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German Pages [224] Year 2020
Seele, Existenz und Leben Band 34
Alexander Batthyány
Zur Psychologie einer Grundangst Über abwehrende und existentielle Zugänge zum eigenen Tod
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495820926
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B
Alexander Batthyány
Zur Psychologie einer Grundangst
VERLAG KARL ALBER
A
https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Seele, Existenz und Leben Band 34 Herausgegeben von Rolf Kühn und Frédéric Seyler Forschungsstelle für jüngere französische Religionsphilosophie, Forschungskreis Lebensphänomenologie, Universität Freiburg i. Br und Department of Philosophy DePaul University, Chicago
https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Alexander Batthyány
Zur Psychologie einer Grundangst Über abwehrende und existentielle Zugänge zum eigenen Tod
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Alexander Batthyány On the psychology of basic anxiety On defensive and existential approaches to one’s own death This book is about mortality, more precisely – the ambiguous relationship many people have to the knowledge of their own mortality The correlation between repressed death and a whole range of social phenomena has particularly become the focus of the terror-management theory which has developed into a significant socio-psychological research field in recent decades. This contributed significantly to the fact that today we have extensive empirical data on repressed mortality knowledge as a socio-psychological problem. At the same time, this research primarily describes why and in what way the knowledge of one’s own death is warded off, and what the consequences thereof are. Part of the discussion is also the far less frequent and prominent question of whether and how an existentially more open and reason-based, i. e. not merely defensive, dealing with our own mortality could succeed. This book examines defensive and existential approaches to one's own death against this background, and presents ways to expand the social and existential psychology of the knowledge of one’s own mortality.
The Author: Alexander Batthyány holds the Viktor Frankl Chair in Liechtenstein and lectures in the field of Cognitive Sciences at the University of Vienna. Visiting Professor for Existential Psychotherapy (logotherapy) at the University Institute for Psychoanalysis, Moscow, since 2012. Editor of the Collected Works by Viktor Frankl comprising of 14 volumes and the Proceedings of the Viktor Frankl Institute (Springer). Numerous publications on existential psychology, the psychology of dying and philosophical anthropology. His works have been translated into more than ten languages.
https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Alexander Batthyány Zur Psychologie einer Grundangst Über abwehrende und existentielle Zugänge zum eigenen Tod Dieses Buch handelt von der Sterblichkeit, genauer – vom zwiespältigen Verhältnis vieler Menschen zum Wissen um ihre eigene Sterblichkeit. Die Zusammenhänge zwischen dem verdrängten Tod und einer ganzen Bandbreite sozialer Phänomene hat vor allem die in den letzten Jahrzehnten zu einem bedeutenden sozialpsychologischen Forschungsfeld avancierte Terror-Management-Theorie beleuchtet und damit wesentlich dazu beigetragen, dass wir heute über umfangreiche empirische Daten über das verdrängte Sterblichkeitswissen als sozialpsychologisches Problem verfügen. Zugleich beschreiben diese Forschungsarbeiten in erster Linie, weshalb und in welcher Weise das Wissen um den eigenen Tod abgewehrt wird und welche Folgen das zeitigt – weit weniger häufig und prominent wird aber die Frage behandelt, ob und wie eine existentiell offenere und vernunftbasierte, d. h. nicht bloß defensive Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit gelingen könnte. In diesem Buch werden vor diesem Hintergrund abwehrende und existentielle Zugänge zum eigenen Tod untersucht und damit auch Wege zur Erweiterung der Sozial- und Existenzpsychologie des Sterblichkeitswissens vorgestellt.
Der Autor: Alexander Batthyány ist Inhaber des Viktor Frankl Lehrstuhls in Liechtenstein und lehrt am Forschungsbereich Kognitionswissenschaften der Universität Wien. Seit 2012 Gastprofessur für existentielle Psychotherapie (Logotherapie) am Universitätsinstitut für Psychoanalyse, Moskau. Herausgeber der auf 14 Bände angelegten Edition der Gesammelten Werke von Viktor Frankl und der Proceedings des Viktor Frankl Instituts (Springer). Zahlreiche Veröffentlichungen zur existentiellen Psychologie, Psychologie des Sterbens und philosophischen Anthropologie. Seine Arbeiten wurden in über zehn Sprachen übersetzt.
https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49063-1 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82092-6
https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Inhalt
1. 1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.5. 1.6. 1.7.
Die eigene Sterblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissen um die eigene Sterblichkeit . . . . . . . . . . . Der eigene Tod, der Tod der anderen . . . . . . . . . . . Denken und Abwehren der eigenen Sterblichkeit . . . . Zugänge zur eigenen Sterblichkeit . . . . . . . . . . . . Bewusste und unbewusste Bilder der eigenen Sterblichkeit Unbehagen an der eigenen Sterblichkeit . . . . . . . . . Dialektiken des Sterblichkeitswissens . . . . . . . . . .
9 9 14 18 26 30 32 41
2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6. 2.7. 2.8.
Die Flucht in die Struktur . . . . . . . . Das Ich im Licht seines eigenen Todes . . Der eigene Tod und die Gemeinschaft . . Flucht in die Struktur . . . . . . . . . . Die Struktur als Bewältigungsversuch . . Ein Exkurs zum kognitiven Unbewussten Weltsicht als distale Abwehr . . . . . . . Selbstwert als distale Abwehr . . . . . . Abwehr als Alltagsgeschehen . . . . . .
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48 48 55 60 69 73 83 91 93
3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5. 3.6. 3.7.
Gehalte und Ziele der Abwehr . . . . . . . . . . . . . Gehalte und Ziele der distalen Abwehrmechanismen . Was Weltsichtverteidigung leistet . . . . . . . . . . . Was Selbstwertsteigerung leistet . . . . . . . . . . . . Zur Psychopathologie abwehrender Sterblichkeitsangst Zuständliche und gegenständliche Angst . . . . . . . . Die Angst vor sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . Die eigentliche Weite existentieller Verunsicherung . .
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98 98 101 110 120 130 137 144
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Inhalt
4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4.
Andere Zugänge zum eigenen Tod . . . . . . . . . . Grenzbedingungen der dualen Abwehrmechanismen Folgen wirklicher Begegnungen mit dem eigenen Tod Zur Verhandel- und Abwendbarkeit der Abwehr . . . Ausgangspunkte und Ziele der Flucht in die Struktur
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150 150 152 157 164
5. Vergänglichkeit und Sinnfrage . . . . . . . . . . . . . . 168 5.1. Unsterblichkeit als existentielles Problem . . . . . . . . 168 5.2. Vergänglichkeit und Sinnfrage . . . . . . . . . . . . . . 177 6. 6.1. 6.2. 6.3. 6.4. 6.4.
Aussöhnung mit dem eigenen Tod . . . . . . . . . Der Tod gibt dem Leben Form . . . . . . . . . . . Der Tod bewahrt das Gewordene . . . . . . . . . . Es gibt ein Gesolltes im Werdenden . . . . . . . . Thanato- und Existenzpsychologie: Eine Begegnung Aufbruch zur Aussöhnung mit dem eigenen Tod .
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187 187 193 201 206 212
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
8 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
1. Die eigene Sterblichkeit
1.1. Wissen um die eigene Sterblichkeit Dieses Buch handelt von der Sterblichkeit, genauer – vom zwiespältigen Verhältnis vieler Menschen zum Wissen um ihre eigene Sterblichkeit. Nicht der Tod selbst ist daher sein vorrangiges Thema, sondern vor allem die Frage, wie wir für gewöhnlich mit dem Wissen umgehen, dass wir eines Tages sterben werden. Natürlich kann man bei der Diskussion dieser Fragestellung nicht umhin, streckenweise auch über den Tod selbst nachzudenken und seine Auswirkung auf unser Leben. Der eigentliche Schwerpunkt dieses Buchs ist aber ein etwas anderer, nämlich die Folgen der auch durch zahlreiche psychologische Forschungsarbeiten belegten Tatsache, dass viele Menschen ein solches Denken an und über den eigenen Tod systematisch zu vermeiden und zu verdrängen versuchen. Die Forschung berichtet nämlich auch davon, dass das verdrängte Sterblichkeitswissen nicht etwa einfachhin »weg« ist, sondern sich vielmehr auf vielfältige und oftmals unvermutete Art und Weise auf unser Alltagserleben und -verhalten auswirkt. Die Zusammenhänge zwischen dem verdrängten Wissen um die eigene Sterblichkeit und einer ganzen Bandbreite sozialer Phänomene hat vor allem die in den letzten Jahrzehnten zu einem bedeutenden sozialpsychologischen Forschungsfeld avancierte TerrorManagement-Theorie beleuchtet und damit wesentlich dazu beigetragen, dass wir heute über umfangreiche empirische Daten über das verdrängte Sterblichkeitswissen als sozialpsychologisches Problem verfügen. Weil die Terror-Management-Theorie (TMT; Greenberg & Arndt 2011) eine derzeit so prominente Rolle innerhalb der Gegenwartsdebatte spielt, wird sie (und ihre kritische Durchleuchtung) auch in der Diskussion in diesem Buch eine zentrale Position einnehmen. Sie bildet, alleine schon aufgrund der hohen Anzahl an empirischen Arbeiten, die aus diesem Forschungsfeld vorliegen (vgl. 9 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Die eigene Sterblichkeit
Burke, Martens & Faucher 2010) – über weite Strecken eine Leitlinie, der wir folgen müssen, wenn wir uns erstens das Problem vermeidender und verdrängender Zugänge zur eigenen Sterblichkeit vor dem Hintergrund empirisch gesicherter Sachverhalte genauer ansehen und zweitens auch, wenn wir uns auf die Suche nach existentielleren Annäherungen an unsere Sterblichkeit begeben wollen. Was genau diese Theorie über unseren Umgang mit dem eigenen Tod sagt, wird in späteren Kapiteln eingehender besprochen werden; ihre Kenntnis wird im Folgenden nicht vorausgesetzt. Aber so viel sei schon an dieser Stelle vorweggenommen: Die TMT, und damit ein Großteil der empirischen Sozialpsychologie des Sterblichkeitswissens, attestiert dem Problem der eigenen Sterblichkeit ein hohes Irritationspotential – so hoch nämlich, dass die meisten Menschen bewusst oder unbewusst zur Schlussfolgerung gekommen zu sein scheinen, dass es alles in allem besser ist, sich einer tiefer gehenderen Auseinandersetzung mit diesem Thema zu entziehen, es mit anderen Worten zu verdrängen. Diese jüngere empirische Forschungstradition fragt allerdings wesentlich seltener, wie begründet oder begründbar diese resignative Sicht auf den eigenen Tod tatsächlich ist. Sie stellt vielmehr in erster Linie fest, dass Versuchspersonen nicht vorausgewählter Stichproben sich so verhalten, als ob Sterblichkeit jedenfalls und nahezu unhinterfragbar negativ konnotiert und zugleich die damit einhergehenden unangenehmen oder beunruhigenden Gefühle ihrerseits etwas um nahezu jeden sozialen oder psychologischen Preis zu Vermeidendes seien. Dabei bleibt aber die zentrale Frage, ob dem wirklich so ist, offen, solange und wenn wir bloß beschreiben, in welcher Weise viele Menschen mit dem Wissen um den Tod umgehen – zumal noch, wenn wir uns vor Augen führen, dass die Botschaft, es ginge nicht auch etwas Gutes oder gar Ermutigendes von dem Wissen um unsere eigene Sterblichkeit aus, just von jenen in die Debatte hineingetragen wird, die der Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit ohnehin systematisch durch Verdrängung und Abwehr aus dem Weg gehen. In anderen Lebensbereichen würde man vermutlich nicht ausgerechnet diejenigen um Rat fragen, die so viel daran setzen, sich mit dem uns gerade interessierenden Thema nicht befassen zu müssen. Warum dann hier? Wie sich im weiteren Verlauf dieses Buch zeigen wird, hat der primär empirisch orientierte Ansatz, mit dem die TMT und mit ihr ein Großteil der Sozialpsychologie der Sterblichkeit gegenübertritt, 10 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Wissen um die eigene Sterblichkeit
unter diesem Blickwinkel gleichermaßen Vorzüge wie auch Nachteile. Die Vorzüge liegen zunächst auf der Hand – mit der TMT wurde erstmals der systematische Versuch unternommen, ein geordnetes empirisches Forschungsunterfangen über die Mehrheitsrepräsention der eigenen Sterblichkeit zu begründen. Darin unterscheidet sich dieser Forschungszweig grundlegend von den meisten ihm vorausgehenden historischen Arbeiten aus der existentiellen Psychologie, die sich bis dahin oftmals mehr reflexiv und/oder phänomenologisch dem Thema vor allem aus der Perspektive der ersten Person anzunähern versuchten. Die solcherart gewonnenen Ansichten des eigenen Todes beschrieben damit vor allem die Sterblichkeitsrepräsentation von Menschen, die bewusst eine innere Auseinandersetzung mit ihrer Sterblichkeit suchten und schon damit wohl kaum repräsentativ sein dürften für die Allgemeinheit und ihren Blick auf den eigenen Tod. Das Risiko einer so gearteten Annährung besteht folglich darin, dass solche Reflexionen oft weitab vom alltäglichen Diskurs geschehen und daher auch kaum dazu geeignet sind, ein realistisches Abbild der psychologischen Dimension des Sterblichkeitswissens der Allgemeinheit zu zeichnen. Die TMT stellt dieser relativen Einseitigkeit die Erhebungsdaten zahlreicher (mittlerweile wohl in die Tausenden gehenden) »durchschnittlicher« Versuchspersonen gegenüber und vermittelt damit eine wesentlich realistischere Bestandsaufnahme über den Alltagsdiskurs der eigenen Sterblichkeit (Rosenblatt et al. 1989; Greenberg et al. 1990). Realistischer ist diese Bestandsaufnahme aber wie gesagt lediglich mit Blick auf die Frage, wie durchschnittlich in gewissen kulturellen und gesellschaftlichen Umfeldern auf die eigene Sterblichkeit reagiert wird – noch ist mit diesen Befunden aber keineswegs ausgemacht, ob der Durchschnitt zu einem an sich realistischen Blick auf die eigene Sterblichkeit selbst vorgedrungen ist; und auch ist noch nicht ausgemacht, wie eine alternativ nicht verdrängende, gelingende innere Auseinandersetzung mit diesem Thema überhaupt aussehen könnte. Unter anderem diese Frage wird uns daher in diesem Buch beschäftigen. Dabei werde ich letztlich zu zeigen versuchen, dass gerade in der Tradition der älteren, mehr introspektiv begründeten Reflexion derjenigen, die sich bewusst auf das Thema und seine vielfältigen Implikationen eingelassen haben, mitunter auch noch für den heutigen Diskurs höchst relevante Ideen und Argumente zu finden sind, die darauf hinauslaufen, dass die eigene Sterblichkeit mitunter gar nicht mehr nur ein »Problem«, sondern sich vielmehr als ein ent11 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Die eigene Sterblichkeit
schieden sinnstiftender Faktor unseres Daseins darstellt. Der Weg hin zu diesen Argumenten wird allerdings ein etwas längerer sein; denn gerade weil die empirische TMT-Forschung mit so zahlreichen und teils recht ernüchternden Befunden erstens über eine weit verbreitete Unwilligkeit des Denkens an die eigene Sterblichkeit aufwartet und zweitens hohe soziale Kosten dieser Vermeidungs- und Abwehrhaltung nachweist, scheint es für eine empirisch informierte Auseinandersetzung mit dem Thema unumgänglich, den Diskurs genau dort seinen Ausgang nehmen zu lassen, wo er augenscheinlich gegenwärtig steht. Und gegenwärtig stellt es sich so dar, dass anscheinend eben nur wenige Menschen bereit sind, der eigenen Sterblichkeit etwas Gutes abzugewinnen. Da der Weg hin zur existentielleren Begegnung mit dem Wissen um die eigene Sterblichkeit etwas länger ist, bin ich zunächst zwei potentiellen Gruppen von Leserinnen und Lesern jeweils ein eigenes Wort schuldig. Zunächst ein Wort an die Leserinnen und Leser meiner vorausgehenden Publikationen: In meinen früheren Arbeiten, insbesondere in meinem zuletzt erschienenen Buch Die Überwindung der Gleichgültigkeit (2017), habe ich streckenweise vorausgesetzt, aber nur skizzenhaft begründet, dass vom Wissen um die eigene Sterblichkeit ein positiver Impuls sowohl für die eigene Lebensverantwortung als auch für die Sinnhaftigkeit unseres individuellen Daseins ausgeht. Ich bin daher verschiedentlich gleichermaßen von Leserinnen und Lesern wie auch von Kolleginnen und Kollegen darauf aufmerksam gemacht worden, dass diesem wohlwollenden Bild des eigenen Todes bekanntlich ein viel weiter verbreitetes negatives Gegenbild des eigenen Todes nicht als Geburtshelfer, sondern vielmehr als Totengräber eines sinnerfüllten Daseins gegenübersteht. Zu einem großen Teil schuldet sich dieses Buch der Herausforderung, um nicht zu sagen: der Aufforderung, dieses Gegenbild sowohl theoretisch als auch empirisch zu durchleuchten. Dieses Unternehmen bringt es allerdings notgedrungen mit sich, dass dem negativen Gegenbild der eigenen Sterblichkeit im Folgenden viel Raum gegeben wird. Denn schließlich geht es im Folgenden unter anderem auch um die Frage, wie gut dieses Gegenbild begründet ist und was man ihm entgegenstellen könnte – und um dieser Frage nachgehen zu können, ist es nötig, sich dieses Gegenbild und seine Entstehung genau anzusehen, es nachzuzeichnen und an dem einen oder anderen Punkt hinter jene Weggabelung zurückzufinden, an der entschieden wurde, vom Tod ginge so wenig Gutes aus, dass Verdrängung und 12 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Wissen um die eigene Sterblichkeit
Abwehr die einzigen, oder zumindest geeignete, Umgangsweisen mit dem Wissen um die eigene Vergänglichkeit sind. Mit diesem Buch will ich allerdings zugleich weniger nur Argumente dafür vorlegen, dass vom Wissen um die eigene Sterblichkeit ein existentiell wertvoller Impuls ausgehen kann, als ich neue Wege der sozialpsychologischen Forschung und der sozial- und existenzphilosophischen Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit vorstellen möchte, die auch unter empirischen Gesichtspunkten Bestand haben und den TMTDiskurs erweitern könnten. Die zweite Lesergruppe, der gegenüber ich mich vorab zu einem eigenen Wort verpflichtet fühle, umfasst all jene, die zu diesem Buch greifen wollen, weil sie selbst mit der Aussicht ihres baldigen Todes konfrontiert sind. Sie würde ich gerne auf andere, lebensnähere Bücher über das eigene Sterben verweisen. Das vorliegende Buch handelt nämlich über weite Strecken davon, wie man besser nicht mit dem Wissen um den eigenen Tod umgehen sollte. Für denjenigen, der unmittelbarer und dringlicher mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert wird, scheint es mir angebrachter und hilfreicher, die Stimme von Menschen zu hören, die einen konstruktiveren Weg des Umgangs mit ihrer Sterblichkeit gefunden haben, als sich allzu lange mit den Um- und Abwegen abwehrender Todesreflexion aufzuhalten. Denn der Tod und das Sterblichkeitswissen, von dem in diesem Buch die Rede ist, ist primär eine psychologische Herausforderung – es handelt sich für die meisten Menschen um das abstrakte Wissen, dass sie sterblich sind; für den unmittelbarst Betroffenen dagegen ist all dies in erster Linie eine existentielle Größe und keineswegs abstraktes, sondern konkretes Lebensthema. Zwar will ich in diesem Buch auch zeigen, dass eine solche Umwandlung des Themas – vom bloß innerpsychischen Problem des abstrakten Sterblichkeitswissens zur existentiellen Herausforderung, dem Tod selbst zu Lebzeiten zu begegnen – auch den allgemeinen Todesdiskurs bereichern und vertiefen kann; aber ich führe diese Diskussion hier vor allem, wenn auch nicht nur, mit Blick auf die Thanato- und Sozialpsychologie und weniger mit Blick auf die Frage der direkten persönlichen Sterblichkeitsbewältigung, wenngleich beide Zugänge gegen Ende des Buchs zusammenfinden werden. Ich will mit anderen Worten vor allem für einen erweiterten Ansatz innerhalb der Sozial- und Existenzpsychologie der Sterblichkeit argumentieren. Sollte es auf dem Weg dorthin dennoch gelingen, dem einen oder anderen Leser ein versöhnlicheres Verständnis seiner eigenen 13 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Die eigene Sterblichkeit
Endlichkeit nähergebracht zu haben, würde sich zugleich im Einzelfall eine der generellen Grundannahmen dieses Buches bestätigen: Es ist oft erst die Verdrängung selbst, die das Fundament der Angst (und der Abwehr dieser Angst) legt: Menschen verdrängen demnach den eigenen Tod nicht alleine deswegen, weil sie ihn fürchten. Sie fürchten ihn auch, weil sie ihn verdrängen und somit gar nicht zu sich vordringen lassen, was das Wissen um die eigene Sterblichkeit ihnen alles mitteilen könnte. Vielleicht ist es aber viel allgemeiner bisweilen auch einfach nur die Furcht vor dem Verlassen gewohnter Denkbahnen, die uns die Auseinandersetzung mit dem Tod oftmals so unheimlich erscheinen lässt. Vom Tod geht mit anderen Worten vermutlich zunächst einmal etwas Irritierendes alleine schon deswegen aus, weil das Wissen um den eigenen Tod uns sagt, dass es nichts gibt, auf das wir uns auf Dauer gewöhnen können – schlicht deswegen, weil nichts wirklich von Dauer ist. Gerade das Gewohnte des Alltags wird daher vom Wissen um die eigene Sterblichkeit fortwährend in Frage gestellt. Sehen wir uns das als Einstiegsmoment etwas näher an und versuchen auf diesem Wege, das Angstbild des Todes ein wenig genauer zu entfalten.
1.2. Der eigene Tod, der Tod der anderen Irgendwann in jedem wachen Menschenleben geschieht es. Vielleicht an einem besonders schönen Frühlingstag, spätestens in unserer Lebensmitte kommt es über uns. Wir wussten es immer, aber jetzt ist es Sprengstoff geworden: da ist das große schwarze Loch, in das alles Leben zuletzt hineinfallen soll. Nicht nur die anderen alle, deren Name auf den Anzeigen steht, ich selbst werde sterben müssen. Wer weiß wann? Aber weil ich es nicht weiß, ist es schon gegenwärtig. (Hampe 1975, 11)
Der Tod ist die grundlegendste Bedrohung unserer Lebenspläne. Man sagt der Frage nach dem Umgang mit dem Wissen um die eigene Sterblichkeit daher auch oft nach, sie habe vermutlich ein derartiges Gewicht und Irritationspotential, dass man mit allen denkbaren Versuchen der Psyche rechnen müsse, dem Thema aus dem Wege zu gehen. Zugleich konfrontiert uns unsere Lebenswirklichkeit mit einem ganz anderen Befund, nämlich nicht der Verdrängung, sondern 14 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Der eigene Tod, der Tod der anderen
vielmehr der Allgegenwart des Todes im Alltag: Im Kino, Theater, in der Oper, den Nachrichten werden wir fortwährend mit dem Tod konfrontiert. Zugleich fällt aber auf, dass die Beschäftigung mit dem Sterben und Tod anderer das existentielle, persönliche Todesproblem selbst als solches tatsächlich oft ausklammert. Diese Ausklammerung geschieht derart konsequent, dass es sich aufdrängt, von einer systematischen Verdrängung nicht des Todes im Allgemeinen, wohl aber unserer Sterblichkeit zu sprechen: Im Fernsehen tritt der Tod als Spektakel auf; er wird zum Nervenkitzel, den man der allgemeinen Langeweile des Daseins entgegensetzt. Im letzteren geht es freilich in dieser Versachlichung des Todes um das gleiche wie vordem im bürgerlichen Todestabu: Dem Tod soll der Charakter der Einbruchsstelle des Metaphysischen genommen werden; seine Banalisierung soll die unheimliche Frage bannen, die aus ihm aufsteigt. (Ratzinger 1990, 67)
Das System, das man hinter einem solchen Umgang mit dem Tod vermuten kann – sei es bewusst oder nicht –, scheint zu lauten: Wenn sich unser Sterblichkeitswissen schon nicht verhüllen lässt, dann soll zumindest unser Umgang damit in geordneten und handhabbaren Bahnen verbleiben. Das bedeutet etwa: das Mitleid mit Hinterbliebenen und Opfern in den Vordergrund stellen oder die Vorbeugung des Todes durch gesundheitliche oder sicherheitspolitische Maßnahmen oder die Diskussion dem Gesetzgeber anvertrauen, der sich etwa mit bioethischen Fragen befasst usw. Dieser Tod ist, im Gegensatz zum eigenen Tod, verhandelbar. Mehr noch: Er ist in erster Linie ein Problem der anderen. Tatsächlich scheint es, als sei die mediale Beschäftigung mit dem Tod in der Regel mit allem befasst außer dem existentiellen Blickpunkt auf den eigenen Tod. Der mediale Tod ist damit in gewisser Weise epikureisch: Der Tod gehe uns als Lebende nichts an; er sei, so Epikur, »nichts, was uns betrifft«, denn »wenn wir da sind, ist der Tod nicht da, aber wenn der Tod da ist, sind wir nicht mehr«. Dem Tod in dieser Haltung zu begegnen, ist eine Sache; und nicht Thema dieses Buches. Eine grundlegend andere – und Thema dieses Buches – ist es, über den eigenen Tod und die eigene Sterblichkeit bewusst und eingehend nachzudenken. Mit diesem Nachdenken wandelt sich nämlich der Tod von einem abstrakten Moment zu einer konkreten Bestimmung; er ist so besehen auch nicht mehr nur ein 15 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Die eigene Sterblichkeit
Ereignis, das einem irgendwann in ferner Zukunft einmal widerfahren wird. Der eigene Tod und das Wissen um die eigene Sterblichkeit sagen uns vielmehr etwas Grundlegendes über uns selbst und unser Dasein: es ist vergänglich. Konkreter: Ich bin vergänglich und alles um mich herum, und alles, was ich heute schaffe, erlebe, liebe, vermeide, ist es ebenfalls. Ein wenig überraschend ist unterdessen, dass wir nicht nur einmal, sondern mehrmals im Leben von dieser Erkenntnis – von Zeit zu Zeit überfallsartig – eingeholt werden. Johann Christoph Hampe beschreibt diesen Einbruch des Sterblichkeitswissens in seinem viel zu selten beachteten Zeugnis wie folgt: Der Gedanke breitet sich in mir aus. Ich kann nichts anderes mehr denken. Das Leben, das ich so bemüht und beglückt führte, Regen und Sonnenschein, Aufstehen und Schlafenlegen, all die Erfolge und Niederlagen, die mir allein gehören, alles soll abgebrochen werden. Und was zusammengehört, darf eines Tages nicht mehr zusammen sein. Immer wird sich von zweien einer zuerst auf den Weg machen müssen, Mütter von Kindern fort, der Mann von der Frau. Eine Gewalt nimmt uns fort. Der Augenblick flieht. Rechts und links wird gestorben. Aber die Zeit näht unbekümmert weiter Augenblick an Augenblick. (Hampe 1975, 11)
Bemerkenswert ist zugleich, dass Menschen öfter von dieser Erkenntnis eingeholt werden, als man eigentlich annehmen sollte angesichts ihrer Grundsätzlichkeit, Indiskutabilität und vor allem auch ihrer Einfachheit. Die Entwicklungspsychologie sagt uns etwa, dass Kinder schon im Alter von ungefähr 9–10 Jahren den Tod als unumkehrbares Ereignis verstehen, das nicht nur ihre Mitmenschen, sondern auch sie selbst einmal betreffen wird (Slaugher & Griffiths 2007). Es ist demzufolge nicht besonders schwer, zumindest in Grundzügen zu verstehen, was der Tod für jeden von uns bedeutet. Zugleich kann man auch kaum geltend machen, es geschehe leicht, die eigene Sterblichkeit im Alltagsgeschäft zu vergessen; denn dafür ist sie offenkundig nicht nebensächlich genug. Daher stellt sich die Frage: Wenn die eigene Sterblichkeit gleichermaßen leicht zu verstehen und schwer zu vergessen ist – wie kommt es dann, dass wir hin und wieder aufs Neue innehalten und vielleicht beunruhigt erkennen, dass auch wir von der Vergänglichkeit gemeint sind? Warum werden wir hin und wieder von der Erkenntnis unserer Sterblichkeit 16 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Der eigene Tod, der Tod der anderen
eingeholt – gerade so, als ob es uns zuvor entfallen wäre, dass wir sterblich sind? Die augenscheinlich naheliegende Antwort, wir würden im alltäglichen Leben unter anderem deswegen nicht fortwährend an den Tod denken, weil wir so sehr mit dem Leben beschäftigt sind, will nicht recht überzeugen. Zur Frage steht dann nämlich zumindest auch, warum wir so sehr und intensiv mit anderem beschäftigt sind, dass uns just die einzige wirkliche Gewissheit – und mit ihr viele offene Fragen – so leicht entfallen kann. Zumal auch auffällig ist, was genau uns da entfällt: Nämlich nicht der Tod als solcher – dafür ist er als der Tod anderer letztlich viel zu gegenwärtig, als dass wir ihn nicht doch in ein realistisches Lebensbild und -planen einbeziehen müssten. Uns entfällt vorzugsweise die eigene Sterblichkeit. In späteren Kapiteln dieses Buches werden wir uns einige empirische Befunde ansehen, die nahelegen, dass dieses Entfallen durchaus nicht den passiven Charakter des gewöhnlichen Vergessens zum Beispiel eines Namens, Datums oder einer Verabredung hat; vielmehr gibt es zahlreiche experimentalpsychologische Hinweise darauf, dass wir – mitunter unter hohem kognitiven Aufwand und mit beachtlicher psychologischer Fertigkeit – Gedanken an den eigenen Tod aktiv aus unserem Bewusstsein drängen, sofern sich nur die Gelegenheit dazu anbietet. In zahlreichen psychologischen Experimenten wurde das nachgewiesen – und in diesen Experimenten wurde auch gezeigt, dass diese »sich anbietende Gelegenheit« oftmals nicht viel mehr bedeutet als: einige Minuten Zeit verstreichen zu lassen, nachdem man zufällig ausgewählte Versuchspersonen an ihre eigene Sterblichkeit erinnert hat (Arndt et al. 1997). Es bedarf dazu in der Regel nicht einmal besonderer Ablenkungsmanöver und -angebote seitens der Versuchsleiter, um Versuchspersonen im psychologischen Experiment dazu zu bringen, die eben noch in Erinnerung gerufene eigene Sterblichkeit wieder aktiv aus ihrem Denken zu verbannen. In der Regel, so zeigen diese Studien vielmehr, tun sie dies in einer vorhersehbaren, beinahe mechanischen Abfolge: nämlich indem sie die Aussicht auf den eigenen Tod zuerst in die ferne Zukunft verschieben (»es ist ja noch Zeit«), ihre aktuelle Relevanz abschwächen (»ich lebe gesund«), sich gedanklich davon distanzieren (»ich werde ein anderes Mal darüber nachdenken«) – und wenn sie auf solche Weise handhabbarer geworden ist, verdrängen sie sie (»lass mich jetzt erst einmal an etwas anderes denken«). Ein Problem des erfolgreich verdrängten Sterblichkeitswissens 17 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Die eigene Sterblichkeit
ist allerdings, dass damit nicht nur eine grundlegende Aussage über uns selbst (»ich habe begrenzt viel Zeit«) verdrängt wird, sondern auch, dass die innerpsychischen Folgen dieses nun verdrängten Wissens zugleich isoliert und abgeschieden sind. Denn, auch das sagt uns die Forschung, ganz vergessen können wir unsere Sterblichkeit nicht; uns richtig daran erinnern wollen wir aber offenbar meist auch nicht (Greenberg et al. 2001). So bleibt das Wissen um die eigene Sterblichkeit bisweilen in einem schattenhaften Zwischenzustand des Halbbewussten, und mit ihm auch ein großer Teil des affektiven Unbehagens, den dieses Wissen ursprünglich auslöste und dessentwegen es vermutlich überhaupt verdrängt wurde. Das aber, soviel lässt sich schon vorab erahnen, bevor wir die entsprechenden Befunde näher betrachten, kann nicht zuträglich sein: Angst, Verlegenheit und Unbehagen zu empfinden, und zugleich nach der erfolgreichen Verdrängung von Grund und Ursache dieser Empfindungen nicht mehr genau wissen, wovor und weshalb wir uns ängstigen, bedeutet nicht zuletzt, Zugang zu verlieren zu einem abgewehrten Lebensthema, dessen Wirklichkeit sich ebenso wenig »wegdenken« lässt wie seine affektiven Folgen.
1.3. Denken und Abwehren der eigenen Sterblichkeit Unsere Sterblichkeit und unser Wissen darum auf ihre lebenspraktischen Folgen hin zu durchdenken, verlangt daher zuerst, sie sich erst wieder bewusst zu machen und sie auch bewusst zu halten. Denn wie bei so vielen anderen Themen, denen man beständig aus dem Weg zu gehen versucht, weil sie ein unlösbares Problem darstellen oder Unbehagen auslösen könnten, ist noch nicht einmal wirklich klar: Inwiefern ist die eigene Sterblichkeit überhaupt ein Problem, gar ein unlösbares? Um wirklich zu wissen, dass sie eines ist, müsste man sie erst einmal in aller Konsequenz durchdacht haben, und das scheint schon deswegen unwahrscheinlich, weil Verdrängung der eigenen Sterblichkeit ein so gut abgesichertes empirisches psychologisches Datum ist (Greenberg et al. 2001). Dennoch aber scheint es eine gewisse implizite gemeinschaftliche Übereinkunft darüber zu geben, dass Sterblichkeit etwas Problematisches, zu Vermeidendes sei. Es ist zum Beispiel bemerkenswert, dass in einer Zeit, in der Zug um Zug viele längst überkommene Tabus überwunden werden, die individuelle Sterblichkeit nach wie vor zu den seltenen, und wenn, dann 18 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Denken und Abwehren der eigenen Sterblichkeit
überhaupt meist nur unter vorgehaltener Hand besprochenen Nachtthemen zählt. Man kann heute in aufgeklärten Gesellschaften frei über Sexualität sprechen – immerhin über die längste Zeit der westlichen Kulturgeschichte eines der ersten Tabus –, über den eigenen Tod oder die Sterblichkeit des Gesprächspartners jedoch immer noch kaum. All dies mag verschiedene Gründe haben und man machte es sich sicherlich entschieden zu einfach, deutete man die Abwesenheit der eigenen Sterblichkeit im Alltagsgespräch ausschließlich oder primär als Zeugnis von Verdrängung und Abwehr (Nassehi & Weber 1988). Ein anderer Grund etwa mag sein, dass der eigene Tod und die eigene Sterblichkeit am meisten einen selbst angeht, und das allein wäre ein noch recht einfacher Grund, den eigenen Tod nicht zum gemeinschaftlichen Thema zu machen: der eigene Tod ist eine zutiefst private Angelegenheit. Ein anderer Grund ist vielleicht – noch etwas trivialer – sozial wettbewerbsbedingt (Beilin 1982): Wer seine Endlichkeit in der Gemeinschaft eingesteht, sagt zumindest implizit über sich: Gleich welche Funktion er heute innehat, einst wird ein anderer sie für ihn erfüllen können; oder, was noch beunruhigender wäre: Er wird nicht ersetzt werden müssen – denn damit sagt man ja, dass man eine Funktion innehat, die so unbedeutend ist, dass sie nicht einmal nachbesetzt werden muss: Man ist also entweder austauschbar oder entbehrlich. Damit wäre ein Grund, den eigenen Tod in der Gesellschaft nicht anzusprechen und zu vertiefen, der, dass man damit seinen eigenen gesellschaftlichen Nutzwert und die eigene funktionale Unersetzbarkeit in Frage stellte. Es wirft allerdings zugleich kein gutes Licht auf das philosophische Menschenbild und Würdeverständnis einer Gesellschaft, wenn ihre Mitglieder aufgrund sozialer Stellungs- und Funktionsfragen sich nicht oder nur ungern gegenseitig eingestehen können oder wollen, was ohnedies alle wissen – wir alle sind sterblich. Es wird im weiteren Verlauf dieses Buches noch zu untersuchen sein, inwieweit die Internalisierung dieser Reduktion des Menschen auf seine Funktion und seinen sozialen Nutzwert nicht auch Auswirkungen hat auf die private Auseinandersetzung (bzw. ihr Fehlen) mit dem eigenen Tod oder ob sie nicht womöglich selbst wiederum Folge dieser Verdrängung und Abwehr ist. Ein weiterer allgemeiner Grund, weshalb der eigene Tod gemeinschaftlich verdrängt wird, mag sein, dass wir den eigenen Tod individuell verdrängen und Gesellschaften in ihrer einfachsten Bestimmungsform auch nur Ansammlungen von Individuen sind. 19 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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Wenn jedes einzelne davon, oder zumindest eine Mehrheit, sich privat dazu entschlossen hat, Gedanken an die eigene Sterblichkeit abzuwehren, dann ist auch kaum zu erwarten, dass der eigene Tod zum häufigen Gesprächsthema avanciert – zumal Gesellschaft ja auch Ablenkung verspricht, oder Arbeit oder andere Projekte, die meist maßgeblich auf das Leben (oder Überleben der eigenen Gruppe) und nicht den eigenen Tod ausgerichtet sind. Man kann sich sehr leicht unter die Menschen wagen, wenn man Unbehagen über den eigenen Tod empfindet; gerade hier nämlich wird man kaum dem Risiko ausgesetzt, mit einem Gespräch über den eigenen Tod konfrontiert zu werden (Nassehi & Weber 1988). Letztlich ist es für den Moment aber noch relativ unwesentlich, ob wir den eigenen Tod in Gruppen verdrängen, als Einzelpersonen oder beides und warum genau wir das tun. Wir verdrängen den je eigenen Tod, so sagt uns die Forschung gleichermaßen wie die Alltagsbeobachtung, und da kommt es scheinbar nur gelegen, dass wir nicht die einzigen sind, die in dieser Weise mit dem Wissen um die eigene Sterblichkeit umgehen. Nun ist Verdrängung zugleich aber gar kein exklusives Moment des Todes. Insbesondere die Tiefenpsychologie weiß davon zu berichten, dass die meisten Menschen die verlässliche Neigung haben, Dinge, Sachverhalte und Zusammenhänge, die mit unangenehmen Gefühlen und Assoziationen verbunden sind, zu verdrängen. Und doch lautet eine der Thesen, die ich im Folgenden vertreten und zu begründen versuchen werde, dass die Verdrängung des eigenen Todes dennoch etwas Unvergleichbares ist – schon deswegen, weil der Tod selbst unvergleichlich ist. Denn jedes andere herausfordernde Lebensthema, sei es eines der Liebe, der Arbeit, oder sei es ein Problem, welches sich im Zusammenhang mit individuelleren Interessen und Hoffnungen entfaltet, und das wir verdrängen wollen, ist im Prinzip irgendwie lösbar – wenn nicht logisch, so zumindest psychologisch. Wir können etwa einen defizitären oder irritierenden Umstand oder Zustand in jedem anderen Lebensbereich ausgleichen, können uns zumindest darum bemühen. Und wir können, wenn uns das nicht gelingt, versuchen, uns innerlich mit der Tatsache auszusöhnen, dass wir dieses Defizit nicht ausgleichen oder dieses Problem nicht lösen können. Wir können etwa unsere Erwartungen unserer Lebenswirklichkeit anpassen, die daraufhin erträglicher wird, auch wenn sie uns nicht jeden Wunsch und jedes Verlangen erfüllt. Damit können wir dann weiterleben. Wir können mit anderen Worten entweder am Defizit oder der Irritation selbst arbeiten oder an uns und unseren Be20 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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dürfnissen. Und wenn keine dieser Strategien funktioniert, können wir immer noch verdrängen oder kompensieren. Nicht so mit dem eigenen Tod. Keine dieser drei Strategien geht hier auf: Wir können ihn weder lösen, noch mit ihm gemeinsam leben, noch ihn auf Dauer verdrängen oder kompensieren, zumindest nicht in letzter Konsequenz. Der Tod hat damit unter allen denkbaren Lebensthemen schon in dieser Hinsicht eine einzigartige Position inne; und die behält er bei – ganz gleichgültig, ob wir mit ihm umgehen, wie wir mit vielen anderen unangenehmen Dingen umgehen, ihn also ganz oder zeitweise verdrängen. Anders gewendet: Anderen großen Lebensthemen wie etwa der Schuld, der Liebe, der Verantwortung, sogar dem bloßen Nachdenken darüber, kann man ausweichen. Mit dem eigenen Tod ist es anders. Ihn bringen wir ja in der Regel nicht aktiv in unser Leben – oder drängen ihn von dort heraus – wie eine erlebte Liebesbeziehung oder eine verantwortete Handlung oder einbekannte Schuld. Dem eigenen Tod nähern wir uns ungefragt mit jedem Tag. Daher können wir ihn auch nicht eigenmächtig aus unserem Leben verbannen; irgendwann werden wir ihm uns stellen müssen. Eine Frage, der wir in diesem Buch nachgehen werden, lautet: Warum erst »später« an den Tod denken und nicht schon früher? Früher etwa auch deswegen, weil wir uns erstens wie gesagt Klarheit darüber verschaffen wollen, ob unsere Sterblichkeit uns wirklich mit einem so unlösbaren Problem konfrontiert, dass Verdrängen die einzige »Lösung« darstellt. Zweitens aber auch, weil es sich bei näherer Betrachtung als nahezu unmöglich erweist, den genauen Zeitpunkt festzulegen, ab dem wir konkret mit dem Lebensproblem der Sterblichkeit konfrontiert sind. Denn ist der Tod selbst als Übertritt vom Sein ins Nicht-mehr-Sein ein Geschehen, das sich an einem konkreten Zeitpunkt verwirklicht, gehen wir doch zugleich fortwährend einen unvermeidlichen Schritt näher auf diesen Zeitpunkt zu. Das gilt umso mehr, wenn wir uns unsere Vulnerabilität und Versehrbarkeit vor Augen führen und damit Eigenschaften unseres Daseins, die wir zugleich im Interesse der Vermeidung des Todes nicht mehr zu verdrängen uns leisten können. Gerade dieser Aspekt der eigenen Sterblichkeit ist nämlich ganz unmittelbar erlebens- und verhaltensrelevant und setzt allein dadurch der Verdrängung konkrete Grenzen. Denn fraglos ist es etwa sinnvoll und auch biologisch vernünftig, unsere eigene körperliche Versehrbarkeit nicht fortwährend und vollständig zu verdrängen. Das bestätigt schon ein Blick auf unseren Alltag: »Achtung Lebensgefahr« – solche Warnschilder setzen das 21 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Die eigene Sterblichkeit
Einbekennen der eigenen Versehrbarkeit voraus: sich dem, vor dem sie warnen, auszusetzen, bedeutet, sich und das eigene Leben gefährden. Sie sagen somit auch viel allgemeiner, dass Leben prinzipiell in Gefahr ist – und das macht nur Sinn, wenn man keine zu großen Illusionen in Hinblick auf die eigene Sterblichkeit hegt. Es erscheint vielleicht prima facie etwas widersprüchlich, dass wir Verdrängung und Gewahrsein der eigenen Gefährdetheit so nahe beieinander im Alltagsleben vorfinden: Aber wenn neben der bloßen Verdrängung der Gedanken an den eigenen Tod auch die Vermeidung des tatsächlichen eigenen Todes ein Ziel unseres Handelns ist, dann ist es offenkundig adaptiv, eine hinreichend realistische Haltung zur eigenen Sterblichkeit einzunehmen, aufgrund derer man sich angesprochen fühlt, wenn vor Lebensgefahr gewarnt wird. Das Wissen um die eigene Sterblichkeit verlieren wir folglich anscheinend ohnehin nicht wirklich, auch wenn wir den eigenen Tod zu verdrängen versuchen. Ergänzende Argumente ließen sich noch anführen aus der evolutionären Psychologie, aber für die erste Antwort auf die Frage – ist es adaptiv, die eigene Sterblichkeit zu leugnen? – sollen diese Andeutungen zunächst ausreichen. Auch deswegen, weil Adapativitätsargumente schon voraussetzen, dass die Überlebensfähigkeit des Menschen zur Frage steht und die Annahme einer solchen Fähigkeit überhaupt nur dann Sinn macht, wenn schließlich das Überleben selbst zur Frage steht. So können wir soweit festhalten, dass es in diesem sehr einfachen Sinne dem Überleben dient, ans Überleben zu denken und das heißt immer auch schon, wenigstens implizit die eigene Sterblichkeit in unsere Lebensplanung und unsere Handlungsentwürfe mit einzubeziehen. Das Meiden von Gefahren an Leib und Leben ist nur die Minimalvariante des individuellen Sterblichkeitswissens. Aber – und hier werden wir wieder zum Verdrängungsbefund geführt: Wie bewusst, wie explizit und wie überlegt ist das Meiden von Gefahr als Überlebensstrategie in der Regel? Eine in der Sozialpsychologie diskutierte These lautet jedenfalls, dass das Meiden von Bedrohungen an Leib und Leben gar nicht bewusst erfolgen muss; dass es präreflexiv ist und nicht einmal annähernd mit einer tiefergehenden existentiellen Bestandaufnahme des eigenen Seins als vergängliches und endliches Sein zu tun hat (LeDoux 1986; Windmann & Krüger 1995). Daher versteht man Gefahren- und Warnhinweise auch, ohne zugleich allzu viele bewusste Gedanken an die eigene Sterblichkeit und die Vergänglichkeit des Daseins im Allgemeinen 22 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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verlieren zu müssen. Zur Adaptivität des Bewusstseins der eigenen Sterblichkeit besagt das, dass es angesichts der Tatsache, dass wir auch ohne klares Bedenken der eigenen Sterblichkeit relativ sicherheitsorientiert durch unsere Welt navigieren können, für das Überstehen des Alltags schon ausreicht, zu »wissen« – im rudimentärsten, unreflektiertesten Sinne – dass wir sterben können, wenn wir nicht entsprechende Vorsichtsmaßnahmen treffen. Aber dies sind sehr pragmatische Auswirkungen des Sterblichkeitsbewusstseins – sie sind nicht in dem Sinne existentiell, dass sie die eigene Bewegung vom Sein und Nichtsein nachvollziehen und reflektieren; sie vermeiden diese Bewegung bloß. Die psychologische Forschung bestätigt diesen Befund ebenso wie unsere Alltagserfahrung: Sich einer Sache bewusst sein und bewusst an etwas denken sind zwei grundverschiedene Dinge: Wir sind uns bewusst, dass wir leben, dass die Erde eine ungefähre Kugel ist, dass die Arktis kalt und die Sonne heiß ist, aber wir denken in der Regel recht selten daran, auch wenn und obwohl wir keine dieser Aussagen aktiv aus unserem Denken verdrängen. Sie bilden vielmehr eine Art Hintergrundwissen, und wenn wir daran erinnert werden, denken wir nicht ungern daran – kein psychischer Widerstand wird aktiviert, keine Abwehr in Gang gesetzt. Dennoch entfällt es uns immer wieder, weil dieses Hintergrundwissen schlicht und einfach in den wenigsten Situationen besonders lebensrelevant ist. Anders ist es mit dem Tod generell und noch viel mehr mit dem Wissen um den eigenen unausweichlichen Tod: Dieses Wissen wird erstens im Allgemeinen oft aktiv verdrängt und abgewehrt; zweitens ist es tatsächlich stets hochrelevant und drittens daher nicht nur Hintergrundwissen, sondern großteils Bestimmungsmerkmal unserer Person. In Hinblick auf die Verdrängung der Sterblichkeit steht daher vielleicht nicht so sehr zur Frage, ob wir ständig an etwas denken, sondern vielmehr, wie bereitwillig wir mit unseren Gedanken dabei verweilen, wenn ein inneres oder äußeres Ereignis Erinnerungen daran wachruft; oder auch, wie bereitwillig wir bewusst solche Gedanken ohne klaren äußeren Auslöser zu denken bereit sind. Das so häufig berichtete Verdrängen existentiellen Denkens an die eigene Sterblichkeit mag dabei unter anderem auch psychohygienische Gründe und Funktionen haben, weil es potentiell verunsichert, zu wissen, dass unser Bemühen um Unversehrtheit und Überleben eines Tages scheitern wird. Man hat zum Beispiel in den letzten Jahren viel zum Phänomen der positiven Illusionen geforscht – die meis23 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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ten Menschen neigen demnach etwa dazu, sich systematisch in ihren Fähigkeiten, Eigenschaften oder zum Beispiel in Hinblick auf die Frage, wie gut sie im Verhältnis zu anderen bei einer Testaufgabe abgeschnitten haben, zu überschätzen – üblicherweise nicht viel, aber doch genug, um sich stets als etwas besser einzuschätzen als die anderen (Taylor 1989). Das ist paradoxerweise ein durchschnittliches Phänomen und schon dadurch schwer haltbar: Es kann nicht ein jeder besser sein als der Durchschnitt. Manche Autoren deuten positive Illusionen als irrationale Verzerrungen (Robins & Beer 2001); aber es spricht zugleich auch manches dafür, dass sie adaptiv sind – sie helfen uns, unsere Schwächen weniger deutlich wahrzunehmen und unsere Stärken umso klarer, sie schützen uns vor lähmenden Selbstzweifeln (Cummins & Nistico 2002). Handelt es sich damit nun auch um eine Art adaptiver positiver Illusion, dass wir Gedanken an unsere Vergänglichkeit meiden – oft so erfolgreich, dass wir im Alltag so denken, erleben und handeln, als gäbe es unter Einhaltung bestimmter Spielregeln immer ein Morgen und gar keinen eigenen Tod? Einige Autoren bejahen das; wir werden ihre Gedanken im weiteren Verlauf dieses Buchs noch diskutieren. Ich werde allerdings wie erwähnt im letzten Teil dieser Diskussion anhand sowohl philosophischer Argumente als auch psychologischer Daten darzulegen versuchen, dass unsere Sterblichkeit gar nicht notwendig Schwäche ist. Und schon davor werden wir in den unterschiedlichsten Zusammenhängen sehen, dass die Leugnung des Todes und das Meiden des Denkens an die eigene Sterblichkeit weder uns selbst gut tut noch der Welt – nicht nur, weil wir damit etwas sehr Grundlegendes über unser Sein, unser Wirken und unsere Verantwortung vor uns selbst zu verbergen versuchen, sondern auch unter ganz pragmatischen, d. h. lebenspraktischen Gesichtspunkten. Wir werden etwa sehen, dass die sozialpsychologische Forschung anhand einer Vielzahl von Studien belegen kann, dass soziale Konflikte und individuelle Lebensprobleme unter anderem auch darauf zurückzuführen sind, dass in der Regel so wenig Bereitschaft dazu besteht, sich offen mit der eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen. Es wird sich immer wieder zeigen: Kollektiv hat die Verdrängung des Todes einen hohen Preis; aber auch individuell vergeben wir uns viel, wenn wir uns vor den Erkenntnismöglichkeiten und Lebenschancen verschließen, die das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit an uns herantragen könnte. Mit der Verdrängung unserer Sterblichkeit, so werden wir letztlich sehen, hindern wir uns nämlich daran, dieses 24 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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Angebot überhaupt einmal als Angebot und nicht nur als Bedrohung zu erkennen und uns genauer anzusehen, bevor wir dann darüber entscheiden, ob wir es annehmen oder ablehnen wollen. Denn verdrängen können wir es ja für den Fall, dass uns dieses Angebot nicht überzeugen sollte, immer noch. Gegen Ende dieses Buches werde ich daher auch den Versuch unternehmen, auszuloten, inwieweit gerade das Bewussthalten der eigenen Sterblichkeit nicht vielleicht überhaupt erst Voraussetzung eines reifen, vernünftigen, ehrlichen und gelingenden Menschseins bildet. Die Alternative wäre, weiterhin den Dialog mit einem Lebensthema zu verweigern, das ohnehin immer wieder ungefragt mit uns in Dialog treten will – und wird. Neben der philosophischen Fragwürdigkeit des Fluchtprojekts wirft das bloße Verdrängen und Vermeiden nämlich auch methodische, bzw. eigentlich psychologische Probleme auf: unter anderem etwa, dass, wenn wir den Tod zu verdrängen und gedanklich auf Distanz zu halten versuchen, wir nie sicher sein können, wann und unter welchen Umständen der Widerstand gegen das Sterblichkeitsbewusstsein versagt. Die klinische Erfahrung zeigt es: Die Wiederkehr des Verdrängten ist selten behutsam und sanft. Und so dämmert es uns immer wieder, wenn unsere Abwehrmechanismen versagen: »Auch ich werde sterben.« Von den wenigen Gewissheiten, über die wir verfügen, rücken dann zwei in den Vordergrund: erstens, ich bin lebendig, ich bin bei Bewusstsein und voller Erlebnis- und Tatendrang; zweitens, ich werde es nicht immer sein. Alles, von dem wir wissen, alles, was wir erleben, lieben, denken und tun, liegt im ersten Satz begründet. Und alles, von dem wir wissen, dass wir es erleben, lieben, denken und tun, wird mit dem zweiten Satz wieder ausgelöscht. Wenn wir auch oftmals mit der impliziten Annahme leben, immer gäbe es ein Morgen, wissen wir also doch zugleich – zumindest in reflexiveren Momenten –, dass es irgendwann keines mehr geben wird. Ernest Becker beschreibt dieses Lebensthema der eigenen Sterblichkeit als Paradox: Dies also ist das Paradox: Der Mensch ist zur selben Zeit außerhalb der Natur wie hoffnungslos in ihr verfangen. Er ist eine Zweiheit, hoch oben in den Sternen und trotzdem ein vom Herzschlag belebter, nach Luft schnappender Leib, der einst einem Fisch gehörte und der immer noch dessen Kiemenmerkmale trägt. Sein Leib ist eine aus Materie bestehende fleischliche Hülle, die ihm auf mannigfaltige Weise fremd ist – das Seltsamste und Abstoßendste dabei ist, dass sie wehtun kann, dass
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sie blutet, dass sie altern und schließlich sterben muss. So ist der Mensch buchstäblich in zwei Hälften gespalten: Er weiß um seine eigene, herrliche Einmaligkeit, weil er sich überall von der Natur abhebt und sie überragt, und doch braucht er nur ein paar Meter unter die Erde zu gehen, um blind und stumm zu verwesen und für immer zu verschwinden. Es ist ein schreckliches Dilemma, mit dem er leben und sich abfinden muss. […] Es bedeutet, erkannt zu haben, dass man Fraß für die Würmer ist. So sieht also das Entsetzliche aus: aus dem Nichts hervorgegangen zu sein, einen Namen, ein Bewusstsein, tiefe innere Gefühle, eine quälende Sehnsucht nach Leben und Selbstverwirklichung zu beherbergen – und trotzdem sterben zu müssen. (Becker 1976, 54)
Dies ist nach Becker das menschliche Dilemma schlechthin: Unser Wissen um den eigenen unausweichlichen Tod steht auf der einen Seite, unser Lebensdrang auf der anderen und eine Versöhnung zwischen beiden Bewegungen – zum Sein hin und vom Sein weg – scheint schlechterdings nicht möglich. Die Auseinandersetzung mit diesem Dilemma ist das Thema dieses Buches. Vielmehr noch aber ist es das eingestandene oder uneingestandene Thema unseres Lebens – und nicht zuletzt seit einigen Jahren wieder ein Kernthema der Psychologie und der Philosophie.
1.4. Zugänge zur eigenen Sterblichkeit Von Montaigne ist der oft zitierte Satz überliefert: »Wer die Menschen sterben lehrte, der würde sie zugleich auch leben lehren.« Wenn leben lernen bedeutet – oder wenigstens voraussetzt –, realistisch leben zu lernen, möchte man diesem Satz ohne Abstriche zustimmen: Offenkundig kann man einem Leben, das geführt und geplant wird, als gäbe es keinen Tod, nicht attestieren, ein besonders realistisches Leben zu sein. So besehen verhandeln wir hier und im Folgenden nicht mehr nur über ein theoretisches Wissen von unserem dereinstigen Tod, sondern auch über eine Geistes- und Lebenshaltung vor dem Hintergrund des Wissens um das eigene Leben als endliche Größe. All dies berührt damit selbstverständlich nicht nur die Philosophie, die uns Leben und Sterben lehren soll, sondern auch maßgeblich Psychologie: Wie gehen wir mit unserer Endlichkeit und der Vergänglichkeit der Dinge um – das fragt nicht nur, wie wir mit
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dem Tod umgehen können und sollen, sondern auch, wie wir es tatsächlich tun. Diese thematische Doppelgleisigkeit der Frage – wie wir mit unserem Bewusstsein des Todes tatsächlich umgehen und wir mit ihm anderweitig umgehen könnten – bestimmt auch den in diesem Buch versuchten Zugang zum Todesthema. Er speist sich aus einer Begegnung von Existenzphilosophie und kognitions- und sozialpsychologischer Forschung und damit unter anderem aus dem Versuch, ein historisches Versäumnis nachzuholen. Denn beide Denkbewegungen dominierten zu verschiedenen Zeiten den Zugang zum Menschen: Die Existenzphilosophie bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts, die experimentelle Psychologie die Gegenwart. Beide sind sich einander jedoch bisher selten auf gleicher Augenhöhe begegnet, mit der Folge allerdings, dass die zeitgenössische Psychologie weite Teile der Existenzphilosophie bisher fast völlig ignoriert. Es gibt nur wenige Ausnahmen wie die schon angedeutete und im Folgenden noch detaillierter zu diskutierende Terror-Management-Theorie, die als eine existentiell ausgerichtete empirische psychologische Theorie und Forschungsrichtung mit dem Versuch angetreten ist, die bisherige Lücke eines interdisziplinären Verstehens der Berührungsorte und -wege zwischen Todessicht, Todeseinstellung und Todesverarbeitung zu schließen. Aber auch diese und ähnliche Ausnahmen leiden, wie wir sehen werden, immer noch daran, dass sie Anliegen und Anspruch des existenzphilosophischen Projekts der Suche nach einem reifen und womöglich sogar versöhnten Umgang mit der eigenen Sterblichkeit bislang großteils ausklammerten. Eine solche existentielle Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit ist zwar angesichts der Tatsache, dass es sich hierbei um primär psychologische und nicht um philosophische Theorien handelt, meist auch gar nicht ihr expliziter Anspruch oder Auftrag. Es geschieht allerdings allzu leicht, dass vor dem Hintergrund einer bisweilen etwas willkürlichen Festlegung disziplinärer Grenzen bestehende Erklärungslücken übergangen oder mit Theorien ausgefüllt werden, die a priori gar nicht zum Schließen dieser Lücken entwickelt wurden und sich bei näherer Analyse dann auch tatsächlich als kaum dazu geeignet erweisen. Selbst das jedoch wäre noch nicht sonderlich problematisch, wenn nicht zugleich die Gefahr bestünde, dass man allzu oft vergisst, dass diese Lücken überhaupt noch bestehen und darauf warten, geschlossen zu werden. Eine solche Lücke stellt im Gegenwartsdiskurs etwa die Frage dar, ob es 27 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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konstruktivere Wege der Sterblichkeitsbewältigung gibt als jene, von denen die sozialpsychologische Forschung vor allem aus dem Umfeld der Terror Management und ähnlicher Verdrängungstheorien berichtet. Umgekehrt gilt aber auch: Wer heute eine aufgeklärte Philosophie des Umgangs mit der eigenen Sterblichkeit und der Vergänglichkeit der Dinge betreiben will, kommt nicht umhin, sich an relevanten empirischen Befunden zu orientieren, diese zumindest zur Kenntnis, wenn nicht gar überhaupt als Ausgangsbasis seiner Untersuchung zu nehmen. Hier wie dort zeigt sich also bald, dass eine einzelwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema jeweils nur einen Teilaspekt beleuchtet und schon von daher notgedrungen unvollständig bleibt. Kurz: Eine Existenzphilosophie der Sterblichkeit bleibt ohne Bezug auf psychologische Theorien und Daten ebenso bruchstückhaft wie eine Psychologie der Sterblichkeit ohne Bezug auf die Existenzphilosophie. Beide brauchen einander, wenngleich bzw. weil sie auch unterschiedliche Erkenntniswege und -ziele haben. Ein Plädoyer für Interdisziplinarität bringt allerdings auch die Notwendigkeit zu thematischen Eingrenzungen mit sich. So auch hier: Es gibt eine Fülle an theoretisch wertvollen Auseinandersetzungen, die das Problem der Sterblichkeit zum Beispiel religionsphilosophisch oder theologisch beleuchten und dabei methodisch zumeist mit einem verhältnismäßig geringeren empirischen und analytischen Anspruch und Anteil in die Debatte eintreten – unter anderem, weil das Hintergrundmodell dieser Ansätze weniger auf empirischen Daten beruht als auf außerweltlicher Offenbarung, die gemeinhin nicht gewusst und bewiesen, sondern geglaubt und angenommen werden will. Diese Facette der Sterblichkeitsdebatte werde ich hier und im Folgenden nicht eingehender behandeln. Erstens aufgrund der Tatsache, dass auch der religiöse Mensch vor seinem Glaubensentschluss oder in Phasen des Zweifelns dem Problem der eigenen Sterblichkeit vermutlich ohne besondere Hoffnung auf Unsterblichkeit gegenüberstand oder -steht, also zumindest unter diesem Gesichtspunkt den nichtreligiösen Argumenten und Analysen eher folgen und dafür mehr Verständnis aufbringen können wird als der nichtreligiöse Mensch religiös begründeten Argumenten und Denkbewegungen. Zweitens ist das Problem der Sterblichkeit ein Problem aller, auch der religiösen, Menschen, und zwar noch relativ unabhängig davon, wie sie den Tod jeweils definieren. Allgemeiner bedeutet das Faktum der Sterblichkeit ja auch, dass nicht nur wir, sondern alles 28 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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Seiende der Vergänglichkeit ausgeliefert ist, und das ist eine grundlegende Erkenntnis, die den religiösen wie den nicht religiösen Menschen gleichermaßen angeht. Es reicht also schon aus, dass wir alle sterblich sind und alles andere mit uns vergänglich ist, um uns psychologisch, philosophisch und existentiell herauszufordern, und zwar auch dann noch, wenn wir glauben, dass wir nach dem Tod in ein bewusstes Weiterleben eintreten. Ein Abschied von dieser Welt und der uns von ihr verliehenen Identität wird das Sterben dennoch sein. Das Problem des Sterbens ist mit anderen Worten das Problem des Abschieds schlechthin – gleichgültig, ob wir glauben, dass nach diesem Abschied noch mehr kommen wird oder nicht; und unabhängig auch davon, was danach kommen mag. Drittens gibt es einen weiteren Aspekt der religiösen Begegnung mit dem eigenen Tod, der dann wiederum nahelegt, dass es letztlich doch hochrelevant ist, wie und als was wir den Tod aus religiöser Perspektive ansehen. Gemeint ist der von Soziologen und Demographen berichtete zunehmende Wegfall und Verlust der einst noch weit verbreiteten Gewissheit einer bewussten, individuellen Fortexistenz nach dem Tod (Schweitzer 2003; Dobbelaere 1987). Das postreligiöse Sterblichkeitsbewusstsein ist nach dem Verlust solcher Gewissheiten für immer mehr Menschen der westlichen Industrienationen nicht mehr nur ein Bewusstsein des Abschieds von allem Irdischen; es ist vielmehr auch ein Bewusstsein der individuellen Auslöschung (Knoblauch & Zingerle 2005). Es gibt, wie gesagt, starke empirische Hinweise darauf, dass diese Sicht auf den Tod eminente philosophische und psychologische Auswirkungen auf unser Selbstverständnis und den Blick auf unsere Zukunft hat. Wir werden im weiteren Verlauf dieses Buches noch mehrfach darauf zurückkommen. Vorab aber nur so viel: Wie immer man diesen allgemeinen von Soziologen beschriebenen Glaubensverlust auch bewertet – ob man ihn etwa für eine Folge oder einen Grund der allgemeinen Todesverdrängung hält, oder ihn als eine sich unabhängig davon entwickelnde Denkbewegung versteht – seine Auswirkung ist jedenfalls absehbar: Er wirft den Menschen in seiner Begegnung mit der eigenen Sterblichkeit ziemlich radikal auf sich selbst zurück. Nun sollte man aber zugleich eigentlich annehmen, dass ein Problem, das angesichts der schwindenden Bedeutung religiöser Projektions- und Hoffnungsflächen auf einen selbst zurückgeworfen wird, auch entsprechend aufgefangen, angenommen und nicht so schnell verdrängt wird. Aber just das scheint, wie bereits angesprochen, nicht 29 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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der Fall zu sein. Alleine schon die Leichtigkeit, mit der wir auch hier von dem »Problem des eigenen Todes« lesen, statt von der bloßen und einfachen Tatsache unserer Sterblichkeit zu sprechen, verrät viel über die scheinbare Natürlichkeit der Abwehrhaltung dem eigenen Tod gegenüber. Zudem sehen wir auch im postreligiösen metaphysischen Kontext und Diskurs, wie vielgestaltig Todesverdrängung sich äußern und darstellen kann. Man sehe sich etwa die Unterbewertung und Bagatellisierung des Todes in der modernen Esoterik an, die anstelle des Glaubens vorzugsweise mit vermeintlichen Gewissheiten handeln will und dem existentiellen Thema »Sterblichkeit« oft entsprechend ungeduldig begegnet – etwa durch Schlagworte wie »Es gibt keinen Tod« (Hollbach 2013; Kawalla 2016) und »Beweise für ein Leben nach dem Tod« (Long & Perry 2010). Auf der anderen Seite des Spektrums steht allerdings auch seine intellektuelle Unterversorgung dadurch, dass, gemessen an der Breite und unmittelbaren Lebensbedeutung des Themas, seine philosophische Diskussion in Gebiete verlegt wird (etwa zur Bioethik, zur Ethik der Organspende und der Definition des Todeszeitpunkts), denen die Auseinandersetzung mit der unmittelbar zur Frage stehenden eigenen Sterblichkeit meist gar nicht mehr anzusehen ist.
1.5. Bewusste und unbewusste Bilder der eigenen Sterblichkeit Ist man aber einmal bei der verdrängten Sterblichkeit angelangt, steht man vor einer besonderen Herausforderung vor allem für den philosophischen Anteil der Diskussion. Denn Philosophie befasst sich klassischerweise mit Ideen, Modellen und Argumenten, die analysierbar, verhandelbar und das heißt: bewusst sind, während nun ein großer Fundus an empirischen, phänomenologischen und Alltagsbeobachtungen nahelegt, dass gerade dieses vollbewusste Gewahrsein der eigenen Sterblichkeit angesichts weit verbreiteter Verdrängung nicht länger vorausgesetzt werden kann. Wir müssen mithin also neben bewussten auch mit unbewussten Einstellungen arbeiten, wenn wir dem Wissen um den eigenen Tod wirklich überall dort begegnen wollen, wo es psychologisch präsent und damit erlebnis- und verhaltensrelevant ist (Arndt et al. 1997). Vor diesem Hintergrund wird es im Folgenden auch darum gehen, gleichermaßen bewusste wie unbewusste Einstellungen zur ei30 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Bewusste und unbewusste Bilder der eigenen Sterblichkeit
genen Sterblichkeit und ihre psychologischen Wirkungen einzufangen und anzusehen, diese Einstellungen rational zu hinterfragen und schließlich auch auszuleuchten, inwieweit haltbare, religiös voraussetzungsfreie und existentiell aufrichtige Antworten auf unser Unbehagen an unserer Sterblichkeit aussehen könnten. Denn wie wir unser Leben angesichts und mit unserer Sterblichkeit denken, auch wie wir es verstehen und leben können und sollen – das alles bleibt auch nach Kenntnis der relevanten empirischen Befunde vorerst offen. Die empirische Forschung beschreibt und informiert uns ja zunächst nur über den Istzustand; über das Soll und die Möglichkeiten sagt sie uns hingegen meist recht wenig. Sie beschreibt etwa, wie wir leben, erleben, denken und handeln, weniger aber, wie wir leben, erleben, denken und handeln könnten oder sollten angesichts eines so fundamentalen Lebensphänomens wie der eigenen Sterblichkeit und der Vergänglichkeit im Allgemeinen. Letzteres fällt üblicherweise wieder in den Kompetenzbereich des Philosophen. Es wird im Folgenden daher weniger nur Bezug genommen auf die relativ leicht verständliche objektive Gegebenheit der Sterblichkeit und ihre Verdrängung, als auf die bewusste und unbewusste existentielle Verunsicherung angesichts des Wissens um den eigenen Tod: Was bedeutet es, lebendig zu sein, an der Welt teilzuhaben und zugleich: zu wissen (oder daran erinnert zu werden), dass alles dies einmal ein Ende nehmen wird? Nun ist diese Frage zugleich so drängend, dass es kaum einen Philosophen gibt, der sich nicht wenigstens auch beiläufig dazu geäußert hätte, und insofern ist das Thema »Philosophie der Sterblichkeit« ein überaus umfangreiches und vielfältiges Feld. Es ist aber – und das ist seine nächste thematische Eingrenzung – nicht die Intention dieses Buches, einen bloßen Überblick zu schaffen über die verschiedenen philosophischen Positionen zum Problem der Sterblichkeit und ihrer Bewältigung. Das ist erstens schon öfter geschehen und es hat wenig Wert, den Arbeiten zu diesem Thema eine weitere beizustellen, die vermutlich wenig Neues zu bieten gehabt hätte. Zweitens wissen wir wie gesagt überhaupt erst seit wenigen Jahrzehnten auf empirisch gesicherter Grundlage, dass es neben bewussten Sterblichkeitsreaktionen auch unbewusste gibt, und diese sind schon aufgrund ihrer relativen Neuigkeit auf der Landkarte der empirisch erfassten Sterblichkeitsreaktionen verhältnismäßig seltener philosophisch diskutiert worden. Hier besteht also Nachholbedarf. Da diese beiden Aspekte der Sterblichkeitsreaktionen aber 31 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Die eigene Sterblichkeit
eng zusammenhängen – unbewusste Todesreaktionen sind nicht zuletzt davon abhängig, wie man den Tod innerlich repräsentiert, und auch, wie sehr man die bewusste lebenspraktische Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod meidet, sie also verdrängt und ans Unbewusste delegiert – kann man das eine kaum ohne das andere verhandeln. Auf dieses Wechselverhältnis, seine Auswirkungen und seine Änderbarkeit, also Diskutabilität, konzentriert sich die vorliegende Analyse und nimmt damit bewusst die genannten Einschränkungen des Themas in Kauf, um ausreichend Raum dafür zu schaffen, den Versuch zu unternehmen, einen Anstoß zur psychologischen Erweiterung und philosophischen Ausweitung des Umgangs mit dem Problem des eigenen Todes des zeitgenössischen Menschen vorzustellen. Die Wegstrecke davor wird uns zuvor allerdings, wie angekündigt, mit weit verbreiteten Formen des abwehrenden Umgang mit der eigenen Sterblichkeit konfrontieren; nur werde ich auch zu zeigen versuchen: Diese sind gerade dadurch so ernüchternd, dass ihnen die Verdrängung und Abwehr des Todes zugrunde liegt. Das Dunkel des Todes ist also nicht zuletzt auch der Tatsache geschuldet, dass wir ihn oft im Dunkel zurücklassen. So ist das Schattendasein, das wir unserer eigenen Sterblichkeit im Leben zugewiesen haben, womöglich gleichermaßen Grund dafür und Hinweis darauf, dass wir dem Denken an den eigenen Tod zunächst mit einem gewissen Unbehagen begegnen; und das alleine wiederum reicht als nächster Ausgangspunkt unserer Überlegungen aus. Denn das Verstehen dieses Unbehagens erweist sich bei näherer Beschau bereits als erste Herausforderung.
1.6. Unbehagen an der eigenen Sterblichkeit Warum das Unbehagen? Warum die Abwehr und Weigerung, die eigene Sterblichkeit in Ruhe zu durchdenken? Betrachten wir das zunächst aus der Perspektive des Alltagserlebens: »Nicht ich«, denkt oder sagt man etwa bisweilen, wenn man Nachricht vom tödlichen Unfall oder der unheilbaren und terminalen Erkrankung anderer erhält (Zilboorg 1943). Natürlich wäre es eigentlich richtiger, wenn man sagte: »Diesmal nicht ich.« Denn selbstverständlich wissen wir zugleich zumindest implizit und allen positiven Illusionen zum Trotz: Was dem anderen in Form eines Unfalls oder einer Erkrankung ge32 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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schehen kann, kann jederzeit auch uns geschehen – und wenn wir es sind, die erkranken oder verunglücken, werden andere sagen: nicht ich, und auch sie werden wieder nichts anderes meinen können als: »Jetzt erst einmal nicht ich.« Tatsächlich kann man auf diese Weise: »nicht jetzt, nicht ich« – zumindest kurzfristig – dem Denken an die eigene Sterblichkeit aus dem Weg gehen und sich dennoch ehrlich dem Leiden des anderen zuwenden. Aber hin und wieder bahnt sich doch das Wissen auch um die eigene Sterblichkeit den Weg zurück und verursacht das Unbehagen am eigenen Tod. Interessant ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass zwar im Allgemeinen Einigkeit darüber besteht, dass etwas Beunruhigendes ausgeht von Tod und Sterblichkeit, der Frage aber, was genau es ist, das daran Unbehagen hervorruft, zugleich verhältnismäßig schwerer beizukommen ist. Es gibt zwar einige naheliegende Gründe: Da ist etwa zu nennen die Gewissheit der Unausweichlichkeit des Todes vereint mit der Tatsache, dass wir dennoch nicht viel von ihm wissen. Und man kann natürlich die Angst vor der Auslöschung, also dem Ende jeglicher Bewusstseinstätigkeit als Grund nennen, den Tod zu fürchten. Allerdings zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass man diesen Vorschlägen stets etwas entgegenhalten könnte: Etwa, dass wir vielleicht auch deswegen so wenig über den Tod wissen, weil wir ihn verdrängen, das Problem also weniger nur die Verborgenheit des Todes selbst ist, als unsere oftmals fehlende Bereitschaft, mehr über ihn zu erfahren. Oder, dass gerade das Ausbleiben von Bewusstseinstätigkeit ebenso wie eine Vollnarkose oder der traumlose Schlaf gar nicht unangenehm und daher auch kaum beängstigend sein kann. Es ist dem Tod selbst – gemessen an der Intensität unserer gefühlsmäßiger Reaktionen – auf den ersten Blick nicht zwangsläufig anzusehen, was genau es ist, was wir so an ihm fürchten. Tatsächlich bestätigen auch Niemeyer und Kollegen in ihrem wissenschaftshistorischen Abriss der Psychologie der Todesfurcht, dass diese Furcht weitaus weniger leicht und eindeutig begründbar ist, als man annehmen sollte angesichts der Tatsache, wie selbstverständlich sie gegeben zu sein scheint: By any analysis, the dominant focus of death attitude researchers has been the measurement of death anxiety, fear, and related concepts. But what do we fear when we fear death? One might suppose that the scholarly study of any given topic would begin with a clear definition of basic terms, preferably grounded in an explicit conceptual framework.
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However, with only occasional exceptions, this has not been the case in the burgeoning field of death anxiety research, where the enthusiasm to »collect data« on death attitudes has typically taken the form of a raw and often naive empiricism, which is neither guided by theory nor directed toward practical applications. As a consequence, relatively little thought has been given by empirically oriented researchers to the meaning of »death anxiety,« beyond the common sense association of the term with some form of personal discomfort concerning the state of death or the process of dying. (Neimeyer, Wittkowski & Moser 2004)
Generell besteht Konsens darüber, es sei sinnvoll, die Todesfurcht als vielschichtiges Cluster verschiedener Sorgen und Ängste zu operationalisieren und etwa zu unterscheiden zwischen der Angst vor dem Sterben und der Angst vor dem Tod; und weiters zwischen der Angst vor dem eigenen Sterben und Tod und der Angst vor dem Sterben und Tod anderer Menschen. Diese Aufzählung macht allerdings gerade durch die Vielfalt von benennbaren möglichen Einzelsorgen innerhalb des Konstrukts »Todesfurcht« deutlich, dass die Benennung einzelner Faktoren bisweilen auch immer etwas willkürlich erscheinen kann – vermutlich gerade eben deshalb, weil dieses Unbehagen tatsächlich so vielgestaltig ist und auch gar nicht ausgemacht ist, wie generalisierbar der Einfluss dieser Einzelfaktoren ist. Alternativ kann man allerdings auch neben der direkten Fragestellung, was Menschen am Tod ängstigt, auch im Umkehrverfahren, ex iuvantibus, untersuchen, unter welchen Umständen Menschen keine oder eine verhältnismäßig geringere Angst vor dem Tod empfinden, sich mit anderen Worten ansehen, welche individuellen Merkmale negativ mit der Angst korrelieren. Man kann hier etwa Neimeyers und Chapmans Befund zu Rate ziehen, demzufolge Erwachsene, die der Ansicht sind, ihren Lebensaufgaben und -idealen gerecht oder diejenige Person geworden zu sein, die sie immer werden und sein wollten, signifikant geringere Angst vor dem Tod haben als jene, die eine wie auch immer begründete Diskrepanz zwischen ihrem Handeln und Sein auf der einen Seite und ihren Idealen und Wertvorstellungen auf der anderen Seite wahrnehmen (Neimeyer & Chapman 1981). Oder man kann den Befund betrachten, demzufolge es auffällige Altersunterschiede in Hinblick auf die Angst vor dem Tod gibt: Dass die Angst vor dem Tod im mittleren Erwachsenenalter ihren Höhepunkt erreicht, während sie just im fortgeschrittenen Alter, wenn der Tod zunehmend an Selbst34 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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relevanz gewinnt und auch aufgrund der vermehrten unmittelbaren Begegnung mit dem Tod im eigenen sozialen und familiären Umfeld verstärkt in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerät, wieder deutlich abebbt (Gesser, Wong & Reker 1987; Neimeyer 1985; Robinson & Wood 1984; Stevens, Cooper & Thomas 1980). Wieder andere empirische Arbeiten weisen auf einen statistisch bedeutsamen Zusammenhang zwischen dem individuellen Persönlichkeitsmerkmal Kontrollbedürfnis und -überzeugungen und Todesangst hin (Taylor & Brown 1988). Eine zentrale, im Übrigen auch motivationspsychologisch mit dem durch unser Sterblichkeitswissen bedrohten Kontrollbedürfnis gut in Einklang zu bringende Rolle mag darüber hinaus die oben schon kurz angesprochene Dialektik aus Gewissheit und Ungewissheit des Wissen um den Tod spielen: Unser Tod ist auf der einen Seite eines der wenigen Ereignisse, von deren Eintreten wir mit absoluter Sicherheit wissen, von denen wir aber zugleich auf der anderen Seite nicht viel anderes wissen: Weder wissen wir im Regelfall, wann, noch wissen wir, wodurch wir sterben werden. Der Tod verunsichert daher womöglich nicht nur, weil er ein ungewisses Ereignis ist; womöglich verunsichert er auch deswegen, weil er zugleich so kompromisslos sicher kommen wird. Verfolgen wir diese Spur aber weiter, zeigt sich, dass auch diese Ungewissheit, zumindest in Hinblick auf den Zeitpunkt und die Art des Todes, gar keine exklusive und spezifische Eigenschaft unseres Todes ist. Der Tod teilt diese Eigenschaft tatsächlich mit allen zukünftigen Ereignissen: Auch sie sind ungewiss sowohl in Hinblick auf ihren Zeitpunkt als auch auf ihre konkrete Gestalt; lediglich beim »ob« hebt sich der Tod ab: Er wird mit Sicherheit eintreten, das wissen wir und können es zugleich von keinem anderen künftigen Ereignis mit diesem Gewissheitsausmaß behaupten. Mit Ausnahme des Todes leben wir folglich fortwährend mit Ungewissheiten. Das weist auch allgemeiner, d. h. auch ohne Sterblichkeitswissen, unsere Kontrollüberzeugungen in ihre Schranken: Alle Planung kann sich im nächsten Moment schon als hinfällig erweisen, wenn die Umstände sich ändern. Das Sterben ist nur eine – wenngleich die extremste – Form von intervenierenden Umständen. Also ist es mutmaßlich nicht nur die Unvorhersagbarkeit des Todes, sondern seine gleichzeitige Unbedingtheit, die uns psychologisch irritiert. Möglich ist aber auch oder zudem, dass uns allgemeiner die Tatsache verunsichert, dass wir überhaupt vulnerabel sind und zugleich 35 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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die uns verletzenden oder tötenden Umstände mangels Kenntnis oder aufgrund der tatsächlichen Abwesenheit eines größeren Zusammenhangs der Welt nicht verstehen und mit mangelndem Verstehen auch kaum vorhersagen können. Das Zusammenwirken von Kontrollüberzeugung, dem Glaube an ein Morgen und das gleichzeitige Ausgeliefertsein an die Ungewissheit des Schicksals eröffnet somit eine weitere Spur auf mögliche Gründe der Angst vor dem Denken an die eigene Sterblichkeit. Denn die Dialektik von Gewissheit und Ungewissheit des eigenen Sterbens berührt auch die grundlegendere Frage, ob wir als Individuen, als Gruppe oder auch als Gattung im Allgemeinen einem vertrauenswürdigen und wohlwollenden Schicksal unterstellt sind oder dem blinden Zufall – und diese Frage gewinnt vermutlich noch erheblich an Gewicht unter dem Eindruck des allgemeinen Verlusts transzendenter Gewissheiten. Mit anderen Worten lautet die Anfrage angesichts des Wissens um die eigene Sterblichkeit nicht zuletzt auch, wie es das Schicksal mit uns meint und was es mit uns vorhat – ob es ein wohlwollendes, ein gleichgültiges oder gar ein feindseligen Schicksal ist. Wir wissen also nicht nur nicht, wie der Tod zu uns kommt; wir wissen auch nicht, ob sein Kommen einer höheren Ordnungskraft unterliegt oder rein zufällig erfolgt – und gerade diese Unwissenheit hebt natürlich auch das Vulnerabilitätsgefühl signifikant an (Kottow 2005). Zu diesem konkreten Fragekomplex liegen einige relevante Beobachtungen und Untersuchungen aus der Experimental- und Sozialpsychologie vor: Nach schweren Unfällen, Naturkatastrophen, oder beunruhigenden oder niederschmetternden Diagnosen, auch nach dem frühzeitigen Tod eines geliebten Menschen stellen die davon Betroffenen zumeist nicht nur die Frage, warum diese Ereignisse eingetreten sind; sie fragen sehr viel konkreter, warum sie in ihr Leben eingetreten sind. Beide Fragen klingen auf Anhieb ähnlich, aber die erwarteten Antworten sind es durchaus nicht. Die Frage, warum ein Ereignis eingetreten ist, ist an sich, zumal noch im Nachhinein, meist mehr oder minder einfach kausal zu beantworten: Diese oder jene physikalischen oder biologischen Ereignisketten erklären, warum es zu einer Katastrophe, einem Unfall oder einer schweren Erkrankung kam. Aber jenseits dessen will meist noch eine weitere, manchmal viel drängendere Frage beantwortet werden: »Warum musste dies in mein Leben treten?« Auf diese Frage gibt es schon seltener eine eindeutige Antwort – zumindest nicht eine, zu der wir Zugang haben. Zwar gibt es religiöse Antworten; aber gerade diese verlegen die er36 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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sehnte Erklärung auf unbekanntes Terrain: »Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?« (Joh. 9,2) Es hilft ein wenig und tröstet, wenn die Fragenden glauben können, dass zumindest eine Instanz die Antwort auf ihre Frage kennt. Aber den Betroffenen selbst bleibt sie dennoch verborgen: »Die Wege des Herrn sind unergründlich« (Röm. 11,33). Und solange diese Wege unergründlich sind, verbleibt nach wie vor hinreichend Ungewissheit darüber bestehen, was für eine kausale Schicksalsbeziehung zwischen dem Betroffenen und seinem Leid besteht. Mehr noch herrscht auch Ungewissheit, welche zukünftigen Ereignisse das Schicksal noch auf Lager hat. Ein realistischer Blick jedenfalls sagt uns gerade dazu etwas nicht sonderlich Tröstliches: Ein einmal erlebtes Leid schützt nicht vor dem nächsten; so sind die Wahrscheinlichkeiten von Leid und Schicksalsschlägen nicht verteilt. Überlebende von traumatischen Erlebnissen haben hier anderen Menschen eine zentrale Erfahrung und Erkenntnis voraus: Sie wissen zumindest für sich, dass zwischen dem eigenen Handeln und dem, was ihnen widerfährt, keine erkennbare Beziehung bestehen muss. Die Frage: »Warum musste mir das widerfahren?« steht somit oft nicht alleine; sie lautet vollständiger: »Was habe ich getan, dass mir das passiert? Das habe ich nicht verdient«. Keine Antwort kommt in Sicht und im selben Maße schärft sich das Bewusstsein dafür, dass sie in einer Welt leben, in der tragische Lebensereignisse anscheinend ganz blind und zufällig ausgeteilt werden – nicht nur der Tod. Lerner hat dazu in seinem Buch The Belief in a Just World (1980) sehr feinfühlig und verständig dargelegt, dass und warum die wenigsten Menschen glauben können oder wollen, in einer solchen Welt des scheinbar blinden Schicksals (oder Zufalls) zu leben. Vielmehr neigen sie dazu, zumindest implizit von einer gerechten Welt auszugehen, in der einem nur das widerfährt, was man sich in der einen oder anderen Weise »verdient« hat. Erfahrung und Forschung sagen uns aber gleichermaßen: Diese Formel mag solange funktionieren, wie wir das Leiden und Sterben anderer ansehen und immer noch gerade wenig genug über das innere Erleben und Verhalten auch uns vertrauter Mitmenschen wissen, um nicht vielleicht doch den leisen Verdacht aufrechterhalten können, dass irgendetwas in ihrer Lebensführung dazu beigetragen haben könnte, dass ihnen das Schicksal in dieser Weise mitspielte. Vielleicht ahnen wir zugleich in ehrlicheren oder mitfühlenderen 37 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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Augenblicken, dass wir diesen Verdacht womöglich großteils auch deswegen aufrechtzuerhalten motiviert sind, weil wir ungern die Sicherheit aufgeben wollen, die uns der Glaube an eine gerechte Welt verspricht (Rubin & Peplau 1973; Lerner & Miller 1978). In dem Moment aber, wo wir selbst es sind, die von einem Schicksalsschlag heimgesucht werden und zugleich für uns ausmachen, dass wir dieses Schicksal nach der Formel der gerechten Welt nicht verdient haben, zeichnet sich die Fragwürdigkeit des Glaubens an eine solcherart gerechte Welt überdeutlich ab (Dalbert 1999). Vielmehr ahnen wir in solchen Situationen: Das Leiden fragt anscheinend nicht, wen es heimsucht. Eher scheint es sogar, als träfe das Schicksal vermehrt ausgerechnet Opfer, die besonders vulnerabel sind – es will nicht recht gelingen, eine solche Welt, in der Leiden so scheinbar willkürlich verteilt wird, noch gerecht zu nennen. Mehr noch: Das Leiden anderer enthält wenigstens einen klar vernehmbaren Auftrag an uns und ist damit zwar nicht theoretisch, immerhin aber praktisch beantwortbar. Zumindest können wir, wenn es uns selber besser ergeht, anderen unter die Arme greifen, sie ermutigen, ihnen beistehen, sie trösten, ihnen helfen. Das erklärt zwar ihr Leiden nicht, aber es klärt zumindest die Frage, was wir angesichts ihres Leidens unternehmen können. Das eigene Leiden aber ist ein Geheimnis – und wie für alles Geheimnis gilt: Es kann Grundlage unsere Glaubens und Ort unseres Vertrauens sein und unserer Hoffnung. Es kann aber auch Grundlage und Ort unserer Verunsicherung und des Zweifels und der Angst sein. Die Frage ist nun: Wie damit umgehen? Die Antwort aus der Forschung ist wieder dieselbe wie jene auf die Frage nach dem »durchschnittlichen« Umgang mit der eigenen Sterblichkeit: Wir gehen kaum damit um. Wieder berichtet die Forschung, dass die wenigsten Menschen gerne an ihre eigene fortwährende Bedrohtheit und die Ungewissheit ihres Schicksals und Todeszeitpunkts erinnert werden (Hafer & Gosse 2011). Und das scheint auch bis zu einem gewissen Grad vernünftig zu sein: Wie und warum sollten wir auch fortwährend an die Vielzahl tragischer Unglücksfälle denken, die uns jederzeit zustoßen könnten, es aber eben doch recht selten, und in manchen Lebensläufen gar nicht, tun? Zumindest können wir sicher sein, dass nicht alle möglichen tragischen Lebensereignisse in unser Leben treten werden. Manche schließen einander auch aus, und schon von daher machte es wenig Sinn, fortwährend alle Bedrohungsszenarien durchzuspielen – abgesehen davon, dass wir uns vor tragischen Lebensereignissen ohnehin nicht besonders gut wappnen können, ob 38 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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wir uns nun davor fürchten oder nicht. Und doch können wir zugleich niemals sicher sein, wann und wie das eine oder andere tragische Lebensereignis in unser Leben drängen wird. Diese Unsicherheit ist vor allem mit Blick auf den Tod eine Form der Ungewissheit, die nicht mehr nur unsere Einzelpläne, sondern die Planbarkeit des Lebens insgesamt in Frage stellt, und mit ihr unsere Kontrolle über unser Leben. Schon der nächste Moment kann uns des Gefühls und des Glaubens der Kontrolle und Sicherheit berauben. Das kann man als triftigen Grund für das Unbehagen gegenüber unserer Sterblichkeit ins Treffen führen: sie ist der radikalste Ausdruck unserer Vulnerabilität. Dennoch gilt auch hier wieder: Vulnerabilität ist ebenso wenig wie Ungewissheit ein exklusives und spezifisches Moment des Todes. Der Tod ist nur ihr Gipfelpunkt. Es geht in Hinblick auf die Vulnerabilität somit vermutlich gar nicht so sehr darum, wodurch und wie sehr wir bedroht sind; es geht vielmehr allgemeiner darum, dass wir überhaupt bedroht sind. Selbst die Tatsache, dass es eine Unzahl an Todesarten, also an tödlichen Verletzungen und Erkrankungen, gibt, ist mit Blick auf die Klärung der Gründe der Angst vor dem Tod weniger von Belang als die allgemeinere Tatsache, dass wir überhaupt solchen Bedrohungen preisgegeben sind und eine dieser Bedrohungen für uns am Ende den Tod bedeuten wird. Man kann sogar darüber nachdenken, ob nicht alle Angst vor der eigenen Vulnerabilität und dem anscheinend blind austeilenden Schicksal letztlich die Angst vor der eigenen Sterblichkeit meint, weil Sterblichkeit sowohl das Maximum an Vulnerabilität und Tötung (wodurch auch immer) das Maximum an Schädigung sei. Sind aber Ungewissheit und Bedrohtheit auch angstauslösend, stellen sie wohl dennoch nur einige Facetten der Todesangst dar – zumal, wie wir gesehen haben, keine exklusiven. Für den Moment kann man daher vorläufig festhalten, dass die meisten der gängigen und ins Auge springenden Erklärungen der Todesangst Dinge und Phänomene beschreiben, die nicht todesspezifisch und daher auch nicht geeignet sind, konkret und spezifisch die Todesfurcht zu erklären. Diese Übersicht legt somit zunächst nahe, dass die Frage, was genau am Tod so verunsichert, weniger unmittelbar und eindeutig zu beantworten ist, als man vielleicht prima facie angesichts der scheinbaren Universalität und Unhinterfragtheit des subjektiven Erlebens der Todesfurcht selbst annehmen würde wollen – vermutlich auch deshalb, weil es wohl zahlreiche Einzelfaktoren gibt, die kumulativ oder auch miteinander wechselwirkend die Angst der eigenen Sterblichkeit begründen und bedingen; und wohl auch 39 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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deshalb, weil es gerade angesichts dieser Multifaktorialität und ihrer Moderation durch individuelle Unterschiede unwahrscheinlich ist, dass überhaupt ein einheitlich begründetes Konstrukt »Todesangst« als solches in Anschlag gebracht werden kann. Vielmehr liegt die Vermutung nahe, dass die innere Reaktion auf ein nun nahezu jeden Lebensbereich berührendes Phänomen wie der Tod auf ebenso vielfältige Weise individuell psychologisch repräsentiert wird. Ganz allgemein kann man aber vorab einige der plausibleren Kandidaten benennen: Da ist erstens die Bedingtheit und Verletzlichkeit unseres Daseins. Zweitens wirft die Vergänglichkeit des Lebens auch Fragen nach der Bedeutung und dem Wert der menschlichen Existenz auf. Das verunsichert. Drittens steigert der Tod nicht zuletzt das Bewusstsein dafür, dass es überhaupt ein »Ich« gibt, welches sterblich ist. Auch das mag zur existentiellen Verunsicherung beitragen, weil sich dieses Ich zugleich als höchst vulnerabel erlebt, wenn es sich an seine Sterblichkeit erinnert. Angst, Verunsicherung, Entmutigung – diese Stichworte wären jedenfalls schon ausreichend Grund, um das Irritationspotential des Sterblichkeitswissens auch theoretisch verständlich zu machen. Und sie sind offenbar im gleichen Maße Grund genug, um auszuweichen und zu verdrängen, da das, was sie auslöst, nicht anderweitig aus der Welt zu schaffen ist. Interessanterweise beschreiben diese Reaktionen (Angst, Verunsicherung und Entmutigung) allerdings selbst wieder Grunderfahrungen, die keineswegs exklusiv mit dem Tod verknüpft sind: Die Faktoren Bedingtheit, Abhängigkeit, Ichwerdung sind auch vom Tod unabhängig zu denken; mehr noch, sie sind dem Todesbewusstsein vorangestellt und vorausgesetzt. Dass das Ich etwa bedingt und vulnerabel ist, heißt, dass es auch ausgeliefert ist – so sehr letztlich, dass sogar seine gesamte Existenz zur Disposition steht. Erfährt sich ein Wesen dagegen nicht als bewusstes Ich, konfrontiert ihn der Tod offenkundig nicht mit derselben intensiven Bedrohungserfahrung der eigenen Vulnerabilität und Endlichkeit. Bei der Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit begegnet uns deswegen auch nicht nur unser zukünftiger Tod, sondern stets auch unser gegenwärtiges, lebendiges Ich, dem zugleich begrenzt viel Zeit zur Verfügung steht und das schon von daher zu einem anderen Lebensgefühl finden muss als eines, welches ohne Tod wäre. Das erhärtet im Umkehrschluss aber auch wieder den Verdacht, dass die Leugnung und Verdrängung der Sterblichkeit nur um den Preis gelingen kann, dass wir uns nicht als das erkennen und erfahren, was wir wirk40 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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lich sind – dass mit anderen Worten die Verdrängung des Todes folglich mit einer massiven Verkennung unseres eigenen Wesens und Schicksals einhergeht. Auch daher – noch abgesehen von den eingangs angedeuteten individuellen und sozialen Kosten der Sterblichkeitsverdrängung – liegt Dringlichkeit in dem Auftrag, philosophisch haltbarere Wege zu finden, mit dem Wissen um und der Angst vor der eigenen Sterblichkeit vernünftig umzugehen, statt das Denken an den Tod bloß stets abzuwehren und zu verdrängen. Denn gerade mit dem Verdrängten ist die bewusste Auseinandersetzung nur mehr schwer möglich; und ist sie erschwert, ist der Weg zur Aussöhnung mit der eigenen Endlichkeit erst recht verbaut und der Blick auf sich selbst zugleich höchst unrealistisch. Daher hat die oft gehörte Aussage des Philosophen, sterben lernen hieße leben lernen, vor dem Hintergrund der bisherigen Diskussion auch einiges Gewicht. Sie sagt ja auch: unsere Sterblichkeit und die Vergänglichkeit der Dinge würdigen heißt, uns selbst zu würdigen wie wir sind und die Welt so anzuerkennen und zu nehmen, wie sie ist: vergänglich.
1.7. Dialektiken des Sterblichkeitswissens Allerdings wollen anscheinend nicht alle Philosophen den Menschen sterben lehren und man ist versucht, Verdrängung auch bei manchen Philosophen – oder gerade dort – zu vermuten, wenn etwa Wittgenstein in seinem Tractatus schreibt: »Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht« (6.4311), oder wir bei Epikur lesen: Ferner gewöhne Dich an den Gedanken, dass der Tod für uns ein Nichts ist. […] Denn es ist doch Unsinn, dass etwas, dessen Vorhandensein uns nicht beunruhigen kann, uns dennoch Leid bereiten soll, weil und solange es nur erwartet wird! So ist also der Tod für uns ein Nichts: Solange wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr. Folglich betrifft er weder die Lebenden noch die Gestorbenen, denn wo jene sind, ist er nicht, und diese sind ja überhaupt nicht mehr da.
Ähnliches gilt auch im Falle Freuds, der bekanntlich die Ansicht vertrat, unser Unbewusstes habe überhaupt keine Vorstellung vom eigenen Tod, da der eigene Tod nicht vorstellbar sei. Freud leitete daraus 41 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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noch ab, dass der Mensch »im Unbewussten […] von seiner Unsterblichkeit überzeugt« sei: Wir fragen: Wie verhält sich unser Unbewusstes zum Problem des Todes? Die Antwort muss lauten: fast genauso wie der Urmensch. In dieser wie in vielen anderen Hinsichten lebt der Mensch der Vorzeit ungeändert in unserem Unbewussten fort. Also unser Unbewusstes glaubt nicht an den eigenen Tod, es gebärdet sich wie unsterblich. Was wir unser »Unbewusstes« heißen, die tiefsten, aus Triebregungen bestehenden Schichten unserer Seele, kennt überhaupt nichts Negatives, keine Verneinung – Gegensätze fallen in ihm zusammen – und kennt darum auch nicht den eigenen Tod, dem wir nur einen negativen Inhalt geben können. Dem Todesglauben kommt also nichts Triebhaftes in uns entgegen. (Freud 2017, 56)
Wir werden allerdings in späteren Kapiteln sehen, dass sich die experimentelle und empirische Psychologie längst von dieser Sichtweise verabschiedet hat und vielmehr zeigt, dass nach der geglückten Verdrängung unser Unbewusstes überhaupt diejenige innere Instanz ist, die von unserer Sterblichkeit weiß und viel intensiver damit befasst ist als wir selbst auf bewusster Ebene. Aber auch allgemeiner steht Wittgensteins und Epikurs These vom Nichtwissen des eigenen Todes die gut belegte Auffassung gegenüber, wonach der eigene Tod ein Phänomen sei, von dem der Mensch manchmal mehr weiß, als er eigentlich wissen möchte; oft genug wird Sterblichkeitswissen sogar in der philosophischen und psychologischen Anthropologie als eine der auszeichnenden Eigenschaften des Menschen beschrieben. Dass ausgerechnet diese bestimmende und zugleich sicherste aller Gewissheiten nun etwas sein soll, von dem wir nichts wissen, oder nicht wissen können, ist damit schon abseits aller empirischer Daten, die wir in den nächsten Kapiteln besprechen werden, höchst fraglich. Glaubhafter und nachgewiesen ist aber, dass wir nichts oder wenig davon wissen wollen und die Vertreter der Nichtwissens-Theorie dem Menschen diesen Unwillen vielleicht zu bereitwillig abgenommen haben. Zugleich aber: Über den Tod selbst wissen wir tatsächlich sehr wenig. Andererseits ist wahr: Über die Tatsache, dass wir sterben werden, sind wir uns ab einem gewissen kognitiven Reifestudium fraglos im Klaren. Möglicherweise liegt genau in dieser Dialektik ein Weg, beide Positionen – Nichtwissen und Bewusstheit des Todes – mit42 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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einander zu versöhnen, ohne sich zwischen den beiden Polen Verdrängung und Gewahrsein entscheiden zu müssen. Denn das Nichtwissen ist erkenntnistheoretisch wohl gegeben: Nichtsein ist unvorstellbar und unwissbar. Das Wissen um den Tod hat aber über diese erkenntnistheoretische Grenze hinaus auch grundlegend existentielle Anteile: es wird überhaupt nicht nur gewusst, sondern in den Grundfesten unseres Seins gespürt – so sehr eben, dass es häufig verdrängt wird. Man kann dies vorläufig auf eine einfache Formel bringen: Der Mensch ist das Lebewesen, das um seinen eigenen Tod, zugleich aber recht wenig über den Tod selbst weiß und anscheinend in der Regel auch nicht zu viel davon wissen will. Scheler spricht im Zusammenhang dieses Unwillens auch von einem »metaphysischen Leichtsinn« (Scheler 1957, 44), der es dem Menschen ermöglichen soll, relativ unbeschwert und von existentiellen Konfrontationen unangefochten seinen Alltag zu bewältigen, ohne sich zu sehr von der Last des Sterblichkeitswissens niederdrücken zu lassen. Tatsächlich ist Leichtsinn ein gut gewählter Begriff für das, was hier geschieht: Es ist nicht Mut (der dem Irritierenden ins Auge blickt) und es ist nicht Vergessenheit (die den Grund der Irritation schlicht vergisst); es ist bloß das Nichtrühren an und das innere Wegbewegen von einer potentiell beunruhigenden Tatsache, oder aber ihre Umwandlung in eine weniger beunruhigende, weil in die Ferne verlegte Gegebenheit: »Nicht jetzt.« Dieser uneigentlichen Haltung steht das offene und ehrliche Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit gegenüber: »Auch ich werde sterben.« Wer diesen Satz zulässt, ohne ihn zu verdrängen oder anderweitig zu verhüllen, mutet sich selbst tatsächlich einiges zu. Er mutet sich zum Beispiel die Begegnung mit einem veritablen Rätsel zu, weil das Nichtsein unser Vorstellungs- und Verständnisvermögen an Grenzen bringt (Needleman 1966). Und er mutet sich auch starke Empfindungen zu – Angst etwa und ein Unbehagen, von dem wir zugleich eben sahen, dass es bei aller Empfindungsstärke konkret zu begründen gar nicht leicht ist. Neben dem Unbehagen mutet er sich drittens allerdings auch einige grundlegende persönliche Herausforderungen zu. Genaugenommen fangen mit dem nicht verdrängenden Blick auf die eigene Vergänglichkeit nämlich erst die eigentlichen Lebensfragen an. Zum Beispiel dann, wenn man sich die eigene Sterblichkeit konkret vor Augen führt und nun Dinge denkt, die man in dieser Weise vielleicht noch nicht gedacht hat: »Was hätte ich heute 43 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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gemacht, wenn ich es aus der Perspektive desjenigen betrachte, der einmal auf sein Leben zurückblicken wird? Was habe ich mit und in der Zeit getan oder zu tun unterlassen? Was will und sollte ich geworden sein oder nicht geworden sein durch mein Entscheiden und Handeln? Welches Zeugnis gibt mein Handeln über mich selbst?« (vgl. Batthyány 2017, 49) All dieses Fragen sagt auch: »Ich könnte auch anders. Mit dem unverdrängten Blick auf meinen Tod, auf meine begrenzte Lebenszeit, würde ich mein Leben vielleicht etwas anders führen; zumindest könnte ich das.« Diese Fragen drängen sich zugleich nicht auf. Nicht einmal die Entscheidung, sich dem Bewusstsein des eigenen Todes zu stellen oder ihn zu verdrängen, wird uns abgenommen – ansonsten wäre ja auch die vorliegende Diskussion kaum möglich. Vieles an der Beziehung zwischen Sterblichkeitswissen und Lebensführung ist also anscheinend noch offen und durch uns beantwortbar, manches ist aber auch unbedingt – etwa der Tod selbst und unser Wissen darum. Nach der Dialektik von Gewissheit und Ungewissheit angesichts des Todes, der Dialektik von Wissen und Nichtwissen der Sterblichkeit, wollen wir uns diese dritte Dialektik – jene von Freiheit und Schicksal angesichts der Sterblichkeit – genauer ansehen. Zunächst zeigt sich da nicht viel Freiheit. Die so benannte Conditio Humana ist tatsächlich in erster Linie eine Conditio; momentan scheint hier kein Element der Wahl auf: Was vor der Weggabelung von metaphysischem Leichtsinn und existentieller Lebensverantwortlichkeit angesichts der Sterblichkeit steht, ist vor allem die Unausweichlichkeit der eigenen Sterblichkeit. Zugleich aber steht der Einzelne in der Gegenwart gerade dadurch, dass ein zunehmender Abbruch eines allgemeinen religiösen Konsenses über die Deutung und Bedeutung der eigenen Sterblichkeit zu verzeichnen ist, viel mehr noch als zu früheren Zeiten vor der Herausforderung, sich selbst mit dem eigenen Sterben in Beziehung zu setzen, und sich ein eigenes Bild zu machen davon, und zu entscheiden, was seine Sterblichkeit für seine Lebensführung bedeuten soll, und wie er dem Wissen um seine Endlichkeit insgesamt begegnen will. Mit anderen Worten setzt uns unser Sterblichkeitswissen gerade vor dem Hintergrund seiner Unbedingtheit und Unverhandelbarkeit unter einen gewissen Zugzwang zur Wahrnehmung und Auslotung unserer Freiheit. Wiederum ist das ein dialektisches Geschehen: Auf der einen Seite ist die eigene Sterblichkeit selbst nicht verhandelbar, aber es bietet sich zugleich eine ganze Bandbreite an Möglichkeiten 44 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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an, wie wir mit diesem Unabänderlichen umgehen könnten. Verdrängung ist nur eine davon und zugleich jene, die am ehesten den Freiraum der Begegnungsmöglichkeiten mit der eigenen Sterblichkeit wieder schließt. Aber jenseits der Verdrängung eröffnet sich ein Freiraum, in dem ganz unterschiedliche Wege zur Auswahl stehen, wie man der eigenen Sterblichkeit und dem eigenen Tod gegenübertritt – und damit gibt es auch die Chance, anstelle der Verdrängung die eigene Sterblichkeit in unsere Lebensführung und -haltung zu integrieren, sich vielleicht mir ihr sogar zu versöhnen. Denn hier geht es tatsächlich längst nicht mehr nur um das Sterben, sondern vielmehr auch um das Leben selbst: etwa darum, uns konkret zu fragen, wie wir angesichts unserer Endlichkeit unser Leben gestalten wollen. Und zuvor noch grundlegender um die Frage, ob wir uns überhaupt der Herausforderung zu stellen bereit sind, uns mit unserer Sterblichkeit weiter auseinanderzusetzen oder sie doch lieber gleich wieder aus unserem Bewusstsein verdrängen werden. Allerdings: Um zu dem Bewusstsein dieser Freiheit vorzudringen, müssen wir zuerst das Wissen um den eigenen Tod zulassen und als etwas anerkennen, dass uns persönlich etwas angeht – nicht mehr also nur als verhülltes abstraktes Wissen, dass »man stirbt«, bzw. andere sterben, auch nicht als Aufruf zu blindem Taten- und Lebensdrang, sondern als zunächst ruhiges Gewahrsein unserer eigenen Endlichkeit. Da das Verstehen der Endlichkeit zugleich etwas sehr einfaches ist, bedeutet dieser ruhige Blick mitunter nicht mehr, als schlichtweg der Spontanreaktion der Abkehr und Verdrängung Einhalt zu gebieten und dem Wissen um die Sterblichkeit eine Weile zuzuhören und abzuwarten, was uns während dieser Begegnung alles über uns, das Leben und unsere Sterblichkeit klar wird – ganz ähnlich, wie man einem interessanten Gesprächspartner erst einmal zuhören und sein Gesagtes auf sich einwirken lassen muss, um dann in Freiheit zu überlegen, ob und wie man auf das Gesagte reagieren kann und will. Bemerkenswerterweise berichten viele, die diesen Weg beschreiten, dass sich während einer solchen Reflexion nicht nur ihr Verhältnis zur eigenen Sterblichkeit grundlegend wandelt, sondern auch sie sich selbst und ihr Blick auf ihr eigenes Leben: auf seine Möglichkeiten, die eigene Freiheit, seine und ihre Begrenztheit und auf die Tatsache, dass ihre zeitliche Begrenztheit ihre Freiheit und Möglichkeiten ungleich schwerer wiegen lässt, als wenn sie unbegrenzt viel Zeit verfügbar hätten und buchstäblich alles einmal ausprobieren und vieles rückgängig und ausgleichen könnten (Cozzolino 2006; Frias et 45 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Die eigene Sterblichkeit
al. 2011; Cozzolino & Blackie 2013). Es wird einem dann etwa bewusst: Den Luxus des ewigen Herumprobierens, bis man damit beginnt, selbstverantwortlich zu leben, hat man angesichts der eigenen Endlichkeit jedenfalls nicht. Damit schwindet bereits wieder ein Stück Freiheit und Unverbindlichkeit, aber die verbleibende Freiheit und Verbindlichkeit hat im selben Verhältnis ungleich viel mehr Gewicht und Bedeutung. Denn wenn man ernst macht mit dem Sich-Einlassen auf die eigene Endlichkeit und die Vergänglichkeit der Dinge, wird man auch einsehen müssen: Die Verschwendung begrenzter und wertvoller Ressourcen ist zunächst einmal grundsätzlich zutiefst unvernünftig – daher macht es auch keinen Sinn, die eigene Lebenszeit so zu vertun, als hätte man unerschöpfliche Reserven an Zeit zur Verfügung. So gesehen gewinnen wir mit dem Wissen um die eigene Endlichkeit dann wieder mehr Freiheit und Autonomie, weil mit ihm auch jedem anderen Menschen verständlich sein sollte, dass wir unter diesen Umständen davon befreit sind, unsere Lebenszeit für Projekte oder Ansinnen zu vergeben, die wir nicht als existentiell und unserem Wesen und unserer Verantwortung entsprechend erkannt haben, für die wir mit anderen Worte nicht verantwortlich sind. Denn wenn wir von vorneherein begrenzt viel Zeit haben und darum wissen, dann wird auch niemand ernsthaft von uns verlangen können, dass wir uns seinen Lebensentwürfen und Forderungen verschreiben und nicht etwa den von uns gewählten Lebensentwürfen und unseren eigenen Aufgaben verantwortlich gerechtzuwerden versuchen. Und im Wissen um ihre begrenzte Lebenszeit werden wir auch von anderen nicht reinen Gewissens verlangen wollen, dieses eine wertvolle Gut für unsere Sache und Angelegenheiten aufzugeben. Somit verleiht uns das unverdrängte Wissen um die eigene Sterblichkeit eine zunächst ganz pragmatisch begründete Lebensfreiheit von Außenzwängen: Es ist unser Leben. Aber jenseits dieser einfachen Einsicht gilt auch: Wenn wir einmal die Freiräume, die uns das Sterblichkeitswissen aufschließt, betreten, stehen wir auch vor einer weiteren Herausforderung. Wir müssen herausfinden, mit welchem Instrument wir diesen Freiraum ausleuchten können. Es ist nun wieder die Philosophie mehr als die Psychologie, die uns diesen Freiraum eröffnete und die möglichen Formen des Umgangs mit der Todesgewissheit zu entdecken und zu bewerten hilft. Die Philosophie fragt angesichts der Sterblichkeit folglich nicht nur, was der eigene Tod ist, und sie fragt auch nicht nur, bzw. fragt sie recht selten, was er psychologisch bedeutet; sie fragt 46 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Dialektiken des Sterblichkeitswissens
vielmehr, was er bedeuten kann für den Lebenden: Sie sucht mit anderen Worten nach und erforscht unterschiedliche Lebensmodelle angesichts der Sterblichkeit. Allerdings setzt sie dabei auch wieder voraus, dass der Gegenstand dieser philosophischen Analyse nicht Leben und Tod im Allgemeinen sind – denn ebenso, wie unsere Betrachtung der eigenen Sterblichkeit den Tod nicht nur abstrakt erfassen kann, sondern erst dann realistisch den Tod verhandelt, wenn es um das Wissen um unseren eigenen Tod und unsere eigene Sterblichkeit geht, so ist auch das Wissen um den Freiraum nur dann lebensechtes Wissen, wenn es nicht einen theoretischen Freiraum meint, sondern die je eigene, konkrete Stellungnahme und Lebensführung des Einzelnen. Diese Freiheit entfaltet sich folglich erstens im konkreten und persönlichen Vollzug (man muss sie als Individuum wahrnehmen und sie vollziehen) gleichermaßen, wie sie die Anerkennung des eigenen zukünftigen Todes voraussetzt. All dies deckt sich auch mit phänomenologischen Alltagsbefunden: Wer sich eingehender mit seinem persönlichen Tod beschäftigt, wird früher oder später auf zutiefst persönliche Fragen stoßen: »Wer oder was werde, könnte, sollte ich geworden sein, bevor und wenn ich sterbe; was kann ich sein, bis ich sterbe, als was will ich sterben, welche Spuren will ich in der Welt hinterlassen?« so fragt die Freiheit angesichts des Todes. Allerdings stellen Angst und Unbehagen angesichts des Todes nicht selten eine Gegenfrage: Lohnt sich dieses Werden überhaupt, wenn mein Selbst doch ohnehin sterblich ist? Gerade die letzte Frage wird uns im Folgenden noch häufiger begegnen. Aber bevor wir ihr nachgehen, wollen wir uns zunächst noch etwas genauer ansehen, was es mit der Beziehung von Sterblichsein und dem Ich und seiner Freiheit im Allgemeinen auf sich hat.
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2. Die Flucht in die Struktur
2.1. Das Ich im Licht seines eigenen Todes Das letzte Kapitel behandelte eine größere Anzahl an Fragen. Jede dieser Fragen drehte sich um drei Kernbegriffe: Ich und das Wissen um die Sterblichkeit und unser Werden. Ohnehin ist aber das eine ohne das andere nicht denkbar: Um uns als individuelles Sterbliches zu begreifen, müssen wir uns selbst als Person vis-a-vis von etwas anderem begreifen. Wir müssen mit anderen Worten unser Ich und sein Werden verstehen, um auch sein Vergehen zu verstehen – als ein individualisierter Teil des Ganzen, der aus dem Weltganzen herausund hervorgetreten ist, um jemand zu werden und zu sein – jemand, der sich seiner selbst und auch seiner biologischen Vulnerabilität bewusst ist, sich erhalten will und doch auf Dauer nicht erhalten können wird. Das Bewusstwerden als ein Selbst bedeutet mit anderen Worten auch, dass wir unser Leben von seinem Anfang und seinem Ende her begreifen als jenes Zeitfenster, in dem wir jemand werden und erfüllt sind von einem Gefühl der Lebendigkeit und Unabhängigkeit (Loy 1992). Und doch sagt uns unser Sterblichkeitswissen, dass wir diese Unabhängigkeit zugleich stets nur als Leihgabe bekommen um den Preis unter anderem der Angst, die in uns erwacht, wenn wir uns als verletzlich und vergänglich erkennen – und zwar auch wenn und obwohl wir eben sahen, dass wir viel von unserer Unabhängigkeit und Freiheit gerade durch das Wissen um den eigenen Tod gewinnen. Wieder konfrontiert uns unser sterbliches Dasein an dieser Stelle mit einem dialektischen Sachverhalt: Dasselbe Ich, das durch sein unverdrängtes Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit Freiheit gewinnt, wird gerade durch den Tod diese Freiheit und schließlich sich selbst wieder aufgeben müssen – alle Unabhängigkeit und Freiheit ist nur zeitweise gegeben. Eine ähnlich gelagerte Analyse des Sterblichkeitsbewusstseins entwickelte Otto Rank (1929). Ihm verdanken wir den interessanten 48 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Das Ich im Licht seines eigenen Todes
Vorschlag, dass wir uns angesichts dieser Dialektik vermutlich gar nicht mehr nur mit der Todesangst auseinandersetzen, sondern es zugleich auch mit einer grundlegenden Lebensangst zu tun haben: Wir werden ein Selbst, und Selbstwerdung heißt notwendig auch Abgrenzung von allem, was nicht Selbst ist: »Der Rest der Welt«. Wir verlieren somit durch den Gewinn des Selbst die Rückbindung und Einheit mit dem größeren Ganzen, wodurch wir zugleich auch relative Autonomie gewinnen. Eben dieses Andere ist es dann allerdings auch, das unsere Gefährdung bedingt: Es ist Lebens- und Gefahrenraum zugleich; die Natur nährt und inspiriert uns und sie gefährdet uns fortwährend. Vereinfacht gesagt: Zuerst gewinnt man sich und das verunsichert; und man weiß, dass man sich wieder verlieren und wieder eingehen wird ins Ganzen, und das verunsichert ebenfalls: Die Angst bei der Geburt, die wir als Lebensangst bezeichnet haben, scheint mir geradezu der Angst vor dem Lebenmüssen als isoliertes Individuum und nicht umgekehrt der Angst vor dem Verlust der Individualität (Todesangst) zu entsprechen. Das würde aber heißen, dass die Urangst einer Angst vor der Trennung vom All, also einer Angst vor der Individuation entspringt, weshalb ich sie eben Lebensangst heißen möchte, dass sie aber späterhin als Angst vor dem Verlust dieser teuer erkauften Individualität, als Angst vor dem Tode, der Wiederauflösung ins All, auftreten kann. Zwischen diesen beiden Angstmöglichkeiten, sozusagen Angstpolen, ist aber das Individuum zeitlebens hin- und hergeworfen, weshalb es auch nicht gelingen konnte, die Angst auf eine einzige Wurzel zurückzuführen und therapeutisch zu überwinden. (Rank 1929, 162 f.)
Sollte Ranks Analyse stimmen, stehen wir allerdings vor einer veritablen psychologischen Herausforderung: Man sollte dann nämlich annehmen, dass die Todesverdrängung als bloße Flucht ins Leben als Abwehr der Angst vor dem Verlust der Individualität nicht in einen angstfreien Raum führt, sondern geradewegs in die Lebensangst. Auf der Flucht vor der Lebensangst begegnet uns also die Todesangst und auf der Flucht vor der Todesangst die Lebensangst. Dieses Dilemma hat einige Jahrzehnte später Ernest Becker (1975, 1976) aufgegriffen und ihre Folgen, bzw. die psychologische Abwehr ihrer Folgen in zwei grundlegende Strategien eingeteilt, mittels derer Menschen jenseits der bloße Verdrängung versuchen, der zweifachen Verunsicherung der Lebens- und Todesangst beizukommen. 49 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Die Flucht in die Struktur
Anders als die bloße Verdrängung bestehen diese Strategien gewissermaßen aus dem Antreten der Flucht nach vorn. Die von Becker benannten Strategien stellen gewissermaßen aktive Überhöhungen oder Aufgipfelungen der von Rank benannten Grundprobleme der Individuation und ihres Verlusts durch den Tod dar. Man strebt etwa danach, nicht nur irgendein Ich unter vielen zu sein, sondern wenn schon, dann auch ein herausragendes Selbst – etwa durch besondere Qualitäten sich abgrenzend von allen anderen Ichs, um sich auf diesem Wege etwa in »der gerechten Welt« eine Sonderbehandlung durch das Leben zu verdienen (Becker 1975) und zu erarbeiten: »Wenn ich wirklich bedeutsam bin für den Verlauf der Welt, wird sie mich vielleicht weniger leicht fallen lassen«. Oder man kann umgekehrt eine Annäherung an die Wiedervereinigung mit dem Ganzen bereits zu Lebzeiten suchen und durch das Aufgehen in einer Gruppe größer, behüteter und vielleicht auch unauffälliger zu sein, als wenn man alleine dem Schicksal gegenüberstünde: Hier verschmilzt man entweder mit einer Übergröße, vielleicht noch unter der Regie eines sinngebenden Retters, dem Messias, oder gibt sich schlicht der Gruppe bzw. dem Gruppenerleben hin. Hier fühlt man sich und die eigene Identität beschützter, geborgen und sicherer; hier findet man nebenbei auch Zuflucht vor der Ungewissheit der Verteilung von Leid: Vielleicht übersieht einen das Schicksal, wenn man in der Gruppe aufgeht; vielleicht übersieht es einen aber auch nicht, aber dann ist man zumindest nicht alleine (Becker 1975, 1976; Solomon, Greenberg & Pyszczynski 2015). Andere werden einem beistehen und helfen; und sollte ihre Hilfe einen nicht abschirmen, so bedeutete der eigene Tod vielleicht dennoch nicht den vollständigen Verlust der Identität, wenn man selbst vergeht – die eigene Identität ist ja zugleich in und durch die Gruppe bewahrt. Man kann auch darüber hinaus spekulieren, ob beide Abwehrstrategien nicht auch eigentlich viel mehr sind als nur Versuche des Ichs, zu einem regulierten Umgang mit der eigenen Sterblichkeit zu finden; man kann darin vielmehr auch Versuche sehen, über eine Klärung der Selbstfrage sowohl die Lebens- als auch die Sterblichkeitsangst in Schach zu halten (Sarto-Jackson & Batthyány 2011). Im Grunde legen die von Rank erschlossenen Zusammenhänge von Lebens- und Todesangst nämlich auch nahe, dass wir jenseits des bloßen Ausgetretenseins aus dem Ganzen noch gar nicht wissen, wer wir sind und damit umso weniger wissen, was der Tod für uns bedeutet. Die Aussicht auf den eigenen Tod ist unter diesem Blickwinkel vermutlich schon durch diesen un50 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Das Ich im Licht seines eigenen Todes
verbrüchlichen Zusammenhang von Tod und Ich eng verwoben mit der Unsicherheit der eigenen Identität und vielleicht auch der Sorge, dass unser Selbst angesichts seiner Endlichkeit am Ende vielleicht gar keine Rolle spielt, also eigentlich langfristig gesehen niemand oder so gut wie niemand ist. Der Verdacht, der mit dieser Verunsicherung im Raum steht, lautet folglich: Selbstsein ist nicht nur bereits mit seinem Herausgetretensein fraglich, es ist zugleich auch fragwürdig und fortwährend gefährdet und hinfällig in der Zukunft (im Tod). Wenn man daher Ranks Vorschlag einer grundlegenden, Leben und Tod gleichermaßen umfassenden Angst ernstnimmt, scheint auch die Logik hinter den beschriebenen Abwehrstrategien zumindest auf den ersten Blick mit einem Male etwas überzeugender: Wenn Individuation eine der Grundlagen sowohl der Lebens- als auch der Todesangst ist, dann mag die Möglichkeit, das Ich freigewählt zugunsten eines Erlösers oder der Gruppe aufzugeben, sowohl eine Antwort auf unsere Lebens- als auch eine Lösung der Todesangst sein und zugleich das Problem der Unbestimmtheit des Selbst abzuschwächen. Eine etwas anders gelagerte und weniger angstbasierte Bestandsaufnahme, Beschreibung und Wertung der Abwehrmechanismen bot andererseits Viktor Frankl aus Sicht der existentiellen Psychiatrie. Auch Frankl sieht, dass der existentiell verunsicherte Mensch sich selbst fraglich erscheint und im selben Maße anfällig ist für Konformismus und Totalitarismus, sich also leichter durch und im Gruppengeschehen verführen lässt. Er lässt etwa sich über die möglichst breite Zustimmung durch die Gesellschaft oder von peer groups definieren, statt das eigene Persönlichkeitsideal und die jeweils eigenständig als Werte erkannten Gehalte – wenn es sein muss, auch gegen die Widerstände des Kollektivs – zur Geltung zu bringen; sei es nun, weil er mit der Gruppe mitgeht, oder weil er versucht, sich als ein besonders geachtetes, herausragendes Mitglied dieser Gruppe zu erweisen; oder indem er sich von der Gruppe oder einem speziellen Mitglied dieser Gruppe Rettung und Erlösung aus seiner Unbestimmtheit heraus erhofft: Weder wissend, was er soll, scheint er oftmals nicht mehr recht zu wissen, was er im Grunde will. So will er denn nur das, was die anderen tun – das bringt den Konformismus. Oder er tut nur das, was die anderen von ihm wollen – das führt zum Totalitarismus. (Frankl 1989, 65)
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Die Flucht in die Struktur
Frankl betrachtet diese Fluchtwege allerdings nicht als bloße psychologische Auswege, die dem Menschen mit seiner existentiell prekären Situation befreien helfen sollen. Vielmehr deutet Frankl sie als Folgen einer tiefliegenden Haltlosigkeit und Angst – einer existentiellen Verunsicherung – des Menschen, erfasst sie aber zugleich auch als Störungen eines eigentlich dem Menschen zugedachten ausgeglicheneren und insgesamt mit sich und der Welt, der Verantwortung als Individuum und dem eigenen Leben und Sterben versöhnteren Zustands. Frankls Deutung hebt sich also insofern stark ab, als er Unbestimmtheit und Endlichkeit nicht von vorneherein als Makel oder Mangel betrachtet, sondern darin vielmehr ein Angebot und eine Möglichkeit erblickt, ein eigenverantwortliches und sinnvolles Dasein auch angesichts der eigenen Sterblichkeit zu schöpfen. Unbestimmtheit ist Frankl zufolge demnach nicht nur ein Minus an Vorgaben, sondern vielmehr ein Plus an Freiheit; und Endlichkeit kein Mangel an Leben, sondern ein Plus an Verantwortung, Bedeutung und ein Aufruf zur verbindlichen Verpflichtung gegenüber dem, was einmal durch uns geworden und gewesen sein wird – und auch, was wir selbst gewesen sein werden (Batthyány & Russo-Netzer 2014). Mit dieser positiven Lebensverantwortung, die Frankl dem Menschen angesichts seiner Endlichkeit zuspricht, deutet er die oben beschriebenen Abwehrwege daher auch als Schattengefechte, die einzig oder primär dem Gefühl der empfundenen Angst und Unsicherheit als bloß emotionalem Nebeneffekt der existentiellen Unsicherheiten gewidmet und gar nicht erst dem zugewandt sind, was die jeweilige Angst hervorruft: die Konfrontation mit den Lebensthemen Selbstwerdung und -gestaltung, Leben, Freiheit und Tod. Wenn Frankls Erklärung stimmt – und inwieweit sie stimmt, werden wir in den folgenden Kapiteln noch untersuchen –, dann könnte existentielle Unsicherheit nicht nur eine Last sein, sondern auch ein Wegweiser zur persönlichen existentiellen Suche. Allerdings gilt auch hier wieder: Wenn diese Suche je beginnen und wenn sie je zu einem Ziel finden soll, müsste der Mensch zunächst bereit sein, das Gefühl der Unsicherheit, der Angst und das Unbehagen zeitweilig auszuhalten, da er sich ohne dieses Unbehagen vermutlich gar nicht erst auf die Suche machte – und ohne sich auf die Suche zu machen, vermutlich auch niemals Antworten finden würde. Wenn uns daher das gefühlte Unbehagen mehr beschäftigt als die existentiellen Fragen, die dieses Unbehagen hervorrufen, der 52 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Das Ich im Licht seines eigenen Todes
Angst als Gefühl also mehr Gehör geschenkt wird als dem Grund der Verunsicherung als Aufruf, uns existentiellen Lebensfragen zu stellen, aktivieren wir die oben beschriebenen Abwehrmechanismen, die paradoxerweise aber gerade wieder mit der Aufgabe von Freiheit durch Unterordnung an eine Gruppe, eine Idee oder die Illusion einer gerechten irdischen Welt einhergehen und damit ihrerseits wiederum einen Nährboden für weitere existentielle Frustration und Verunsicherung bieten. Denn gesetzt den Fall, es gäbe tatsächlich die von Frankl in den Raum gestellte Möglichkeit, unsere existentiellen Fragen konstruktiver anzugehen, dann muss man umso mehr festhalten: wenn man diese Möglichkeit und Freiheit freiwillig aufgibt, bloß um für sich auf einfachstem Wege das Gefühl von Identität und Sicherheit dadurch zu gewinnen, in den Augen anderer oder der abstrakten Instanz der gerechten Welt »jemand« oder ein Teil von etwas Größerem zu sein, lebt man letztlich nach wie vor unter dem Diktat der Angst – gleich, wie heroisch diese Abwehr durch radikale Individualität oder den vermeintlich selbstlosen Dienst an der Gruppe dann auch von außen betrachtet scheinen mag. Vor allem aber wird die Angst selbst auf diesem Wege gar nicht überwunden – sie findet bloß ein neues Ventil. Spätestens diese nach erfolgreicher Abwehr verbleibende und hin und wieder über ihn einbrechende Angst sagt dem Menschen allerdings auch immer wieder, dass er nicht eigentlich frei, verantwortlich und reif sein eigenes Leben führt, sondern nach wie vor unter dem Diktat der Verunsicherung steht. Frankls Kritik macht daher deutlich: So wirksam die genannten »sozialen Strategien« gegen die existentielle Verunsicherung auch scheinen mögen, als so wenig geeignet erweisen sie sich bei näherem Hinsehen als rational haltbare und existentiell ehrliche Antworten, wenn es nicht nur um die Frage nach dem Befinden des Selbst geht, sondern auch darum, zu klären, wie es tatsächlich um die Verantwortung für das Selbstsein und -werden angesichts der eigenen Sterblichkeit bestellt ist. Diesem Bild zufolge bieten die beschriebenen sozialen Abwehrwege also lediglich Vermeidungsstrategien gegenüber den unangenehmen affektiven Folgen der existentiellen Verunsicherung an; aber sie lösen nicht ihre Gründe. Es erübrigt sich beinahe, darauf hinzuweisen, dass die sozialen Abwehrstrategien auch darüber hinaus nicht geeignet sind, die Frage klären, wer das Ich wirklich ist und sein könnte – denn sie setzen auch hier primär bei der Angst dieses Ichs an, nicht aber beim Ich selbst und den Fragen, mit denen es angesichts der Vergänglichkeit und 53 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Die Flucht in die Struktur
seiner Sterblichkeit konfrontiert ist. Dass etwa das Aufgehen des Ichs unter einen (ebenfalls sterblichen) Retter oder in der Menge ebenfalls suchender und sterblicher Individuen keine Antwort auf die Frage gibt, wer ich bin, scheint klar – viel eher verlieren wir uns selbst, wenn wir in der Menge oder in einer Ideologie oder im Gehorsam »aufgehen«. Geschweige denn kann die alternative Strategie aufgehen, sich in einer gerechten Welt als schützenswert zu erweisen; denn das setzt ja die gerechte Welt überhaupt erst voraus. Nur: Wenn die Welt wirklich so gerecht wäre, dann müssten die meisten Menschen sie wohl ohnehin nicht weiter fürchten. Die irdische gerechte und wohlwollende Welt ist also entweder eine Illusion, und dann bringt auch eine Lebensführung, die von der Prämisse der gerechten Welt ausgeht und sich den Schutz des Schicksals verdienen möchte, nichts; oder sie ist keine Illusion, dann ist es wohl aber auch weniger nötig, sich derart zu fürchten, dass man seine Authentizität für eine aus Verlegenheit und Unsicherheit gewählte größere »Sache« opfert, um dem befürchteten Unglück zu entkommen – und ihm, angesichts der Unbedingtheit der Sterblichkeit, langfristig ohnedies nicht entkommen zu können. Zudem: Bei etwas ernsthafterer Reflexion unserer Sterblichkeit wissen wir wohl dennoch, dass alle Anerkennung, Zustimmung und Bewunderung, die wir von anderen bekommen oder ihnen geben, erstens ebenso vergänglich ist wie alles andere auch und somit auch keinen realen Schutz vor Vergänglichkeit bieten kann; zweitens, dass alle anderen, deren Urteil uns Sicherheit und Wirklichkeit geben sollen, letztlich ebenso unsicher vor den Fragen des Lebens stehen wie wir selbst. Wie aber sollen sie uns, oder wir uns gegenseitig, dann wirkliche existentielle Sicherheit angesichts der Vergänglichkeit geben können? Und wird diese von Dauer sein? Wird sie wirklicher sein, nur weil viele sie für wirklich halten? Allenfalls kann man zugestehen, es fühle sich besser an, mit anderen gemeinsam unsicher zu sein als alleine; aber die Unsicherheit und die individuelle Lebensverantwortung für unser endliches Dasein wird dadurch natürlich nicht aufgelöst. Sie findet nur Gemeinschaft. Angesichts dessen aber, was hier zu Frage steht – nämlich nicht weniger als Grundfragen über unser Leben und unseren Tod –, ist »nur Gemeinschaft« zugleich psychologisch betrachtet wohl niemals »nur Gemeinschaft«. Offenbar geht nämlich von der Gemeinschaft angesichts der Lebens- und Todesfurcht ein tröstender oder sicherheitsgebender Impuls aus, der sich vielleicht weniger denkend und analytisch als vielmehr erlebend 54 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Der eigene Tod und die Gemeinschaft
und experientiell erschließen will: Schon die Kürze des Weges, der das Nachdenken über die Unbestimmtheit des Selbst und die Verunsicherung durch die Sterblichkeit hin zur Gemeinschaft führt, spricht dafür, dass die Gemeinschaft ein psychologisch interessantes und verlockendes Angebot macht, das es nun – nach dieser kurzen kritischen Analyse – näher anzusehen gilt.
2.2. Der eigene Tod und die Gemeinschaft Weil der Zusammenhang von Gemeinschaft und existentiellen Belangen psychologisch und existentiell vielschichtig und zugleich stets irgendwie fragwürdig erscheint, soll zunächst zu bestimmen versucht werden, worin genau die Versprechungen des Gemeinschaftlichen bestehen. Wir können hierfür mit einer vorerst sehr einfachen – mit existentiellen Fragen noch gar nicht belasteten – Definition der Gemeinschaft beginnen: Die Gemeinschaft ist eine um von mehreren Mitgliedern getragenen Normen geordnete oder von diesen strukturell zusammengehaltene Gruppe. Das Eingliedern in eine solche Gruppe und Befolgen ihrer Normen schafft, so schlägt nun Becker vor, ein Gefühl der Bestimmung, der Ordnung und der Eingebundenheit in ein größeres Ganzes, das vor dem Bewusstsein der Noch-Unbestimmtheit des Selbst und seiner Vergänglichkeit Schutz bieten soll – was auch erklären könnte, weshalb die sozialpsychologische Forschung bestätigt, dass gerade der verunsicherte Mensch eine umso stärkere Anbindung an identitätsstiftende Gruppen sucht (Saroglou 2002; Thomas 2007; Webber et al. 2018): Gemeinschaft, bzw. das von ihr getragene System der Kultur, wird zum existentiellen Identitätsund Sinnsurrogat in einer als potentiell bedrohlich erlebten Welt. Gemeinschaft soll damit eine psychologische Antwort auf zwei scheinbar eng miteinander zusammenhängende Fragestellungen bereithalten: Wie bewältige ich meine Sterblichkeit? Und wer bin ich im Allgemeinen und insbesondere angesichts meiner Vergänglichkeit? Was zugleich an der Verknüpfung beider Fragen im gesellschaftlichen Kontext auffällt, ist, dass sie nicht nur an sich grundverschiedene Aspekte unseres Daseins beleuchten, sondern auch erkenntnistheoretisch in ganz unterschiedlicher Weise zugänglich sind. Über den Tod selbst etwa wissen wir nämlich, wie wir gesehen haben, außer seiner Unausweichlichkeit, tatsächlich recht wenig – weder über die Art und Weise, wie unser eigenes Sterben sein wird, 55 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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noch über den Zustand des Totseins selbst. Der Tod ist ein Rätsel und er bleibt ein Rätsel auch dann, wenn man eine übergeordnete und daher scheinbar weniger angreifbare Gruppenidentität annimmt. Dagegen ist der soziale Werdeprozess und das Finden oder Erfinden einer Identität erstens vor allem dann eine interessante Mission, wenn wir den Tod gerade nicht bewusst im Sinn haben, sondern das Leben – also nicht unser Vergehen, sondern unser Werden und unsere Suche nach unserem Ort in der Welt und in der Gemeinschaft. Zweitens ist das soziale Selbstwerdungsprojekt im weitesten Sinne empirisch: Denn es ist erlebbar – nur dann ist es überhaupt wirklich – und damit auch überprüfbar und, wenn das gewünschte oder erhoffte Resultat sich nicht einstellt, auch revidierbar. Es verlangt uns die Suche nach Identität für sich genommen daher auch viel weniger Risikobereitschaft ab als die Frage, wie wir insgesamt angesichts der Sterblichkeit zu leben und mit unserer begrenzten Lebenszeit umzugehen gedenken. Somit ist die Frage, wer wir sind und sein können oder sollen, zwar existentiell ähnlich brisant wie die Frage nach dem Leben angesichts des Todes, aber es ist zugleich eine Frage, die sich ungleich weniger unbedingt und irreversibel stellt als jene nach der Gestaltung unserer Lebensbilanz unter dem Vorzeichen der eigenen Endlichkeit. Dieser Zusammenhang erschließt sich leicht: Wir können ohne größeren Aufwand in kurzer Abfolge ganz unterschiedliche Lebensmodelle ausprobieren, ohne dabei der Frage nach unserem Werden untreu zu werden, sondern sie dabei vielmehr ganz bewusst, konsequent und gewissenhaft weiterverfolgen – gerade dadurch, indem wir verschiedene Lebensmodelle austesten. Auf einem anderen Blatt steht zugleich zwar die Frage, wie ernsthaft ein solches Vorgehen auf Dauer wäre, wenn es sich um ein bloßes Herumprobieren und -spielen mit Identitäten handelte – insbesondere, wenn wir dabei gelegentlich unseren Blick auch wieder auf die eigene Sterblichkeit lenken. Hand in Hand mit dem bloßen Ausprobieren und -testen von Identitäten geht nämlich auch schnell eine gewisse Willkürlichkeit, Unverbindlichkeit und Beliebigkeit: Soziologen sprechen in diesem Zusammenhang vom Gegenwartsphänomen der »nomadischen Gesellschaft« und auch sie stellen fest, dass dieser nomadischen Gesellschaft mitunter auch etwas grundlegend Unverbindliches anhaftet, was sich nicht zuletzt in konkreten Zahlen und Statistiken abbildet: Partnerschaften, einst zumindest mit der Absicht geschlossen, sie mögen ein Leben lang halten, verkürzen sich auf Lebensabschnitte; 56 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Der eigene Tod und die Gemeinschaft
religiöse Bekenntnisse, ebenfalls einst in der Regel als ein lebenslanges weltanschauliches Treueversprechen gemeint, werden gewechselt oder mit Versatzstücken versehen und vermischt; Lebensentwürfe und -modelle ebenso (Brosziewski, Eberle & Maeder 2001; Berner 2015). Kurz – um es mit einem Stichwort der modernen Sozialforschung zu formulieren: Der zeitgenössische Mensch auf der Suche nach einer zeitweise tragfähigen Identität ist ein »sozialer Wanderer« (Berner 2015; 2017) geworden, den es nur selten über längere Zeit am gleichen sozialen Ort hält, weil er sich im Prinzip jeden Tag neu erfinden und zur nächsten Station weiterziehen könnte. Einige Soziologen sprechen etwas plakativer auch von der »Multioptionsgesellschaft« (Gross 1994), in der sogar die bestimmende soziale Norm und Wirklichkeit selbst die Möglichkeit, weitaus weniger aber die Verbindlichkeit und noch seltener die langfristige, gar lebenslange Bindung sei. Vor dem Hintergrund der eben besprochenen Zusammenhänge zwischen Identitätssuche und existentieller Verunsicherung verwundert es dann allerdings auch kaum, dass die psychologische Bilanz der Multioptionsgesellschaft durchwachsener ist, als man angesichts der Identitätsfreiheit, die sie ermöglicht, und der Offenheit und Neugierde, die sie anzutreiben scheint, vermuten würde. Denn nicht erst die Endlichkeit macht das soziale Wandererdasein fraglich – es ist eben auch die grundlegende Unverbindlichkeit, die die Freiheit der Multioptionsgesellschaft leicht in bloße Beliebigkeit kippen lässt. Man kann auch nicht umhin, zu vermuten, dass diese Unverbindlichkeit gerade das ursprüngliche Versprechen, Identität in der Individualität und Halt in der Identität finden zu können, Lügen straft: Denn hier ist nun wieder nichts Festes und daher auch nichts Festigendes, an dem das noch unbestimmte Ich zu etwas Wirklichem (oder scheinbar Wirklichem) vordringen oder gar selbst werden kann. Paradoxerweise untergräbt also gerade dieser Mangel jene identitären Absolutheitsreserven, die das Selbst mittels Aufgehen oder Hervortreten aus der Gruppe für sich zu erschließen erhofft: Eingliedern in oder Herausragen aus einer Gesellschaft werden als psychologische Wege zur Bestimmung der eigenen Identität mit anderen Worten zunehmend fraglich, wenn »Gesellschaft« bzw. Gemeinschaft in der Gesellschaft gar nicht mehr für etwas Bestimmendes oder Bestimmbares steht, sondern den Wandel und die Vielfalt selbst zur Norm erhebt. Wenn der Einzelne dann in einer derart unfesten Gesellschaft Individuation oder Partizipation anstrebt, dann sucht er 57 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Die Flucht in die Struktur
geradewegs dort nach Bestimmtheit, Halt und Wirklichkeit, wo sich vielfach nicht viel anderes zeigt als ein Meer an Möglichkeiten. Zwar kann man immer noch dahingehend argumentieren, dass die Abwesenheit starrer und festigender und ihre Teilnehmer festhaltender Strukturen ein sozial und politisch besehen weitaus geringeres Übel sei als ihre Anwesenheit – es ist ohne Frage weitaus attraktiver, in einer Welt zu leben, in der es überviele Möglichkeiten und wenige Gewissheiten gibt, als in einer Welt, in der es viele Gewissheiten und zugleich wenige Möglichkeiten gibt (vgl. Gross 1994). Aber unter psychologischen Gesichtspunkten ist die Freiheit der Multioptionsgesellschaft Gewinn und Verlust zugleich. Gewinn bringt sie, weil sie ihrerseits eine immense Freiheit eröffnet; aber gerade diese Freiheit ist mit den sozialen Abwehrmechanismen schwer in Einklang zu bringen – vor allem dann, wenn einem in regelmäßigen Abständen dämmert, dass man zwar beim Ausprobieren von Identitäten mitspielt, aber eben tatsächlich nur spielt; oder auch deswegen, weil in Momenten existentieller Ehrlichkeit weniger das Flüchten in das spielerische Probieren im Mittelpunkt steht als das Wieder-zu-sichKommen und mit ihm die Rückkehr vom Schein zum Sein und zur Einsicht, dass das Herumprobieren und Identifizieren teils auch ein Ausweichen vor der existentiellen Konfrontation mit der eigenen Lebensangst und -verantwortung sein kann. Es wäre eine Diskussion der Zusammenhänge zwischen der Multioptionsgesellschaft und der psychologischen Abwehr innerer Unsicherheiten aber nicht vollständig, wenn wir nicht auch darauf eingingen, dass auch die Multioptionsgesellschaft mit reichhaltigen Angeboten aufwartet, die weit weg von der Unverbindlichkeit und dennoch nicht zurück zum Ich führen. Sie verführen vielmehr zum Gefühl der Stärke des Radikalen. Es ist nämlich denkbar, dass in der beschriebenen sozialen Unverbindlichkeit auch ein Grund dafür liegt, weshalb innerhalb der Multioptionsgesellschaft seit Jahrzehnten vermehrt Angebote Zulauf finden, die gerade in der radikalen Absage an die vielen Optionen zugunsten nur einer bestehen. Soziologen berichten seit Jahren von der Rückkehr und dem Erstarken des Fundamentalismus, von der Wiederkehr des Nationalismus und der Identitätspolitik und insgesamt von dem Wiedereinzug der einfachen Wahrheiten und starken Gewissheiten und Gruppenidentitäten (Emerson & Hartmann 2006; Griswold 2012). Demographische und sozialpsychologische Untersuchungen berichten zudem davon, dass gerade Menschen in persönlichen Umbruchphasen und Sinn- und 58 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Der eigene Tod und die Gemeinschaft
Identitätskrisen ansprechbar sind für solche Angebote und weiters, dass dieser Trend in den Großstädten, in denen im Vorhinein ein wesentlich größeres Angebot an Identitäten (und damit auch an Identitätswechseln) besteht, verhältnismäßig stärker verbreitet ist (Cotton 1996; Colemen 1998; AlSayyad & Massoumi 2010). Zwar ist hier noch nicht der Ort, die Soziologie oder Psychologie des Fundamentalismus und allgemeiner der Radikalisierung als Teilfolge existentieller Verunsicherung zu vertiefen, aber es ist jedenfalls ein bemerkenswerter und auch für die im nächsten Kapitel folgende Diskussion der Terror-Management-Theorie hochrelevanter Befund, dass gerade eine freiheitsorientierte Zeit wie die unsere zugleich jene Zeit ist, in der Angebote florieren, die die freiwillige Beschränkung der eigenen sozialen und weltanschaulichen Mobilität und generell die Eingrenzung und Abschottung gegen das jeweils »Andere« auf ihre Fahnen geschrieben haben. Zwar wäre es vermutlich wesentlich zu vereinfachend, wenn man diese freiwillige Abkehr von der Freiheit und Vielfalt ausschließlich existentiellen Motiven, wie etwa der Fraglichkeit der eigenen Identität oder der Sterblichkeitsangst, zuschreiben wollte. Aber wenn die bisherige Analyse stimmt, sollte man erwarten – und die sozialpsychologische Forschung bestätigt es (Jost et al. 2003; Hogg 2007; Jost & Amodio 2012) –, dass derartige Motive (bzw. ihre Abwehr und Verdrängung) eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Erklärung für die Zuwendung zu solchen oft radikalen Absagen an die Multioptionsgesellschaft spielen. Paradoxerweise scheint es also, als ob gerade die moderne Lebensgestaltungsvielfalt Gelegenheit bietet, vielleicht sogar dazu einlädt und verführt, sich freiheitsbegrenzenden Gesellschaftsnischen zuzuwenden, sobald man für sich erkannt hat, dass das Herumspielen mit Identitäten keine psychologisch dauerhaft befriedigende Option darstellt. Man kann sich zugleich vor diesem Hintergrund fragen, inwieweit sich die hier skizzierten Zusammenhänge zwischen Kultur, Selbst und Sterblichkeit im Rahmen der zeitgenössischen Multioptionsgesellschaft nicht womöglich noch um einiges komplexer gestalten, insofern gerade die moderne Gesellschaft mit ihrer Vielfalt an Identifikationsangeboten vielleicht erstmals in diesem Ausmaß die Situation schafft, dass der Mensch heute sich nicht mehr zwischen Partizipation oder Individuation entscheiden muss. Er kann nämlich auch beides gleichzeitig haben: Individuation, insofern er sich bewusst von der Identitätsfreiheit und dem Nomadentum der modernen Gesellschaft abwendet und damit dem allgemeinen Normen59 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Die Flucht in die Struktur
katalog der Unverbindlichkeit und Toleranz eine Absage erteilt; und Partizipation, weil diese Absage nur in dem Maße vollzogen werden kann, in dem er sich einer bestimmten freiheitsabgewandten Gruppe oder Gemeinschaft, bzw. ihren Idealen »der einzigen Wahrheit«, verpflichtet und mit dieser identifiziert (und sich damit von anderen abgrenzt). Wie immer man aber die Zusammenhänge zwischen Gesellschaft, Kultur und existentieller Verunsicherung im Einzelnen nun weiter denkt und auslotet – es soll an dieser Stelle vorerst bereits die bloße Dichte an Hinweisen auf diese Zusammenhänge genügen, um abzulesen, dass individuelle existentielle Verunsicherung durch Lebens- und Todesfurcht und die Suche nach Sicherheit in der Gemeinschaft in einer gleichermaßen starken wie vielschichtigen wechselseitigen Abhängigkeit stehen.
2.3. Flucht in die Struktur Abgesehen von den primär bedürfnisbasierten Beziehungen des Individuums zur Gemeinschaft blieb aber bislang noch eine zentrale Frage offen: Was genau verspricht und liefert Gemeinschaft als solche angesichts des Sterblichkeitsbewusstseins und wie genau bildet sich dieses Verhältnis zwischen sozialen und existentiellen Fragen ab? Da vor allem Beckers Arbeiten in jüngerer Zeit bei einer der ersten umfassenden sozialpsychologischen Theorien zur unmittelbaren Wechselwirkung zwischen Identitätsstiftung, Gesellschaft, und Todesbewusstsein Pate standen – der Terror-Management-Theorie –, soll im Folgenden wieder insbesondere sein Modell als Deutungsgrundlage dieser Zusammenhänge zu Rate gezogen werden. Dabei kommen wir nicht umhin, wieder etwas weiter auszuholen – nämlich einen Schritt zurück zu gehen zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen zur Bewältigung des Sterblichkeitswissens und sozialer und existentieller Unbestimmtheit. Zunächst also zu Beckers Antwort auf die Frage, warum viele Menschen durch Erinnerungen an die eigene Sterblichkeit so stark verunsichert werden, dass Verdrängung und Abwehr als derart regelhafte Reaktionen zu beobachten sind. Becker führt diese Verunsicherung interessanterweise auf ein primär psychologisches und weniger auf ein existentielles oder philosophisches Grundproblem zurück: auf den Konflikt zwischen dem allen Lebewesen innewohnenden Streben nach Lebens- und Selbsterhaltung einerseits und dem Sterblichkeits60 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Flucht in die Struktur
wissen des Menschen andererseits: Der Mensch will – wie alles Lebendige – überleben und richtet einen Großteil seiner Handlungen unter anderem auch darauf aus, physisch unbeschadet zu bleiben. Zugleich weiß er, dass das Projekt »Überleben« langfristig zum Scheitern verurteilt ist – was immer er auch gegen seinen Tod unternimmt, er bleibt sterblich –, die eigentliche Frage lautet folglich nicht ob, sondern nur, wann er sterben wird. Dieses Wissen löst Becker zufolge potentiell Panik (»Terror«) angesichts der Unlösbarkeit dieses Konflikts aus – und da überwältigende und unlösbare Angst (oder auch nur die Antizipation dieser Angst) ihrerseits erstens selbst nicht überlebensförderlich und zweitens eine ausgesprochen unangenehme Erfahrung ist, wehren die meisten Menschen Gedanken an die eigene Sterblichkeit ab (Becker 1975). Man könnte an dieser Stelle jedoch auch, mehr an Frankls existentiellerer Perspektive orientiert, vermuten, es gehe womöglich nicht so sehr nur um die Abwehr der durch den Sterblichkeitskonflikt ausgelösten Angst, sondern auch um das Finden einer mit der Unbestimmtheit und Endlichkeit des Ichs versöhnten Lebenshaltung, die dem Menschen zusagt, dass er als Einzelwesen mehr ist als bloß eine flüchtige und bedeutungslose geschichtliche Erscheinung. Denn es drücken zwar weder Becker noch Frankl so aus, aber ein im Zusammenhang mit dem psychologischen Sterblichkeitskonflikt implizit geführter Leitgedanke scheint auch zu lauten, dass viele befürchten, dass eine Lebensordnung, die so bedenkenlos bereit ist, den einzelnen Menschen mehr oder weniger zufällig dem Tod preiszugeben, diesem auch a priori keine sonderlich große Bedeutung zusprechen kann. Das existentielle Dilemma wäre, so besehen, zweigliedrig: Es entsteht zum einen dadurch, dass der sichere Tod (und das Wissen darum) potentielle Quelle innerer Unruhe und Angst ist, zum anderen verlagert der zweite Aspekt des existentiellen Dilemmas den Fokus von der Angst vor der künftigen Auflösung hin zum Leiden an einer jetzt erfahrenen vermeintlichen Sinn- und Bedeutungslosigkeit der eigenen Person, was wiederum mit potentiellen Angst- und Panikgefühle einhergeht (Greenberg & Arndt 2011; Solomon, Greenberg & Pyszczynski 2015). Nach Becker greift der Mensch auf der Flucht vor der über ihn einbrechenden lähmenden Angst buchstäblich nach letzten Strohhalmen: erstens unmittelbare Verdrängung und Abwehr der Angst, die das Wissen um die eigene Sterblichkeit auslöst; der zweite, mittelbare, Schritt der Abwehr besteht darin, dass sich der Mensch mit 61 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Die Flucht in die Struktur
einem ordnungsgebenden höheren Zusammenhang identifiziert: Wenn er also auch weiß, dass er sich selbst letztlich nicht gegen den eigenen Tod verteidigen kann, so kann er zumindest den Kampf gegen die daraus erwachsenden Ängste aufnehmen und Schutz suchen in der Gemeinschaft und sich mit kulturellen Idealen identifizieren, die ihn selbst überdauern werden und zugleich seinem flüchtigen Dasein eine in einen höheren Sinnzusammenhang gestellte Identität zusprechen. Das deckt sich weitgehend mit den uns schon von der bisherigen Diskussion vertrauten Abwehrmechanismen angesichts von Unbestimmtheit und Endlichkeit – allerdings hat kaum jemand diese Zusammenhänge so durchdringend ausgelotet wie Becker und dabei auf vor allem eines aufmerksam gemacht: Das Weiterdenken der sozialen und kulturellen Identifikation als Abwehr gegen die Todesfurcht gibt den Blick frei auf mitunter schwerwiegende soziale Konsequenzen (ibid.). Eine Gemeinschaft nämlich, die dem Individuum nicht nur als organisierende Struktur des Miteinanders dienen, sondern zusätzlich noch als Projektionsfläche herhalten soll, um seine Ängste in Schach zu halten (bzw. diesen aus dem Weg zu gehen), erfährt unter diesem Gesichtspunkt erwartungsgemäß neue Bedeutungszusammenhänge und Gewichtungen: Sie wird im Abwehrkampf gegen die Todesangst mit Angst infiziert – und letztlich wird sie selbst dadurch zum psychologischen Gegenstand der Frage von Leben und Tod. Von der Leichtigkeit und Unverbindlichkeit der Multioptionsgesellschaft bleibt somit nicht mehr viel übrig, wenn der Mensch mit einem Mal nicht nur soziale Rollen austesten und Identität finden, sondern sich durch die Suche nach sozialer und kultureller Verortung auch Abhilfe verschaffen möchte vom existentiellen Dilemma der eigenen Sterblichkeit. Das Problem der Multioptionsgesellschaft liegt unter diesem Blickwinkel demzufolge nicht mehr darin, dass es so viele Kulturen innerhalb einer Gesellschaft gibt und man in der Multioptionsgesellschaft vor die fortwährende Qual der Wahl gestellt sind, sich entscheiden zu müssen, welcher dieser Kulturen man sich verschreibt. Das Problem ist viel eher, dass in der Multioptionsgesellschaft Kulturen generell einmal stets nur Optionen und keine Gewissheiten anbieten, dass andererseits aber gemeinschaftlich geteilte – oder: kulturelle – Weltsichten, um ihrer existenzangstlösenden Funktion gerecht werden zu können, absolut gesetzt werden und nicht bloß »mögliche Wahrheiten« repräsentieren sollten. In dem Moment nämlich, in dem sich jemand durch die Identifizierung – sei es nun durch Indivi62 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Flucht in die Struktur
duation oder durch Partizipation – mit einem ihn überdauernden sinnstiftenden sozialen Gefüge psychologische Entlastung vom Problem der Endlichkeit erwartet, will er dieses System in der Regel nicht bloß als eine Option unter vielen, sondern vielmehr als ein bzw. überhaupt das aus sich heraus Gültige erachten können (Greenberg & Arndt 2011; Solomon, Greenberg & Pyszczynski 2015). Das eigene gewählte kulturelle System muss mit anderen Worten nicht nur gerade gut genug sein; es muss auch das richtige sein. Wie sonst könnte unser Kultursystem uns vor der Hinfälligkeit und der Sterblichkeit schützen, wenn das »benachbarte« oder erst recht noch das der gewählten Kultur ablehnend und feindlich gegenüberstehende oder anderweitig konkurrierende System genauso gut, genauso wahr, genauso richtig oder gar besser, wahrer, richtiger ist? Mit anderen Worten: Kultur und Gemeinschaft können nur dann als »Angstpuffer« vor dem durch den eigenen Tod potentiell geweckten Unbehagen in Anschlag gebracht werden, wenn sie Anspruch auf Wahrheit und Absolutheit haben. Zugleich ist dieser Gültigkeitsanspruch gerade in der Multioptionsgesellschaft schon deswegen äußerst fragil, weil das Monopol auf Wirklichkeit und Wahrheit bereits durch die bloße Anwesenheit und »Gleichwertigkeit« anderer Systeme, die in der Regel denselben Gültigkeitsanspruch erheben, fortwährend in Frage gestellt wird. Zwar relativiert die bloße Existenz anderer gemeinschaftsbildender Weltdeutungen und Kulturen, die unter gleichen oder doch hinreichend ähnlichen Grundvoraussetzungen andere Modelle, Regeln und Normen vorschlagen, an sich gar nicht notwendig die eigene Kultur; sie ist aber doch geeignet, Zweifel an ihrer Alleingültigkeit zu wecken. Zu sehen, dass viele vernunftbegabte Menschen dieselbe Welt grundlegend anders deuten, verunsichert zumindest – wenn wir aber mit unserer Weltdeutung auch noch die Bewältigung der eigenen Sterblichkeitsangst verknüpfen, beunruhigt es zugleich auch. Kurz: In der bloßen Begegnung mit anderen Weltmodellen stellen wir dem Anderen gegenüber fest – wenngleich auch selten so explizit –: »Das also ist die Art und Weise, wie Ihr die Welt erklärt. Unsere Propheten, Denker, Deuter, Schriften behaupten aber, in Wahrheit sei es ganz anders. Wir können damit nahezu alles erklären.« Das Problem ist: Viele solcher starken Wahrheiten können nicht als die Wahrheit koexistieren, ohne sich nicht zugleich gegenseitig zu widersprechen und folglich hinterfragbar zu machen. Besonders eindrücklich wird dieser Zusammenhang beispielhaft in der reli63 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Die Flucht in die Struktur
giöse Apologetik sichtbar: Es ist bisweilen imponierend, mit welch rationaler Klarsicht Apologeten gleich welcher weltanschaulicher Überzeugungen die Unstimmigkeiten und Unebenheiten anderer, meist konkurrierender weltanschaulicher Positionen bloß- und offenlegen können, und dabei zugleich selbst Standpunkte voraussetzen oder verteidigen, die unter demselben Maßstab rationaler Klarsicht nie Stand halten könnten. Es ist so oder so nur ein kleiner Schritt von der Begegnung mit konkurrierenden Weltmodellen zum Zweifel daran, ob nicht die eigenen Wahrheiten ebenso kritikanfällig und fragwürdig sind wie die Wahrheiten der anderen. Das Problem ist allerdings wie gesagt, dass eine solche Erkenntnisbescheidenheit zwar epistemologisch vernünftig sein mag, sich aber nicht mit dem psychologischen Bedürfnis des Absolutheitsanspruchs der eigenen Weltsicht vereinbaren lässt. Aber eben jenen Absolutheitsanspruch müssten wir eigentlich zugesichert bekommen (bzw. uns selbst zusichern können), wenn wir uns über gemeinschaftlich geteilte Kulturen Abhilfe von unserer existentiellen Verunsicherung und Freiheit von der damit einhergehenden drohenden lähmenden Angst schaffen wollen. Die Folgen sind ab- und vorsehbar und lauten jedenfalls nicht Erkenntnisbescheidenheit; im Gegenteil: Wenn etwas in Gefahr ist, von dessen Erhalt man sich Entlastung von unauflösbarer Angst (oder gar der individuellen Sterblichkeit selbst) erwartet, erlebt man selbst sich als gefährdet durch die Anwesenheit des anderen. Und ist man gefährdet, wird man das Naheliegende tun: sich – und das heißt: das Gefährdete, mit dem man seine Abwehrmechanismen bedient –, verteidigen. Daher sucht der Mensch Becker zufolge laufend Bestätigung dafür, dass seine jeweilige Weltsicht die richtige, wahre, stärkere sei und die anderen falsch, unwahr und schwach (Becker 1962, 1975). Anders gewendet: Die Welt muss, gerade vor dem Hintergrund der Fülle an potentiell beunruhigenden und unbeantworteten Daseinsfragen, gedeutet werden, und für eine gelingende Abwehr der Verunsicherung insbesondere angesichts unserer Vulnerabilität und Sterblichkeit muss unsere Deutung »wahr« sein, und das heißt mangels besserer erkenntnistheoretischer Maßstäbe unter anderem, dass sie von möglichst vielen Menschen geteilt werden sollte. Daher gilt es im Rahmen der von Becker vorgeschlagenen Abwehrprozesse der Angst, unmissverständlich zu zeigen, dass unser Gott, unsere Nation, unser System und unsere Sicht der Dinge stärker und siegreicher sind als andere Götter, Nationen, Systeme und Sichten der Dinge. Soviel zunächst zum Motiv der Durchsetzung der eigenen Weltsicht nach 64 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Flucht in die Struktur
außen. Der weitere Weg ist vorgezeichnet: Wir werten ab, wir wollen andere dazu bringen, uns zuzustimmen, wir überzeugen, wir missionieren – gerade die erfolgreiche Mission bestätigt uns nämlich nicht zuletzt dadurch, dass viele uns zustimmen und sich uns anschließen, und das kann nur der Fall sein entweder, weil unsere Sicht so gut, so wahr, so überzeugend ist, oder aber, weil wir so siegreich sind; und überzeugend und siegreich sind wir, weil uns unsere Weltsicht mit der Macht ausstattet, über andere, inferiore Weltsichten überlegen zu sein. Allerdings reicht selbst dieser Triumph alleine Becker zufolge noch nicht aus, um der existentiellen Angst Herr zu werden. Die eigene Kultur absolut zu setzen und alle anderen als Abweichungen der einen – der eigenen – siegreichen Wahrheit sehen zu können, die sogar stärker ist als der Tod und vor allem stärker als die damit potentiell einhergehenden Verunsicherungsgefühle, ist vielmehr erst ein Teilaspekt des Abwehrprojekts. Der zweite Teilaspekt dreht sich nicht mehr um die angstlösenden Gemeinschaft oder Kultur, sondern um uns selbst und unsere Position und Rolle innerhalb dieser Gemeinschaft oder Kultur. Denn es muss sich nicht nur die jeweilige Kultur bewähren, in die wir investieren; auch wir müssen uns der Gemeinschaft gegenüber als würdiges und verlässliches Mitglied beweisen, sei es durch Gehorsam und Unterordnung, sei es durch besondere Leistung für diese und innerhalb dieser Gemeinschaft. Die Durchsetzung der kulturellen Weltsicht muss daher auch nach innen gelingen und wir selbst uns als anerkannte und geschätzte Mitglieder und Teilhabende dieser Gemeinschaft beglaubigen. Nur dann nämlich kann sie auch das Versprechen positiv einlösen, uns Bedeutung, Halt und Sinn und Dauerhaftigkeit in einem ansonsten als existentiell bedrohlich erlebten Kosmos zu schenken. Es reicht daher nicht, dass es Ausgewählte gibt. Wir müssen zu diesen Auserwählten gehören (Harmon-Jones et al. 1997; Greenberg, Solomon & Pyszczynski 1997). Das also sind zusammenfassend nach Becker die durch die Gemeinschaft bzw. die gemeinschaftskonstituierende Weltdeutung fortwährend gegebene Versprechen und die dafür verlangten Gegenleistungen: Wo Verunsicherung durch Selbstunklarheit und Vulnerabilität und die mit dem Wissen um die Vergänglichkeit einhergehende potentielle Angst war, herrscht nach erfolgreich vollzogenem Wahrheitsbeweis und Identifikationsprozess Sicherheit, Einbindung, Gewissheit und Anerkennung. Wenn man einem religiösen System folgt, welches seinen Anhängern persönliche Unsterblichkeit ver65 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Die Flucht in die Struktur
spricht, dann weiß man nun, dass man etwa – im Gegensatz zu den Ungläubigen – zu den Erretteten gehört, weil »alle, die an ihn glauben, nicht sterben werden …«. Wenn man einem säkularen System folgt, dann weiß man, dass man wichtiger Teil des Kampfes einer Kultur und Bewegung ist, die einen überdauert und auf dem unaufhaltsamen Weg zur Verwirklichung der Utopie dieses Systems ihre verlorenen Kinder und unbekannten Soldaten nicht vergessen wird. Man hat Anteil an der schicksalhaften Geschichte einer Wahrheitsbewegung und zumindest in diesem Dienst an der gemeinsamen Sache gewinnt man symbolische Unsterblichkeit (Dechesne et al. 2003). Nun sind das große Versprechungen: Sie verheißen Angstfreiheit und Identität und den Glauben, Zugang zu einer, wenn nicht gar der Wahrheit gefunden zu haben. Aber man kann dennoch leicht aus diesen Zusammenhängen ablesen, wie hoch ihr gesellschaftlicher und politischer Preis und wie problematisch unter diesem Vorzeichen schon die bloße Gegenwart anderer Kultursysteme sein kann. Abwertung und Abwehr des jeweils anderen Weltbildes mit dem Ziel, dass uns unser Weltbild vor existentieller Verunsicherung schütze, bedeutet nämlich mindestens für den Empfänger dieser Abwertung einen Angriff. Haben diese Systeme für den Empfänger dieser Abwertung aber eine nur annähernd ähnlich zentrale psychologische Abwehrfunktion, kann man sich die weiteren Folgen leicht ausmalen. Beckers Modell birgt mit diesen Annahmen tatsächlich auch einige interessante Hinweise auf grundlegende sozialpsychologische Fragen: Warum haben Menschen seit jeher ein so großes Interesse daran, andere von der Richtigkeit ihrer Weltanschauung zu überzeugen? Woher stammt das Bedürfnis, Mission zu betreiben auch im Kontext von Auserwähltheitsideologien, die eigentlich gar nicht von vorneherein als kollektives Projekt möglichst viele Mitstreiter brauchen, sondern sich im Gegenteil durch ihre Exklusivität definieren (»die kleine Herde«)? Warum auch das hohe Aggressionspotential zwischen Gruppen unterschiedlicher Gesinnung oder Identität? Und wie erklärt sich eigentlich – nun auf individueller Ebene – unser hohes Bedürfnis nach Selbstwertbestätigung und Anerkennung durch die Gruppe? Nach den bisherigen Hinweisen Beckers steht der Verdacht im Raum, hier gäbe einen unmittelbaren kausalen Zusammenhang zwischen diesen und ähnlichen sozialen Alltagsphänomenen auf der einen Seite und unbewältigten Existenzsorgen auf der anderen. Den Arbeiten der amerikanischen Sozialpsychologen Solomon, Greenberg und Pyszczynski (1991; 2015) verdanken wir, dass 66 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Flucht in die Struktur
die hier vermuteten Zusammenhänge in einer vereinheitlichten Theorie, der schon mehrfach erwähnten Terror-Management-Theorie (im Folgenden: TMT), zusammengefasst und in empirisch überprüfbare Aussagen übersetzt wurden. Aufgrund der Tatsache, dass die Theorie einen in heutiger Zeit leicht irreführenden Namen trägt, sind jedoch zunächst einige klärende Anmerkungen zum Begriff Terror-Management-Theorie selbst erforderlich: Der namensgebende »Terror« der TMT bezieht sich auf den existentiellen Terror, d. h. die übermächtige Angst und Unruhe, die viele Menschen angesichts der Unlösbarkeit des existentiellen Dilemmas der eigenen Sterblichkeit empfinden (bzw. zu empfinden antizipieren); das »Management« meint die Handhabung bzw. Vermeidung und Regulation dieser potentiell überwältigenden Angst- und Panikgefühle des existentiellen Terrors. Inhaltlich handelt es sich bei der TMT im Wesentlichen um eine Übersetzung von Beckers Modell in die Sprache und Methodologie der experimentellen Sozialpsychologie: So lautet das Arbeitsmodell der TMT kurzgefasst, dass der Mensch, um potentielle überwältigende Todesängste einzudämmen, mittels derselben kognitiven Fähigkeiten, dank derer er das existentielle Dilemma zu erfassen in der Lage ist, Sinn- und Ordnungssysteme (Kulturen) konstruiert, deren Hauptfunktion es ist, Abwehrwege und Entlastungsventile existentieller Ängste zu bieten (»Angstpuffer«). Wie bereits dargestellt, versprechen diese kulturellen Ordnungsstifter dem Menschen eben jene Bedeutung, Stabilität und Permanenz, die er unter dem Eindruck seines Endlichkeitsbewusstseins als grundlegend bedroht erkennt. Diese Ordnungsstifter bestehen, wie wir gesehen haben, aus (a) einer kulturellen Weltsicht, also allgemeiner aus übergeordneten Konzepten, welche mit der Zusicherung symbolischer oder persönlicher Unsterblichkeit für diejenigen einhergehen, die den Regeln und Normen dieser Kulturen Folge leisten und (b) dem Selbstwert, d. h. dem Glauben, dass man der Teilnahme des kulturellen Systems, dem man sich zugehörig und verbunden fühlt, würdig ist und ein anerkanntes Mitglied desselben. Um das angstschützende Angebot dieser Abwehrmechanismen entgegennehmen zu können, ist der TMT zufolge nur zweierlei von uns abverlangt: unsere kulturelle Weltsicht ebenso zu verteidigen wie den selbstwerterhöhenden Glauben, ein wertvoller Bestandteil dieser Kultur zu sein – die Gegenleistung ist buchstäbliche und/oder symbolische Unsterblichkeit. Beide Angstpuffer können sich gegenseitig 67 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Die Flucht in die Struktur
bestärken; es können aber auch beide sich gegenseitig schwächen und damit ihre angstlösenden Versprechen unterminieren – etwa dann, wenn wir eine Kultur als schutzgebend und »wahr« anerkennen, zugleich aber von dieser Kultur verstoßen werden (»den sozialen Tod« erleiden) oder aus welchen Gründen auch immer befürchten müssen, ihr nicht gerecht zu werden; oder aber, wenn wir uns von einer Kulturgemeinschaft als einen der ihren anerkannt wissen, zugleich aber erkennen und einsehen müssen, dass diese Kultur fehlerhaft ist, also nicht die »einzig wahre« oder siegreiche Weltsicht und Gemeinschaft ist, uns also auch nicht vor dem sterblichkeitsbedingten Verlust von Identität und Dauer schützen wird. Gerade aufgrund dieser Hydraulik der Anfälligkeiten benötigt sowohl unser kulturelles System als auch unser Selbstwert, um seiner Angstpufferfunktion nachzukommen, fortlaufende Bestätigung. Der Überlebenskampf verschiebt sich vom Individuum weg hin zur stellvertretenden Gruppe oder Kultur. Die TMT hat damit die in dem vorausgehenden Kapitel diskutierten existenzphilosophisch-sozialpsychologischen Reflexionen über die Art und Weise, wie der Mensch mit existentieller Verunsicherung durch soziale Kompensation umzugehen versucht, übersichtlich zusammengefasst, zugleich aber auch entscheidend um die Einbeziehung kognitions- und sozialpsychologischer Erkenntnisse erweitert. Wie im nächsten Kapitel zu sehen sein wird, ist die Theorie nicht nur grundsätzlich empirisch und experimentell überprüfbar; sie trifft zum Teil Vorhersagen über Verhaltensweisen, die prima facie gar nicht unmittelbar mit der existentiellen Verunsicherung in Zusammenhang gestellt würden (zum Beispiel über den Zusammenhang zwischen der Anhäufung von Statussymbolen und dem Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit [Solomon, Greenberg & Pyszczynski 2004]; oder über die zu erwartende stärkere Distanzierung von fremden Kulturen und die Zunahme von Nationalismus nach dem Erinnertwerden an die eigene Sterblichkeit usw. [Solomon, Greenberg & Pyszczynski 1991]). Die TMT ist damit tatsächlich ausgesprochen generativ; zudem kommt ihr ideenhistorisch das Verdienst zu, existentielle Verunsicherung – für lange Zeit eine »Spezialität« der Existenzphilosophen und einer relativ kleinen Minderheit existentiell ausgerichteter Verhaltenswissenschaftler – in das Zentrum der sozialpsychologischen Forschung gerückt zu haben.
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Die Struktur als Bewältigungsversuch
2.4. Die Struktur als Bewältigungsversuch So plausibel Beckers Analyse (und ihre psychologische Übersetzung durch die TMT) dem ersten Augenschein nach auch sein mag, scheint sie doch einen entscheidenden Haken zu haben: Wenn nämlich das Wissen um die eigene Sterblichkeit gleichermaßen wie das Streben nach Selbstbewusstsein und kulturelle Anbindung der TMT zufolge nahezu universelle und zudem noch kausal miteinander zusammenhängende Phänomene sind, weshalb bleibt dem bewussten Erleben des Einzelnen der vermeintlich so starke Zusammenhang zwischen diesen Variablen verborgen? Warum ist er nicht introspizierbar, warum dermaßen verhüllt? Anders gefragt: Warum sind die von Becker und der TMT beschriebenen Zusammenhänge auf den ersten Blick teils überraschend und nicht unmittelbar bewusst einsichtig? Der TMT zufolge deutet dieser Mangel an unmittelbarer Einsicht darauf hin, dass es sich bei den von Becker beschriebenen Abwehrmechanismen nicht um durchgängig bewusste Geschehen handelt – daher verortet die TMT die beschriebenen Abwehrmechanismen auch nur teilweise, genaugenommen nur zum geringsten Anteil, als vollbewusstes Geschehen (Pyszczynski, Greenberg Solomon 1999; Greenberg et al. 1994; 2001). Vielmehr setzt die TMT an der Beobachtung und dem gleichermaßen alltagsphänomenologisch wie auch empirisch gut belegten Befund an, dass unser Sterblichkeitswissen schon alleine aufgrund des hohen psychologischen Irritationspotentials und der gleichzeitigen prinzipiellen Unlösbarkeit des zugrundeliegenden Lebens- bzw. Sterblichkeitskonflikts konsequent verdrängt wird und nur gelegentlich, wenn der Mensch an seinen Sterblichkeit erinnert wird, vorübergehend wieder in den Fokus des Bewusstseins gelangt (Greenberg et al. 1994; 2001). Ist die Verdrängung gelungen, ist das Thema vor dem Bewusstsein verborgen, damit aber natürlich weder gelöst noch »weg«. Mehr noch scheint es, als sei der Abwehrweg der sozialen Kompensation überhaupt nur dann ein gangbarer Weg des Umgangs mit der eigenen Sterblichkeit, wenn das Wissen um die Sterblichkeit selbst nicht im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit und bewusster Durchleuchtung steht – denn gerade dort würde einem vermutlich bald aufleuchten, dass die Hinwendung an eine Kultur oder das Aufwerten des eigenen Selbst im Grunde weder unmittelbar noch mittelbar etwas mit dem eigenen Tod selbst zu tun hat, noch daher dazu geeignet sein kann, das Dilemma des
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Die Flucht in die Struktur
immerwährenden Konfliktgeschehens zwischen Überlebensstreben und Sterblichkeitswissen auch nur annähernd aufzulösen. Die sozialen Abwehrmechanismen sind, folgen wir der TMT, daher im Grunde Schattengefechte im wahrsten Sinne des Wortes: Sie verdunkeln nicht nur die Sicht auf das tatsächliche Problem der eigenen Sterblichkeit; sie finden auch selbst im Schatten des Bewusstseins statt. Damit diese Schattengefechte als Stellvertreterkriege gegen die Sterblichkeit geführt werden können – damit sie, wenn schon nicht rational, so doch zumindest affektpsychologisch plausibel sind – muss die Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit selbst folglich erst vermieden worden sein. Es wurde schon eingangs kurz ausgeführt, dass die psychologische Forschung vielfach nahelegt, dass viele Menschen eine gewisse Routine darin entwickelt haben, Gedanken an die Gefährdung ihrer existentiellen Souveränität konsequent zu verdrängen. In experimentellen Untersuchungen zur Auswirkung des Sterblichkeitswissens auf unsere sozialen Identitätsbestrebungen geht es daher auch zuerst darum, das Sterblichkeitsbewusstsein zunächst wieder aus der Verdrängung zu holen; erst dann nämlich lässt sich seine weitere psychologische Wirkung geordnet untersuchen. In der Begriffsführung der TMT wird der Zustand nach der Konfrontation mit Erinnerungen an das Wissen um die eigene Sterblichkeit (z. B. durch experimentelle Stimuli) als Mortalitätssalienz (im Folgenden: MS) bezeichnet (Greenberg et al. 1990; 1994; 2001). Dieser Zustand kann auf ganz unterschiedlichen Wegen durch die Erinnerung an die eigene Sterblichkeit herbeigeführt werden – und schon hier begegnet uns ein philosophisch wie psychologisch interessantes Phänomen. Es zeigt sich nämlich, dass die Darbietung einfachster und subtiler Todessymbole bereits ausreicht, um zufällig ausgewählte Versuchspersonen in einen Zustand erhöhter potentieller existentieller Verunsicherung (MS) zu versetzen (ibid.). So hat sich in einigen Feldstudien bereits die bloße Sichtweite eines Friedhofs oder Bestattungsinstituts als ausreichend herausgestellt, um in Probanden einen Zustand der MS hervorzurufen, während nur wenige Straßen weiter, also in neutralerer Umgebung, keine MS mehr nachweisbar ist (Jonas et al. 2002); als ebenso wirksam haben sich Worträtsel erwiesen, in denen bloß einige wenige todesbezogene Wörter vorkamen (Sarg, Kapelle, Grab) (Burke, Martens & Faucher 2010). In unseren eigenen experimentellen Arbeiten an der Universität Wien haben wir bei unseren Versuchspersonen einen Zustand der MS zum Beispiel dadurch hervorgerufen, dass die Versuchsleiter 70 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Die Struktur als Bewältigungsversuch
Black-Metal-T-Shirts mit den bekannten Totenkopfsujets der Musikgruppe Iron Maiden trugen, bzw. von uns konstruierte Fragebögen mit einem Trauerrand gedruckt wurden, wodurch sie ein wenig an Sterbeanzeigen erinnerten. Auch subliminal, also unter der Wahrnehmungsschwelle visuell dargebotene todesbezogene Stimuli rufen einen Zustand der MS hervor (Arndt et al. 1997). In wieder anderen experimentellen Studien wurde der Zustand der MS dadurch aktiviert, dass die Versuchspersonen gebeten wurden, zwei kurze gestellte Fragen im Rahmen von umfangreichen Persönlichkeitsfragebögen zu beantworten, in denen sie ihre Gedanken über die Gefühle notieren sollten, die der eigene Tod in ihnen auslöst und kurz darlegen sollten, was passiert, wenn sie sterben (Burke, Martens & Faucher 2010). An der Vielzahl der Möglichkeiten der MS-Induktion sieht man, dass es kaum von Bedeutung ist, auf welchem Wege man an seine Sterblichkeit erinnert wird – ob durch verbale oder durch piktorale, ob durch explizite oder implizite Stimuli: Todessymbole und -chiffren werden von unserem kognitiven System offenbar äußerst treffsicher als solche ausgemacht und erkannt. Schon dieser Befund bestätigt nebenbei, was wir eingangs über den verdrängten Tod feststellten: Verdrängung mag gelingen, aber es ist die Wiederkehr und das Weiterwirken des Verdrängten erstens schon angesichts der potentiellen MS-Stimuli unserer alltäglichen Lebenswelt kaum vermeidbar; zweitens ist sie selten sanft. An letzterem Punkt setzt die TMT an. Denn ist es einmal gelungen, Gedanken an den eigenen Tod durch entsprechende Stimuli in den Fokus der Aufmerksamkeit zu bringen, beginnt im Zustand der MS sogleich der eigentlich relevante von der TMT in Anlehnung an Becker beschriebene sogenannte duale Abwehrprozess. Experimentalpsychologisch zeigt sich nun, dass MSinduzierte Versuchspersonen sich in der Regel nicht lange mit ihrer Sterblichkeit auseinandersetzen; sie verfolgen vielmehr strategisch das Ziel, den Tod und damit einhergehende verunsichernde Gefühle abzuwehren bzw. wieder verdrängbar zu machen. Im unmittelbaren zeitlichen Umfeld der Todeserinnerung ist diese Abwehr meist noch direkt mit der Vulnerabilität und Sterblichkeit der Versuchspersonen befasst – allerdings wie erwähnt zumeist mit dem Ziel, vom Denken an und der Auseinandersetzen mit dem eigenen Sterben wieder möglichst bald ablassen zu können (Greenberg et al. 1994; Arndt 1997; Greenberg & Arndt 2011). Dies geschieht zum Beispiel durch die spontane Fassung des Vor71 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Die Flucht in die Struktur
satzes, fortan gesünder zu leben, das Rauchen oder den Fleischkonsum zu reduzieren oder aufzugeben, Krebsvorsorgeuntersuchungsund Impftermine wahrzunehmen, umsichtiger Auto zu fahren usw.; oder auch allgemeiner durch den Versuch, sich durch Verleugnung, Unterdrückung oder Ablenkung von dem Denken der eigenen Sterblichkeit wieder ab- und weniger angstbesetzten Themen zuwenden zu können: »Ja, das ist wichtig, aber jetzt habe ich keine Zeit, daran zu denken«; »Ich bin noch jung, es hat noch Zeit und ich werde mich ein anders Mal mit diesem Thema auseinandersetzen«; »Der Tod kommt früh genug, jetzt lebe ich erst einmal«. Diese direkte Form der Abwehr wird in der TMT auch als proximale (»nahe«) Abwehr bezeichnet, insofern sie sich in unmittelbarer zeitlicher wie inhaltlicher Umgebung der Todeserinnerung entfaltet. Nun ist es bereits für sich genommen bezeichnend, wie regelhaft sich solche Verdrängungsprozesse als Reaktion auf auch subtile Sterblichkeitserinnerungen in Gang setzen lassen. So zuverlässig ist das Einsetzen der Verdrängung als proximaler Abwehrprozess, dass zu seiner Einleitung in den meisten experimentellen TMT-Studien nicht sehr viel mehr seitens der Versuchsleiter unternommen werden musste, als zufällig ausgewählte Versuchspersonen auf vielfältigste Weise an ihren Tod zu erinnern und von da an nicht mehr zu unternehmen, als schlichtweg etwas Zeit verstreichen zu lassen, oder den Versuchspersonen ganz banale Ablenkungstasks anzubieten (etwa anzugeben, wie ästhetisch sie die Symbole über den Nummerntastern der Tastatur finden: »!, §, $, %, &, /, (, ), = . ?«). Nach einer kurzen Verzögerung setzt nun der zweite, distale Prozess ein. Denn Verdrängung und Abgleiten aus dem Fokus des Bewusstseins der eigenen Sterblichkeit bedeuten noch lange nicht, dass das Verdrängte ganz aus dem Sinn wäre und nicht doch in der einen oder anderen Form weiterwirke und nachweisbare psychologische Spuren hinterließe. Experimentalpsychologisch lässt sich das beispielsweise durch die signifikant erhöhte kognitive Verfügbarkeit todesbezogener Gedanken nachweisen. Mortalitätssaliente Versuchspersonen erkennen etwa in Worterkennungsaufgaben nach einer kleinen Verzögerung todesbezogene Wörter signifikant schneller als Versuchspersonen einer Kontrollgruppe; sie ergänzen ambivalente Wortstämme signifikant häufiger mit todesbezogenen Wörtern (z. B.: Coff_ _: Coffin; Sk_ll: Skull) als mit ansonsten von Versuchspersonen einer Kontrollgruppe häufiger verwendeten nicht todesbezogenen Wörtern (Coffee, Skill), auch wenn ihr bewusstes Denken längt nicht 72 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Ein Exkurs zum kognitiven Unbewussten
mehr mit todesbezogenen Gedanken befasst ist (Pyszczynski, Greenberg, & Solomon 1999; Pyszczynski et al. 2003). Die TMT sagt vor diesem Hintergrund voraus, dass die nach der Verdrängung und dem Verstreichen von etwas Zeit un- oder halbbewussten Todesgedanken die von Becker beschriebenen Abwehrmechanismen der verstärkten Identifizierung mit einem kulturellen Weltmodel und/oder der Steigerung des Selbstwertstrebens als Angstpuffer aktivieren. Diese als distal (»entfernt«) bezeichnete Abwehr wird der TMT zufolge relativ selbsttätig in Gang gesetzt und schuldet sich primär unbewussten Prozessen. Um an dieser Stelle besser verstehen und nachvollziehen zu können, welche psychologischen Vorgänge und Mechanismen im Rahmen der distalen Abwehr aktiv sind, soll im Folgenden in einem kleinen Exkurs zunächst die Natur und Gestalt dieser unbewussten Prozesse erörtert werden. (Leser, die mit der Primingforschung vertraut sind, können den folgenden Textteil überspringen.)
2.5. Ein Exkurs zum kognitiven Unbewussten Der Großteil zeitgenössischer kognitionspsychologischer Modelle unterscheidet zwei verschiedene Typen von Informationsverarbeitungsprozessen: automatische (unbewusste) auf der einen, und kontrollierte (bewusste) Prozesse auf der anderen Seite. Während bewusste oder kontrollierte Prozesse erstens wissentlich aktiviert bzw. intendiert werden, zweitens willentlich steuerbar und lenkbar und drittens subjektiv mit dem Erleben der Anstrengung (etwa Willentlichkeit, Konzentration und Aufmerksamkeit) verbunden sind und viertens in der Regel daher auch willentlich beendet oder zeitgerecht gehemmt werden können, kommt automatischen oder unbewussten Prozessen kein oder nur ein Teil dieser bewussten Auslöse- oder Steuerungselemente zu. Ein automatischer mentaler Prozess bedarf daher, ist er einmal in Gang gesetzt, kaum Leitung durch das Bewusstsein, zumal er in der Regel auch nicht selbstgewählt bewusst, sondern meist durch die Begegnung mit Stimuli aktiviert wird, mit denen im Langzeitgedächtnis abgelegte gedankliche Assoziationen oder Verhaltensweisen verbunden oder eintrainiert sind (Fiske & Taylor 1991; Bargh & Chartrand 1999; Kunda 1999). Derartige unbewusste Prozesse sind uns zwar schon per definitionem nicht bewusst, dennoch sind wir mit ihrem Auftreten im Alltagserleben gut vertraut – wenn auch selten unter diesem Namen. Lernen – auch auswendig 73 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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lernen – ist ein alltagsnahes Beispiel für die Überführung bewusster und kontrollierter in automatische Prozesse: Es braucht zum Beispiel längere und konzentrierte Übungszeit, bis man lernt, Noten zu lesen; anfangs bedarf es noch der aufmerksameren Zuwendung auf das Notenblatt und die motorische Umsetzung einer gelesenen Notenfolge zum Beispiel im Klavierspiel. Ist aber ein Stück gut einstudiert, geschehen sowohl das Lesen der Noten als auch das Spiel selbst ›wie automatisch‹, ohne dass notwendig das Bewusstsein als Erlebnisund Aktzentrum der Notenwahrnehmung und -verarbeitung und des Klavierspiels in Erscheinung treten müsse. Erfolgreiches Lernen bedeutet mit anderen Worten: Das Delegieren und Abtreten von Verarbeiten und Verhalten an das kognitive Unbewusste. Das gilt für die meisten alltäglichen automatisierten Handlungen – bis hin zum Spracherwerb. Man verliert, gerade aufgrund der fehlenden bewussten Kontrolle über die meisten automatischen Prozesse, leicht den Blick dafür, welche Leistungen unbewusste Informationsverarbeitung fortwährend und ohne unser gegenwärtiges bewusstes und aktives Zutun vollbringt (vgl. Velmans 1991 für eine Übersicht diesbezüglicher Forschungsarbeiten). Automatische Assoziationen beeinflussen unser Denken und Deuten der Welt aber auch über bewusste und intendierte, explizite Lernprozesse hinaus; unsere Lebenserfahrung (als implizites Lernen) spielt hier ebenso mit ein wie die Kontextgebundenheit unseres Deutens der Wirklichkeit. Die meisten Menschen denken etwa unmittelbar und automatisch an Nägel, wenn sie von Hämmern hören, an eine Maus, wenn sie über Micky lesen, an Sparsamkeit, wenn sie an Schottland erinnert werden, usw. Auch situative und individuelle Faktoren spielen hier mit ein: Auf dem Weg zum Schuster deutet man das Wort »Absatz« spontan – automatisch – anders, als wenn man gerade über der Formatierung eines Texts sitzt; der Landwirt verbindet mit dem Begriff »Ente« willkürlich vermutlich andere Bedeutungszusammenhänge als der Automobilinteressierte, der Priester versteht das Wort »Messe« spontan anders als der Besucher einer Fachmesse usw. Es ist daher durch diese erfahrungsund kontextgebundenen automatischen Assoziationen oder Bahnungen auch relativ leicht, in anderen Menschen bestimmte Gedankeninhalte und Handlungsneigungen zu aktivieren – nicht nur, indem man unmittelbar den intendierten Inhalt wachruft, sondern auch bereits dadurch, dass man ein damit stark verbundenes Konzept bahnt, woraufhin die intendierte Assoziation »wie von alleine«, d. h. automatisch, kognitiv verfügbar wird (Devine 1989; Lepore & Brown 74 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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1997); nicht zuletzt beruht ein großer Teil der Werbung auf dem Verfügbarmachen und Trainieren positiver Assoziationen mit einem Produkt oder einer Marke. Die Wirkung solcher automatischer Assoziationen zeigt sich allerdings darüber hinaus auch anschaulich in der Deutung komplexerer Sachverhalte, etwa in der Personenwahrnehmung. Weil das Verhalten anderer in der Regel selten eindeutig zuordenbar ist, greifen wir im spontanen Ersturteil anderer Menschen häufig auf sogenannte Schemata zurück – auf im Langzeitgedächtnis abgelegte Wissensstrukturen, die den Deutungshintergrund und erste Anhaltspunkte bilden, mittels derer wir zwei- oder mehrdeutiges Verhalten interpretieren. Dabei leiten (oder verleiten) uns unter anderem chronisch verfügbare automatische Assoziationen, die meist schon früh erworbenes Wissen über kulturelle Stereotype beinhalten, welche ihrerseits bereits durch die bloße erkennbare Gruppenzugehörigkeit einer Person aktiviert werden. Diese Assoziationen werden durch externe Hinweisreize – etwa durch die Begegnung mit einem Vertreter einer bestimmten stereotypisierten Gruppe (»Schotten sind sparsam«) – automatisch wachgerufen und aufgrund ihrer hohen kognitiven Verfügbarkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit zur spontanen Deutung des Beobachteten herangezogen (d. h. sie fallen einem unvermittelt und unwillkürlich ein; Devine 1989; Lepore & Brown 1997). Die sozialpsychologische Forschung zeigt aber auch: Ähnlich deutungswirksam wie im Langzeitgedächtnis gespeicherte Schemata und Assoziationen können auch Kategorien und Konzepte sein, die kurz vor der Begegnung mit dem zu deutenden Sachverhalt aktiviert worden sind und uns nun alleine aufgrund der zeitlichen Nähe zur Begegnung mit dem zu deutenden Stimulus schneller und eher einfallen als solche, die schon länger nicht mehr verwendet wurden – wobei es kaum eine Rolle spielt, ob die erhöhte Aktivierung einer Deutungskategorie bewusst erlebt wird oder nicht. Dasselbe im Halbdunkel wahrgenommene im Gras herumliegende Stück Schlauch wird man, wenn man kurz zuvor über Afrika und seine Tierwelt gesprochen hat, auf den ersten Blick eher für eine Schlange halten, als wenn man gerade an die anstehende Gartenarbeit gedacht hat – auch, bzw. sogar dann am wahrscheinlichsten, wenn man sich solcher Übertragungswirkungen oder »Überschwappeffekte« nicht bewusst ist. Diese Zusammenhänge sind auch experimentell gut bestätigt. So konnten Higgins, Rholes und Jones (1977) etwa zeigen, dass das beiläufige Darbieten von positiven oder negativen Eigenschaftswörtern 75 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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nachfolgende Urteile über andere Personen systematisch in Richtung des gebahnten Deutungsgehalts verzerrt. Den Versuchspersonen dieses Experiments wurde erklärt, sie nähmen an zwei verschiedenen Studien teil (Studie 1: Wahrnehmungsaufgabe und Studie 2: Textverständnis), ein Experiment habe also mit dem darauf folgenden nichts zu tun. Darauf wurden sie in zwei Gruppen eingeteilt. Die Wahrnehmungsaufgabe der ersten Gruppe bestand darin, sich unter anderem Wörter anzusehen, die mit positiv konnotierten Persönlichkeitseigenschaften zusammenhingen (z. B. abenteuerlustig, selbstsicher), während der anderen Gruppe Wörter präsentiert wurden, die konzeptuell ähnliche, aber negativ assoziierte Persönlichkeitsmerkmale repräsentierten (z. B. leichtsinnig, überheblich). Anschließend sollten beide Gruppen – im vermeintlich zweiten Experiment – Persönlichkeitseigenschaften eines unbekanntes jungen Mannes (»Donald«) benennen, dessen Verhalten in einer kurzen Vignette bewusst zweideutig formuliert war und unter anderem sowohl als abenteuerlustig und selbstsicher und als auch als leichtsinnig und überheblich ausgelegt werden konnte: Donald spent a great amount of his time in search of what he liked to call excitement. He had already climbed Mt. McKinley, shot the Colorado rapids in a kayak, driven in a demolition derby, and piloted a jetpowered boat – without knowing very much about boats. He had risked injury, and even death, a number of times. Now he was in search of new excitement. He was thinking, perhaps, he would do some skydiving or maybe cross the Atlantic in a sailboat. By the way he acted, one could readily guess that Donald was well aware of his ability to do many things well. Other than business engagements, Donald’s contacts with people were rather limited. He felt he didn’t really need to rely on anyone. Once Donald made up his mind to do something, it was as good as done, no matter how long it might take or how difficult the going might be. Only rarely did he change his mind, even when it might well have been better if he had. (Higgins, Rholes und Jones 1977)
Es zeigte sich, dass die Versuchspersonen, die zuvor – in einem anderen und für die Personeneinschätzung gänzlich irrelevanten Kontext – positiv konnotierte Wörter gelesen hatten, dazu tendierten, Donalds Verhalten positiv, also beispielsweise als »abenteuerlustig« und »selbstsicher« zu interpretieren. Die Versuchsgruppe, die die negativen Wortlisten gesehen hatte, neigte dagegen dazu, Donald mit 76 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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Attributen wie »leichtsinnig« oder »überheblich« zu beschreiben. Keine der Versuchspersonen vermutete einen Zusammenhang beider Aufgaben, noch waren die meisten Versuchspersonen überhaupt gewillt, in der Endbefragung einen solchen von den Versuchsleitern vorgeschlagenen Zusammenhang zwischen dem Inhalt der Wahrnehmungsaufgabe und ihrer Personeneinschätzung anzunehmen; es handelte sich also um eine nichtbewusste Urteilsverzerrung – zustande gekommen lediglich durch die vorherige Aktivierung des jeweils dann in der Charakterisierung Donalds eingesetzten positiven oder negativen Konzepts. Um die Alltagsnähe und -relevanz solcher Assoziationsphänomene nachvollziehen zu können, braucht man sich nur etwas detaillierter und gleichsam in Zeitlupe anzusehen, wie wir für gewöhnlich Personen und Situationen spontan deuten und einschätzen. Üblicherweise nehmen wir einen bestimmten Sachverhalt wahr und beginnen schon während der Erstverarbeitung des Wahrgenommenen, diesen Sachverhalt innerlich zu benennen und zu deuten. Diese Deutung verdankt sich nur selten einer bewussten und verarbeitungstiefen Reflexion über das Beobachtete und nun Gedeutete – dazu reicht im Alltag meist weder die Zeit aus noch sind wir in der Regel ausreichend motiviert, unser Erleben und Deuten der Welt einer tiefgehenden, bewussten und rationalen Analyse zu unterziehen. Meist ist unser Deuten der Welt vielmehr unvermittelt auf uns einfallende Erinnerungen und Assoziationen zurückzuführen, also auf spontane Assoziationen, die wir in der Regel so lange als »korrekte« Deutung annehmen werden, bis unsere spontane Einschätzung durch widersprüchliche Daten in Frage gestellt wird und wir diese spontanen Einschätzungen korrigieren – wie allerdings die Stereotypforschung zeigt, ist auch dieser Korrekturvorgang noch äußerst fragil und selten zuverlässig (Wegener & Petty 1997; Gilbert & Gill 2000). Das »Priming« oder Aktivieren von Konzepten bewirkt mit anderen Worten, vereinfacht gesagt, dass uns während dieses Deutungsvorgangs nicht nur im Langzeitgedächtnis abgelegte, chronisch verfügbare Deutungsschemata spontan einfallen, sondern auch solche, die kurz vorher in anderen Kontexten aktiviert und dadurch kognitiv verfügbar wurden. Solche automatischen Aktivierungen beschränken sich zudem nicht nur auf Wahrnehmungs- und Deutungsprozesse, sondern können – gleichfalls unbewusst – in Folge auch Verhaltenstendenzen beeinflussen. In Hinblick auf die direkte Aktivierung von Verhaltens77 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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tendenzen haben etwa Bargh, Chen und Burrows (1996) bei zufällig ausgewählten Versuchspersonen die Konzepte Höflichkeit bzw. Unhöflichkeit zu aktivieren versucht, um deren Auswirkungen auf das Verhalten der Probanden gegenüber dem Versuchsleiter zu untersuchen. Die Versuchspersonen glaubten wieder, an mehreren kleinen Tests teilzunehmen; der erste Test bestand darin, aus einem Set scheinbar beliebiger Wörter sinnvolle Sätze zu konstruieren. Je eine Teilgruppe der Versuchspersonen erhielt dabei häufiger Wörter, die entweder mit Höflichkeit (Gruppe 1: Höflichkeitspriming), Unhöflichkeit (Gruppe 2: Unhöflichkeitspriming) oder neutralen Begriffen (Kontrollgruppe) zusammenhingen. Nach Abschluss der Satzaufgabe sollte die Versuchsperson von dem im Gang wartenden Versuchsleiter für das Folgeexperiment in einen anderen Raum geführt werden. Als die Versuchsperson in den Gang ging, um von dem Versuchsleiter zum nächsten Experiment geleitet zu werden, schien dieser allerdings in ein Gespräch mit seinem Assistenten vertieft zu sein. Mit Blick auf die Verhaltensrelevanz des Primingeinflusses der Satzbildungsaufgabe lautete die Frage, ob die Versuchspersonen in Abhängigkeit vom eben abgeschlossenen Task (höflichkeits- oder unhöflichkeitsbezogene Satzaufgaben zu lösen) unterschiedlich häufig oder schnell das Gespräch des Versuchsleiters unterbrechen würden, um zu fragen, wohin sie sich als nächstes begeben sollten. Tatsächlich unterbrachen nur 17 % der auf Höflichkeit geprimten Versuchspersonen das (natürlich gestellte) Gespräch, dagegen aber immerhin 63 % der mit Unhöflichkeitswörtern geprimten Versuchspersonen (und 38 % der Versuchspersonen aus der Kontrollgruppe). Die in der vorausgehenden Worträtselaufgabe aktivierten Stimuluswörter hatten offenbar bei den Probanden die entsprechenden Verhaltenskonzepte kognitiv verfügbarer gemacht und aktiviert, woraufhin sie in der verhältnismäßig zweideutigen Entscheidungssituation im Gang zugänglicher und folglich auch wahrscheinlicher und schneller abgerufen wurden. Zum Verständnis der hier beschriebenen Vorgänge ist es wichtig, sich stets vor Augen zu führen, dass diese Nachwirkungen der zuvor dargebotenen Reize den Betroffenen in der Regel nicht bewusst und daher auch nicht introspizierbar und kaum korrigierbar sind – d. h. auch wenn die Versuchspersonen die beeinflussenden Stimuli bewusst verarbeiten, sind sie sich des späteren Einflusses dieser Stimuli auf ihr Erleben, Deuten und Verhalten nicht bewusst. Das be78 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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stätigen zum einen eingehende Befragungen der Versuchspersonen nach Abschluss der Experimente; zum anderen zeigen weitere Untersuchungen, dass unbewusste Aktivierungseffekte sich dann am ehesten entfalten können, wenn die Versuchspersonen sich des Beeinflussungsversuchs durch Priming nicht bewusst sind, während sie andernfalls (wenn die Versuchspersonen etwa einen Zusammenhang zwischen den vermeintlich voneinander unabhängigen Experimente vermuten) der Einflussnahme durch das Priming bewusst gegenzusteuern versuchen (Petty & Wegener 1993; Strack et al. 1993). Diese und zahlreiche weitere Ergebnisse aus der Primingforschung belegen, kurz zusammengefasst, dass Stimuli, die oft beiläufig und in einem anderen Kontext verarbeitet und danach aus dem Fokus des Bewusstseins entlassen (oder aber verdrängt) werden, auf vielfältige Weise kognitiv nachwirken und unser Erleben und Verhalten unbewusst, d. h. außerhalb unserer unmittelbaren bewussten Kontrolle, beeinflussen können. Zugleich sind derartigen unbewussten Einflüssen allerdings auch natürliche Grenzen gesetzt: Es ist schon dem phänomenologischen Augenschein nach naheliegend, dass nicht alle Menschen gleich und gleich stark auf Priming reagieren und auch nicht gleichermaßen leicht zu bestimmten automatisch aktivierten Deutungs- oder Handlungsneigungen bewegt werden können. Zum einen sind unsere Lebens- und Lerngeschichten zu individuell, als dass ein oder derselbe Stimulus bei allen Versuchspersonen zu dem von den Versuchsleitern intendierten Effekt führen würde. Zum anderen werden Primingeffekte auch durch individuelle Unterschiede (z. B. Persönlichkeitseigenschaften oder chronisch verfügbare Werthaltungen) abgeschwächt oder umgeleitet bzw. sind bei manchen Versuchspersonen manche Konzepte überhaupt wesentlich schwerer aktivierbar (Smeesters et al. 2003). Jemand etwa, der junge Menschen grundlegend und ganz generell für leichtsinnig und überheblich hält, wird aller Wahrscheinlichkeit nach den oben erwähnten »Donald« auch dann noch als waghalsig und eigensinnig einschätzen, wenn er zuvor mit positiven Alternativen (abenteuerlustig und selbstbewusst) geprimt wurde. Ähnliches gilt auch für verhaltensrelevantes Priming. Neuberg (1988) hat etwa nachgewiesen, dass Priming mit Wettbewerb- und Aggressionskonzepten das Kooperationsverhalten von Versuchspersonen im Gefangenendilemma signifikant senkte – allerdings wirkte das Priming nur bei Versuchspersonen, die ohnehin bereits von ihrer 79 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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Disposition her kompetitiv waren; bei den weniger wettbewerbsorientierten Versuchspersonen hatte das Priming keinerlei Einfluss auf das spätere Verhalten im Gefangenendilemmaspiel. In weiteren Studien (Hertel und Fiedler 1998) zeigte sich, dass Kooperations- oder Wettbewerbspriming keine Auswirkung auf das Sozialverhalten von Versuchspersonen mit starken chronischen Werthaltungen (operationalisiert als konsistente Social Value Orientation [SVO]), hatte, während bei Versuchspersonen mit weniger konsistenten SVOs signifikante Primingeinflüsse auf ihr Wettbewerbsverhalten nachweisbar waren. Aber nicht nur individuelle Unterschiede der Versuchspersonen, sondern auch situative und bewusstere motivationale Faktoren können den potentiellen Einfluss unbewusst aktivierter Handlungsneigungen abschwächen bzw. umlenken. So haben etwa Macrae und Johnston (1998) eine Studie über die Rolle der Situation bzw. Motivation als Moderatoren von Aktivierungseffekten in Bezug auf die Wirkung von Hilfsbereitschaftsprimes durchgeführt. Im Rahmen eines Sprachtests sollten weibliche Versuchspersonen zunächst Sätze aus Wortlisten bilden, die mehrere Wörter enthielten, die konzeptuell mit Hilfsbereitschaft zu tun hatten (z. B. unterstützen, helfen); die der Kontrollgruppe zur Verfügung gestellten Worte hatten hingegen keinen solchen Bezug. Nach Beendigung dieser als Primingmanipulation dienenden Aufgabe wurde den Versuchspersonen mitgeteilt, der nächste Teil des Experiments würde in einem anderen Raum stattfinden, wo ein anderer Versuchsleiter auf sie warte. Der Hälfte der Versuchspersonen der Kontrollgruppe und der Hilfsbereitschaftsgruppe wurde weiters gesagt, dass die Versuchsleiterin schon seit einiger Zeit auf sie wartete, wodurch ein leichter Zeitdruck aufgebaut wurde. Der anderen Hälfte der Versuchspersonen wurde hingegen mitgeteilt, dass keine besondere Eile bestünde. Darauf verließ die Versuchsleiterin gemeinsam mit der (einzelnen) Versuchsperson das Labor. Als sie die Tür öffnete, fielen ihr scheinbar versehentlich einige Kugelschreiber aus der Hand. Es zeigte sich, dass 100 % der Versuchspersonen, die zuvor Sätze aus hilfsbereitschaftsbezogenen Wörtern gebildet hatten und sich nicht in Zeitnot wähnten, der Versuchsleiterin halfen, die Stifte aufzuheben; in der Kontrollgruppe waren es nur mehr 75 % (ein signifikanter Effekt des Hilfsbereitschaftsprimings). Dieser Bahnungseffekt schwand jedoch unter Zeitdruck dahin. Wenn die Versuchspersonen also glaubten, sie seien spät dran und der andere Versuchsleiter würde bereits eine Weile warten, hal80 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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fen nur mehr 12.5 % der Versuchspersonen sowohl der Priming- als auch der Kontrollgruppe. Auch im zweiten Experiment konnte der Effekt der Hilfsbereitschaftsaktivierung wiederholt werden; allerdings blieb hier das Hilfsbereitschaftspriming wirkungslos, wenn die Kugelschreiber, die die Versuchsleiterin fallen ließ, leckten und mit Tinte verschmiert waren. In diesem Fall zeigte sich wiederum keine Wirkung der Hilfsbereitschaftsaktivierung mehr, da ein stärkeres Motiv – die Vermeidung des Anfassens der leckenden Kugelschreiber – offenbar einen größeren verhaltensrelevanten Einfluss ausübte als die zuvor aktivierte automatische Tendenz zur Hilfsbereitschaft: Während 94 % der auf Hilfsbereitschaft geprimten Versuchspersonen normale Stifte aufzusammeln halfen, waren es nur 6 %, wenn die Stifte mit Tinte verschmiert waren (und 12 % in der nicht geprimten Kontrollgruppe). Die hier beschriebenen Zusammenhänge zwischen bewusster Verarbeitung von Stimuli und ihrem nichtbewussten Nachwirken auf Erleben und Verhalten in anderem Kontext (und ihre Grenzbedingungen) sind vor allem mit Blick auf drei Sachverhalte für unsere weitere Diskussion der TMT relevant: Es zeigt sich erstens ganz generell, dass unbewusste Aktivierungseffekte sich signifikant sowohl auf unser Erleben und Deuten als auch unser Verhalten auswirken können, ohne dass diese Nachwirkungen dabei unmittelbar introspizierbar, d. h. bewusst sind; zweitens, dass diese Wirkung nicht auf experimentelle Laborsituationen beschränkt ist, sondern auch unser Alltagsverhalten mitunter stark prägt und beeinflusst; drittens aber auch, dass Primingeffekte durch eine Reihe von situativen oder persönlichen Variablen modifiziert werden und mitunter auch ganz ausbleiben, wenn die aktivierten Konzepte etwa vor dem Hintergrund bestimmter Persönlichkeits- oder Situationsfaktoren entweder anders gedeutet werden als intendiert oder auch wenn die geprimten Konzepte von stärkeren bewussten Motiven und anderen Faktoren überstimmt werden. Soviel zunächst ganz allgemein zu Priming- und Aktivierungsvorgängen, ihren Wirkungen und einigen ihrer Grenzbedingungen. Diese sozial- und kognitionspsychologischen Befunde werden uns in der weiteren Diskussion sowohl der TMT selbst als auch bei der weiteren Analyse alternativer Modelle immer wieder begegnen. Das kognitive Basismodell der TMT geht vor dem Hintergrund der hier berichteten Forschungsergebnisse von einem dualen Abwehrmodell aus, demzufolge Gedanken an die eigene Endlichkeit 81 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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nicht nur bewusste Gedanken (also kontrollierte, bewusste Prozesse) und Verdrängungsprozesse anstoßen. Vielmehr widmet sich die TMT insbesondere den automatischen, d. h. nicht bewussten Vorgängen, die als nichtbewusste Nachwirkung vormals bewusster Sterblichkeitsgedanken aktiviert werden: Distinct defensive responses are activated by thoughts of death that are conscious and those that are on the fringes of consciousness (highly accessible but not in current focal attention). Proximal defenses entail the suppression of death-related thoughts or pushing the problem of death into the distant future by denying one’s vulnerability to various risk factors. These defenses are rational, threat-focused, and are activated when thoughts of death are in current conscious attention. Distal terror management defenses entail maintaining self-esteem and faith in one’s cultural worldview and serve to control the potential for anxiety resulting from awareness of the inevitability of death. These defenses are experiential, not related to the problem of death in any semantic or rational way, and are increasingly activated as the accessibility of deathrelated thoughts increases, up to the point at which such thoughts enter consciousness and proximal threat-focused defenses are initiated. (Pyszczynski, Greenberg & Solomon 1999, 835)
Der von der TMT beschriebenen dualen Abwehrprozess folgt vor diesem Hintergrund, kurz umrissen, einem relativ gleichförmigen Schema: Am Beginn der dualen Abwehr steht zunächst die Aktivierung der Mortalitätssalienz in der Regel durch bewusste Konfrontationen mit der eigenen Sterblichkeit. Alternativ dazu kann die Verfügbarkeit von todesbezogenen Gedanken allerdings auch indirekt etwa durch subliminale Darbietung todesbezogener Wörter (Sarg, Tod, Sterben usw.) aktiviert werden. Erfolgt das Todespriming subliminal, d. h. unter der Wahrnehmungsschwelle, direkt unbewusst, unterbleibt die proximale Abwehr, da die Todesgedanken ohnedies von vorneherein nicht bewusst aktiviert wurden, daher auch nicht aktiv und bewusst abgeschwächt bzw. verdrängt werden müssen (Arndt et al. 1997; Burke, Martens & Faucher 2010). Bei bewussten Todeserinnerungen hingegen ist der proximale Abwehrprozess der Aktivierung der distalen Abwehr zeitlich und funktional vorgeschaltet (ibid.). Versuchspersonen, die durch supraliminale Stimuli in einen Zustand erhöhter Mortalitätssalienz (MS) versetzt werden, reagieren zunächst pro82 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Weltsicht als distale Abwehr
ximal abwehrend, d. h. sie versuchen bewusst, sich von der Erinnerung an ihre Sterblichkeit zu distanzieren. In dem Maße, wie die proximale Verteidigung gelingt, bzw. auch mit bloßem Verstreichen von Zeit werden Gedanken an den Tod aus dem Fokus des Bewusstseins verdrängbar, bzw. verdrängt. Die nunmehr aus dem Aufmerksamkeitsfokus gleitenden Sterblichkeitserinnerungen aktivieren, analog zu dem eben beschriebenen Primingoder Bahnungsphänomen, nun den zweiten, automatischen (d. h. unbewussten) Abwehrprozess: die distale Abwehr in Form einer verstärkten Anbindung an die eigenen kulturelle Weltsicht bzw. den Versuch, das eigene Selbstwertgefühl zu heben. Auf Grundlage dieses Schemas trifft die TMT folgende Vorhersagen über die Nachwirkung verdrängter Sterblichkeitserinnerungen: 1.
2.
MS-induzierte Versuchspersonen sollten sich nach erfolgreicher proximaler Abwehr stärker mit ihrer eigenen Kultur identifizieren bzw. insgesamt weniger Toleranz gegenüber fremden Kulturen zeigen bzw. entsprechend defensiver auf Angriffe auf ihre eigene Kultur reagieren. MS-induzierte Versuchspersonen sollten nach gelungener Verdrängung der Gedanken an ihre eigene Sterblichkeit höheres Selbstwertstreben zeigen als nicht MS-induzierte Versuchspersonen.
2.6. Weltsicht als distale Abwehr Zur konkreten Illustration dieses zweigliedrigen Abwehrgeschehens und des Versuchsprotokolls einer klassischen TMT-Studie sei an dieser Stelle ein von unserer TMT-Arbeitsgruppe an der Universität Wien durchgeführtes Experiment beschrieben. Bei unseren Versuchspersonen handelte es sich um zufällig ausgewählte Studierende, die freiwillig und ohne Gegenleistung an dem Experiment teilnahmen. Den Versuchspersonen wurde mitgeteilt, sie nähmen an einem Gemeinschaftsprojekt von drei Dissertanten aus den Human- und Sozialwissenschaften teil, die für drei voneinander unabhängige kurze empirische Studien noch einige Daten bräuchten. Diese oder eine vergleichbare Coverstory findet sich häufig in TMT-Studien; sie soll sicherstellen, dass die beschriebenen Prozesse unter verhältnismäßig »natürlichen« Bedingungen untersucht werden können, d. h. unbe83 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Die Flucht in die Struktur
einflusst von möglichen Erwartungshaltungen oder Zusammenhangsvermutungen der Versuchspersonen. Den Versuchspersonen wurde dann ein kleines Heft ausgehändigt, welches drei Fragebögen enthielt. Im ersten Fragebogen wurden zwölf allgemeine Fragen zu Lebensgewohnheiten und -einstellungen gestellt (Wie viele Stunden am Tag verbringen Sie vor dem Fernseher? Fahren Sie mit privaten oder öffentlichen Verkehrsmitteln zur Universität? Leben Sie alleine oder in einer Partnerschaft? Etc.). Bei der wiederum zufällig ausgewählten einen Hälfte der Versuchspersonen lauteten die letzten beiden Fragen der Umfrage: Was geschieht mit Ihnen, wenn Sie sterben? Und: Welche Gefühle löst der Gedanke an Ihren Tod bei Ihnen aus? Diese Gruppe wird im Folgenden MS-Gruppe genannt. Für die Beantwortung dieser beiden (und der anderen) Fragen standen den Versuchspersonen drei Leerzeilen zur Verfügung – es wurden also keine langen, elaborierten Antworten erwartet, sondern kurze Stichworte, die die meisten Versuchspersonen auch innerhalb weniger Minuten notierten. Für die andere Hälfte der Versuchspersonen (die Kontrollgruppe) lauteten die letzten beiden Fragen dagegen: Wann haben Sie zuletzt starke Schmerzen gehabt? Und: Welche Gefühle löst der Gedanke an zukünftige starke Schmerzen bei Ihnen aus? Es wurde mit anderen Worten ein ebenfalls unangenehmes und unvermeidliches künftiges Lebensereignis in Erinnerung gerufen, um mögliche Stimmungseffekte durch die jeweils letzten beiden Fragen relativ ähnlich zu halten. Damit war die vermeintlich erste Studie bereits abgeschlossen (sie dauerte durchschnittlich ca. acht Minuten). In dem zweiten Fragebogen – nun wieder für beide Versuchsgruppen gleich – wurden den Probanden zunächst einige äußerst einfache affektiv und inhaltlich neutrale Bilderrätsel präsentiert. Dies geschah, um die bewusste Nachwirkung der Sterblichkeitsgedanken in der MS-Bedingung abzuschwächen und den erwarteten proximalen Verdrängungsprozess durch ein Ablenkungsangebot zu unterstützen. Als Kontrolle möglicher Stimmungseinflüsse der letzten beiden Fragen des ersten Fragebogens in der Todes- bzw. Schmerzgruppe wurden die Versuchspersonen nach Abschluss der Bildbewertungsstudie gebeten, einen Test zur Erfassung der affektiven Verfasstheit (PANAS; Watson, Clark & Tellegen 1988) auszufüllen. Damit endete, was die Versuchspersonen für die zweite Datenerhebung hielten. Der dritte Test – unsere eigentliche experimentelle Bedingung, mit der die Vorhersagen der TMT über distale Abwehrprozesse ge84 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Weltsicht als distale Abwehr
testet werden sollten – bestand darin, einen Essay und seinen Autoren zu beurteilen. Es gab zwei Versionen dieses kurzen Texts (jeweils rund 120 Wörter), von dem unsere Versuchspersonen glaubten, er sei von einem Austauschstudenten aus Israel geschrieben worden. Die erste Version beschrieb das Heimatland der Studierenden, Österreich, überaus positiv: als zwar kleines, aber kulturell reiches und bedeutendes und im heutigen Europa trotz seiner Kleinheit einflussreiches Land mit enormen natürlichen Ressourcen (Wasser, reine Luft, Berge usw.). Die zweite, österreichkritische Version, hingegen beschrieb Österreich als ein kleines und im europäischen und globalen Kontext unbedeutendes, sich selbst aber ungeheuer wichtig nehmendes Land, das selbst 70 Jahre nach dem Ende der Hitlerdiktatur nicht in der Lage und willens sei, sich seiner historischen Verantwortung zu stellen, sich dafür aber umso lieber an die Kaiserzeit erinnere, als Österreich noch eben jene historische Bedeutung hatte, die ihm heute vollends abgehe. Jede Versuchsperson bekam jeweils nur eine Version des Österreichessays zu lesen. Ihre Aufgabe bestand nun darin, nach der Lektüre des Essays auf Skalen von 1–9 anzugeben, wie sympathisch oder unsympathisch sie den Schreiber dieses Essays fand (1 – äußerst unsympathisch, 9 – äußerst sympathisch) und für wie intelligent sie den Schreiber dieses Essays hielt (1 – äußerst unintelligent, 9 – äußerst intelligent). Unsere Vorhersagen lauteten auf Grundlage der TMT wie folgt: Zunächst erwarteten wir, dass nach der Ablenkungsaufgabe hinsichtlich der Stimmungslage der Versuchspersonen kein Unterschied in Abhängigkeit davon, ob sie zuvor todes- und dem schmerzbezogene Fragen beantwortet hatten, festzustellen sei. Diese Vorhersage leitet sich daraus ab, dass den Personen durch das Lösen der einfachen Bilderrätsel ausreichend Zeit und Ablenkungsmöglichkeiten geboten wurden, um nach den ersten proximalen Abwehrprozessen die Sterblichkeitserinnerung aus dem Fokus ihres Denkens (und Fühlens) zu verdrängen. Gemäß dem dualen Verteidigungsmodell der TMT war weiters zu erwarten, dass in der vermeintlich dritten Studie distale Abwehrmechanismen, also die verstärkte Identifikation mit dem eigenen Kulturkreis und der eigenen Nation, nachweisbar sein würden. Unsere mortalitätssalienten Versuchspersonen, so lautete die Vorhersage daher, sollten folglich entsprechend empfindlicher auf Bestätigungen (landeslobendes Essay) bzw. Angriffe (landeskritisches Essay) auf 85 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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ihre Gemeinschaft (nationale Kultur) reagieren, da diese unter der MS die zusätzliche Funktion des existentiellen Angstpuffers erhielten. Das landeslobende Essay würde der Aufgabe gerecht werden, die Versuchspersonen in ihrer kulturellen Weltsicht und Dominanz zu bestätigen. Das landeskritische Essay hingegen sollte unter MS umso selbstrelevanter und negativer aufgefasst werden, da es die kulturelle Weltsicht der Probanden und damit zugleich die schützende Funktion des Angstpuffers der nationalen Identifizierung in Frage stellte; wir sagten daher voraus, dass mortalitätssaliente Versuchspersonen im Vergleich zu den Versuchspersonen der Kontrollgruppe entsprechend bemühter und motivierter sein würden, ihre kulturelle Weltsicht gegen den Angreifer / Kritiker zu verteidigen. Unsere Fragestellungen ermöglichten es den Probanden, ihre Zustimmung oder Ablehnung des Essays auf zweierlei Weise kundzutun: durch die Charakterisierung (d. h. Auf- oder Abwertung) des Essaysschreibers als unsympathisch oder sympathisch und durch die Fähigkeitszuschreibung als unintelligent bzw. intelligent. Dabei gingen wir vor dem Hintergrund vorhergehender TMT-Studien davon aus, dass mortalitätssaliente Versuchspersonen dem Schreiber dieser Zeilen schlicht die Kompetenz absprechen würden, sich überhaupt intelligent über Österreich äußern zu können und überdies nicht sonderlich sympathisch zu sein, bzw. den Autoren des landeslobenden Essays als intelligenter und sympathischer beurteilen würden. Die Ergebnisse bestätigten diese Vorhersagen: Zunächst zeigte die Auswertung der Stimmungsfragebögen, dass sich die Stimmung und affektive Verfasstheit der Mitglieder der experimentellen Gruppe und der Kontrollgruppe nicht signifikant voneinander unterschieden. Mit Blick auf die Kernvorhersagen unserer Studie fanden sich erwartungsgemäß die folgenden Ergebnisse: Die Kontrollgruppe empfand den Autoren des negativen Essays als etwas weniger sympathisch (4.5) als den Autoren des positiven Essays, (4.9). Das ist ein schwach signifikanter Unterschied, der vermutlich mit dem überaus scharfen Ton des negativen Essays zu erklären war. Die Kontrollgruppe schätzte dafür die Intelligenz des Autoren des negativen Essays signifikant höher (5.5) ein als die des Autoren des positiven Essays (4.4). Dieser Unterschied mag sich daraus erklären, dass der positive Essay recht naiv und arglos wirkte und damit wohl nicht mehr dem kritischen Intelligenzideal unserer Studentengruppe entsprach. Hypothesenkonform fielen hingegen die Urteile der MS-Gruppe wesentlich extremer und defensiver aus: Der Autor des kritischen 86 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Weltsicht als distale Abwehr
Essays wurde von dieser Versuchsgruppe signifikant unsympathischer wahrgenommen (3.2) als der Autor des positiven Essays (5.6), was wiederum einen signifikanten Effekt der MS auf die Einschätzung des Autoren in Abhängigkeit von der Valenz seines Essays nahelegt. Ebenso wurde die Intelligenz des Schreibers des landeskritischen Essays von der MS-Gruppe als signifikant niedriger (4.2) eingestuft als die Intelligenz des Autoren des landeslobenden Essays (5.4). Positiver Essay
Kritischer Essay
KG Intelligenz
4,4
5,5
MS Intelligenz
5,4
4,2
KG Sympathie
4,9
4,5
MS Sympathie
5,6
3,2
Tab.1: Intelligenz- und Sympathieurteile der Versuchspersonen in den einzelnen Konditionen (jeweils 1–9 Punkte, höhere Werte bedeuten höhere Zustimmung zum Wesenszug).
Zusammengefasst zeigte sich demnach in Übereinstimmung mit den Vorhersagen der TMT das folgende Bild: Mortalitätssaliente Versuchspersonen identifizieren sich – wie sich auch nach genauem Nachfragen ergab, ohne sich des Einflusses der Mortalitätssalienz auf ihre Einschätzung des Essayschreibers bewusst zu sein – stärker mit ihrem Heimatland und reagierten in Folge auf von einem Ausländer geäußerte Kritik an ihrer Heimat negativer und auf Lob positiver, indem sie den Autor dieser Kritik im Sympathieurteil stärker abwerteten und ihm zugleich weniger intellektuelle Kompetenz zusprachen, bzw. werteten sie den Essayschreiber im Sympathie- und Intelligenzurteil im Vergleich zur Kontrollgruppe auf, wenn dieser einen positiven Essay über Österreich verfasst hatte. Diese Wertungsunterschiede waren nicht auf Stimmungs- oder andere bewusst introspizierbare Faktoren zurückzuführen; es wurde erstens wie gesagt kein Stimmungsunterschied zwischen der experimentellen und der Kontrollgruppe festgestellt, zweitens korrelierten Stimmung und Urteile nicht signifikant miteinander (alle rs < 0,17); drittens vermutete keine der Versuchspersonen einen Zusammenhang zwischen den drei Studien oder konkreter einen möglichen Einfluss der Fragen zur Sterblichkeit auf ihre anschließende Bewertung des Schreibers. Interessant ist zudem, dass Erinnerungen an ein eben87 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Die Flucht in die Struktur
falls unangenehmes und unvermeidliches Phänomen wie Schmerzen (Kontrollgruppe) keine solchen Effekte nach sich zogen. Tatsächlich wiederholte sich damit die oft in der TMT-Forschung berichtete Beobachtung, dass die beschriebenen distalen Weltsichtverteidigungsund Selbstwertsteigerungsphänomene vor allem Folgen des Erinnertwerdens an (und Verdrängens von) Sterblichkeit und Vergänglichkeit sind und durch Erinnerungen und Gedanken an andere unausweichliche und unangenehme Ereignisse und Zustände solche Abwehrprozesse seltener und wesentlich weniger zuverlässig in Gang gesetzt werden können. Nun liegen mit dieser Studie zunächst lediglich Hinweise darauf vor, dass mortalitätsabwehrende Versuchspersonen empfindlicher auf Lob oder Kritik an schutzgebenden Angstpuffern reagieren. Die Vorhersagen der TMT gehen allerdings weiter und besagen auch, dass schon die schlichte Tatsache, dass es überhaupt alternative Weltmodelle mit vergleichbar hohem Wahrheits- oder Gültigkeitsanspruch gibt, einem bereits vor Augen führen kann, dass auch das eigene Weltmodell nur eines unter vielen und eine Absolutheit der eigenen kulturellen Identität daher schwer aufrechter haltbar ist. Der TMT zufolge besteht die »Lösung« auch dieser potentiellen Verunsicherung durch die bloße Anwesenheit anderer Weltbilder einfachhin darin, dass man diese alternativen Wertsysteme oder ihre Vertreter abwertet, das eigene Weltbild also durch Abwehr anderer Weltbilder gegen die Gefahr der Relativierung verteidigt und aufwertet (McGregor et al. 1998). Greenberg und Kollegen (1990) baten beispielsweise christliche Studenten, anhand einer (für alle Versuchspersonen gleichen) Kurzbeschreibung die Persönlichkeitseigenschaften eines ihnen unbekannten Studenten zu beurteilen. Die Hälfte der Versuchspersonen erhielt die Zusatzinformation, der zu beurteilende Student sei christlichen Glaubens, der anderen Hälfte wurde mitgeteilt, er sei jüdischen Glaubens. Die Zusatzinformation über das religiöse Bekenntnis der zu beurteilenden Person hatte auf die Persönlichkeitseinschätzung der Versuchspersonen der Kontrollgruppe keinen Einfluss. Den Vorhersagen der TMT entsprechend schrieben dagegen mortalitätssalienten Versuchspersonen dem jüdischen Studenten signifikant negativere Eigenschaften zu als dem christlichen Studenten. Ochsmann und Mathy (1994) konnten zudem zeigen, dass die MS-induzierte Abwertung von Vertretern anderer Kulturen sich auch in physisch distanzierterem Verhalten gegenüber Ausländern 88 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Weltsicht als distale Abwehr
abbilden kann. Beiläufig mit Todeskonzepten geprimte deutsche Versuchspersonen setzten sich in einem Wartezimmer, in dem sie unter dem Vorwand Platz nehmen sollten, sie würden bald zu weiteren Experimenten aufgerufen werden, signifikant weiter weg von einem dort bereits sitzenden türkischen Mitwartenden als die Versuchspersonen der nicht mortalitätssaliente Kontrollgruppe. Einen eindrucksvollen Beleg der Vielgestaltigkeit und Alltagsrelevanz der distalen Weltsichtverteidigung stellten wiederum Rosenblatt und Kollegen (1989) vor. Die Versuchspersonen dieser Studie waren erfahrene Amtsrichter, die glaubten, an einer Studie über das Wechselverhältnis zwischen Persönlichkeitsmerkmalen, Einstellungen und Urteilssprüchen teilzunehmen. Die Versuchspersonen sollten zu diesem Zweck umfangreiche Fragebögen beantworten – in der Hälfte der Persönlichkeitsfragebögen wurden zuletzt zwei einfache todesbezogenen Fragen gestellt (MS-Kondition). Die andere Hälfte – die Kontrollgruppe – erhielt stattdessen zwei neutrale Ersatzfragen. Anschließend bekamen die Richter eine kurze Fallbeschreibung einer inhaftierten illegal arbeitenden Prostituierten vorgelegt und wurden gebeten, die Kautionshöhe für die vorübergehende Freilassung der Prostituierten festzulegen. Die Autoren der Studie gingen dabei davon aus, dass (die in den meisten amerikanischen Bundesstaaten illegale) Prostitution einen Verstoß gegen die kulturelle Wertordnung darstellte, zumal den Richtern kraft ihres Amtes die Aufgabe zugesprochen ist, den Erhalt dieser kulturellen Ordnung zu sichern und zu verwalten. Vor diesem Hintergrund sollten daher, so die Vorhersage, die mortalitätssalienten Richter unter MS höhere Sanktionen gegen Weltsicht- und kulturelle Normverstöße aussprechen als die Kontrollgruppe der nicht mortalitätssalienten Amtsrichter. Diese Vorhersage bestätigte sich in überaus beeindruckender Weise: Die Richter der Kontrollgruppe setzten die Kaution für die Prostituierte auf 50 US $ fest, die mortalitätssaliente Gruppe hingegen verhängte eine immerhin etwas mehr als neunfach höhere Kaution von 455 US $: The major finding of [this] experiment was that, as predicted, reminding subjects of their mortality led them to recommend higher bonds for an accused prostitute. According to terror management theory, moral principles are part of the cultural anxiety-buffer that protects individuals from anxiety concerning their vulnerability and mortality. Transgressions against these standards implicitly threaten the integrity of
89 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Die Flucht in die Struktur
the anxiety-buffer and thus engender negative reactions toward the transgressor. Inducing subjects to think about their mortality presumably increased their need for faith in their values, and thus increased their desire to punish the moral transgressor. (Rosenblatt et al. 1989)
Auch nach Auswertung der Persönlichkeitsfragebögen und statistischer Kontrolle möglicherweise diese Ergebnisse beeinflussender Faktoren (demographische Variablen, Stimmung und affektive Verfasstheit, Berufserfahrung, allgemeine Werthaltungen usw.) erwies sich die Mortalitätssalienz, also die bloße Tatsache, dass die MSGruppe einige Minuten zuvor nebenbei und in anderem Zusammenhang zwei kurze in einem wesentlich längeren Fragebogen untergebrachte Fragen über ihre eigene Sterblichkeit beantwortet hatten, als der einzige statistisch relevante Faktor für die unterschiedliche Höhe der festlegten Kaution. Ergänzend konnten Pitters, Kirchler und Oberlechner (2010) zeigen, dass eine Person, die mutmaßlich Steuern hinterzogen hatte, von mortalitätssalienten Versuchspersonen mit signifikant härteren Strafen belegt wurde als von den Probanden der Kontrollgruppe. Soweit nur einige repräsentative Beispiele aus einer Vielzahl weiterer Studien, die die Vorhersagen der TMT zur Angstpufferfunktion der kulturellen Weltsichtverteidigung illustrieren. Die TMT-Forschung umfasst mittlerweile eine solch lange Liste an Studien, dass es fast schon unmöglich ist, auch nur einen Überblick der zahlreichen Effekte (und Replikationen) vorzulegen (siehe Burke, Martens & Faucher 2010). Soweit aber kann als empirisch abgesichert gelten: Mortalitätssalienz führt unter anderem zu verstärkter Stereotypisierung und vorurteilsbehafteter Personenwahrnehmung gegenüber Mitgliedern anderer Gruppen, zu gesteigerter Intoleranz und Aggression gegenüber Vertretern anderer kultureller Weltsichten und steigert Konformismus, Patriotismus, Nationalismus und generell die Aufwertung der eigenen Gruppe und Abwertung anderer Weltmodelle und ihrer Vertreter. Mit anderen Worten: Unter MS neigen zufällig ausgesuchte Versuchspersonen verstärkt dazu, eine rigidere und konservativere Haltung gegenüber eigenen und ablehnende bis feindliche Haltungen gegenüber »anderen« Gemeinschaften, Weltsichten, Normen und Kulturen einzunehmen. Zugleich muss man zum Verständnis des hier eingefangenen sozialpsychologischen Phänomens erneut betonen, dass der Einfluss der Mortalitätssalienz den Versuchspersonen selbst in diesen Experimen90 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Selbstwert als distale Abwehr
ten nicht bewusst ist – in keiner der genannten Studien stellten die Versuchspersonen eine Verbindung zwischen dem gemessenen Verhalten und der zuvor aktivierten MS her. Dennoch sollte man in Hinblick auf die ethische Bewertung der Abstrafung und Abwertung Andersdenkender und Andersgläubiger zugleich nicht vergessen, dass die Versuchspersonen zwar keine bewusste Einsicht in die Ursachen ihres Abwehrverhaltens hatten, sie aber dennoch bewusst handelten und dabei auch merkten oder merken hätten können, dass sie Vertretern anderer Gemeinschaften, Kulturen und Weltmodelle unverhältnismäßig feindselig und ablehnend begegneten. Mortalitätssalienz mag mit anderen Worten die wahrgenommene Bedrohung durch und daraus resultierend auch die Abneigung gegenüber dem jeweils »anderen« heben, aber für die zustimmende Entscheidung, dieser subjektiv empfundenen Abneigung auch nachzugeben und sie in das eigene Verhalten einfließen zu lassen, braucht es immer noch mehr als nur unbewusst aktivierte Bedrohtheitsgefühle und bewusst erlebte Abneigung als solche: Es braucht auch die Bereitschaft und Einwilligung dazu, sich selbst ein solches Verhalten anderen gegenüber durchgehen zu lassen. Dieser Punkt sei an dieser Stelle nur der Vollständigkeit halber erwähnt; er wird weiter unten noch eingehender diskutiert werden. Zuvor aber wenden wir uns vorerst noch der zweiten Abwehrstrategie, der Aufwertung des eigenen Selbst, zu und sehen uns auch hierzu einige repräsentative Befunde aus der TMTForschung an.
2.7. Selbstwert als distale Abwehr Zur Erinnerung: Der TMT zufolge besteht die zweite distale Abwehrstrategie neben der kulturellen Weltsichtverteidigung darin, den eigenen Selbstwert zu erhöhen. Auch zu dieser Vorhersage der TMT gibt es eine Fülle an Studien: So haben Mikulincer und Florian (2002) nachgewiesen, dass mortalitätssaliente Versuchspersonen eine stark erhöhte Neigung zu selbstwertdienlichen Verzerrungen, bzw. positiven Illusionen zeigen: sie neigen zu selbstentschuldigenden und zu selbsterhöhenden Verzerrungen. Taubmann Ben-Ari, Florian & Mikulincer (1999; 2000; Jeske 2006) konnten hingegen zeigen, dass mortalitätssaliente Versuchspersonen, die ihre fahrerischen Fähigkeiten zuvor als bedeutsame Quelle für ihren Selbstwert einstuften, risikoreicher Auto fahren (also ihre wirklichen oder vermeintlichen Fahr91 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Die Flucht in die Struktur
talente ausreizen). Dieses Ergebnis bestätigte sich sowohl durch Überprüfung in einem Fahrsimulator als auch durch Selbstberichte der Versuchspersonen in Hinblick auf ihr tatsächliches alltägliches Autofahren. Mortalitätssalienz hatte hingegen erwartungsgemäß keine Auswirkung auf den Fahrstil jener Teilnehmer, die zuvor ihr fahrerisches Können nicht als eine Quelle ihres Selbstwertgefühls nannten. Mortalitätssalienz kann folglich Verhaltensneigungen begünstigen, die für die jeweilige Person eine selbstwertsteigernde, in diesem Fall aber zugleich auch selbstgefährdende Wirkung haben – was angesichts des dem Selbstwertstreben zugrundeliegenden Abwehren der eigenen Vergänglichkeit bzw. der Auseinandersetzung damit natürlich einigermaßen paradox scheint. Eine weitere Illustration der phänomenologischen und funktionalen Trennbarkeit der beiden in der TMT beschriebenen Abwehrprozesse – themen- und zeitnah proximal und unbewusst distal – konnten Routlegde, Arndt und Goldenberg (2004) bei weiblichen Versuchspersonen nachweisen, denen Sonnenbräune als Schönheitsmerkmal moderat wichtig war. Unmittelbar nach einer Sterblichkeitserinnerung äußerten diese Versuchspersonen die Absicht, sich verstärkt vor Hautkrebs schützen zu wollen und bevorzugten daher Sonnenschutzmittel mit einem hohen Schutz-, zugleich aber geringeren Bräunungsfaktor (proximale Abwehr). Diese Präferenz kehrte sich jedoch nach einem kurzen rund dreiminütigen Ablenkungstask um (distale Abwehrphase): Nun gaben jene Versuchspersonen, die Sonnenbräune als selbstwertdienliches Schönheitsmerkmal erachteten, an, Sonnenschutzmittel mit niedrigerem Schutz- und höherem Bräunungsfaktor vorzuziehen. In eine ähnliche Richtung weisen auch Studien über die Auswirkung der MS auf das Bestreben, Statussymbole anzuhäufen. Der Besitz materieller Dinge ist ein kulturell weit verbreiteter »Wert«, insofern er anzeigt, dass wir erfolgreiche Mitglieder der Konsumgesellschaft sind – daher ist zu erwarten, dass unter MS eine erhöhte Neigung dazu besteht, ein gesteigertes Selbstwertgefühl über den Erwerb von Statussymbolen zu suchen. Auch diese Vorhersage bestätigte sich: Mandel und Heine (1999) berichten, dass MS-induzierte Versuchspersonen größeres Interesse und stärkere Kaufabsichten für Luxusgüter äußerten als die Versuchspersonen einer nicht mortalitätssalienten Kontrollgruppe. Kasser und seine Kollegen (2000) haben darüber hinaus gezeigt, dass MS-induzierte Versuchspersonen optimistischere und selbst92 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Abwehr als Alltagsgeschehen
wertsteigernde Vorhersagen über ihre finanzielle Zukunft (höheres Einkommen, mehr Luxus) machten als die Probanden der Kontrollgruppe. In einer Folgestudie zeigte sich weiters, dass mortalitätssaliente Versuchspersonen im Vergleich zu den Versuchspersonen der Kontrollgruppe in einem simulierten Wirtschaftsspiel signifikant eher dazu bereit waren, begrenzte Ressourcen (in diesem Fall ein virtueller Wald) auf Kosten der Umwelt und ihrer Mitbewerber auszubeuten, um für sich selbst mehr Profit zu erwirtschaften. Zusammengefasst bestätigen die hier exemplarisch aufgeführten Befunde die Aussage der TMT, dass Selbstwerterhöhung als Abwehrmechanismus gegen die durch existentielle Konfrontation ausgelösten Angstgefühle dienen kann.
2.8. Abwehr als Alltagsgeschehen Die in den vorgehenden Abschnitten beschriebenen Studien stellen wie erwähnt einen nur kleinen Ausschnitt aus einem Fundus mittlerweile einiger hundert experimenteller Untersuchungen dar, in denen die Vorhersagen der TMT experimentell bestätigt werden konnten. Die Versuchspersonen, die an diesen Studien teilgenommen haben, waren in der Regel gesund und psychisch nicht auffällig, noch waren sie in besonderer Weise mit dem Thema Sterblichkeit und Tod befasst – im Gegenteil scheinen die Befunde mit Blick auf die Zuverlässigkeit und Regelmäßigkeit, mit der proximale Abwehr- und Verdrängungsprozesse aktiviert werden konnten, nahezulegen, dass sie viel eher darin geübt waren, gewohnheitsmäßig dem Denken an die eigene Sterblichkeit konsequent auszuweichen. Soweit zeigen diese Befunde daher, dass Beckers Modell (und die TMT) einen tatsächlich zentralen Aspekt des abwehrenden Umgangs mit Sterblichkeit und existentieller Verunsicherung einfängt. Nun stellt sich aber, bevor wir an die weitere Analyse dieses Grundbefunds gehen, zunächst die entscheidende Frage, wie exklusiv diese Befunde mit Mortalitätssalienz zusammenhängen und ob nicht auch die Erinnerung an andere potentiell angstauslösende oder aversive Faktoren vergleichbare Abwehrreaktionen auslösen kann. Man könnte etwa, zumindest prima facie, auch die wesentlich einfachere Alternativerklärung bemühen, die mortalitätssalienten Versuchspersonen der dargestellten Experimente seien aufgrund der kurz zuvor erfolgten Sterblichkeitserinnerung schlichtweg schlechter oder 93 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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ängstlicher gestimmt gewesen. Alternativ wäre auch möglich, dass die Probanden über die Versuchsleiter selbst erzürnt gewesen sein könnten, weil diese die Versuchspersonen mit dem vorzugsweise verdrängten Sterblichkeitswissen konfrontiert hätten. Allerdings wurden in den meisten TMT-Studien auch Testinstrumente zur Erhebung der Stimmung eingesetzt und es konnten keine signifikanten Stimmungsunterschiede zwischen MS und Kontrollgruppe gemessen werden (Burke, Martens & Faucher 2010). Auch bei der Umgehung bewusster Verarbeitung (und proximaler Abwehr) durch direkte subliminale Aktivierung der Mortalitätssalienz ist gegenüber Kontrollgruppen kein auffallend negativer Affekt festzustellen, dennoch sind auch nach solchen nicht bewusst wahrgenommenen MS-Induktionen die klassischen distalen Abwehrprozesse nachweisbar (Arndt et al. 1997). Mit anderen Worten: Die mortalitätssalienten Versuchspersonen der beschriebenen Experimente unterscheiden sich während der distalen Abwehr, sofern es um ihre bewusst erlebten mentalen Zustände geht, nicht von den Versuchspersonen der Kontrollgruppen: Weder denken sie bewusst mehr an ihre Sterblichkeit als Kontrollversuchspersonen noch befinden sie sich in einer signifikant von der Kontrollgruppe abweichenden affektiven Verfasstheit, womit bewusste Stimmungsunterschiede als Alternativerklärungen der Befunde wegfallen. Damit bleibt noch die Frage zu klären, ob nicht auch andere negative Stimuli ähnliche Resultate zeitigen, d. h. duale Abwehrprozesse aktivieren. Die Antwort lautet, kurz gefasst: In der Regel Nein. Die Versuchspersonen in den Kontrollbedingungen wurden häufig mit anderen negativ besetzten Themen konfrontiert (unter anderem sollten sich Versuchspersonen vorstellen, einen Vortrag halten zu müssen, intensive physische Schmerzen zu erleiden, gelähmt oder sozial ausgegrenzt zu sein [Greenberg, Pyszczynski, Solomon, Simon & Breus 1994; Greenberg, Simon et al. 1995]), typischerweise ohne dass die oben beschriebenen Abwehrprozesse in Gang gesetzt wurden: Soon after our initial MS studies (Greenberg et al. 1990; Rosenblatt et al. 1989) were published, critics asked whether these effects were driven by thoughts of death, per se, or whether any aversive event or negative affective state yields the same effects. This led us to begin contrasting MS with control conditions in which participants were given parallel inductions regarding other unpleasant and threatening events, such as failure, uncertainty, worries about the future, general anxieties, mean-
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Abwehr als Alltagsgeschehen
inglessness, giving a speech in front of a large audience, social exclusion, paralysis, and physical pain; our strategy was to make the MS and control inductions parallel to each other but vary the specific aversive event about which participants were asked. The first of these studies showed that thoughts of worries about life after college did increase negative affect but did not increase worldview defense; thoughts of death, on the other hand, did not produce negative affect but did increase worldview defense (Greenberg et al., 1995). Well over 100 other studies have shown that MS produces effects different from thoughts of these other threats. These studies make it clear that not just any aversive event or threat leads to the effects that MS produces. (Pyszczynski, Solomon & Greenberg 2015)
Zwar berichten vereinzelt Studien davon, dass auch andere aversive persönliche Themen zu vergleichbaren Reaktionen führen (McGregor et al. 2001; van den Bos & Miedema 2000; Fritsche et al. 2008; Proulx & Heine 2008; Proulx & Heine 2009), allerdings spricht vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Datenlage viel dafür, dass alleine Todeserinnerungen in derselben Regelhaftigkeit und Zuverlässigkeit duale Abwehrmechanismen aktivieren, dass also die von der TMT beschriebene duale Abwehr spezifisch aus der Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit (bzw. aus der Vermeidung der durch diese Konfrontation ausgelösten Angstgefühle) resultiert und nicht etwa auf eine allgemeine Verunsicherung, Verstimmung oder anderweitige Konfrontation mit negativ konnotierten Themen zurückzuführen ist (Goldenberg et al. 2000). Schließlich bleibt zuletzt noch die Frage, wie alltagsrelevant die hier diskutierten Befunde sind: Mortalitätssalienz ist ja eine Folge experimenteller Manipulationen, durch die kurzfristig das Konzept der eigenen Sterblichkeit bewusst (supraliminal) oder direkt unbewusst (subliminal) aktiviert wird, und es mag auf den ersten Blick erscheinen, als ob derartige Aktivierungen lediglich im Labor stattfänden und daher auch kaum oder nur mit einigen Abstrichen auf unser alltägliches Erleben und Verhalten übertragbar seien. Gegen eine solche Einschränkung sprechen allerdings alle jene zahlreichen Studien, die unter alltagsnahen Bedingungen durchgeführt und dennoch die erwarteten Ergebnisse distalen Abwehrverhaltens gezeitigt haben. Hinzu kommt, dass wir im Alltag häufig ebenso bewusst wahrgenommenen und unbewusst verarbeiteten Todeserinnerungen ausgesetzt sind und uns auch bzw. gerade im Alltag fortwährend in 95 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Die Flucht in die Struktur
Situationen befinden, in denen sich die in der TMT beschriebenen Abwehrprozesse der kulturellen Weltsichtverteidigung und Selbstaufwertung entfalten können. Es spricht also tatsächlich viel dafür, dass die in der TMT beschriebenen Prozesse reale soziale Alltagsphänomene einfangen und abbilden, wenngleich sie auch im Alltag naturgemäß weniger leicht isolier- und nachweisbar sind als unter den hier beschriebenen Laborbedingungen. Es ist vor diesem Hintergrund eines der zentralen Verdienste der TMT, erstmalig die oft mehr intuitiven Ahnungen früherer Existenzphilosophen und -psychologen über den Zusammenhang zwischen existentiellen und sozialen Belangen in experimentell geordnet überprüfbare Aussagen übersetzt und gezeigt zu haben, dass, wenn wir uns mit der Todesfurcht und unserer existentiellen Verunsicherung auseinandersetzen, bzw. eigentlich: ihren emotionalen Kosten aus dem Weg zu gehen versuchen, wir uns nicht nur mit bewussten Einstellungen auseinanderzusetzen haben, sondern großteils mit unbewussten Aktivierungs- und Abwehrmechanismen. Was sich allerdings aus psychologischer Sicht als generatives Modell darstellt, legt zugleich aus philosophischer Sicht ein veritables Problem frei und mit ihm eine Herausforderung. Die hier vorgestellten Forschungsergebnisse verdeutlichen nämlich, dass die Auseinandersetzung mit dem Sterblichkeitswissen meist gar nicht mehr nur bewusst und rational stattfindet, sondern vielmehr – nach dem erfolgreichen Verdrängungsprozess, mitunter auch bloß nach dem Verstreichen einer gewissen Ablenkungsperiode – an unbewusste Abwehrgeschehen delegiert wurde. Eben hier liegt auch, wie bereits eingangs angedeutet, die Herausforderung einer empirisch informierten Philosophie der Sterblichkeitsbewältigung: Unbewusste Abwehrmechanismen sind bislang als solche nicht klassischerweise als Gegenstand einer philosophischen Auseinandersetzung in Erscheinung getreten. Eine solche befasst sich vielmehr und tritt in erster Linie in Dialog mit bewussten Inhalten: Was gedacht wird, was begründet wird und irgendwie begründbar ist, ist uns bewusst verfügbar und introspizierbar, ansonsten wäre es nicht argumentier- und kritisierund verhandelbar. Die TMT legt andererseits nahe, dass wir hier mindestens so sehr implizite »Philosophien« verhandeln müssen und diese, da unbewusst, zunächst kaum diskutabel sind, ohne dass sie zuerst festgestellt, d. h. bewusst gemacht werden. Genau das allerdings sollte sich als durchaus schwieriges Unterfangen erweisen, da wir von Prozessen sprechen, die nicht ohne Grund unbewusst sind: Ihnen liegt ja 96 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Abwehr als Alltagsgeschehen
Verdrängung zu Grunde und damit ein genereller Unwillen, sich bewusst und reflexiv mit der eigenen Sterblichkeit zu befassen. Und: Selbst wenn unter besonders günstigen situativen Voraussetzungen genügend Bereitschaft und Wille zur bewussten Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod aufgebracht würde, bleibt offen, wie erfolgreich die bewusste Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit das Abwehrverhalten soweit abzuschwächen helfen würde, dass die Grundlage dafür geschaffen wird, um über rationalere Strategien der Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit nachzudenken. Wir treffen auf dem Weg zu einer existentiellen Begegnung mit unserem eigenen Tod daher auf die Herausforderung, im Interesse einer philosophischen Analyse die Motive der proximalen und distalen Abwehr besser kennenlernen zu müssen, während zugleich diese Motive selbst längst schon ins Unbewusste abgesunken sind bzw. abgedrängt wurden, also der rationalen Analyse und Durchleuchtung gerade nicht mehr zugänglich sind. Man muss sich ihnen daher vorerst indirekt annähern: Denn wenn schon ihr Ausgangspunkt nicht bekannt ist, so ist es zumindest ihr Ergebnis: Weltsichtverteidigung und Selbstwerterhöhung.
97 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
3. Gehalte und Ziele der Abwehr
3.1. Gehalte und Ziele der distalen Abwehrmechanismen Es soll daher im Folgenden zunächst versucht werden, sich von den Folgen der Abwehr hin zu ihren Gründen zurückzuarbeiten, ausgerüstet aber immerhin mit den Hinweisen Beckers, auf deren Grundlage die TMT formuliert und in experimentell überprüfbare Aussagen übersetzt wurde. Die auf diese Weise generierten Befunde wollen ja immer noch, um verstanden zu werden, auf ihren funktionalen Wert hin analysiert werden – und zwar nicht nur unter dem Gesichtspunkt ihrer psychologischen Wirksamkeit als Weg innerpsychischer Angstregulation (wie von Becker und der TMT vorgeschlagen), sondern auch als Ausdruck einer unbewusst unterlegten Haltung und Weltbegegnung angesichts des Wissens um die eigene Sterblichkeit. Dem ersten Augenschein nach kann man der distalen Abwehr allerdings kaum unterstellen, sie dringe auch nur annähernd zum Kern des existentiellen Problems der Sterblichkeit vor. Es ist beispielsweise etwa der Weigerung, einem kritischen oder andersgläubigen Studenten intellektuelle Kompetenz oder Liebenswürdigkeit zuzugestehen oder einer mutmaßlichen Prostituierten eine neunmal höhere Kaution aufzubürden, kaum anzusehen, wo und wie dies in einen inhaltlich sinnvollen Zusammenhang mit dem Problem der eigenen Sterblichkeit gestellt werden könnte. Dennoch machte man es sich wohl wesentlich zu einfach, spräche man den distalen Abwehrmechanismen ihre Rationalität oder Themenrelevanz ab, nur weil sie ihrerseits nicht das Ergebnis sorgfältig elaborierten Nachdenkens sind. Schließlich ist es trotz allem anfänglich gegenteiligen Augenschein auch möglich, dass in den distalen Abwehrmechanismen tatsächlich Inhalte verborgen sind, die im eigentlichen Sinne existentielle sterblichkeitsrelevante Anliegen thematisieren und daher auch als Antwortversuche zur Frage, wie wir unserer Sterblichkeit sinnvoll begegnen können, geltend gemacht 98 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Gehalte und Ziele der distalen Abwehrmechanismen
werden können. Beziehungsweise wird diese Untersuchung sogar noch um einiges interessanter, wenn diese Antwortversuche nicht als sinnvoll geltend gemacht werden können; denn dann gilt es umso mehr zu untersuchen, welche Anliegen und Motivationen in Weltsichtverteidigung und Selbstwertstreben zum Ausdruck kommen und inwiefern diese vielleicht doch in der einen oder anderen Form in mittelbarer oder unmittelbarer Beziehung zu unvermuteten Facetten wenn schon nicht der Sterblichkeit selbst, dann zumindest der Sterblichkeitsangst stehen: Innerpsychische Geschehen könnten schließlich gleichermaßen unbewusst wie rational (oder zumindest adaptiv) und damit Spuren zu Aspekten des Sterblichkeitsproblems sein, die sich uns zunächst bewusst nicht erschließen wollen oder können. Es soll daher die nun folgende inhaltliche Analyse nicht bloß psychologisch beschreiben, wie der durchschnittliche Mensch mit dem Gefühl der Angst vor der Angst vor dem Tod umgeht; sie soll vielmehr auch eine Spurensuche nach Motiven sein – und eine solche hat eine gewisse Dringlichkeit schon deswegen, weil die meisten Befunde aus der TMT nahelegen, dass der abwehrende Mensch mit dem Verdrängen der eigenen Sterblichkeit nicht nur eine wichtige Wahrheit über sich selbst leugnet, sondern auch, dass er andere, vor allem Andersdenkende, zum Opfer seiner verdrängten existentiellen Ängste macht. Diese potentiell destruktiven Folgen der distalen Abwehr bilden zwar nicht eigentlich den Mittelpunkt unserer Untersuchung. Da aber die Folgen auch eine starke sozialethische Komponente haben, kommt man dennoch nicht ganz umhin, wenigstens auch darauf einzugehen, dass distales Abwehrverhalten auch eine moralische Dimension hat: Es werden andere Menschen zum Opfer der eigenen Todesverdrängung und -abwehr. Es ist zumindest unter diesem Gesichtspunkt die psychologische Genese der distalen Abwehr und ihrer Folgen daher von vorneherein weniger zentral als der Gehalt und die Wirkung dieser Art der vermeidenden Todesbegegnung bzw. -abwehr, zumal wir uns noch einmal vor Augen führen müssen, dass die distale Abwehr ohnedies nicht durchwegs unbewusst entstanden, sondern unter anderem lerngeschichtlich erworben ist, von einer vollständig unbewussten Genese also ohnedies nicht die Rede sein kann. Zweitens sind, wie bereits angedeutet, die Auslöser der distalen Verteidigung zwar nicht bewusst, aber es wäre dennoch eine unzulässige Verkürzung, würde man daraufhin dem gesamten Handlungsvollzug des distalen Abwehrmechanismus unterstellen, er laufe daher 99 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Gehalte und Ziele der Abwehr
ebenfalls durchwegs unbewusst und unkontrollierbar ab. Im Gegenteil zeigten die oben beschriebenen Studien aus der empirischen Primingforschung, dass die Unbewusstheit automatisch aktivierter Prozesse sich vor allem darin erweist, dass sie zwar Handlungstendenzen aktivieren, nicht aber, dass diese Handlungen selbst daraufhin ohne jedes Bewusstsein ausgeführt werden. Jene Versuchspersonen im oben erwähnten Experiment von Johnston und Macrae (1989) etwa, die hilfsbereitschaftsgeprimt waren, zugleich aber unter Zeitdruck standen oder lecke Stifte aufheben hätten sollen, erwiesen sich als immun gegen Primingeffekte, weil ein stärkerer bewusster Grund gegen das Aufheben der Stifte sprach; ebenso wie auch jene Versuchspersonen in Neubergs Experiment, denen kompetitives Verhalten im Gefangenendilemma dispositionell fernlag, nicht durch Priming zu aggressivem Verhalten verleitet werden konnten, weil stärkere (chronische) Charakterdispositionen die Aktivierbarkeit kompetitives Handelns begrenzten. Daher gilt es auch in Hinblick auf die distale Abwehr zu untersuchen, inwiefern situative oder persönliche – oder auch moralische oder ethische – Faktoren uns davor schützen können, uns im Rahmen von distalen Abwehrmechanismen zu moralisch fragwürdigem Verhalten verleiten zu lassen. Und schließlich geht es jenseits der bloßen Beschäftigung mit den Verhaltensfolgen der distalen Abwehr auch um die Aktivierbarkeit der distalen Abwehr selbst. Denn nicht zuletzt ist auch möglich – darauf werden wir noch weiter unten zurückkommen –, dass die Wirkung von Todesprimings ebenfalls konditional und unter anderem davon abhängig ist, ob das Denken an den eigenen Tod im Rahmen der proximalen Abwehr verdrängt wird oder nicht, oder auch genereller, welche Gefühle und Gedanken durch Todeserinnerungen unwillkürlich aktiviert werden. Denn Verdrängung bzw. das Abgleiten des Denkens an den eigenen Tod hin zum Rand des Bewusstseins geht, zumindest bei supraliminalen Todeserinnerungen, allem Anschein der weiteren Aktivierung der distalen Abwehr voraus – und zumindest von der proximalen Abwehr von Sterblichkeitserinnerungen wissen wir: Sie geschieht nicht zuletzt aktiv und bewusst. Damit findet sich hier ein weiterer Ansatzpunkt, an dem wir eine mögliche Grenzbedingung der Automatizität des von der TMT beschriebenen dualen Abwehrprozesses festmachen können. Wir können also vorab die Vermutung anstellen, dass der von der TMT beschriebene duale Abwehrprozess an mehreren Abzweigungen zwischen Todeserinnerung und vollzogener distaler Abwehr noch diskutabel ist – und 100 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Was Weltsichtverteidigung leistet
haben damit umso mehr eine Grundlage für die Notwendigkeit geschaffen, die distalen Abwehrmechanismen auf ihre Motivlage, ihre Rationalität und ihre Funktionalität hin zu durchleuchten. Mit diesen Vorüberlegungen sind auch bereits die Ziele einer solchen Analyse vorgezeichnet: Zum einen gilt es, zu verstehen, wo der rationale, oder zumindest unmittelbar thematisch relevante Kern der distalen Abwehrstrategien liegt bzw. ob es einen solchen rationalen Kern überhaupt gibt. Zum andern gilt es, die insgesamt negativ auf das Individuum oder sein Umfeld sich auswirkenden Aspekte der distalen Verteidigungsmechanismen offenzulegen, um sie diskutabel und damit gegebenenfalls auch änderbar zu machen.
3.2. Was Weltsichtverteidigung leistet Bei dem Versuch einer rationalen Analyse der distalen kulturellen Weltsichtverteidigung begegnen wir indes schon gleich zu Beginn einem ungewöhnlichen Tatbestand: Wir haben uns nämlich entgegen dem üblichen Weg des philosophischen Diskurses zunächst gar nicht mit konkreten Weltbildern selbst auseinanderzusetzen, sondern mit der Art der persönlichen Beziehung zu diesen Weltbildern, d. h. der starken Identifikation mit Weltbildern insgesamt, als die sich diese Form der distalen Abwehr äußert. Das Problem – oder zumindest das philosophisch Außergewöhnliche – besteht hier mit anderen Worten darin, dass wir angesichts ihres Einsatzes im Rahmen distaler Abwehrmechanismen zunächst gar nicht auf den konkreten weltanschaulichen Gehalt der jeweiligen kulturellen Weltsicht eingehen zu brauchen scheinen, dem sich der Mensch in der distalen Abwehrhaltung verschreibt, sondern auf die Tatsache, dass er sich überhaupt so stark einem Weltbild verschreibt. Der normalerweise diskursrelevante weltanschauliche Gehalt scheint somit relativ beliebig zu sein, sofern er nur die Funktion erfüllt, eine übergeordnete Identifikationsmatrix bereitzustellen, die als Angstpuffer und Garant symbolischer oder persönlicher Unsterblichkeit dienen soll. Einzig in Hinblick auf die Frage, ob die jeweils »verwendete« Weltanschauung nun persönliche oder symbolische Unsterblichkeit verspricht, kann man hier nennenswerte inhaltliche Unterschieden ausmachen; ansonsten erweist sich die eigentlich angstlösende bzw. angstvermeidende Strategie der kulturellen Weltsicht aber ohnedies nicht darin, einer ganz konkreten Ideologie zu 101 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Gehalte und Ziele der Abwehr
folgen, als vielmehr sich überhaupt einer dem jeweiligen Individuum vertrauten Ideologie bzw. kulturellen Weltsicht, hinzugeben. Daher könnte man leicht zum Schluss kommen, die Frage der rationalen Gültigkeit dieser Strategie werde damit schon im Vorfeld negativ beantwortet: Denn wenn eine Weltsicht gar nicht um ihrer selbst willen oder ihrer logischen Überzeugungskraft wegen angenommen und verteidigt wird, sondern bloß deswegen, weil die Identifikation mit dieser Weltsicht psychologische Entlastung bieten soll, und es dabei keine besondere Rolle mehr zu spielen scheint, worin genau diese Weltsicht besteht und wie sie zustande kam – etwa durch einen selbst erarbeiteten Überzeugungsprozess oder etwa bloß durch Tradition und Übernahme dieser Weltsicht von anderen –, dann ist der rationale Gehalt dieser Weltsicht offenkundig a priori vernachlässigbar. Aber es bleibt, wie bereits angedeutet, dennoch die wichtige Frage offen, ob hier nicht doch indirekte oder schwache Spuren des Rationalen zu finden sind, weil die psychologische Entlastungsfunktion selbst auch an sich einen (adaptiven) Wert darstellt. Denkbar ist schließlich auch, dass jemand nach eingehendem Nachdenken zur Schlussfolgerung gekommen ist, es gäbe keinen anderen Weg des akzeptablen Umgangs mit dem eigenen Tod als seine proximale Verdrängung und das Gewährenlassen der distalen Abwehr – und daher sei jede psychologische Fluchtmöglichkeit, die das Leben angesichts der Sterblichkeit einigermaßen erträglicher macht, mangels besserer Alternativen schon eine gute oder situationsangemessen vernünftige »Lösung«. Es ist allerdings zugleich angesichts der Datenlage äußerst unwahrscheinlich, dass man eine solche elaborierte Herleitung einer nennenswerten Zahl der Versuchspersonen der zitierten Studien unterstellen kann: Die Sicherheit, Regelmäßigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der zufällig ausgewählte Versuchspersonen den Tod zuerst verdrängen und dann distale Abwehrprozesse aktivieren, lässt es nicht sehr wahrscheinlich erscheinen, dass eine so tiefgehende existentielle oder rationale Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod stattgefunden haben wird, die der eben beschriebenen resignativen Schlussfolgerung vorausgehen müsste. Von einem solchen eingehenden Reflexionsprozess hätte man, wenn er so weit verbreitet wäre wie die proximale Abwehr selbst, irgendwann etwas merken, sich vielleicht auch selbst daran erinnern müssen. Wenn dagegen eine rationale Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit eben aufgrund weit verbreiteter Verdrängung gar nicht erst stattfindet, kann 102 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Was Weltsichtverteidigung leistet
man andererseits auch nicht davon ausgehen, dass die Versuchspersonen nach vorsichtiger und rationaler philosophischer Abwägung zum Schluss kamen, dass das Vermeiden des Denkens an den Tod und die distale Abwehr den »letzten Ausweg« aus dem existentiellen Dilemma darstellt, weil es eben keine andere Lösung gibt, als – wenn schon nicht die eigene unausweichliche Sterblichkeit selbst, so doch zumindest die damit einhergehende Angst – mit Hilfe der Abwehrmechanismen zurückzuweisen oder zu umgehen. Wenngleich daher ein durchdachtes, reflektiertes und rationales Zustandekommen der weltanschauungsgebundenen Todesabwehr äußerst unwahrscheinlich ist: Geht man der in der TMT beschriebenen Bewältigung von Tod und Todesangst rational nach, dann muss man, um der Zielvorgabe einer rationalen Analyse folgen zu können, zumindest versuchsweise so vorgehen, als ob es sich um rational diskutierbare Strategien handle. Mit dieser Zielvorgabe geht es folglich nicht so sehr um das Wie des Zustandekommens der distalen Weltsichtverteidigung, als vielmehr vorerst darum, was dieser Abwehrmechanismus wirklich leisten soll, leisten kann und tatsächlich leistet. Mit anderen Worten: Wie erfolgreich ist kulturelle Weltsichtverteidigung? Die erste Antwort auf diese Frage geben die Studien selbst: Sie ist zumindest insofern erfolgreich, als sie jedenfalls momentane psychologische Entlastung vom Sterblichkeitsproblem leistet. Das bezeugen die Auswertungen der Stimmungsfragebögen der mortalitätssalienten Versuchspersonen: Trotz Sterblichkeitserinnerung befinden sich die Versuchspersonen in der überwältigenden Mehrheit der TMT-Studien in einem von der Kontrollgruppe nicht unterscheidbaren affektiven Zustand. Angesichts der Tatsache, dass diese Versuchspersonen wenige Minuten vor der Stimmungserhebung an das allgemein aversiv gesehene Thema der eigenen Sterblichkeit und ihren langfristig unausweichlichen Tod erinnert wurden, ist die duale Abwehr also allem Anschein nach eine zumindest kurzfristig offenkundig erfolgreiche affektregulierende Strategie. Allerdings kann und muss darüber hinaus auch in Frage gestellt werden, ob jenseits der momentanen Affektregulation auch das Versprechen der emotionalen Entlastung von der kulturellen Weltsichtabwehr eingelöst wird. Gerade diese Gegenleistung der kulturellen Weltsichtverteidigung muss nämlich schon bei etwas genauerem Hinsehen höchst fraglich erscheinen – das defensive Verhalten distal abwehrender Versuchspersonen legt vielmehr nahe, dass Weltsicht103 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Gehalte und Ziele der Abwehr
verteidigung im Prinzip nur eines »leistet«: Sie löst die momentane von der Sterblichkeitserinnerung ausgelöste Angst ab, aber sie löst sie nicht auf. Genauer: Sie lenkt die Angst vom bedrohten Subjekt weg auf die jeweils übergeordnete und nun gegen Angriffe aller Art zu verteidigende Identifikationsgröße der Gemeinschaft und ihrer Normen. Das bedeutet allerdings, dass die Angst durch das Verlegen auf die distale Abwehr nicht eigentlich verschwindet, sondern bloß mit neuem Gesicht wieder hervortritt und sich auf den anderen projiziert – nämlich auf jeden anderen, dessen Lebenshaltung nicht dem eigenen kulturellen Weltbild entspricht oder dieses gar in Frage stellt. Das Grundgefühl der distalen Abwehr tritt mit anderen Worten nach wie vor als Grundgefühl der Bedrohung in Erscheinung – zwar nicht mehr als Bedrohung direkt durch das nunmehr erfolgreich verdrängte Sterblichkeitswissen, als Bedrohung dafür aber durch die bloße Existenz alternativer Weltsichten. Hinzu kommt, dass die distale Abwehr gerade in Hinblick auf die Todesfurcht selbst auffallend paradox und kontraproduktiv ist, schafft sie doch selber eine Vielzahl guter und realer Gründe dafür, sich bedroht zu fühlen von dem potentiell feindseligen Verhalten anderer, insofern wir davon ausgehen können, dass diese anderen ebenfalls in ihrer jeweiligen kulturverteidigenden Identifikations- und Projektionsfläche Schutz vor der inneren Dynamik der Todesfurcht suchen, wenn sie an ihre Sterblichkeit erinnert und mit anderen (also unseren) Weltmodellen konfrontiert werden. Die defensive kulturelle Weltsichtverteidigung schafft somit fraglos nicht nur vermeintliche, sondern auch jede Menge wirklicher Bedrohungen. Man halte sich in diesem Zusammenhang etwa vor Augen, dass Pyszczynski und Kollegen (2006) zeigen konnten, dass iranische mortalitätssaliente Collegestudenten mehr Zustimmung für und soziale Nähe mit Selbstmordattentätern empfanden und sich auch eher vorstellen konnten, selber Selbstmordattentate in den Vereinigten Staaten zu verüben (im Verhältnis zu einer nicht mortalitätssalienten Kontrollgruppe) und amerikanische mortalitätssaliente Studenten ihrerseits höhere Zustimmung zu extremen militärischen Interventionen (konkret dem Einsatz von Nuklear- und chemischen Waffen) zustimmten, durch die tausende von zivilen Opfern in Kauf genommen werden: Despite their differences, Americans and Iranians have something in common – thoughts of death increase the willingness of people from both nations to inflict harm on citizens of the other nation. The same
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Was Weltsichtverteidigung leistet
psychological inclinations that make them want to kill us make us want to kill them – regardless of which specific group is referred to by the words ›us‹ and ›them.‹ (Pyszczynski et al. 2006)
Derartige Befunde der TMT verdeutlichen: Die vermiedene Auseinandersetzung mit dem Wissen um den eigenen Tod stellt selbst eine Bedrohung dar. Doch neben den angesprochenen sozialen Kosten der kulturellen Abwehr müssen wir uns auch dem hohen Preis zuwenden, den das Individuum selbst zahlen muss, um erfolgreich Zuflucht in der Identifikation und Partizipation finden zu können. Gerade dieser Weg der distalen Abwehr der Flucht in starre Strukturen birgt nämlich zugleich die Gefahr, der freien Entfaltung der Möglichkeiten des Individuums im Weg zu stehen. Er gefährdet seine Flexibilität, seine Wandlungsfähigkeit, seine Neugierde, kurz: seine Lebendigkeit, und damit genau das, was auch der Tod gefährdet – mit dem entscheidenden Unterschied allerdings, dass der Tod selbst unverhandelbar ist, es aber auf der anderen Seite noch nicht ausgemacht ist, erstens ob dasselbe ebenfalls und in diesem Maße auch für die distale Abwehr gilt, zweitens ob sie überhaupt sinnvoll, drittens ob sie ein notwendiges Geschehen ist. Versucht der Mensch also, sich dem Bewusstsein der Sterblichkeit zu entziehen, indem er sich mit einer kulturellen Weltsicht identifiziert, läuft er Gefahr, im selben Maße seiner Individualität und Unabhängigkeit untreu zu werden. Der distal Abwehrende lebt somit zwar vielleicht nicht mehr bewusst unter dem Schatten der Angst vor der Vergänglichkeit, aber er lebt ein von Normen bestimmtes Leben, dessen geborgte und von anderen übernommenen Haltungen und Einstellungen selbst zudem noch immer wieder neu bestätigt werden müssen, damit sie ihre Funktion erfüllen können – wodurch er sich erst recht dagegen immunisiert, mögliche Irrtümer oder falsche Denkgrenzen dieser Weltmodelle als solche zu erkennen und zu überwinden. In der distalen Abwehr der kulturellen Weltsichtverteidigung verliert sich daher Offenheit und Individualität zugunsten einer entwicklungshemmenden Daseinshaltung, die sich aus bloß innerpsychischen Beweggründen eben jener dynamischen Unsicherheit verweigert, die jedem Lernen und im Grunde auch jeder neuen Erfahrung innewohnt. Mit anderen Worten tauscht der distal abwehrende Mensch nicht nur seine existentielle Verunsicherung, sondern auch seine Freiheit und seine Lebendigkeit und seine Möglichkeiten 105 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Gehalte und Ziele der Abwehr
gegen das Gefühl der Sicherheit ein – wie erwähnt vermutlich noch ohne, zuvor eingehend überprüft zu haben, ob es nicht auch weniger vermeidende und vor allem rationalere Wege zu existentieller Sicherheit geben könnte. Die kulturelle Weltsichtverteidigung grenzt damit auch den Wirkungsraum für den Protest des Gewissens gegen die in nahezu jedem System bestehenden blinden Flecken, seine Unstimmigkeiten, seine Ungerechtigkeiten und seine Untreue gegen die eigenen oft hehren Prinzipien; sie begrenzt somit auch den Raum und die Gelegenheit zu individueller wie kollektiver Entwicklung – und damit auch den Raum des verteidigten kulturellen Systems selbst. Denn Entwicklungsnotwendigkeit impliziert immer auch schon gegenwärtige Unvollkommenheit und Mangel – und ein unvollkommenes und mangelhaftes Weltbild ist zugleich eines, welches nicht in gleicher Weise Absolutheitsansprüche erheben und folglich auch nicht mehr im selben Ausmaß als schutzgebende Bastion gegen die Angst vor der Sterblichkeit dienen kann. Der psychologische Anspruch, die Identifikation mit einer kulturelle Weltsicht solle Sinn und Permanenz angesichts des Todes geben, behindert folglich gerade eben jene Entwicklungs- und Reformfähigkeit dieser Weltsicht, die sie erst relevant halten und ihre Gültigkeit erhöhen könnte. Der distal defensive Mensch wählt daher im Wesentlichen Stillstand als Ausweg aus der Angst, indem er sich und seine Weltsicht jeglicher Entwicklung zu entziehen versucht, die nicht zuletzt er selbst vorantreiben könnte, würde er von der bloßen Abwehr ablassen und sich wieder authentischer seiner Suche nach Entwicklung und Wahrheit widmen. So aber zeigt sich: Der Schritt von der Hoffnung und dem an das jeweilige Kultursystem gestellten Anspruch auf Permanenz einerseits und Stillstand jeglicher Entwicklung andererseits – und damit erst recht der Gefährdung der Kultur – ist klein. Hinzu kommt: Der distal abwehrende Mensch handelt nicht nur, er denkt auch unhistorisch, wenn er sich von der Identifikation mit der eigenen Weltsicht Dauer und symbolische Unsterblichkeit erhofft. Unhistorisch ist dieses Vorgehen schon deswegen, weil bereits ein kursorischer Blick auf die Ideengeschichte eines jedenfalls deutlich macht: Identifikation mit einer kulturellen Weltsicht mag zwar ein wenig Verlängerung, gewiss aber keine zeitliche Dauerhaftigkeit oder gar symbolische Unsterblichkeit gewähren. Der Glaube an die Permanenz gleich welcher übergeordneten kulturellen Weltsicht und 106 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Was Weltsichtverteidigung leistet
der für sie einstehenden Gemeinschaft verdankt sich allenfalls einem Zweckoptimismus, der die Gleichförmigkeit und Erhaltbarkeit der Kulturen aus psychologischen Gründen voraussetzen will, während eine historisch informiertere Sicht auf ausnahmslos jede Kultur und Gruppenidentität offenbart: Auch sie wird vergehen oder sich auf Dauer zumindest derart grundlegend ändern, dass von Bewahrung im engeren Sinne keine Rede mehr sein kann. Am Beispiel hierarchisch organisierter und damit oft stark traditionsorientierter Kulturen wird die Ironie der distalen Weltsichtverteidigung als Weg zur symbolischen Unsterblichkeit besonders anschaulich: Wie viele Menschen etwa haben Jahre ihres Lebens dem Erhalt und der Verteidigung von Kulturnormen und Glaubensaussagen gewidmet, die schon bald darauf innerhalb dieser Kultur ex cathedra für obsolet erklärt wurden – man denke beispielsweise an die nunmehr längst aufgegebenen kirchlichen Abwehrkämpfe gegen Galilei oder Darwin? Vielleicht kann man es, zumindest unter rein funktionalen Gesichtspunkten, gleichsam als Gnade des Schicksals ansehen, dass es diesen seinerzeitigen Abwehrkämpfern erspart blieb, ideenhistorische Entwicklungen zu erleben, die sie selbst nur als Verrat der eigenen Ideen- und Kulturgemeinschaft an ihren Diensten an eben dieser Kultur auffassen konnten: Wenn etwa Glaubenssätze, »Wahrheiten« und Traditionen, für die sie im Namen ihrer Kultur und unter hohem persönlichen Einsatz kämpften, schon innerhalb weniger Jahrzehnte von den ihnen vorgesetzten Hierarchien aufgegeben wurden. Allerdings: Wirkliche »Gnade« wäre dies nur, wenn man eine grundlegend utilitaristische Position einnehmen würde, der zufolge diesen Menschen eben doch gedient war, insofern sie in ihrem Abwehrkampf gegen die Modernisierung zumindest für sich selbst einen subjektiv gültigen Weg fanden, vor der existentiellen Konfrontation bewahrt zu werden oder sich sonst wie nützlich zu fühlen. Aber wenn wir uns zugleich vor Augen halten, dass die Vergeblichkeit des Abwehrkampfs gegen Veränderung und Modernisierung einer kulturellen Weltsicht nicht nur die Menschen der Vergangenheit betrifft, sondern auch gegenwärtige und zukünftige, die sich hingebungsvoll einer Sache widmen, die bald innerhalb des verteidigten und identitätsstiftenden Systems bereits vergessen, überwunden oder schlicht von ihrer Zeit überholt sein wird, wird man weniger leichtfertig darüber hinweggehen, dass im Namen der Weltsichtverteidigung Lebensjahre und -möglichkeiten (und manchmal auch Men107 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Gehalte und Ziele der Abwehr
schenleben) geopfert werden, während sich vielfach schon bald erweisen wird, dass all diese Opfer buchstäblich umsonst geleistet werden. Selbst wenn man also das Engagement zur Bewahrung einer Weltsicht für andere als Abwehrweg gelten lassen mag, stellt sich doch auch die Frage, ob wir selbst bereit wären, unsere Kräfte und Fähigkeiten – und manchmal unser Leben – für eine Sache einzusetzen, die entgegen allen erdachten symbolischen oder persönlichen Unsterblichkeitsmotiven ebenfalls bereits den Keim des Vergänglichen oder Überwundenen in sich trägt. Der Versuch, über die Identifikation mit und Verteidigung von einer vergänglichen Kultur symbolisch oder wirklich Halt und Dauer zu finden, trifft daher ebenso wenig den Kern des Problems der Vergänglichkeit wie die proximale Verteidigung, die darin besteht, den Tod bewusst möglichst weit in die Ferne zu rücken. In dem einen oder anderen Fall gewinnt der Mensch etwas Zeit: Das Vergehen kommt für ihn zwar etwas später zur Geltung, aber es kommt natürlich dennoch unaufhaltsam. So erweist sich das Projekt der Erlangung von symbolischer Unsterblichkeit durch Kulturverteidigung letztlich als eine Utopie, von der man zugleich bei genauerer Durchsicht nur hoffen kann, dass sie sich nie erfüllen möge. Denn erfüllte sie sich, hieße das Stillstand und Versteinerung und damit gerade die Abwesenheit jeglicher Lebendigkeit und Entwicklungsfähigkeit dieser Kultur und des sich mit ihr identifizierenden Individuums. Wie sehr man sich daher auch bemüht, rational brauchbare Lösungs- oder Bewältigungshinweise auf das Sterblichkeitsproblem in der Weltsichtverteidigung zu finden: Man wird nicht fündig. Das Versprechen der Anbindung an eine bestehende kulturelle Weltsicht – symbolische Unsterblichkeit – bleibt somit ein leeres, da Kulturen sich entweder wandeln, also ohnedies einer fortlaufenden Evolution unterworfen sind, oder bereits im Sterben begriffen oder überhaupt schon tot sind und nur daher unveränderlich. Das führt nun zu einem letzten, bereits eingangs dieser Diskussion kurz angedeuteten Argument. Dieses hat weniger mit der Frage zu tun, ob das Projekt Weltsichtverteidigung überhaupt als Abwehrversuch erfolgreich realisieren lässt, sondern vielmehr damit, dass der exklusive Blick auf die Funktion der Weltsichtverteidigung von vorneherein den Blick auf die philosophisch viel zentralere Frage verstellt, ob die jeweils zur Abwehr »eingesetzte« Weltsicht als solche rational zu verteidigen ist. Innerhalb der TMT wird dies aus vermutlich zwei Gründen verhältnismäßig selten diskutiert: Zum einen ge108 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Was Weltsichtverteidigung leistet
staltet sich die Verteidigung der Weltsicht schon in der Durchführung selbst selten rational, sondern wird in der Regel in Form von Verzerrung, Abwertung, Stereotypisierung, Vorverurteilung, Ablehnung und bisweilen auch Aggression gegen Vertreter anderer Weltsichten ausgetragen. Zum anderen betrachtet die TMT als psychologische Theorie die kulturelle Weltsicht ohnedies primär unter dem funktionalen Gesichtspunkt der Abwehr und weniger als Versuch einer direkten inhaltlichen Antwort auf das Problem der Sterblichkeit selbst. Aus philosophischer Sicht bzw. überhaupt im Sinne einer vernünftigen Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit kann man es sich indessen so leicht nicht machen. Es stünde dann nämlich im Gegenzug ausnahmslos jede kulturelle Theorie und jedes Weltmodell, auch solche, die sich ernstlich um Rationalität bemühen, unter dem Generalverdacht, diesen Anspruch bloß um ihrer Selbsterhaltung oder der Abwehr willen zu erheben; und es würde andererseits jedem noch so offenkundig unvernünftigen Weltbild eine gewisse Gültigkeit zugesprochen werden müssen, weil es für einige Individuen die funktionale Rolle eines psychologischen Abwehrvehikels einnimmt. Zwar ist hier nicht der Ort, eine eingehende Analyse über Wahrheit und Konstruktion und psychologische Abwehrprozesse vorzunehmen; dennoch kommt man nicht umhin, darauf hinzuweisen – und sei es nur, weil es innerhalb der einschlägigen TMT-Literatur so selten getan wird –, dass die funktionale Rolle einer Weltsicht keinerlei positive oder negative Rückschlüsse über die rationale Haltbarkeit der jeweiligen Weltsicht erlaubt. Die Tatsache, dass eine bestimmte Weltanschauung unter dem Eindruck der Mortalitätssalienz umso vehementer verteidigt wird, sagt also viel aus über die psychologische Verarbeitung und Vermeidung des existentiellen Dilemmas, sie sagt aber noch überhaupt nichts aus über die logische Haltbarkeit und rationale Gültigkeit dieser Weltanschauung. Soweit können wir aber zumindest in Bezug auf die Frage nach der rationalen Tragbarkeit der kulturellen Weltsichtverteidigung sagen: Offenbar ist das Bemühen um Gewissheit und absolute, allgemeingültige Aussagen nicht alleine nur wahrheitsmotiviert, sondern auch Ausdruck des Versuchs, eine als prekär wahrgenommene existentielle Situation psychologisch bewältigbar zu machen. Das mag die Anfälligkeit vieler Menschen dafür steigern, relative Sichtweisen zu verabsolutieren und diese bis hin zum Fanatismus zu verteidigen. Aber das schließt natürlich dennoch nicht aus, dass wir in der Lage sind, über die bloße psychologische Bedürftigkeit hinaus 109 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Gehalte und Ziele der Abwehr
auch vernunftgeleitet zu gültigen Aussagen über die Wirklichkeit (und die Sterblichkeit) hinzufinden. Mit anderen Worten ist die psychologische Funktion einer Weltsicht unabhängig von ihrer logischen Konsistenz: Es gibt Weltanschauungen, die in sich widersprüchlich sind, die fortwährend ihre eigenen Versprechungen nicht einzulösen in der Lage sind oder die von ihren Ausgangsbedingungen her schlicht zu unwahrscheinlich sind, um überhaupt als Kandidaten rationaler Erkenntnis in Frage zu kommen, auch wenn sie nicht als distale Todesabwehr eingesetzt werden. Andere mögen Rationalitätskriterien schon eher gerecht werden und trotzdem in der distalen Abwehr eingesetzt werden. Es gibt hier also grundlegende qualitative Unterschiede, die weit über die bloße Funktionalität der jeweiligen Weltsicht hinausreichen. Soweit zur Analyse der distalen Abwehr der kulturellen Weltsichtverteidigung und ihrer Haltbarkeit, bzw. zu ihrer Fähigkeit, die in sie gesetzten Hoffnungen zu erfüllen: Sie erfüllt sie nicht, sagt diese Analyse. Zum Zweck der momentanen Entlastung unangenehmer Gefühle ist sie etwas geeignet, sagt diese Analyse hingegen unter einem rein funktionalen Gesichtspunkt. Aber sie sagt auch, dass diese momentane Entlastung nur gegen einen hohen Preis und auch dann nur kurzfristig gelingen wird: Die Angst verschiebt sich, aber sie bleibt als Grundgefühl bestehen. Der Tod steht nicht mehr im Mittelpunkt des Bewusstseins, aber die eigentliche Lebendigkeit, die Authentizität und Freiheit des Individuums leidet in der distalen Abwehr paradoxerweise schon lange vor dem Tod selbst unter seiner Verdrängung. Damit bedroht die distale Abwehr der kulturellen Weltsichtverteidigung paradoxerweise genau das, was mit dem Leben verteidigt werden will: nicht nur das bloße Leben als solches, sondern auch die persönliche, freie Entfaltung und Entwicklung des Individuums.
3.3. Was Selbstwertsteigerung leistet Soviel zunächst zur Verteidigung der kulturellen Weltsicht und ihrer rationalen Haltbarkeit und Funktionalität. Der zweite distale Abwehrweg besteht in der Anhebung und positiven Verzerrung der Selbstwertwahrnehmung. Ebenso wie bei der Identifikation mit einer Weltanschauung der Inhalt dieser Anschauung selbst zunächst keine Rolle spielt, wird auch der Selbstwert als Angstpuffer im Rahmen der 110 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Was Selbstwertsteigerung leistet
TMT primär funktional definiert: Mortalitätssalienz steigert demnach das Bedürfnis, dem eigenen Selbst Wert zuzusprechen, und dieses gesteigerte Bedürfnis führt, wie wir gesehen haben, regelmäßig zu bedürfniserfüllenden, d. h. selbstwerterhöhenden Selbstund Fremdwahrnehmungsverzerrungen. In dem Moment aber, in dem wir uns jenseits dieser bloß funktionalen Bestimmung fragen, was Selbstwert als genuiner Ausdruck einer begründbaren Wertung bedeutet, erschließt sich ein anderes Bild: Zur Frage steht dann nämlich nicht nur, ob wir uns wertvoll fühlen (weil wir uns wertvoll fühlen wollen), sondern auch, ob diesem Gefühl eine objektive Grundlage zugewiesen werden kann, die nicht nur aus dem Bedürfnis nach Selbstwert als Mittel der Affektregulation hergeleitet wird. Somit ist, wie auch beim ersten distalen Abwehrweg der kulturellen Weltsichtverteidigung zunächst zu klären, ob ein positives Selbstwertgefühl sich bloß aus innerpsychischen Mechanismen nährt, ob sich ein solches mit anderen Worten überhaupt unabhängig von objektiven Wertungen realistisch entwickeln kann. Was eben für Weltbilder galt, kann man demnach hier auch für Selbstbilder in Anschlag bringen: Wenn man eine direkte Steigerung von Selbstwertgefühlen und Anerkennung anstrebt, ohne einen guten Grund vorzuweisen, also etwa als Vor- und Gegenleistung etwas Wertvolles oder Anerkennenswertes zu tun oder zu sein, gewinnt die Welt eine im wesentlichen inexistentielle Qualität: Sie ist kein Ort der individuellen und persönlichen Bewährung und Möglichkeit mehr, sondern etwas, von dem wir glauben oder hoffen, dass es uns Anerkennung schulde oder zumindest unsere positiven Illusionen nicht unterminieren solle, weil wir auf diese Illusionen angewiesen zu sein glauben, um unverarbeitete existentielle Ängste abzuwehren. Es ist allerdings leicht einsichtig, welches Abhängigkeitspotential sich aufzubauen droht, wenn das Selbst erst und fortwährend Bestätigung durch sich selbst oder andere erfahren muss, um zu wissen, dass es sicher existiert und »gut« ist, ohne dass es notwendig eigene und ehrliche Selbsteinschätzungen diesem Wertgefühl zugrunde legen kann. Man erinnere sich an die von Frankl beschriebenen Fehlhaltungen des Konformismus und Totalitarismus: Was die anderen tun oder sagen oder von einem zu tun oder zu sagen erwarten, soll einen bestimmen, denn nur dann sei man real und gegen unangenehme Gefühle, die die existentielle Konfrontation hervorrufen könnte, zumindest für einige Zeit und wenigstens einigermaßen gefeit (s. o.). Das Verlangen nach einem bestätigten Selbstwertgefühl entlarvt sich 111 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Gehalte und Ziele der Abwehr
aus dieser Perspektive im Grunde also als schon vor jeder weiteren inhaltlichen Analyse als Abhängigkeit des Selbst von den Rückmeldungen und Einschätzungen anderer. Und wie bei anderen Abhängigkeiten gilt: Ein solches auf Rückmeldung und Bestätigung angewiesenes Selbst ist nicht stark, autonom und lebendig; vielmehr steht es unter der dauernden Bedrohung, dass dieses Verlangen durch andere nicht gestillt wird und es sich damit erst recht wieder als gefährdet und unsicher erlebt. So zeigt sich auch hier: Wieder verschiebt sich die distal abgewehrte Angst bloß, ohne jemals eigentlich und im Kern gelöst worden zu sein. Nun bleibt aber jenseits dieser offenkundigen Problematik des defensiven Selbstwertstrebens noch die eigentliche Frage zu klären, was genau am gesteigerten Selbstwertgefühl die existentielle Verunsicherung angesichts der eigenen Sterblichkeit zu lösen vermag: Nach wie vor lautet das Untersuchungsziel ja, uns über den Weg ihrer rationalen Analyse von den Folgen zu den Ursachen und Gründen der distalen Abwehrwege zurückzuarbeiten. Eine solche Analyse ist allerding auch vonnöten – denn zumindest auf den ersten Blick will sich kaum ein überzeugender Zusammenhang zwischen Selbstwertgefühl, existentieller Verunsicherung und Todesfurcht erschließen. Allenfalls kann man vorschlagen, es bestünde hier zumindest insofern eine inhaltlich sinnvolle Beziehung, als dass das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit zugleich ein Bewusstsein der eigenen geringen Kontrolle gegenüber der Natur oder dem Schicksal nahelegt. Diese Selbstwahrnehmung der Vulnerabilität und des Ausgeliefertseins untergräbt Kontrollillusionen, die vielleicht auch gerade deswegen aufrechterhalten werden, weil sie ein erhöhtes Selbstwertgefühl vermitteln. Aber ebenso wie gefühlter Selbstwert nicht notwendig wirklicher oder »objektiver« Selbstwert ist, ist gefühlte Kontrolle (oder verdrängter Kontrollverlust) notwendig wirkliche oder wiedergewonnene Kontrolle. Wer daher durch die Rückmeldung anderer Selbstwert- und Kontrollgefühle zu entwickeln versucht, gibt in demselben Maße die Kontrolle über sein Selbst aus der Hand, indem er auf andere angewiesen wird, die ihn und seinen Selbstwert bestätigen bzw. Bedingungen an diese Selbstwertbestätigung knüpfen, die er sich andernfalls womöglich gar nicht zu eigen gemacht hätte. Diese Bruchlinien und Widersprüche, die sich an dieser Stelle in Hinblick auf Selbstwertgefühle auftun, scheinen nun allerdings derart grundlegend, dass es für die weitere Analyse der selbstwertverzerrenden distalen Abwehr zunächst sinnvoll ist, 112 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Was Selbstwertsteigerung leistet
Begriff und Konzept des Selbstwertgefühls etwas genauer auszuloten und zunächst eine Unterscheidung vorzunehmen zwischen Selbstwertwissen und Selbstwertgefühlen. Dazu ein Bestimmungsvorschlag: Demzufolge soll gelten, dass Selbstwertgefühle primär affektive Regungen und als solche selten auf relevante Sachverhalte und objektive Korrelate außerhalb des Subjekts und seiner Bedürfnisse selbst verwiesen, sondern primär phänomenal sind – etwa, weil andere uns die Rückmeldung geben, dass wir in irgendeiner Weise lobenswerte Eigenschaften haben und wir diese Rückmeldung annehmen mitsamt den sich daraufhin einstellenden gesteigerten Selbstwertgefühlen. Diese Gefühle werden erlebt, ebenso wie die Überzeugung, dass eine bestimmte Weltsicht die einzig wahre ist, erlebt wird, durch das bloße So-Erleben indessen aber noch lange nicht geklärt ist, ob dieses Erleben überhaupt vernünftig haltbar ist. Das weniger funktionale oder dem bloßen Bedürfnis nach Anerkennung von außen geschuldete positive Selbstwertwissen dagegen zeichnet wesentlich aus, dass es sich von einem gegenständlichen Sachverhalt ableitet: In unseren eigenen Augen sind wir wertvoll aus diesem oder jenem nachvollziehbaren Grund – etwa, weil wir sehen, dass etwas, das wir getan haben, in diesem Augenblick zu tun richtig und sinnvoll war – unabhängig davon, ob es die Zustimmung oder Ablehnung anderer oder gar keine Beachtung findet, und auch nicht nur aufgrund einer Laune oder eines affektiven Bedürfnisses, das gelegentlich unsere Neigung zu positiven Illusionen über uns selbst oder unser Streben nach Anerkennung steigert. Sichtbar wird der Unterschied zwischen Selbstwertgefühl und Selbstwertwissen auch mit Blick auf ihre zeitliche Entwicklung: Das Selbstwertgefühl ist fortlaufend Schwankungen unterworfen – es kommt und geht in Abhängigkeit davon, ob es seine Bedürfniserfüllungsfunktion verloren hat, oder noch einfacher, weil Zeit verstreicht und Gefühle generell flüchtig sind und bald von anderen Erlebnisinhalten abgelöst werden; oder auch deswegen, weil wir von anderen im Regelfall nicht die Anerkennung erhalten, die wir zu glauben brauchen oder etwa in der Mortalitätssalienz tatsächlich zur Affektregulation benötigen. Ein solches Erleben ist daher vergänglich aus sich selbst heraus: Die Launen und Gefühle, die einerseits das Streben nach Anerkennung oder andererseits das Erleben von positiven Illusionen über uns selbst bestimmen, kommen und gehen mehr oder weniger selbsttätig (vgl. Batthyány 2017, 185). Deutlich werden die Unterschiede zwischen beiden Formen des 113 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Gehalte und Ziele der Abwehr
Selbstwerterlebens auch an der Art und Weise, wie das positive Selbstwertgefühl bzw. das positive Selbstwertwissen sich im Laufe der Zeit entwickeln: Das positive Selbstwertgefühl vergeht, wenn es seine Bedürfniserfüllungsfunktion verloren hat oder schlicht, weil Zeit verstreicht und Gefühle in der Regel flüchtig sind und rasch von anderen abgelöst werden; oder auch weil uns andere in der Regel nicht fortwährend die Anerkennung zukommen lassen, die wir zu brauchen glauben. Ein solches Erleben ist daher vergänglich aus sich selbst heraus: Die Launen und Gefühle, die einerseits das Streben nach Anerkennung oder andererseits das Erleben von positiven Illusionen über uns selbst bestimmen, kommen und gehen mehr oder weniger selbsttätig (vgl. Batthyány 2017). Das positive Selbstwertwissen dagegen ist ebenfalls vergänglich, aber der Grund seiner Vergänglichkeit ist ein anderer. Es ist vergänglich, weil sich die Gründe ändern: weil wir etwa fortwährend Dinge tun, von denen wir uns selbst eingestehen müssen, dass wir mit ihnen unseren Idealen, Werten und unserer Verantwortung nicht entsprochen haben und daher vor dem Hintergrund unserer eigenen Wertefühligkeit dieses oder jenes Tun oder Unterlassen ein schlechtes Licht auf uns wirft und wir uns eingestehen: Wirklich uneingeschränkt wollen wir uns selbst nicht zustimmen und zu unseren Entscheidungen und Handlungen beglückwünschen. Entscheidend ist hier: Ein aktives, verantwortliches und erlebnisbewusstes Element zeichnet das Selbstwertwissen sowohl in seinem Gewinn als auch in seinem Verlust aus – das Wissen um den Selbstwert wird nicht bloß erlebt, herbeigewünscht oder über den Umweg verzerrter Selbstwahrnehmung oder Anpassung gewonnen; es wird verdient oder verdientermaßen wieder eingebüßt (ibid.). Das Paradoxe am defensiv begründeten Selbstwertgefühlsstreben ist, dass es wiederum – ebenso wie die defensive Verteidigung der kulturellen Weltsicht – einer wirklichen und reifen Entfaltung des Menschen und seiner Fähigkeiten – und damit dem Selbstwertwissen – grundlegend im Wege steht. Denn im Verharren bei und Kreisen um sich selbst und der Frage, was andere über dieses Selbst denken und sagen, oder wie bedürftig dieses Selbst in diesem Augenblick sich erleben mag, geschieht es wiederum allzu leicht, dass der Mensch nun ausgerechnet für die zahllosen Möglichkeiten erblindet, die sich ihm bieten, um seine Fähigkeiten einzusetzen und sich damit tätig eine solidere, weil realistischere Grundlage für das rationale Bewusstsein seines Werts zu schaffen – unabhängig von dem, was an114 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Was Selbstwertsteigerung leistet
dere sagen, erwarten, denken, und unabhängig auch von den Launen und momentanen Bedürfnissen dieses Selbst. Daher wohnt dem Versuch, sich normkonform und anerkennenswert zu verhalten, um Anerkennung und Selbstwertgefühl zu erhalten, etwas zugleich zutiefst Inauthentisches und Unreifes inne. Unreif ist es etwa, bestimmte, weithin oder im Geltungsbereich bestimmter Normsysteme als »gut« anerkannte Handlungen nicht etwa zu setzen, weil man selbst sie als richtig oder gut erkannt hat, sondern weil es sich bloß gut anfühlt, von anderen für diese Handlungen Anerkennung ausgesprochen zu bekommen. Mitglieder helfender Berufe etwa verwirklichen idealerweise ihre in den meisten Kultur- und Normsystemen als wertvoll anerkannte Hilfsbereitschaft nicht bloß, weil sie sich selbst verwirklichen und auf diese Weise ein gutes Selbstwertgefühl über den Dank der ihnen anvertrauten Hilfesuchenden verdienen wollen; sie verwirklichen ihre Hilfsbereitschaft am Hilfesuchenden für den Hilfesuchenden selbst oder aus einem Gefühl der Verantwortung heraus. Bei jeder anders gelagerten Motivlage wäre es weithin erkennbar fehl am Platz, von Selbstlosigkeit und Hilfsbereitschaft zu sprechen, wenn die Handelnden im Grunde ohnehin mehr an sich selbst, an Anerkennung oder an ihrer Selbstverwirklichung interessiert sind als am Hilfesuchenden selbst. Diese schon alltagsphilosophisch leicht zu erschließenden Zusammenhänge weisen nicht zuletzt auch darauf hin, dass die vermeintlich »direkte« Methode der Selbstwertgefühlsteigerung als bloße Bedürfniserfüllung eines nach Anerkennung hungernden Selbst grundlegend wertegefährdend ist – und damit erst recht eben jenes Fundament riskiert, auf dem ein begründbares Selbstwertwissen ruht (ibid.). Es ist aber das Tun und Unterlassen bloß oder primär um der Anerkennung willen nicht der einzige Weg der selbstwerterhöhenden distalen Abwehr. Andere Wege sind: positive Illusionen und selbstwertdienliche Verzerrungen in der Eigenwahrnehmung. Die sozialpsychologische Forschung sagt uns über diese Wahrnehmungs- und Deutungverzerrungen: Ihnen liegt jeweils ein mitunter beachtlicher Mangel an Realismus zugrunde. Wie immer auch im Einzelnen die Wahl der Methode einer verzerrten Erhöhung des Selbstwertgefühls ausfallen und wie fragwürdig diese Methode gegenüber einer realistisch begründeten Selbsteinschätzung auch erscheinen mag, unsere eigentliche Frage lautet ja nach wie vor, in welchem vernunftgemäßen Verhältnis Selbstwertgefühl und Sterblichkeitswissen zueinander stehen – und man kann bereits vor aller weiteren Analyse 115 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Gehalte und Ziele der Abwehr
ausmalen, wie das Resultat dieser Analyse lauten wird, wenn zu Beginn dieser Analyse ein Mangel an Realismus als Grundlage defensiven Selbstwertstrebens steht. Aber: In diesem Zusammenhang findet sich womöglich zumindest eine positive Antwort auf die Frage nach der Rationalität des defensiven Selbstwertstrebens: Gerade dadurch nämlich, dass mit dem Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit der Verdacht in uns reifen kann, dass eine Seinsordnung, die unseren Lebensdurst und letztlich uns selbst so leichtfertig dem Tod preiszugeben bereit ist, uns keine besondere Rolle und keinen außerordentlichen Wert zugedacht haben kann, müssen wenigstens wir selbst uns eine besondere Rolle zusprechen. Da mag es sehr wohl als Ausdruck einer inhaltlich angemessenen Auseinandersetzung deutbar sein, wenn man dem vermeintlichen Desinteresse des Lebens an unserer individuellen Größe gleichsam in der Revolte entgegenhält, zumindest man selbst sehe den eigenen Wert und das eigene Ausgezeichnetsein, auch wenn die natürliche Ordnung der Dinge einem nicht viel Bedeutung zuzugestehen bereit zu sein scheint. Gerade also weil der Einzelne sterblich ist und eine resignierte Sicht auf sein eigenes Dasein die Befürchtung an ihn herantragen kann, nur eine flüchtige Erscheinung des Lebendigen zu sein, ist die Suche nach der Bestätigung, dass er dennoch mehr ist als nur diese flüchtige Erscheinung zwar nicht notwendig vernünftig aufrechterhaltbar (es ändert sich ja nichts an dieser biologisch prekären Situation außer dem eigenen Empfinden), aber sie ist ein verständliches und inhaltsnahes Aufbegehren und so gesehen hinreichend themenrelevant. Und doch sind Zweifel auch hier angebracht. Denn es »löst« zwar die Aufwertung des Selbstwertgefühls die Angst vor der Bedeutungslosigkeit durch die Entscheidung, sich selbst nicht als bedeutungslos zu erachten. Aber es löst sich dadurch nicht die Todesfurcht und das Problem des Sterblichkeitswissens selbst. Das Selbstwertgefühlstreben greift somit zwar immerhin nach einer der in Folge der eigenen Sterblichkeit auftauchenden Fragestellungen; es beantwortet aber nicht die durch den eigenen Tod selbst aufgeworfene eigentliche Kernfrage der Bewegung vom Sein in das Nichtsein. Wenn wir das weiter durchspielen, wird es im Gegenteil schwerer, nachzuvollziehen, inwieweit die Aufwertung der eigenen Person das Problem der Sterblichkeit abschwächen und nicht noch steigern sollte. Ist es nicht vielmehr so, dass der Verlust von etwas besonders Wertvollem als bedauerlicher empfunden wird und der eigene Tod 116 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Was Selbstwertsteigerung leistet
folglich umso mehr zu fürchten ist? Fürchten wir nicht gerade für und nur um das, was es Wert ist, Gegenstand unserer Sorge und unseres Sehnens zu sein, nicht hingegen den Tod und das Vergehen dessen, dessen Fortgang ohnehin keine Lücke hinterlassen würde oder am Ende gar wünschenswert wäre? Unter diesem Blickwinkel wird nun selbst innerhalb der Binnenpsychologik der distalen Abwehr durch Steigerung des Selbstwertgefühls noch schwerer nachvollziehbar, wie Selbstaufwertung die Furcht vor der eigenen Sterblichkeit mindern und die damit einhergehenden existentiellen Verunsicherungen lindern sollte; und das Nachvollziehen fällt einem noch schwerer, wenn wir die eigene Sterblichkeit nicht in Hinblick auf ihren Endpunkt, den Tod, betrachten, sondern in Hinblick auf den meist langen Lebensvorgang, der zum Tod hinführt. Wir erinnern uns: Das Denken während der Phase der proximalen Abwehr ist hauptsächlich damit befasst, den eigenen Tod zeitlich und gedanklich möglichst weit in die Ferne zu verlegen – mit anderen Worten, ein hohes Lebensalter zu erreichen. Gerade dieses hohe Lebensalter wird aber mit dem damit in Kauf zu nehmenden Alterungsprozess meist auch mit einer Schwächung und dem Abbau gerade jener Fähigkeiten und Eigenschaften einhergehen, die in TMT-Studien als Quellen des Selbstwertgefühls nachgewiesen wurden – der eigene Körper, seine Gesundheit, seine Schönheit, seine Jugendlichkeit, ein einwandfreies Gedächtnis, feinmotorischen Fingerfertigkeiten usw. – all das wird im Laufe der Jahre zurückgehen, weil nichts weniger von Dauer ist als Jugend: Fähigkeiten werden abnehmen, und selbst noch die Identifikation mit derzeit erfolgreichen Gruppen (etwa Militärs, Politikern, Parteien und selbst noch Sportmannschaften) wird langfristig hinfällig angesichts der Tatsache, dass eben jene Eigenschaften und Fähigkeiten, mittels derer auch diese stellvertretenden Leistungsträger und Identifikationsobjekte so erfolgreich sind, ebenso vergänglich sind wie unsere eigenen individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten. Kurz: Wie das Leben, sind auch Fähigkeiten vergänglich; also ist das Ermessen des eigenen Wertes aufgrund des bloßen Vorhandenseins (statt sinnvollen Ausschöpfens) dieser vergänglichen Fähigkeiten keine vernünftig haltbare Grundlage eines inneren Schutzes vor der durch die eigene Sterblichkeit und die Vergänglichkeit der Dinge und ihrer Eigenschaften verursachten Verunsicherung. Das Dilemma lautet folglich, dass ein defensiv gesteigertes 117 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Gehalte und Ziele der Abwehr
Selbstwertgefühl entweder den eigenen Tod bedauerlicher machen und damit das existentielle Dilemma nur verstärken sollte, oder wir erkennen müssen, dass es insgesamt auf Sand gebaut ist, weil seine Gründe ebenso vergänglich sind wie das Selbst auch. Dass die Sucht und Suche nach Anerkennung aber auch ohne die Perspektive der körperlichen Gebrechlichkeit psychohygienisch problematisch sein kann, zeigen vor allem die Arbeiten von Crocker und ihrem Team. So weisen Crocker und Park (2004) etwa darauf hin, dass Studenten, die ihr Selbstwertgefühl anhand ihrer Studienerfolge definieren, unabhängig von ihren tatsächlichen Notenerfolgen unter signifikant mehr Angstgefühlen, Zeitdruck, Konflikten mit ihren Professoren und Unzufriedenheit mit ihren eigenen Leistungen leiden. Zugleich belegen weitere empirische Untersuchungen, dass Menschen mit ausgesprochenem Selbstwertstreben sich weniger gut in andere Menschen hineinversetzen zu können, dazu neigen, signifikant eifersüchtiger und empfindlicher zu sein, die Signale ihrer Umwelt eher als feindlich und selbstwertgefährdend zu deuten und entsprechend überreagierend aggressiveres Verhalten an den Tag zu legen (Downey & Feldman 1996; Downey, Feldman, & Ayduk 2000). Diesem defensiven Selbstwertgefühlstreben gegenüber steht auf der anderen Seite das historische Zeugnis derer, die sich von gesellschaftlichen Normen und sozialer Anerkennung emanzipierten und nicht mehr nur oder primär sozialen Normen verpflichtet fühlen, sondern ihren eigenen erkannten Werten, vielleicht auch Gewissensnöten. Paradoxerweise werden viele dieser Menschen erst posthum hochgeachtet: Dieselbe Gesellschaft also, die sie zu Lebzeiten mit Ächtung (und mehr) abstrafte, weil sie gegen bestehende Normen revoltierten, verleiht ihnen ausgerechnet nach ihrem Tod jene Anerkennung und symbolische Unsterblichkeit, die der distal abwehrende Mensch anstrebt, indem er sich zu Lebzeiten mit der Masse gegen den Helden in der Revolte stellt. Das ist einerseits eine schlichte Bruchstelle, andererseits aber auch ein Hinweis darauf, dass bei allem defensiven Selbstwertstreben viele Menschen ein scheinbar doch intuitives Verständnis dafür nicht verloren haben, dass der Wert einer Person bzw. ihres Denkens und Handelns ohnehin nicht primär davon abhängt, ob sie tut und unterlässt, was andere von ihr erwarten, sondern ob sie tut und unterlässt, was sie selbst als selbstverantwortliches Wesen zu tun oder zu unterlassen als richtig erkannt hat – mit anderen Worten, ob sie aus dem »Man« zum individuellen Dasein vorgedrungen ist, welches, wenn nötig oder sinnvoll, auch noch ge118 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Was Selbstwertsteigerung leistet
gen das »Man« aufbegehrt und die sozialen Kosten dieses Schritts zu tragen bereit ist. Man gewinnt hier daher bei näherer Betrachtung den Eindruck, dass das sich primär den Anforderungen und Ansprüchen der Gesellschaft unterordnende defensive Selbst vielleicht auch deswegen nicht recht mit seiner existentiellen Angst umzugehen in der Lage ist, weil es sich selten wirklich erlaubt, überhaupt ein eigenständiges Selbst zu sein und angesichts der Endlichkeit nun umso deutlicher sehen muss, wieviel es gerade dadurch versäumte bzw. augenblicklich dabei ist, zu versäumen. Und ein letztes – dieser Punkt ist so offenkundig, dass man nicht lange bei ihm verweilen muss, weil er ohnehin alltagsphilosophisches Allgemeingut beschreibt –: Die Häufung von Statussymbolen als selbstwertsteigender Bewältigungsversuch des Problems der eigenen Sterblichkeit und der damit einhergehenden Verängstigungs- und Verunsicherungsgefühle ist für materialistische Gesellschaften empirisch nachgewiesen und alleine schon dadurch glaubhaft; und glaubhaft muss dieser Versuch auch gemacht werden, weil er eine so offenkundig vergebliche Strategie der Sterblichkeitsbewältigung beschreibt. Es ist in der Tat kaum möglich, etwas auch nur annähernd Rationales oder existentiell Bedeutsames an und in dem Versuch zu finden, sich mittels Statussymbolen bzw. überhaupt materieller Objekte ein erhöhtes Selbstwertgefühl angesichts der Sterblichkeit zu verdienen: Statussymbole sind zumeist Modeobjekte und schon deswegen in ihrer Wertigkeit vergänglicher als die meisten anderen symbolischen Kulturgüter. Bereits dieser einfache Umstand macht die Vergeblichkeit des Versuchs offenkundig, sich ausgerechnet mit ihrer Hilfe Selbstachtung und Anerkennung und letztlich symbolische Unsterblichkeit zu erarbeiten: Wie könnte man gerade über den Umweg so ausgesprochen vergänglicher Objekte etwas für sich gewinnen, das der Vergänglichkeit ihr Irritationspotential nehmen sollte? Zweitens verlieren alle materiellen Güter nicht nur ihre soziale Bedeutung, sondern irgendwann ihren persönlichen Reiz – sowohl für ihren Besitzer als auch für diejenigen, die dieses Gut (und damit seinen Besitzer) bewundern sollen. Das sagt uns unsere Alltagserfahrung ebenso wie empirische Forschungsarbeiten zur affektiven Gewöhnung (Leventhal et al. 2007): Man gewöhnt sich an alles, am schnellsten aber an das, was man besitzt oder zu besitzen glaubt. Das heißt aber: Nicht nur das Gut in seinem Kulturwert selbst, sondern auch sein Effekt ist vergänglich und schon von daher untauglich, Ver119 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Gehalte und Ziele der Abwehr
gänglichkeitsängste inhaltlich zu überwinden zu helfen. Drittens ist es ebenfalls Allgemeingut der Alltagspsychologie, dass Menschen, die ihre Selbstwertgefühle dadurch zu stärken und zu nähren versuchen, dass sie sich mit Statussymbolen, Prestigemarken oder der Gemeinschaft mit »Prominenten« schmücken, ohne diese Selbstwertbeweise wohl meist recht leer und unerfüllt sind – andernfalls bräuchten sie diese Statussymbole nicht. Wer sich daher Anerkennung in dieser Weise erkaufen zu müssen glaubt, ist auch im präreflexiven Verständnis der Allgemeinheit ganz offenkundig deswegen so bedürftig, weil er an einem Mangel an Selbstwertgefühlen leidet und zugleich gefangen ist im fortwährenden Versuch, seine innere Leere stets aufs Neue mit Konsumgütern und anderen Statussymbolen zu füllen. Menschen, die in defensiver Weise nach unserer Zustimmung und Anerkennung suchen, die sich etwa mit Statussymbolen umgeben, um zu zeigen, dass »sie wer sind«, die aggressiv oder selbstentschuldigend auf berechtigte Kritik oder die normalen Fehlschläge des Lebens reagieren, sind in der Regel genau jene Menschen, die aufgrund dieser Eigenschaften von ihren Mitmenschen wenig Achtung und Anerkennung bekommen. Sie scheinen uns unreif, unecht und durchschaubar, vorhersagbar – für andere oft mehr als für sich selbst. Zusammengefasst: Wie schon die distale Abwehr durch die kulturelle Weltsichtverteidigung hält auch die Abwehr durch Selbstwertgefühlerhöhung einer vernunftgeleiteten Analyse nicht stand. Für beide Wege der distalen Abwehr können wir daher als vorläufiges Ergebnis festhalten: Wenn sich bei ihnen Spurenelemente der Rationalität finden, dann steht diese Rationalität lediglich im Dienst der gefühlten Auseinandersetzung mit dem Tod; mehr leisten sie nicht.
3.4. Zur Psychopathologie abwehrender Sterblichkeitsangst Die bisherige Diskussion machte deutlich: Die distalen Abwehrmechanismen lösen zwar das Problem des Sterblichkeitswissens nicht, aber sie verschaffen immerhin eine kurzfristige Entlastung von seinen affektiven Folgen. Zwar hat sich in der weiteren Diskussion gezeigt, dass die beiden distalen Abwehrmechanismen nicht einmal dieses Versprechen wirklich einlösen, insofern die Angst in der distalen Abwehr nicht verschwindet, sondern bloß andernorts mit einem neuen Gesicht bzw. einer neuen Maske wieder auftaucht: Angst und Unsicherheit bleiben aber – mitsamt nun allerdings auch 120 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Zur Psychopathologie abwehrender Sterblichkeitsangst
einem Verlust an Möglichkeiten der Einsicht in das Woher und Wovor der Angst. Es ist daher ein einigermaßen ernüchterndes Gegenbild zu dem von Max Scheler eingemahnten Ende des metaphysischen Leichtsinns, das die TMT-Studien vom Menschen zeichnen: Sie zeigen ein angstgeleitetes Wesen, welches im Zustand fortwährender Abwehr lebt und in dieser Abwehr zudem nicht einmal sonderlich erfolgreich ist. Wenn die distale Abwehr aber schon logisch schwer zu halten ist, wie zeigt sie sich unter psychologischen Gesichtspunkten? Das sich darbietende Bild ist nicht viel besser. Jenseits der philosophischen Untauglichkeit und mangelnden Rationalität der distalen Abwehr fällt unter psychologischen Gesichtspunkten auf, dass die Erscheinungsweise der uneingestandenen, unter der Oberfläche weiterwirkenden Existenzangst weitgehend Merkmale aufweist, die klinisch der pathologischen Angst in Abgrenzung zu psychologisch vernünftigen und auch das normale Erleben und Verhalten sinnvoll unterstützenden Angstgefühlen zugeschrieben werden – wobei vorerst noch offen ist, was genau hier pathogen oder pathologisch in Erscheinung tritt: die (potentielle) Angst angesichts der Sterblichkeit selbst oder die fortwährende Flucht davor und die Verweigerung, den eigenen Tod rational ergebnisoffen zu durchdenken. Für die zweite Alternative – pathogen sei nicht die Angst selbst, sondern das fortwährende Ausweichen vor ihrem Grund – scheint schon eine einfache Phänomenologie der Angst, auch der Angst vor dem Sterben, zu sprechen: Angst als solche ist in Standardfällen zunächst weder pathologisch noch pathogen. Angstgefühle haben eine warnende Funktion und sind in dieser Eigenschaft gute und verlässliche Ratgeber, was sich nicht zuletzt oft in dramatischer Form am Verhalten von Patienten bestätigt, die aufgrund neurologischer oder psychiatrischer Erkrankungen ihr Wahrnehmungs- oder Deutungsvermögen der Angst verloren haben (Bechara, Damasio & Damasio 2000). Angst als solche zu erleben mag daher zwar meist unangenehm sein, bewahrt uns aber in der Regel vor sehr viel Unangenehmerem und schon daher ist es ebenso sinnvoll wie klug und adaptiv, Angst vorerst einmal ernst- und hinzunehmen. Aber die klinische Erfahrung zeigt auch: Angst kann auch lähmen; sie kann krankhaft sein: Und das wird sie vor allem dann, wenn wir sie nicht meistern können – und meistern wiederum können wir sie dann am wenigsten, wenn wir uns ihr nicht zu stellen bereit sind. Die psychotherapeutische Diagnostik beschreibt derartige Verdichtungen und Verformungen der Angst als Kernmerkmal des Neurotischen und benennt hier121 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Gehalte und Ziele der Abwehr
zu einige Abgrenzungsmerkmale zur Unterscheidung »gesunder« und neurotischer Angst: Neurotische Angstgefühle stehen erstens in einem disproportionalen Verhältnis zur objektiven Bedrohung, sie werden zweitens regelmäßig und systematisch unterdrückt oder geleugnet und können daher drittens auch nicht bewusst und konstruktiv verarbeitet werden (Goldstein et al. 1982; 1988). Da wir nach wie vor die Folgen der unterdrückten und abgewehrten Angst vor dem Tod diskutieren, lohnt es sich daher an dieser Stelle, Gemeinsames und Trennendes zwischen der defensiv verarbeiteten Angst vor dem Tod und dem neurotischen Angsterleben insgesamt herauszuarbeiten: Beide teilen offenkundig die diagnostischen Kriterien »Unterdrückung und Leugnung« und »Mangel an bewusster konstruktiver Verarbeitung«: Schon die proximale Abwehr steht im Dienst der Verharmlosung, Distanzierung, Leugnung und Unterdrückung; und im Rahmen der darauf einsetzenden distalen Abwehrprozesse lässt sich das einmal erfolgreich Verdrängte naturgemäß nicht mehr bewusst konstruktiv verarbeiten, da der Grund der Angst nach der Verdrängung aus dem Blickfeld geraten ist. Weit weniger leicht ist dagegen die Bestimmung des Zusammenhangs zwischen der dualen Abwehr und dem dritten Kriterium, neurotisches Angsterleben sei »disproportional zur objektiven Bedrohung«. Es ist tatsächlich kaum möglich, dem Tod einen Platz in der Hierarchie der objektiven Bedrohungen zuzuweisen. In der Psychologie wird bisweilen sogar diskutiert, ob möglicherweise hinter aller Angst letztlich immer auch die Angst vor der Bedrohung durch den Tod stünde oder jede Bedrohung letztlich über den Umweg der Vulnerabilität auf den Tod hinwiese (ibid.). Jedenfalls aber ist der Tod offenkundig nicht einfach eine Bedrohung unter vielen, sondern die Bedrohung schlechthin, daher ist es im Grunde auch nicht möglich, von einer verhältnismäßigen oder unverhältnismäßigen affektiven Reaktion auf den Tod zu sprechen, wenn dieser selbst doch keine verhältnismäßige, sondern die absolute Bedrohung schlechthin darstellt. Allerdings kann man an dieser Stelle zwei einigermaßen in sich widersprüchliche Einwände vorbringen: Der erste lautet, dass die Vermeidungshaltung der MS-induzierten Versuchspersonen offenkundig entschieden disproportional zur objektiven Bedrohung steht: Nicht weil die Angst im Verhältnis zu ihrem Grund zu stark wäre, sondern im Gegenteil, weil der Gehalt und Weg der distalen Abwehr eigentlich viel zu banal und entfremdet sind, um der eigenen Sterb122 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Zur Psychopathologie abwehrender Sterblichkeitsangst
lichkeit und ihren lebenspraktischen Implikationen gerecht zu werden. Zweitens kann man einwenden, dass die Versuchspersonen der TMT-Experimente sich im Labor nicht annähernd in Lebensgefahr befinden. Sie reagieren vielmehr bloß auf Erinnerungen an die im Experiment vorgestellte meist recht abstrakte Möglichkeit des eigenen Sterbens. Es handelt sich daher nicht eigentlich um eine tatsächliche Bedrohung durch den eigenen sich nähernden Tod, sondern vielmehr nur um die Bedrohung des inneren Gleichgewichts durch die Angst vor der Angst vor der eigenen Sterblichkeit. Unter diesen Blickwinkeln deckt sich der in der TMT beschriebene Abwehrprozess also auch mit dem dritten Kriterium der »Verhältnismäßigkeit« als Bestimmungsmerkmal einer neurotischen Angst. Bedeutet das nun aber, dass der »normale« Mensch, wie er in hunderten von Studien zur TMT zwischen Amerika, Iran, Israel, Deutschland, Österreich, Japan, Korea, Australien usw. als Versuchsperson in TMT-Studien diente und darin die typischen dualen Abwehrmechanismen zeigte, sich wie ein Neurotiker verhält, wenn er an seine eigene Sterblichkeit erinnert wird? Eine so großzügig gestellte Diagnose ist für den naheliegenden Einwand anfällig, neurotische Reaktionen auf die eigene Sterblichkeit seien angesichts der starken Wiederholbarkeit der TMT-Experimente allem Anschein nach so gewöhnlich, verbreitet und »normal«, dass die Zuschreibung, bei den in der TMT beschriebenen Abwehrprozessen handle es sich um neurotische und damit normabweichende Reaktionen, fragwürdig scheint. Andererseits: Wenn sich im Experiment zeigt, dass viele Menschen sich neurotisch-vermeidend gegenüber einer so grundlegend einfachen und unbedingten Wahrheit wie ihrer eigenen Sterblichkeit verhalten, untergräbt das bloße Vorhandensein von Mehrheitsverhältnissen dennoch nicht die Richtigkeit der Feststellung, dass es sich um einen psychologisch und philosophisch fragwürdigen Umgang mit diesem Thema handelt. Die bloße Verbreitung dieses Verhaltens nimmt ihm, nüchtern betrachtet, auch nicht das Geringste seiner Fragwürdigkeit. Denn Mehrheiten legen qua Mehrheit keine rationalen Normen fest und haben genau genommen nichts Präskriptives an – und das gilt, wie Allers feststellt, im medizinischen ebenso wie im philosophischen und existentiellen Sinne: Es bedarf keiner weiteren Erläuterung, wenn Statistik als Grundlage einer Grenzbestimmung abgelehnt wird. Es ist offenbar, dass der Durchschnitt nur dann dem Normalen entspricht, wenn es sich so trifft,
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Gehalte und Ziele der Abwehr
dass die normalen Phänomene eine merkliche Mehrheit bilden. Das aber heißt, dass man sich erst über das Normale klar sein muss, ehe man statistische Daten verarbeiten kann. Auch wenn in einer Bevölkerung sich 99 % als tuberkulös erwiesen, so bliebe das eine restliche Prozent Repräsentant der Normalität. Das gilt für Krankheiten wie für alle anderen Aspekte menschlichen Seins. Auch Moralstatistik kann nichts darüber aussagen, was normale Sittlichkeit ist; diese muss definiert sein, um die Statistik in sinnvoller Weise verwertbar zu machen. (Allers 1963, 24 f.)
Die Feststellung, dass viele Menschen unserer Tage situationsbedingt existentiell neurotisches Verhalten an den Tag legen, wenn ihr Denken auf den Tod gelenkt wird, besagt vor diesem Hintergrund schlichter formuliert Folgendes: Es gibt eine weit verbreitete, grundlegende Irritation des Menschen in seiner Beziehung zu seinem Wissen um seine eigene Sterblichkeit. Die Frage ist nach dieser philosophischen und psychologischen Analyse aber auch: Wer ist nun zuständig? Liegt hier eine psychotherapeutische Herausforderung vor oder nicht viel eher eine Aufforderung an die Philosophie, reifere, vernünftigere und allgemein zugängliche Wege der Todesbegegnung zu erkunden und in den allgemeinen Diskurs einzubringen? Offenkundig nämlich steht hier eine philosophische und existentielle Grundfrage im Raum (»Was tun angesichts meiner Sterblichkeit?«) und findet vorerst keine Antwort – und es ist an sich noch keineswegs neurotisch, darauf keine Antwort zu finden, und ebenso wenig neurotisch ist es, das Fehlen einer positiven Antwort als psychisch belastend zu erleben. Erst auf dieses Fehlen ist ja die duale Abwehr zurückzuführen, und man täte dem Fragenden und seiner Frage daher auch systematisch unrecht, wenn man nun wiederum versuchen sollte, ihm bloß einen psychologisch problematischen Umgang mit dieser Frage zu attestieren – ganz so, als handle sich bei seinem bisherigen Scheitern auf der Suche nach existentielleren Begegnungsmöglichkeiten mit seinem Sterblichkeitswissen um nichts anderes als eine Neurose und nicht doch auch um ein Verunsicherungserleben, das Ausdruck einer authentischen Sorge um durch den eigenen Tod gefährdete Werte und Möglichkeiten ist. Mit anderen Worten: Würde man nun vor dem Hintergrund der Diagnose einer neurotischen Angst wieder nur versuchen, psychologisch verträglichere Wege zu finden, wie mit dem bloßen Angstgefühl konstruktiver umgegangen werden kann, würde man erst recht wieder nur Ausweichmanöver einer besseren Affekt124 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Zur Psychopathologie abwehrender Sterblichkeitsangst
regulation vorschlagen – als wäre Affektregulation angesichts des Sterblichkeitswissen das sich vorrangig stellende Problem. Dabei scheint gerade das beinahe exklusive Kreisen um die Frage, wie man sich angesichts der Erinnerung an seine eigene Sterblichkeit fühlen könnte, der aus philosophischer Sicht problematische Zug zu sein, der auch letztlich der Verdrängung (und damit dem neurotischen Kern der dualen Abwehr) zugrunde liegt: Greenberg et al. (2003) provided more direct evidence for the proposition that it is the potential for anxiety rather than consciously experienced anxiety that drives MS effects by showing that giving participants a placebo believed to block the experience of anxiety for an hour eliminated the MS effect (measured within the hour) obtained in the absence of this placebo. In other words, if participants didn’t believe they could get anxious, they had no need to bolster faith in their worldview in response to MS. (Pyszczynski, Solomon & Greenberg 2015)
Fragwürdig ist unter diesem Blickwinkel daher nicht so sehr die Erschütterung angesichts der Sterblichkeit, als vielmehr genereller die fehlende Bereitschaft, eine im Prinzip gut begründete Sorge im eigenen Erleben zuzulassen und stattdessen alle erdenklichen Scheingefechte einzugehen, um sich den durch Sterblichkeitserinnerungen ausgelösten Sorgen und Ängste gar nicht erst stellen zu müssen. Deswegen lautet die eigentliche Frage angesichts der dualen Abwehr viel eher, ob eine rein psychologisch erwirkte Angstbefreiung angesichts der inhaltlichen Brisanz der existentiellen Verunsicherung realistisch, möglich oder sinnvoll sein sollte, wenn die existentielle Verunsicherung angesichts der eigenen Sterblichkeit ohnehin nicht nur ein bloßer Gefühlszustand ist, sondern ein konkretes Wovor kennt, im eigentlichen Sinne also eine intentionale, objektbezogene Angst ist. Mit anderen Worten: Der Mensch, der sich vor dem Bewusstsein seiner eigenen Endlichkeit fürchtet, ihm mit Respekt und Unbehagen begegnet, und dieses Unbehagen aushält, spürt eine realistische und gut begründbare Sorge auf. Erst wenn er die Bereitschaft nicht aufbringt, sich den durch seine eigene Sterblichkeit aufgeworfenen Fragestellungen und den damit einhergehenden Gefühlen und Eindrücken zu stellen und daher um der emotionalen Entlastung willen vorgibt, es ginge ihn sein eigener Tod nichts an, entartet das Problem der eigenen Sterblichkeit zu bloßer Affektregulation mit ihren quasi-neurotischen Ausweichmanövern. Letztlich stellt uns unsere 125 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Gehalte und Ziele der Abwehr
Begegnung mit dem Wissen um unseren eigenen Tod also vor eine ebenso einfache wie individuell und sozial folgenschwere Entscheidungsfrage: Womit wollen und sollen wir umgehen – mit dem durch Sterblichkeitserinnerungen hervorgerufenen Gefühlszustand der Angst oder mit der Angst als Wegweiser auf einen Grund hin und damit mit dem Problem der Sterblichkeit selbst? Wenn allein Ersteres, mag Flucht und Abwehr sogar eine gültige Antwort sein; in diesem Fall stünde ja tatsächlich nur das unangenehme Empfinden zur Debatte und diesem Empfinden muss man nicht und kann man meist auch nicht bloß vernunftgeleitet antworten. Wenn aber Letzteres, dann blicken wir hinter das Gefühl auf seinen Grund. Was uns dann bleibt, ist nicht mehr Flucht, sondern die direkte und bewusste Konfrontation mit existentiellen Fragen – also nicht mehr Verdrängung und irrationale Abwehr, sondern vernunftgeleitete und aufrichtige Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit und ihren Auswirkungen auf unser Leben. An eben dieser Weggabelung setzt auch unmittelbar der von der TMT beschriebene Mechanismus der dualen Abwehr an. Denn mag auch die distale Verteidigung selbst ein weitgehend automatischer Prozess sein, ist es zugleich wichtig, sich abermals vor Augen zu halten, dass es in den meisten Fällen die Verdrängung selbst ist, die überhaupt erst dazu führt, dass die distalen Abwehrmechanismen aktiviert werden, da die Todeserinnerung, an den Rand des Bewusstseins gedrängt, dort ihre unbewusst generierte distale Wirkung entfaltet. Erst ab diesem Punkt – nach der bewussten Verdrängung – beginnen irrationale implizite Philosophien der Todesbewältigung (also die den distalen Abwehrmechanismen zugrundeliegenden Zusammenhänge) zu wirken und sind vorerst kaum mehr verhandelbar. Aber soweit müsste es vermutlich nicht oder zumindest nicht so regelmäßig kommen, wenn man Gedanken an den Tod nicht in jene psychischen Gebiete verdrängte, von denen aus dann inhaltlich und rational fragwürdige Abwehrwege ihren Lauf nehmen. Und tatsächlich: Auch wenn die duale Abwehr so regelmäßig und zuverlässig einsetzt, dass sie in nahezu jedem TMT-Experiment nachgewiesen werden kann, zeigt die Forschung zugleich auch, dass sie kein zwangsläufiges, unbedingtes Geschehen ist. Experimentell bestätigt ist dieser Zusammenhang etwa durch eine Studie von Simon und Kollegen (1997), der zufolge die vermeintlich regelhaften distalen Verteidigungsmechanismen nicht aktiviert werden, wenn man die Versuchspersonen mittels einfacher und direkter Anweisungen 126 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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dazu anhält, in einem »rationalen« Verarbeitungsmodus zu verbleiben und das durch die Todeserinnerungen angestoßene Nachdenken über den eigenen Tod nicht gleich wieder zu verdrängen – mit anderen Worten sich nicht primär nur mit den an der eigentlichen Frage nach dem Problem der Sterblichkeit vorbeizielenden proximalen (und darauf folgend distalen) Ablenkungs- und Leugnungsmechanismen zufrieden zu geben. Dieser Befund legt somit nahe, dass die in der TMT beschriebene duale Abwehr kein zwangsläufiges und vollständig automatisches Geschehen und der neurotisierende Auslösemechanismus der dualen Abwehr – in starkem Kontrast übrigens zu anderen neurotischen Angstgeschehen – schon durch die bloße Aktivierung rationaler Verarbeitungswege, aufhaltbar ist. Und mehr noch: Selbst wenn distale Abwehrprozesse aktiviert sind, gilt, wie wir gesehen haben: Die Unbewusstheit dieser automatischen Prozesse – bei den erwähnten Primingexperimenten ebenso wie bei der TMT – liegt, wie bereits erörtert, primär in der fehlenden Introspizierbarkeit der Handlungsmotive und -ursachen. Das ist zwar bereits viel, aber es ist eben durchaus nicht alles. Auch hier ist daher noch selbst nach der abgeschlossenen proximalen Abwehr meist noch genügend Freiraum vorhanden, eine Ebene der bewussten Reflexion (und des Überdenkens der eigenen Handlungstendenzen) einzuziehen. Denn es ist angesichts der sozialen und politischen Kosten, die mit der distalen Abwehr zur Debatte stehen, wichtig, es noch einmal zu betonen: Selbst wenn ihnen die Motive ihres Empfindens und Handelns verborgen bleiben, sind sich distal abwehrende Versuchspersonen durchaus dessen bewusst, dass sie das Mitglied eines anderen Kulturkreises unverhältnismäßig ab- und ihr eigenes Selbst unrealistisch aufwerten. Dieses Maß an Handlungsbewusstheit – wenn auch nicht Motivbewusstheit – alleine würde etwa schon rechtfertigen, dass man die Handlungsmotive und -wege der distalen Verteidigung nicht nur einer rationalen, sondern auch einer ethischen Analyse unterzieht, um zu versuchen, sozial konstruktivere Alternativen zu erschließen. Das zweite verhandelbare Element greift demnach sogar noch nach der Verdrängung, wenn distale Abwehrneigungen schon in vollem Gange sind: Wenn wir nun etwa mit einer gesteigerten Verteidigungsbereitschaft unsere Welt und unsere echten oder vermeintlichen Gegner als solche wahrnehmen und dennoch anerkennen, dass wir nicht notwendig so aggressiv und defensiv handeln müssen, wie wir uns gerade fühlen – auch noch, wenn wir nicht 127 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Gehalte und Ziele der Abwehr
recht wissen sollten, weshalb wir gegenwärtig derart aggressiv empfinden und unsere Weltsicht oder unseren Selbstwert zu verteidigen versuchen. Von hier aus ist der Weg über die Abänderung des distal abwehrenden Verhaltens sogar recht leicht: Denn angesichts der Tatsache, dass distale Abwehr zur Einhaltung salienter sozialer Normen führt, reichte es im Prinzip schon aus, zum Beispiel Toleranz oder das Wohlwollen den Vertretern anderer Welt- und Lebensmodelle gegenüber oder realistische Selbsteinschätzung und Selbstdistanz als zentrale und bestimmende Wesenszüge unserer kulturellen Weltsicht zu etablieren, um mortalitätssaliente Personen dazu zu bewegen, durch Beherzigung dieser Normen ihre echte oder vermeintliche Überlegenheit über weltanschauliche »Gegner« zu demonstrieren. Da nach Maßgabe der TMT der Glaube, man entspräche mit seinem Handeln den sozialen Normen der eigenen kulturellen Weltsicht erstens diese Weltsicht bestätigen sollte und zweitens das Selbstwertgefühl heben, ist anzunehmen, dass die Erhebung von Hilfsbereitschaft, Großzügigkeit, Toleranz zu kulturellen Standards zumindest auch einen Schutz vor ausufernd aggressiven Manifestationen der distalen Abwehr bieten sollte. Tatsächlich konnte Jonas zeigen, dass mortalitätssaliente Versuchspersonen in sozialen Ressourcenspielen sich stets dann großzügiger als nicht mortalitätssaliente Versuchspersonen verhalten, wenn den Versuchspersonen zuvor mit kulturell anerkannten Rollenmodellen prosozialen Verhaltens konfrontiert wurden (Jonas et al. 2002; 2008; 2013). Dennoch: Auch wenn die konkrete Gestalt der distalen Abwehr durch die Manipulation der Salienz sozialer Normen veränderbar und beweglich hin zu toleranterem und sozial verträglicherem Verhalten ist, bleibt eines gewiss: Solange wir nicht die zugrundeliegende Angst angesprochen haben, bleiben all diese Unternehmungen Oberflächenkorrekturen, weil wir bloß nach sozial verträglicheren Formen der Abwehr, noch nicht aber nach authentischen Wegen der existentiellen Begegnungen mit dem eigenen Tod und Sterben suchen. Wir arbeiten mit anderen Worten lediglich an den Symptomen der distalen Abwehr; aber distale Abwehr bleibt es allemal, weil das zugrundeliegende Datum die Flucht vor der Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit und der damit einhergehenden existentiellen Verunsicherung unverändert bestehen bleibt. Kehren wir daher zurück zur ersten Verhandlungssache: nicht mehr, wie man sich verhalten kann, wenn man distal verteidigt, steht 128 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Zur Psychopathologie abwehrender Sterblichkeitsangst
dann zur Frage, sondern ob es überhaupt zur Aktivierung kultureller Weltsichtverteidigung oder erhöhten Selbstwertgefühlsstrebens unter MS-Bedingungen kommt. So führt vor allem der Befund, dass die irrationale Abwehr nach Todeserinnerungen schon durch die bloße Aufforderung, in einem rationalen Verarbeitungsmodus zu verbleiben, noch veränderlich ist, zu einer grundlegenden Überlegung: Die existentielle Auseinandersetzung mit dem Tod nicht meiden und in Folge weniger leicht zum Spielball der eigenen distalen Verhaltensneigungen werden: Offensichtlich ist das zumindest im psychologischen Labor und als Folge konkreter Anweisungen durch den Versuchsleiter möglich und bietet damit eine Lösung für gleich zwei problematische Auswirkungen der dualen Abwehr: Erstens unterbleibt die distale Abwehr, zweitens wird eine Grundlage geschaffen für eine themenangemessene Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit. Von diesem Befund aus lautet die Anfrage an die Philosophie: Wie kann dies auch im Alltag gelingen, auch wenn gerade kein Versuchsleiter in der Nähe ist, der einen dazu anhält, rational auf die Angst vor Tod und Sterben zu reagieren? Eine naheliegende Antwort lautet: Damit wir Gedanken an unsere Sterblichkeit nicht gleich wieder zu entfliehen versuchen, müssten wir vermutlich zunächst ein Bild und Denken der eigenen Sterblichkeit verfügbar haben, das uns ermöglicht, nicht nur ihren potentiellen Schrecken und ihre gleichzeitige »Unlösbarkeit«, sondern auch anderes an unserer Sterblichkeit wahrzunehmen. Mit anderen Worten müssten wir ein Bild des eigenen Todes finden, das nicht notwendig oder zumindest nicht ausschließlich derart angsteinflößend ist, dass wir die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod meiden wollen. Eine solche Sichtweise sollte also im Idealfall gleichermaßen realistisch sein und in der Lage, nicht nur das bloße Angsterleben angesichts des Todes zu adressieren, sondern auch die Gründe dieser Angst. Diese Facette der Frage nach der Begegnung mit der eigenen Sterblichkeit greift den oben beschriebenen Befund auf, es sei vielleicht weniger nur die Disproportionalität der Angst, als vielmehr die Vermeidungshaltung dem Angstgefühl gegenüber, die Anteil hat an der irrational-neurotischen Gestalt der dualen Abwehr. Die Weggabelung zwischen Flucht vor und Anerkennung der Sorgen und Ängste angesichts der Sterblichkeit wird uns im Folgenden noch eingehender beschäftigen, denn sie führt zugleich zu einer Unterscheidung der Reaktionsmöglichkeiten auf Sterblichkeitserinnerungen 129 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Gehalte und Ziele der Abwehr
hin, die uns weiter oben in Gestalt der Entscheidungsfrage begegnete, mit welcher Irritation wir umzugehen wählen, wenn wir an die eigene Sterblichkeit erinnert werden: Ist es das durch solche Erinnerungen aufsteigende Angstgefühl, oder ist es die existentielle und nicht mehr nur gefühlsmäßige Sorge, mit der uns das Sterblichkeitswissen konfrontiert?
3.5. Zuständliche und gegenständliche Angst Einen begrifflich und konzeptuell wertvollen Schlüssel für diese Diskussion bietet Max Schelers Unterscheidung zwischen intentionalen, gegenständlichen und zuständlichen Gefühlen. Dazu vorerst eine begriffliche Bestimmung: Zuständliche Gefühle hat man Scheler zufolge wegen etwas – etwa die spontan erlebte Angst angesichts einer Sterblichkeitserinnerung; gegenständliche Gefühle hat man hingegen über oder um etwas – wie etwa die Sorge um das, was durch den Tod selbst bedroht wird (Scheler 1957). Allgemeiner formuliert: Zuständliche Gefühle beschreiben einen emotionalen Zustand und sind bereits vollständig in sich selbst erfasst, wenn man sie so beschreibt, wie man sie erlebt. Gegenständliche Gefühle zeichnet dagegen aus, dass sie stets auch auf einen Gegenstand bezogen sind, d. h. auf etwas oder jemanden »außerhalb« des bloßen Gefühls. Sie sind intentional begründet. Die Unterscheidung beider Gefühlsarten gelingt nicht immer auf Anhieb, wenn man von ihrem bloßen Erscheinungsbild ausgeht – wenn man also wieder nur auf das empfindende Subjekt und nicht auch auf das Objekt dieser Gefühle blickt. Beide mögen sich folglich phänomenologisch durchaus ähnlich abbilden, unterscheiden sich aber wesentlich sowohl in ihrem Wesen als auch in dem Auftrag, der von ihrem Erleben ausgeht. Betrachten wir zur Veranschaulichung etwa das zuständlich-gegenständliche Paar Aggression (zuständlich) und Wut (gegenständlich): Aggression ist aufgestaute, angriffsbereite, erregte und meist negative Stimmung. Sie kann ganz unterschiedliche Ursachen haben, und es gibt dementsprechend auch vielfältige Wege, mit dieser Aggression umzugehen. Man kann, wenn man das für nötig und sinnvoll hält, Aggression karthatisch abbauen, indem man auf Kissen einschlägt, laute Musik hört oder sich auch aggressiv anderen gegenüber verhält, und auf diese Weise mehr oder weniger reif mit der eigenen Aggression umgehen. Es ist dabei im Prinzip relativ gleich130 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Zuständliche und gegenständliche Angst
gültig, wie das geschieht: Jedes Objekt oder jede Tätigkeit, die uns dabei hilft, Druck abzubauen, ist gut genug und geeignet, sofern sie anderen und uns selbst keinen Schaden zufügt (vgl. Batthyány 2017, 162 f.). Anders ist die Sache bei Wut, Zorn oder Empörung gelagert. Zwar gehen auch diese Empfindungen mit subjektiv erlebter Angriffsbereitschaft und Erregung einher, sind also ihrem Erscheinungsbild nach von der Aggression kaum zu unterscheiden, aber – und das ist der entscheidende Unterschied – die Wut kennt auch einen Gegenstand, ein Wohin und Woher. Sie ist zielgerichtet – wir zürnen etwa oder sind empört über etwas oder jemanden, zum Beispiel ein politisches Regime, das seine Bevölkerung hungern und leiden lässt und ihr Recht zur freien Meinungsäußerung beschneidet. Wir können genau genommen eine solche Wut und Empörung gar nicht recht erfassen – und zwar auch dann noch nicht, wenn wir selbst es sind, die diese Empfindungen verspüren –, wenn wir nicht verstehen (oder verstehen, aber verdrängen), worauf sie sich beziehen. Daher wäre es in diesem Fall eine Verfehlung sowohl des Gefühls als auch des Objekts dieser Empörung, wenn man versuchte, diese Missstimmung nur irgendwie abzubauen mit dem bloßen Ziel, sie nicht mehr empfinden zu müssen. Warum? Weil kein Problem aus der Welt geschafft wird, wenn wir uns nur mit der von ihm ausgelösten Stimmung selbst beschäftigen und übersehen, dass dieses Gefühl – eben als gegenständliches Gefühl – einen Inhalt und Grund außerhalb des bloßen Gefühlserlebens selbst hat. Das gegenständliche Gefühl ist mit anderen Worten Hinweis auf etwas oder jemanden und hat damit nicht nur denjenigen als Mittelpunkt, der es gerade erlebt, sondern maßgebend und bestimmend den Grund dieses Gefühls. Wir werden daher auch dem Auftrag und der Anfrage, die gegenständliche Gefühle an uns herantragen, nicht gerecht, wenn wir uns und das Gefühl betäuben oder fliehen – wenn wir es überhaupt bloß nur als Gefühl wahrnehmen, nicht aber den dahinterliegenden Gegenstand würdigen. Die Implikationen für die Art und Weise, wie die TMT den Umgang mit der Vermeidung potentiellen Terrors beschreibt, liegen nun auf der Hand: Auch die TMT widmet sich primär dem »Managen des Terrors« der zuständlichen Todesangst, viel weniger derzeit noch aber scheinbar der gegenständlichen Sorge um das durch den Tod jeweils Bedrohte. Eine weitere Annäherung an diese Zusammenhänge ermöglicht 131 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Gehalte und Ziele der Abwehr
der Blick auf ein ähnliches, zugleich aber weniger leicht verdrängbares todesbezogenes Lebensthema: die Trauer als jenes gegenständliche Gefühl, das nicht unsere, sondern die Vergänglichkeit anderer auslöst in Abgrenzung zur bloß zuständlichen Traurigkeit. Auch hier wieder gilt: Vom Augenschein und Empfinden her weisen Traurigkeit und Trauer ein vergleichbares Eigenschaftsprofil auf: Sowohl in der Trauer als auch in der Traurigkeit ist die Stimmung gedrückt, in beiden Fällen der Antrieb und die momentan wahrgenommene Hoffnung auf Besserung gering. Aber die Trauer hat als gegenständliches Gefühl einen Grund, der außerhalb ihrer selbst liegt: Ein Wert ist aus unserem Leben gegangen und der Verlust dieses Werts schmerzt. Bei der melancholischen Missgestimmtheit oder Traurigkeit hingegen variieren die Ursachen, und vom bloßen Erscheinungsbild der Traurigkeit ist schlechthin nicht abzuleiten, um welche Grundstörung des Befindens es sich handelt. Man weiß etwa, dass bestimmte Wetterlagen zu Missgestimmtheiten beitragen können, man weiß, dass Lichttherapie in einigen Fällen hilft, in anderen Fällen helfen Medikamente, in wieder anderen Fällen sind psychotherapeutische Maßnahmen angezeigt. Mit anderen Worten: Das Gefühl der Traurigkeit hat unterschiedliche physiologische oder psychologische Ursachen und diese Ursachen sind oft änderbar und korrigierbar. Ganz anders ist es bei der Trauer. Sie hat nicht nur Ursachen, sondern vor allem einen Grund. Ihrem Wesen nach ist die Trauer daher auch mehr als ein bloßes Gefühl; sie ist vielmehr Ausdruck der Tatsache, dass wir etwas oder jemanden vermissen, den wir geliebt und verloren haben und dessen Fortgang wir nun betrauern. Daher kann eine Begegnung mit der Trauer sich nicht darauf beschränken, nur das Gefühl der Traurigkeit anzusprechen, sondern muss auch anerkennen, dass in der Trauer das Wissen um den Wert des Betrauerten geborgen liegt. Das bestätigt sich oft auch in der sprechstündlichen Erfahrung: Wenn der Trauernde überhaupt auf etwas ansprechbar ist, dann auf dasjenige oder denjenigen, dessen Verlust er nun betrauert, und nicht nur auf das Gefühl der Trauer selbst. Einfache – also im Zuständlichen verbleibende – Tröstungsversuche oder das Verschreiben etwa stimmungsaufhellender Substanzen erreichen die Trauer in der Regel kaum – so leicht gelingt das Vergessen des Grunds der Trauer schlichtweg nicht: Tatsächlich zeigen Studien, dass selbst die schnell und zuverlässig stimmungsaufhellenden und angst- und spannungslösenden Medikamente aus der Gruppe der Benzodiazepine in Trauerfällen keine relevante Wirkung entfalten (Warner, Metcalfe & King 132 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Zuständliche und gegenständliche Angst
2001) – ein durchaus bemerkenswerter Befund, wenn man sich zugleich vor Augen führt, dass es sich bei dieser Stoffklasse um so »angenehm« wirkende psychoaktive Substanzen handelt, dass sie mit das höchste Suchtpotential unter den gängigen verschreibungspflichtigen Arzneimittel aufweisen (Ashton 2005; Casati, Sedefov & PfeifferGerschel 2012). Es ist allerdings vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen gegenständlichen und zuständlichen Gefühlen nicht schwer, nachzuvollziehen, weshalb selbst Benzodiazepine in der Trauer nicht recht wirken: Sie lindern lediglich den zuständlichen affektiven Nachhall der existentiellen Erschütterung – den Grund der Trauer lassen sie aber unberührt. Auch hier zeigt sich wieder: Das gegenständliche Gefühl der Trauer selbst ist nur Hinweis auf den verlorenen Wert, aber nicht das Problem selbst. Zugleich fällt im Rahmen der Betrachtung dieser Einzelbefunde nebenbei auf, dass anscheinend die wenigsten Menschen bereit sind, mit ihrer Trauer ebenso inexistentiell und zuständlich orientiert umzugehen wie mit dem Problem ihrer eigenen Sterblichkeit. Damit kommt etwas eigentlich sehr Ermutigendes über den Menschen zum Vorschein – dass nämlich Trauer ein anderes Gesicht der Liebe ist, und wir zwar oft zu bequem sein mögen, uns der einfachen Wahrheit der eigenen Sterblichkeit zu stellen, zugleich aber weniger leichtfertig bereit sind, die Trauer um andere zu verdrängen, weil das letzten Endes auch bedeutete, unsere Liebe zu verdrängen. Gerade dieser Umstand eröffnet aber auch Wege, zu untersuchen, welche Möglichkeiten eines reifen Umgangs mit der Trauer es gibt und nachzusehen, ob sich hier vielleicht Parallelen finden lassen in Hinblick auf die gegenständliche Bewältigung der Irritation durch Erinnerungen an die eigene Sterblichkeit. Ein Fallbeispiel aus der Logotherapie – also der von Viktor Frankl gegründeten existentiellen Psychotherapieschule – soll diesen Weg nachzeichnen; nicht nur um damit dem eben Gesagten Praxisnähe zu verleihen, sondern auch, weil eine der Fragen, die uns leitet, ja nach wie vor lautet, ob man in vergleichbarer Weise nicht auch angesichts der existentiellen Verunsicherung durch den eigenen Tod einen Weg von der bloß zuständlichen zur gegenständlichen Auseinandersetzung finden kann: An mich wendet sich ein alter praktischer Arzt; vor einem Jahr ist seine über alles geliebte Frau gestorben, und über diesen Verlust kann er nicht hinwegkommen. Ich frage den schwerst deprimierten Patienten,
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Gehalte und Ziele der Abwehr
ob er sich überlegt habe, was geschehen wäre, wenn er selbst früher als seine Frau gestorben wäre. »Nicht auszudenken«, antwortet er, »meine Frau wäre verzweifelt gewesen.« Nun brauche ich ihn nur noch darauf aufmerksam zu machen: »Sehen Sie, das ist Ihrer Frau erspart geblieben, und Sie haben es ihr erspart, freilich um den Preis, dass nunmehr Sie ihr nachtrauern müssen.« Im gleichen Augenblick hatte sein Leiden einen Sinn bekommen: den Sinn des Opfers. Am Schicksal konnte nicht das Geringste geändert werden; aber die Einstellung hatte sich gewandelt. (Frankl 1985, 83 f.)
Das Beispiel zeigt: Nur wenn die gegenständliche Trauer eine gegenständliche Antwort findet, findet sie eine ihr angemessene Antwort. Es wird der Trauer um den geliebten Menschen also nicht primär als zuständliches Gefühl, sondern als gegenständliches Leid begegnet und erfährt auch dadurch erst eine Lösung – eine Lösung, die das Gefühl der Traurigkeit und des Schmerzes gar nicht erst zu überwinden oder abzuwehren suchte, sondern es vielmehr in das gegenständliche Anerkennen des Verlusts eines geliebten Menschen einbindet, sogar voraussetzt. Die Bereitschaft und Zustimmung zur Trauer stellt dabei erst die Ausgangsbedingung her, um mit den ohnedies unabänderlichen Gegebenheiten des Verlusts umzugehen – während etwa der Wunsch, um jeden Preis dem Gefühl der Traurigkeit zu entgehen, jede Ansichtigkeit von Werthaftigkeit des Betrauerten im Nachhinein und sogar noch rückwirkend in Frage stellen würde. Denn die Alternative könnte ja tatsächlich lauten, den Wert des Betrauerten herabzusetzen, damit dessen Verlust weniger schmerzhaft empfunden würde. Aber selbst wenn dies im Sinne einer einfachen, zuständlichen Abwehr des Erlebnisses der Traurigkeit gelänge: Das Resultat wäre insgesamt ein um zumindest diesen Wert verringertes Dasein, also bliebe in der Bilanzierung in dem einen wie dem anderen Fall der Verlust dieses Wertes. Hier – in der Trauer – wie dort – wenn die eigene Sterblichkeit zur Frage steht – zeigt sich daher: Für gegenständliche Herausforderungen ist eine rein zuständliche Begegnungsweise weder psychologisch noch existentiell ein Gewinn. Nun drängen sich an dieser Stelle die Parallelen zum Problem der eigenen Sterblichkeit geradezu von selbst auf. Ganz Ähnliches nämlich lässt sich auch für die Angst und Verunsicherung angesichts des eigenen Todes in Anschlag bringen, mit zwei Unterschieden allerdings: Der erste ist, dass angesichts der Sterblichkeitsproblems der Erlebende des Kostbaren selbst in Frage gestellt wird. Das durch das 134 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Zuständliche und gegenständliche Angst
Wissen um den eigenen Tod ausgelöste Unbehagen ist so besehen eine Trauer im Konjunktiv und auf Vorschuss; und sie betrifft zunächst nicht so sehr einen erlebten Wert, sondern das Erleben selbst, d. h. das bewusste Selbst. Der zweite Unterschied ist: Über den Wert eines verstorbenen Menschen »informiert« uns unsere Liebe zu diesem Menschen, und das Erleben dieser Liebe ist meist so überwältigend, dass Zweifel über den Wert des Betrauerten in der Regel erst gar nicht aufkommen – es ist Teil der Beschaffenheit des Wesens der Liebe für und der Trauer um andere. Anscheinend etwas anders gelagert aber ist die Bewertung des eigenen Selbst angesichts der Sterblichkeit – denn ist man einmal an einem sterblichkeitsbedingten Selbstverständnis angelangt, stellt sich mit der eigenen Sterblichkeit auch die Frage, ob nicht nur das eigene Selbst, sondern ob überhaupt irgendetwas kostbar und bedeutungsvoll sein kann, wenn doch ohnedies alles und auch man selbst und das eigene Erleben der Vergänglichkeit ausgeliefert ist. Um diese Frage zu reflektieren, müsste man die Frage allerdings erst einmal gelten lassen. Daher steht ihr Abwehren auch eben jener gegenständlichen Auseinandersetzung im Wege, die womöglich zu einem vergleichbar positiven Resultat führte wie die gegenständliche Annahme der Trauer. Kurz – aus den bisher besprochenen Zusammenhängen folgt: Für die Sterblichkeitsbewältigung wird es auf Dauer nicht ausreichen, alleine zuständlich zu verhandeln. Sie wird vielmehr, wenn überhaupt, nur unter Mitbeteiligung einer auch gegenständlichen Reflexion gelingen können. Mit diesem Zwischenbefund gewappnet finden wir nach diesem kurzen Exkurs über den Umweg der Betrachtung der Trauer wieder auch bald an jene Weggabelung zurück, an der sich zeigte, dass vermutlich nicht so sehr die Angst und die Verunsicherung angesichts der Mortalitätssalienz selbst neurotisch ist als vielmehr die fehlende Bereitschaft, sich mit der eigenen potentiellen Angst und Verunsicherung angesichts der Sterblichkeit gegenständlich auseinanderzusetzen. Für den Moment können wir somit zusammenfassend vor dem Hintergrund von Schelers Modell der gegenständlichen und zuständlichen Gefühle festhalten: Erstens ist die Angst vor der Erinnerung an Sterblichkeit und Vergänglichkeit ebenso wie die Trauer mehr als nur ein Gefühl, sondern auch Hinweis auf eine existentielle Sorge, die uns auffordert, Stellung zur eigenen Endlichkeit zu beziehen. Zweitens: Die im Experiment häufig nachgewiesene Reaktion auf diese Sorge – das Meidenwollen auf die mit dieser Sorge einhergehenden Irritationsgefühle – entspricht in vielerlei Hinsicht einem neurotischen, 135 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Gehalte und Ziele der Abwehr
lebensfernen Vermeidungsverhalten. Wir sehen es in den Befunden der TMT: In dieser rein zuständlich orientierten Annährung tritt an die Stelle der Auseinandersetzung mit dem Tod die Vermeidung der Angst: Nicht die Sorge als existentielles Anliegen steht im Mittelpunkt der Auseinandersetzung, sondern Angst als zuständliches Gefühl und die Flucht vor diesem Gefühl im Dienst der Affektregulation. Soviel zunächst zur Bestandsaufnahme des Zusammenhangs zwischen zuständlichen und gegenständlichen Bewältigungsversuchen des Sterblichkeitswissens und seinen affektiven Folgen als Reaktion auf momentane Sterblichkeitserinnerungen. Nun ist aber noch vor der weiteren Analyse dieser Zusammenhänge – insbesondere da von Daseinshaltungen und existentiell neurotischen Erlebnisweisen, also chronischen Phänomenen, die Rede ist – ein zentrales Versäumnis nachzuholen: Nämlich die Betrachtung der Frage, wie sich die beschriebenen Zusammenhänge längerfristig im Erleben und Verhalten des Menschen abbilden – also dann, wenn man von der Momentaufnahme einer ja meist nur wenige Minuten andauernden experimentellen Studie zur TMT absieht und betrachtet, wie sich die proximale und distale Abwehr der existentiellen Verunsicherung auf Dauer auswirken. Denn gerade wenn wir von Lebenshaltung sprechen, sprechen wir nicht nur von Einzelsituationen, sondern von einer allgemeinen Lebensführung, die sich über Jahre und Jahrzehnte erstreckt. Mit anderen Worten: Wenn wir von neurotischem oder neuroseähnlichem Verhalten sprechen, sprechen wir in der Regel nicht von kurzfristigen Erscheinungen, sondern von dauerhafteren Erlebnisund Verhaltensneigungen – insofern ist die Frage, wie sich die beschriebenen Abwehrhaltungen und die ihr zugrundeliegende zuständliche Lebensform darstellt, erstens schon diagnostisch relevant. Zweitens kann man einwenden, dass eine Psychologie des Menschen oder auch nur eines zentralen Aspekts menschlichen Daseins und Zusammenlebens, die einen Großteil ihrer empirischen Grunddaten von bloß einigen zeitlich stark eingegrenzten experimentellen Situationen bezieht, noch den Nachweis schuldig geblieben ist, glaubhaft darzulegen, dass sie auch in der Lage ist, das Alltagsleben im Allgemeinen adäquat abzubilden.
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Die Angst vor sich selbst
3.6. Die Angst vor sich selbst Innerhalb der empirischen TMT-Literatur wird man hierzu allerdings kaum fündig – wohl auch, weil Longitudinalstudien zur Verdrängung und Abwehr aufwendig und im Verhältnis zu dem benötigten Aufwand von vermutlich verhältnismäßig nur geringem Erkenntniswert sind. Es findet sich in der existenzpsychologischen Literatur aber wenigstens eine bemerkenswerte, bereits einige Jahrzehnten vor der Entwicklung der TMT vorgestellte Analyse der existentiellen Flucht als Lebenshaltung in Viktor Frankls Aufsatz über »Die Angst des Menschen vor sich selbst« (Frankl 2015). Frankl befasst sich darin unter anderem mit der Angst vor dem Nichts, wobei dieses Nichts sich in diesem Zusammenhang nicht nur im zukünftigen Nichts des Todes findet, sondern vielmehr gerade in Folge seiner Verdrängung im lebendigen, aber verunsicherten Menschen. Anders gewendet: Der Mensch auf der Flucht vor seiner Existenzangst hat Frankl zufolge alle tieferen Daseinsfragen und damit auch die eigene Sterblichkeit ganz nach innen begraben, da er sie primär unter dem Blickwinkel der damit einhergehenden zuständlichen Verunsicherung betrachtet. So sehr und so erfolgreich hat er das laut Frankl getan, dass er nun erst recht unter jenem verunsicherten Lebensgefühl leidet, vor dem er eigentlich fliehen wollte. Mehr noch – da er den Grund seiner Angst und Verunsicherung erfolgreich verdrängt hat, fällt dieses Angsterleben in regelmäßigen Abständen ungebremst und unverstanden über ihn her: Es ist ihm selbst ein Rätsel – genauer: Er ist sich selbst ein Rätsel, mit dem Resultat, dass er »aus Furcht vor sich selbst auf der Flucht vor sich selbst ist: er ist auf der Flucht vor dem Alleinsein – denn Alleinsein heißt ja allein-sein-müssen mit sich selbst« und seinen unbestimmbaren Gefühlen der Verunsicherung und Ambivalenz (Frankl 2015, 113). Frankl findet mit dieser Beschreibung in Hinblick auf die langfristigen Auswirkungen der existentiellen Verdrängung wie auch Rank von der Angst vor dem Tod zur Angst vor sich selbst: Der Tod stellt das Nichtmehrsein in Aussicht und damit zugleich die Bedeutung des Seienden in Frage. Die TMT-Forschung zeigte eindrücklich, wie beängstigend alles dies schon ist und wie stark die dadurch hervorgerufenen Fluchtbewegungen sein können. Das Problem bei aller Fluchtbewegung vor dem ohnedies Unausweichlichen aber ist: Irgendwann einmal wird jeder mit sich selbst alleine und den Folgen seiner Verdrängung konfrontiert. Hier entfaltet sich die zweite 137 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Gehalte und Ziele der Abwehr
Angst. Vielleicht wird der Mensch also nicht wie im TMT-Experiment stets und unmittelbar mit der Sterblichkeit als Grund seiner Angst und Verdrängung konfrontiert, dafür aber mit dem vagen Verdacht, dass irgendetwas an seiner Lebensführung grundlegend nicht stimmt – dass eine nicht mehr näher benennbare, weil verdrängte und maskierte Angst ihn dazu verleitet hat, in existentieller Abwehr eine uneigentliche, geborgte Identität angenommen zu haben. Nur das »Allein-sein-müssen mit sich selbst« lässt ihn gelegentlich erkennen, dass er etwas meidet und mitunter so erfolgreich verdrängt hat, dass er selbst nicht einmal mehr weiß, was er mied und verdrängte. Es kommt ihm dennoch das vage Gefühl zu Bewusstsein, dass er sein Leben gar nicht recht führt, sondern von einer unbekannten Angst und Unbestimmtheit führen lässt; dass er sich gleichsam betäubt, indem er sich in Betriebsamkeit und vermeintliche Bedeutung stürzt, um die existentielle Konfrontation zu meiden. Die Angst vor sich selbst ist folglich auch die Angst vor der Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Das heißt: Es ist nicht nur Angst vor der Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit; es ist auch die Angst vor der Einsicht, dass der abgewehrte Tod eben nicht ein Mehr an Lebendigkeit und Lebensoffenheit bedeutet, sondern im Gegenteil die Abkehr und den Rückzug von der Wirklichkeit des Lebendigen selbst. Frankl benennt in diesem Kontext das Phänomen der Sonntagsneurose als Chiffre dafür, was geschieht, wenn der im geschäftigen Treiben des Alltags stets sich bestätigende Mensch mit einem Mal ohne Anweisungen von außen dasteht, nun mit sich selbst konfrontiert wird und in diesem Zustand die im Inneren lauernde Angst sich wieder deutlicher in den Bewusstseinsvordergrund drängt (Frankl 2015, 113 f.). Es bricht in solchen Momenten die Sonntagsneurose in Form eines »Gefühls der Öde und Leere, der Inhaltsleere und Sinnlosigkeit des Daseins, wie es gerade beim Stillstand wochentägiger Betriebsamkeit im Menschen aufbricht und zutage tritt« über den Menschen ein als »Erlebnis der Ziel- und Zwecklosigkeit allen Bemühens«, welches Frankl auch als »existentielle Frustration bezeichnet, d. h. als Unerfülltheit des uns zutiefst innewohnenden Willens zum Sinn« (ibid.). Sollte diese Analyse der längerfristigen Folgeerscheinungen der Vermeidung existentieller Konfrontation zutreffen, dann ist die existentielle Angst des Menschen nicht zuletzt auch von der Sorge geleitet, ein unerfülltes Leben zu führen – nicht unerfüllt nur dadurch, dass ihm begrenzt viel Lebenszeit zur Verfügung steht, sondern un138 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Die Angst vor sich selbst
erfüllt vor allem deswegen, weil er innerhalb dieser begrenzten Lebenszeit in der distalen Abwehr von anderen bestimmt wird und stets darum kämpft, weiterhin und immer wieder von anderen bestätigt zu werden. Frankl sieht folglich in der Furcht vor dem Nichts wie Rank vor ihm auch eine Angst vor dem Leben, wenngleich er diese Lebensangst auch anders herleitet als Rank: nämlich nicht als Abkehr von dem Ganzen in der Individuation, sondern als Angst davor, in der defensiven Hingabe die Fülle des Lebens zu versäumen und damit der eignen Lebensverantwortung nicht gerecht zu werden. Somit findet sich in Frankls Analyse nicht nur eine neue Problembeschreibung des Menschen auf der Flucht vor sich selbst (mit gelegentlichen Verunsicherungseinbrüchen wie der Sonntagsneurose), sondern auch Hinweise auf die darin verborgenen Chancen und Möglichkeiten des Endes der Verdrängung – denn nicht zuletzt ist die prekäre existentielle Lage des Sonntagsneurotikers darauf zurückzuführen, dass er seine Angst unkenntlich und damit auch unbeherrschbar und indiskutabel gemacht hat, weil er sie durch Verdrängung dem Zugriff reflexiver Analysierbarkeit entzogen hat. Mit anderen Worten: Diese Analyse legt wieder nahe, dass der Sonntagsneurotiker selbstgewählt auf der zuständlichen Begegnungsebene mit existentiellem Unbehagen verbleibt, weil er sie gerade von dort aus auch viel leichter verdrängen und emotional bewältigen kann. Zugleich ist der existentielle Zweifel, der im Zusammenhang mit der Sonntagsneurose immer wieder in Erscheinung treten will, gar nicht mehr nur mit dem factum brutum des Todes befasst, sondern reicht noch viel weiter. Er erstreckt sich auf das Gesamte des Lebens angesichts des Todes: Wie können dieses Leben und dieses Selbst hier und heute Bedeutung haben, wenn sie doch ohnehin keinen Bestand haben? Was anderes kann dieses Selbst sein als etwas, das zumindest sozial etwas wert ist, wenn es schon biologisch hinfällig ist? – diese Fragen meinen offenkundig nicht alleine die begrenzte Planbarkeit und Quantität des Lebens, sie stellen vielmehr auch radikal in Frage, ob irgendetwas und man selbst überhaupt von Bedeutung sein kann, wenn alles und man selbst mit ihm so flüchtig ist. Frankls Analyse erweitert damit Ranks Modell um den Vorschlag, wir hätten es hier zwar mit einer grundlegenden Angst und nicht zwei zu tun, dafür aber nicht mit einem einzelnen, sondern mit wenigstens zwei Dilemmata angesichts der Sterblichkeit: auf biologischer und psychologischer Ebene mit dem Problem des Wissens um die eigene Sterblichkeit und der damit einhergehenden Frustration 139 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Gehalte und Ziele der Abwehr
des Überlebenswillens (zuständlich); und auf existentieller Ebene mit der Frage, was die Endlichkeit des Daseins über das Daseins selbst aussagt, wie sich also der eigene Tod auf die Bedeutung und den Wert des Einzellebens auswirkt (gegenständlich). Nüchterner formuliert und auf die TMT angewendet sagt dieser Vorschlag allerdings auch, der Mensch sei durch seinen Selbsterhaltungstrieb biologisch genötigt, an einem Leben zu hängen, von dem er zugleich gerade angesichts des Tods den Verdacht hegt, dass es möglicherweise letzten Endes ohnehin sinnlos sei. Es wäre an dieser Stelle daher vermutlich verkürzend, ein Entweder-oder-Szenario existentieller Ängste (Sinnlosigkeit oder Sterblichkeit) zu zeichnen – wie wir sahen, ist es auch möglich, von einer allgemeineren und grundlegenden existentiellen Verunsicherung auszugehen, die verschiedene Gestalten und Ausdrucksformen als Lebens- und Sterbensangst oder Angst vor der Bedeutungslosigkeit annehmen kann. Auffällig ist jedoch auch die Schnittmenge dieser Ängste: Da wie dort – in der Sonntagsneurose wie in der defensiven Angstvermeidung angesichts der Sterblichkeit – wird der Mensch mit der Möglichkeit konfrontiert, dass sein Leben sinnlos dahingeht, ohne je zu wahrer Entfaltung zu finden, weil er die bewusste und gegenständliche Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen meidet. Da wie dort ist die Verunsicherung zugleich nicht nur ein zuständliches Symptom einer problematischen psychologischen Auseinandersetzung mit einer existentiell prekären Situation, sondern potentiell auch ein Weckruf und eine Erinnerung daran, dass gerade die begrenzte Lebenszeit uns nur begrenzt viele, dafür aber umso gewichtigere Möglichkeiten gibt, sinnvoll in der Welt zu wirken. Der Grundkonflikt zwischen Überlebensstreben einerseits und Kenntnis der Sterblichkeit andererseits, wie ihn Becker beschrieben hat, stellt sich aus dieser Perspektive somit als ein verdichteter Sonderfall eines noch umfassenderen existentiellen Dilemmas dar, das zugleich viel weitergehender und thematisch ausgedehnter – weil existentiell – ist, als die biologische und psychologische Angst vor dem Tod und ihr Vermeiden. Eröffnet sich einmal diese Perspektive auf das Problem der eigenen Sterblichkeit, scheint schon ein bloß kursorischer Blick auf die zahlreichen philosophischen und literarischen Zeugnisse der Verknüpfung von Sinnfrage und Sterblichkeitsproblem diesen Verdacht zu erhärten: von De Unamunos (1977) zweifelnd-anklagender Frage: »Wenn wir doch sterben, wozu dann all das?« über Tolstois in seiner 140 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Die Angst vor sich selbst
Lebensbeichte berichteten Sorge, alles könne umsonst sein, wenn doch am Ende ohnedies alles vergeht – eine übrigens sehr hellsichtige Absage an die Versprechungen der distalen Abwehr als Weg zur symbolischen Unsterblichkeit –, bis hin zu Kohelets Klage, alles sei nur Windhauch angesichts der Vergänglichkeit und schon daher, da ohne dauerhafte Wirklichkeit, auch sinnlos. Diese Sichtweisen und Berichte veranschaulichen zunächst ganz allgemein, dass für einige über den Tod nachdenkende Menschen mit der Angst vor der Sterblichkeit nicht alleine das Totsein oder der Tod als Gegenbild des Lebens und Überlebensstrebens gefürchtet wird, sondern stets auch die Sorge im Raum steht, dass im Grunde alles Tun und Erleben auf Nichts gebaut und daher bedeutungs- und grundlos ist. Das sich von diesem sorgenvollen Erleben aus anbietende kurzfristige psychologische Ausweichmanöver kennen wir bereits aus der TMT: Es heißt Abwehr. Wie der vor seinem Sterblichkeitswissen flüchtende Mensch steht somit auch der Sonntagsneurotiker grundsätzlich vor der Wahl, sich seiner Angst vor dem sinnlos geglaubten Leben entweder zu stellen oder sie immer wieder aufs Neue zu betäuben und zu verdrängen. Nur fällt in der Sonntagsneurose zugleich just die freiwillige Anbindung an genau jene gesellschaftliche Leistungsnormen als Kompensation der inneren Leere weg, deren vorübergehende Abwesenheit ihn ja überhaupt erst der Sonntagsneurose auslieferte mitsamt dem Bewusstsein, dass er zum freien, individuellen Vollzug seiner je eigenen Daseinsmöglichkeiten noch gar nicht vorgedrungen ist. Diese Einsicht versperrt ihm allerdings meist auch die Möglichkeit, einige der klassischen in der TMT beschriebenen distalen Abwehrmechanismen glaubwürdig als Fluchtwege in Erwägung ziehen zu können. So kommt daher wenig anderes in Frage als die bloße Flucht: Also betäubt er, wie Frankl schreibt, wenn er nicht in eine Depression fällt, seine Leere. Er sucht existentielles »Asyl« zum Beispiel in der Unterhaltung: Wer kennt nicht die kaum verbergbare Trostlosigkeit im Gesichtsausdruck von Menschen, die für den Sonntag ihre Arbeit in Stich lassen mussten und gleichzeitig selber in Stich gelassen wurden, indem sie beispielsweise ein Rendezvous versäumten oder keine Kinokarten mehr erhielten. […] Denn am Sonntag, wenn das Arbeitstempo der Arbeitswoche fortfällt, wird die Sinnarmut großstädtischen Alltags bloßgelegt. Und man hat bei allem Tempo den Eindruck, als ob der Mensch, der um kein Ziel im Leben weiß, den Weg des Lebens deshalb mit höchstmöglicher Geschwindigkeit liefe, damit er die Ziellosigkeit nicht merke. […]
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Gehalte und Ziele der Abwehr
Was unternimmt er nicht alles, um diesem Erlebnis zu entgehen. (Frankl 2005, 212)
Und: Aber der »Sonntagsneurotiker« flüchtet auch in ein anderes »Asyl« des Weekendbetriebs, in den Sportbetrieb. Da kann er z. B. so tun, als ob es das Wichtigste auf Erden wäre, welcher Fußballklub ein Match gewinnt. 2ßtimesß11 spielen – und tausendmal mehr Leute schauen zu. Bei einem Boxkampf gar sind nur zwei Menschen aktiv – allerdings kämpfen sie umso intensiver –, und hier gesellt sich noch ein Stück Sadismus zum Voyeurtum des inaktiven Zuschauers. Die neurotische Flucht in die Welt der Romane, in die Welt ihrer »Helden«, mit denen sich der Neurotiker irgendwie identifiziert, gibt ihm noch eine weitere Chance. (Frankl 2015, 114 f.)
Es ist folglich auch hier noch und wieder Verdrängung möglich, und womöglich ist sie auch hier ein ebenso regelhaftes Geschehen, wie es innerhalb der TMT-Literatur angesichts der Mortalitätssalienz beschrieben wird. Die Freizeitindustrie leistet unter diesem Blickwinkel wenig anderes, als dem Menschen ein schier überwältigendes Angebot zu stellen, wie er dem Zurückgeworfensein auf sich selbst wieder ausweichen kann und das unbestimmte Gefühl, sein Leben zwar abzuleben, aber nicht selbst zu führen, zu betäuben oder gar nicht erst aufkommen zu lassen. Elisabeth Lukas konnte in diesem Zusammenhang etwa in einer experimentellen, über 1.000 Versuchspersonen umfassenden Feldstudie über existentielle Verunsicherung in Wien nachweisen, dass Besucher von Vergnügungsparks im Vergleich zu Kontrollgruppen die weitaus höchsten Werte an existentiellen Leeregefühlen aufwiesen (getestet wurde an 18 verschiedenen Standorten; Lukas 1986). Auch Fromm hat den Zusammenhang zwischen der Flucht vor dem Existentiellen in die Freizeitbeschäftigung in einer hellsichtigen Analyse des modernen Menschen aufgegriffen und wie folgt beschrieben: Wir sehen stundenlang fern, machen eine Ausfahrt, reisen, gehen auf Parties usw. Da gibt es keine Minute zwischen dem Aufstehen und dem Schlafengehen, in der wir nicht beschäftigt sind. Bewusst sind wir tatsächlich nicht gelangweilt; ich möchte aber fragen, wie schrecklich gelangweilt man sein muss, um die meist völlig leere Unterhaltung am
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Die Angst vor sich selbst
Fernsehen, das bedeutungslose Geschwätz, die verlogenen und sentimentalen Filme als befriedigende »Entspannung« zu empfinden? Wir strengen uns sehr an, Zeit zu sparen, aber dann wissen wir nicht, was wir damit anfangen sollen, außer die gewonnene Zeit »totzuschlagen«. Langeweile hat mit der Abwesenheit von innerer Lebendigkeit, produktiver Aktivität, genuiner Bezogenheit zur Welt und echtem Interesse an allem, was uns umgibt, zu tun. (Fromm 1968, 389)
Die Abwesenheit von »innerer Lebendigkeit« und »echtem Interesse« – an diesen Punkt führt uns die Analyse der langfristigen Folgen des Meidens der existentiellen Konfrontation: Vor dem Hintergrund der Sonntagsneurose und der Angst vor dem Nichts geht die »genuine Bezogenheit zur Welt« in der Sorge unter, dass der Tod nicht alleine zuständlich irritierende Angst vor dem Tod als Auslöschung meint, sondern auch Grund ist zur gegenständlichen Furcht vor der Entwertung des eigenen Daseins insgesamt. Hier wie dort begegnet uns somit in immer neuen Zusammenhängen die Annahme und Angst vor der Sinn- und Orientierungslosigkeit angesichts der Sterblichkeit. Bestärkt wird die Vermutung eines starken inneren Zusammenhangs von Todesfurcht und Angst vor der Sinnlosigkeit auch durch ein weiteres Indiz: Es lassen sich die distale Abwehrmechanismen der TMT nämlich mühelos und ohne Abstriche umdeuten als Versuche, in einem Kulturmodell Orientierung und Ordnung zu finden und sich selbst Sinn und Selbstwert trotz der und über die Vergänglichkeit und scheinbare Vergeblichkeit hinaus zusprechen zu können. Die Flucht in eine kulturelle Weltsicht und der Versuch, sich innerhalb dieser kulturellen Weltsicht eine bedeutende Position zu erwerben, verspricht demnach neben der symbolischen oder individuellen Untersterblichkeit zumindest ein Surrogat von Bedeutung. Genau genommen beantwortet die distale Abwehr unter diesem Gesichtspunkt augenscheinlich auch viel eher und direkter die Sinnfrage als das Problem der Sterblichkeit – sie soll erlösen aus der Heimatlosigkeit und der Angst vor der Bedeutungsund Sinnlosigkeit, wie sie in der Sonntagsneurose immer wieder zutage tritt und dann im Alltagsgeschehen baldmöglichst wieder betäubt wird durch geliehene Identitäten oder Ablenkung. Zwar ist die Wahl der Methode der Betäubung, wie wir gesehen haben, hinterfragbar und trägt mit ihrer ausgeprägten Scheu vor Konfrontation und Bewährung und ihrer nahezu exklusiven Befasstheit mit den emotionalen Folgen – statt mit ihrem Grund – nach wie vor neuroti143 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Gehalte und Ziele der Abwehr
sche Züge. Aber zugleich sind wir nun schon einen entscheidenden Schritt weitergekommen, wenn wir erkennen, dass es womöglich nicht nur das Nichts des Todes ist, welches der Abwehr zugrunde liegt, sondern auch das Nichts der Sinn- und Bedeutungslosigkeit.
3.7. Die eigentliche Weite existentieller Verunsicherung Fassen wir noch einmal zusammen, was die bisherigen Überlegungen und Befunde nahelegen: Es bedarf zum Verstehen und Aktivieren der Abwehr nur zwei Dinge: auf der einen Seite eine existentielle Erschütterung (die Erinnerung an die eigene Sterblichkeit) und auf der anderen Seite eine gewisse Unbeweglichkeit und den Unwillen, sich der damit einhergehenden gegenständlichen Irritation zu stellen. Dem Sonntagsneurotiker etwa erscheint die innere Leere nicht als eine Aufforderung, sein Leben freier, verantwortlicher, proaktiver, autonomer und existentieller zu gestalten, sondern als eine bloße Befindlichkeitsstörung. Wir sahen auch, dass sich gerade darin die oben angesprochene neurotische Wendung vollzieht: Anstatt sich der Unruhe zu stellen, oder wenigstens den Versuch dazu zu unternehmen, sucht der Sonntagsneurotiker kompensierende Anerkennung, Anweisungen oder Ablenkung von anderen, und tritt damit sogleich wieder den Rückzug vom Existentiellen an. In diesem Rückzug und dem Versuch, die Angst und Leere nur irgendwie zuständlich loszuwerden – außer dort, wo sie wirklich entsteht und wodurch sie begründet ist – liegt daher eine der Wurzeln des Problems der dualen Abwehr. Frankl hat diese existentiell-neurotische Haltung daher auch als pathogen gewordene existentielle Frustration gedeutet (und man kann vor dem Hintergrund der TMT hinzufügen: auch des pathogen gewordenen potentiellen existentiellen Terrors), zugleich aber stets hervorgehoben, dass das existentielle Unbehagen als gegenständliches Erleben an und für sich weder krankmachend noch krankhaft ist, sondern vielmehr Ausdruck reifen Menschseins und vor allem Ausdruck eines grundlegenden menschlichen Anliegens: zu verstehen, wozu wir da und gut sind. Das allerdings ist zugleich nach wie vor eine Frage, die von der Gegenwart des Todes immer wieder aufs Neue eingeholt wird. Denn gesetzt den Fall, man sei fündig geworden auf der Suche nach einer Antwort nach dem eigenen Daseinssinn, dann kommt nur allzu leicht das Erinnertwerden an den eigenen Tod als nächstes Hindernis dem Sinnvollzug in die Quere und mit 144 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Die eigentliche Weite existentieller Verunsicherung
ihm der Zweifel, ob nicht doch alles Sinnhafte durch die Vergänglichkeit der Dinge und die Sterblichkeit des Selbst wieder in Frage gestellt wird. Es sind diese Verunsicherungen, mit denen sich das Existentielle in den Alltag drängt, in denen aber auch Unruhe und Angst nur allzu natürlich und verständlich erscheinen – und in denen sie nicht zu empfinden einem vielmehr fragwürdig und unernst erscheinen muss. Existentielle Grenzerfahrungen wie Sterblichkeitserinnerungen und Sonntagneurose könnten unter diesem Vorzeichen somit auch Mahnung sein, das eigene Leben auf seinen Sinn und seine Endlichkeit zu überdenken und damit schon ungleich mehr als eine bloße zuständliche Belastung, die es um jeden Preis loszuwerden gilt. Sie fordern den Betroffenen im Gegenteil geradezu auf, aus der Ängstlichkeit selbstgewählter Grenzen oder der Belanglosigkeit des alltäglichen und todes- und sinnvergessenen Gewöhnlichen herauszutreten und jenseits der Ängstlichkeit und der Vertrautheit des Gewohnten und Abgesicherten eine grundlegende Lebensverantwortung zu übernehmen. So oder so: Das Unbehagen am ungelebten, uneigentlichen Leben belastet in Folge den Sonntagsneurotiker ebenso wie den distal Abwehrenden, denn es bringt nur stets neu zum Vorschein, dass die existentiellen Fragen bislang unbeantwortet, meist sogar unbedacht, blieben. Dieses Unbehagen mündet, so haben wir gesehen, dann am ehesten in einer Art existentieller Krise, wenn der Mensch es missversteht oder nicht zu verstehen bereit ist – etwa weil er sich einer Lebenshaltung verbunden fühlt, deren Ideal es ist, möglichst keine innere Anspannung aushalten zu müssen. Allers porträtiert diese Haltung in seiner 1963 erschienenen Phänomenologie der neurotischen Lebenswelt wie folgt: Konflikte, Schwierigkeiten aller Art, die man früher in Kauf nahm, als unvermeidlich anerkannte, erscheinen heute vielen als ungebührliche Störungen ihres Behagens. Sie sind überzeugt davon, dass sie ein Anrecht auf ein leichtes Leben haben und sehen daher im Konflikt nicht ein unausweichliches Moment der menschlichen Wirklichkeit, sondern ein »Symptom«. Überdies scheuen sie die Verantwortlichkeit, die jeder, auch nur einigermaßen folgenschweren, Entscheidung anhaftet. Daher sind sie nur allzu bereit, die Entscheidung anderen aufzubürden: dem Fachmann, der weiß, »wie man es macht«, oder auch dem Psychiater. Es ist nicht leicht zu sagen, ob man diese Menschen nun als Neurotiker ansehen solle, deren Neurose unter den gewiss komplizierten Bedingungen heutiger Existenz störender wird, als sie es ehedem gewesen
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Gehalte und Ziele der Abwehr
sein möchte, oder als Menschen, die in der Diagnose eine gültige Entschuldigung für ihre, oft genug selbstverschuldete, Lebensunfähigkeit finden und in der Behandlung einen Kompromiss zwischen ihrer Begierlichkeit und ihrer Feigheit. (Allers 1963/2008, 143)
Der Vollständigkeit halber muss man aber bei aller Selbstverantwortlichkeit, die man dem Sonntagsneurotiker für seine missliche Lage zuzusprechen versucht ist, ergänzend hinzufügen, dass nicht jedes Scheitern einer existentiellen Auseinandersetzung auf zuständliche Bequemlichkeit, auf Konfliktscheu oder auf Flucht vor der Selbstverantwortung zurückzuführen ist. Denn es ist ebenso möglich, dass sich jemand zwar ernstlich um existentielle Fragen bemüht, aber auf seiner Suche nach tragfähigen Antworten erfolglos bleibt oder entmutigt wird. Und es bleibt immer noch die Möglichkeit, dass die Sorge um die Sinnlosigkeit des sterblichen Daseins berechtigt ist, und Verdrängung und Abwehr der einzige Ausweg. Mit diesem Verdacht, dass alles vis-a-vis der Sterblichkeit sinnlos sei, müssen wir uns daher nun auseinandersetzen – und wie gesagt dabei vorausschicken, dass man jemanden, der für sich erkannt hat, dass alles sinnlos sei, nicht stets für konfliktscheu und denkbequem gehalten werden kann, insofern ja auch denkbar ist, dass er nach reiflicher Abwägung aller Indizien zum Schluss kommt, dass das Leben tatsächlich sinnentleert sei. Allerdings müssen wir uns fragen, ob sein Verdacht begründet ist. Und hier entfaltet sich ein weiteres Dilemma: Für den zeitgenössischen Menschen bleibt dieser Verdacht nämlich oft nicht nur Verdacht, sondern wurde vor allem in der Postmoderne zu einer verbreiteten Gewissheit: Wenn man die blind ausgewählten Versuchspersonen der TMT-Forschung (und anderer existentiell ausgerichteter psychologischer Forschungsprogramme, siehe Batthyány und Guttmann 2005) als Maßstab nimmt, kann man jedenfalls bald zum Schluss kommen: Der zeitgenössische Mensch hat zwar offenbar ein Verlangen nach Sinn, Halt und Geborgenheit, doch glaubt er manchmal zu erkennen, dass vor allem der Tod dieses Verlangen ad absurdum führt – angesichts dieser Unstimmigkeit zwischen Wunsch und Wirklichkeit verzweifelt er, und um nicht zu verzweifeln, wehrt er ab – womit der Kreis der dualen Abwehr geschlossen wäre. Man kann daraus ersehen, dass ein alternativer Weg zur existentiellen Neurose hin nicht über die fehlende Bereitschaft zur existentiellen Konfrontation, sondern über den dauerhaften existentiellen Zweifel führt: Der Mensch vernimmt in diesen Fällen die Signale aus seinem Innersten 146 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Die eigentliche Weite existentieller Verunsicherung
nach Sinn und existentieller Teilnahme sehr wohl, ist auch bereit, diesen Signalen Gehör zu schenken, findet aber auf seine existentiellen Fragen keine oder nur unbefriedigende Antworten. Es ist gut möglich und wird seit einigen Jahren auch vermehrt in der Religionspsychologie diskutiert, dass der Nihilismus der Moderne und der Erkenntnispessimismus der Postmoderne zu dieser Situation einen entscheidenden Beitrag leisteten, dass dem Menschen zwar nicht das Streben nach dem Wissen um einen notwendigen Daseinsgrund, dafür aber sein Vertrauen, einen solchen zu finden, abhandengekommen ist bzw. wohl noch tiefgreifender: Dass der postmoderne Mensch ein tiefes Misstrauen gegenüber der ihn nach wie vor der ihn umtreibenden Frage nach einem Daseinsgrund hat. So wird der Mensch im postmetaphysischen Denken umso stärker auf sich und sein Wissen um den eigenen Tod zurückgeworfen: scheinbar wie selbstverständlich davon ausgehend, dass der Tod ihn selbst, das Leben und zugleich alle Sehnsucht nach Sinn, Grund und Bedeutung des Lebens in Frage stellt, und zugleich nach wie vor existentiell angetrieben, Sinn, Grund und Bedeutung des Lebens finden zu wollen. Louie Savva beschreibt dieses Dilemma in seinem persönlichen Zeugnis einer existentiellen Krise wie folgt: We are all an end product and yes, free will must to some degree be an illusion. I have tried to drop my ego as much as I can. I do not think I make a difference in the universe and I do not wish to be worshiped by anyone. There are three facts which I now choose to acknowledge as the most important. There is no point to life. There is no survival after death. One day, the whole universe will die. With that knowledge I now find my life almost joyless. What point knowledge acquisition? Since one day it will be gone. What point acquiring money to buy pointless things that I have no interest in? The only important thing is experience and I would argue happy experiences. By all means do what you want to make yourself happy. That is how I am trying to live my life. But it is very very hard to do. I used to fill my life with inane past times (such as reading and watching films) but this seems to me to be unreal. (Savva 2006)
Wir sehen: Von der Denkbequemlichkeit und Faulheit, die man dem Sonntagsneurotiker attestieren könnte, findet sich hier nichts mehr; im Gegenteil zeigt sich jemand, der die Hoffnung auf eine realistisch 147 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Gehalte und Ziele der Abwehr
und rational begründete Lebenszuversicht verloren hat. Die von Theologen und Soziologen bisweilen so beschriebene metaphysische Entheimatung mag also zu diesem geistigen »Phantomschmerz« ebenso beitragen wie die Tatsache, dass das postmetaphysische Zeitalter ausgerufen wurde, noch bevor man die Gelegenheit wahrgenommen hat, sich nach dem Abbruch religiöser Gewissheiten nach philosophisch haltbaren Alternativen umzusehen, die das Leben auch dann lebenswert und sinnvoll sein lassen, wenn es endlich ist und sein Ende wirklich die Auslöschung aller Bewusstseinstätigkeit bedeutet. Denn auch – oder gerade – dann bleibt die gegenständliche Sinnfrage eine menschliche Frage: Sie ist dem Menschen nicht leicht abzugewöhnen. Wer das nicht versteht, verkennt den Menschen nicht nur; er stürzt ihn auch noch tiefer in Zweifel. Nicht nur zweifelt er dann an der Sinnhaftigkeit seines Daseins, sondern nun auch noch an seiner psychologischen Intaktheit, weil er ja nach wie vor fragt: wozu das alles? Es ist alles das nicht fern von der Idee, Sinnsuche sei selbst bloß neurotisch oder defensiv; und für den Einzelnen, der insbesondere durch die Sinnfrage bewegt ist – der sich aus seiner Denkbequemlichkeit befreit hat und nun auf die Suche nach existentiellen Antworten begibt, ist die Folge doppelt fatal. Nicht nur, dass er keine Antwort findet – das alleine schon verunsichert. Nun wird ihm auch noch zertifiziert, dass seine Suche Ausdruck nicht existentieller Not, sondern eigentlich nichts anderes sei als ein Denkirrtum oder eine psychologische Deformation (vgl. Batthyány 2017). Von hier aus kann es allerdings keine Gewinner auf der Suche nach psychischer Intaktheit mehr geben: Auf einmal ist also nicht nur das Vermeiden der existentiellen Konfrontation neurotisch, es ist vermeintlich ebenso neurotisch, sich ihr ergebnisoffen zu stellen und zu hoffen, dass da draußen irgendwo eine brauchbare Antwort auf ihn wartet. So etwa die Gegenstimme Freuds: Im Moment, da man nach dem Sinn und Wert des Lebens fragt, ist man krank, denn beides gibt es ja in objektiver Weise nicht; man hat nur eingestanden, dass man einen Vorrat an unbefriedigter Libido hat, und irgendetwas anderes muss damit vorgefallen sein, eine Art Gärung, die zur Trauer und Depression führt. (Freud 1960, 421)
Es braucht allerdings nicht viel Phantasie, um den Verdacht zu äußern, ob nicht solche radikalen und dogmatischen nihilistischen Absagen selbst nicht wiederum einem Abwehrmechanismus geschuldet 148 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Die eigentliche Weite existentieller Verunsicherung
sind – etwa weil angesichts der Sinnfrage rein psychologistische (bzw. eigentlich: pathologistische) Modelle auch bald an eine existentielle Grenze ihres Erklärungsvermögens stoßen und daher ihre Begrenztheit beim Verstehen aller menschlichen Phänomene eingestehen müssten, wenn sich zeigen sollte, dass die existentiellen Fragen des Menschen sich eben nicht nur auf psychologischer und zuständlicher Ebene abbilden, sondern auch existentiell und gegenständlich – eben weil sie nicht bloß gefühlsmäßig erlebt werden, sondern zugleich auch je etwas meinen, das weit über den bloßen momentanen Gemütszustand auf reale Umstände verweist, die wirklich zu lösen und zu begreifen sind. Vor diesem Hintergrund lautet daher die nächstliegende Frage weniger, ob die existentielle Verunsicherung selbst krankhaft ist, sondern vielmehr wieder, ob es auch nicht neurotische, versöhnliche und weniger offenkundig defensive Reaktionen darauf gibt – Reaktionen also, die die Sorgen und Unsicherheiten anerkennen, die damit bisweilen einhergehen können, die aber unterdessen nicht gleich voraussetzen, dass die Antwort jedenfalls eine negative (oder jede positive Antwort bloß ein psychologisches Abwehrmanöver) sei. Genau das nämlich gilt es erst, herauszufinden. Mit anderen Worten: Wenn das Ausweichen und Flüchten vor der Sinnfrage ohnehin nicht gelingt, findet sich mit der bewussten, expliziten Auseinandersetzung mit der existentiellen Verunsicherung womöglich ein Weg, die eigene Unbestimmtheit und den eigenen Tod bewusst anzunehmen, ohne sie zu verdrängen; und uns gegebenenfalls mit der Sinnfrage und der eigenen Sterblichkeit oder der Angst davor zu versöhnen. Ob und wie das möglich ist, gilt es ja noch zu untersuchen. Aber immerhin wissen wir nun bereits, wie und wo wir eine solche Versöhnung vermutlich nicht finden werden können: Die bisherigen Analysen der zuständlich begründeten Abwehrmechanismen legen jedenfalls nahe, dass gerade sie diese Aussöhnung verunmöglichen, weil sie einen Großteil der alltäglichen Lebensführung in den Dienst der bloßen Abwehr dieser Fragen stellen und nicht ihrer Beantwortung.
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4. Andere Zugänge zum eigenen Tod
4.1. Grenzbedingungen der dualen Abwehrmechanismen Den Tod zu uns sprechen lassen – damit finden wir über einige und teils recht weitläufige Um- und Abwege wieder zu dem hin, was eingangs als Aufforderung an den Philosophen genannt wurde: Sterben lernen heißt leben lernen, und das heißt auch: die Sorge angesichts der eigenen Sterblichkeit und der Sinnfrage nicht notwendig als etwas betrachten, wovor der Mensch fliehen müsste; denn sie könnte im Gegenteil ja auch ein Auftrag sein und seine Chance. Dass die zahlreichen Befunde der TMT zugleich zeigen, dass viele Menschen diese Chance wiederholt ungenutzt verstreichen lassen, mag zunächst entmutigen; aber der experimentelle Ansatz der TMT birgt zugleich auch die Möglichkeit, nun empirisch informierte Wege zu suchen, Sterben und die mit ihm einhergehende Sinnfrage bzw. das nichtverdrängte Wissen um die eigene Sterblichkeit in das Leben zu integrieren – einmal unter einem psychologischen Gesichtspunkt mit Blick auf das zuständliche Empfinden, zweitens unter einem philosophischen Gesichtspunkt mit Blick auf das Gegenständliche des Sterblichkeitswissen. Unter dem ersten Gesichtspunkt fragt sich zunächst ganz praktisch, unter welchen Umständen es möglich ist, andere, d. h. weniger vermeidende und abwehrende Reaktionsweisen auf die existentielle Verunsicherung zu aktivieren; unter dem zweiten Gesichtspunkt stellt sich genereller die Frage, welche philosophisch haltbaren Antworten auf die existentielle Verunsicherung wir finden können, die nicht wiederum nur im Dienst der Abwehr stehen. Es liegt nahe, dass und warum beide Fragen eng zusammenhängen: Denn sobald philosophisch haltbare, rationale und vielleicht auch versöhnlichere Antworten auf die existentielle Verunsicherung gefunden wurden, besteht zugleich auch weniger Anlass dazu, den eigenen Tod nur als Auslöser potentiellen Terrors proximal und distal abzuwehren: Der neurotische Zirkel der dualen Abwehr wäre durchbrochen. 150 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Grenzbedingungen der dualen Abwehrmechanismen
Dass eine solche Durchbrechung durch die Gewinnung eines weniger existentiell gefährdenden Bilds des eigenen Tods prinzipiell möglich ist, muss zudem nicht länger bloß in den Raum gestellt oder vorausgesetzt werden: Es wird experimentell bestätigt neben den oben erwähnten auch noch durch einige ergänzende Befunde aus der TMT-Forschung, die bereits einige Grenzbedingungen der dualen Abwehraktivierung benennen kann: etwa dass ältere Menschen im Gegensatz zu jüngeren Versuchspersonen dazu tendieren, unter MS toleranter und großzügiger werden, also keine distale Abwehrneigung in Form der Abwertung anderer zu zeigen (Maxfield 2007) – vermutlich, weil der eigene Tod für diese Personengruppe ein wesentlich selbstrelevanteres und daher weniger leicht zu verdrängendes Thema ist, vielleicht aber auch, weil gerade mit dem Ausbleiben der Verdrängung die Chance besteht, sich mit der eigenen Sterblichkeit zu versöhnen. Oder dass intrinsisch im Gegensatz zu extrinsisch religiösen Menschen, also Menschen, die eine nicht primär auf Gruppenzugehörigkeit, dogmatische Starrheit und soziale Anerkennung ausgerichtete, ergebnisoffene transzendenzgerichtete Lebenshaltung für sich gefunden haben, unter Mortalitätssalienz ebenfalls keine distale Abwehrmechanismen aktivieren – zumindest, wenn sie Gelegenheit dazu bekommen, ihre religiöse Gesinnung zu bekräftigen (Jonas & Fischer 2006). Diese wenigen Befunde legen zunächst einmal ganz allgemein nahe, dass die Repräsentation des eigenen Todes eine zentrale Rolle spielt mit Blick auf die Frage, ob überhaupt dual abgewehrt wird oder nicht. Für unsere Diskussion einer allgemein in den Sterblichkeitsdiskurs einzubringenden existentielleren Bestimmung der Sterblichkeit sind allerdings vor allem jene Faktoren von Interesse, in denen nicht chronische und damit schwer zu beeinflussende und steuerbare individuelle Personenmerkmale wie Alter oder intrinsische Religiosität als moderierende Faktoren der dualen Abwehr auftreten, sondern situative oder momentan evozierbare Faktoren. In diesem Zusammenhang ist etwa der weiter oben kurz schon erwähnte Befund relevant, demzufolge distale Abwehrmechanismen nicht in Gang gesetzt werden, wenn man die Versuchspersonen dazu anhält, in einem »rationalen« Verarbeitungsmodus zu verbleiben – mit anderen Worten, nicht nur zuständliche, sondern auch gegenständliche Aspekte der eigenen Sterblichkeit im Bewusstsein zu halten. Soweit liegen damit immerhin schon einige wenige Hinweise darauf vor, dass es prinzipiell möglich ist, bei durchschnittlichen Versuchspersonen den dis151 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Andere Zugänge zum eigenen Tod
talen Abwehrprozess durch ein Abwenden der Verdrängung und proximalen Abwehr ganz zu unterbinden. Allerdings muss man wohl einräumen, dass wir gerade das Pferd von hinten aufzäumen. Denn die hier beschriebenen Methoden sind im Alltag realistischerweise auf Dauer und unter natürlichen, lebensnahen Umständen kaum realisierbar. Die Strategie, eine gegenständlichere Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit anzuregen, indem man den Verarbeitungsstil der Personen durch direkte Aufforderungen ändert, dürfte vielmehr angesichts der Natürlichkeit, mit der Verdrängung geschieht, wenig praktische Erfolgsaussicht haben – vor allem aber wäre sie auch philosophisch nicht besonders befriedigend, denn sie wäre ihrerseits noch gar nicht intrinsisch und inhaltsorientiert begründet, sondern verdankte sich ausschließlich dem Imperativ durch andere. Und sie würde zweitens für sich allein genommen wenig an der assoziativen Verknüpfung von Sterblichkeit, existentieller Angst, Sinnfrage und distaler Abwehr durch kulturelle Weltsichtverteidigung oder defensive Steigerung des Selbstwertgefühls ändern. Sie würde bloß verhindern, dass diese Assoziationen in der jeweiligen Situation aktiviert und verhaltenswirksam würden. Es handelte sich somit wieder um reine Symptomkontrolle, aber gewiss noch nicht um eine Aussöhnung mit der existentiellen Verunsicherung selbst. Also müssen wir vorerst weiter Ausschau halten nach Bedingungen, unter denen Menschen von sich aus den Tod nicht verdrängen und werden dabei im Idealfall Personengruppen finden, die gewohnheitsmäßig die Bereitschaft aufbringen, den eigenen Tod im Bewusstsein zu halten, ohne ihn gleich wieder zu verdrängen. In einem zweiten Schritt gilt es dann zu untersuchen, welche Faktoren es sind, die diesen Personengruppen dazu verhelfen, auf Sterblichkeitserinnerungen weniger abwehrend zu reagieren. Der dritte Schritt besteht dann in der Auslotung der Frage, ob und wie diese Faktoren übersetzbar und übertragbar sind auf eine auch für die Allgemeinheit taugliche Repräsentation des eigenen Todes.
4.2. Folgen wirklicher Begegnungen mit dem eigenen Tod Nun gibt neben intrinsisch religiösen und älteren Menschen tatsächlich noch eine weitere große und im bisherigen TMT-Diskurs kaum beachtete Personengruppe, die auf Erinnerungen an den eigenen Tod scheinbar ganz anders reagiert als bisher beschrieben und diskutiert. 152 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Folgen wirklicher Begegnungen mit dem eigenen Tod
Diese Personengruppe sticht konkreter in zweierlei Hinsicht hervor: Erstens nehmen diese Menschen ihren Tod nicht nur theoretisch und hypothetisch vorweg, sondern sind ihm tatsächlich näher gekommen als die meisten Versuchspersonen einer klassischen TMT-Studie; zweitens widersprechen die Auswirkungen dieser Begegnung in vielerlei Hinsicht den meisten bisher besprochenen Befunden sowohl aus der TMT-Forschung als auch aus Frankls Beschreibung des Sonntagsneurotikers. Zunächst zur besonderen Art der Todesbegegnung dieser Personengruppe: Es geht hier um Fälle, in denen Mortalitätssalienz nicht beiläufig experimentell induziert wurde, sondern durch eine reale und intime Begegnung mit der eigenen Sterblichkeit in Form der Todesnäheerfahrung. Das Studium dieser Personengruppe ist auch deswegen interessant, weil es wiederum die oben erhobene Forderung erfüllt, einen längeren Beobachtungszeitraum der Wirkung bewusster Mortalitätssalienz auf die Einstellungen und das Verhalten der Betroffenen abzudecken als die Momentaufnahmen der im Labor getesteten abhängigen TMT-Variablen: Wie und was also denken Menschen über den Tod, die nicht nur mit dem Gedanken an die eigene Sterblichkeit konfrontiert werden, sondern mit dem Sterben selbst? Bevor wir uns näher ansehen, inwieweit die Todesnäheerfahrung uns hier Hinweise geben kann, ist es angesichts der tendenziellen weltanschaulichen Überladung des Themas vorerst nötig, das Phänomen der Todesnäheerfahrung selbst kurz zu umreißen: Die Todesnäheerfahrung (TNE) ist eine phänomenologisch komplexe, strukturierte Erfahrung, die von rund 8–18 % aller Menschen erinnert und berichtet wird, die eine medizinisch prekäre Situation überlebt haben – beispielsweise eine physiologische Krise während eines medizinischen Eingriffs oder in Folge eines Unfalls. Sie wird aber auch bisweilen von Menschen berichtet, die sich bloß subjektiv in »Todesnähe« oder Lebensgefahr wähnten (Batthyány 2018). Nun geht von der Tatsache, dass Menschen, die dem Tod subjektiv oder objektiv so nahe waren, von oft überraschend friedlichen und »transzendenten« Erfahrungen des Sterbens berichten, intuitiv eine hohe Deutungssogkraft aus, die schnell zu metaphysischen Interpretationen solcher Erfahrungen verleitet – Hubert Knoblauch spricht daher auch vom »Mythos der Todesnäheerfahrung« (Knoblauch 1999) als Begegnung mit dem Jenseits des Lebens. Im Folgenden wird es allerdings nicht um die Frage der metaphysischen Deutung der TNE gehen, dafür aber um ihre Wirkung. 153 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Andere Zugänge zum eigenen Tod
Daher soll für den folgenden kurzen Abriss der Todesnäheerfahrung und ihre psychologischen und existentiellen Folgewirkungen die Sterbeerfahrung lediglich als Endlichkeitsbegegnung gelten; damit können wir uns auch weitgehend von jenen Diskussionen fernhalten, die etwa der Fragen nachgehen, wie und wodurch genau eine TNE zustande kommt, was also ihre physiologischen und psychologischen oder möglicherweise transzendenten Ursachen sein könnten. Denn was immer der Sterbeerfahrung auch zugrunde liegen mag – feststeht, dass es sich dabei um eine oft subjektiv dramatische und schon von daher schwer zu vergessende Form der existentiellen Konfrontation handelt, deren Nachwirkungen uns an dieser Stelle daher auch deswegen mehr interessieren als die Erfahrung selbst. So haben etwa van Lommel und Kollegen für ihre in The Lancet erschienenen prospektive Studie zur Sterbeerfahrung zunächst 344 Patienten, die nach einem Herzstillstand wiederbelebt worden waren, innerhalb von im Schnitt 5 Tagen nach ihrer Reanimation befragt, ob sie während ihrer Krise bewusste Erlebnisse hatten. 18 % dieses Kollektivs (62 Patienten) berichteten über bewusste Erlebnisse mutmaßlich während des Herzstillstands bzw. während der Reanimation (van Lommel et al. 2001). Davon hatten knapp 70 % eine klassische Todesnäheerfahrung. Nach zwei Jahren konnten 37 und nach acht Jahren 23 Patienten des TNE-Kollektivs nachuntersucht werden. Mittels dieser drei Untersuchungszeitpunkte (Zeitpunkt 1: einige Tage nach der Erfahrung, Zeitpunkt 2: zwei Jahre später; Zeitpunkt 3: acht Jahre später) konnten also sowohl unmittelbare als auch mittelbare und langfristige Auswirkungen der Sterbeerfahrung erhoben werden: Vis-ávis einer Kontrollgruppe von wiederbelebten Patienten, die keine Todesnäheerfahrung erinnerten, zeigte sich bei jenen Probanden, die eine Todesnäheerfahrung hatten, zunächst eine signifikant verminderte Angst vor dem Sterben und zugleich signifikant erhöhte Werte in den Fragebereichen »Sinn des Lebens« und »Aufgabe im Leben«. Auch andere für unsere Diskussion relevante Parameter änderten sich dauerhaft und signifikant: Die Patienten erwiesen sich im psychologischen Profil als insgesamt empathischer, liebevoller, zugewandter und familienbewusster als die Kontrollgruppe, berichten von einem signifikant niedrigeren Stellenwert eines hohen Lebensstandards und einem ebenfalls signifikant gesunkenen Interesse an konfessioneller Gebundenheit bei zugleich wachsender intrinsischer Spiritualität und Religiosität. Insbesondere die letzten beiden Befunde sind in Hinblick auf die TMT relevant, insofern sie zwei klassische 154 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Folgen wirklicher Begegnungen mit dem eigenen Tod
Elemente der distalen Abwehr betreffen: Materialismus (als Selbstwertinstrument) und konfessionelle Anbindung (als kulturelle Weltsichtverteidigung). Van Lommel hat keine Korrelationsanalyse dieser beiden Faktoren mit der zugleich deutlich gesenkten Angst vor dem Tod und/ oder dem gestiegenen Glauben an ein Weiterleben und den hohen Sinnwerten dieser Gruppe vorgenommen; man kann daher nur Mutmaßungen darüber anstellen, ob die Gruppe derer, die eine Todesnäheerfahrung hatten, einige der Faktoren auf sich vereinten, von denen die oben genannten Studien zeigten, dass sie den dualen Abwehrprozess abschwächen. Einerseits mag generell eine Rolle spielen, dass ein signifikanter Anteil der Todesnäheerfahrenen aus ihrer Erfahrung die subjektive Gewissheit ableiten, dass es ein bewusstes Fortleben nach dem Tod gibt, das Problem der Endlichkeit aus ihrer Sicht also entschieden entschärft ist. Zugleich legen van Lommels Daten eine Zunahme der intrinsischen Religiosität nahe, von der Jonas und Fischer (2006; siehe auch Norenzajan et al. 2009) nachweisen konnten, dass sie ebenfalls mit einer signifikanten Abschwächung der distalen Abwehr einhergeht; und drittens ist hier die Tatsache miteinzubeziehen, dass es nach der oft als einschneidend erlebten TNE schlichtweg wesentlicher weniger leicht ist, die eigene Endlichkeit zu verdrängen, da die TNE van Lommels (und anderen) Studienergebnissen zufolge auch nach Jahren noch ausgesprochen gut und detailliert erinnert wird und ihrerseits natürlich nicht ohne Todeserinnerung gedacht werden kann (Greyson 2007). In einer älteren Arbeit zur Einstellungsänderungen nach einer TNE berichtet Noyes (1980) etwa, dass – in Widerspruch übrigens zu Beckers Aussage, dass »death is too terrorizing to face« (Becker 1973) – Todesnäheerfahrene üblicherweise den Tod als wesentliches, oft sogar bestimmendes Thema ihres Lebens erachten und zugleich angeben, dass insbesondere ihre Sicht auf den Tod ihrem Leben mehr Fülle und Sinn verleihe. Leider sind bislang keine TMT-Studien mit Todesnäheerfahrenen vorgenommen worden; dennoch sticht der Umgang von Todesnäheerfahrenen mit ihrer eigenen Sterblichkeit hervor, weil er sich in vielerlei Hinsicht so grundlegend vom Alltagsdiskurs der Sterblichkeit unterscheidet. Es bieten sich zugleich mehrere Erklärungsmöglichkeiten für die beobachteten Einstellungs- und Haltungsänderungen nach der Sterbeerfahrung an und es lässt sich mangels empirischer Daten derzeit nur mutmaßen, welche dieser Erklärungen diese Befunde am besten zu erklären imstande ist. Darum geht es an 155 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Andere Zugänge zum eigenen Tod
dieser Stelle allerdings auch vorerst weniger als um die Tatsache, dass die hier vorliegenden Daten deutlich machen, dass unterschiedliche Formen der existentiellen Konfrontation auch entsprechend unterschiedliche – vor allem langfristige – psychische Reaktionen auf das Sterblichkeitswissen hervorrufen können. Während also etwa in einer klassischen TMT-Studie im Labor der Tod in der Regel verdrängt und defensiv verarbeitet wird, liegen hier Hinweise darauf vor, dass Menschen, die dem Tod näher kamen als die meisten TMT-Versuchspersonen jemals im wirklichen Leben (ob nun subjektiv oder objektiv), dennoch oder gerade deswegen in der Lage zu sein scheinen, den Tod anzunehmen, ohne zugleich die üblichen Abwehrmechanismen zu aktivieren. Wenn daher auch derzeit keine Daten über die individuellen Gründe und Ursachen der Einstellungsänderungen zu Leben und Tod nach einer Sterbeerfahrung vorliegen, lässt sich jedenfalls festhalten: Der Mensch, der wirklich und bewusst und nicht nur im experimentellen hypothetischen Szenario mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert wird, findet kaum mehr die Gelegenheit, diese zu verdrängen: Zu unmittelbar und zu dramatisch ist die Erfahrung und ihre Erinnerung, zu unübersehbar sind oft die Folgen in Form von veränderten Lebensumständen oder bleibenden Erinnerungen. 1 Wenn Todesverdrängung und die damit zusammenhängenden psychologischen Nachfolgeprozesse also zwar wahrscheinliche, aber keine notwendigen Reaktionsmuster auf Sterblichkeitserinnerungen darstellen, stützt der TNE-Befund ein weiteres Mal die These, es hänge bis zu einem gewissen Grad von der eigenen Einstellung gegenüber dem Tod ab, ob man sich ihm bewusst zu stellen bereit erklärt und den dualen Abwehrprozess aktiviert oder nicht. Somit weist uns eine weitere Personengruppe den Weg zur Antwort auf die Frage, ob auch weniger defensive Wege zur Verfügung stehen, sich mit Tod Cozzolino hat vor diesem Hintergrund vorgeschlagen, die unterschiedlichen Reaktionen auf Sterblichkeitserinnerungen (MS-induzierte Abwehr, wie sie im Rahmen eines klassischen TMT-Experiments beobachtet werden kann oder existentielle Reifung, wie sie etwa in Folge einer Todesnäheerfahrung auftritt) seien nicht zuletzt abhängig davon, ob Mortalitätssalienz durch abstrakte Todeserinnerungen (wie in den meisten TMT-Studien) oder durch konkrete und individualisierte Todeserinnerungen bzw. Auseinandersetzungen mit dem eigenen Tod hervorgerufen wurden. Tatsächlich konnte Cozzolino zeigen, dass bei Versuchspersonen, die man zu persönlichen Todesreflexionen mittels eines an den Berichten von Sterbeerfahrenen angelehnten Fragebogens ermutigt, keine der klassischen in der TMT-Literatur beschriebenen Abwehrmechanismen nachgewiesen werden können.
1
156 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Zur Verhandel- und Abwendbarkeit der Abwehr
und existentieller Verunsicherung auseinanderzusetzen. Die Antwort lautet augenscheinlich: Ja, es gibt sie. Mit diesem Zwischenbefund stehen wir allerdings auch schon vor der nächsten Herausforderung: Wie lassen sich diese Befunde auf den Alltag derjenigen übertragen, die keine solch intensive Begegnung mit der eigenen Sterblichkeit erlebt haben: Sind diese Befunde überhaupt auf die allgemeine Repräsentation und Einstellung zum eigenen Tod übertragbar?
4.3. Zur Verhandel- und Abwendbarkeit der Abwehr Damit steht nun nach der inhaltlichen die ebenso zentrale methodische Frage im Raum, ob das Angebot alternativer Deutungen der Sterblichkeit auch allgemeiner zur gegenständlicheren, d. h. weniger defensiven Auseinandersetzung führen kann. Denn realistischerweise – und insbesondere angesichts des schieren Gewichts an empirischen Studien der TMT – ist dies die zweite Grundfrage, die wir unseren weiteren Überlegungen über alternative Wege des Umgangs mit der Sterblichkeit voranstellen müssen. Bisher zeigte sich ja lediglich, dass einige Personengruppen dem eigenen Sterblichkeitswissen weniger abwehrend und abweisend gegenübertreten als ein Großteil der nicht vorausgewählten Versuchspersonen der Mehrzahl der TMT-Studien. Wir müssen zugleich aber feststellen, dass die vermutlichen Gründe und Ursachen der alternativen Sterblichkeitsbegegnung dieser Personengruppen sich nicht ohne Weiteres auf die Allgemeinbevölkerung übertragen lassen: Weder das biologische Alter noch die Ausgeprägtheit intrinsischer Religiosität noch die Anwesenheit eines zur rationalen Verarbeitung der MS auffordernden Versuchsleiters noch erst recht das Erlebthaben einer TNE lassen sich realistischerweise kontrolliert und intendiert hervorrufen und daher als alltagstauglicher »Lösungs-« oder Heilungsversuch einer gestörten Beziehung zur eigenen Sterblichkeit in Anschlag bringen. Eine drei Studien umfassende Arbeit von Dechesne und Kollegen (2003) legt aber nahe, dass der hier beschrittene Weg der Suche nach übertragbaren Schutzfaktoren vor dem Abgleiten in die duale Abwehr zielführend ist. Die Arbeit verfolgte eine einfache, wieder mehr an der klassischen TMT ausgerichtete Argumentationslinie: Die Autoren gingen wie wir hier davon aus, dass die Verdrängung von Todesgedanken an den Rand des Bewusstseins (und die darauf folgende distale Abwehr) unter anderem davon abhängt, ob die Ver157 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Andere Zugänge zum eigenen Tod
suchspersonen mit ihrem Tod die Vorstellung von Auslöschung und Vernichtung in Verbindung bringen, folgerichtig also die Unterbindung einer solchen Verknüpfung mit geringerer oder keiner existentiellen Angst (und zuständlicher Angstabwehr) einherginge. Daher lautete die Vorhersage der Autoren: Kann man Versuchspersonen davon überzeugen, dass es ein bewusstes individuelles Fortleben nach dem Tod gibt, sollte der Tod kein fundamentales affektives Bedrohungsszenario mehr darstellen und sowohl die Sterblichkeitsangstabwehr als auch in Folge die proximalen und distalen Abwehrprozesse entweder ganz ausbleiben oder zumindest abgeschwächt werden. Zur Überprüfung dieser Vorhersage gingen die Studienleiter wie folgt vor: Unter dem Vorwand einer Persönlichkeitsstudie präsentierten sie ihren Versuchspersonen einen kurzen fingierten Text (deklariert als Material für eine Gedächtnisaufgabe) über aktuelle Forschungen über die TNE. Von diesem Artikel gab es zwei Versionen. In der ersten Textversion stand zu lesen, neuere Forschungsarbeiten legten nahe, dass die TNE starke Hinweise auf ein Leben nach dem Tod gäbe: One of the most exciting scientific developments of the past decade has been the findings from rigorous scientific investigation of the neardeath experience. Although scientists were initially skeptical of these reports, recent studies conducted by leading researchers at Harvard Medical School and Princeton University very strongly suggest that these experiences are very real indeed, and may suggest that some sort of existence does in fact continue after the physical death of the body. The following is a summary of the major points made in a recent summary of this research, reported by Dr. Henry Zimmerman of the Harvard Medical School. There is remarkable similarity in the reports of over 600 separate people who were declared clinically dead but were then revived and regained consciousness, including the following: (a) an out-of-body experience in which the person experiences the sensation of floating above the room and observing medical attempts to revive his or her body, (b) a feeling of moving through a tunnel of bright light toward an even greater source of light, (c) an absolute feeling of comfort and safety and an absence of fear or pain, and (d) some form of contact with previously departed loved ones or other caring persons. These same experiences were reported by virtually all people, regardless of religious background or belief. Even avowed atheists have reported this experi-
158 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Zur Verhandel- und Abwendbarkeit der Abwehr
ence. In one famous case, a psychologist who had written articles critical of previous reports of this experience reported nearly identical events after nearly dying after a swimming accident; this of course led to a dramatic change in his opinions about the meaning of the near-death experience. In the cases where careful physical measurements could be taken, there were no signs of physical brain activity during this period, even when the most modern equipment was used. This shows that the body had clearly stopped its physical functioning while these experiences were occurring. Perhaps most remarkably, people have been able to report the physical details of the room in which this occurred that could be seen only from the perspective of above the room. In other cases, detailed reports of conversations had in the room by medical personnel have been made. A total of 98 % of people who have this experience return absolutely convinced that death is not the end of existence. Although additional research on this topic is clearly needed, the majority of medical authorities now acknowledge that these experiences provide serious evidence for the possibility that existence continues after the point of physical death. (ibid.)
Die andere (ebenfalls fingierte) Textversion hingegen berichtete, die Todesnäheerfahrung sei nunmehr endgültig als rein neurobiologisch erklärbares Phänomen entlarvt und jüngste Forschungsarbeiten würden damit eindeutige Hinweis darauf geben, dass alle Bewusstseinserfahrung neurobiologisch reduzierbar sei: One of the most misleading and often misinterpreted developments of the past decade has been the finding from rigorous scientific investigation of the so-called near-death experience. Although many people rushed to the conclusion that these »reports« were evidence of life after death, today scientists are convinced that these reports simply reflect hallucinations produced by a damaged brain that is deprived of oxygen. Recent studies conducted by leading researchers at Harvard Medical School and Princeton University very strongly suggest that these experiences are very rare and correspond with clear evidence of crisis responses in the brain of injured or ill people. These so-called experiences provide no convincing evidence that anything other than simple physical and chemical reactions occur after the death of the physical death of the body. The following is a summary of the major points made in a recent summary of this research, reported by Dr. Henry Zimmerman of the Harvard Medical School. Although there is some similarity in the
159 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Andere Zugänge zum eigenen Tod
reports of separate people who were declared clinically dead but were then revived and regained consciousness, the vast majority (98.3 %) report no such experiences. Supposed out of body experiences, tunnel of light, and other reports have been shown to occur only when there is damage to specific parts of the brain that are involved in dreaming and fantasy. Oxygen deprivation appears to play a major role in this damage. These experiences are consistently reported only among people with strong religious background or belief in an afterlife. Although 12 % of religious people who are declared clinically dead but then are revived have the »near-death experience,« only 1.2 % of nonreligious people declared clinically dead have this experience. Only a few cases of such experiences among the nonbelievers can probably safely be attributed to oxygen deprivation combined with a desire to believe in some form of afterlife. In all cases where careful physical measurements could be taken, there were clear signs of low-level physical brain activity during this period. This shows that the body had clearly not stopped its physical functioning while these experiences were occurring and that some form of brain activity is responsible for the experience. People’s reports of things observed while in the near-death state bear no resemblance to things that were actually occurring during this period. So-called recollections of observations from above the room have been shown to be completely inaccurate. Although many people would like to believe that the so-called near-death experience is evidence of life after death, this is clearly a result of normal psychological processes and the desire to believe in such things. (ibid.)
Die Hälfte der Versuchspersonen las die erste Version des Artikels, die andere Hälfte die zweite Version. Anschließend füllten die Versuchspersonen zur Aufrechterhaltung der Coverstory einige Fragebögen aus; bei dem letzten wurden die Versuchspersonen gebeten, ihre spontanen Reaktionen zu Fragen niederzuschreiben, von denen frühere psychologische Forschung gezeigt hätte, sie würden aussagekräftige Faktoren für die Erstellung adäquater Persönlichkeitsprofile erheben. Im Rahmen dieses letzten Fragebogen wurde jeweils die Hälfte dieser Versuchspersonen, die den ersten oder zweiten Artikel gelesen hatten, nun einer Mortalitätssalienzmanipulation unterzogen, indem sie unter anderem über die Gefühle, die die Gedanken an den eigenen Tod hervorriefen, befragt wurde (s. o.); jeweils die andere Hälfte der Versuchspersonen nach Textkondition erhielt stattdessen eine Frage über ihre Fernsehgewohnheiten (Kontrollgruppe). 160 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Zur Verhandel- und Abwendbarkeit der Abwehr
Anschließend führten alle Versuchspersonen eine kurze einfache Ablenkungsaufgabe aus, wonach ihnen mitgeteilt wurde, dass die Auswertung ihres Persönlichkeitsprofils inzwischen fertiggestellt worden sei. Die Versuchspersonen wurden nun gebeten, die Akkuratesse ihres Persönlichkeitsprofils auf mehreren Skalen (akkurat, relevant, konsistent und vollständig) zwischen 1 (sehr) und 9 (gar nicht) zu bewerten. Tatsächlich aber bekamen alle Versuchspersonen dasselbe unrealistisch positive Persönlichkeitsprofil vorgelegt – und damit die Gelegenheit, selbstwertverzerrende Aufwertungen als distalen Abwehrmechanismus in Stellung zu bringen: People with this personality profile are generally liked by others. Their willingness to entertain both themselves and others is highly commended. These people are often intelligent too. Although they have their own ways of doing things, the chances of getting an influential position are very high. Their creativity enables them to solve many problems. Charm smoothes satisfactory involvement in intimate relations. Charm and wisdom makes them attractive to many. It is possible, though, that these characteristics emerge only later on in life. The chances are that ambitions prevent these people from doing everything that they would like to do. (ibid.)
Wie weiter oben dargelegt, legen frühere Forschungsarbeiten nahe, dass mortalitätssaliente Versuchspersonen ihr distal abwehrendes Selbstwertstreben häufig dadurch realisieren, dass sie eine solche überaus unrealistisch und unkritisch-positive Persönlichkeitsbeschreibung für stärker auf sie zutreffend halten als nicht mortalitätssaliente Versuchspersonen der Kontrollgruppe (Dechesne et al. 2000). Tatsächlich konnte dieser Befund auch in diesem Experiment wiederholt werden – allerdings nur bei den Versuchspersonen, die den TNE-skeptischen Artikel gelesen hatten. Hingegen zeigten mortalitätssaliente Versuchspersonen, die den überlebensbejahenden Artikel gelesen hatten, kein erhöhtes Selbstwertgefühlstreben gegenüber der Kontrollgruppe (d. h. keine distale Abwehr). In einer Folgestudie überprüften Dechesne und Kollegen weiters die möglicherweise abschwächende Wirkung des manipulierten Glaubens an ein Leben nach dem Tod auf die distale Verteidigung sozialer Normen durch Abstrafungen normverstoßenden Verhaltens auf einer Transgressionsskala. Auch hier wiederholte sich dasselbe Ergebnis: Mortalitätssaliente Versuchspersonen in der TNE-skepti161 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Andere Zugänge zum eigenen Tod 22 20 18 16 14 12 10 MS TNE-Fortleben
Kontrollgruppe TNE Reduktiv
Fig. 1. Selbstwertstreben: Höhere Werte bedeuten stärkere Zustimmung zum positiven Persönlichkeitsprofil (3–27 Punkte).
schen Gruppe stuften mittelschwere Normverstöße als signifikant schwerwiegender ein als die Kontrollgruppe und mortalitätssaliente Probanden der TNE-positiv-Kondition; zwischen den letzten beiden Gruppen gab es hingegen keinen signifikanten Unterschied: Whereas previous research has shown that reminders of death but not reminders of other aversive events lead to increased self-esteem striving, the present findings show that directly addressing the fear of death by providing evidence that death is not the end of existence eliminates this effect of mortality salience on self-esteem striving. […] All three of the present studies showed that when provided reason to believe in the existence of some form of literal immortality, people are less likely to respond to death-related thoughts by increasing their striving for self-esteem or defense of their world-view. (ibid.)
Diese Ergebnisse zeigen damit erstens (und erstmalig), dass bereits einfache und kurze persuasive Kommunikationen eine bewusste Einstellungsänderung zum Tod herbeiführen können, die ihrerseits ausreicht, um den klassischen TMT-Prozess der dualen Abwehr ganz zu unterbinden bzw. angesichts der bewusst erlebten Auflösung des Sterblichkeitsdilemmas schlichtweg unnötig zu machen. Die Tatsache, dass es mit wiederum blind ausgewählten Versuchspersonen und mit unterschiedlichen Versuchsprotokollen und abhängigen Variablen durchgeführten Experimenten gelungen ist, innerhalb eines so kurzen Zeitraums über den Moderator »Todesrepräsentation« so 162 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Zur Verhandel- und Abwendbarkeit der Abwehr 5,5 5,4 5,3 5,2 5,1 5 4,9 4,8 4,7 MS TNE-Fortleben
Kontrollgruppe TNE Reduktiv
Fig. 2. Kulturelle Weltsichtverteidigung: Abstrafung normverstoßenden Verhaltens. Höhere Werte bedeuten stärkere Abstrafung (1–7 Punkte).
tiefgreifend in vermeintlich »normale« (für die proximale Verdrängung) und automatische (für die distale Abwehr) Prozesse einzuwirken, bestätigt somit auch experimentell, dass es sich bei den in der TMT beschriebenen Abläufen tatsächlich um methodisch verhältnismäßig leicht abwendbare und generell noch verhandelbare Geschehen handelt – hier allerdings zum ersten Mal durch alltagsfähige Maßnahmen wie die Darbietung einfacher persuasiver Texte und nicht durch ohnehin nicht gezielt induzierbare individuelle Unterschiede wie Alter, intrinsische Religiosität und das Durchlebthaben einer Todesnäheerfahrung. Damit ist nun zugleich Raum geschaffen für die dritte und eigentlich inhaltliche Herausforderung – nämlich für die noch viel entscheidendere Frage: Ist das existentielle Dilemma der eigenen Sterblichkeit überhaupt rational, philosophisch lösbar? Wenn sich mit anderen Worten zeigt, dass bereits so kurze persuasive Texte ein neues Verständnis des eigenen Todes vermitteln können, vor dessen Hintergrund die Versuchspersonen keine Notwendigkeit mehr wahrnehmen, das Denken an die eigene Sterblichkeit defensiv zu verarbeiten, rückt nun die im Kern philosophische Aufgabe eines neuen Verständnisses der eigenen Sterblichkeit erneut und umso virulenter in den Vordergrund. Auf diese Herausforderung und Frage geben die vorgenannten Studien allerdings noch keine brauchbare Antwort. Sie bekräftigen lediglich, dass es sich auch unter psychologischen Gesichtspunkten lohnt, eine solche Antwort zu suchen, da sich diese Antwort nach163 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Andere Zugänge zum eigenen Tod
weisbar auswirken kann auf die Aktivierung der dualen Abwehr. Es ist damit zwar immerhin eine wichtige Hürde genommen; die nächste Hürde aber lautet: Ganz offenkundig sind die hier beschriebenen vor defensiver Verarbeitung schützenden Todeseinstellungen der Versuchspersonen als rationale philosophische Spuren und Hinweisgeber ungeeignet: Sie waren entweder biologisch (Alter) oder religiös begründet (im Falle der intrinsischen Religiosität) oder beruhten auf dem Durchlebthaben einer schweren gesundheitlichen Krise oder auf bewussten Manipulationen durch die Versuchsleiter (in den Arbeiten von Dechesne et al.). Erstere fallen selbstredend a priori als änderbare Variablen aus; die Zweiten sind für eine rationale Durchleuchtung des Todesproblems nicht geeignet, weil sie sich auf Offenbarung, Glauben oder Glaubenserfahrung und andere außerrationale Quellen stützen; und Letztere sind es nicht, weil sie auf Manipulationen, d. h. fiktiven Texten, beruhen: Die religiöse Quelle muss einer rationalen Analyse nicht in letzter Konsequenz standhalten, der fiktive Text kann es nicht. Das weitere Ziel ist damit klar umrissen und vorgegeben: Es geht nun darum, die existentielle Angst und Verunsicherung, die den proximalen und in Folge den distalen Abwehrmechanismen zugrunde liegt, direkt anzusprechen auf der Suche nach besseren Antworten als der bloßen Verdrängung und der ihr vielleicht vorausgehenden Resignation, der zufolge ohnedies nichts lösbar ist angesichts der eigenen Sterblichkeit und Verdrängung daher als einziger Ausweg bleibt. Um die existentiellen Ängste aber direkt anzusprechen und darauf einzugehen, ist jetzt daher – ausgerüstet allerdings mit den bisherigen Zwischenbefunden an Daten aus der TMT und Schelers und Frankls Reflexionen zur gegenständlichen existentiellen Konfrontation – noch einmal zu untersuchen, worin genau diese Ängste eigentlich bestehen.
4.4. Ausgangspunkte und Ziele der Flucht in die Struktur Anders formuliert lautet diese Frage: Ist, wie Becker und die Proponenten der TMT vermuten, der Gedanke an die eigene Sterblichkeit wirklich notwendigerweise so furchtbar und zugleich unlösbar, dass wir im Allgemeinen gar nicht anders können, als ihn zu verdrängen und das Sterblichkeitsdilemma auf soziale und andere Nebenschauplätze zu verlegen? Und noch grundlegender: Ist das von Becker 164 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Ausgangspunkte und Ziele der Flucht in die Struktur
und der TMT beschriebene Dilemma überhaupt wirklich ein existentielles und nicht bloß ein biologisch-psychologisches Dilemma in dem Sinne, dass unser unbändiger Überlebenstrieb frustriert wird und die Psyche darauf mit nachvollziehbarer, zugleich aber primär oder rein zuständlicher Angst und Irritation reagiert? In dieser Fragestellung finden auch zwei bislang parallel laufende Stränge der bisherigen Diskussion zusammen – denn auf der Suche nach Antworten auf diese Frage zeichnete sich schon in den vorhergehenden Kapiteln und in unterschiedlichen Zusammenhängen ab, dass es tatsächlich wenigstens zwei Erscheinungsformen sterblichkeitsbezogener existentieller Verunsicherung zu geben scheint: die Angst vor dem Nichts im Tod und die Angst vor dem Nichts in uns (sowie der Unwille, sich diesen Ängsten auszusetzen). Die erste bezieht sich direkt und unmittelbar auf den Tod und die Tatsache, dass dieser uns mit der grundsätzlichen Ausweglosigkeit des Projekts »Überleben« konfrontiert. Die zweite bezieht sich auf die Frage, ob die Ausweglosigkeit des Projekts »Überleben« nicht auch gleichzeitig die Hinfällig- und Sinnlosigkeit des individuellen Lebens überhaupt impliziert. Wir können beide Fragen auch in eine direktere, zeitliche Beziehung zueinander setzen: Die erste Frage richtet sich an die Zukunft – an die Unausweichlichkeit des dereinstigen Todes – und erst indirekt auch an ihre Auswirkung auf unser jetziges Leben. Die zweite richtet sich dagegen direkt an die Sinnhaftigkeit unseres gegenwärtigen Daseins vor dem Hintergrund seiner Endlichkeit. An dieser Schnittstelle offenbart sich zugleich ein deutlicher und für die weitere Diskussion wichtiger Unterschied etwa zwischen Frankls und Beckers (und dem TMT-)Modell des Umgangs mit der eigenen Sterblichkeit: Die TMT anerkennt, dass der Mensch aufgrund seiner höheren kognitiven Fähigkeiten imstande ist, seine eigene Endlichkeit zu verstehen, den eigenen Tod vorwegzunehmen und darüber in Furcht zu erstarren oder sich Sinnzusammenhänge (Kulturen und Religionen) zu konstruieren, die primär dem Zweck dienen, seine potentiellen Lebens- und Todesängste im Zaum zu halten. Mit anderen Worten beschreibt die TMT einen innerpsychischen Monolog, der primär dem Projekt dient, ein zuständliches Angstregulativ zu schaffen und dadurch das Alltagsleben und das Wissen um die eigene Sterblichkeit psychologisch erträglicher zu machen. In diesem impliziten Psychologismus mag auch der Grund liegen, weshalb die in der TMT beschriebenen Verteidigungsmechanismen allesamt unter philosophischer Begutachtung so grundlegend unvernünftig er165 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Andere Zugänge zum eigenen Tod
scheinen: nicht weil sie nicht zielführend im psychologischen Sinne wären (sie erfüllen ja zumindest kurzfristig eine psychologische Funktion und diese anscheinend relativ erfolgreich), sondern weil sie eine bloß psychologisch entlastende, d. h. zuständliche Antwort auf eine durch das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit aufgeworfene existentielle gegenständliche Fragestellung zu geben versuchen. Psychologisch entlastend ist diese Antwort daher nicht etwa, weil sie eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der existentiellen Verunsicherung anbietet, sondern weil sie den affektiven Folgen dieser Verunsicherung systematisch aus dem Weg geht. Dabei kann man aber vor lauter Abwehr leicht übersehen, dass Einiges (s. o.) dafür spricht, dass wir unreflektiert dem Tod unter anderem deswegen meist so wenig Gutes abgewinnen können und ihn deshalb als so verstörend empfinden, weil er nicht nur das bare Überleben selbst, sondern auch die Wirk- und Sinnmöglichkeiten unseres Lebens gefährdet – also nicht nur das Leben selbst, sondern auch seine existentielle Qualität. Es sei in diesem Zusammenhang erneut an Frankls Vorschlag erinnert, die Angst vor dem Nichts in uns sei letztlich auf dieselben Faktoren zurückzuführen, die uns auch Sorge über die eigene Vergänglichkeit bereiten; oder auch an Ranks Vermutung, Lebens- und Todesangst seien im Grunde zwei Gestalten ein und desselben Unsicherheitsgefühls, das damit allerdings auch schon stets mehr meint als nur den Tod als solchen, sondern entscheidend auch das Leben selbst. Demnach gelte, dass der Tod als definitive Absage an den Überlebenswillen nur die Zuspitzung (oder die Erinnerung) einer viel allgemeineren existentiellen Verunsicherung angesichts des Nichts in uns ist – dass mit anderen Worten der Tod einen zwar in besonderer Weise mit existentiellen Fragen konfrontiert, diese Fragen aber auch dann ihre Gültigkeit und ihr Verstörungspotential behalten, wenn der Tod selber gar nicht mehr im Mittelpunkt der Debatte steht. Die Botschaft der Sterblichkeit lautete dann: Nicht nur weiß der Mensch noch nicht, wer er ist und sein sollte; er weiß überhaupt nur, dass alles enden wird und fragt sich, ob es sich angesichts seiner Endlichkeit überhaupt lohnt, herauszufinden, wer er sein könnte und wozu er gut ist – wo er doch nicht einmal angesichts der Endlichkeit weiß, ob überhaupt irgendetwas zu etwas gut sein kann, wenn doch sowohl sein Ich als auch das von ihm Erlebte und Geschaffene vergänglich sind. Ein solcher Zweifel am Sinn des Daseins mag durch das Sterblichkeitswissen an Virulenz gewinnen, weil unter anderem zur Frage steht, ob der Tod nicht alles im und am Leben sinnentleert. Wie 166 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Ausgangspunkte und Ziele der Flucht in die Struktur
Frankls Diskussion der Sonntagsneurose darlegte, wären solche Sinnzweifel im Prinzip aber auch ohne explizites Sterblichkeitswissen schon beunruhigend genug; und wie bereits kurz angedeutet, ist es sogar möglich, die von der TMT beschriebenen distalen Abwehrmechanismen – Selbstwertsteigerung und kulturelle Weltsicht – als vorübergehende, wenn auch maskierte Antworten auf diese Sinnzweifel zu deuten: Das Selbstwertwissen sagt einem, dass man jemand ist (es beantwortet also die Frage, wer man sein solle); und die kulturelle Weltsicht sagt einem, dass man auf der »richtigen Seite« derer steht, die wissen, welche Bedeutung und welchen Sinn das Leben hat – und wenn man sich deren Sache zur eigenen Sache macht, sagt sie einem auch, welchen Sinn das eigene Leben hat. Mit anderen Worten: Es ist auch den Abwehrstrategien durchaus nicht anzusehen, welche existentielle Konfrontation sie eigentlich abwehren sollen – die Begegnung mit der eigenen Sterblichkeit oder allgemeiner die existentielle Unsicherheit und Bedürftigkeit des Ichs, die sich zwar auch, aber nicht nur aus dem Wissen um die eigene Sterblichkeit nährt. Eben dies gilt es nun zu untersuchen auf der Suche nach rationalen Annäherungen an die existentielle Grenzerfahrung. Denn nur wenn wir die Antwort auf diese Frage kennen, können wir auch Argumente und Strategien analysieren, die ermutigen, sich weniger defensiv mit existentiellen Belangen auseinanderzusetzen.
167 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
5. Vergänglichkeit und Sinnfrage
5.1. Unsterblichkeit als existentielles Problem Der bisherige Zwischenbefund besagt, dass das Nichts in Gestalt des Todes ein Grund zur abzuwehrenden Sorge und Angst sein kann, dass es aber auch andere existentielle Anliegen gibt, die vielleicht ebenso wichtig oder sogar wichtiger sind als der Tod, und die mutmaßlich auch erklären können, warum wir über den biologischen Überlebenstrieb hinaus existentielle Sorge gegenüber dem Tod empfinden könnten – etwa weil der Tod die Sinnfrage im Keim der Ausweglosigkeit ersticken zu drohen scheint. Gerade diese Sinnfrage wird nämlich umso drängender, wenn wir zu begreifen beginnen: Auch das von uns so wahrgenommene Sinnvolle ist früher oder später Beute des Nichts und wir mit ihm. Oder weil wir unseren selbst erkannten Möglichkeiten und Idealen nicht gerecht werden oder keinen Sinn finden und sehen: Wir haben zudem auch nur begrenzt viel Zeit, unseren Idealen gerecht zu werden oder Sinn zu finden. Der Tod steht in allen diesen und weiteren existentiellen Unternehmungen nicht mehr notwendig im Mittelpunkt; aber er ist ein zentraler Irritationsfaktor: Er sagt uns einerseits, dass das Gute fortwährend bedroht ist und andererseits die Suche nach diesem Guten womöglich durch unseren Tod zu einem Ende kommt, noch bevor wir gefunden haben, wonach wir suchen; bzw. dass der eigene Tod dem Guten ein Ende bereitet, auch wenn wir es gefunden haben. Man kann diese Hinweise darauf, dass der Tod alleine nicht notwendig das zentrale Moment der existentiellen Angst ist, auch anhand einiger ergänzender phänomenologischer Befunde erschließen, die nahelegen, dass der Tod und das Wissen um die eigene Endlichkeit auch auf psychologischer Ebene nicht notwendig das Übel schlechthin sind. Es lassen sich etwa leicht Szenarien ausmalen, in denen gerade die Abwesenheit des Todes als Ende aller Bewusstseinstätigkeit einen mindestens ebenso großen existentiellen Terror an uns heranträgt 168 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Unsterblichkeit als existentielles Problem
wie Beckers Dilemma der Sterblichkeit. Derartige Szenarien lassen sich leicht entwickeln, wenn man sich etwa vor Augen führt, dass der Tod abseits aller Angst, die er in den meisten Menschen hervorruft, wenigstens ein objektiv nachvollziehbar Gutes hat. In der Gewissheit, dass alles endlich ist, sagt uns das Sterblichkeitswissen nämlich auch, dass alles Leiden und das Ausgeliefertsein an menschliche und schicksalhafte Willkür und das damit verbundene Leid und auch alle Vulnerabilität und Sorge endlich sind. Der Tod ist das Ende allen Leidens; daher ist auch die Aussicht und Gewissheit, sterblich zu sein, eine Aussicht und Gewissheit, dass alles Leiden eines Tages ein Ende und zumindest für den Betroffenen selbst ein Vergessen finden wird. Auch die in Nachbargebieten laufende Debatte über ein »humanes Sterben«, über »das Recht auf den eigenen Tod«, auch das oft gehörte Wort, der Tod habe diesen oder jenen »erlöst«, geben Zeugnis davon. Und ein gewichtiges weiteres Zeugnis gibt auch die Vorstellung der Abwesenheit des Todes: Wenn der Tod nicht als Endpunkt alles Erlebens gesehen wird, dann auch nicht als Endpunkt allen Leidens. Die Abwesenheit des Todes ist bekanntlich ein prominenter Topos der Mythologie von Cheiron bis hin zum christlichen Annihilationismus, der es mit der Barmherzigkeit Gottes nicht in Einklang bringen kann, dass diejenigen, die seiner Gemeinschaft nicht würdig seien, dem ewigen Leid der Hölle preisgegeben würden. Dabei muss diese »Hölle« nicht einmal bloß physisch schmerzhaft sein; sie kann ihre Qualen auch bereits nur aus dem Ausgeliefertsein an das Nichts in uns speisen und doch nicht minder beängstigend sein: Sie kann mit anderen Worten auch aus schlichter Leere, Bedeutungslosigkeit und Beliebigkeit bestehen. Es ist ohne eine ganze Reihe an Zusatzannahmen in der Tat schwer vorstellbar, wie ein unendliches, also vom Tod befreites, Dasein nicht irgendwann langweilig und leer und damit wiederum erst recht existentiell verunsichernd wäre. Und damit tritt eine Frage auf, die der von Becker und der TMT vorgeschlagenen Bestimmung des existentiellen Dilemmas eine auf den ersten Blick unerwartete Wendung gibt: Wäre es die Auflösung dieses Dilemmas überhaupt wünschenswert; wäre es besser, nicht eines Tages sterben zu müssen? Es bedarf tatsächlich nicht viel Fantasie, um sich die Auswirkungen der Todlosigkeit auf die existentielle Qualität des Lebens auszumalen und zugleich zu erkennen: Es bedeutete die Abwesenheit des Todes nicht nur ein Mehr an Leben, sondern auch einen Mangel an fünf unser derzeitiges Leben auszeichnenden Dingen: Versäumnis, Dringlichkeit, Eile und Sinn und Verantwortung. Denn was könnte 169 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Vergänglichkeit und Sinnfrage
man versäumen, wenn einem die Ewigkeit zur Verfügung stünde und damit alles verschiebbar, revidierbar, kompensierbar wäre, weil immer genug Zeit verfügbar wäre, um das Ungetane und Unerlebte nachzuholen? Und was könnte eilig sein und dringend angesichts der Ewigkeit, was wäre einmalig und was würde uns zur Verantwortung rufen, wenn alles verschiebbar, nachholbar und änderbar wäre? Was wäre wertvoll und sinnvoll, wenn doch in der Ewigkeit jede Gelegenheit wiederkehren würde und jede Entscheidung und Handlung einmal die Gelegenheit hätte, wenn schon nicht erlebt und getan, so doch zumindest wiedergutgemacht oder neu probiert und abgeändert zu werden (Frankl 1998)? Eines der vielleicht eindrücklichsten Zeugnisse des Unglücks der Todlosigkeit in der neueren Literatur finden wir in der bekannten Erzählung »El Immortal« von Jorge Luis Borges. Es erzählt ein Unsterblicher über das Unheil des endlosen Lebens: Belehrt durch jahrhundertelange Übung hatte die Gemeinschaft der Unsterblichen vollendete Duldsamkeit, ja beinahe völlige Gleichgültigkeit erlangt. Sie wusste, dass innerhalb eines unendlichen Zeitraums jedem Menschen alles widerfährt. Auf Grund seiner vergangenen oder künftigen Tugendhaftigkeit verdient der Mensch sämtliche Güte, aber er verdient auch sämtlichen Verrat wegen seiner Niedertracht in der Vergangenheit oder Zukunft. So wie bei Glücksspielen die geraden und ungeraden Ziffern zum Ausgleich tendieren, so heben einander Geist und Torheit auf und berichtigen sich gegenseitig […]. Der flüchtigste Gedanke gehorcht einem unsichtbaren Plan und kann eine geheime Form krönen oder stiften. Ich weiß von solchen, die Böses taten, damit in künftigen Jahrhunderten Gutes aus ihm hervorgeht, oder damit es in bereits vergangenen hervorging … So betrachtet sind alle Handlungen richtig, doch sie sind auch gleichgültig. Es gibt weder sittliche noch intellektuelle Verdienste. Homer dichtete die Odyssee; postuliert man einen unendlichen Zeitraum mit unendlich vielen Umständen und Veränderungen, ist es unmöglich, nicht wenigstens einmal auch die Odyssee zu dichten. Niemand ist jemand, ein einziger Unsterblicher ist die ganze Menschheit. […] Die Anschauung von der Welt als einem System genauen Ausgleichs hat auf die Unsterblichen gewaltigen Einfluss geübt. Zunächst einmal hat sie sie gegen Mitleid unverwundbar gemacht. Ich habe die alten Steinbrüche erwähnt, die am Gestade des anderen Ufers klafften; ein Mann stürzte in den tiefsten ab; er konnte weder jammern noch sterben, doch verbrannte er vor Durst; bevor sie ihm einen Strick zu-
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Unsterblichkeit als existentielles Problem
warfen, vergingen siebzig Jahre. Ebenso wenig kümmerte sie das eigene Geschick. […] [A]lle Unsterblichen hatten die Fähigkeit, sich vollkommen still zu verhalten, ich erinnere mich an einen, den ich nie aufrecht stehen sah; ein Vogel nistete auf seiner Brust. Der Tod (oder seine Andeutung) macht die Menschen kostbar und anrührend. Das Bewegende an ihnen ist ihr Zustand der Bedrohung; jede Handlung, die sie ausführen, kann die letzte sein, es gibt kein Gesicht, das nicht zu zerfließen bestimmt ist, wie das Gesicht in einem Traum. Alles hat bei den Sterblichen den Wert des Unwiederbringlichen und des Gefährdeten. Bei den Unsterblichen dagegen ist jede Handlung (und jeder Gedanke) das Echo anderer, die ihr in der Vergangenheit ohne ersichtlichen Grund vorangingen, oder die getreue Weissagung anderer, die sie in der Zukunft bis zum Schwindel wiederholen werden. Es gibt kein Ding, das nicht gleichsam verloren wäre zwischen unermüdlichen Spiegeln. Nichts kann nur einziges Mal geschehen, nichts steht in kostbarer Weise auf dem Spiel. Das Elegische, das Ernste, das Feierliche hat keine Macht über die Unsterblichen. (zit. n. Weidemann 2016)
Was also kann einen ohne Tod noch wirklich interessieren, wenn man entweder alles schon kennt oder weiß, dass man alles zu einem beliebigen Zeitpunkt einmal kennenlernen kann und wird, wenn man gerade Lust dazu hat – aber zugleich angesichts der Beliebigkeit der endlosen Zeit auch nichts dafür (oder auch dagegen) spricht, dieses oder jenes zu tun, weil sich, wenn ewig viel Zeit zur Verfügung steht, alles auch ein anderes Mal erledigen ließe? Kurz: Alles wäre unverbindlich und reversibel, und es gäbe auch nichts, das nicht wiedergutzumachen wäre (oder auch durch Vergessen und Verstreichen der Zeit nicht letztlich an Bedeutung verlöre) – womit wir allerdings alsbald wieder genau dort angelangt sind, wo wir sahen, dass ein Leben ohne Sinn geradewegs wieder zu existentieller Verunsicherung führte. Welche Rolle spielen unser Dasein und Wirken, wenn man es bedeutungslos und beliebig erfährt? Paradoxerweise gibt dazu neben den Überlegungen zur Sonntagsneurose just die Selbstmordforschung Antwort. Sie berichtet übereinstimmend, dass Menschen, die über längere Zeit hinweg von der Leere, Bedeutungslosigkeit und Beliebigkeit ihres Daseins überzeugt sind, tatsächlich den Tod gar nicht mehr meiden, sondern ihn vielmehr aktiv suchen (Harlow, Newcomb & Bentler 1986; Heisel & Flett 2004): Sie haben nicht zu wenig Lebensdauer, sondern meist zu viel davon. 171 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Vergänglichkeit und Sinnfrage
Wie erstrebenswert wäre also ein solches Leben ohne Tod wirklich – ein Leben, in dem der Verdacht des Sonntagsneurotikers, es mangle ihm jeglichen tieferen individuellen Sinns, sich zur Gewissheit verdichtet hat, obwohl zugleich die von Becker in den Mittelpunkt gestellte Sterblichkeitsproblematik selbst »gelöst« ist? Schon ein kursorisches Durchdenken dieses Szenarios offenbart: Anscheinend gebiert nicht nur die Sterblichkeit Angst, sondern auch die Unsterblichkeit, sofern nicht zugleich auch die Sinnfrage angesichts der Unsterblichkeit geklärt ist. Man kann vermuten, dass dieser psychologische Sachverhalt mithin auch ein Grund dafür sein mag, weshalb die meisten religiösen Unsterblichkeitsmodelle sich in aller Regel nicht damit begnügen, bloß das Überleben des Todes, sondern zugleich auch ein sinnhaftes Eingebundensein in ein größeres Geschehen und Beziehen auf Gott oder andere transzendente Variablen in Aussicht stellen: Die Hoffnung auf Unsterblichkeit ist im religiösen Kontext stets auch die Hoffnung auf die Gemeinschaft mit dem Heiligen und Heilenden und der Unverbrüchlichkeit höherer Sinnzusammenhänge, in die der Einzelne eingebunden ist. Wie wesentlich solche Zusatzannahmen sind, um der Abwesenheit des Todes ihr tiefes existentielles Verunsicherungspotential zu nehmen, veranschaulicht eine weitere Darstellung des existentiellen Terrors des Nichts in uns vor dem Hintergrund der Annahme der prinzipiellen Unerlösbarkeit des Menschen aus dem existentiellen Vakuum aufgrund der Unsterblichkeit. In seiner Rede des toten Christus vom Weltengebäude herab, dass da kein Gott sei beschreibt Jean Paul in aller Eindringlichkeit die Folgen der Unsterblichkeit bei gleichzeitiger Abwesenheit von höheren Halt- und Sinnzusammenhängen. Dabei soll uns an dieser Stelle nicht ablenken, dass Jean Paul in seinem Text Sinn und Halt in die Sprache des Christentums gekleidet hat: Christus dient, übertragen auf unsere Diskussion, hier nur als Chiffre für die Hoffnung auf eine von transzendenten Sinnzusammenhängen getragene Welt und Gott als Chiffre für die Erfüllung dieser Hoffnung. Der Hintergrund des Texts: Der jüngste Tag ist angebrochen, es stehen die Gerechten aus ihren Gräbern auf und Christus erscheint – soweit läuft alles wie erhofft. Aber nun kommt eine unerwartete Wendung. Christus hat in all den Jahren, die seit seinem Aufstieg in den Himmel vergangen sind, Gott gesucht, aber nirgends gefunden. Die Auferstandenen fragen nun: »Christus, ist kein Gott?« Niedergeschlagen antwortet der auferstandene Christus: »Es ist kei172 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Unsterblichkeit als existentielles Problem
ner« und beschreibt seine Odyssee durch All und Unterwelt und seinen Befund – weder hier noch dort ein Gott: Der ganze Schatten jedes Toten erbebte, nicht bloß die Brust allein, und einer um den andern wurde durch das Zittern zertrennt. Christus fuhr fort: »Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft, und schaute in den Abgrund und rief: ›Vater, wo bist du?‹ aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermesslichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich […] und alles wurde leer.« Da kamen […] die gestorbenen Kinder, die im Gottesacker erwacht waren, in den Tempel und warfen sich vor die hohe Gestalt am Altare und sagten: »Jesus! haben wir keinen Vater?« – Und er antwortete mit strömenden Tränen: »Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.« […] So hob er groß wie der höchste Endliche die Augen empor gegen das Nichts und gegen die leere Unermesslichkeit und sagte: »Starres, stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! […] O Vater! o Vater! wo ist deine unendliche Brust, dass ich an ihr ruhe? – Ach wenn jedes Ich sein eigner Vater und Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein eigner Würgengel sein? … Erkennst du deine Erde?« Hier schauete Christus hinab, und sein Auge wurde voll Tränen, und er sagte: »Ach, ich war sonst auf ihr: da war ich noch glücklich, da hatt’ ich noch meinen unendlichen Vater und blickte noch froh von den Bergen in den unermesslichen Himmel und drückte die durchstochne Brust an sein linderndes Bild und sagte noch im herben Tode: ›Vater, ziehe deinen Sohn aus der blutenden Hülle und heb ihn an dein Herz!‹ … Ach ihr überglücklichen Erdenbewohner, ihr glaubt Ihn noch. Vielleicht gehet jetzt euere Sonne unter, und ihr fallet unter Blüten, Glanz und Tränen auf die Knie und hebet die seligen Hände empor und rufet unter tausend Freudentränen zum aufgeschlossenen Himmel hinauf: ›Auch mich kennst du, Unendlicher, und alle meine Wunden, und nach dem Tode empfängst du mich und schließest sie alle.‹ … Ihr Unglücklichen, nach dem Tode werden sie nicht geschlossen. Wenn der Jammervolle sich mit wundem Rücken in die Erde legt, um
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Vergänglichkeit und Sinnfrage
einem schönern Morgen voll Wahrheit, voll Tugend und Freude entgegenzuschlummern: so erwacht er im stürmischen Chaos, in der ewigen Mitternacht – und es kommt kein Morgen und keine heilende Hand und kein unendlicher Vater!« (Jean Paul 1922)
»Wir sind alle Waisen« – die Antwort auf diesen Zustand ist eine Frage, die den Tod nicht mehr als Bedrohung, sondern als Sehnsuchtsobjekt offenbart: »Ach wenn jedes Ich sein eigner Vater und Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein eigner Würgengel sein?«. Die Rede des toten Christus ist für seine unsterblichen Zuhörer ängstigend, weil sie ihnen jeglichen Halt raubt, der der Unsterblichkeit Gestalt und Sinn geben könnte und nur ein Teil der Hoffnung ihres Glaubens sich erfüllte: Sie leben ewig, erfahren nun aber zugleich aus verbürgter Quelle, ihr Leben habe nie einen Sinn gehabt, weil genau genommen nichts eine höhere Bedeutung hat. Ganz auf sich selbst gestellt, weiß nun keiner, wohin und wozu und wie dieses nicht mehr endende Leben zu führen sei. Schlimmer noch weiß ein jeder, dass es eigentlich gar kein Wohin und Wozu gibt. Zuvor war es umgekehrt: Sie hofften zwar auf die Ewigkeit, aber ihre Hoffnung gründete sich auf die Gewissheit, dass mit ihrem Gott eine Instanz existiere, die das Dasein von Anfang bis Ende wollte und darüber hinaus mit Sinn und Gehalt erfülle. Diese Gewissheit fügte die Klammer des übergreifenden Sinnes um ihr Dasein – sogar der Tod war in diesem Sinn aufgehoben. Im Jenseits ohne »Gott« ist der Mensch dieser Illusion beraubt: Der Tod ist besiegt, aber das Leben nun erst recht und grundlegend fraglich. Nicht sterben können bedeutet bei gleichzeitiger Abwesenheit höherer Sinnzusammenhänge diesem Zeugnis zufolge: Alles ist gleich gültig und gleichgültig, nichts geltend und bedeutsam, nichts dringlich und nichts sinnvoll. Zuvor war das Leben kurz und bedroht – nur ein Gott konnte sie retten; in der Angst war Hoffnung. Nun ist die Hoffnung auf Ewigkeit erfüllt – Beckers existentielles Dilemma ist gelöst – allerdings um den Preis der Sinnlosigkeit und Absurdität und in Folge der existentiellen Verunsicherung erster Ordnung. Auch hier begegnet uns also somit wieder derselbe Befund: Es ist allem Anschein nicht der Tod alleine, von dem ein gehöriges existentielles Irritationspotential ausgeht. Bevor wir dieser Spur weiter folgen, stellt sich allerdings eine Gegenfrage: So anschaulich Jean Pauls Zeugnis nämlich auch sein 174 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Unsterblichkeit als existentielles Problem
mag, erscheint es auf den ersten Blick, als stünde seine Bestandsaufnahme in direktem Widerspruch zur Wirkung der Todesnähe-Manipulation der oben zitierten Studien von Dechesne und Kollegen. Zeigte sich dort, dass der manipulierte Glaube an persönliche Unsterblichkeit das Todesfurchtproblem immerhin soweit zu lösen vermag, dass auch unter Mortalitätssalienz keine duale Abwehr mehr aktiviert wird, scheint Jean Pauls Text nahezulegen, dass das bloße Sterblichsein bzw. die durch den Tod angedrohte persönliche Vernichtung gar nicht zum Kern des existentiellen Dilemmas vordringt. Das allerdings konfrontiert uns mit einigermaßen widersprüchlichen Bestandsaufnahmen: Bei Dechesnes Versuchspersonen führte die Bejahung eines Lebens nach dem Tod zum Ausbleiben der Abwehrmechanismen in Reaktion auf Sterblichkeitserinnerungen. Bei Jean Paul hingegen bewirkt gerade die Aussicht auf ein Leben nach dem Tod, allerdings bei gleichzeitiger Abwesenheit einer sinnstiftenden Daseinsklammer, erst recht Furcht, Angst und Verzweiflung. Dort – bei Dechesne – finden wir also keine Verdrängung und Abwehr mehr angesichts der Zusage, der Tod sei nicht das Ende aller Bewusstseinstätigkeit, hier aber – bei Jean Paul – berichtet der Text vom blanken Entsetzen und existentiellem Terror nicht trotz, sondern gerade wegen der Unsterblichkeit. Der scheinbare Widerspruch zwischen beiden Bestandsaufnahmen löst sich allerdings bei näherem Hinsehen auf. Die einander widersprechenden Reaktionen mögen zum einen darin begründet sein, dass den Versuchspersonen in der Dechesne-Studie in der kurzen Zeit des Experiments unter Umständen gar nicht klar werden konnte, welchen bitteren Beigeschmack bloße Unsterblichkeit ohne sinnbejahende Begleitvorstellungen haben könnte – sie wurden lediglich kurzfristig vom Problem des Sterbens selbst befreit, darüber hinaus bestand aber kaum die Möglichkeit, die weiteren Folgen der Unsterblichkeit so tiefgehend zu reflektieren, wie dies augenscheinlich Jean Paul tun musste, um seinen Text zu konstruieren und niederzuschreiben. Zudem gibt es noch eine weitere Spur, die deutlicher macht, weshalb beide Bestandsaufnahmen nicht eigentlich in Widerspruch zueinander stehen: Es fällt auf, dass Dechesne und Kollegen als Versuchsleiter implizit in ihrem Versuchsdesign in Rechnung stellten, dass der experimentell induzierte Glaube an persönliche Unsterblichkeit alleine noch zu wenig ist, um das existentielle Dilemma zur Gänze aufzulösen. Tatsächlich wurde nämlich in Dechesnes überlebensbejahendem Manipulationstext nicht nur ausgesagt, neueste wissenschaft175 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Vergänglichkeit und Sinnfrage
liche Daten zeigten, dass mit einiger Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass wir nach dem Tod weiterleben. Es wurde darüber hinaus dieses Fortleben beschrieben als ein Zustand geprägt von »Ordnung, Harmonie und Verständnis« – also dem genauen Gegenbild zu jener Beliebigkeit und metaphysischen Heimatlosigkeit, von der Jean Pauls toter Christus berichtet. Im Gegensatz zum Bericht des toten Christus haben Dechesne und Kollegen sich zudem auch einige der zentralen transzendenten Grundmotive der positiven Todesnähenarrative zunutze gemacht und damit eine starke metaphysische Komponente in ihr Versuchsdesign eingebaut. So enthält der in Dechesnes Studien verwendete überlebensbejahende Manipulationstext unter anderen die Aussage, die Todesnäheerfahrung sei geprägt von »an absolute feeling of comfort and safety and an absence of fear and pain«, ferner, dass »contact with departed loved ones and other caring persons« aufgenommen wurde und am Gipfelpunkt der Erfahrung eine Begegnung mit einem »bright light leading towards an even greater source of light« stattgefunden habe (Dechesne et al. 2003). Mit diesen Beschreibungselementen ging der Manipulationstext offenkundig weit über eine bloße Bejahung einer einfachen bewussten nachtodlichen Existenzform hinaus; er legte den Versuchspersonen vielmehr auch nahe, dass das Sterben sogleich auch eine Brücke und Verbindung zu einer wohlwollenden, transzendenten und sinngebenden existentiellen Versorgungskraft darstellte. Dechesnes et al. positives Todesnähemodell beinhaltete mit anderen Worten einen kaum verhüllten Verweis auf die zeitgemäße Repräsentation der Transzendenz als ein »Licht, welches zu einem noch größeren Licht« hinführte – also zu eben jener Chiffre der Gottheit, die der tote Christus Jean Pauls seit seiner Himmelfahrt vergeblich gesucht hatte. Dechesne und Kollegen ließen es somit gar nicht erst so weit kommen, dass die Versuchspersonen ihre Ewigkeit ohne Sinnperspektive denken würden; ihre Studien sind daher auch soweit nicht geeignet, den relativen Einfluss von Sterblichkeits- und Sinnsorgen auf das existentielle Dilemma (und die duale Abwehr) zu untersuchen, da die Zusammenführung von Unsterblichkeit und Sinnzusage im positiven Manipulationstext zwei konfundierende Variablen bedeutete, deren jeweilige und relative kausale Rolle daher auch vorläufig unklar blieb. Es ist allerdings mit einer Abwandlung des Versuchsprotokolls möglich, dieser entscheidenden Frage weiter nachzugehen.
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Vergänglichkeit und Sinnfrage
5.2. Vergänglichkeit und Sinnfrage Halten wir dafür zunächst noch einmal die Vorhersagen fest, die es nun zu überprüfen gilt: Dechesne und Kollegen deuten ihre Studienergebnisse im Sinne der klassischen TMT, dass Versuchspersonen, die dahingehend manipuliert werden, dass sie an ein Leben nach dem Tod glauben, im Prinzip keine oder zumindest eine stark abgeschwächte Abwehr aktivieren, weil das zentrale existentielle Dilemma, wie es die TMT definiert, »gelöst« ist: wo kein Tod, da kein existentielles Dilemma, da keine potentiell lähmende (zuständliche) Angst. Die alternative Deutung der Studien von Dechesne et al. blickt auf die Angst vor dem Nichts in uns, vor der grundlegenden Bedeutungs- und Belanglosigkeit des individuellen Daseins als ein der Todesangst vorgeschaltetes und durch Sterblichkeitserinnerung lediglich noch verstärktes, da an Dringlichkeit zunehmendes Angstmotiv. Im Sinne dieser alternativen Deutung des existentiellen Dilemmas wäre daher zu erwarten, dass die Lösung des Todesproblems durch die Aussicht auf ein bloßes Weiterleben nach dem Tod alleine nicht ausreicht, um den Menschen aus seiner existentiellen Verunsicherung zu befreien. So sollte, wenn die bisherigen Überlegungen zur Rolle der Sinnfrage in der dualen Abwehr stimmen, ein Bild des Lebens nach dem Tod, das in weniger konfessioneller Sprache gekleidet dem des toten Christus entspricht, trotz aller Ewigkeitsgewissheit und damit trotz einer positiven Auflösung von Beckers Dilemma, nach wie vor mit Angst und Verunsicherung und den entsprechenden psychologischen Folgen (d. h. der Aktivierung des dualen Abwehrgeschehens) einhergehen. Wenn andererseits, wie die TMT vorschlägt, der Abwehrweg der Identifikation mit einer kulturellen Weltsicht oder dem Selbstwertstreben alleine durch die Sorge ausgelöst ist, der Tod bedeute die Vernichtung des Selbst, sollte man annehmen, dass der Glaube an ein wie auch immer geartetes bewusstes Weiterleben nach dem Tod bereits ausreiche, die Kernangst angesichts des Todes zu überwinden; folglich sollten unter diesen Umständen die üblicherweise unter MS beobachteten Abwehrmechanismen nicht aktiviert werden – gleich, ob dieses Weiterleben nun eine positive Sinnzusage beinhaltet oder nicht. In unserer Arbeitsgruppe an der Universität Wien haben wir vor dem Hintergrund dieser Fragestellung den Versuchsaufbau von Dechesne mit neuen Manipulationstexten durchgeführt. Um unsere Studie wirklichkeitsnah zu gestalten, griffen wir auf die Tatsache zurück, dass in einer Minderheit von Sterbeerfahrungen Varianten auf177 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Vergänglichkeit und Sinnfrage
treten, die keineswegs dem klassischen positiven und sinnerfüllten – auch von Dechesne et al. verwendeten – Bild des populären Todesnähenarrativs entsprechen. Tatsächlich berichtet nämlich eine Minderheit von Todesnäheerfahrenen von negativen Erlebnissen in Todesnähe. In einer der ersten Übersichtsarbeiten zum Thema unterscheiden Greyson und Bush (1992) die folgenden drei Typen negativer Sterbeerfahrungen: (1) Prototypische TNEs, die allerdings affektiv negativ gefärbt sind und daher als unangenehm und belastend erfahren werden, (2) Leere- und Nichtexistenzerfahrungen, d. h. Erfahrungen des Untotseins bei gleichzeitiger existentieller Leere und »Nichtigkeit« des eigenen postmortalen Daseinszustands, (3) höllische Erfahrungen, d. h. Erfahrungen, in denen prototypische Höllenbilder und –szenarien erlebt werden.
Von diesen waren für unsere Studie insbesondere Typ 2-TNEs relevant, da sie in zeitgenössischer Sprache ein mit Jean Pauls Text vergleichbares Lebensgefühl der Sinnlosigkeit und Vergeblichkeit bei gleichzeitiger Überwindung der Sterblichkeit transportieren: An NDE of the »void« is an ontological encounter with a perceived vast emptiness, often a devastating scenario of aloneness and isolation. A woman in childbirth found herself abruptly flying over the hospital and into deep, empty space. A group of circular entities informed her she never existed, that she had been allowed to imagine her life but it was a joke; she was not real. She argued with facts about her life and descriptions of Earth. »No,« they said, »none of that had ever been real; this is all there was.« She was left alone in space. Another woman in childbirth felt herself floating on water, but at a certain point, »It was no longer a peaceful feeling; it had become pure hell. I had become a light out in the heavens, and I was screaming, but no sound was going forth. It was worse than any nightmare. I was spinning around, and I realized that this was eternity; this was what forever was going to be. … I felt the aloneness, the emptiness of space, the vastness of the universe, except for me, a mere ball of light, screaming.«
178 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Vergänglichkeit und Sinnfrage
A woman who attempted suicide felt herself sucked into a void: »I was being drawn into this dark abyss, or tunnel, or void. … I was not aware of my body as I know it. … I was terrified. I felt terror. I had expected nothingness; I expected the big sleep; I expected oblivion; and I found now that I was going to another plane … and it frightened me. I wanted nothingness, but this force was pulling me somewhere I didn’t want to go, but I never got beyond the fog.« A man who was attacked by a hitchhiker felt himself rise out of his body: »I suddenly was surrounded by total blackness, floating in nothing but black space, with no up, no down, left, or right. … What seemed like an eternity went by. I fully lived it in this misery. I was only allowed to think and reflect.« (Greyon & Bush 1992)
Wenn man diese Berichte nach ihrem bloßen Erscheinungsbild bewertet, vermitteln sie den Betroffenen somit zwar einerseits eine Bestärkung des Glaubens an ein Leben nach dem Tod, allerdings bietet dieses Leben nach dem Tod zugleich ein ernüchterndes Bild eines Daseins ohne Aussicht auf ein Ende in ewiger Leere und Sinnlosigkeit, ohne Halt und ohne Bedeutung, Sinn und Aufgabe. Da dieses Bild des nachtodlichen Lebens also nur eine der beiden mit der existentiellen Verunsicherung zusammenhängenden Ängste »löst«, bietet es somit auch das ideale Untersuchungsmaterial, um den jeweiligen Anteil existentieller Angstmotive und ihre jeweilige kausale Rolle bei der Aktivierung der in der TMT beschriebenen Abwehrprozessen gegeneinander auszuspielen. Die Frage lautet demnach einfacher formuliert: Wieviel der existentiellen Verunsicherung ist überwunden, wenn das Problem der Sterblichkeit im engeren Sinne überwunden ist, das Problem der Sinnfrage zugleich aber negativ beantwortet wird – und wo muss daher eine philosophische Argumentation ansetzen, der es darum geht, alternative Todesrepräsentationen in den Sterblichkeitsdiskurs einzubringen, auf dass die duale Abwehr abgewendet werden kann? In unserer Studie manipulierten wir – wie Dechesne et al. (2003) – den Glaube an ein persönliches Weiterleben nach dem Tod mittels eines persuasiven Texts über eine Forschungstagung über aktuelle Befunde der Todesnäheforschung. Es gab drei Versionen dieses Berichts: In der TNE-negativ-Gruppe gaben wir unseren Versuchspersonen einige Auszüge negativer Typ-2-TNE-Berichte zu lesen und änderten den von Dechesne dargebotenen Text entsprechend um, d. h. 179 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Vergänglichkeit und Sinnfrage
alle Verweise auf transzendente, positive Elemente innerhalb der TNE wurden durch kurze Textpassagen ersetzt, denen zufolge die TNE zwar Hinweise auf ein Fortleben nach dem Tod enthielten, dieses allerdings entgegen früheren Schilderungen im Sinne der Typ-2TNE durchaus nicht positiv besetzt sei. Vielmehr deute einiges darauf hin, dass die typischerweise in der TNE-Literatur beschriebenen »positiven Transzendenzelemente« bloß Halluzinationen des sterbenden Gehirns und die berichteten positiven Gefühle lediglich Folgen von Sauerstoffmangel seien, während die eigentlichen irreduziblen, also mutmaßlich nachtodlichen Kernelemente der Typ-2-TNE Hinweise auf die Möglichkeit eines durch Leere und Einsamkeit geprägtes Weitererlebens impliziere. Zur Illustration folgten einige Zitate authentischer Typ-2-TNE-Berichte. Der zweiten, TNE-positiven Gruppe gaben wir eine deutsche Übersetzung des positiven Manipulationstexts von Dechesne und Kollegen, dem zufolge die Todesnäheerfahrung tatsächlich Hinweis auf ein nachtodliches Bewusstsein gäbe. Die Verweise auf transzendente TNE-Elemente (Licht, welches zu größerem Licht führt) wurden wie im Original im Text belassen. Um die Texte in Länge und Tonfall der Texte einander anzugleichen, wurden ergänzend einige Zitate aus echten, »positiven« TNE-Berichten angefügt. Die dritte, TNE-reduktive Gruppe erhielt eine deutsche Übersetzung des auch von Dechesne und Kollegen verwendeten Texts, demzufolge nach eingehenden Studien nun gezeigt werden könne, dass es sich bei der TNE um Residuen neuronaler Aktivitäten und Halluzinationen handle, die TNE also keinerlei Hinweise auf ein Fortleben nach dem Tod gebe. Um auch diesen Text den ersten beiden Texten in Länge und Tonfall anzupassen, wurden ergänzend einige beispielhafte TNE-Zitate angefügt, zugleich aber betont, dass es sich bei den darin berichteten Erlebnisse um Ergebnisse neuronaler Restaktivität und Gedächtnisillusionen handle. Das weitere Versuchsprotokoll folgte dem Versuchsaufbau von Dechesne et al.: Mortalitätssalienz wurde durch zwei todesbezogene Fragen im Rahmen des vermeintlichen Persönlichkeitstest aktiviert, während die Kontrollgruppen zwei Fragen über Schmerzen und Schmerzempfinden beantworten sollte. Wie in den Arbeiten von Dechesne et al. (Studien 1 und 3) wurde – nach einer kurzen Ablenkungsaufgabe – das Aktivieren distaler Abwehrmechanismen mittels (1) des Ausmaßes an Zustimmung zur unrealistisch positiven Beschreibung ihrer Persönlichkeitsstruktur und (2) der erhöhten Ver180 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Vergänglichkeit und Sinnfrage
teidigung sozialer Normen durch Abstrafungen normverstoßenden Verhaltens auf der Transgressionsskala überprüft (mit denselben Fallvignetten, wie sie von Dechesne et al. verwendet wurden). Zur Kontrolle wurde zudem ein Stimmungstest vorgenommen (PANAS). Im PANAS konnten nach Ablauf der Ablenkungsperiode keine signifikanten Unterschiede zwischen den einzelnen Konditionen nachgewiesen werden. Mit Blick auf die abhängigen Variablen zeigte sich aber Folgendes: In Übereinstimmung mit Dechesne und Kollegen (2003) fanden auch wir, dass bei den mortalitätssalienten Versuchspersonen in der MS-TNE-positiv-Bedingung im Vergleich zur Kontrollgruppe keine selbstwertverzerrende Selbsteinschätzung (Studie 1) und auch keine signifikant stärkere Abstrafung von normverletzendem Verhalten auftrat, während den mortalitätssalienten Versuchspersonen in der TNE-skeptischen und in der TNE-negativen ein vergleichbar starkes Selbstwertstreben und Abstrafen normverletzenden Verhaltens nachgewiesen werden konnte (beide Werte signifikant erhöht gegenüber der Kontrollgruppe und der MS-TNEpositiv-Bedingung). Die beiden letztgenannten Gruppen unterschieden sich nicht signifikant. Diese Resultate weisen somit darauf hin, dass auch die Überwindung des unmittelbaren Konflikts zwischen Überlebensstreben und Sterblichkeitswissen alleine noch nicht ganz zum Kern des existentiellen Dilemmas und seiner psychologischen Auswirkungen vordringt. Vielmehr zeigte sich, dass bei mortalitätssalienten Versuchspersonen auch dann noch distale Abwehrreaktionen auftreten, wenn ihnen relativ glaubhaft nahelegt wurde, dass es ein Fortleben nach dem Tod gibt, zugleich aber die Sinnhaftigkeit dieses Nachlebens gründlich in Zweifel gezogen wurde. Mit anderen Worten: Erst die Zusage eines sinnvollen Weiterlebens mit Transzendenzverweisen führte dazu, dass unsere Versuchspersonen nicht in das klassische von der TMT beschriebene distale Abwehrmuster flüchteten. Damit liegen Hinweise darauf vor, dass der oben beschriebene scheinbare Widerspruch zwischen Dechesnes Versuchsresultaten und Jean Pauls Beschwörung des existentiellen Angstmotivs der Überwindung des Todes unter gleichzeitiger Abwesenheit von Sinnressourcen tatsächlich primär der Tatsache geschuldet war, dass Dechesnes Manipulationstext im Wesentlichen sowohl Unsterblichkeit als auch Sinnhaftigkeit und transzendente Geborgenheit insinuierte und eben nicht nur die Überwindung des Todes alleine.
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Vergänglichkeit und Sinnfrage
Fig. 3. Selbstwertstreben: Höhere Werte bedeuten stärkere Zustimmung zum positiven Persönlichkeitsprofil (3–27 Punkte).
In unserem direkteren Test der jeweiligen Todesrepräsentationen (Kondition 1: Überleben des Todes in sinnvollen Zusammenhängen; Kondition 2: Überleben des Todes ohne Sinn; Kondition 2: kein Überleben des Todes) hingegen zeigte sich, dass einzig bei Kondition 1 keine Aktivierung der distalen Abwehr beobachtet werden konnte und sich diese Kondition von Kondition 2 lediglich durch die Bejahung der Sinndimension unterschied. Dieses Ergebnis stützt damit den sich im Laufe unserer Diskussion immer deutlicher abzeichnenden Verdacht, dass das existentielle Dilemma umfassender und gegenständlicher repräsentiert wird als durch die bloße Angst vor dem Tod selbst – allem Anschein nach sogar derart umfassender, dass die in Aussicht gestellte Unsterblichkeit für die Versuchspersonen der MS-TNE-negativ-Gruppe aufgrund der damit einhergehenden existentiellen Halt- und Sinnlosigkeit ihrerseits als Auslöser der dualen Abwehr in Erscheinung trat. Diese Versuchsergebnisse stimmen zudem überein mit anderen Studien, in denen die Frage nach Gehalt und Gegenstand des existentiellen Grunddilemmas untersucht wurde. Es haben etwa Heine und Mitarbeiter in einer Reihe von Untersuchungen nachgewiesen, dass Versuchspersonen, deren »Bedeutungsbezugssystem« durch situative Manipulationen untergraben wurde, in ähnlicher Weise distal defensiv reagieren, wie dies bei mortalitätssalienten Versuchspersonen der Fall ist. So konnten Heine und Mitarbeiter zeigen, dass Versuchspersonen, die subtil verwirrt wurden, indem sie mit unerwarteten Sinnbrüchen in ihrer Wahrnehmungswelt konfrontiert wurden (z. B. 182 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Vergänglichkeit und Sinnfrage
durch das beiläufige Aushändigen von Spielkarten mit veränderten Farben, d. h. schwarzen Herzen und rotem Pik), dazu neigen, verstärkt Sicherheit in Selbstwertstreben oder weltanschaulicher Anbindung zu suchen, um die durch die experimentelle Situationen gestörte Sinnordnung wiederherzustellen (Proulx & Heine 2006; 2009).
Fig. 4. Kulturelle Weltsichtverteidigung: Bewertung der Abstrafung normverstoßenden Verhaltens. Höhere Werte bedeuten stärkere Zustimmung (1–7 Punkte).
Heine und Mitarbeiter haben weiters nachgewiesen, dass Versuchspersonen, denen mittels eines fingierten Feedbacks zu ihrer Sinnerfüllung suggeriert wurde, ihr eigenes Leben sei im Verhältnis zu Normdaten arm an Sinnbezügen, auf soziale Stimuli ähnlich defensiv wie mortalitätssaliente Versuchspersonen reagierten (Heine, Proulx & Vohs 2006): They responded in the same way across a number of studies: specifically, participants were more negative towards someone who criticized their country (thereby preserving a desirable set of relations between oneself and one’s country), more punitive towards a prostitute (maintaining an orderly set of relations within the external world), and more desirous of high status products compared with those in a control condition (which allow for positive associations between oneself and the world). (Heine, Proulx & Vohs 2006)
Ein weiterer experimenteller Befund, auf den es nun aber auch noch einzugehen gilt, weil er zumindest auf den ersten Blick unseren und Heines Befunden zu widersprechen scheint, stammt von Baldwin und 183 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Vergänglichkeit und Sinnfrage
Wesley (1996). Diese Autoren haben in einer Testreihe der potentiellen alternativen Auslöser der dualen Abwehr verschiedene existentielle Bedrohungen, u. a. Sinnlosigkeit, salient gemacht – allerdings nahmen die Versuchspersonen in dieser Versuchsreihe bei Sinnlosigkeitsprimes keine verstärkte defensive Personenbewertungen von Mitgliedern und Vertretern anderer Kulturgemeinschaften vor, mortalitätssaliente Versuchspersonen hingegen schon. Dieses Versuchsergebnis scheint zunächst nicht mit unseren und Heines Ergebnissen in Einklang zu bringen zu sein und viel eher nahezulegen, dass das Sinnproblem womöglich keine dem Sterblichkeitswissen ebenbürtige Rolle in der Aktivierung dualer Abwehrprozesse spielt. Allerdings ist der Widerspruch auch hier vermutlich nur ein scheinbarer. Es spricht bei näherer Analyse einiges dafür, dass die widersprüchlichen Ergebnisse unserer und Baldwins Studie auf die recht unterschiedliche Art der Sinnlosigkeitsmanipulation zurückzuführen ist – vor allem darauf, dass die Sinnlosigkeitsmanipulation, die Baldwin und Wesley einsetzten, aus einer Fremdbeschreibung bestand, also aus Reflexionen über die Sinnlosigkeit und Absurdität des Daseins, die eine andere, unbekannte Person aus der Perspektive der ersten Person erzählte. Sie lautete wie folgt: I don’t know what it means to live this life. Things seem so isolated and distant from me when I just sit down and consider what this world means. And every time I try to make sense of what’s going on down here, I find things not quite the same as they were before. Each day the world is different and I just get confused and lost in all of this change. The world seems to be this huge contradictory mess. Then I realize that I’m only looking at this tiny piece of reality that I deal with myself daily and that there is a whole universe of »things« which is infinite going on out there which I can’t even think about coming terms with. I’m like a speck of sand but even the while beach doesn’t come close to showing how small I am in the universe. I try to find some sense and meaning in reality to answer why I’m here but I just come up blank. (ibid.)
Zwar gingen Baldwin und Wesley davon aus, es ist jedoch fraglich, dass und inwieweit dieser Text ein Gefühl der Sinnleere bei den Versuchspersonen selbst auszulösen vermochte. Vielmehr gaben, wie Baldwin und Wesley anmerken, die Versuchspersonen an, sie hielten den Autor dieses Textes für »morbid, depressiv oder verwirrt« (und 184 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Vergänglichkeit und Sinnfrage
nicht sich selbst oder ihre Lebenshaltung nach dem Lesen des Tests). Dass die Versuchspersonen selbst – wie die Auswertung des PANAS zeigte – dabei nicht die gleiche negative Gestimmtheit erlebten, die sie dem Autoren des Texts zuschrieben, erhärtet zusätzlich den Verdacht, dass die Sinnlosigkeitsprimes nicht in die intendierte Richtung auf einen für sich erlebten Sinnmangel hinwirkten. Denn worauf es im Rahmen des existentiellen Dilemmas ankommt, ist weniger, wie andere ihre Welt und ihre Stellung darin deuten. Entscheidender ist vielmehr, wie wir bzw. die Versuchspersonen selbst es tun – und wie die Studienlage zeigt, wirkt sich unter diesen Umständen die Frage der erlebten Sinnhaftigkeit des eigenen Daseins über die Todesproblematik hinaus auf die Aktivierung oder das Unterbleiben des dualen Abwehrgeschehens unmittelbar und stark aus. Die Datenlage stützt somit alles in allem eher die Annahme, dass der Tod einerseits als solcher bedrohlich sein mag, aber die Aufhebung des Todes noch nicht notwendig bedeutet, dass das existentielle Ringen (oder – mit allen von der TMT beschriebenen Folgen – die Flucht davor) ein Ende gefunden hat. Im Gegenteil kann man vor dem Hintergrund der hier diskutierten Befunde mutmaßen, dass das existentielle Ringen sogar noch virulenter wird, wenn der Mensch in einer todlosen Welt erst recht um seine Bestimmung und den Sinn seines Werdens bangen muss. Versuchen wir nun, diese einzelnen phänomenologischen und empirischen Stränge zusammenzufügen, so lässt sich als Zwischenbilanz vorerst Folgendes festhalten: Wir haben gesehen, dass die Sinnmotivation als existentielles Anliegen in ihrer psychologischen Brisanz noch über die bloße Überlebensmotivation hinausreicht, der Mensch also nicht bloß überleben, sondern sein eigenes Dasein als sinnvoll erleben will; aber andererseits angesichts der Möglichkeit, ein sinnloses Leben zu führen, den Lebenswille selbst einbüßen kann, bzw. wiederum so sehr von Unbehagen erfüllt wird, dass er sich erst recht wieder jener Abwehrmechanismen bedient, denen die TMT attestiert, sie seien eine exklusive Folge des Sterblichkeitsdilemmas an sich. Vor dem Hintergrund dieses Zwischenergebnisses rückt nun zunehmend auch die Frage nach der Beziehung und den inneren Zusammenhängen zwischen Person, Sinn und Tod in den Mittelpunkt unserer Suche nach weniger defensiven Umgangsformen mit der existentiellen Konfrontation. Damit begegnet uns aber zugleich ein Fragenkomplex, der vielschichtiger und daher auch ergebnisoffener 185 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Vergänglichkeit und Sinnfrage
zu diskutieren ist als die bisher von der TMT in den Mittelpunkt gestellte einfache Tatsache, dass wir erstens sterblich sind und meist immer noch mehr leben wollen, als uns Zeit gegeben ist und wir zweitens angesichts dieses Dilemmas von unangenehmen zuständlichen Gefühlen heimgesucht werden, die wir abzuwehren und zu meiden versuchen. Mit diesen Überlegungen hat sich die Perspektive auf die zu suchende philosophische Antwort auf das existentielle Dilemma des Todes zwar erweitert, aber sie hat sich noch nicht entschärft, im Gegenteil: denn je mehr sich das Bedürfnis nach Sinn angesichts der Endlichkeit in den Vordergrund drängt, desto dringlicher stellt sich die Frage, ob es nun nicht gerade wieder die Endlichkeit menschlichen Daseins ist, die diese Sinnhaftigkeit gefährdet. Das also ist, kurz gefasst, die Frage, die nun beantwortet werden will: Untergräbt der Tod die Sinnfrage von Anbeginn an? Macht der Tod das Leben sinnlos? Ist das Vergängliche auch das Vergebliche? So lautet die Kernfrage der existentiellen Verunsicherung, zu der wir im Verlauf der letzten Kapitel hingeführt wurden; ihr müssen wir uns stellen, wenn wir uns mit dem eigenen Tod und der Sinnfrage auseinandersetzen und nach brauchbaren philosophischen Antworten suchen. Die bisherige Diskussion hat aber bereits schon einen Weg vorgezeichnet, dem ein solcher Diskurs zu folgen hat. Soweit nämlich sagen die bisherigen Ergebnisse: Es kommt darauf an, sich dem Wissen um den eigenen Tod gegenständlich und damit in einer Weise anzunähern, dass dieses Wissen nicht gleich wieder abgewehrt wird. Zugleich weisen die vorgenannten Studien ebenso wie die Befunde des Sterblichkeitsdenkens von TNE-Erfahrenen auf einen alternativen, philosophisch reiferen Ausweg aus der dualen Abwehr hin: Die Aufgabe, die vor uns liegt, ist, zu einer anderen, realistischen Repräsentation der Sterblichkeit zu finden, die zugleich die gegenständlichen Kernsorgen, die vom Sterblichkeitswissen ausgehen, direkt anzusprechen in der Lage ist – das heißt vor dem Hintergrund der bisherigen Diskussions- und Studienergebnisse: die die Sinnfrage angesichts des Todes zu lösen in der Lage ist.
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6. Aussöhnung mit dem eigenen Tod
6.1. Der Tod gibt dem Leben Form Im Folgenden soll dazu exemplarisch ein Antwortversuch aus der jüngeren Existenzpsychologie (Frankl 1990; 1998; 2005) vorgestellt werden, um der Frage nachzugehen, ob und wie es möglich ist, neben bloß manipulativen oder offenbarungsbegründeten oder durch konkrete Versuchsanweisungen hervorgerufenen rationaleren Auseinandersetzungen mit der eigenen Sterblichkeit auch philosophisch erschließbare, intrinsisch wirkende Wege der positiven Begegnung mit dem Wissen um den eigenen Tod zu finden. Fraglos wäre es hilfreich, wenn noch mehr solcher Modelle aus der Philosophie zusammengetragen und/oder entwickelt werden; aber dieses Unterfangen macht insgesamt nur Sinn, wenn man überhaupt zeigen kann, dass es sich lohnt, auf die Suche nach solchen Antworten zu gehen – erstens weil es solche Antworten gibt, die aus einer rationalen Analyse der Beziehung zwischen Sterblichkeit, Vergänglichkeit und Sinnfrage heraus entwickelt werden können und zweitens weil sich zeigen lässt, dass diese Antworten nach Induktion der Mortalitätssalienz auch tatsächlich helfen, mit dem Wissen um die eigene Sterblichkeit konstruktiver umzugehen, als wiederum nur Abwehrprozesse zu aktivieren. Bei dieser Suche kommt uns zugleich wesentlich zu Hilfe, dass sich in der bisherigen Diskussion mehrfach und unabhängig voneinander erwies, dass die Sinnfrage in einem gar nicht so eindeutigen Verhältnis zu der dagegen ohnedies nicht verhandelbaren Sterblichkeit selbst steht, wie man vielleicht vorderhand annehmen möchte. Dabei müssen wir die Leere und Beliebigkeit, die sich einem bei etwas bemühterem Durchdenken der existentiellen Folgen physischer Unsterblichkeit ohne sinnschützende Zusatzannahmen aufdrängen, nicht erneut durchspielen, um zu sehen: Es scheint letztlich gerade der Tod (im Gegensatz zur Todlosigkeit) zu sein, der jeder Beliebigkeit ein Ende setzt, weil er die Einmaligkeit unseres konkre187 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Aussöhnung mit dem eigenen Tod
ten, individuellen Lebens und Wirkens besiegelt. Mit anderen Worten verleiht der Tod dem Verhalten und Erlebten gerade dadurch ein besonderes Gewicht, weil Endlichkeit unter anderem auch bedeutet, dass Leben und Lebensentscheidungen nicht reversibel sind – und wir daher nicht endlos viele Lebensentwürfe und Identitäten ausprobieren können, nicht fortwährend Dinge falsch und dann wiedergutmachen können und überhaupt in unseren Wahlmöglichkeiten, selbst in unserer Wahl der distalen Verteidigungsoptionen, alleine schon aus zeitlichen Gründen begrenzt sind. Wenn wir die Endlichkeit unseres Lebens so betrachten, könnte das Sterblichkeitswissen somit zunächst ganz allgemein auch als Anregung dienen, unsere begrenzte Lebenszeit verantwortungsvoll auszuschöpfen und ihre einmaligen, da vergänglichen, Gelegenheiten nicht ungenützt dahingehen und verstreichen zu lassen. Endlichkeit als Grundmerkmal unseres Lebens macht uns unter diesem Blickwinkel bewusst: Was wir entscheiden und der Lebensweg, den wir heute wählen, geht in die Vergangenheit ein, verdichtet sich zu unserer irreversiblen Lebensgeschichte und kann schon von daher nicht vollkommen bedeutungslos und beliebig sein: Was nicht geworden wäre ohne uns, das zeugt von uns. Das ist zunächst zwar keine tiefe oder neue Einsicht, aber schon mit ihr hält man bereits etwas mehr gegen die Resignation vor dem eigenen Tod in den Händen als nichts: immerhin dieses Leben ist zu gestalten, immerhin dieses Leben gewinnt durch seine Endlichkeit überhaupt erst an Gestalt und Verbindlichkeit, die es in Abwesenheit des Todes so nicht gewinnen könnte. Ohne Endlichkeit, und das heißt: ohne Tod, würde es andererseits nie Gestalt annehmen und verbliebe immer nur in einem Prozess fortwährenden Werdens, aber niemals würde es Form, niemals wäre daher auch eine Bilanz möglich. Eine Welt ohne Tod wäre im Grunde eine Welt der fortwährenden flüchtigen Momentaufnahmen. Eine Welt im Spiegel des Todes hingegen ist immerhin eine Welt der abgeschlossenen Leben, die in ihrer Abgeschlossenheit gerade nichts Beliebiges mehr an sich haben. Denn mit der Endlichkeit bekommt die gegebene Lebenszeit eine unbedingte positive Ernsthaftigkeit, Bedeutung und Verbindlichkeit, die man andernfalls an bestimmte Bedingungen knüpfen, also erst herleiten müsste. Und selbst dann könnte man sich nie recht sicher sein, ob man überhaupt die richtigen Bedingungen benannt hat bzw. ob es überhaupt solche Bedingungen wirklich gibt (vgl. Batthyány 2017). 188 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Der Tod gibt dem Leben Form
So aber ist es gerade dieses Sterblichkeitswissen, das einen dazu drängt, sich und sein Leben in irgendeiner Weise zu bestimmen – und nicht nur in irgendeiner Weise zu bestimmen, sondern im Idealfall so, dass man am Lebensende ehrlich zu und von sich sagen kann: »Es ist alles in allem gut, dass ich da gewesen bin; mein Beitrag zur Geschichte der Welt ist ein Beitrag, dem ich zustimme und dessen Niegewordensein ich andererseits bedauern würde.« Ein solcher Blick auf die eigene Sterblichkeit eröffnet uns auch eine andere Perspektive auf die eigene Lebenszeit als eine Größe, die nicht einfachhin mit jedem vergehenden Tag aufgebraucht und verzehrt wird; es ist vielmehr auch Möglichkeit und Verantwortung, aus dieser Möglichkeit etwas zu schaffen und zu schöpfen: Aus Wachs wird Leuchten; aus Lebenszeit wird Wirken. Die hierin geborgene Verantwortlichkeit angesichts der Vergänglichkeit sagt uns allerdings auch: Den Luxus des ewigen Verschiebens und Herumprobierens, bis wir anfangen, verantwortungsvoll zu leben, haben wir angesichts unserer Endlichkeit jedenfalls nicht. Es gibt keine Generalprobe des Lebens. Man erinnere sich etwa daran, dass schon Kierkegaard meinte, dass das Einzige, was wir im Leben für den eigenen Tod »tun« können, sei, ein Leben zu führen, dem wir angesichts des Todes rückwirkend zustimmen und für das wir einstehen können: Das also von einer Bedeutung erfüllt ist, die wir nicht durch Individuation oder Partizipation geborgt oder defensiv erstritten, sondern autark und verantwortungsbewusst erkannt, gewählt und verwirklicht haben: Dem Ernsten gibt der Gedanke des Todes die rechte Fahrt ins Leben und das rechte Ziel, die Fahrt dahin zu richten. Und keine Bogensehne lässt so straff sich spannen, keine vermag dem Pfeile solche Fahrt zu geben wie den Lebenden der Gedanke des Todes anzutreiben vermag, wenn der Ernst ihn spannt. Da packt der Ernst das Gegenwärtige noch heute, verschmäht keine Aufgabe als zu gering, verachtet keine Zeit als zu kurz, arbeitet nach äußerstem Vermögen. (Kierkegaard 1955, 77 f.)
Der eigene Tod – im Gegensatz zum todlosen Leben – begegnet aus diesem Blickwinkel nicht mehr nur als Auslöser von Angst, sondern auch als Ruf zum verantworteten Leben und nicht, oder zumindest nicht mehr notwendig, als Aufruf zur Flucht vor der Freiheit und Verantwortung in die distale Abwehr. Dazu der ergänzende Befund einer persönliche Begegnung: Im 189 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Aussöhnung mit dem eigenen Tod
Rahmen einer Gastprofessur in Moskau besuchte ich über einige Jahre in regelmäßigen Abständen ein dortiges Hospiz. Wertvolle Gespräche fanden dort statt, und nicht zuletzt verdanke ich einem Großteil dieser Gespräche einige der Einsichten, die insbesondere im letzten Kapitel dieses Buchs diskutiert werden. Es ist vor allem ein Einzelgespräch mit einer 90-jährigen pensionierten Deutschlehrerin, das sich mir stark eingeprägt hat. Diese ältere Dame und ich saßen im Moskauer Frühsommer im Garten des Hospizes. Sie erzählte von ihrem nun zu Ende gehenden Leben – es war ein Zeugnis erlebter Geschichte, Umbrüche und Entbehrungen. Aber darum ging es meiner Gesprächspartnerin gar nicht. Viel wichtiger als das, was sie erlebt hatte, war ihr das, was sie selbst getan – »ausgesandt« – hatte. Heute stehe sie vor ihrer Lebensgeschichte – sie sei bald fertiggeschrieben, sagte sie. Sie könne diesen Roman ihres Lebens nun nicht mehr korrigieren, verbessern und in vergangene Kapitel »zurückblättern« und diese umschreiben. Sie empfand Dankbarkeit sich selbst gegenüber: Sie war »einverstanden« mit dem, was da im sich nun schließenden Buch ihres Lebens stand. So blickte sie Wochen vor ihrem Tod auf ein Werk, mit dem sie, wie sie sagte, »gut leben und sterben« könne. Aber, fuhr sie fort, das Glück und zugleich die Verantwortung jüngerer Menschen sei es, dass sie ihre Lebensgeschichte noch schreiben könnten; dass sie heute darüber entscheiden, wie viele unvollendete und wie viele gute oder weniger gelungene Kapitel in die Bilanz ihres Lebens einfließen würden, bevor auch sie ihre Geschichte als fertig geschrieben abgeben müssten (vgl. Batthyány 2017, 53). Es ist interessant zu sehen, dass beinahe exakt dasselbe Bild auch von Viktor Frankl als psychotherapeutische Methode eingesetzt wurde für Patienten, die in neurotischer Erstarrung vor ihrer Lebensverantwortung zu flüchten versuchen: Wir weisen den Kranken an, sich vorzustellen, sein Lebensablauf wäre ein Roman und er selbst eine entsprechende Hauptfigur; es läge dann aber ganz in seiner Hand, den Fortgang des Geschehens von sich aus zu lenken, sozusagen zu bestimmen, was im nächsten Kapitel zu folgen hat. Dann wird er statt der scheinbaren Last der Verantwortung, die er scheut und vor der er flüchtet, seine wesenhafte Verantwortlichkeit im Dasein als Freiheit der Entscheidung gegenüber seiner Unzahl von Möglichkeiten des Handelns erleben. Noch intensiver können wir schließlich an den persönlichen Einsatz seiner Aktivität appellieren, wenn wir ihn dazu auffordern, sich
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Der Tod gibt dem Leben Form
vorzustellen, er sei an einem Endpunkt seines Lebens angelangt und im Begriffe, seine eigene Biografie zu verfassen; und eben jetzt halte er gerade bei jenem Kapitel, das von der Gegenwart handelt; und es liege nun, wie durch ein Wunder, ganz in seiner Hand, Korrekturen vorzunehmen; er dürfte gerade noch das, was unmittelbar darauf geschehen sollte, ganz frei bestimmen […]. Auch das Vehikel dieses Gleichnisses wird ihn zwingen, aus dem Vollen seiner Verantwortlichkeit heraus zu leben und zu handeln. (Frankl 2010, 21 f.)
Unverdrängte Endlichkeit kann uns somit zunächst einmal vor Augen führen: Was wir entscheiden und der Lebensweg, den wir heute wählen, geht in die Vergangenheit ein als unsere eines Tages vollendete Lebensgeschichte. Für dieses »Werk« tragen wir Verantwortung – und können sie überhaupt nur tragen, in dem Maße, indem dem Geschehenen und Gewordenen etwas Irreversibles eignet und nicht die fortwährende Revidier- und Kompensierbarkeit des Getanen oder Unterlassenen der Todlosigkeit Mit dieser Wende vom Bild des eigenen Todes als Bedrohung des eigenen individuellen Wirkens hin zum Tod als ein Geschehen, das dem Wirken und Leben Gestalt und den Entscheidungen innerhalb dieses Lebens Verbindlichkeit gibt, können wir also eine noch sehr allgemeine Antithese zur Sterblichkeitsablehnung aufstellen, die uns nahelegen möchte, die Vergänglichkeit lasse alles in der Relativität des Bedeutungslosen untergehen. Es zeigt sich viel eher, dass es das endlose Leben ist, das jegliche Verbindlichkeit, Verantwortung und Sinnbedeutung unterminiert und fortlaufend in Frage stellt, da ohne Endlichkeit auch nie eine wirkliche Form des individuellen Lebens werden kann – und im Umkehrschluss, dass gerade das endliche Leben zur reifen und lebendigen Verantwortung aufruft, eben weil es einen Abschluss hat und mit dem Tod unabänderlich dastehen wird. Allerdings ist diese Alternative natürlich nur gerade so gut, wie sie im konkreten Einzelleben Anwendung findet; und Anwendung findet sie glaubhaft nur, wenn sie konkret und ad personam wirksam ist. Ihre Anwendbarkeit und lebenspraktische Bedeutung sei daher noch ergänzend an einem therapeutischen Fallbeispiel erörtert. Es handelt von einer rund 50-jährigen Frau, die, wie sie selbst angab, aufgrund einer grundlegenden Lebensenttäuschung einen Selbstmordversuch unternommen hatte, aber in letzter Sekunde gerettet wurde. Die Patientin nannte – das deckt sich mit den schon kurz beschriebenen Befunden zum Selbstmord als Revolte gegen das als 191 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Aussöhnung mit dem eigenen Tod
sinnleer empfundene Leben – nicht ein konkretes auslösendes Moment; sie empfand bloß eine ganz grundsätzliche tiefe Verzweiflung über ihr, wie sie es formulierte, »misslingendes Leben«: Der Selbstmordversuch der Patientin ist offensichtlich das Ergebnis einer tiefen Verzweiflung gewesen. Verzweiflung worüber? Zunächst werden die oberflächlichen Schichten bearbeitet. Was ihr der Ehemann an Kummer zugefügt hat. Allmählich geht es in tiefere Schichten hinein. Was ihr das Leben an Freude versagt hat. Welche Träume nie wahr geworden sind. Schließlich tritt die tiefste Ehrlichkeit zutage. Verzweiflung über sich. Was sie aus sich hätte machen können und nicht gemacht hat. Die Frau, die sie nicht geworden ist. »Ich wollte mich aus Enttäuschung über mich töten«, bekennt die Patientin spontan. Sie bildet keine Ausnahme. »Enttäuschung über sich« ist eines der häufigsten Selbstmordmotive und zugleich eines der absurdesten. Denn ein Ich, das sich selbst aller zukünftigen Entfaltungschancen beraubt, steigert nur sein Enttäuschend-Sein. »Sie wollten ein enttäuschendes Ich verewigen für alle Zeit?« frage ich behutsam nach. »Nein, ich wollte es vernichten für alle Zeit!« begehrt die Patientin auf. »Die Wahrheit ist nicht zu vernichten«, argumentiere ich. »Das Ich, als das Sie aus dieser Welt scheiden, bleibt Ihr wahres und end-gültiges Ich; niemand und nichts kann es nach Ihrem Tode mehr korrigieren.« Die Ursehnsucht der Patientin rührt sich, und wir sprechen über das Ich, als das sie lieber in die ewige Wahrheit eingehen würde. Es ist ein aufgeschlossenes Ich voller Phantasie und Sinn für Ästhetik. »Um zu diesem Ich heranzuwachsen, werde ich noch einige Zeit brauchen«, erklärt sie am Ende unseres Dialogs […]. »O ja«, antworte ich, »und genau dies wurde Ihnen trotz Ihrer Verzweiflungstat gnädig gewährt: einige Zeit …« (Lukas 1993, 67 f.)
Einige Zeit ist gewährt, aber nicht unbegrenzt viel – der heilsame Appell der Endlichkeit ruft hier also die Gegenstimme zur Resignation dazu auf, vor dem Hintergrundwissen der Vergänglichkeit derjenige werden zu können, der man sein könnte – sein sollte –, also Verantwortung für das eigene Sein angesichts der formgegebenen Funktion der Vergänglichkeit anzunehmen und dieses Sein so zu gestalten, dass man mit ihm leben und, wenn es soweit ist, auch sterben kann. Dieses Bild des Sterblichkeitswissens bewahrt zugleich davor, sich von und zu den uneigentlichen primär zuständlich orientierten Abwehrversuchen proximaler oder distaler Abwehr zu einem in192 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Der Tod bewahrt das Gewordene
authentischen Leben der Flucht in die Norm verleiten zu lassen, welche (die Abwehrversuche), wie wir sahen, der individuellen Entfaltung und Verantwortung gerade entgegenstehen. Die hier vorgeschlagene Sicht auf den eigenen Tod verlangt dem Menschen zugleich nicht viel an theoretischem Verständnis oder metaphysischen Vorannahmen ab; sie führt lediglich weg vom gebannten Blick auf die zuständlichen Angst- und Irritationsgefühle angesichts der Vergänglichkeit als den unerbittlichen Vernichter jeglicher Sinn- und Wertverwirklichungsmöglichkeiten hin zum Tod als Chance, sich selbst zu gestalten und darüber mitzubestimmen, was man wird, erlebt und in die Welt einbringt, ehe man stirbt. Mehr noch entlastet diese Sicht den Menschen auch von der fortwährenden Anstrengung, den eigenen Tod zu verdrängen, um das Leben scheinbar »unbelastet« angehen zu können. Sie macht ihn vielmehr wieder frei für das, was als gegenwärtige Aufgabe und Anfrage vor ihm liegt – ohne proximale Abwehr, ohne Verdrängung und daher auch ohne die sonntagsneurotischen Folgeerscheinungen der distalen Abwehr. Denn es setzt diese Sicht auf das Sterblichkeitswissen lediglich voraus, dass nicht weiter geleugnet wird, was ohnehin unabänderliches Faktum unseres Daseins ist: erstens unsere Unbestimmtheit, zweitens unsere Vergänglichkeit und drittens unsere Verantwortung für die eigene Lebensgestaltung. Sie fügt diese Elemente zusammen, weil sie einander in gewisser Weise untrennbar ergänzen, weil sie mit anderen Worten zusammen unser Dasein vom bloßen Leben zu einem Angebot an Möglichkeiten wandeln. Anders gewendet: Wenn man seine Stimme nicht unterdrückt, stellt sich vor dem Hintergrund des unverdrängten Sterblichkeitswissen fortwährend die Frage: Was soll von uns bleiben? Was wollen wir über uns wahr sein lassen? Was soll end-gültig sein?
6.2. Der Tod bewahrt das Gewordene All das mag sich angesichts des eigenen Todes fragen, aber es gibt auch eine gleichermaßen naheliegende wie potentiell entmutigende Gegenfrage: Vielleicht soll das oder jenes von uns bleiben, aber was wird denn wirklich bleiben, das nicht wieder der Vergänglichkeit anheimfallen wird? Damit steht nun zuletzt wieder ein zentrales Gegenargument gegen die Sinnhaftigkeit im Raum, und ihm gilt es, sich zu stellen auf unserer Suche nach einer alternativen Todesrepräsentation. 193 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Aussöhnung mit dem eigenen Tod
Frankl schlägt an dieser Stelle nun eine interessante Wendung dieses Aspekts des Sterblichkeitsproblems vor – er versucht, zu zeigen, dass diese zweifelnde Frage grundlegend falsch gestellt ist. Nach Frankl lautet die eigentliche Frage angesichts der Vergänglichkeit viel eher: Was kann denn nicht bleiben? Was, das einmal »in die Vergangenheit gerettet« wurde, kann ungeschehen gemacht oder aus der Vergangenheit herausgelöst und annulliert werden, wenn doch die Vergänglichkeit zugleich unumkehrbar alles in das erlebte Vergangensein überführt? Frankl (1998) vollzieht damit einen auf den ersten Blick überraschenden Perspektivenwechsel: Demnach soll gelten, dass der von Tod und Vergänglichkeit geängstigte Mensch einer Art zeitontologischen Täuschung unterliegt, wenn er das Vergangene unwiederbringlich verloren und vernichtet glaubt, während bei näherer Betrachtung gerade das Vergangen- und Gewordensein sich als tatsächlich nicht weniger als das einzige Sein darstellt, dem niemand und nichts mehr etwas anhaben kann, sobald es nur einmal vergangen, d. h. in die Vergangenheit »hineingerettet« (Frankl 1985) worden ist. Von allem anderen gilt: Es ist, solange es bloß Möglichkeit ist, tatsächlich fortwährend vergänglich, gefährdet, unsicher und ungewiss. Das Geschehen der Gegenwart etwa ist flüchtig: Das in ihr Seiende wird nie wiederkehren; und das Geschehen der Zukunft ist nicht einmal flüchtig – es ist genau genommen noch gar nichts außer einer bloßen Sammlung an Möglichkeiten, ein Sein im steten Konjunktiv und damit eben gerade kein Sein. Ganz anders verhält es sich mit dem Gewordenen, das sein Gewordensein selbst überhaupt erst der Vergänglichkeit verdankt: Die Vergangenheit ist abgeschlossenes und durch sein Erlebt- oder Getan-worden-Sein gesichertes Sein nicht trotz, sondern aufgrund und dank der Vergänglichkeit. Frankl schlägt also vor, die Entwicklung des Seins bewege sich gegen den klassischerweise als zukunftsgerichtet gedachten Zeitpfeil: Das Seinkönnende geht über die Gegenwart in die Vergangenheit ein, d. h. es kommt aus der Zukunft als das Noch-nicht-Seiende der Möglichkeit und gerinnt zum Sein der Wirklichkeit der Vergangenheit. Anders gewendet lautet Frankls Vorschlag: Die Zeit fließt, aber das Geschehen wird erst dadurch, dass es geschehen ist, zur unverlierbar geborgenen Wirklichkeit des Gewordenen. Frankl erläutert diesen Zusammenhang mit einem Bild: Die Zeit wird missverstanden. Denn wie steht der durchschnittliche Mensch zur Zeit? Er sieht nur das Stoppelfeld der Vergänglichkeit –
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Der Tod bewahrt das Gewordene
aber er sieht nicht die vollen Scheunen der Vergangenheit. Er will, dass die Zeit stillstehe, auf dass nicht alles vergänglich sei; aber er gleicht darin einem Manne, der da wollte, dass eine Mäh- und Dreschmaschine stille stehe und am Platz arbeitet, und nicht im Fahren; denn während die Maschine übers Feld rollt, sieht er – mit Schaudern – immer nur das sich vergrößernde Stoppelfeld, aber nicht die gleichzeitig sich mehrende Menge des Korns im Innern der Maschine. So ist der Mensch geneigt, an den vergangenen Dingen nur zu sehen, dass sie nicht mehr da sind; aber er sieht nicht, in welche Speicher sie gekommen. Er sagt dann: sie sind vergangen, weil sie vergänglich sind – aber er sollte sagen: vergangen sind sie; denn: einmal gezeitigt, sind sie für immer verewigt. (Frankl 1990, 51 f.)
Soweit Frankl zunächst ganz allgemein zur Vorstellung, die Vergänglichkeit mache alles zur Beute des Nichts, und gefährde von daher schon seine Bedeutung und Sinnhaftigkeit. Wenn wir diesem Scheunengleichnis versuchsweise folgen, gelangen wir auf einem weiteren Wege zur Einsicht, dass es gerade der Tod und das Vergehen ist, an dem alle Beliebigkeit, Flüchtigkeit und Vergänglichkeit an dem Punkt Halt macht, an dem etwas geworden ist und geschah, dass nicht mehr und nie wieder und durch nichts ungeschehen gemacht werden kann – im Gegensatz zu dem, was in einem todlosen Leben stets wieder aufhebbar, aufschiebbar und korrigierbar wäre. Frankl schlägt mit anderen Worten eine grundlegende existentielle Neudenkung der Zeit mit Blick auf Tod und Vergänglichkeit vor: Demzufolge ist die Analyse der Sterblichkeit als Bedrohung zwar grundsätzlich richtig, aber diese Bedrohung betrifft stets nur das, was überhaupt gefährdet ist, weil es ohnedies noch nicht »ist«, sondern bloß sein kann (und mit dem Tod für den Einzelnen tatsächlich nicht mehr werden können wird). Diese Zukunft ist in der Tat fortlaufend davon bedroht, nie zum Sein zu werden. Nun kann man zur Debatte stellen, ob das alleine nicht bereits Grund genug zum Angsterleben angesichts des Todes sei; aber gerade das kann man bei genauerer Betrachtung nicht in dieses Seins- und Zeitmodell der sich mit der Lebensernte der von uns ergriffenen Sinnmöglichkeiten füllenden Scheune hineinlesen. Denn erstens veranschaulichte die Alternative der Todlosigkeit, dass ein unbegrenztes Reservoir an Zukunft alle Sinn- und Bedeutungszusammenhänge gerade dadurch zu untergraben droht, dass zwar alles möglich, aufschiebbar, kompensierbar und erfahrbar ist, zugleich aber genau da195 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Aussöhnung mit dem eigenen Tod
durch auch alle Endgültigkeit der Gleichgültigkeit weicht: Wo auf Dauer alles gleich möglich ist, ist auf Dauer alles gleichgültig. Zweitens bedeutet Endlichkeit zwar naturgemäß auch Endlichkeit der Möglichkeiten, zugleich schuldet sich aber die Endlichkeit der Möglichkeiten bei Weitem nicht nur dem Tod. Möglichkeiten sind schließlich ebenso gefährdet alleine durch unsere Wahlfähigkeit und die Tatsache, dass in jede gegebene Situation Wahlmöglichkeiten gefügt sind, deren Wahl die Wahl der jeweils anderen Möglichkeit logisch ausschließt, die Wahl einer Möglichkeit oft genug also nur auf Kosten anderer Möglichkeiten vollzogen werden kann. Die Verbindlichkeit des vergänglichen Daseins verdankt sich ja nicht zuletzt eben der Tatsache, dass die Zustimmung zur einen Wahlmöglichkeit zugleich die Ablehnung der anderen bedeutet und Endlichkeit und Endgültigkeit daher auch so nahe beieinanderstehen. Für diese nicht ergriffenen Möglichkeiten gilt somit: Sie werden tatsächlich nie Wirklichkeit – sie sind »nichtig« so oder so, ob mit oder ohne Tod und Vergänglichkeit. Es kann der Tod der Zukunft folglich nicht mehr nehmen, was nicht auch die Freiheit und Verantwortung des wählenden Menschen dem Sein vorenthält: Der Tod verunmöglicht, dass alle Möglichkeiten eines zeitlich begrenzten Lebens gleichermaßen wirklich werden – und wie sich weiter oben zeigte, kommt erst deswegen diesen Möglichkeiten auch ein solches Gewicht und ihre Bedeutung und unsere Verantwortung zu: Sie können nicht jederzeit oder in der Unendlichkeit annulliert oder kompensiert werden. Die andere Seite dieser Formel lautet aber auch: Sind diese Möglichkeiten einmal verwirklicht, sind sie ein für alle Mal verwirklicht und in der Scheune des Vergangenseins geborgen. Die Ernte ist eingebracht und sicher – das Gewordensein ist irreversibel. Elisabeth Lukas erläutert diese Zusammenhänge mit einem Beispiel: Nehmen wir als Beispiel eine junge Lehrerin. Sie hat die Möglichkeit, im Schuldienst noch viele Kinder zu unterrichten, sie gleichsam beim Prozess der Menschwerdung ein Stück zu begleiten. Das ist eine Möglichkeit, die sie verwirklichen kann. Doch wer weiß, was die Zukunft bringt! Vielleicht gründet die Lehrerin eine eigene Familie und hört mit ihrem Beruf auf. Vielleicht erkrankt sie auch und kann ihren Beruf nicht mehr ausüben. Die Möglichkeiten, die in ihrer – und in unser aller – Zukunft liegen, sind verlierbar und ungewiss, sie sind, so merkwürdig dies ist, das wahrhaft Vergängliche, und im Moment unseres Todes haben wir keine einzige Möglichkeit mehr.
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Der Tod bewahrt das Gewordene
Blicken wir jetzt auf eine alte Lehrerin. Sie hat nicht mehr die in der Zukunft liegenden Möglichkeiten, noch viele Kinder zu unterrichten, wie die junge Lehrerin, aber sie hat die in der Vergangenheit liegende Wirklichkeit, viele Kinder unterrichtet und begleitet zu haben. Wer wollte ihr diese Wirklichkeit, das von ihr Verwirklichte wegnehmen? Wie könnte sie es je verlieren, wer könnte es aus der Geschichte streichen? Wenn sie 20 oder 30 oder 40 Jahre lang im Dienst an jungen Menschen gestanden ist, wer hätte die Macht, ihr auch nur ein Jahr davon zu rauben? Was in die Wirklichkeit, nämlich in die Vergangenheit hineingekommen ist, ist dort sicher und geborgen, ist unvergänglich geworden; es hat sich buchstäblich verewigt. (Lukas 1997)
Die Implikationen des Scheunengleichnisses weisen aber nicht nur auf eine im allgemeinen Diskurs über Tod und Vergänglichkeit übersehene Dimension der Geborgenheit des Seins in der Vergangenheit hin. Das Modell enthält auch, wie das obige Fallbeispiel der Beratung nach einem Selbstmordversuch zeigte, einen Appell: Es spricht dem Einzelnen nämlich immense Verantwortung und seinem Entscheiden und Tun höchste Bedeutung als Mitschöpfer dieses durch ihn unverlierbar geborgenen Geworden-Seins zu: Der Mensch hat diesem Entwurf zufolge als Entscheidender und Handelnder, in einem anderen Bild gesprochen, die Stellung eines Türstehers zum Sein: Fortwährend, in jeder Lebenssituation, bieten sich Möglichkeiten an – viel mehr meist, als sich zu einem gegebenen Zeitpunkt in einer gegebenen Situation verwirklichen lassen in der Begrenztheit unserer Zeit –, und umso größer ist wiederum unsere Verantwortung für den je unseren Beitrag, welche dieser Möglichkeiten wir verwirken lassen und damit der Vernichtung ausliefern und welche dieser Möglichkeiten wir verwirklichen und damit in die Scheune des GewordenSeienden einbringen. Mit anderen Worten: Aus dieser Perspektive gewinnt das Problem der Vergänglichkeit eine grundlegend neue existentielle Qualität – die Vergänglichkeit stellt nicht mehr eine lähmende und entmutigende Gegnerschaft zu jeglicher Lebensinitiative dar, wenn doch ohnedies alles »für nichts« sei; sie wird vielmehr zum Aufruf, wert- und sinnvolle Möglichkeiten vor der Vernichtung zu bewahren, indem wir sie verwirklichen. Frankl illustriert diesen Zusammenhang mit einem weiteren Bild – demzufolge strebt alles SeinKönnende zum Sein hin, steht also förmlich in einer fortwährenden Flucht vor dem Nichts hin zur Wirklichkeit der Vergangenheit: 197 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Aussöhnung mit dem eigenen Tod
Alles ist »flüchtig«, weil es auf der Flucht ist. Auf der Flucht vor dem Nichts der Zukunft in das Sein der Vergangenheit. Wie in einem horror vacui, einem Schrecken vor dem Nichts fürchtet alles das Nichts der Zukunft, flüchtet vor diesem Nichts, und stürzt in die Vergangenheit und in ihr Sein. Aber vor dem »Engpass« der Gegenwart – da staut es sich und drängt es sich, und da »harrt alles der Erlösung« … Der Erlösung die ihm zuteil wird, indem es – als Ereignis – im Vergehen eingeht ins Vergangensein oder – als unser Erlebnis und unsere Entscheidung – von uns eingelassen wird in die Ewigkeit. Der Engpass der Gegenwart, diese enge Stelle, die vom Nichts der Zukunft hinüberführt ins (ewige) Sein der Vergangenheit, ist nun die Grenzfläche zwischen dem Nichts und dem Sein, zugleich die Grenzfläche – der Ewigkeit. […] Unser Leben verpufft in seine Wirksamkeit – und insofern gleicht es etwa dem Radium, dessen Materialität ebenfalls im Laufe seiner »Lebenszeit« zunehmend in Strahlungsenergie sich umsetzt, um nie wieder zur Stofflichkeit zurückzukehren. Was wir »ausstrahlen« in die Welt, die »Wellen«, die von unserem Sein ausgehen – das ist es, was von uns bleiben wird, wenn unser Sein selbst längst dahingegangen ist. (Frankl 1990, 76 f.)
Analysieren wir nun Frankls Versuch einer Vergänglichkeitsbewältigung auf seine rationale Stichhaltigkeit hin, sehen wir zunächst, dass sie auf einen einfachen Tatbestand des Seins hinweist, der auf nichts Weiteres angewiesen ist als auf die bloße Anerkennung einfacher Seins- und Zeitzusammenhänge. Um bei dem Bild der Ernte zu bleiben: Die Vergänglichkeit, selbst der Tod, kann das Seiende nicht verändern oder gar ungeschehen machen. Auch Gewesen-Sein ist Sein und das Gewordene bleibt gerade im Vergangensein das so Gewordene, weil es erst im Vergangensein seine eigentliche Gestalt als Unabänderliches entfalten kann. Davor – jetzt – ist es Möglichkeit, und es liegt, abseits aller Schicksalhaftigkeit, die unseren Freiraum begrenzen mag, nicht zuletzt auch an unseren Entscheidungen und damit in unserer Verantwortung, welche Wirklichkeit es sein wird und welches Ich und welches Leben wir verewigen wollen: nicht, wie einem die distale Abwehr einflüstern will, auf die Rückmeldung anderer lauernd, sondern im autonomen Bewusstsein der eigenen Wirkmächtigkeit angesichts der Vergänglichkeit, dass es nur unsere je eigenen, individuellen Möglichkeiten sind, für deren Verwirklichung wir angesichts ihrer potentiellen Verewigung Verantwortung tragen. So ist das endende Leben eines, in dem sich die gesamte Le198 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Der Tod bewahrt das Gewordene
benswirklichkeit eines vollendeten Lebens ins Sein bringt, um erst dort und dadurch verewigt zu sein. Das folgende Gesprächsprotokoll zwischen Viktor Frankl und einer todkranken Patientin gibt Einblick in die Lebensnähe dieser Zusammenhänge: Die Patientin war 80 Jahre alt und litt an einem Krebs, der nicht mehr zu operieren war, – selbstverständlich ist der Name der alten Frau fingiert: er wurde durch den einer Romanfigur ersetzt, nämlich den Namen jener Teta Linek aus Werfels »Veruntreutem Himmel«, der die Patientin ungemein ähnlich war. Frankl: »Nun, liebe Frau Linek, was halten Sie von Ihrem langen Leben heute, wenn Sie darauf zurückblicken? War es ein schönes Leben?« Patientin: »Ach, Herr Professor, ich muss wirklich sagen, es war ein gutes Leben. Das Leben war so schön. Und ich muss dem Herrgott danken für all das, was er mir geschenkt hat. Ich bin in Theater gekommen. Ich habe Konzerte gehört. Wissen Sie, die Familie, in deren Haus ich in Prag gedient habe – so viel Jahrzehnte hindurch –, die hat mich manchmal mitgenommen in Konzerte. Und für all das Schöne muss ich nun meinem Herrgott danken.« Aber ich musste ihre unbewusste, verdrängte, existentielle Verzweiflung ins Bewusstsein heben. Sie sollte mit ihr ringen, wie Jakob mit dem Engel gerungen hatte, bis der Engel ihn segnete. Ich musste sie so weit bringen, dass sie schließlich und endlich ihr Leben segnen konnte, dass sie »ja« sagen konnte zu ihrem Schicksal, das sich nicht ändern ließ. Ich musste sie – das klingt paradox – also dazu bringen, dass sie am Sinn ihres Lebens zunächst einmal zweifelte. Und zwar auf bewusster Ebene und nicht, wie sie es sichtlich getan hatte, ihre Zweifel verdrängend. Frankl: »Sie sprechen von so schönen Erlebnissen, Frau Linek. Aber das wird doch nun alles aufhören?« Patientin (nachdenklich): »Ja, das wird nun alles aufhören.« Frankl: »Wie ist es nun, Frau Linek, glauben Sie, dass damit all die schönen Dinge, die Sie erlebt haben, aus der Welt geschafft sind? Dass sie ungültig geworden – vernichtet sind?« Patientin (noch immer nachdenklich): »Diese schönen Dinge, die ich erlebt habe …« Frankl: »Sagen Sie mir, Frau Linek, kann irgend jemand das Glück ungeschehen machen, das Sie erlebt haben? Kann jemand das auslöschen?«
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Aussöhnung mit dem eigenen Tod
Patientin: »Sie haben recht, Herr Professor, niemand kann das ungeschehen machen.« Frankl: »Oder kann jemand die Güte auslöschen, der Sie im Leben begegnet sind?« Patientin: »Nein, auch das kann niemand.« Frankl: »Kann jemand auslöschen, was Sie erreicht und errungen haben?« Patientin: »Sie haben recht, Herr Professor, das kann niemand aus der Welt schaffen.« Frankl: »Oder kann jemand aus der Welt schaffen, was Sie tapfer und mutig durchgestanden haben? Kann jemand all das aus der Vergangenheit herausschaffen? Aus der Vergangenheit, in die Sie das alles hineingerettet, hineingeerntet haben? In der Sie es aufgespart und aufgestapelt haben?« Patientin (jetzt zu Tränen gerührt): »Niemand kann das. Niemand!« (Nach einer Weile:) »Sicher, ich habe viel zu leiden gehabt. Aber ich habe auch versucht, die Schläge einzustecken, die das Leben mir versetzt hat. Verstehen Sie, Herr Professor, ich glaube, dass das Leiden eine Strafe ist. Ich glaube nämlich an Gott.« Von mir aus hätte ich selbstredend niemals das Recht gehabt, die Sinndeutung in irgendeinem religiösen Sinne zu beleuchten und von der Kranken beurteilen zu lassen; diese Möglichkeit hat nur der Priester – der Arzt als solcher hat hierzu weder die Verpflichtung noch die Berechtigung. Sobald jedoch die positive religiöse Einstellung der Patientin zum Vorschein gekommen war, stand nichts mehr im Wege, sie als gegebenes Faktum auch in die Psychotherapie einzubauen. Frankl: »Aber sagen Sie, Frau Linek, kann das Leiden denn nicht auch eine Prüfung sein? Kann es denn nicht auch sein, dass Gott hat sehen wollen, wie die Frau Linek das Leiden trägt? Und zum Schluss hat er vielleicht zugeben müssen: jawohl, sie hat es tapfer getragen. Und jetzt sagen Sie mir, was meinen Sie jetzt, kann jemand solche Leistungen ungeschehen machen?« Patientin: »Nein, das kann niemand.« Frankl: »Das bleibt doch, nicht wahr?« Patientin: »Bestimmt: das bleibt!« Frankl: »Wissen Sie, Frau Linek, Sie haben nicht nur allerhand geleistet in Ihrem Leben, sondern noch aus Ihrem Leiden das Beste gemacht! Und Sie sind in dieser Hinsicht für unsere Patienten ein Vorbild. Ich gratuliere Ihren Mitpatienten, dass sie sich Sie zum Beispiel nehmen können!«
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Es gibt ein Gesolltes im Werdenden
In diesem Augenblick geschah etwas, das sich noch in keiner Vorlesung ereignet hatte: die 150 Hörer brechen in einen spontanen Applaus aus! Ich aber wende mich wieder der alten Frau zu: »Sehen Sie, Frau Linek, dieser Applaus gilt Ihnen. Er gilt Ihrem Leben, das eine einzige große Leistung war. Sie können stolz sein auf dieses Leben. Und wie wenig Menschen gibt es, die stolz sein können auf ihr Leben! Ich möchte sagen, Frau Linek: Ihr Leben ist ein Denkmal. Ein Denkmal, das kein Mensch aus der Welt schaffen kann!« Langsam ging die alte Frau aus dem Hörsaal. Eine Woche später starb sie. Sie starb wie Hiob: satt an Jahren. Während ihrer letzten Lebenswoche aber war sie nicht mehr deprimiert. Im Gegenteil, sie war stolz und gläubig. Anscheinend hatte ich ihr zu zeigen vermocht, dass auch ihr Leben sinnvoll war, ja dass noch ihr Leiden einen tieferen Sinn hatte. Vorher war die alte Frau, wie gesagt, bedrückt von der Sorge, dass sie nur ein nutzloses Leben geführt habe. Ihre letzten Worte aber, wie sie in der Krankengeschichte eingetragen stehen, waren die Folgenden: »Mein Leben ist ein Denkmal, hat der Professor gesagt. Zu den Studenten im Hörsaal. Mein Leben war also nicht umsonst …« (Frankl 2005, 271 ff.)
6.3. Es gibt ein Gesolltes im Werdenden Fassen wir diesen Entwurf zusammen: Aus der Perspektive dieses Modells ist unsere Gegenwart und nicht erst der Tod die entscheidende Weggabelung zwischen Sein und Nichts. Jeder Augenblick ist Werden, das Vergangene ist das Sein und die Zukunft ist nicht, während wir, um in Frankls Bildsprache zu bleiben, als »Erlöser« der Möglichkeiten vor der Bedrohung durch das Nichts das Seiende mitgestalten. Der sich hieraus ableitende Appell an den Einzelnen ist dabei enorm: zumindest verlangte er es, in wenigstens vergleichbarer Intensität, in der wir vor dem Nichts flüchteten, als wir noch an die Möglichkeit des Nichts unseres ganzen Lebensvollzugs dachten, sich nun dem zuzuwenden, was es zu verwirklichen gilt, gerade weil wir es vor der Vergänglichkeit beschützen und bewahren wollen, weil es alles in allem besser ist, geworden zu sein als ungeworden zu vergehen. Denn es ist aus dieser Perspektive nicht mehr unser Lebensvollzug durch die Vergänglichkeit bedroht, dafür sind es aber die Möglichkeiten, und die sich nun stellende Frage lautet nicht mehr resigniert: Was
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Aussöhnung mit dem eigenen Tod
wird schon bleiben? Sie lautet vielmehr: Was soll Wirklichkeit werden? Was soll und was soll nicht sein? Offenkundig nämlich sind nicht alle Möglichkeiten, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt anbieten und ins Sein streben, gleich wert und würdig, verwirklicht zu werden; und umgekehrt gibt es Möglichkeiten, die so eindeutig wert- und sinnvoll sind, dass es bisweilen kaum einer tieferen Reflexion bedarf, um sie als verwirklichungswürdig und damit unsere Verantwortung für ihr Werden anzuerkennen. Damit sind wir allerdings nicht mehr nur bei der Frage nach der Bewältigung der Vergänglichkeit und Sterblichkeit, sondern finden uns inmitten der im bisherigen Diskussionsverlauf sich als für das Verstehen des existentiellen Dilemmas zentral erweisenden Wertund Sinnfrage – nur sind wir es hier nicht trotz oder neben dem Tod, sondern wegen und ermöglicht erst durch das Bewusstseins von Tod und Vergänglichkeit. Und im Gegensatz zur abwehrenden kulturellen Weltsicht, die eine Antwort auf die Sinnfrage von anderen, also der Gruppe, der Gemeinschaft, oder der Tradition und der Norm erhält, verweist die Sinnfrage vor dem Hintergrund des hier vorgestellten Scheunengleichnisses auf den Fragenden selbst zurück: Die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, die aus diesem Entwurf entwächst, erfolgt demnach zu allererst und primär innerweltlich; sie erfolgt nämlich durch uns – genauer: nur durch uns angesichts unserer konkreten Möglichkeiten und unserer konkreten Endlichkeit und unserem Gewissen bzw. unserer Wertefühligkeit. Es ist diesem Entwurf zufolge also nicht nur Endlichkeit, sondern auch gerade die Einmaligkeit unserer Beschaffenheit und die Unwiederbringlichkeit der verstreichenden und durch das Nichtwerden gefährdeten Möglichkeiten, die unserem Dasein Sinn und Bedeutung geben. Denn es gibt in diesem Vorgang der verantwortlichen Wahl und Verwirklichung von Möglichkeiten keine Ersatzdarsteller – soweit der Mensch hier jeweils vor der Wahl seiner zu verwirklichenden Möglichkeiten steht, so gilt auch: diese Möglichkeiten wechseln von Person zu Person und von Stunde zu Stunde (Frankl 1985); sie sind zutiefst individuell. Denn es ist jede Person einzigartig – sowohl von ihren Bedingungen her als auch ihren Fähigkeiten, ihren Schwächen, ihrer Lebensgeschichte, ihrer Wahrnehmungsgabe usw. Dementsprechend sind unsere individuellen Möglichkeiten je unsere Möglichkeiten und Verantwortlichkeiten, und kein anderer kann sie für uns in dieser 202 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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einen konkreten Art und Weise ergreifen. Auch das Leben selbst tritt stets neu an uns heran: Ebenso wenig wie Personen wiederholen sich Situationen. Das Heute ist nie ganz das Gestern oder Morgen; es begegnet uns immer neu: Leben ist immer Gegenwart. Das bedeutet allerdings auch folgerichtig, dass Sinnmöglichkeiten jeweils situativ und personal einmalig sind, dass also eine jede Möglichkeit sich vor dem Hintergrund einer individuellen Wirklichkeit anbietet und in Abhängigkeit davon, auf wen sie trifft, eine individuelle und konkrete Anfrage enthält. Ein kranker Mensch ist dem anwesenden Arzt etwa Anfrage und Auftrag, zu diagnostizieren und therapeutisch zu wirken. Dem Nichtmediziner hingegen ist er zugleich Auftrag, ihm zu helfen, ihm das Leben erträglich zu machen, ihn gegebenenfalls auch zu trösten. Ein und dieselbe Wirklichkeit trifft auf verschiedene Menschen mit jeweils verschiedenen Kapazitäten und Verantwortlichkeiten und bietet ihnen vor dem Hintergrund ihrer Individualität dennoch ganz andere Möglichkeiten, zu wirken. Es sind mit anderen Worten die Möglichkeiten, die der einzelne Mensch für sich und exklusiv für sich hat, ebenso spezifisch wie die Möglichkeiten, die jede geschichtliche Situation in ihrer Einmaligkeit bietet: Sie wiederholen sich ebenso wenig wie die Akteure in einer jeden geschichtlichen Situation (vgl. Batthyány 2017, 41). Dieser Gegenentwurf sagt daher auch: Es ist dem Menschen – eben aufgrund seiner Freiheit und seiner Fähigkeit, nicht nur das Seiende und Könnende, sondern auch das Gesollte zu erkennen – keine bedeutungslose Nebenrolle zugedacht. Unvollendete Tatsachen warten auf seinen je eigenen Beitrag, den kein anderer für ihn ersatzweise leisten kann – es gibt in existenziellen Fragen, im endlichen Leben überhaupt, keine Stellvertreter. Jeder Einzelne ist daher genau dort gebraucht, wo er steht, weil seine je eigenen sinnvollen Möglichkeiten sonst nie Wirklichkeit und als solche verewigt werden könnten. Eine allgemein gültige, für alle verbindliche Lebensaufgabe, wie sie etwa von den Massenideologien der kulturellen Weltsicht angeboten werden, muss daher auch eigentlich unmöglich erscheinen: [Diese Frage] müsste uns vorkommen wie etwa die Frage eines Reporters, der einen Schach-Weltmeister interviewt: »Und nun sagen Sie, verehrter Meister – welcher ist der beste Schachzug?« Diese Frage lässt sich ebenso wenig allgemeingültig und ebenso nur in Bezug auf eine konkrete Situation (und Person) beantworten. Jener Schach-Weltmeister müsste, falls er die Frage überhaupt ernst nehmen würde, erwidern:
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Aussöhnung mit dem eigenen Tod
»Ein Schachspieler soll so handeln, dass er nach Maßgabe dessen, was er kann, und dessen, was der Gegner zulässt, den jeweils besten Zug zu machen versucht.« Dabei wäre zweierlei zu unterstreichen: Erstens »nach Maßgabe dessen, was er kann« – damit ist nämlich gemeint, dass auch die innere Lage, das, was man Anlage nennt, ins Kalkül zu ziehen ist; und zweitens wäre zu berücksichtigen, dass der betreffende Spieler immer nur »versuchen« kann, den in einer konkreten Spielsituation besten, d. h. den einer bestimmten Figurenstellung jeweils angepassten Zug zu machen. Wäre er nämlich von vornherein darauf aus, den absolut besten Zug zu machen, so müsste er, von Zweifeln und Selbstkritik geplagt, zumindest jene Zeit überschreiten, die ihm zur Verfügung steht, und das Spiel aufgeben. Ganz analog verhält es sich nun mit dem Menschen, der vor die Frage nach dem Sinn seines Lebens gestellt ist; auch er kann diese Frage, soll sie als Frage Sinn haben, nur stellen im Hinblick auf eine konkrete Situation sowie auf seine konkrete Person; darüber hinaus wäre es fehlerhaft und krankhaft, wenn er sich in den Kopf setzte, das absolut Beste zu tun, statt bloß zu »versuchen«, es zu tun. Intendieren muss er das Beste wohl, sonst käme nicht einmal etwas Gutes heraus; aber gleichzeitig muss er verzichten können auf ein mehr als nur asymptotisches Erreichen seines Ziels. (ibid.)
Vor diesem Hintergrund gelangt man somit auch schnell zur Absage an eine allgemein gestellte Frage nach dem Sinn des Lebens angesichts der Sterblichkeit – nicht weil es auf diese Frage keine Antwort gäbe, sondern weil sie im Zusammenhang unserer Diskussion schlicht falsch gestellt ist, wenn sie vage »das« Leben meint und nicht konkret unser individuelles und endliches Dasein. Ebenso war der Ausgangspunkt unserer Diskussion nicht »der« generische Tod (»man stirbt«), sondern vor allem die Suche nach einer Antwort, die wir auf jeweils das Wissen um unsere eigene Sterblichkeit geben können. Daher stoßen wir auch hier auf den konkreten Lebensvollzug und die Antwort auf die Sinnfrage nicht als etwas Vages und Allgemeines (»welchen Sinn hat man?«, »was muss man tun, um sinnvoll zu leben?«) – sondern als konkrete, persönliche Lebensfragen: »Was zählt jetzt und ist von mir zu verwirklichen und – qua Vergänglichkeit – zu verewigen?« angesichts individueller Möglichkeiten, die sich vor dem jeweils persönlichen Lebenshorizont in einer jeweils konkreten Lebenssituation abzeichnen. Bei dem Versuch, auf die Frage nach dem Sinn des Lebens ange204 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Es gibt ein Gesolltes im Werdenden
sichts seiner Vergänglichkeit eine Antwort zu geben, wird der Mensch hier also nicht mit Normen und Ideologien vertröstet oder an kulturelle Weltsichten gebunden, die ihm die Entscheidung abnehmen sollen, wie er zu wählen hat und was er zu tun gedenkt, damit er wirklich ist. Denn er wird, wenn er sich einmal seiner persönlichen Verantwortung gegenüber dem Möglichen und dem Werden der Wirklichkeit angesichts der Vergänglichkeit bewusst geworden ist, auch nicht länger allein auf den kurzfristigen sozialen Erfolg dessen achten, was er tut, etwa auf den Applaus oder die Anerkennung durch andere, sondern vielmehr auf die entscheidendere Frage, was wirklich werden soll durch sein Tun und Unterlassen. Er wird, mit anderen Worten, existentiell zu leben beginnen. Es erschließt sich von hier aus daher auch, wenn wir die in der TMT beschriebenen distalen Abwehrprozesse diesem Bild gegenüberstellen, ein weiteres Mal, nicht nur dass, sondern auch warum diese abseits aller Irrationalität und der Tatsache, dass sie ohnehin nur kurzfristig wirksame und ausweichende Lösungsversuche des existentiellen Dilemmas darstellen, auch unter dem Blickwinkel ihrer Existentialität höchst fragwürdig erscheinen müssen. Man muss sich fragen, was etwa einige Momente der sozialen Anerkennung und was schon das geborgte und doch stets nach wie vor angsterfüllte Gefühl der Gruppenzugehörigkeit noch bieten und bedeuten können, wenn zugleich für jeden Einzelnen das Gestalten von individueller Seinswirklichkeit vor dem Hintergrund der Vergänglichkeit und Sterblichkeit auf dem Spiel steht? All jene uneigentlichen Existenzweisen, die wir im Rahmen der TMT als Folge distaler Abwehrmanöver kennengelernt haben, beziehen ihre Substanz ja gerade nicht aus dem freien und authentischen Lebensvollzug vor dem eigenständig als »gut« oder »richtig« oder »seinswert« Erkannten, sondern aus dem, was die jeweilige Gruppe anerkennt – ein solcher »Sinn« erwächst daher nicht aus dem direkten und persönlichen Dialog zwischen Welt und Person, sondern aus einem Monolog mit sich selbst und dem bloßen innerpsychischen, zuständlichen Bedürfnis, potentielle Angstgefühle zu regulieren. In der distalen Abwehr wird der Einzelne daher stets auch austauschbar und auf seinen Funktionswert reduziert, weil ja nicht mehr der je eigene Möglichkeitshorizont in der Begegnung mit der je eigenen Person zählt, sondern ohnehin nur das, was der Regelkatalog der jeweiligen kulturellen Weltsicht bestimmt. Der damit einhergehende freiwillige Verzicht auf die Individualität untergräbt daher auch die Möglichkeit, sich eben jener hier angesprochenen in205 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Aussöhnung mit dem eigenen Tod
dividuellen und persönlichen Sinnmöglichkeiten bewusst zu werden, vor deren Hintergrund eine vernunftgeleitete und gegenständliche Begegnung mit der eigenen Vergänglichkeit und Sterblichkeit gelingen könnte. Andererseits ist offensichtlich, dass der Appell, der von der hier vorgeschlagenen Sicht der Vergänglichkeit und Endlichkeit menschlichen Daseins überhaupt nur dann seine lebenspraktische Wirkung entfalten kann, wenn der Mensch seinem Sterblichkeitsbewusstsein nicht ausweicht, sondern sich im Gegenteil des Öfteren an die Vergänglichkeit erinnert – hier nun allerdings nicht mehr unter dem Vorzeichen zuständlicher Bedrohtheit, sondern unter dem Vorzeichen der gegenständlichen Verantwortung für das Werdende. Somit können wir zunächst festhalten, dass mit Frankls Modell zumindest ein existenzphilosophisches Gegenbild vorliegt, demzufolge die Vergänglichkeit unseres Daseins nicht nur diesem Dasein seine Bedeutung nicht zu rauben vermag, sondern dass umgekehrt die Vergänglichkeit die individuelle Daseinsbedeutung erst begründet. Der Verdacht, dass eine Lebensordnung, die so leicht bereit ist, den einzelnen Menschen dem Tod preiszugeben, diesem auch keine sonderlich große Bedeutung zusprechen kann, erfährt hier daher eine radikale Umdeutung: Denn eine Lebensordnung, die dem Menschen die Verfügungsgewalt über Sein und Nichtsein schenkt, spricht diesem offenkundig die größte Bedeutung überhaupt zu.
6.4. Thanato- und Existenzpsychologie: Eine Begegnung Ein Großteil der vorhergehenden Diskussionen widmete sich den Unterschieden zwischen der TMT und existentiell-gegenständlichen Perspektiven auf das Wissen um die eigene Sterblichkeit. Beide Perspektiven stehen einander grundlegend gegenüber, wenn es um die Bewertung der philosophischen Verhandelbarkeit und der lebenspraktischen Folgen des Wissens um die eigene Sterblichkeit geht. Die Diagnosen der TMT und Frankls Existenzanalyse der Vergänglichkeit stimmen trotz dieser teils diametral entgegengesetzten Perspektiven zugleich aber auch in vielerlei Hinsicht überein – vor allem was die Beschreibung des seine Existentialität unterdrückenden Menschen betrifft. Aber das hier vorgestellte Scheunengleichnis unternimmt zusätzlich den Versuch einer existentiellen Antwort auf eine existentielle Frage – und hier ist der vor der anerkannten und angenommenen Endlichkeit formulierte Sinnbegriff ganz folgerichtig 206 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Thanato- und Existenzpsychologie: Eine Begegnung
auch nicht rein funktional, sondern existentiell und muss sich auch an existentiellen Kriterien messen lassen. Der Mensch trägt somit nicht nur Verantwortung für sein Befinden – soweit mag ihn der funktionale Sinn noch tragen; er trägt auch maßgeblich Verantwortung für das, was ohne ihn nicht geworden wäre. Diese Verantwortung etwa ist es, die einem sagt, dass das Wissen um verwirklichte Sinnmöglichkeiten nicht deshalb alleine gut ist, weil es sich zuständlich gut anfühlt, sie zu verwirklichen. So könnte es sein, wenn man die Verantwortung gegenüber dem Seinkönnenden in einer konkreten Situation als einmalige Person gerade angesichts der Vergänglichkeit wahrnimmt; oder auch, wenn man die Tröstlichkeit erfährt, die darin liegt, dass aus der Perspektive des Scheunengleichnisses eben nichts umsonst ist, wenn man es als Möglichkeit ergreift, da das Verwirklichte gerade durch sein Vergangensein vor dem Zugriff der Vernichtung bewahrt ist; und wenn man dann auch dazu vordringt, die Sinnbedeutung und Tragweite der eigenen Entscheidungen zu erkennen angesichts der Tatsache, dass diese nicht nur nicht ungeschehen gemacht werden können, sondern unverlierbar geborgene Wirklichkeit werden. »Es wird bleiben« – das ist die Antwort auf das Problem der Vergänglichkeit. »Es soll vor dem Hintergrund dieser konkreten Möglichkeiten in dieser Situation das werden, was in diesem Moment als Gutes oder Wertvolles einzubringen und zu verwirklichen ist – jene Möglichkeit, die es wert war, verwirklicht zu werden; und ich bin aufgerufen, dieser Möglichkeit zum Sein zu verhelfen« – das ist eine Antwort auf die Sinnfrage angesichts der Vergänglichkeit. Das Scheunengleichnis ist zwar nur eines unter vielen weiteren denkbaren – und es geht im Rahmen dieser Untersuchung, wie eingangs erwähnt, weniger nur darum, dieses Modell als erste oder vorrangige Lösung des Vergänglichkeits- und Sinnproblems vorzustellen, als es darum geht, angesichts der hohen persönlichen und sozialen Kosten, die der verdrängte Tod mit sich bringt (wie die TMT-Forschung belegt), eine neue und offene Diskussion über die Bedeutung und Deutung des Sterblichkeitswissen anzuregen und das hier diskutierte Modell als ein Beispiel dafür in die Debatte einzubringen, dass es auch existentiellere Wege der Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod gibt, sofern man bereit ist, ihn auch als gegenständliches Lebensthema wahr- und anzunehmen. Das hier vorgestellte Modell zeigt vorerst nicht mehr und nicht weniger, als dass eine solche Diskussion durchführbar ist, und weiters, dass eine außerreligiöse Sicht auf den Tod möglich ist, die zugleich versöhnlich an207 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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erkennt, dass es in vielerlei Hinsicht gut und sogar sinnstiftend ist, dass wir sterblich sind; und dass andererseits die Verdrängung des Todes uns tatsächlich um die wertvolle Einsicht bringen kann, dass Sinn in der Vergänglichkeit der Dinge und unserer eigenen Sterblichkeit liegt. Damit sind wir nun immerhin soweit gekommen, dass tatsächlich noch Wesentliches diskutabel und verhandelbar ist am potentiellen Terror des Wissens um die eigene Sterblichkeit, sofern wir dieses Wissen nicht nur als biologische Vernichtungsangst auffassen, sondern auch als genuin existentielle Anfrage. Und wir haben weiters gesehen, dass es möglich ist, der Sterblichkeit einiges Sinngebendes abzugewinnen, wenn man sich nur auf sie einlässt – ohne sie zu verdrängen, ohne sie zu bagatellisieren und zu banalisieren, und zugleich, ohne sie vorab und unreflektiert als Feind allen Seins und Sinngebenden zu fürchten und zu flüchten. Mit diesem Ergebnis haben wir schon einiges erreicht. Aber noch steht die Frage aus, wie lebensnah dieses Ergebnis ist – wie relevant, wie leicht in die Lebenspraxis umsetzbar? Denn diese Frage war ja, insbesondere nach der Diskussion der hohen sozialen Kosten der in der TMT beschriebenen Abwehrmanöver, ein leitendes Anliegen dieser Analyse. So bleibt noch anzusehen, ob Entwürfe wie der hier vorgestellte auch tatsächlich wirksam sind, um etwa bei mortalitätssalienten Versuchspersonen die proximale Abwehr (also Todesverdrängung) zu lindern und damit auch die Folgeprozesse der distalen Abwehr (defensive Weltsichtverteidigung, Selbstwertstreben) einzudämmen. Dieser Frage ist unsere Arbeitsgruppe in Wien experimentell nachgegangen. Hierzu folgten wir der Vergleichbarkeit halber wieder dem Versuchsprotokoll der oben beschriebenen Studien Dechesnes mit entsprechend abgeänderten Manipulationstexten. In dieser Abwandlung des Experiments bekamen unsere Versuchspersonen der Kontroll-, bzw. der MS-Gruppe als vermeintliche Gedächtnisaufgabe einen kurzen Essay zu lesen, der das Scheunengleichnis vorstellte, zugleich aber keinerlei Hinweise auf die Möglichkeit eines bewussten Überlebens des Todes beinhaltete, den Tod vielmehr als unumkehrbaren Endpunkt des Lebens beschrieb, zugleich aber als sinn- und formgebenden und daher nicht zu verdrängenden, sondern vielmehr zu bejahenden und als Sinnansporn anzunehmenden Tatbestand des Lebens. In diesem Text wurde der Tod vor dem Hintergrund des Scheunengleichnisses als jene Instanz beschrieben, mit der der 208 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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Mensch sich eigentlich ins Leben setze, da erst mit ihm der Schritt von der bloßen Möglichkeit zur unverlierbar geborgenen Wirklichkeit seines Daseins und Wirkens vollzogen werde. Die andere Hälfte der Versuchspersonen erhielt als grundlegende Kontrollbedingung und Vergleichsgruppe auch für die oben beschriebenen Erhebungen mit diesem Versuchsparadigma einen gänzlich neutralen Text über die Navigation der Zugvögel. Danach folgte derselbe kurze Ablenkungstask, der PANAS zur Erfassung der affektiven Gestimmtheit der Versuchspersonen, die anschließend gebeten wurden, die Einschätzung der Akkuratesse des Persönlichkeitsfeedbacks (als Test der distalen Abwehr) vorzunehmen.
Fig. 5. Selbstwertstreben: Höhere Werte bedeuten stärkere Zustimmung zum positiven Persönlichkeitsprofil (3–27 Punkte).
Die Ergebnisse sind in Fig. 5 dargestellt – sie zeigen signifikante Unterschiede in Abhängigkeit vom Einstellungstext zum Tod: Mortalitätssaliente Versuchspersonen, die den Text über das Scheunengleichnis gelesen hatten, schätzten das unrealistisch positive Persönlichkeitsprofil ebenso geringfügig auf sich selbst zutreffend ein wie die nicht mortalitätssalienten Versuchspersonen der Kontrollgruppe, während mortalitätssaliente Versuchspersonen, die den neutralen Text als Gedächtnisaufgabe gelesen hatten, das positive Persönlichkeitsprofil als signifikant zutreffender beurteilten als die beiden Vergleichsgruppen, also defensives Selbstwertstreben zeigten. Diese Ergebnisse legen damit nahe, dass die hier vorgestellte alternative Sichtweise auf Tod, Sinn und Vergänglichkeit erstens leicht vermittelbar und verständlich ist (die durchschnittliche Lese209 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Aussöhnung mit dem eigenen Tod
dauer des Texts betrug wenige Minuten) und eine ähnlich stark terrormindernde Wirkung hatte wie etwa die in der Originalstudie von Dechesne und Kollegen durch den Lesetext vermittelte Versicherung, es bestünde Hoffnung auf ein sinnvolles ewiges Leben – mit dem entscheidenden Unterschied allerdings, dass Dechesne und Kollegen mit einem fiktiven Text arbeiteten, während hier ein verhältnismäßig einfaches Sinndeutungsmodell der eigenen Sterblichkeit eingesetzt wurde. Umfassender und vollständiger wird das hier sich abzeichnende Bild, wenn wir sämtliche in diesen experimentellen Studien untersuchten Versuchsbedingungen zusammenfassen und gegenüberstellen: Persuasiver Text:
TNE mit Sinnversprechung (Dechesne et al. und unsere Replikation)
TNE ohne Sinn- Tod als Endpunkt versprechen des Lebens und Scheunengleichnis
TNE-skeptischer Text (Dechesne et al. und unsere Replikation)
Inhaltliche Schwerpunkte des Texts: Auflösung des Sterblichkeitsdilemmas im Sinne bloßen Überlebens
+
+
–
–
Auflösung des Sinnproblems angesichts der Sterblichkeit und Vergänglichkeit
+
–
+
–
Reaktion bei MS
Keine distale Abwehr
Distale Abwehr
Keine distale Abwehr
Distale Abwehr
Tab. 2: Übersicht der Konditionen und dem Auftreten bzw. Ausbleiben der distalen Abwehr
Zunächst zeigte sich, dass die bloße Auflösung des Sterblichkeitsdilemma durch die Zusage eines Fortlebens nach dem Tod alleine zu keiner Abschwächung des bekannten TMT-Effekts führt, sofern nicht den Versuchspersonen zugleich versichert wird, dass mit dem Fort210 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Thanato- und Existenzpsychologie: Eine Begegnung
leben auch eine Sinndimension bejaht wird, die das Fortleben selbst noch zusätzlich explizit mit Sinn und Bedeutung erfüllt. Dieser Befund stellte die Grundlage der weiteren Überlegung dar, dass ein entscheidender Aspekt des existentiellen Dilemmas vor allem auch der Befürchtung geschuldet ist, dass angesichts der früher oder später erfolgenden Vernichtung durch Tod und Vergänglichkeit Leben und Sterben selbst sinnlos sein könnten. Auf dieser Grundlage suchten wir nach einer Sichtweise auf Tod und Vergänglichkeit, die zwar den Tod selbst nicht in Frage stellt, wohl aber die philosophische Deutung der Vergänglichkeit, soweit die Sinn- und Bedeutungsfrage des Einzelnen betroffen ist. Das von Frankl vorgeschlagene Modell der Umkehrung des Zeitflusses ist ein solches Modell; und wie sich zeigt, ist es auch eines, dessen Annahme tatsächlich zu einer grundlegend neuen Sicht und psychologischen Entschärfung des existentiellen Dilemmas führt – ohne religiösen Überbau, ohne Verdrängung des Todes (im Gegenteil setzt dieses Modell die Anerkennung der eigenen Sterblichkeit voraus) und ohne distale Zufluchtnahme in geborgten Identitäten und Ideologien. Nun wäre schon das alleine ein richtungsweisender Befund: Es ist, sofern man eine gegenständliche Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit ermutigt und sucht, möglich, eine Sichtweise auf den eigenen Tod zu gewinnen, die uns an der Vergänglichkeit reifen lässt, ohne uns zu überfordern, weil sie uns etwa bloß anhält, den Tod nicht aus den Augen zu verlieren, aber sonst nichts anzubieten hat. Es ist vielmehr eine Sichtweise, die uns realistisch den Tatsachen der Vergänglichkeit ins Auge blicken lässt, ohne zugleich eine Botschaft der Hoffnungslosigkeit und Vergeblichkeit daraus abzuleiten; die sich zudem damit zurückhält, alle versöhnlichen Antworten auf das Sterblichkeits- und Sinnproblem dem Generalverdacht zu unterstellen, sie dienten letztlich ohnehin nur der zuständlichen Beschwichtigung unserer Ängste angesichts einer aussichtslosen existentiellen Situation. Es erweist sich also, dass erst die Ermutigung, sich beiden existentiellen Kernfragen zugleich zu stellen, d. h. der Endlichkeit selbst ebenso wie der individuellen Sinnfrage, uns in die Lage versetzen kann, von einer bloß zuständlich orientierten Flucht vor existentiellen Fragen hin zu einer gegenständlich orientierten Reflexion vorzudringen, die schließlich auch den Weg zu positiven Antworten auf beide existentiellen Fragestellungen eröffnet.
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Aussöhnung mit dem eigenen Tod
6.5. Aufbruch zur Aussöhnung mit dem eigenen Tod Es ist an dieser Stelle zu betonen, dass diese Analyse und die besprochenen Befunde die Gültigkeit der TMT nicht nennenswert in Frage stellen – es ist fraglos angesichts der Fülle an Daten, die die TMT stützen, kaum möglich und wohl auch gar nicht notwendig, die TMT selbst ganz neu zu denken – bloß weil sich zeigt, dass die Vermittlung alternativer Bilder des Todes zu einem weniger defensiven Umgang mit der eigenen Sterblichkeit hinführt. Wohl aber kann und soll der bisweilen sich in TMT-Debatten einschleichende pessimistische und resignative Unterton in Frage gestellt werden, demzufolge das existentielle Dilemma erstens alleine die Unlösbarkeit des Sterblichkeitsproblems selbst und nicht auch die damit einhergehende Sinnfrage umfasst und zweitens (und folglich) jeder Versuch, eine positive, d. h. abwehrlindernde Antwort auf das existentielle Dilemma zu finden, unmittelbar unter den Generalverdacht der Abwehr und damit der Uneigentlichkeit gestellt wird. Auf diese Gefahr wurde bereits kurz im Rahmen der Diskussion der rationalen Haltbarkeit der kulturellen Weltsichtverteidigung hingewiesen – die Tatsache, dass die TMT in erster Linie betrachtet, welche Funktion eine Weltanschauung oder Gruppenzugehörigkeit hat, immunisiert mitunter gegen die philosophische Bringschuld, sich auch den Inhalten und Gehalten der jeweiligen Weltanschauung oder Gruppennormen und ihrem Blick auf den Tod selbst zu stellen; sie immunisiert auch gegen eine derzeit allerdings im akademischen Rahmen ohnedies leider kaum mehr stattfindende Debatte zur Frage des Schicksals des Bewusstseins angesichts des Todes und nach dem Tod. Es mag diese Tendenz gleichermaßen ideenhistorisch wie theorieimmanent nachvollziehbar und verständlich sein: Wer einen Schlüssel zu zentralen und anscheinend universellen psychologischen Phänomenen entdeckt, wird aus naheliegenden Gründen dazu neigen, vielleicht sogar versucht sein, diesen Schlüssel auch da noch anzuwenden, wo womöglich ganz andere Kategorien der Auseinandersetzung angemessener wären. Die TMT steht damit durchaus nicht alleine – sie stünde aber auch nicht alleine, wenn sich auch in ihrem Fall zeigte, dass auch sie Grenzbedingungen aufweist, deren Verstehen nur dann gelingt, wenn man jenseits der Theorie selbst auf Spurensuche einer Erweiterung der psychologischen Sterblichkeitsdebatte geht. Im vorliegenden Fall wäre dies etwa die Möglichkeit, dass es angst- und damit abwehrlindernde Argumente zur Bewältigung der eigenen Sterblich212 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
Aufbruch zur Aussöhnung mit dem eigenen Tod
keit gibt, die nicht alleine im Dienst der Affektregulation bei Mortalitätssalienz stehen – die mit anderen Worten rational erschließbar und gleichermaßen psychologisch hilfreich wie existentiell wahrhaftig sind und dem Wissen um die eigene Sterblichkeit mehr abzugewinnen in der Lage sind als bloß zu vermeidende Angst. Seit einiger Zeit beobachtet man nun in der Tat auch aus der TMT selbst zunehmend den Versuch, nach Faktoren zu suchen, die die duale Abwehr mindern – nur befassen sich auch diese Annäherungen mehrheitlich mit primär affektiven Faktoren. Es zeigt sich etwa, dass die Gabe eines vermeintlich angstlindernden Placebos duale Abwehrprozesse lindert – vermutlich, weil die Versuchspersonen unter diesen Umständen nicht länger mit der Regulation befürchteter negativer zuständlicher Gefühle befasst sind (Greenberg et al. 2003). Diese Zugänge sind fraglos bedeutend und wichtig; aber auch sie setzen nach wie vor bei der Überwindung des zuständlichen negativen Affekts (bzw. seiner Folgen) an, nicht aber bei ihrem Grund, also der existentiell ja auch nach aller Affektregulation und trotz allem von Scheler zurecht beklagten metaphysischen Leichtsinn nach wie vor sich stellenden Lebensfrage nach der Bedeutung der eigenen Sterblichkeit. Wie ich hier zu zeigen versucht habe, setzen manche Lesarten der TMT das hier sich womöglich widerspiegelnde Misstrauen gegenüber rational erschlossenen positiven Begegnungsformen mit der eigenen Sterblichkeit voraus, ohne es seinerseits gut begründet zu haben. Dieses Misstrauen scheint vielmehr a priori davon auszugehen, dass von der eigenen Sterblichkeit nichts nennenswert Gutes oder gar Sinngebendes ausgeht, weil das Grunddilemma, wie Becker es formulierte, tatsächlich in sich selbst nicht lösbar und daher unverhandelbar ist – und damit jeder Versuch, es dennoch zu verhandeln, psychologisch suspekt erscheinen, d. h. bloß im Dienste der Abwehr stehen, muss. Es ist zugleich bemerkenswert, dass die TMT so gut wie jeden Einzelaspekt des Modells einer empirischen Überprüfung unterzogen und über weite Strecken bestätigt hat, just aber den zentralen Ausgangspunkt ihres Modells – die Unlösbarkeit des existentiellen Dilemmas – relativ unhinterfragt voraussetzt. Die vorhergehende Diskussion zeigte nun andererseits, dass eben diese Annahme in Frage gestellt – und mehr noch, dass die Frage im Prinzip auch positiv beantwortet – werden kann. Innerhalb dieses Diskurses aber eröffnet sich auch für die Thanatopsychologie eine neue Chance, Forschungsfelder jenseits der bloßen Affektpsychologie zu erkunden und in den 213 https://doi.org/10.5771/9783495820926 .
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Dialog zu treten mit der Existenzpsychologie und der Philosophie des Todes im Allgemeinen. Denn in Hinblick auf die Frage, ob es möglich ist, die Aktivierung des dualen Abwehrprozesses durch rationale Argumente zu unterbinden, zeigte sich im Laufe dieser Diskussion an verschiedener Stelle: Es ist möglich. Und gemessen an dem, wie hoch die gesellschaftlichen und persönlichen Kosten des verdrängten Todes sind, ist es nicht nur möglich, sondern geradezu eine Heraus- und Aufforderung sowohl an den Einzelnen, als auch an die Thanato- und Sozialpsychologie im Allgemeinen, aus dem Schatten der zuständlichen Befangenheit angesichts der distalen Abwehr zu treten: Außerhalb dieses Schattens wartet nicht mehr notwendig nur Angst, sondern womöglich vielmehr die Aufforderung zum selbstverantwortlichen und selbstverantworteten sinnorientierten Dasein angesichts des unverdrängten Wissens um unsere Sterblichkeit.
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