstreicht diese Markierung des Feindes durch ein Zeichen die Beliebigkeit der inner-jugoslawischen Feindschaften und die eigentliche Ununterscheidbarkeit seiner Beteiligten. Dass Albahari schließlich seinen Protagonisten selbst zum Peiniger werden lässt, verstärkt die Anlage der Beliebigkeit zusätzlich. Weder angetrieben durch einen religiösen oder nationalen noch einen persönlichen Konflikt, wird der junge Serbe zum Täter. Fast analog zum Verhaltensmuster des Amokläufers ›rastet‹ er irgendwann aus und quält eine junge Frau, die er gerade noch vor der Vergewaltigung geschützt hatte. Albahari scheint es während der gesamten Erzählung um die Infragestellung des Titels »Warum?« zu gehen. Während, so könnte man Albahari paraphrasieren, religiöse oder nationale Gründe für die Erzeugung von Feindschaft legitim zu sein scheinen, stößt die Grundlosigkeit des Tötens auf Ratlosigkeit und erhöht die Wahrnehmung von Brutalität. Indem aber der geistig 231

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minderbemittelte junge Protagonist in Albaharis Erzählung all jene quasilegitimen Gründe für das Töten gar nicht kennt, relativiert er zusätzlich deren sekundäre Begründbarkeit. Ohne diese Begründbarkeit wird offensichtlich, was das Töten eigentlich ist: grausam und unbegründbar. Miljenko Jergovićs Erzählung »Kaktus« aus »Sarajevski Marlboro« von 1994 setzt den Krieg in Bosnien als unerwarteten und beliebigen Einbruch in das zuvor alltägliche Leben um. Die Geschichte von der Sylvesterfeier 1990, die der Erzähler mit seiner Freundin in Dalmatien verbringen wollte und die wegen einer Autopanne auf der Fahrt von Sarajevo nach Hvar scheitert, wird unvermittelt vom Satz: »In jenen Tagen, als Vukovar vernichtet wurde…« (Onih dana kad je uništen Vukovar…) (Jergović 1999: 20) unterbrochen. Diese Wende in der erzählten Geschichte findet dabei erst im letzten Viertel der Erzählung statt. Der Leser wird hier mit dem Erzähler in ein aus Perspektive der Erzählung unerklärliches, vor allem plötzliches Ereignis als beliebiges Opfer verwickelt. Auch der Leser erwartet, vom Narrativ auf eine falsche Fährte gelockt, nicht, dass etwas Derartiges geschehen könnte. Die Erzählung lässt dabei vielsagend die anderthalb Kalenderjahre aus, die das eine Datum (Sylvester 1990) vom anderen (Angriff auf Vukovar Mai 1991) trennen. Auch kommen die Ereignisse in Kroatien in der Darstellung nicht über diese Erwähnung hinaus. Statt Zeithistorisches aufzunehmen, schließt der Text mit der Sentenz, im Leben müsse man sich vor Details hüten. Das Detail, das hier im Zentrum steht, ist der im Schutzkeller eingegangene Kaktus, den die inzwischen im Exil lebende Freundin dem Erzähler schenkte. Um ihn, den Kaktus, herum ist die Narration organisiert. Während Gedeih und Verderb des Kaktus zur Darstellung kommen, erfährt der Leser nicht, wie es zum Krieg (später auch in Bosnien, denn der Erzähler befindet sich im Schutzkeller in Sarajevo) kam und wie dieser verläuft. Die beliebige Involvierung des Erzählers in feindschaftliche Übergriffe, mit denen er nichts zu tun hat, wird durch dessen Fokus auf den Kaktus hergestellt. Wenn der Erzähler davon spricht, was »Kakteen und Menschen« (i kaktusima i ljudima) (ebd.: 21) gut tut, so wird darin vor allem die Beliebigkeit des Begründungsrahmens für den Krieg in Bosnien herausgestrichen, der die ethnisch-religiöse Differenz durch die Gleichschaltung mit der Pflanze als Grund unterläuft. Jergović erzählt nicht, was den Krieg vorbereitet und hervorbringt, sondern wie der Kaktus (und der Mensch), unerklärlich und zufällig, in den Krieg ›hineingezogen wird‹ und zuletzt eingeht. Die Details des Krieges und die Feindschaften, die ihn regieren, kommen nur in Andeutungen zur Sprache, die auf die oben angesprochene Systemkonstruktion des Lesers bauen. Der dem Erzähler nicht nachvollziehbar widerfahrenden kontingenten und unbegründeten Feindaktion werden Anspielungen auf mögliche Erklärungen gegenübergestellt. Diese selbst delegiert Jergović, wie Albahari, an den Leser. 232

Kontingente Feindschaft?

Die Verweise auf Kriegsgründe werden wie beiläufig in den Text gestreut, was ihre Bedeutung und Plausibilität stark relativiert. Der »alte österreichische Spiegel« zerbricht etwa bei einem Granateneinschlag »mit der Gradlinigkeit eines Meridians auf der Landkarte« (s pravilonošću meridijana na zemljopisnoj karti) (Jergović 1999: 20) und spielt mit dem Hinweis auf die Landkarte auf territoriale Interessen auf dem ›Balkan‹ und auf die Vergangenheit des Kulturraums als Teil der Habsburger Monarchie an. Es steht dem Leser frei, den Topos des desintegrierenden Kultursynkretismus als Folge Jahrhunderte währender Fremdbesetzungen aufzurufen. Der Text scheint solche Erklärungen in Frage zu stellen. Über den Krieg, dessen ›Wie‹ und ›Warum‹ er nicht begreifen kann, sagt der Erzähler: »auch, wenn mir immer noch nicht klar war, wie und warum« (mada mi još uvijek nije bilo jasno ni kako ni zašto) (Jergović 1999: 20). Er versteht nur, dass er gänzlich beliebig von diesem Krieg betroffen ist, dem er jederzeit zum Opfer fallen kann: »in jedem Augenblick erwartete ich eine Kugel« (svakoga trenutka [sam] očekivao metak) (ebd.: 20). Auch die Agenten der Feindschaft sowie die feindlichen Parteien der Belagerung Sarajevos selbst, die Teil eines Begründungsrahmens sein könnten, werden lediglich einmal beiläufig erwähnt, als der Kaktus sich auf dem Fensterbrett »zu den Positionen der Četniks« (prema četničkim položajima) (ebd.: 20) ausrichtet. Die Leerstellen an Unausgesprochenem, die in solchen Erwähnungen stecken, scheinen den Leser aufzufordern, sich einen Reim auf die Geschehnisse zu machen, die der Erzähler nicht zu begreifen vorgibt. Sie verweisen in dieser Aufforderung auf die Gemachtheit von Feindschaft und von Kriegsgründen, an deren Konstruktion der Text nicht beteiligt sein will. Die Erzählung selbst macht keine direkten Aussagen über Gründe, weist keine Schuld zu und präsentiert Figuren, die keinem Lager – jedenfalls nicht nach Überzeugung oder Affi liation, bestenfalls nach Aufenthaltsort – zugehören. Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien, dafür stehen Jergovićs »Kaktus« und Albaharis »Warum?«, zitieren die ›balkanische Neigung zum kriegerischen Übergriff‹ vielmehr als sie sie erzählend aufgreifen. Die Darstellung des Kulturraums und seiner historischen Ereignisse scheint nicht ohne den Umweg über seine Fremdwahrnehmung auszukommen, der sich die Narrative aber zugleich verweigern. Während die Frage nach möglicher kulturspezifischer Determiniertheit und Affinität zu Krieg und Gewalt auf solchermaßen gebrochene Weise in die Erzählungen eingeflochten ist, konzentrieren sich die literarischen Texte auf funktionierende und fehlschlagende Prozesse der Herstellung von Feindschaft. Gerade der Fokus auf das Wie von Kontingenz in Feindschaftsnarrationen lässt nicht nur das sinnheischende Warum in den Hintergrund treten und führt es gar ad absurdum. Das Wie führt eine Kontingenzerklärung ein, die bis 233

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dahin, etwa in der Figur des Amoks, weit entfernten Kulturräumen vorbehalten war. Was, wenn Kontingenz von Feindschaft kein Ausbruch eines (unterdrückten) animalischen, ursprünglichen Triebes ist, sondern Teil historischer Entwicklung von Feindschaftskonzeptionen? Ist es denkbar, dass beliebige Feindschaft keine Wiederkehr, sondern eine neuere Erscheinung ist, die sich, wie die Freundschaft zwischen Antike und christlicher Wende, vom begründet Individuellen hin zum beliebig Anderen wendet? Zygmunt Bauman, dessen Versuch den Holocaust vor dem Hintergrund eines durch die moderne Bürokratie von Verantwortung entkoppelten Einzelnen zu erklären, weist in diese Richtung. Während bei Bauman die moderne Bürokratie zwischengeschaltet ist, ist es in den Kontigenzerzählungen die Ideologie des Konstruktivismus, die jede beliebige Feindschaft möglich macht. Gerade vor dem Hintergrund der Ereignisse in Jugoslawien wurde das narrative Konstrukt, im Sinne Benedict Andersons und seines Nationalstaates als »imagined political community« (Anderson 1983: 15), in Bezug auf die neuen ›nationalen Erzählungen‹ bemüht. Der Literatur, dem Film, überhaupt der Kunst und den Intellektuellen wurde vielfach eine treibende Kraft in den nationalistischen Diskursen der 90er Jahre attestiert (Wachtel 1998: 219), der sich die ›Kontingenzerzählungen‹ darin stellen, dass sie nicht mehr an den ›Konstruktionen‹ teilhaben. Stattdessen führen sie die Idee von der ›Erschaff ung im Narrativ‹, von der »Nation als Narration« (Bhabha 2000: 212), selbst vor. Die religiösen und nationalistischen Begründungsnarrative, so postulieren es die literarischen Texte, funktionieren nicht – sie haben es nie. Bei Jergović und Albahari werden sie gänzlich durch private oder der Auffassungsgabe des Einzelnen geschuldete ersetzt. Ihre Texte widersetzen sich nicht nur entschlossen dem Vorwurf, die Kunst produziere die großen Erzählungen, sondern sie dekonstruieren in ihren Texten auch die großen Narrative und ihr Funktionieren überhaupt.

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Kontingente Feindschaft?

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Ein Kr iegsfoto aus Bosnien : Beglaubigungen und Ver weigerungen durch Ron Haviv, Susan Sontag und Jean-Luc Godard Tanja Zimmermann (Erfurt/Konstanz)

1. Metatexte und Metabilder: Kr iegsber ichterstattung aus Bosnien Der Golfkrieg von 1991 ging als erster elektronischer Krieg in die Mediengeschichte ein, bei dem die Ziele vermeintlich mit technischer Präzision getroffen wurden (Paul 2004: 365-405). Der Kosovo-Krieg des Jahres 1999 wurde als Perfektionierung dieser Art von Kriegführung betrachtet (Virilio 2000: 139-180; Paul 2004: 407-431). Beide ermöglichten durch den Einsatz von Satelliten die televisive Steuerung und Verfolgung des Schauplatzes der Gefechte in ›Echtzeit‹, beide wurden als erfolgreich, ›sauber‹, ja ›human‹ präsentiert. Der Bosnien-Krieg von 1992 bis 1995, der für das außenpolitische Versagen Europas vor den Toren der hochindustriellen Länder steht, ist dagegen ein blinder Fleck in der Mediengeschichte. In der Kriegsberichterstattung jedoch markiert gerade dieses Scheitern einen mediengeschichtlichen Bruch. Susan Sontag und Jean Baudrillard stellten in diesem Zusammenhang die mangelnde Effizienz und Verlässlichkeit des Journalismus heraus, wobei sie diese jedoch auf unterschiedliche Gründe zurückführen (Zimmermann 2008). Sontag beobachtete während ihres Aufenthaltes in Sarajevo im Jahre 1993, als sie die Theaterauff ührung von Becketts »Warten auf Godot« vorbereitete, dass die Kriegsberichterstattung, statt das eigentliche politisch-militärische Geschehen darzustellen, eher in Metatexten über die Kriegsberichterstattung selbst berichtete (Sontag 237

Tanja Zimmermann

1993). Die Aufmerksamkeit zahlreicher Reporter habe sich von den Tätern und den Opfern auf sekundäre Medienereignisse verlagert, wie z.B. auf die Auff ührung von Becketts Theaterstück sowie auf die selektive Arbeit der Journalisten, die für andere Zeitungen oder Sender arbeiteten. Die Arbeit dieser Kollegen stempelte man als Medienspektakel ohne jegliche humanitären Absichten ab. Der Grund für diese metatextuellen Phänomene lag für Sontag letztlich nicht in der Kriegsberichterstattung selbst, sondern in ihrer Wirkungslosigkeit, d.h. letztlich in der Tatenlosigkeit der politischen Träger. Durch die Wiederholung der immer gleichen Berichte hätten Texte und Bilder über den Krieg ihre Wirksamkeit eingebüßt. Zugleich hätten die Reporter sich auf der Suche nach neuen ›Stories‹ infolge der Ereignislosigkeit in selbstbezüglichen Metatexten und -bildern verfangen. Baudrillard dagegen sah die Ursache des autoreflexiven journalistischen Stils in der ›simulakralen Hyperrealität‹, in der das medial konstruierte Ereignis, über die Satellitensender ›live‹ übermittelt, das wahre Geschehen zuerst überholt und letztlich ersetzt habe (Baudrillard 1995: 91f.). Den Verlust der performativen Kraft der Kriegsberichterstattung im Bosnien-Krieg betrachtete er als empirische Bestätigung seiner seit den späten 1960er Jahren entwickelten Theorie der Simulakren. Der Konflikt zwischen Performanz und Simulakrum hat nicht nur die theoretische Ebene der Mediendiskussion erfasst, sondern auch die Kriegsnarrative selbst, insbesondere in den Kommentaren zur Kriegsfotografie. Das fotografische ›Standbild‹ wird nicht mehr als Zeugnis eines Vorfalls, sondern als ›Bild‹, abgekoppelt vom Ereignis, kommentiert. Als solches gerät es in Bewegung und wird zu einem ›Non-Stop-Bild‹ transformiert, das sich in ›Echtzeit‹ perpetuiert – aber dies nicht, um das Geschehene durch seine fortdauernde Präsenz besonders nahe zu bringen oder es zu rekonstruieren. Vielmehr wird das Foto gerade durch den Versuch, ihm größere Wirksamkeit zu verleihen, in eine absurde, leere Bewegung gebracht, so dass es als Simulakrum des wahren Ereignisses bald ein Eigenleben entfaltet. Diese paradoxe Verschränkung von Performanz und Simulakrum wird hier im vorliegenden Beitrag anhand einer Fotografie aus dem Bosnien-Krieg untersucht, die bald nach ihrem Entstehen zum Gegenstand zahlreicher medienreflexiver und narratologisch aufschlussreicher Kommentare wurde. Im April 1992 nahm der damals 27jährige New Yorker Fotojournalist Ron Haviv in der Stadt Bijeljina im Nordosten Bosniens mehrere Fotos auf, welche die Gräueltaten einer serbischen paramilitärischen Einheit an bosnischen Zivilisten zeigen. Die Fotografien, geheim entstanden, fi xieren den Augenblick vor bzw. nach der Tat. Die Erschießung selbst hätte der Fotoreporter nach seinem eigenen Zeugnis nicht unbemerkt fotografieren können, ohne sich selbst in Lebensgefahr zu bringen. Vor allem eine dieser 238

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Aufnahmen zog – als quintessenzielle Fixierung der ethnischen Säuberung – große Aufmerksamkeit auf sich (Abb. 1).

Abbildung 1: Ron Haviv, Serbische Paramilitionäre beim Aufspüren und Töten moslemischer Zivilisten in Bijeljina (Bosnien), Fotografie, 1992 Die Fotografie zog in der Folgezeit unterschiedliche Diskurse über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien auf sich: Jean-Luc Godards Kurzfi lm »Je vous salue, Sarajevo« (1993), Havivs eigene Monografie »Blood And Honey. A Balkan War Journal« (2000) und Susan Sontags spätes Buch über die Kriegsfotografie »Regarding the Pain of Others« (2003).1 In allen diesen Diskursen schreibt sich in das fotografierte Ereignis ein pessimistischer Metatext über die Medien in der Zeit des Krieges ein, der zur Folie sämtlicher, folgender Narrative wird. Über die Hintergründe der Entstehung der Fotografie erfährt man mehr aus der Monografie des Fotoreporters, die eine Ausstellung seines Œuvres in der New Yorker Saba Gallery begleitete. Wie seine Kollegen Gilles Peress (1994; 1999) und James Nachtway (1999) hat auch Haviv die Kriegsfotografien acht Jahre nach ihrer Entstehung, losgelöst von der Funktion der Kriegsberichterstattung, in einem künstlerischen Kontext erneut veröffentlicht. Dem illustrierten Buch steht als Motto eine quasi-etymologische Erklärung des Toponyms Balkan voran, wobei dieses spielerisch in 1. Erwähnt wird dieses Foto auch im Aufsatz von Nicole Wiedenmann zur »Rückkehr der Kriegsfotografie« in dem jüngst erschienen Sammelband »Kriege sichten. Zur medialen Darstellung der Kriege in Jugoslawien« von Davor Beganović und Peter Braun (Wiedenmann 2007: 49).

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zwei kontrastreiche türkische Morpheme – »bal« (Honig) und »kan« (Blut) – zerlegt wird.2 Im Zentrum von Havivs Buch steht die Fotoserie aus Bijeljina, vor allem das oben abgebildete Bild. Doch entgegen der Erwartung des Lesers, vom Fotoreporter selbst über die Umstände der Entstehung der Fotos informiert zu werden, werden mehrere Essays vorangestellt: der erste von Chuck Sudetic, Korrespondent der New York Times, der zweite vom Journalisten David Rieff, dem Sohn von Susan Sontag, und der dritte vom französischen Arzt und Politiker Bernard Kouchner. Erst am Ende meldet sich Haviv selbst zu Wort, doch ex post, indem er acht Jahre später retrospektiv über die Schwierigkeiten eines objektiven Journalismus im Krieg spricht. Abschließend folgen anonyme »Notes« mit den Lemmata einiger Orts- und Eigenamen. Überraschender Weise begegnet man an dieser Stelle nicht einer unpersönlichen, sachlichen Sprache nach dem Vorbild von Lexikonartikeln, sondern der persönlichen Stimme des Fotografen. Unter dem Lemma »Arkan« über Željko Ražnatović-Arkan, Anführer der serbischen paramilitärischen Gruppe »Tiger« und Medienfigur in Serbien (vgl. Iordanova 2001: 181-186; Stewart 2008), erfährt man, unter welchen Bedingungen die Fotoserie aus Bjeljina entstanden ist. Das Zurücktreten der subjektiven Erzählinstanz des Fotografen bzw. sein verstecktes Auftreten im Paratext dient weniger der wissenschaftlichen Objektivierung des Bezeugten, als dass es das Unbehagen des Fotografen über das Entstehen des eigenen Fotos ausdrückt. Der erste Erzähler, Chuck Sudetic, selbst Autor des Buches »Blood and Vengeance. One Family’s Story of The War in Bosnia« (New York 1998), erzählt in der dritten Person aus der Perspektive eines zweiten Zeugen über die Entstehung der Fotografie. Anstelle der erlebenden Stimme des Fotoreporters, der zur stummen intradiegetischen Figur wird, setzt sich Sudetic als ›zweiter Berichterstatter‹, der nun nicht den Fotografen, sondern dessen Fotografien zu Akteuren macht. Diese werden mit Verben der Tätigkeit in aktiver Form zu handelnden Figuren: Sie sprechen für sich selbst (»speak for themselves«), fangen die Ungerechtigkeit ein (»capture 2. Denselben Titel griff drei Jahre später der Kurator Harald Szeemann in einer Ausstellung zur Kunst aus dem Balkanraum in der Sammlung Essl in Wien auf: »Blut & Honig. Zukunft ist am Balkan«. Szemann begründet seine Wahl des Titels damit, dass er mit Blick auf Ereignisse wie das Attentat auf Franz Ferdinand oder den Wiener Aktionismus vor allem in Österreich attraktiv sei. Zudem evoziere er Pole wie Zorn und Zärtlichkeit, Katastrophe und Idylle, von zutiefst Menschlichem und Universalem. Szeemann stellt keine Verbindung zwischen Havivs Buch und der Ausstellung her. Den Titel hätte Melantie Pandilovski, Mitglied des BAN (Balkan Art Network), ins Gespräch gebracht. Der Vorschlag habe den Kurator veranlasst, das Projekt überhaupt in Angriff zu nehmen.

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the injustice«), erwecken Gefühle (»evoke emotions«) und rufen quälende Erinnerungen herbei (»recall haunting memories«) (Sudetic 2000: 16). Im gleichen Zuge, wie die Fotos belebt werden, werden ihre Objekte, die fotografierten Opfer, zu Bildern ›eingefroren‹, welche ihrerseits die Bilder anderer Opfer evozieren – Fotografien von Auschwitz, Francisco de Goyas »Desastres de la Guerra« und Orwells antiutopischen Roman »1984«. Dem Medium der Fotografie wird eine aktive, seinen Objekten, den Opfern, eine passive Rolle zugeteilt. Erst wenn der besondere Wert dieser Fotografien jenseits ihrer journalistischen und künstlerischen Qualitäten – ihr kriminalistischer Wert als Beweismaterial zur Identifizierung von Opfern und Tätern – hervorgehoben wird, übernimmt der bisher unsichtbare Fotograf die Rolle des Akteurs. Aber auch jetzt begrenzt sich seine Handlung auf das ›Einfrieren‹ des primären Kriegsgeschehens. In einer Erzählpassage, in der Erschießungen im slawonischen Vukovar in Kroatien beschrieben werden, denen der Fotograf zwar beiwohnte, die er aber nicht fotografieren konnte, wird durch die wiederholte Beschreibung ähnlicher Ereignisse sein Versäumnis auf der Erzählebene ekphrastisch kompensiert und zugleich die Fotoserie aus Bijeljina vorweggenommen. »Pale and shell-shocked, the civilians emerged into the sunlight. Haviv and Morris saw one woman step away from a group of survivors. She whispered a few words into the ear of one soldier. In an instant, the soldier shouted: ›No pictures. No pictures.‹ He pointed his automatic at the photographers; then he pulled aside one of the men in the group of survivors and shot him dead. Haviv had witnessed an execution. His camera hung from his neck, inert. An hour later, another soldier spotted a man in civilian clothes stepping from a doorway. A soldier shouted, ›No pictures. No pictures.‹ Haviv again lowered his camera. His finger slid away from the shutter button. A gun fired. The men fell dead.« (Ebd.: 17)

Hier werden keine Fotos geschossen. Jean Baudrillards These, dass die Simulakren der Realität vorangehen und sie ersetzen, realisieren die Täter wortwörtlich. Das ›Löschen‹ der prinzipiell möglichen Bilder bedeutet, das Geschehen ungeschehen zu machen. Dabei gehen nicht, wie von Baudrillard behauptet, Opfer und Täter eine Komplizenschaft ein (vgl. Bayard/Knight 1995), sondern der Fotoreporter befolgt unfreiwillig das Bilderverbot der Täter. Durch das fast identische Verlaufsmuster, in dem der Erschießung die Zensur vorangeht, gewinnen die singulären Ereignisse eine iterative, serielle Struktur: »Soldiers began to yell, ›No pictures. No pictures.‹ In an instant, one of them shot the fleeing man in the back. Again Haviv witnessed an execution and had been told not to photograph it. Again, he had not lifted his camera« (Sudetic 2000: 18). Der Serie von Er241

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schießungen entspricht der ›fotografische‹ Erzählmodus der ›wiederholten Aufnahmen‹, die zur narrativierten ›Foto-Serie‹ verbunden werden. Doch dann gelang es dem Fotografen endlich, das Wiederholungsmuster zu durchbrechen., indem er das oben gezeigte Foto versteckt hinter einem Lastwagen aufnahm. Aber auch diesmal konnte er nicht die Erschießung selbst, die durch einen vorbeifahrenden Lastwagen verstellt wurde, sondern nur den Augenblick kurz danach einfangen. Er wollte dabei die Opfer fotografieren, was ihm nicht gelang, da die Milizionäre in seine Kameraeinstellung hineinliefen. »He raised his camera and snapped as one of the militiamen held a cigarette in one hand and kicked the head of the woman bleeding on the ground. The militiamen then ran along the street, and Haviv went with them« (ebd.: 18). Das Foto ›danach‹ wird auf diese Art in ein Aktionsfoto transformiert – aus einem passiven Zeugnis wird ein aktiver Akt der Augenzeugenschaft oder gar Mittäterschaft, da der Fotograf gemeinsam mit dem Täter den Tatort und die Toten verlässt. Wie Haviv in den »Notes« berichtet, ist die Fotoserie aus Bijeljina nur dadurch erhalten geblieben, dass er die Filmrolle rechzeitig vor Arkan versteckt hat, der dem Fotografen zwar das voyeuristische Zuschauen erlaubte, ihm jedoch seine berufliche Zeugenschaft verweigerte (Haviv 2000: 188f.). Wie die Täter nach der Logik der Baudrillardschen ›hyperrealen Realität‹ durch das Bilderverbot das Ereignis ungeschehen machten, spricht auch ihr Anführer, Arkan, nicht über die Opfer, sondern über die Fotos: Er verlangt nach der Filmrolle, um die ›besten‹ Fotos, die ihm besonders gefallen, auszusuchen. Haviv, der sich auf das Metagespräch einlässt, argumentiert mit den besseren Entwicklungsstudios im westlichen Ausland. »I walked over to my car to hide my film but before I could rewind the last roll, Arkan arrived. He demanded that I give him the film. When I protested, he smiled and said that he would process the film and give me back what he liked. I tried to convince him that the photo labs in Belgrad weren’t very good and that I would show him all of my film, but he didn’t fall for it. I emptied my cameras and gave him the film hoping he wouldn’t ask if there was any more. He didn’t.« (Ebd.: 188)

Das Kriegsnarrativ verschiebt sich in ein Metanarrativ über die Distribution von Fotos, vom Ort des Ereignisses zum Ort der Herstellung von fotografischen Abzügen und deren Auswahl. Indem die Toten zu Fotoabzügen werden, werden sowohl der Akt des Mordens als auch der der Augenzeugenschaft mit der Herstellung von Bildern verschränkt. Die Differenz zwischen dem Krieg und seiner Bezeugung durch Bilder wird aufgehoben. Der Fotograf wandelt sich bereits am Ort des Ereignisses vom Augenzeugen zum Konsumenten seiner eigenen Produkte, d.h. zum Zuschauer. 242

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Jacques Derrida fordert im Vorwort zu »Marx‹ Gespenster« (1993), dass man »niemals von der Ermordung eines Menschen wie von einer Figur sprechen sollte, noch nicht einmal wie von einer exemplarischern Figur in einer Logik des Emblems, einer Rhetorik der Fahne oder des Martyriums«, denn »das Leben eines Menschen, so einzig wie sein Tod, wird immer mehr als ein Paradigma sein und immer etwas anderes als Symbol« (Derrida 2000: 7). Das Leben wie der Tod eines Menschen sind für Derrida so singulär wie sein Eigenname. Im Bosnien-Krieg dagegen wurden Tote nicht nur zu Exempla verallgemeinert und zu Emblemen stilisiert, sondern sie wurden in beliebig reproduzier- und kommentierbare, körperlose ›Abzüge‹ verwandelt.

2. Vom ›Standbild‹ zum Bewegungsbild on the loop Susan Sontag hebt in »Über Fotografie« (1977) hervor, dass Fotos mnemotechnisch einprägsamer sind als bewegliche Bilder (Sontag 2004: 23). In ihrem zweiten Buch über die Kriegsfotografie, »Das Leiden anderer betrachten« (2003), nennt sie das Foto im Vergleich zum Film »Standbild« und vergleicht dessen ›Eingefrorenheit‹ mit einem Zitat und einer Maxime bzw. einem Sprichwort (Sontag 2005: 29). Wie feste, unveränderliche Formulierungen trotzt der wiederholten Anführung ihre performative ›Ereignishaftigkeit‹ behalten (vgl. Menke 2002), so würden auch Fotos den Betrachter heimsuchen und ihn herausfordern: »Erzählungen können uns etwas verständlich machen. Fotos tun etwas anderes: sie suchen uns heim und lassen uns nicht mehr los« (Sontag 2005: 104). Anders als Narrative, die erklären, sind Fotos für Sontag Spektren, »living deads« und »revenants«, die das Vergangene oder Abwesende durch ihr Erscheinen vergegenwärtigen. Obwohl geisterhaft, sind sie keine Simulakren im Sinne Baudrillards, sondern eher mit Derridas ›Spektren‹ verwandt, weder lebendig noch tot, – das Gedächtnis einer Politik ›out of joint‹ (vgl. Derrida 2004). Stumm wie sie sind, bedürfen Fotografien eines Kommentars oder einer Bildlegende, die sie erklären – aber auch verfälschen können (Sontag 2005: 17): »Die fotografisch vermittelte Erkenntnis der Welt ist dadurch begrenzt, dass sie, obzwar sie das Gewissen anzustacheln vermag, letztlich doch nie ethische oder politische Erkenntnis sein kann. […] Gerade in der Stummheit dessen, was auf Fotografien hypothetisch verstehbar ist, liegt deren Reiz und Herausforderung.« (Sontag 2004: 29) Als Beispiel eines nicht zufrieden stellenden Narrativs führt Sontag den Kommentar des Auslandskorrespondenten der New York Times, John Kifner, zu Havivs Bijeljina-Fotografie an, in dem mit einem deiktischen 243

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Gestus auf die Evidenz des Fotos zurückverwiesen wird: »Das Bild ist vollkommen nüchtern, eines der eindringlichsten aus den Balkankriegen: ein Angehöriger der serbischen Miliz versetzt einer sterbenden muslimischen Frau im Vorübergehen einen Tritt gegen den Kopf. Das sagt einem alles, was man wissen muss.« (Sontag 2005: 104).3 Sontag widerspricht dieser tautologischen Bemerkung: »Selbstverständlich sagt uns dies nicht alles, was wir wissen müssen« (ebd.: 104). In ihrer Ekphrasis reagiert sie nicht nur auf die kommentarlose Rückkoppelung mit dem stummen Foto, sondern auch auf die Belebung des Bildes, die das ›Standbild‹ in ein bewegtes ›Non-Stop-Bild‹ on the loop transformiert. »Von hinten sehen wir einen uniformierten serbischen Milizionär, eine jugendliche Gestalt, die Sonnenbrille ins Haar hochgeschoben, eine Zigarette zwischen dem zweiten und dritten Finger der erhobenen linken Hand, ein Gewehr in der Rechten, der mit dem rechten Fuß ausholt, um eine Frau zu treten, die mit dem Gesicht nach unten zwischen zwei anderen Leibern auf dem Gehweg liegt. Das Foto sagt uns nicht, dass sie eine Muslimin ist, obwohl sie kaum etwas anderes sein kann, denn warum sollten sie und die beiden anderen sonst dort unter den Blicken einiger serbischer Soldaten wie tot (warum ›sterbend‹) auf der Straße liegen? Eigentlich sagt uns dieses Foto sehr wenig – allenfalls dies: dass der Krieg die Hölle ist und dass mit Gewehren bewaffnete, schlanke junge Männer imstande sind, dickliche ältere Frauen, die, hilflos oder schon getötet, auf der Straße liegen, gegen den Kopf zu treten.« (Ebd.: 105)4

Die Beschreibung des Korrespondenten verleiht dem mortifizierenden Medium der Fotografie eine ihm fremde Geste der Wiederbelebung: Durch die Ersetzung des Adjektivs »tot« (»dead«) durch den Partizip I. »sterbend« (»dying«), wird die bereits Tote durch den dramatischen Modus der Be3. Sontag 2003: 90. »The image is stark, one of the most enduring of the Balkan wars: a Serb militiaman casually kicking a dying Muslim woman in the head. It tells you everything you need to know.« 4. Sontag 2003: 90. »From behind, we see a uniformed Serb militiaman, a youthful figure with sunglasses perched on the top of his head, a cigarette between the second and third fingers of his raised left hand, a rifle dangling in his right hand, his right leg poised to kick a woman lying face down on the sidewalk between two other bodies. The photograph doesn’t tell us that she is Muslim, though she is unlikely to have been labelled in any other way, for why would she and the two others be lying there, as if dead (why ›dying‹), under the gaze of some Serb soldiers? In fact, the photograph tells us very little – except that war is hell, and that graceful young man with guns are capable of kicking overweight older women lying helpless, or already killed, in the head.«

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schreibung wiederbelebt, doch nur, um sie einige Sekunden später erneut sterben zu lassen. Das belebte Bild bringt keine Erlösung, keine renaisscance, sondern eine re-venance. Es verlängert die Qual des Opfers zu einem zweiten Sterben – diesmal ausgelöst durch den Stoß des bestiefelten Fußes. Der Tritt des Milizionärs hat den Kommentator dazu verführt, den streifenden, flüchtig fotografischen Blick (glance, coup d’œil) mit Zeit zu ›füllen‹ und ihn zu einem starren, anhaltend voyeuristischen Hinschauen auf das Sterben zu verlängern (gaze, regard) (vgl. Bryson 2001: 117-162). Das Bild ›danach‹ wird in ein bewegliches Aktionsbild des sozusagen »fruchtbaren Augenblicks« des Dramas transformiert. Das singuläre Ereignis wird durch die Re-Produktion nicht nur vervielfältigt, sondern auch re-animiert. Das alte Thema des paragone – des Wettstreites der Künste in ihrer Fähigkeit, die Realität zu übertreffen, d.h. hier von Foto und Ekphrasis – wiederholt sich unter den neuen medialen Bedingungen der ›Echtzeit‹ und der Simulakren. Wie der homo sacer laut Giorgio Agamben (2002: 101-113) als »lebender Toter« bzw. »toter Lebender« durch die paradoxe Koexistenz eines vollkommenen Ausschlusses und einer vollständigen Vereinnahmung in einem Oxymoron von Leben und Tod gefangen ist, werden auch die Opfer auf Havivs Foto zu homines sacri des Mediums.

3. Der Kr iegsfotograf – ein Beruf an der Schwelle In ihrem frühen Buch »Über Fotografie« (1977) charakterisiert Sontag das Fotografieren als einen paradoxen Akt der Beglaubigung und Verweigerung einer Erfahrung, indem die Betätigung der Kamera im Laufe eines Ereignisses eine Alternative zur erforderlichen Handlung bietet. Der Fotograf verwandelt das Ereignis nicht nur in ein Abbild, in ein Souvenir wie die Postkarte. Darüber hinaus ist »das Hantieren mit der Kamera […] beruhigend und mildert das Gefühl der Desorientierung. […] So wird die Erfahrung in eine feste Form gebracht: stehen bleiben, knipsen, weitergehen« (Sontag 2004: 14f.). Das Fotografieren, wie es Sontag in den 1970er Jahren beschreibt, ist eine Ersatzhandlung mit selbsttherapeutischer Wirkung. Es ermöglicht, nicht nur die Bewegung des Körpers, sondern auch den Ablauf des Ereignisses zu steuern – es durch die Einrahmung zu isolieren, aus dem Zeitfluss herauszureißen und in einer Folge von festgehaltenen Augenblicken neu zu strukturieren. Das willkürlich verlaufende Ereignis, zerlegt in ein Verlaufsmuster, wird durch die Steuerung bewältigt – ähnlich wie bei Freud der Wiederholungszwang sowohl das Trauma als auch dessen Selbsttherapie enthält. So wie Freuds Enkelkind die zeitweilige Trennung von den Eltern im Spiel mit Hilfe des symbolischen Gegenstan245

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des der Spule als Zeichen-Objekt, die begleitet von den Ausrufen »fort« und »da« weggeworfen und wieder an einem Faden herbeigezogen wird, bewältigt, so kann auch der Fotograf durch den Ausschnitt und den Zoom die Nähe und die Ferne des Ereignisses steuern. Eine Fotografie ist für Sontag daher »nicht nur das Ergebnis der Begegnung zwischen einem Ereignis und einem Fotografen. Eine Aufnahme zu machen, ist selbst schon Ereignis, und zwar eines, das immer mehr gebieterische Rechte verleiht: sich einzumischen in das, was geschieht, es zu usurpieren oder aber zu ignorieren. Unsere Einstellung zur jeweiligen Situation wird jetzt durch die Einmischung der Kamera artikuliert« (ebd.: 17). Das Fotografieren macht aus dem Ereignis ein anderes, indem sich der Fotoapparat als ein Drittes, eine Art Prothese, zwischen das Ereignis und den Fotografen schiebt. Obwohl das Fotografieren für Sontag ein Akt der Nicht-Einmischung ist, ist es zugleich auch »mehr als nur passives Beobachten«, es ist »eine Form der Zustimmung, des manchmal schweigenden, häufig aber deutlich geäußerten Einverständnisses damit, dass alles, was gerade geschieht, weiter geschehen soll« (ebd.: 17). Dennoch gehört das Fotografieren für Sontag zu den Handlungen, »die, anders als der Geschlechtsakt, aus der Entfernung und auch mit einer gewissen inneren Distanz ausgeübt werden können« (ebd.: 19). Die Handlungsalternative, die Sontag dem Fotografen zuerst noch gewährt, wird an dieser Stelle wieder zurückgenommen. Seine zwischen Handeln und Nicht-Handeln gespaltene Rolle betriff t ausschließlich den physischen Teil des Handlungsaktes, die Aktion, nicht jedoch die innere Teilnahme. Das Fotografieren selbst wird zum paradoxen Akt, in dem das stumme Foto die Einstellung des Fotografen zum Ereignis artikuliert. Den Gewaltfotos schreibt Sontag 1977 einen obszönen, nahezu pornografischen Wert zu (ebd.: 26). Ihr wiederholtes Anschauen würde allmählich die fragile ethische Aussage aushöhlen und darüber hinaus Tabus brechen. Allein der Text, die Bildunterschrift oder der Kommentar, der das Bild konkretisiert, präzisiert und spezifiziert – d.h. zum singulären Ereignis macht – könne dem wiederholenden Erscheinen eines Fotos abhelfen und es aus seiner Allgemeinheit in eine bestimmte historische Situation überführen: »Die Bilder, die das moralische Gewissen mobilisieren, beziehen sich immer auf eine bestimmte historische Situation. Je allgemeiner ihre Aussage ist, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass sie etwas bewirken« (ebd.: 22f.). In ihrem späteren Buch über die Kriegsfotografie »Das Leiden anderer betrachten« (2003) verteidigt Sontag dagegen das Betrachten von Gewaltfotos, solange diese ihre performative Kraft – die Verfolgung eines nicht verjährten Verbrechens als visuelle Zeugenaussage – noch nicht verloren hätten (Sontag 2005: 104). 246

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»Insofern konnte man sich verpflichtet fühlen, diese Bilder zu betrachten, so grausig sie waren. Denn gegen das, was sie zeigten, ließ sich in diesem Augenblick etwas tun. Andere Fragen kommen ins Spiel, wenn uns bislang unbekannte Fotos mit Schrecken aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit konfrontieren.« (Ebd.: 106)

Liegen die Taten zeitlich weit zurück – wie etwa bei den Fotos schwarzer Lynchopfer – macht einen das Betrachten solcher Bilder laut Sontag zu bloßen Zuschauern. Die Taten sind in diesem Fall bereits musealisiert und besitzen ausschließlich Ausstellungswert. Durch die Wende, die Sontag von ihrem ersten (1977) zu ihrem zweiten Buch (2003) über die Fotografie vollzieht, versucht sie nicht nur jene ambivalente Schwellenposition des Kriegsfotografen zwischen Passivität und Aktivität, zwischen Opfer und Täter zu kaschieren, in der sich für sie vorher doch selbst jeder beliebige Amateur befand. Indem sie in ihrem späterem Text Fotos zum faktischen Beweismaterial macht, versucht sie diese gegen Baudrillards Simulakren zu verteidigen, um ihre Performativität zu wahren. Auch Sudetic stellt Haviv als eine ambivalente Gestalt dar, welche die Grenze seines Berufes als Journalist und als Künstler überschritten habe. Der Fotograf stehe auf einer Schwelle, jenseits derer er nur noch die Wahl habe, entweder brutal behandelt bzw. selbst brutal zu werden. »It is equally important to understand that it required something beyond the hunger for a good photograph to stand in the middle of the street and point a camera at a gunman thrusting his boot into an old woman’s head. It demanded more than artistic vision to stand a few feet away from a pleading Muslim and snap a picture as his captors were about to drag him off and kill him. Making and publishing these photographs required courage of a higher sort. The brutal power of these images is derived from the fact that the photographer dared to risk being brutalized himself.« (Sudetic 2000: 17)

Die ambivalente Formulierung »being brutalized« schwebt zwischen einer passiven und einer aktiven Teilnahme am Gewaltakt. Ähnlich wie Sontag, die den Fotografen in ihrem frühen Werk moralisch belastet und dann wieder entschuldigt, ruft Sudetic dem fotografischen Kriegsberichterstatter am Ende der Erschießungspassage das berühmte Motto Robert Capas zur Hilfe: Zum Beruf des Fotoreporters gehöre es, so nah am Ereignis zu sein wie möglich. Der Aspekt der Alternativhandlung schließt eine andere Art Handlung als die fotografische vollkommen aus. Beide Diskurse über die Fotografie, der konkrete von Sudetic und der theoretische von Sontag, exponieren die Schwellenposition des Fotografen zwischen dem Ereignis und seiner Bildwerdung. 247

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Nähe bei gleichzeitiger Distanz, Handlung bei gleichzeitiger Passivität und die moralische Bedrohung bei physischer Unversehrtheit machen aus einem Kriegsfotografen einen problematischen Zeugen. Dem Problem der Zeugenschaft widmet sich Agamben (2003, 14f.) im dritten Teil seiner homo sacer-Trilogie, »Was von Auschwitz bleibt« (1998), in der er ausgehend von der lateinischen Etymologie zwischen dem Zeugen als testis (dem Dritten in einem Prozess zwischen zwei Parteien) und dem Zeugen als superstes (dem Mit-Erlebenden und Überlebenden) unterscheidet. In der Funktion des superstes werden laut Agamben nicht nur ethische und juristische Kategorien auf problematische Weise miteinander vermischt. Auch auf der Ebene der Versprachlichung kommt es zu einer Überschneidung zweier Erzählinstanzen: Als Bevollmächtigter leiht der Zeuge den nicht mehr Lebenden seine Stimme. Seine Rede, die zugleich das Ich und die stummen Toten umschließt, ist den paradoxen Prozessen der Subjektivierung und Entsubjektivierung ausgesetzt (ebd.: 101ff.). Anders als im Archiv, wo nach Agamben das Subjekt als bloße Funktion und leere Position anonymisiert und außer Kraft gesetzt wird, ist in der Zeugenschaft der leere Platz des Subjekts entscheidend (ebd.: 126). Der Zeuge agiert als eine Art »Shifter« (Jakobson) bzw. »Indikator der Äußerung« (Benveniste), der zwischen langue und parole, zwischen virtueller Potentialität und aktueller Realisation vermittelt (Agamben 1991: 24f.). Übertragen auf den Fotoreporter manifestiert sich diese doppelte Auffassung der Zeugenschaft in der Bestimmung der Funktion von Fotografien. Ist ein Fotograf der Zeuge im Sinne von testis, haben seine Aufnahmen den Status von Beweisstücken, die als reine Evidenzen und Denotate stumm für sich selbst ›sprechen‹ – mit dem deiktischen Gestus des Zeigens. Sie verleihen sowohl den Opfern als auch den Tätern ein Gesicht. Selbst bedroht, kann der Kriegsfotograf sich auch als superstes auffassen, als Überlebender, der das Ereignis an Stelle der Nicht-Überlebenden bezeugen kann. In diesem Fall verleihen seine Fotos den Opfern ›Stimme‹, ›machen Aussagen‹, ›erzählen Geschichten‹ und überschreiten damit die Grenze von der Denotation zur Konnotation. Das Paradoxon des subjetivierenden und entsubjektivierenden, des menschlichen und des entmenschlichten, verdinglichten Sprechens kann der Fotograf gerade mit Hilfe der Kamera ausdrücken, die er als eine belebt-unbelebte Instanz zwischen sich und die Opfer schiebt. Doch sollte es dem Fotografen nicht gelingen, die Fotos zu machen, wird seine Rolle als Zeuge in beiden Auffassungen problematisch: Da er weder stumme Beweisstücke liefert noch die Stimme der Verstorbenen artikuliert, wird er zum Flaneur oder gar Voyeur. Wie irritierend die Verwechslung des Zeugen mit dem Voyeur für den Fotografen ist, zeigt Ha-

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vivs Beschreibung des Ereignisses in Bijeljina in den »Notes«, außerhalb des Erzählrahmens. »The shooting muffled the sound of my camera and I snapped a few photographs of the executions. I was terrified that the Tigers had seen me sneak the pictures, but they hadn’t. I walked back toward another group of the soldiers by the mosque who had captured a teenage boy. The kid struggled and broke free and tried to escape but came up against a wall. The Tigers shot him in the back. As they got orders to move on, I walked into the middle of the street as several soldiers came around a corner, raised my camera to take a few pictures of the civilians the Tigers had executed. I could do nothing to stop the killings, but I could at least document them. As I pressed my finger down to take the shot, a soldier walked into the frame and kicked the bodies. I fired a few more frames and when the soldiers turned toward me, I forced a smile and said, ›Let’s go.‹ They laughed and moved on. I’ll never understand why.« (Haviv 2000: 188f.)

Da die Milizionäre nicht bemerkt hatten, dass sie fotografiert wurden, hielten sie Haviv für einen Voyeur; Das Lachen, das Haviv nicht verstehen möchte, war das zustimmende Lachen eines Komplizen. Während der Essay von Sudetic inhaltlich vor allem dem Verhältnis von Ereignis und Foto gewidmet ist, behandelt der zweite Essay »That these photographs exist« von David Rieff die Beziehung von Foto und Narrativ. Rieff, der sich 1993 wie Susan Sontag monatelang im belagerten Sarajevo aufhielt und das Buch »Slaugterhouse. Bosnia and the Failure of the West« (New York 1995) verfasst hat, sieht in Haviv zwar einen Zeugen und Chronisten, doch scheint auch ihm der Kriegsfotograf durch seinen Beruf sowohl physisch als auch moralisch gefährdet: »It is a dangerous enterprise, morally almost as much as physically« (Rieff 2000: 21). Er erkennt zwar Havivs Fähigkeit an, den dramatischen Höhepunkt erfassen zu können, hebt jedoch die Bedeutung des Augenblicks danach hervor, in dem er bei den Opfern verweilt: »He is a superb action photographer, but what he is drawn to, above all else, are the victims of conflicts – civilians, prisoners, those grieving for lost loved ones.« (Ebd.: 22) Mit der Verschiebung vom dramatisch belebten Höhepunkt zum statischen Moment des Danach erfolgt auch die Verschiebung der Teilnahme des Fotografen, der sich zuerst den Tätern, aber dann wieder den Opfern zuwendet. Indem Rieff den Fotos jegliche Sentimentalität oder Ästhetik abspricht, macht er sie zu Beweisstücken krimineller Handlungen. Als Dokument ist das Foto für Rieff vor allem das stumme Medium des Gedächtnisses, das jedoch nicht die Fähigkeit besitzt, eine Aussage zu machen. Ganz im Sinne Sontags konstatiert er: »We may understand through narrative, but we remember through pho249

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tographs.« (Ebd.: 21) Dennoch gebe es einige Fotos, die die Fähigkeit besäßen, ein Ereignis wie ein Gleichnis oder ein Resümee zu summieren: »Haviv’s most famous photograph, and justifiably so, is almost certainly the picture he took in the eastern Bosnian town Bijeljina in 1992 of a Serb paramilitary kicking a Bosnian prisoner. For almost every correspondent who covered the Bosnian war his image sums up what took place there. There, before you, is the face of ethnic cleansing. The photograph is almost a parable for what took place in Bosnia, which was not war in any traditional sense, but slaughter; not the clash of armies, but the destruction by soldiers of civilians.« (Ebd.: 22)

Rieff verzichtet zwar auf das ekphrastische Narrativ, literarisiert aber dennoch das Foto. Das Foto selbst, die Monstration der ethnischen Säuberung im einmaligen, konkreten Ereignis, wird zum Schlagwort bzw. zum Exemplum. Das Ereignis wird aus seiner indexikalischen Singularität in die ikonische Typizität überführt und aus dem Foto in ein ›Bild‹ des Schreckens verwandelt. Der dritte Erzähler, Mitbegründer der Organisation »Ärzte ohne Grenzen«, Bernard Kouchner, heute Außenminister Frankreichs, damals Minister für Gesundheit und humanitäre Angelegenheiten in Frankreich wie auch Administrator der Vereinten Nationen im Kosovo, zudem Autor des Buches »Les guerriers de la paix. Du Kosovo à l’Irak« (Paris 2004), resümiert in seinem Essay »Memories of the future« Europas politische Einstellung zum Balkan. Der Fotograf ist für ihn ein Rhapsode des BalkanDramas, der unerträgliche Bilder vor dem Betrachter enthüllt: »The talent of this raconteur of the Balkan drama is not the problem. But the reality he reveals, intensifying through these pages, seems almost unbearable to the viewer« (Kouchner 2000: 179). Havivs Fotos führten das vor Augen, was jeder bereits vom Balkan wisse – nähmlich, dass »this word remains as the synonym of a fatal chain, a nationalist complexity of irreversible proportions leading to disaster« (ebd.: 180). Kouchner nimmt die Fotos nicht in ihrer dokumentarischen Einmaligkeit wahr, sondern als Materialisierung eines mentalen Balkan-Bildes, in dem sich das kulturelle Klischee verfestigt hat. Sämtliche Kommentare zu dem Foto aus Bjeljina bewegen sich vom Konkreten und Singulären zum Allgemeinen, Wiederholbaren oder Iterativen: sie verweisen auf andere Bilder, wiederholen die Ekphrasis, werden zum fotografischen Metatext, zum Exemplum oder zum kulturellen Klischee. Sie sind Symptome einer Krise des Dokumentarischen, in der man es nicht vermag, über ein singuläres Ereignis eben als ein einmaliges zu berichten – weder im Sinne eines nachträglichen Konstativs, noch eines Performativs als einem zweitem Ereignis, wie Derrida (2003: 18-22) die »unmögliche Möglichkeit«, über eine Ereignis zu sprechen, umschreibt. 250

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Der fünfte Erzähler, der Fotograf selbst ex post, hebt in »Ten years later« vor allem die doppelte Erzählposition des Fotografen hervor, der jede Story zweimal – aus der Perspektive der Täter und der Opfer – erzähle: »I photographed both sides, hoping to show the world what was happening. I tried to see the difference between the two sides, hoping to show the world what was happening. I tried to see the difference between the two sides, but in the end, I realised they were both the same: people who had been manipulated for power and greed« (Haviv 2000: 183). Das zweifache, doppelte Erzählen ein und derselben Story aus zwei Blickwinkeln hätte dazu geführt, dass der Fotograf sogar mit einem Spion verwechselt wurde. »At first, all fractions in the war saw journalists as fair and impartial tellers of their story. But as the war continued, the various fractions began to realise that their story would not be the only one told. They became hostile towards the press. We became targets and the war became more dangerous. In the first six months, more than thirty journalists were killed. More often than not my day would include at least one arrest from one side determined to have its story told. Once it went further. In 1994, Serbian forces accused me of being a spy. They interrogated and beat me for several days before releasing me.« (Ebd.: 183)

Die Schwellenposition des Fotografen drückt sich hier auch im Janus-Gesicht einer prinzipiell möglichen doppelten Spionage aus.

3. Der Exzess der Bilder: Das Kreisen der Kr iegsmetaphern und -metonymien Noch bevor Haviv und Sontag das Foto aus Bijeljina kommentierten, hatte Jean-Luc Godard in seinem kurzen Video »Je vous salue, Sarajevo« (2:14 Min) aus dem Jahre 1993 das Foto aufgegriffen. Godard, der erst 1996 als Gast der Vortragsreihe »Rencontres européennes du livre« Sarajevo besuchte, setzte sich in drei seiner späten multimedialen Filme mit dem Bosnien-Krieg auseinander. Alle drei spielen in ihren Titeln auf Musik an – »For Ever Mozart. On ne badine pas avec l’amour à Sarajevo« (1996) (vgl. Lommel/Winter 1997), »Éloge de l’amour« (2001) und »Notre musique« (2004). In all diesen Filmen, insbesondere im letzten, verknüpft er einzelne Ausschnitte aus Spiel- und Dokumentarfi lmen über den Krieg zu einer ununterscheidbaren Bilderreihe (vgl. Fahlenbrach 1997; Kolohitha 2005: 127-130). Mit Schuss und Gegenschuss von Fiktionalem und Dokumentarischem – worüber Godard in Notre musique einen metapoetischen Vortrag in Sarajevo hält, begleitet von einer simultanen Übersetzung ins Bosnische 251

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– macht er Bosnien nicht nur zur Metapher des Krieges, sondern auch zum Kollisionsort von fi ktiven und faktischen Bildern (Thiele 2006). Godards Montage verteidigt Georges Didi-Huberman in »Bilder trotz allem« (2003) nicht vor dem Hintergrund der modernen Balkan-Kriege, sondern vor dem der französisch-jüdischen Debatte um die Darstellbarkeit der Shoah. Dem fotografischen Bild des Holocaust würde man Totalität und Wahrheit abverlangen. Doch könnten die wenigen Bildzeugnisse angesichts ihres fragmentarischen Charakters und ihrer Lückenhaftigkeit diesem Anspruch niemals gerecht werden (Didi-Huberman 2007: 81-131). Dem Foto unterstelle man daher nicht nur die Verdeckung der Realität, sondern auch die Vernichtung des Gedächtnisses. Im gleichen Zuge werde der Betrachter eines perversen Voyeurismus oder gar Fetischismus beschuldigt. Didi-Hubermans Argumentation für das fotografische Bild der Shoah begründet er mit dem Erkenntniswert des Fotos, der vor allem durch die dialektische Kraft der Montage erzeugt werde, die eine erweiterte und komplexere Perspektive eröff ne und die Totalität in Vielfältigkeit transformiere (ebd.: 174).5 Der Repräsentant eines solchen »barocken« Umgangs mit Bildern ist für Didi-Huberman Jean-Luc Godard mit seiner »zentrifugalen« Form der Montage in »Histoire(s) du cinéma« (1988-98), die »alles mit allem« montiere und fi ktive und faktische Bilder miteinander kollidieren lasse (ebd.: 180ff.). Der »visuellen Überschreitung« von Godards Montage nähert sich Didi-Huberman durch eine Archäologie der Lesbarkeit von einzelnen Bildsequenzen, in der sich diese zu einer gemeinsamen Geschichte des Kriegs- und Kinobildes zusammenfügen (ebd.: 208). Obwohl Didi-Huberman vom »Exzess« der Bilder spricht, zieht er überraschenderweise keinen Vergleich zwischen Godard und Georges Batailles‹ »Die Geschichte des Auges«. In beiden Fällen kann man ein Wandern, ja Kreisen des Objekts durch seine Metaphern und Metonymien feststellen, die Roland Barthes in seinem frühen Essay »La métaphore de l’œil« (1963) beschreibt (Barthes 1989: 488-495). Wie bei Batailles das Auge metonymisch zu anderen Objekten (Ei, Hoden) wird und andere Substanzen annimmt (Milch, Eiweiß, Sperma, Tränen, Urin), so kreist auch der Krieg bei Godard aleatorisch, ohne jegliche Hierarchie von einem zum nächsten Bild, vom Faktischen zum Fiktiven, vom Bild zum Text oder zur Musik. Ähnlich verfährt Godard auch mit Havivs Foto, das er in einzelne, immer größer werdende Bildausschnitte zerlegt, die wie in einer Diaprojektion als unbewegliche ›Standbilder‹ aufeinander folgen. Die Bildsegmente werden 5. Bereits Sergej Eisenstein hat Ende der 20er Jahre ein dialektisches Montagekonzept entworfen, das nicht der Vielfältigkeit, sondern der totalitären Steuerung des Zuschauers diente. Montierte Bilder sollten auf den Betrachter eine beinahe reflexartige Wirkung ausüben (vgl. Eisenstein 1979).

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von einem Text begleitet, den Godard vorliest, und von einem sakralen Musikstück des estnischen Komponisten Arvo Pärt untermalt. Die Gesetzmäßigkeiten sowohl des filmischen als auch des fotografischen Genres werden dabei suspendiert. Isolierte Ausschnitte, die keinen Überblick gewähren, erscheinen dem Betrachter eher als Schnitte im Zeit-Raum-Kontinuum anstatt dieses in Bilder zu fassen. Die Details einzelner Fotosegmente, obwohl stark vergrößert und in die Nähe gerückt, werden nicht besser sichtbar, sondern verlieren im Gegenteil ihre Schärfe in der porösen Matrix des Bildträgers. Robert Capas Maxime – »If your pictures aren’t good enough, you’re not close enough« – wird dadurch widersprochen. Der Augenblick der fotografischen Fixierung wird für einige Sekunden angehalten und ausgedehnt, ohne dass das Foto in einzelne Sequenzen wie in einer Fotoserie zerlegt oder in ein filmisches Bewegungsbild transformiert würde. Vielmehr werden einzelne Ausschnitte wie in einem Puzzle nacheinander zusammengefügt. Die Spannung eines Aktionsfilms wird durch den beunruhigenden Mangel an Übersicht und Voraussehbarkeit des Geschehens ersetzt. Das studium des Fotos als verschlüsselte Menge ›sprechender‹ Botschaften und Repräsentationen wird in ein Nacheinander von stechenden puncta, in ›stumme‹, unmittelbare sinnliche Präsenzen ohne Botschaft, zerlegt (vgl. Barthes 1985: 33-37; Rancière 2005: 17f., 23, 41). Erst am Schluss zeigt sich das ganze Foto in seiner monströsen Epiphanie, bevor es wieder in die Dunkelheit verschwindet. Die Simultaneität des Bildes wird zwar ins Narrativ-Sukzessive überführt, doch verläuft das Bildnarrativ nicht linear wie ein Ereignis, sondern folgt eher der Logik eines Andachtsbildes (vgl. Hausherr 1975; Lentes 2004: 13-73). Wie die arma Christi (vgl. Suckale 1977), d.h. wie die Wunden und die Leidenswerkzeuge Christi, führen auch die Fotoausschnitte den Betrachter über einzelne Stationen des ›Kreuzwegs‹, die nicht in einem zeitlich-kausalen, sondern in einem kontemplativen Stufenweg aufeinander folgen. Dem Betrachter wird die Augenzeugenschaft verweigert, dafür eine körperlich einfühlende Zeugenschaft abverlangt. Der von Godard vorgelesene Text ›reimt‹ sich mit einzelnen Bildausschnitten und tritt mit ihnen in ein paradigmatisches Verhältnis. »Auf eine Art, sehen Sie, ist die Angst trotz allem die Tochter Gottes, freigekauft in der Nacht des Karfreitags. Sie ist nicht schön anzuschauen, nein, mal verspottet, mal verflucht, gemieden von allen. Und trotz alldem, irren Sie sich nicht. Sie steht am Kopf des Bettes bei jedem Todeskampf, sie tritt für den Menschen ein. Denn es gibt die Regel, und es gibt die Ausnahme. Es gibt die Kultur, die die Regel ist, und es gibt die Ausnahme, die die Kunst ist. Alles spricht die Regel aus, Zigarette, Computer, T-Shirt, Fernsehen, Tourismus, Krieg. Niemand spricht die Ausnahme aus, so etwas sagt man nicht, das schreibt man: Flaubert, Dostojewski, so etwas komponiert man: Gershwin, Mozart, so etwas

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malt man: Cézanne, Vermeer, so etwas nimmt man auf: Antonioni, Vigo. Oder so etwas lebt man, und dann ist es die Lebenskunst: Srebrenica, Mostar, Sarajevo. Es gehört daher zur Regel Europas und der Kultur, den Tod der Lebenskunst zu organisieren, die noch blüht. Wenn man das Buch schließen muss, wird dies geschehen, ohne dass irgendetwas bedauert wird. Ich habe so viele Menschen so schlecht leben gesehen, und so viele Menschen so gut sterben.«6

Der Titel des Videos stellt einen intertextuellen Bezug zum früheren Film Godards, »Je vous salue, Marie« (1984) her – betitelt nach dem Verkündigungsgruß des Erzengels Gabriel an Maria –, in dem er das sakrale Thema, das Leben der Heiligen Familie, in den französischen Alltag verpflanzt. Auch das Foto von Bijeljina, transformiert zum Video, wird auf der Ebene des Textes, der Bilderfolge und vor allem durch die begleitende Kirchenmusik Pärts sakralisiert. Die Stimme Godards aus dem Off ertönt, als wäre er ein Gesandter des Himmels, ein Engel der Geschichte, der über die Angst im Todeskampf wacht. Doch das gesprochene Wort annulliert sich selbst, indem es sagt, dass die Ausnahme nicht gesagt, sondern nur geschrieben, komponiert, gemalt, im Bild festgehalten oder gelebt werden kann. Die Stimme kann die Ausnahme nicht sagen: in ihrem Bann kann sie nicht mehr sprechen, außerhalb ihres Bannes verfehlt sie die unmittelbare Präsenz. Godard versucht nicht, die Stimme der Toten im Ausnahmezustand wiederzugeben, sondern er leiht seine Stimme einer transzendenten Instanz, die über Vermittler und Mediatoren spricht. Dennoch bringt die Sakralisierung des Fotos keine Erlösung, sondern vergrößert eher den Riss zwischen Heilung und Verdammnis, Erhabenheit und Fluch. Der Rhythmus der Sprache korrespondiert mit dem der Ausschnitte, die aus dem Foto isoliert werden, wobei die Kultur und die Regel mit den Tätern, 6. Godard/Miéville 2006: 89, 92; »En un sens, voyez-vous, la peur est tout de même la fille de Dieu, rachetée la nuit du vendredi saint. Elle n’est pas belle à voir, non, tantôt raillée, tantôt maudite, renoncée par tous. Et cependant, ne vous y trompez pas. Elle est au chevet de chaque agonie, elle intercède pour l’homme. Car il y a la règle, et il y a l’exeption. Il y a la culture qui est de la règle, il y a l’exeption qui est de l’art. Tous disent la règle, cigarette, ordinateur, tee-shirt, télévision, tourisme, guerre. Personne ne dit l’exeption, cela ne se dit pas, cela s’écrit: Flaubert, Dostoϊevski, cela se compose: Gershwin, Mozart, cela se peint: Cézanne, Vermeer, cela s’enregistre: Antonioni, Vigo. Ou cela se vit, et c’est alors l’art de vivre: Srebrenica, Mostar, Sarajevo. Il sera donc de la règle de l’Europe de la Culture d’organiser la mort de l’art de vivre qui fleurit encore. Quand il faudra fermer le livre, ce sera sens regretter rien. J’ai vu tant de gens si mal vivre, e tant de gens mourir si bien.«

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die Kunst und die Ausnahme mit den Opfern auf dem Foto in Verbindung gebracht werden. Die Kultur als kodiertes Regelsystem spricht durch ihre Waren: Zigarette, Krieg, Tourismus, T-Shirt, Fernsehen, Computer – korrespondierend mit den entsprechenden Worten des Kommentars sehen wir die Hand des Milizionärs mit der Zigarette (Abb. 2).

Abbildung 2 u. 3: Jean-Luc Godard, Je vous salue, Sarajevo, Video, 1993 Wie später Haviv in seiner Monografie, der verrät, dass einer der Milizionäre englisch mit australischem Akzent sprach, macht hier Godard bereits diese Gestalt zum Kriegstouristen. Die Kunst als Ausnahme manifestiert sich in den literarischen Werken Flauberts und Dostojevskijs, in der Musik Gershwins und Mozarts, in den Gemälden Cézannes und Vermeers, in den Filmen Antonionis und Jean Vigos wie auch in der Lebenskunst der Menschen von Srebrenica, Mostar und Sarajevo. Das Video fokussiert bei diesem bekenntnishaften Kanon auf die am Boden liegenden Toten (Abb. 3). Es sind nicht die Milizionäre Arkans oder das Milosević-System, die hier die bosnischen Zivilisten töten. Folgt man Godards ›Reim‹ aus Text und Bild, tötet hier Europa im Namen der Regel die Ausnahme, d.h. die Kunst und zugleich die Lebenskunst, wie sie in Srebrenica, Mostar und Sarajevo überlebt hat. Dazu sehen wir den Ausschnitt des Fotos mit den Händen der beiden Milizionäre am Abzug ihrer Gewehre (Abb. 4, 5).

Abbildung 4 u. 5: Jean-Luc Godard, Je vous salue, Sarajevo, Video, 1993 255

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Godard hat die Städtenamen noch vor dem Massaker in Srebrenica 1995 aufgeschrieben. In seinem autoreflexiven fi lmischen Selbstporträt »JLG/JLG« (1994) wird gezeigt, wie Godard am Schreibtisch sitzend seinen Text zum Video »Je vous salue, Sarajevo« komponiert und dabei immer wieder modifiziert und verbessert. Zwischendurch werden zwei Filmaufnahmen vom Genfer See einmontiert – eine, auf der die Wellen laut gegen die Ufer anrollen und eine zweite mit gefrorenem See – wie auch zwei leere Seiten aus Godards Tagebuch mit dem Titel »Donner á vivre« und »Ventóse«, dem Monat mit dem meisten Wind (Monat des republikanischen Kalenders, eingeführt 1793). Auch hier ist im Hintergrund die Musik Pärts zu hören. Beim Verfassen der letzten Zeilen nimmt Godard Aragons Gedichtsammlung »Le Crève cœur« (1941) in die Hand und liest aus ihr zwei Zeilen, mit denen auch sein Text im Video endet: »Quand il faudra fermer le livre, ce sera sens regretter rien. J’ai vu tant de gens si mal vivre, e tant de gens mourir si bien« (vgl. Pourvali 2006: 61f.). Diese Strophe hat er jedoch nicht »Le Crève cœur«, sondern dem Gedicht »Bien sûr que ce n’est pas un monde« aus der späteren Gedichtsammlung »Le Nouveau Crève cœur« aus dem Jahre 1948 entnommen, die Aragon der Resistance und der Erinnerung an den Holocaust widmete (Aragon 1989: 155). Aragon beschreibt in seinem Essay »La rime en 1940«, wie in der Zeit des Krieges neue Reime entstehen, in denen sich alle Wörter reimen können. Ähnlich bündeln auch Godards ›Reime‹ von Bild, Text und Musik unterschiedliche Wörter und Bilder miteinander. In diesem ›Reim‹ wird der Ausnahmezustand zur Metapher der Kunst, der Normalzustand zu deren Tod, zur regelhaften Kultur. Die Lebens-Kunst ist ein Leben im Namen des Todes. Wie Aragon seinen Essays mit dem Satz beginnt, dass die Poesie für diejenigen, die keine Poeten sind, ein Skandal sei, dass zudem die Künstler die wahren Zeugen ihrer Zeit seien, so macht auch Godard die Kunst zum Zeugen des Krieges in Bosnien. Der radikal subjektivistische Tonfall Godards, dessen Stimme auch »Je vous salue, Sarajevo« prägt, ist ohne den Blick auf »JGL/JGL« nicht zu verstehen. In einer Marcel Proust nicht unähnlichen Perspektive des sich selbst analysierenden Ich (vgl. Deleuze 1964) spiegelt sich das eine Ereignis im anderen, das eine Bild in dem andern, im Text oder in der Musik. Im Anschluss an die Passage über die Redaktionsarbeit an dem Video über Sarajevo reflektiert Godard in seinem fi lmischen Selbstporträt über das Bild. Er glaubt nicht an die Bildschöpfung, sondern an die Annäherung von zwei weit auseinander liegenden, dafür aber genau aufeinander abgestimmten Wirklichkeiten im Bild, die Assoziationen auslösen. Diese fast surrealistische Definition des Bildes erklärt der rauchende Godard in der dunklen Kammer seiner Wohnung vor dem Fernsehschirm anhand der Wörter »Kristall« und »Rauch«, die »Kristallnacht« und »Rauchschwa256

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den« evozieren. Wie die beiden Wörter ein Drittes hervorrufen, springt auch das Bild der Stereophonie – zwei von Godard in umgekehrter Richtung übereinander gezeichnete Dreiecke – in die Geschichte über, wo sie zum jüdischen sechszackigen Stern werden. Wörter und Bilder bewegen sich bei Godard zwischen Kunst und Geschichte, zwischen dem fi ktionalen und dem Faktischen hin und her. In seinem Interview mit Michael Witt, betitelt »I, A Man of The Image« (2005), zitiert Godard den spanischen Schriftsteller Juan Goytisolo, den Autor des »Manuskripts von Sarajevo« (»Cahier de Sarajevo«, Strasbourg 1993),7 der ebenso wie Sontag die Belagerung Sarajevos miterlebt hat: »Just as our age has endless destructive force, so it now needs a revolution of a comparable creative force to reinforce memory, clarify dreams and give substance to images« (Witt 2005). Nach derselben Logik, mit der er die Kunst und den Ausnahmezustand miteinander ›reimt‹, verlangt Godard – Goytisolo zitierend – nach einer Revolutionierung des Bildes, die dem BosnienKrieg die Kraft des Memorierens, Klarheit und Substanz verleihen würde. Das Bild selbst wird zur Manifestation des Ausnahmezustandes – wie bei Jean-Luc Nancy »Am Grund des Bildes« (2003) (vgl. Zimmermann 2004). In der Kollision der Bilder, der Texte und der Musik, die Assoziationen auslösen, sieht Godard ein Mittel, sich gegen die Regel der medialen Vermitteltheiten zu wehren, doch zugleich macht er den Ausnahmezustand zur Quelle einer neuen Kunst. Allein die Kunst ist in der Lage, den Krieg zu erfassen – weil selbst Ausnahme von jeder Regel. Obwohl Godard die Kunst in den Dienst der Aktion gegen den Krieg stellen möchte, wird vielmehr der Krieg zum Kronzeugen der Kunst. Damit schließt er sich paradoxerweise der langen Reihe derer an, die den Krieg als »Jungbrunnen« und »Quelle der Erneuerung« gepriesen haben. Indem Godard die Kunst mit dem ›nackten Leben‹ reimt, entfernt auch er sich – wie die Massenmedien – von den Ereignissen in Bosnien und macht aus dem Bericht über sie einen metapoetischen Kunstdiskurs. In Dostoevskijs Schrift »Der Paradoxist« (1876), einem Dialog zwischen einem Kriegsenthusiasten und einem Pazifisten während des russisch-türkischen Krieges um den slawischen Balkan, beschreibt der Befürworter des Krieges diesen als Quelle der Erneuerung und Erfrischung der Wissenschaften und Künste, die zur Stärkung der Gedanken und neuem Antrieb führt (Dostojewski 2004: 192). Roger Caillois stellt in »Der Mensch und das Heilige« (1950) dar, wie der Krieg nicht als zufälliges Ereignis, 7. In Godards Film »Notre musique« liest Goytisolo inmitten der Brandruine der berühmten Bibliothek von Sarajevo aus seinem »Manuskript« vor, in dem er, so wie Sontag, dem passiven Europa die Schuld für die Ereignisse in Bosnien zuschreibt.

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sondern als Triebkraft des Universums zur Quelle der Zivilisation erklärt wird (Caillois 1988: 227). Als kosmisches Ereignis, das sich der menschlichen Kontrolle entzieht, wird er bei Caillois zur Norm des Universums, die religiöse Wertigkeit gewinnt. Ebenso wird der Ausnahmezustand in Bosnien durch seine Medialisierung in der europäischen Kultur von der Ausnahme zur Regel. So stellt auch der Sponsor und Herausgeber des Ausstellungskatalogs »Blut & Honig«, Karlheinz Essl, fest, dass »die Kunst an Intensität, Kraft, gar Brutalität gewinnt, je mehr man sich der von den kriegerischen Auseinandersetzungen besonders stark betroffenen Region nähert« (Essl 2003: 7). Im Gegensatz zum Holocaust-Topos ist der Bosnien-Krieg – obwohl immer wieder mit dem Holocaust verglichen – nicht mehr der Ort, an dem ein Riss zwischen Stummheit und Beredsamkeit, zwischen Undarstellbarkeit und Darstellbarkeit klaff t. In Text- und Bildnarrativen, im wiederholten, nachträglichen und unerträglichen Nach-Erzählen, im Wieder-Zeigen werden die primären Kriegsereignisse bis hin zur ethnischen Säuberung in verschiedenen medialen Erzählmodi reproduziert und, abgekoppelt vom Ereignis, als ›Text‹ oder ›Bild‹ rezipiert. Die Medien und Künste im Ausnahmezustand sind nicht in der Lage, über die Ausnahme als solche zu berichten.

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Erzfeind und Herzensbruder. Der Deutsche in sowjetischen Kr iegsnarrativen Natalia Borissova (Konstanz)

Die Figur des Feindes war einer der Grundsteine sowjetischer Ideologie. Sowjetische Staatlichkeit ging aus dem Bürgerkrieg hervor und bellizistische Rhetorik, etwa »die äußere und innere Front«, »der Kampf«, »der Sieg«, »die Mutprobe« war die Sprache ihrer Selbstbeschreibung. In dieser Sprache wurde sowohl in Zeiten des Krieges als auch in Zeiten des Friedens gesprochen, so dass auf der rhetorischen Ebene die Grenze zwischen Krieg und Frieden aufgehoben und der Eindruck einer permanenten Bedrohung geschaffen wurde, der das sowjetische Volk im Zeichen einer immerwährenden Gefahr zusammenschweißen sollte (vgl. Neutatz 2005). Als Feinde abgestempelt wurden politische Gegner, alte Eliten, soziale Gruppen, die sich in die neue Ordnung schwer inkorporieren ließen. Durch die Erklärung zum Feind wurden sie aus dem Diskurs ausgeschlossen, mit stereotypen Attributen versehen, mundtot gemacht oder schlichtweg vernichtet. Dafür, dass diese Rhetorik der permanenten Bedrohung ihre Gültigkeit behielt, sollte die ständige Präsenz des Feindes, des politischen Antagonisten sorgen. Diese Figur war so essentiell, dass das Fehlen eines glaubwürdigen Feindes, oder viel mehr die Unmöglichkeit, einen solchen hervorzubringen, das Ende der sowjetischen Gesellschaft herbeigerufen hätte, so Soziologe Lev Gudkov (Gudkov 2004: 602). Weder das kapitalistische Ausland, von dem allein – laut der sowjetischen Propaganda – die atomare Bedrohung ausging, noch die »unseriösen Feinde« der späten Sowjetzeit – Faulenzer, Trinker, die modebewussten »Pigeons« (pi žony, stiljagi), sogar politische Dissidenten – konnten als Gefahr dargestellt werden, 263

Natalia Bor issova

die den totalen Kampf gegen sie legitimieren und so den Zusammenhalt der sowjetischen Gesellschaft garantieren hätte können. Der deutsche Feind fungierte lange als Hauptsymbol für eine solche totale, zuerst imaginierte, dann reale und später erinnerte Gefahr, was man durchaus mit historischen Ereignissen erklären konnte. Er ist aber zugleich eine besondere Figur in den Reihen der sowjetischen Feinde. Allein an der Frequenz seiner Erwähnung gemessen, verdient er den Titel eines besonders favorisierten Feindes oder sogar eines »geliebten Feindes« (vgl. Ryklin 2000). Ihm stand eine besondere Rolle zu: Neben dem heldenhaften sowjetischen Volk war der deutsche Feind der zweite Hauptprotagonist in dem wichtigsten Drama der sowjetischen Geschichte – in dem Abschnitt des Zweiten Weltkrieges, der in der Sowjetunion als der »Große Vaterländische Krieg« bezeichnet wurde (22.06.1941-9.05.1945). Gerade weil ›der Deutsche‹ mit dem sowjetischen Hauptnarrativ so untrennbar verbunden war, war er lange (und ist immer noch) auf den Fernsehbildschirmen und in Kinos häufig zu sehen. Schrieb man Bücher über sowjetische Kriegshelden, agierte er als Kontrahent, seine Stärke und Blutrünstigkeit diente als Kontrast zu ihren Heldentaten. Die zahlreichen Geschichten vom deutschen Feind verdichteten sich synchron, wie diachron zu erzählerischen Metakonstruktionen (wie das Narrativ der »gerechten Rache« während des Krieges, die Narrative des Kampfes gegen »kapitalistische Aggression« in den 1950-1960er Jahren etc.), bis sich dieses Feindbild nach mehreren Jahrzehnten seines Fortbestehens auflöste und das Sujet der Konfrontation, mit dem über den Feind erzählt wurde, sich in einer erzählerischen »Hochzeit«, in einem Unio-Sujet auflöste. Paradoxerweise war innerhalb weniger Jahrzehnte gerade in dem Land mit den meisten Opfern im letzten Weltkrieg der verhasste ›deutsche Feind‹ nahezu zum ›geliebten Deutschen‹ geworden. Diese Wendung in der Geschichte des deutschen Feindes zeigt mit besonderer Eindringlichkeit, wie wichtig die narrative Rahmung für die Wahrnehmung der historischen Ereignisse ist. In der Historiographie der letzten Jahrzehnte – offensichtlich eine Folge Heyden White’s Rezeption – wurde dies verstärkt und oft auch sehr zugespitzt zur Sprache gebracht. Geschichte sei demzufolge »keine Realität, sie ist ein Zweig der Literatur« (Haffner 2003: 28) oder eine »nachträglich verfasste und mit Sinn versehene Erzählung«, »immer eine Konstruktion, Erdichtung« (Heer 2003: 12). Die Vergangenheit würde immer durch das Erzählen begreiflich gemacht, »Geschichtsbilder bestehen […] aus Narrativen über Ereignisse aus je unterschiedlicher Perspektive.« (Ebd.: 12)1 Diese Narrativierung, d.h. 1. Zur Erinnerungspolitik und Narrativierung der Vergangenheit vgl. auch Frei 2005, Rüsen 2001, Assmann, Frevert 1999.

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Der Deutsche in sowjetischen Kr iegsnarrativen

die Findung der Ähnlichkeit zwischen den historischen Ereignissen und den Typen des Erzählens, das, was White als »Emplotment« – Verleihung einer Plotstruktur bezeichnete (White 1986: 103), vollzieht sich dabei nicht nur in historiographischen Schriften, auf die White als auf die letzte Instanz der historischen Wahrheit seine Kritik richtete, sondern überall, wo von historischen Ereignissen oder historischen Figuren die Rede ist. Das zwingt Historiker immer öfter, sich auch den fiktionalen Quellen zuzuwenden und nicht nur mit dem Problem der Rekonstruktion, sondern auch mit dem Problem der Narrativität bzw. Erzählbarkeit der Geschichte zu befassen.2 Und das erlaubt auch Literaturwissenschaftler ihr Wort zum Thema Geschichtsschreibung zu sagen. Das Feld der historischen Realität fällt in diesem spezifischen Punkt fast nahtlos mit den Gefi lden der Diskursgeschichte. Die fi ktionalen Texte, auch die der populären Kultur, nun als Dokumente besonderer Art gelesen, prägen wohl am stärksten die Erinnerungsstrukturen des kollektiven Gedächtnisses und machen durch Selektion, Variation und Wiederholung das Erzählte zum Faktum. Analysiert man eine wie auch immer selektiv zusammengestellte Summa solcher »Texte« in synchroner Perspektive, wird es sichtbar, dass sie nicht nur gleiche Topoi, Metaphern, Figuren, sondern oft oder zumeist ähnliche Erzähl- und Erklärungsstruktur, dieselben Plots haben. Im Falle des »deutschen Feindes« geht diese Ähnlichkeit z.B. weit über die »Archetypen des Feindes« hinaus, so wie sie in der älteren Feindbildforschung formuliert wurden (Keen 1986). Vereint durch die gleiche Struktur der Beschreibung, durch einen gemeinsamen Diskurs, folgen Autoren unterschiedlicher politischer und ideologischer Provenienz einem narrativen Modell, einem Meta-Sujet, mit dessen Hilfe sie ihre individuelle Sicht auf die Geschichte äußern, die – wiederum in summa – zur kollektiven Erinnerung, kollektiven Vorstellung von der Vergangenheit wird. Das Ziel dieses Artikels besteht darin, solche synchronen narrativen Modelle »herauszufi ltern«, ihre Transformationen in der Zeit zu beobachten und schließlich zu fragen, warum gerade diese »Erzählungen« den vielen anderen möglichen narrativen Rahmungen vorgezogen wurden.

2. Vgl. stellvertretend: Rother 1991, zum sowjetischen Film als historische Quelle vgl. Schattenberg 2003.

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Die Vorkr iegszeit : Die Suche nach dem Feind In den 1930er Jahren, als die Figur des Nazi-Deutschen als sowjetisches Feindbild konzipiert wird, existiert bereits eine große Anzahl der Feinde, die als Modell für dieses (alt)neue Feindbild dienen.3 Auf den ersten Blick herrscht in dieser Zeit in Bezug auf den Deutschen absolute Klarheit. Er ist der äußere Feind und der künftige Kriegsgegner. Das Problem besteht jedoch darin, dass in der sowjetischen Ideologie die Grenze zwischen Außen und Innen nicht klar gezogen werden kann. Der sowjetische Hauptfeind ist der Weltkapitalismus, der sowohl innerhalb (als Spion, Schädling, Trotzkist etc.), als auch außerhalb des Landes agiert. Selbst wenn man mit Ländern wie Polen oder Finnland kriegerische Auseinandersetzungen wegen territorialer Ansprüche hat, werden diese Konfl ikte im sowjetischen Diskurs als Fortsetzung des revolutionären Klassenkampfes stilisiert, wobei der äußere Gegner teilweise zum inneren Feind wird. Denn man führt keinen Krieg gegen Finnland, sondern einen gegen »Weißfinnland«, wobei sich die neue Benennung des nördlichen Nachbarn auf die »Weiße Garde« bezieht und so eine Verbindung zwischen den aktuellen Feinden und innenpolitischen und ideologischen Gegnern aus den Zeiten des Bürgerkrieges herstellt. 4 Diese Kontinuität in den Konzepten des Feindes macht es möglich, jeden weiteren Krieg in der sowjetischen Geschichte als eine Fortsetzung des Bürgerkrieges und eine mit Waffen ausgetragene ideologische Auseinandersetzung zu werten. An diesem Konzept des Feindes werden die Kriterien der kollektiven Identität sichtbar. Der sowjetische Staat definiert sich als ein übernationaler Arbeiter-und-Bauern-Staat und hat dementsprechend übernationale Klassenfeinde. Sowjetische Spionomanie und die zwanghafte Suche nach den im Landesinneren agierenden, aber aus dem Ausland dirigierten »Schädlingen« (vrediteli) sind charakteristische Indizien dafür. Besonders in den Jahren des großen Terrors wurden viele »Feinde des Volkes« als 3. Um mein Material etwas einzugrenzen, lasse ich die lange Vorgeschich-

te dieses Feindbildes außer Betracht. Natürlich fängt die Geschichte des deutschen Feindes noch vor der national-sozialistischen Machtergreifung. Das zeitnahe und für den sowjetischen Feinddiskurs besonders relevante Ereignis war der Erste Weltkrieg, der anti-germanische Stimmung auslöste (vgl. hierzu mehrere Beiträge in: Eimermacher 2005). In der sowjetischen Vorkriegsrezeption wurde diese allerdings durch die deutsche Novemberrevolution aufgewogen. 4. Auch der Krieg gegen Polen (1919-1921) wird in dem ihm zeitgenössischen Diskurs und in der späteren sowjetischen Geschichtsschreibung als ein Teil des Bürgerkrieges und somit als ideologischer Konflikt gewertet, obwohl es beiden Seiten dabei um territoriale Vorherrschaft geht.

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Agenten der ausländischen Spionageorganisationen, als Handlanger des Weltkapitalismus »entlarvt« und verurteilt. Der Raum des Eigenen, den das Feindbild markiert und den es bedroht, fällt für die Sowjetunion nicht mit den Grenzen des Staates zusammen. Seine Grenzen werden nach dem Prinzip der Zugehörigkeit zur Klasse und der Treue der kommunistischen Ideologie gezogen und mit jedem neuen Schwung der sowjetischen Ideologie neu festgelegt. Ein weiterer wichtiger Punkt des sowjetischen Feinddiskurses ist die ›Umkehrbarkeit‹ des Feindes. Die Literatur der 1920er Jahre fängt diesen Diskurs an. So erzählt Michail Šolochov in »Rodinka« (»Das Muttermal«, 1924) die Geschichte eines aufständischen Kosaken, der einen Rotarmisten tötet. In dem Moment, als sein Gegner stirbt, bemerkt er das, was er zuvor im Kampf nicht sehen konnte – ein Muttermal, an dem er im toten Feind seinen einzigen Sohn erkennt. Das Sujet wird in der Literatur der 1920er Jahre mehrfach variiert, aber ständig geht es bei solchen unklaren Freund-Feind-Konstellationen um das Trauma des Bürgerkrieges, das die Kriterien der Zugehörigkeit, etwa die Herkunft oder die Verwandtschaft, außer Kraft setzt. Diese Konstellation ist konstitutiv für die sowjetischen Konzepte des Feindes, besonders für diejenigen, die vor dem Krieg im Umlauf sind.5 Die Ununterscheidbarkeit des Feindes, das Fehlen von klar definierten Kriterien der Feindschaft treten besonders deutlich in den 1930er Jahren zu Tage, als man überall Freunde der Sowjetmacht sehen möchte, aber hinter jedem Freund einen Feind vermutet. Die 1930er Jahre kennen das Sujet der »Umkehrung« hauptsächlich in seiner negativen Variante, als das Sujet des falschen Freundes, wenn sich z.B. sowjetische Spezialisten als »Schädlinge«, oder »einfache sowjetische Bürger« als ausländische Spione entpuppen. Diese Instabilität kennzeichnet aber nicht nur die Partei der »Freunde«, sondern auch die Partei der »Feinde«. Und das schlägt sich bei der Konstruktion des nazi-deutschen Feindbildes nieder. Im Film »Ėskadril’ja N 5«/»Geschwader Nummer 5« (1939, Regie: Abram Room), der mit der Idee des Präventivkrieges spielt, dringen sowjetische Piloten, als Nazi-Offiziere getarnt, in das Herz einer deutschen, streng geheimen Militäranlage ein, und vernichten sie, wodurch sie eine deutsche Invasion verhindern. Bei dieser Aktion hilft ihnen ein deutscher Soldat, der sich mit dem Rot-Front-Gruß als Anhänger der kommunistischen Internationalen und als »proletarischer Bruder« und Freund der Sowjetmacht kenntlich macht. Zwischen seinem sichtbaren und unsichtbaren Wesen wird im Film eine Spannung aufgebaut, und zwar dadurch, dass dieser versteckte Freund zuerst als strenger Wachmann in 5. Zu »Doppelgesichtigkeit« und Strategien ihrer Demaskierung vgl. Fitzpatrick 2005, insb. Chapt. »The two faces of Anastasia«.

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Nazi-Uniform und mit der typischen aggressiven Haltung gezeigt wird. Als Zuschauer erwartet man, dass er ein Hindernis für die sowjetischen Offiziere darstellen wird. Doch diese Erwartung täuscht, in der nächsten Einstellung leistet er den beiden Offizieren Hilfe. Solche Sujets, die mit der Metaphorik von Oberfläche und Tiefe spielen – außen Feind, im Herzen Freund oder umgekehrt, sind in dieser Zeit sehr zahlreich. Sie entfalten sich nach dem Prinzip der »Verwandlung«, der »Umerziehung«, der »Entartung« oder genauer »Umartung« (russ.: pereroždenie) oder wie im erwähnten Film – als das Ablegen der Maske und das Zeigen des »wahren Gesichts« (russ. pokazat’ istinnoe lico). Eingebunden in das Geflecht sowjetischer Feindschaftsdiskurse, wird auch der Nazi-Deutsche zu einer komplexen und problematisch uneindeutigen Figur. Anders ist es z.B. in der nazi-deutschen Propaganda, in welcher die Sowjetunion kontinuierlich und sehr konstant als eine Bedrohung der westlichen Zivilisation erscheint – die Darstellungen ›des Russen‹ bedienen sich der Metaphern des aggressiven Barbaren, der asiatischen oder der jüdisch-bolschewistischen Gefahr (Waschik 2005). Sowjetische Propaganda erreicht solche Eindeutigkeit nicht. Denn sie benötigt zur Identifizierung des Feindes mehrere Entscheidungen. Man differenziert zwischen Herrschern und Volk, zwischen Verführer und Verführten, Opfer und Tätern, unfreiwilligen Helfern, einfältigen Mitläufern, getarnten Freunden etc. Noch mehr Verwirrung bringt der politische Kurswechsel, welcher 1939 der Unterzeichnung des Molotov-Ribbentrop-Paktes folgte. Als Folge dieser politischen Entscheidung schaltete die sowjetische Propaganda im September 1939 schnell auf die Problematik des Krieges im Osten, gegen Iran und damit auch gegen England um. Eine Reihe von Theaterstücken, Drehbüchern und literarischen Werken, die das Thema des deutschen Feindes bearbeiteten, wurde von der Zensur angehalten.6 Dies stellte sowohl die Propaganda-Institutionen selbst, als auch die Rezipienten der propagandistischen Botschaften vor ein Problem, auf das sie nicht adäquat reagieren konnten. Tagebücher und andere Egodokumente dieser Zeit spiegeln die Situation einer regelrechten Verwirrung vor allem in den Reihen der Propagandisten und der Kulturschaffenden (Nevež in 1997:52-66, 114-124).7 Für diese »Ingeneure der Seelen«, wie sie Stalin nannte, wird es 6. Wohl das bekannteste Beispiel von solchen Verboten ist »Aleksandr Nevskij« (1939) von Sergej Ėjzenstejn, ein Film, der den Kampf gegen germanische Ordensritter im Nordrussland im 13 Jahrhundert zeigt. Nach dem Anfang des Krieges kommt der verbotene Film erneut in den Verleih und genießt eine große Popularität. 7. Auch der deutsche Botschafter in Moskau, F.W. von Schulenburg berichtet über den sowjetischen propagandistischen Kurswechsel und die nach ihm

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nahezu unmöglich zu entscheiden, geschweige denn den anderen vorzuweisen, wer in der aktuellen Situation der Feind sein sollte. Das Narrativ des deutschen Feindes in der Vorkriegszeit entspricht einerseits der verwirrten politischen Realität, andererseits steht diese »Erzählung« in direkter Verbindung mit der Vorstellung vom Feind, wie sie zuerst nach dem Bürgerkrieg und später in der hysterischen Atmosphäre des großen Terrors geprägt wurde. Die politische Gegebenheit des nahenden Krieges und die Notwendigkeit, einen Feind zu definieren, werden in eine zweifache narrative Struktur eingebunden: zuerst stehen die Beschreibungen des Feindes im Einklang mit den ideologischen Sujets der »Weltrevolution« oder der »proletarischen Solidarität« und lassen keine Figuren des nationalen Feindes (auch Freundes) zu. Sie halten sich eher an die Unterscheidung zwischen Klassenfeinden und Klassenfreunden. Deutsche »Proletarier«, auch wenn sie zu Soldaten gemacht, uniformiert und bewaff net sind, bleiben demgemäß als Feinde unglaubwürdig. Dazu kommt eine noch tiefer liegende zweite narrative Struktur: Das Erbe des Bürgerkrieges, die mystisch-traumatische Erzählung vom Feind, der nirgendwo und überall ist, der sich als Freund, Bruder oder Sohn tarnen oder verwandeln kann. Ein solcher Feind ist für den Durchschnittsbürger buchstäblich unsichtbar – das Trauma des Bürgerkrieges und des Terrors macht ihn blind. So wie in der zitierten Erzählung von Šolochov gelingt es ihm erst zu spät, erst im Finale der Tragödie, den Feind vom Freund oder den Freund vom Feind zu unterscheiden, ihn wirklich zu sehen. Die Gabe der Vorsehung wird ihm nicht zuteil, nur die Macht kann durch ihre magische Brille den Feind identifizieren. In diesem Spiel der Trugbilder, der Verblendungen, Blindheit und plötzlichen Erleuchtungen verliert sich die Figur des deutschen Feindes. Er wird zum Vexierbild, in dem sich Konturen des Feindes und des Freundes verfließen.

Der Kr ieg und die Eskalation der antideutschen Rhetor ik Als jedoch im Juni 1941 das Land nun gegen einen realen und nicht mehr gegen wechselnde imaginäre Feinde mobilisiert werden sollte, erwiesen sich solche komplexen Konstruktionen als nicht haltbar. Die Suche nach den geeigneten Darstellungsschemata war nicht gleich erfolgreich. In den folgende Verwirrung, allerdings voller Zuversicht, dass sowjetische Regierung trotz dieser ideologischen Turbulenzen die öffentliche Meinung in Griff bekommt (vgl. Schulenburgs Telegramm an das deutsche Außenministerium vom 6.09.1939 vgl. http://avalon.law.yale.edu/20th_century/ns064.asp (22.04.09)

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ersten Kriegsmonaten wurde weiterhin dieselbe Semantik des unfreiwilligen Mitläufers, wie in der Vorkriegszeit benutzt, laut der deutsche Soldaten nur unwillig kämpften und darauf warten würden, auf die Seite der Roten Armee überzugehen. Diese Figur des »guten Deutschen«, eines »Kameraden«, die bereits vor dem Krieg auftauchte, triff t man sowohl in den Kinound Fotodokumenten dieser Zeit (Nazarov 2005), als auch in der frühen Kriegspublizistik. In der Zeitung »Krasnyj flot« vom 19.07.1941 erzählt einer der bekanntesten sowjetischen Schriftsteller Aleksej Tolstoj eine quasi reale Geschichte, wie eine sowjetische Militäreinheit aus der deutschen Einkesselung ausbricht und erfolgreiche Raids hinter der deutschen Frontlinie durchführt (man erkennt hier den bereits von Abram Room benutzten Plot aus der Vorkriegszeit). Ein zufällig getroffener deutscher Wachmann, wiederum ein solidarischer »Kamerad«, hilft dieser sowjetischen Einheit mit Informationen, so dass sie unversehrt zurück auf die sowjetische Seite kommen (Tolstoj 1941: 21-22). Das Bild des »guten Deutschen« musste jedoch bald in sein Gegenteil gewendet werden. Wenige Zeit später waren führende Literaten und Publizisten, darunter auch Aleksej Tolstoj selbst, der im Juli 1941 noch an internationale Solidarität glaubte, mit der Aufgabe beschäftigt, einen »totalen Feind« zu konstruieren, »auf Grund dessen« – wenn man sich Carl Schmitts Definition bedient – »von Menschen das Opfer ihres Lebens verlangt werden könnte und Menschen ermächtigt werden, Blut zu vergießen und andere Menschen zu töten« (Schmitt 1987: 36). Zugleich sollte dem totalen Feind eine nicht weniger totale Einheit auf der sowjetischen Seite entgegenstehen, die eine absolute Identifi kation des Einzelnen mit dem angegriffenen Staat ermöglichen sollte. Der rhetorische Hass auf den deutschen Feind schwillt in dieser Zeit mit jeder Stunde an. Ende Juli, nur wenige Tage nach der Publikation in »Krasnyj flot«, veröffentlicht Aleksej Tolstoj in der zentralen Armeezeitung »Krasnaja zvezda« einen Artikel unter dem Titel »Ja prizyvaju k nenavisti«/»Ich rufe zum Hass auf«, in dem er den aktuellen deutschen Gegner mit den alten Germanen vergleicht und beide als blutrünstige »Barbaren« entlarvt: »Товарищи, вы увидели, вы почувствовали, что такое Гитлер, что такое фашизм. Это бойня ради бойни, это – опьянение человеческой смертью, наслаждение разрушением… Древние германцы, убивая врага, вырывали у него сердце и съедали его сырым. […] Вот такими штучками – непременно со вкусом человеческой крови – вдохновлены стервятники, налетевшие на Москву.« (Tolstoj 1941: 27)

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»Genossen, sie sehen, sie fühlen, was Hitler, was der Faschismus ist. Es ist ein Töten um des Tötens willen. Es ist ein sich Berauschen mit dem Tod anderer Menschen, der Genuss der Zerstörung… Die alten Germanen rissen, wenn sie einen Feind töteten, sein Herz heraus und aßen es roh. […] Solche Kunststücke – immer mit dem Geschmack des menschlichen Bluts – beflügeln die Räuber, die Moskau angreifen«.8

Aleksej Tolstoj bemüht sich auch um eine »historische« Rahmung des Krieges mit Nazi-Deutschland. In seinem Artikel »Russkie voiny« (»Russische Krieger«) für die »Pravda« vom 30.07.1941 stellt er eine Kontinuität zwischen den Schlachten gegen die deutschen Ordensritter bei Novgorod und Pskov im 13. Jahrhundert und Hitlers Überfall auf die Sowjetunion her. (Ebd.: 35-42) Dem germanischen Erzfeind, so wie ihn Aleksej Tolstoj in seiner Publizistik zeichnet, entspricht sinngemäß eine genauso totale, historisch verbürgte, nach ethno-nationalem Prinzip aufgebaute Einheit – die Slaven, die er in seinem nächsten Artikel für die »Pravda« beschwört: »Slaven, die Stunde ist gekommen, als die ganze slavische Welt sich vereinigen soll, um sich schnellstmöglich und endgültig von dem Joch des Hitlerismus zu befreien.« (Ebd.: 42)9 Im Sinne dieser Sichtweise des Feindes als nationaler Gefahr und der Umstellung auf national-patriotische Konzepte der Konfrontation ersetzen im Dezember 1941 alle Armeezeitungen das Motto »Proletarier aller Länder vereint euch« durch das Motto »Tod den faschistischen Okkupanten!« (Nazarov 2005: 183). 1943 ersetzt die Sowjetunion die alte Staatshymne, die Internationale, durch das neue Lied, in dessen erster Zeile bereits die Rede von der untrennbaren Union der Republiken unter der russischen Vorherrschaft ist. Das musikalische Symbol der proletarischen Solidarität wird durch einen im wahrsten Sinne des Wortes »national song« abgelöst (vgl. Feretti 2005: 78). Neben der Berufung auf slavisch-germanische Feindschaft wird auch der Versuch unternommen, den Feind mit Hilfe von national-religiöser Rhetorik begreiflich zu machen. Zum Beispiel benutzt der theologisch ausgebildete Stalin in seiner Rede an das sowjetische Volk (03.07.1941) nicht nur die üblichen Anreden wie »Genossen, Bürger«, sondern auch die religiös angehauchte Anrede »Brüder und Schwester«. Die im ersten Kriegsjahr entstandene Kriegshymne »Svjaščennaja vojna« (dt. »Der heilige Krieg«, von A. Aleksandrov und V. Lebedev-Kumač«) beschwört die Metaphorik des heiligen Krieges gegen die paganen (deutschen) Horden. Auch wenn der Krieg auf längere Sicht zur Wiederbelebung des russi-

8. Hier und weiter im Text russische Zitate in meiner Übersetzung - NB. 9. »Славяне! Пробил час, когда весь славянский мир должен объединиться для скорейшего и окончательного освобождения от гитлеровского гнета.«

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schen nationalen und religiösen Denkens führte10, in der aktuellen Kriegssituation taugten solche ethno-nationalen und religiösen Defi nitionen des Feindes für die mentale Mobilmachung des Landes kaum. Die Sowjetunion hatte sich nicht umsonst als internationale und atheistische Gemeinschaft proklamiert. In diesem »Vielvölkerreich« sowjetischer Prägung waren Formeln der nationalen oder religiösen Konfrontation nicht für alle verständlich oder akzeptabel. Abhilfe schaff te das einfache, aber ausgesprochen aussagekräftige Narrativ der »gerechten Rache«. Der russisch-jüdische Schriftsteller und Publizist Ilja Ėrenburg (dt. auch Ilia Ehrenburg) kann, wenn nicht als Erfinder, dann als einer der erfolgreichen Propagandisten dieses Narrativs gelten. Anders als Aleksej Tolstoj war er sich der nationalen Problematik in der Sowjetunion sehr bewusst. Er verstand die Unmöglichkeit, diesen Krieg als eine slavisch-germanische Kontroverse darzustellen und sprach sogar in seinen propagandistischen Artikeln einige nicht-slavische Nationen der Sowjetunion an, eine supranationale sowjetische Einigkeit beschwörend.11 Auch fing er wesentlich früher als die anderen sowjetischen Intellektuellen an, sich mit dem Nationalsozialismus auseinander zu setzen. Er erlebte die Nazi-Okkupation von Paris und versuchte trotz Zensurschranken darüber zu schreiben.12 Während des Krieges verfügte er als führendes Mitglied des Jüdischen Antifaschistischen Komitees über viele Informationen zu Judenvernichtung und Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, die er sehr gekonnt in seiner Publizistik einsetzte. Schnell avancierte Ilja Ėrenburg zu einem der beliebtesten Publizisten und verfasste Unmengen von kleinen Artikeln, die in den Armee- und Zentralzeitungen veröffentlicht oder als Flugblätter verteilt wurden. Viele von ihnen wurden nach dem narrativen Schema der »gerechten Rache« geschrieben: In diesem Narrativ wurden die Verbrechen der Nazis aufgelistet und es wurde zur Rache aufgerufen oder sogar die Rache geschildert, die in der Gestalt der anrückenden sowjetischen Truppen die Nazi-Ungeheuer erreicht. Bereits Ėrenburgs frühe Texte aus dem Jahre 1941 sind nach diesem Prinzip geschrieben.13 Im Laufe des Jahres 1942, als die antideutsche 10. Zu russischem Nationalismus und Antisemitismus während und nach dem Krieg vgl. stellvertretend: Kostyrčenko 2005. 11. Vgl. stellvertretend seine Texte von 1942 mit den Titeln »Kasachen«, »Usbeken« oder »Juden«. 12. Zu Figur Ilja Ėrenburg, sowie zu seiner Kriegspublizistik und ihrer Rezeption in Deutschland vlg. Goldenbaum 2007, Urban 2006, Frezinskij 2005, Tischler 2004. 13. Vgl. seine Artikel aus dem Jahre 1941: »25 sentjabrja 1941 goda«/ »25. September 1941«; »My ne zabudem«/»Wir werden nicht vergessen»; »Ljubov’

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Hassrhetorik ihren Höhepunkt erreichte (vgl. Tischler 2004: 329), wurden Beschuldigungen in Ėrenburgs Texten konkreter und Racheaufrufe auch wesentlich erbarmungsloser. Er nutzte immer öfter dokumentarische Verfahren, indem er aus Briefen oder Tagebüchern der deutschen Soldaten und Offiziere zitierte oder ihre Opfer »sprechen« ließ. So verfährt er in seinem Artikel vom 11.10.1942, der den Titel »Nemec« – »Der Deutsche« trägt. Nach den entlarvenden Zeilen aus dem Tagebuch eines Friedrich Schmidt, der im kleinen Ort Budennovka Zivilisten martert und tötet, folgt der Aufruf zur gerechten und heiligen Rache: »Друзья-воины, помните, что перед вами Фридрих Шмидт. Ни слова больше, только – оружьем, только – насмерть. Прочитав о замученных в Буденновке братьях и сестрах, поклянемся: они не уйдут живыми – ни один, ни один. (Ėrenburg 2004 o.P.)

»Freunde, Soldaten, vergesst nicht, vor Euch steht dieser Friedrich Schmidt. Kein Wort mehr, [antwortet] nur mit Waffen, nur tödlich. Jetzt, nachdem wir über die in Budennovka gemarterten Brüdern und Schwestern gelesen haben, schwören wir: sie [Deutsche] kommen nicht lebend davon, keiner von ihnen, keiner«.14

Nach demselben Schema ist auch einer der bekanntesten Artikel von Ėrenburg unter dem Titel »Ubej«/»Töte« konstruiert, der nicht nur in der Armeezeitung (»Krasnaja zvezda« vom 24.07.1942), sondern auch als Flugblatt verteilt wurde. Nach der ergreifenden Schilderung von schwerem Missbrauch der russischen Kriegsgefangenen (Hunger, Exekutionen) folgt hier ebenfalls der Aufruf die Deutschen zu töten: »Wir haben verstanden: Deutsche sind keine Menschen. Von jetzt ab ist »Deutscher« der schlimmste Fluch für uns. […] Wir werden töten.« (Ėrenburg 2004). Im weiteren Verlauf des Krieges greift Ėrenburg immer öfter diese Struktur des Martyrologiums auf und kombiniert es mit dem anschließenden Racheaufruf. Und nicht nur er allein. Auch Konstantin Simonov, Aleksej Surkov und viele andere Literaten nutzten in ihren poetischen, prosaischen und dramatischen Werken dieses narrative Schema.15 Es erwies sich als

i nenavist’«/»Liebe und Hass», »Svideteli«/»Zeugen«; »Prestuplenie i nakazanie«/ »Verbrechen und Strafe« etc. 14. Diese Ausgabe wird zitiert nach: http://militera.lib.ru/prose/russian/eren burg_ig3/index.html (ohne Paginierung, letzter Zugriff 15.08.2008) 15. Zum Rache-Sujet und sowjetischer Töte-den-Deutschen-Rhetorik vgl. Gorjaeva 2002.

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universell. Man findet es auch in der Kino- und Fotodokumentaristik der Kriegszeit (Nazarov 2005) und in den Spielfi lmen. Zirka seit dem Winter 1941 erschien der Deutsche ausschließlich als Feind. Das ambivalente Bild eines verführten deutschen Proletariers wurde komplett verworfen. Ėrenburg erklärte die deutschen Arbeiter und Bauer, die nun gegen ihre sowjetischen Klassenbrüder Krieg führen, zu Verrätern.16 Pudovkins »Ubijcy vyhodjat na dorogu«/»Die Mörder gehen auf die Straßen« (1942), eine Verfi lmung von Brechts »Furcht und Elend des dritten Reiches« (1935-1938), die die Deutschen als Opfer des Nazi-Regimes zeigt, kam nicht mehr in den Verleih. Dagegen zeigte man in anderen Filmen, wie etwa in Michail Romms »Čelovek N 217«/»Mensch Nummer 217« (1944) explizit, dass alle Deutschen, sowohl Militärbedienstete, als auch Zivilisten, unmenschlich und böse sind.17 Im Sujet des Films erkennt man dasselbe Narrativ, wie in Ėrenburgs Publizistik: Die Hauptfigur, eine russische Zwangsarbeiterin, wird von einer deutschen Familie gequält und gepeinigt. Als ihr Leidensgefährte, ein russischer Wissenschaftler, von dem Sohn der Familie ermordet wird, greift auch sie zu den Waffen. Bevor sie aber ihre deutschen Peiniger im Schlaf erdolcht, spricht sie ihnen menschliche Qualitäten ab. Die Deutschen sind, so erklärt sie für den Zuschauer, nur dem Anschein nach Menschen, in Wahrheit seien sie Ungeheuer. Generell kreist die Topik der Feindbeschreibung jetzt um sein »Unwesen«: Der Deutsche lebt jenseits der menschlichen Moral, was durch spezifische Opfer-Täter-Symbolik (Kinder- und Frauenmord) dargestellt wird. Besonders plakativ sind in dieser Hinsicht Filme wie »Raduga«/»Der Regenbogen« (1943), »Ona sražalas‹ za rodinu«/»Sie kämpfte für ihre Heimat« (1943) und »Zoja« (1944), in denen leidende und sterbende Frauen und Kinder im Mittelpunkt stehen. Für diese Zeit konstatiert Evgenij Margolit das Verschwinden des Stalin-Bildes von den sowjetischen Leinwänden (Margolit 1999: 91ff ). Zur Hauptfigur der sowjetischen Filme wurde das leidende Volk. Im Film »Raduga« von Mark Donskoj wird die Hauptheldin, eine schwangere ukrainische Partisanin, von den Nazis verhaftet und gemartert. Ihr Martyrertod wird von zahlreichen Nebenhandlungen gerahmt, in denen es um die Qualen anderer ukrainischer Mütter und Kinder geht, so dass das Bild eines totalen nationalen Leides und gleichzeitig das Bild eines totalen und nationalen – deutschen – Peinigers entsteht. Diese Prüfung für das Volk endet – wieder das Sujet der gerechten Rache bedienend – mit der finalen Erlösung durch die Rote Armee, die gefangen

16. »Vozmezdie«/»Vergeltung«, Ėrenburg 2004. 17. Vgl. hinzu Filmanalysen bei Kenez 1992: 195-200 und Margolit 1999:

91ff.

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genommene deutsche Soldaten vor der Rache der Bauer retten, um sie – in der Zukunft – vor Gericht zu stellen. Die Hinwendung zu den Figuren des leidenden Volkes bei der Darstellung des Eigenen und zu den Figuren der absoluten, unmenschlichen Macht in der Darstellung des Feindes hatte die Konsolidierung aller Bevölkerungsgruppen der damaligen Sowjetunion zum Ziel. Selbst die einstigen »Feinde des Volkes« werden dabei in den Raum des Eigenen aufgenommen und dürfen für ihre Heimat heldenhaft sterben, wie dies im Abram Rooms »Našestvie«/»Die Invasion« (1944) gezeigt wird. Im Zentrum dieses Filmes steht ein Held, der gerade vor Kriegsanbruch aus einem Gefängnis zurückkehrt. Sein stutzerhaftes Äußeres entlarvt ihn als »fremdes Element«, worauf auch die Schauspielerwahl hindeutet: Der Darsteller dieser Rolle, Oleg Žakov spielte vor dem Krieg die Rollen der innerpolitischen Feinde (vgl. Margolit 1999: 92). In diesem Kriegsfi lm aber kämpft er gegen die deutschen Feinde, obwohl er immer noch ein angespanntes Verhältnis zum Sowjetstaat hat. Bereits im letzten Kriegsjahr musste sich aber sowjetische Kriegspropaganda auf andere Semantiken umstellen und die Racheaufrufe, etwa Ėrenburgs »Töte den Deutschen« durch eine differenziertere Herangehensweise ersetzen. Ilja Ėrenburg wurde für seine pathetischen Racheaufrufe einem öffentlichen Tadel unterzogen. Am 14.04.1945 publizierte Georgij Aleksandrov, der Leiter der Abteilung für Agitation und Propaganda, in der »Pravda« einen Artikel unter dem Titel »Tovarišč Ėrenburg uproščaet«/»Genosse Ėrenburg vereinfacht«, ein Text mit dem man weniger Ėhrenburg bestrafen, als viel mehr die neue Politik in Bezug auf den deutschen Feind ankündigen wollte.18 Ab diesem Moment versuchte die offizielle Propaganda zwischen dem deutschen Volk (Opfern) und den Nazi-Verbrechern (Tätern) zu unterscheiden, was sich in einer differenzierteren Wortwahl (»Faschist« statt »Deutscher«) äußert. Selbst Ėrenburg, der nach einer Publikationssperre am 10.05.1945 wieder in der »Pravda« publizieren durfte, schrieb über die Zukunft Deutschlands und die Bestrafung der Kriegsverbrecher (»Utro mira«/»Der Morgen des Friedens« Ėrenburg 2004). Die neue Tonart des Sprechens über den Feind gab Stalins Trinkspruch von 1942 vor von den Hitlers, die kommen und gehen, und dem deutschen Volk, das bleibt, der 1945 auf Flugblättern verteilt wurde und so das rhetorische Ende der »gerechten Rache« setzte.

18. Zu politischen Hintergründen dieser Publikation vgl. Tischler 2004: 233-237.

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Der bleiche Feind und der Kalte Kr ieg Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Beginn des Kalten Krieges trat der Deutsche immer noch nicht in den Hintergrund der aktuellen Propaganda. Im sowjetischen Feinddiskurs fungierte er nunmehr nicht nur als der besiegte Gegner, eine Figur der Erinnerung, sondern als Prototyp für die neuen anglo-amerikanischen kapitalistischen Feinde, die Akteure des neuen politischen Konflikts. In der sowjetischen politischen Imagination traten jetzt vor allem die USA die nazi-deutsche Erbschaft an. Dieses Land sollte die aggressive nazi-deutsche Politik fortsetzen und die deutschen Kriegsverbrecher decken, so die sowjetische politische Agitation. Entsprechend wurde auch das Narrativ des deutschen Feindes ›begradigt‹. Er wurde als Wegbereiter der kapitalistischen Aggression gesehen, durch ihn drang die unmenschliche kapitalistische Ordnung in das sowjetische Paradies ein. Deutlich macht dies einer der zentralen Texte der sowjetischen Kriegsliteratur der frühen 1950er Jahre, der Roman »Die junge Garde« (1947/1951) von Aleksandr Fadeev. Der Roman, dessen zwei Fassungen zwischen zwei Kriegen entstehen – am Ende des Zweiten Weltkriegs und zu Beginn des Kalten Krieges – hält die Metamorphosen fest, die der deutsche Feind in dieser Übergangszeit durchlebt. Die Kontinuitäten zwischen den propagandistischen Klischees aus der Kriegszeit und den Beschreibungen der deutschen Soldaten im Roman sind nicht zu übersehen. Die Feinde sind gierig beim Essen und Trinken, sie verletzen die Anstands- und Hygieneregeln ihrer okkupierten Opfer: deutsche Soldaten urinieren öffentlich, sie gehen nicht ins Schwitzbad, sondern waschen sich in ihren Wohnzimmern in Waschschüsseln, sie schämen sich nicht, sich vor den Frauen und Kindern nackt zu zeigen. All diese Elemente waren bereits Bestandteile der Kriegspropaganda und traten in den publizistischen Texten der Kriegszeit wiederholt auf. So wurde z.B. oft die Gründung von Bordellen durch die deutsche Militärmacht kritisiert (so Ėrenburg), als Replik auf dieses Motiv kann man die in Fadeevs Roman beschriebenen Orgien verstehen, die ein deutscher Ingenieur im Militärdienst in seinem Haus organisiert oder Szenen, in denen deutsche Soldaten sowjetische Mädchen und Frauen belästigen. Der Feind lebt in Verschwendung, versammelt um sich herum alles, was unter der sowjetischen Macht als verwerflich, anzüglich, krank und widerwärtig abgestempelt wurde. Im Roman jedoch werden diese Elemente des Feindes in einen neuen Erzählzusammenhang gestellt. Zwar geht es im Text nach wie vor über die ›moralische Überhand der sowjetischen Menschen‹ über die ›Hydra des deutschen Nazismus‹, aber die Helden tragen diesen Kampf nicht für sich allein aus. Hinter ihnen, und das wird in der zweiten Fassung des Romans nur allzu deutlich gemacht, steht die Macht der Partei und der 276

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sowjetischen Regierung. Gerade die Notwendigkeit, den Kampf mit dem deutschen Feind in diesen ideologisch korrekten narrativen Rahmen einzuschreiben, bedingt die literarischen Schwächen und zugleich die ideologischen Stärken des Romans. Keiner der Haupthelden agiert selbstständig, hinter den jungen Widerstandskämpfern steht eine verzweigte bürokratisierte kommunistische Organisation, deren Verbindungen zur Armee und in das nicht okkupierte Hinterland reichen, so dass der spontane und individuelle Widerstand der jungen Helden mehr zum durchorganisierten Kampf der Systeme wird. Diese Vorstellung entspricht der Sichtweise auf den Krieg und den Feind, die zu Beginn des Kalten Krieges und im Laufe der Gründung und Ausweitung des Ostblocks entwickelt wurde. Gerade Fadeevs Roman veranlasst Mihail Ryklin, über die verzerrte Perspektive der sowjetischen Feinddarstellung zu sprechen (Ryklin 2000), welche die nazistische Komponente des Feindes verschweigt und so den Feind »entnazifiziert«. In der Tat wird das wirklich Schreckliche an ihm – die ethnischen Säuberungen (vor allem der Holocaust), die totale Vernichtung, die eugenischen Experimente – als zweitrangige Erscheinungen angesehen. Die Haupteigenschaft des Feindes ist seine »Systemfeindlichkeit« – er wird in erster Linie als Feind des Sowjetischen charakterisiert und als solcher gefürchtet. Interessant ist die Farbskala, mit welcher der deutsche Feind im Roman gezeichnet wird, sie begrenzt sich auf nur wenige Farben, wie blond, strohfarben, hell, grau oder gar farblos. Diese minimalistische Farbpalette reicht aus, um die gesamte deutsche Besatzung in Krasnodon, dem Ort der Romanhandlung, zu zeichnen. Ausgeblichen ist die Augenfarbe des deutschen Generals, bleich das Haar seines Dieners. Sein Adjutant ist so blond und so hell, dass er zuweilen unsichtbar für seine sowjetischen Opfer wird. In einer Szene des Romans, als eine junge ukrainische Frau das Zimmer des Adjutanten betritt, merkt sie erst nach einer Weile, dass er nackt vor ihr steht. Geschockt verlässt sie den Raum und beschreibt den nackten Deutschen als »bleichen Bandwurm«. Auf der emotionalen Skala entspricht dieser Blässe die Gefühl- und Emotionslosigkeit des Feindes (vgl.: »Der General schaute umher, auf seinem starren Gesicht zeichnete sich keine Reaktion ab«)19, die ihn nicht nur als Ungeheuer ohne menschliche Reaktionen, sondern auch und vor allem als eine durch fremden und fernen Willen geführte Marionette charakterisiert. Diese emotionale und existentielle »Blässe« des Feindes ruft zuerst die stereotype Vorstellung von »blonder Bestie« auf, rekurriert aber zugleich auf die Stellvertreterfunktion des deutschen Feindes, der nun im Diskurs 19. »Генерал огляделся, и на застывшем лице его ничего не изобразилось« Fadeev 1959: 137

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der 1950er Jahre als nur eine von vielen Reinkarnationen des westlich-kapitalistischen Feindes betrachtet wird. Der deutsche Feind verliert seinen exklusiven Horror, durch seine »Blässe« scheint eine andere, neue, westliche, feindliche Macht durch, die den gerade gewonnenen Krieg wieder in einen unendlichen Kampf verwandelt.20 Das Narrativ »der gerechten Rache«, das in dem Sieg ein Ende der Konfrontation mit dem Feind vorsah, wird durch das Narrativ der perpetuierten Systemkonkurrenz ersetzt, deren Ende in der lichten sowjetischen Zukunft kaum absehbar ist.

Nach dem Kr ieg. Ein Feind mit menschlichem Antlitz Der Sieg im Zweiten Weltkrieg wurde zum zweiten Gründungsmythos der Sowjetunion und zum »Hauptthema der sowjetischen Kunst für die nächste Hälfte des Jahrhunderts« (Zorkaja 2005: 378). Das Korpus der literarischen Texte, Spielfi lme, Theaterstücke, Fernsehfeatures über den Krieg, die in der Nachkriegszeit entstanden und direkt oder indirekt die Problematik der Feindschaft behandeln, ist immens. Aber zugleich stand das Thema im Kreuzfeuer der Interessen. Es ging um die Durchsetzung von politischen und ideologischen Interessen, um die Herstellung einer »Monoglossie« – einer einheitlichen Erzählweise, die der offiziellen Doktrin entsprach oder zumindest nicht widersprach. Die offizielle Glorifizierung des Sieges geriet jedoch oft genug in Konflikt mit den Erfahrungen von Millionen sowjetischer Kriegsteilnehmer, die einen »anderen«, einen lokalen, persönlichen Krieg erlebt hatten. Einen Krieg, dessen Beschreibung sich nicht in den Rahmen des sowjetischen großen Narrativs fügen wollte, und die sich nicht auf die ideologisch korrekte Schilderung der gloriosen und siegreichen Schlachten beschränken konnte. Diese »anderen« Kriegserzählungen wurden zumeist von Schriftstellern geschrieben, die als junge Erwachsene in den Reihen der Roten Armee (V. Nekrasov, G. Baklanov, V. Astaf’ev) oder als Partisanen den Krieg erlebt hatten (V. Bykov, A. Adamovič). Für diese wurde der Begriff der sogenannten »Leutnantsprosa« geprägt, die im sowjetischen Diskurs über den Krieg Platz für die Narrative des »zweiten Gedächtnisses« erkämpfte. 20. Dieselbe Gleichstellung des deutschen und des kapitalistischen (speiziell des US-amerikanischen) Feindes findet sich im Konstantin Simonovs Gedicht »Tigr« (»Der Tiger« 1948) und anderen Gedichten des Zyklus »Druz'ja i vragi« (»Freunde und Feinde« 1948-1954). Simonov ist dabei viel eindeutiger in seiner Analogie und vergleicht einen amerikanischen Pressemagnaten direkt mit den bei Nürnberger Prozess verurteilten Nazis. Vgl. Simonov 1979: 230-231.

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Das »zweite Gedächtnis« stützte sich vor allem auf die oral history, »naive Memoiren«, zuweilen auch auf literarischen Werke, die jedoch nicht oder nur mit Restriktionen zur Publikation freigegeben wurden.21 Die Leutnantsprosa und zum Teil das Autorenkino (stellvertretend A.German, L. Šepit’ko) betrieben eine »Verschriftung« und Diskursivierung dieser parallelen Erinnerungen an den Krieg gegen die narrativen Klischees des offiziellen Kriegsdiskurses und konzentrierten sich mehr auf die Erzählung von tragischen, chaotischen oder traumatischen Ereignissen als auf die Beschreibung von ideologisch wertvollen Heldentaten. Auch spätere Schriftstellergenerationen regte das mit Ideologie und Propaganda durchsetzte Narrativ des großen Sieges oft zu kritischen oder sogar zu parodistischen Reaktionen an (vgl. Vladimir Vojnovičs Roman »Soldat Ivan Čonkin« (1969-1975). Für das Narrativ des deutschen Feindes war dies nicht ohne Folgen. In diesem Wettkampf der Erzählungen, wurde das Feindbild nicht nur durch zeitliche Distanz verzerrt, es changierte abhängig von der Art der historischen Erzählung, in die es eingeschrieben wurde. Je weiter sich das historische Ereignis des Krieges von den Sprechenden und Schreibenden zeitlich entfernte, desto stärker wurde es mythologisiert, entmythologisiert, verherrlicht oder entlarvt, desto schwieriger wurde es über den Feind als über eine einheitliche Figur zu sprechen. Ein neueres Sujet, das immer mehr Popularität gewann, die Erzählung über den gewöhnlichen Menschen unter den unmenschlichen Bedingungen eines Krieges (genau dieses Sujet hatte die Leutnantsprosa ja erfunden) sah jedoch so gut wie keinen Antagonisten vor und tendierte dazu, auch den Gegner auf der anderen Frontlinie als einen Menschen zu sehen.22 21. Dieser Teil des sowjetischen Kriegsdiskurses – mit äußerst interessanten Konstruktionen des Feindes – wird erst in den letzten Jahren zum Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung (vgl. Feretti 2005, Pruss 2005, Ščerbakova 2005 und Kormina, Štyrkov 2005), die mittlerweile nicht nur über die verschriftlichten und zum Teil publizierten Quellen des Samizdat oder zur Zeit der Sowjetunion verbotene Texte und Filme forscht, sondern auch Tagebücher, Briefe, Erinnerungen der nicht prominenten Kriegsteilnehmern in Betracht zieht. Auch die Erinnerungen und Erzählungen derjenigen, die zu der Schriftkultur nur partiell gehören (Stichwort »naive Memoiren«) und mündliche Erinnerungen (vgl. insbesondere Kormina, Štyrkov 2005), die individuelle, familiäre und lokale Gedächtnis des Krieges prägen, werden gesammelt, archiviert und ausgewertet. 22. Die Parallelen zu folkloristischen Erzählungen und der sowjetischen/ russischen oral history mit der immer wiederkehrenden Figur des »guten Deutschen«, der »auch Kinder und Familie« hat und ein Mensch »wie wir« ist, treten hier besonders deutlich auf (hinzu Kormina, Štyrkov 2005, zu oral history auch Ščerbakova 2005).

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Im Laufe der letzten sowjetischen Jahrzehnte zeigte der deutsche »Unmensch« zuweilen ein durchaus menschliches Gesicht. Selbst der monströse Kommandant eines Lagers für sowjetische Kriegsgefangene kann menschliche Gefühle empfinden, wie dies in Šolochovs »Sud’ba čeloveka« und in seiner gleichnamigen Verfi lmung (1956/1957, Verfilmung 1959) vor Augen geführt wird. Zwar droht dieser ungeheuerliche Nazi einem russischen Soldaten mit Mord und unterzieht seinen Mut einer schweren Prüfung. Von der Willenstärke und Tapferkeit des Soldaten beeindruckt, schenkt er aber dem Russen das Leben und gibt sogar Brot für ihn und seine hungernden Leidensgenossen. In den 1970er Jahren wurde die Feindbildsymbolik immer polyvalenter. In den großen Filmreihen (vgl. stellvertretend das 5-teilige Kinoepos »Osvoboždenie«/»Befreiung« 1968-1971) und literarischen Kriegsepen (russ. roman- ėpopeja) wurde zwar weiterhin die Dämonisierung des Feindes und die Verherrlichung des sowjetischen Helden betrieben. Insgesamt aber änderte sich der Darstellungstrend dadurch, dass man sich auf die Schilderung der sowjetischen Seite konzentrierte und neue Orte des Krieges fand. In den 1970er und 1980er Jahren bilden nicht nur die Front, sondern auch das Hinterland und der Partisanenkampf wichtige Settings. Das Bild des Feindes wird damit aufgefächert: es sind nicht nur die Nazis, sondern die Verräter, die Überläufer, die rückständigen Bauern, die den Partisanen nicht helfen wollen usw.23 Die Feinde aus dem eigenen Lager werden aber nicht eindeutig verurteilt, sondern oft als Opfer einer Überkomplexität stilisiert, als Menschen, die in einer Situation handeln sollen, in der es generell keine richtige Lösung gibt. Diese Übergangsfiguren, die zugleich eigen und fremd sind, öffnen einen ambivalenten Deutungsrahmen, in dem eine klare Schuldzuweisung unmöglich wird, einen Raum, in dem alle Aktanten des Krieges mehr oder weniger zu den Kriegsopfern werden. Einen weiteren Schritt in der Umakzentuierung des Feindbildes machten die Spionagefi lme und Romane, die einen sowjetischen Helden in die Naziuniform kleideten oder einen Nazi-Offizier für die sowjetische Seite arbeiten ließen. Sie legten damit eine Reinterpretation des »doppelbödigen« Feindes vor, wie man ihn in den 1930er Jahren gekannt hat. Nicht unbedeutend für die Entwicklung des Feindbildes ist die Tatsache, dass die Agenten in Nazi-Uniform von den Publikumslieblingen und Frauenschwärmen wie Oleg Dal‹ (»Variant Omega«) oder Vjačeslav Tichonov (»17 mgnovenij vesny« 1973) gespielt werden. Letzterer Film, eigentlich eine Fernsehserie, markiert eine weitere wichtige Wende in der Geschichte 23. Vgl. Filme wie »Proverka na dorogach«/»Straßenkontrolle« 1971, »Voschoždenie«/»Der Aufstieg« 1976, »20 dnej bez vojny«/»20 Tage ohne Krieg« 1976.

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des deutschen Feindes. Nicht nur spielen hier Schauspieler mit durchaus positivem Rollenprofi l die Nazi-Verbrecher (zuvor wurden diese zumeist von Schauspielern gespielt, die sich auf die negativen Rollen spezialisiert haben, oft auch von deutschen oder baltischen Schauspielern). Diese Fernsehserie dreht die Situation um, nicht nur indem sie sowjetische Lieblingsschauspieler böse Nazis spielen lässt, sondern auch indem sie in die Struktur des repressiven Nazi-Apparats sowjetische Strukturen hineinliest, und aus dem Haupthelden, Obersturmbannführer von Štirlic (alias Oberst Isaev), eine mehrfach lesbare Figur macht. Er ist zwar ein sowjetischer Spion, aber seine Geschichte kann als Parabel über einen sowjetischen Dissidenten gelesen werden, der, umgeben vom Feinden (Gestapo als Metapher für KGB) seine wahre Identität unter der Maske der Loyalität verbergen kann.24 An die Stelle des einstigen deutschen Feindes tritt der eigene Staat und seine »faschistischen« Institutionen. Die »Nazis« dagegen repräsentieren oft die ersehnte und idealisierte »westliche Lebensweise«. Nicht nur sowjetische Agenten, deren Ethos der Selbstdisziplinierung man nicht mehr von der deutschen Pünktlichkeit unterscheiden kann, sondern die sympathischen Nazis aus den Spionagefi lmen legen Qualitäten an den Tag (etwa Mobilität, Reichtum, mondäne Lebensweise), die in der veränderten Situation der letzten sowjetischen Jahre als positiv und erstrebenswert gesehen werden. Das sowjetische »große Narrativ« verliert an Glaubwürdigkeit, so dass Parodien oder Umkehrungen seiner Sujetlinien, wie in den erwähnten Spionagefi lmen, möglich werden, die sich zuweilen bis zu den direkten Gleichsetzungen beider repressiven Regime steigern. In einer spezifischen Situation der diskursiven »Zweisprachigkeit«, – diejenigen, die in der Sowjetunion über den Krieg sprechen, sollen beide Codes, den des »ersten« und den des »zweiten« Gedächtnisses beherrschen und oft das Switching zwischen den Codes als selbstverständlich und unproblematisch nehmen (vgl. Ščerbakova 2005 und die Tradition der »Veteranenerzählungen«) – durchlebt der deutsche Feind unterschiedlichste Metamorphosen. Man erkennt sowohl die Topiken der Feindschaft, die in der Zeit während und unmittelbar nach dem Krieg erfunden wurden und zugleich das Aufkommen des Narativs des »vermenschlichten Feindes«

24. Dies ist nicht der erste, wohl aber der populärste Fall von paralleler Behandlung der totalitärer Regime in Deutschland und UdSSR. 1965 unternimmt Michail Romm in seinem Dokumentarfilm »Obyknovennyj fašizm«/»Der gewöhnliche Faschismus« eine Analyse des Nazi-Regimes, die später oft als verkappte Analyse des sowjetischen Totalitarismus gedeutet wird, vgl. hierzu Hänsgen 2000.

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und – unterschwellig und sehr vorsichtig – des Narrativs des »unmenschlichen Freundes«. Es ist nicht ausgeschlossen, dass durch das »zweite Gedächtnis« in den Diskurs des Feindes auch Vorstellungen der ländlichen und mündlichen Gesellschaft transportiert wurden, die ihre eigenen Kriterien von Eigen und Fremd hatten und ihre Moral oft nur für die Vertreter der eigenen Gruppe gelten ließen. So beobachten moderne Forscher, dass in Narrativen solcher Art die Okkupationsmacht als das absolute, aber unpersonifizierte Böse gewertet wird und die oft – ähnlich einer Naturgewalt – jenseits des moralischen Urteils steht. Die ethischen Kontroversen werden aber zumeist um die Figur aus dem Raum des Eigenen ausgetragen. So kann für eine solche Gemeinschaft der Partisan, der mit seinem Entschluss für die Befreiung der Heimat zu kämpfen (abstrakte Größe), den Tod seiner Familie oder die Vernichtung seines Dorfes (konkrete Größen) bewirkt hat, als wesentlich unmenschlicher erscheinen, als die deutschen Truppen, die die Racheaktion durchführten. Aus sozial-historischer und medial-historischer Perspektive ist dies durchaus verständlich, denn eine solche rurale und vorwiegend orale Gesellschaft operiert nicht mit den Kategorien wie Souveränität und territoriale Einheit, Staat, Recht, Präsumtion der Unschuld etc. Beachtet man die Fülle der Sujets im sowjetischen Kino und in der Literatur dieser Zeit, die gerade die Problematik des Partisanenkrieges thematisiert, erscheint diese Annahme durchaus plausibel.

Im Körper des Feindes Diese Tendenzen blieben jedoch bis zu der politischen Wende der 19861991 nur unterschwellig präsent. Zwar kamen seit den 1960er Jahren Sujets auf, die den Feind positiv werten, eine emotionale, oder sogar eine erotische Verbindung zwischen Nazis und Sowjets zulassen und beide Parteien als gleichwertig, ebenbürtig, nicht mehr antagonistisch darstellen.25 Diese Texte konnten in den meisten Fällen die Zensurschranken nicht überwinden. Eine der wenigen offiziell akzeptierten Varianten dieses Sujets stellen der Roman »Bereg« (1975) von Jurij Bondarev und seine gleichnamige Verfi lmung (1983) dar. Mit dem Wegfallen der Zensurschranken in den 1990er Jahren kamen solche Unio-Sujets, die die Deutschen bzw. Nazis und Sowjets/Russen in einer Liebesbeziehung, einer Ehe oder einer Freundschaft vereinigen und so metaphorisch auf das Ableben des alten 25. Vgl. Nebenepisode in Grossmans »Žizn’ i sud’ba« (1950er, Erstpublikation 1980), Boris Vachtins »Odna absoljutno sčastlivaja derevnja«, »Ser ž ant i frau« (1960er Jahre).

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antagonistischen Schemas hinweisen, immer öfter vor. Die Palette solcher Sujets reicht von der Persiflage der sowjetischen Partisanenfi lme bis zu den existenziellen Dramen. Maski-Shows, eine Serie von pantomimischen Parodien, die Mitte der 1990er im russischen Fernsehen lief, machte den Krieg zum karikierten Abenteuer und zeigte sowohl Partisanen, als auch ihre deutschen Gegenspieler als Männerparteien, die für die Gunst der sie mit Schnaps und Schmalz verköstigenden Bäuerinnen buhlen, wobei die Partisanen ihren westlichen Gegnern meistens unterliegen. Im Film »Barak« (1999) wird die Aussöhnung mit dem deutschen Feind gefeiert, indem man einen deutschen Kriegsgefangenen eine sowjetische Frau heiraten lässt und ihn, den ehemaligen Feind, in die Gemeinschaft des sowjetischen kommunalen Wohnens integriert, wogegen ein ehemaliger russischer Kollaborateur von derselben Wohngemeinschaft verachtet und ignoriert wird. Der Film »Prazdnik« (2001), der vom ersten Tag des Krieges in einem Dorf im sowjetischen Grenzgebiet handelt, eliminiert das deutsche Feindbild als solches. Die deutschen Soldaten, gespielt von den Mitgliedern der patriotischen Verbindungen »Ėkipa ž« und »20yj vek«, verteilen Schokolade an Kinder, womit sie die Klischees der Nazi-Propaganda bedienen. Der Regisseur Garik Sukačev, der mit seinem Film die reale Lebens- und Todesgeschichte seines Großvaters verfi lmte, spielt hier mit sichtbarem Genuss den Nazi-Offizier. Stolz teilt er auf der Website des Filmes mit, dass er während der Dreharbeiten eine originelle Nazi-Uniform aus dem Jahre 1943 getragen hat. In der Literatur dieser Zeit sind es Texte von Vladimir Sorokin, Maria Rybakova, Michail Kononov u.v.a., die das Unio-Sujet variieren, um NaziNachkommen mit jüdisch-russischen Töchtern zu vermählen oder eine russische Kriegsheldin in ihrer hinreichend mystischen und mystifizierenden Beziehung mit den drei deutschen Walters (dem Deutschlehrer, dem erschossenen Nazi-Offizier und der gleichnamigen Pistole) zu beobachten. So kam es, dass die Figur in der Nazi-Uniform immer weniger als Feind empfunden wurde, was gleichzeitig zu der Enttabuisierung der Nazi-Symbolik führte. Eine der letzten Erscheinungen solcher Art ist die synthetische Zirkus-Show »Krakatuk«, frei nach E.T.A.Hoffmanns »Nussknacker«, in der Hoffmanns junger Drosselmeier als blondierter und in schwarze SSUniform drapierter »junger D. aus Nürnberg« auftritt. Mit dieser blonden Bestie vereinigt sich das russische Mädchen Maša im feierlichen Finale der Auff ührung, nachdem sie gemeinsam mit ihrem uniformierten Freund die Armee der Cyber-Mäuse besiegt hatten. Schließlich projiziert Der Film »Gitler kaput!«/»Hitler kaputt« (2008) parodistisch die Situation in »Putins Reich« auf die deutsche tertia imperia: Hitler schnupft Kokain, Eva Braun träumt vom Urlaub in Dubai, Nazi-Offiziere entspannen sich zu Hava-Nagila-Klängen in Lokalitäten, für die offensichtlich Moskauer Clubs Mo283

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dell standen. Somit verwandelt sich der einstige Feind nicht nur in einen Freund, sondern in ein alter ego, der Nazi wird zur geliebten, unentbehrlichen, gewohnten und eigenen Figur des russischen diskursiven Raumes. Der Krieg gegen Deutschland endet in einer Unio mystica mit dem einstigen Feind, die nicht nur fiktional in Romanen, Filmen und Shows vollzogen, sondern am 9. Mai 2005 in einer »reality-show« am Roten Platz inszeniert wurde, als der russische Präsident und der deutsche Kanzler gemeinsam die Siegesparade begrüßten. Bei dieser Aktion ging es weniger um Verzeihung, als um Verbrüderung.26 Die Erzählung vom deutschen Feind endet in dem Punkt, wo die Figur des Feindes mit dem imaginären postsowjetischen und neurussischen »Ich« zusammenfällt.

Schlussbemerkungen Bereits als der sowjetische Diskurs über den deutschen Feind etabliert wurde, war die Definition des Feindes uneindeutig und schloss die Möglichkeit einer Umkehrung zum Freund ein. Auch gelang es den Schöpfern des Feinddiskurses nicht, die Erzählung des »deutschen Feindes« in eines der universalen Konfrontationsmodelle (etwa Zivilisation/Barbarei) einzuschreiben, um so ihre Langlebigkeit zu garantieren. Diese kontroverse Konstruktion barg potentielle positive Semantiken bereits in sich, an die später sowohl die oral history mit ihren Narrativen des »guten Deutschen« als auch der Diskurs des »vermenschlichten Feindes« in der Nachkriegszeit anschließen und sie zu den Sujets der Vereinigung und Verbrüderung bis hin zu Identifizierung mit dem Feind erweitern konnte. Als tragende Kraft des Feinddiskurses, das Große Narrativ – die kanonische Interpretation der sowjetischen Geschichte mit ihren Ideologien und Mythologien – implodierte, stellte es sich heraus, dass die Erzählungen vom deutschen Feind keine Grundlage mehr hatten, denn ein spezieller Diskurs über Nazismus ist in der UdSSR nie entstanden. Die Konfrontation mit dem Feind wurde mit Hilfe von positivistischen Modellen des 19. Jahrhunderts gedeutet (auch wenn der Marxismus samt seinem universellen Erklärungsmodell des Klassenkampfes in der Sowjetunion eine sehr eigentümliche Interpretation erfahren hat), so dass das Phänomen des Deutschen Nazismus zwar erlebt, aber nicht erklärt und analysiert werden konnte und so für die Mehrheit der Beteiligten »ungesehen« blieb. Auch der später mög26. Die Kenntnisse über die deutschen Diskussionen über die »deutsche Schuld« und die »Täter-Opfer-Problematik« beschränken sich in Russland zumeist auf Spezialistenkreise und sind der populären Kultur weitgehend unbekannt.

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lich gewordene Anschluss an die europäischen Kriegsdiskurse wurde erschwert, weil diese zumeist »entlang des Holocaust« geführt wurden, eines historischen Ereignisses, das in der Sowjetunion weitgehend verschwiegen wurde. Die Tötung der europäischen Juden wurde zwar anerkannt, aber die Millionen der jüdischen Opfer im eigenen Land wurden zu den Millionen sowjetischer Opfer hinzugezählt und die wenigen Versuche, den exklusiven Charakter dieser Vernichtung zu analysieren oder zumindest zu dokumentieren, wurden unterbunden oder sogar bestraft. Dagegen ist der »Krieg im Osten« – der einzig aktuelle Punkt für den sowjetischen und russischen Erinnerungsdiskurs – in den westlichen Diskursen oft ein blinder Fleck, so dass ein Austausch oder zumindest das gegenseitige Verständnis mangels einer gemeinsamen Plattform kaum möglich erscheint.27 Ohne das sowjetische große Narrativ blieb der Feinddiskurs buchstäblich in der Luft hängen und löste sich gleichsam in Luft auf. Auch die Struktur des kollektiven Gedächtnisses über den Zweiten Weltkrieg bewirkt die paradoxe »Positivierung« des Feindes. Die Konkurrenz des »ersten« und des »zweiten« Gedächtnisse hatte die Multiplizierung des Feindbildes, die gleichzeitige Gültigkeit unterschiedlicher und nicht selten konträrer Feind-Modelle zur Folge. Dabei kann man die Beziehungen zwischen beiden Narrativen weder mithilfe des Widerstandesschemas, noch des Schemas der Abschaff ung oder der Ersetzung des einen durch den anderen (etwa nach der politischen Wende) erfassen, sondern viel mehr über die Interferenz und Interdependenz der beiden memorativen Erzählungen erklären. Denn im Laufe der Zeit vermischten sich im Kriegsdiskurs sowohl das rhetorische Pathos des »ersten« als auch die bodenständige »Wahrheit« des »zweiten Gedächtnisses«, um schließlich, wie wir es heutzutage beobachten können, die Cocktailgläser der neurussischen Unterhaltungskultur zu füllen und Stoff für nimmer endende Fernseh-Soaps zu liefern.

Literatur Assmann, Aleida/Frevert, Ute (1999): Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit der deutschen Vergangenheit nach 1945. Stuttgart. 27. Besonders plakativ in dieser Hinsicht war die deutsche Rezeption der russischen Siegesfeier 2005, die oft mit Totalitarismusvorwürfen einherging, da der feierliche Code dem deutschen Publikum absolut unverständlich war (ohne Holocaust-Komponente, die in Deutschland die Essenz des Erinnerungsdiskurses darstellt und ohne Gedenkfeier in der in Deutschland üblicher Form).

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Uniform und Katachrese. Die Armee im russischen Gegenwar tsfilm und die Neuentdeckung Aleksandr Kupr ins Thomas Grob (Basel)

Patr iotismus, die Armee und die ›imagined communities‹ Die kulturelle Diskurssituation in Russland hat sich seit dem Ende der 1990er Jahre markant verändert. Auffallend ist dabei vor allem die Rolle, die ein neuer ›Patriotismus‹ darin spielt. Dieser ist keineswegs nur ein Phänomen der Beobachtung von außen, sondern ein allgegenwärtiges Schlagwort. Putin erklärte ihn beim Amtsantritt als russischer Präsident im Jahr 2000 zu seinem politischen Programm, und der Begriff geistert seither mit zunehmender Dynamik durch die verschiedensten gesellschaftlichen Bereiche. Besonders betroffen ist auch die Erziehung: besonders heftige Auseinandersetzungen gab es in den letzten Jahren um Geschichtsbücher für die Schule,1 und diskutiert werden dabei gelegentlich auch die patriotischen Aufgaben des Literaturunterrichts.2 Doch das ›erzieherische‹ 1. Beispielhaft dafür ist die heftige Polemik um das von Aleksandr Filippov herausgegebene, kremlnahe Lehrbuch Novejšaja istorija Rossii 1945-2006 gg. (Die neueste Geschichte Russlands. 1945-2006) und sein Geschichtsbild, das nicht nur Putin, sondern insbesondere auch Stalin als großen Staatsführer darstellt; ihm ging bereits eine umstrittene Anleitung für Geschichtslehrer voraus. Das Geschichtsbuch, das den Patriotismus zur eigenen Hauptaufgabe erklärt, ging einher mit Bestrebungen, den Schulen wieder zentral das Lehrbuchprogramm vorzuschreiben. 2. Vgl. etwa V. Ju. Troickij (2004). Der Autor, Professor und Akademiemit-

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Element und seine Lesarten der Geschichtsdeutung gehen weit über die eigentliche Pädagogik hinaus: Denn es gibt keinen russischen Patriotismus ohne die dazugehörigen Geschichtsbilder und die wollen verbreitet werden. Eine ›patriotische‹ Tendenz des öffentlichen Diskurses reflektiert sich im kulturellen Bereich weniger in der Literatur als in neueren Film- und Fernsehproduktionen. Am auffallendsten ist dabei das geradezu inflationäre Auftreten von Sujets aus der Welt der Armee. Filme über den Krieg bilden gegenwärtig wieder das vielleicht produktivste Filmgenre überhaupt, und es kommt zu einer neuen Inszenierung sowohl des Zweiten Weltkriegs wie der Kriege in Tschetschenien oder – seltener – in Afghanistan.3 Noch im Jahr 2002 zeigte sich Karen Šachnazarov, Initiator und Produzent des Films Zvezda (Der Stern, Reg. Nikolaj Lebedev, 2002) in einem Interview besorgt, das pyrotechnische Knowhow von Mosfi lm könne mitsamt seinen Spezialisten verschwinden; zu sowjetischen Zeiten sei immerhin etwa ein Drittel der Filmproduktion der Kriegsthematik gewidmet gewesen. 4 Mittlerweile braucht man sich um die Pyrotechniker jedoch keine Sorgen mehr zu machen – der Kriegsfilm erlebte in den letzten Jahren einen gewaltigen Boom, und fast scheint es, als müsse man als Regisseur und Schauspieler mindestens einen entsprechenden Beitrag ausweisen können.5 Doch bleibt auch der neue Kriegsfi lm – wie es der sowjetische seit dem Tauwetter immer gewesen war (vgl. Youngblood 2001: 2007) – ein vielschichtiges Phänomen. In ihm zeigen sich ganz verschiedene Diskurse der nationalen Selbstdarstellung – Šachnazarov etwa betont für seinen Film, er wende sich gegen die Amerikanisierung der Weltkriegsthematik und gegen das Vergessen des russischen Anteils. Doch überlagern sie sich glied und Mitglied einer Akademie-Kommission für Schulbildung, fiel in der Brežnev-Zeit durch seine der offiziellen Ideologie nahestehenden literaturgeschichtlichen Darstellungen auf, die er später durch nationalpatriotische Sichtweisen ersetzte. 3. S. zuletzt Devjataja rota (Die 9. Kompanie, 2005). Auf den sowjetischen Afghanistan-Krieg wird im (halb-)dokumentarischen Film DMB-91 (1990) angespielt; sonst spielte er mit der kaum beachteten Ausnahme von Vladimir Mazurs Afgan (Der Afghane, 1991, Forts. 1994) früher kaum je eine Rolle. Eine Rückkehrer-Geschichte aus Afghanistan stellt Musul’manin (Reg. Vladimir Chotinenko, 1995) dar; der Krieg selbst wird hier aber noch gänzlich ausgeblendet. 4. Vgl. das Interview auf der DVD-Ausgabe des Films in der Serie »Velikaja otečestvennaja vojna« (Krupnyj plan 2006). 5. So im vierteiligen Film V ijune 1941 (Im Juni 1941; Reg. A. FranckevičLaje, 2008), der nach Aussage des Regisseurs dem Hauptdarsteller Sergej Bezrukov auf den Leib geschrieben wurde.

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mit Dimensionen der Erinnerung und der Konstruktion von Vergangenheit. Neben den Regisseuren, die sich an der politischen Konjunktur orientieren, gibt es nicht wenige, die sich den neuen patriotischen Helden- und Feindbildern entziehen. Mein Fokus liegt im Folgenden aber nicht auf dem eigentlichen Kriegsfi lm, sondern auf der Militärthematik an sich, wie sie auch unabhängig eines eigentlichen Kriegskontextes repräsentiert sein kann. Denn die Motiviken uniformierter männlicher Gemeinschaften haben im neuen Film auch jenseits der Kriegsdarstellung und der Geschichtsdarstellung Konjunktur; daran sind ambitionierte Filmproduktionen ebenso beteiligt wie unterhaltende Fernsehserien. Besonders letzteren, die eine Tendenz zum Komödienhaften aufweisen, dienen die Namen von Uniform tragenden Militäreinheiten häufig bereits als Titel. Es gibt mittlerweile kaum eine militärische oder paramilitärische Position, die noch keiner entsprechenden Produktion den Namen gegeben hätte: Den Anfang machten 2004 die Soldaty (Soldaten), es folgten Kursanty (Offiziersschüler), Oficery (Offiziere), Kadety (Die Kadetten), Junkera (Die ›Junker‹, d.h. ebenfalls eine Form von Kadetten), Kadetstvo (Die Kadettenschaft), Diversanty (Die Diversanten) und andere. Meistens handelt es sich dabei um Mehrteiler oder TV-Serien; Soldaty beispielsweise wird bis heute mit Erfolg fortgesetzt. Die Welle solcher Filme und Fernsehproduktionen könnte Anlass sein, eine Militarisierung der russischen Kultur zu vermuten und damit eine militarisierte Form des Patriotismus; diese Befürchtung formulieren durchaus auch russische Intellektuelle.6 Tatsächlich gibt es Anzeichen in dieser Richtung, wenn man an die Rhetorik einiger Politiker, die mediale Verarbeitung des jüngsten Georgien-Konfliktes und überhaupt die Konjunktur militärischer und kriegstechnologischer Themen auf gewissen Fernsehkanälen oder an die Wiedereinführung der Militärparade zum Tag des Sieges auf dem Roten Platz in Moskau denkt. Dennoch ist die gesellschaftliche Repräsentativität dieser politischen Tendenzen fraglich. So hat die öffentliche Kritik an den Zuständen der Armee in den letzten Jahren nicht abgenommen, und auch die neueren Kriegsfi lme heroisieren keineswegs pauschal die Armee; erst recht beruhen sie, wie wir noch sehen werden, keineswegs durchgehend auf der Konstruktion klarer Feindbilder. Ungeachtet gewisser martialischer Töne bei Politikern und in Medien sind wir von einer Entwicklung wie etwa derjenigen in den späteren 1930er Jah-

6. Vgl. das Interview des Leadsängers Jurij Ševčuk der Gruppe DDT im Radiosender Ėcho Moskvy vom 23.9.2008 (www.echo.msk.ru/programs/personalno/ 541962-echo/ bzw. www.echo.msk.ru/programs/personalno/541962-echo.phtml, geprüft Dez. 2008).

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ren, als das öffentliche Leben bis hin zur Kinderliteratur auf militärische Themen getrimmt wurde, weit entfernt. Wie aber kann man dann die Konjunktur dieses Themas deuten? Wenn kritische russische Stimmen anlässlich der komödienhaften Fernsehserie Soldaten behaupten, mit ihr werde das Image der Armee aufpoliert, dann ist das noch keine hinreichende Erklärung für ihren Erfolg. Ich möchte im Folgenden zu begründen versuchen, dass die Armee als Milieu in diesen Filmen von in eigentlichem Sinn ›militaristischen‹ Sinnbezügen weitgehend abgekoppelt sein kann, oder anders gesagt, dass die Militärthematik über den Bezug auf den ›Krieg‹ weit hinausgeht. Denn ebenso gehört sie einem Diskurs von Gemeinschaft an, und die hier interessierenden Filme bieten nicht zuletzt entsprechende fi ktional-metaphorische Modelle an. Insofern modellieren sie auf ihre Weise symbolisch die imagined community; und diese Modellierungen entfalten ihre Bedeutung in einem Prozess, den man durchaus als neues nation building bezeichnen könnte. Benedict Anderson versuchte mit dieser Begriffl ichkeit bekanntlich eine konstruktivistische Definition von ›Nation‹ unter den modernen Bedingungen einer anonymisierten Gesellschaft zu geben und meint auch eine Abgrenzung gegenüber früheren Gemeinschaftsformen (Anderson 1991: 6 und passim). Damit hat Anderson den historischen Prozess der Nationenbildung im Auge. Doch spielen auch in den andauernden Identitätsdiskursen moderner Gesellschaften symbolisierte Gemeinschaftsmodelle – und oft solche aus dem ästhetischen Bereich – eine wesentliche Rolle. In diesem Sinne ließe sich wohl im Plural von imagined communities sprechen. Die These hier lautet, dass wir in dieser Thematik, wie sie sich vor allem im Film präsentiert, einen solchen Fall beobachten können. Russland ist seit der Auflösung der Sowjetunion mit einer völlig neuen politischen und kulturellen Geographie – und damit einer verschärften Frage der Grenze – ebenso konfrontiert wie mit dem Zerfall praktisch aller vorher gültigen kollektiven Selbst- und Leitbilder, einschließlich der Struktur des kulturellen Gedächtnisses.7 Dieser Prozess vermochte sich in den 1990er Jahren nur sehr bedingt zu stabilisieren.8 Seit den späten 1990er Jahren scheint eine neue Welle von prinzipiellem Patriotismus diese Lücke zu füllen. Dass solche Fragen in der gegenwärtigen russischen Kultur – und mu7. Zur Zeit der Perestrojka wurden zeitweilig sogar die Schulabschlussprüfungen in Geschichte ausgesetzt, weil man nicht mehr wusste, was man als korrekt ansehen sollte. 8. Als Boris Jelzin nach seiner Wiederwahl 1996 zum großen Wettbewerb über die Neubestimmung der »Russischen Idee« aufrief, endete dies, anstatt in einer Stärkung des nationalen Diskurses, in zahlreichen Versuchen von Politikern, dies in Propaganda für sich selbst umzumünzen.

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tatis mutandis in den anderen postsowjetischen Kulturen – eine besondere Rolle spielen, kann also nicht erstaunen. In den Darstellungen westlicher Medien zeichnet sich in den letzten Jahren einerseits eine höchst kritische Bewertung des neuen russischen nationalen Bewusstseins und andererseits eine Romantisierung nichtrussischer Neo-Nationalismen auf dem vormals sowjetischen Territorium ab. Diese Darstellungen greifen zum einen auf das historische Narrativ der Befreiung unterdrückter Völker zurück und stehen andererseits in der Tradition alter Bedrohungsszenarien. Hier kann es nicht um den mehrfachen Widerspruch des westlichen politischen Diskurses gehen, dass man zwar in der neueren europäischen Entwicklung nationale Grenzen als hinderlich erkennt, aber dabei zugleich die national(istisch)en Kräfte des ehemaligen sog. Ostblocks – sofern sie nicht der EU angehören – mit verschiedenen Mitteln (auch militärischen) fördert, während man eine analoge Entwicklung in Russland als Rückfall in düstere Zeiten versteht. An dieser Stelle soll es nur um die Analyse der russischen Situation gehen, und diese muss mit der Feststellung ansetzen, dass in diesem Umfeld nicht mit einem vordefinierten, überzeitlichen und wertenden Patriotismusbegriff gearbeitet werden kann. Dies gilt ganz besonders bezüglich der ästhetischen Reflexe eines kulturellen Patriotismus, der mit dem offiziellen – der selbst vielgestaltig und widersprüchlich ist – keineswegs immer im Einklang stehen muss. In Bezug auf die hier zur Diskussion stehenden Filme wäre vielmehr zu fragen, wie ›Patriotismus‹ narrativ verfasst ist. Denn Patriotismus, wie immer er aussieht, muss erzählt werden, und sein spezifischer Charakter zeigt sich vor allem in seiner narrativen Struktur. Im Zentrum soll dabei ein fi lmisches Beispiel stehen, in dem auch die Literatur eine Rolle spielt. Auffallenderweise werden die Geschichten, in welchen sich die skizzierten Tendenzen manifestieren, im Moment eher im Film als in der Literatur erzählt. Diese beiden Medien, die immer wieder voneinander das Erzählen lernten (vgl. Paech 1997), reflektieren den ›neuen Patriotismus‹ mit deutlichen Unterschieden.

Die Armee als Gesellschaf tsmodell im Film der Perestrojka-Zeit Ein Verständnis der aktuellen fi lmischen Entwicklungen in der Armeethematik setzt den Blick auf die Vorgeschichte der letzten zwei Jahrzehnte voraus. In der Zeit der Perestrojka wurde die Armee auf neue Weise zum Thema des russischen Films. 1989 entstand der schwarzweiß gedrehte Spielfi lm »Karaul« (Die Wache) des Regisseurs Aleksandr Rogožkin, der in der weiteren Entwicklung des Themas eine der profiliertesten Figuren sein wird. Sein Film handelt von einem militärischen Sonderzug, der Gefange293

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ne transportiert. Dabei steht weniger die Gewalt unter und gegenüber den Gefangenen im Mittelpunkt als vielmehr diejenige der älteren gegenüber den jungen Soldaten, d.h. das als dedovšč ina, »Herrschaft der Großväter«, bekannte Phänomen. Die Zugfahrt mündet in ein Blutbad, das ein junger Soldat in seiner eigenen Truppe anrichtet.9 Aleksej Chanjutins »DMB-91« (1990)10 ist ein Dokumentarfi lm, ebenfalls in schwarzweiß, der wohl zum ersten Mal authentisches fi lmisches Material aus dem Leben in der Armee zeigte; in einem Voice-over liest die Stimme eines Soldaten Briefe an die Familie. Immer wieder hört man offensichtlich mit Bedacht ausgewählte Nachrichten über die politische Situation und insbesondere über nationale Konflikte der späten Sowjetunion mit, die die Soldaten im Radio hören. Das Filmteam soll länger in der Kaserne mit den Soldaten gelebt haben und gefi lmt wird vorwiegend aus naher Perspektive eines Beteiligten. Der Film endet mit dem Hinweis auf einen Soldaten, der sich das Leben genommen hat, doch liegt der Fokus fi lmisch weniger auf der Entlarvung etwa von Gewalt als auf der Stumpfsinnigkeit und Leere des Armeelebens und politisch auf den sich verschärfenden Nationalitätenkonflikten auch innerhalb der Armee. Experimenteller ging Chusejn Ėrkenov in Sto dnej do prikaza (Hundert Tage bis zum Befehl, 1990) die Thematik an. Der Film basiert auf einer gleichnamigen Erzählung Jurij Poljakovs, der erstmals die dedovšč ina thematisierte, doch wird filmisch die Gewaltstruktur der Armee in fast surrealen, langen Einstellungen in Szene gesetzt. Die leitmotivische Nacktheit der Soldaten und Bildmotiviken wie das Wasser verleihen der jeder Sinn-Funktion enthobenen militärischen Umgebung einen existentiellen Charakter, der über die Beschreibung des Armeelebens weit hinausgeht.11

9. Hier zeigt sich deutlich die Radikalisierung dieser Jahre. Noch 1987

konnte mit Komanda 33 (Reg. Nikolaj Gusarov) ein Film gedreht werden, der eine Aushebung und das folgende Zusammenwachsen einer Gruppe auf dem Weg im Zug zum Armeedienst im Fernen Osten vorführt. 10. DMB ist die Abkürzung für »Demobilisierung« und meint den Austritt aus dem Militärdienst; davon abgeleitet ist der »dembel‹«, der Soldat, der den aktiven Dienst beendet. Dieser Übergang ist in der russischen Armee nach sowjetischer Tradition mit verschiedenen Ritualen verbunden. 11. Leider hat der Film kaum Beachtung gefunden; Youngblood (2007: 281) beschränkt sich auf die Bemerkung, der Film sei wegen des doppelten Tabubruchs von Gewalt und Homoerotik im Vertrieb behindert worden.

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Armee, (Selbst-)Parodie, Gemeinschaf t Diese eher düsteren, Tabu brechenden Filme sind aber nur für eine kurze Periode typisch. Vielmehr verschwindet nun die Armee-Thematik weitgehend aus dem Blickfeld des russischen Films, um erst nach einem eigentlichen Paradigmenwechsel auf nennenswerte Weise wieder zu erscheinen. Im Jahr 2000 kam ein Film Roman Kačanovs heraus, der wieder »DMB« hieß. Es handelte sich um eine Komödie, die den militärischen Alltag von einer absurden Seite zeigte. Das Leitmotiv des Films lautet: »do dembelja im ešče daleko« – zur Demobilisierung haben sie es noch weit. Doch liegt der Fokus – und das wird typisch für eine ganze Gruppe weiterer Filme – eben nicht auf der bevorstehenden Entlassung, sondern im Gegenteil auf der Rekrutierung und dem Prozess der ›Eingewöhnung‹. Die episodischen Handlungselemente – es wird viel getrunken, philosophiert und keineswegs nur Tabak geraucht, es gibt Gewalt und Korruption – spiegeln in karikierender Form die Verhältnisse der 1990er Jahre. Doch handelt es sich nicht einfach um eine Klamauk-Komödie – dafür ist der Film zu sehr surreal verfremdet und dabei zu präzise auf gesellschaftliche Bilder fokussiert. Aspekte wie die Gewalt in der Armee werden eher grotesk verstärkt als beschönigt; doch erhalten sie hier eine deutlich komische Färbung. »DMB« wurde in Russland zum Kassenschlager. Ganz offensichtlich lag der Grund dafür auch darin, dass der Film die Armee für eine Spiegelung der gesellschaftlichen Gegenwart und für einen russischen Identitätsdiskurs verwendete. Nicht zufällig (und ganz offensichtlich) wird in diesem Film ein anderer zitiert, der sich dies zum Thema gemacht hatte. Mitte der 90er Jahre hatte Aleksandr Rogožkin, der Regisseur des genannten Films »Karaul« (Die Wache), mit bescheidenem (staatlichem) Budget einen Film mit dem Titel »Osobennosti nacional’noj ochoty« (Besonderheiten der nationalen Jagd) gedreht. Dieser Film gilt nicht nur als die erste einheimische Produktion der nachsowjetischen Zeit, die wieder ein breites russisches Publikum fand – der Film wurde geradezu zum Kultfi lm.12 Rogožkin wurde durch diesen Film zum vielleicht deutlichsten Repräsentanten einer Wende vom Abrechungskino der frühen 1990er Jahre hin zu

12. Der Film lief 1995 in den Kinos; 1999 drehte Rogožkin die Fortsetzung Osobennosti nacional’noj rybalki (Die Besonderheiten des nationalen Fischfangs), 2000 folgten noch die Osobennosti nacional’noj ochoty v zimnij period (Die Besonderheiten der russischen Jagd im Winter). 1999 drehte Dmitrij Meschiev nach Rogožkins Drehbuch zudem die Osobennosti nacional’noj politiki (Die Besonderheiten der russischen Politik).

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mehrschichtigeren Darstellungsformen. Dies schlägt sich auch in seiner Bearbeitung der Kriegsthematik nieder.13 Bei den »Osobennosti nacional’noj ochoty« handelt es sich um eine Burleske über das Russischsein an sich. Die Handlung besteht in einem Jagdausflug einer (ausschließlich männlichen) Gruppe von vier Russen mit einem Finnen, der vor allem im philosophischen Saufgelage besteht. Da ein General beteiligt ist, erfolgt der Jagdausflug mit voller militärischer Ausrüstung; dennoch endet jeder Versuch einer jägerischen Handlung im Fiasko, was allerdings die Teilnehmer keineswegs aus dem Konzept bringt. In vielschichtig dialogisch wie szenisch umgesetzter Form dreht sich in diesen Filmen alles um russische Stereotypen und Autostereotypen. Kačanovs »DMB« zitiert diesen Film nicht nur in seiner Machart, sondern konkret mit einer Sauf- und Jagdszene, in der einer der Soldaten das Wildschwein spielt, das den hohen Offizieren als Jagdobjekt dient. Der Film bewegt sich analog dem Vorbild auf der Schneide zwischen rücksichtsloser Offenheit und kultureller Autoparodie. Er spielt dabei ebenfalls mit einem schwer zu ortenden Wir-Gefühl, ohne dass dabei eine Heroisierung oder ›Romantisierung‹ der Armee auf kommen könnte. Seit der Perestrojka-Zeit – paradigmatisch etwa »DMB-91« – ist in Armeefi lmen ein synekdochisches Verhältnis der Räume der Gesellschaft und Räume der Armee zu beobachten. Damals hatte diese Spiegelung eine gesellschaftsbezogene, kritische Intention: In der Armee kumulierten sich die Missstände der gesamten Gesellschaft, die Existenz in Uniform wurde zum Bild gesellschaftlicher Existenz überhaupt. In »DMB« dagegen ist die Armee ein grotesker Zerrspiegel, der zwar immer noch ein typisiertes Modell von gegenwärtiger Gesellschaftlichkeit darstellt, der diese aber demonstrativ überzeichnet, ins Absurde und Komische verschiebt und dabei gesellschaftliche Klischees, Selbstbilder und Überlebensstrategien einfängt.14 Hier ist die Armee aber auch Gegenraum: Auf seltsame Weise bietet sie nämlich Schutz vor der äußeren Realität. Dies wird explizit am Beispiel des Soldaten, der vor seinen Schuldnern aus der Halbwelt auf der Flucht ist. Die Armee ist zudem, undenkbar in den Filmen ein Jahrzehnt 13. Rogožkin dreht mit Blokpost (Checkpoint, 1998) den vielleicht differenziertesten Film zum Tschetschenienkonflikt überhaupt; zu seinen auffallendsten Merkmalen gehört es, wie ›leise‹ er ist. Es folgen die ganz aus der geographischen Peripherie operierenden Filme Kukuška (2002) und Peregon (Transit, 2006). Den Beitrag dieses Regisseurs zur Militärthematik zu behandeln würde eine eigene Arbeit verlangen. 14. Dabei ist dieser Film zu unterscheiden von den teilweise gleichnamigen Nachfolgeproduktionen, die zunehmend in den Militär-Klamauk als Selbstzweck abgleiten.

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zuvor, ein Ort der Entstehung einer Gruppe, und dieser Prozess ist wesentlicher Teil des Sujets. Die frisch rekrutierten Soldaten, die nur aus Not oder Zwang zur Armee kommen, werden am Anfang ausführlich und drastisch in ihrer untereinander ebenso wie mit der Institution inkompatiblen Individualität gezeichnet. Im weiteren Verlauf zeigt der Film, wie aus ihnen mit der Zeit, wenn auch jenseits aller Klischees einer autoritativen und disziplinierten Gemeinschaft, eine Gruppe mit starkem Zusammenhalt wird. Die Thematik der Gemeinschaftsbildung gelangt somit über die kulturelle Reflexion des Russischseins in die filmischen Armeedarstellungen. Versteht man diese Gemeinschaftsbildung als ein Ziel dieser Narrative und reduziert man diese auf ihre aktantische Grundstruktur, dann zeigt sich, dass in den Perestrojka-Beispielen die Armee nicht nur pars pro toto der Gesellschaft, sondern auch das eigentliche Hindernis auf dem Weg zum Ziel darstellte. Die Armee selbst behindert aufgrund ihres Zwangscharakters und ihrer Gewaltstruktur die Bildung von Gemeinschaft; äußere Gegner braucht sie dafür nicht und diese sind denn auch kein Thema. Im Film »DMB« dagegen ist die Armee in Bezug auf das Ziel der Gemeinschaftsbildung im aktantischen Sinne ›Helfer‹ und ›Gegner‹ zugleich. Vorrangiges Ziel der Akteure ist – durchaus typisch für die 90er Jahre – das individuelle Überleben und dieses ist in der Welt außerhalb noch gefährdeter ist als in der Armee: Die Armee ist wenigstens noch eine Form von Gemeinschaft. Auf ironische Weise wird sie nicht nur zum Ort, wo sich ›nationale‹ Eigenart zeigt, sondern auch eine ausgeprägte, wenn auch gruppengebundene Individualität. Auf dieser Betonung des Individuellen beruht im Grunde die ganze Komik des Films.

Der Rückgr if f auf Aleksandr Kupr in als Militärschr if tsteller : »Junkera« (2007) Wie aber steht es denn um die narrativen Grundstrukturen des Erzählens von Gemeinschaft in den gegenwärtigen Produktionen? Ich möchte dazu einen Film näher vorstellen, der vielleicht nicht zu den ästhetisch herausragenden Produktionen gehört, der mir jedoch exemplarisch erscheint in Bezug auf die gegenwärtige Behandlung von Armeethemen im Film. Im Jahr 2007 wurden erstmals die zwölf Teile des Fernsehfilms »Junkera« (Die Junker)15 gezeigt. Dieser Film ist ambitionierter als andere Fernsehproduktionen und wie so oft in der russischen Filmtradition untermauert 15. Dass russische Wort »junker« meint hier den jungen Offiziersanwärter, den Schüler einer entsprechenden Ausbildungsinstitution. Um eine Verwechs-

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er diesen Anspruch dadurch, dass es sich um eine literarische Adaptation handelt: Der Film bezieht sich auf den gleichnamigen Roman von Aleksandr Kuprin. Doch zeigen die Umstände, dass es um mehr geht als um bloße Verfilmung, nämlich um die Inszenierung einer literarischen ›Wiederentdeckung‹, die sich mehr als auf einen Text auf den Autor und sein Gesamtwerk bezieht. Der Film »Junkera« mit seinen fast zehn Stunden Laufzeit spielt vor dem Ersten Weltkrieg. Er zeigt das Leben in der Truppe in der russischen Provinz; in der ersten Szene werden auf einem Exerzierplatz Soldaten geschunden. Held der Handlung ist zuerst der junge, künstlerisch talentierte Offizier Romašov, der ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau hat; später kommt er deswegen im Duell um. Die eigentlich zentrale Figur durch alle Teile ist aber sein Freund Bulanin, der sich in Rückblenden an seine schwierige Kindheit in einer Militärschule erinnert. Nach Romašovs Tod wird Bulanins weitere Lebensgeschichte zur Kernhandlung. Da die Aufnahme in die Militärakademie wegen eines unglücklichen Zwischenfalls scheitert, wird er Erzieher im Kadetten-Institut; dieses bietet den Rahmen für die restliche Handlung. Zum Schluss wird Bulanin, der schon länger nebenher Erzählungen veröffentlicht hatte, Schriftsteller. Der Film hat eine auffallend verwickelte Handlung, zudem scheint einiges auf den ersten Blick ziemlich widersprüchlich. Die Armee wird einmal sehr kritisch dargestellt, dann wieder romantisiert, die politische Bildlichkeit ist einmal staatsloyal und patriotisch, dann wieder verhilft der jugendliche Held sogar einem Terroristen zur Flucht. Diese Inkonsistenzen resultieren daraus, dass verschiedene Texte Kuprins nebeneinander als Vorlage verwendet wurden. Allen voran sind das die autobiographischen Romane »Na perelome« (Im Umbruch, 1900), »Poedinok« (Das Duell, 1905) und eben »Junkera« (Die Kadetten bzw. Junker, 1932). Diese Texte entstanden zu verschiedenen Zeiten und zeigen eine unterschiedliche Ausrichtung; ihre Kombination ist deswegen keineswegs selbstverständlich und erklärungsbedürftig. Sie liegt aber gleichsam in der Luft: In der Fernsehserie »Kadetstvo« (2006), einem Fortsetzungsversuch zu den erfolgreichen »Soldaty«, entdecken die Kadetten des wiedergegründeten Suvorov-Instituts den Klassiker Kuprin als begeisternde Lektüre, nicht zuletzt, weil sie darin einen ›Vorläufer‹ finden. Um die Komplexität der Kuprinschen Vorgaben und den Charakter seiner Verwendung in der Gegenwart deutlich zu machen, muss man einen Blick in die Biographie des Schriftstellers werfen, aus der in der Figur Bulanins Elemente in den Film eingearbeitet sind, und auf den Ort, den die lung etwa mit der Filmproduktionen unter dem Titel »Kadetten« oder »Kadetstvo« zu vermeiden, behalte ich auf deutsch den Ausdruck bei.

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Texte darin einnehmen. Der 1870 geborene Aleksandr Kuprin war fast der einzige Autor seiner Zeit, der die russische Armee noch von innen kannte. Nach der Armeereform von 1874, die eine Reservearmee geschaffen und den generellen militärischen Dienst von adligen Männern aufgehoben hatte, verschwand die Armee weitgehend aus dem Blickfeld der Literatur. Dies beendete eine lange Tradition, wie sie die Romantiker geprägt und Lev Tolstoj besonders intensiv gepflegt hatte. Kuprin stammte aus einer verarmten adligen Familie; seine Mutter gehörte einem alten tatarischen Geschlecht an. Da der Vater früh starb, kam er im Alter von zehn Jahren für sieben Jahre auf ein Militärgymnasium. Anschließend verbrachte er zwei Jahre im elitären »Aleksandrovskoe voennoe učilišče«, einer renommierten Moskauer Kadettenschule – dies war eben seine Zeit als »Junker«. Schließlich versah er Dienst in einer podolischen Kleinstadt. Der Eintritt in die Militärakademie misslang, und Kuprin verließ 1894 die Armee ohne Berufsausbildung; er versuchte sich in den verschiedensten Berufen, bis er sich schließlich als Schriftsteller etablieren konnte. Kuprin radikalisierte sich politisch angesichts der Ereignisse von 1905 und auch die Februarrevolution begrüßte er noch. Während der Oktoberrevolution aber schloss er sich der Weißen Armee an, mit der er ins Pariser Exil ging. 1937 kehrte er, bereits schwer krank, nach Russland zurück, was von den sowjetischen Medien gefeiert wurde; bereits im folgenden Jahr starb er. Jeder der drei großen autobiographischen Texte Kuprins widmet sich einer seiner drei Lebensphasen in militärischen Einrichtungen. Der erste, »Na perelome« (Im Umbruch), handelt von der langen Gymnasiumszeit des Helden Bulanin, der im Film als Figur aus diesem Roman wie als Projektionsfigur für Kuprin selbst dient. Der autobiographische Text »Na perelome« ist eine Abrechnung mit einer auf tumbe Disziplin ausgerichteten Anstalt, in der die Pädagogen die Kinder sich selbst und damit dem Faustrecht überlassen. Der zweite Text, »Poedinok« (Das Duell), handelt vom militärischen Dienst nach der Ausbildung; er beschreibt das öde Leben der Truppe in der Kleinstadt, die Intrigen und Besäufnisse der schlecht bezahlten Offiziere, die ihre Soldaten nicht als Menschen betrachten. Diese Handlung dient als Grundlage der Geschichte Romašovs im Film, der im Duell umkommt. Es war dieser Roman, der in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde und Kuprin international den Ruf als Spezialist für Fragen der russischen Armee einbrachte. Am offensten äußerte er sich diesbezüglich in einem deutschen Zeitungsartikel, der 1906 unter dem Titel »Armee und Revolution in Russland« in Wien erschien (Kuprin 1906).16 Kuprin 16. Kuprin wird hier als »ehemaliger hoher russischer Offizier« und als Autor des »Militärromanes« Der Zweikampf (also: Poedinok) vorgestellt, der in Russland Aufsehen erregt habe und in alle europäischen Sprachen übersetzt sei.

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beschreibt darin in düsteren Farben die Verhältnisse in der russischen Armee, er betont die Unbildung und »Entfremdung« der Offiziere, den Graben zur Welt der bäuerlichen Soldaten, den unmenschlichen Umgang mit ihnen. Schließlich warnt Kuprin eindringlich vor der unlenkbaren Gewalt einer möglichen Revolution und gerade vor der möglichen Rolle der Soldaten darin, sollte das Land nicht grundlegende Reformen und mehr politische Freiheit erfahren. Der dritte Prosatext schließlich, der Roman »Junkera«, unterscheidet sich markant von diesen ersten beiden. Er entstand erst im Exil und behandelt die bisher ausgesparten zwei Jahre im Kadettenkorps. Den Zeitkontext bilden die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts unter Aleksandr III. Der Film verschiebt die Handlung ins 20. Jahrhundert und setzt entsprechend auch Nikolaj II. ins Bild. Vermutlich wollte man die sozialen Fragen in den Hintergrund treten lassen, um den Akzent auf die sich abzeichnenden Katastrophen von Krieg und Revolution atmosphärisch hervortreten zu lassen. Dies nimmt durchaus einen Gestus dieses späten Textes selbst auf, dessen Titel nicht zufällig auf den Film übertragen wird. In »Junkera« ist die Darstellung eine ganz andere als in den früheren Texten: Der Ton ist versöhnlich, ja manchmal nostalgisch und sogar schwärmerisch, und es werden die guten Seiten der Jugend, ihr Ehrgefühl, ihre Aufrichtigkeit und Liebesfähigkeit hervorgehoben. Dank seiner Rückkehr wurde Kuprin in der Sowjetunion immer gedruckt, wenn auch nicht vollständig. Nicht zu Unrecht bemerkte aber ein Herausgeber im Jahr 1990, Kuprin sei weitgehend vergessen (Čuprinin 1991). In den letzten Jahren jedoch erfährt er einen wahren Rezeptionsboom – und dies gerade mit den Armeetexten, die man vorher kaum kannte. Die Verfi lmung aus dem Jahr 2007 inszeniert im für jede Folge identischen Vorspann symbolträchtig Kuprins Rückführung in die heimatliche Kultur. Es wird eine historische Aufnahme gezeigt, wie Kuprin, aus dem Exil kommend, aus dem Zug steigt, unter Einblendung des Zitats: »Junkera – das ist mein Vermächtnis für die russische Jugend«.17

Die aktantische Struktur des patr iotischen Narrativs Wie unterscheiden sich diese Texte in ihrer Modellierung militärischer Gemeinschaft? Um dies in seiner Grobstruktur deutlich zu machen, reicht es, auf das an medienübergreifenden, narrativen Tiefenstrukturen orientierte 17. Das Zitat scheint den Erinnerungen von Lidija Arsen’eva entnommen; vgl. Krejd (Hg.) 1994.

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Aktantenmodell Vladimir Propps zurückzugreifen, das aus dessen Märchenforschung stammt (Propp 1975) und später insbesondere von Algirdas Julien Greimas in eine allgemeine Theorie des Erzählens implementiert wurde;18 für unseren Zusammenhang reicht dabei der Blick auf Propp. Die Aktantentheorie geht davon aus, dass Erzählsujets immer auf bestimmten Rollenverteilungen beruhen. Propp unterscheidet im russischen Zaubermärchen sieben »Handlungskreise«: Gegenspieler, Schadenstifter, Schenker bzw. Lieferant, Helfer, Zarentochter (auch: gesuchte Gestalt) und ihr Vater, Sender, Held, falscher Held. Das Modell geht davon aus, dass die Handlung ein Ziel verfolgt (die Hochzeit), es nimmt also im Sinne Umberto Ecos – für den das eine Leistung des Lesers ist – eine genrespezifische Topicwahl vor (Eco 1987: 108ff. und passim). Tatsächlich ist wohl jede Aktantenstruktur – ein Aspekt, der sowohl Propp wie den strukturalistischen Nachfolgern noch fremd war – abhängig von einer solchen Wahl; darin zeigt sich ihr Konstruktionscharakter in der Lektüre. Dass diese Wahl in modernen literarischen Texten komplexer ist als im Märchen, liegt auf der Hand. ›Aktanten‹ müssen als Handlungsrollen nicht in bestimmten Figuren (bei Greimas: »acteurs«) repräsentiert sein; sie können sich bündeln oder aufspalten, oder sie können auch abstrakter Natur sein. In Anlehnung an entsprechende Modelle von Greimas hat Wolfgang Müller-Funk unlängst ein Grundmodell des ›nationalen‹ Narrativs skizziert: Subjekt: der Freiheitskämpfer (männlich) Objekt: die unterdrückte Nation (weiblich), das Volk Sender: Geschichte Empfänger: die ethnische Gemeinschaft Gegner: andere Nationen Helfer: das Volk. (Müller-Funk 2002: 49)

Diesem Modell fehlt nicht nur ein Mechanismus der Vorentscheidung darüber, welchen Status ein solches Narrativ und damit diese Topicwahl im Ganzen eines Erzählkontextes hat. Auffallend ist in unserem Zusammen18. Es ist hier nicht der Ort, auf die verschiedenen Phasen der Greimasschen Bestimmung seit dessen Sémantique structurale (1966) einzugehen. Von ihm stammt jedenfalls der Begriff des actant bzw. Aktanten, den er aus L. Tesnières Dependenzgrammatik übernahm. Propp, der kein binäres Modell zu schaffen versucht hatte, spricht von »Handlungskreisen« (круг действий), in denen sich »Funktionen« bündelten. Da dies üblich geworden ist, spreche ich hier von Aktanten, ohne damit die strukturalistischen Vorannahmen von Greimas unbedingt zu übernehmen.

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hang besonders, dass es weder für Kuprin, noch für die Verfi lmung »Junkera«, noch für die allermeisten anderen neuen russischen Kriegs- und Militärfi lme zutriff t – selbst dann nicht, wenn man sie unter der Annahme einer ›patriotischen‹ Topic liest. Dies spricht dafür, dass der hier im Hintergrund stehende ›Patriotismus‹ sich narrativ von dem zitierten deutsch geprägten nationalen Modell unterscheidet. Ich möchte das an diesem Beispiel stellvertretend zeigen.

Zw ischen Entw icklung und Degeneration : Akantische Strukturen in Kupr ins autobiographischen Texten Kehren wir also noch einmal zurück zu Kuprins Romanen. Sie alle sind authentisiert durch Signale der autobiographischen Erfahrung. In »Na perelome« wie in »Junkera« geht es um die Beschreibung von militärischen Erziehungsinstitutionen, und auch in »Poedinok« ist die Armee Milieu einer persönlichen Entwicklung. Im Zentrum steht jeweils die Konstitution eines jungen, unerfahrenen Ichs, das gleichsam das Lackmuspapier bildet, an dem sich Wert und Unwert der Institution erweisen. Alle Texte sind damit letztlich Varianten von Entwicklungsromanen. Insofern liegt ihnen eine idealtypische Folie der Sujetentwicklung zugrunde, die mit einem narrativen ›Ziel‹ – im Proppschen Sinne der Märchenhochzeit – verbunden ist: die Entwicklung nämlich des jungen Menschen zu einem souveränen und gruppenfähigen Individuum. Ein Aktantenmodell hätte einen (hier tatsächlich männlichen) jungen Helden im Zentrum, der Proppschen Hochzeit (bzw. Zarentochter) würde der abstrakte Wert der individuellen Reifung zugunsten eines gesellschaftlichen Ganzen (vgl. Propps Vater der Zarentochter) entsprechen; »Sender« wäre – und dies ist typisch für die meisten russischen Kriegsfi lme – die Mutter, die assoziativ mit der rodina (Heimat) verbunden sein kann; es ist letztlich aber auch der Text selbst, der diese Sendung zum Thema macht. Soweit gälte das Schema für alle drei Texte; dies bildet die Basis dafür, dass sie im Film zusammengefügt werden können. Ein entscheidender Unterschied zwischen den Texten – der übrigens auch verantwortlich ist für die Inkohärenzen im Film – liegt aber darin, dass sich in den vorrevolutionären Texten »Na perelome« und »Poedinok« das evozierte Modell eines individuellen Entwicklungsprozess eben nicht realisiert: der Versuch, das Ziel zu erlangen, scheitert, und genau dieses Scheitern macht das Sujet der Erzählung aus. Romašov aus »Poedinok« ist vor seinem tödlichen Duell völlig desillusioniert und dies gerade wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Armee, an die er nicht glauben kann und die auf ihre Angehörigen einen 302

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verderblichen Einfluss hat. Sein Duelltod wird damit eher zur Konsequenz als zum Bruch seiner Lauf bahn. Den Jungen Bulanin aus »Na perelome« wiederum hat die Erziehungsinstitution negativ geformt: »Так сортировала эта бесшабашная своеобразная мальчишеская республика своих членов, закаляя их в физическом отношении и калеча в нравственном. И много-много выпало на долю Буланина колотушек, голодных дней, невыплаканных слез и невысказанных огорчений, пока он сам не огрубел и не сделался равноправным человеком в этом буйном мире.« (Kuprin 1912: 103) »So klassifizierte diese regellose, eigenwillige Jungenrepublik ihre Mitglieder, indem sie sie physisch stählte und moralisch verkrüppelte. Und Bulanin sollte vieles, vieles an Schlägen, hungrigen Tagen, nicht ausgeweinten Tränen und unausgesprochenem Kummer abbekommen, bevor er selbst abstumpfte und ein gleichberechtigter Mensch in dieser wilden Welt wurde.«

Der Entwicklungsroman wird damit zu einer sozialen Degenerationserzählung. Damit treten die Aktantenrollen von Schadenstifter und Helfer deutlich zutage. Erstere ist über die einzelnen Figuren hinweg vornehmlich in abstrakten Größen repräsentiert: Schuld am Scheitern in »Na perelome« sind Desinteresse, Egoismus und Unbildung der Erzieher; im Fokus stehen eher kulturell geprägte Verhaltens- und Denkweisen als Personen. Analoges gilt für die Offiziersumgebung in »Poedinok«, dies mit dem zusätzlichen Merkmal, dass der erwachsene Romašov nicht zuletzt daran scheitert, dass er sich nicht aus diesem Milieu befreien kann; dies wird explizit auch an seinem Gesprächspartner Nazanskij, der nietzscheanische Reden von der Freiheit des Subjekts hält, selbst aber ein resignierter Alkoholiker ist. Aus diesem Grunde ist dies auch nicht primär ein politisches Modell. Das Potenzial für Helferfiguren haben demgegenüber Vorgesetzte, die sich nicht stur an die Regeln halten. Blinde Autorität ist bei Kuprin durchgehend negativ gewertet, und dies wird auch in der Verfi lmung so übernommen. Bei Kuprin beruht die idealisierte Seite der Armee auf dem Primat der menschlichen Vernunft über die strikten Regeln. Genau dies lassen die Vorgesetzten der beiden frühen Texte aber vermissen. Was aber ändert sich im Bild der Gemeinschaft in »Junkera« und damit in der Perspektive des Exils? Vieles spricht dafür, dass die Sozialisierung in diesem Text gelingt, auch wenn der Roman mit Ende der Ausbildung abbricht und insofern offen endet; dies lässt natürlich auch offen, »Poedinok« mit seinem katastrophalen Ende als Fortsetzung zu verstehen. Doch 303

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ist Kuprins Kadettenkorps überhaupt kein synekdochisches Wirklichkeitsmodell mehr, wie das die Armee in den früheren Romanen zweifellos war: Es ist vielmehr explizit eine Ausnahmeanstalt, eine Insel sogar innerhalb der Armee. Dies ermöglicht, dass die Institution nicht mehr Widersacher, sondern, obwohl nicht perfekt, tatsächlich eine Helferinstanz repräsentiert. Dazu braucht sie nicht idealisiert zu werden, denn verantwortlich dafür sind wiederum nicht primär die Pädagogen und Vorgesetzten, die mit allen Schrullen und problematischen Seiten gezeigt werden. Die tragende Rolle spielt nun die Gemeinschaft der Junker selbst, die im diametralen Gegensatz zur Faustrecht-Gemeinschaft von »Na perelome« auch in Konflikten von ihrem Ehrenkodex, von gegenseitigem Respekt und von solidarischem Verhalten geprägt ist. Die älteren Studenten geben den jüngeren beim Abschied ihre Moral weiter: man müsse die Disziplin hochhalten, dürfe die Jüngeren nicht quälen und niemals vergessen, dass das Alexander-Institut das beste in Russland sei (Kurin 2006: 376, vgl. 196). Allerdings gelingt das positive Bild dieser Gemeinschaft nur dank einem weiteren »Helfer« auf Textebene. Der Dichter Vladislav Chodasevič meinte in einer Rezension, der episodisch strukturierte Roman werde nur durch seinen »Ton« zusammengehalten.19 Dieser Ton kommt aus der jugendlichen Naivität des träumerischen Helden Aleksandrov, der mit Begeisterung Dumas, Schiller und Walter Scott liest und die legendären romantischen Husarenfiguren bewundert. Diese Naivität, die sich – wenn auch nicht ohne Selbstreflexivität – auf den Text selbst überträgt, prägt Aleksandrovs Wahrnehmung seiner Welt. In diesem Blick verliert das Politische seine Kontur: In der Phantasie stellt sich Aleksandrov den russischen Soldaten, über den er auch nach seiner Ausbildung nichts weiß, vor wie im Märchen (ebd.: 377ff.), und der Zar sorgt sich ohne Unterbruch um seine Untertanen (ebd.: 361). Die Realität dieses Textes deklariert sich im Unterschied zu den früheren auf selbstreflexive Weise als Phantasie – oder als Utopie. Da der Film diese Autoreflexivität weniger deutlich macht als das von einem jugendlichen Duktus geprägte Buch, ist da auch eine gewisse Verbrämung erkennbar, die eine Nähe zum Kitsch nicht immer zu vermeiden vermag. Kuprin hat mit diesem Blick aus der Emigration die Schreibweise einschließlich der aktantischen Struktur, nur bedingt aber die politische Position gewechselt. Doch verschiebt sich der Fokus von der scheiternden 19. »Единство фабулы он мастерски подменяет единством тона, единством того добродушного лиризма, от которого мягким, ровным и ласковым светом вдруг озаряется нам стародавняя, несколько бестолковая, но веселая Москва.« (zit.n.: http://militera.lib.ru/prose/russian/kuprin2/32.html, unpaginiert, besucht im Dez. 2008).

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Sozialisierung in den frühen Texten hin zu ihrer prinzipiellen Möglichkeit – hätte sich, so wird suggeriert, ein Milieu durchgesetzt, wie es in »Junkera« beschrieben wird. Damit legt sich eine nostalgische Note über diese Reminiszenzen, die einen individuellen wie einen gesellschaftlichen Aspekt hat; sie gilt nicht dem politischen System, aber doch dem Institut, in welchem sich das alte Russland in seinen besten Seiten verkörpert. Kuprins legendäres Alexanderinstitut nahm übrigens ein tragisches Ende: die letzten Kadetten versuchten in der Oktoberrevolution, den Kreml zu verteidigen, was in einer Katastrophe endete. Kuprin setzt dem Institut ein Denkmal – nicht dem militärischen Geist, sondern einem Gemeinschaftsmodell, in dem ›Disziplin‹ sehr eigenwillige Formen annehmen kann, wo sich individuelle Entwicklung mit Gruppenbildung verbindet. Das aber impliziert eine Utopie staatlicher Organisation. Dieses utopische Element muss Kuprin gemeint haben, wenn er in dem Roman sein Testament für die Jugend sah.

Politische Entgrenzung und das Fehlen des äußeren Gegners Ein weiteres Element ist mit Blick auf die gegenwärtige Rezeption bemerkenswert. In der rückblickenden Exilperspektive des späten Kuprin entgrenzt sich politisch der nationale Binnenraum. Dafür steht etwa die Szene, in welcher der politisch noch naive Aleksandrov einen gegen die Armee demonstrierenden Studenten bemitleidet und sich innerlich das Versprechen gibt, auch ihn gegen eventuelle Feinde zu schützen (346). Erst recht verschwinden in der Verfi lmung alle politischen Differenzen. Dort wird eine Szene hinzugefügt, in der der angehende Schriftsteller Bulanin von einer Zeitungsredaktion dazu gedrängt wird, die Gewalttaten der Armee gegenüber Zivilisten zum Thema seiner Erzählungen zu machen. Bulanins Antwort ist, alles, auch die Armee, müsse »mit Liebe behandelt« werden. Im Hintergrund hört schweigend ein Schriftsteller zu, der offensichtlich Maksim Gor’kij darstellt – das politisierte Gegenmodell zu Bulanins Haltung. Paradoxerweise zitiert der Redakteur in seiner politischen Kritik weitgehend den erwähnten deutschen Zeitungsartikel Kuprins aus dem Jahr 1906, während Bulanin, der ja Kuprin darstellen soll, dem die politische Spitze nimmt. Die Verfi lmung belässt zwar gewisse Differenzen zwischen den verschiedenen Vorlagen, sie bettet sie dann jedoch ein in das Bild einer Gemeinschaft, die über den Differenzen steht. Damit kann sie an eine analoge Tendenz des Exiltextes anknüpfen, was interessanterweise den Blick aus dem Exil strukturell zur Basis einer zeitgenössischen, ›patriotischen‹ 305

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Lektüre macht. Zum Agenten dieser Synthetisierung wird auch der Einbezug des Autors selbst – deswegen wird Kuprin im Vorspann inszeniert, deswegen werden im Film Elemente aus Kuprins Biographie in die Handlung aufgenommen. Und dennoch ist das Armeebild im Film »Junkera« keineswegs eindimensional. Wie in anderen der genannten Filme geht hier das Individuum nicht einfach in der Institution auf, noch diese in der Gesellschaft – und schon gar nicht ist die Armee einfach Schule der Nation. Viele dieser Armeebilder sind zudem so offen fi ktionalisiert, dass der Eindruck einer realistischen Beschreibung kaum aufkommen kann. Zumindest für den Fall der Kuprin-Verfi lmung lässt sich die Differenz zu Müller-Funks Grundmodell eines narrativen Nationalismus damit präzisieren. Die wichtigste Differenz besteht wohl darin, dass in keinem unserer Fälle die ›Widersacher‹ eine andere Nation sind, sondern durchweg Teil des Eigenen – gerade deshalb bietet der neue Kriegsfi lm auch eine wichtige Plattform für die Diskussion stalinistischer Repressionen. Der ›Sender‹ ist fast immer eine Form der Mutter (und nicht die Geschichte),20 der Empfänger eine dezidiert plurale ethnische Gemeinschaft. Die ›Helfer‹ wiederum stehen meist im Konflikt mit der Konvention.

Die Nation als katachretische Gemeinschaf t Versteht man darunter in »maximale[r] Begriffsextension« die »sich auf einem Widerspruch begründende strukturelle Bildung« (Smirnov 1989: 299), so könnte man in unseren Beispielen von Bildern der Armee fast durchgehend von einer katachretischen Gemeinschaft sprechen. Eine idealtypische ›Gemeinschaft‹ bildet die Armee hier, vereinfacht gesagt, im Modus des ›trotz allem‹, im Zeichen ihrer inneren Unvereinbarkeit. Es ist offensichtlich, dass gerade in diesem Strukturmerkmal – das für 20. Die Konsequenz, mit der in neueren (und schon älteren sowjetischen) Kriegsfilmen die Mutter im Hintergrund steht – sehr oft ist gar kein Vater vorhanden –, ist verblüffend; übrigens betreibt auch Kuprins Roman Junkera einen eigentlichen Mutterkult. Es wäre aber ein eigenes Thema, den Figuren des Mütterlichen in der Tradition und Gegenwart des Kriegs- und Armeefilms nachzugehen, die natürlich im Verständnis der Heimat als »Mutterland« (rodina-mat‘) ansetzen. Dieser Kult reicht weit über die offizielle Instrumentalisierung im Bild des »Großen Vater(!)ländischen Kriegs« hinaus, ja läuft ihm in vielem entgegen. Eine frühe Ausprägung findet dies etwa in Grigorij Čuchrajs Ballada o soldate (Die Ballade vom Soldaten, 1959). Hier wird die Mutterrolle nicht zuletzt dazu eingesetzt, die Kriegsthematik auf die Ebene des individuellen Erlebens herunter zu brechen und der offiziellen Pathetisierung und Heroisierung zu entziehen.

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die russische intellektuelle Kultur seit dem frühen 19. Jahrhundert immer wieder von entscheidender Wichtigkeit ist – sich gewissermaßen der Grad von (Nicht-)Offizialität literarischer oder fi lmischer Texte ablesen lässt. Je stärker es wirksam wird, desto mehr unterläuft es das ›klassische‹ (westeuropäische) Prinzip von nationalen Einigungs- und Einheitsprinzipien, wie es sich im zitierten narrativen Modell von Müller-Funk ausdrückt. Zugespitzt wird dieses Prinzip formuliert etwa vom bereits zitierten, sich als Oppositioneller verstehenden Musiker Jurij Ševčuk in einem Text unter dem Titel »Rodina« (Heimat): »Родина! Еду я на Родину… Пусть кричат – уродина. А она нам нравится, Хоть и не красавица. К сволочи доверчива, ну а к нам […]«21 »Rodina! Ich fahre nach der rodina…/Sollen Sie rufen: urodina./Uns aber gefällt sie./Sie mag keine Schönheit sein/Zu allem Pack vertrauensselig, zu uns aber […]«

Dieser Gestus findet sich explizit, wenn auch gleichsam ins Affirmative gewendet, auch in der Verfilmung »Junkera«. Dem für alle Teile identischen Vorspann ist eine nicht ganz kitschfreie Romanze unterlegt, deren Refrain in der Zeile endet: [Россия светла да темны времена.]

»Hell ist Russland, dunkel sind die Zeiten.« In den hier besprochenen Filmen ist es das katachretische Element, dass die durchgehende Motivik der Rekrutierung prägt, bis hin zum ästhetisch deutlich ›amerikanisierten‹ Kampffi lm »Devjataja rota«, in der diese bereits topische Eingangsszene zu einem kleinen Aufstand führt. Ein solcher wird auch vorgeführt in der längeren Szene in »Junkera«, in der sich jugendliches Ungestüm im wilden Treiben einer ganzen Einheit nackter junger Männer im Regen Bahn bricht. Einem katachretischen Verfahren folgt schon die durchgehende und beinahe bodenlose (Selbst-) 21. Der vollständige Text ist verschiedentlich im Internet verfügbar, s. z.B. www.russkiy-rok.ru/lib/shevchuk.html (Dez. 2008). Das Wortspiel rodina (Heimat)/urodina (abgeleitet von »Missgestalt«) ist nicht übersetzbar.

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Ironie in Rogožkins »Besonderheiten der russischen Jagd«, die über die Karikatur russischer Charakteristika bzw. Autostereotypien einen ›nationalen‹ Diskurs erst möglich macht. Dies geht über in Komödien im Stile von »DMB«, gilt aber nicht weniger für die dramatische Version von »Kursanty« (2004).22 Dieser Zehnteiler handelt von Offiziersanwärtern vor ihrem Einsatz im Zweiten Weltkrieg, und im Laufe der sich zuspitzenden Handlung werden unbeschönigt stalinistische Verhältnisse mit Denunziation, Macht- und Gewaltausübung durch Tschekisten beschrieben. Es bildet eine Art Pointe dieses Narrativs über die Vorbereitung junger Leute auf den Krieg, dass entgegen der ersten Erwartung gar nicht der äußere ›Feind‹, sondern die innere politische Struktur zum großen Gegner der Figuren wird;23 die Tragik des Kriegs selbst wird zum Schluss nur noch über die Aufzählung der weiteren Schicksale erwähnt. Doch steht gerade hier die Motivik der Gemeinschaftsbildung im Zentrum: Es entsteht eine Gemeinschaft der Jungen, in einem Prozess des Erwachsenwerdens allerdings, der mit einer Desillusionierung über die politische Macht und Autorität einhergeht. Auch da wäre zu prüfen, inwiefern hier vielleicht nicht ein altes, mit katachretischen nationalen Gemeinschaftsbildern verbundenes Selbstmythologem der russischen Intelligenz am Werk ist, das wohl bis auf den Dekabrismus zurückgeht (und damit romantische Wurzeln hat): Dass wahre Gemeinschaft nur in Abgrenzung, ja im Widerstand gegen das ›offizielle‹ gesellschaftliche Ganze entstehen kann. Wie oft in diesen Filmen befinden sich auch hier die am positivsten gezeichneten Vorgesetzten im Konflikt mit der Institution. Die Gemeinschaftsbildung und der Heldendiskurs noch in »Devjataja rota« geschehen ohne Rücknahme der Sinn- und Pespektivelosigkeit dieses Krieges und ohne Übertragung des vorgeführten Gemeinschaftsbildes auf die Armee als Ganzes. Dieses katachretische Element erklärt 22. Der Film entstand unter der Regie Andrej Kavuns nach Erinnerungen von Petr Todorovskij und wurde produziert von dessen Sohn Valerij, dem »aufstrebenden Regiestar der 90er Jahre« (Ch. Engel [Hg.] 1999: 304). Petr Todorovskij hatte selbst Erfahrung mit dem Genre, zunächst als Schauspieler (Byl mesjac maj, 1971), dann aber auch als Regisseur (Vernost‹, 1965; Voenno-polevoj roman, 1983; Ankor, ešče Ankor, 1992; V sozvezdii byka, 2003). 23. Auch in einigen narrativ wenig anspruchsvollen Produktionen (s. den Jugendfilm Fejerverk von Sergej Tarasov, 2003, oder Aleksandr Cacuevs Eger‹, 2004) wird der ›Feind‹ (para-)militärischer Einsätze ersetzt durch das innere Verbrechen; auch der Mehrteiler Likvidacija (Liquidation; Reg. Sergej Ursuljak, 2007) behandelt die von Verbrecherbanden geprägte Zeit nach dem Krieg in Odessa. In der Fernsehserie Soldaty gibt es eine Folge, in der nur durch Zufall verhindert wird, dass einer Kompanie ihre ganze Technik gestohlen wird.

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auch die sonderbare Mode von Kriegsfi lmen über Sonderkommandos von nicht eingliederbaren Jugendlichen (»Svoloči«/Das Pack, Reg. Aleksandr Atanesjan, 2005) oder Straf bataillonen (»Štraf bat«/Straf bataillon, Reg. Nikolaj Dostal‹, 2004). In gesteigertem Maß und auf ganz andere Weise sind solche geradezu paradox gefärbten Beziehungen im TschetschenienFilm »Aleksandra« (2007) des in einer Offiziersfamilie aufgewachsenen Aleksandr Sokurov zu beobachten.

Patr iotismus, Indiv idualität, Inklusiv ität : Drei Thesen Auf der Basis des in die Verfi lmung übernommenen Modells von Individualitäts- und Gemeinschaftsbildung aus den Militärtexten Kuprins und mit Blick auf andere Filmproduktionen möchte ich drei Thesen formulieren und diesen eine kleine Nachbemerkung zur Frage von Literatur und Film beifügen. Alle diese Aspekte wären natürlich an weiterem Material zu exemplifizieren.

A. G E SCHICHT SBE ZUG , PAT R IOT I SMUS , O F F I Z I AL I TÄT Insbesondere Historiker haben in letzter Zeit öfter darüber geschrieben, dass in Russland zunehmend »Geschichtspolitik« betrieben wird und wie sich die offizielle Verwendung historischer Symbolik verändert (vgl. Lindner 2006). Die diesbezügliche Grundtendenz der letzten Jahre ist unschwer zu erkennen: Der offizielle Patriotismus der Putin-Zeit geht einher mit einem Paradigmenwechsel, in dem die besonders in den frühen 1990er Jahren dominierende Ablehnung der sowjetischen Vergangenheit und die Privilegierung der zaristischen Zeit einem Modell weicht, das eine Synthetisierung beider Traditionen anstrebt.24 Dies ausschließlich auf politische Einflussnahme ›von oben‹ zurückzuführen, würde sicher zu kurz greifen, auch wenn diese Entwicklung nicht nur die offizielle Rhetorik, sondern auch die staatliche Symbolik prägt – die Rückkehr zur Melodie der alten Nationalhymne oder zum Roten Stern in der Armee sind dafür symp24. S. dazu de Keghel (2003). In ihrer Monographie zum Wandel in der Konstruktion einschlägiger Phasen der russischen Vergangenheit (Dies. 2006) stellt die Autorin anhand der Darstellung Stolypins einen Wendepunkt zum »Patriotismus« schon nach 1993 fest (591); nach 1995 erkennt sie eine »vorsichtige Rückholung der sowjetischen Vergangenheit«, die insbesondere am Beispiel des Zweiten Weltkriegs vorgenommen werde (599). Sie schließt mit dem Hinweis auf die besondere Rolle der »visuellen und elektronischen Medien« (603).

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tomatisch. Dass analoge Tendenzen in breiteren kulturellen Feldern zu beobachten sind, darf jedoch nicht eindimensional gesehen werden: Gerade anhand der Filmproduktion, die an diesen Prozessen zentral beteiligt ist, entstehen dabei innerhalb wie außerhalb der Armeethematik auch neue Perspektiven auf die sowjetische Vergangenheit.25 Die russische Filmindustrie »landed back on its feet after 2000« (Beumers 2007: 5).26 Der Film, der im letzten Jahrzehnt zunehmend wieder von verschiedenen staatlichen und staatsnahen Stellen gefördert wird, sieht sich wieder einem gewissen Druck durch die offiziellen patriotischen Tendenzen ausgesetzt. Doch lassen sich viele Filme zur Armeethematik, wie schon in sowjetischen Zeiten, keineswegs auf Offizialität festlegen. Dies gilt auch für die Kuprin-Verfilmung, die sich dabei auf die Exilperspektive des Autors selbst berufen kann: Sie liegt einerseits grundsätzlich auf der Linie eines Vergangenheitsverständnisses, das die Differenz von vor- und nachrevolutionärem Russland zugunsten eines nationalen Wir-Gefühls aufhebt, indem sie die kritische mit der nostalgischen, die vorrevolutionäre Perspektive mit derjenigen des Exils zusammenführt. Genauso wird Kuprin übrigens in der genannten Fernsehserie »Kadetstvo« eingeführt: Seine Entdeckung geschieht im Kontext einer Wiederentdeckung der Vergangenheit in Person eines ehemaligen Kadetten, der vom Zweiten Weltkrieg und den damaligen Schwierigkeiten erzählt. In seinen Erzählungen für zwei junge Zuhörer wird Politisches nicht erwähnt, nicht, wenn es um die spätere Karriere seiner Mitkadetten geht. Ebensowenig ist die Rede von Feinden: Der Krieg erscheint wie eine Naturkatastrophe, die einigend

25. Zu nennen wäre hier etwa Dmitriij Meschievs außergewöhnlicher und hervorragend gespielter Film Svoi (Die Eigenen, 2004), der 1941 im von Nazideutschland besetzten westsowjetischen Raum spielt. Die zur Kooperation gezwungene überlebende Bevölkerung wird durch drei versteckte Flüchtlinge in ein kompliziertes Geflecht von Abhängigkeiten und Grenzziehungen zwischen Eigenem und Fremdem gezwungen. Gelegentlich wird aber auch eine eigentlich Rückkehr sowjetisch-imperialen Denkens sichtbar, so in der filmisch anspruchslosen, ganz auf Action ausgerichteten, nicht sehr aufwendigen Fernsehproduktion Oficery. Poslednie soldaty imperii (Offiziere. Die letzten Soldaten des Imperiums, 2006), wo die Protagonisten im Namen des patriotisch verbrämten KGB im In-und Ausland gegen das Verbrechen aktiv sind. 26. Vgl. ebd. zu den enormen Zuwachsraten in den folgenden Jahren. Zur gewaltigen Krise der Filmproduktion nach 1991 vgl. die Zahlen bei derselben Autorin (1999: 2ff.) oder den atmosphärischen Bericht von Anna Lawton (2004: 12-38).

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wirkt. Ein Modell der Militarisierung aber, wie es in der offiziellen Politik zu beobachten ist, impliziert dies nicht einmal hier.27 Überhaupt entstehen auch in der veränderten Situation, in welcher der Kriegs- und Armeefi lm weniger mit der Auseinandersetzung mit der Lage des Staates befasst ist als mit Prozessen der Identitätsbildung, nach wie vor erstaunlich viele Filme, deren Sujet beispielsweise auf keiner FreundFeind-Opposition beruht –28 und dies, obwohl auch das Nazi-Feindbild durchaus eine gewisse Mode erfährt. Auch schließt die neue Situation per se keineswegs einen kritischen Vergangenheitsbezug aus. Im Gegenteil eröffnet sie einen Raum für neue Perspektiven auch historischer Art, sei es bezüglich traumatisierter Kriegsteilnehmer (»Živoj«/Der Lebende, Reg. Aleksandr Veledinskij, 2006; »Maj«/Der Mai, Reg. Marat Rafi kov/ Il’ja Rubinštejn 2007), der Spezifi k jüdischer (Kriegs-)Biographie (»Ar’e«, Reg. Roman Kačanov, 2004) oder eben der Überlagerung des eigentlichen Kriegskonfliktes durch die innere Gewalt des Stalinismus (Fernsehfi lm »Kursanty«, Reg. Andrej Kavun, 2004).29 27. Selbstverständlich existieren auch die platteren, den offiziellen Sichtweisen näherstehenden Narrative. Der auf solche Filme spezialisierte Viktor Buturlin etwa zeigt im Mehrteiler Al’ka (2006), wie eine Balletteuse zur patriotischen Kämpferin im Zweiten Weltkrieg wird, und er meint damit gerade nicht die ›katachretische‹ Konstellation, sondern nutzt die Kontrastbildung, um das heldenhafte Verhalten zugunsten eines ungebrochenen Ganzen hervortreten zu lassen. Auf noch eindimensionalerem Niveau bedient die patriotische Kampffilmthematik Andrej Maljukovs (Ja russkij soldat/Ich bin ein russischer Soldat, 1995; Specnaz/SEK, 2002, Grozovye vorota/Sturmtor, 2006; My iz buduščego/Wir aus der Zukunft, 2008), dies meist im Auftrag des Fernsehens. 28. Vgl. etwa das Kriegsgefangenen-Thema in Petr Todorovskijs Film V sozvezdii byka (Im Zeichen des Stiers, 2003), der 1942 in einem Dorf bei Stalingrad spielt. In neueren Filmen scheinen Themen wie dasjenige des reuevollen Nazioffiziers, der seine Verminungen mit den Russen zusammen rückgängig machen will (Vremja sobirat˙ kamni/Zeit, die Steine zu sammeln, Reg. A. Karelin, 2005), oft reizvoller als klare Feindbilder. Die Annahme, es gebe keinen Krieg ohne Feind, bringt Denise Youngblood (2005, hier S. 232) manchmal zu m.E. ungerechtfertigt eindimensionalen Lektüren. Wenn sie etwa in Devjataja rota analog zu Aleksandr Nevzorovs Čistilišče (Fegefeuer, 1997) – einem gewalttriefenden und -rechtfertigenden Film, der von Boris Berezovskij produziert wurde – nur »racism and xenophobia« entdeckt (234), geht das an diesem Film vorbei. Offener gegenüber komplexeren Darstellungsweisen ist die Autorin erstaunlicherweise im Falle von Balabanovs umstrittenem Tschetschenien-Film Vojna (Krieg, 213ff.). 29. Ein weiteres Beispiel dafür wäre Aleksandr Rogožkins bereits erwähnter

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B. I NDI V IDUAL I TÄT/S OZ I AL I TÄT Besonders deutlich stellt sich in den angesprochenen Beispielen die Frage der Beziehung von Gruppe und Einzelnem. Der ›offizielle‹ Patriotismus suggeriert nicht nur den Kontext einer Bedrohung durch einen Feind, sondern auch die ungebrochene Partizipation des Einzelnen am großen und mächtigen Ganzen. Film und Literatur hingegen tendieren schon durch die Art ihrer Sujetbildung zur Betonung des individuellen Schicksals und des Konflikts, auch des Konflikts zwischen Einzelnem und Gemeinschaft. Es wäre jedoch für jeden Einzelfall zu prüfen, wie weit das Konfliktpotential innere Sprengkraft besitzt, wie sehr es an die Grundlagen einer als ›normal‹ eingeführten Gemeinschaft rührt, in welchem Maß und auf welche Weise es schließlich wieder in den Rahmen einer ›harmonischen‹ und sinnbeladenen Gemeinschaft integriert wird und wie sehr die Gemeinschaft am Ende eines Sujets noch der Ausgangslage entspricht. Über den Konflikt zwischen Einzelnen (insbesondere Vorgesetzten) und der Institution in den neueren Armeefi lmen wurde anhand der These einer katachretischen nationalen Gemeinschaft schon einiges gesagt. Kuprins Text beginnt mit dem Konflikt Aleksandrovs, der wegen einer Ungerechtigkeit das Institut verlassen will; die Institution kann ihn übrigens nicht beilegen, sondern benötigt dazu die Hilfe der Mutter. Der Film übernimmt diese Episode, und in den genannten Filmen fi nden sich immer wieder ähnliche Konflikte, auch wenn sie verschieden eingesetzt werden: Ein gewisser Widerstand gegen die Vorgesetzten stellt dabei meist ein positives charakterliches Zeichen gerade von Offizieren dar. Beruht das Sujet von Rogožkins »Blokpost« auf einer Untersuchung wegen eines Kriegsverbrechens (das allerdings ein Unfall war), inszeniert beispielsweise Aleksej Balabanov in »Vojna« (Krieg, 2002) einen Fall von beinahe heldenhafter Selbstjustiz, der zu einer Anklage wegen eines Kriegsverbrechens führt. In auffallend vielen Filmproduktion von »DMB« über die Fernsehserien bis hin zu »Devjataja rota« wird – insbesondere in den erwähnten obligaten Rekrutierungsszenen – vorgeführt, wie unterschiedlich die Figuren Film Peregon (Transit, 2006). In scheinbar harmloserer Variante als in früheren Filmen des Regisseurs (s. bes. die unüberbietbar direkte Darstellung in Čekist/ Der Tschekist, 1992) werden hier die Potraits eines geradezu faschistoiden Kommandanten eines Fliegerstützpunktes auf Kamtschatka und ein so freundlicher wie harter Untersuchungsoffizier des NKWD nach dessen Ermordung gezeichnet; auch ehemalige Lagerhäftlinge spielen zentrale Rollen. Die beinahe komödienhaften Elemente ergänzen sich hier mit den eher angedeuteten dramatischen Dimensionen.

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sind, die in die Armee kommen. Dabei kann es um reine Außenseitergruppen gehen – neben »Devjataja rota« betriff t dies etwa die genannten Filme »Štraf bat« oder »Svoloči« –, und manchmal werden ganze gesellschaftliche Panoramen gezeichnet. In neueren (Fernseh-)Produktionen geschieht dies mit besonderem Augenmerk auf die neuen Eliten: einmal ist es der verzogene Sohn eines Neureichen (»Soldaty«), dann der Sohn eines hohen Politikers (»Kadetstvo«), der von seinem verzweifelten Vater in die Armee geschickt wird. Während die Perestrojka-Filme die Gruppenbildung in der Armee noch scheitern ließen – in »Karaul« erschießt der Protagonist seine eigene Truppe, in »Sto dnej do prikaza« stirbt ein Entlassener einen einsamen Tod, »DMB-91« endet mit der Erinnerung an einen Soldaten, der sich das Leben nahm –, wird nun der Prozess zur Gruppenfähigkeit zum eigentlichen Fluchtpunkt des Sujets und damit das Militär zur Chiff re dafür, die auseinanderbrechende russische Gesellschaft zusammenfinden zu lassen. Doch bleibt dieser Prozess mehr Metapher als reales Vorbild, und es sind durchgehend nicht Mechanismen von Anpassung und Gleichschaltung, die zum Erfolg der Gemeinschaftsbildung führen. Auf weniger groteske Weise wirkt die ›Vorlage‹ von »DMB«, wo die Vereinigung des Unvereinbaren zum Thema wird, bis in die Fernsehproduktionen nach. Die Kuprin-Verfi lmung »Junkera«, die dieses Element ebenfalls hervorhebt, kann hier auf die Textvorlagen bauen; schon bei Kuprin geht es bei aller Differenz zwischen den Texten nie um Disziplin als solche, sondern stets um eine Umlenkung der jugendlichen Energie in einen sozialen Raum ohne Verlust der Individualität.

C. I NKLUSION /E XKLUSION Modelle von Gemeinschaften und insbesondere von Patriotismen müssen sich weitgehend über Operationen der Inklusion und der Exklusion definieren. An der Kuprin-Verfilmung zeigt sich exemplarisch, wie sehr die gegenwärtigen Militärsujets bis an die Grenzen des Möglichen inkludierend sind:30 politische, historische, soziale Differenzen werden aufgehoben zu-

30. Dies gilt nicht für einige Kriegsfilme im engeren Sinne der boeviki, also der Kampffilme, seien es die Tschetschenien-Filme mit national-konservativer oder ›imperialer‹ Ausrichtung, die mit mehr oder weniger subtil gezeichneten klaren Rollenverteilungen arbeiten, oder einige der neuen Filme zum Zweiten Weltkrieg, die etwa das Thema der Spione wiederbeleben (vgl. Serientitel wie Diversanty und deren Fortsetzung, aber auch den eingangs erwähnten Film Zvezda/Der Stern, Reg. Nikolaj Lebedev, 2002) oder den erwähnten Film mit Sergej Bezrukov (V ijune 1941, 2008).

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Thomas Grob

gunsten eines möglichst homogenen historisch-politischen Binnenraums, und die Gruppen konstituieren sich kaum über einen äußeren Feind. Dieser inkludierende Gestus zeigt sich auch in der durchgehenden Thematisierung der ethnisch-religiösen Vielfalt der russischen Armee. Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, diese Thematik hier auszuführen. Verwiesen sei immerhin darauf, mit welcher Konsequenz in den Produktionen von »DMB-91« (wo dies ein stark problematisiertes Thema darstellt) bis zur Unterhaltungsserie »Soldaty« oder Filmen wie »Devjataja rota« die Multiethnizität der russischen Armee (und damit natürlich von ›Heimat‹) inszeniert wird. Diese Motiviken erschöpfen sich keineswegs in einer Norm der correctness. Die Kuprin-Verfi lmung kann hier die entsprechenden Angebote der Vorlagen aufgreifen. Schon in Kuprins Armee-Texten gibt es sehr auffallende nichtrussische Figuren, etwa kaukasische Offi ziere oder tatarische Burschen. In der Erzählung »Doznanie« (Die Untersuchung) beispielsweise wird ein absurdes Verfahren gegen einen Soldaten vorgeführt, der überhaupt kein Russisch kann; dies nimmt der Film »Junkera« schon ganz zu Anfang auf. Verglichen mit Kuprins Texten ist der Film dennoch in der Darstellung dieser Konfl ikte eher beschönigend. Zwar werden – wie im Falle der dedovšč ina, der Unterdrückung der Rekruten durch die älteren Soldaten, auch in den humoristischen Fernsehproduktionen – die Probleme angesprochen, doch bleiben sie episodisch, und sie werden vom übergeordneten Sujet überlagert, ohne eine größere Sprengkraft zu besitzen.

Schlussbemerkung : Diskursive und mediale Dif ferenzen zw ischen Film und Literatur Der russische Film der 1990er Jahre beschäftigte sich weitgehend mit gesellschaftlichen Zerfallserscheinungen auf allen Ebenen, von der Zweierbeziehung und der Familie bis hin zum Staat. Formal wie thematisch musste er sich von alten Formensprachen und Tabus befreien, und er adaptierte dabei zunehmend Muster des Hollywood-Kinos. Vorübergehend verlor er nicht nur die staatliche Förderung, sondern auch sein einheimisches Publikum, das an billigen ausländischen Produktionen, die die Kinos füllten, mehr Interesse fand. Die Trendwende geschah nicht zuletzt durch Themen der nationalen Identität. Nach dem Fanal von Rogožkins »Besonderheiten der russischen Jagd« nahm der Film diesen Diskurs, der die Identitätskrise dieser Jahre besonders zentral traf, beinahe gierig auf, und die Militär- und Kriegsthematik eigneten sich dafür besonders gut. Der Erfolg solcher Fil314

Uniform und Katachrese

me zeigt, wie groß das Bedürfnis nach fi ktionalen Modellen von Gemeinschaft und Identität ist. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit ihrer gesamten identitätsstiftenden Zeichenordnung und den Wirren der 1990er Jahre ist dies auch nicht weiter verwunderlich. Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass es vorwiegend der Film ist, der heute diese Geschichten erzählt, während die Literatur, die in Russland immer eine identitätsstiftende Rolle ausgefüllt hatte, sich ihnen weitgehend entzieht. Dafür sieht man an der Literatur klarer, dass zwischen dem offiziellen Patriotismus und dem kulturellen nach wie vor ein Graben klaff t. Andrej Gelasimovs Erzählung »Žažda« (Durst, 2005) etwa erzählt von einem Tschetschenien-Heimkehrer mit verstümmeltem Gesicht, der keinerlei positive Gruppen- oder Sinnerfahrung aus dem Krieg mitbringt; seine Radikalität übertriff t deutlich diejenige des durchaus beachtlichen eimkehrer- und Kriegstrauma-Films »Živoj« (Der Lebende, Reg. Aleksandr Veledinskij, 2006), bei dem die beinahe ideal-harmonische Beziehung zu verstorbenen Kameraden die eigentliche Spur des Traumas markiert.31 Und wenn Vladimir Sorokin in »Den‹ opridedovščinanika« (Der Tag des Opričniks, 2006) die Schergen Ivans des IV. in die Gegenwart transponiert, behandelt er eine quasimilitärische Gemeinschaft, die im Rausch der Macht und im Auftrag der Mächtigen einen Krieg gegen die zivile Gesellschaft führt und damit eine ausschließlich pervertierte Form von Gemeinschaft repräsentiert. Der Grund für diese mediale Differenz liegt wohl nicht nur in der größeren gesellschaftlichen Abhängigkeit, der der Film immer unterworfen ist. Die Literatur wie der Film waren in den 1990er Jahren von der Abarbeitung des sowjetischen Realismus-Diktats geprägt. Dies führte dazu, dass Romane wie Viktor Astaf’evs »Veselyj soldat« (Der fröhliche Soldat, 1999), eine traditionell geschriebene Abrechnung mit sowjetischen Armeemythen aus dem Kontext des Zweiten Weltkriegs, kaum zur Kenntnis genommen wurden. Der Film hat nach einer langen Phase des Suchens nach neuen Formen wie Umberto Ecos zyklischer, postavantgardistisch verstandener Postmoderne (Eco 1984) zum Erzählen zurückgefunden. Wie diese findet er dabei neue Formen der Ironie. Er verwendet wieder linearere Sujets und weniger verfremdende Aufnahmetechniken, er bedient sich freier der Formen etwa des amerikanischen Kinos, und er ist ausgerichtet auf doppelte, ja mehrschichtige Lektüren zwischen den Ansprüchen des Un31. Noch ohne die – hier durchaus adäquat eingesetzten – komischen Elemente kommt der Film Vladimir Chotinenkos Musul’manin (1995) aus, in dem ein zum Islam übergetretener junger Rückkehrer aus afghanischer Gefangenschaft ins russische Dorf nur durch seine Andersheit (und seine Verweigerung des Alkohols) eine Welle der Gewalt auslöst.

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terhaltungs- und des Autorenkinos wie zwischen den ›patriotischen‹ und den ›kritischen‹. Die Erfahrungen der Experimentphase sind dabei keineswegs vergessen. Es scheint jedoch, als stünde der Film im Bann der wiedergewonnenen Möglichkeit, gesellschaftliche Resonanz zu zeitigen. Mit der Verfi lmung Kuprins, den man nicht zufällig als Schriftstellerfigur in die Verfi lmung seiner Texte integriert, zitiert man eine Zeit, in der auch die Literatur eine solche Wirkung noch hatte. Die fi lmische Adaptation wird in diesem Falle auch zur Demonstration der auf das Medium Film verlagerten ästhetischen Wirkungsmacht. Die Gegenwartsliteratur dagegen thematisiert eher die Schwierigkeiten und Gefahren eines aktantisch allzu einfachen Erzählens.

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Uniform und Katachrese

Krejd, V. (Hg.) (1994): Dal’nie berega. Portrety pisatelej ėmigracii. M.: Respublika. (Zit. nach: http://az.lib.ru/k/kuprin_a_i/text_1580-1.shtml; unpaginiert, besucht im Dez. 2008). Kuprin, Alexander (1906): »Armee und Revolution in Russland«. In: Neue Freie Presse (Wien), 8. Sept., 2f. Kuprin, A. I. (1912): Polnoe sobranie soč inenij. Bd. 4. SPb.: A. F. Marks. Kuprin, A. I. (2006): Povesti. Rasskazy. Junkera. Bd. 2. Moskva: Drofa/Veče. Lawton, Anna (2004): Imaging Russia 2000. Film and facts. New Academia Publication, Washington D.C. Lindner, Rainer (2006): »Putins Geschichtspolitik. Die Inszenierung der Vergangenheit in Russland«. In: Internationale Politik 6, Nr. 8, 112-120. Müller-Funk, Wolfgang (2002): Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. Springer, Wien–New York. Paech, Joachim (1997): Literatur und Film. 2. Aufl. Metzler, Stuttgart–Weimar. Propp, Vladimir (1975) [1928]: Morphologie des Märchens. Hg. von Karl Eimermacher, übersetzt von Christel Wendt. Suhrkamp, Frankfurt a.M. [übersetzt nach der 2. Aufl. von Morfologija skazki aus dem Jahr 1969]. Smirnov, I. P. (1989): »Katachrese«. In: A. Flaker (Hg.), Glossarium der russischen Avantgarde, Droschl, Graz–Wien, 299-307. Troickij, V. Ju. (2004): »O patriotičeskom vospitanii«. In: Russkij Vestnik, 5.8. (Zit. nach: www.rv.ru/content.php3?id=5173; besucht im Dez. 2008). Youngblood, Denise (2005): Russian war films. On the cinema front, 19142005. Univ. Press of Kansas, Lawrence/Kansas.

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Autor innen und Autoren

Dr. Davor Beganović, Literaturwissenschaftler, Südslavist, wissenschaftlicher Mitarbeiter in EXC 16 »Kulturelle Grundlagen von Integration« an der Universitär Konstanz, Studium in Belgrad, Zagreb und Konstanz, 2005 Promotion (Pamćenje traume. Apokaliptička proza Danila Kiša (Das Gedächtnis des Trauma. Apokalyptische Prosa Danilo Kišs) Sarajevo/Zagreb, 2007); Filmkritiker (»Glas«), Redakteur (»Putevi«), Übersetzer (z.B. R. Lachmann); Herausgeber (zusammen mit Peter Braun) von Krieg Sichten. Zur medialen Darstellung der Kriege in Jugoslawien, München 2007. [email protected] Dr. Natalia Borissova, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Slavistik (Literaturwissenschaft) Universität Konstanz, studierte russische und deutsche Literatur in Saratov (Russland) und Konstanz, wo sie 2008 promovierte (Thema: »Herz und Auge. Liebe im sowjetischen Film und in der Literatur nach 1956«). Forschungsschwerpunkte: Sowjetische Kultur der Nachkriegszeit, kulturelle Codierung von Liebe und Intimität, Schrift-, Körper- und Sprachproblematik. Neueste Publikationen: »Erziehung der Gefühle. Ästhetik und Pädagogik der Liebe im sowjetischen Film der 1960er Jahre«, in: arcadia 1, 2009; »Zwischen Okzident und Orient: die Erfindung der russischen Liebe«, in: Welt der Slaven 1, 2009. [email protected] Prof. Dr. Susanne Frank, derzeit Vertretungsprofessorin am Lehrstuhl für Ostslawische Literaturen und Kulturen an der Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeiten im Bereich der Slavistik und der allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft. Dissertation: »Der Diskurs des Erhabenen bei Gogol’ und die longinsche Tradtion«. Habilitation zu »Diskursiven Strategien der kolonisatorischen Aneignung Sibiriens durch die russische Kultur«. Forschungsschwerpunkte der letzten Jahre: Imperiale Diskurse,

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Zwischen Apokalypse und Alltag

Geokulturologie, Kriegsnarrationen und Medien, Strategien des Dokumentarischen. [email protected] PD Dr. Nadejda Grigorieva, wissenschaftliche Mitarbeiterin an Slavischem Seminar der Universität Tübingen (Projekt »Philosophie als Literatur, Philosophie über Literatur, Philosophie in der Literatur. Zur Interaktion von Literatur und Philosophie in der russischen Kultur«, Unterprojekt »Radikale Anthropologie der 1930-40er Jahre in philosophischen und narrativen Formen«, finanziert durch DFG). Monographien: Anima laborans. Pisatel‹ i trud v Rossii 1920-30-ch godov (Sankt-Petersburg 2005); Evoljucija antropologičeskich idej v evropejskoj kul’ture vtoroj poloviny 1920-40-ch gg. (Rossija, Germanija, Francija) (Sankt-Petersburg 2008). [email protected] Prof. Dr. Thomas Grob, Ordinarius für Slavische und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Basel, Autor der Monographien Daniil Charms‹ unkindliche Kindlichkeit. Ein literarisches Paradigma der Spätavantgarde im Kontext der russischen Moderne, Bern-Berlin u.a. 1994 sowie Russische Postromantik (1. Band im Druck); Mitherausgeber von Romantik und Geschichte. Polnisches Paradigma, europäischer Kontext, deutsch-polnische Perspektive, Wiesbaden 2007. Forschungsschwerpunkte: russische und polnische Romantik, Moderne und Avantgarde, Gegenwartsliteratur, Phantastik, die Rolle von Bildlichkeit und Narration in der interkulturellen Wahrnehmung, Reiseliteratur und literarische Topographien, Theorie der Literaturgeschichte, epochenübergreifende kulturwissenschaftliche Fragestellungen wie die Abbildungsgeschichte des Teufels. [email protected] Prof. Dr. Miranda Jakiša, Juniorprofessorin für süd- und ostslavische Literaturen und Kulturen an der Humboldt-Universität zu Berlin; Studium der Slavistik, Politikwissenschaft und Englischen Literatur in Konstanz, Glasgow und Sarajevo; Stipendiatin im DFG-Graduiertenkolleg Pragmatisierung/Entpragmatisierung: Literatur als Spannungsfeld autonomer und heteronomer Bestimmungen an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen; 2006 Promotion in Tübingen mit einer Arbeit zur bosnischen Literatur: Bosnientexte. Ivo Andrić, Meša Selimović, Dževad Karahasan, Frankfurt a.M. 2009. Forschungsschwerpunkte und -themen liegen in den südslavischen Literaturen des 20. und 21. Jahrhunderts, in oralen Überlieferungspraxen der Slavia, in postkolonialen, narratologischen und komparatistischen Ansätzen sowie in der slavischen Science-Fiction-Literatur. [email protected] 320

Autor innen und Autoren

Dr. Lars Koch, wissenschaftlicher Mitarbeiter an Lehrstuhl Neuere Deutsche Literaturwissenschaften der Universität Siegen und Lehrbeauftragter am Institut für Deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin, Koordinator des DFG-Netzwerks »Spielformen der Angst«. Arbeitsschwerpunkte liegen in der Literatur- und Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts, Kultur und Medientheorie, der Imaginationsgeschichte sozialer Insekten sowie in der Angst-Kulturforschung. Zuletzt erschienen: Krisenkino. Filmanalyse als Kulturanalyse: Zur Konstruktion von Normalität und Abweichung im Spielfilm (hg. mit Wara Wende, 2009). [email protected] Dr. Andreas Kraft studierte an der Universität Konstanz deutsche, englische und amerikanische Literatur, promovierte 2006 (»Jüdische Identität im Liminalen: die Dichterin Nelly Sachs und der Holocaust.« www. ub.uni-konstanz.de/kops/volltexte/2007/2630/), 2003 bis 2008 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Forschungsprojekt »Grenzen des Verstehens. Generationsidentitäten in Deutschland seit dem 2. Weltkrieg.« im SFB »Norm und Symbol« an der Universität Konstanz. Neueste Publikationen: Dialog und Delegation in der Vaterliteratur der 68er, in: Miriam Gebhard/Clemens Wischermann (Hgs.), »Familiensozialisation seit 1933 – Verhandlungen über Kontinuität.« Studien zur Geschichte des Alltags Band 25. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2007, 119 – 131; Über Väter und Großväter: die Lehre der Ambivalenztoleranz in der deutschen »Generationenliteratur« nach 1945, in: »Mütterliche Macht und väterliche Autorität: Elternbilder im deutschen Diskurs.«, Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXXVI (2008), 165 – 181. [email protected] Dr. Renata Makarska, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Excellenzcluster ›Kulturelle Grundlagen von Integration‹ an der Universität Konstanz. Studium der Polonistik, Slavistik und der Neueren Deutschen Literatur in Wrocław und München. Promotion ›Konzeptualisierungen der Hucul’ščyna in der mitteleuropäischen Literatur des 20. Jahrhunderts‹ 2007 an der Universität Jena. Laufende Projekte zu Grenzerzählungen in transnationalen Raum Ostgaliziens sowie zur exterritorialen Literatur Ostmitteleuropas (Exil – Migration – Globalisierung). [email protected] Prof. Dr. Sylvia Sasse, Professorin für Slavistische Literaturwissenschaft an der Universität Zürich. Studium der Slavistik und Germanistik in Konstanz, St. Petersburg, Moskau, Promotion an der Universität Konstanz mit einer Arbeit zur Sprachphilosophie des Moskauer Konzeptualismus, 321

Zwischen Apokalypse und Alltag

2002-2005 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Literaturund Kulturforschung (Berlin), Habilitation 2005, von 2006 bis 2009 Professorin für Ostslawische Literaturen am Institut für Slawistik der HU Berlin. Forschung zur Literatur- und Theatertheorie im 20. Jahrhundert, zur Wechselbeziehung von Theater und Gericht, Beichte und Geständnis in der russischen und bosnisch/kroatisch/serbischen Literatur. Wichtigste Veröffentlichungen: Texte in Aktion. Sprech- und Sprachakte im Moskauer Konzeptualismus, München 2003; Kunst als Strafe. Zur Ästhetik der Disziplinierung, hg. mit Gertrud Koch und Ludger Schwarte, München 2002; Wortsünden. Beichten und Gestehen in der russischen Literatur, München 2009. [email protected] Dr. Christoph Schneider, Soziologe an der Universität Konstanz, wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB »Norm und Symbol« (2000-2006) und in der Forschergruppe »Grenzen der Absichtlichkeit« (2006-2009). Promotion zum Thema »Der Warschauer Kniefall. Ritual, Ereignis und Erzählung.« (2006). Forschungsschwerpunkte: Soziologie des Symbols und Rituals; Religions- und Kultursoziologie; allgemeine Handlungstheorie. [email protected] PD Dr. Matthias Schöning, Privatdozent für Neuere deutsche und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Er ist Mitglied und Vorstand des dortigen Zukunftskollegs und Akad. Mitarbeiter des Fachbereichs Literaturwissenschaft. Stationen: Studium der Fächer Philosophie und Deutsch an der Ruhr-Universität Bochum 1991-1997. 1998-2000 Stipendiat des Graduiertenkollegs Theorie der Literatur und Kommunikation der Universität Konstanz. 2001-2002 Wiss. Koordinator des SFB 511 Literatur und Anthropologie ebd., 2003-2008 Wiss. Angestellter der Heidelberger Akademie der Wissenschaften im Nachwuchsprogramm WIN-Kolleg. Dissertation: Ironieverzicht. Friedrich Schlegels theoretische Konzepte zwischen Athenäum und Philosophie des Lebens, Paderborn u.a. 2002. Habilitationsschrift: Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung in Deutschland 1914-1933, erscheint Göttingen 2008. Mitherausgeberschaften u.a.: Reichweiten der Verständigung. Intellektuellendiskurse zwischen Nation und Europa, hg. mit Stefan Seidendorf, Heidelberg 2006. [email protected] Prof. Dr. Bernd Stiegler ist Professor für Neuere deutsche Literatur mit Schwerpunkt 20. Jahrhundert im medialen Kontext an der Universität Konstanz. Arbeitsschwerpunkte sind die Geschichte und Theorie der Photographie sowie die dt. und frz. Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. 322

Autor innen und Autoren

Zuletzt erschienen: Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, Theoriegeschichte der Photographie, München: Fink 2006, Montagen des Realen. Photographie als Reflexionsmedium und Kulturtechnik, München: Fink 2009. [email protected] Dr. Annette Werberger, wissenschaftliche Assistentin am Slavischen Seminar der Universität Tübingen. Doktorarbeit zu Osip Mandel’štam und dem Russischen Akmeismus. Habilitationsprojekt zu »Dibbuks und Dämonen. Kulturalisierungsprozesse in den Jüdischen Literaturen Ostmitteleuropas (1890-1935)«. Publikationen zur russischen, jiddischen, polnischen und deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts u.a. zu Puškin, An-skij, Celan, George, B. Schulz, D. Vogel. Aktuelle Projekte zum transnationalen Raum Ostgaliziens und Weltliteratur. Neueste Publikation: Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur (gemeinsam mit Özkan Ezli und Dorothee Kimmich, 2009). [email protected] Prof. Dr. Dr. Tanja Zimmermann, Juniorprofessorin an der Universität Konstanz; Studium der Kunstgeschichte und Germanistik in Ljubljana/ Slowenien, Forschungsstipendien in Wien und Augsburg, 1997 Promotion über die gotische Wandmalerei im Südostalpenraum. Zweitstudium der Slawischen Philologie und der Osteuropäischen Geschichte an der LMU in München, 2004 Promotion über Abstraktion und Realismus im Literaturund Kunstdiskurs der russischen Avantgarde. Von 1993-1996 wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem Drittmittelprojekt an der Universität Ljubljana (Gotik in Slowenien), von 2001-2004 an der LMU in München (Das System der Intermedialität in der russischen Moderne). 2005-2009 wissenschaftliche Assistentin in Slawistischer Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. Publikationen zur russischen, polnischen und südslawischen Literatur und Kunst. Habilitationsprojekt Crossing projections – Russland und der Westen im Spiegel des Balkans. [email protected]

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ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften

Sebastian Gießmann, Ulrike Brunotte, Franz Mauelshagen, Hartmut Böhme, Christoph Wulf (Hg.)

Politische Ökologie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2009 Oktober 2009, 158 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-1190-8 ISSN 9783-9331

ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent: Neben innovativen und qualitativ hochwertigen Ansätzen besonders jüngerer Forscher und Forscherinnen steht eine Masse oberflächlicher Antragsprosa und zeitgeistiger Wissensproduktion – zugleich ist das Werk einer ganzen Generation interdisziplinärer Pioniere noch wenig erschlossen. In dieser Situation soll die Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über Kultur und die Kulturwissenschaften bieten. Die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur, historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus kann so mit klugen interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar über die Rolle von Geschichte und Gedächtnis, von Erneuerung und Verstetigung, von Selbststeuerung und ökonomischer Umwälzung im Bereich der Kulturproduktion und der naturwissenschaftlichen Produktion von Wissen diskutiert werden. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften lässt gerade auch jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die aktuelle fächerübergreifende Ansätze entwickeln.

Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen die Ausgaben Fremde Dinge (1/2007), Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft (2/2007), Kreativität. Eine Rückrufaktion (1/2008), Räume (2/2008), Sehnsucht nach Evidenz (1/2009) und Politische Ökologie (2/2009) vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected] www.transcript-verlag.de

Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien März 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

Barbara Gronau, Alice Lagaay (Hg.) Ökonomien der Zurückhaltung Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion März 2010, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1260-8

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Moritz Csáky, Christoph Leitgeb (Hg.) Kommunikation – Gedächtnis – Raum Kulturwissenschaften nach dem »Spatial Turn«

Rebekka Ladewig, Annette Vowinckel (Hg.) Am Ball der Zeit Fußball als Ereignis und Faszinosum

Februar 2009, 176 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-8376-1120-5

Stephan Ditschke, Katerina Kroucheva, Daniel Stein (Hg.) Comics Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums August 2009, 366 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1119-9

Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hg.) Von Monstern und Menschen Begegnungen der anderen Art in kulturwissenschaftlicher Perspektive Dezember 2009, 258 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1235-6

Insa Härtel Symbolische Ordnungen umschreiben Autorität, Autorschaft und Handlungsmacht

Juli 2009, 190 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-8376-1280-6

Susanne Regener Visuelle Gewalt Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts Februar 2010, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-89942-420-1

Sacha Szabo (Hg.) Kultur des Vergnügens Kirmes und Freizeitparks – Schausteller und Fahrgeschäfte. Facetten nicht-alltäglicher Orte Oktober 2009, 334 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1070-3

Wladimir Velminski (Hg.) Sendungen Mediale Konturen zwischen Botschaft und Fernsicht August 2009, 376 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1113-7

April 2009, 326 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1042-0

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