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German Pages [472] Year 1997
WILHELM DILTHEY · GESAMMELTE SCHRIFTEN XXI. BAND
WILHELM DILTHEY GESAMMELTE SCHRIFTEN Von Band XVIII an besorgt von Karlfried Gründer und Frithjof Rodi
XXI. BAND
V&R VANDENHOECK & RUPRECHT IN G Ö T T I N G E N
PSYCHOLOGIE ALS ERFAHRUNGSWISSENSCHAFT
ERSTER TEIL: V O R L E S U N G E N ZUR PSYCHOLOGIE U N D A N T H R O P O L O G I E (ca. 1875-1894)
Herausgegeben von Guy van Kerckhoven und Hans-Ulrich Lessing
V&R VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Dilthey, Wilhelm: Gesammelte Schriften / Wilhelm Dilthey. - Göttingen : Vandenhoeck u. Ruprecht. Von Bd. 18 an besorgt von Karlfried Gründer u. Frithjof Rodi. Teilw. im Verl. Teubner, Stuttgart u. Vandenhoeck u. Ruprecht, Göttingen NE: Gründer, Karlfried [Hrsg.]; Dilthey, Wilhelm: [Sammlung] Bd. 21. Psychologie als Erfahrungswissenschaft / Erster Teil: Vorlesungen zur Psychologie und Anthropologie (ca. 1875-1894) / hrsg. von Guy van Kerckhoven und Hans-Ulrich Lessing. - 1997 ISBN 3-525-30305-X
© 1997, Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. - Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesetzt aus der Garamond 10/12p von Linotype Satz: Fotosatz Otto Gutfreund GmbH, Darmstadt Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen
INHALT
Vorbericht der Herausgeber A. D I E B R E S L A U E R V O R L E S U N G E N Z U R P S Y C H O L O G I E U N D A N T H R O P O L O G I E (ca. 1875-1882)
Psychologie (ca. 1875/76) II. Abschnitt: Elemente und Grundgesetze des Seelenlebens § § § §
6. 7. 8. 9.
§ 10. §11. § 12. § 13. §14. §15. §16.
Die Seelenvermögen Empfindung, Gefühl und Vorstellung Vom Beharren der Vorstellungen Vom bewußten und unbewußten Zustande der Vorstellung. Schlaf, Wachen und Aufmerksamkeit Die psychischen Elemente des bewußten Vorstellungsverlaufs etc. Erster Grundprozeß: die Verschmelzung und ihre Gesetze . . . . Zweiter Grundprozeß: die Assoziation und ihre Gesetze Die Phantasie Gefühl und Wille Die Gefühle Selbstbewußtsein, Triebe und Begehren
III. A b s c h n i t t : D i e Vorgänge, w e l c h e d e n im B e w u ß t s e i n verlaufend e n psychischen A k t e n z u g r u n d e liegen I. Von d e n E m p f i n d u n g e n im allgemeinen § 17. Die Intensität der Empfindung - Beziehung zwischen der Intensität der Empfindung und der Stärke des Reizes. - Das psychophysische Grundgesetz §18. Qualität der Empfindung - Theorie der Sinnesenergie §19. Der Gesichtssinn §20. Die übrigen Sinne
XV
1
1 1 1 2 3 4 5 6 7 8 9 11 13
14 14
14 16 17 18
VI
Inhalt
IV. Abschnitt: Die Psychologie und die Wissenschaften der Kultur .
18
§21. Allgemeine Vorbemerkungen: die psychologischen Gesetze und der Gehalt der Seele §22. Gliederung der Wissenschaften der Kultur
18 20
Psychologie (1878) I. Abschnitt § 1. Stellung der Anthropologie und Psychologie im Zusammenhange der Erfahrungswissenschaften § 2. Die Methode der Psychologie § 3. Geschichte der Psychologie und ihrer Literatur § 4. Die drei metaphysischen Ansichten, die der Psychologie zugrunde gelegt worden sind, und der empirische Standpunkt
II. Abschnitt § 1. Leib und Seele § 2. Lebenskraft und Bildungstrieb § 3. Das Nervensystem als der Träger einer zwiefachen Beziehung der Seele zur Außenwelt. Empfindung und Bewegung § 4. Die Grundformen der Vermittlung zwischen Empfindung und Bewegung. Der Reflexvorgang. Der Sitz der Seele
III. Abschnitt: Elemente und Grundgesetze des Seelenlebens § § § §
1. 2. 3. 4.
§ 5.
§ 6. § 7. § 8.
§ 9. §10. §11.
21 21 21 24 29 46
49 49 50 50 51
52
Die sogenannten Seelenvermögen 52 Empfindung, Gefühl, Vorstellung 58 Vom Beharren der Vorstellungen 61 Vom bewußten und unbewußten Zustand der Vorstellung und von der Enge des Bewußtseins 63 Die psychischen Elemente des bewußten VorstellungsVerlaufes und die in ihnen gegebene Grundlage der Gesetzmäßigkeit dieses Vorstellungsverlaufes 72 Erster Grundprozeß: die Verschmelzung und ihre Gesetze . . . . 76 Zweiter Grundprozeß: die Assoziation und ihre Gesetze 83 Apperzeption oder Wechselwirkung zwischen dem Wahrnehmen und den vorhandenen Vorstellungsmassen gemäß dem Grundprozeß der Verschmelzung und der Assoziation 95 Gefühl und Willen, in ihrem Inbegriff als „Gemüt" bezeichnet . . 108 Das Gefühl in seinen einfachsten Erscheinungen 108 Verhältnis der Gefühle zu Reproduktion und Gesetze der Aufeinanderfolge von Gefühlen 116
Inhalt
§ 1 2 . Der Wille und das Gefühl § 13. Der Wille in seiner Beziehung zu Vorstellung und Gefühl § 1 4 . Das Bewußtsein, der Wille und die Freiheit
VII 117 126 132
IV. A b s c h n i t t : D i e V o r g ä n g e , w e l c h e d e m in d e m B e w u ß t s e i n verl a u f e n d e n p s y c h i s c h e n A k t e z u g r u n d e liegen
150
§ 1. Die Empfindung. Allgemeine Eigenschaften der Empfindung . . .
150
Anthropologie und Psychologie als Erfahrungswissenschaft (1881/82)
166
§ 1. Einleitung 166 § 2. Die Geschichte der Psychologie und die wichtigsten Standpunkte in der Auffassung des Seelenlebens 167 I. A b s c h n i t t : D i e T a t s a c h e n des B e w u ß t s e i n s
168
§ 1. Von den Mitteln, die Tatsachen des Bewußtseins aufzufassen . . . 168 § 2. Die psychische Lebenseinheit und der Körper, besonders das Nervensystem 169 § 3. Die natürliche Gliederung der Tatsachen des Bewußtseins und die Seelenvermögen 171 II. A b s c h n i t t : V o m B e w u ß t s e i n s z u s t a n d u n d der V e r b i n d u n g der Vorstellung
173
§ 4. Wahrnehmung und Vorstellung § 5. Das Verharren der Vorstellung, die Verschiedenheit ihrer Bewußtseinsgrade. Schlaf und Wachen, Aufmerksamkeit § 6. Die Elemente des Vorstellungsverlaufes und die Gesetzmäßigkeit in demselben § 7. Erster Grundvorgang: die Verschmelzung und ihre Gesetze . . . § 8. Zweiter Grundprozeß: die Assoziation und ihre Gesetze § 9. Die Verarbeitung der Wahrnehmungen im Bewußtsein § 10. Von der Phantasie überhaupt und von dem künstlerischen Vermögen § 1 1 . Von dem theoretischen und dem praktischen Verstände
173 174 176 176 177 178 179 180
III. A b s c h n i t t : D e r theoretische Z u s a m m e n h a n g der p s y c h o l o g i s c h e n Tatsachen
182
§ 1 2 . Das Selbstbewußtsein und das empirische Ich 182 § 13. Die Zustände des Selbstbewußtseins, welche von der Regel des wachen Lebens abweichen 185
VIII
Inhalt
I. Der Zusammenhang der Erkenntnis §14. Leben und Erkennen §15. Empfindung und Wahrnehmung §16. Der Zweckzusammenhang der menschlichen Erkenntnis II. Gefühl und Wille §17. Die Beziehungen von Gefühl und Wille §18. Das Gefühl §19. Der Wille und seine Freiheit
B.
189 189 189 190 192 192 194 196
DIE BERLINER PSYCHOLOGIE-VORLESUNGEN DER ACHTZIGER J A H R E (1883-1889)
199
Psychologie (1883/84)
199
Einleitung
199
§ § § §
199 201 201
1. 2. 3. 4.
Die Aufgabe der Psychologie Von den Mitteln, die Tatsachen des Bewußtseins aufzufassen . . . Die Psychologie kann nicht auf Metaphysik begründet werden . . Die Psychologie kann nicht der Naturwissenschaft untergeordnet werden, aber sie kann nur mit Hilfe der Ergebnisse der Physiologie wissenschaftlich vollendet werden
I. Abschnitt: Die Systematik der psychischen Zustände
203 204
§ 5. Die Mannigfaltigkeit der psychischen Zustände und die Aufgabe, ihre Systematik aufzufinden 204 § 6. Die bisherigen Versuche einer Klassifikation und die Lehre von den Seelenvermögen 205 § 7. Vorstellen, Wollen und Fühlen als die drei Seiten des psychischen Lebens 207 II. Abschnitt: Die Intelligenz
209
Erstes Kapitel: Die W a h r n e h m u n g
209
§ 8. Wahrnehmung und Vorstellung § 9. Die Empfindung als [ein] durch Abstraktion aus der Wahrnehmung zum Zweck der Analyse abgesondertes Element §10. Die drei Glieder des Empfindungsvorganges §11. Von den Sinnesorganen §12. Von den Qualitäten der Empfindung § 13. Von den räumlichen Bestimmungen der Empfindungen und der Entstehung der Raumvorstellung
209 209 210 211 212 217
Inhalt
§ 1 4 . Die empiristische Raumtheorie § 1 5 . Die nativistische Theorie und die Lehre von den Lokalzeichen . . § 16. Betrachtungen über die Sinnlichkeit unter dem Gesichtspunkte der pragmatischen Psychologie §17. Das Selbstbewußtsein § 18. Das Selbstbewußtsein und die Entstehung einer Außenwelt, äußerer Objekte § 19. Das Selbstbewußtsein und die in der inneren Wahrnehmung gegebenen Elemente des geistigen Lebens § 20. Die innere Erfahrung unter dem Gesichtspunkte der pragmatischen Psychologie
IX
219 220 222 223 224 226 226
Zweites Kapitel: D i e Z u s t ä n d e des Bewußtseins und der Verlauf der Vorstellungen
227
Erstes Stück: D i e Vorstellung und die U n t e r s c h i e d e in ihrer B e wußtheit
227
§21. Die Vorstellungen und ihre Residuen 227 § 22. Die Grade und Weisen des Bewußtseins 229 § 23. Die Enge des Bewußtseins und die Grundgesetze der Aufmerksamkeit 230 § 24. Die Aufmerksamkeit in pragmatischer Rücksicht 233 § 25. Die Einheit des Bewußtseins 234 § 26. Das Selbstbewußtsein 236 III. A b s c h n i t t : V o m Verlauf der Vorstellungen §27. § 28. § 29. § 30. §31. § 32.
Erster Grundvorgang: die Verschmelzung und ihre Gesetze . . . Zweiter Grundvorgang: die Assoziation und ihre Gesetze . . . . Das Gedächtnis in pragmatischer Hinsicht Die Verarbeitung der Wahrnehmungen im Bewußtsein Die Sprache und das Denken Der Fortschritt der intellektuellen Entwickelung
IV. A b s c h n i t t : G e f ü h l und Wille § 33. Das Verhältnis des Gefühls zu den anderen Seiten des psychischen Lebens § 34. Der Wille und die Beziehungen des Gefühls zu ihm § 3 5 . Das Wesen des Gefühls § 36. Die Gesetze des Gefühlslebens. - Seine Entwickelung und seine Arten § 37. Die Leitung und Metamorphose der Vorstellungen von dem Gefühlsleben aus. - Phantasie und künstlerisches Vermögen § 3 8 . Der Wille und seine Freiheit
238 238 239 240 242 242 243 244
244 244 245 246 246 247
X
Inhalt
Psychologie als Erfahrungswissenschaft (1885/86)
249
I. Es ist der Standpunkt, welcher Metaphysik verwirft, der Standpunkt, welcher nichts als Erfahrung anerkennt, von dem wir die Psychologie betrachten 249 II. Die Psychologie steht mit den Zuständen des gesunden und kranken Körpers in Beziehung 251 III. Psychologie ist die Grundwissenschaft der Geisteswissenschaften überhaupt. Hilfsmittel, welche der Psychologie zur Verfügung stehen, diese Aufgabe zu lösen 253 IV. Unsere Kenntnis von inneren Zuständen hat zu ihrem Material die Wahrnehmung unseres eigenen Selbst. Hilfsmittel für die Auffassung der Zustände anderer Individuen 255 V. Die Unmöglichkeit, die Psychologie auf Metaphysik zu begründen. Das Hilfsmittel der Erfahrung. Die erste Aufgabe: Analyse der Seelenbegriffe 258 VI. Vorläufige Ubersicht über die Haupttatsachen der Seele. Die Anfänge des Bewußtseins einer Gliederung des Seelenlebens . . . . 261 VII. Das metaphysische Stadium und der erfahrungswissenschaftliche Standpunkt 264 VIII. Die erklärende Erfahrungswissenschaft und die Lehre von den Seelenvermögen 266 IX. Die kritische Behandlung der Klassifikation des Seelenlebens
. . 268
X. Die drei Klassen von psychischen Vorgängen oder Elementen: Vorstellen, Fühlen, Wollen 269 XI. Die Grundstruktur des Seelenlebens und der dadurch bedingte Typus der menschlichen Struktur 272
Psychologie als Erfahrungswissenschaft (ca. 1888/89)
275
§ 1. Die Aufgabe der Psychologie und ihre Stellung im Zusammenhang der Erfahrungswissenschaft 275 § 2. Von den Mitteln, die Tatsachen des Bewußtseins aufzufassen . . . 276 § 3. Die Psychologie kann nicht auf Metaphysik begründet werden . . 278
I. Abschnitt: Die Gliederung der psychischen Zustände
279
XI
Inhalt
§ 4. Der Vorgang, in dem aus den einzelnen Erfahrungen die allgemeinen Bezeichnungen für die Arten und Gattungen psychischer Zustände entstehen, und die Methoden, auf dieser Grundlage eine wissenschaftliche Systematik zu bilden 279 § 5. Die bisherigen Versuche einer Klassifikation psychischer Tatsachen und die Lehre von den Seelenvermögen 280 § 6. Auflösung des Problems: die Gliederung des Seelenlebens . . . . 282 II. Abschnitt: Die Elemente des Seelenlebens und die zwischen ihnen stattfindenden einfachen Prozesse 285 Erstes Kapitel: Die Elemente des Seelenlebens (Einfache Vorgänge) 285 I.
Die einfachen Empfindungen
285
§ 7. Wahrnehmung, Vorstellung, Empfindung § 8. Die Elemente unserer äußeren Wahrnehmung sind die einfachen Empfindungen § 9. Der Vorgang, in dem aus dem Reiz die einfache Empfindung entsteht § 10. Die Empfindungsqualitäten in bezug zu den Reizklassen. Joh. Müllers Gesetz von den spezifischen Sinnesenergien § 1 1 . Die Mannigfaltigkeit der einfachen Empfindungen in bezug auf Modalität und Qualität § 12. Von der Stärke der Empfindungen und deren Verhältnis zu der Stärke der Reize § 1 3 . Elemente unserer Raumvorstellung § 1 4 . Wahrnehmen und Vorstellen
294 296 297
II.
297
Die Zustände des Gefühls
285 285 286 287 289
§ 1 5 . Die Analysis der Gefühlszustände in ihre Elemente
297
III.
298
Zustände des Willens
§ 1 6 . Die Analysis von Trieb, Begehren, Wille Zweites Kapitel: Die Elementarprozesse des Seelenlebens §17. §18. §19. § 20.
298 . . . .
Die Struktur des Seelenlebens Grade und Weisen der Bewußtseinszustände Die Enge des Bewußtseins Beziehung des Problems von der Enge des Bewußtseins auf den Vorgang der Aufmerksamkeit § 2 1 . Die quantitativen Untersuchungen des Umfangs der Aufmerksamkeit und die Bestimmung der Apperzeptionszeit, überhaupt die Messung der Zeit, die psychische Vorgänge in Anspruch nehmen
299 299 299 303 304
307
XII
Inhalt
§ 22. Der so entstehende Zusammenhang des Seelenlebens und die Erklärung der Tatsachen von Verdrängung einer Vorstellung aus dem Bewußtsein und Wettstreit von Vorstellungen aus diesem Zusammenhange §23. Einheit des Bewußtseins §24. Der elementare Prozeß der Verschmelzung § 25. Zweiter Grundvorgang: die Assoziation und ihre Gesetze. Erklärung der zusammengesetzten psychischen Erscheinungen und Tatsachen des Gedächtnisses
310 310 312
313
III. Abschnitt: Das Zusammenwirken der elementaren Prozesse des Seelenlebens und der so entstehende Zusammenhang desselben nach seinen Haupterscheinungen 317 § 26. Zusammenwirken der elementaren Prozesse unter den Bedingungen der äußeren und inneren Wirklichkeit § 27. Das Selbstbewußtsein §28. Entstehung der Objekte und der Außenwelt § 29. Unsere Raumvorstellung § 30. Empiristische Raumtheorie §31. Die nativistische Theorie § 32. Lokalisation der Empfindungen und Lokalzeichen § 33. Das Einzelding. Eigenschaft, Kraft, Tun und Leiden § 34. Das diskursive Denken und seine Unterlage in der Sprache . . . . § 35. Die Erkenntnis § 36. Die Mannigfaltigkeit der Gefühle
C. DIE V O R L E S U N G ÜBER A N W E N D U N G E N DER P S Y C H O LOGIE A U F DIE PÄDAGOGIK (Berlin ca. 1893/94)
Anwendungen der Psychologie auf die Pädagogik
317 320 323 324 324 325 325 326 326 327 327
329
329
Einleitung
329
Erstes Kapitel: Das allgemeingültige Ziel aller Erziehung, abgeleitet aus den Eigenschaften des Seelenlebens
330
Zweites Kapitel: Das Spiel
331
Drittes Kapitel: Interesse und Aufmerksamkeit als die bewegende Kraft, durch welche der Unterricht die Vorstellungsbildung im Schüler herbeiführt und den Willen bildet 334 Viertes Kapitel: Die Benutzung des Gedächtnisses und die Ausbildung eines Zusammenhangs im Seelenleben durch den Unterricht 340
Inhalt
Fünftes Kapitel: Die Ausbildung des Verstandes
XIII
345
Sechstes Kapitel: Die Struktur des Seelenlebens. Die Stellung der logischen Operationen in demselben und die dort entstehenden Aufgaben der Verstandesbildung 351 Siebentes Kapitel: Die Gliederung und Stufenfolge des Unterrichts 356 Achtes Kapitel: Die Bildung des Willens
359
Anmerkungen
363
Personenregister
417
Vorbericht der Herausgeber
I. Mit dem hier vorgelegten Band XXI wird die durch den Band XX der Gesammelten Schriften begonnene Edition von Diltheys systematischen Vorlesungen ergänzt und abgeschlossen. Während der vorhergehende Band Diltheys Vorlesungen über Logik und System der philosophischen Wissenschaften, zur Einleitung in die Geisteswissenschaften, über Logik und Erkenntnistheorie sowie zum System der Philosophie in Grundzügen enthielt,1 dokumentiert der jetzige Band unterschiedliche Fassungen seiner unter wechselnden Titeln gehaltenen Psychologie-Kollegs. Die Vorlesungen über Psychologie (bzw. über Anthropologie und Psychologie) nehmen neben den verschiedenen philosophiegeschichtlichen Kollegs in Diltheys Lehre den weitaus größten Raum ein. Mit seiner ersten PsychologieVorlesung (4 st.) beginnt Dilthey im Sommer 1867 seine kurze Lehrtätigkeit in Basel (Sommersemester 1867 - Sommersemester 1868). In Kiel (Wintersemester 1868/69 - Sommersemester 1871) liest Dilthey ebenfalls nur einmal, und zwar im Wintersemester 1870/71 über Psychologie (2 st.). In seiner Breslauer Zeit (Wintersemester 1871/72 - Sommersemester 1882) hält Dilthey dagegen mehrfach Psychologie-Vorlesungen: im Wintersemester 1871/72 liest er dreistündig über Anthropologie und Psychologie; eine für das Sommersemester 1873 angekündigte einstündige Vorlesung Psychologie des Verbrechens wird von ihm - aus weiter nicht bekannten Gründen - dagegen nicht gehalten. Im Sommersemester 1874 liest Dilthey wiederum dreistündig Psychologie und zweistündig - offenbar als Ergänzung zum Psychologie-Kolleg - Geschichte der Pädagogik, mit Anwendungen der Psychologie auf ihre systematische Ausbildung. Im Wintersemester 1875/76 stellt Dilthey seine Vorlesung unter den Titel: Psychologie, mit ihren Anwendungen auf die Grundlagen des Rechts, der Religion und Erziehung (4 st.). Im Sommersemester 1878 1 Logik und System der philosophischen Wissenschaften. Vorlesungen zur erkenntnistheoretischen Logik und Methodologie (1864-1903), hrsg. von H.-U. Lessing und F. Rodt, Göttingen 1990.
XVI
Vorbericht der Herausgeber
liest Dilthey vierstündig Psychologie und im Wintersemester 1879/80 wie auch im Wintersemester 1881/82 ebenfalls jeweils vierstündig Anthropologie und Psychologie als Erfahrungswissenschaft·, ergänzt wird in diesem Semester das Kolleg durch Philosophische Übungen über die Hauptpunkte der Psychologie dies ist im übrigen, soweit wir wissen, Diltheys einzige Übung zur Psychologie. In Berlin, wo Dilthey vom Wintersemester 1882/83 bis zum Wintersemester 1907/08 lehrt, hält er zwölfmal, und zwar jeweils im Wintersemester (von 1882/83 bis 1893/94) seine große Psychologie-Vorlesung; sie wird jeweils zusammen mit der Vorlesung Logik und Erkenntnistheorie vorgetragen - mit der Ausnahme des Wintersemesters 1892/93, in dem Dilthey das erkenntnistheoretische Kolleg, offenbar ersatzlos, ausfallen läßt. Am Beginn dieser Vorlesungsreihe, in den Wintersemestern 1882/83 und 1883/84, steht das (noch vierstündige) Kolleg unter dem Titel: Psychologie. In den Wintersemestern 1884/85 bis 1893/94 liest Dilthey kontinuierlich dreistündig über Psychologie als Erfahrungswissenschaft. Vom Wintersemester 1884/85 an wird das Psychologie-Kolleg jeweils begleitet von der einstündigen Vorlesung Anwendungen der Psychologie auf die Pädagogik, als Ergänzung der psychologischen Vorlesung. Mit der Berufung Carl Stumpfs an die Berliner Universität (18.12. 1893) wurde Dilthey dann von der offenbar schon lange als drückend empfundenen Aufgabe entlastet, den Lehrstoff der sich rasch entwickelnden, mehr und mehr experimentell ausgerichteten modernen Psychologie vermitteln zu müssen. 2 Er konnte sich nun wieder verstärkt der Ausarbeitung seiner eigenen psychologischen Konzeption widmen, die zu seinen ältesten systematischen Intentionen gehört, bis in die Mitte der sechziger Jahre zurückreicht und damals noch unter dem von Novalis inspirierten Titel einer „Realpsychologie" stand. 3 Den ausgereiften Entwurf zu einer gegen die dominierende akademische Psychologie gerichteten deskriptiven Psychologie, deren Grundgedanken Dilthey schon spätestens gegen Ende der achtziger Jahre entwickelt hatte, legte er unmittelbar nach Beendigung seiner Psychologie-Vorlesungen mit seiner bahnbrechenden, ebenso zustimmende wie vehement kritische Reaktionen - insbesondere von experimentalpsychologischer Seite - hervorrufenden AkademieAbhandlung von 1894, den Ideen über eine beschreibende und zergliedernde
2 Vgl. dazu die Hinweise bei: F. Rodi, Die Ebbinghaus-Dilthey-Kontroverse. Biographischer Hintergrund und sachlicher Ertrag, in: Ebbinghaus-Studien 2, hrsg. von W. Traxel, Passau 1987, S. 145-154. 3 Vgl. H.-U. Lessing, Realpsychologie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 8, hrsg. v o n ] . Ritter und K. Gründer, Basel 1992, Sp. 212-213.
Vorbericht der Herausgeber
Psychologie,4
XVII
der Öffentlichkeit vor. 5 Dieser Ansatz wurde dann von ihm in
der sog. „Individualitätsabhandlung" Über vergleichende Psychologie/
Beiträge
zum Studium der Individualität (1895/96) 6 - ebenfalls einer Akademie-Abhandlung - weitergeführt und im Spätwerk in Richtung auf eine „Strukturpsychologie" ausgebaut. Im Gegensatz zu dem vorhergehenden Band X X trägt der Band X X I nicht unmittelbar wesentlich neue Aspekte und Kenntnis zu Diltheys zentralem philosophischen Projekt einer „Kritik der historischen Vernunft" bei, d.h. seinem Unternehmen einer erkenntnistheoretischen, logischen und methodologischen Grundlegung der Geisteswissenschaften, die er mit seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) realisieren wollte. Dilthey nutzte überraschenderweise seine Psychologie-Vorlesungen nicht vornehmlich dazu, die eigene Konzeption einer Realpsychologie bzw. einer beschreibend-zergliedernden Psychologie, die in seinem Programm einer philosophischen Begründung der Wissenschaften der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit eine entscheidende Funktion erfüllen sollte, zu entwickeln, sondern beschränkte sich in seinen Kollegs vielmehr weitgehend darauf, den Lehrbestand der akademischen, naturwissenschaftlich ausgerichteten Psychologie, allerdings nicht unkritisch, zu vermitteln. Für seine eigene, so wirkungsreiche Konzeption einer deskriptiven Psychologie enthalten die hier vorgelegten Vorlesungen daher oft nur indirekt bedeutsame neue werkgeschichtliche Aufschlüsse, so etwa über die Genese des für seine deskriptiv-psychologische Konzeption zentralen Strukturbegriffs. In den hier vorgelegten Psychologie-Vorlesungen begegnet insofern eher der „schulmäßige" akademische Lehrer Dilthey, der mit einer geradezu spürbaren Askese darauf verzichtet, seine eigenen psychologischen Theorien und Konzepte zum vorrangigen Gegenstand seiner akademischen Lehre zu machen und statt dessen in großem Umfang den - kritisch durchgearbeiteten und durch sein spezifisches systematisches Interesse gefilterten - Stoff der herrschenden „erklärenden" Psychologie mitteilt und diskutiert. Es wird daher verständlich, daß sich Dilthey sehr nachdrücklich um eine Berufung Stumpfs an die Berliner Universität bemühte. Von ihm erhoffte er sich eine Befreiung von der Pflicht der psychologischen Vorlesungen und dadurch einerseits die Möglichkeit, sich mit größerem Engagement auf seine Vorlesungen über Geschichte der Philoso-
Ges. Sehr. V, S. 139-240. Vgl. H.-U. Lessing, Briefe an Dilthey anläßlich der Veröffentlichung seiner Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, in: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 3 (1985), S. 193-232. 6 Ges. Sehr. V, S. 241-316. 4 5
XVIII
Vorbericht der Herausgeber
phie zu konzentrieren 7 und andererseits auch die Freiheit zur Ausarbeitung seiner eigenen, „verstehenden" Psychologie. Die Ausarbeitungen und Forschungsmanuskripte, die den Weg der beschreibenden Psychologie von den ersten umfangreichen Ausarbeitungen zur deskriptiven Psychologie über Die Mannigfaltigkeit des psychischen Lebens und ihre Einteilung (ca. 1880)8 bis zur Konzipierung der Individualitätsabhandlung (1896) dokumentieren, sollen im folgenden Band XXII der Gesammelten Schriften: Psychologie als Erfahrungswissenschaft II: Manuskripte zur Genese der deskriptiven Psychologie (ca. 1880-1896) vorgelegt werden. Erweisen sich die hier versammelten Vorlesungen im Hinblick auf Diltheys zentrales philosophisches Projekt auch in entwicklungsgeschichtlicher und systematischer Hinsicht als eher unergiebig, so vermitteln sie doch andererseits durchaus eine Reihe wertvoller Aufschlüsse und werfen Licht auf bislang unbekannte Seiten seines Lebenswerks. Die Bedeutung dieser Texte liegt so vor allem darin, daß sie aufzeigen, in welchem Ausmaß und mit welchen Akzentsetzungen Dilthey in seinen Psychologie-Vorlesungen den Lehrstoff der akademischen Psychologie des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts durchgearbeitet, modifiziert und für den Zweck seiner Lehre aufbereitet hat. So zeigen diese Vorlesungen u. a. etwa, wie intensiv und breit Dilthey die Standardwerke und führenden Autoren der gegen Ende des Jahrhunderts mächtig expandierenden Psychologie (u. a. Herbart, Fechner, Lotze, Wundt) rezipiert und seinem Lehrvortrag zugrunde gelegt hat. Die dokumentierten Materialien erschließen somit einen bislang völlig unbekannten Aspekt seines wissenschaftlichen Werks: Dilthey zeigt sich in seinen Vorlesungen als gut vertraut mit den neuesten Entwicklungen der psychologischen Forschung und scheut sich auch nicht, auf relevante Ergebnisse benachbarter naturwissenschaftlicher Disziplinen, wie etwa der (Sinnes-)Physiologie (Ε. H. Weber, / . Müller, H. von Helmholtz), der Neurologie ( M . F . X . Bichat, Ch. Bell), der Gehirnforschung (F.J. Gall, M.J.P. Flourens) und der Psychiatrie (Tb. Meynert), zu rekurrieren; seine frühen Interessen an physiologischen Fragestellungen finden sich dadurch eindrucksvoll bestätigt: es gibt - was nicht wenig überraschen dürfte bei Dilthey insofern eine Kontinuität der naturwissenschaftlichen Beschäftigung, die von seiner Basler Lehrtätigkeit bis mindestens zu Beginn der neunziger Jahre reicht. Darüber hinaus erweisen sich die Vorlesungen auch unter allgemeineren psychologiehistorischen Gesichtspunkten als bedeutsam, vermitteln sie doch 7 Vgl. Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877-1897, hrsg. von S. von der Schulenburg, Halle (Saale) 1923, S. 165. ' Ges. Sehr. XVIII, S. 112-183.
Vorbericht der Herausgeber
XIX
am Exempel eines der einflußreichsten Universitätsphilosophen seiner Zeit aufschlußreiche Einblicke in die Rezeption der psychologischen Forschung, wie auch besonders in die Praxis psychologischer Lehre zwischen der Mitte der siebziger und dem Beginn der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts in Deutschland.
II. Wie schon beim Band X X der Gesammelten Schriften konnten die Herausgeber auch bei der Herausgabe des jetzigen Bandes nicht auf Kolleghefte Diltheys zurückgreifen, sondern mußten die überlieferten Nachschriften, Mitschriften und Diktate Diltheyscher Psychologie-Vorlesungen der Edition zugrunde legen. Zwar gibt es - wie auch für die Logik-Vorlesungen - Fragmente verschiedener Kolleghefte Diltheys (insbesondere in den Faszikeln C : 11, 25, 26 I, 26 II, 29 II, 30 und 42 des Berliner Dilthey-Nachlasses), doch läßt ihr Zustand eine sinnvolle editorische Erschließung kaum zu; hinzu kommt, daß der mögliche inhaltliche Gewinn in einem nicht vertretbaren Verhältnis zum editorischen Aufwand stünde. Leitende Maxime der Edition war der Versuch einer möglichst vollständigen Dokumentation der vorhandenen Materialien bei möglichst geringer Redundanz. Im einzelnen standen uns für die Edition die folgenden Manuskripte zur Verfügung: von den Basler, Kieler und frühen Breslauer Vorlesungen haben sich keine Nachschriften erhalten; die frühesten überlieferten Zeugnisse Diltheyscher Psychologie stammen aus der Mitte der siebziger Jahre. Das älteste Dokument ist eine - undatierte, aber mit großer Wahrscheinlichkeit dem Wintersemester 1875/76 zuzuordnende - Diktatmitschrift von Diltheys Psychologie-Vorlesung. Von der folgenden Breslauer Vorlesung (vom Sommersemester 1878) sind zwei Nachschriften überliefert, und die Vorlesungen des Wintersemesters 1879/80 (vermutlich) sowie des Wintersemesters 1881/82 sind durch jeweils eine Nachschrift dokumentiert. Außerdem konnten wir ergänzend auf zwei, allerdings undatierte Nachschriftenfragmente zurückgreifen. Die Berliner Psychologie-Vorlesungen der achtziger Jahre sind ähnlich gut dokumentiert wie die Breslauer Kollegs seit Mitte der siebziger Jahre; von Diltheys vier Vorlesungen der neunziger Jahre sind hingegen erstaunlicherweise keine Nachschriften erhalten. Diese empfindliche Lücke ist umso bedauerlicher, als die Phase zwischen 1889 bis 1894 in Diltheys Denken eine Umbruchzeit markiert. In diesen Jahren unmittelbar vor der Konzipierung der Ideen gibt Dilthey der etwa schon seit Mitte der achtziger Jahre Kontur gewinnenden, im Begriff der psychischen Struktur zentrierten Konzeption einer
XX
Vorbericht der Herausgeber
deskriptiven Psychologie die endgültige Gestalt. D u r c h das Fehlen entsprechender Materialien läßt sich nun leider nicht verfolgen, ob und wenn ja, wie Dilthey in seinen Vorlesungen den Entstehungsprozeß seiner psychologischen Konzeption offengelegt und reflektiert hat. D e r zentrale Begriff der psychischen Struktur, den Dilthey in seinen Arbeiten zur Poetik - Dichterische
Ein-
bildungskraft und Wahnsinn (1886),9 Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik (1887)10 - , zur Pädagogik - Über die Möglichkeit einer allgemeingültigen
pädagogischen
Wissenschaft
(1888) 1 1 - und in seinem Aufsatz
über Archive der Literatur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie
(1889) 1 2 seit Mitte der achtziger Jahren zunehmend in das
Zentrum seiner psychologischen Überlegungen gestellt hat, begegnet in unseren Vorlesungen - nach der singulären und unspezifischen Verwendung des Terms „Strukturform" in der Vorlesung vom Wintersemester 1883/84 - in terminologischer Bedeutung erstmals im Kolleg vom Wintersemester 1885/86 und erhält in der letzten Psychologie-Vorlesung der achtziger Jahre volles systematisches Gewicht. 1 3 Während von der ersten Berliner Psychologie-Vorlesung des Wintersemesters 1882/83 Mitschriften fehlen, standen uns von der zweiten Berliner Psychologie-Vorlesung (Wintersemester 1883/84) drei Nachschriften zur Verfügung. Auch für die Vorlesung des Wintersemesters 1884/85 gibt es keine Textzeugen; dafür ist das Kolleg vom Wintersemester 1885/86 wiederum durch drei bzw. vier, ζ. T. nur fragmentarische, Mitschriften dokumentiert. Von Diltheys Psychologie-Vorlesung der späten achtziger Jahre sind schließlich zwei, allerdings undatierte Nachschriften überliefert. Das einstündig, jeweils ergänzend zur Psychologie-Vorlesung gehaltene Kolleg über Anwendungen auf die Pädagogik
der
Psychologie
wird in unserem Band durch ein Manuskript (vermutlich
um 1893) dokumentiert, dessen formale und stilistische Geschlossenheit die Vermutung zuläßt, daß Dilthey diesen Text möglicherweise diktiert hat und als Grundlage für eine - nicht realisierte - Veröffentlichung verwenden wollte. D i e Nachschriften geben im allgemeinen - soweit es sich heute, etwa durch Vergleich, feststellen läßt - die von Dilthey vorgetragenen Kollegs im großen und ganzen korrekt und weitgehend unverfälscht und zuverlässig wieder; einige kleinere, sinnentstellende Versehen und Verschreibungen in einzelnen
9
Ges. Sehr. VI, S. 90-102. Ges. Sehr. VI, S. 103-241. " Ges. Sehr. VI, S. 56-82. 12 Ges. Sehr. IV, S. 555-575. 13 Zu Diltheys Strukturbegriff vgl. F. Rodi, Diltheys Concept of „Structure" within the Context of Nineteenth-Century Science and Philosophy, in: Dilthey and Phenomenology, hrsg. von R.A. Makkreel und J. Scanlon, Washington D.C. 1987, S. 107-121. 10
Vorbericht der Herausgeber
XXI
Manuskripten, die meistens auf Hörfehlern beruhen, konnten durch Vergleich mit den anderen, zeitlich benachbarten Texten korrigiert werden. Von besonderer Authentizität sind die Diktatmitschriften, in denen festgehalten wird, was Dilthey als Quintessenz der Vorlesungen jeweils zu Beginn oder am Ende der Kollegstunden seinem Auditorium diktiert hat. D a wir auf mehrere solcher Diktatmitschriften zurückgreifen konnten, war es möglich, für einige Vorlesungen Diltheys originale Diktion zu dokumentieren, wodurch diese Texte eine besondere Bedeutung als Quellen gewinnen. Grundsätzlich wurde darauf verzichtet, einen „idealen" Vorlesungstext durch stilistische Glättung und Integration verschiedener Quellen herzustellen; die Texte erscheinen in ihrer jeweiligen integralen Gestalt und wurden nur an wenigen, jeweils ausgewiesenen Stellen durch andere Vorlesungszeugen ergänzt. Vom Leittext abweichende Textpassagen der sekundären Quellen wurden, wenn sie von einem gewissen terminologischen oder sachlichen Gewicht waren, in den Anmerkungen mitgeteilt. Die Editionsprinzipien, die der Bearbeitung der Texte unseres Bandes zugrunde gelegt wurden, entsprechen denjenigen des Bandes X X der Gesammelten Schriften
III. Die skizzierten Uberlieferungsverhältnisse der Nach- bzw. Mitschriften Diltheyscher Psychologie-Vorlesungen bedingen die Anlage des vorliegenden Bandes: so dokumentiert der Teil Α die Breslauer Vorlesungen zur Psychologie und Anthropologie aus den Jahren 1875 bis 1882, der Teil Β die Berliner Psychologie-Vorlesungen der achtziger Jahre und der C-Teil endlich eine späte Fassung des Kollegs über Anwendungen der Psychologie auf die Pädagogik. Die bekannt gewordenen Nachschriften der Breslauer Vorlesungen zeigen, daß Dilthey offenbar jeweils sehr intensiv an Inhalt und Gliederung seiner Vorlesungen gearbeitet und diese im Verlauf der Jahre nicht unerheblich modifiziert hat; gleichwohl ist in gewisser Hinsicht eine mehr oder weniger gleichbleibende Struktur der Vorlesungen erkennbar. 15 Im Mittelpunkt der Breslauer Vorlesungen stehen jeweils eindeutig die Abschnitte über Elemente und Grundgesetze des Seelenlebens. In ihnen handelt Dilthey im einzelnen über die
Vgl. die entsprechenden Hinweise, Ges. Sehr. X X , S.XLivf. Vgl. auch unsere Darstellung: Psychologie als Erfahrungswissenschaft. Zu Diltheys Psychologie-Vorlesungen der siebziger und achtziger Jahre, in: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 9 (1994-95), S. 66-91. 14
15
XXII
Vorbericht der Herausgeber
Theorie der Seelenvermögen, die Vorstellungslehre, die Grundprozesse des Vorstellungsverlaufs, also Verschmelzung und Assoziation, sowie die Apperzeption und thematisiert die verschiedenen Lehren über Gefühl und Wille. Das Kolleg vom Wintersemester 1875/76 umfaßt vier Abschnitte, von denen allerdings der erste Abschnitt, der vermutlich von Gegenstand, Geschichte, Methoden und Literatur der Psychologie handelte, nicht überliefert ist. Auf den schon angesprochenen zentralen Abschnitt über Grundtatsachen und -gesetze des psychischen Lebens folgt ein Abschnitt über die Empfindungs- und
Sinneslehre: Die Vorgänge, welche den im Bewußtsein verlaufenden schen Akten
zugrunde
liegen.
psychi-
Dilthey spricht hier u. a. über die Intensität der
Empfindung, die Beziehung der Empfindungsintensität zur Reizstärke, über das psychophysische Grundgesetz ( £ . H. Weber) Sinnesenergie (/. Müller),
sowie über die Theorie der
die Dilthey zustimmend referiert. Besonders auf-
schlußreich ist der 4. Abschnitt über Die Psychologie der Kultur.
und die
Wissenschaften
H i e r diskutiert Dilthey das Verhältnis der Geisteswissenschaften
zur Psychologie und unterstreicht ihre Bedeutung für das Studium
der
menschlichen Kultur. An dieser Stelle wird in nuce sein systematisches Programm erkennbar, das einige Jahre später in der Einleitung senschaften
in die
Geisteswis-
(1883) seinen Ausdruck finden sollte, und damit die N ä h e dieser
Vorlesung zu seinen gleichzeitigen Bemühungen um die Erforschung der erkenntnistheoretischen und logisch-methodologischen Grundlagen der Geisteswissenschaften. U n t e r den überlieferten Breslauer Vorlesungen verdient die Nachschrift des Kollegs vom Sommersemester 1878 besondere Aufmerksamkeit. In dieser Nachschrift, der weitaus umfangreichsten, die uns zur Verfügung stand, wird der Gang der Vorlesung sehr ausführlich und eingehend festgehalten. In der Anlage stimmt diese Vorlesung weitgehend mit derjenigen des Wintersemesters 1875/76 überein. Das zentrale Lehrstück über die Elemente und Grundgesetze des Seelenlebens bildet in diesem Kolleg den 3. Abschnitt. Diesem Abschnitt vorauf geht zunächst ein allgemein einführender Abschnitt, in dem Dilthey über die Stellung von Anthropologie und Psychologie im Zusammenhang der Erfahrungswissenschaften, über die Methoden der Psychologie, ihre Geschichte und Literatur sowie über „die drei metaphysischen und den empirischen Standpunkt" berichtet, die der Psychologie im Verlauf ihrer Entwicklung zugrunde gelegt wurden. D e r 2. Abschnitt unterrichtet - unter den Stichworten: „Leib und Seele", „Lebenskraft und Bildungstrieb", „Das Nervensystem als der Träger einer zwiefachen Beziehung der Seele zur Außenwelt" und „Die Grundformen der Vermittlung zwischen Empfindung und Bewegung" - über die im weitesten Sinne physiologischen Grundlagen der Psychologie. Vom 4. A b schnitt, der dem Abschnitt 3 der Vorlesung vom Wintersemester 1875/76 ent-
Vorbericht der Herausgeber
XXIII
spricht, ist nur der 1. Paragraph über Die Empfindung. Allgemeine Eigenschaften der Empfindung erhalten, in dem Dilthey unter Bezug auf die zeitgenössische Physiologie und Psychophysik die Empfindungslehre und die Theorie der Sinne vorträgt; ob die Vorlesung - wie das Kolleg vom Wintersemester 1875/76 - weitere Paragraphen dieses Abschnitts sowie noch einen Schlußabschnitt mit Überlegungen zum Verhältnis der Psychologie zu den Wissenschaften der Kultur enthielt, läßt sich nicht mehr feststellen, ist aber wohl eher zweifelhaft, da beide überlieferten Nachschriften mit dem 1. Paragraphen des 4. Abschnitts abbrechen. Besondere Beachtung verdient die Psychologie-Vorlesung des Sommersemesters 1878 insbesondere deshalb, weil Dilthey hier - in einer besonders wichtigen Phase für die Entwicklung seiner systematischen Konzeption einer philosophischen Grundlegung der Geisteswissenschaften, in der die Psychologie eine konstitutive Rolle zugewiesen bekommt - seinen Psychologie-Begriff, seine methodischen Überlegungen sowie die Grundlagen der eigenen psychologischen Theorie in besonders klarer und eindringlicher Weise darstellt. Wie Dilthey ausführt, sind der Gegenstand der Psychologie „die inneren Zustände des Menschen, die Ereignisse, das Geschehen in ihm". 1 6 Diese Tatsachen sind uns auf dreifache Weise gegeben: durch Selbstbeobachtung, durch Beobachtung fremden geistigen Lebens, in das wir uns durch die Methode des Analogieschlusses hineinversetzen, und schließlich durch mündliche und schriftliche Überlieferung. Psychologie ist für Dilthey allerdings noch nicht das schlichte „Gewahrwerden dessen, was von psychischen Tatsachen sich ereignet", sondern es ist - wie er betont - „das wissenschaftliche Streben, zwischen diesen Tatsachen einen allgemeinen Zusammenhang zu entdecken". 17 Zwar begreift Dilthey die Psychologie als ein Unternehmen, das „einen Zusammenhang der geistigen Tatsachen [sucht], vermöge dessen alle geistigen Tatsachen zu einem wissenschaftlichen Ganzen miteinander verknüpft sind", 18 warnt aber nachdrücklich vor dem „Aberglauben an die Existenz einer reinen wissenschaftlichen Psychologie". 19 Eine „strenge Wissenschaft", so führt Dilthey aus, „kann nur entstehen von irgendeinem Kreis von Tatsachen, wenn entweder das Experiment uns gestattet, die komplizierten uns vorliegenden Tatsachen in einfache zu zerlegen, oder wenn wir in der Lage sind, eine andere Wissenschaft anzuwenden auf die vorliegenden komplizierten Phänomene. Anwendbarkeit der Mathematik und anderer Wissenschaften hat sich bis jetzt nur auf engen Ge-
16 17
18 19
Unten S.21. Unten S.22. Ebd. Unten S.23.
XXIV
Vorbericht der Herausgeber
bieten der Psychologie herausgestellt; ebenso ist es bei Experimenten. So ist die Psychologie darauf angewiesen, sich diejenigen Vorteile zunutze zu machen, welche ihr eigentümlich sind." 20 Aus dieser Überlegung zieht Dilthey im Fortgang entscheidende methodische Konsequenzen: angesichts des besonderen Gegenstandes der Psychologie und der Schwächen der bisherigen, dogmatischen, d. h. metaphysisch belasteten psychologischen Wissenschaft, intendiert Dilthey eine „von jeder Voraussetzung freie, eine von aller früheren Metaphysik unbeeinflußte Erörterung der psychischen Prozesse", 21 d . h . also eine „Psychologie als Erfahrungswissenschaft". Unter dieser methodischen Prämisse handelt Dilthey im Hauptteil die klassischen Themenfelder der Psychologie, d. h. die Vorstellungs-, Gefühls- und Willenslehre, ab. Dabei wendet er sich konsequent gegen einen dogmatischatomistischen Ansatz. Im Gegensatz zur herrschenden Psychologie, die vom scheinbar Elementaren, d. h. der Empfindung, aufsteigt zu komplexeren Formen des seelischen Lebens, 22 geht Dilthey quasi phänomenologisch von den wirklichen Akten aus. Der ursprüngliche Zustand ist also nicht ein solcher reinen Empfindens, sondern der Mensch findet sich vielmehr ursprünglich wahrnehmend vor. Die Aufgabe des Psychologen besteht nach Dilthey nun darin, analytisch an den gegebenen Aktzusammenhang heranzugehen, d . h . „den Wahrnehmungszustand in Teilinhalte zu zerlegen, in einfachere Inhalte". 23 Besonderes Gewicht legt Dilthey im Fortgang seiner Vorlesung einerseits auf die Darstellung der Assoziationsgesetze, wobei er anstrebt, diesen Gesetzen eine vollkommenere Fassung zu geben, als sie durch Hume erhalten haben, 24 und andererseits auf den Versuch einer Verbesserung der Apperzeptionstheorie.25 Auf die Vorstellungslehre, die man ζ. T. auch betrachten kann als eine Ausführung der Überlegungen zur Psychologie, die Dilthey in seinem GoetheAufsatz von 1878 entwickelt hat, 26 folgt eine ausführliche Gefühls- und Willenstheorie, für die sich in seinem publizierten Werk kaum Anknüpfungspunkte ausfindig machen lassen. Bemerkenswert ist hier u. a. die positive
2
° Ebd. Unten S. 25. 22 Vgl. auch unten S. 120. 23 Unten S. 59. 24 Vgl. unten S. 74; vgl. dazu die §§ 5-7. 25 Vgl. §8. 26 Über die Einbildungskraft der Dichter, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 10 (1878), S. 42-104. 21
Vorbericht der Herausgeber
XXV
Rezeption der Psychologie Schopenhauers. Während Dilthey Schopenhauers Metaphysik als „haltlos" verwirft, bezeichnet er dessen Psychologie als „wertvoll": „diese seine psychologische Grundauffassung ist das Ergreifende, Bezaubernde und Fortreißende in seinem Systeme, sein Sirenengesang, durch den er Unzählige verlockt und in Unseligkeit verstrickt hat". 27 Dilthey teilt Schopenhauers Ausgangspunkt, „demgemäß der menschliche Wille etwas Primäres ist",28 und versucht unter dieser Perspektive den Ansatz zu einer psychologisch begründeten Willenstheorie zu entwickeln. Mit der die Vorlesung abschließenden Erörterung zur Empfindungslehre überschreitet Dilthey das Gebiet der reinen Psychologie und thematisiert Schnittstellen von Psychologie und Erkenntnistheorie. Dilthey diskutiert in diesem Zusammenhang u. a. das Verhältnis von Reiz und Empfindung, wobei er insbesondere auf J. Müllers Theorie der spezifischen Sinnesenergien eingeht,29 bzw. die Beziehung von Reiz und Wahrnehmung, die Dilthey - soweit wir wissen - in seinen erkenntnistheoretischen Vorlesungen etwa unter dem Titel Der Erkenntniswert der Empfindungen zu behandeln pflegte. 30 Die letzte Breslauer Vorlesung Anthropologie und Psychologie als Erfahrungswissenschaft vom Wintersemester 1881/82 besitzt auf den ersten Blick eine von den früheren Vorlesungen scheinbar abweichende Anlage. Dieses Kolleg umfaßt 3 Abschnitte und eine aus 2 Paragraphen bestehende Einleitung. Der 1. Abschnitt, Die Tatsachen des Seelenlebens, enthält methodische Überlegungen sowie ausführliche Hinweise auf Struktur und Funktionszusammenhang des Nervensystems sowie eine Ubersicht über die „natürliche Gliederung der Tatsachen des Bewußtseins und die Seelenvermögen". Der 2. Abschnitt, Vom Bewußtseinszustand und der Verbindung der Vorstellung, beinhaltet mit der Wahrnehmungs- und Vorstellungslehre das erste Hauptstück des früheren zentralen Abschnitts über Elemente und Grundgesetze des Seelenlebens. Die Gefühls- und Willenstheorie findet sich nun mit der neu ausgearbeiteten Selbstbewußtseinstheorie (§12: Das Selbstbewußtsein und das empirische Ich) sowie Überlegungen zum Zusammenhang der Erkenntnis im 3. Abschnitt: Der theoretische Zusammenhang der psychologischen Tatsachen. Die Theorie des Selbstbewußtseins muß in Zusammenhang mit der kurz zuvor (um 1880) geschriebenen sog. Breslauer Ausarbeitung31 gesehen werden, wo Dilthey im 12. Kapitel, Das Selbstbewußtsein im Zusammenhang der bisher dargelegten
27 28 29 30 31
Unten S.121f. Unten S. 122. Vgl. unten S. 161 ff. Vgl. Ges. Sehr. XX, S. 177-180. Ges. Sehr. XIX, S. 58-173.
XXVI
Vorbericht der Herausgeber
Eigenschaften des psychischen Lebens?2 in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Herbart seine eigene Theorie des Selbstbewußtseins entwickelt hatte. Abgesehen von der Erweiterung um die für Diltheys zentrale philosophische Intention besonders wichtige Selbstbewußtseinstheorie sowie die daraus abgeleiteten Einsichten in den Zusammenhang der Erkenntnis, enthält dieser neue Abschnitt seiner Vorlesung somit den Lehrbestand des zweiten Teils des früheren zentralen Abschnitts über die Elemente und Grundgesetze des psychischen Lebens. Unter Rückgriff auf die neu formulierte Selbstbewußtseinstheorie kann Dilthey die Auffassung der Seele als einer „Substanz" abweisen, da - wie er zeigen kann - „der Begriff der Substanz [ . . . ] selber aus dem Selbstbewußtsein [stammt]". 33 Dilthey versucht hier, den (metaphysischen) Substanzbegriff mit Hilfe einer Theorie des Selbstbewußtseins - wie er sagt - „psychologisch und erkenntnistheoretisch" aufzuklären 34 : „Ding und Wirken sind [ . . . ] in dem psychischen Grundverhalten für uns da, in welchem dem Selbst eine Wirklichkeit gegenübertritt. Aus ihnen wird der metaphysische Begriff der Substanz und der der Kausalität abstrahiert. Sie sind nicht Verstandesformen, wie sie Kant aufgefaßt hatte". 35 Eine Anwendung dieses Substanz-Begriffs auf die „in der Erfahrung klare Tatsache des seelischen Lebens" führt - wie Dilthey weiter ausführt - „nur zu einer Verdunkelung derselben, und das Tote, Starre, was die Anforderungen des Naturerkennens, die auf ein Festes gehen, in diesen Begriff hineintragen, entfremdet die Seele ihr selber". 36 Aus seiner Selbstbewußtseinstheorie zieht Dilthey weitere entscheidende erkenntnistheoretische Konsequenzen, die im Kontext seiner erkenntnistheoretischen Grundlegung der Geisteswissenschaften eine besondere Bedeutung gewinnen. So ergibt sich aus seiner, im Kolleg nur knapp skizzierten Analyse des Selbstbewußtseins, „daß uns die Wirklichkeit in der Totalität unseres geistigen Lebens gegeben ist, nicht aber, sofern wir uns bloß vorstellend verhalten. Wahrnehmung, Empfindung sind bloße Abstraktionen, sie sind aus der Wirklichkeit abstrahiert, die dem erfüllten Selbstbewußtsein gegeben sind; Vorstellungen beziehen sich nur auf diese Wirklichkeit und sind wahr als in ihr enthalten und falsch als in ihr nicht enthalten. Demnach ist uns auch direkt nur das Ding gegeben als eine Zusammenordnung unserer Eindrücke auf dem Hintergrund dieses Widerstehenden und sonach real, Substanz aber ist nur eine Abstraktion hieraus." 37 Die Folge-
32 33 34 35 36 37
Ges. Sehr. XIX, S. 152-173. Unten S. 184; vgl. auch S.384. Unten S.185. Unten S. 191; vgl. auch S. 185. Unten S.185. Unten S.189.
Vorbericht der Herausgeber
XXVII
rungen aus diesen Einsichten führen in das Zentrum von Diltheys Erkenntnistheorie, die er nur in einem Teil - mit seiner Realitätsabhandlung von 1890,
den Beiträgen zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität
der Außenwelt
und seinem Recht - der Öffentlichkeit vorgelegt hat. 38
IV. Die große Regelmäßigkeit, mit der Dilthey in Berlin über Psychologie las, ist ein äußeres Anzeichen für die Intensität, mit der er in diesen Jahren seinen psychologischen Studien nachgegangen ist und die Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Psychologie vertieft hat. Laut Diltheys eigenen Aussagen bildeten seine Berliner Vorlesungshefte zur Psychologie „ein großes Reservoir", 3 9 von dem er später Gebrauch machen wollte. Dieser Gebrauch beschränkt sich nicht darauf, daß einzelne Paragraphen der Berliner Psychologie-Vorlesungen in die Berliner Logik-Vorlesungen eingegangen sind und für die „Erkenntnisgrundlegung" Verwendung fanden. Querverbindungen zwischen der Trieb-, Gefühls- und Willenslehre, welche bereits einen wesentlichen Bestandteil der Breslauer Psychologie-Vorlesungen bildeten und von Dilthey in seinen Berliner Psychologie-Vorlesungen weitergeführt wurden, und den entsprechenden Ausführungen der Ethik-Vorlesung aus dem Jahre 1890, der ihrerseits ein „großer Versuch [ . . . ] systematischer Gedanken" 4 0 zugrunde liegt, sind ebenfalls nachweisbar. In systematischer Hinsicht stehen die Berliner Psychologie-Vorlesungen in einem inneren Zusammenhang mit den in Band X I X der Gesammelten Schriften rekonstruierten und dokumentierten Plänen zur Ausarbeitung des zweiten Bandes der Einleitung in die Geisteswissenschaften, insbesondere des Vierten Buches des zweiten Bandes. Insgesamt schätzte er seine Berliner Vorlesungen als „Anregung" ein, „die systematischen Hauptfragen einmal wieder durchzudenken". 41 Wie er im Februar 1884 dem Grafen Yorck berichtete, gestatteten „die Vorlesungen Psychologie und Erkenntnistheorie - Logik - sowie Übungen über Kants Vernunftkritik" ihm, „an der Frage nach der Verbindung der Sätze einer Grundlegung bleiben" 42 zu können. Im Vergleich zu einer solchen Verbindung, wie sie als Viertes Buch des zweiten Bandes in der Breslauer Ausarbeitung sowie im Berliner Entwurf unter den Titeln Grundlegung der
Erkenntnis und Das Leben. Deskriptive und komparative
38 39 40
Ges. Sehr. V, S. 90-138. Vgl. Briefwechsel Dilthey-Yorck, S. 36. 41 Ebd., S. 36. Ebd., S. 90. « E b d . , S. 38.
Psychologie in ein-
XXVIII
Vorbericht der Herausgeber
zelnen Kapiteln literarische Gestalt erhielt,43 sind die Berliner PsychologieVorlesungen mit Diltheys Worten als „Gold, das flüssig ist, mit dem ich meine Schulden zahle", zu bezeichnen.44 Von dieser Flüssigkeit geben die innere Umschichtung einzelner Paragraphen und deren Neuordnung zu Abschnitten oder „Büchern" innerhalb der einzelnen Vorlesungshefte Zeugnis. „Im Trouble der Vorlesungen"45 konnte Dilthey nicht auf eine Konzeption zurückgehen, die von vornherein den systematischen Absichten seines gesamten Grundlegungsversuches bereits entsprochen hätte. Gemäß der an den zweiten Band gestellten Anforderungen, sollte der Grundlegungsversuch „viel einfacher und faßbarer zu schreiben" gewesen sein. „Der zweite Band", so notierte Dilthey, „könnte er fertig werden, würde sich von dem ersten gar sehr unterscheiden durch die erreichte Simplizität des Gedankens und der Fassung".46 Eine einfachere Gliederung der „Erkenntnisgrundlegung", wie sie etwa dem Vierten Buche der Breslauer Ausarbeitung zugrunde liegt und auch für den Aufbau der Berliner Logik-Vorlesung Mitte der achtziger Jahre noch das Grundgerüst liefert, findet sich in den Berliner Psychologie-Vorlesungen nicht. Der komplexeren Gliederung, welche von der Ethik-Vorlesung aus dem Sommer 1890 in den Berliner Entwurf hinübergegriffen hat, liegen die Berliner Psychologie-Vorlesungen noch voraus. Eine aus praktischen Gründen entsprungene geisteswissenschaftliche Grundlegung moralisch-politischer Natur, die „das empirische Komplement der Einleitung in die Geisteswissenschaften" 47 bieten würde, konnten die Berliner PsychologieVorlesungen noch nicht bieten; sie zeichnet sich, wie bereits der ersten erhaltenen Breslauer Psychologie-Vorlesung entnommen werden konnte, erst an ihrem äußersten Horizont ab.48 Das flüssige Gold, mit dem Dilthey zahlte, ist seine im Zuge der Breslauer Vorlesungen über Psychologie fortgeführte handgreifliche Durcharbeitung „der physiologischen und psychologischen Literatur". Nicht zuletzt auch verstärkt durch die Gespräche mit H. Ebbinghaus und Helmholtz, führte sie ihn tiefer in die „environs der Philosophie, die experimentelle Psychologie" ein.49 Eingebettet war diese intensivere Beschäftigung und Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Psychologie in eine rege Rezensionstätigkeit der wichtigsten psychologischen und anthropologischen Schriften. Vom Jahre 1876 43
Vgl. Ges. Sehr. XIX, S. 58-227 und 307-318. Vgl. Briefwechsel Dilthey-Yorck, S. 64. 45 Ebd., S. 53. 46 Ebd., S. 42 und 38. 47 Ebd., S. 91. 4 8 Vgl. unten S.18f. 49 Vgl. Briefwechsel Dilthey-Yorck, S. 36 und 46. 44
Vorbericht der Herausgeber
XXIX
an, dem Zeitpunkt der ersten erhaltenen Breslauer Psychologie-Vorlesung, hielt sie mit dem Fortgang der Vorlesungen Schritt. Die im Band XVII der Gesammelten Schriften dokumentierten Literaturberichte Diltheys aus Westermanns Monatsheften gestatten einen Einblick in die Rezeptionsgeschichte der für seine Psychologie-Vorlesungen einschlägigen psychologischen und anthropologischen Arbeiten. Aus der Erforschung des Nachlasses ergibt sich, daß Diltheys Vorlesungshefte sehr umfangreiche Exzerpte, Lesenotizen und Zitatenbündel begleiten. Vergleicht man die Berliner mit den vorangegangen Breslauer Vorlesungen über Psychologie, so zeigt sich, daß Dilthey in zunehmendem Maße die Ergebnisse der experimentellen Forschungen berücksichtigt und die Experimente selbst seinen Zuhörern referierend dargestellt hat. Auch die physiologischen Beschreibungen der Sinnesorgane und des Nervenapparates gewinnen im Zuge der Berliner Vorlesungen an Präzision und Detail. Dem entspricht nicht nur Diltheys prononcierte Uberzeugung, daß im Gegensatz zu der von F. Brentano versuchten „Absonderung der psychologischen Erfahrungswissenschaft von den physiologischen Erfahrungen" die physiologischen Gesetze „unentbehrliche Hilfsmittel für die Psychologie enthalten", 50 sondern auch seine nüchterne Feststellung, daß auf dem gegenwärtigen Stand der Forschung „die experimentelle Psychologie die ganze Hoffnung der Psychologie" trage.51 Das analytische Grundgerüst der Breslauer Vorlesungen, also die Gliederung der Elemente und der einfachen Vorgänge des Seelenlebens, die Beschreibung der zwischen diesen Vorgängen stattfindenden elementaren Prozesse und das hierauf gegründete Verständnis des seelischen Zusammenhangs, der erst aus dem Zusammenwirken dieser Prozesse entspringt, legte Dilthey auch seinen Berliner Psychologie-Vorlesungen zugrunde. Dieser Aufbau entspricht dem erfahrungswissenschaftlichen Standpunkt, auf dem Dilthey auch in der Berliner Zeit seine Psychologie zu errichten gedachte. In seiner Dreiteilung besitzt dieses Schema Ähnlichkeit mit der von Wundt in seiner Physiologischen Psychologie durchgeführten und bis zum Grundriß der Psychologie mit nur geringfügigen Modifikationen festgehaltenen analytischen Unterscheidung von psychischen Elementen, psychischen Gebilden und psychischen Verbindungen bzw. dem Zusammenhang psychischer Gebilde. 52 Die Spannung jedoch, an der dieses nach außen relativ stabile analytische Grundmuster zerbricht und die deshalb auch Diltheys Vorlesungen wiederum
50
Vgl. unten S. 204. Vgl. unten S. 258. 52 W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, Leipzig 1874; W. Wundt, Grundriß der Psychologie, Leipzig 1896. 51
XXX
Vorbericht der Herausgeber
ins Fließen bringt, ist nicht nur durch die unterschiedlichen, einander widersprechenden Gesichtspunkte bedingt, unter denen die Natur der Lebendigkeit psychischer Vorgänge und Prozesse erfaßt werden kann. Sie wird auch verstärkt durch die Frage nach dem Verhältnis des sich ausbildenden „theoretischen Zusammenhangs der psychologischen Tatsachen"53 zum Ganzen des seelischen Zusammenhangs. So zeigen die Berliner Psychologie-Vorlesungen nicht eine, sondern die beiden Seiten von Diltheys Entwürfen zu einer empirischen Psychologie, die jede eine eigene Reibungsfläche mit der zeitgenössischen Psychologie besitzt: in der Frage nach der Lebendigkeit mit der physiologischen Psychologie, in der nach dem Verhältnis des theoretischen Zusammenhangs zum Ganzen des seelischen Zusammenhangs mit der Erkenntnispsychologie. Ein für die Wissenschaftsgeschichte nicht ungewichtiger Hinweis dürfte dabei die Feststellung abgeben, daß Dilthey in den Berliner Psychologie-Vorlesungen weder sein Verhältnis zur physiologischen noch zur Erkenntnispsychologie ausschließlich aufgrund bloß methodischer Überlegungen in entscheidender Weise zur Bestimmung gebracht hat; vielmehr wägte er dieses Verhältnis behutsam an den einzelnen psychologischen Problembereichen selbst ab. Die Vorrangstellung, die er den psychischen Phänomenen, ihren Elementen und Bestandteilen und ihren Zusammenhängen selbst gewährte, ist unverkennbar. Diese Vorrangstellung muß auch dann noch maßgeblich bleiben, wenn die Behandlung der Frage ansteht, wie sich aus dem großen Berliner Vorlesungsreservoir in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre und zu Beginn der neunziger Jahre allmählich jene schon genannten Studien und Abhandlungen Diltheys herauskristallisierten, in denen Dilthey seine psychologischen Einsichten vorgelegt hat. Im Vergleich zu den vorangegangenen Mitschriften der Breslauer Psychologie-Vorlesungen sind die Berliner Vorlesungsnachschriften in ihrer Darstellungsform äußerst gedrängt und dank ihrer Gliederung zugleich sehr übersichtlich. Sie bieten deshalb einen guten Überblick über die Gesamtheit der von Dilthey behandelten psychologischen Fragen. Die einzelnen Problembereiche sind klar abgesteckt, die feineren Bezüge zu den Hauptthemen der psychologischen Abhandlungen und Studien Diltheys bereits vorgezeichnet. So enthalten die hier dokumentierten Vorlesungen im Keim Materialien, welche Dilthey für eine „psychologische Erklärung" des dichterischen Schaffens verwenden wird, ebenso werden die „Quellen" für die Lebendigkeit unserer 5 3 Vgl. den Titel des dritten Abschnittes der Breslauer Vorlesung über Anthropologie und Psychologie als Erfahrungswissenschaft aus dem Wintersemester 1881/82, unten S. 182.
Vorbericht der Herausgeber
XXXI
Realitätserfahrung in den Vorlesungen schon ansatzweise analysiert. In ihren Umrissen zeichnen sich zugleich auch diejenigen psychischen Eigenschaften ab, die die Ausbildung eines „Systems von pädagogischen Regeln" ermöglichen werden. Und schließlich werden in den Vorlesungen die Bedingungen reflektiert, unter welchen Dilthey die Aufgabe einer beschreibenden Psychologie „ihrer Auflösung" näherbringen wird.
V. Die erste Berliner Vorlesung über Psychologie hielt Dilthey - wie auch seine erste Berliner Logik-Vorlesung - im Herbst 1882. Uber dieses erste Berliner Kolleg berichtet Dilthey an Yorck: „Dann kamen die Vorlesungen. Hier hatte ich alle Leiden eines Neuangekommenen, der im Vorlesungsverzeichnis gar nicht steht, durchzukosten. In der Psychologie habe ich ein leidliches Auditorium mir zusammengeredet, nach hiesigen Verhältnissen immer noch sehr unbefriedigend." 54 Nach dem Erscheinen des ersten Bandes der Einleitung in die Geisteswissenschaften, etwa im Oktober 1883, wandte sich Dilthey verstärkt wieder den „Vorlesungsheften" seiner Logik und Psychologie zu. Im selben Monat erhielt er den ersten Band der Tonpsychologie von Carl Stumpf sowie Theodor Lipps' Tatsachen des Seelenlebens.55 Ende 1883 berichtet Dilthey, wiederum an Yorck: „Ich habe besonders in der physiologischen und psychologischen Literatur die Theorie der Empfindung und des Raumes durchgearbeitet. Erstaunlich, daß eine so windige Theorie als die Lotzes von den Lokalzeichen zu einem Ruhmestitel für ihn bei den Naturforschern und einem regelmäßigen Bestandteil der Darstellungen werden konnte." 5 6 Das Ergebnis dieser intensiveren Beschäftigung mit der Lehre von den Empfindungen, mit der Problematik der Entstehung der Raumvorstellung und mit Lotzes Theorie von den Lokalzeichen wird durch die Mitschriften seiner Psychologie-Vorlesung aus dem Wintersemester 1883/84 dokumentiert. Aus einem knappen Vergleich dieser Vorlesung mit der letzten uns bekannten Breslauer Vorlesung aus dem Winter 1881/82 ergibt sich ein Einblick in die geänderte Disposition der Berliner Vorlesung.
Briefwechsel Dilthey-Yorck, S. 2 7 - 2 8 . Ebd., S. 35. - C. Stumpf, Tonpsychologie, 1. Band, Leipzig 1883; Th. Lipps, sachen des Seelenlebens, Bonn 1883. 5 6 Vgl. Briefwechsel Dilthey-Yorck, S. 3 6 - 3 7 . 54
55
Grundthat-
XXXII
Vorbericht der Herausgeber
Legte Dilthey in der Breslauer Vorlesung noch besonderen Wert auf das Verhältnis zwischen dem psychischen Zustand und dem mit ihm verbundenen körperlichen Vorgang, welches durch „den mathematischen Begriff der Funktion" ausgedrückt werden kann und durch „wissenschaftliche Schlüsse" feststellbar ist,57 während die Lehre von der Empfindung nur kurz in Zusammenhang mit der Wahrnehmung behandelt wurde, so tritt nun in der Berliner Vorlesung gerade „die Wahrnehmung" und die Empfindung als ein „durch Abstraktion aus ihr zum Zweck der Analyse abgesondertes Element" in den Mittelpunkt der Betrachtungen.58 Die Aufgabe, die Systematik psychischer Zustände zu ermitteln, führt Dilthey zu „Begriffen, welche das an unseren Zuständen herausheben, was vom Wechsel der Bedingungen unabhängig ist, auch in den am meisten primitiven Zuständen erhalten ist und nicht weiter abgeleitet werden kann. Solche Begriffe sind die des Vorstellens, Wollens, Fühlens." Sie bezeichnen „nicht Funktionen, die für sich bestünden, sondern nur die letzten nicht aufhebbaren Unterschiede in dem Verhalten der Seele, wie es an den einzelnen Akten wahrgenommen wird". 59 Die Lösung der Frage, in welchem Bezug das wahrgenommene Verhalten der Seele zu den funktionellen Beziehungen von psychischen und körperlichen Vorgängen steht, ist jedoch in der Breslauer Vorlesung aus dem Winter 1881/82 bereits vorgezeichnet: „Empfindung ist ein Teilinhalt der Wahrnehmung. Wahrnehmung kommt innerhalb unserer Erinnerung nie als das psychische Äquivalent eines Reizzustandes vor, sondern immer nur als die Gestaltung des in diesem Reizzustand Gegebenen im Zusammenhang des ganzen Seelenlebens." 60 Diese Gestaltung im Zusammenhang des ganzen Seelenlebens zu verfolgen, in dem neben der Wahrnehmung - als Unterlage des Vorstellens - auch Fühlen und Wollen als die drei Seiten des psychischen Lebensprozesses auftreten, welche „in einem jeden Bewußtseinsstande gleichsam in einer bestimmten Strukturform verbunden sind", 61 bildet das Hauptanliegen der in seiner Berliner Vorlesung aus dem Jahre 1883/84 vorgelegten Lehre von den Empfindungen, ihrer Gliederung, ihren Qualitäten und Modalitäten, ihrer Intensität und Meßbarkeit. Dabei greift Dilthey nicht nur auf das von J. Müller zuerst aufgestellte Gesetz der spezifischen Sinnesenergien zurück, welches, so Dilthey, bestätigt,
57 58 59 60 61
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
unten unten unten unten unten
S. 169. S.209f. S. 205. S.173. S. 208.
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daß die Empfindungen „nicht Abbilder von Reizen, sondern Folgen derselben und als solche Zeichen sind". 62 Im Hinblick auf die Möglichkeit, „ein Gesetz abzuleiten, dessen Formel das Verhältnis des Anwachsens von Empfindungen zu dem Anwachsen von Reizen ausdrücke", 63 zieht Dilthey außerdem die Ergebnisse der Untersuchungen von Ε. H. Weber und Th. Fechner in Betracht. 64 Fechners Zusammenfassung der empirischen Ergebnisse Webers in einer Formel kann in ihrer psychologischen Deutung als „Spezialfall eines allgemeinen Gesetzes der Relativität" 65 der Sinnesempfindungen aufgefaßt werden, welches dem Gesetze von der Spezifizität der Sinnesenergien zur Seite gestellt werden kann. Innerhalb der Empfindungslehre nimmt die Frage nach „den räumlichen Bestimmungen der Empfindungen und der Entstehung der Raumvorstellung" 6 6 wiederum eine Sonderstellung ein. Während Dilthey die Behandlung dieser Frage in der Breslauer Psychologie-Vorlesung vom Wintersemester 1881/82 kaum thematisierte - abgesehen von einem flüchtigen Hinweis auf die „verschiedentliche Vorstellung bei verschiedenen Individuen in bezug auf das Perzipieren der Gesichtsvorstellung im Sehraum, ihre Klarheit und Färbung" 67 - , bietet die Berliner Vorlesung nun eine ausführliche Behandlung dieses Themas, und zwar in drei aufeinanderfolgenden Schritten: „die Grundlage dieses Teils der Psychologie in Kant", „die empiristische Raumtheorie" und schließlich „die nativistische Theorie", insbesondere „Lotzes Lehre von den Lokalzeichen". 68 Besondere Beachtung widmet Dilthey dabei Kants Lehre vom Raum als einer Anschauung a priori. Die Schwierigkeiten, die mit der konsequenten Durchführung einer objektiven Raumvorstellung verbunden sind, werden aus Kants Transzendentaler Dialektik ersichtlich. Sie führen, so Dilthey, auf die Erweiterung der Subjektivität der Empfindungen zu einer Subjektivität der Eigenschaften der Außenwelt, d . h . von Raum, Zeit und Bewegung. Die Alternative, ob der psychologisch feststellbare Tatbestand einer „ausgebildeten Raumanschauung" Ergebnis des Zusammenwirkens von Erfahrungen oder
Vgl. unten S.212. Vgl. unten S.215. 64 Ε. H. Weber, Tastsinn und Gemeingefühl, in: Handwörterbuch der Physiologie mit Rücksicht auf physiologische Pathologie, 3. Band, 2. Abtheilung, hrsg. von R. Wagner, Braunschweig 1846, S. 481-588; Th. Fechner, Elemente der Psychophysik, Leipzig 1860; Revision der Hauptpuncte der Psychophysik, Leipzig 1882. 65 Vgl. unten S.216. 66 Vgl. unten S . 2 1 7 f . 67 Vgl. unten S. 174. 68 Vgl. unten S. 217-222. 62
63
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vielmehr „in angebbaren Grundbestandteilen angeboren" sei, 69 führt Dilthey zum Streit zwischen den Empiristen und den Nativisten. In diesem Zusammenhang wendet er sich vor allem der Umbildung der empiristischen Assoziationslehre in den „physiologischen Schulen Deutschlands" zu. 70 An erster Stelle bezieht sich Dilthey dabei auf / . St. Mills Prüfung der Philosophie Sir William Hamiltons.71 Weiter in Betracht gezogen werden die Untersuchungen
A. Kußmauls, die von Wundt in seiner Physiologischen Psychologie beschriebenen Experimente und Helmholtz' Optik.72
Im Zusammenhang der Behandlung der nativistischen Raumtheorie kritisiert Dilthey Lotzes Lehre von den Lokalzeichen. Lotze postuliert als Zwischenglied zwischen der äußeren Ordnung und dem inneren Aufbau eine „jeder Empfindung mitgegebene qualitative Bestimmung, welche die Lage des Reizes im Räume repräsentiere". 73 Eine solche qualitative Bestimmung nannte er „Lokalzeichen". Gegenüber diesem Repräsentationismus hebt Dilthey mit E.H. Weber jedoch hervor, daß eine direkte Lagewahrnehmung bereits mit unserer psychophysischen Einrichtung verbunden sei. Weber konnte nämlich feststellen, daß „die Feinheit der Empfindlichkeit für Raumunterschiede proportional [zu] der Zahl der Nervenfäden ist, welche, die in der Haut verlaufenden Nervenenden vereinigend, zum Gehirn gesondert verlaufen". 74 Auf dem gegenwärtigen Stand der Forschungen, so schließt Dilthey vorsichtig, kann eine Entscheidung zwischen empiristischen und nativistischen Raumlehren noch nicht herbeigeführt werden. Welches Gewicht dieser Ausarbeitung einer Empfindungslehre in der Berliner Vorlesung vom Jahre 1883/84 beizumessen ist, wird erst an ihrem Ende ersichtlich. „Wir fragen", so Dilthey, „nach dem Kausalzusammenhang, in welchem unsere Empfindungen als äußere Gegenstände aufgefaßt werden", 7 5 eine Auffassung, die „zur Entstehung der Außenwelt" führt. Ein solches Kausalgesetz geht von dem Zusammenwirken von nach Qualität und Intensität unterschiedenen Empfindungen mit dem Vorstellen und Denken aus. Wie an Helmholtz' Optik auf beispielhafte Weise zu zeigen ist, gehen wir von unseren Empfindungen auf eine äußere Ursache derselben über „vermöge eines unbeVgl. unten S.218f. Vgl. unten S.219. 71 Vgl. die Anm.305, unten S.219; J. St. Mill, An Examination of Sir William Hamilton's Philosophy of the Principal Philosophical Questions Discussed in His Writings, London 1865. 72 Vgl. unten S. 220 sowie die Anm. 308 und S. 225; A. Kußmaul, Untersuchungen über das Seelenleben des neugebornen Menschen, Leipzig 1859; W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, Leipzig 1874; H. Helmholtz, Handbuch der Physiologischen Optik, Leipzig 1867. 73 Vgl. unten S.221. 74 Vgl. unten S.222. 75 Vgl. unten S.224. 69 70
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wußten Schlusses von Wirkung auf Ursache". 7 6 Die Schwierigkeiten, die mit einem solchen unbewußten Schließen nach einem „aller Erfahrung vorausgehenden Denkgesetze", dem Kausalgesetz, verbunden sind, schwinden laut Dilthey erst, „wenn wir [ . . . ] die Kausalbeziehung nur als den begrifflichen Ausdruck eines lebendigen, in der Totalität unseres Wesens, insbesondere in unserem Willen begründeten Vorgangs ansehen". 77 Die Tatsache, daß das Selbstbewußtsein im Selbstgefühl seine nachweisbare Grundlage hat, zeigt erst die Bedeutung des Gefühlslebens und damit verbunden der Willensvorgänge für die Unterscheidung der Objekte von einem Selbst. Damit wird die einseitige Begründung der Realität der Außenwelt „in den intellektuellen Prozessen" 78 durch eine lebendigere Auffassung abgelöst. So tritt die Lehre von den Vorstellungen, zu der Dilthey in der letzten Breslauer Vorlesung unmittelbar von der Wahrnehmung äußerer und innerer Zustände aus übergegangen war, 79 hier zurück zugunsten des Nachweises der „Verwebung" von Gefühlen mit Empfindungen. 80 Es deutet sich hier schon die Bemühung Diltheys an, „der Wahrnehmungslehre von Helmholtz eine haltbarere gegenüberzustellen". 81 Eine solche Wahrnehmungslehre muß von der feststellbaren Bindung des Willens in der Empfindung ausgehen, wodurch das Wahrnehmen sich vom freien Vorstellen unterscheidet und zum Lebensgefühl in eine innere Beziehung tritt. Im Gegensatz zu Helmholtz' Optik wird eine solche Bindung, so Dilthey, an erster Stelle an der Tastempfindung nachweisbar. Wie Dilthey plante, sollte diese Wahrnehmungslehre, die zunächst von der Erfahrung der Begrenzung des Willens in der von ihm geleiteten Tastempfindung ausgeht und dann schrittweise zeigt, wie sich hieraus erst das Bewußtsein einer uns überwältigenden Macht der Außenwelt erhebt, für den Abschnitt über die „Theorie der Wahrnehmung und des Denkens", den er der Methodenlehre des zweiten Bandes noch voranschicken wollte, fruchtbar gemacht werden. 82 In der Berliner Vorlesung aus dem Jahre 1883/84 bildet die Lehre von den Vorstellungen neben der von den Empfindungen einen zweiten umfassenden Problemkomplex. Dokumentiert wurde dieser Problembereich bereits in der letzten Breslauer Psychologie-Vorlesung durch eine Fülle von Themen, die in die Berliner Vorlesung partiell übernommen werden. Jedoch zeichnen sich auch innerhalb dieser Vorstellungslehre einige wichtige Akzentverschiebungen
76 77 78 79 80 81 82
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
unten S . 2 2 5 . ebd. unten S . 2 2 4 . unten S . 1 7 3 f . unten S . 2 2 5 . Briefwechsel Dilthey-Yorck, S. 47. ebd., S. 48.
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ab. Diese sind einerseits bedingt durch Diltheys intensiveres Studium der experimentellen Psychologie, andererseits durch seine Bemühungen um eine Lehre vom Selbstbewußtsein, für die nicht das Ichvorstellen, sondern gerade das Selbstgefühl und der Wille von ausschlaggebender Bedeutung sind. Auffällig ist zunächst, daß Dilthey die Behandlung der Problematik der „Verschiedenheit des Bewußtseinsgrades von Vorstellungen in ihrem Verhältnis zur Aufmerksamkeit" 83 nun durch eine Analyse der „Enge des Bewußtseins" ablöst, bei der er die Ergebnisse experimenteller Forschung berücksichtigt. 84 Mit dem Begriff „Enge des Bewußtseins" bezeichnet man die Tatsache, daß uns gleichzeitig nur wenige Vorstellungen bewußt sind, während doch die Zahl der Vorstellungen, die wir reproduzieren können, eine sehr große ist. Weder Herbarts Theorie von der Einfachheit der Seele, wie Th. Waitz sie fortgebildet hat, noch Lotzes Hinweis auf die Vergleichbarkeit gleichzeitiger Eindrücke überzeugen Dilthey; vielmehr greift er zurück auf die experimentelle Behandlung der Frage, wie groß die Zahl der Inhalte sei, welche gleichzeitig im Bewußtsein sein können. Hierbei verweist Dilthey auch auf das Gesetz der persönlichen Gleichung bzw. Differenz wie auch auf die Experimente von Wundt über die Zeitverschiebung. 85 Das große Verdienst der ^zwischen Vernunftkritik sieht Dilthey darin, gezeigt zu haben, daß das Selbstbewußtsein aus den niederen Vorgängen der Empfindungen, den Lust- und Unlustgefühlen und den Assoziationen nicht abgeleitet werden kann. Allerdings geht die Z&twiische Analysis des Selbstbewußtseins, wie sie von Fichte fortgebildet wurde, einseitig von dem Verhältnis der Vorstellung zu ihrem Gegenstande aus. Dagegen setzt Dilthey seine Theorie, daß „dem Selbstbewußtsein eine andere Tatsache zugrunde liegen muß", nämlich die des Innewerdens. 86 In dem Innewerden sind nicht nur Willensund Gefühlsakte unmittelbar für uns da. Auch ein Wahrnehmungs- oder Vorstellungsakt wird von einem Innewerden des Aktes selbst jeweils begleitet. Den Mittelpunkt der Selbsterfahrung bilden für Dilthey die Willens- und Gefühlstatsachen. In ihnen finden wir uns durch ein anderes bedingt, das wir folgerecht als Wirklichkeit bezeichnen. Wir trennen den Bezirk unserer Gefühle von der Außenwelt; es sondert sich unsere eigene Zuständlichkeit von der Welt der äußeren Wirklichkeit. Das Selbstbewußtsein entsteht erst „aus der Verknüpfung der einzelnen Zustände zu einem Zusammenhange, der wie ein
Vgl. unten S. 174. Vgl. unten S.230f. 8 5 Vgl. die Parallelfassung der Anfangspartie dieses Textes, Anm. 330; W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, 2. völlig umgearbeitete Auflage, 2. Band, Leipzig 1880, S. 264ff. 86 Vgl. unten S. 237. 83 84
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Objekt uns gegenübertritt". 87 Selbst- und Weltbewußtsein, die Entstehung der Außenwelt und des Selbst als Träger von Tätigkeit und Subjekt von Leiden sind nur die zwei Seiten eines lebendigen Vorgangs, welcher auf der Strukturform beruht, die durchgängig die drei Seiten des psychischen Lebens verbindet. Wie das Wahrnehmen und der unwillkürliche Gedankenlauf nach den Gesetzen von Assoziation und Verschmelzung bereits von Denkprozessen durchzogen sind, die im diskursiven Denken dann selbständig ablaufen, wird von Dilthey auf eindrucksvolle Weise in seinen Logik-Vorlesungen dargestellt. Innerhalb seiner Psychologie-Vorlesung weist er darauf hin, wie es als die „Aufgabe der Logik" definiert werden kann, im Ausgang vom Satz der Intellektualität der Sinneswahrnehmungen aufwärts zu zeigen, auf welcher Art in diesem Zusammenhang die Formen des diskursiven Denkens sich ausbilden. 88 U n d diese Aufgabe kann von der Frage nach der Entstehung der Sprache nicht abgelöst werden. Auch bei der Behandlung dieser Frage treten nativistische Ansichten, wie etwa Humboldts Lehre von der inneren Sprachform, und empiristische, wie die Lehren von Herbart, L. Geiger und Ch. Darwin, einander gegenüber. Wie schon in den vorangegangenen Breslauer Psychologie-Vorlesungen, so bildet auch in der Berliner Vorlesung aus dem Winter 1883/84 die Gefühls- und Willenslehre die Schlußpartie. Bereits früher hatte Dilthey festgestellt, nicht beweisen zu können, daß Empfindung und Vorstellung als solche mit einem Gefühlston ausgestattet seien. Das Wesen der Gziühiszustände ist aber, daß sie eine Beziehung der Umstände, unter denen unsere psychische Lebenseinheit funktioniert, auf diese Lebenseinheit selbst enthalten. Die N a t u r dieser Beziehung wird im Gefühl unmittelbar erfahren. Für den Gedanken kann sie durch die Vorstellung des Wertes dieser unterschiedlichen Lagen für unsere Lebenseinheit aufgeklärt werden. Vermöge des Gefühls stellt sich das uns Affizierende als eine Stufenordnung von Werten dar, während es im Erkennen als ein Zusammenhang von Tatsachen und Wahrheiten erscheint. Dieser, in der Berliner Vorlesung vom Winter 1883/84 wiederholt betonte Gedanke 89 markiert den Punkt, an dem sich aus der Analysis der psychischen Lebenseinheit in ihrer gegenwärtigen Stellung zur Welt die Lebenskategorien herauslösen. N o c h ein letzter Aspekt der Gefühlslehre Diltheys verdient eine mehr als nur gewöhnliche Aufmerksamkeit. In der vorangegangen Breslauer Psycholo-
87 88 89
Vgl. unten S.237. Vgl. unten S.242f. Vgl. unten S. 246 sowie die Anm. 390.
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gie-Vorlesung hatte Dilthey angedeutet, daß die Geschichte der Kunst es gestatte, gewisse Grundzüge in der Entwicklung des Gefühlslebens festzustellen, bringe sie doch Gebilde hervor „nach dem inneren Gesetz von Metamorphose". Durch dieses Gesetz wird die Wirklichkeit „dem Gefühlsleben entsprechend gestaltet". 90 In der Berliner Vorlesung bildet „die Leitung und Metamorphose der Vorstellungen von dem Gefühlsleben aus" nun den Gegenstand einer Betrachtung, 91 die Dilthey mit der früher gesondert verlaufenden Darstellung der Phantasie und des künstlerischen Vermögens 92 verbindet. Welches Gewicht Dilthey diesem Gesetz der Metamorphose der Vorstellungen beimißt, ist im übrigen nicht ohne weiteres aus seiner Berliner Vorlesungstätigkeit Mitte der achtziger Jahre ablesbar. Während von der Logik-Vorlesung aus dem Wintersemester 1885/86 eine umfassende Mitschrift vorliegt, in die auch wichtige psychologische Überlegungen eingegangen sind, 93 besitzen wir von der Psychologie-Vorlesung aus demselben Winter nur ein Einleitungsfragment. Im Oktober 1885 berichtet Dilthey davon, daß er nicht nur „die historische Partie des zweiten Bandes [der Einleitung in die Geisteswissenschaften] bebrütet habe", sondern auch „von hinten, von der Methodenlehre der einzelnen Wissenschaft aus, die Logik rückwärts durchgearbeitet" und „so vom Schluß meines Bandes aus Linien gezogen" habe. 94 Im Dezember 1885 notiert er dann: „Die erste Hälfte des Winters ist mir fast erfolglos verlaufen." 95 Erst mit seinem Biebricher Aufenthalt im Frühling 1886 führt Dilthey seine psychologischen Einsichten um ein wichtiges Stück über den unmittelbaren Zusammenhang seiner Vorlesungstätigkeit hinaus. In Biebrich diktiert er ein „kleines Buch" über die Einbildungskraft des Dichters und nimmt sich zugleich ein anderes Projekt vor, „die Abhandlung der Gründe für Existenz der Außenwelt". 96 Im Juli 1886 haben die Pläne zu den beiden Abhandlungen festere Form angenommen; den Inhalt der erstgenannten teilt Dilthey Anfang August 1886 in seiner Rede über Einbildungskraft mit. 97 Wie wichtig ihm dabei nun der in seiner Berliner Vorlesung vom Winter 1883/84 benutzte Begriff der Metamorphose geworden ist, geht aus
Vgl. unten S. 196. Vgl. unten S . 2 4 6 f . 92 Vgl. unten S. 1 7 9 f . 93 Vgl. Ges. Sehr. X X , S. 1 6 5 - 2 3 4 ; die entsprechenden Ausführungen über Psychologie bilden der Hauptsache nach den ersten Teil, ebd., S. 1 6 9 - 1 8 8 . 94 Vgl. Briefwechsel Dilthey-Yorck, S. 53. 95 Ebd., S. 54. 96 Ebd., S. 55. 9 7 Ebd., S. 57. 90 91
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einem Brief an den Grafen Yorck hervor: „Unter Metamorphose der Einzelvorstellungen verstehe ich, daß die Einzelvorstellung, das Bild nicht ein konstantes Atom des Seelenlebens ist, sondern ein unter wechselnden Bedingungen auftretender Vorgang, und zwar wirkt die Verteilung der Gefühlserregung in dem einzelnen Bilde Verstärkung der Intensität einzelner Bestandteile, Ausdehnung, Verschiebung der Teile. Vorstellungen ändern sich also nicht nur von außen, gleichsam in ihren Relationen, während sie selber fest blieben, sondern sie sind Agenden, Vorgänge, die, je nachdem aus dem Inbegriff der Erregungsverteilung ihnen Gefühlserregung zuwächst, innere Veränderungen erleiden. Der erworbene Zusammenhang des Seelenlebens wirkt dieser Metamorphose gegenüber als ein regulierender Apparat. Da diese Sätze bewiesen werden können, da die ganze innere Gehirnphysiologie und -pathologie dasselbe Ergebnis in ihrer Art hat: ist die psychische Atomistik nicht mehr zu halten und muß einer lebendigeren Psychologie Platz machen." 9 8 Diese Einsichten in den psychischen Assimilationsprozeß, in die inneren Veränderungen der Vorstellungen und in den erworbenen seelischen Zusammenhang, sind von der bereits 1878 veröffentlichten Arbeit über Die Einbildungskraft der Dichter, über die 1886 gehaltene Rede Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn bis zu den Bausteinen für eine Poetik (1887) schrittweise zu verfolgen.
VI. Disposition und Inhalt des Einleitungsfragmentes zu der Psychologie-Vorlesung vom Wintersemester 1885/86 legen die Vermutung nahe, daß Dilthey nicht nur für seine Logik, sondern auch für seine Psychologie von der Methodenlehre der Einzelwissenschaften ausgegangen ist und „den Bau der modernen Erfahrungswissenschaften auf diese grundlegende Wissenschaft" zu errichten sich vorgenommen h a t . " „Die Psychologie hat in letzter Stelle", so lautet es in diesem Vorlesungsfragment, „die Aufgabe, die Grundlage zu bilden für die einzelnen Geisteswissenschaften und für die Fakultäten der Theologie, der Staats- und Rechtswissenschaft".' 0 0 Die Begriffe dieser Wissenschaften sind alle „sekundäre psychologische Begriffe", welche „auf die primären zurückge-
98 Ebd., S. 58. - Zum Problem der Metamorphose und Diltheys Verhältnis zu J. Müller vgl. F. Rodi, Morphologie und Hermeneutik. Zur Methode von Diltheys Ästhetik, Stuttgart-BerlinKöln-Mainz 1969, S. 64-79. 99 Vgl. Ges. Sehr. XX, S. 167. 100 Vgl. unten S.252.
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führt werden müssen um verstanden zu werden", sowie auf „die psychologischen Tatsachen". 101 Wird die metaphysische Annahme einer seelischen Substanz, von der sowohl Herbart wie Lotze noch ausgegangen waren, allmählich vom erfahrungswissenschaftlichen Standpunkt abgelöst, so tritt an ihre Stelle nicht etwa die abstrakte Ichvorstellung, sondern, wie Dilthey betont, „das erfüllte Selbstbewußtsein der Lebenseinheit", die „Entwicklung" ist. 102 Alle Akte des Inneren werden auf eine zusammenhängende Lebenseinheit bezogen; sind wir selber eine solche Einheit, so finden wir Lebenseinheiten „analoger Art" auch jenseits unseres Selbst gegeben. „ U n d so entsteht in uns die Vorstellung eines Inbegriffs von Seelenleben, welches der Untergrund der ganzen Weltgeschichte ist." 103 Während das Organ der Naturerkenntnis das „gleichgültige Wahrnehmen" ist, beruht die Erkenntnis von dem, was in einem Menschen umgeht, auf „Miterleben und Mitempfinden", 1 0 4 und an ihnen ist die Phantasie wesentlich mitbeteiligt. Die Psychologie tritt deshalb auch, so Dilthey, in ein inneres Verhältnis zur „Kunst des Lebens" als einer bedeutsamen Quelle für die Menschenkenntnis. Anders als die Tatsachen der Außenwelt, die in ihrer Dauerhaftigkeit wissenschaftlichen Hypothesen unterworfen werden können, bleiben die Individuen nicht konstant und unterscheiden sich voneinander. Zwar verstehen wir sie von unserer Selbsterkenntnis her unmittelbar, wir sind aber nicht imstande, die Gesetze ihres gesellschaftlichen Lebens zu erfassen. Für Dilthey hat die Erforschung der Kausalgesetze der menschlichen Gesellschaft durch die Soziologie eben begonnen. Die moderne Psychologie nimmt ihrerseits für ihn erst da ihren Anfang, wo die Physiologie bereits eine gewisse Reife erlangt hat und zu der Medizin in Beziehung tritt. In den Vordergrund rückt Dilthey somit erneut die moderne Sinnesphysiologie und stellt zugleich die Frage, wie von ihrer Gesetzeserkenntnis aufwärts zu einer Gesetzeserkenntnis der Gesellschaft fortgeschritten werden könne. Was aber die Lage der Psychologie anbetrifft, so wird sie nicht ausschließlich durch ihre Einordnung in einen umfassenden kausalgesetzlichen Erkenntniszusammenhang bestimmt. Seinem inneren Erfahrungsgehalt nach wird das Studium der Lebenseinheiten gesteigert und erweitert durch Dichtung und Geschichtsschreibung. An der Psychologie tritt für Dilthey somit die Spaltung zwischen der wissenschaftlichen Erkenntnis einerseits und einer letztendlich vom Christentum her als sittlich-religiös zu bezeichnenden Form von Selbsterkenntnis andererseits zutage.
101
Vgl. unten S.254.
102
Vgl. unten S.250.
103
Ebd.
104
Vgl. unten S.250.
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Die methodologischen Reflexionen, die Dilthey in der Einleitung entfaltet, sind im wesentlichen durch diese Doppelstellung der Psychologie als einer grundlegenden Wissenschaft bestimmt. Wichtig sind sie auch deshalb, weil Dilthey hier seine grundlegende Ansicht erläutert, daß die Lebenseinheit in ihrem erfüllten Selbstbewußtsein „Entwicklung" sei. Eine Steigerung der inneren Wahrnehmung und des inneren Verstehens zur wissenschaftlichen Selbsterkenntnis vermöge der inneren Beobachtung hält Dilthey für sehr problematisch. Sie ist nur in einem sehr geringen Umfang möglich, und zwar nur dort, wo „ein physischer Zustand, der sich nicht verdrängen läßt, die Unterlage bildet" für einen psychischen Zustand. 105 Die Verwertung der inneren Wahrnehmung der eigenen inneren Zustände geschieht ihrerseits wiederum nicht direkt, sondern vielmehr auf indirektem Wege, durch die Erinnerung und die mit ihr verbundene Reproduktion. Am Anfang der Psychologie, so warnt Dilthey, gelte es „Idole" zu beseitigen. Solche Idole sind für ihn einerseits eine monistisch erklärende Psychologie, welche „die ganze Mannigfaltigkeit des Seelenlebens aus Empfindungen als solchen begreiflich machen" wolle, und andererseits „eine Vermögenslehre, welche sich im Gegensatz gegen eine solche Einheitslehre befindet". 106 Wertvoll an der erklärenden Psychologie erscheint für Dilthey, daß sie die seelischen Zustände auf einfache Bestandteile zurückführt und einen stetigen Zusammenhang sowie ein festes Kausalverhältnis zwischen ihnen aufweist. Von der Vermögenspsychologie hält Dilthey folgende Ergebnisse fest: Es gibt nicht eine einzige Klasse von Bestandteilen des Seelenlebens; das Kausalverhältnis ist im Bereich des Psychischen ein anderes als in der Natur. Und schließlich: Es herrscht im Seelenleben kein Gesetz der Masse, sondern der Steigerung. Die Erläuterung dieser Sätze führt Dilthey zur „Grundstruktur des Seelenlebens". Die einfachen Bestandteile des Seelenlebens entstehen, wachsen und haben ein Ende. In ihrem Entstehen sind sie bedingt durch äußere Reize und durch Vorgänge in der Seele, welche den Reizen vorangegangen sind. Die seelischen Vorgänge stehen sonach in Kausalverhältnissen; sie entspringen aus Faktoren und äußeren Bedingungen und rufen ihrerseits wiederum Veränderungen hervor. Das Spiel der äußeren und inneren Bedingungen ist höchst zusammengesetzt. Der Kausalzusammenhang reicht von den niedrigsten bis zu den höchsten Leistungen des menschlichen Geistes. Es gibt aber Unterschiede zwischen den seelischen Vorgängen, die vom Wechsel der Reize unabhängig sind und die wir als angeboren ansehen müssen. Solche Unterschiede sind: Vorstellen, Fühlen und Wollen.
105
Vgl. unten S.256.
106
Vgl. unten S.269.
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In der aufsteigenden Reihe der Lebewesen findet Dilthey nun einander entsprechend: „eine Differenzierung des Nervensystems und des Sinnesorgans" einerseits und „die größere Mannigfaltigkeit und wachsende Verbindung psychischer Zustände" andererseits. 107 Es gibt Bestandteile des Seelenlebens, die beständig in dem Gesamtzusammenhang aufgenommen sind, nebst solchen, welche unabhängig von diesem existieren. Alle psychischen Vorgänge haben aber eine und dieselbe Struktur: ein Wahrnehmungszustand bewirkt einen Empfindungszustand und dieser einen Willensakt. 108 Durch die Vermittlung der Gefühle wirkt das Lebewesen wieder zurück auf die Außenwelt: „Der Mensch empfängt Eindrücke, mißt diese in Rücksicht auf sein Dasein und reagiert auf die Außenwelt, um sie seinem Leben anzupassen. Dies ist die Grundstruktur aller Lebewesen." 109 Es sind Lust- und Unlustgefühle, welche Nachricht darüber geben, was für die Erhaltung der Spezies nützlich ist. So tritt am Schluß des Einleitungsfragmentes als Grundstruktur aller Lebewesen der Prozeß der Anpassung unter dem Zweck der Selbsterhaltung heraus.
VII. Die letzte durch Mitschriften dokumentierte Berliner Vorlesung über Psychologie stammt aus dem Wintersemester 1888/89. Sie zeigt uns in einer Momentaufnahme den Stand der psychologischen Studien Diltheys nach Fertigstellung seiner Poetik und vor dem Entwurf seines Plans zur Ethik-Vorlesung vom Sommer 1890. Zu dem letzteren schreibt Dilthey: „ N u n entwerfe ich ein Bild vom Haushalt des Seelenlebens und der Stellung des Systems von Trieben und Gefühlen in ihm. Der Mensch ist im Kern ein Bündel von Trieben. Dieses Bündel trenne ich auseinander. Ich zeige, wie nun nach den psychischen Gesetzen, wie ich sie entwickle (s. Poetik) Züge des Willens als eines Lebens höheren Grades entstehen: ein solcher ist innere Steigerung, in jedem Zustand wirkend, was dem Streben nach Entfaltung, Vollkommenheit, einer falschen Abstraktion, entspricht, und von den Gefühlen her in allen Vorstellungen, Bildern, Trieben wirkt." 110 In den - wie Dilthey schreibt - „angenehmen Vorlesungen" 111 vom Wintersemester 1888/89 betrachtet er die Struktur des Seelenlebens allerdings nicht
107
Vgl. unten S. 273. Ebd. Vgl. unten S.273f. - Vgl. auch die Parallelstellen: Ges. Sehr. V, 95f., 211 f., 373; VI, 63f., 95, 143, 167; IX, 185; X, 48f„ XIX, 309. 111 Vgl. Briefwechsel Dilthey-Yorck, S. 90. Ebd., S. 75. IM
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unter diesem Gesichtspunkt. Vielmehr geht Dilthey nach wie vor vom „Gleichgewicht" der in der psychischen Struktur verbundenen drei Seiten des psychischen Lebens aus, welches für ihn „den vollkommensten Typus des Menschen" bezeichnet. 112 Dieser Feststellung entspricht die Tatsache, daß diese Vorlesung bei der Lehre von den Gefühlen und Trieben abbricht. 113 Daß die Vorlesung mit dem Problem der Entstehung der Objekte der Außenwelt, der Raumvorstellung, des Einzeldinges und mit der Frage des diskursiven Denkens und Erkennens abschließt, verstärkt noch den Eindruck, daß sie an erster Stelle erkenntnistheoretisch relevante Züge des psychischen Lebens heraushebt. Dem entspricht auch, daß in dieser Vorlesung der Zusammenhang Wahrnehmung-Empfindung-Vorstellung von Dilthey einer detaillierten Analyse unterzogen wird. An den Anfang der Vorlesung stellt Dilthey neue methodische Reflexionen, die sich auf die Klärung der Entstehung von psychologischen Kategorien und auf die Feststellung einer Grundlage für die wissenschaftliche Systematik des Seelenlebens beziehen. 114 Die im Einleitungsfragment vom Winter 1885/86 vorgeschlagene Lösung der Frage einer Klassifikation der psychischen Tatsachen, welche zwischen erklärender Theorie und Vermögenslehre eine Mittelstellung einnimmt, ist auch noch für die Vorlesung vom Winter 1888/89 maßgeblich. Der Kausalzusammenhang einerseits, der bis zu den höchsten Leistungen des Seelenlebens reicht, und die Steigerung innerhalb des Seelenlebens andererseits stellen die Bedingungen dar, unter denen sich das Problem einer Erkenntnis der psychischen Struktur stellt. Zugleich weist Dilthey darauf hin, daß die Leistungen der drei Klassen von Vorgängen des Seelenlebens, Vorstellen, Fühlen und Wollen, in ihrer inneren Beziehung aufeinander „die Bedeutung des Lebens" 1 1 5 ausmachen. Unter einer „einfachen seelischen Struktur" versteht Dilthey, daß „Vorgänge des Vorstellens von dem Gefühl in ihrem Verhältnis zur Selbsterhaltung abgeschätzt werden". Lust und Unlust setzten „Begehren und Wille, Zurückwirkungen auf die Welt in Bewegung". 1 1 6 In dieser Struktur entfaltet sich für Dilthey, wie er bereits 1885/86 hervorgehoben hatte, „das Grundschema des Lebens". 1 1 7 Diese Struktur bildet daher auch die Basis seiner weiteren psychologischen Analyse; aus ihr wird der Zusammenhang von Wahrnehmung, Empfindung und Vorstellung herausgehoben. Die Lehre von den Empfindungen, wie Dilthey sie in seiner Vorlesung vom Winter 1888/89 erneut zur Darstellung bringt, stellt in mancher Hinsicht eine Verfeinerung der in der vorangegangenen Berliner Vorlesung bereits enthalte112 1,3
Vgl. unten S.285. Vgl. §36, unten S. 327.
Vgl. unten S . 2 7 9 f . " 5 Vgl. unten S. 283.
114
Vgl. unten S.285. " 7 Vgl. ebd.
116
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Vorbericht der Herausgeber
nen Analysen dar. Insbesondere mit Rücksicht auf die Modalität und Qualität der Empfindungen bezieht Dilthey sich in stärkerem Maße auf die physiologischen Studien der Gesichts- und Tonempfindungen, die Helmholtz in seiner
Physiologischen
Optik, in den Tatsachen in der Wahrnehmung
Tonempfindungslehre
durchgeführt hatte.
und in der
118
Die erhaltenen Mitschriften der Berliner Vorlesung vom Winter 1888/89 zeigen eine Verschiebung derjenigen Paragraphen, welche auf die Lehre von der Entstehung der Raumvorstellung folgen sollten. So rückt Dilthey die ihr entsprechende Problematik der empiristischen und nativistischen Raumtheorie sowie der Theorie der Lokalzeichen in einen näheren Zusammenhang zur Lehre von der Entstehung der Objekte und der Außenwelt, die zur Abschlußpartie der Vorlesung gehört. 119 An die Empfindungslehre schließt er unmittelbar Erwägungen über die Elemente des Gefühls- und Willenszustände an. 120 Bekanntlich trennt Dilthey die Gefühlszustände von den Empfindungen, denen ein Gefühlston zukommen kann. Wichtig ist nun das von ihm bekundete Interesse an den physiologischen Untersuchungen, welche die Grundlage der Gefühlszustände im Gefäßsystem selbst sowie in den chemischen Zuständen der Nervenelemente freilegen, wie es Meynert in seiner Psychiatrie durchgeführt hatte. 121 Auch Goethes Farbenlehre bildet für Dilthey einen möglichen Ausgangspunkt für eine experimentelle Behandlung jener Gefühlselemente, welche die sinnlichen Empfindungen begleiten. Die von Dilthey in unmittelbarem Anschluß an die Empfindungslehre gebrachte Analyse des Willens bezieht sich auf den Zusammenhang von Trieb, Begehren und Wille. Während ein Akt von Begehren oder Willen immer Wahrnehmung, Vorstellung und einen mit ihnen verbundenen Gefühlszustand zur Voraussetzung hat, bildet der Trieb hiervon doch „eine einzige Ausnahme". 1 2 2 In diesem ersetzt ein physiologischer Vorgang nämlich die Wahrnehmung; hier erwirkt der physiologische Zustand Gefühle. Obwohl Dilthey bereits in dem Paragraphen über „die Gliederung des Seelenlebens" notiert: „Triebe bilden die Grundlage unseres ganzen geistigen Lebens", 1 2 3 gelangt eine Trieblehre in seiner Vorlesung jedoch nicht zu einer 118 H. von Helmholtz, Thatsachen in der Wahrnehmung, Braunschweig 1878; Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik, 4. umgearbeitete Auflage, Braunschweig 1877. 119 Vgl. die §§29-32, unten S. 324 f., die an den § 28 über „Entstehung der Objekte und der Außenwelt" anknüpfen. Vgl. zu dieser Verschiebung ebenfalls die Anm. 502. 120 Vgl. die §§ 15 und 16, unten S.297f. 121 Th. H. Meynert, Psychiatrie. Klinik der Erkrankungen des Vorderhirns, begründet auf dessen Bau, Leistungen und Ernährung, Band 1, Wien 1884. 122 Vgl. Anm. 514, unten S.298. 123 Vgl. Anm. 456, unten S. 282.
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entsprechenden Ausführung. Die Wahrnehmungs- und Empfindungslehre gipfelt in einer Darstellung der psychischen Struktur, die auf den „beständigen Kreislauf von Reizen zu Empfindungen, diesen zu Gefühlen, Gefühlen zu Willensvorgängen" 124 hinweist. Das Seelenleben besteht „in der Wechselwirkung mit einer Außenwelt, die als das Milieu desselben bezeichnet werden kann. Sie ruft Wirkungen im Bewußtsein hervor, Wahrnehmungen und Vorstellungen. Das Seelenleben reagiert auf diese im Gefühl, indem die Werte der Objekte für die Selbsterhaltung aufgefaßt werden und abgemessen. Die Gefühle rufen alsdann Spannung, sei es des Begehrens oder Wollens hervor. Die einen bringen innere Willenshandlungen hervor, die anderen solche in der Außenwelt, äußere Willenshandlungen. Dieser Zusammenhang ist teleologisch, auf ihm beruht auch die Steigerung in der Stufenfolge des Tierlebens." 125 Neben der Empfindungslehre bildet die Lehre von der Verarbeitung der Wahrnehmungen im Bewußtsein, in dem diese zu Vorstellungen fortgestaltet und von der Einheit des Bewußtseins umfaßt werden - einer Einheit, welche in der Ichvorstellung nur einen abstrakten Ausdruck findet - den Hauptbestand der Psychologie-Vorlesung aus dem Winter 1888/89. Dem Unterschied zwischen Wahrnehmung und Vorstellung auf dem Gebiet der äußeren Wahrnehmung entspricht auf dem Gebiet der inneren Wahrnehmung der Unterschied von Erlebnis und Nachbildung. Die Nachbildung von Gefühls- und Willensakten wird von einem Inbegriff reproduzierter Vorstellungen aus eingeleitet. Gefühls- und Willensakte treten erst dann „in einem neuen Erlebnis auf, wo bei lebhafter Reproduktion die Folgen eines Tatbestandes für Gefühl und Willen fortdauern". 126 Daß die Reproduktionsfähigkeit von Vorstellungen physiologisch bedingt sein könnte und „an die Leistungen getrennter Stellen des Großhirns" gebunden sei, hält Dilthey für wahrscheinlich. 127 Das Verhältnis solcher physiologischen Bedingungen der Reproduktion von Vorstellungen zum VorstellungstfW««/ selbst darf allerdings nicht als ein solches „von Ursache zu Wirkungen" aufgefaßt werden. Auch die Formel von einem Parallelismus entspricht nach Dilthey nicht den Tatsachen. 128 Wie schon in der Vorlesung vom Wintersemester 1883/84, greift Dilthey auch jetzt bei der Frage nach der Enge des Bewußtseins auf die Ergebnisse der experimentellen Psychologie zurück. 129 Als „oberstes Gesetz" der seelischen Struktur gilt aber für ihn das psychologische Gesetz, daß „die Verteilung der Bewußtheit zwischen unseren Vorstellungen abhängig ist von dem inneren Zusammenhang, in dem Empfindungsaggregate oder Vorstellungszusammenhang zum Mittelpunkt unseres Seelenlebens in den Gefühlen treten, also ab124 127
Vgl. unten S. 299. Vgl. unten S. 301 f.
125 128
Ebd. Vgl. unten S. 303.
126 129
Vgl. unten S. 300. Vgl. unten S . 3 0 3 f .
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hängig ist von der Verteilung des Interesses".130 Das lebendige Interesse hat dabei jedoch noch nicht die Energie des Willens in der Aufmerksamkeit zur Folge. „Dies beweist auch hier", so Dilthey, „daß der Wille zwar von Gefühl bedingt, aber nicht Folge ist."131 Bei seiner Behandlung der Problematik der Einheit des Bewußtseins stößt Dilthey auf eine Grundeigenschaft, durch die das Bewußtsein „sich von dem Verhalten des Räumlichen gänzlich unterscheidet". 132 Jeder psychische Bestandteil kann unabhängig von der Stelle im Zusammenhang des Seelenlebens mit jedem anderen aneinandergehalten, identifiziert und unterschieden werden. Es meldet sich damit die Problematik der Zeit. „Die Linie psychischen Lebens läßt rückwärts verschwinden die Inhalte aus dem Zusammenhang, vorwärts in ihn solche eintreten."133 Die Inhalte sind verbunden in der „Kontinuität". Die zusammentreffenden Teilinhalte verschwinden im Bewußtsein nicht wie Faktoren in einem Produkt. Obwohl voneinander unterschieden, sind sie doch „in den unteilbaren Handlungen des Bewußtseins ineinandergehalten und aufeinander bezogen". 134 Während die Einheit des Bewußtseins nur die allgemeine Bedingung ausdrückt, unter der allein Sinnesinhalte zur Einheit eines Gegenstandes verknüpft werden, drücken die Grundgesetze der Assoziation und der Verschmelzung die Gesetze aus, unter denen die Verbindungen von Teilinhalten stattfinden. Feste Objektbilder sind das Ergebnis einer Verschmelzung von Teilen der neuen Wahrnehmung mit älteren Eindrücken. Der Zusammenhang zwischen Assoziation und Reproduktion von Vorstellungen wird im Rahmen der Problematik des Gedächtnisses behandelt.135 Auch hier nimmt Dilthey die Ergebnisse physiologischer und experimenteller Untersuchungen auf, so insbesondere Ebbinghaus' Untersuchungen Über das Gedächtnis und die Arbeiten von Kußmaul,
Μ unk und
MeynertP6
Die Problematik der Apperzeption und die Frage nach dem Entstehen von Selbst- und Weltbewußtsein rechnet Dilthey weder zu den einfachen seelischen Vorgängen - wie etwa den Empfindungen - noch zu den seelischen Prozessen wie etwa der Assoziation - , sondern zu dem aus dem Zusammenwirken der
Vgl. unten S.305f. Vgl. unten S. 306. 152 Vgl. unten S.310. 133 Vgl. unten S.311. 134 Ebd. 135 Vgl. §25, unten S.313f. 136 H. Ebbinghaus, Ober das Gedächtnis. Untersuchungen zur experimentellen Psychologie, Leipzig 1885; A. Kußmaul, Die Störungen der Sprache. Versuch einer Pathologie der Sprache, Leipzig 1877; H. Münk, Uber die Funktionen der Großhirnrinde, Berlin 1881. 130
131
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psychischen Prozesse entstehenden seelischen Zusammenhang. 137 Apperzeption ist, so Dilthey, „bedingt durch das ganze oder teilweise Ineinandertreten des Empfindungsaggregates und eines vorhandenen Vorstellungszusammenhangs". 138 Die Folge hiervon kann eine Änderung an der Perzeption oder am Zusammenhang selbst sein. Eine Veränderung des seelischen Zusammenhangs kann jedoch auch von inneren Antrieben aus eingeleitet werden. Dies alles bedingt, was Dilthey nun „den Bildungszusammenhang"139 des Seelenlebens nennt. Eine Grundgesetzlichkeit ist das Gesetz der wachsenden Festigkeit von Vorstellungen und ihren Verbindungen. In diesem Falle „verhalten sich Inhalte und ihre Verbindungen im Seelenleben zu Tatsachen und Verhältnissen der Außenwelt als Zeichen" In den Bildungzusammenhängen unterscheidet Dilthey wiederum die Formen der Identifikation, der Subsumtion, der Einordnung in einen Zusammenhang, der Rückwirkung des Einordnungsprozesses auf diesen Zusammenhang selbst sowie der Umgestaltung desselben. Zu den „Tatsachen des entwickelten Seelenlebens" 141 rechnet Dilthey das Selbstbewußtsein; in ihm ist die Ichvorstellung begründet. Dilthey fordert eine deskriptive Behandlung dieser Tatsachen, welche die seelische Struktur im Selbstbewußtsein freilegt. Dabei ist für ihn das Selbstbewußtsein wesentlich „mit Erhaltung und Schätzung verbunden". 142 Nicht so sehr das Innewerden von Wahrnehmungsakten, sondern die Willens- und Gefühlstatsachen bilden für Dilthey den Mittelpunkt unserer Selbsterfahrungen. Selbstgefühl drückt die Tatsache aus, daß der Wille sich seiner Lage zur Welt innewird; Lebensgefühl bedeutet die Tatsache, daß die Sphäre unserer Gefühle sich von dem, was jenseits ihrer Außenwelt ist, beengt findet. Selbstgefühl und Lebensgefühl bilden die Mensch und Tier gemeinsame Grundlage, auf welcher sich in der Entwicklung das Selbstbewußtsein ausbildet. In der Entwicklung entsteht „die Vorstellung eines gegliederten Zusammenhangs unseres Seelenlebens innerhalb der Grenzen unseres Körpers". 143 Auch die Objekte sind nur da als Resultat einer Entwicklungsgeschichte. Die Vorstellung einer von uns unabhängigen Wirklichkeit entspringt aus einer lebendigen Erfahrung. So hat die Verflechtung, vermöge der Tast- und Gesichtsempfindungen auf dasselbe System von Raumstellen bezogen werden, bereits die Verdichtung des Empfindungsaggregats zur Folge. Erst das feste Verhältnis
157 138 139 140
Vgl. den Titel des „dritten Abschnitts", unten S . 3 1 7 . Vgl. unten S . 3 1 7 . Ebd. 1 4 1 Vgl. unten S . 3 2 0 . 1 4 2 Vgl. ebd. Vgl. unten S . 3 1 8 .
143
Vgl. unten S . 3 2 2 .
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dieses Aggregats zu den Gefühlen und Willenshandlungen führt zur Ausbildung der Vorstellungen von Objekten und einer Außenwelt. Das Problem der Entstehung der Außenwelt verbindet Dilthey nun erneut mit der Frage nach unserer Raumvorstellung. 144 Es empfiehlt sich nach Dilthey ein gemäßigter Nativismus, welcher eine dem Tast- und Gesichtssinn gemeinsame psychophysische Einrichtung annimmt. An dieser Stelle weist er wiederum auf Webers Untersuchungen sowie auf Stumpfs Schrift Über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung hin. 145 Die nur fragmentarisch erhaltenen Schlußparagraphen über die Entstehung des Einzeldinges, über den Operationenkreis, der den zusammengesetzteren Leistungen des Intellekts zugrunde liegt, und über den sich allmählich ausbildenden Selbstzweck der menschlichen Erkenntnis 146 bestätigen den Eindruck, daß Diltheys Psychologie-Vorlesung aus dem Jahre 1888/89 in den Rahmen seiner Erkenntnistheorie eingeordnet werden kann.
VIII. Wie in die umfangreiche Breslauer Vorlesung aus dem Jahre 1878, so hat Dilthey auch in seine Berliner Vorlesung vom Winter 1883/84 einzelne Betrachtungen unter dem Gesichtspunkt einer pragmatischen Psychologie eingefügt. Unter pragmatischer Psychologie versteht Dilthey die „Anwendung der Erkenntnisse der Psychologie zur Auflösung der Probleme des praktischen Lebens", wobei hier „die pädagogische Praxis" eine hervorragende Stellung einnimmt. 147 Dies zeigt sich auch an dem besonderen Interesse, das Dilthey der Pädagogik widmet; durch seine pädagogischen Schriften und Vorlesungen ist es umfassend dokumentiert. Als Beispiele einer pragmatischen Psychologie nennt Dilthey in seinen Psychologie-Vorlesungen die Arbeiten von Beneke und Kant.m Insbesondere interessiert sich Dilthey für das in der neueren Pädagogik zwischen das Spiel
Vgl. unten S . 3 2 4 f . E.H. Weber, Abhandlungen über den Raumsinn, in: Berichte über die Verhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, Mathematisch-physische Classe, Jg. 1852, S. 8 5 - 1 6 4 ; C. Stumpf., U b e r den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung, Leipzig 1873. 14 Vgl. die §§ 3 3 - 3 5 , unten S . 3 2 6 f . 144
145
Vgl. unten S . 2 2 2 . E. Beneke, Pragmatische Psychologie oder Seelenlehre in der Anwendung auf das Leben, 2 Bände, Berlin 1850; l. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Königsberg 1798, in: Kant's Gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, Band VII, Berlin 1917, S. 1 1 7 - 3 3 3 . 147
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und den methodischen Unterricht geschobene Zwischenglied des Anschauungsunterrichts, der wesentlich mit der Ausbildung der Sinnlichkeit verbunden ist. Dilthey erhofft nämlich, daß diese Unterrichtsform das natürliche Gleichgewicht zwischen Wissenstrieb und Schulunterricht wiederherzustellen vermag. Einen zweiten Interessenpol der pragmatischen Psychologie stellt für Dilthey - entsprechend seiner spezifischen Charakterisierung der Psychologie als Erfahrungswissenschaft - die innere Erfahrung dar. Diese bildet den Mittelpunkt aller religiöser Wahrheit. Auf sie ist auch die Poesie gegründet. Die Enge der inneren Wahrnehmung wird erweitert durch das Nacherleben des Geschichtlichen, wo sich Ideale für Gefühl und Wille darbieten. Die pädagogische Praxis soll daher darauf gerichtet sein, die Kräftigkeit der inneren Erfahrung in den Kindern durch erfundene Erzählung, durch Märchen, später auch durch Geschichte und Literatur zu unterstützen. Einen dritten Bezugspunkt zur pädagogischen Praxis sieht Dilthey in seiner Lehre von der Aufmerksamkeit und dem Interesse. Beide drücken die Mitwirkung des Gefühls und des Willens bei Wahrnehmungs- und Denkvorgängen aus. Eine planvolle und zweckmäßige Zuwendung zu den Objekten erfordert willkürliche Aufmerksamkeit, welche über die bloße Lust an Wahrnehmungen hinausreicht und durch äußeren Zwang geübt wird. Zugleich plädiert Dilthey aber für einen regelmäßigen Wechsel der Unterrichtsgegenstände, für einen Wechsel von Erholung und Ruhe im Unterricht und für die Angemessenheit des Vortrags an die Geschwindigkeit der Auffassung der Hörenden. Viertens bildet das Gedächtnis ein festes Thema für eine pragmatische Psychologie. Hier gibt Dilthey noch unbestimmte Regeln für ihre Pflege und Ausbildung an. Vor allem solche Verbindungen von Inhalten sollen begünstigt werden, welche den inneren Zusammenhang für die Erkenntnis enthalten; die Mnemotechnik lehnt Dilthey ab. Die Einheitlichkeit der Geistesrichtung begünstigt das Gedächtnis, während die Liebhaberei die Leistungen desselben mindert. Ein letztes Element liegt in Zahl, Dauer und Intensität der Wiederholung. Hier plädiert Dilthey für Beschränkung auf ein Gebiet und für die Herstellung eines Zusammenhangs in ihm. Diese Bezüge zur pädagogischen Praxis, wie Dilthey sie in seinen Psychologie-Vorlesungen behutsam hergestellt hat, werden in dem Manuskript Anwendungen der Psychologie auf die Pädagogik zusammengefaßt und ausführlicher dargestellt. Sie gliedern sich in Bemerkungen über Spiel, Interesse und Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Ausbildung des Verstandes. 149 Eine wesentliche
149
Vgl. die Kapitel zwei bis f ü n f , unten S. 331-351.
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Ergänzung des im Kolleg Vorgetragenen ist darin zu sehen, daß Dilthey seinen Bemerkungen ein Kapitel über die Struktur des Seelenlebens und eine entsprechende Gliederung des Unterrichts hinzufügt. 150 In Diltheys vereinzelten Betrachtungen über pragmatische Psychologie, wie sie in seine Berliner Vorlesungen eingegliedert sind, fehlt in bemerkenswerter Weise die Darstellung der Ausbildung des Gefühls und des Willens. Eine stichwortartige Bearbeitung dieses Themas findet sich nun am Schluß seiner Vorlesung über Anwendungen der Psychologie.I5> Damit gibt dieses Kolleg eine Nähe zum vierten Abschnitt der Grundlinien eines Systems der Pädagogik zu erkennen. Dank sagen wir zunächst den Mitarbeitern der Dilthey-Forschungsstelle am Institut für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum, Gabriele Gebhardt und Bernd Orlowski, die uns bei der Edition insbesondere in technischer Hinsicht wertvolle Hilfe geleistet haben. Weiterhin danken wir der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die durch ihre seit Jahren gewährte Unterstützung die Editionsarbeiten allererst ermöglicht hat, sowie dem Akademiearchiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Handschriftenabteilung der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen für die seit Jahren bestehende gute Zusammenarbeit und die Genehmigung zur Veröffentlichung der von ihnen verwahrten Texte. Unser besonderer Dank gilt schließlich Herrn Dr. Helmut Johach (Nürnberg), der uns nicht nur erlaubt hat, seine Edition der Anwendungen der Psychologie auf die Pädagogik in unseren Band zu übernehmen, sondern uns darüber hinaus auch durch seine Entzifferung besonders schwer zu lesender Randnotizen Diltheys eine große Hilfe war. Bochum, August 1996
150 151
Vgl. das sechste und siebente Kapitel, unten S. 351-359. Vgl. den Entwurf zu einem achten Kapitel, unten S. 359f.
Guy van Kerckhoven Hans-Ulrich Lessing
Α. DIE BRESLAUER VORLESUNGEN ZUR PSYCHOLOGIE U N D ANTHROPOLOGIE (ca. 1 8 7 5 - 1 8 8 2 )
Psychologie (ca. Wintersemester 1875/1876) II. ABSCHNITT: Elemente und Grundgesetze des Seelenlebens §6. Die Seelenvermögen Die psychischen Tatsachen sind nach Klassen geordnet worden. Lange herrschte die Vierteilung des Aristoteles in höhere und niedere, theoretische und praktische Tätigkeiten der Seele. Erst die Engländer entwickelten den Tatbestand eines uninteressierten Wohlgefallens, d. h. einer Lust, welche sich nicht auf Begehren zurückführen lasse. Da nun aber Lust- und Unlustgefühle andererseits sich gänzlich von Vorstellungen unterscheiden, so ward hierdurch eine Dreiteilung vorbereitet, welche in Deutschland Tetens, Mendelssohn und am vollkommensten Kant durchführten. Und zwar gab Kant dieser Einteilung die richtige Einschränkung, daß in ihr nichts über drei ursprüngliche Kräfte oder drei ursprünglich vorherrschende Klassen von seelischen Ereignissen vorhanden sei, vielmehr eine Aufstellung von Klassen aufgrund der im Bewußtsein gegebenen Verschiedenheit der Tatsachen; die Möglichkeiten dessen, was hiervon sozusagen jenseits des Bewußtseins der Grund sei, untersuchte er überhaupt nicht. Den Ausgangspunkt der Einteilung entdeckte er in der verschiedenen Beziehung des Bewußtseins auf die Vorstellung. „Es ist ein großer Unterschied zwischen Vorstellungen, sofern sie, bloß auf Objekte und die Einheit des Bewußtseins derselben bezogen, zur Erkenntnis gehören, imgleichen zwischen derjenigen objektiven Beziehung, da sie, zugleich als Ursache der Wirklichkeit dieses Objektes betrachtet, zum Begehrungsvermögen gezählt werden, und ihrer Beziehung [bloß] auf das Subjekt, da sie für sich selbst Gründe sind, ihre eigene Existenz in demselben bloß zu erhalten und insofern
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Die Breskuer Vorlesungen (ca. 1 8 7 5 - 1 8 8 2 )
im Verhältnis zum Gefühl der Lust betrachtet werden; welches letzte schlechterdings keine Erkenntnis ist, noch verschafft, ob es zwar dergleichen zum Bestimmungsgrund voraussetzen mag." 1 Gegenüber erneuten Versuchen von Ableitungen alles geistigen Geschehens aus den Verhältnissen von Vorstellungen stellten alsdann Hamilton und Lotze den Beweis der Unableitbarkeit einer jeden der drei Klassen von der anderen auf. Denkt man sich ein nur vorstellendes Wesen, so ist kein Grund, daß dasselbe den Widerstreit seiner Vorstellungen oder ihre Ubereinstimmung in Lust oder Unlust empfände. Denkt man sich ein vorstellend-fühlendes Wesen, so ist es wieder nur unser Zusatz, wenn wir aus den Unlustzuständen desselben ein Streben nach heilender Verbesserung uns entspringend denken. Lust wie Begehren sind neue, weder voneinander noch von den Vorstellungen ableitbare Zustände. Diese Argumentation setzt voraus, daß aus gegebenen psychischen Faktoren nie ein psychischer Zustand entspringen könne, der ganz neue Merkmale enthalte; da aber für die Sinnenwelt die Chemie das umgekehrte Verhältnis zeigt, führte J . Stuart Mill den Begriff einer psychischen Chemie ein, d.h. die Annahme, daß psychische Wirkungen ganz andere Merkmale zeigen könnten als die, welche ihre Faktoren ihnen mitgäben. Der Beweis von Hamilton und Lotze wäre hinfällig, solange die Möglichkeit eines solchen Verhaltens nicht widerlegt ist. Die Psychologie sieht sich hier, wie an allen anderen Stellen, 2 auf die Feststellung der Aufeinanderfolge und Koexistenz der Zustände im Bewußtsein und einen engen Kreis vorsichtiger Schlüsse von den Gleichförmigkeiten dieser Koexistenzen und Sukzessionen auch auf nicht durch Beobachtung festzustellende Tatsachen eingeschränkt. Sie muß die Feststellung von Gleichförmigkeiten im Tatbestand und die Erklärung gänzlich auseinanderhalten; und so muß sie sich auch an dieser Stelle damit begnügen, die drei Klassen als gegebene Tatsachen des Bewußtseins auseinanderzuhalten; die Frage nach psychischen Grundkräften ist vorläufig unerforschbar. -
§ 7. Empfindung, Gefühl und Vorstellung (1) Bei Erregung der sensiblen Nerven können Gefühle und Empfindungen hervortreten, und zwar können alle sensiblen Nerven Lust- und Schmerzempfindungen im psychischen Leben infolge ihrer Erregungen auslösen. Der momentane Einklang zwischen der Funktionsbedingung und dem Reiz bringt Lust hervor, der momentane Widerstreit Schmerz.) 2) Die Nerven mit Endapparaten, welche organisiert sind, die Reize und ihre Sonderung aufzunehmen, nennen wir Sinnesnerven. Der infolge ihrer
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Erregung im Bewußtsein ausgelöste qualitative Inhalt wird auf die Außenwelt bezogen. 3) Wenn die vom Reiz hervorgerufene psychophysische Erregung endigt, schwindet das Wahrnehmungsbild; ein Erinnerungsnachbild kann ihm auf dem Fuße folgen; Erinnerungsbilder oder Vorstellungen können unter bestimmten Bedingungen in der Seele reproduziert werden.
§ 8. Vom Beharren der Vorstellungen 1) Von jeder Wahrnehmung bleibt in der Seele ein Residuum; hiervon wissen wir nur aus der Tatsache, daß jede Wahrnehmung unter bestimmten begünstigenden Umständen im Bewußtsein als Vorstellung reproduziert werden kann. Demgemäß können wir solche Residua oder Spuren nur nach der Analogie der reproduzierten Vorstellung denken, da wir nur aus ihr ein solches Residuum erschließen. Hiervon war die Folge, daß man solche Residua als Vorstellungen bezeichnete, und, da sie nicht im Bewußtsein sind, bildete man die Annahme unbewußter Vorstellungen zur Erklärung der verwickeiteren psychischen Erscheinungen. (Dieser 3 Hypothese bedienten sich seit Herbart die meisten hervorragenden Psychologen und Physiologen; näher zu begründen unternahmen diese Hypothese Helmholtz, Zöllner und in England Hartley. 4 Jedoch ist der gegenwärtigen Psychologie die Notwendigkeit dieser Voraussetzung fraglich geworden; in England wie in Deutschland das Problem, um welches es sich handelt, ist: inwieweit bloße Reste des Wahrnehmungsvorganges, welche als physiologische Zustände fortexistieren, ausreichen, um die vorliegenden Tatsachen, insbesondere die Entstehung der Sinneswahrnehmung aus der Empfindung und das Unbewußte in den Leistungen [?] des Gemüts, zu erklären. Solange diese Frage, wie gegenwärtig, nicht entschieden ist, wird es gleichgültig sein, welchen Ausdruck man für das wählt, aus dessen Bestand die Reproduktion von Vorstellungen im Bewußtsein erklärt wird.) 2) 5 Während in der Natur alle Verbindungen vorübergehend sind, erhalten sich dieselben in den psychischen Zuständen. Das Feuer, das erlischt, ist als bestimmter Verbindungszustand gänzlich vorüber; in dem Bewußtsein dagegen beharren die verschiedensten Arten von Verbindungen, die aufeinander gefolgt sind. -
3. Verschiedene Zustände der Bewußtheit. Bewußtsein ein Abstraktum. 1) Der Schlaf. Die Tätigkeit des Gehirns ist herabgesetzt während desselben. Unterscheide Schläfrigkeit, Einschlafen, tiefen Schlaf, Traumschlaf, Erwachen.
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Die Breslauer Vorlesungen (ca. 1875-1882)
1. In dem Schlaf wird der von keiner psychischen Spontaneität geleitete Gedankenlauf, welcher stets den Hintergrund unseres psychischen Lebens auch in wachendem Zustande bildet, alleinherrschend. 2. Aber das psychische Leben geht in geringer Bewußtheit wahrscheinlich auch in tiefstem Schlafe fort. Gerade der tiefe Schlaf ist von einem angenehmen Gefühl begleitet. Wir haben ein Bewußtsein innerer [?] Dauer bei dem Erwachen, welches sonst ausgeschlossen wäre. Oft erhäschen wir noch das letzte Traumbild. [...] Daher das psychische Leben im normalen Zustande als eine ununterbrochene Kontinuität gefaßt werden darf - Erklärung der Tatsache, daß meist die Erinnerung an die Traumbilder mangelt, aus dem Unterschied der bewußten Perzeption und der Apperzeption. Kurze Dauer des Gedächtnisses für bloße Perzeptionen. 2) Unterschied der bewußten Perzeptionen von der Apperzeption derselben als ein neuer Unterschied der Art von Bewußtheit. Dieser Unterschied kann nur als eine Tatsache unseres Bewußtseins aufgefaßt und verzeichnet werden; wir haben bei einem Teil unserer Wahrnehmungszustände ein Bewußtsein von ausdrücklichem Gewahrnehmen, von Richtung unseres geistigen Lebens [?], unseres Interesses, unserer Aufmerksamkeit auf sie. Die anderen Wahrnehmungszustände findet [?] die Erinnerung (denn die Richtung der Aufmerksamkeit perzipiert [?] hier das Phänomen) auch wegen [?] dieser Art. Über diesen Ausdruck der Tatsache darf in bezug auf diese Unterscheidung nicht hinausgegangen werden. 4. Bei den Vorgängen, in denen aus Massen von psychischen Tatsachen Ergebnisse entspringen, sind die minimal bewußten Vorstellungen mittätig. Offene Frage, ob auch unbewußte. 5. Die Aufmerksamkeit wird von Gefühlen geleitet und ist von dem Wollen getragen: Sie hat alle drei Seiten des psychischen Lebens in sich.
§ 9. Vom bewußten und unbewußten Zustande der Vorstellung. Schlaf, Wachen und Aufmerksamkeit Wir bezeichnen mit Fechner den Punkt, an welchem aus dem vorhergegangenen psychophysischen Zustande die merkliche Empfindung hervorgeht, als Schwelle. Fechner hat den Beweis geliefert, daß den Graden der Reize Grade eines psychophysischen Vorganges entsprechen, welchen er als Oszillation bezeichnet. „Empfindungen, Vorstellungen haben freilich aufgehört, im Zustande des Unbewußtseins als wirkliche zu existieren, sofern man sie abstrakt von ihrer Unterlage faßt; aber es geht etwas in uns vor, die psychophysische Tätigkeit, deren Funktion sie sind, und woran die Möglichkeit des Wiederher-
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vortrittes der Empfindung hängt." 6 Fechner entscheidet sich also mit Recht weder dafür, daß dieser Zustand von Oszillation ein bloß physiologischer, noch dafür, daß er ein psychischer sei, ob es unbewußte Vorstellungen gebe oder ob aus einem physiologischen Erregungszustand bei einer bestimmten Stärke erst ein psychischer Akt entspringe. Dies ist vorläufig durch keine Argumentation zu entscheiden. Dagegen beweist das Phänomen des Schlafes mit so verschiedenen Graden, wie eine Vorstellung gradweise entfernt von der Schwelle ihres Bewußtwerdens gedacht werden muß. Hiermit stimmt dann auch die Tatsache von der Konzentration der Aufmerksamkeit und dem umgekehrten Verhältnis ihrer Ausdehnung und Stärke [überein]. Denn hier gewahrt man Grade der Bewußtheit von Vorstellungen diesseits der Schwelle, die solchen der Unbewußtheit entsprechend gedacht werden müssen. Die 7 Aufmerksamkeit muß als ein gewisses Quantum gedacht werden, welches freilich selbst bei jedem Individuum variabel ist. Diese Tatsache ist identisch mit der von der sogenannten „Enge des Bewußtseins". 8 1) Wir können Eindrücke aller Sinne gleichzeitig wahrnehmen. Soll aber der Blick der Aufmerksamkeit eine dieser Wahrnehmungen besonders deutlich ergreifen, dann verengert sich das Blickfeld. 9 Andererseits wächst der Umfang des deutlich Sehbaren bei wachsender Dauer des Eindrucks. 2) Die Fähigkeit, Vorstellungen gleichzeitig im Bewußtsein zu haben, ist eine andere als die, Wahrnehmungen nebeneinander zu besitzen, und um vieles geringer. Man hat den Satz aufgestellt, daß die Seele in demselben Augenblick nur eine Vorstellung zu haben imstande sei. Dagegen hat Lotze mit Recht hervorgehoben, daß in der Vergleichung die verglichenen Züge gleichzeitig vorgestellt werden müssen, um nebeneinander gehalten werden zu können. Auch die Erinnerung ist ja Vorstellung, und deshalb könnten nie zwei Vorstellungen verglichen werden, wenn sie nicht gleichzeitig besessen würden. Dagegen könnte der Satz als wahrscheinlich betrachtet werden, daß nur soviel Vorstellungen gleichzeitig im Bewußtsein besessen werden können, als in einem Bewußtseinsakte verbunden sind; negativ: unverknüpfte Vorstellungen werden nicht zusammen im Bewußtsein besessen. -
§ 10. Die psychischen Elemente des bewußten Vorstellungsverlaufs etc. Die Gesetze sind zu finden, nach welchen diese beharrenden Vorstellungen oder Dispositionen die Erscheinungen des Vorstellungsverlaufs hervorbringen. Diese Vorstellungen sind innerhalb des bewußten Vorstellungsverlaufs Elemente, während sie andererseits schon verwickelte Ergebnisse des Zusammenwirkens von Empfindungen nach psychischen Gesetzen sind.
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1) Aus der Zerlegung der Koexistenz und Aufeinanderfolge unserer Wahrnehmungen als eines Ganzen oder des Wahrnehmungsflusses, gemäß der Richtung des Geistes auf Erfassen von Dasein, entspringen die Einzelanschauungen und ihre Teilinhalte. Diese Teilinhalte sind die Elemente, welche unserem Vorstellen und Denken als Material zur Verfügung stehen. 2) Wenn sie [?] nicht der Wahrnehmung entstammen, können sie auf die Phantasie [zurück]geführt werden. 3) Auch innere Wahrnehmungen werden aus dem schon zu festen Vorstellungen gewordenen Material der Wahrnehmungselemente aufgebaut. 4) Das allgemeine Grundgesetz für die so entstehenden Vorstellungen oder Elemente unseres bewußten Vorstellungsverlaufes ist: Diese Vorstellungen streben [?] die anschauliche Verbindung, in welcher sie räumlich-zeitlich sich ursprünglich befanden, und die hinzugebildeten gedankenmäßigen Verbindungen, welche zwischen ihnen gestiftet wurden, wieder herzustellen. Ich kann die Eigenschaft einer Vorstellung, durch welche ein Anzeichen ihrer Verbindungen ihr beiwohnt, als Verbindungsresi bezeichnen; alsdann reproduzieren Vorstellungen einander vermöge ihrer Verbindungsreste.
§ 11. Erster Grundprozeß: die Verschmelzung und ihre Gesetze Gesetz des ersten Grundprozesses: Der Vorgang der Anschauung erweckt den Vorstellung gewordenen aber gleichen früheren Akt zum Bewußtsein und verschmilzt mit ihm zur Einheit desselben Inhalts, nur daß das Bewußtsein der Wahrnehmung dieses früheren in dem gegenwärtigen Vorgang bei der Verschmelzung erhalten bleibt. Spezielle Gesetze: 1) Die Verschiedenheit, welche zwischen dem Inhalt der ganz wiedererweckten Vorstellung und [der] ganz vollzogenen Anschauung bestehen würde, hindert die völlige Verschmelzung nicht, wenn entweder die Anschauung die Vorstellung nur in ihren gleichen Momenten wieder bewußt macht oder die Vorstellung die Anschauung 10 nur in ihren gleichen Momenten vollziehen läßt. 2) Wo aber diese Verschiedenheit zum Bewußtsein gelangt, kann entweder eine teilweise Verschmelzung mit vorherrschendem Bewußtsein des Verschiedenen entstehen; dann wird der Kontrast stark wahrgenommen. Oder die Verschmelzung überwiegt, während doch die Verschiedenheit bewußt wird, dann wird die Ähnlichkeit wahrgenommen. Problem: ob hier der Grund für die Assoziationen nach dem Verhältnis der Ähnlichkeit und des Kontrastes begründet sei. 3) Wahrnehmung und Vorstellung verschmelzen. Nachdem die Wahrneh-
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mung vergangen und somit Vorstellung geworden ist, besteht sie fort und wird reproduziert als eine feste, d. h. [als] eine Mehrheit von Wahrnehmungen, die verschmolzen sind. In11 einer solchen Vorstellung sind gemäß dem zweiten Gesetz der Verschmelzung unverschmolzen verschiedene Elemente mitenthalten; sie sind daher verschiebbare Schemata von Vorstellungen oder besser Schemata der Vorstellungsbildung. So entstehen in diesen festen Vorstellungen psychische Totalkräfte, und diese bilden die Grundlage für die Vereinfachung in den psychischen Prozessen, auf der Sprachbildung und Begriffsentwicklung beruhend. 12
§ 12. Zweiter Grundprozeß: die Assoziation und ihre Gesetze 13 1. Gesetz: a) Die zum Bewußtsein erweckte Vorstellung strebt, den gesamten Vorstellungszusammenhang mit sich zu bringen, dessen Teil sie infolge des Wahrnehmungsvorganges oder infolge späterer Prozesse geworden ist. Und zwar strebt sie aus dem Ganzen zunächst den einzelnen Teil, mit dem sie am engsten verbunden ist, in das Bewußtsein zu rufen. Der Zusammenhang kann im Wahrnehmungsvorgang oder im Denkakt gegründet sein, b) Und zwar ist es Interesse, in Wille und Gefühl gegründet, welches die Ursache des Fortgangs bildet und die Richtung bestimmt, und zu ihm verhält sich die Spur nur als zu Gebote stehende Bedingung, Material, c) < Der Gedächtnisakt enthält im Wiedererkennen etwas über das sogenannte Gedächtnis der Materie gänzlich Hinausreichendes. > Falsche Generalisation von Gedächtnis der Materie (Hering [?]). Der Gedächtnisakt enthält Wie dererkennen in sich. 2. Gesetz: Vermöge der sogenannten Enge des Bewußtseins werden die Teile eines Vorstellungsverbandes, der in das Bewußtsein tritt, in eine Reihe umgewandelt, die gewissermaßen in linearer Bewegung abläuft. 3. Gesetz: Die Stärke der Verbindung zwischen zwei Vorstellungen, die einander reproduzieren gemäß den angegebenen Gesetzen, < ist einerseits bestimmt durch > 1 4 Inhalt und Gewicht ihrer Verbindung, andererseits den Grad der Eingewöhnung derselben. Und zwar kann das erste Moment durch das andere und dieses durch jenes ersetzt werden. (Im wesentlichen das Millsche Gesetz 15 ). 4. Gesetz: Verbindungen derselben Festigkeit werden als Glieder einer längeren Reihe leichter reproduziert, als wenn nur zwei Vorstellungen verkettet sind. Die Verbindungskraft der einzelnen Glieder der Reihe wirkt gewissermaßen als Totalkraft. 5. Gesetz: Die Reproduktion einer Reihe kann von einer doppelten Richtung vollzogen werden, aber sie vollzieht sich leichter in der Richtung der
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Gewöhnung, in der Richtung von Unbekannterem zu Bekannterem sowie in der natürlichen Richtung der Anschauung als in der umgekehrten. Anwendung 1: Der Wert der reproduzierten Verbindungen für unsere intellektuelle Entwicklung steht im Verhältnis zu ihrer Angemessenheit an die Bedürfnisse der intellektuellen Entwicklung, zu ihrer durch stetiges Interesse bewirkten Reproduktionsfähigkeit unter Durchführung der Verbindungen durch das ganze Gebiet der festen Vorstellungen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Erziehung des Gedächtnisses bei uns selber und bei anderen zu regeln. Anwendung 2: Das Verbindungsnetz der festen Vorstellungen ist die Ursache des Gedächtnisses und die Grundlage der produktiven Einbildungskraft. Dieses Verbindungsnetz stört aber im Verhältnis aus seiner Stärke bei sonst gleichen Umständen die Bildung neuer sonst wirksamer Verbindungen, daher sowohl die Auffassungskraft als das Gedächtnis für neue Verbindung bei hoher Durchbildung und in späteren Jahren gering ist. -
§13. Die
Phantasie16
1. Gedächtnis und Phantasie Nachdem Leibniz und Kant den Begriff der Apperzeption auszubilden begannen, erhielt er durch die Herbartsche Schule eine Bedeutung, welche in der deutschen Metaphysik führend wurde. Perzeption ist Vorgang der Wahrnehmung, Apperzeption ist Vorgang der Einordnung der Wahrnehmung in die Vorstellungsgruppe nach den Gesetzen der Verschmelzung und Reproduktion. In je höherem Grade sich die Bewußtheit einer Wahrnehmung zuwendet, desto mehr verwandte Vorstellungen werden durch sie erregt und treten in Verhältnis von Verschmelzung und Assoziation. Dieser klare Sinn des Begriffes verflüchtigt sich, wenn Steinthal alle verwickeiteren Verhältnisse von Vorstellungen untereinander im Unterschied von den Elementarprozessen als Apperzeptionsprozesse bezeichnet. Apperzeption findet statt: 1) zwischen Wahrnehmung und Vorstellung durch Verschmelzung, so daß Identifizierung und Ergänzung ihr Ergebnis; 2) zwischen Wahrnehmung und Allgemeinvorstellung als Subsumtion durch Assoziationsprozeß; 3) zwischen Wahrnehmung und einer durchgebildeten Vorstellungsgruppe; 4) zwischen dieser letzteren und einer Wahrnehmungsreihe. Die Apperzeptionskraft einer Gruppe von Vorstellungen der eintretenden Wahrnehmung gegenüber steht im Verhältnis zu dem Reichtum dieser Gruppe, ihrer Reizbarkeit und ihrer zusammenhängenden Gliederung. Dasselbe Verhältnis legt diese Schule für die Reproduktion zugrunde. Sie erklärt das Produkt aus zwei voneinander geschiedenen Akten, dem Vorgang
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der Reproduktion und dem der Assimilierung des Reproduzierten. - Ihr Antrieb die heutige Psychologie. [Demgegenüber möchte als die einfachere und den Tatsachen besser entsprechende sich die Auffassung empfehlen, welche auf der Grundlage des in den Sinnen gegründeten Reizzustandes oder der im Gehirn anzunehmenden Spur unter den Bedingungen des Bewußtseinszustandes die Wahrnehmung oder das Erinnerungsbild sich gestaltend denkt. Eine solche Ansicht fördert [?] auch der psychische Hergang unbewußter und doch so entscheidend wirksamer Vorstellungen und Prozesse. Sie scheint in der Art, wie eine kompliziertere Erinnerung als eine Art von Phantasiebild in uns allmählich entstehen kann, eine tatsächliche Bestätigung zu finden. Endlich ist sie allein in Einklang mit dem Gesetz der Relativität der Empfindungen. Hiernach haben wir überhaupt keine vollständig wiederkehrenden psychischen Akte. Das principium indiscemibilium von Leibniz ist psychologisch gegründet. Jeder Erinnerungsvorgang ist ein Gestaltungsvorgang. Das Gedächtnis und die Phantasie sind also nicht zwei geschiedene Vermögen. Gedächtnis ist nur ein abstrakter Ausdruck für die Tatsache, daß die Wahrnehmung im Spiel bleibt, daß sie unter bestimmten Bedingungen reproduziert werden kann und daß das Erinnerungsbild wiedererkannt wird als durch [ f ] die Wahrnehmung begründet [?]." Das Verhältnis apperzeptionskräftiger Gruppen in der Seele kann das der monarchischen Herrschaft einer Gruppe sein, der Verteilung der Macht an viele Gruppen, des Dualismus [?] oder - das Günstigste - das Ubergewicht einer Gruppe bei selbständiger Beweglichkeit der anderen.
§14. Gefühl und Wille Gefühl, Trieb, Begehrung zeigen miteinander verwandte Züge, daher sie in der Welt des Gemütes zusammengefaßt werden. Es fragt sich, ob diese Verwandtschaft nicht auf einen gemeinsamen Ursprung deutet. Tatsachen, welche dies wahrscheinlich machen: 1) allmählicher Ubergang von Gefühl zu Trieb; 2) Schwierigkeit der Theorie: die beiden Gebiete voneinander abzugrenzen; 3) der Gegensatz von Bejahen und Verneinen erscheint denen zwischen Lust und Unlust, Verlangen und Abscheu nur in dem allgemeinsten Zuge von Hinwendung und Abwendung verwandt; dagegen hat die Bejahung einer Tatsache gar keine Intensitätsgrade, während die Gegensätze des Gefühls und Triebes darin übereinstimmen, daß sie eine Reihe bilden, welche vom Nullpunkt negativ und positiv nach Intensitätsgraden bestimmbar ist. Alsdann beziehen sich Gefühl wie Trieb in gleicher Weise nicht auf Gegenstände als solche, sondern auf Werte. - Unter dem Eindruck dieser Tatsache versuchte
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man aus den Trieben die Gefühle abzuleiten, andererseits aus den Gefühlen die Triebe. Die erste dieser Theorien liegt für uns in näherer Begründung zuerst bei Aristoteles vor. In dieser Theorie war die Möglichkeit der aktiven Ethik des Aristoteles gegründet, welcher gemäß die sittliche Lust ihm nur ein Zeichen der sich vollendenden Energie des vernunftmäßigen Handelns war. Auch nach den Stoikern ist Selbsterhaltung ein unableitbarer Antrieb und die Lust ein Gesetz zu dem gelingenden Streben nach dem, was mit unserer Natur harmoniert. Eine neue, an die Stoiker anknüpfende Begründung gab dieser Theorie Spinoza. Die Psychologie überhaupt verdankt ihm zwei weittragende theoretische Anregungen. Die eine lag in seiner Attributenlehre, welche schon von Trendelenburg als der Mittelpunkt und der originale Griff seines Systems hingestellt worden ist. Dies hat dann auch der Gang der neueren, an [die] Naturwissenschaft angeschlossenen Forschungen bestätigt, der zu dieser Theorie zurückführt. Nach ihr stellt sich in der Menschennatur auf zweifache Weise als Zusammenhang körperlicher Veränderungen mit 18 psychischen Ereignissen derselbe Realzusammenhang dar. Demgemäß korrespondiert einem jeden psychischen Akt eine körperliche Veränderung. Diese Theorie würde begreiflich machen, daß wir zwischen Empfindungen und Vorstellungen einerseits, Nervensystem und Gehirn andererseits das Verhältnis einer mathematischen Funktion anzunehmen uns immer mehr durch Tatsachen bewogen finden. Die andere Theorie Spinozas lag in seiner Affektentheorie, welche der philosophisch tiefgeschulte Physiologe Johannes Müller als ein unbestreitbares Ergebnis in seine Physiologie aufnahm. In dem Streben nach Selbsterhaltung ist eine fundamentale psychische Tatsache gegeben; dieses Streben macht das Wesen des Menschen aus. Ein solches Streben kann also als Trieb bezeichnet werden. Ist es aber sich seiner Selbst ganz bewußt, nennen wir es Begierde, und zwar existiert nicht ein abstraktes Vermögen des Willens oder Begehrens, sondern es existieren einzelne Triebe, Begierden. D a aber der Mensch als ein Modus determiniert ist von außen, so findet sich dieses Streben der Selbsterhaltung entweder gehemmt oder gefördert. In der Hemmung tritt die Unlust, aus der Förderung Lust hervor. Spinoza bezeichnet Trieb, Lust und Unlust als die drei nicht auf andere Gemütszustände reduzierbaren Affekte. Demgemäß ist er nicht der Meinung, daß zum Trieb nichts hinzukomme, wenn die Lust entspringt; fragt [man] sich aber, was hinzutrete, so findet sich bei Spinoza keine klare Antwort. Ich ergänze daher diese seine notwendige Annahme im Sinne des Systems. Die Gefühle sind Akte des Bewußtseins in bezug auf die Zustände der Triebe. Der Trieb, wenn er seiner sich bewußt ist, seine Spannung oder Erfüllung erfährt, ist Gefühl.
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Der Theorie Spinozas trat die Kants gegenüber, welche zwischen den Erscheinungen des geistigen Lebens, als in welchen notwendige Verursachung herrsche, und dem Menschen an ihm selber unterscheidet. An sich ist der Wille Spontaneität: Vermögen, aus ihm selber Handlungen frei zu beginnen. Diese Theorie verschmolzen Schelling und Schopenhauer mit Spinoza. Schelling lehrte, der Mensch ist in Gott angelegt, und sein Wollen ist Ursein. Schopenhauer ging von der Lehre Kants über den unveränderlichen Charakter aus. Der Mensch ist primär Wille, und die Darstellung des Wollens ist das Leben. Dieser Wille ist an sich unveränderlich, und nur die Mittel, deren er sich bedient, wechseln während des Lebens. Und zwar unterscheidet sich von allen Willen in der Natur der menschliche, sofern 19 er durch abstrakte Begriffe geleitet werden kann. Daher den Menschen Entbehrung für den Augenblick ziemlich leicht, Entsagung sehr schwer ist. Gehemmter Wille (Spinoza) ist Leiden, Befriedigung desselben Glück. Da aber die Befriedigung nur einen Moment ausmacht, ist der Zustand des Leidens solange herrschend, als der Wille zu leben im Individuum dauert. Eine entgegengesetzte Theorie gründete Demokrit, dem Epikur folgte. „Die Lust ist uns Anfang jeden Strebens und Meidens, und auf sie läuft unser ganzes Tun hinaus." 20 Der Sensualismus ward in Frankreich und England im 17. und 18. Jahrhundert weiter ausgebildet. Der, welcher ihn zur Grundlage der Wissenschaft von Staat und Gesellschaft gemacht und so eine Schule der radikalen Politik für ganz Europa gegründet, ist Bentham (Jeremias B., 1748-1832). In Deutschland darf gegenwärtig Wundt (physiologische Psychologie) 21 als Hauptvertreter dieser Theorie angesehen werden. Er lehrt: Gefühle wirken zurück auf den Verlauf unserer Vorstellungen. So entspringt der Affekt, indem das Gefühl eine solche Bewegung hervorbringt; es entspringt der Trieb, indem ein psychischer Reiz eine Bewegung von Vorstellungen hervorbringt, die hinwirkt auf die Erzeugung bestimmter Gefühle. Die einfachste Grundform des Affekts ist Überraschung, die des Triebes Erwartung, und die Spannung in der Erwartung bezeichnet den Grad der Stärke des Triebes.
§15. Die Gefühle 1) Gesetze, welche die Beziehungen zwischen Gefühl, Bewußtseinsinhalt und Aufmerksamkeit ausdrücken, (cf. Kollegheft) 2) Klassen der Gefühle: 1) das Gemeingefühl a) sein sinnlicher Bestandteil b) sein intellektueller Bestandteil.
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2) Einzelgefühle a) sinnliche Einzelgefühle; diese bilden eine aufsteigende Reihe. Druckgefühle der Haut, Muskelgefühle, Wärmegefühle unterscheiden sich nur durch ihre Intensitäten; dagegen zeigen Geruch und Geschmack als die zweite Klasse sinnlicher Gefühle ein Mannigfaltiges, ohne daß jedoch Objektivierung stattfände; vielmehr bleiben Gefühle und Empfindungen noch miteinander verschmolzen in der Auffassung eines Zustandes unserer Sinne. Dem entspricht, daß es keinen Geruch oder Geschmack gänzlich neutraler Natur gibt, sondern jeder mit Lust- oder Unlustempfindung verbunden ist. Die dritte Klasse wird von den Gefühlen gebildet, welche sich auf die Wahrnehmung des Gesichts und Gehörs beziehen. Die Empfindungen werden objektiviert zu Gegenständen, und die Gefühle sind zum großen Teil in den gewöhnlichen Zuständen des Bewußtseins nicht merklich. b) intellektuelle Einzelgefühle. α) Die zweite Ordnung der ästhetischen Gefühle. Die erste Klasse ästhetischer Gefühle haftete an der einfachen Empfindung. Ästhetische Gefühle zweiter Ordnung entspringen aus der Verbindungsweise der Empfindungen untereinander. Diese Verbindungsweise entwickelt entweder Verhältnisse in Zeit oder Raum oder beides zusammenfassend in Bewegung. Fechners experimentelle Untersuchungen gehen zur Erforschung dieser Gefühle von den freien Entwürfen der Gestalten aus und entwickeln daraus, daß Symmetrie im Mannigfaltigen gefällt. Zeising22 glaubte, diese Symmetrie in dem Verhältnis des goldenen Schnittes näher bestimmen zu können: α + 1 : α = α : 1 . D.h., das Ganze verhält sich zum größeren Teil wie dieser zum kleineren. Jedoch erscheint dieses Formgesetz nur als besonders günstiger Fall eines umfassenderen Verhältnisses von Symmetrie im Mannigfaltigen. ß) Gefühle der Spannung, Erwartung, Langeweile, Enttäuschung. Die Lust am Spiel. γ) Gefühle, welche bestimmte Beziehungen von Bewußtseinsinhalten zu unserem Selbst und dem System seiner Triebe betreffen. Tätigkeitsgefühle oder virtuelle. 1. Gesetz: Vorstellungen, welche mit Gefühlen verbunden waren, streben bei ihrem Wiedererscheinen ihren Gefühlston beizubehalten. Wenn Vorstellungen wieder auftreten, so bringen sie die Gefühle mit sich, von denen sie begleitet waren, falls die Lage des Gesamtbewußtseins, auf welcher diese Verbindung von Gefühlen und Vorstellungen beruhte, dieselbe oder eine verwandte ist. 2. Gesetz: (Von Wundt als „Gesetz der Beziehung" 23 bezeichnet.) Die Qualität und Stärke einer Empfindung ist nicht vom Reiz allein bestimmt, sondern auch von anderen Nebenempfindungen abhängig. (2 Folgerungen! (Spezialgesetz des Kontrastes))
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3. Gesetz: (Grenzbestimmung für Gesetz 2) nicht diktiert, cf. Kollegheft. 4. Gesetz: (Gesetz der Übertragung.) Wo ein Zusammenhang von Vorstellungen infolge der Verbindung eines Teils dieser Vorstellungen mit einem Gefühl in seiner Gesamtheit von diesem Gefühl begleitet war, da ist dieses Gefühl auch mit allen anderen Teilen des Vorstellungsganzen verschmolzen und tritt infolge davon auch mit diesen anderen Vorstellungen zugleich auf. 5. Gesetz: (Gesetz der Abstumpfung und Gewöhnung.) Die Gewöhnung läßt Lust und Schmerz dem Nullpunkt entgegensinken, während umgekehrt Begierden durch die Gewöhnung verstärkt werden. Die Dauer eines Gefühls wirkt umgekehrt auf dasselbe, als die Dauer von Begehrungen auf diese wirkt. Dort tritt Herabminderung, hier Verstärkung ein. 6. Gesetz: Gefühle können sich auch in Begehrungen umsetzen und als solche reproduziert werden.
§ 16. Selbstbewußtsein, Triebe und Begehren 1. Gesetz: Die allgemeine Grundtatsache, daß zentripetale Erregungszustände in motorische Impulse umschlagen, ist der psychischen Grundtatsache parallel, welcher gemäß das psychische Geschehen sich umsetzt in das Streben, sich zu äußern. 2. Gesetz: In verschiedenen Höhen des psychischen Lebens bringt diese Umsetzung verschiedene Formen des motorischen Lebens hervor. Daher stellt sich die motorische Seite des Seelenlebens als eine Stufenfolge von nach gleichem Prinzip erfolgenden Vorgängen dar, von den einfachsten Reflexaktionen bis zu den bewußten Willensakten. Und zwar entspricht wahrscheinlich dieser Ordnung der psycho-motorischen Vorgänge ein physiologisches System stufenweiser Überordnung im Zentralapparat der Nerven. 3. Gesetz: Die motorischen Impulse lassen abgeblaßte Schemata zurück, welche als Bewegungsanschauungen eine umfangreiche Klasse der Vorstellungen bilden und mit den anderen Vorstellungen in Assoziationen stehen. Diese Bewegungsanschauungen bilden ein Mittelglied zwischen unseren übrigen Vorstellungen und Gefühlen und dem motorischen Vorgang. Das Gemeinsame in allen Erscheinungen dieser Klasse motorischer Vorgänge wollen wir als Aktion bezeichnen, und zwar ist es ein psychischer Vorgang, in welchem eine Richtung auf Realisierung eines Tatbestandes wirksam ist, welcher Wirkung wir folgerecht jedesmal eine psychische Kraft substituieren. Mit bestimmten Vorstellungen sind aktive Zustände oder Begehrungen zu einem Ganzen verbunden. Wiederholung derselben Begierde, desselben Willensaktes erhöht die Stärke desselben und folgerecht seine Macht über das Gemüt. -
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Hierauf beruht die Gewöhnung, welche eines der wichtigsten Grundgesetze für das Verständnis der Erziehung von Individuen und Massen ist. Wenn mit einem aktiven Zustande eine Vorstellung oft zum Ganzen eines psychischen Aktes verbunden war, dann strebt die Vorstellung, den psychischen Akt zu reproduzieren. Aktive Zustände als solche reproduzieren einander nicht, sondern Assoziation und Reproduktion bringen nur indirekt vorübergegangene aktive Zustände wieder herauf, indem sie die Vorstellung wieder heraufbringen, an welche die aktiven Zustände gebunden sind. Wo ein Zusammenhang von Mitteln und Zwecken in Teilen zu einem Ganzen verbunden war, verschmilzt der aktive Zustand mit allen Teilen des Ganzen, und folgerecht erscheinen auch die Vorstellungen der Mittel mit aktiven Zuständen verbunden, ohne daß die Vorstellungen des Zweckes reproduziert zu werden brauchen. -
[III. ABSCHNITT:] Die Vorgänge, welche den im Bewußtsein verlaufenden psychischen Akten zugrunde liegen I. Von den Empfindungen im allgemeinen §17. Die Intensität der Empfindung - Beziehung zwischen der Intensität der Empfindung und der Stärke des Reizes. - Das psychophysische Grundgesetz 1) Empfindungen. Das Grundverhältnis zwischen dem physiologischen und psychologischen Vorgang tritt in unmittelbarer Erfahrung nicht hervor, denn während wir Körper von Menschen oder Tieren untersuchen, sind ihre inneren Zustände unbekannt, weil solche für innere Erfahrung allein vorhanden sind, und während wir in innerer Erfahrung psychische Zustände erfahren, können wir der begleitenden Veränderungen in Gehirn und Nervensystem nicht gewahr werden. Erkennbar ist aber das funktionelle Verhältnis, das zwischen Empfindung und Reiz obwaltet, und wenn wir die Stärkeverhältnisse des Reizes denen der Nervenerregung proportional setzen dürfen, so würde das funktionelle Verhältnis zwischen den Intensitäten des psychischen Vorgangs und den Graden der physiologischen Veränderung erkennbar sein. Hierauf gründete Fechner in seiner „Psychophysik" 24 eine allgemeine Theorie dieses Verhältnisses, durch welche wenigstens in einen begrenzten Zweig
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der Psychologie Erkenntnis psychischer Maßverhältnisse, somit mathematische Klarheit eingeführt wurde. Die Empfindung ist uns in dem Ganzen eines Wahrnehmungszustandes gegeben, und sondert man sie in ihrer größten Einfachheit als einen Teil aus, so zeigt sie immer noch drei Klassen der Bestimmtheit: Intensität, Qualität und räumliche Ausdehnung, zu welchen alsdann, wenn man den ganzen Bewußtseinsinhalt ins Auge faßt, Gefühlston hinzutritt. Diese drei Klassen der Bestimmtheit sind untrennbar in jeder Empfindung vereinigt. Die Trennbarkeit zweier Inhalte in der Vorstellung beweist, daß sie voneinander unabhängig sind; unterschieden wird wahrscheinlich nur, was getrennt wahrgenommen ist. Dagegen kann aus der tatsächlichen Untrennbarkeit der Intensität, Qualität und Extension voneinander nicht geschlossen werden, daß diese Seiten der Empfindung derselben ursprünglich und unabhängig voneinander zukommen; vielmehr bleibt es insbesondere für die Räumlichkeit der Empfindung eine offene Frage, ob dieselbe nicht aus den zwei anderen Seiten entsteht und dann nur diese Gewöhnung untrennbar jeder Empfindung anhaftet. Daß wir Empfindungen nur ausgedehnt vorstellen können, beweist noch nicht, daß Ausdehnung oder räumliche Beschaffenheit eine ursprüngliche Eigenschaft der Gesichtsempfindung sei. 25 2) Reize. Wir unterscheiden äußere und innere Reize. Alle Teile des Körpers, welche durch ihre Lage direkten äußeren Einwirkungen entzogen sind, sind ausschließlich inneren Reizen zugänglich. Und wir bezeichnen im Gegensatz dazu als Sinnesorgane die, welche durch ihre Lage und Beschaffenheit unmittelbar äußeren Reizen zugänglich sind; doch sind Sinnesorgane auch gleichzeitig inneren Reizen, wie Temperaturveränderungen, dem Drucke etc., zugänglich. Innere Reize entstehen zunächst in den peripherischen Organen, oder sie bilden sich in den Zentralorganen und werden alsdann in die peripherischen verlegt, welche mit den betreffenden Zentralteilen in Verbindung stehen. Zur Klasse der inneren Reize von Zentralorganen aus gehören: 1) Empfindungen, welche vegetative Verrichtungen regeln, wie Atembedürfnis, Hunger und Durstgefühl; 2) Bewegungs- oder Innervationsgefühle der Muskeln; 3) Reizungen zentraler Sinnesflächen, welche den peripherischen Gebieten der äußeren Sinnesorgane zugeordnet sind. 3) Verhältnis von Empfindung und Reiz. Intensität der Empfindung nimmt zu oder ab mit der Stärke des Reizes, und zwar geschieht das zwischen den Grenzen der Reizschwelle und der Reizhöhe; den endlichen Wert des Reizes, welcher der Maximalstärke der Empfindung entspricht, bezeichnen wir als Höhenwert des Reizes. Für das Problem des Verhältnisses zwischen Reiz und Empfindung innerhalb der zwischen diesen Grenzen liegenden Skala dürfen wir den Nervenprozeß, welcher zwischen
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Reizvorgang und Empfindungsvorgang eingeschaltet ist, als in seinen Erregungsunterschieden proportioniert den Unterschieden der Reizstärke betrachten. Die eben merklichen Empfindungen sind einander gleich. Ebenso die eben merklichen Empfindungsunterschiede; denn wäre der eben merkliche Unterschied größer bzw. kleiner als ein anderer, so wäre er [mehr oder weniger]26 merklich, was gegen die Voraussetzung [verstieße]. Folgerung: Wenn sich Empfindungen um ein Merkliches geändert haben, so haben sie sich um gleiche Grade ihrer Stärke verändert. Unter den Methoden, welche gemäß dieser Voraussetzung die Reizgrößen mit den Größen der eben merklichen Empfindung verglichen, war die zuerst ausgebildete, von Weber angewandte, die direkte Methode oder die der eben merklichen Unterschiede. Indem man die Reizstärke steigert und, wo ein eben merklicher Empfindungszuwachs eintritt, abmißt, erhält man für eben merkliche Empfindungsunterschiede entsprechende Reizwerte. So bei Druckempfindung, Licht-, Schall-, Temperaturempfindung. Formeln des Gesetzes: l ) D e r Zuwachs des Reizes, welcher eine eben merkliche Änderung der Empfindung bewirkt, steht zu der Reizgröße, zu welcher er hinzukommt, stets in demselben Verhältnis. 2) Wenn die Intensität der Empfindung um gleiche absolute Größen zunimmt, so muß der relative Reizzuwachs konstant bleiben. 3) Ein Unterschied zweier Reize wird als konstant empfunden, wenn das Verhältnis derselben unverändert bleibt. Mathematische Formel: C = log. V. Empfindung = C, Reiz = V17
§ 18. Qualität der Empfindung - Theorie der Sinnesenergie Empfindungen teilen sich nach ihren Qualitäten in zwei Klassen: 1) die qualitativ einförmigen Empfindungen, welche nur eine Analogie in Intensitätsunterschieden enthalten. Sie sind verschieden nach den Organen, innerhalb eines jeden Organs aber gleichförmig. Zu ihnen gehören die Innervationsgefühle der Muskeln; dann jene Muskelgefühle im engeren Sinne, welche Zustände, wie Ermüdung, bezeichnen; endlich gehört der fünfte Sinn, sowohl mit seinem Vermögen, Druckempfindung zu unterscheiden, als mit dem, Wärme- und Kältegrade aufzufassen, zu dieser Klasse. [2)] Die zweite Klasse der Empfindung wird gebildet durch die vier Sinne, die vermöge künstlicher Endapparate jeder einen ganzen Kreis von Qualitäten umspannt; die vier Spezialsinne, und zwar enthalten zwei von diesen eine Mannigfaltigkeit von Qualitäten ohne innere Abstufung und Beziehung einer Qualität auf die andere: Geschmack und Geruch. Die beiden anderen stellen
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sich als abgestuftes Kontinuum von Empfindungen dar, deren stetige Mannigfaltigkeit im Sinne des Gehörs eine scheinbar grenzenlose Reihe bildet, in dem höchsten Sinne des Gesichts dagegen den in sich zurückkehrenden Farbenkreis. Denn die beiden Enden der Farbenreihe, welche durch die Zerlegung des weißen Lichtes im Prisma entsteht, rot und violett, schließen sich durch die Ubergangsfarbe des Purpur wieder zusammen. Der Farbenkreis selbst wird gebildet durch rot, als das Licht schwächster Brechung, größter Wellenlänge, orange, gelb, grün, blau, indigo und violett. Als Hauptfarben heben sich in diesem Kreis durch bestimmte Qualitäten voneinander ab: rot, gelb, grün, blau, für welche gleichförmig die verschiedenen Sprachen besondere Namen haben. Komplementär heißen in diesem Kreis diejenigen Farben, welche sich zu weiß ergänzen, wie rot: grünblau, orange: blau, gelb: indigoblau, grün-gelb: violett. Diese Qualitätenkreise bezeichnet die Physiologie seit Joh. Müller als Energie der Sinne. Spezielle Physiologie Buch V 28 entwirft die folgende Theorie der Sinnesenergie: 1) Wir können keine Arten des Empfindens durch äußere Ursachen haben, welche wir nicht auch ohne solche durch Empfindungen der Zustände unserer Nerven haben. 2) Dieselbe innere Ursache ruft in verschiedenen Sinnen verschiedene Empfindungen hervor. 3) Dieselbe äußere Ursache ruft die verschiedenen Empfindungen hervor, welche das Empfindbare des bestimmten Sinnesnerven ausmacht. Schluß aus diesen Tatsachen: Die Sinnesempfindung ist nicht Leitung einer Qualität oder eines Zustandes der äußeren Körper zum Bewußtsein, sondern die Leitung des Zustandes eines Sinnesnerven zum Bewußtsein, und diese Zustände des Bewußtseins, welche die verschiedenen Sinnesnerven anzuregen imstande sind, sind in sich verschieden. Demgemäß bestätigt dieser Kreis von Tatsachen die Theorie Kants von der Subjektivität aller Erscheinungen des äußeren Sinnes, welche sich aus Empfindungen zusammensetzen. Diese aber sind Zustände des einzelnen Sinnes gemäß der ihm eigenen Energie. -
§ 1 9 . Der Gesichtssinn Die Erscheinungen des Gesichtssinns beweisen, daß die Lichtempfindungen nicht bloß eine Funktion des objektiven Lichtes, sondern auch des jeweiligen Zustandes der Netzhaut sind. Zunächst können einfache und gemischte Lichtempfindungen auch durch Druck und inneren Reiz entstehen. Dann dauert der durch einen objektiven Reiz veränderte Zustand des Gesichtssinnes, auch nachdem der Lichtreiz lange vorüber, fort, und solange er dauert, währt mit ihm die Empfindung. Dies beweist die Erscheinung der positiven Nachbilder; äußeres Licht, welches mit konstanter Stärke die Netzhaut trifft, bringt eine
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immer schwächer werdende Erregung hervor; die frühere Erregung bedingt ein verschiedenes Verhältnis der Netzhautteile in bezug auf Ermüdung, welche das Bild beeinflußt: negative Nachbilder, farbige Nachbilder, z . B . ein rotes Papierstückchen auf grauem Grunde bringt ein Nachbild in komplementärem Blau hervor. Die wichtigste Erscheinung liegt in dem Phänomen des simultanen Kontrastes. Farbige Schatten, z . B . der Doppelschatten eines Gegenstandes bei Tages- und Kerzenlicht. Verschiedene Erklärung des Phänomens: bei Helmholtz durch ein Schlußverfahren, bei Wundt durch die Beziehung der gleichzeitigen Reize auf der Netzhaut, durch welche erst die Lichtempfindung festgestellt wird. Verschiedene ästhetische Wirkung der Farben, bei Goethe zuerst geschildert. Gesetze des Zusammenwirkens von Farben und der so entstehenden ästhetischen Wirkungen. Komplementärfarben ergänzen sich harmonisch. Neben den Wahrnehmungen subjektive Gesichtserscheinung: Goethe, Tieck, Otto Ludwig. Sie sind Fälle produktiver Phantasie; ihr Erklärungsgrund liegt darin, daß Wahrnehmungen nie einfach reproduziert werden, sondern unter den neuen Bedingungen des Bewußtseins neu gebildet [werden]. Das Residuum einer Wahrnehmung enthält in der Regel mehr als die reproduzierte Vorstellung, und zwar wird nach den Bedingungen des Bewußtseins die Auswahl und Umgestaltung der Züge eintreten, so daß jede Reproduktion zugleich Metamorphose ist. §20. Die übrigen Sinne (Kein Diktat)
[IV. A B S C H N I T T : ] Die Psychologie und die Wissenschaften der Kultur §21. Allgemeine Vorbemerkungen: die psychologischen Gesetze und der Gehalt der Seele Den Gegenstand der Psychologie bildet zuerst die Unterscheidung der Tätigkeitsweisen, welchen wir zwar nicht Kräfte substituieren dürfen, die sich aber, als Klassen von Wirkungen betrachtet, deutlich voneinander abheben. Alsdann die Gesetze dieser Tätigkeitsweisen und ihres Zusammenwirkens und die einzelnen Klassen der Vorstellungen, Gefühle und Willenstatsachen, welche so festgestellt werden können. Doch ist hiermit das Studium der menschlichen
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Seele nicht erschöpft, denn die psychischen Inhalte werden nicht erklärt, indem man psychische Verfahrungsweisen und ihre Gesetze feststellt. Diese Inhalte bilden gegenwärtig den Gegenstand der Ästhetik, Logik, Ethik, des Naturrechts und der Politik. Die Frage ist, welches das Verhältnis der von diesen Wissenschaften untersuchten Inhalte zu dem bisher Entwickelten sei. Der Idealismus entwickelt diese Inhalte als den unabhängigen Gehalt der menschlichen Seele, der Empirismus läßt sie aus dem Zusammenwirken der bisher entwickelten psychischen Gesetze mit den Tatsachen der Natur und der Gesellschaft entstehen. Für den Idealismus kommt in diesen Inhalten die wahre Natur des Menschen zur Erscheinung, für den Empirismus reflektiert sich in diesen Inhalten Natur und Gesellschaft in dem menschlichen Bewußtsein. Die vollkommenste Gestalt empfing der Idealismus durch die drei großen Kritiken Kants, welche aus den Merkmalen des Wahren, Schönen und Guten die Unabhängigkeit dieser großen Tatsachen von der Erfahrung, ihre apriorische Grundlage in der menschlichen Natur entwickelten. Den Weg Kants verfolgten in freierer Erfassung dieser Inhalte, aber in geringerer logischer Strenge der Beweisführung: Fichte, Schelling, Hegel, Schleiermacher. Lotzes Mikrokosmus 2 9 macht den Versuch, ausgehend vom Zweifel gegen Kants Methode, die tiefsten Antriebe unserer Natur an den großen Erfolgen, welche sie im Ganzen der menschlichen Bildung hervorgebracht, zu studieren. Auf diesem Standpunkt empfängt die Psychologie ihre notwendige Ergänzung in der Psychologie der Geschichte. Dagegen ward der Empirismus ausgebildet durch Locke, Hume, J. St. Mill und Bain. Diese englischen Denker versuchten, aus den Gesetzen der Assoziation und anderen Gesetzen der Abfolge, der Koexistenz von Vorstellungen die Ideen des Wahren, Guten und Schönen, die ideale Welt der Menschheit vermöge der Wirkungen von Natur und Gesellschaft abzuleiten. Hier wurde das Sittliche zu einem Produkt der Gesellschaft; aus dem Urteil der Gesellschaft über Handlungen soll Pflicht, Pflichtgefühl und Sittengesetz entspringen. Beide Standpunkte haben nicht vermocht, den Nachweis ihrer Notwendigkeit zu führen; dagegen, wenn man die willkürlichen Grenzen der Geisteswissenschaften untereinander den Gang der Forschung nicht hindern läßt, so stellt sich der folgende Zusammenhang von Tatsachen dar: Ein jeder psychische Inhalt oder jede Gliederung mehrerer psychischer Inhalte bildet eine Tatsache der Kultur. Die Koexistenz und Sukzession aller dieser Tatsachen macht die Geschichte aus. Die Geschichte selber gliedert sich von den Grundlagen der vergleichenden Anthropologie und Ethnologie aus, von einfachsten Zuständen schreitet sie zu immer komplizierteren. Die Frage nach dem Wesen und Ursprung der psychischen Inhalte hat also zur Voraussetzung ihrer Lösung die [ ]. 30
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Diese Gliederung muß nach einer doppelten Methode studiert werden. Ausgeschlossen ist, was als Philosophie der Geschichte lange gepriesen worden ist: Unterwerfung der Gliederung der Geschichte unter gewisse, allgemeinste Gesichtspunkte. Solche allgemeinsten Gesichtspunkte können weder aus Metaphysik und Naturphilosophie deduziert werden, noch können sie aus den Tatsachen selber abgeleitet werden. Allgemeinste Begriffe und Gesetze zur Erklärung aller Erscheinungen der Kultur können wir etwa am Schluß derjenigen wissenschaftlichen Bewegung erwarten, in deren Anfang wir heute erst begriffen sind. Zwei Methoden ergänzen einander im Studium der menschlichen Kultur. Die eine ist, wenn auch unvollkommen, in Logik, Ästhetik, Ethik, Politik, Naturrecht entwickelt. Diese Wissenschaften bilden als ein Ganzes die Wissenschaften der menschlichen Kultur, und jeder dieser Zweige hat zu seiner deduktiven Voraussetzung die Psychologie, zu seiner Erfahrungsgrundlage die gesamte Entwicklung des Zweiges der Kultur, dessen Theorie er ist. - Die andere Methode versucht zwischen Tatsachen der Kultur Kausalbeziehungen festzustellen und Gleichförmigkeit auf induktivem Wege. Eine solche Arbeit kann nicht als Philosophie der Geschichte für den Inbegriff aller Tatsachen der Kultur geleistet werden, sondern nur für einzelne Gruppen. Die Anwendung dieser beiden Methoden wird schließlich eine Entscheidung zwischen Empirismus und Idealismus herbeiführen, die wahrscheinlich weder den einen noch den anderen Standpunkt ganz rechtfertigen wird. Gegenwärtig ist eine solche Entscheidung nicht Gegenstand der Wissenschaft, sondern allein der persönlichen Uberzeugung.
§ 22. Gliederung der Wissenschaften der Kultur (Kein Diktat)
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[I. ABSCHNITT:] § 1. Stellung der Anthropologie und Psychologie im Zusammenhange der Erfahrungswissenschaften Nur die psychischen Vorgänge sind das, was wir als „an sich" sich so verhaltend auffassen können und nicht nur als phänomenal. Aber nicht darauf allein beruht das große Interesse, das wir an den psychischen Vorgängen nehmen, sondern vornehmlich an der Sympathie für das Menschliche. Wesen des Dichters, des Historikers. Psychologie ist das Bestreben, zwischen den mannigfachen psychischen Tatsachen einen Zusammenhang zu bringen. Die Gesetze gezogen aus jenen Tatsachen, welche die Gleichförmigkeiten der psychologischen Tatsachen darstellen - diese Gesetze festzustellen, ist noch nicht das letzte Ziel der Psychologie, sondern den Zusammenhang zwischen allen psychischen Tatsachen festzustellen ist ihr Hauptziel. Eine streng wissenschaftliche Psychologie gibt es zur Zeit noch nicht. Grund: weil sowohl deduktive als experimentelle Behandlung bislang fehlten, welche ζ. B. bei der Mechanik in Anwendung kam und sie zu einer realen [?] Wissenschaft gestaltete. Schon Bacon: die Erkenntnis des Gesetzes (Wissen) ist Macht für den Menschen.
Gegenstand der Psychologie sind die inneren Zustände des Menschen, die Ereignisse, das Geschehen in ihm: Diese Vorgänge und Zustände in dem Menschen bilden ein geistiges Reich, an welchem wir ein höheres Interesse haben. Gegeben sind diese Tatsachen auf dreifache Weise: Wir erfahren, indem wir uns selbst beobachten, nämlich die Vorgänge und Zustände in uns selbst; alsdann nehmen wir vermittelst unserer Sinne Körper außer uns wahr und unter ihnen solche, deren Erscheinungen und Bewegungsweisen den unsrigen ähnlich sind; endlich vermöge der Analogie erschließen wir ein geistiges Leben, das analog dem unseren den Bewegungsvorgängen entspräche. So erweitern wir den Horizont unserer persönlichen Erfahrung. Endlich reichen Wort und Schrift und Überlieferung weit hinaus über die Grenzen dessen, was uns selbst zu erfahren gestattet ist. Eine lange Reihe von Generationen drängt sich uns im Verlauf der Geschichte auf; was örtlich und zeitlich unserer Wahrnehmung entzogen ist, dessen Kunde wird uns vermittelt. So erscheint unser eigenes Leben als ein Glied in der großen Kette der Reihenfolge der Generationen. An der Beobachtung der Entwicklung haftete von [den] Ältesten her ein hohes Interesse. Goethe sagt: „Das höchste Studium des Menschen ist der Mensch." 31 Neger auf der untersten Kulturstufe
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können sich nicht genugtun im Erzählen und Darstellen psychischer Tatsachen und Ereignisse. So breitet sich eine entsprechende Literatur bei allen Völkern aus: Geschichte, Biographie, Menschenkunde, Lebensweisheit - in allen Formen dasselbe, die menschliche Natur. Wenn wir uns fragen, worauf ein so außerordentlich starkes Bedürfnis des Menschen gegründet sei, so tritt uns der große Unterschied derjenigen Tatsachen, die den Menschen betreffen, von denjenigen, die die Natur betreffen, gegenüber. Locke veranschaulicht einmal die Unsicherheit unserer Erkenntnisse durch folgendes: „Erwärmt man die eine Hand und steckt die andere in Schnee, bringt darauf beide in Wasser derselben Temperatur, so wird die eine Hand dasselbe Wasser als kalt [empfinden], die andere warm finden." 3 2 So wenig objektiv sind die Sinneswahrnehmungen. Psychologie ist nicht das Gewahrwerden dessen, was von psychischen Tatsachen sich ereignet, sondern es ist das wissenschaftliche Streben, zwischen diesen Tatsachen einen allgemeinen Zusammenhang zu entdecken. Der erste Schritt aller Psychologie ist, daß Gleichförmigkeit in der Koexistenz geistiger Tatsachen wahrgenommen und aufgestellt werde. Solche Gleichförmigkeiten sind nun zwar der erste Schritt, aber noch keine psychologische Wissenschaft. Sage ich ζ. B., Eindrücke, welche miteinander räumlich verbunden auftraten, reproduzieren einander, so bezeichnet dieser Satz, daß in uns eine gewisse Klasse von Tatsachen mit einer anderen in der Aufeinanderfolge regelmäßig verbunden sei. Aber damit läßt sich die Psychologie noch nicht genügen; dieselbe sucht vielmehr einen Zusammenhang der geistigen Tatsachen, vermöge dessen alle geistigen Tatsachen zu einem wissenschaftlichen Ganzen miteinander verknüpft sind, ein Ziel, welches andere Wissenschaften bereits erreicht haben, für die Psychologie aber nur mit erheblichen Einschränkungen als erreicht betrachtet werden darf. Die Tendenz, das Entwerfen wissenschaftlicher Versuche für Psychologie, ist so alt beinahe als das für irgendeine andere Wissenschaft; aber nur nach ganz bestimmten Gesetzen erreichen die Wissenschaften ein Stadium, in welchem sie den Charakter wirklicher Wissenschaft im Gegensatz zu ihrem früheren Zustande erlangen. Längst bestand die Mathematik als wirkliche Wissenschaft, ehe Archimedes die Mechanik zu einem Teil der Wissenschaft erhob; als dann Galilei die Mechanik zu einer wirklichen Wissenschaft machte, war dies die Vorbedingung dafür, daß auch die erklärende Astronomie zur Wissenschaft wurde. Die Bedingungen sammelten sich dann, vermöge deren die Physik einen wissenschaftlichen Charakter erhielt, ihr folgte erst die Chemie, ihr erst die Wissenschaft des organischen Lebens. Erst aufgrund dieser Wissenschaften konnte die Psychologie aus dem Stadium der Unsicherheit, in welcher sie sich von Aristoteles ab befunden hatte, heraustreten.
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Auch so muß vor dem Aberglauben an die Existenz einer reinen wissenschaftlichen Psychologie gewarnt werden. Die Gründe einer solchen Tatsache liegen darin: Eine strenge Wissenschaft kann nur entstehen von irgendeinem Kreis von Tatsachen, wenn entweder das Experiment uns gestattet, die komplizierten uns vorliegenden Tatsachen in einfache zu zerlegen, oder wenn wir in der Lage sind, eine andere Wissenschaft anzuwenden auf die vorliegenden komplizierten Phänomene. Anwendbarkeit der Mathematik und anderer Wissenschaften hat sich bis jetzt nur auf engen Gebieten der Psychologie herausgestellt; ebenso ist es bei Experimenten. So ist die Psychologie darauf angewiesen, sich diejenigen Vorteile zunutze zu machen, welche ihr eigentümlich sind. Bacon sprach einmal den Satz aus: „Wissen ist Macht." 3 3 Er erkannte nur diejenige Wissenschaft als wirkliches Wissen an, welche Macht verleiht. Wenn ich ein Gesetz erkannt habe und wenn alsdann hinzukommt, daß ich an den Faktoren, um welche es sich handelt, etwas abzuändern in der Lage bin, so komme ich dazu, durch Veränderung der Bedingungen die Folgen zu ändern. Bin ich aber nicht in der Lage, die Antezedentien zu ändern und auf diese Weise eine Wirkung für die Folge hervorzubringen, dann kann ich wenigstens durch die Erkenntnis mein Verhalten ändern. Erkenne ich die Ursachen einer bestimmten Krankheit, so kann ich diese vermeiden. Wenn ich auch nicht imstande bin, den Wind willkürlich zur Ruhe zu verweisen, so kann doch die Meteorologie praktisch für mich werden, indem ich mich dem bekannten Gesetz der Winde akkomodiere. Und so kann ich allgemein sagen, die Erkenntnis eines Gesetzes ist unter allen Umständen eine Macht für den Menschen, gleichviel ob ich Bedingungen abändern kann, um Folgen hervorzubringen, oder ob ich nur im Erkenntnisprozeß eine Stellung dazu nehmen kann. Und die Erkenntnis der Gesetze macht den Menschen zum Herrscher über die Erde. Uber die Natur haben wir eine immer wachsende Herrschaft erlangt, Schritt für Schritt haben wir gelernt, Bedingungen hervorzurufen, um Folgen zu erzielen. Aber die europäische Zivilisation hat eine furchtbare Erfahrung gemacht, sie erfuhr, daß das Glück des Menschen keineswegs mit dem Wachstum der Mittel gleichen Schritt gehe; wir sahen uns plötzlich von den Bewegungen der Gesellschaft erfaßt, und kein Gesetz gab uns Auskunft über die Ursachen, welche die furchtbare Erregung im Leben der Gesellschaft erzeugt haben und zu erzeugen fortfahren. Wie die Mittel des Wohlbefindens sich steigerten, so wuchs die Jagd nach dem äußeren Besitz, und weit entfernt, daß die Menschen sich glücklich fühlten, griff ein allgemeines pessimistisches Gefühl um sich wie noch zu keiner anderen Zeit. Das sind Bedingungen, die uns zur Besinnung mahnen. Umstände, die es uns verdeutlichen: Die Wissenschaften des Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte können allein uns dasjenige leisten
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für B e h e r r s c h u n g u n d L e i t u n g der gesellschaftlichen Z u s t ä n d e , w a s die N a t u r wissenschaften uns z u leisten beginnen für unsere Stellung in d e r N a t u r . W e n n die sozialen W i s s e n s c h a f t e n ebenfalls die G e s e t z e e n t w i c k e l t [haben], n a c h w e l c h e n die E r e i g n i s s e v o r sich gehen, n u r d a n n k ö n n e n w i r hoffen, jene f u r c h t b a r e n S t ü r m e z u v e r m e i d e n , die jetzt zeitweise die Welt ergreifen, jene allgemein pessimistische S t i m m u n g z u z e r s t ö r e n . So erklärt sich die W i c h t i g keit der P s y c h o l o g i e .
§ 2 . D i e M e t h o d e der P s y c h o l o g i e Deduktive Methode beruht auf Ableitung der Tatsachen von gewissen wahren Fundamentalsätzen, in Ubereinstimmung mit gewissen Tatsachen der Erfahrung. Bis auf die neuere Zeit für die Psychologie maßgebend gewesen. Prof. Dilthey warnt, daß die Psychologie [nur] auf rein empirischem Wege zu erforschen [sei]; metaphysische Fundamentalsätze in der Regel strittig. Es ist nicht nötig einen Mittelweg zu suchen, wie die Herbartsche Schule, z . B . Annahme von Seelensubstanz. - Es kann nur eine induktive Psychologie [geben]; es ist davon zu sondern die für sich wohl zu rechtfertigende metaphysische Forschung. N u r die Mischung beider Gebiete ist zu verwerfen. Mittel zur Erkenntnis psychischer Tatsachen: 1) Wahrnehmen der inneren Tatsachen der Seele. Philosophie überhaupt ist die Besinnung über das, was sich im Inneren begegnet, jene Besinnlichkeit [?], die nicht im Leben aufgeht, sondern einen Uberschuß behält und im Bewußtsein über das Leben lebt = philosophisches Bewußtsein. Wieweit reicht dieses Mittel? Es gibt eine Beobachtung der äußeren Natur. Selbstbeobachtung, d. h. Gewahrwerden des eigenen Zustandes. Schon Mill hat festgestellt, daß eine solche Selbstbeobachtung gar nicht vorkommt. Sondern es ist nichts anderes als entweder ein Gewahrwerden des inneren Zustandes ohne Absicht oder eine Erinnerung des bereits geschwundenen Zustandes. Denn sowie ich mich jetzt beobachten will, so ist bereits ein anderer Zustand, der meiner Selbstbeobachtung, vorhanden. Eine anhaltende Beobachtung unseres gegenwärtigen Zustandes kommt nicht vor, es muß das Erinnerungsvermögen zu Hilfe kommen. Es gibt eine moralische und eine psychologische Selbstbeobachtung:
jene wirkt
erschütternd.
(Haller) 3 4 [2)] Es ist nötig, daß man die Gesellschaft, die Geschichte bei der Beobachtung der psychischen Prozesse zu Rate ziehe. Wir pflegen bestimmte äußere Zeichen: unsere Mienen [?], zurückzuführen auf bestimmte psychische Zustände, die wir mit jenen in der Regel verknüpft wahrnehmen. Es ist die Aufgabe der Kunst, in der körperlichen Gestalt das Innere zu charakterisieren. Es ist eine gegenseitige Verständigung möglich, weil die Menschen untereinander wesensverwandt sind. D o c h darf die Konvention uns nicht verleiten, auch da Gleichheit zu finden, w o tatsächlich Verschiedenheit vorhanden ist. - Sehr wichtig sind die Beobachtungen anderer über sich selbst. Die Selbstbiographie von Philipp Moritz ist vorzüglich. Dagegen die von Rousseau nicht frei vom
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Theatralischen, Affektierten. Die Selbstbiographie Pascals in den Pensees gut. - Viel niedriger stehen die Beobachtungen und Darstellungen über andere. Dagegen sind literarische Erzeugnisse unzweifelhafte Zeugnisse von dem Charakter ihres Erzeugers. Damit sind die Hilfsmittel zur psychologischen Forschung beinahe erschöpft. [3)] Es gibt jedoch noch ein [ . . . ] Mittel, um unsere psychologische Erkenntnis deutlicher zu machen, auf zweierlei A r t : 1) Beobachtung am Leben des Kindes, namentlich [?] in neuerer Zeit beliebt, so Darwin, Taine, etc. Die Analogie der Kinder mit Völkern niedriger Kultur absurd. Die Kinder und das Leben von Völkern niedriger Kultur haben für die Psychologie in neuerer Zeit die Engländer zu verwerten gesucht. [2)] Eine niedrigere Stufe der Beobachtung ist die von Menschen, denen ein Sinn fehlt. Condillac. Menschen nur mit Geruchs-, Tast- und Geschmackssinn sind fast gleich den Tieren. Jessen über Geistesgestörte. 3 5 Aus den Tieren machten schon Descartianer einen Gegenstand der Psychologie. Wieder ein besonderer Fall sind diejenigen, in welchen eine geistige Seite ganz in hervorragender Ausbildung sich zeigt.
Über Methoden Ein jedes deduktives Verfahren ist abzuweisen, welches über die Natur des Weltalls, über die Natur der menschlichen Seele und die psychischen Vorgänge Aufschluß geben will. Die Aufklärung empfangen wir nicht aus metaphysischen Prämissen. Auch verwerfen wir jedes Verfahren, welches, wie das von Herbart, unter dem Vorwand einer induktiven Methode und eines analytischen Verfahrens metaphysische Theorien einschmuggelt. Denn aus seinem Begriffe der psychischen Substanz schließt die ganze Herbartsche Schule ihre Grundauffassung von lauter psychischen Elementen. Ja, wir verwerfen auch eine jede trügerische Akkomodation und Aneignung dessen, was in die gegenwärtige Psychologie aus den früheren metaphysischen Theorien mit hinübergenommen worden ist, und dessen ist nicht wenig. Was wir also suchen, ist eine von jeder Voraussetzung freie, eine von aller früheren Metaphysik unbeeinflußte Erörterung der psychischen Prozesse. Wir studieren die Vorgänge in uns selbst, wir beobachten sie. Diese Erfahrungsweisen unterwerfen wir der Kritik. Beobachten heißt: seine Aufmerksamkeit absichtlich hinrichten auf ein zu untersuchendes Objekt; dies soll ein psychischer Zustand sein. Nun ist aber Beobachten selbst ein psychischer Zustand; sobald ich also in den letzteren Zustand eintrete, verlasse ich den vorhergehenden Zustand. Sobald ich eine Träumerei zum Gegenstand meiner absichtlichen Aufmerksamkeit mache, so endigt jener Zustand, und ein anderer beginnt. Hieraus ergibt sich, daß der zu beobachtende Gegenstand nicht standhält. N u r die Erinnerung, das Gedächtnis des Zustandes ist zu beobachten. Das Gewahrwerden eines Gegenstandes, der Gegenstand und seine Erinnerung stehen ziemlich weit voneinander ab; aber in bezug auf psychische
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Zustände ist die Differenz eine erheblich geringere, die Auffassung derselben eine vielfach schwierigere. Deshalb ist keine Täuschung in dieser Beziehung so sehr leicht möglich gewesen. Also ein Gewahrwerden, ein zufälliges Erblicken unserer Zustände ist die eine Form von Auffassung, die Beobachtung die andere Form. Von der Beobachtung unserer selbst wenden wir uns der Aufgabe des Gewahrwerdens der Zustände anderer zu. Auch hier muß zunächst vor einer Uberschätzung des zunächst zu Erreichenden gewarnt werden. Der logische Vorgang, durch den man erkennt, ist ein Vorgang der Analogie. Es verknüpft sich in ihm mit den Bildern der Vorgänge die Bilderreihe von äußeren Bewegungen und Lauten. Man ist gewohnt, bei einem bestimmten Willensimpuls einen Bewegungsvorgang vorzunehmen, bei einem bestimmten Vorgange zu lachen, bei einem anderen in Schmerz auszubrechen usw. Ja, wir sind gewohnt, uns selbst von bestimmt wiederkehrenden Veränderungen unserer Gefühlszustände Rechenschaft zu geben. Wenn man jemanden in Tränen ausbrechen sieht, so wird bei uns derjenige psychische Zustand reproduziert und bei anderen vorausgesetzt, welcher bei uns den betreffenden Zustand verursachen würde; so erblicken wir wie durch eine körperliche Hülle in den Lauten anderer Individuen innere Zustände: Es ist die Aufgabe des Kunstwerkes, den geistigen Zustand durch den Körper durchblicken zu lassen, und wir sind es gewohnt, wenn wir unter anderen leben, gewissermaßen durchzudringen durch das Zeichen zu dem, dessen Zeichen es ist. Während wir das sichtbare Zeichen übersehen, lesen wir in den Mienen und in der Gebärde anderer und legen ihre Worte aus, wir lesen in ihren Handlungen und entwerfen uns ein Bild des inneren Lebens, welches diesen körperlichen Äußerungen zugrunde liegt. Daß eine solche Verständigung möglich ist, beweist, daß wir alle Glieder derselben Gattung, des Menschen sind. Denn gesetzt, wir wären außerordentlich verschieden in allen wesenhaften elementaren Vorgängen, alsdann würde die Möglichkeit eines so in das Feinste und Einzelnste gehenden Verständnisses schwinden. Weil wir in so hohem Grade einander verstehen, müssen wir in so hohem Grade einander verwandt sein. Doch darf man dies in der Vorstellung nicht überschätzen. Wenn man die Vorübergehenden mustert, so hat man den Eindruck, als ob sie alle in ruhigem Zustande vorübergingen; man gewahrt nicht, welche heftigen Affekte in ihnen toben, und wenn man gesellschaftlich mit ihnen verkehrt, so bleibt der Eindruck derselbe, so daß der schlechte Beobachter meint, die Menschen seien im höchsten Grade ähnlich. Der Grund liegt darin, daß wir unsere Zustände verbergen vor denjenigen, mit denen wir nicht bis zu einem gewissen Grade befreundet sind. Es ist nicht ratsam, das Spiel der Affekte sichtbar zu machen.
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N u r große, stolze Naturen geben sich, wie sie sind, ohne die Absicht, durch die konventionelle Hülle einer Durchschnittssitte sich anderen zu nähern und sich ihnen möglichst gleich zu machen. Der Mensch, durch die Sitte angepaßt den anderen, hat doch immerhin gewisse Differenzen in bezug auf Stärke und Art und Weise seiner psychischen Richtung. Bei dem allen muß aber immer bedacht werden, daß für nicht wenige die Sprache dazu da ist, ihre Gedanken zu verbergen, so daß ein Schluß aus der Weise, wie die Menschen sich im Leben und in den Gebärden geben, ein sehr unzureichender ist, ja daß sie sich selbst in ihren Handlungen der Gesellschaft akkomodieren. Denn nicht darum handeln die meisten Menschen so, wie sie es tun, weil sie sich dazu gedrängt fühlen, sondern weil sonst ein herbes Urteil der Gesellschaft sie treffen würde. Wäre einmal diese Gewalt von der Gesellschaft hinweggenommen, so würde das sich bietende Schauspiel sehr abweichend sein von der Vorstellung derer, die sich ein allgemeines gleichmäßiges und biederes Betragen der Menschen denken. Es gibt ein weiteres Mittel, uns der Kenntnis der menschlichen Natur zu nähern: in den Darstellungen anderer. Wir beobachten uns selbst und andere, und wir nehmen auf die Beobachtungen anderer über sich selbst. Solche Beobachtungen sind uns in mancherlei Form überliefert. Immer noch nicht genug ist es anerkannt, von welcher Bedeutung die Mitteilung anderer über ihre Zustände ist. In den meisten Fällen läuft etwas Theatralisches hier unter. Mögen wir die „Bekenntnisse" Augustins lesen, so sind das Schriften, in denen es ohne ein gewisses Theater nicht abgeht. Daher würde man ein objektives Bild daraus [nicht] herübernehmen können. [Karl] Phil. Moritz hat im „Anton Reiser" eine vorzügliche Selbstbiographie geschrieben. Er war ein Freund von Goethe. Gerade in den Betrachtungen ganz aufrichtiger Forscher über sich selbst finden wir überall wichtige Aufschlüsse über das Innere derselben. In erster Linie ist natürlich zu verweisen auf die „Pensees" von Pascal. Dort hat er uns eine Fülle der tiefsten Betrachtungen über die Vorgänge in uns selber gemacht. Wir sinken sozusagen eine Stufe tiefer, indem wir uns begeben zu den Vorstellungen anderer über uns. Die Auffassung anderer Individuen über die Menschen, die ihnen nahegetreten sind, ist natürlich etwas sehr Ungewisses. Das beste Urteil gewinnt man aus den schriftlichen Werken eines Menschen. Was in ihm ist und nicht ist, das kommt klar zutage in dem, was er sagt. Damit sind wir bereits zu dem umfassenden Hilfsmittel gelangt, welches in der Geschichte liegt, ein Hilfsmittel, das von der äußersten Wichtigkeit ist, da es uns die Mannigfaltigkeit menschlicher Erscheinungen sichtbar macht. Da möchte man freilich an der Hand solcher Hilfsmittel die letzte und größte Frage sich lösen; daß wir mit allen diesen Hilfsmitteln doch im Grunde nicht imstande
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sind, das ganze Innere der Menschen vergangener Zeit zu erforschen, wird auf folgende Weise sichtbar: Solange Briefe, Literatur da sind, können wir wohl sagen, wir kennen die Menschen; wo aber bloße Tradition beginnt, bloßes Kennen eines Menschen, der über ihn geschrieben, da endet für uns alle wertvolle Beurteilung. Sind wir doch nicht imstande, die Frage zu entscheiden, in welchem Umfang die Menschen der früheren Zeit denen der gegenwärtigen gleichkommen. Eine Lieblingsbeschäftigung der Dichter ist der historische Roman. Seitdem diese Schriftsteller auftreten, glaubte das Publikum, in das Innere vergangener Zeiten hineinblicken zu können, und doch, welcher Täuschung gibt man sich in dieser Beziehung hin. Scheffel geht ζ. B. von der Annahme aus, die Menschen seien sich stets in Hauptsachen gleich gewesen. Freytag geht von der entgegengesetzten Ansicht aus; er glaubt, es sei damals eine religiöse Gewalt in den Gemütern vorhanden gewesen, die jetzt abhanden gekommen sei. Wir sind also selbst für Zeiten, wie das spätere Mittelalter, trotz Briefen nicht imstande, die Frage nach der Eigenschaft der Menschen zu lösen. Es sind eben zu wenig Briefe vorhanden. Es gibt nun zwei Zustände: Die Kinder zeigen ein Stadium, in welchem die Erfahrungen eingeschränkt sind und in welchem auch andere Bedingungen wesentliche Abweichungen zeigen, weshalb man auch auf Beschreibung des an Kindern Erfahrenen zurückkommt. So hat ein deutscher Arzt in Straßburg Versuche an Neugeborenen veröffentlicht, welchen sich eine ganze Reihe ähnlicher Arbeiten angeschlossen hat. Mit Kindern hat man oft in bezug auf ihre Kulturstufe verglichen die Völker auf der niedersten Stufe - ein nichtssagender Vergleich. Die Völker niederer Kulturstufen sind auch erst seit dem vorigen Jahrhundert einigermaßen eingehenden Untersuchungen unterworfen worden. Wenn man Rousseaus Schriften über den Naturzustand der Menschen liest, so glaubt man kaum, welche lächerlichen Vorstellungen damals noch in Europa verbreitet waren. Die Erfahrung hat uns gerade vom Gegenteil überzeugt. Besonders die Engländer haben neuerdings begonnen, dies Material für die Psychologie fruchtbar zu machen. Wir gehen wieder eine Stufe abwärts. Es gibt Beobachtungen, welche für die Untersuchungen von elementaren Prozessen besonders wichtig sind: die Beobachtungen an Menschen, welche einzelner oder mehrerer Sinnesorgane beraubt sind, andererseits an Blödsinnigen und Wahnsinnigen. Condillac in seinen psychologischen Untersuchungen geht davon aus: „Ich stelle mir eine Statue vor, gebe ihr erst einen Sinn, dann einen zweiten usw., und so bekomme ich allmählich ein psychisches Wesen." 3 6 Alsdann sind es die Blindgeborenen und Taubstummen, welche vielfach Gegenstand psychologischer Analyse geworden sind; endlich die geistig Gestörten. Cf. die Psychologie des berühmten Griesinger, 37 schätzbar auch die
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Psychologie des Irrenarztes Jessen. 38 Das sind die herabgeminderten Zustände, die uns schließlich auf das Leben der Tiere führen, welches ebenfalls im vorigen Jahrhundert näher untersucht worden ist. Aber schon unter Descartes studierte man die Tiere; und obgleich dieser Teil der Psychologie noch nicht geruht hat, gibt es doch noch keine genügende Arbeit darüber. -
§ 3 . Geschichte der Psychologie und ihrer Literatur Carus, Geschichte der Psychologie 1808: Auszüge aus vielen Schriften, 3 9 ohne echten wissenschaftlichen Sinn. Lange, Geschichte des Materialismus.' 1 0 In den ältesten Zeiten keine abgesonderte Psychologie. D i e Ionier handeln περί φύσεως, in die auch psychologische Betrachtungen eingeflochten erscheinen. Von einer Seele in unserem Sinn, abgesondert von dem Körper, haben jene Zeiten keine Ahnung. Erst allmählich hat sich ihr Begriff ausgebildet. D i e Seele ist Feuer, das Trockenste ist das Weiseste. So zuerst Heraklit. Ähnlich Parmenides. D e r Vorgang des D e n k e n s nach ihm ebenso in physischer Weise zu denken wie das Wahrnehmen. Vermittelt durch das Blut. D e m o k r i t : je zwischen zwei K ö r p e r a t o m e n ein seelisches A t o m , ähnlich der Feuerglut, beweglich; dergleichen A t o m e strömen durch das A t m e n in uns ein, w o durch das L e b e n erhalten wird. Das Problem ist noch nicht da. Diese K ö r p e r und Seele nicht sondernde Vorstellungsweise existierte bis etwa Sokrates. D i e Wendung begann schon ζ. Z. der Sophisten, die sich bereits mit Dingen und Tatsachen beschäftigten, die unabhängig erscheinen von rein Körperlichem, ζ. B . R h e t o r i k , Tugend, politische Erscheinungen. Bei Aristoteles trat die Trennung am Ausgebildesten auf. Indes blieb das Interesse seit Sokrates bis zum 18. Jahrhundert an der N a t u r der Seele lediglich ein metaphysisches, im H i n b l i c k auf ihre Sonderexistenz in einer intelligiblen Welt. D e r Dualismus G e i s t - K ö r p e r beginnt mit Anaxagoras. E r Schloß: Ich finde B e wegungsvorgänge, ich m u ß Ursache derselben annehmen [?]. Allein die Materie ruht. Werfe ich einen Stein, so dauert seine Bewegung nur eine Zeit lang. A l s o kann die U r s a c h e 4 1 der Bewegung der Materie nicht immanent sein. Ich m u ß also die Ursache außerhalb der Materie ansetzen. Diese Bewegung geschieht aber zweckmäßig, nach Vernunftgesetzen - also existiert außerhalb der Materie Etwas, was vernünftig die Materie regiert. U n d auch in den Menschen ist gleichsam ein abgerissenes Stück von jenem Etwas, als Prinzip seiner Bewegung, der νοϋς. D a m i t beginnt die europäische Metaphysik. Diesen Grundgedanken nämlich nahmen Piaton und Aristoteles an. D e r Phaedon blieb das G r u n d b u c h aller metaphysischen Betrachtung der menschlichen Seele - Mendelssohn: „Alle ursprüngliche B e w e gung aus sich selbst geht von einer Seele a u s " ; 4 2 d . i . der Grundgedanke des Phaedon. Alles Materielle an sich ist tot. W o Bewegung, da Äußerung eines Geistigen. Dieses Geistige hat Verwandtschaft mit der Idee. Diesen Grundgedanken umgaben die m y t h i schen Vorstellungen von Präexistenz, Wanderung etc. der Seele. E s wird die Frage
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aufgeworfen, ob Piaton die Fortdauer der Seele philosophisch vertrat oder nur mythisch. Er glaubte gewiß an dieselbe, denn das Geistige kann nicht vergehen; ob aber aus seiner Philosophie folgend, daß die Seele nicht nur fortexistiere, sondern auch für sich persönlich fortexistiere, bei Piaton kein Aufschluß. Nach Aristoteles ist in den Menschen von außen θ ύ ρ α θ ε ν der νοϋς eingedrungen, ihn belebend. Indes ist bei Aristoteles für die Psychologie auch schon eine Erfahrungsgrundlage anzutreffen in seinem Buche περί ψυχής. Die Gründe für die Annahme einer Unsterblichkeit der Seele - die mächtigsten: ethische oder religiöse. Schon Piaton nahm an, was als ein Gut sich herausgebildet hat, kann nicht untergehen; so auch Goethe in seinen späteren Jahren. Alle Vorstellungen in uns sind begleitet von der Einheit des Bewußtseins; was aber nur in Einheit existieren kann, ist einfach, also unzerlegbar, also unsterblich. Neuerdings auch Lotze: Es gibt in unserem geistigen Leben kein Auseinander etc. Das Einfache ist unzerstörbar. Oder: [Das] Ich denke begleitet all mein Denken, alle psychischen Äußerungen, eine Substanz ist uns unmittelbar im Ich gegeben. Phaedon von Piaton, auch Mendelssohn. Kritik derselben in der transzendentalen Dialektik Kants. Lotze in neuerer Zeit, in seiner physiologischen Psychologie, 43 nimmt eine Seelensubstanz an. Aristoteles hat in περί ψυχής, wie bereits bemerkt, Erfahrung zur Psychologie hinzuzuziehen [unternommen]; es verknüpft sich seit ihm das Metaphysische mit dem Empirischen, das das Charakteristische seiner Philosophie. Ansicht des Aristoteles über die Seele. Der erste Fundamentalsatz: Alles Leben muß auf selbständigen Mittelpunkten von Veränderung oder Bewegung zurückgeführt werden, ein solcher Mittelpunkt ist Seele. Das Motiv aller Bewegung und Veränderung ist Seele, alle Organismen sind auf psychische Beweggründe zurückgeführt worden. Seele ist also zu definieren als έντελέχεια eines Körpers, der die Fähigkeit hat zu leben. Die Seele verhält sich zum Körper wie Sehkraft zum Auge. Die Natur der Materie ist Ruhe; Bewegung muß also ein Prinzip jenseits der Materie zur Ursache haben. Es war jedoch ein Irrtum, die Materie als tot anzusehen. Der zweite Fundamentalsatz: Das Weltall ist ein System von selbständigen Mittelpunkten. Das System dieser Seelen stellt sich dar in einer Stufenordnung. Zunächst Seelen des Ernährungsprozesses und alsdann [des] Fortpflanzungsprozesses bei Pflanzen, ferner [des] Empfindungsprozesses bei Tieren, auf der niedrigsten Stufe Tastsinn, verbunden mit Lust- und Unlustgefühl. Lust und Unlust rufen Begierde hervor, und diese veranlaßt räumliche Bewegung. Endlich νοϋς, Verstand bei den Menschen. Dieser Standpunkt ist zu bezeichnen als komparativer: die vergleichende Psychologie. Hieraus ergibt sich für Aristoteles die Klassifikation der psychischen Tatsachen. Vermöge derselben stellt Aristoteles fest: Empfindung, Lust und Unlust 4 4 und Begierde sind in allen psychischen Vorgängen vorhanden. Der Mensch verhält sich [...] aktiv, dann passiv; es gibt also zwei Klassen von Tätigkeiten, Aktivität und Passivität, und aus ihrer Wechselwirkung resultiert das Seelenleben. Das letzte Ergebnis ist: Es ist unmöglich, aus der Empfindung das Schlußverfahren, aus der Begierde die Herrschaft über sich selbst abzuleiten.
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Aus den niederen Funktionen des Tieres ist der νοϋς nicht abzuleiten, wie dies von Hobbes und Locke in neuerer Zeit versucht worden. Der νοϋς ist Ausdruck für jenes höhere Wesen, welches von außen eintrete in den Menschen, ihn zum Menschen machend. Es beginnt also die Psychologie des Aristoteles mit Empirie und endigt mit einer metaphysischen Metapher. Die zweite Epoche der europäischen Psychologie beginnt im 17. Jahrhundert und hat zur Voraussetzung die Ausbildung der Naturwissenschaft durch Descartes. Wo die Alexandriner den Faden hatten fallen lassen, da ward er wieder aufgenommen von Cartesius, Gassendi, Galilei, und das [ist] die Bedeutung der Renaissance = Wiederaufnahme der alten Probleme und Philosophien. Hobbes stellte die Frage auf: welche Art von Bewegung es sei, wodurch Seelenvorgänge stattfinden. Wie überall die mechanische Erklärungsart zu herrschen begann, so auch in der Psychologie. Die Tiere [sind] Maschinen nach Descartes. Wirkliche Gesetze des Seelenlebens hat zuerst Spinoza aufgestellt. N u r die Substanz ist in sich, der Mensch nur als Modus kann nicht in sich sein, sondern nur das Streben dazu haben, und die Grundnatur des Menschen ist der Wille, die Begierde, das Streben sich zu erhalten. Dieser Wille erscheint bald als gehemmter [, d. h.] als Schmerz, bald als geförderter, d. h.] als Lust. Lust und Schmerz sind nicht direkt aus unserer Begierde abgeleitet, sondern nur aus der Empfindung. Unter Affekt versteht Spinoza die Zustände des Modus Mensch unter der Voraussetzung, daß er Wille ist, sich selbst bewußt. Ist die menschliche Natur bewußter Wille, so sucht der Geist vorzustellen, was der Selbsterhaltung nützlich, und auszuschließen, was ihr schädlich. Folgende Gesetze finden statt: Wir übertragen einen Affektzustand und umwandeln ihn. Wir hassen, was wir als Ursache unserer Hemmung, und lieben, was wir als Ursache unserer Förderung ansehen. Die Gesetze der Übertragung gelten freilich nur im Falle, daß Menschen von ihren Leidenschaften ohne Hemmung bewegt [werden]. Affektzustände werden miteinander verkettet und rufen einander hervor durch die Momente der Gleichzeitigkeit und Ähnlichkeit. Mitleid und Empfindung. Beinahe ein Jahrhundert verging, als ein neuer großer Schritt in der Psychologie geschah. Hobbes sagt: Solange ich untersuche, ist mein Vorstellen regelmäßig. Es gibt für das Spiel meiner Vorstellungen ohne absichtliches Denken kein Gesetz, was bis dahin gewöhnlich angenommen. Hobbes nimmt auch für das zufällige Vorstellen Gesetzmäßigkeit [an], Hume bestimmte diese Gesetze. Beruht auf der Tatsache, daß keine Vorstellung in mir isoliert ist, sondern im Zusammenhange mit allen anderen steht. Deshalb ruft eine die andere zurück, wenn sie in den Geist tritt, d. i. die Assoziation. Vorstellungen assoziieren sich miteinander. Durch die Grundverhältnisse Ähnlichkeit, Berührung in Raum und Zeit (dies auch bei Spinoza); als neu tritt hinzu das Verhältnis von Ursache und Wirkung (von Spinoza nur bei der Übertragung, nicht bei der Verkettung benutzt), wodurch ebenfalls Vorstellungen sich assoziieren. Hume sagt, daß wie vermöge des Gravitationsgesetzes die Anziehungen der Körper erklärt werden, so müßten auch die Verkettungen der Vorstellungen erklärt werden (beides ist freilich nur Hypothese).
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Damit war nun für die Psychologie ein entscheidender Schritt getan. Es war nun die Aufgabe, das von Spinoza und Hume Gefundene besser zu klassifizieren und in einem Komplex zu vereinigen. Im 18. Jahrhundert und 19. zwei Methoden: 1) Zergliederung der psychologischen Fakta. Untersuchungen über das Nervensystem. Schon die Alexandrinische Schule und Galen. Aber ganz besonders in neuerer Zeit. Bichat, der zuerst das Gangliensystem von dem Nervensystem unterschied, dann Charles Bell beobachtete, daß beim Abschneiden gewisser Nervenendigungen die Empfindung aufhörte, beim Abschneiden anderer Endigungen Bewegung aufhörte. Die Empfindungsnerven werden von außen affiziert und bringen Empfindung hervor, die Bewegungsnerven von innen. Die Endapparate der Empfindung beruhen auf dem Sinn. Joh. Müller schuf die Grundlage für eine Physiologie der Sinne; fortgesetzt von Weber, Erfinder der Hauptgesetze. - Fechner Psychophysik, Helmholtz; Untersuchungen über das Gehirn: Gall, Meynert. Das die eine Seite der neueren psychologischen Forschung. [2)] Die andere Seite begann ihre Ausbildung durch Kant. Seine Annahme geistiger Funktionen. Joh. Müller [hat] diese Theorien zur Grundlage genommen. Lotze in physiologischer Psychologie entwickelt ein System von Hypothesen, Helmholtz in „Physiologische Optik" (vgl. „Vorträge von Helmholtz", sehr empfohlen). 45 Neben dieser Richtung trat nun eine andere [auf]: aus den Empfindungen den gesamten Inbegriff des geistigen Lebens abzuleiten. Man nahm eine Grundform an, aus der alle die komplizierten Momente abgeleitet wurden. Locke [ist] Ausgangspunkt dieser Art von Untersuchungen. Herbart und Beneke gingen von den psychologischen Elementen aus und suchten von hier aus alle geistigen Tatsachen zu erklären. Die entgegengesetzte Ansicht von der synthetischen Schöpfungskraft unseres Geistes von Leibniz begründet, dann von Kant, Lotze, Ulrici. Herbart nimmt nur eine Klasse elementarer Vorstellungen an, von Mill angenommen und „chemische Psychologie" 46 genannt. Aus bestimmten Lagen und Zuständen unserer Vorstellungen gehen Gefühle und Willensvorgänge hervor. Die Empfindung, Stärke, Qualität enthaltend, das erste. Daraus Vorstellungen und dann Willensvorgänge etc. Noch andere zwei Klassen von Vorstellungen: aktive und passive. Schon von Aristoteles begründet. Diese Ansicht im 18. Jahrhundert vorherrschend. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts kam eine Dreiteilung auf. Der Begriff der Sympathie bei Adam Smith, das Gefühl dominiert, auch bei Mendelssohn. Tetens im Jahre 1777 über die menschliche Natur. 47 Nachzulesende Schriften: Psychologie von Herbart; Beneke 1833, Pragmatische Psychologie 1850, Archiv für die pragmatische Psychologie; Ueberweg gute Darstellung. Ferner Drobisch „Empirische Psychologie nach naturwissenschaftlicher Methode" Waitz, Psychologie 1849. Anthropologie der Naturvölker 1859. Lazarus, Das Leben der Seele. - Steinthal, Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft I Band 1871. Von Lotze 2 Schriften: Physiologie der Seele 1852 und der erste Band des Mikrokosmus; Volkmann Psychologie 1. Auflage. Näher an die Empirie sich haltend: J. Mill und J. St. Mill, fortgesetzt von Bain, Herbert Spencer. Brentano schließt sich an Mill an. Entgegengesetzt Horwicz. Wundt Physiologische Psychologie. 48
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Carus, Geschichte der Psychologie 1808, enthält Auszüge aus vielerlei Schriften, jedoch ohne rechten wissenschaftlichen Sinn für die Methode und den echten Geist der empirischen Psychologie. Sehr zu empfehlen: Lange „Geschichte des Materialismus" (3. Aufl. in 2 Bänden [Iserlohn 1876-1877]). Die ältesten Zeiten der europäischen Wissenschaft zeigen uns keine abgesonderte Psychologie. Die späteren haben die meisten Schriften der ionischen Denker sowie der Unteritaliker bezeichnet als περί. φύσεως. Und in der Tat streben sie, ein Ganzes aufzustellen, dessen Ausgangspunkt eine geographische und mathematische Orientierung über das Weltganze ist. In solche Arbeiten eingeflochten sind dann auch psychologische Betrachtungsweisen. Von einer Welt in unseren Sinnen haben jene Zeiten keine Ahnung, vielmehr ist für sie die Vorstellung des Psychischen als solchen noch nicht vorhanden. Ganz allmählich und verhältnismäßig spät hat sich diese Vorstellung und dieser Begriff ausgebildet. Die Phänomene werden demgemäß auf physische Ursachen zurückgeführt. Das Leben ist ein physisches Problem, die Wahrnehmung ein physisches Problem, und diese beiden Probleme sind es, welche die alten Denker vor allem beschäftigten. In der Seele waltet ein göttliches Feuer, daher ist die trockenste Seele die weiseste und beste, und nichts ist schädlicher als die Einführung eines zu großen Quantums von Flüssigkeiten. In dem Vorgange der Atmung treten beständig in unser Inneres diese Massen des leichten, feurigen Stoffes, welcher das Vernünftige des Weltalls ist. Schließen sich im Schlaf die Sinneswerkzeuge ab gegen diese Atmosphäre eines höheren Vernünftigen, so hört der Anteil des einzelnen jener vernünftigen Welt auf. In ähnlicher Weise erklärt Parmenides, ein hervorragender unteritalischer Denker: Es besteht kein Unterschied zwischen Wahrnehmung und Denken, und es ist der Vorgang des Denkens für ihn gerade so gut physisch zu erklären wie der der Wahrnehmung. Demokrit glaubt: Zwischen zwei körperlichen Atomen ist ein seelisches Atom, ähnlich dem Feuer, rund, glatt und höchst beweglich, und solche Atome strömen beständig durch den Atem in uns ein und verlassen uns wieder, und so wird das Leben erhalten, wie man ja auch daraus sieht, daß das Leben erlischt mit dem letzten Atemzug. Das Atmen ist die Ursache des Lebens. Alle diese Denker könnte man als materialistisch bezeichnen, und dennoch wäre es [ein] Irrtum. Das Psychische und Körperliche ist für diese Denker überhaupt noch nicht da, sie übernehmen aus dem mythologischen Leben jene Bildlichkeit des Lebens, welche sie nur reiner fortsetzen; die Mythologie 49 beruht in letzter Instanz darauf, daß eine Vorstellung von etwas abgesonderten Psychischem in jener Epoche überhaupt noch nicht existierte. Den Ausgangspunkt der europäischen Metaphysik bildet Anaxagoras. Er Schloß: Ich finde Bewegungsvorgänge, ich muß eine bewegende Ursache an-
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nehmen. Jeder Teil der Materie bleibt an der Stelle, an welche ich ihn setze. Werfe ich einen Stein, so hört die Bewegung desselben nach einiger Zeit auf. Infolge hiervon nahm man an: Bewegung kann nicht der Materie als solcher zuerkannt werden, Bewegung muß also einem Prinzip außer ihr zugeschrieben werden; ich muß aber dieses Prinzip setzen, einem Hebel vergleichbar, außerhalb der ganzen Materie, denn sonst könnte es dieselbe nicht bewegen. Dieses Prinzip bewegt aber die Materie nach einer gewissen Zweckmäßigkeit. Es existiert also jenseits der Materie ein vernünftiger Hebel, welcher die Bewegung des Weltalls lenkt. So entsprang der europäische Monotheismus durch den Schluß auf ein selbständiges geistiges Prinzip, welches abgesondert von einer Materie besteht. Wenn wir uns nun bewegen können, so können wir nicht bloß Materie sein, es muß ein abgerissenes Stück des Prinzips in uns wohnen, welches unsere Bewegung verursacht, also: Wir bewegen uns, wir sind auch imstande, die Außenwelt zu bewegen, weil in uns ein Teil des νοϋς, der Weltvernunft, gegenwärtig ist. Die europäische Metaphysik beginnt also damit, und diese Grundgedanken nehmen Piaton und Aristoteles an. Ersterer zwar nicht ganz genau, dennoch ist auch auf ihn der Einfluß dieser Grundbetrachtung ein sehr großer. U n d handelte es sich bis in das vorige Jahrhundert um ein Urteil über die menschliche Seele, so griff man zu Piatons Phaedon. So lange dauert diese Herrschaft des Grundbuches einer metaphysischen Betrachtung. Voraussetzung darin ist: Alle ursprüngliche Bewegung aus sich selber geht von einer Seele aus. Die Materie kann eine mitgeteilte Bewegung haben. Alles Materielle an sich ist tot; wo Bewegung ist, ist sie direkt oder indirekt die Äußerungsweise von Geist. Diese Seele ist der Idee, als welche ja den νοϋς bei Piaton repräsentiert, verwandt. D a die Seele das Sich-Selbstbewegende ist, so hat sie einen Anteil an der Idee des Lebens, ja, ist allen Ideen verwandt. Diese Grundgedanken umgeben wie mit Strahlen die mystische Vorstellung von einer Existenz der Seele vor der Geburt, von einer Wanderung der Seele aus dem Körper in einen anderen. Es ist neuerdings die Frage aufgeworfen worden, ob denn Piaton wirklich an [die] Fortdauer der einzelnen Seele aus philosophischen Gründen geglaubt habe oder ob seine Darlegung nur bildlich zu verstehen sei. Es ist ohne Frage, daß Piaton überzeugt war von der Fortdauer der einzelnen Seele, daß er philosophische Gründe für diese Uberzeugung hatte. Aber die Frage ist, ob diese Gründe in der strengen Konsequenz seines Systems lagen, und in dieser Beziehung verhält er sich wie Aristoteles. Anaxagoras, Piaton, Aristoteles müssen überzeugt gewesen sein von der Fortdauer der Seele als etwas Geistigem. Wo etwas Geistiges ist, da ist es unvergänglich. Aber ob dies Geistige bestimmt ist, für sich fortzuexistieren oder fortzuexistieren mit dem gesamten Geiste, dessen zersprengter Bestand-
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teil es ist, das ist eine andere Frage, und in bezug auf diese Frage läßt sich kaum eine Antwort finden. Dieselben Vorstellungen gehen also weiter in Aristoteles; auf ihnen beruht, daß Aristoteles einen νοϋς unterscheidet, der απαθής existiert. Dieser νοΰς ist das eigentlich Göttliche im Weltall. Er bewegt Alles selbst. Fragt man nach den Gründen für die Existenz einer unsterblichen Seele, so liegen diese Gründe auf verschiedenen Gebieten. Die mächtigsten unter ihnen sind die ethischen Erwägungen: die Uberzeugung, daß wie auch im Weltall sich eine solche psychische Tatsache als ein Individuelles herausbildet, dieses Individuelle einen Wert habe, der unzerstörbar fortdauert. Dieser Gedanke ist bei den Alten bis in die christliche Philosophie in dieser Fassung überliefert. Schon Piaton ist der Ansicht, diese Seele ist ein Glück dieser Welt, welches sich den Guten zugewendet habe, und auch Goethe kommt immer wieder auf den Gedanken zurück, wo eine solche Monade aus der allgemeinen Geistigkeit sich herausgebildet und als eigenes Gut gestaltet habe, da sei sie notwendig unzerstörbar. Religiös ausgedrückt heißt das, der gute Gott könne unmöglich das einzige Gute, welches sich neben ihm gebildet, zerstören. Dieser Satz scheint mit allen Grundgedanken des Christentums aufs engste verschmolzen. Hieran schließen sich die metaphysischen Erwägungen, die auf zwei Argumente hinauslaufen: 1. Alle Vorstellungen in uns sind in der Einheit des Selbstbewußtseins begründet. Was also existiert ineinander, kann nicht existieren außereinander, es ist in sich einfach, ausdehnungslos einfach und als einfach unzerstörbar. Denn zerstören kann man nur, was man zerlegen kann, das unzerlegbar Einfache ist unzerstörbar. Lotze sagt: Wenn ich zwei Vorstellungen aufeinander beziehe, so sind sie nicht außereinander. Da nun die Seele alle Vorstellungen aufeinander zu beziehen vermag, so gibt es in unserem geistigen Leben kein Außereinander, folglich treten wir hier in ein von der materiellen Ordnung der Dinge völlig gesondertes Gebiet. 2. Ich denke, in allen Dingen bildet das Subjekt dasselbe einmütige Ich; demgemäß liegt allen psychischen Äußerungen zugrunde ein einheitlich Geistiges. In Piatons Phaedon findet man den Inbegriff der älteren Beweise. Alsdann lese man die gleichnamige Schrift von Mendelssohn, welcher die Argumente umfaßt, welche als stichhaltig galten im vorigen Jahrhundert. Ferner Kant in seiner transzendentalen Dialektik und Lotzes „Physiologische Psychologie" (Einleitung). Damit ist zu vergleichen sein „Mikrokosmus". Diese metaphysische Richtung war schon in Griechenland verbunden mit Erfahrungswissenschaft der menschlichen Seele, und nichts ist bezeichnender als Aristoteles, der Hauptträger der [für] ihn charakteristischen Richtung, der andrerseits in seiner Schrift „De anima" eine erste Erfahrungswissenschaft
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gegeben hat. Bezeichnend ist, daß er überall metaphysische Gründe eintreten läßt für die Erklärung seiner Erfahrung. Der erste fundamentale Satz des Aristoteles ist: „Alles Leben muß auf selbständige Mittelpunkte von Veränderungen oder Bewegungen zurückgeführt werden." 5 0 Eine solche Ordnung von Veränderungen, die von einem Mittelpunkt ausgeht, ist entwickelt. Ein solcher Mittelpunkt selbst ist Leben (Seele). Das Ei, aus dem das Tier entsteht, ist ein Mittelpunkt selbständiger Veränderungen, und das, was treibt in dem Ei, was Grund der Pflanze ist in dem Keim, ist Motiv aller Bewegung, ist Seele, ist jenes selbsttätige psychische Prinzip, daher sich dasselbe durch alle organischen Reihen erstreckt. Leben ist nichts anderes als die Kraft der Selbstbewegung, die Fähigkeit, von sich aus eine Veränderungsreihe hervorzubringen; das, was sich bewegt, ist die sich verwirklichende Form der Endursache, das ist aber nichts anderes als die Seele. Demgemäß ist Seele nach der Definition des Aristoteles die Entelechie des natürlichen Körpers, welcher die Fähigkeit hat zu leben. Wenn man diese Gedanken hält an das in der Metaphysik Enthaltene, in welcher auch Aristoteles eine Stelle einnimmt, so sieht man sofort, daß es nur eine Konsequenz ist. Der zweite Fundamentalsatz ist: „Das Weltall ist, wie wir sehen, ein System von psychischen Mittelpunkten oder Seelen, welche sich entfalten in einem System von Bewegungen." 5 1 Das System dieser Seelen stellt sich dar als eine Stufenordnung, und diese entworfen zu haben, bildet eine der erhabensten Seiten der Aristotelischen Philosophie. Den niedrigsten Punkt in dieser Ordnung bildet die Eigenschaft eines Keimes oder einer organischen Seele, Ernährungsprozesse hervorzubringen, alsdann tritt hinzu die Eigenschaft, Fortpflanzungsprozesse hervorzubringen; diese Eigenschaften sind bei allen Pflanzen vorhanden. Eigentümlichkeit des Tierreiches ist es, daß hier eine viel entschiedenere Entfaltung von dem Zentrum aus vor sich geht. Empfindung ist das entscheidende, welches die tierische Welt sondert von der Welt der Pflanzen. Auf niedrigster Stufe tritt sie als Tastsinn auf. Damit ist unter allen Umständen verbunden ein Gefühl der Lust und damit die Begierde; es gibt kein Gefühl, welches nicht zugleich Lust oder Unlust wäre, und keine Lust oder Unlust, welche nicht zugleich zur Begierde antriebe. So sehen wir im Zusammenhang mit der Begierde bei den empfindenden Tieren die Bewegung im Raum auftreten. Endlich auf höchster Stufe tritt von außen ein als ein höheres, aber sich dem Vorhandenen anpassendes Prinzip, der νοϋς oder die Vernunft. Durch diese Betrachtungsweise ist von Aristoteles ein Standpunkt erreicht, welcher auch in der folgenden Zeit selten gehörig erkannt worden ist. Er ist zu bezeichnen als der der „komparativen oder vergleichenden Psychologie". Komparativ mit Physiologie verknüpfte Psychologie findet sich in D e anima.
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Hieraus ergibt sich dann für ihn als Frucht des vergleichenden Verfahrens [eine] Klassifikation der psychischen Tatsachen. Die psychischen Tatsachen zu ordnen, voneinander zu trennen, in richtige Gruppen zu verteilen, erfordert eine Ursache der Teilung; diese Ursache aber wird am naturgemäßesten hervorgehen aus dem vergleichenden Verfahren. Vermöge dieses Verfahrens stellt er fest: 1. Es gibt ein Stadium des Empfindungslebens, in welchem die Empfindung mit Lust und Unlust, Lust und Unlust mit Willen verbunden sind, d. h. Lust, Begierde und Empfinden sind in allen Stadien des psychischen Lebens miteinander verkettet. Es lassen sich aber diese primären Tatsachen in zwei Klassen zerlegen: der Mensch verhält sich a) aufnehmend, intellektuell, b) tätig, aktiv. Nicht anders verhält sich das Tier. So gibt es überhaupt zwei Klassen psychischer Tätigkeiten, welche miteinander das geistige Leben ausmachen auf allen Stufen. 2. N u n kann man aber unterscheiden zwischen diesen Tätigkeiten auf ihrer niederen und ihrer höheren Stufe. Auf der niederen haben wir nur Begierde und Empfindung, auf der höheren Schlußverfahren und Vernunft, auf der anderen Seite den νοϋς πρακτικός, das höchste praktische Vermögen des Menschen. Die Fähigkeit des Menschen, die übersinnliche Welt in sich aufzunehmen, und die Fähigkeit, von diesen höchsten Einsichten sich in seinem Handeln leiten zu lassen, bilden zusammen das höhere Vermögen des Menschen, welches gänzlich geschieden ist von den niederen Fähigkeiten desselben, und hier gelangen wir zu dem letzten der Ergebnisse des Aristoteles, welches aus einer Verbindung seiner vergleichenden Erfahrung und seiner Metaphysik entsteht. Nach ihm ist es unmöglich, aus der Empfindung das Schlußverfahren, aus der Begierde die Herrschaft des Gedankens über unsere Affekte abzuleiten, also unmöglich, aus den bei uns beobachteten, zwischen uns und den Tieren gemeinsamen niederen Fähigkeiten die höheren als die Fortentwicklung abzuleiten, dasjenige, was seit Locke die Grundrichtung der europäischen Psychologie ist, aus den niederen Tatsachen die höheren als eine Fortbildung abzuleiten. Dies erklärt er für unmöglich. Vielmehr der νοΰς dringt hinein in jenes Seelisch-Leiblich-Organische und ermöglicht jene höheren Fähigkeiten und Äußerungen, welche den Menschen allein eigentümlich sind, welche der Mensch, wenn er sie teile, mit der Gottheit teilt. Demgemäß, νοΰς ist der gemeinsame Name für die Äußerungen der Gottheit und jenes höheren Geisteslebens, welches hineintritt in die organischen Individuen und sie dadurch zu vernünftigen Menschen macht. So beginnt sein System als ein Erfahrungssystem, als eine komparative Wissenschaft der Psychologie, und es endet als poetische Metaphysik. Die zweite Epoche der europäischen Psychologie beginnt im 17. Jahrhun-
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dert und hat zu ihrer Voraussetzung die Ausbildung der Naturwissenschaften durch Descartes und Galilei. Im 16. Jahrhundert sehen wir die Naturwissenschaft anknüpfen an das, was die Alten arbeiteten. Renaissance bedeutet hier nur Wiederaufnahme der Ergebnisse der alten Völker zu neuerer Verwertung unter den mächtigen Impulsen, welche die sozialen Bedingungen des 15. und 16. Jahrhunderts gaben. In dieser Epoche der rapiden Entwicklung wurden die Wahrheiten der Alten zum ersten Male wieder verstanden und an sie angeknüpft, und zwar die Mathematik, alsdann die Mechanik. Es gelang, die Gesetze der Planetenbewegungen zu entdecken. Dieser Anfang war bestimmend für die Methoden und Grundansichten der damaligen Philosophie. Die Erklärung aller körperlichen Vorgänge aus mechanischen wurde zum Grundgedanken aller Philosophie des 16. und 17. Jahrhunderts. Hieran schloß sich der Versuch, auch psychische Erscheinungen derselben Untersuchung zu unterwerfen. Descartes betrachtete Pflanzen und Tiere als empfindungslose Maschinen, die sich bis zum Tode bewegen. Tod bedeutet nur eine Störung der Maschine. Die Betrachtungsweise war eine Vorbereitung für die Betrachtungsweise geistiger Tatsachen, wie sie Spinoza und Locke vornahmen. Man darf als den ersten, welcher Gesetze auf diesem Gebiet nachwies, Spinoza betrachten (geb. 1632). Er hat in seinen frühen Jahren bald an seiner Ethik gearbeitet, deren drittes und viertes Buch seine Statik und Mechanik der Affekte enthält. Die Bedeutung dieses Werkes ist vielleicht am schärfsten und nachdrücklichsten von Johannes Müller herausgehoben worden. Er nimmt die Untersuchungen Spinozas wörtlich auf. Das Studium der Regelmäßigkeit in den geistigen Vorgängen begann. Es entsprach dem aktiven Charakter jener großen Zeit der Kriege und Revolutionen in den Interessen an der Gründung einer politischen Theorie. Das Naturrecht von Hobbes und Spinoza läßt eben das Naturrecht aus dem Kampf der Leidenschaften entspringen. Denn da inmitten dieser affektvollen Individua das Schicksal des einzelnen nichts anderes ist als Furcht und Angst vor Vernichtung, so bleibt den übrigen nichts übrig, als die Affekte einzuschränken. Die Gemütszustände der Menschen unterliegen einer Gesetzmäßigkeit. Die Frage ist: Welcher ist der Ausgangspunkt für das Verständnis dieser Gesetzmäßigkeit? Spinoza sagt: Ich werde die Erkenntnis der Gemütszustände der Menschen folgern aus meiner Erkenntnis des Zusammenhanges des Naturganzen überhaupt. N u n ist die Substanz allerdings in sich selbst; die Gottheit selbst ruht nur in sich allein. Ich selbst, dieser Mensch, bin zugleich ein Körper, zugleich ein Zusammenhang geistiger Tatsachen, und doch ist jede Person nur eins, nicht zweierlei. Wir sind nicht ein Geist, der in Beziehung steht zu einem Körper, vielmehr nur ein einziges Ding. Dies ist für uns da in einer doppelten Form; derselbe Vorgang von Bewegung, der im System der räumlichen Bewe-
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gung für mein Auge da ist, ist für meine innere Beobachtung da als ein Vorgang geistiger Natur. Alsdann ist der Mensch [da] als eine Modifikation dieser unendlichen Substanz, ihr darin entsprechend; wie die Substanz unter den Attributen des Denkens und der Ausdehnung vorhanden ist, so ist auch ihr Modus (der Mensch) vorhanden unter dieser doppelten Form. Wenn die Substanz ihr Wesen darin hat, in sich zu sein, so sind wir nur von der Substanz; wir sind ein Teil der unendlichen Natur, und was das Ganze regiert, regiert auch in uns selbst. Wir sind an der Substanz; ist also das Wesen derselben in se esse, so ist das Wesen des Menschen nur, daß er strebt, in sich zu sein. So folgt aus unserer Stellung im Weltall, daß die Grundnatur der Menschen ihr Streben [ist], in sich zu sein. Dieses Streben, gedacht in einem vorstellenden Wesen wie wir [es] sind, ist Begierde, Wille. Die Grundnatur des Menschen ist demnach, Wille oder Begierde zu sein. Hier sind die Wurzeln der psychologischen Auffassung Schellings in seiner zweiten Epoche und Schopenhauers. Sind wir nun aber Wille, wie finden wir uns dann unter anderen Willen bald gedrängt, bald befördert? In diesem [Zustand] erscheint der Wille als gehemmter, d. i. Schmerz, in jenem als geförderter, d. i. Lust. Da wir also das Bewußtsein haben zu streben, so haben wir zugleich in der Hemmung begriffen Schmerz, wir empfinden in der Förderung Lust. Spinoza täuscht sich nicht mit der Einwendung: da wir Begierde seien, entständen von selbst Lust und Schmerz, sondern es ist ein weiterer Gedanke, daß dieser Wille seine Hemmung und Förderung empfindet. Demgemäß, daß wir Lust und Schmerz empfinden, ist gerade so fundamental als der Wille. Es gibt also drei Gemütsstimmungen (fundamentale): affectus, Begierde Wille, Lust und Schmerz. Spinoza versteht hier unter affectus die einzelnen Zustände der menschlichen Existenz ganz allgemein. Er versteht also unter Affekten die Zustände des Modus „Mensch" nach seiner geistigen Seite hin. Diese Affekte des Menschen unterwirft er nun einer Erforschung und versucht, die Gesetze aus der Grundnatur herzuleiten, ähnlich wie Descartes aus der Natur der Materie die Gesetze der Mechanik abzuleiten den Versuch machte... . Der menschliche Geist, soweit er kann, versucht dasjenige vorzustellen, was die Macht des Körpers erhöht oder unterstützt; demgemäß das Streben, dasjenige vorzustellen, was der Selbsterhaltung günstig ist, die Vorstellung dessen auszuschließen, was diese Selbsterhaltung schädigt. Da nun aber diese Selbsterhaltung Inbegriff eines Zusammenhanges der Vorstellungen ist, so finden die folgenden Gesetze der Übertragung und Verkettung der Affekte untereinander statt:
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Α. Wir übertragen einen Affektzustand jeder Zeit auf diejenigen Ursachen, welche wir als solche ansehen. Wir hassen dasjenige, was wir als Ursache unserer Hemmung betrachten, und wir lieben, was uns Grund unserer Förderungen zu sein scheint, und Liebe und Haß sind nichts als aus der Selbstliebe entsprungene Affekte. Wenn wir einen Menschen lieben, so geschieht dies in erster Linie, weil wir in ihm die Ursache freudiger Empfindung finden. Wir übertragen auf das unseren Haß, was uns hemmt, gleichviel, ob es der letzte Grund ist oder nicht. Wenn wir etwas hassen, so streben wir es zu vernichten, wir streben dasjenige auszuschließen, was uns hemmt; demnach, so oft etwas Ursache unserer Hemmung ist, streben wir notwendig es zu vernichten. So kommen wir schließlich durch Übertragung dahin, daß wir Individuen verfolgen, die solche Individuen glücklich gemacht haben, die wir verfolgen. Das sind die Gesetze der Übertragung nach dem Verhältnis von Gesetz und Ursache. O f t hat man Spinoza einen Vorwurf daraus gemacht, daß er solche Gesetze ausgesprochen [hat], die in Wirklichkeit nur bei bösen Menschen eintreten. Er behauptet aber nur, daß im Geiste eine Neigung sei, diese Affekte zu entfalten, wenn kein Hindernis eintritt. Diese Gesetze Spinozas bedeuten also nur dasselbe, was die der Mechanik, daß unter den Bedingungen des freien Spiels der Kräfte sich dieselben so und nicht anders äußern, nicht aber, daß sie unter allen Umständen sich so äußern. B. Von dieser Übertragung gehen wir zur Verkettung der Affekte. Affektzustände werden miteinander verkettet und rufen sich demgemäß hervor nach dem Verhältnis der Gleichzeitigkeit und der Ähnlichkeit. Sind wir zur selben Zeit in zwei psychischen Zuständen gewesen, so ruft die Rückkehr des ersten psychischen Zustandes den zweiten hervor. Wenn wir den psychischen Zustand der Anschauung eines Zimmers zugleich mit einem großen Schmerze hatten, dann wird der Wiedereintritt in dasselbe Gemach nach auch noch so langer Zeit denselben schmerzlichen Zustand in unser Gedächtnis zurückrufen. Es findet alsdann eine Verkettung statt nach dem Verhältnis der Ähnlichkeit; der Gegenstand rief in uns einen Affekt hervor, nun tritt ein anderer diesem ähnlicher vor uns, alsdann ruft dieser denselben Affekt, wenn auch schwächer, in uns hervor. Hier erklären sich die wunderbaren Idiosynkrasien. Es gibt endlich in dieser Mechanik der Affekte eine letzte Tatsache, welche Spinoza nicht ganz erklären konnte. Er wandte aber allen Scharfsinn darauf, als hätte er gemerkt, daß dadurch die Richtigkeit seines Systems in Frage gestellt werden würde. Es sind dies die merkwürdigen Tatsachen der „Mitempfindung". Es ist keine Frage, daß alle Menschen in höherem oder geringerem Grade der Mitempfindung fähig sind; selbst der Schmerz der Tiere bringt in uns eine sympathische Mitbewegung hervor. Es war beinahe ein Jahrhundert nach dieser großen Arbeit Spinozas verflos-
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sen, als der nächste große Schritt in dem Studium der Gesetzmäßigkeit psychischer Tatsachen wiederaufgenommen wurde, vorbereitet in der englischen Philosophie, in welcher er sich vollziehen mußte. Bei einer ganzen Reihe von Denkern, zunächst durch Hobbes. Er sagt: Indem ich untersuche, ist mein Ideengang geleitet von den logischen Gesetzen; also, so lange ich untersuche, ist der Gang meiner Vorstellung regelmäßig. Es ist kein Zweifel an der Regelmäßigkeit, nach welcher ich einen Schluß aus zwei Prämissen mache, aber ich pflege von diesem Gang den unregelmäßigen Ideengang zu unterscheiden, und seit allen Zeiten hat der Gedanke sich festgestellt, daß es die Willkür sei, welche an diesem Punkt im menschlichen Geiste ihr Wesen treibe. Es gibt, so ist die Annahme, die auch heute noch als die übliche betrachtet werden kann, für das Spiel meiner Vorstellungen, welches nicht von meinem Denken beherrscht wird, kein gültiges Gesetz. Hobbes behauptet, es herrscht Gesetzmäßigkeit in meinen träumerischen Vorstellungen. Sollte aber das Gesetz, nach welchem die Assoziationen sich vollziehen, erkannt werden, so bedurfte es der Arbeit Lockes, welcher zunächst die Analyse unseres geistigen Lebens vollzog. Der Mann aber, der das Gesetz von Beziehungen der Vorstellungen zueinander erkannte, war David Hume (geb. 1711 in Edinburg). Wir gehen davon aus: Wenn eine Vorstellung im Bewußtsein auftaucht im Schlafen oder Wachen, so ist das weder ein Zufall, noch eine willkürlich handelnde Macht im Hintergrunde meines Bewußtseins. Vielmehr wird diese Vorstellung heraufgeführt durch gesetzmäßig Wirkendes. Die Tatsache aber, an welche ich diese Heraufführung knüpfe und durch welche diese Heraufführung nur verständlich wird, ist keine Vorstellung in meinem Bewußtsein, die isoliert wäre. Vielmehr jede Vorstellung ist mit anderen verkettet, eine gegenwärtige Vorstellung eines Menschen ruft in mir die Erinnerung daran zurück, daß ich ihn gestern ebenfalls sah, d. h. die Vorstellungen waren zum großen Teil miteinander identisch, und sie ruft nun die gegenwärtige Wahrnehmung hervor als zum Teil identisch mit dem gestrigen Einwirken der differenten Momente des gestrigen Bewußtseins. Also unsere Vorstellungen sind verbundene, nicht isolierte, und weil sie verbunden sind, so ruft die eine die mit ihr verbundene zurück, wenn sie zum Bewußtsein kommt; diese Verbindung bezeichne ich als Assoziation. Es fragt sich, welche Verhältnisse sich assoziieren. Vorstellungen assoziieren sich nach folgenden Verhältnissen: Zuerst nach dem Verhältnis der Ähnlichkeit - ein Gemälde führt unsere Gedanken auf das Original zurück. - Alsdann nach der Berührung in Raum und Zeit. Diese Gesetze hatten wir bereits bei Spinoza. Noch kommt hinzu das Verhältnis von Wirkung und Ursache. Dies hatte in Spinozas Theorie eine andere Stelle, er benutzte es, um die Übertragung von Gemütszuständen zu erklären. Hume zieht es hinzu, um die Verket-
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tung zu erklären. Denke man eine Wunde, so kann man nicht umhin, an den Gegenstand zu denken, welcher sie verursachte. Und zwar sind diese Verkettungen nicht an die nächsten Glieder gebunden, sondern reichen darüber hinaus; nur mit der Entfernung dieser Glieder wird die Kraft der Assoziation erschöpft. Daß es nun keine anderen Verhältnisse der Assoziation gibt, läßt sich nicht beweisen, wir können nur sagen, wir erklären damit das ganze Spiel unserer Vorstellungen. Damit war nun für die Psychologie ein entscheidender Schritt getan, es war eine Gruppe psychischer Tatsachen geschaffen, welche eine Gesetzmäßigkeit der menschlichen Handlungen in den scheinbar irregulärsten Formen konstatiert. Für das Gebiet der Gefühle fand das Gesetz Humes, für das des Denkens [das] Spinozas [Anwendung]. Nach Hume finden wir zunächst den Versuch, die von Spinoza und Hume im ganzen und großen erklärten Tatsachen sorgfältiger zu klassifizieren und zu untersuchen. Ferner erweisen sich diese Tatsachen als komplexer und werden in einer weiteren Untersuchung auf ihre Elemente zurückgeführt. Die Psychologie geht in beiden rein von einem Zentrum aus. Im 18. Jahrhundert nun machten sich zwei Richtungen geltend, man zergliedert die Wahrnehmungen und Vorstellungen, um Elemente derselben zu entdecken. Die Bedingungen einer solchen Zergliederung lagen einmal in den Untersuchungen über die physiologische Seite der Vorgänge, also über das Nervensystem, den Träger der Empfindung; solche Untersuchungen beginnen bereits in der alexandrinischen Schule: schon dort betrachtet man die Nerven als Kanäle der Empfindung. Die entscheidenden Schritte wurden aber erst im 18. und der ersten Zeit des 19. Jahrhunderts gemacht: zwei Männer, Bichat und Charles Bell, stehen im Vordergrunde. Letzterer hat seit 1823 eine Reihe von Untersuchungen veröffentlicht, in welchen die Bewegungs- und Empfindungsnerven genau unterschieden, ihre Ausgangspunkte im Rückenmark aufgezeichnet und verfolgt werden. 52 Der Weg zu diesen Untersuchungen war, daß er bei einer Zerschneidung von gewissen Nerven eine Empfindungslosigkeit an gewissen Teilen des Körpers bemerkte, durch Zerschneiden anderer ein Aufhören von Bewegungsvorgängen. So kam er zu dem wichtigen 2. Grundgesetz unseres Nervensystems (wo nun das 1. [Grundgesetz] das ist, daß zwei Systeme, das zerebrospinale und das sympathische, in der mittleren Partie des Körpers, das Nervensystem ausmachen): daß die einen Empfindungsfunktionen ausüben, die anderen dagegen Bewegungsvorgänge hervorrufen. So wurde durch Bichat klar, daß unser Nervensystem fortwährend in doppeltem Spiel begriffen ist. So empfängt unser Organismus beständig von außen Nachrichten und verteilt wieder von den psychischen Kräften aus Befehle.
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Hiermit war die Grundlage zu einer näheren physiologischen Untersuchung gelegt. Die Endapparate dieser Empfindungsnerven bezeichnen wir als Sinne. Auf ihnen beruhen unsere Wahrnehmungen. So schloß sich als dritte Gruppe an die Untersuchung unserer Sinnesorgane, um die es in erster Linie getan war, Johannes Müller in seinem Handbuche der Physiologie. 53 Dort hat er die Grundlage für eine Physiologie der Sinne geschaffen. So tritt die physiologische Forschung den Geheimnissen des menschlichen Geistes immer näher. Andere, Weber z . B . , beschäftigten sich noch ferner mit Physiologie. Dieser entdeckte die Hauptgesetze unserer Tastsinne; Fechner, damals derjenige, welcher die ersten Generalisationen zog aus den Weberschen Gesetzen und dadurch Begründer der Psychophysik wurde, und unter den jüngeren Helmholtz in Berlin. So waren nach J o h . Müller eine Reihe anderer wichtiger Einzeluntersuchungen gemacht auf diesem Gebiete. Eine Gruppe aber blieb noch zu untersuchen, in betreff der Funktionen des Gehirns. Der kühne französische Forscher Flourens machte hierzu bedeutende Versuche an Tieren. Vor einem Jahr gelang es Meynert, Methoden zu gewinnen, welche sichere Schlüsse gestatten in bezug auf die Lokalisierung unserer geistigen Fähigkeiten im Gehirn. 5 4 Doch war dies nur eine Seite der hierzu erforderlichen Arbeiten. Es bedurfte andererseits eines großen Schrittes der intellektuellen Selbstbesinnung, welche sich in I. Kant vollzog. Seine Untersuchungen, insbesondere über Raum, Zeit und Kausalität, entwickelten eine Ansicht, welcher gemäß man sich geistige Funktionen denken konnte, durch welche wir die Dinge erst gewahren, wie sie uns erscheinen; Elemente der Sinneswahrnehmung werden erst zum sinnlichen Bilde außer uns, indem wir sie in den Raum versetzen, in der Zeitfolge sehen, indem wir eine Ursache hinzudenken. Dies alles verwandelte erst das, was bloßes Element von sinnlicher Empfindung war, in einen objektiven Gegenstand außer uns. Also die Theorie von Kant war eine, wenn auch erst noch unvollkommene, Auffassungsweise desjenigen Einflusses, welchen unsere psychische Organisation auf die Wahrnehmung ausübt. In dem Sinne von Kant hat Müller seine Theorie von den Sinneswahrnehmungen entwickelt. Auf diesen Vorarbeiten basieren bekanntlich die Untersuchungen über die Einzelwahrnehmungen. Untersuchungen über die psychische Seite hatten schon Purkinje und Goethe angestellt. Ein zweiter durchgreifender Forscher war dann Lotze in seiner physiologischen Psychologie; darin entwickelte er ebenfalls ein System von Hypothesen zur Erklärung der Tatsache der sinnlichen Wahrnehmungen. Helmholtz in seiner physiologischen Optik entwickelte ein weiteres; seine Ansichten findet man dargestellt in seinen „Vorträgen", von denen drei Hefte erschienen sind.
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Dieser Richtung trat eine andere gegenüber, die sich das Ziel setzte, die Empfindungen als Elemente zu betrachten und aus ihnen den gesamten Inbegriff des geistigen Lebens abzuleiten; es erhob sich die Aufgabe, eine zusammenhängende Ubersicht aller geistigen Tatsachen zu gewinnen. Der einfachste anzunehmende Fall war der, daß man nur eine Grundform von geistigen Elementen annahm und aus den Wechselwirkungen dieser geistigen Elemente alsdann alle komplizierteren Tatbestände zu erklären unternahm. Verwickelter mußte noch derjenige Fall sein, in welchem man zwei Grundformen annahm und aus ihrem Zusammen die weiteren zusammengesetzten Gebilde abzuleiten versuchte. Der leitende Gedanke für alle diese Untersuchungen war zunächst der Gang, den Locke einschlug. Dieser ging aus von einfachen Elementen und betrachtete die komplizierten Tatsachen einfach als komplexe Phänomene, Hume als Assoziationsphänomene. E r nahm deswegen eine geheimnisvolle Kraft der Assoziation an für das Zusammenspiel der einfachen psychischen Elemente. Eine Gegenbewegung eröffnete hier Kant, und seine Schule schlug einen entgegengesetzten Weg ein. Sie nahm den Ausgangsgrund bei den höchsten Phänomenen des Selbstbewußtseins. So gab es schon im vorigen Jahrhundert zwei Grundrichtungen aller Psychologie: Die einen schreiben den Elementen bestimmte Kraft zu nach Analogie der Betrachtungsweise der äußeren Natur, und aus dem Zusammenwirken dieser Kräfte erklären sie den Inbegriff der psychischen Tatsachen. Diesen gegenüber steht diejenige Psychologie, welche gerade in dem Einheitlichen in der menschlichen Natur ihren Ausgangspunkt nimmt. Herbart und Beneke gingen von den psychischen Elementen zur Erklärung der Tatsachen aus. Die entgegengesetzte Richtung bilden eben die, welche als fundamentale psychische Tatsache die verknüpfende Einheit in uns ansehen, für die also das Bewußtsein nicht ein Wort ist, in welchem Vorstellung und Empfindung sich kreuzen, sondern die tätige Macht, die sie hervorbringt und durchführt. Diese Zweifel wurden begründet nach dem Vorgange von Leibniz durch Kant. In ihr gingen Fichte, Schleiermacher und Schelling voran, und als Hauptvertreter muß in der neueren Zeit Lotze betrachtet werden. Hätte Trendelenburg seine Psychologie ausarbeiten können, so würde auch er wohl in Gegensatz zu jener Richtung getreten sein. Ferner mag noch genannt werden Ulrici in seinen Schriften: „Uber Leib und Seele, Seele und G o t t " usw. 55 Wenn wir einen Schritt weitergehen, so fragt sich, ob man eine oder mehrere Klassen elementarer Vorgänge annimmt. Herbart nimmt nur eine Klasse an und bezeichnet sie als Vorstellungen. Nach ihm entspringen aus bestimmten Vorstellungen in ihrem Zusammenwirken Willensantriebe. Diese Theorie haben auch die Engländer angenommen, und John St. Mill hat sie als psychische
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Chemie bezeichnet und versteht darunter, daß aus dem Zusammenwirken verschiedener Dinge Wirkungen entstehen können, die den Ursachen völlig heterogen sind. Danach gäbe es also nur eine psychische Grundform, Empfindung, die, vorübergegangen, zur Vorstellung wird. Es gibt dann eine zweite Richtung, welche zwei Klassen von psychischen Tatsachen annehmen zu müssen glaubt. Dies war die herrschende Ansicht bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts. Man pflegte zwei Stadien beim Menschen zu unterscheiden, wenn er sich aktiv und passiv verhält. Dies ist die Ansicht, welche bereits von Aristoteles aufgestellt war, eine Ansicht, die auch in neuerer Zeit eine mannigfache Vertretung gefunden hat. Horwicz in seinen psychologischen Analysen 56 hat sie ausführlich durchzuführen versucht. Dieselbe Ansicht liegt zugrunde der Psychologie von Schleiermacher57 und in dem ersten Bande von Steinthals Sprachphilosophie. 58 An Stelle der Zweiteilung tritt auch noch eine Dreiteilung, die man bis 1670 auf Shaftesbury, [geb.] 1671, zurückführen kann. Ihr eigentlicher Prophet war Jean-Jacques Rousseau. Der Begriff der Sympathie war der entsprechende theoretische Ausdruck dieser Richtung, und so treten in Deutschland zugleich mehrere Werke hervor, welche dem Gefühl eine selbständige Stellung anweisen, und zwar die Werke von Mendelssohn 1776.59 Er sagt: Zwischen dem Erkenntnis- und dem Begehrungsvermögen liegt das Empfindungsvermögen. 1777 tritt damit das Werk von Tetens: „Uber die menschliche Natur" hervor, das ist das Beste aus dieser Zeit. Dies war die Grundlage für die Stellung, die Kant den drei Klassen von geistigen Vorgängen gab. Quellen: Psychologie von Herbart, in der Gesamtausgabe seiner Werke; Beneke, Lehrbuch der Philosophie als Naturwissenschaft, 1833. Ferner: 1850 die pragmatische Psychologie. 1851 Archiv der pragmatischen Psychologie. Drobisch, Empirische Psychologie, nach naturwissenschaftlicher Methode 1842. Waitz, Psychologie, 1849. Von demselben: „Anthropologie der Naturvölker" 1859. Für weitere Kreise auf der Basis der Herbartschen Schule ist: Lazarus, „Das Leben der Seele". Endlich Steinthal, Einleitung in seine „Psychologie und Sprachwissenschaft". I. Band 1871 und Lotze, Medizinische Psychologie oder Physiologie der Seele 1852 und sein „Mikrokosmus" I. Bd. Es gibt dann eine andere Richtung, welche sich mehr an die Erfahrung anschließt, eingeschlagen von den Engländern. So James Mill. Ferner Bain, Theorie des intellektuellen Lebens und der Intelligenz und seine Theorie der Leidenschaften. Ein drittes Werk faßt seine Ansichten zusammen. Denselben Weg geht Herbert Spencer. Ribot, La psychologie anglaise.60 Ihnen am nächsten steht in Deutschland Brentano. Eine Verknüpfung der gegenwärtigen Psychologie mit den Ergebnissen der Physiologie versucht Wundt „Physiologische Psychologie".
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Folgt Begründung der metaphysischen Ansichten, die physiologische Grundlegung und die Lehre von den Reflexbewegungen. 61
§ [4.] Die drei metaphysischen Ansichten, die der Psychologie zugrunde gelegt worden sind, und der empirische Standpunkt Der Mensch gehört einem zwiefachen Reich der Phänomene an: für die Sinne ist er sich gegeben als Körper, für die innere Erfahrung als psychischer Zustand. Indem wir außer uns uns analoge Dinge wahrnehmen und bei ihnen ebensolche psychische Zustände voraussetzen, entsteht die Vorstellung eines Körper- und Geisterreiches - dies der Grund aller metaphysischen Spekulation. Wir nehmen auch für die materielle Welt eine geistig-psychische Ursache an. Die im Körper ablaufenden Prozesse nennen wir physiologische, die in unserer Seele [ablaufenden] psychische. Zwischen beiden herrscht Wechselwirkung, und dies ist das Innewohnen des Geistigen im Körperlichen. Von außen hervorgegangene Bewegungsvorgänge sind begleitet von Empfindungsvorgängen, und diese werden in uns lokalisiert und umgekehrt, folglich ist ursächliche Verknüpfung zwischen beiden. Ebenso lokalisieren wir unsere Denkprozesse im Kopfe, Gemütsvorgänge 62 in der Herz- und Magengegend. Diese Vorgänge sind lokalisiert durch entsprechende körperliche Vorgänge. Das Intellektuelle und Gemütliche wird auch entwickelt mit dem Körper, so daß dieser als der Schauplatz erscheint für alles Psychische. Gehen wir physiologischer Betrachtung nach, die der erst genannten entgegengesetzt ist, so haben [wir] gewissermaßen ein Telegraphensystem, dessen Zentrum das Gehirn. (Nach Ueberweg ist Kopf und Rumpf wie eine Abspiegelung eines wirklich Realen, ebenso die ganze Welt wie ein Spiegelbild.) Ich kann nun das Psychische 1) aus dem Physiologischen allein erklären - Materialismus. 2) Das Psychische ist eine selbständige Tatsache und existiert für sich, und ich [muß] entweder dualistisch annehmen, daß wir es mit zwei verschiedenen Tatbeständen zu tun haben: Dualismus des Descartes und anderer, diese beide sind für eine Zeit zu ursächlicher Wirkung verbunden; diese Ansicht so gefaßt ist unhaltbar, weil unwissenschaftlich. Nach der modernen Naturwissenschaft unhaltbar. Ich muß die Körperwelt, das die Konsequenzen von diesem Standpunkt, in eine bestimmte Beziehung zu den geistigen Wesen setzen, die ich als das Prius betrachten muß, und die Körperwelt entweder von der Geisteswelt aufgebaut oder als bloßes Phänomen betrachten. Diese beiden Standpunkte als Spiritualismus - in neuerer Zeit wesentlich von Hartmann [?] begründet, auch Fechner und Lotze. Es gibt ferner eine 3) Ansicht, die Elemente des Körpers zugleich als geistige auffassend, so Leibniz nach ihrer ersten Begründung durch G. Bruno, in neuer Zeit der Mathematiker Ritter, Zöllner [?], wie überhaupt die Mathematiker zu der Ansicht sich neigen.
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Begründung des materialistischen Standpunktes 63 Zwei Klassen von Begründungen zu unterscheiden. Die eine nicht wissenschaftlich, nur Resultat der allezeit gleichmäßig fruchtbaren Eindringlichkeit der Erfahrung, die zweite wissenschaftliches Ergebnis. 1. Klasse der Begründung: Es steigt mit der Entwicklung des Nervensystems die psychische Tätigkeit. Der Verstand der höchsten Tiere ist analog unserem. Bei zunehmendem Alter nimmt die Geisteskraft ab. Verletzungen des Gehirns ziehen Schwäche der Denkkraft nach sich. Mikrokephalen - ein enger Gehirnraum verhinderte die Gehirnentwicklung. Selbst moralische Eigenschaften stehen nicht außerhalb des Konnexes mit dem körperlichen Zustande. Ferner sind hervorzuheben die Vererblichkeit bestimmter geistiger Eigenschaften von Vater auf Sohn, da wahre Verwandtschaft nicht immer auf Erziehung zurückgeführt werden kann. Bisher Begründung des Materialismus durch allezeit gleicherweise sich aufdrängende Argumente. Die wissenschaftlichen Motive im folgenden entwickelt. 2. Klasse der Begründung des Materialismus, der sich im 18. und 19. Jahrhunden immer mehr entwickelte. Durch die immer mehr aufkommende Induktionsmethode kam immer mehr die Mechanik auf, und es siegt der Gedanke, daß das ganze Weltall [ein] System von Bewegungsvorgängen sei; besonders die Entwicklung des Gehirns begünstigte die materialistische Betrachtungsweise. Die Vorstellung der Lebenskraft entfernte Lotze aus der Physiologie und Biologie. Durch Darwin die letzten Reste der einen Lebenskraft aus der Naturwissenschaft elidiert. Die Erklärungsversuche 64 sind zwar zum Teil mißglückt, aber die Tendenz richtig. Vgl. Lange, Geschichte des Materialismus. Die mechanische Erklärungsweise kann im Grunde nur analysieren. Ein anderes Motiv dieser naturwissenschaftlichen Bewegung liegt hauptsächlich in der Sinnennatur des Menschen, der sich von dem Anschaulichen befriedigter fühlt als von dem rein innerlich Erfahrenen. Mit dem Anschaulichen beginnt der Mensch, die Reflexion erfolgt viel später. Es ist ferner fast Naturgesetz, daß wir Wissenschaften für wertvoller halten, welche zu einer gewissen Zeit uns nützlich sind. Es gibt aber eine Tatsache, die Empfindung nämlich, die nicht auf Bewegungsvorgänge zurückführbar ist. Beide treten zwar der Regel nach verbunden auf, aber wir können sie nicht auseinander ableiten. Dieser Satz bezeichnet eine Grenze der Naturforschung, welche also für den Materialismus nie einen strengen Beweis wird führen können, die Empfindung kann nicht als entsprungen aus Bewegungsvorgängen aufgezeigt werden. Du Bois-Reymond „Uber die Grenze des Naturalismus" 65 und Virchow kennen diese Grenze an. Die Hypothese der Identität [?] Die Atomenwelt sind wir anzunehmen gezwungen. Nach dem Prinzip, alle Erscheinungen auf so wenig als mögliche Gründe zurückzuführen, möchten wir das Geistige
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auf jene mechanistischen Prinzipien zurückführen; es bleibt nichts übrig, als jene mechanischen Elemente mit geistigen Funktionen auszustatten, und zwar um so mehr, je mehr Entwicklung vorhanden ist. Diese Ansicht beruht auf Spinoza: Es ist also eadem res, die von dem einen Gesichtspunkt, von außen nämlich - Körper, von innen [ . . . ] Geist ist. Und zwar ist das idem das Atom (und das ist das Abweichende von Spinoza). Es gibt also in der Welt nichts Totes, absolut Totes. Diese Betrachtungsweise angebahnt von Bruno, fortgeführt von Leibniz, in neuer Zeit von Herbart, Lotze, Fechner, am reinsten von Zöllner. Diese Betrachtungsweise bestätigt das vorhin angegebene Bedenken; aber auch alle - auch diese ungenügend, wie aus dem Folgenden erhellen soll. Sie erklärt nicht alle psychologischen Tatsachen, ζ. B. das Gedächtnis. Namentlich gibt es eine Tatsache, welche die beiden vorangegangenen Ansichten zwingend widerlegt. Wir fühlen uns [ein] in das Ichbewußtsein, das Zentrum unseres ganzen geistigen Lebens. Der Schluß jedoch aus dieser Tatsache ist nicht haltbar. Erst der Rückblick auf das Vergangene läßt einen Zusammenhang wahrnehmen. Kant, Fichte, Waitz, Psychologie. Was in unser Bewußtsein einmal eingetreten, das kann nun wiederum in uns hervorkommen. Zwei Grundformen bringen kein Drittes hervor. [Die spiritualistische Hypothese] Die spiritualistische Weltansicht beruht als exakte Wissenschaft auf psychologischer Beobachtung. Kantische Ansicht von der transzendentalen Synthesis, wonach alles Synthetische nur von uns ausgeht. Akzeptiert von Waitz; ausgeschlossen die Ansicht, daß unsere Wahrnehmungen und Vorstellungen etwa in einem aggregatmäßigen Zustande wären. Relativität der Sinneswahrnehmungen heißt: Derselbe Sinnesreiz wirkt je anders nach der Verschiedenheit der Aufeinanderfolge der Sinneseindrücke; der Zusammenhang also ist das Prius, und aus diesem heraus empfangen erst unsere Vorstellungen ihre qualitative Bestimmtheit. Wir beginnen gleich von vornherein nicht mit Einzelnem, sondern mit dem Ganzen, mit dem Totalgehalt unseres Bewußtseins; die Atomistik muß hier ausgeschlossen bleiben und [ist] ein Nachhall Herbarts. Die Tatsachen der Natur (die für uns ja nur Phänomene) sind Atome. Davon das Psychische ganz verschieden. In unserem Geiste ist die Einheit, die Synthese das Prius, außerhalb unser sind starre Atome. Beziehungen von Vorstellungen auf anderes: bilden unser geistiges Leben; unser Bewußtsein bezieht die einzelnen Elemente zur Einheit aufeinander, durch Vergleichung der Vorstellungen, welche nur möglich, wenn sie nicht ganz entgegengesetzt. Die Naturwissenschaft faßt das Seiende auf als Diskretes, aber die Natur unseres Bewußtseins ist stetiger Fortgang, Kontinuität, und wir fassen die Außenwelt als kontinuierliche Einheit auf. Der Beweis für die Immaterialität der Seele ist hieraus nicht erwiesen. Die atomistische Auffassung des Psychischen ist irrtümlich, das nur Synthesis ist. Der gewöhnliche Materialismus ist also ein Nonsens. (Bis hier die 3 Weltansichten)
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II. ABSCHNITT: § 1 . L e i b und Seele 1. Satz: D i e lebendige K o m b i n a t i o n von einfachen Stoffen, die sich auch in dem Anorganischen finden; die Elemente sind überall unveränderlich, überall dieselben Elemente auch in den fernsten Sonnen, und zwar sind K o h l e n - [und] Stickstoff, Sauerund Wasserstoff vorzugsweise die Elemente der organischen Körper. 2. Satz: Diejenigen Verbindungen der chemischen Elemente, welche dem Organismus eigentümlich, heißen organische Stoffe, welche sich im Organismus bilden. D i e chemischen Elemente treten zu einer engen Verbindung zusammen. D i e organischen Stoffe [sind] Träger des Lebens, die die C h e m i e nicht künstlich herzustellen vermag, da sie nur im organischen P r o z e ß sich bilden, nicht etwa, daß eine besondere Lebenskraft hierzu nötig wäre; wir können nur schließen, daß im Organismus irgendwelche besonderen Bedingungen vorhanden sind, die jene chemische Bildung ermöglichen, und wir nur in den Besitz jener Bedingungen uns nicht zu setzen vermögen. D i e Pflanze wandelt vermöge [der] G r ö ß e von Prozessen anorganischer Elemente in ihrem Organismus. Proteinverbindung: D e r M e n s c h und das T i e r vermögen sich nur von bereits organischen Stoffen zu erhalten. Wasser, Eiweißstoff. Ersteres die Elastizität der chemischen Durchdringung ermöglichend, letzteres überall die [ . . . ] bildend. D i e organischen Körper, gleich ein Staat von Zellen - kleine kugelförmige K ö r p e r chen von mikroskopischer D i m e n s i o n ; beständige chemische Wechselwirkung zwischen den Zellen. Es gibt Organismen, welche zeitlebens aus einer Zelle bestehen, alle anderen aus Zusammensetzungen von Zellen. D i e Zelle aber entsteht nur aus der Zelle, und zwar pflanzt sie sich fort durch Trennung. D i e Organismen bauen sich aus Zellen so auf, daß jeder Organismus eine Arbeitsteilung in sich enthält. D i e beiden großen Familien [?] bauen sich so auf in Tieren und Pflanzen. Es gibt eine Zeit, w o der menschliche K ö r p e r in einer Grundsubstanz besteht. D i e Arbeitsteilung, in der besondere Organismen besondere Funktionen ausüben, nimmt zu mit der höheren Stufe des Organismus. Vergleich mit der Gesellschaft, welche je höher, desto mehr Arbeitsteilung. K a n t sagt: I m Anorganischen gehen die Teile dem G a n z e n voran, im Organismus das G a n z e den Teilen. Dieser Ansicht Schloß sich J o h a n n e s Müller an. D i e Basis des organischen Lebens die Ernährung. Es sind vier Organsysteme, die der Selbsterhaltung dienen, hierzu die Erhaltung der Gattung durch Fortpflanzung.
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§2. Lebenskraft und Bildungstrieb Es besteht kein spezifischer Unterschied zwischen anorganischen und vitalen Funktionen. Diese Behauptung ist Produkt roher Unbildung. Ebenso ist der abergläubische Vitalismus verwerflich. Müssen wir die Entstehung und Erhaltung der Organismen auf eine besondere Kraft zurückführen, welche den Organismus möglich macht, oder reichen hierzu die gewöhnlichen bekannten Naturgesetze hin? Es ist unzweifelhaft, daß diese dabei unumgänglich nötig, aber die Frage, ob eine besondere Lebenskraft hierzu anzunehmen nötig. Eine solche nehmen letztens Schopenhauer und Hartmann an. Aber nicht zu beweisen. Einen besonderen Bildungstrieb glaubte Blumenbach zur Bildung der Organismen annehmen zu müssen und setzte ihn an die Stelle der Seele.
§[3.] Das Nervensystem als der Träger einer zwiefachen Beziehung der Seele zur Außenwelt. Empfindung und Bewegung Das Knochengerüst existiert als der [ . . . ] Träger, als die Vorzeichnung [?] der Grundgestalt des Körpers. Aus drei Teilen setzt sich dieses Ganze zusammen: 1) Wirbelsäule, 2) Schädel als ein besonders entwickelter Wirbel betrachtet, 3) Glieder. Es entstehen zwei Höhlen, die kleinere enthält Gehirn und Rückenmark, die größere die übrigen Organe. Die große Masse des Leibes tritt nur mittelbar in bezug zum Geistigen, unmittelbar nur das Nervensystem. Dieses teilt sich in ein Zerebrospinalsystem, und dies hat ein Zentrum, und einen Sympathikus (Interkostalsystem). Das Gehirn bildet zwei ovale Massen, durch eine breite Nervenmasse verbunden. Das vordere Gehirn teilt sich in zwei Hemisphären, an das hintere kleinere Gehirn schließt sich das Rückenmark. Es gibt drei verschiedene Formelemente im Nervensystem: 1) Nervenfasern, 2) N e r venzellen, 3) Wirbelsubstanz zwischen beiden. Die letztere verbindet nur. Die Nervenfaser hat die Funktion der Leitung, die Nervenzelle die Funktion, worin sich etwas ereignet. Produktion der Empfindung. Aus dem Rückenmark treten starke Nervenbündel heraus. Die peripherischen Nervenfasern treten in doppelter Weise aus dem Rückenmark hervor, als motorische (auf der vorderen Seite), auf der hinteren Seite treten hervor die sensiblen. Die Muskeln bestehen aus mikroskopischen Fasern; ein Wirbel hat nur eine einfache Funktion: sich durch Zusammenziehung zu verkürzen, worauf dann eine Erschlaffung folgt. Hierdurch wird Bewegung der Knochen ermöglicht. So sind wir dann in unserem geistigen Leben gleichsam eingebettet zwischen der aktiven und leidenden Natur unserer physiologischen Organisation. Also zwei Gesetze: Erstes Gesetz: Die Rückenmarkwurzel enthält als vordere nur motorische, als hintere nur sensible Nerven; den ersten kommt Bewegung, diesen Empfindung zu. Zerschneidet
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man nun die vorderen Seiten der peripheren Nerven, so hört alle Bewegung auf, während Empfindung bleibt. Und so auch umgekehrt, und das ist der Beweis von jenem Gesetze. Das zweite Gesetz: es hat nicht denselben Grad von Gewißheit. Es besagt: Empfindung und Bewegungsantriebe sind nicht in den peripherischen Teilen, sondern sie werden erzeugt [?] und erhalten im Zentralapparat, gleichviel wie man sie sich verteilt denkt. In dem peripherischen System ist nicht Empfindung, Wille, Antrieb etc., sondern sie sind gleichsam nur Telegraphen; erst im Zentralapparat entstehen jene geistigen und sensiblen Akte. Die sensiblen und motorischen Nervenendigungen sind nur Leiter. Dieses zweite Gesetz widerspricht freilich der unmittelbaren Empfindung. Wir empfinden den Schmerz am geschnittenen Finger, an der peripherischen Endung, an der Haut; allein, nach dem Abschneiden des Nerven vom Zentralapparat wird der abgeschnittene Nerv empfindungslos, während der übriggebliebene nach dem Zentrum zu empfindend bleibt. Freilich könnte man sagen, daß durch das Abschneiden überhaupt die normale Tätigkeit des Nerven aufgehoben [sei], und es bleibt die Kantische Annahme ( [ . . . ] Geist), daß die Seele über den ganzen Körper verbreitet [sei].
§ [4.] Die Grundformen der Vermittlung zwischen Empfindung und Bewegung. Der Reflexvorgang. Der Sitz der Seele Im weitesten Sinne sind alle Bewegungsvorgänge als Reaktionen zu betrachten und tragen den Charakter der Zweckmäßigkeit an sich. Der Schmerz des Stichs an dem Finger ist erklärt, indem der Nerv am Finger gereizt wird und es dem Rückenmark und dem Hirn meldet - und hier entsteht das Gefühl des Schmerzes. Wenn ich aber den gestochenen Finger von der stechenden Nadel zurückziehe, so rührt das von meinem Befehl her gleichsam, der von dem Zentralapparat dem motorischen Nerv erteilt worden, und der Muskel wird zurückgezogen. Allein, sind wir uns dieses Befehles bewußt? Nein! Sagen wir: Ich habe unwillkürlich die Hand zurückgezogen, was verstehen wir unter unwillkürlicher Bewegung? Wird der Schlafende gestochen, zieht er auch die Hand zurück. Man könnte sagen, er tut das halbbewußt, also doch Wille dabei. Allein, es läßt sich der Beweis führen, exakt, daß ohne Mitwirkung des Willens eine zweckmäßige Kette von Bewegung vor sich gehe. Wir können manchmal Bewegungen von uns erblicken, die wir nicht gewollt. Bei einem gehirnlosen Tiere kann man dennoch Empfindung und zweckmäßige Bewegung gewahren. Wir nennen Reflexbewegung diejenigen zweckmäßigen Bewegungen, die ohne Mitwirkung eines bewußten Willens stattfinden. Gehen, Stehen, Sprechen müssen erlernt werden. Sind sie erlernt, so genügt es; beruht auf gewissen Leitungsbahnen, die ausgebildet werden müssen. Allmählich gewinnt eine von denselben ein Ubergewicht. Unter dem Sitz der Seele verstehen wir denjenigen Punkt, in dem sie unmittelbar wirksam ist, d. i. im Nervensystem, näher im Zentralnervensystem; im ganzen Körper ist die Seele nur mittelbar wirksam.
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III. A B S C H N I T T : 6 6 Elemente und Grundgesetze des Seelenlebens § [1.] Die sogenannten Seelenvermögen Mannigfache Einteilungen sind in der Geschichte der Psychologie vorgekommen. Kant sagt: Wir können alle Vermögen des menschlichen Gemüts ohne Ausnahme auf die drei zurückführen: 1) das Erkenntnisvermögen, [2)] Gefühl der Lust und Unlust und [3)] Begehrungsvermögen. Leibniz und Wolff wollten alle nur auf Erkenntnisvermögen zurückführen, allein das ist vergebliche Bemühung. Das Gemeinsame in allen drei Vermögen sind Vorstellungen oder besser Affektionen der Seele. Diese beziehen die Affektionen auf etwas außer sich und bilden sie zur Einheit des Gegenstandes, oder die Seele sucht die Affektionen zu realisieren - Begehren und Wollen. Drittes: ist die Seele tätig, ihre Affektionen auf sich selbst zu beziehen, und so entsteht das Gefühl der Lust und Unlust. Im ersten Falle verhält sich die Seele theoretisch, im zweiten praktisch, im dritten ästhetisch. Diese drei Grundvermögen werden geleitet von apriorischen geistigen Tatsachen, von den Prinzipien des Verstandes, welche die Außenwelt unabhängig von ihr konstituieren. Das Gefühl der Lust und Unlust wird von der Urteilskraft geleitet, das Wollen und Begehren von den Prinzipien der Pflicht. Nicht mit dieser Kantischen Einteilung zu verwechseln [ist] die ihr ähnliche Hamiltonsche. Hamilton nimmt hypothetisch ein Wesen an, das nur intellektuell begabt ist und es sich in demselben wie etwa der Empfindung Ahnliches vorfände; und ebenso mit den anderen Vermögen. Herbart hält es für den Grundfehler Kants, solche Vermögen anzunehmen. Dagegen erklärt Lotze, daß es überhaupt unmöglich [sei], in der Anschauung sich zu orientieren ohne Annahme von Kräften und in der Psychologie von Vermögen. Die Physik vermag auch die Gesetze der Wirkungen jener Kräfte anzugeben, die Psychologie ist nicht in der Lage, solche Gesetze und Bedingungen aufzufassen, aber es sind doch drei verschiedene Vermögen in der Seele zu unterscheiden: Verstand, Gefühl, Wille. Jedenfalls wäre nach dieser Lotzeschen Ansicht das Vorstellungsvermögen nur das Primäre in der Seele, ohne daß darum die sekundären negiert würden. Kant beschrieb richtiger als Lotze drei verschiedene Zustände: Erkenntnisvermögen, Gefühl, Wille; Lotze vollzieht eine problematische Analyse und Abstraktion. Prof. Dilthey bleibt auf dem Standpunkte Kants. Aber ist die Dreiteilung richtig? Aristoteles und Spätere leugneten das; Mill nahm Begehren, Fühlen, Vorstellen, Wille und Urteilen an. Dilthey nimmt zwei Klassen an (cf. Horwicz und Steinthal nach Schleiermachers Vorgang), worauf auch unsere Nervenorganisation hinweist: rezeptiv und aktiv-spontan. Gefühl und Willensakt gehen allmählich ineinander über: in beiden Klassen handelt es sich um Wählen oder Verwerfen, um angenehm oder unangenehm. Das Bejahen und Verneinen aber hat damit nichts zu tun. Begehren und Fühlen haben Intensitätsgrade, die Evidenz keine. Die Begriffe gut und schlecht stehen in äußerer Beziehung zu Wollen und Füh-
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len, sind aber indifferent bezüglich des Erkenntnisvermögens. Also: Wollen und Fühlen einerseits - und Erkenntnisvermögen andererseits. Aristoteles stellte vier Hauptklassen der Seelentätigkeit auf: niederes Theoretisches und höheres Theoretisches und niederes Praktisches und höheres Praktisches. Mit dem Wachsen der Naturwissenschaft wuchsen auch die Mittel: Mathematik etc., und nach Analogie der exakten Wissenschaft der Naturgesetze suchte man die Gesetze des geistigen Lebens ebenso zu erörtern. Descartes, Spinoza suchten nach dieser naturwissenschaftlichen Methode das Seelenleben zu erklären. Voraussetzung, daß der Ordnung der geistigen Tatsachen entspräche die Ordnung der körperlichen Tatsachen. Die Konsequenz war bei Engländern, Franzosen und den meisten Deutschen die Verneinung angeborener Ideen. Empfindungselemente und ihre Gesetzlichkeit waren die Grundlage dieser Richtung. Die Deutschen wie Kant und Fichte, Schleiermacher machten dieser Richtung zunächst Opposition durch die Betonung der Selbstherrlichkeit des [ . . . ] Willens, des Ich, des Individuums, des Geistes. Kant setzte den Gedanken der Synthesis dieser Richtung entgegen.
Mannigfache Einteilungen sind in bezug auf die größeren psychischen Tatsachen entwickelt worden; unter diesen heben wir als die wichtigste die von Kant hervor, von welcher wir den Ausgangspunkt nehmen. Kant sagt: [,,]Wir können alle Vermögen des menschlichen Gemütes ohne Ausnahme auf diese drei zurückführen: das Erkenntnisvermögen, das Gefühl der Lust oder Unlust und das Begehrungsvermögen. Und zwar haben Philosophen, die wegen der Gründlichkeit ihrer Denkart alles L o b verdienen, diese Verschiedenheit nur für scheinbar erklärt und alle Vermögen auf das bloße Erkenntnisvermögen zurückzuführen versucht. (Es ist das die Leibniz-Wolffische Schule, gegen die er sich wendet.) Allein, es läßt sich sehr leicht denken, und seit einiger Zeit hat man es auch schon eingesehen, daß dieser fast in echt philosophischem Geiste unternommene Versuch, Einheit in die Mannigfaltigkeit der Vermögen zu bringen, vergeblich sei. Denn es ist immer ein großer Unterschied zwischen Vorstellungen, sofern sie bloß auf das Objekt und die Einheit [des Bewußtseins derselben bezogen zur Erkenntnis gehören - im gleichen zwischen derjenigen objektiven Beziehung, da sie zugleich als Ursache der Wirklichkeit dieses Objektes betrachtet zum Begehrungsvermögen gezählt werden - und ihrer Beziehung auf das Subjekt, da sie für sich selbst Gründe sind, ihre eigene Existenz in demselben bloß zu erhalten und insofern im Verhältnis zum Gefühl der Lust betrachtet werden, welches letzte schlechterdings keine Erkenntnis ist, noch verschafft, ob es zwar dergleichen zum Bestimmungsgrund voraussetzen mag."] 6 7 Alle drei sind Affektionen der Seele. Nun ist die Seele erstlich tätig, diese Affektionen auf Dinge außer sich zu beziehen und sie solchergestalt zur Einheit eines Gegenstandes auszubilden. Die Seele ist tätig, sich durch solche
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Affektionen zur Verwirklichung derselben bestimmen zu lassen, d. h., in der Seele ist eine Bewegungskraft, welche die Vorstellungen realisiert; alsdann verhält sich die Seele als begehrend oder wollend. Es ist das der zweite Prozeß. Begehren und Wollen enthalten eine Beziehung zum Gegenstande, zur Außenwelt; die eine dieser Beziehungen ist erkennend, die andere ist tätig. Am schwersten zu bestimmen aber ist die dritte unter diesen Tätigkeiten; diese verbleibt im Subjekt. D.h., die Seele ist tätig, ihre Affektionen auf sich selbst zu beziehen; in diesem Gefühle aber entstehen Lust oder Unlust. So entstehen also für uns in der Seele drei Vermögen, welche wirksam sind in entsprechenden Prozessen. Diesen Vermögen allen liegt zugrunde, daß wir Affektionen haben. Dies also ist der gemeinsame Bestand unseres geistigen Lebens in allen drei Zuständen. Kant fährt fort: „Diese drei Grundvermögen werden geleitet von einer apriorischen geistigen Tatsache. Das Erkenntnisvermögen wird geleitet von den Prinzipien des Verstandes, welche unabhängig von der Beschaffenheit der Dinge die Außenwelt konstituieren; das Gefühl wird geleitet von dem Vermögen der Urteilskraft, von der Zweckmäßigkeit, welche wirksam ist in der Kunst. Das Begehrungsvermögen wird geleitet von jener apriorischen Tatsache des Sittengesetzes oder der Verbindlichkeit, welche meinem Begehren seine Handlungen vorschreibt." 68 Mit dieser Theorie ist nicht selten identifiziert worden eine von Hamilton, später von Lotze entwickelte Theorie, die aber von der Kantschen zu sondern ist. Der Gedanke, von welchem erstere ausgeht, ist die Unableitbarkeit des Willens von Vorstellungen und Gefühlen. Ich denke nun, es hört jemand die Geschichte von dem Tod des Leonidas. Der Zustand, in welchen er alsdann gerät, ist der Zustand eines Besitzes einer Reihe von Vorstellungen. Die Affektionen, welche an ihn herantreten, verwandeln sich an ihm zu Gegenständen, er verhält sich gegenständlich, er sieht Gegenstände, er verhält sich intellektuell. Ich begäbe dasselbe Wesen mit Gefühl, das schon mit Vorstellungen begabt war: wird es sich zugleich aktiv verhalten? Es wäre nicht möglich sich zu denken, daß ein solches Wesen eine Nachricht vernähme, daß Gefahr im Anzüge sei, ohne daß es dieselbe abhalten wollte. In dem Willen tritt also ein Novum hinzu. Eine Betrachtung ähnlicher Art hat Lotze angestellt. Er geht davon aus, in welchem Sinne wohl Kant berechtigt gewesen sei, von den Vermögen der menschlichen Seele zu reden. Herbart hatte diese Theorie angegriffen. Sein Angriff ging auf den Satz zurück: Es gibt überhaupt nicht etwas, das als Vermögen betrachtet werden könnte, worin doch liegt, daß eine Wirkung angelegt wäre, ohne doch einzutreten. Diese bloße Anlage ist einerseits ein non ens, weil sie keine Realität ist, soll aber andererseits ein ens darstellen; und
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so gerät dies in Widerspruch mit der eleatischen Lehre, daß unmöglich dasselbe zugleich sein und nicht sein kann. Lotze verteidigt nun Kant gegen Herbart. Man könnte sich, sagt Lotze, ein bloß vorstellendes Wesen denken, ein solches würde ein Schauplatz von Ereignissen [sein], an denen es selbst keinen Anteil nähme und denen gegenüber es keine Gegenwirkung äußerte. Ein solches Wesen würde sein Leben bedrohende Angriffe mit der größten Klarheit erfassen, ohne in der Lage zu sein, das Bedürfnis zu besitzen, eine Rückwirkung zu äußern, ja ohne auch nur ein Gefühl von Furcht dabei zu haben. Daß wir uns das schwer vorstellen können, ist eine Folge der Übertragung unserer eigenen Zustände. Ein Widerstreit der Vorstellungen braucht ja nicht als Unlust empfunden zu werden, die Harmonie derselben braucht nicht Lust hervorzurufen. Ebenso könnten wir uns ein vorstellend-fühlendes Wesen denken, welches zwar Unlust empfände in dem bezeichneten Falle, aber ohne das Streben nach Hilfe. Gefühle werden erst zu Beweggründen für ein Wesen, in welchem bewegende Kraft wohnt, ein Wesen, welches seiner Natur nach motorisch ist. Trendelenburg sagt: Das Begehren ist nicht die aufstrebende Vorstellung selbst, sondern das empfundene Bedürfnis als eine in der aufstrebenden Vorstellung wohnende und treibende Kraft. So also können wir uns die Sache vorstellen. Die Frage wäre zunächst, ob vermöge dieser Analyse der Beweis geliefert ist, daß der Herbartsche Satz falsch sei, aus Vorstellungen könne man die übrigen Zustände ableiten. Herbart sagt: Die einzige Grundfunktion des Psychisch-Realen ist, Vorstellungen zu haben, und aus deren bestimmten Stellungen zueinander entspringen die Gefühle und der Wille. Vorstellungen, welche in Disharmonie durcheinander gehindert, sich in der Seele vorfinden, sind von Unlust per se begleitet. Die Frage wäre nun, ob der Nachweis von Lotze zureichend ist, man könne sich ein bloß vorstellendes Wesen denken. Wenn wir also auch Gefühl und Willen besitzen, so muß noch ein besonderer Grund als Erklärung dieser Zustände in uns vorausgesetzt werden. Diese Argumentation hat etwas Bestechendes, aber den strengen Anforderungen an einen Beweis genügt sie doch nicht. Gerade so, wie wir chemische Wirkungen annehmen, in welchen wir aus den Komponenten das Produkt keineswegs ableiten können, so können wir auch annehmen, daß aus Vorstellungen Gebilde entstehen, welche heterogen jenen sind. Allerdings müßte Herbart dann wenigstens sagen, die Seele hat nur eine primäre Funktion, alle anderen entspringen aus der Zusammensetzung. Die Theorien von Lotze und Kant sind wesentlich verschieden. Überhaupt möchten wir den Versuch Lotzes, Grundkräfte der Seele zu bezeichnen, zu-
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nächst abweisen. Es ist dies ein metaphysischer Versuch, zu welchem unsere Kenntnisse zunächst und ohne weiteres nicht hinreichen. Kant stellte nur drei verschiedene Klassen von Zuständen auf, und diese sind sehr wesentlich verschieden von dem, was Lotze konstruiert hat. Kant konstruiert tatsächlich bestehende Zustände, einen Zustand des Erkennens, einen des Begehrens usw. Lotze zieht aus der realen Betrachtung der Dinge Abstraktionen heraus, ein Gefühl, welches keine Vorstellung in sich enthält, ein Gefühl, welches keinen Willen in sich hat, usw. D.h., Lotze vollzieht eine analytische Operation, deren Wert problematisch ist. Kant stellt drei tatsächlich bestehende und sich unterscheidende Vorgänge resp. Zustände auf. Wenn wir von dem bloßen Vorstellen, von dem bloßen Begehren usw. sprechen, so müssen wir erst beweisen, daß solche Zustände wirklich in der Seele vorkommen. So verbleiben wir bei der Auffassung Kants gegenüber der von Hamilton und Lotze, und wenn von verschiedenen Zuständen die Rede ist, so meinen wir die tatsächlich existierenden Zustände unseres wirklichen Wahrnehmens und Denkens, unseres Fühlens und Wollens. Aber da erhebt sich die Frage: Ist denn die Dreiteilung Kants richtig? Stehen gerade diese drei Klassen selbständig nebeneinander? Dies ist vielfach geleugnet worden. So ist sonderbar die Einteilung von J. St. Mill in die Klassen: Begehren und Fühlen, Vorstellen, Urteilen. Wir unterwerfen einer näheren Betrachtung nur die Ansicht, welche nur zwei Klassen aufstellt. In Mills Einteilung scheint eine Irrung vorzuliegen. Es ist ja wahr, daß das Urteil, wonach ich die Existenz von etwas behaupte, etwas anderes ist als eine bloße Vorstellung. Aber sein Irrtum liegt darin, daß er infolge davon diese beiden Klassen auseinanderreißt. In Wirklichkeit ist die Vorstellung, welche ich von irgendeiner Chimäre habe, eine bloße Abschwächung dessen, was Mill Urteil nannte. Unsere Grundfunktion ist aber dieses Wahrnehmen und gegenständlich[e] Auffassen. Sehr gewichtig sind die Gründe derer, welche zwei Klassen an die Stelle der drei Kantischen setzen. Zunächst ist es schon (und das haben Horwicz und Steinthal sehr hervorgehoben, nach dem Vorgange von Schleiermacher) die Stellung des Individuums zur Außenwelt und die in dieser Stellung gegebene Gestalt unseres Nervensystems, welche hindeuten auf die zwei Grundfunktionen psychischer Leistungen. Es deutet nämlich darauf hin, was Gebilde des Nervensystems, wie dasselbe sich einerseits der Außenwelt aufnehmend entgegenstreckt, andererseits tätig nach außen durch die Muskeln einzugreifen bereit ist, bestimmt, in Beziehung zu stehen zu einer psychischen Tätigkeit, welche ebenfalls doppelt ist, welche einerseits aufnehmend, andererseits nach außen aktiv ist; und wie wir mit der Außenwelt gestellt sind, Nachrichten empfangend und Einflüsse ausübend, so scheint dies unsere Grundstellung zu sein, doppelt wirksam zu sein.
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Diese aus der allgemeinen Stellung des Individuums und des Nervensystems zu dem Ganzen der Welt fließenden Gründe werden verstärkt durch eine genaue Analyse des Nervensystems, welche Horwicz in seinen „Psychologischen Analysen" 6 9 gegeben hat. Aber wichtiger sind die Punkte, welche gelegen sind in der Betrachtung der psychischen Tatsachen selbst. Denn die Stellung unserer geistigen Tätigkeit zu dem Nervensystem kann auf sehr mannigfache Weise gedeutet werden. Davon also absehend, wenden wir uns zu den inneren Tatsachen des Bewußtseins. Hier tritt zuerst hervor der allmähliche Übergang von Gefühlen zu Willensakten und von Willensakten zu Gefühlen. Traurigkeit wird in uns zur Sehnsucht nach einem vermißten Gut; die Hoffnung wird rege, daß es uns wieder zuteil werde, das Verlangen, es uns zu verschaffen, wird tätig. Mut tritt hervor und Entschluß. In dieser Reihenfolge von psychischen Vorgängen wäre es unmöglich zu bestimmen, wo das Gefühl endige und der Willensakt beginne. Ein unmerklicher Ubergang scheint vorzuliegen. Betrachten wir aber die innere Natur dieser beiden Klassen, so gewahren wir: In beiden Klassen handelt es sich um Wert oder Unwert, ein Annehmen oder Verwerfen, um eine Doppelstellung des Individuums zu Tatbeständen, welche ihm gegenübertreten in bezug auf ihren Wert für das Individuum; und es ist ein Unterschied, ob ich mich zu einer Tatsache verneinend oder bejahend verhalte oder vielmehr mich über sie freuend oder sie vermeiden wollend. Wenn ich nämlich etwas bejahe, so ist es bloß ein Akt der Intelligenz in bezug auf Realität oder Aufhebung derselben. Dagegen haben Begehren und Gefühl Intensitätsgrade, welche gar nicht vergleichbar sind mit dem, was etwa entsprechend auf dem Vorstellungsgebiete obwaltet. Die Stärke der Lust, die Macht der Affekte, die Gewalt des menschlichen Willens stellen sich in einer langen, mannigfachen Skala von Graden des Fühlens zum Wollen dar. Nichts davon ist im Behaupten oder Verneinen einer Tatsache. Es kann zwar auch dies mit einem höheren Grade von Entschiedenheit geschehen, aber dies ist eben ein Gefühlszusatz, es ist das Uberzeugungsgefühl. Aber die Intelligenz hat keine Intensität, sie läßt sich nur entwickeln durch eine Reihe von sorgfältig entwickelten und nebeneinandergestellten Begriffen. Endlich die Begriffe: gut und schlecht, vollkommen und unvollkommen stehen in einer nahen Beziehung zu dem Begriff des Werdens und folgerecht in einer nahen Beziehung zu unseren Gefühlen und Willensakten, verhalten sich dagegen indifferent zu dem Bejahen oder Verneinen. Aus der Welt des Fühlens und Wollens entsprießen alle unsere Begriffe einer Vollkommenheit oder Unvollkommenheit, der Güte der Dinge oder ihrer Unbrauchbarkeit usw. Doch muß man sich von neuem hüten, sich ihren einfachen Betrachtungsweisen ohne weiteres preiszugeben. Betrachtet man die Reihe von einer
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anderen Seite, s o findet m a n , daß gewisse G e f ü h l e mit Vorstellungszuständen sehr nahe verschwistert sind, daß auch zwischen G e f ü h l e n u n d Vorstellungen m a n c h e Verbindungen bestehen, u n d wie o h n e alle F r a g e ein gar nicht festzustellender U b e r g a n g stattfindet v o n der K l a s s e der G e f ü h l e zu der der Willensimpulse, s o findet ein ebensolcher U b e r g a n g auch statt v o n intellektuellen zu G e f ü h l s g r u n d s ä t z e n . J a , w a s ist dann unwillkürliche B e w e g u n g ? E i n m o t o r i sches E l e m e n t inmitten des intellektuellen. S o gelangt m a n zu einer viel tieferen Betrachtung. Verfolgen wir den G e d a n k e n K a n t s , nach w e l c h e m es ohne Vorstellungsgehalt w e d e r G e f ü h l n o c h Willen gibt, o b es irgendeine lebhaftere W a h r n e h m u n g o h n e einen minimalen G e f ü h l s g e h a l t gibt u s w . , s o sieht m a n , daß diese Einteilung den größten B e d e n k e n unterliegt. Wir w e r d e n also, im Verlauf unserer Betrachtungsweise, zu einer tieferen A u f f a s s u n g gedrängt uns sehen, als diese Einteilung ist. [ § 2 . ] E m p f i n d u n g , G e f ü h l , Vorstellung Dasjenige ist Empfindung, was dem einfachen Reiz (dem physiologischen) psychologisch korrespondiert. Empfindung ist nicht ein für sich bestehendes Element, sie ist ein Teilinhalt einer Gesamtwahrnehmung. Die Empfindung wird durchdrungen gleichsam von Gefühl. Wie ist Wahrnehmung von Vorstellung zu unterscheiden? Die Wahrnehmung hat ihre Existenz in einem Vorgang, in dem ein Sinnesorgan in Tätigkeit ist und in dieser Tätigkeit verbunden ist mit einem psychischen Vorgang. Der Sinnesreiz kann viel früher endigen. Beweis: Wenn man nach langem Betrachten 70 [des] Gegenstandes das Auge schließt, dann bleibt noch das Bild im Geiste, wenn auch der Lichtreiz bereits geschwunden ist; nur der Erregungszustand des Sinnesorganes muß fortbestehen, nicht aber der Sinnesreiz, soll die Wahrnehmung verharren. Wie verhält sich nun die Vorstellung zu der Wahrnehmung? Ich stelle nämlich einen Gegenstand vor auch in seiner Abwesenheit. Die Vorstellung enthält ihn nur innergeistig, nicht projizierend, nicht im Sehraum; es ist nicht dieselbe Stärke und Energie und Deutlichkeit, wie sie dem Wahrnehmungsbilde entspricht. Sind die Umstände gleichgültig, wenn es gilt, ein Erinnerungsbild deutlich vorzustellen? Nein! Es bedarf dazu begünstigender Umstände, nach deren Beschaffenheit die Bilder der Vorstellungen sich gestalten. Verschiedene Personen haben verschiedene Fähigkeitsgrade, die Erinnerungsbilder intensiv vorzustellen. Nächst dem physiologischen Nachbild nennt Fechner noch ein Erinnerungsnachbild. Es gibt übrigens eine ganze Skala von Vorstellungsbildern hinsichtlich ihrer Intensität, von der höchsten Intensität bis zur vollständigen Verschwimmung der Vorstellung. U n t e r E m p f i n d u n g verstehen wir nicht ein f ü r sich bestehendes E l e m e n t , welches in F o r m v o n Z u s a m m e n s e t z u n g e n mit weiteren p s y c h i s c h e n A k t e n z u r W a h r n e h m u n g wird. Vielmehr wir gehen v o n den wirklichen [ A k t e n ] aus
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und fragen uns: Welcher ist der ursprüngliche Zustand, in welchem der Mensch sich findet? Er findet sich wahrnehmend, und wir tun zunächst weiter nichts, als diesen Wahrnehmungszustand in Teilinhalte zu zerlegen, in einfachere Inhalte, welche in Beziehung stehen mit den Leistungen der Endigungen der Nerven, und diese Teilinhalte sind es, welche wir als „Empfindung" bezeichnen. Ich verstehe also unter „Empfindung" denjenigen Teilinhalt eines Totalwahrnehmungszustandes, welcher mit der Regung eines bestimmten Nervenelementes in Beziehung steht. Wie haben wir uns nun das Verhältnis einer solchen Empfindung zum Gefühl, zur Vorstellung zu denken? Die Empfindung gibt Kunde von dem Objekt, sie ist ja nur ein Teilinhalt der Wahrnehmung, welche Objekt ist. Sie faßt in sich das, was als Farbe in unserem Auge zu entstehen scheint, was als Ton in unserem Ohre klingt. Davon verschieden sind Gefühle, welche subjektiv verbleiben und nicht auf Zustände von uns bezogen werden. Und doch, beide Äußerungen finden wir verknüpft als psychische Tätigkeiten an denselben Nervenvorgängen, und zwar durchdringen sie einander so in unserer Seele, daß das Gefühl wie die bloße Färbung der Empfindung, wie eine Melodie, welche unsere Wahrnehmung der Dinge beständig begleitet, erscheint. Es ist, als fänden wir uns von den Klängen der Empfindung beständig wie umgeben, während wir in Wahrnehmen und Denken begriffen sind. Versuchen wir nun, in die erste Grundlage dieser Zustände einzudringen, so finden wir uns unbestimmten Regungen von Lust und Unlust gegenüber, wie sie allen sensiblen Nerven gemeinsam sind, welcher auch ihr Endapparat sein möge. Uberall über unseren Körper ist diese Fühlsamkeit verbreitet, das vitale Leben hat seine eigenen Zentren in dem Nervensystem; doch auch von ihm gelangen Reize zum Gehirn und werden dem Bewußtsein zugeleitet. Die vitalen Empfindungen lassen sich auf keinen bestimmten Punkt, weder unseres Nervensystems noch auf irgendeine bestimmte Ursache innerer seelischer Zustände, zurückführen. Je weniger das Leben bereits Strebungen, Erregungen entwickelt hat, je weniger das Individuum in seinen Vorstellungen lebt, also in dem reinen Inneren, je mehr es in der Gegenwart lebt, desto mächtiger sind in ihm die Klänge der Gefühle, welche die Vorstellungen begleiten. Nichts ist interessanter als ein Kind in dieser Beziehung [zu] beobachten, in welcher Wahrnehmungszustände mit lebendigen Gefühlsäußerungen verbunden sind. N u r in dem Künstler dauert etwas derartiges fort, alle anderen Menschen verlieren es. Künstler verbleiben im Leben, in der Gegenwart, in der Welt der Töne oder des Gefühls. Hier haben sie ihre Existenz, und so, Kindern gleich, sind ihre Wahrnehmungen von einer weit größeren Intensität der Gefühle und Strebungen begleitet, als dies in dem Alltagsmenschen der Fall ist, welcher die Wahrnehmung nur wie Rechenpfennige benutzt, nicht wie wirkliche Münzen.
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Wenn wir uns nun fragen, worauf Lust und Unlust in ihren primitivsten Gestalten [sich] beziehen, so läßt sich wohl der allgemeine Satz aufstellen: Der Einklang zwischen dem Reiz und den Bedingungen unserer Funktionen ruft Lust hervor, ihr Widerstreit Schmerz, und die Stärke des Gefühls ist das Maß des aufgefaßten Einklangs oder Widerstreites. Natürlich handelt es sich dabei nur um die augenblickliche Beziehung der beiden Faktoren. Auch ein Gift kann demgemäß Lust für den Geschmackssinn erwecken, denn nur partiell ist die Auffassung dieser Beziehung, und auch etwas, was nur nach unserer gegenwärtigen krankhaften Stimmung uns Lust erregt, kann und muß hier Berücksichtigung finden. So waltet Lust und Schmerz, so wird überhaupt ein Verhältnis der an uns herantretenden Reize zu unseren Lebensbedingungen stattfinden, und dies ist die am meisten primäre, die erste und niedrigste Form des Gefühls, [die] des „sinnlichen Gefühls". Wo aber dann Endapparate für die Sinnesnerven vorhanden sind und wo eine intellektuelle Entwicklung an sie sich anschließt, da tritt eine Hebung unserer Gefühle ein. Die fünf Sinne vermitteln zwischen unserer Seele und den Reizen, die unseren Organismus treffen. Eine höhere Form solcher Gefühle, die mit Wahrnehmungszuständen verbunden sind, Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack, rufen deutliche Wahrnehmungen hervor, welche begleitet sind von entsprechenden Gefühlen. Auch der fünfte Sinn, den man gewöhnlich als Gefühl in einem weiteren Sinne bezeichnet, oder der Tastsinn, ist zunächst ein Träger von Wahrnehmungen, womit aber alsdann Gefühle verbunden sind. Wie unterscheiden wir nun Wahrnehmung und Vorstellung voneinander? Die Wahrnehmung hat ihre Existenz in einem Vorgange, in welchem ein Sinnesorgan tätig ist, wenn mit dieser Tätigkeit verbunden ist ein psychischer Vorgang. Sobald nun der Zustand des Sinnesorgans endigt, endigt die Wahrnehmung (nicht aber der Reiz, dieser kann früher endigen). Wenn man z . B . das Fenster, das stark beschienen ist, lange und intensiv ansehe und dann das Auge plötzlich schließt, ohne den Kopf zu wenden, so bleibt vor den Augen ein Nachwirken; dies ist noch Wahrnehmungszustand, und man sieht außer sich hell und dunkel vermöge der Affektion der Augen. Die Wahrnehmung ist also bedingt durch die Fortdauer des Erregungszustandes des Sinnesorgans, nicht durch die Fortdauer des äußeren Reizes. Ich kann mir aber auch einen abwesenden Körper vorstellen, ζ. B. einen Freund; das Bild desselben ist aber, auch unter den günstigsten Umständen, nur inner-geistig, nicht projiziert aus dem Vorstellungsleben hinaus. Auch hat es nicht dieselbe Intensität und Klarheit der Farbe, dieselbe Sicherheit der Umrisse, dieselbe Genauigkeit und Stärke in bezug auf die einzelnen sinnlichen Bestimmtheiten. Aber ist der Erfolg unter allen Umständen derselbe, oder sind die Umstände
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gleichgültig? N e i n , sie wirken mit. D i e Intensität der Vorstellungen ist bei den einzelnen Individuen sehr verschieden, E r i n n e r u n g s b i l d oder Vorstellung unterscheiden sich von den übrigen Wahrnehmungen. E s existiert eine ganze Skala v o n Vorstellungen v o n d e m deutlichen Wahrnehmungsbild bis zu d e m g a n z verschwindenden Erinnerungsbilde.
[§ 3.] V o m Beharren der Vorstellungen Die Tatsache der Erinnerung wird gewöhnlich erklärt: die Seele bewahre gewisse Vorstellungen gleichsam in einem besonderen Räume. - Der Zustand, in welchem ein Wesen sich einmal befunden [hat], wirkt fortdauernd auf den folgenden, bis er von einem anderen Zustand verdrängt wird, und dann wirken diese gemeinsam fort. Das ist das Gesetz des Beharrens der Vorstellung. Wir nehmen an, daß in der Zwischenzeit, vom Ende der Wahrnehmung bis zur ersten Wiedererinnerung, etwas in uns zurückgeblieben [ist], was die Erinnerung ermöglichte. Die Psychologen drückten das mannigfach aus. Das Einfachste ist, es bleibt in mir eine Vorstellung, nur nicht in meinem Bewußtsein. Oder ich sage: Es existiert in der Zwischenzeit eine Disposition in mir, eine Spur dauert, und diese wird unter begünstigenden Umständen zu Vorstellung gebracht. Wir unterscheiden also zwischen der Wahrnehmung, dem Zustand nach der Wahrnehmung, der die Erinnerung ermöglicht, und der Erinnerung. Diese kann entweder physiologisch oder psychologisch erklärt [werden]. Im ersten Fall nehme ich an: Das Residuum der Wahrnehmung wirkt bloß physiologisch zur Wiederherstellung des Bildes; oder ich nehme psychologisch unbewußte Vorstellungen an. In der Empfindung und Vorstellung gibt es eine unbegrenzte Anzahl von verschieden möglichen Tatsachen; anders in der Natur, wo die Tatsachen ziemlich eng begrenzt sind. In der Vorstellung bleibt ein Bild einer Vorstellung auch neben den anderen, in der Natur herrscht Festigkeit. D i e K r a f t des Erinnerns ist s o groß, daß in Fällen b e s o n d e r s angeregter E r i n n e r u n g s k r a f t die M e n s c h e n sich an D i n g e erinnern, die v o r vielen J a h r e n vorgingen. Wie ist dies z u erklären? M a n erklärt dies p o p u l ä r : D i e Seele habe unter lebhaftem E i n d r u c k gestanden und diesen a u f g e n o m m e n und b e w a h r e ihn gleichsam in einem R ä u m e auf, und m a n sagt, m a n vergesse, w e n n m a n es sucht, o h n e es zu finden, oder m a n erinnere sich, wenn m a n es g e f u n d e n . E r k l ä r e n o d e r wenigstens genau beschreiben m ö c h t e n wir den Vorgang, und dabei m ü s s e n wir v o n einer V o r a u s s e t z u n g ausgehen, o h n e welche wissenschaftliche B e t r a c h t u n g ü b e r h a u p t u n m ö g l i c h ist. Wir gehen d a v o n aus: Ein Z u s t a n d , in welchem ein Wesen einmal gewesen ist, m u ß m o d i f i z i e r e n d einw i r k e n ; dieser Z u s t a n d muß f o r t d a u e r n , bis er abgeändert wird durch andere Z u s t ä n d e , und w e n n solche eintreten, s o entsteht aus d e m Z u s a m m e n w i r k e n ein gemeinsames P r o d u k t .
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Es ist das allgemeine Gesetz der „Beharrung", der Erhaltung, welches unter dieser Form ausgedrückt wird, nichts aber enthält als die logische Regel, daß wir nur erklären können aus gleichförmig sich verhaltenden Elementen. Mit solchen Voraussetzungen treten wir an die Erklärung. Was ist denn das, was Wahrnehmung war und noch nicht Erinnerung ist, in der Zwischenzeit? Es ist resp. war Vorstellung, aber unter Vorstellung verstehe ich etwas, was im Bewußtsein existiert. Es wäre also eine contradictio in adjecto, eine Vorstellung, die eine Zeitlang nicht vorgestellt ist. Wir wissen also nichts von den Dingen resp. Vorgängen in uns, von dem Ende der Wahrnehmung bis zur ersten bewußten Erinnerung. Wir nehmen an, in den sieben Tagen zwischen Wahrnehmung und Erinnerung dauert etwas in uns fort, welches die Erinnerung ermöglicht. Die Vorstellung war in dieser Zeit in einem Bereich, von dem wir nichts wissen. Am besten erkläre ich es eben dadurch, daß ich behaupte, es existiert eine unbewußte Vorstellung. Es ist eine gewisse psychische Disposition vorhanden; wenn nun die begünstigenden Umstände eintreten, so verwirklicht sich das Bild. Wir unterscheiden also einfach zwischen der Wahrnehmung, zwischen demjenigen psychischen Zustand, der nach Vollendung derselben eintritt und die Vorstellung oder Erinnerung ermöglicht, und zwischen der Erinnerung. Es sind das drei gesonderte Zustände, von denen der erste und dritte uns, da sie in unserem Bewußtsein vorhanden sind, bekannt ist, der mittlere nicht. Ein Residuum bleibt also, und wir verdeutlichen uns hier nur: dies Residuum kann entweder physiologisch oder physiologisch und psychologisch oder rein psychologisch gefaßt werden. Ich kann annehmen, es dauert eine Disposition in meinem Gehirn fort, oder ich nehme an, es dauert ein Zustand in meinem geistigen Leben fort. Im zweiten Falle muß ich solche Zustände als unbewußte annehmen. Ich nehme also entweder an, es gibt überhaupt gar keine psychischen Zustände, welche unbewußt wären, alsdann muß ich annehmen, das Residuum ist rein physiologisch, und dies wirkt für die Wiederherstellung des Bildes, oder ich nehme an, es existiert ein Bild psychologisch, aber unbewußt, und der Vorgang ist nur ein zum Bewußtsein gelangender. Ich erkläre also die Tatsache des Gedächtnisses auf zweierlei Weise, indem ich eine physiologische Spur oder eine psychologische Vorstellung annehme. Fassen wir zunächst ins Auge, wie sich die Gruppierung dieser Vorstellungen zum Bewußtsein zu den analogen Naturerscheinungen verhält. In der Natur existiert nur eine bestimmte Anzahl von Elementen, welche sich erhalten während ihrer Verbindung, im psychischen Leben existiert eine unbegrenzte Masse von möglichen und sich realisierenden qualitativen Sensationen, die Reihenfolge möglicher Fakten ist unbegrenzt. Wenn in der Natur eine Verbindung sich auflöst, so ist sie zerstört, und neue treten an ihre Stelle.
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Wenn ich den Abstraktionsprozeß vornehme, so bleibt die Wahrnehmung, woraus ich abstrahiere, es bleiben die Elemente neben dem Produkt; die Folge der unermeßlichen Anzahl Elemente ist eine unermeßliche Komplikation des menschlichen Seins.
[§ 4.] Vom bewußten und unbewußten Zustand der Vorstellung und von der Enge des Bewußtseins Wir mußten zwischen der Wahrnehmung und der Erinnerung einen Zwischenzustand annehmen, um die Tatsache der Erinnerung zu erklären; dazu zwingt gleicherweise die L o g i k als die Erfahrung, es m u ß eine ursächliche Verknüpfung hier stattfinden. Welches ist die N a t u r dieses Zustandes? Es dauert hier etwas fort, was unbewußt ist. B e w u ß t sind wir uns immer nur sehr weniger Vorstellungen. Bewußtseinsraum, der als erleuchtet vorgestellt wird - Schwelle des Bewußtseins - , oder wir stellen uns das Bewußtsein vor als einen gewissen Grad von Klarheit, oder wir denken uns unter dem „Bewußtsein" eine Kraft
alles Ausdrucksweisen, die mehr bildlicher N a t u r [sind].
Wir wenden uns nun von diesen Abstraktionen zu den realen Tatsachen. „ B e w u ß t sein" ist eigentlich b l o ß e Abstraktion; wirklich existiert nur ein bewußter Zustand gewisser Vorstellungen, erfahrungsmäßig sind uns nur bewußte psychische Akte, bewußte Wahrnehmungen, Gefühle [gegeben], aber weder existiert die Abstraktion „ B e wußtsein" noch die H y p o t h e s e unbewußter Vorstellungen. Folglich ist das Problem der Psychologie dies: Welche Schlüsse kann ich aus den bewußten Vorgängen auf die darin nicht enthaltenen Tatsachen ziehen? Ich kann nur die Aufeinanderfolge und ihre Regeln, die uns faktisch gegeben sind, aufsuchen [?], dagegen kann ich nicht auf den inneren Zusammenhang dessen, was ich vorher [wahrgen o m m e n ] , und [die] nachfolgende Erinnerung schließen, d. i. nicht auf den Zwischenzustand der beiden Vorstellungen. Wir können nur über die Aufeinanderfolge und Koexistenz Gesetze aufstellen, aber nicht über jenen Zwischenzustand, so sehr unsere Wißbegierde diesen Schleier lüften möchte, um den inneren Zusammenhang unserer Vorstellungen kennenzulernen. D i e Psychologie vermag hier nur zu umgrenzen. Wir können uns wenigstens einige m ö g liche Vorstellungen über dieses Problem machen. D i e Erinnerung steht mit der Wahrnehmung in ursächlichem Zusammenhang; das ist die notwendige Voraussetzung, die wir zugrunde legen müssen, weil wir sonst den ganzen N e x u s unseres Geisteslebens zerreißen würden. Es besteht also ein Fortwirken, ein fortdauernder Zustand oder eine fortdauernde Tätigkeit oder Vorgang - wir sind nicht imstande, dieses Zwischenglied näher zu bestimmen. A b e r jene Tatsache muß entweder eine psychische oder physische oder psychophysische sein - diese drei m ö g lichen Ansichten sind über jene Tatsache [vertreten worden]. N a c h der Ansicht der meisten psychologischen [Forscher]: So gut ich die Vorstellung selbst als etwas Psychisches anzusehen mich genötigt sehe, ebenso wird es wichtiger
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sein, auch den Zwischenzustand als einen psychischen anzusehen - er ist also psychisch, aber nicht bewußt. Eine solche Annahme hatte Leibniz 7 1 [gemacht] - Vorstellungen sehr geringen Intensitätsgrades - , welche Ansicht auch Kant sich später aneignete und später Herbart, dem die ganze deutsche Psychologie dann folgte, gleich als ob unbewußtes Vorstellen als eine empirische Tatsache uns vorläge. In der Tat ist es nur eine Hypothese. Ist es aber andererseits unmöglich, daß dieser Zwischenzustand ein physiologischer sei? Dies wäre jedoch nur durch die Fechnersche Einschränkung vorstellbar, daß der erste und letzte Vorstellungsvorgang ein psychophysischer sei, wodurch es auch annehmbar ist, den Zwischenzustand als einen physiologischen Rest anzusehen, als eine physiologische Disposition oder Spur, die zurückgeblieben. Oder es läßt sich endlich annehmen, daß der Zwischenzustand selbst auch ein psychophysischer sei; allein mit dieser letzten Vorstellung, die nur eine Kombination beider [ist], haben wir es jetzt nicht zu tun. Jene zweite Ansicht wird natürlich vertreten zumeist von allen materialistischen Psychologen; allein, auch eine Reihe von idealistischen Denkern (die meisten englischen Philosophen, auch neuerdings in Deutschland: Brentano, erster Band der Psychologie, 7 2 der nachweist, daß unbewußte Vorstellungen seien eine contradictio in adjecto, sie seien nur als physische [Tatsachen] zu erklären, ebenso Bergmann etc.) vertritt diese zweite Ansicht. Fechner jedoch hält auch den Zwischenzustand für psychophysisch, nicht für physiologisch allein. Eine Anzahl von Tatsachen läßt die Annahme von unbewußten Vorstellungen für gerechtfertigt erscheinen, die von Leibniz, Η . Helmholtz u. a. vertreten wird. Im Traum treten die bewußten Vorstellungen zurück; es wurde bereits gesagt, 7 3 daß hiernach ein Wachwerden nicht möglich wäre. Der Schlafzustand ist ein gradweise verschiedener, es sind die mannigfaltigen Zustände, die oszillieren. Auch im wachen Zustande kann man sehr häufig die Ursache der schlechten Stimmung nicht finden, und nur durch eindringliche Reflexion erforscht man sie gleichsam. Diesen Tatsachen entspricht sehr gut die Annahme unbewußter Vorstellungen. Der Schlaf wird immer tiefer und erfordert immer stärkere Reize zum Wecken - bis zum Zustande des tiefsten Schlafes; hier haben wir also Grade der Abwesenheit von Bewußtheit - das sind die negativen Grade. Die positiven Grade derselben sind abhängig von Anspannung der Aufmerksamkeit, was ebenfalls für die Existenz unbewußter Vorstellungen spricht. Das scheint aber die einzige Tatsache, welche diese Ansicht wahrscheinlich macht. Von der Summe derjenigen Vorstellungen, die wir zu gleicher Zeit haben: wir wenden uns von dem Zwischenzustand zu dem Bewußtseinszustand selbst. Die Zahl der Vorstellungen, die wir zugleich haben können, heißt in der Herbartschen Psychologie: „Enge des Bewußtseins". 7 4 [Der Satz:] „In jedem Augenblick des Bewußtseins hat die Seele nur eine Vorstellung" in dieser Fassung ist jedenfalls falsch. Die Frage ist so zu stellen: Wieviel Wahrnehmungen können wir zugleich erzeugen? Wieviel Wahrnehmungen können wir zugleich besitzen? Wieviel Wahrnehmungen können wir zugleich erzeugen und besitzen?
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D u r c h E x p e r i m e n t ergibt sich, daß ich die W a h r n e h m u n g des Schalles u n d des G e sichtes nicht zugleich e r z e u g e n k a n n in v e r s c h i e d e n e n S i n n e s o r g a n e n ( E x p e r i m e n t v o n W u n d t ) . 7 5 W i r sind i m m e r nur i m s t a n d e , in einem M o m e n t uns eine Vorstellung z u e r z e u g e n , d e m E x p e r i m e n t e gemäß. Wir k ö n n e n aber auch zugleich festhalten eine W a h r n e h m u n g und eine a n d e r e e r z e u g e n ; nur e r z e u g e n k ö n n e n w i r a u c h zwei Vorstellungen z u gleicher Zeit, ja w i r sind s o g a r i m s t a n d e , m e h r e r e Vorstellungen zugleich f e s t z u h a l t e n u n d zugleich eine a n d e r e z u e r z e u g e n . J e k o m p l i z i e r t e r , d e s t o unsicherer, oszillierender, s c h w a n k e n d e r , v e r s c h w i m m e n d e r , lyrischer w i r k e n die E i n d r ü c k e in uns. E i n e V o r s t e l l u n g z u bilden ( a b s t r a k t e nämlich), erheischt größere A n s t r e n g u n g als bloßes W a h r n e h m e n . F o l g e d a v o n , daß der U m f a n g unserer a b s t r a k t e n Vorstellungen z u gleicher Zeit viel kleiner ist als d e r der W a h r n e h m u n g e n . D o c h k ö n n e n m e h r e r e Vorstellungen z u gleicher Zeit in uns sein, w a s d a s Vergleichen v o n Vorstellungen beweist, [ w a s ] d a s [ F a k t u m ] des gleichzeitigen D e n k e n s zweier Vorstellungen beweist. D e r U m f a n g d e r s e l b e n z u gleicher Zeit geht a l s o ü b e r den B e s i t z einer einzigen hinaus. J e d o c h k ö n n e n wir z w e i d i s p a r a t e Vorstellungen z u gleicher Zeit nicht haben.
Es gibt einen Zustand der Wahrnehmung, in welchem sie weder Wahrnehmung noch Wiedererinnerung ist, welchen ich annehmen muß, um die Erinnerung zu erklären. Denn wie sollte ich anders erklären, daß ich, nachdem ich vor acht Tagen jemanden sah und nicht mehr an ihn dachte, plötzlich ihn wieder vor meinem Bewußtsein erblicke ohne mein Zutun; soll ich annehmen, die Wahrnehmung sei vorübergegangen ohne Eindruck und nun entstehe die Erinnerung von neuem? Das kann man nicht annehmen. Es besteht also ein solch ursächlicher Zusammenhang; jene Wahrnehmung wirkt nach, eine Zeitlang für mich unverständlich, und ihre Wirkung tritt dann mit einem Male in der Erinnerung hervor, es dauert hier etwas fort, welches nicht bewußt ist. Was heißt nun Bewußtsein? Wir stellen es uns bald vor wie einen Raum, in welchem sich die Vorstellungen bewegen; es ist ein Raum von beschränkter Weite, und in diesen erleuchteten Raum treten von außen aus dem Dunkel der Umgebungen Vorstellungen hinein und drängen einander, erscheinen auf diesem erleuchteten Felde und werden solchergestalt zu bewußten Vorstellungen. In diesem Sinne spricht man weiter von einer Schwelle des Bewußtseins, über welche die Vorstellungen hineintreten müßten. Dann denkt man sich wohl vor dieser Schwelle miteinander kämpfend die noch unbewußten Vorstellungen und hindurchdringend, in den erleuchteten Raum gelangend, zum Bewußtsein fortschreitend. Oder aber wir stellen uns das Bewußtsein vor als eine bloße Tatsache der Klarheit, welche man sich veranschaulicht durch die Analogie der Klarheit. Wir denken uns ein Licht, daß bald diesen, bald jenen Teil beleuchte von bis dahin unklaren Vorstellungen.
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Oder wir denken uns eine Kraft von endlicher Stärke, welche bald dieser Anzahl unbewußter Vorstellungen Bewußtheit erteile, bald jener - alles Ausdrucksweisen, Bilder, welchen wir einen gewissen Grad von Wahrheit nicht abstreiten. Aber was entspricht ihnen denn in Wirklichkeit erfahrungsmäßig? Wir wenden uns daher zu den realen Tatsachen selbst. Bewußtsein ist nichts als eine bloße Abstraktion, in Wirklichkeit existiert nur die bewußte Vorstellung, der bewußte psychische Akt. Auch existiert für uns erfahrbarerweise gar kein anderer psychischer Akt als ein solcher bewußter. Erfahren unmittelbar, wahrnehmen können wir nur unsere bewußten Zustände psychischer Natur. Wir gewahren die bewußten Vorstellungen, die wir in uns tragen. Erfahrungsmäßig ist uns gegeben weder das Bewußtsein noch die unbewußte Vorstellung, nur bewußte Akte unseres Selbst. Daher es denn zunächst erscheinen könnte als eine bloße Tautologie, daß ich vor Gefühl das Wort „bewußt" setze. Denn Wahrnehmung, Vorstellung und Gefühl als Erfahrung existieren immer nur bewußt. Es existiert also für uns weder die Abstraktion „Bewußtsein" noch die Hypothese unbewußter Vorstellungen. Erfahrungsmäßig existieren nur die psychischen Akte, welchen das Merkmal „Bewußtheit" zukommt, denn dies bedeutet ja nur „Erfahrenwerden und für uns vorhanden sein". Ist dies der Fall, dann ist das Problem der Psychologie das: Welchen Schluß kann ich aus den bewußten Akten machen auf die Bedingungen, unter welchen sie hervortreten, auf den kausalen Zusammenhang des geistigen Lebens, in welchem sie sich befinden? Erfahrungsmaterial der Psychologie sind nur die bewußten Vorgänge, erschlossen werden alle anderen darin enthaltenen Tatsachen. Und zwar können wir nun in Wirklichkeit erschließen diejenigen Bedingungen, unter welchen gewisse Bewußtseinsakte hervortreten, also die tatsächlichen Aufeinanderfolgen der Zustände unseres Bewußtseins, denn diese sind uns gegeben. Dagegen fragt sich, ob wir zu einem anderen Schluß befähigt sind, nämlich auf diejenigen Zustände, welche außerhalb unseres Bewußtseins liegen und folgerecht auf den wirklichen inneren Zusammenhang unseres geistigen Lebens, welcher eine Wahrnehmung verbindet mit einer später auftretenden Vorstellung, denn der Zusammenhang zwischen einer Erfahrung von vor acht Tagen und der gegenwärtigen Erinnerung liegt in dem dazwischenliegenden Zustande. Zwei Dinge sind also aufs schärfste zu sondern: Erkennbar ist auf jeden Fall die Aufeinanderfolge und die Regelmäßigkeit in der Aufeinanderfolge zwischen jenen Wahrnehmungen und diesen Vorstellungen. Wir können Gesetze aufstellen darüber, unter welchen Bedingungen wir eine Wahrnehmung reproduzieren als Vorstellung, 76 unter welchen Bedingungen wir sie umwandeln zu
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einer anderen Vorstellung, wir können also Gesetze aufstellen über die Bedingungen, d. h. über die Aufeinanderfolge oder Koexistenz dieser Tatsachen. So gut als der Naturforscher imstande ist, solche Gesetze der Aufeinanderfolge aufzustellen, ebensogut vermag dies auch der Psychologe, wenn auch die Fassung dieser Gesetze eine weniger genaue ist. Aber ein anderes möchte im Grunde alle Psychologie, sie möchte erfahren, welcher denn jener Zwischenzustand zwischen Wahrnehmung und Erinnerung [ist]. Das würde den innerlichen, metaphysischen Zusammenhang auf schließen. Und was vermag die Psychologie? Sie kann zunächst die Möglichkeit begrenzen und bezeichnen in betreff jenes Zustandes. Wir können uns nun drei Bilder von jenem Zwischenzustand machen. Wir gehen davon aus: Die Erinnerung steht in einem ursächlichen Zusammenhang zur Wahrnehmung. Diesen Zusammenhang zu leugnen, würde allen Prinzipien von Forschung widersprechen. Wir würden also den Nexus im Geiste zerstören, wir würden die Voraussetzung aller wissenschaftlichen Betrachtung zerstören, würden wir nicht den einfachen Satz aufstellen: Die Wahrnehmung wirkt fort in der Erinnerung. Daß ich wahrnahm, enthält den Grund für die spätere Tatsache, daß ich mich erinnere; also es besteht ein Fortwirken. Wenn das aber besteht, so kann das nur gedacht werden als ein dauernder Zustand (Ereignis, Tätigkeit könnte man es auch nennen). In betreff dieser Tatsache können wir nur zwei Möglichkeiten annehmen: dieselbe muß entweder eine physische oder eine psychologische sein, vorbehalten, daß dieselbe eine psychophysische sei. So ergeben sich uns aus den beiden Seiten des menschlichen Daseins drei Ansichten über die Tatsache, die wir zwischen Wahrnehmung und Wiedererinnerung setzen. Fangen wir mit der einfachsten und von den meisten Psychologen geteilten Ansicht an, dann würden wir sagen: So gut wie ich die Vorstellungen als einen psychischen Zustand kenne, so gut werde ich auch das Zwischenglied dieser beiden, die Tatsache, welche das Zwischenglied bildet, als eine psychische Tatsache annehmen müssen, denn Wahrnehmung und Erinnerung sind doch psychische Tatsachen. Es wäre also merkwürdig, wenn sie verbunden würden durch eine physische; es sei also eine psychische Tatsache, sie ist aber eine unbewußte. Es existiert also in uns ein psychischer Akt, der keineswegs Akt unseres Bewußtseins ist. Eine solche Annahme machte zunächst Leibniz, der Begründer dieser gesamten Theorie wurde. Er nahm an, es gäbe ganz kleine, d . h . geringeren Intensitätsgrades, Vorstellungen, und diese würden von uns gar nicht gewahrt, sie existierten in uns, ohne daß wir Bewußtsein davon hätten. Dieser Vorstellung bediente sich alsdann Kant, um auf dem Wege von Leibniz die Probleme
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der Erkenntnistheorie zu lösen. Diese Vorstellung erlangte eine außerordentliche Verbreitung unter den deutschen Denkern und wurde durch Herbart zum Grundpfeiler der Psychologie gemacht. Daher bedient sich alles der Vorstellung „unbewußt", gleich als handle es sich dabei um eine Erfahrungstatsache, nicht um eine Hypothese. Das Bild, das wir solchergestalt von unserem geistigen Wesen empfangen würden, hat etwas Ansprechendes. Wir würden einen Kosmos von Vorstellungen, Gefühlen in jedem Augenblicke sein, ein jedes Individuum würde tragen in sich die ganze Welt als Welt eigener Gefühle, Vorstellungen, Strebungen usw., ein jedes würde ein geistiges Ganze von unermeßlicher Ausbreitung sozusagen sein. Aber wir haben es nur mit einer Hypothese zu tun. Ist es denn an sich ausgeschlossen, daß das Zwischenglied zwischen der Wahrnehmung und [der] Vorstellung, beide psychische Akte, ein physiologischer Vorgang sei? Können wir uns nicht denken, daß eine physiologische Disposition zurückbliebe, welche alsdann die Bedingungen dafür enthielte, daß unser geistiges Leben unter bestimmten Bedingungen gerade diese Vorstellungen reproduziert? Das ist überhaupt unter einer Bedingung nur vorstellbar, unter der, die uns zur dritten Vorstellungsweise Fechners führt, wenn ich sage, die Wahrnehmung und Vorstellung sind ebenfalls psychophysische Akte. Ich muß annehmen, daß nach dem Vorübergehen des psychischen Vorganges ein physischer Zustand zurückbleibt. Der physische Vorgang ist nicht anzunehmen in den Endapparaten. Man kann eine solche Annahme nur aufrechterhalten, wenn man annimmt, dieser Vorgang ist alsdann auch weiter jenseits des Endapparates im Gehirn ein physiologischer und zugleich psychologischer. Diejenigen also, die annehmen, der Vorgang des Wahrnehmens und Vorstellens sei ein psychophysischer, die können annehmen, der Zwischenzustand sei gewissermaßen ein Sich-anderswohin-Wenden des psychischen Lebens, wobei dann ein bloßer physiologischer Rest im Gehirn und Nervensystem zurückbleibt. Oder endlich: Man könnte ganz im strengen Sinne den Satz aufstellen, der Vorgang, welcher hier stattfindet, dieses Zwischenglied, sei zugleich psychisch und physisch. Die letztere Annahme hat zunächst keinen höheren Grad von theoretischem Interesse, da sie nur Kombination der beiden anderen ist. Stellen wir zunächst die Behauptung der gegenüber, der Vorgang ist nur psychisch und der Vorgang ist nur physiologisch; auch dieser zweite Satz ist von einer Reihe von Psychologen vertreten worden. Zunächst wird er natürlich vertreten von allen materialistischen Psychologen; alle diese werden folgerecht als die für sie einfachste diejenige [Hypothese] vertreten: Der vornehmlich psychologische Akt der Wahrnehmung läßt
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eine physiologische Spur zurück, die unter gewissen Umständen eine neue Erregung hervorbringt. Aber nicht bloß die Materialisten, sondern auch eine Reihe von idealistischen Denkern hat diese Ansicht verteidigt. So die meisten englischen Philosophen, von denen nur wenige geneigt sind, die deutsche Hypothese von unbewußten Vorstellungen zu akzeptieren. Ihnen hat sich neuerdings in Deutschland eine Reihe angeschlossen, ζ. B. Brentano in seinem ersten Bande, welcher behauptet, es gibt nur bewußte psychische Akte, unbewußt ist eine contradictio in adjecto. Daneben hat Bergmann „Uber das Bewußtsein" 7 7 diesen Satz verteidigt, und er ist ebenfalls Idealist. Dabei ist keine Frage, daß dem materialistischen Standpunkt die zweite Annahme, den Idealisten die erste, den Anhängern der Identitätsphilosophie die Ansicht von der psychisch-physiologischen Tatsache am nächsten liegt. [Nach] Fechner sind alle Tatsachen zugleich psychisch und physiologisch. Fragen wir uns nun, ob es Tatsachen gibt, welche für die eine oder andere der Ansichten entscheiden. Entscheiden werden sie vielleicht nicht; handelt es sich aber darum, ob die Tatsachen besser durch die eine oder andere Annahme erklärt werden, so scheint die Ansicht von unbewußten Vorstellungen die wahrscheinlichere zu sein. Vertreten ist sie von Kant, Leibniz, Lotze, Helmholtz usw. Welche Tatsachen dafür sprechen, wollen wir nun sehen. Befindet man sich im schlafenden Zustand, so treten die bewußten Vorstellungen zurück, und in dem wirklichen Schlafzustand scheint eine Abwesenheit aller bewußten Vorstellungen angenommen werden zu müssen. Nun ist schon von anderen darauf aufmerksam gemacht worden, daß kein Mensch erweckt werden könnte, wenn das der Fall wäre. Die Sache stellt sich aber einfacher [dar]: Der Schlafzustand ist ein gradweise sehr verschiedener, und es findet ein ganz allmählicher Übergang statt vom Schlaf zum Traumzustand; es finden die mannigfaltigsten Zustände statt, Zustände von leise oszillierenden Vorstellungen, welche keineswegs zu voller Klarheit gelangen, von denen man aber auch nicht sagen kann, daß sie als Vorstellungen gar nicht existierten. Dies läßt sich auch beleuchten durch Tatsachen aus dem Zustande des Wachseins. Es kann einem begegnen, daß man sich in sehr unangenehmer Stimmung befindet, ohne sich der Ursache klar bewußt zu sein. Und doch ist hier nicht eine bloße Nachwirkung einer früheren Vorstellung, offenbar wird hier lose erregt und doch nicht zum vollen Bewußtsein erhoben die Ursache der unbehaglichen Stimmung, auf die hier nur zu reflektieren ist, um sie ins volle Bewußtsein zu bringen. Das sind alles Zustände, welche uns gerade [die] Unbewußtheit unserer Vorstellungen als [die] den Tatsachen am meisten entsprechende Annahme empfehlen. Der Schlaf vertieft sich vom Einschlafen, wie man beobachten kann, allmählich immer mehr, das Wecken erfordert immer stärkere Reize. Wie die Sonne
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vom Horizont zur Schwelle des Tages aufsteigt, am Mittag ihre höchste Höhe erreicht, um wieder zu sinken, so stellt sich 78 im Schlaf ein immer tieferes Sinken des Bewußtseins ein, immer stärker müssen die Reize sein, um das Erwachen hervorzurufen. Hier haben wir also in bezug auf unser Vorstellungsleben gerade das Unbewußtwerden der Vorstellungen. Es fällt auf diese Tatsache ein weiteres Licht, wenn man die Grade der positiven Bewußtheit ins Auge faßt. Diese kann man in jedem Augenblick an sich selbst studieren. Aufmerksamkeit stärkt die Bewußtheit, wir können ihre Intensität steigern. Dies scheinen aber auch die einzigen Tatsachen, welche auf diese Frage ein Licht werfen könnten. Wir können also aus den Tatsachen sehr wahrscheinlich machen, daß es positive und negative Grade der Bewußtheit von Vorstellungen gibt, daß somit die Vorstellungen auch als unbewußte in einer Reihenfolge von Graden als „relativ unbewußte" existieren. Wenden wir uns nun zu einem weiteren Problem, zur interessanten Frage von der Summe derjenigen Vorstellungen, die wir in Wirklichkeit zugleich im Bewußtsein besitzen können. Wir wenden uns zu den Bewußtseinsakten selbst. Unermeßlich ist die Zahl von Vorstellungen, welche wir uns zu erinnern imstande sind, klein die Zahl derjenigen, die wir im Bewußtsein besitzen. Fragen wir, ob wir die Zahl derselben einfach oder kompliziert bestimmen können. Man bezeichnet die Annahme über die Zahl von Vorstellungen, die wir zugleich im Bewußtsein haben können, als „Enge des Bewußtseins", und diese Lehre bildet besonders bei Herbart ein Kapitel von großer Ausdehnung, aber auch von nicht geringen Irrtümern. Zunächst hat man wohl die Enge des Bewußtseins dafür formuliert: In jedem Augenblicke des Bewußtseins könne die Seele nur eine Vorstellung fassen. In dieser Fassung ist die Behauptung falsch. Wir unterscheiden zunächst zwischen Wahrnehmung und Vorstellung, alsdann zwischen der Erzeugung von Wahrnehmungen und dem Besitz von Wahrnehmungen und fragen: Wieviele Wahrnehmungen können wir zugleich erzeugen, wieviele zugleich besitzen? Wir fragen zunächst: Sind wir imstande, mehrere Wahrnehmungen zugleich hervorzubringen? Diese Frage wird nur dann klar, wenn wir sie dahin determinieren: Sind wir imstande, Wahrnehmungen verschiedener Sinnesorgane zugleich hervorzubringen? Die experimentelle Antwort lautet „nein". Man konstruiere einen Apparat, einem Uhrwerk ähnlich; dieser Apparat bringt in demselben Augenblick, in welchem der Zeiger eine bestimmte Ziffer deckt, einen Schall hervor. Ich bewege nun den Weiser immer schneller; wird Ziffer und Zahl zugleich aufgefaßt, so muß ich den Ton zugleich hören und [?] die Dekkung der Zahl durch den Weiser sehen. Wenn ich nun mit großer Schnelligkeit
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den Weiser bewege, so tritt die entgegengesetzte Tatsache ein: Der Schall tritt früher auf, als der Weiser die Ziffer deckt, oder später, je nach der Richtung meiner Aufmerksamkeit, nie aber gleichzeitig, d. h. es stellt sich heraus, daß ich die Wahrnehmung des Schalles und die Gesichtswahrnehmung nicht gleichzeitig zu bilden imstande bin, sondern daß das Bewußtsein genötigt ist, entweder die eine oder die andere dieser Bildungen von Wahrnehmungen zuerst vorzunehmen. Einen solchen Apparat hat zuerst Wundt gemacht. Daraus folgern wir: Wir erzeugen nicht gleichzeitig eine Mehrheit von einander gänzlich getrennten Sinneswahrnehmungen der verschiedenen Sinnesorgane. Wählen wir ein anderes Beispiel. Man hat ein sehr kompliziertes Gesichtsbild im Bewußtsein, und nun lassen wir zu diesem Gesichtsbild einen Schall hinzutreten. D a blieb das Gesichtsbild, und die Schallempfindung trat hinzu. Was können wir daraus schließen? Es liegt darin die Tatsache, daß wir eine Wahrnehmung festhalten können, während wir eine Wahrnehmung einer anderen Klasse produzieren. Während also die Kraft unseres Bewußtseins nicht ausreicht, zugleich eintretende Zustände aufzunehmen, reicht sie nur dazu aus, einen Wahrnehmungsbegriff festzuhalten und zugleich eine andere Wahrnehmung zu produzieren. Sollten wir zugleich Ton und Landschaft wahrnehmen, so könnte dies nicht in demselben Moment geschehen. Diese Tatsache kann man versuchsweise noch weiter treiben. Man kann ζ. B. den Duft einer Blume empfinden, einen Eindruck von außen empfangen und zugleich doch an jemanden denken. Je komplizierter natürlich, desto unbestimmter bewegen sich alle diese Eindrücke ineinander und infolge davon selbst lyrischer, innerlicher, reicher erscheint das Bewußtsein in solchen Momenten. Nun ist aber die Frage, wie es sich mit den Vorstellungen verhält. Man kann hierin eine Wahrnehmung an sich selbst machen. [Um] eine Vorstellung zu bilden, ist jederzeit eine größere Kraftanstrengung verhältnismäßig [nötig], als [um] eine Wahrnehmung hervorzubringen. Das Leben in abstrakten Vorstellungen setzt eine größere Anstrengung voraus als das Leben der Anschauungswelt. Dieser Satz erweist sich an der vorliegenden Stelle [als] fruchtbar. Der Umfang, in welchem wir gleichzeitig Vorstellungen besitzen können, ist ein weit geringerer als derjenige, in welchem wir Wahrnehmungen zugleich besitzen können. Jener Kombination im Gefühlsleben entspricht nichts im Vorstellungsleben. Wie eng aber wirklich die Enge unseres Bewußtseins sei, ist ein schwieriger Gegenstand. Man könnte glauben, daß nur eine Vorstellung in einem gegebenen Augenblick zu besitzen möglich sei. Dem widerspricht eine wichtige Tatsache: Vergleiche ich miteinander zwei Vorstellungen und gehe ich nicht bloß von der einen zur anderen fort, so daß ich die erste verlassen [habe] und zur
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z w e i t e n m i c h h i n b e g e b e ( g e s c h ä h e d a s , s o k ö n n t e ich ja nicht vergleichen, d a n n w ä r e die erste nicht m e h r d a , w e n n die z w e i t e a u f g i n g e ) ; ich m u ß also in der V e r g l e i c h u n g in einem unteilbaren B e w u ß t s e i n z w e i V o r s t e l l u n g e n m i n d e stens z u s a m m e n s e t z e n . D i e Tatsache der Vergleichung b e w e i s t , d a ß die E n g e d e s B e w u ß t s e i n s in b e z u g auf u n s e r e V o r s t e l l u n g ebenfalls h i n a u s g e h t ü b e r d e n B e s i t z einer einzigen V o r s t e l l u n g . Wir k ö n n e n in der V e r g l e i c h u n g in e i n e m unteilbaren A k t z w e i V o r s t e l l u n g e n b e s i t z e n , w i r k ö n n e n ferner diejenigen E l e m e n t e b e s i t z e n in u n s e r e m V o r s t e l l u n g s v e r m ö g e n , w e l c h e sich vergleichen l a s s e n ; z w e i völlig d i s p a r a t e V o r s t e l l u n g e n k ö n n e n w i r a b e r nicht z u g l e i c h u m f a s s e n . D a s ist, w a s w i r u n t e r E n g e des B e w u ß t s e i n s z u verstehen h a b e n . L ä ß t m a n in dieser E n g e n u n V o r s t e l l u n g e n a u f g e h e n u n d v e r s c h w i n d e n , u n d s u c h e n w i r die G e s e t z e auf f ü r ihr A u f t r e t e n . -
[§ 5.] D i e p s y c h i s c h e n E l e m e n t e des b e w u ß t e n V o r s t e l l u n g s v e r l a u f e s u n d die in ihnen g e g e b e n e G r u n d l a g e der G e s e t z m ä ß i g k e i t dieses V o r s t e l l u n g s v e r l a u f e s H u m e geht an einer Stelle seines Versuchs von dem Gedanken aus, daß es einen Unterschied gibt zwischen regelmäßigem und unregelmäßig willkürlichem Vorstellungsverlauf. H u m e sagt, daß die scheinbar oft so unregelmäßigen Vorstellungsverläufe dennoch derselben Gesetzmäßigkeit unterworfen sind, wie der Fall des Steines etc. H u m e entnahm diesen Gedanken aus der Analogie mit der Naturwissenschaft. Newtons Gravitationsgesetz verwandelte die früher als Chaos erscheinenden Himmelsbewegungen in lauter Ordnung: Ganz so gibt es auch eine Attraktion unserer Vorstellungen, die H u m e als Assoziation bezeichnete, worunter er ein gesetzliches Verhältnis von Vorstellungen untereinander versteht, wonach Vorstellungen von anderen hervorgerufen werden. Man würde H u m e mißverstehen, wenn man unter seiner Assoziation eine besondere Kraft verstünde, er wollte damit nur die Tatsache dieser Beziehung, die vorhanden sein muß, feststellen; aber wir haben keine genauere Kenntnis dieser Kraft, sondern [kennen] nur ihre Wirksamkeit. Jedoch die Fassung Humes dieses Tatbestandes war noch unvollkommen, wir suchen eine genauere. Wir fragen, welche die Elemente seien, die zwischen den Assoziationen verlaufen: Welche sind die Elemente, welche assoziiert werden, in ein Assoziationsverhältnis zueinander treten? Den Prozeß, in welchem Trennung und Verbindung der Vorstellungen entstehen, wissen wir aus Erfahrung nicht, obgleich ihn der Psychologe zu erklären sucht. Für unser Bewußtsein haben wir nur Totalvorstellungen, unser abstraktes Denken zerlegt dieselben vermittelst [eines] SchlußVerfahrens. Wir zerlegen die Totalwahrnehmung in einzelne Teile; unsere Sinneseindrücke sind ein Verband solcher Teile. U n d zwar sind unsere Wahrnehmungen uns zeitlich und räumlich gegeben. Alle Totalvorstellungen,
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z u m Beispiel meines Z i m m e r s , in d a s ich i m m e r w i e d e r trete, meines F r e u n d e s etc., setzen V o r g ä n g e v o r a u s , die m e h r enthalten als den Inhalt jener T o t a l v o r s t e l l u n g e n ; sie sind a u c h nur aus etwas g r ö ß e r e m Sein h e r a u s g e h o b e n e Vorstellungen. U n d jetzt stellen w i r die R e g e l a u f : A n sich strebt alles, w a s einem G a n z e n e n t n o m m e n , jetzt isoliert ist, z u i h m z u r ü c k , u m es z u r e p r o d u z i e r e n . In solcher B e z i e h u n g stehen z u e i n a n d e r U r s a c h e u n d W i r k u n g , Mittel u n d Z w e c k , [ . . . ] . E s gibt h i n z u t r e tende intellektuelle M o m e n t e , wie eben U r s a c h e u n d W i r k u n g , Mittel u n d Z w e c k , die aber nie die S t ä r k e der A s s o z i a t i o n a n n e h m e n . E i n e jede E i n z e l v o r s t e l l u n g hat n o c h einen V e r b i n d u n g s r e s t mit anderen Vorstellungen, es h a f t e n der E i n z e l v o r s t e l l u n g n o c h A n z e i c h e n an ihrer einstigen V e r b i n d u n g mit d e m G a n z e n , mit d e m sie z u s a m m e n g e h ö r t ; diese A n z e i c h e n sind e n t w e d e r a n s c h a u licher o d e r intellektueller N a t u r . D a r a u f beruht d a s W a c h s t u m u n s e r e s V o r s t e l l u n g s inhaltes, u n s e r e r geistigen P r o z e d u r u n d [unseres] geistigen B e s i t z s t a n d e s .
In einer bewunderungswürdigen Stelle seiner Untersuchungen über den menschlichen Verstand geht Hume von der Unterscheidung aus, welche zwischen dem regelmäßigen, von unseren Absichten beherrschten Verlauf unserer Vorstellungen besteht und dem unregelmäßigen. 79 Wenn wir einen Schluß bilden, so ist selbstverständlich das Gesetz des Schließens die Regel, nach welcher diese Schlußbildung verläuft, wenn wir unseren Gedanken Audienz geben. Wenn wir uns der Willkür unseres eignen Vorstellungsverlaufes ganz überlassen, wie sonderbar spielt dann diese Willkür mit unserem Bewußtsein. Man geht vielleicht über die Straße, Wagen und Pferde ziehen vorüber, dieses Bild reproduziert eine Erinnerung früherer Tage, wo man in früherer Zeit mit ähnlichen Pferden dahinfuhr usw. Die Personen treten wieder vor die Seele usw. Plötzlich taucht ein Gesicht vor uns auf, welches uns unangenehm berührt. Die Gedankenreihe ist dadurch abgerissen, eine neue spinnt sich an, bis plötzlich eine andere Wahrnehmung auch dieser Gedankenordnung ein Ende macht. Ist dann aber keine Regel und kein Gesetz darin, daß hier die Willkür des menschlichen Geistes tätig ist, daß es ein Spiel der Willkür ist, das sich hier abspielt, daß unsere Phantasie etc. hier ihr Spiel mit uns treibe? Hume in einem ähnlichen Gedankengang erklärt: In der Tat folgen diese scheinbar so willkürlich hervortretenden Vorstellungen derselben Gesetzmäßigkeit, welche auf anderen uns bekannten Gebieten der äußeren Natur tätig ist. Wie jeder Stein zu Boden fällt gemäß der gesetzlichen Ordnung, innerhalb deren er gesetzt ist, so sinkt nach dem Gesetz eine Vorstellung, und die andere steigt auf, und wir können dieses Gesetz ausdrücken. Dieser Gedanke entsprang gewiß aus der Einwirkung der Naturwissenschaft auf die Geisteswissenschaft. Hume erklärt, daß das Unternehmen von Newton, welchem gemäß die scheinbar so sonderbaren Störungen im himmlischen
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System aus dem Gesetz der Schwere erklärbar geworden seien, so daß sich nun das Chaos in Ordnung vor dem Astronomen aufgelöst habe, dieses Unternehmens müsse man sich auch [im Hinblick] auf die irregulären Vorstellungen der Menschen bedienen, und H u m e nennt es Attraktion der Vorstellungen. Es wird eine Vorstellung durch die andere angezogen, und diese Attraktion der Vorstellungen als Erklärungsgrund für den scheinbar unregelmäßigen Gedankenlauf bezeichnete Hume als „Assoziation". Er verstand also darunter ein gesetzliches Verhältnis von Vorstellungen untereinander, welches den Erklärungsgrund dafür bietet, daß die eine Vorstellung von der anderen hervorgerufen wird. Das so vorgestellte Verhältnis ist doch unter allen Umständen eine Beziehung der beiden Vorstellungen miteinander; für eine solche Beziehung werden wir den allgemeinen Ausdruck „Assoziation" wählen können. Wir behaupten also, man würde Hume nicht verstehen, wenn man glaubte, er habe eine tatsächliche Kraft darunter verstanden. Er wollte damit nur die Tatsache, daß sie vorhanden sei, und die Art ihrer Wirkung feststellen. Er wollte also auf dem Gebiet des geistigen Lebens ebenso verfahren, wie auf dem Gebiet der körperlichen Welt verfahren wird. Wir haben ja keine Ahnung, wie denn die Attraktionskraft begründet sei, sondern wir sind zufrieden, ihre Wirkung zu beschreiben. Ebenso ist es bei der Ideenassoziation. Ein Unterschied freilich bleibt, das Hervortreten dieser Vorstellungen aufgrund der Wirkungen anderer erleben wir von innen, Attraktion erfahren wir von außen. Jedoch war die Fassung, welche Hume diesen Gesetzen gab, eine höchst unvollkommene, und wir suchen nun eine vollkommenere Fassung der Gesetze der Assoziation, als sie ihm gelungen ist. Wir suchen nach einer strengeren Feststellung der Bedingungen, unter welchen Vorstellungen auf den Schauplatz des Bewußtseins, sei es von anderen Vorstellungen, sei es von Wahrnehmungen, gerufen werden. Dazu bedarf es einer vorausgehenden Erwägung. Wir fragen, welche diejenigen Elemente seien, zwischen denen die Assoziation verläuft. Wir fragen also: Welches sind dann die Einheiten, die assoziiert werden? Wir wollen die Elemente erst kennenlernen, ehe wir die Gesetze untersuchen, nach welchen diese Elemente sich aufeinander beziehen. Unsere erste Frage ist also: Welches sind diejenigen psychischen Elemente, welche in Assoziationsverhältnisse zueinander treten? Der Prozeß, in welchem Elemente sich zusammenfügen und wieder trennen in unserem Bewußtsein, muß, um diese Aufgabe zu lösen, von mir vorgestellt werden. Darüber weiß ich gar nichts aus innerer Erfahrung, wie eine Wahrnehmung entsteht. Können wir wohl Schlüsse machen? Wir erfahren nicht, wie das Bild entsteht, wenn wir vom Schlaf erwacht das Auge öffnen und das Wahrnehmungsbild des
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Zimmers vor Augen steht. Erklärt werden muß diese Tatsache, und ein wichtiger Teil der Psychologie beschäftigt sich mit der Erklärung von Wahrnehmung, aber Erfahrung haben wir darüber keine. Für unser Bewußtsein sind nur Totalwahrnehmungen vorhanden, nur für unsere abstrakten Schlüsse sind Empfindungselemente vorhanden. Unser Bewußtsein aber mit seinen Operationen bleibt hierbei nicht stehen, sondern es zerlegt das, was in der Wahrnehmung gegeben war, und was, wenn der Empfindungszustand des Endapparates schwindet, als Vorstellung zurückbleibt, in Teilinhalte der Vorstellung oder Wahrnehmung. Wir zerlegen also die Totalwahrnehmung in einzelne Teile derselben. Unsere Sinneseindrücke sind ein Verband solcher Teilwahrnehmungen. So kann man einen Menschen als Sinneseindruck zerlegen in einzelne räumliche Teile, den Kopf und die einzelnen Glieder, oder man kann das Bild zerlegen in Farbenbilder, in Raumbilder, kurz, man kann sich der Wahrnehmung und entsprechenden Vorstellung als eines Totalen bedienen, welches durch den abstrahierenden Verstand in einzelne Teile zerlegt wird. Und zwar ist uns die Anordnung unserer Wahrnehmung in einem doppelten Zusammenhang gegeben als eine Koordination und als eine zeitliche Aufeinanderfolge, und jede Einzelwahrnehmung, welche wir aus diesem Prozeß herausnehmen, ist nur ein Teilinhalt, gehört dem Verband des Ganzen immer noch an. Der Vorgang, welchen wir hiermit vollziehen, ist von entscheidender Wichtigkeit für das, wovon hier die Rede ist. Ja, die Gesetze der sogenannten Assoziation werden gerade darum so schwer aufgefaßt, weil man von der Abstraktion der Einzelvorstellungen ausgeht, ohne zu erwägen, daß jede Einzelvorstellung ein Teilinhalt aus einer oder einer Mehrheit von ganzen Anschauungen ist. Das, was im Bewußtsein ist als allgemeine Vorstellung (ζ. B. die Vorstellung eines Menschen, des Zimmers etc., die bereits Zusammenfassungen sind aus Einzelwahrnehmungen), alle diese Vorstellungen sind Produkte von Vorgängen, welche mehr enthielten als diese Vorstellung. Es gibt keinen Vorgang, welcher nur eine dieser so sich bildenden Vorstellungen enthielte. Dann ist die Natur dieser Vorstellungen, daß sie, bereits durch Wiederholung herausgehoben, miteinander verbundene Einheiten bilden, welche herausgenommen sind aus dem eigenen Verband unseres Wahrnehmungsbesitzes, und doch lebt man in solchen Einzelvorstellungen. Und nun können wir eine allgemeine Regel aufstellen, die einfach genug ist und doch alle Fälle umfaßt: „Was so isoliert ist aus dem lebendigen Vorgange des Bewußtseins, strebt seinen Zusammenhang wiederherzustellen." Die allgemeine psychische Tendenz jener Vorstellung ist nun, diesen ganzen Akt zu reproduzieren: Was so aus seinem räumlichen und zeitlichen Verband herausgenommen war, strebt, diesen Verband [wieder] herzustellen. So ruft
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eine einmal gehörte Musik die Stimme des Sängers wieder zurück, der sie vortrug, das Bild des Konzertsaales, in dem es geschah usw. Dies sind die ursprünglichsten und mächtigsten unter allen Verbindungen, welche zwischen unseren Vorstellungen bestehen. Es treten aber andere hinzu, nicht-intellektuelle Verbindungen, neben diesen anschaulichen, aus dem lebendigen Akt der Koordination entsprungenen, welche in hinzutretenden Beziehungen ihre Gründe haben. Solche Verbindungen sind die zwischen Ursache und Wirkung. So strebt die Stimme des Sängers, wenn sie gehört wird, auch die Gestalt, aus der sie hervorquoll, wieder zu reproduzieren; ebenso stehen Mittel und Zweck in solcher Beziehung. Der Anblick des Bauholzes schließt die Vorstellung eines möglichen Gebäudes in sich; und zwar ist der Natur gemäß der Fortgang unserer Vorstellung von dem Mittel zum Zweck ein treffenderer als der Rückgang vom Zweck zum Mittel. Die Richtung des Intellektuellen aber kehrt darauf in die Anschauung, welche alle Teile umfaßt, zurück. Wir sagen, eine jede solche Vorstellung ist herausgerissen aus einem lebendigen Ganzen, sie ist also gewissermaßen nach verschiedenen Seiten abgerissen, sie enthält in sich noch die Beziehung zu dem Zusammenhang, in dem sie stand. Diese Beziehungen wollen wir bezeichnen als Verbindungsrest. Eine jede Einzelvorstellung hat also noch einen oder mehrere Verbindungsreste an sich, durch welche sie mit anderen Vorstellungen in einem lebendigen Zusammenhang steht. Ich verstehe also unter denselben hier nur die Eigenschaft eines Vorstellungsvermögens, wonach der einzelnen Vorstellung ein Anzeichen ihrer Verbindungen, aus welchen sie herausgenommen ist oder in welchen sie bestanden hatte, noch weiter anhaftet. Diese Verbindungen können anschaulicher, sie können intellektueller Natur sein. Nach diesen Erörterungen wollen wir uns dem Problem selbst zuwenden, indem wir eine erste Klasse von solchen Verbindungsvorgängen einer genauen Analyse unterziehen.
[§6.] Erster Grundprozeß: die Verschmelzung und ihre Gesetze Z u d e r W a h r n e h m u n g , die w i r eben g e h a b t , tritt der I n b e g r i f f f r ü h e r e r V o r s t e l l u n g e n e r g ä n z e n d h i n z u , d u r c h die jene W a h r n e h m u n g g l e i c h s a m gesättigt w i r d . D i e Wahrnehm u n g , die w i r eben erhalten, w i r d v e r s c h m o l z e n mit u n s e r e m Vorstellungsinhalt, d. h., die W a h r n e h m u n g bleibt z w a r eins, aber dieses E i n s w i r d gesättigt g l e i c h s a m d u r c h die F ü l l e f r ü h e r e r V o r s t e l l u n g e n . J e d o c h , es v e r s c h m i l z t w o h l , aber nicht g a n z . E s gibt eine v o l l s t ä n d i g e u n d eine teilweise V e r s c h m e l z u n g . D i e V e r s c h m e l z u n g w u r d e z u e r s t v o n Waitz in die P s y c h o l o g i e e i n g e f ü h r t . E r f o r m u l i e r t 8 0 sie: „ Q u a l i t a t i v
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nicht unterscheidbare Perzeptionen verschmelzen zu einer Vorstellung etc., wodurch ,feste Vorstellungen' entstehen, nämlich die Gattungsbegriffe des Hundes, Pferdes etc. Und zwar bleibt zurück das Bewußtsein, das mehrmals zur Hervorbringung repräsentativ." 8 1 Folgen Erläuterungen an der Hand der Erfahrung. Zunächst diejenigen Vorstellungen und Wahrnehmungen, in welchen der qualitative Inhalt derselbe bleibt, wenn auch die zeitlichen und räumlichen Umstände verschieden und ein Bewußtsein von mehrmaligen Aktionen oder Wahrnehmung bleibt. Unter welchen Umständen identifizieren wir? Wenn gar kein Unterschied zwischen der früheren und der folgenden Wahrnehmung statthat, so findet eine vollkommene Verschmelzung statt. Diese völlige Verschmelzung kann verschiedene Gründe haben: 1) wenn, wie bemerkt, zwischen der ersten und späteren Wahrnehmung gar keine Differenz obwaltet; 2) auch durch Kontrast kann eine Verschmelzung stattfinden, indem nämlich durch ein besonderes Interesse dieselbe bewirkt wird. In der Regel treten frühere Wahrnehmungen nur abgeschwächt, schematischer in der Seele wieder [auf], Grund der Idealisierung. Auch findet im Prozeß der Verschmelzung die auffallende Tatsache eine Erklärung, daß Freunde, Gatten nie gewahren, daß sie gealtert, es sei denn durch längere Trennung. 3) kann die Vorstellung die Wahrnehmung umbilden, während der frühere Fall umgekehrt die Umwandlung der Vorstellung durch die Wahrnehmung enthält. Beispiel: Wir bemerken häufig in einem Lehrbuche lesend nicht einen Druckfehler, weil die Vorstellung des Ausdrucks über die Wahrnehmung dominiert. Wir wenden uns nun zu den komplizierteren Fällen, wo nur eine teilweise Verschmelzung stattfindet, während bisher von der völligen Verschmelzung der Vorstellung und der Wahrnehmung die Rede war. Wenn eine Veränderung vorgegangen [ist], so kommt es darauf an, ob das Differente oder Gleiche vorherrscht; herrscht dieses vor, so folgt eine größere Verschmelzung, herrscht das Differente vor, so wird der Kontrast vorwalten. Die „festen Gebilde" der Vorstellungen von Gegenständen entstehen nur durch den Akt der Verschmelzung, und aus diesen Verschmelzungen entstehen ferner die Allgemeinvorstellungen, wo wir von allem Differenten abstrahieren. Jene „festen Vorstellungen" sind nun auch die Vorbedingung für die Entstehung der Sprache. Der verschiedene Reichtum der Sprache wird durch die Schärfe und Genauigkeit der Wahrnehmungen und ihrer Verschmelzungen [gebildet]. Jedes Individuum hat seinen Sprachgeist, je nach der Schärfe der Anschauungen. Sprachgeist Goethes und Schillers, jener umfassender, dieser beschränkter, weil abstrakter. Orientieren wir uns zunächst ü b e r h a u p t über die P h ä n o m e n e , u m welche es sich handelt. Betritt m a n die Straße, s o hat m a n nicht nur ein Wahrnehmungsbilde. Vielmehr tritt aus d e m Inneren des B e w u ß t s e i n s etwas ergänzend hinzu zu d e m Wahrnehmungsbilde, welches die Außenwelt überliefert, es tritt hinzu die Wahrnehmung früherer Fälle, in denen m a n über diese Straße ging, sie ist etwas Repräsentatives, sie ist nicht ein einmaliger A k t des Bewußtseins. D a h e r k o m m t es, daß m a n in die Straße blickend nicht glaubt, daß sie am E n d e
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schmäler würde; dieser Eindruck der Sinne ist für uns gar nicht als eine Wahrheit da, und wenn sie augenblicklich im Schatten liegt, so betrachtet man sie nicht als dunkle. Man flicht in das vorhandene Wahrnehmungsbild frühere Erfahrungen hinein. Fährt man in der Eisenbahn an einer Stadt vorbei, so ist dieselbe wesentlich dekorativ, es fehlt, daß der Tastsinn sie näher kennengelernt hätte. Daher haben wir zuweilen den Eindruck, als befänden wir uns auf einer Bühne, wir sähen nur Schatten. Also Tatsache ist, daß, wenn man in eine Straße tritt, man nicht bloß das Wahrnehmungsbild hat, sondern daß dasselbe verschmolzen ist mit früheren Bewußtseinsakten. Jedoch verschmilzt, sagen wir wohl, aber nicht ganz verschmilzt. Denn indem man das tut, mag einem wohl ein Moment einfallen, in welchem man im Winter bei Schneegestöber oder in früher Morgenstunde den Weg ging. Dieses Bild verschmilzt nicht mit dem jetzigen. Es tritt ein merkwürdiger Prozeß ein, man hat das einheitliche Bild der Straße, aber es knüpfen sich daran Erinnerungen, in denen manches anders war als jetzt. Das ist eine teilweise Verschmelzung. Es gibt also eine vollständige Verschmelzung einer neuen Wahrnehmung mit einer alten, und eine nur teilweise, und so sieht man in eine sehr eigentümliche Komplikation hinein. Inhalte bestehen nebeneinander fort, obwohl nur einer Wirklichkeit erlangen kann, wenn der andere aufhört. Das Feuer erlischt, und die Asche bleibt zurück, aber in unserem Vorstellungsverlauf sind Feuer und Asche nebeneinander aufbewahrt. Und nun das Umgekehrte: Derselbe Inhalt, welchen die Natur in einer großen Mannigfaltigkeit von Daseinsformen besitzt, besteht in der Seele, wenn nicht eine inhaltliche Diskrepanz vorhanden ist, als eine Einheit. Die Seele faßt nicht die Existenz als solche ins Auge, sondern den Inhalt, das inhaltlich Gleiche ist in ihr eins. Zwei Akte, welche ein einheitlich gleiches Produkt haben, dauern nur in einem Produkt in der Seele fort. Dies ist der Vorgang, welchen die neuere Psychologie als Verschmelzung bezeichnet. Das erste Mal wurde dieser Vorgang eingeführt in die Psychologie von Waitz. Er formuliert es so: „Qualitativ nicht unterscheidbare Perzeptionen, welche simultan sind oder aufeinanderfolgen, verschmelzen zu einer Vorstellung; ebenso solche, welche durch längere Zwischenräume und heterogene Perzeptionen getrennt sind, und zwar bilden alle qualitativ gleichmäßigen Perzeptionen eine feste Vorstellung. Alsdann ist jede neue Wahrnehmung desselben Inhalts nur ein besonderer Fall, welcher sich der festen Vorstellung unterordnet. So bilden sich feste Vorstellungen von den Gattungen und Arten der Tiere, und das einzelne Exemplar ordnet man als einzelne Perzeption der festen Vorstellung unter. So verschmelzen die Erzeugnisse gleicher Seelenregungen, wieviele es auch seien, wenn und sofern ihre relative Verschiedenheit sich nicht geltend macht, zu einem einzigen Erzeugnisse; und zwar bleibt
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zurück ein Bewußtsein der mehrmaligen Hervorbringung derselben Vorstellung, so daß nunmehr diese feste Vorstellung eine andere Stelle in der Seele hat als eine einzelne Wahrnehmung, repräsentativ ist für eine Mannigfaltigkeit von Einzelwahrnehmungen." 8 2 Wir entwickeln zuerst diejenige Verschmelzung, welche als „totale" bezeichnet werden kann, in welcher Vorstellung und Wahrnehmung unterschiedslos zu einem Ganzen zusammenrinnen, welches entweder eine Gattung oder ein einzelnes bleibendes Exemplar ausdrückt. Die Umstände, unter welchen die Akte sich vollzogen, können verschieden sein, und es kann demgemäß ein Bewußtsein der zeitlichen und örtlichen Verschiedenheit dieser Akte bleiben, aber der qualitative Inhalt des Aktes ist derselbe. Daraus ergibt sich, daß wir dasselbe identifizieren. Unter welchen Umständen identifizieren wir? Allgemein ausgedrückt - eine Einzelanschauung verschmilzt gänzlich mit einer früheren Vorstellung, wenn kein Unterschied wiedererweckt wird zwischen der Vorstellung und der gegenwärtigen Wahrnehmung. Die Bewußtheit wird hier sozusagen von der Einzelanschauung der Gegenwart weitergeleitet auf schon früher gebildete seelische Faktoren. Wie die aufgewühlte Welle sich fortbewegt, so ergreift auch die Bewußtheit einen früheren ähnlichen oder ganz gleichen Tatbestand. Doch kann die Tatsache dieser völligen Verschmelzung ganz verschiedene Gründe haben. Der einfachste Fall wird der sein, wenn wirklich zwischen der gegenwärtigen Wahrnehmung und der früheren Vorstellung gar kein qualitativer Unterschied obwaltet; unser Interesse umfaßte nur gewisse wesentliche Züge, und diese kehren auf dieselbe Weise wieder. Durch die Einzelanschauung wird keineswegs unter allen Umständen eine Vorstellung in allen ihren Teilen fixiert. Es kann sein, daß wir Züge aufbewahrt haben, welche wir doch im gegenwärtigen Augenblick von der einzelnen Eigenschaft nicht reproduzieren können. Haben wir jemanden in seiner Toilette in einer Gesellschaft gesehen und sehen ihn unter normalen Verhältnissen, vielleicht auf einer Reise, wieder, dann werden wir uns nicht an jene Kleidung erinnern, es haftet an den Differenzen von damals und jetzt kein Interesse. Erscheint er dagegen jetzt als Bettler, dann wird uns das entschieden auffallen. Es kann für uns eine Wahrnehmung mit einer früheren Vorstellung gänzlich verschmelzen. Wird dann aber unsere Aufmerksamkeit gereizt, sich der Differenz zu erinnern, so tritt das Differente in der früheren Vorstellung nachträglich hervor. Wird also gesagt: Bemerkst du heute an dem Freunde nichts Besonderes? Alsdann wird die Differenz der gegenwärtigen Wahrnehmung und der früheren Vorstellung aufmerksam festgestellt, welche vorher ganz unbemerkt verblieb. So also findet eine fortdauernde Veruntreuung des genaueren Inhaltes unserer Vorstellung statt. Momente höchster Erregung, kurz, außergewöhnliche
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Augenblicke können uns alsdann die gesamte Vorstellung in allen ihren Zügen wieder zurückrufen; der Regel nach aber verlieren wir das Genauere des Inhaltes der früheren Wahrnehmungen], sie gehen unter in den späteren Wahrnehmungen, in der festen Vorstellung und dauern nur in dieser in unbestimmten Zügen fort. Man kann den Versuch dafür einfach machen: Stellt man sich vor einen Baum und faßt ihn in allen seinen Teilen genau ins Auge, schließt dann dasselbe und sucht ihn so zu reproduzieren, alsdann werden bereits viele einzelne Züge des Bildes nicht mit eingehen in die Vorstellung, die in der Wahrnehmung waren. Diese Züge sind untergegangen, wie Stifte sind sie aus einem Mosaikbilde herausgefallen. So geschieht es, daß unsere Vorstellungen schematischer und allgemeiner werden, und dies ist zugleich der Vorgang der Idealisierung in der Kunst. Merkwürdig treten solche Fälle auf in Tatsachen, welche oft als psychologische Rätsel erwähnt worden sind. Es ist bekannt, daß Freunde, Gatten gar nicht ihr gegenseitiges Alterwerden gewahren, wenn dasselbe nicht an einzelnen Zügen plötzlich augenfällig hervortritt. So kann ein Jugendbild gelegentlich eine unliebsame Erinnerung sein für den Betreffenden selbst wie für seine Freunde. Grund dieses Vorganges ist, daß unsere Vorstellung, unmerklich verschmelzend mit der jedesmaligen Wahrnehmung, mit derselben fortgebildet wird. Endlich, es gibt einen dritten Fall. Es kann auch geschehen, daß die Vorstellung ihrerseits eine Macht ist der Wahrnehmung gegenüber und die Wahrnehmung durchbildet nach ihrem Gesetz. Der letzte Fall war der, in welchem die Vorstellung durch die Wahrnehmung bestimmt wurde. Der jetzt vorliegende ist der, in welchem umgekehrt die Macht der Vorstellung die Wahrnehmung ergänzt und bestimmt. Von der Anschauung wird nur soviel zur Aufmerksamkeit und Bewußtheit gebracht, als mit der Vorstellung einstimmig ist und dazu dient, die Tatsachen zu identifizieren. Dies ist ein Fall, der weit häufiger ist, als man nach dieser abstrakten Schilderung anzunehmen geneigt wäre, denn in der Regel haben wir nur ein Interesse daran, zu identifizieren, der Selbigkeit des Tatbestandes en gros uns zu versichern, wir haben kein Interesse an den einzelnen Differenzen, denn praktische Zwecke leiten uns. Angenommen, man liest: Es wird sehr verschieden sein, ob man als jugendlicher Schriftsteller den Korrekturbogen liest oder in dem Buche eines anderen liest. In einem Lehrbuch wird man schwerlich die Druckfehler vermerken: Man identifiziert die Worte en gros. Es wird der Vorstellung gemäß das Wort verbessert, man merkt den Fehler darum nicht, weil man ihn korrigiert. Wenn man dagegen eine Jagd auf Druckfehler macht, so wird man einen solchen sofort bemerken, daher will Korrekturenlesen gelernt sein. Man muß die Vollständigkeit des sinnlichen Aktes zu erzwingen
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suchen. Hier geschieht dann, daß wir bei dem Korrekturenlesen ungeduldig werden, weil der Zeitverlauf des Lesens verlangsamt wird. Das sind verschiedenartige Fälle, in welchen die Vorstellung in die Anschauung ohne Rest verschmilzt. Sie wirkt dann in ihr, es wird erkannt und wiedererkannt, der frühere und der neue Akt verschmelzen in der Feststellung der Identität desselben Tatbestandes, und die Anschauung, um welche es sich handelt, oder die Vorstellung empfängt von jeder neuen Anschauung eine neue Kraft, sie wird wiederbelebt und gewissermaßen verstärkt in ihren Kräften. Wenden wir uns jetzt zu den komplizierteren Fällen, in welchen nur eine teilweise Verschmelzung stattfindet. Hier ist der einfachste Fall der: Der frühere Vorgang und der jetzige enthalten nicht unerhebliche Verschiedenheiten; der frühere wurde genau aufgefaßt und dem Gedächtnisse eingeprägt, der gegenwärtige wird ruhig aufgefaßt. Aber das ist der seltenere Fall. Die häufigeren Fälle sind auch hier diejenigen, in welchen Interesse, Kontrast, kurz: Nebenmomente das Bewußtsein der Verschiedenheit wachrufen, und indem das geschieht, treten jene Anschauungen auf, welche als Reproduktion nach dem Gesetz der Ähnlichkeit und des Kontrastes gewöhnlich bezeichnet werden . . . . Wenn ich jemand vor 10 Jahren sah, so bildete sich damals ein Bild. Sehe ich ihn heute wieder, so erkenne ich ihn, obgleich er sich verändert hat; die Bilder von damals und heute verschmelzen. Habe ich ferner einen Menschen stets sehr ruhig und besonnen gesehen, und ich sehe ihn plötzlich in Tränen vor mir, alsdann wird die Einheit der Person konstatiert, aber um so schärfer wirkt die Spannung des Kontrastes von früher und jetzt. Hier also ist es das starke Interesse an der differenten Partie der Anschauung, an dem bewegten und lebhaften Bild des erschütterten und in Tränen aufgelösten Menschen, welches die Kontrastempfindung auf das stärkste wirken läßt, oder es haftet ein besonderes Interesse an der differenten Partie der Vorstellung. Diese läßt dann die Anschauung mit besonderer Deutlichkeit aufnehmen, welche sich als Kontrastierung erweist. In diesem Falle würde [es] möglich sein, daß von der Anschauung die differenten Partien gar nicht gewahr werden. So wird ein Fall von Kant erwähnt. Seine Lebensschreiber sagen, er habe sich gewöhnt, seine Aufmerksamkeit auf einen seiner Zuhörer zu lenken. Er sah immer gerade die Köpfe an, und als einer fehlte, geriet er dadurch in Aufregung. Er faßte also die vorhandene Differenz ins Auge, die ihm sonst ganz entschieden würde entgangen sein. Fassen wir alle diese Fälle zusammen: Bei einem sonst gleichen Inhalt der Wahrnehmung, mit einer früheren Vorstellung verglichen, findet eine Ableitung des Bewußtseins auch auf die ungleichen Bestandteile in vielen Fällen statt. Alsdann tritt eine Verschmelzung des Gleichen ein, es wird das Gleich-
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artige identifiziert oder wiedererkannt, das Differente aber wird gerade in seinem Kontrast wahrgenommen, es tritt in dem Differenten ein Bewußtsein des Kontrastes auf. So entspringt in der Seele eine Spannung, deren Stärke von dem Grade des Interesses an dem Ungleichen abhängig ist. Überwiegt das Bewußtsein des Gleichen, dann stellt sich der gesamte Eindruck dar als der der Ähnlichkeit von zwei Erscheinungen. Herrscht aber das Ungleiche vor, dann ist das Bewußtsein des Kontrastes oder Gegensatzes das Vorherrschende: In solchen Fällen findet also eine Assoziation nach dem Verhältnis des Gegensatzes oder Kontrastes statt; demgemäß ist das vorliegende Phänomen eine teilweise Verschmelzung und eine Assoziation nach dem Verhältnis von Ähnlichkeit und Kontrast in bezug auf das Nicht-Verschmolzene. Fassen wir die Bedeutung ins Auge, welche diesen Prozessen der Verschmelzung, Wiedererkennung, Identifizierung in unserem Bewußtseinsleben zugrunde liegen. Fände ein solcher Prozeß nicht statt, würden solche Vorstellungen und Wahrnehmungen zwar miteinander verglichen, es entstände aber kein einfaches Gebilde daraus, so würde unser ganzes geistiges Leben eine andere Gestalt haben. Die Bildung der festen Vorstellung, die Identifizierung eines Tatbestandes, der unter verschiedenen Momenten, unter verschiedenen Bedingungen seine Wesenheit als Teile darbot, diese Identifizierung gibt erst das Bild eines in der Zeit dauernden und in gewissen Zügen unveränderlichen fortwirkenden Gegenstandes. Gerade das ist das Merkwürdige, daß wir uns der differenten Momente fast gar nicht erinnern. So bilden sich Wahrnehmungen nach Vorstellungen, Vorstellungen nach Wahrnehmungen, und es entstehen die festen Gebilde, die wir als die bekannten uns umgebenden Gegenstände außerhalb unserer konstatieren und als einen Teil unseres Bewußtseins mit uns herumtragen. In einer anderen Richtung entstehen aus diesen Verschmelzungsprozessen die allgemeinen Vorstellungen; es entstehen jene Vorstellungen, bei denen wir abstrahieren von den differenten Elementen, die die einzelnen Exemplare an sich haben, und wo wir das Gemeinsame als Art oder Gattung auffassen. Die Verschmelzung entspringt in dem lebendigen Akt der Anschauung, welcher ja in seinen essentiellen Zügen identisch ist mit dem früheren Akte der Vorstellung und daher in demselben sozusagen aufgeht. Diese festen Vorstellungen sind auch die Vorbedingungen für die Entstehung der Sprache, denn es sind die beiden Prozesse der Wahrnehmung einerseits, der Verschmelzung andererseits, welche von bedeutender Wichtigkeit für die Bildung der Sprache sind. Je genauer die Wahrnehmung und ihre vorstellungsmäßige Reproduktion in einem Individuum ist, je mehr Bewußtheit in dem Gebiet dieser Wahrnehmungen und Vorstellungen bei ihm vorhanden ist, desto mannigfaltiger sind die Einzel- wie die Allgemeinvorstellungen. Der verschie-
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d e n e R e i c h t u m der Sprache in b e z u g auf A u ß e n - u n d I n n e n w e l t ist d u r c h diese Genauigkeit der W a h r n e h m u n g u n d der E r i n n e r u n g der W a h r n e h m u n g gegeben. D a h e r bildet der R e i c h t u m der W o r t e bei einem Volke s c h o n einen M a ß stab für die Schärfe u n d das Interesse der W a h r n e h m u n g auf verschiedenen G e b i e t e n . E i n jedes I n d i v i d u u m hat seinen Sprachkreis, w e l c h e r bedingt ist d u r c h das Interesse u n d die D e u t l i c h k e i t der W a h r n e h m u n g ; so ist d e r S p r a c h kreis eines G o e t h e v o n d e m Schillers sehr verschieden, sehr viel umfassender, M a s s e n v o n A n s c h a u u n g e n umfassend. D e r Sprachkreis Schillers b e w e g t sich in festgestellten u n d ziemlich engen G r e n z e n , innerhalb deren abstrakte V o r stellungen in b e s o n d e r e r H ä u f i g k e i t w i e d e r k e h r e n . D e r Sprachkreis G o e t h e s ist n a h e z u u n b e g r e n z t . E s w ä r e v o n d e m h ö c h s t e n Interesse, bei einzelnen Schriftstellern gerade die variablen Sprachbilder z u verfolgen. H i e r k ö n n t e eine B r ü c k e geschlagen w e r d e n v o n der P s y c h o l o g i e z u r h ö h e r e n Kritik.
[§ 7.] Z w e i t e r G r u n d p r o z e ß : die A s s o z i a t i o n u n d ihre G e s e t z e Die Elemente der Assoziation: 1) Wahrnehmung, entweder als Wahrnehmungsakt, als Totalität, oder, wenn bereits etwas herausgehoben worden [ist]: Die Assoziation kann sich auch an einen bereits herausgehobenen Wahrnehmungsakt knüpfen. Ferner 2) Vorstellungen, entweder „feste Vorstellungen" bezüglich eines einzelnen Gegenstandes oder auf eine ganze Klasse bezogene Allgemeinvorstellungen oder endlich Vorstellung mit abstrakter Bedeutung: Die Abstraktion kann sich auf Einzelnes beziehen. Der Wahrnehmungszustand dauert fort, solange noch der Erregungszustand des Sinnesapparates dauert; so, wenn ich in den Sonnenstrahl blicke und mich abwende, so dauert noch der Erregungszustand der Retina fort, also auch die Wahrnehmung. Vorstellung unterscheidet sich demnach von der Wahrnehmung dadurch, daß der Sinnesapparat nicht mehr affiziert ist und dennoch das Wahrnehmungsbild fortdauert. Der Prozeß der Assoziation findet statt entweder zwischen Wahrnehmung und Vorstellung oder zwischen Vorstellung und Vorstellung. Unter Assoziation verstehen wir die dauernde Ursache der Reproduktion oder Erinnerung von Vorstellungen; die Ursache liegt in der Verknüpfung beider. Die Assoziation ist Ursache, die Reproduktion Wirkung. Wir fassen nun die Mannigfaltigkeit dieses Vorgangs ins Auge. E r kann sich auf die Zukunft oder Vergangenheit beziehen; wesentlich ist die Assoziation zwischen dem Alltagsmenschen und Begabten verschieden. Dennoch gibt es Assoziationen nach ähnlichen anschaulichen Verhältnissen in zeitlicher und räumlicher Weise - das ist die gemeinste Art der Assoziationen, die ganz einen zufälligen, höchst subjektiven Charakter hat. Die höher geartete, wesenhaftigere ist diejenige, welche nach den rationalen Verhältnissen von Ursache und Wirkung, Mittel und Zweck vor sich gehe.
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Erstes Gesetz der Assoziation, das zum Bewußtsein gelangt: [Die] Vorstellung strebt, das Ganze hervorzubringen, mit dem sie verbunden war, und zwar zumeist den Teil dieses Ganzen, mit dem sie am engsten verknüpft war. Zweites Gesetz: Vermöge der Enge des Bewußtseins werden die Teile des Vorstellungsverbandes, welcher ins Bewußtsein tritt, sobald der Verband ein komplizierter wird, zu einer Reihe umgewandelt, welche in linearer Bewegung uns vorschwebt. Der Grund liegt in der größeren Anstrengung, Vorstellungen zu erzeugen als Wahrnehmungen; die Wahrnehmungen haben eine größere Fähigkeit der Sukzession. Erläuterung: Die Mnemotechnik beruht darauf. Drittes Gesetz: Die Stärke der Verbindung von zwei Vorstellungen, vermöge deren sie sich reproduzieren, ist einerseits bestimmt durch Inhalt und Gewicht dieser Verbindung, andererseits durch den Grad und Deutlichkeit der Verbindung. Bei Anschaulichem stärker als bei Abstraktem. Wir reproduzieren leichter räumlich Zusammenhängendes als abstrakte Beziehungen. Tabellen, Reim, Rhythmen erleichtern das Gedächtnis. Ein eigentliches Gedächtnis besteht nicht. Aus der Stärke der Verbindungen pflegen wir eine Kraft für sich zu bilden, das Gedächtnis. Es ist gemäß diesem dritten Gesetz bedingt 1) durch Dauer und wiederholte Vollziehung der Verbindung und 2) durch Deutlichkeit des Anschauens. Dasselbe ist bei den verschiedenen Individuen verschieden; es kommt darauf an, welches Gebiet der Erkenntnis am meisten bereits im Geiste angebaut ist und also empfänglicher gemacht für etwas zu demselben Gebiet Gehörigem. Zahlengedächtnis: Übung und Wiederholung bewirken Treue des Gedächtnisses; hängt zusammen mit Intensität des Lernens und ist mit größerer Dauer verbunden, während [?] schnelleres Erlernen gewöhnlich keines treuen Gedächtnisses sich erfreut. Bei begabten Menschen konzentriert sich gewöhnlich das Gedächtnis mit einem gewissen Eigensinn auf ein bestimmtes Gebiet. Walter Scott sagt dasselbe von sich aus. Viertes Gesetz: Verbindungen derselben Festigkeit werden als Glieder einer längeren Reihe leichter reproduziert, als wenn nur zwei Vorstellungen verkettet sind. Worte in einem Verse haften fester aneinander. Neben diesen natürlichen Mitteln zum Gedächtnis sucht die Mnemotechnik künstliche Mittel zu schaffen; allein, sie wirkt der natürlichen Gedächtniskraft geradezu zuwider. Fünftes Gesetz: Die Reproduktion einer Reihe kann in dreifacher Richtung vollzogen werden. Sie vollzieht sich leichter in der Richtung der Gewöhnung, leichter von Unbekanntem zu Bekanntem, in der natürlichen Richtung der Anschauung. Manches Kind weiß leichter 5+7 als 7+5. Es ist schwerer, [für] das deutsche Wort das griechische zu finden, als umgekehrt. Sechstes Gesetz: Die Reproduktionskraft, die einer Vorstellung beiwohnt, wächst durch größere Anzahl von Verbindungen.
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Assoziationsgesetze wurden zuerst von Aristoteles in περί μνήμης aufgestellt. Er bereits fand, daß die Vorstellungen miteinander verbunden seien durch räumlich-zeitliche Verhältnisse. Ähnlichkeit. Hume unterschied drei Klassen: 1) nach der Beziehung der Ähnlichkeit, 2) Ursache und Wirkung, 3) der Abgrenzung in Zeit und Raum, 4) dem Kontrast - den er jedoch unter Ursache und Mittel subsumiert. Die englische Philosophie suchte die Assoziation auf ein einziges [Gesetz] zurückzuführen. Allein, jedenfalls bleiben zwei verschiedene Tatsachen zurück, die nicht vereinbar [sind]. Durch das erste Gesetz wird der Fall nicht erklärt, da ich durch ein noch nie gesehenes Gesicht an ein oft gesehenes erinnert werde; beruht auf der teilweisen Identität beider, also Assoziation vermöge der Ähnlichkeit und [des] Kontrastes, und hängt zusammen mit dem Grundprozeß der Verschmelzung. Alle Reproduktion geht nach Herrn Prof. Dilthey zurück auf die zwei Grundverhältnisse: 1) eine frühere Wahrnehmung strebt in ihren früheren Kreis zurück, 2) daß eine Wiederholung eines Teils des psychischen Aktes das Ganze, wenn auch verschiedenartig zum Teil, reproduziert. Die Vollendung der Verbindungen unserer Vorstellungen ist durch folgendes bedingt: 1) kommt es auf die Fruchtbarkeit der Verbindungen an: ausgeschlossen muß bleiben das Zufällige in der Reihe. 2) die Stärke der Verknüpfung beruht auf Wiederholung: es ist Stetigkeit erforderlich. [(] Prof. Dilthey erklärt, bei diesen Untersuchungen nicht wie gewöhnlich den genetischen Weg - von der Wahrnehmung aus - einschlagen zu wollen, wie er gemeiniglich von den Populärphilosophen eingeschlagen wird, den er als einen dogmatischen bezeichnet. - ) Es 83 verknüpft sich zuweilen im gewöhnlichen Verlaufe des Assoziationsprozesses ein höchst zufälliges, subjektives Element - Bonstedt. Aus solchen zufälligen Assoziationen will Spinoza die Sympathien und Antipathien herleiten. Manche haben gegen manche Gerüche, Gestalten etc. Antipathie oder Sympathie. 1) Die Assoziation, welche sich an die Wahrnehmung anschließt, braucht sich nicht an den Totalwahrnehmungsakt anzuschließen, sie kann ebensowohl an einen einzelnen Teil dieses Wahrnehmungsaktes, an einen bereits ausgesonderten Gegenstand sich anschließen. Man hat alsdann Vorstellungen, die entweder einen einzelnen Wahrnehmungsakt reproduzieren, oder solche, welche als feste eine ganze Serie von Wahrnehmungsakten in sich schließen. Solche Vorstellungen sind dann entweder feste Vorstellungen eines Gegenstandes oder einer Klasse von Gegenständen. Die erste bezeichnen wir als Einzelvorstellung, die zweite als allgemeine Vorstellung. Diese können entweder Abbilder eines Totalaktes sein oder durch Abstraktion aus demselben gewonnen werden. Lotze hat die Theorie aufgestellt, daß die Lebhaftigkeit unserer sinnlichen Vorstellungen bedingt sei durch eine Miterregung des Sinnesnerven. Er behauptet also: Wenn ich meine Augen schließe und wende sie der Wand zu und
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versuche nun etwa die blaue Farbe eines Kleides mir mit großer Stärke vorzustellen, so ruft diese psychische Anstrengung eine Miterregung des Nervenendes hervor, und diese ist es, welche die lebhafte Färbung der Vorstellung als solche hervorbringt. Gleichviel, ob dies nun richtig oder falsch ist: Vorstellungen unterscheiden sich von Wahrnehmungen objektiv dadurch, daß bei jenen die Endapparate nicht affiziert sind, subjektiv, daß die Vorstellungen einen anderen Charakter tragen. Bei der Gesichtsvorstellung versetzt man das Vorgestellte nicht mehr an eine bestimmte Stelle im Sehraume; wenn man dagegen eine Gesichtswahrnehmung hat, so sieht man einen Gegenstand an einer bestimmten Stelle des Raumes außer sich, und wenn diese Wahrnehmung Vorstellung wird, so wird man dieselbe allerdings wohl in eine bestimmte Richtung bringen. Aber die Erscheinung objektive außer sich hinaus an jene Stelle kann man nicht projizieren. Dagegen sind die Grade sehr mannigfaltig, in welchen sich die Deutlichkeit, die Sinnfälligkeit und die Annäherung an Objektivität bei diesen Vorstellungen vollzieht. Nimmt man dies alles zusammen und faßt ins Auge den unermeßlichen Reichtum geistiger Elemente, die einem jeden zu Gebote stehen, Elemente, welche als solche Vorstellungen sind, so findet der Prozeß der Assoziation entweder statt zwischen einer Wahrnehmung und einer Vorstellung oder zwischen Vorstellung und Vorstellung. Dieser Prozeß also hat immer ein Vorstellungselement in sich, und die Verschiedenheit ist nur diese, ob dies mit einem anderen Vorstellungselemente oder mit einem Wahrnehmungselemente verknüpft ist. 2) Die Art der Verknüpfung aber, in welcher wir eine Vorstellung erinnern, ist Assoziation. Wir verstehen also darunter „die dauernde und stetige Ursache der Reproduktion oder Erinnerung von Vorstellungen". Diese Ursache liegt in einer Verbindung, welche zwischen der erinnernden Vorstellung und derjenigen Vorstellung oder Wahrnehmung stattfindet, von welcher wir ausgehen. Miteinander sind also Assoziation - Reproduktion verknüpft wie Ursache und Wirkung. Die Assoziation [ist] die von uns vorausgesetzte Tatsache, dasjenige stetige Verhältnis, welches wir als Grund für die Tatsache der Reproduktion betrachten. Faßt man nun die Verschiedenheit dieses Vorganges in der Mannigfaltigkeit der Individuen ins Auge, dann ist gewissermaßen diese Tätigkeit ein Traum. Zugrunde liegt eben die Assoziation. Die Vorstellungen, die in die Zukunft dringen, sind Phantasiebilder, die Träume des Beschaulichen, die des sogenannten Gemütlichen sind Bilder der Vergangenheit oder von gegenwärtigen Zuständen. 3) Keine größere und für uns wichtigere Verschiedenheit 84 tritt nun in bezug auf diese Träume hervor als diejenige, welche stattfindet zwischen den Alltags-
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menschen und Leuten von höherer Begabung. Dickens, einer der größten Kenner des menschlichen Herzens, hat in seinem Roman eine alte Dame dargestellt;85 leider zeigt seine Biographie, daß er seine eigene Mutter darin portraitiert hat, welche durch ganz zufällige Gedankenverbindungen des Raumes und der Zeitfolge zu anderen Vorstellungen gelangt usw. Er schildert also jemanden, dessen Vorstellungsbild verläuft nach dem Verhältnis der Gleichzeitigkeit, Gleichräumigkeit und der Aufeinanderfolge. Diese Dame hat bei einer jeden Vorstellung eine Erinnerung, welche von etwas, was damals sich ereignete, herrührt usw. Sie vermag auch nicht diese Erinnerung zu unterdrücken. Die Figur wird daher langweilig im Verlaufe des Romans. Was aber dabei vorliegt, ist die Assoziation nach dem anschaulichen Verhältnis unserer Wahrnehmung sowie nach den dazutretenden Verhältnissen der Ähnlichkeit oder Verschiedenheit. Diese Assoziationen sind die einfachsten, die ersten. Wie aber zeigen sie uns die Dinge, wie führen sie uns in den Zusammenhang der Erscheinungen? Sie führen uns in das Zufälligste dieses Zusammenhanges, in das Irreguläre, das Subjektive, sie ähneln dem, 86 was Spinoza als die imaginatio bezeichnet. Ganz anderer Natur sind diejenigen Assoziationen, welche geleitet sind von wesentlichen Grundverhältnissen der Dinge. Solche Assoziationen sind diejenigen, welche durch ein rationelles Element in dem Individuum miteinander zusammenhängen, und je nach der geistigen Fähigkeit der Individuen sind diese Assoziationen verschieden. Begabte Individuen verbinden miteinander, was in der Natur der Dinge, also in einer Wirklichkeit wesenhaft verbunden ist. Sie tun dies aber je nach der Geistesrichtung, die ihnen eigen ist. So verknüpft der geborene Historiker überall Bedingungen und Folgen der Ereignisse miteinander, der geborene Naturforscher sucht sich für Naturtatsachen einen Grund in anderen Naturtatsachen. Es fallen ihm mögliche Gründe ein oder Folgen, kurz, jede höhere Begabung stellt sich in einer bestimmten Richtung der Neigung zu Assoziationen dar. Dagegen die Talentlosigkeit, die Zerfahrenheit des Geistes macht sich geltend in jenen rein partikulären und zufälligen Assoziationen, deren verhängnisvollste die nach der Ähnlichkeit sind. Solche Assoziationen verraten einen mäßigen Geist, und man pflegt sie nur mit Widerwillen aufzunehmen. So werden wir nicht nur die allgemeinen Gesetze aufstellen, sondern auch das differente Verhalten der einzelnen Individuen ins Auge zu fassen haben. [1.] „Die 87 zum Bewußtsein erweckte Vorstellung strebt das Ganze mit sich zu bringen, dessen Teil sie wahrgenommen [hat], und zwar aus dem Ganzen zunächst den einzelnen Teil, mit welchem sie am engsten verbunden war." Der hiermit bezeichnete Vorgang ist einfach genug und kann jeden Augen-
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blick erlebt werden. Wenn irgendeine Wahrnehmung oder der Gedankenverlauf irgendeine Vorstellung nur reproduziert, so rufe ich mit dieser Vorstellung diejenigen benachbarten Teile zurück, mit welchen dieselbe ursprünglich verbunden war. Gesetzt, ich spreche mit einem Freunde von dem früheren Aufenthalt in einer Stadt und der Wohnung. Wenn nun von einem Zimmer die Rede ist, so wird unwillkürlich eine Neigung obwalten, von der Tür voranzugehen zu den danebenliegenden Zimmern etc. Wenn man an ein Bild im Zimmer sich jetzt erinnert, so wird sehr leicht die Tapete, worauf es hängt, miterinnert, d. h. man strebt den ganzen Vorstellungszusammenhang zu reproduzieren, in welchem dieses Bild ein Teil war. Hierbei findet nun aber ein Verhältnis statt, welches sich durch ein zweites Gesetz aussprechen läßt. [2.] „Vermöge der Enge des Bewußtseins werden die Teile des Vorstellungsverbandes, welcher in das Bewußtsein tritt, sobald dieser Verband ein sehr komplizierter wird, in eine Reihe umgewandelt, die gewissermaßen in einer linearen Bewegung verläuft." Der Verband wird nicht zerstört, aber er empfängt eine mehr lineare Gestalt, als die war, die in dem Wahrnehmungsakt selbst sich befand. Der Grund hiervon liegt in dem [von] uns aufgedeckten Unterschied zwischen der Enge des Bewußtseins in Rücksicht auf Wahrnehmung und Vorstellung. Wir produzieren schwerer Vorstellungen als Wahrnehmungen. Hieraus ergibt sich, daß in den Vorstellungen mehr Sukzession ist als in der Wahrnehmung für uns sichtbar vorhanden ist. Verbindungen, welche eine Reihe bilden, bilden wir öfter auch künstlich zur Unterstützung des Gedächtnisses; so, wenn wir Regeln in Verse bringen, entsteht in den Metren ein verknüpfendes Band. Die Kunst der Dichtung sucht solche stützenden Verknüpfungen zwischen den Gliedern eines zu erhaltenden Ganzen aufzustellen. 3. „Die Stärke der Verbindung zwischen zwei Vorstellungen, welcher gemäß diese Vorstellungen sich reproduzieren, ist einerseits bestimmt durch Inhalt und Gewicht ihrer Verbindung, andererseits durch den Grad der Eingewöhnung in diese Verbindungen." Der Inhalt der Verbindung könnte hierfür gleichgültig sein, in Wirklichkeit aber reproduzieren wir aus einer Anschauungsordnung leichter als aus einer abstrakten Verknüpfung. Wir reproduzieren leichter, was ein Räumliches umschließt, als irgendeine Art von abstrakten Beziehungen. Wir pflegen wohl aus dieser Stärke der Verbindung zweier oder mehrerer Vorstellungen eine Kraft für sich zu bilden und bezeichnen dieselbe als „Gedächtnis". Wir behaupten, ein Mensch besitze ein starkes, ein schwaches Gedächtnis. Hierbei glauben wir annehmen zu müssen, daß ein abstraktes Vermögen jenseits der Vorstellungen
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bestehe, welches dieselben zu reproduzieren erleichtere. Ein Gedächtnis in diesem Sinne besteht natürlich nicht. Die Deutlichkeit der Anschauung und die Stärke in der Verbindung der Vorstellungen untereinander, diese sind es, die das Gedächtnis ausmachen, daß wir treu und genau auffassen und das Aufgefaßte leicht und ganz reproduzieren. Diese Äußerungen unseres geistigen Lebens faßt man eben unter dem abstrakten Ausdruck des Gedächtnisses zusammen. Zunächst also ist es der Inhalt der Verbindungsglieder, der von Bedeutung ist. Verbindungen räumlicher Teile und lautlicher Folgen sind leichter zu vollziehen als etwa die [Verbindung] von zwei Fakten, bei welchen die Mitglieder fehlen. Die Geschichte würde ja viel leichter behalten werden, wenn sie in ihrer Totalität von Stunde zu Stunde erhalten wäre. Wenn ich aber dem Gedächtnis ζ. B. die Geburtstage verschiedener großer Männer einprägen soll, so fehlt es an den verbindenden Mittelgliedern, daher das Einprägen erschwert ist. Tabellen unterstützen das Gedächtnis in bezug auf solche nackten historischen Fakta, indem sie eine Raumanschauung zugrunde legen. Reime und Rhythmen unterstützen nicht minder, indem sie eine rhythmische Lautfolge zugrunde legen. Faßt man nun die verschiedenen Klassen von Verbindungen ins Auge, so sind verschiedene Menschen ganz verschieden befähigt. J e genauer wir auf irgendein Gebiet aufpassen, je mehr Tatsachen hier bereits vorliegen, welche geeignet sind, die Reihenbildung zu unterstützen, desto leichter werden wir auf diesem Gebiete das Gedächtnis auffassen. Daher ein Mensch nicht für alle Gebiete ein gleiches und konformes Gedächtnis hat und ein Mensch das Gedächtnis stärkt auf den Gebieten, auf denen er sich besonders beschäftigt. Die Stärke beruht auf der Auffassung der Reihe bestimmter Tatsachen. Am deutlichsten ist es auf dem Gebiete der Zahlen. Ein englischer Mathematiker Wallis konnte 53stellige Zahlen im Kopfe behalten. Ein 14jähriger, früher für blödsinnig gehaltener Knabe gelangte durch unermüdliche Übung nicht zu leichter Auffassung und raschem Verständnis, wohl aber zu einem außerordentlichen Gedächtnis für das von ihm kaum Verstandene. Von Jos. Scaliger ist bekannt, daß er in 21 Tagen den Homer auswendig lernte. Pico von Mirandola soll 2000 Namen nach einmaligem Hören von vorne und hinten haben wiederholen können. Von großer Wichtigkeit ist die Dauer der Wiederholung oder Vollziehung der Verbindungen, und zwar verhalten sich Dauer und Wiederholung der Verbindung zueinander in eigentümlicher Weise. Es gibt Individuen von einem sehr schnellen Gedächtnisse, sie pflegen aber selten ein sehr treues Gedächtnis zu besitzen. Vielmehr pflegt die Treue an eine gewisse Dauer der Wahrnehmungsbegriffe gebunden zu sein. Die schnell vollzogenen Verbindungen haben nicht dieselbe Intensität als die langsam vollzogenen. So geschieht es, daß das
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langsam Erlernte ein weit sicherer Besitz ist als das schnell Erworbene. Dies hängt zum Teil auch damit zusammen, daß bei einer solchen langsamen Arbeit die Nötigung öfterer Rekapitulationen und infolgedessen die Wiederholungen in Vollziehung dieser Verbindung eintreten. Sehr mannigfaltig ist nun die Richtung, welche das Gedächtnis einschlägt, und etwas dem Eigensinn Analoges tritt hier hervor, wo das Interesse des Individuums ein sehr ausgesprochenes ist. Gerade sehr begabte Menschen pflegen in bezug auf ihr Gedächtnis einen solchen Eigensinn zu besitzen, welcher dasselbe konzentriert auf bestimmte Zustände. 4. (In dem dritten Gesetz nahmen wir an, daß eine Verbindung aus zwei Gliedern bestehe.) „Verbindungen derselben Festigkeit werden als Glieder einer längeren Reihe leichter reproduziert, als wenn nur zwei Vorstellungen verkettet sind. Die Verbindungskraft der einzelnen wirkt gewissermaßen als Totalkraft." Worte, welche man in den Zusammenhang eines Verses bringt, haften fester aneinander. Uber diese von Natur gegebenen Mittel der Stärke des Gedächtnisses hinaus hat die Mnemotechnik künstliche Mittel aufzustellen gesucht; die Kunst besteht darin, daß man, wo natürliche Bindemittel fehlen, künstliche als Ersatz einführt. Nehmen wir z . B . das Todesjahr Karls des Großen 814; zwischen beiden Momenten besteht kein anderes Bindemittel als der Laut. Diese Verbindungsweise ist natürlich sehr unvollkommen. Hier behauptet nun die Mnemotechnik: Hat jemand ein schwaches Gedächtnis, so greife er zu künstlichen Mitteln. Er denke in diesem Falle unter 8 an einen Satz, unter 1 an einen Speer, unter 4 an eine Pflugschar, und der Satz lautet: „Es stand der Mann groß im Krieg und Frieden." Solche Künsteleien stehen natürlich der natürlichen Stärkung des Gedächtnisses geradezu entgegen, in den Kindesjahren darf dieselbe eben nicht versäumt werden. Dazu kommt dann, daß auf diese Weise zwischen die historische Auffassung künstliche Vorstellungen eintreten, welche den Denkinhalt der Geschichte erheblich beeinträchtigen. 5. „Die Reproduktion einer Reihe kann in doppelter Richtung vollzogen werden; sie vollzieht sich leichter in der Richtung der Gewöhnung, vom Unbekannten zum Bekannten, leichter in der natürlichen Richtung der Anschauung als in der unbekannten." Es kann bei einem Kinde begegnen, daß dasselbe die Multiplikation von 5 mit 7 in dieser Richtung ohne weiteres vollzieht, in der entgegengesetzten Richtung dagegen stockt, weil es [sie] nicht so gewohnt war. Es ist ferner natürlich, daß wir das Vertrautere leichter zum Unbekannten finden als umgekehrt; es ist schwerer, die Frage zu beantworten, welcher der griechische
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Ausdruck für ein deutsches Wort sei, als welche die deutsche Bedeutung für ein griechisches Wort. 6. „Die Reproduktionskraft, welche einer Vorstellung beiwohnt, wächst mit näherer Verbindung." Die Assoziationsgesetze wurden zuerst von Aristoteles aufgestellt, so weit wir blicken können, in der Schrift περί, μνήμης. Er findet bereits, daß die Vorstellungen miteinander verbunden sind durch räumliches Zusammen, zeitliche Beziehung, Ähnlichkeit, Gewöhnung. Daher, sagt er, ist es leichter zu erinnern, was in fester Ordnung aufgefaßt wird. An Aristoteles anknüpfend, erwarb sich Vives, De anima, 88 hervorragende Verdienste um diese Theorie. In einer haltbaren Gestalt aber wurde sie erst aufgestellt von Hume, und zwar unterschied er drei Grundgesetze: Die Assoziationen geschehen nach den Beziehungen der Ähnlichkeit, des Kontrastes und der Angrenzung in Zeit und Raum. Eine solche Theorie, empirisch, wie sie von Hume gefunden war, lockte natürlich, sie einem einheitlichen Gesichtspunkt zu unterwerfen, und so haben denn die englischen Philosophen den Versuch gemacht, diese Gesetze womöglich auf ein einziges zurückzuführen. Indes, die Sache hat ihre erheblichen Schwierigkeiten. Wie man auch die Verknüpfung machen möge, so bleiben doch vielleicht zwei deutlich verschiedene Erklärungstatbestände, in welchen die Assoziationsgesetze stattfinden, Bedingungen, unter denen sie sich verwirklichen. Wir dürfen ein Gesetz aufstellen: „Ein jedes Ganze eines psychischen Aktes strebt, sich aus seinen Teilen wiederherzustellen." 89 Dies ist jedenfalls die richtige Auffassung für die Tatsache, daß wir das, was im Raum, was in der Zeit, was nach Ursachen und Wirkungen, nach Mittel und Zweck von uns miteinander verknüpft wird, auch reproduzieren können. Wenn wir reproduzieren, so tun wir nichts anderes, als daß wir jene Verbindungen wiederherstellen, aus welchen wir ein einzelnes Glied entnehmen. Diese Theorie ist früher nicht aufgestellt worden, weil man nicht von dem Ganzen des psychischen Aktes ausging. Aber dieses Gesetz für sich ist nicht ausreichend, weil eine Reihe von Tatsachen eine andere Erklärung verlangt. Wenn man über die Straße geht und die Gesichter der Vorübergehenden mustert, so wird das eine oder andere vielleicht das Gesicht eines anderen, früher gesehenen Menschen reproduzieren, d.h. eine Reproduktion einer Vorstellung findet hier statt durch eine Wahrnehmung, welche bis dahin nie mit jener Vorstellung verbunden war. Hier findet die Reproduktion also gar nicht statt durch eine früher eingeleitete Verbindung. Sie ist unabhängig von Gewöhnung usw., vielmehr werden diese Wahrnehmungen und Vorstellungen hier zum ersten Male verbunden. Wie sollen wir diesen Fall betrachten? Gewiß findet eine Reproduktion statt, auch
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ein Verhältnis, nach welchem die Wahrnehmung an sich heranzieht die Vorstellung. Also ist auch dies eine Assoziation, aber der Grund liegt nicht in einer früheren Verbindung. Aber welcher ist denn der Vorgang? Man sieht das Gesicht, eine Anzahl Vorstellungen gehen durch die Seele, und einige sind darunter, durch welche das Wiedererkennen zustande kommt. Eine Wahrnehmung reproduziert eine Vorstellung aufgrund der Ähnlichkeit oder des Kontrastes. Der Wahrnehmungs- und Vorstellungsakt müssen zum Teil identisch sein, beide Akte müssen gewissermaßen verschmelzen. So haben wir denn hier ein Problem vor uns, welches zusammenhängt mit dem Grundprozeß der Verschmelzung. Wir können dies auch so wenden: Die Assoziationen in dem Sinne, in welchem ein Teil das Ganze oder andere Teile reproduziert, finden statt zwischen voneinander verschiedenen psychischen Elementen. Dagegen die Assoziationen nach dem Gesetz von Ähnlichkeit und Kontrast finden statt zwischen teilweise miteinander identischen Wahrnehmungs- oder Vorstellungsakten, also nur da, wo zunächst ein Wiedererkennen mitgeteilt ist. Selbst wenn ich eine Kontrastvorstellung bilde, ist eine gemeinsame Grundlage vorhanden, und von dieser aus wird nach dem Gesetz des Kontrastes reproduziert. So glaube ich behaupten zu dürfen, daß alle Reproduktionen, daß demgemäß die ganze allgemeine psychische Grundlage für unbewußte Prozesse zurückgehe auf zwei einfache Grundverhältnisse: auf das Grundverhältnis, daß ein früherer Wahrnehmungsakt sich aus seinen Teilen wiederherzustellen strebt, und das andere, daß eine Wiederholung eines Teiles des psychischen Aktes das ganze Gebilde, welches wiederholt wird, wenn es auch im übrigen verschiedenartig von der Wahrnehmung ist, reproduziert. Dies sind die beiden natürlichen Grundlagen für alle Beziehungen von Vorstellungen untereinander, durch welche sie sich von sich aus oder von Wahrnehmungen aus reproduzieren. Wir wenden uns zu einigen praktischen Betrachtungen. 90 Die Vollendung der Verbindung unserer Vorstellungen ist durch folgende Punkte bedingt: 1) Erstlich kommt es darauf an, daß die Verbindungen, die wir vollziehen, fruchtbar sind für die Erkenntnis und für die herrschende reale Welt. Aussonderungen also des rein Zufälligen in Koexistenz und Sukzession der Eindrücke, geistige Durcharbeitung ist hier von der größten Wichtigkeit und Einfluß. Es gibt Menschen, die auf einer Reise sich aller Wirtshäuser erinnern, die sie berührt, d. h. es gibt Menschen, die ein Gedächtnis haben, an welchem sozusagen die Wahrnehmungen kleben bleiben. Demgegenüber steht der große Sinn, für den solches überhaupt gar nicht vorhanden ist. Ein solches Gedächtnis (wie obiges) ist in der Regel verbunden mit geringerer Ausbildung der Intelligenz und des Charakters.
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2) Die geistige Bedeutung beruht vor allem auf der Stetigkeit des Geistes. Es gibt eine gewisse Sparsamkeit des Geistes, einen Haushalt mit den Geisteskräften, welchen die Jugend selten findet, welcher aber angewandt für das Leben außerordentliche Früchte trägt. Eine solche Stetigkeit in den geistigen Operationen verfolgen wir an dem Leben der größten Menschen. Durch eine solche Stetigkeit gelingt es auch den mittelmäßig Begabten, Hervorragendes zu leisten. Vorstellungen, die schwierig in längerer Zeit als eine ganze Gruppe erworben werden und nachher wenig benutzt werden, sind der Natur der Sache nach ein toter Besitzstand, und es kommt darauf an, daß in dem Leben eines Individuums nicht ein solcher toter Besitzstand sei. In dem Maße, in welchem ein Individuum seinen Interessenkreis einschränkt, in dem Maße wird in ihm die Leistung leichter werden, falls dieselbe nicht durch die Einschränkung als solche herabgedrückt und gemindert wird. Daher erfahren wir, daß gewöhnliche Menschen, die sich auf ein enges Gebiet geworfen haben, mit Leichtigkeit innerhalb desselben neue Tatsachen finden und feststellen. Vor allem muß gewarnt werden vor Liebhabereien, welche nicht im Zusammenhange mit der großen Lebensarbeit des Menschen stehen. Solche pflegen bei Männern entweder im Laufe der Jahre abgeschüttelt zu werden oder sie werden zu einer wirklichen Hemmung der geistigen Leistung. Es ist unmöglich, bei einem angespannten und umfassenden Kreise noch einen anderen, davon unabhängigen zu haben. Es sind nicht nur die Stunden, die darauf verwandt werden. Das Bedeutendere ist die Abschwächung des Interesses, welche die eigenen Lebensarbeiten erfahren, wodurch dann auch die Auffassung der Tatsachen und das Gedächtnis für dieselben erheblich verringert wird. - 9 1 Es verknüpfen sich im gewöhnlichen Verlauf des Lebens in Assoziationen solche Dinge, die in einer sachlichen Beziehung zueinander stehen, mit ganz subjektiven Vorstellungs- oder Wahrnehmungselementen, und auf diese Weise treten in unserer Erinnerung, zumal wenn wir lebhaften Geistes sind, sehr oft subjektive und höchst zufällige Elemente hinein. So sagt Bonstedt: „Um keine Zeit zu verlieren, lernte ich auswendig, so habe ich den ganzen Horaz gelernt, und wenn ich das Buch jetzt ansehe, so erinnere ich mich an eine ganze Anzahl Naturbilder, die sich bei mir mit dem Gedanken an das Buch verknüpft hatten."92 Ähnliche Fälle gibt es genug: aus ihnen hat Spinoza die rätselhaften Erscheinungen von Sympathie und Antipathie erklärt. Der eine kann diesen, der andere jenen Geruch nicht leiden. Alle diese Tatsachen lassen sich zurückführen auf erste Verknüpfungen, welche in die früheste Jugend zurückreichen, in betreff deren ein Gedächtnis des ersten Anlasses nicht zurückgeblieben ist. So ist unser ganzes Vorstellungsleben ganz durchflochten von scheinbaren, rätselhaften Beziehungen unseres Geisteslebens zu Tatsachen, welche immer noch fortwirken. - 9 3
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Betrachten wir aber nun diejenigen Erscheinungen, welche nur aus der Art [entstehen], wie die Vorstellungen miteinander verkettet sind, im geistigen Leben .. ,94 Wir haben bereits gesprochen von dem Gesetz der Sparsamkeit, welches ebensogut im geistigen Leben nötig ist als im körperlichen. Wer das Material vergeudet, wer die Jahre des Lebens vergeudet an Dinge, welche nicht in ganz deutlichem und sichtbarem Zusammenhange mit seiner Lebensaufgabe stehen, für den wird das Größte im Leben unerreichbar bleiben. Die großen Zweige der geistigen Beschäftigung darf man nie aus den Augen verlieren, nur auf diese Weise erlangt man eine naturgemäße Höhe. Zu solchen Wahrnehmungen mag auch noch eine andere hinzutreten, deren Ergebnis in dem vorliegt, was man als „Zerstreutheit" oder „Vergeßlichkeit" bezeichnet. Es ist das die Vielleserei, die allzu rasche Aneignung von mannigfachen geistigen Massen. Sie zerstört nicht selten hohe Begabung. Nie aber wird sie gefährlicher, als wenn sie in Verbindung tritt mit jener Romanleserei, die gewissermaßen als Laster bezeichnet werden muß. Solche wüste Romanleserei hat ihre innerste geistige Richtung in der Spannung, und so lebt man bloß dem Schluß entgegen. Dies ist nicht anders, als wenn jemand bloß leben wollte, um sich auf die Todesstunde vorzubereiten. Diese wüste Romanleserei bringt hervor, daß man fortwährend in erträumten Situationen lebt, und Ekel am wirklichen Leben ist die natürliche Folge. Man soll nur so lesen, daß man das, was man liest, klar, scharf und genau auffaßt und in den Zusammenhang seiner Besitztümer einreiht. Was sich dazu nicht eignet, soll man überhaupt nicht lesen. Ein anderes Phänomen ist natürlich die „Zerstreutheit": Die Zerstreutheit der großen wissenschaftlichen Genies und Künstler kann gerade aus Konzentration entstehen. Was man gewöhnlich als „zerstreut" bezeichnet, ist in der Regel eine Folge der Konzentration, daß nämlich jemand in bezug auf die äußerlichen Verhältnisse die wunderlichsten Antworten gibt, weil er mit ganz anderen Sachen und Dingen beschäftigt ist. [Der] Grund davon ist der, daß solche Leute auch diejenigen Dinge, welche der Durchschnittsmensch mit besonderem Interesse betreibt, ohne Interesse betreiben. Das Genie zieht sich an, ohne sich dafür zu interessieren, es eilt nur, damit fertigzuwerden, in Gedanken vertieft. Dagegen gehört wirklicher Zerstreutheit jene Tatsache an, daß das, was man als sammelnde Gelehrsamkeit bezeichnet, stets das Judizium schwächt, falls kein Gegengewicht sich straff geltend macht; denn ein solches Anhäufen macht unmöglich das Verhältnis von Ursache und Wirkung, von Zusammenhang usw., es macht daher in bezug auf das wirklich Wissenswürdige tot. Nur da, wo es verbunden ist mit jener Schärfe des Geistes, hat es einen Wert und erhält den Geist frisch und lebendig.
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Indem 95 wir nun ein solches System von Vorstellungen in uns ausbilden, so sind wir von demselben wie von einem Netze umschlungen. Dies System bildet das Grundgerüst unseres geistigen Lebens, und wir sind an dasselbe gebunden. 96 Wie sich der Geist in den entscheidenden Lebensjahren formiert hat, mit dessen intellektueller Richtung hat es sein Verbleiben; das Gerüst läßt sich nicht mehr entfernen oder ändern, höchstens eine andere Grundansicht kann ihm untergelegt werden. Hieraus ergibt sich weiter, daß die Individuen also ein System von festen und klaren Begriffen, die einen strengen Zusammenhang miteinander haben, entwickelt haben, daß sie in diesem Zusammenhange auch im Verlauf der Alters- und Lebensjahre verknöchern. 97 Eine gewisse freie Beweglichkeit des Geistes, welche imstande ist, auch in den Standpunkt des Gegners sich mit Leichtigkeit zu versetzen, wird ihnen unmöglich sein. Daher denn das Schicksal der Gelehrten im Verlaufe ihres Lebens der Regel nach ist, daß sie verknöchern und daß sie neuen Richtungen des wissenschaftlichen Lebens nicht mehr zugänglich sind. Es ist dies nicht ein Fehler des Charakters, es ist eine Bedingung und Grenze der menschlichen Natur. Gerade je tiefer und ernsthafter ein Forscher einen Zusammenhang von Gedanken in sich gebildet hat, desto weniger ist es ihm gegeben, sich später in eine andere Gedankenordnung hineinzuleben, und sehr selten können gewisse Individuen wenigstens eine gewisse Beweglichkeit bewahren. Kant konnte sich zur Zeit seiner Blüte kaum in die Systeme seiner Gegner verstehen. Er gestand dies selbst. Es ist dies das Tragische in jeder intellektuellen Entwicklung.
§ [8.] Apperzeption oder Wechselwirkung zwischen dem Wahrnehmen und den vorhandenen Vorstellungsmassen gemäß dem Grundprozeß der Verschmelzung und der Assoziation 98 Apperzeption kommt in einem ersten Sinn vor bei Leibniz „de la nature et de la grace". 99 Perzeption ist der innere Zustand der Monade von, wenn auch nur unbewußter, Vorstellung der Außenwelt. Apperzeption [ist] die Bewußtheit dieses Zustandes. Kant verstand unter Apperzeption die Aufnahme einer Perzeption in das Selbstbewußtsein. Die empirische Psychologie, die heute herrschende, versteht unter Apperzeption die Einordnung einer Wahrnehmung (Perzeption) in den Zusammenhang der besessenen Vorstellungen (vgl. Drobisch, Empirische Psychologie [nach naturwissenschaftlicher Methode, Leipzig 1842], Schilderung der Apperzeption, der die Apperzeption gleichsam als Assimilation ansieht; Apperzeption = A d perception, ein Hinzukommen einer Vorstellung zu bereits vorhandenen). Was nun ist Apperzeption? Nach jenen Psychologen heißt sie eine Wahrnehmung, die reproduziert wird als Vorstellung inmitten einer anderen [ . . . ] von Vorstellungen.
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Lazarus und Steinthal haben darauf wahre Luftschlösser erbaut. Diese Lehre kann zwar nicht ganz entbehrt werden, aber sie muß strenger diszipliniert werden. Die Ansicht der heutigen Psychologie fußt auf einer gewissen Mechanik der Seelenvorgänge nach dem Vorgang Herbarts. Das [ist] die Grundvoraussetzung der heutigen Psychologie. Die Perzeption wird gemäß den vorhandenen Bewußtseinszuständen gebildet. Die Annahme, daß denselben Reizen immer dieselbe Perzeption entspricht, welche nur durch die bereits vorhandene Vorstellungsmasse umgebildet wird - das ist die Grundvoraussetzung dieser Psychologie. Sie fußt auf der Annahme unbewußter Vorstellungen. Dilthey behauptet, daß diese Ansicht nur auf einer Hypothese beruhe. Er meint, eine Anzahl Fälle beweist, daß Perzeption und Apperzeption dasselbe sei. Das Wahrnehmungsbild ist meine Schöpfung aufgrund physiologischer Prozesse in meinem Auge. Das principium indiscernibilium kann von unserem Bewußtseinsinhalte gelten; in diesem gibt es nicht zwei ganz gleiche Wahrnehmungsbilder. Also auch schon unsere Perzeptionen sind an sich schon von vornherein bedingt durch unseren bereits erworbenen Bewußtseinsinhalt. Darauf beruht die Relativität der Vorstellungen, wonach die Qualität einer Perzeption modifiziert wird durch die vorangegangene Serie von Bewußtseinselementen. Nach Genuß von Süßem schmeckt der Wein sauerer. Vgl. Aufsatz über Phantasie des Dichters in der Zeitschrift für Völkerpsychologie von Dilthey. 100 Dagegen faßt die heutige Psychologie die Perzeption viel einfacher: Einem gleichwertigen Reize entspricht immer eine gleichwertige Perzeption, mit der man mathematisch rechnen kann. Man lasse aber diese elende Mechanik fahren. In Wahrheit ist Perzeption und Apperzeption identisch. Dann aber muß man mit der Annahme von unbewußten Vorstellungen viel vorsichtiger umgehen. Leibniz nimmt nur eine Gradation in der Deutlichkeit der Vorstellungen an: Die Vorstellungen oszillieren gleichsam, wie Fechner es ausdrückt, manchmal ist die Schwingung stärker, manchmal schwächer. Diese Hypothese hat sehr viel Wahrscheinlichkeit [für sich]. Beim Lesen interessanten Inhalts sehen wir nicht nur die Wortbilder, sondern hören fast in oszillierender Weise Wortlaute, das ist mit einem gewissen Grade von Vernehmlichkeit. Die Annahme unbewußter Vorstellungen schlechthin muß nur als Hypothese angenommen werden. Aber, daß es unmerklich oszillierende, nicht ganz deutliche, gradweise deutliche Vorstellungen gibt - scheint ziemlich gewiß zu sein. Der Vorgang unseres geistigen Lebens ist [es], der die physiologischen Spuren formt und bildet. Die Herbartsche Philosophie kann von ihrem Standpunkt aus es nicht erklären, daß bei physiologischen Verletzungen eine Lähmung des geistigen Lebens erfolgt; alle diese physiologischen Tatsachen werden nur nach unserer Ansicht erklärbar. (Standpunkt der heutigen Herbartschen Psychologie bezüglich der Assoziationstheorie: die Hauptcharakteristik ist der Mechanismus. In dem Vorgang der Apperzeption ist Urteilen, Wille, Interesse, Imagination.) Aufgrund der Subsumtion entstehen Allgemeinvorstellungen, und jene beruht auch auf Verschmelzung. Was wir Allgemeinvorstellung nennen, ist bei dem Kinde, das nicht seine Empfindungen vergleicht, nur eine unbestimmte Einzelvorstellung. Verwickelter sind die Prozesse, wenn in einer Reihe von Vorstellungen, zum Beispiel historischen, eine neue angereiht wird. Vorstellungen sind desto apperzeptionsfähiger,
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je mehr und intensiver sie reproduziert worden, d. i., sie beeinflussen dann um so kräftiger die ferneren Vorstellungsweisen. Es gibt Individuen, deren Geistesleben gleichsam von einer monarchischen Verfassung beherrscht wird, weil eine Gedankenreihe vorzugsweise vorherrschend [ist], (Kant vermochte sich gar nicht in anderer Ansicht zu finden.) Dagegen gibt es wiederum Menschen, die geneigt sind, sich jedem Eindruck hinzugeben, für alles empfänglich sind, aber sie entbehren der zusammenfassenden Geisteskraft. Und wiederum gibt es dualistische Verfassungen im geistigen Leben, da man ζ. B. für religiöse Interessen, aber auch weltlichen gegenüber einen offenen Sinn hat.
Zusammenfassung der letzteren Vorlesungen Bewußtseinsstand ist das Ensemble aller Affektionen, die ich in einem gegebenen Augenblicke a habe. Affektion der Haut, der Retina, des Geschmacks etc. Indem ich meine Aufmerksamkeit auf eine von diesen Affektionen konzentriere, wird eo ipso jener zusammengesetzte Bewußtseinszustand zerlegt. Ich kann nun weiter gehen und eine durch Aufmerksamkeit isolierte Affektion durch Abstraktion noch weiter auf seine einzelnen Elemente prüfen - ein solches letztes Wahrnehmungselement ist Empfindung. Was der Erregung eines Endapparats entspricht, ist Wahrnehmung; hat die Erregung aufgehört, bleibt die Vorstellung. Wahrnehmung und Vorstellung sind die zwei Grundgestalten, aus denen unser geistiges Leben sich aufbaut. Die erstere gibt ihm Lebendigkeit, die letztere Tiefe. Zuerst haben wir nur Wahrnehmungen, erst allmählich vermittelst des Verschmelzungsprozesses kommen die Vorstellungen zu Herrschaft und bemächtigen sich immer mehr des geistigen Lebens. Die Prozesse, die nunmehr walten, walten entweder zwischen Wahrnehmung und Vorstellung oder zwischen Vorstellungen und Vorstellungen. Wir nehmen an, wir bildeten eine Vorstellung, der in der Wirklichkeit gar nichts entspräche .. . 101 Erste Tatsache des geistigen Lebens. Wir besitzen keine Wahrnehmung, die der bloße Ausdruck eines physiologischen Vorganges wäre, sondern dieser physiologische Vorgang wird modifiziert, und in dieser Modifikation gewahren wir ihn. Wir sind nicht imstande, das ganz so zu sehen, wie sich ein Gegenstand auf unserer Retina abmalt d. h. mit anderen Worten: Wir haben niemals Perzeption, sondern Apperzeption (nach der obigen Erörterung). Die sogenannten Wahrnehmungsvorgänge sind zumeist Apperzeptionen, wenn es auch wahr ist, daß das Kind, welches zuerst von einem Gegenstand affiziert wird, nur perzipiert - aber hat es dieselbe Erfahrung mehrere Male gemacht, so erfolgt Apperzeption. Im Grunde leben wir nur in Apperzeptionen. Diese sind zunächst Verschmelzungs-, dann aber auch Verbindungs- oder Assoziationsvorgänge. Gehe ich auf die Ursachen, so unterscheide ich zwischen Verschmelzung und Assoziation, gehe ich auf .. , 102 Mein geistiges Leben vertieft, metamorphosiert gleichsam, einerseits das photographische Bild auf meiner Retina und bringt es andererseits in Zusammenhang mit anderen Wahrnehmungen. Die Einheit dieser beiden Leistungen geht zurück auf die Zusammenwirkung von Verschmelzung und Assoziation. Apper-
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zeption aber ist das Endergebnis aufgrund dieser Prozesse, der Inbegriff der physiologischen Vorgänge, durch welche ein vertieftes Wahrnehmungsbild entsteht.
Wir senden eine historische Orientierung voraus. - Der Begriff der „Apperzeption" kommt in einem festen Sinne vor bei Leibniz, er sagt: Perzeption ist der innere Zustand der Monade, welche die Außenwelt vorstellt. Apperzeption ist die Reflexion oder das Bewußtsein jenes Vorstellens. Apperzeption ist also nach ihm die Hinrichtung der Aufmerksamkeit auf einen bewußten psychischen Zustand, vermöge deren man einen bewußten psychischen Zustand zum Gegenstand eines besonderen Interesses macht. Diesen Begriff bildete alsdann Kant künstlich aus, indem er unter Apperzeption die Aufnahme einer Perzeption in die Beziehung zum Selbstbewußtsein und die daraus sich ergebenden Veränderungen verstand. Eine Psychologie, welche nicht ausgeht von dem Selbstbewußtsein, sondern vielmehr aufbauend von dem Akte der Wahrnehmung, eine solche Psychologie muß auch dem Begriff der Apperzeption eine etwas abweichende Bedeutung geben. Und zwar versteht darunter die gegenwärtig herrschende Psychologie die Einordnung einer Wahrnehmung in die vorhandene Vorstellungsmasse, also denjenigen Vorgang, in welchem eine Wahrnehmung aufgenommen wird in den Zusammenhang der Wahrnehmungen, die man besitzt. Klassisch ist hier die Schilderung von Drobisch in seiner Psychologie. Er bezeichnet es gewissermaßen als Assimilation, ähnlich dem Verdauungsprozeß. Unter Apperzeption versteht man demnach „alle diejenigen Prozesse, welche infolge der Reproduktion von Vorstellungen aufgrund von Wahrnehmungen: in der Seele nunmehr verlaufen". 103 Damit aber begibt sich die Psychologie in eine gefährliche Richtung der Untersuchung. Insbesondere Lazarus und Steinthal haben aufgrund der Herbartschen Lehre wahre Luftschlösser gebaut. 104 Erklärt werden diese Prozesse nur durch klar eingesehene, wirklich stattfindende simple Grundvorgänge, solche sind Verschmelzung, Assoziation usw. Wenn wir dies Ensemble [ . . . ] als Apperzeption bezeichnen, so erklären wir gar nichts. Es gibt zwei mögliche Ansichten über dasjenige, was geschieht, wenn eine Wahrnehmung eine Vorstellung reproduziert. 105 Diese beiden Auffassungen stehen sich ganz so diametral gegenüber als die beiden möglichen Erklärungen in bezug auf die Existenz von Empfindungen. Entweder ich nehme an: Eine Wahrnehmung bildet sich, sie setzt sich in Beziehung zu den vorhandenen Vorstellungen, und sie empfängt aus dieser Beziehung i h r e . . , 106 Dies ist die heute herrschende Ansicht, sie geht aus von der mechanischen Betrachtungsweise der psychologischen Prozesse. Im weitesten Umfange ist die heutige Psychologie eine Art von Pseudo-Herbartianismus.
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Diese Annahme betrachtet also die Wahrnehmung als ein fixes Element; aufgrund einer gewissen Erregung desselben Endapparates erfolgt immer dieselbe Wahrnehmung. Wenn man in einer gewissen Entfernung bei demselben Lichte einen Baum wiedersah, so ist anzunehmen, daß wenig Änderungen in bezug auf die Reize des Auges stattfanden. Wir wollen annehmen, es sei gar keine; dann, behauptet die Psychologie, wird dasselbe Wahrnehmungsbild in mir entstehen, was damals in mir entstand, als ich ihn etwa gestern sah. Sie fährt dann fort: Diese Perzeption, die mir gar nicht zum klaren Bewußtsein zu kommen braucht, wird gemäß dem gegenwärtigen Bewußtseinszustand umgebildet; wenn also, dem gegenwärtigen Bewußtseinszustand gemäß, ich die Erfahrung hinzubringe, daß dieser Baum eine große Tiefe hat, so werde ich nunmehr Tiefe hinzufügen zu meiner Auffassungsweise in klarerer Weise, als es gestern geschah, aber ich füge das nur hinzu, ich bilde die Perzeption um. Demgemäß ist die Grundvoraussetzung dieser gesamten Psychologie die Annahme von immer gleichbleibenden Perzeptionen, die Annahme, daß demselben Reize dieselbe Perzeption entsprechen wird, welche dann nur eine U m bildung erfahren wird. Auf diese Weise konstruiere ich einen klaren Mechanismus: Apperzeption ist in dem einen Falle eine Verschmelzung, im anderen eine Assoziation. Diese Annahme hat zu ihrer Voraussetzung natürlich die Hypothese von unbewußten Vorstellungen. Wir behaupten nun aber, 107 daß diese Annahme der wirklichen Natur des Vorganges keineswegs ohne weiteres entsprechend ist, daß hier eine Hypothese zugrunde liegt und daß eine viel einfachere Auffassung des Tatbestandes aus einer unbefangenen Betrachtung desselben sich herstellen läßt. Man kann der Ansicht sein, daß Perzeption und Apperzeption in vielen Fällen dasselbe ist. 108 Die Tatsache ist: Ich habe einen Reiz[in]begriff in meinem Auge, und ich habe einen Bewußtseinszustand, welcher diesem entgegenkommt, alsdann gestalte ich gemäß meinem Bewußtseinszustand das Wahrnehmungsbild; ich gestaltete es primär anders an dem gestrigen Tage als heute. Es ist die künstlerische Produktion des Geistes aufgrund der vorliegenden physiologischen Elemente. Die Grundvoraussetzung dieser einfacheren Betrachtungsweise ist die aus der gesamten Erwägung unseres geistigen Lebens sich bestätigende. Wir haben gar keine wiederkehrenden psychischen Akte. Die Wölfische Schule hatte wohl als Satz ausgesprochen, es gäbe in der Welt nicht zweimal dasselbe Ding, dieselbe Farbe usw. Aber über die Natur der Objekte wollen wir solche Hypothesen nicht bilden; aber in unserem Bewußtsein gibt es nicht zweimal denselben Gegenstand, denn das Bewußtsein ist fortwährend produktiv aufgrund der vorhandenen Vorstellungen.
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Daher denn auch die ganze Sache sich so vorstellen läßt: Indem ein Reizinbegriff physiologischer Natur in unseren Sinnen vorhanden ist, bildet unsere Seele nach ihrem gegenwärtigen Bewußtseinszustand und aufgrund der nunmehr reproduzierten Vorstellungen einen psychischen Akt, welcher von vornherein bedingt ist durch den allgemeinen Bewußtseinszustand und die hinzugetretenen reproduzierten Vorstellungen; diese klingen in uns schon an, sobald der Reiz da ist, bevor noch das Wahrnehmungsbild sich entwickelt hat. Dieser Satz entspricht einer primären Tatsache, welche wir als „Relativität der Empfindungen" bezeichnen wollen. Unter Relativität der Empfindungen versteht die gegenwärtige Wissenschaft die Tatsache, daß eine Empfindung von uns ausgelegt wird gemäß dem gegenwärtigen Bewußtseinszustande. Wenn man eine süße Speise genossen hat, so erscheint der darauf folgende Wein saurer, als er erscheinen würde nach einer sauren Speise. Die Empfindungen von süß, bitter, sauer werden modifiziert durch die Serie der anderen Geschmacksrichtungen, mit denen zusammen oder nach denen sie auftraten; wir bilden also unsere Geschmacksempfindung nach unserem Bewußtsein. Ebenso verhält es sich beim Tastsinn etc. Dies ist der Gedanke, der in der Tat geeignet ist, einen tieferen Einblick in die psychologischen Prozesse zu gewähren, als die bisherigen Psychologen ihn gehabt haben, (cfr. Zeitschrift für Völkerpsychologie von 1878 „Über die Phantasie des Dichters".) Apperzeption nun in dem gewöhnlichen Verstände setzt voraus, daß die Wahrnehmung da ist, daß sie einen Prozeß eingeht mit den früheren Vorstellungen, daß dieser gesamte Prozeß, wie die Wahrnehmung selbst, mir nicht zum Bewußtsein gelangt und daß erst als letztes Resultat zu meinem Bewußtsein kommt die aus diesem Prozesse entsprungene Umbildung der Wahrnehmung. Die eben entwickelte Theorie setzt das nicht voraus; sie faßt den primitiven Vorgang viel einfacher: Sie geht davon aus, daß unsere Seele ja eine gestaltende Macht ist, daß wir es sind, die die Wahrnehmung aufgrund der Reize gestalten. Doch gibt es eine Reihe von Vorgängen, welche zur Besonnenheit mahnen in bezug auf die unbewußten Vorstellungen; 109 aber es gibt doch auch eine Reihe von Vorgängen, welche nötigen, zwar nicht zur Annahme von gänzlich unbewußten Vorstellungen zu greifen, wohl aber zurückzugehen auf den richtig verstandenen Leibniz. Er war der Führer der Annahme unbewußter Vorstellungen, aber bei ihm findet sich diese Ansicht in vorsichtiger Gestalt. Es findet sich bei ihm die Annahme infolge von kleinen, wenig merklichen Vorstellungen. Doch er bedient sich derselben Annahme, welche Fechner wissenschaftlich entwickelt hat, der Annahme eines verschiedenen Grades der Deutlichkeit unserer Wahrnehmungen und Vorstellungen.
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Leibniz geht davon aus, daß das Bewußtsein ein mehr gesteigertes, helles oder dunkles sei, daß aber keineswegs ein einfacher Gegensatz besteht: Ich besitze eine Vorstellung in meinem Bewußtsein nicht oder ich besitze sie ganz und voll. Er nimmt vielmehr eine Gradation an. Das hat Fechner so ausgedrückt, daß die Empfindungen und Vorstellungen oszillieren, daß dieser Schwingungszustand ein leiserer und geringerer sein kann usw. Diese Hypothese ist jedenfalls berechtigt und als wahrscheinlich nicht zu umgehen. Dafür sprechen z . B . auch tiefer und leichter Schlaf. Aber auch eine große Zahl von Tatsachen unseres wachen Lebens sind geeignet, uns zu versichern, daß wir solche verschiedenen Grade anzunehmen gezwungen sind. Ζ. B. man liest schnell, man liest etwas, was einen bewegt, fortreißt, was die Aufmerksamkeit im höchsten Grade in Anspruch nimmt. Alsdann klingt sozusagen die Lautreihe der einzelnen Worte, die man liest, mit, aber sie tut dies in einer unmerklichen Weise, so, daß es erst der blitzschnellen Beobachtung bedarf, um gewahr zu werden, daß etwas von den Lautbildern bei den Vorstellungsbildern mitbeteiligt ist. Man hat eine Vorstellungsreihe und dazwischen eine Lautreihe, und diese ist in fast unmerklicher Weise vorhanden und klingt mit, aber nicht deutlich. So klingen im psychischen Leben, und das gerade macht seinen Reichtum aus, Vorstellungen immer mit an Erinnerungen, welche keineswegs zu einem klaren Bewußtsein gebracht werden, welche aber trotzdem einen Bestandteil des damaligen Bewußtseinsstandes sind. Wenn man einen Satz auffaßt, so faßt man die Reihenfolge der Worte zueinander. Es klingen aber mit den einzelnen Worten auch andere Vorstellungen mit an, welche den Satz erst ganz deutlich machen, welche einen gewissen Grad von Bewußtheit haben. Wir betrachten also diejenige Psychologie als einfacher und daher in bezug auf die Erklärung der Tatsachen [als] vollkommener, welche ohne die Hypothese von unbewußten Vorstellungen auskommt. Wir wollen aber nicht entscheiden, ob nicht wieder ein Bedürfnis nach denselben hervortreten kann. Das aber entspricht vielleicht den wirklich vorhandenen Tatsachen, daß wir Vorstellungen von leiserem Oszillieren von einer nur eben merklichen Existenz mit anzunehmen haben, welche in dem Strome unseres geistigen Lebens mit aufgewirbelt und fortgezogen werden, ohne daß sie gerade von uns zu einem klaren Bewußtsein entfaltet werden. Daher könnte man annehmen, daß auf der Grundlage der physiologischen Zustände wir Wahrnehmungen gestalten und Vorstellungen erinnern. Dies alles ist in seiner Grundlage physiologisch bedingt. Der Vorgang unseres geistigen Lebens ist es, welcher Wahrnehmungsbilder seinen Bedingungen gemäß aus diesen Reizen gestaltet, Erinnerungsbilder aufgrund der zurückgebliebenen Spuren formt, und die Souveränität des geistigen Lebens hat eben darin ihre Erscheinung.
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Wenn man sich nun fragt, wie eine solche Hypothese sich zu den jetzigen metaphysischen Fragen stellt, so könnte man vielleicht behaupten, daß sie eine erheblich künstlichere sei als die der Herbartschen Schule, denn diese wird mit ihren unbewußten Vorstellungen nie imstande sein, die Bedenken zu beseitigen, welche die Physiologie mit Recht geltend gemacht hat wegen Verlust des Gedächtnisses beim Alter und anderen Erscheinungen. Wenn ich annehme, daß von dem physiologischen Vorgange gar nichts übrig bleibt, als bloß einen Reizinbegriff hinzustellen, aufgrund dessen das System von unbewußten Vorstellungen sich gestaltet, so bringe ich einen unlöslichen Widerspruch hervor zwischen den Tatsachen der Naturwissenschaft und der Annahme eines selbständigen psychischen Lebens. Nehme ich dagegen ein solches selbsttätiges Leben an und stelle ich daneben diese physiologische Klaviatur, deren sich dasselbe bedient, so begreift man wohl, daß alle jene Tatsachen des Alterns, der Einbuße von Vorstellungen bei Verletzungen, erklärt werden, ohne daß die Selbständigkeit des geistigen Lebens gegenüber den materiellen Erscheinungen irgendwie in Frage gestellt zu werden braucht. Doch sind dies alles Hypothesen und wenig geeignet zum Aufbau einer metaphysischen Erklärung. Was heute zu tun ist, sind nicht vorschnelle metaphysische Experimente, sondern der Ausbau der einzelnen Hypothesen nach den verschiedenen Seiten. Es gibt auch noch eine Reihe von anderen Bedenken gegen die heutige Apperzeptionstheorie.1113 Der Charakter der Herbartschen Psychologie ist der von Willenlosigkeit, eines bloßen Aggregats von psychischen Prozessen. Diese Psychologie [nimmt an] einen Mechanismus, während in Wirklichkeit man überall jene selbsttätige Kraft auch in einfacheren Prozessen gewahrt, die man nirgends zu Hilfe ruft. In den Vorgängen der Apperzeption ist Urteil, Interesse und Wille vorhanden. Dieser Vorgang ist keineswegs ein Vorgang reiner Verschmelzung und Assoziation, vielmehr ein Prozeß des ganzen selbsttätigen Menschen, welcher jeder Zeit zugleich vorstellend und urteilend, wollend und von einem Gefühlston erfüllt ist, wenn auch die eine oder andere Seite zeitweise für unser Bewußtsein mehr zurücktritt und weniger merklich ist. Es sind die psychischen Bildungsprozesse, welche wir auf diese Weise ins Auge fassen, und der einfachste ist der der Verschmelzung, die Tatsache, daß eine Wahrnehmung sich bei ihrem Zustandekommen mit einer früheren Vorstellung entweder gänzlich identifiziert oder einen Gegensatz in bezug auf gewisse Momente sich zum Bewußtsein bringt; in diesem Prozeß entspringen jene Momente des Zweifeins. Es ist immer Urteilen darin, der Vorgang läßt sich ebensogut als Urteilsvorgang darstellen. Ein zweiter verwickelterer Prozeß ist der Bildungsprozeß der Subsumtion.
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Dieser ist es, aufgrund dessen jene allgemeinen Vorstellungen entstehen, welche einen so großen Teil unseres geistigen Lebens ausmachen. Die Grundlage ist natürlich wiederum Verschmelzung. Ein Kind, das mehrere Hunde sieht, bildet nicht einen allgemeinen Begriff „Hund", sondern es bleibt bei ihm bei Einzelvorstellungen; das Wort wird ausgestoßen, so oft als eine Wahrnehmung erfolgt, die sich identifizieren läßt mit einer früheren. So beginnt das Kind mit unbestimmten Einzelvorstellungen. Aus denselben entspringt erst allmählich die allgemeine Vorstellung, welche den einzelnen Fall subsumiert unter eine bereits ausgebildete Vorstellung. Dieser Vorgang ist alsdann sehr weit verbreitet in unserem täglichen Leben. Er nimmt eine wichtige Stelle ein in der beschreibenden Naturwissenschaft. Verwickelt sind dann die Prozesse, welche entstehen, wenn eine Wahrnehmung sich in tätiger Wechselwirkung mit Vorstellungsgruppen in uns bildet und formt. Hier liegt der feine Prozeß geschichtlichen Denkens begründet. Wir haben ein gewisses Gefüge von historischen Bildern, und eine neue Tatsache, die uns aufstößt, wird von uns so gefaßt, daß sie in diese Bilder sich einordnen läßt; der Forscher, der in dem Akte eine Tatsache findet, sieht diese bereits als Bild gestaltet unter Mitwirkung der anderen Bilder, die in seiner Seele sind. Vorstellungen besitzen nun eine um so größere Apperzeptionskraft, d . h . Kraft, nach sich neue Wahrnehmungen oder Vorstellungen zu gestalten, je häufiger sie reproduziert worden sind, wodurch ihre Reizbarkeit erhöht worden ist. J e größer der Reichtum ihres Inhaltes und ihres Interesses ist, je vollendeter ihre Ausbildung zu einem zusammenhängenden Ganzen ist, so wirken denn in einem jeden Menschen diejenigen Vorstellungsgruppen am stärksten auf seine neuen Wahrnehmungen und Vorstellungen, welche den höchsten Grad von Entwicklung und Reizbarkeit durch häufige Reproduktion [und von] systematischer Gestaltung in ihm erlangt haben. Sehr spaßhaft stellt sich dies dar, wie der Beruf eines jeden Menschen eine solche Apperzeptionsmacht in ihm geworden ist, vermöge deren er die Dinge, die ihm entgegentreten, nach seiner Weise auffaßt. Ein Hirtenknabe sitzt unter einer Eiche, ein erster Wanderer geht vorüber und sagt: Herrlicher Baum, worauf er jenen begrüßt: „Guten Tag, Zimmermann." Ein zweiter Wanderer geht vorüber usw. Es gibt Individuen, deren geistiges Leben sozusagen „monarchisch" verfaßt ist. In demselben herrscht ein bestimmter Gesichtspunkt und ein durch denselben geleitetes System von Gedanken in einer unbeugsamen Klarheit vor. Das kann dem Reichsten begegnen und ebenso dem Ärmsten. Es ist die Grundverfassung eines Mannes wie Kant, der so starr und fest in seiner Gedankenordnung stand, daß andere Systeme ihm gar nicht mehr verständlich waren. Und
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das ist gerade ebenso auch bei der ärmsten Natur vorhanden. Reuter in seinem Hans Joche111 schildert eine solche Natur, die immer in gleicher Weise reagiert. Im Gegensatz dazu gibt es einen ganz entwickelten Individualismus des Vorstellungsvermögens. Dies ist vorzugsweise dadurch bedingt, daß die Eindrücke von außen überhaupt nicht einen gesammelten leitenden Mittelpunkt vorfinden, sondern daß sie eine freie Bewegung haben. Man nennt solche Naturen „empfängliche Menschen", „Menschen von mannigfachem Talent, leichter Erregbarkeit usw." Jeder einzelne neue Eindruck modifiziert ihre bisherige Vorstellung der Dinge, sie sind geneigt, sich den mannigfaltigsten Eindrücken hinzugeben, es existiert nicht eine leitende Apperzeptionsmacht in ihrer Seele, welche jede neue Wahrnehmung an ihre Stelle setzt und gewissermaßen regiert. Solche Individuen zeigen eine glückliche Empfänglichkeit für den Reichtum der Welt, der Kunst, der Natur, des täglichen Lebens. Aber sie haben nicht die Fähigkeit einer zusammenfassenden Gewalt. Es gibt aber auch eine dualistische Verfassung in der menschlichen Seele, wonach nicht zwei, sondern mehrere Apperzeptionsmächte in der menschlichen Seele vorhanden sind. Individuen, welche wirklich religiös sind und doch zugleich sehr ihren eigenen weltlichen Interessen nachgehen, bei denen ist eine vollständige Teilung der Apperzeptionsmacht als vorhanden anzunehmen, ohne daß man geradezu Heuchelei annehmen darf. So gibt es auch eine Art von Dualismus in der Seele, wonach jemand von wissenschaftlichem Interesse auf der einen Seite bewegt wird, auf der anderen von religiösem und vergeblich nach einem Einheitspunkte sucht. Fassen wir das Ergebnis der letzten Vorlesungen zusammen: Unsere Organisation enthält ein System sensibler und eines motorischer Nerven. Ersteres ist ausgestattet mit Endapparaten, die wir als die fünf Sinne bezeichneten, und wir verstehen unter ihnen Apparate an der Endigung der Sinnesnerven nach der Außenwelt zu, welche mit der Außenwelt in einer Beziehung stehen. Die Folge dieser Beziehung ist, daß diese Sinnesnerven affiziert werden von gewissen chemischen und Bewegungsvorgängen der Außenwelt. Diese Affektionen sind Zustände der Endapparate. Was diese Zustände hervorruft, können wir als Reize der Außenwelt bezeichnen, und diese Zustände werden hingeleitet durch die Leitungsbahnen der sensiblen Nerven durch unser Gehirn, wo ein Umsatz derselben stattfindet. Demgemäß stehen wir in einem beständigen Doppelrapport mit der Außenwelt. Wie wir vermöge unseres motorischen Systems und der Muskeln Bewegungen in der Außenwelt hervorrufen, so empfangen wir, vermöge der sensiblen, Nachrichten aus der Außenwelt. In dieser Doppelstellung verläuft unser Leben. Fragen wir nun, was aus diesen Nachrichten werde, welche Umänderungen
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diese Zustände unserer Endapparate, welche übertragen werden an gewisse Hirnstellen, welche Umänderungen sie im Verlauf des geistigen Lebens erfahren. Betrachten wir, was so an das Hirn gelangt und was darin zurückbleibt wie ein Inbegriff physiologischer Bedingungen, dessen sich unser geistiges Leben bedient. Die doppelte Leistung, welche physiologisch vorliegt als Bedingung für das Leben unserer Wahrnehmungen und Vorstellungen, ist: 1. Herstellung eines Systems von physiologischen Reizen aufgrund der von der Außenwelt herkommenden Anstöße, 2. Herstellung gewisser Spuren im Gehirn, welche die Möglichkeit zur Bewahrung und Wiedererweckung des in den Wahrnehmungen Enthaltenen besitzen. Das Gehirn leistet also einmal zusammen mit den Leitungsbahnen und Endapparaten die Herstellung eines Systems von Bedingungen für Empfindungen und: 3. Aufbewahrung dessen, was im Zusammenhange unseres geistigen Lebens hervorgebracht ist, wiederum in einer physiologischen Grundlage. Der Bewußtseinsstand löst die Richtung der Aufmerksamkeit in verschiedene Gruppen auf, denn der Bewußtseinsstand, zusammengesetzt, wie er ist, kann unter der Richtung der Aufmerksamkeit, wenn diese sich konzentriert, verengert und konzentriert werden. Man zerlegt ihn von selbst, indem man die Aufmerksamkeit auf die herrschende Temperatur richtet oder auf die gesprochenen Worte, so daß alsdann das ganze Wahrnehmungsbild zwar vorhanden ist, aber nur unmerklich die Tast- und Druckempfindungen dabei aber gar nicht fühlbar werden. So treten Bewußtseinsbestandteile aus dem Bewußtsein heraus und werden isoliert. So also zerlegt man unter der Einwirkung der Aufmerksamkeit, hinter welcher der Wille steckt, diesen zusammengesetzten Bewußtseinszustand in seine Elemente noch weiter. Man nimmt sich vor, die Stimme etwa eines Vortragenden eine Zeitlang zu prüfen oder den logischen Zusammenhang der Gedanken ins Auge zu fassen. So hebt man aus dem Bewußtseinsstande einzelne Elemente oder Wahrnehmungsteile heraus. Die letzten und einfachsten Elemente der Wahrnehmung, zu denen man kommen kann, bezeichnen wir als „Empfindungen". Indem nun Bewußtseinszustände wechseln, einer auf den anderen folgt, aus jedem neue Wahrnehmungselemente und Bestandteile ausgesondert werden, indem, was so entsteht, aufbewahrt wird im Gedächtnisse, so entsteht eine Mannigfaltigkeit von Besitz von Wahrnehmungen. Wahrnehmungen aber nennen wir dasjenige, was korrespondiert einem Zustande unseres Empfindungssystems mittels der Endapparate im Gehirn. Wenn die Erregung endigt, wird aus der Wahrnehmung eine Vorstellung. Demgemäß besitzen wir Gesamtzustandsbilder, Vorstellungen derselben, einzelne Teile derselben als Einzelvorstellungen, und es beruht auf dieser Fähig-
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keit des Menschen, zu isolieren und zu verknüpfen und doch das weiter zu besitzen, was verknüpft wurde, unsere Befähigung, unsere Erfahrung nicht nur im Laufe der Zeit zu summieren, sondern auch sie zu vermannigfaltigen. Zwei Grundgestalten haben wir, aus deren Zusammenspiel unser geistiges Leben sich aufbaut: Wahrnehmung und Vorstellung. Wenn man das eigene Leben beobachtet, so gewahrt man, wie in diesem Zusammenspiel von Wahrnehmungen und Vorstellungen dasselbe seine Mannigfaltigkeit, seinen immer erfrischenden Reiz von den Wahrnehmungen her, seine eigene Tiefe von den Vorstellungen her immer neu empfängt. Wenn man von dem ersten Anfange des Kindeslebens beginnt, so sieht man, in den Wahrnehmungen leben wir zunächst, und es bezeichnet erst die wachsende Reife unserer Intelligenz, daß unsere geistige Energie in die Vorstellungen sich zurückzieht und nun ein Dasein hinter den Kulissen des Wahrnehmungslebens führt, so daß der Hauptbesitz unserer Natur der Besitz unseres Vorstellungsvermögens ist. Faßt man nun die Prozesse, welche zwischen Wahrnehmung und Vorstellung und zwischen Vorstellungen allein liegen, in einer gewissen Allgemeinheit ins Auge: Auf dem Grunde des Bedingungsinbegriffs eines physiologischen Reizzustandes bildet man eine Wahrnehmung. Wir wollen annehmen, man bildet ausschließlich aufgrund dieser Bedingungen die Wahrnehmung, ferner eine zweite, wiederum nur aufgrund dieses Bedingungsinbegriffs eines physiologischen Reizzustandes. Alsdann korrespondiert unserem physiologischen Reizzustand ein System von Wahrnehmungen und dem, was von den Wahrnehmungen zurückblieb. Dies ist eine bloße Abstraktion, denn was in der Wirklichkeit vorgeht, ist, daß wir aufgrund unseres vorhandenen Bewußtseinsstandes und zugleich der Bedingungen des physiologischen Reizzustandes den Wahrnehmungszustand der Gegenwart bilden; nun tritt dieser Wahrnehmungszustand zurück, und es tritt ein physiologischer Reizzustand wiederum auf. Dieser Reizzustand regt unser Bewußtsein zu der Bildung einer Wahrnehmung auf, welche identifiziert wird zu einem Teile oder ganz mit dem Wahrnehmungszustand. Von diesem Punkt aus erkennt man nun eine erste Gruppe von Tatsachen in ihrem geistigen Leben. Ich fasse diese Gruppe zusammen unter dem Gesichtspunkt: „Wir besitzen keine Wahrnehmung, welche der bloße Ausdruck eines physiologischen Zustandes wäre, sondern der physiologische Zustand verhält sich jederzeit nur als Bedingungsinbegriff für den Gesamtzustand unseres Bewußtseins, welcher aufgrund davon bildet und gestaltet." Wir sehen also nie, was auf unserer Retina sich spiegelt, ganz und ausschließlich; wir sehen vielmehr, was aufgrund des Materials das Interesse daraus macht. Man ist nicht imstande, irgendeinen Sinneseindruck pur als Sinneseindruck zu haben. Was man hat, ist das, was wir als Apperzeption bezeichnet haben, d. h., wir haben
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einen solchen Wahrnehmungszustand, welcher in sich trägt die Bedingungen des gegenwärtigen physiologischen Reizzustandes irgendeines Apparates, zugleich aber die Bedingungen des Bewußtseinsstandes, welche aufgrund der neuen Wahrnehmungen hinzutreten; so lebt man eigentlich in bezug auf die Sinne in Wahrgenommenem, aus dem Geiste Hinzugefügtem. Wir folgern wiederum weiter: Die Grundphänomene oder Grundvorgänge, auf denen das geistige Leben sich entwickelt, die sogenannten Wahrnehmungsvorgänge, sind zumeist Apperzeptionsvorgänge; sie werden es selbstverständlich erst im Lauf der menschlichen Entwicklung, denn das Kind apperzipiert nicht, wenn es dem Licht zum ersten Male sein Auge öffnet, es perzipiert nur. Erst wenn die Wahrnehmungen sich häufen, kommt es zur Apperzeption; dem erwachsenen Menschen fällt es schwer, sich auf den Zustand einer Perzeption zurückzuversetzen. Das kann nur dann der Fall sein, wenn man ganz in sich selbst versunken ist, alsdann kann das Sehen zu einem schattenhaften Sehen werden, aber es ist dies immer nur bis auf einem gewissen Grad erreichbar. Im Grunde lebt man in Apperzeptionen. Diese Apperzeptionsvorgänge sind zunächst Verschmelzungsvorgänge, denn durch die Verschmelzung stellt sich die Identität des Zustandes her; sie sind alsdann auch Verbindungs- oder Assoziationsvorgänge, denn man kann in bezug auf die geistigen Prozesse einen doppelten Unterschied machen. Wenn man unterscheidet nach den Ursachen der Vorgänge, so unterscheidet man Verschmelzung und Assoziation. Wenn man unterscheidet nach der Erscheinungstatsache, so unterscheidet man die doppelte Leistung des geistigen Lebens, wonach erstens die Wahrnehmung vertieft wird und wonach zweitens die Wahrnehmung zu etwas anderem in Beziehung gesetzt wird. Beide Vorgänge reichen nahe aneinander heran, dekken sich aber nicht. Wenn man nur die physiologischen Bedingungen als einen Inbegriff von Reizen ins Auge faßt und sich fragt, was denn nun in den Beziehungen der Wahrnehmungen und Vorstellungen im unwillkürlichen Gedankenablauf über das hierin Gelegene hinaus vorhanden sei, so kann man nur antworten: Das geistige Leben leistet über eine photographische Abbildung dessen, was in den physiologischen Reizen liegt, zweierlei. Es vertieft das Bild, und es bringt das Bild mit anderen in Zusammenhang, es assoziiert das Bild. Es vertieft und verändert, metamorphosiert das Bild; man hat es aber auch in Zusammenhang gebracht mit Vorstellungsbildern, welche ebenfalls in der Seele sind. Ich besitze einen geistigen Zusammenhang, und dessen Elemente sind vertieft, gesteigerte Elemente in der Regel. Geht man auf diejenige psychologische Einrichtung, welche diese beiden Richtungen hervorbringt, zurück, so stellt sich dieselbe dar als das Zusammenwirken von Verschmelzung und Assoziation. Apperzeption aber endlich ist
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nichts anderes als das Endergebnis dieser Prozesse ins [ . . . ] für die einzelnen Wahrnehmungen. Diejenigen Veränderungen, welche an dem physiologischen Reizinbegriff aufgrund dieser Prozesse stattfinden, indem der Wahrnehmungszustand entsteht, diese Veränderungen in ihren Resultaten angesehen sind A p perzeptionen. -
[§ 9.] Gefühl und Willen, in ihrem Inbegriff als „Gemüt" bezeichnet Einige betrachteten den Willen als das Erste, Gefühl etc. nur als Sekundäres, andere gaben den Gefühlen von Lust und Unlust den Primat und erklärten den Willen aus denselben. Jedenfalls müssen wir sie unabhängig voneinander untersuchen. Entweder erklären wir den Willen aus dem Gefühl oder umgekehrt, wenn wir nicht vorziehen, beide Tatsachen unabhängig voneinander zu fassen; unabhängig voneinander müssen wir sie wenigstens untersuchen. 112
[§ 10.] Das Gefühl in seinen einfachsten Erscheinungen 1. Satz: Jedes Gefühl hat einen Vorstellungsinhalt. Man könnte im ersten Augenblick meinen, daß [es] einen reflexionslosen Bewußtseinszustand gebe, allein er hat dann keinen Vorstellungsinhalt. Bei jedem Gefühl, es sei Schmerz oder Lust, ist immer, wenn auch nur unmerklich, ein Vorstellungsinhalt vorhanden, der Charakter oder die Qualität irgendeiner Empfindung ist aber sein Inhalt. Es gibt keine abstrakte Lust, sondern bereits individualisierte. 2. Satz: Jedes Gefühl, da es keine Beziehung einer Vorstellung im Bewußtsein auf einen Gegenstand enthält, kann betrachtet werden als in der Beziehung der Vorstellung auf das Bewußtsein sich verwirklichend. Kant geht mit Recht davon aus, das Wissen der Vorstellung mit der Tendenz eines Wissens, das Erkennen, beziehe sich auf einen objektiven Gegenstand. Nun gibt es aber Vorstellungen, in denen eine solche Tendenz auf das Wissen eines Gegenstandes nicht anzutreffen [ist], da wir ganz in unseren subjektiven Zustand vertieft sind; dieser Zustand ist ein Gefühlszustand. Jeder der erwähnten Sätze soll umfassend und vorsichtig sein; er sagt nur, es findet im Gefühl keine Vergegenständlichung statt, nur Gefühl als Gefühl [ . . . ] . 3. Satz: In jedem Moment hat der Bewußtseinsinhalt einen Gefühlston; dagegen unbewiesen der Satz, daß jede Empfindung einen Gefühlston habe. Der atomistischen Ansicht nach hat jede Einzelempfindung einen Gefühlston; selbst Lotze nimmt das an: „Jeder Empfindung entspricht ein Grad von Lust und Unlust." 113 Lotze fügt jedoch selbst hinzu, daß es noch der besonderen Aufmerksamkeit bedürfe, um sich des Gefühlstones bewußt zu werden, was jedoch auch nicht der Tatsache entspricht. Dilthey
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will nicht behaupten, daß dieser Satz falsch sei, sondern nur, daß er nicht beweisbar sei. Goethe macht in der Optik 1 1 4 aufmerksam auf den angenehmen Gefühlston, den die hellen Farben in uns hervorrufen und umgekehrt: daß Schwarz unbehaglich etc., was alles richtig mit der Voraussetzung, daß wir uns in die Gegenstände intensiv versenken, so daß ein Bewußtseinsinhalt entsteht und bereits vorhanden ist, wie es der erste Teil des Satzes besagt. Die Empfindung muß mit dem gesamten Bewußtseinszustande zusammenhängen, um eines Gefühlstons teilhaft zu werden; der Gefühlston eignet dem Bewußtseinszustande, nicht einer einzelnen Empfindung. Auch die gegebene Fassung könnte jedoch vielleicht aufgrund von Tatsachen angefochten werden: allein, bei genauerer Beobachtung der in Frage stehenden Empfindung, unmittelbar nach derselben, dürfte man den Gefühlston gewahren. Letzteres soll der folgende vierte Satz näher bestimmen. 4. Satz: Die Aufmerksamkeit verhält sich zu dem Gefühl ganz so wie zur Perzeption, daher der Gefühlston bei gespannter Aufmerksamkeit während der Erinnerung des letzt abgelaufenen Momentes bemerkt wird. In der zerlegenden Erinnerung wird der Gefühlston entdeckt werden. 5. Satz: Die Reihe der Gefühle stellt sich als eine Reihe von Intensität, positiv und negativ wachsend vom Nullpunkt aufwärts, dar. Den Gehalt [?] dieser Intensität erfahren wir überall gleich in Lust, Unlust, Gefallen, Mißfallen, Billigung, Mißbilligung als ein in der Verschiedenheit doch sichtlich Verwandtes. Vergleichen wir nun die verschiedenen Bewußtseinselemente im Gefühlsleben. Dem Gefühlsleben eignet ein Grundsatz, nämlich daß es in einer doppelten Skala der Lust oder Unlust vor sich geht; es gibt kein Gefühl, das neutral wäre, sondern entweder ist es positiv oder negativ. Ist diese Skala bezüglich des Gefühlslebens einfach, oder gibt es mehrere Skalen? Im ersten Augenblick möchte man sich für die Einfachheit entscheiden. In der Tat gibt es mehrere: ästhetische, moralische usw. Es fragt sich, ob sie sich auf Eine Skala zurückführen lassen. Die atomistische Psychologie führt alle auf Gefühle der Lust und Unlust zurück. Lotze meinte, 115 daß alle nur Grade der Lust und Unlust seien, wenngleich zum Beispiel Billigung und Mißbilligung etc. in unmittelbarer Anschauung als verschieden sich darstellen. Wundt behauptet gerade das Gegenteil. In der Tat sind wir kaum imstande, hier eine strenge Behauptung aufzustellen. 6. Satz: Die stetige Beziehung zwischen einem Gefühl und seiner Ursache enthält den Wert, diese Ursache als Gegenstand vorgestellt, und so entspringen die Begriffe von Wert, Gut, Bedeutung, die also von dem des Zweckes verschieden sind. Wir können bemerken, daß jedes Gefühl ausdrückt das, was eine Affektion unserem Selbst, uns bedeutet. Dem Gefühl entsprechen alle die Ausdrücke, wie Wert etc. Sie drücken die Relation aus zwischen unserem Gefühl und unserem Selbst. Das Gefühl ist quasi ein Gradmesser für unser Gut und Wert; Gut ist für uns nur das, was uns einen entsprechenden Gefühlseindruck macht - wogegen Zwecke nur für den Willen vorhanden sind.
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Daraus folgt der 7. 1 1 6 Satz: Das Gefühl in seiner stetigen Beziehung auf die Affektion, welche es mißt, ist ebensosehr der Ausdruck eines stetigen Verhältnisses [des] Bewußtseins zum Gegenstand als die Vorstellung des Gegenstandes selbst und daher ebenso wie diese sowohl objektiv als subjektiv. Im Gefühl ist nicht nur (wie die traditionelle Anschauung sagt) Subjektives allein. Rekapitulation der Vorlesung (Der Standpunkt, von dem wir hier ausgingen, ist der des Empirikers, nicht des Empiristen, 1 1 7 der von dogmatischen Voraussetzungen ausgeht, wie die Engländer und auch Deutsche wie Wundt. Locke und H u m e und weiter zurück auch Spinoza haben, als sie sich zur Erklärung der geistigen Tatsachen wandten, gewisse Tatsachen und Hypothesen aus der Naturwissenschaft hinübergenommen und jene nach Analogie dieser zu begründen gesucht.) Das Resultat des Vorangegangenen war, daß es keinen erfüllten Moment in unserem Bewußtsein [gibt], in welchem nicht ein Vorstellungsinhalt wäre = Empfindung, wenn auch nur Schmerz, was ja auch als eine Art von Vorstellung gelten muß. Das Gefühl stellte sich uns dar negativ oder positiv [als] eine bestimmte Stelle in der Skala unserer Gefühle einnehmend. Dasselbe findet auf dem Gebiet des Begehrens statt und analogisch auch auf dem Gebiete des Intellektuellen. Den Ausdruck: „Das ist eine ästhetische N a t u r " , hören wir oft. Was bedeutet derselbe? Zunächst nichts anderes, [als] daß in dieser Natur die Gefühle eine Vorherrschaft haben, woraus folgt, [daß] die Vorstellungen ihre Metamorphose empfangen unter der Vorherrschaft der Gefühle; also ein Individuum, das Vorstellungen darum gerne entwickelt, weil sie seiner Gefühlswelt entsprechen, weil sie einem Gefühlsbedürfnis entsprechen - eine solchergestalt beeinflußte oder besser die unter dem Einfluß der Gefühlsherrschaft entstandene Vorstellung ist ein Kunstwerk. Das wissenschaftliche Werk aber entsteht erst, wenn die Vorstellungstätigkeit auf die Darstellung des tatsächlichen Seins gerichtet ist, wie andererseits ein praktisches Werk, wenn es aus einem Willensakt entspringt. Eine bloß ästhetische Natur muß übrigens noch nicht imstande sein, produktiv tätig zu sein, aber sie hat die Fähigkeit, ein Kunstwerk zu genießen. I n d e m w i r eintreten in die g r o ß e n P r o b l e m e d e s m e n s c h l i c h e n
Gemüts-
lebens, in die U n t e r s u c h u n g der B e z i e h u n g e n z w i s c h e n d e m G e f ü h l u n d d e m Willen, z w i s c h e n d e m B e g e h r e n u n d u n s e r e n E n t s c h l ü s s e n , gilt es, v o n e i n e m m ö g l i c h s t e i n f a c h e n A u s g a n g s p u n k t aus u n s z u orientieren, u n d s o s u c h e n w i r z u n ä c h s t eine R e i h e v o n e i n f a c h e n T a t b e s t ä n d e n in b e z u g auf die e m p i r i s c h e E r s c h e i n u n g der G e f ü h l e teils in d a s B e w u ß t s e i n z u r ü c k z u r u f e n , teils in d e u t licherer G e s t a l t v o r z u s t e l l e n , als w i r bisher g e w o h n t w a r e n , diese T a t s a c h e n anzusehen. 1 1 8
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Wir stellen als ersten Satz auf: 1. „Jedes Gefühl hat einen Vorstellungsinhalt." Man kann diesen Satz sich von seiner Negation aus verdeutlichen, welche bedeuten würde, daß es Gefühlszustände in unserem Leben gäbe, welche ohne alle Vorstellung in uns verliefen. Ein solcher Satz würde voraussetzen, daß es einen Bewußtseinszustand in uns gäbe, der ohne jeden Vorstellungsinhalt einen Gefühlsinhalt enthielte. Dies könnte auf den ersten Anblick möglich scheinen. Man könnte sich daran erinnern, daß es Momente der Existenz gab, in welchen man ganz hingegeben war irgendeinem Gefühlszustand, ohne alles Nachdenken, ohne alle Reflexion. Aber wir leugnen ja nicht, daß es einen reflexionslosen Zustand unseres Bewußtseins gibt, wir leugnen nur, daß ein solcher alsdann nicht ebenfalls einen Bewußtseinsinhalt hat. Wenn man versunken ist in den Genuß der Natur, so ist es selbstverständlich, daß dies nicht stattfindet ohne Vorstellung von der Natur. Wenn man abgesperrt wird von allen sonstigen Vorstellungen und etwa nur dem Genuß eines Tones hingegeben ist, dann ist ja dieser Ton eine Vorstellung, und das Gefühl, in welches man versenkt ist, ist ein mit Vorstellungsinhalt erfülltes Gefühl. Oder wenn man in einem unsicheren schmerzhaften Gefühl sich befindet, in Mißstimmung, so könnte es scheinen, als ob es in einer solchen Mißstimmung Momente gäbe, die ganz gegenstands- und vorstellungslos wären. In Wirklichkeit ist dies nicht der Fall. In Wirklichkeit ist, wenn auch von geringer Wirklichkeit, ein Inhalt, auf den sich das Gefühl bezieht, jeder Zeit mit gegenwärtig. Ein solcher Inhalt ist ja jeder spezifische Charakter des Schmerzes. Der Satz sagt also: Es gibt keine abstrakte Lust oder Unlust, [kein] abstraktes Mißfallen oder Gefallen, es gibt nur einen tatsächlichen, positiven, bestimmten, individualisierten Zustand. Er ist jederzeit individualisiert durch den Empfindungs- oder Vorstellungsgehalt, welcher in dem Lust- oder Unlustgefühl enthalten ist. 2. „Jedes Gefühl, da es keine Beziehung einer Vorstellung im Bewußtsein auf einen Gegenstand enthält, kann betrachtet werden als in der Beziehung der Vorstellungen, oder besser Determinationen, auf das Bewußtsein sich verwirklichend." Ein Satz von geringem und sehr limitiertem Inhalt, durch welchen wir aber die Wahrheit der Kantschen Auffassung des Gefühls aus den dogmatischen Voraussetzungen Kants herauszulösen versucht haben. Kant geht mit Recht davon aus, das Wissen, das Vorstellen mit der Tendenz des Wissens, das Erkennen, vollzieht sich in der Beziehung unserer Vorstellungen auf einen objektiven Zustand. Unser Bewußtsein hat die Tendenz, auf einen Gegenstand außer uns seine Vorstellungen zu beziehen. Nun gibt es aber Zustände, in welchen diese Tendenz nicht obwaltet, in welchen sozusagen der Wille der Erkenntnis nicht tätig ist: Es gibt Zustände, in welchen dieser Wille der Aufmerksamkeit,
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der Hingebung an die Tatsachen, dieses Sichverlieren in die Objekte außer uns endigt und wir vielmehr unseren eigenen Zuständen hingegeben sind, sie gewahr zu werden bestrebt, in ihnen uns zu verlieren, in sie uns zu versenken bemüht sind. Es gibt Zustände der Vertiefung in unser eigenes Selbstbewußtsein. Diesen Zuständen gehört das Gefühl an. Diese Zustände sind alsdann Gefühlszustände in eminentem Grade. Jedoch nicht dies ist der Satz, welchen wir in der vorliegenden Fassung ausgedrückt haben. Wenn wir mit dem eben Gesagten den Satz vergleichen, so finden wir ihn umfassender und vorsichtiger. Er bezeichnet nur: Es findet im Gefühl als Gefühl, abgesehen vom Vorstellungsinhalt desselben, kein Streben der Erkenntnis, keine Vergegenständlichung statt. Im Gefühl als Gefühl ruht vielmehr unser Bewußtseinszustand in ihm selber, mehr enthält dieser Satz nicht. Dies ist aber auch eine unstreitig richtige Beschreibung des Tatbestandes. 3. „In jedem Moment hat der Bewußtseinsinhalt einen Gefühlston." - Dagegen ist der Satz unerwiesen, daß jede Empfindung einen Gefühlston habe. Wir beginnen mit dem negativen Bestandteile. Der atomistischen Hypothese der Psychologie gehört die Annahme an, eine jede Einzelempfindung sei mit einem, wenn auch noch so leisen, Gefühlston ausgestattet. Diese Annahme darf als eine der Grundvoraussetzungen der gegenwärtig herrschenden Auffassung des Gefühlslebens betrachtet werden. Selbst Lotze hat sich fortreißen lassen zur Annahme dieser dogmatischen Auffassung. Er sagt: „[Jeder einfachen sinnlichen Empfindung,] jeder Farbe, jedem Tone entspricht ursprünglich ein eigner Grad von Lust oder Unlust." 1 1 9 Gesetzt, wir machten hier Einwendungen, so erwidert er selbst: „Es liegen hier nur solche Gefühle vor, die so gar nicht für uns zum Bewußtsein gelangten, so daß es erst der Aufmerksamkeit bedurfte, sie zum Bewußtsein zu bringen." 120 Aber soll man in der Tat glauben, daß, wenn man eine schwarze Tafel ansieht, durch Steigerung der Aufmerksamkeit ein Gefühl von Lust oder Unlust hervorgebracht wird? Kaum. Hier liegt eine Konsequenz der atomistischen Hypothese vor, zu welcher sich diese Psychologie genötigt sieht. Nachdem sie einmal solche Empfindungselemente angenommen hat, stattet sie dieselben in ihrer Weise aus, und eine dieser Ausstattungen ist auch die mit Gefühl. Wir wollen nun nicht behaupten, daß dieser Satz falsch sei. Wir behaupten nur, er ist unbeweisbar, denn es wäre ja möglich, daß zu der ursprünglichen Ausstattung einer jeden Empfindung auch ein Gefühlston gehörte; es wäre möglich, daß alsdann dieser Gefühlston sich nicht erhielte gegenüber den stärkeren Gefühlen und deswegen nur zum Vorschein käme bei einer besonderen Isolierung des Gefühlstones bei einzelnen Empfindungen. Es könnte das be-
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hauptet werden, aber es findet sich keine Spur eines Beweises für eine solche Annahme. Goethe hat in seiner Optik sehr schön aufmerksam gemacht auf den Gefühlston, welchen die klaren, hellen Farben hervorrufen, und es mag wohl sein, daß diese seine Beobachtung mit Veranlassung gegeben hat zur Entwicklung einer so verwegenen Theorie resp. Hypothese. Er glaubte zu bemerken, daß Blau uns mit einer Art kühler Stimmung, Gelb mit Mißbehagen erfülle usw. Dies ist alles nur richtig unter der Voraussetzung der Entwicklung dieser Empfindungen in einer großen Breite und der Versenkung unseres ganzen Bewußtseins in diese Empfindungen. Demgemäß, es ist nur richtig in dem Falle, welchen wir im positiven Satze herausgehoben haben. Machen wir die Farbe zu einem Bewußtseinsinhalt in einem gegebenen Inhalt, dann hat der Bewußtseinsstand allerdings einen Gefühlston. Die Farbe, die ich gelegentlich gewahre, hat keinen Empfindungston, der Gefühlston haftet an dem gesamten Bewußtseinsstand und kann an diesem allein wirklich festgestellt werden. Die irrtümliche Hypothese also, welche bei dieser atomistischen Psychologie vorliegt, ist, daß sie miteinander verwechselt den Gefühlston einer einzelnen Empfindung mit dem, welchen ein Empfindungszustand dann empfängt, wenn er zum Bewußtseinsinhalt wird. 121 Der Gefühlston eignet dem Bewußtseinsstande, nicht der einzelnen Empfindung. Auch in dieser Fassung könnte man die Tatsache in Frage stellen und sich berufen auf Zustände, in welchen man keines Gefühlstones des Bewußtseinsstandes gewahr wird. Doch wenn man einen solchen Zustand zum Gegenstand einer genauen Zerlegung durch Erinnerung gleich nachher macht, so wird man nun doch vielleicht einen Gefühlston darin finden. Diese Erinnerung reicht auch wirklich zu, um sich in jedem gegebenen Falle zu vergewissern, daß eine gewisse Stimmung in jedem Momente der Existenz vorhanden ist. 4. „Die Aufmerksamkeit verhält sich zu den Gefühlen ganz so wie zu den Wahrnehmungen. Daher ist der Gefühlston des Bewußtseinsinhaltes bei ruhig gespannter Aufmerksamkeit unmerklich, während erinnernd [die] Beobachtung des zuletzt abgelaufenen Momentes ihn alsdann merklich macht." Unter „unmerklich" verstehen wir ein so herabgesetztes Bewußtsein, daß in Beziehung zu dem anderen Bewußtseinsinhalt das Betreffende nicht zu klarer Perzeption kommt. 122 Dieser Begriff steht in Verbindung mit der Annahme, welche sich uns schon auf dem Gebiete der Vorstellungen ergab, daß es Grade der Klarheit oder der Bewußtheit der Vorstellungen, der Empfindungen, der Gefühle gibt, daß es sozusagen Grade der Schwingungen unseres Vorstellungsund Gefühlslebens gibt. Die Probe, daß ein solcher Gefühlston trotzdem vorhanden ist, wenn er von uns auch nicht sehr klar perzipiert wurde, liegt eben in
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der zerlegenden Erinnerung, welche, wenn sie eine Stimmung erfaßt, diese doch nicht im gegenwärtigen Augenblick geschaffen, sondern vorgefunden hat. 5.123 „Die Reihe der Gefühle stellt sich als eine Reihe von Intensitäten, positiv und negativ wachsend vom Nullpunkt aus, dar. Den Gehalt dieser Intensität erfahren wir überall gleich, in Lust, Unlust, Gefallen, Mißfallen, Billigen, Mißbilligen, als ein in der Verschiedenheit doch sichtlich Verwandtes." Blicken wir einmal zurück auf den Weg bis hierher. Wir versicherten uns zunächst: Es gibt keinen Bewußtseinsstand, welcher ausschließlich Gefühl enthält, ebensowenig kann man sich einen Bewußtseinsstand denken ohne Gefühl. Dieses ist jeder Zeit mit einem Empfindungs- oder Vorstellungsgehalt
ausgestaltet, mit einer Bestimmtheit oder
Unbestimmtheit.
Wenn wir nun diese Gefühle, wie sie in den verschiedenen Bewußtseinsmomenten sich in uns vorfinden und von uns beobachtet werden können, vergleichen, zu welchem Resultate gelangen wir dann? Es drängt sich einem mit völliger Klarheit auf: Dem Gefühlsleben eignet als sein Grundgesetz, daß es sich in einer negativen und einer positiven Skala bewegt. Es gibt Intensitäten des Gefühls, und zwar in der doppelten Skala von Lust und Unlust, der Annahme und Verwerfung, der Billigung und Mißbilligung, des Uberzeugungsgefühls und Zweifels, des Gefallens und Mißfallens; es gibt kein Gefühl, das neutraler Natur wäre. Doch wir möchten einen weiteren Schritt tun, wir möchten die Frage beantwortet haben: Ist diese Skala in bezug auf ihren Gefühlsinhalt eine einfache, oder gibt es mehrere solcher Skalen? Ohne näher die Sache zu überlegen, wird man annehmen, die Skala ist einfach, die eine setzt sich aus Lustgefühlen, die andere aus Schmerzgefühlen zusammen. Wenn man sich nun der Handlungsweise eines Menschen gegenüber befindet, so wird man dieselbe billigen oder mißbilligen, wenn man einen ästhetischen Eindruck hatte, so wird sie gefallen oder mißfallen. So gewahrt man eine Skala unseres persönlichen Lebensgefühls, eine Skala unseres sittlichen Gefühls und eine Skala unserer ästhetischen Gefühle, und die Frage ist, ob diese drei Skalen nur Modifikationen desselben Gefühlsgehaltes seien. Die übliche atomistische Hypothese erklärt einfach, es gibt nur Lust- und Unlustgefühle. Die Gefühle von Billigung und Mißbilligung müssen hierauf zurückgeführt werden. Aber es liegt in diesen Gefühlen ein gänzlich anderes Moment, eine andere Lebenshaltung des Fühlenden. Nicht umsonst hat Adam Smith, als er die Theorie von Billigung und Mißbilligung untersuchte, hervorgehoben, daß der hier Fühlende ein unparteiischer Beobachter sei. Gefühl sei dieser Zustand und doch seien sie kühl sich objektiv den sittlichen Tatsachen
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gegenüber verhaltend. Sie haben nichts gemein mit jenem Stürmischen und Unruhigen in jenen Lust- und Unlustgefühlen, welche entspringen aus unseren persönlichen Schicksalen. Sie tragen einen anderen Charakter. Was für ein Mittel soll man nun anwenden, hier zu einer Entscheidung zu gelangen? Wenn die einen unter den Psychologen sich ohne weiteres für die eine Richtung entscheiden, die anderen für die andere, so erklären wir uns gegen diese grundlose Wahl. Wundt erklärt sich im Gegensatz zu Lotze: „Es hätten die Gefühle von Billigung und Mißbilligung nur eine entfernte Analogie mit dem Lust- und Unlustgefühl." 1 2 4 Der Gegensatz beider Ansichten erscheint vorläufig unauflöslich, denn Vorstellungsinhalt und Gefühlston sind so verschmolzen, daß wir den Gefühlston gar nicht so absondern können, daß wir zu untersuchen imstande wären, ob er noch eine Bestimmtheit in sich enthielte über die bloße abstrakte positive und negative Skala hinaus. Wir entwickeln einen 6. Satz, in welchem wir aus der so aufgestellten Skala einen Schluß ziehen in bezug auf eine gemeinsame Grundeigenschaft aller. 125 6. „Die stetige Beziehung zwischen einem Gefühl und seiner Ursache enthält den Wert dieser Ursache als Gegenstand vorgestellt, und so entspringen die Begriffe von Wert, Gut, Bedeutung, welche also von dem des Zweckes verschieden sind." Wenn man die Skalen betrachtet, die verschiedenen Gefühlsmomente, wie sie diesen Skalen eigen sind, und wenn man alle diese Gefühlsmomente zu den innersten des Wesens in eine Relation sich gesetzt denkt, so bemerkt man ein Grundverhältnis, daß ein jedes Gefühl eine stetige Beziehung enthält zwischen unserem Selbst und irgendeiner Affektion. Ein jedes Gefühl drückt das aus, was eine Affektion unseres Selbst bedeutet. Es ist dies nicht eine Erklärung, sondern nur eine Beschreibung des Gefühls. Dem Gefühle entsprechen alle jene Ausdrücke wie Wert, Bedeutung, Gut. Sie alle bezeichnen die innere Relation, welche zwischen unserem Selbst und unseren Affektionen besteht. Gefühl also, wenn es vergegenständlicht wird, ist Wert, Bedeutung. Dies ist alles nichts als eine gedankliche Vergegenständlichung dessen, was in dem Gefühl uns auf unmittelbare Weise gegeben ist. Etwas anderes ist der Begriff des Zweckes. Wie sich der Begriff des Gutes verhält zu dem des Gefühles, so verhält sich der Zweck zu dem Begriff des Willens. Ein „Gut-Sein" enthält in sich nichts anderes als das, was das Gefühl abmißt von der Beziehung einer Affektion zu unserem Selbst. Es ist unser Gefühl sozusagen ein Grademesser. Es mißt die Grade der Werte, der Güter für uns ab, wie der Wille das System und die Ordnung der Zwecke für uns bezeichnet. Wir schließen hieraus einen sehr auffallenden, aber vielleicht unzweifelhaften letzten Satz:
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7. „Das Gefühl in seiner stetigen Beziehung auf die Affektionen, welche es mißt, ist ebensosehr der Ausdruck eines stetigen Verhältnisses unseres Bewußtseins zu Gegenständen als die Vorstellung und daher ebenso wie diese zugleich objektiv und subjektiv." Subjektiv und objektiv sind zugleich Vorstellungen und Gefühle, und es ist nur die Veränderlichkeit desjenigen Teils in unserem Selbst, von welchem die Gefühle dependieren, andererseits die Stetigkeit derjenigen Organisation, welche unsere Wahrnehmungen bedingt. Grund davon ist, daß unsere Wahrnehmungen einen größeren Grad von Objektivität haben als die Gefühle, aber es ist keineswegs ein Unterschied wie zwischen subjektiven und objektiven Elementen. Der Ausdruck, „dies ist eine ästhetische Natur", bedeutet, daß in ihr die Gefühle vorherrschend sind und infolgedessen die Vorstellungen ihre Metamorphosen empfangen unter der Vorherrschaft der Gefühle. Also, es ist ein Individuum, in dem das Gefühl in seinen vielen Bewußtseinsmomenten eine hervorragendere Rolle spielt als bei andern. Die entwickelten Vorstellungen entsprechen seiner Gefühlsrichtung. . . ,126 Das wissenschaftliche Werk entsteht, wenn wir Vorstellungen haben, wie sie in Wirklichkeit sind, das praktische Handeln entsteht, wenn wir die Vorstellungen unserem Willen gemäß formen.
§ [11.] Verhältnis der Gefühle zu Reproduktion und Gesetze der Aufeinanderfolge von Gefühlen Die erste Grundfrage: Werden überhaupt Gefühle reproduziert (wie im Gebiete der Vorstellungen)? Man ist geneigt, die Frage zu bejahen; allein, nicht bewiesen. Dilthey neigt zur Annahme, daß das Gefühl nicht anders als direkt reproduziert wird. Wir reproduzieren Gefühle immer nur unter Mitwirkung verwandter Umstände; am Bette eines Kranken erinnere ich mich ähnlicher Empfindung, die ich in gleicher Situation gehabt. Reproduktion des Gefühls und Wiedererinnerung einer Vorstellung. Wenn ich mich eines bereits gehabten Schmerzes erinnere, empfinde ich jenen Schmerz? N u r bei ganz bestimmten Individuen, die sehr nervös [sind] und noch Anlage haben. Solange wir uns noch der frischen Stunde erinnern können, da wir einmal einen Schmerz hatten. Wir können nur solche Gefühle als Lust oder Schmerz reproduzieren, in welchen die Bedingungen der Erregung noch fortdauern. Hier ergibt sich ein sehr interessantes Gesetz: „Wo ein Zusammenhang von Vorstellungen, infolge der Verbindung eines Teils dieses Zusammenhanges mit einem Gefühl, von diesem Gefühle begleitet war, ist dieses Gefühl mit allen anderen Teilen verschmol-
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Man muß das Gemeingefühl unterscheiden von dem einzeln abgegrenzten Gefühl. Das erstere betrifft den Gesamtzustand des Individuums, die Grundbeschaffenheit desselben; sie zeigt sich in den verschiedensten Verhältnissen. Die Relativität, von der schon oben die Rede war, tritt noch stärker hervor im Verhältnis zum Gefühl. Auf eine komische Szene wirkt eine tragische desto erschütternder (von Shakespeare, Calderon, Cervantes, auch Goethe beobachtet). Merkwürdig wirkt das Gefühl auf die Gewöhnung. 127
§[12.] Der Wille und das Gefühl 128 Vom Altertum an schwankt die Ansicht zwischen dem Verhältnis beider zueinander. [In der] Römerzeit entging dem Denken das Zusammenhängende beider. In der Sehnsucht ζ. B. ist Wille und Gefühl verbunden. Willensvorgänge, die früher in mächtiger Begierde sich kundgegeben, sinken allmählich zu Gefühlen herab. Zwei Ansichten: Entweder der Wille ist das Primäre und Gefühl das Sekundäre oder umgekehrt. Diesen Gedanken können wir zurückverfolgen bis auf den Philebus, 34 b ff., 129 wo über Gefühl und Begierde zuerst ausführlich verhandelt wird. Aus der Vorstellung der Unlust des Durstes und der Vorstellung der Lust des Trinkens entsteht die Begierde. Epikur setzte deshalb das Prinzip in Lust und Unlust. Dieser Ansicht [sind] zwei Schulen entgegengesetzt, eine gemäßigte: Aristoteles, eine strengere: die Stoa. Aristoteles geht vom Gedanken aus, daß wir Entelecheia sind, ein sich selbst realisierend Tätiges, was Grundlage aller Lust: „Die Lust ist das Zeichen der sich vollendenden Energie." 130 Dieser Gedanke protestiert lebhaft gegen den Eudämonismus. Aristoteles geht davon aus: Das Primäre ist die Energie, nur das Resultat ist Lust. Dieser Protest ausgeführter bei den Stoikern. Selbsterhaltung, nicht aber Lust liegt im Lebenstrieb des Menschen, die Lust ist nur ein Zuwachs (Grundlage der christlichen Auffassung). Augustinus (in De civitate dei) sagt: omnes nihil aliud sunt quam voluntates. 131 Die voluntas liegt aller Begehrlichkeit und Lust zugrunde. In derselben Richtung, da der Wille [als] das Wesenhafte der menschlichen Natur betrachtet wird, geht die ganze mittelalterliche Philosophie (Eckhart, Tauler und weiter Spinoza, Schopenhauer, Schelling etc.). In der Konsequenz der modernen Psychologie lag das Streben zur Eliminierung des Willens. Die Philosophien von Hobbes und Spinoza stehen im 18. Jahrhundert vereinsamt. Joh. Müller hat zuerst darauf aufmerksam gemacht. Spinoza geht von der Identität des Körpers und [der] Seele [aus], daß das Ganze nur ein Modus der Substanz [sei]. Der Modus, abhängig von der Substanz, ist strebend nach Selbständigkeit. Der Modus Mensch ist also von seiner geistigen Seite angesehen strebend, wollendes Individuum ist voluntas. Streben zur Substanz Gottes - amor dei intellectualis. Diese Ansicht hängt zusammen mit der mittelalterlichen Mystik. In der folgenden
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Zeit sucht man vergeblich nach solcher Ansicht, da der Wille als so wesentlich hingestellt wird. Erst bei Schelling und Schopenhauer treffen wir diese Ansicht wieder. Schelling in seiner Schrift „Über Freiheit" 1 3 2 sagt: Die Dinge sind der naturgemäße Ausdruck des Willens, es ist ein dunkler Grund, den jeder in seinem eigenen Inneren trägt. Der Mensch ist seiner Natur nach in Gott. Dieselbe Einsamkeit, in die Schelling mit Spinoza gleicherweise verbannt war, erzeugte solche mystischen Anschauungen. Der Wille ist auch bei Schopenhauer das Wesen der Dinge, des Menschen. Das Leben ist mit dem Willen, der sich selbst bejaht, unzertrennlich zusammenhängend. Der Wille kann sein Ziel nur in der wirklichen Welt zu erreichen suchen, und mißlingt es ihm, in einer imaginären Welt. Es liegt also auch hier jener mystische Grundzug vor, den wir schon bei den früher Genannten wahrgenommen. Der Unterschied zwischen den Früheren liegt nur darin, daß der Wille Schopenhauers blind, verstandlos, wüst begehrend ist, was bei jenen nicht der Fall. Daher bei Schopenhauer das Endergebnis ein negatives ist, Aufhebung des eigenen Ich, Vernichtung. Wie verhält sich nach Schopenhauer Wille zum Intellekt? Beide sind voneinander ganz gesondert, vollständiger Dualismus. Darin liegt der Unterschied zwischen dem Menschen und dem Tiere, das nur vom Willen beherrscht, während der Mensch Deliberation hat. Das Tier ist nur durch den Zustand des Augenblicks im sinnlichen Wahrnehmen bestimmt, während der Mensch auch der Deliberation fähig ist und nicht vom Zustand des Augenblicks bestimmt, daher er augenblickliche Entbehrung wohl ertragen kann, nicht aber Entsagung für immer. Der Wille entspringt aus dem Schmerz (vgl. die Ansicht im Philebus). Schmerz, schmerzhaftes Verlangen und Langeweile sind die beiden Endpunkte, zwischen welchen das menschliche Leben pendelgleich hin und her schwankt. Das eintretende Glück ist nur negativ, der Genuß erlischt bei dem Besitz. Die Intensität des Genusses ist lange nicht so groß wie die des Schmerzes. Daher strebt der Geist zur Aufhebung der Willensspannung, welche letztere identisch mit dem Streben nach Lust. Die Psychologie Schopenhauers ist wertvoll. Dilthey wirft Schopenhauer Inkonsequenz vor, wenn er vom Willen ausgehend zur Vernichtung desselben fortgeht und dabei endet, während, wenn unsere Natur Energie, Wille ist, dann liegt im Streben selbst, in der Energie der Normalzustand unseres Lebens und seines Glückes. Denn unser Glück besteht nicht in einzelnen Vergnügungen und Befriedigungen, sondern in dem Gesamtzustand unseres mit Energie ausgefüllten Lebens. I) 1 3 3 Allmähliche Ubergänge von Gefühlsprozessen in Willensprozesse und von Willensprozessen in Gefühlsprozesse. Hamilton erklärt, Lust und Unlust beziehen sich auf die Gegenwart, Streben auf die Zukunft. Allein, es gibt auch Wünsche, die sich auf Vergangenheit beziehen, und Gefühle, die sich auf die Zukunft beziehen. In dem Gegenfall, welcher auf gleiche Weise eine Skala der Gefühle und eine der Begehrungen ausmacht .. , 1 3 4 Wir fühlen uns hingezogen und zurückgestoßen, sowohl in Gefühl als auch [in] Begehrungen. Das ist das affektive Element in beiden. Zwischen Gefühl und Wille liegt also eine tiefe Beziehung. Unter Gemüt versteht man den Inbegriff der Zustände, die dem Inneren des Subjektes als solchen eignen. Wir können Begehrung und Gefühl nicht
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direkt mitteilen anderen, sondern zunächst nur Vorstellungen von denselben und nur indirekt Gefühle und Begehrungen - in bezug auf einen bestimmten Gegenstand korrespondieren merkwürdigerweise Gefühl und Begierde. Wie sich mein Gefühl zu einem bestimmten Gegenstande, so verhält sich zu ihm auch mein Wille und umgekehrt. Wir verhalten uns ferner in demselben Grade begehrend als fühlend. Im wirklichen Leben korrespondieren einander Gefühle und Begehrungen, und man rechnet auch im praktischen Leben auf diese Korrespondenz. Ist dem so, dann scheint sich folgende Alternative zu ergeben. Man ist zunächst versucht, die Kausalität hier anzunehmen: entweder sind Gefühle Ursache vom Begehren oder umgekehrt; oder endlich ein drittes, beiden liegt ein drittes zugrunde. Allein, letzteres [ist] hinfällig, weil wir auf keinen psychischen Faktor hinweisen können, auf den wir eine solche Bedingung zurückführen könnten. Wolff und Herbart haben Vorstellungen als jenes Prius bezeichnet, allein unrichtig. Es wird sich in der Folge zeigen, daß der Wille das Primäre ist. Gehe ich von der Lust aus, so erkläre ich den Antrieb nicht, und ich bin gezwungen, um diesen zu erklären, ein neues psychologisches Motiv anzunehmen. Dagegen, wenn der Wille in unser Bewußtsein hineinversetzt wird, so erklärt sich das Gefühl, insofern dieses nichts anderes ist als das Bewußtsein des Zustandes der Energie, sei diese gehemmt oder gefördert. Wenn mein Wille gehemmt wird, habe ich ein Schmerzgefühl, und wenn gefördert, ein Lustgefühl. Gefühl und Wille sind verkettet miteinander, so daß sie beide als analog sich darstellen, daß sie miteinander auftreten, einander entsprechen in bezug auf einen Reiz; sie verhalten sich also wahrscheinlich kausal zueinander, und zwar wahrscheinlich nach der letzterörterten Weise. Das Gefühl ist eine Form von Bewußtheit des Zustandes unserer Energie (von Dilthey zuerst behauptet). Es folgt nun ein anderes Argument für diesen Satz, und zwar vom Gegenteil aus. Setzen wir: Es gäbe zwischen Gefühl und Wille keine Einflussung, sondern beide sind selbständig und unabhängig voneinander. Wie soll ich ihre Korrespondenz zueinander erklären? Nicht anders als durch eine prästabilierte Harmonie. Lotze pflegt in seinem System die Gefühle zu definieren als Reaktion meines Bewußtseins auf einen Lebensreiz, wenn dieser hemmend oder fördernd ist. Die Voraussetzung hierbei ist etwas Zweckmäßiges, für das etwas störend oder fördernd ist. Ist dieses Verhältnis aber tatsächlich so und eine solche Korrespondenz vorhanden zwischen Gefühl und dem Willen bezüglich des von ihm angestreben Zweckes, so muß eine gegenseitige Beeinflussung angenommen werden, soll nicht die öde Annahme einer prästabilierten Harmonie die einzige Zuflucht sein. Die 1 3 5 U n t e r s u c h u n g , in der wir begriffen sind, führt uns in das letzte Z e n t r u m der Psychologie, über das Verhältnis der verschiedenen geistigen F u n k tionen, wie sie dem Geiste sich darstellen. W i r betrachteten zunächst die Gefühle in ihrem Verhältnis zu Vorstellungen. D e m n a c h : E i n jeder Bewußtseinszustand enthält in sich zugleich einen Vorstellungsgehalt und einen Gefühlston. Beide sind jederzeit untrennbar v e r b u n den. U n d w e n n wir die Gefühle in ihren Beziehungen zueinander ins A u g e
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fassen, so stellen sich diese dar als eine Skala negativer und positiver Grade von Lust- und Leidgefühlen, Billigungs- und Mißbilligungs-, Gefallens- und Mißfallensgefühlen. Auch fanden wir, daß mit den Vorstellungen zugleich die Gefühle zurückkehren, daß also von einer Reproduktion der Gefühle die Rede sein kann, daß dieselbe aber gebunden ist an die Reproduktion der Vorstellungen. N u n aber suchten wir ein neues Verbindungsglied. Indem wir nun Gefühle und Willen in ihrer Beziehung zueinander betrachteten, nachdem wir mit der Vorstellung begannen, hatten wir die Beziehungen von Vorstellungen und Gefühlen ins Auge gefaßt. Darauf wandten wir uns zu den Beziehungen zwischen Gefühl und Empfindung. So streben wir allmählich einer Lösung des Problems nach der Art des Willens entgegen. Die Stelle, die der Wille im Bewußtsein einnimmt, erschien schon von vornherein als Gegenstand einer eingreifenden Streitfrage. Denn mag nun die Herbartsche Psychologie in ihrer größten Strenge recht haben, oder mag man eine Modifikation der Herbartschen Lehre annehmen - die herrschende Strömung der Psychologie ist: mit bestimmten Vorstellungen zu beginnen. Das sich auf diese Weise gestaltende Gebiet ist, daß man mit den Empfindungen beginne, daraus die Wahrnehmung werden läßt, daraus die Vorstellungen, die sich assoziieren und verschmelzen, und in der Apperzeption entspringen die verwickeiteren Gebiete des geistigen Lebens. Auf diesem Wege entstehen Vorstellungszustände, welche sich dann darstellen entweder oder eine Reaktion von Seiten der Seele hervorrufen, die sich als Gefühl oder Willensakt darstellt. Am nächsten an die Herbartsche Lehre schließt sich die von Lotze an. Er geht davon aus: Es gibt eine bestimmte Reaktionsform der Seele gegen gegebene Vorstellungszustände, welche in einem gegebenen Augenblicke als Gefühl, in einem anderen als Willen sich darstellen. Hiermit macht man doch in gewisser Weise Wille und Gefühl zu sekundären Produkten; demgegenüber verfolgten wir diejenigen Systeme, welche von der Auffassung der Natur des Menschen als eines spontanen Wesens ausgingen, nach denen das Wesen des Menschen in erster Linie voluntas sei. Eine solche Theorie stellte sich dar bei den Mystikern, bei Spinoza, Schelling und bei Schopenhauer; nach letzterem ist der gehemmte Wille Leiden, der Wille, der sein Ziel erreicht hat, Befriedigung, und zwar wachsen mit dem Grade der geistigen Klarheit die Leiden. Denn das Wollen des Menschen ist gewissermaßen einem unlöschbaren Durste zu vergleichen. Ein Objekt empfängt den Willen vermöge seiner Bedürftigkeit. Der Wille richtet sich jederzeit nur auf einen Gegenstand, weil eine augenblickliche Unseligkeit vorhanden ist. So entspringt der Wille aus dem Schmerz; diese Gedanken lehnen sich vielfach an den Philebus an. Fehlt aber dem Willen durch allzu leichte Befriedigung ein
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Gegenstand, der unerreichbar Objekt seiner Spannung sein könnte, so entspringt der Zustand der Langeweile. Und so schwingt das Leben des Menschen nach Schopenhauer wie ein Pendel zwischen dem Endpunkte des Schmerzes und der Langeweile, der Genuß selbst erstirbt in der Befriedigung. Das Verlangen, das Streben, die Freude am Besitz erlöschen in dem Momente des Besitzes, und gibt es im menschlichen Leben einen glücklichen Moment, dann ist es der, nicht des Besitzes, sondern unmittelbar vor dem Besitzen, der Augenblick, in welchem die Begierde die Hand ausstreckt nach dem Genuß, ohne daß irgend etwas zwischen ihr und dem Genuß sich befände. Dies ist ein flüchtiger Augenblick, welcher rascher vergeht, als man ihn auch nur schildern kann, in welchem das Maximum von Genuß da ist. Wie aber das Verlangen im Genuß endigt, endigt mit der Begierde die Lust, und so ist Begehren und Langeweile, schmerzhaftes Verlangen und öde Gleichgültigkeit das unser Leben meist Füllende, und sparsam nur eingeflochten in unsere Existenz sind die Momente, in denen, was wir begehren, mit Sicherheit von uns als erreicht erfaßt werden kann. Dazu ist aller Genuß doch lange nicht so intensiv als der Schmerz, und wenn man den Menschen die Wahl geben könnte, den tiefsten Schmerz des Lebens zusammen mit dem höchsten Genuß noch einmal erleben zu wollen oder ganz darauf zu verzichten, so ist keine Frage, daß sie zum Verzicht lieber bereit sein würden. So deutlich ist es, daß das Maximum des Schmerzes lange nicht erreicht wird von dem Maximum der Lust. Ist dies aber so, dann ist ja für den Menschen das wünschenswerteste Ziel die Aufhebung jener Spannung des Willens, welche mehr aufreibend als erfreuend ist. Diese Aufhebung ist aber nur eine Aufhebung der Spannkraft des Lebens selbst, denn aus dem Willen zu leben entsprang diese Welt, und in dem Individuum ist der treibende Motor diese Spannung des Willens, in ihr liegt der Kern des Lebens. Wenn wir daher wünschen, daß diese Spannung ein Ende nehme, dann verneinen wir den Willen des Lebens selbst. Und wer mit wirklicher Objektivität dieses Leben und die Schicksale, die die Existenz des Menschen ausmachen, durchschaut, der muß sie verneinen, der muß wünschen, von dieser Spannung des Willens befreit zu sein - eine Richtung, welche verkörpert ist in der Askese, im Mönchstum, in allen Heiligen, in der Grundrichtung aller Religionen, welche hinausläuft auf die Aufhebung der Selbstsucht, auf das Bewußtsein, daß die Schicksale dieses Lebens, als Lust, Befriedigung der Begierde betrachtet, einen Widerspruch und Insuffizienz in sich enthalten. So Schopenhauer. Es ist viel herumgeredet worden über Schopenhauer. Von seiner Metaphysik sprechen wir nicht, sie ist haltlos, aber das, was wertvoll in seinem Systeme ist, ist seine Psychologie, und diese seine psychologische Grundauffassung ist das Ergreifende, Bezaubernde und Fortreißende in seinem Systeme, sein Sirenen-
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gesang, durch den er Unzählige verlockt und in Unseligkeit verstrickt hat; denn es gibt nichts Gefährlicheres für den Menschen, als mit dem Theorem von der Unwichtigkeit desselben an den Menschen heranzutreten. Man wird alsdann das Leben ihr entsprechend finden, weil man die Sprungfeder der Freude aufhebt oder lähmt. Nur in der unbefangenen Betrachtung und in der naiven Auffassung des Lebens liegt seine Schönheit, daher dann eine Widerlegung dieser Ansicht nur ausgehen kann von einer anderen das Leben erfüllenden Anschauung. Nicht indem man das eine oder andere Sophisma desselben aufdeckt, wird man ihn widerlegen, sondern indem man allein das Element von mächtigen Gefühlen ergreift und widerlegt. Wir wollen den Ausgangspunkt Schopenhauers teilen, den Ausgangspunkt, demgemäß der menschliche Wille etwas Primäres ist. Denn Schopenhauer ist inkonsequent, wenn er davon ausgehend seine weiteren Folgerungen zur Unseligkeit des Lebens abzieht (?). Denn, wenn Natur des Lebens Energie ist, dann liegt in ihr der normale Bestand der menschlichen Existenz; das Glück des Lebens liegt in der Entfaltung und mächtigen Betätigung aller jener Grundbestandteile unseres Wesens, die alle Energie sind. In dem Streben selbst liegt das Bedürfnis und demgemäß auch der Befriedigungszustand der menschlichen Natur. Wir sind eben dadurch glücklich, daß wir in einem zusammenhängenden und methodischen Voranschreiten begriffen sind, und einen klaren Zusammenhang in die Tätigkeit unserer Energien zu bringen heißt, die Grundlage für unser Glück legen. Denn unser Glück liegt nicht, wie schlechte Dichter und Romanschreiber der Jugend weismachen möchten, in einzelnen Momenten des Genusses. Unser Glück liegt allein in jener zusammenhängenden und innerlich geordneten Befriedigung aller unserer tatkräftigen Energien. Die Menschen, die so leben, sieht man glücklich. Dies ist unsere Grundansicht, die aber methodisch zu begründen ist. Wie die Energie überall wirksam ist, gewahrt man selbst in sonderbaren Karikaturen der menschlichen Existenz. Sie setzen wenigstens ihren Willen in Tätigkeit, wenn auch ihre Ziele ganz unwürdig sind. Wir versuchen nun in methodischem Gange der Untersuchung diese Auffassungsweise psychologisch zu begründen. Wir gehen hier zunächst, unseren Weg weiterverfolgend, aus von den tatsächlichen Beziehungen, welche obwalten zwischen den Gefühlen einerseits, dem Willen andererseits. Wir betrachten zuerst die schon öfter angeführte Tatsache allmählicher Ubergänge von Gefühlsprozessen in Willensprozesse, von Willensprozessen in solche des Gefühls. Wir setzen den Moment der Abreise jemandes. Der Zustand ist Traurigkeit; darin liegt die Sehnsucht, es tritt die Hoffnung des Wiedersehens uns entgegen, das Verlangen wiederzusehen, der Mut, dies Wiedersehen herbeizuführen, der Entschluß, dasselbe zu verwirklichen.
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Wo beginnt hier Verlangen, Sehnsucht, wo endigt Gefühl? Daher war es von je eine Schwierigkeit für die Theoretiker, die diese Zustände auseinanderhalten, die Grenze irgendwie wenigstens theoretisch festzustellen. Schon haben wir erklärt, Lust und Unlust gehören der Gegenwart, Streben bezieht sich auf die Zukunft. Ja, es gibt auch Wünsche, die auf Vergangenes gehen, und es gibt andererseits Gefühle über mögliche zukünftige Zustände. Wenn ich sage, ich wünschte, mein Bruder wäre wohlbehalten angekommen, so ist dies sogar ein Begehren, welches auf Vergangenes geht. So möchte keine Definition das Ziel erreichen, Gefühl und Begehren klar abzugrenzen. Alsdann die innere Beziehung zwischen Gefühl und Begehren zeigt sich in dem Gegensatz, welcher auf gleiche Weise eine Skala der Gefühle und der Begehrungen herbeiführt. Es handelt sich in beiden Fällen nicht um die Vorstellung eines Gegenstandes, sondern um die Beziehung desselben zu unserem Selbst, um seinen Wert oder um seinen Unwert. Daher wir uns hingezogen finden oder abgestoßen in den Formen des Gefühls und Begehrens, daher auf der einen Seite Bejahung und Verneinung, auf der anderen zusammen Gefühl und Willen stehen. Unter diesen Umständen sieht man wohl, daß eine sehr tiefe innere Beziehung zwischen diesen beiden obwalten muß. So faßt denn auch die gewöhnliche Betrachtung und Anschauung des täglichen Lebens unsere Gefühle und Willenszustände unter dem gemeinsamen Ausdruck des Gemütes zusammen, und unter dem Gemüt verstehen wir dann den Inbegriff derjenigen psychischen Zustände, welche dem Inneren des Subjektes als solchem angehören. Dies ist denn auch der Komplex dessen, was nur für unseren individuellen Charakter zunächst da ist und keinem anderen ganz so mitgeteilt werden kann. Weder unsere Strebungen noch unsere Gefühle können wir in den andern direkt so hervorrufen durch Mitteilung, wie wir sie haben. Die Mitteilung läßt in anderen Vorstellungen entstehen, wie wir sie besitzen, nicht aber Begehrungen und Gefühle direkt entstehen, höchstens indirekt. Die Mitteilung unseres Begehrens wird in den andern zunächst nur Vorstellung von dem Begehren, und nur indirekt kann dies dann ein Begehren in jenen nach sich ziehen. Dazu kommt, daß Begehren und Abstoßen, Lust und Unlust in bezug auf einen bestimmten gegebenen Gegenstand einander merkwürdig korrespondieren. Was wir mit Lust anschauen, ist begehrenswert, im Ganzen und im Durchschnitt; das, wovon wir uns abwenden, ist uns schmerzlich im Ganzen und im Durchschnitt. In jedem einzelnen Fall geht die Äußerungsweise unseres Innern von Lust zu Begierde ohne weiteres in bezug auf denselben Gegenstand über. Wie sich der Wille verhält, so verhält sich das Gefühl und umgekehrt; es reagieren also sozusagen Wille und Gefühl auf denselben Gegenstand in ganz übereinstimmender Weise. Aber auch da, wo eine bestimmte Stufe in der
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positiven oder negativen Skala der Gefühle von uns erreicht ist in bezug auf irgendeinen Gegenstand, da haben wir auch die entsprechende Stufe von Begehren oder Abscheu; in demselben Grade [wie] wir uns Lust empfindend fühlen, in demselben Grade verhalten wir uns abgestoßen, in welchem Grade wir die Mißbilligung fühlen. So korrespondieren stets diese Tatbestände, so daß man voraussetzen kann, ein Mensch, der mit großer Energie nach einem Ziele strebt, für den hat das Ziel einen hohen Grad von Lust; und wir erschließen den Grad der Gefühle eines Individuums nach der Betätigung des Willens behufs Erlangung des betreffenden Gegenstandes. Ist dies so, dann scheint sich zunächst eine einfache Alternative darzustellen: Finden wir diese beiden so miteinander verkettet, alsdann fallen sie schon unter die ersten von Bacon bei der Entwicklung von der Induktion aufgestellten Themata. Wenn die Elemente a und b jedesmal zusammen auftreten, wenn ihr Grad ein gemeinsamer ist, alsdann ist anzunehmen, daß das eine zum andern im Verhältnis von Ursache zur Wirkung steht, falls sie nicht beide Effekte eines weiter zurückliegenden Grundes sein sollten. Es fällt in die Augen, daß für die konkrete Betrachtung der menschlichen Seele diese dritte Annahme wegfallen kann. Denn dann müßte ich irgendeinen psychischen Faktor zeigen können, welchen ich betrachten könnte als Ursache von Lust oder Schmerz; also nachgewiesen müßte eine solche Tatsache werden. N u n gibt es aber außer unseren Gefühls- und Wollenszuständen nur noch Vorstellungszustände; die einzige Möglichkeit wäre also noch, unsere Vorstellung als die gemeinsame Grundlage zu betrachten (mit Herbart). Wir haben aber gesehen, daß daraus in alle Ewigkeit weder Gefühls- noch Wollenszustände entspringen. Diese Möglichkeit ist uns also abgeschnitten und damit jene dritte Möglichkeit. Wir sind demnach verwiesen auf die beiden ersten Ansichten, das Gefühl auf den Willen oder umgekehrt zurückzuführen. Diese Betrachtungsweise hat ihre verbindenden Nerven in der engen Verbindung zwischen Gefühl und Willen. Man könnte also denken, das Gefühl wäre das Primäre und der Wille der Effekt, ein Resultat, das von vielen Denkern erreicht worden ist. Aber die Schwierigkeit, diese Auffassung aufrechtzuerhalten, ist unüberwindlich. Gehe ich von der Lust als Erklärungsgrund aus, so erkläre ich den Antrieb dadurch nicht, sondern ich muß ein Neues hinzunehmen, ich muß, um zu dem Antriebe zu gelangen, ein neues psychologisches Element annehmen, ich kann nicht das eine als Ursache, das andere als Wirkung betrachten. Setze ich das Gefühl in das lebendige Geschehen und Weben unseres Bewußtseins hinein, so folgt aus den in uns geschehenen Faktoren zusammen mit dem Gefühle die Begierde, der Wille nie. Dagegen behaupten wir: Wenn ich den Willen in unser Bewußtsein hineinversetze, so erklärt sich ohne alles weitere aus den vorhandenen Faktoren die
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Tatsache des Gefühls, erklärt sich einfach unter einer Bedingung: Das Gefühl ist nichts anderes als die Form des Willens, sich seiner Zuständlichkeit bewußt zu werden. Es ist nur Bewußtsein der gehemmten, der geförderten Energie. Wann die Energien des Innern in einem bestimmten Zustande sich befinden, so ist Bewußtsein dieses Zustandes „Gefühl". Wenn man lange Zeit, Wochen, Monate genötigt ist, im Dunkeln zu bleiben, so steigert sich das Mißbehagen bis zum Schmerz, weil eine Hemmung der Energie wirksam ist, und nur dann, wenn mächtigere Energien ersetzend und stellvertretend ihre Befriedigung haben, nur dann wird dieses Mißgefühl aufgehoben oder wenigstens eingeschränkt durch eine stärkere entgegenwirkende Empfindung. So würde sich, theoretisch genommen, die Streitfrage lösen: Gefühl und Wille sind miteinander verkettet, und zwar so, daß sie beide analog sich darstellen in positiver und negativer Skala. Sie sind so verkettet, daß sie miteinander auftreten, einander entsprechend gegenüber einem gegebenen Reiz, daß ihre Grade sich ändern mit dem Reize, daß ihre positiven und negativen Grade sich verhalten wie die Reize. Die Frage würde nun die sein, ob sich an den positiven Phänomenen selbst diese Erklärung bewahrheiten läßt (nämlich, daß das Gefühl eine Form von Bewußtheit für den Zustand unserer Energien ist). Gehen wir aus von der Annahme des Gegenteils, daß wir die Annahme bilden, der Wille und das Gefühl haben nichts miteinander gemein: Beide sind selbständig begründet. Nun fragen wir, wie wir unter dieser Annahme die in der Seele gegebene Tatsache der Korrespondenz begründen können. Nicht anders, als indem ich zu der kompliziertesten Annahme einer prästabilierten Harmonie zwischen den beiden Systemen meine Zuflucht nehme. Wenn das Gefühl gefaßt werden kann als die Antwort meines Bewußtseins auf die Tatsache einer Hemmung oder Förderung der in mir gegebenen Zwecke, so kann eine solche innere Beziehung zwischen dem Gefühl und dem Willenszustand nur als prästabilierte Harmonie erklärt werden. Lotze, der anderer Ansicht ist, pflegt doch damit übereinstimmend das Gefühl zu definieren als die Reaktion des Bewußtseins, welche auf Hemmung oder Förderung des L e b e n s . . . begründet ist: 136 Was ist denn aber die Voraussetzung, die hier vorliegt? Es liegt ja in jenen Anforderungen die erste Bedingung; jene innere Energie muß vorausgesetzt werden als Grundlage der Gefühle, wenn man eine solche Annahme billigen will. Und in der Tat, wenn die Korrespondenz der beiden Systeme bis in die kleinsten Teile besteht, so können wir nur ein solches tatsächliches Ursacheverhältnis annehmen, wenn wir nicht der öden Doktrin verfallen wollen, als existiere eine von vornherein mechanisch eingerichtete Analogie und Korrespondenz dieser beiden Systeme.
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[§ 13.] Der Wille in seiner Beziehung zu Vorstellung und Gefühl Offenbar kann man das ganze geistige Leben ansehen unter dem Gesichtspunkt eines Trieblebens. Geht man aber von einem solchen Triebe aus, wie verhalten sich zueinander Gefühl und Wille? „Der Mensch", sagt Fichte, „wird sich seiner selbst nur als eines Wollenden bewußt", 1 3 7 und hier setzt Schopenhauer an. Will ein Mensch, so will er etwas. Der Wille steht mit unserem Gefühl in einer Beziehung, indem er mit anderen korrespondiert; andererseits steht der Wille zu Vorstellungen in Beziehung, insofern der Wille ein Objekt hat, das vorgestellt Motiv, Anlaß und Stoff der Bewegung des Willens ist. Reaktion auf meine Motive, das Verhältnis dieser Motive zu den Reaktionen meines Selbst. Dieser Gedanke Schopenhauers als psychische Tatsache ist richtig. Der Satz Schopenhauers, der Wille will etwas, hebt jedoch seine ganze Philosophie auf, denn er setzt die Priorität des Intellekts (für den ein Etwas überhaupt existiert) voraus vor dem Willen. Hier suchte Hartmann Schopenhauer zu verbessern. Durch Annahme des Unbewußten. - Tatsächlich aber der gegenwärtige Zustand Ausgangspunkt, ein Zukünftiges ist Gegenstand meines Willens. Aristoteles sagt in περί ψυχής, ich muß einen Antrieb voraussetzen] und in diesem Antrieb eine φαντασία, d. i. ein Vorstellungsbild. Eine Vorstellung, die als Affekt gilt, wenn ich ein Motiv [habe], worunter also eine Vorstellung zu verstehen, welche als ein Bild mir vorschwebt [...], die meinen Willen in Bewegung setzt. Wenn ich dieses Motiv ausgestattet denke mit Gefühl, so entsteht Trieb oder Verlangen, und das Motiv hat dann den Charakter der letzteren; und wenn ich den Gefühlszustand in Ansehung seines in der Gegenwart abwesenden Gegenstandes als ein Bedürfnis fasse, so ist dann das Motiv Begehren. Wenn die vorschwebende bessere Lage also mein Gefühl erweckt, so ist es Verlangen, Sehnsucht, und wenn mein Gefühl dabei auch sich bewußt [wird] des schmerzhaften Entbehrens, so entsteht Begierde. Im Verlangen ist das Lustgefühl vorherrschend, in der Begierde ein Schmerzgefühl. Wenn wir nun diese Bewegungskraft in uns gewahren, so müssen wir diese zunächst als psychophysische fassen, d. i. als Verhältnis eines Reizes auf meine Energie. Es fragt sich nun, wie haben wir das Bewegende zu erklären? Es sind zwei Erklärungsweisen dieser Bewegungskraft: Die eine ist geneigt, einen physiologischen Grund, die andere einen psychischen anzunehmen. Zunächst die erste Ansicht: Die Doppelnatur des sensiblen und motorischen Nervensystems ist Grundlage. Schwächung des motorischen Nervensystems hat Schwäche des Willens zur Folge, wie Schwächung des sensiblen Nervenapparates Schwäche der Empfindung. Auf der Korrespondenz zwischen Physiologischem und Psychologischem gründete man die Ansicht, daß die physiologische Beschaffenheit die Grundlage bildet von der psychologischen Konstruktion des Menschen. Alle die Energie unseres geistigen Lebens, die Aufmerksamkeit etc., beweise, daß die Spontaneität unseres Geistes nicht minder grundlegend [für] unsere geistigen Funktionen ist. Wir verhalten uns also nicht nur rezeptiv und spontan bloß in bezug auf die Verarbeitung des Rezipierten,
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s o n d e r n in b e i d e n B e z ü g e n verhalten w i r u n s s p o n t a n . Wir verhalten u n s niemals b l o ß empfangend, sondern auch spontan.
Unsere Frage rückt weiter, indem wir das Verhältnis der Vorstellungen zu den beiden Tatbeständen einziehen in unsere bisherige Untersuchung. Jeder psychische Vorgang wird nun von uns betrachtet werden in Rücksicht auf die drei verschiedenen Zustände, welche wir in unserem geistigen Selbst unterscheiden. Offenbar kann man das ganze geistige Leben ansehen unter dem Gesichtspunkt von sich entwickelnder Kraft; man kann das Leben der Seele unter dem Gesichtspunkt eines trüben Lebens ansehen. Unter diesem Gesichtspunkt, wie er aus Fichte gefolgert werden könnte, hat Fortlage die psychischen Tatsachen seiner Untersuchung unterzogen. Geht man aber von einer solchen Annahme aus, wie verhalten sich dann zu einem solchen trüben Leben einerseits die Gefühle, andererseits die Vorstellungen? N o c h einmal blicken wir zurück auf die früheren Theoretiker. Noch einmal fragen wir uns, wie Schopenhauer diese Beziehung aufgefaßt habe. Der Mensch, so beginnt Fichte seine Untersuchungen, wird sich seiner selbst nur als eines Wollenden bewußt, und von diesem Punkt setzt dann auch Schopenhauer ein: Hierzu gehören nicht nur die förmlichen Entschlüsse, deren der Mensch fähig ist, sondern auch Bejahen, Streben, Verlangen, Sehnen, Hoffen, Lieben, Freude, Jubel, das Gegenteil von diesem allen, alles sind Zustände des Wollenden selbst. Sogar aber, fährt er fort, gehört eben dahin, was man Gefühle der Lust und Unlust nennt. Diese sind zwar in großer Mannigfaltigkeit von Graden und Arten vorhanden, lassen sich aber doch allemale zurückführen auf begehrende oder verabscheuende Affektionen. Auch die körperlichen Gefühle sind nur Affektionen, welche als ein dem Willen Gemäßes oder ihm Widersprechendes unmittelbar in das Selbstbewußtsein treten. Andererseits aber bilden die vermöge des Bewußtseins in der Außenwelt wahrgenommenen Gegenstände Stoff und Anlaß aller Bewegungen des Willens. Wenn der Mensch will, so will er etwas. Sein Wille läßt sich nur in bezug auf einen Gegenstand denken. Schopenhauer denkt sich die Sache also so: Der Wille steht einerseits mit unseren Gefühlen in einer nicht weiter aufzuhellenden Beziehung, indem unsere Gefühle den Hemmungen und Forderungen desselben korrespondieren, also in ihn hineingezogen sind. Der Wille steht andererseits mit unsem Vorstellungen in derjenigen Beziehung, daß diese Wahrnehmungen und Vorstellungen also Gegenstände, Stoffe und Anlaß aller Bewegungen unseres Willens sind. Das Objekt in dieser Doppelbeziehung genommen, daß es Gegenstand für uns ist, daß dieser Gegenstand zu gleicher Zeit aber auch Stoff und Anlaß einer Bewegung für mich [ist] - das Objekt in dieser Doppelbeziehung ist Motiv,
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und unter Motiv verstehe ich das Objekt in der Doppelbeziehung zu meinem Selbst genommen, wonach es einerseits Gegenstand meiner Intelligenz, andererseits aber Anlaß und Stoff der Bewegung meines Willens ist. So ist also das Wesen des Willensaktes Reaktion auf ein Motiv. Das Problem des Willens und der Willensfreiheit ist das der Gesetzmäßigkeit der Beziehungen zwischen der Reaktion und den möglichen Motiven. Reaktion auf mein Motiv, dies ist die Natur von Willen überhaupt, und das Verhältnis, in welchem die Motive und ihr System zu den Reaktionen meines Selbst und ihrem System stehen, dies Verhältnis ist das Grundverhältnis des Willens, entweder als eines gesetzmäßigen oder [als] eines freien. Diese Betrachtungen an und für sich genommen entfalten nur einen psychischen Tatbestand, den jeder in sich selbst erfährt. Sie werden irrtümlich erst, indem Schopenhauer die Vorstellung und das Bewußtsein als ein Primäres und ursprünglich von dem Willen ganz Getrenntes betrachtet und nunmehr einen Willen konstruiert, welcher keinen Gegenstand hat. Indem er das tut, widerspricht er der Darlegung, welche wir soeben von seinem Systeme gegeben haben; oder der einfache Satz Schopenhauers: „Wenn der Mensch will, so will er etwas", 138 hebt die Grundlage seines ganzen Systems auf, welche Grundlage in dem Satze liegt, daß der Wille das Primitive und der Intellekt nur etwas Nachträgliches und Sekundäres sei. Denn wenn der Wille etwas will, so kann dies nur als ein Vorstellungsinhalt für ein bewußtes Wesen gedacht werden. Demgemäß, dem Willen ist immer das Bewußtsein zur Hand, und ein Wille ohne bewußte Vorstellung ist ein Widerspruch in sich selbst. Daher setzt auch an diesem Punkte der Versuch Hartmanns ein, Schopenhauer zu verbessern. Jener sagt, die ganze Eigentümlichkeit und Halbheit der Schopenhauerschen Philosophie, welcher nur den Willen als metaphysisches Prinzip gelten läßt und die Vorstellungen oder den Intellekt materialistisch entstehen läßt, entspringe hier. Wenn ich will, so möchte ich den Ubergang aus dem gegenwärtigen Zustand in einen andern. Es muß also eine ideale Möglichkeit dieses Überganges gegeben sein. Derjenige Wille, welcher etwa nur das Beharren im gegenwärtigen Zustande will, ist nur möglich als Opposition gegen eine andere Willensrichtung, welche das Aufhören des gegenwärtigen Zustandes möchte. Wenn ich eine Aufhebung des gegenwärtigen Zustandes verabscheue, dann entspringt aus diesem positiven Verhältnis das negative, daß ich es bei dem gegenwärtigen möchte bewenden lassen. Ausgangspunkt ist also der gegenwärtige Zustand, er kann nicht Zielpunkt sein, denn die Gegenwart hat man ja ganz; ein zukünftiger Zustand ist es, der vorschwebt, ein in der Vorstellung enthaltener; cf. Aristoteles: „Einen Antrieb gibt es nie, ohne ein Vorstellungs- oder Wahrnehmungsbild." U n d die Kehrseite: „Wenn aber ein Wahrnehmungs- oder Vorstellungsbild in Bewegung
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setzt, so setzt es nur in Bewegung vermöge eines Antriebes", d. h., wo ich den Vorgang „Inbewegungsetzen" gewahre, da muß ich jederzeit einen Antrieb voraussetzen und in diesem Antriebe eine φαντασία, ein vorschwebendes Bild von Wahrnehmungs- oder Vorstellungsgehalt (?).139 Eine Vorstellung, welche als Effektbild (Bild eines Zieles) meinem Antriebe vorschwebt, nenne ich ein Motiv. Wenn ich dieses Motiv mir ausgestattet denke mit Gefühlsinhalt, so bezeichne ich das Motiv als Gefühl oder Verlangen. Ich verstehe also unter Trieb und Verlangen dasjenige Motiv, welches mich bewegt mit der ihm innewohnenden Macht von Gefühlen, und wenn auch der gegenwärtige Zustand, der umgewandelt werden soll, in meinem Gefühl lebhaft gegenwärtig ist, so daß ein schmerzhaftes Bedürfnis auftritt, so bezeichne ich das Motiv oder das Verlangen als Begierde. Ich verstehe also unter Motiv diejenige Vorstellung oder Wahrnehmung, welche meinen Willen bewegt, indem sie ein ihm vorschwebendes Bild des zu Erreichenden ausmacht. Diese Vorstellung leistet meinem Willen den Dienst des Auges sozusagen, welches vorausschauend hinblickt auf ein Ziel, dem dieser Wille zustrebt. Wenn ich nun die Gefühlsgewalt ins Auge fasse, mit welcher ein Motiv in mir wirksam ist, so nenne ich dies Motiv Verlangen, und wenn ich auch den Gefühlszustand in betreff der Gegenwart und ihres schmerzhaften Bedürfnisses hinzufüge, so nenne ich diesen Zustand Begierde. Ich bin in einer gegebenen Lage. Wenn ich eine bessere Lage mir vorstelle, so kann diese bessere Lage für meinen Willen ein Antrieb werden, sich nach ihr hin in Bewegung zu setzen. Alsdann wird dieses vorschwebende Bild einer besseren und von mir erreichbaren Lage zu einem Motiv meines Handelns. Wenn diese bessere Lage meine Gefühle bewegt, wenn bei der Vorstellung derselben ich eine Sehnsucht und eine lebhafte Bewegung meiner Gefühle gewahre, so stellt sich dieses Motiv dar als Verlangen, und dasjenige, was wirksam ist in mir in der Richtung auf eine bessere Lage, ist nicht nur ein Beweggrund, sondern ist ein Verlangen, eine Sehnsucht, ein Wunsch usw. Und wenn mein Gefühl sich des Druckes der Gegenwart schmerzhaft bewußt ist, was ja gar nicht ausdrücklich der Fall zu sein braucht, alsdann bezeichne ich den Drang, in diese andere Lage überzugehen, als Begierde. In jener Begierde ist ein schmerzhaftes Element, welches aus dem Ungenügen an dem gegenwärtigen Zustande entspringt. Das Motiv können wir uns denken; in dem Verlangen ist das Lustgefühl bei der Vorstellung des Zieles, in der Begierde tritt auch noch das Gefühl des ungenügenden gegenwärtigen Zustandes hinzu. So entspringt das System unserer Begehrungen und unserer ernstesten Bestrebungen. Wenn wir nun aber auf diese Bewegungskraft in uns unsere Aufmerksamkeit richten, so müssen wir diese zunächst als ein Psychophysisches fassen. Bewegungskraft treibt uns voran. Wir bezeichnen hier zunächst noch
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gar nicht das, was hier im Grunde vorliegt. Das allgemeine Schema ist und bleibt: „Verhältnis eines Reizes zu einer irgendwie gestalteten Energie." Es wird sich darum handeln: Wie haben wir das Bewegende zu erklären? Wir unterscheiden hier zwei Erklärungsweisen dieser Bewegungskraft, von denen die eine geneigt ist, aus der physiologischen Grundverfassung unserer selbst diesen Antrieb abzuleiten, während die andere eine psychische Tatsache sieht. Wir gehen von jenen psychologischen Betrachtungsweisen aus, mit welchen wir in der Einleitung, diesen Punkt betreffend, gesprochen haben. Jenes System, demgemäß wir Eindrücke empfangen und Bewegungsvorgänge der Außenwelt mitteilen, hat zu seiner Voraussetzung und Grundlage die Organisation unseres Nervensystems, an dies sind zur Zeit unseres Lebens unsere Gefühle gebunden. Es enthält ein doppeltes System in sich, das System des sensitiven Apparates, vermöge dessen wir Reize der Außenwelt empfangen und uns Vorstellungen darüber bilden und Gefühle daraus erklären, und das motorische System, welches aufgrund unserer Vorstellungen und Gefühle eine Mitteilung an unsere Muskeln gelangen läßt, woraufhin diese die Apparate unseres Knochengerüstes in Bewegung setzen und solchergestalt Veränderungen im Räume hervorbringen. Diese Veränderungen brauchen nicht sehr gewalttätiger Natur zu sein; jedes Wort ist eine solche Veränderung und kann Ursache außerordentlicher Wirkungen werden. Diese Doppelnatur kann nun als die Grundlage unseres entsprechenden geistigen Lebens betrachtet werden. Hierdurch scheint die Grundgestalt des geistigen Lebens angelegt zu sein als ein System des Empfangens und Aufnehmens sinnlicher Eindrücke, an welche sich alsdann durch die Vermittlung des Gehirns eine Verarbeitung derselben anschließt, und rückwärts ein System aktiver und spontaner Tätigkeiten, deren letzte Äußerung die Beherrschung der Natur durch den menschlichen Geist ist. Wie solchergestalt unsere Organisation uns eine Stellung anweist im Weltganzen, empfangen wir die Eindrücke des uns umgebenden Naturganzen und der uns umgebenden Gesellschaft und wirken auf sie zurück. Diese gesamte Stellung des Menschen, diese Grundgestalt des geistigen Lebens, scheint angelegt zu sein in dem System unserer Nerven, in jener Teilung der Nerven in sensible und motorische, nebst einerseits den Endapparaten der sensiblen in den Sinnesapparaten, andererseits der motorischen in den Muskeln. So scheint weiter eine Analogie von dem Physiologischen aufwärts zu dem Geistigen zu tragen. Der Irrenarzt beobachtet überall Analogien von Schwächung des sensiblen oder motorischen Nervensystems und von Bestimmtheit der Depravation oftmals des geistigen Lebens und der Willenseigentümlichkeit. Gewissen Neigun-
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gen zur Ermüdung und zur motorischen Lähmung entsprechen Willensschwäche und Willenlosigkeit in den betreffenden Charakteren. Die konvulsivischen Bewegungen finden sich verknüpft mit einer krankhaften Rastlosigkeit des Charakters. Griesinger, dessen Auseinandersetzungen hierüber noch immer das Beste sind, bemerkt: Sehr oft finden sich gemeinsam die motorische Seite des Seelenlebens und die entsprechende Seite des Nervensystems in derselben Richtung depraviert. Die Schwäche des Rückenmarkes ist der Regel nach mit mannigfachen Formen von Reizbarkeit und Schwäche zugleich des Willenslebens verknüpft. So scheinen analog miteinander sich zu verändern und organisiert zu werden das physiologische System einerseits, die psychologischen Vorgänge andererseits in bezug auf die Gestaltung unseres Willens, und hierauf gründet man die Grundansicht, welcher gemäß in den motorischen Nerven das Charakteristische und das Hervorbringende des Willensvorganges bestimmt, daß das psychische Leben seine Spezifikation zum Willen: Bewegungsimpulse empfange durch die eigentümliche Organisation unseres Nervensystems. Das geistige Leben empfinge alsdann die Grundkonstruktion seines Wesens durch die physiologische Unterlage, auf welcher es beruhe. Aber weit mehr Erscheinungen finden sich, welche dieser Annahme widersprechen als solche, die einen derartigen Parallelismus anzudeuten scheinen. Die vorgetragenen Tatsachen enthalten eine Entstellung des wirklichen Tatbestandes. Es ist nicht richtig, daß die ganze eine Seite unseres geistigen Lebens ein willenloses Empfangen wäre, aus welcher alsdann durch einen Umsatz spontane Tätigkeit würde. Die große Tatsache, welche dieser Ansicht widerspricht, ist die der Energie unseres geistigen Lebens. In Wirklichkeit ist der Unterschied nicht ein Unterschied von Rezeptivität und Spontaneität auf der Grundlage der sensiblen und motorischen Nerven, vielmehr ein Unterschied motorischer und sensibler Nerven auf der einen Seite, auf der anderen ihnen entsprechend die Stellung des Geistes, welche von der Außenwelt her verarbeitet, und die Stelle des Geistes, welche auf die Außenwelt zurückwirkt. Diese beiden Stellen aber sind keineswegs zu identifizieren mit dem Tatbestande der bloß empfangenden und der aktiven Tätigkeit des menschlichen Geistes. Aktivität, Spontaneität, Energie ist die gemeinsame Grundnatur. Demgemäß ist die Frage nicht, wie auf der Grundlage der motorischen Nerven sich der Antrieb entwickelte. Der Antrieb ist ebensogut wirksam innerhalb der sensiblen wie der motorischen Nerven. Es ist das Verdienst von J o h . Müller, diese Tatsache ein für alle Male bestimmt zu haben. Sperrt man ein Kind vom Lichte ab, so wird es sich schmerzlich äußern, weil gewisse Bedürfnisse der Natur nicht befriedigt werden können. Die Frage ist also die, wie wir uns überhaupt die Natur von Antrieben innerhalb unseres psychischen Lebens zu denken haben.
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[§ 14.] D a s Bewußtsein, der Wille u n d die Freiheit 1 4 0 Wir beginnen mit der Tatsache der Triebe. Es gibt keine Begierde, die sich auf das Unbekannte bezöge. Allein, es gibt Naturtriebe, bei denen noch der Gegenstand derselben bewußt ist. Das Primäre in uns ist Energie, das Bewußtsein, das Gefühl ist das Sekundäre. - Wir sind glücklich, wenn wir nach einem System unserer Energie (Wille) gemäß tätig sind. Also ist jene Priorität auch von der praktischen Seite her bestätigt. Man pflegt dreierlei Triebe zu unterscheiden: Nahrungs-, Bewegungstrieb und den Trieb zur Erhaltung der Gattung. Aber diese sind nur die wichtigsten, zwischen ihnen liegt eine unendliche Anzahl. Sowie es keinen Moment in unserem Leben ohne Vorstellung gab, so auch nicht ohne irgendeinen Zustand der Strebung, der Energie. Die Tragödie stellt die Leidenschaften dar. Bei Shakespeare die elementaren Leidenschaften, bei Goethe und Schiller die intellektuellen. Das erste Hervortreten des Selbstbewußtseins, mannigfache Ansicht darüber. Fichte findet in demselben einen rein theoretischen Vorgang. Ich setzt sich ein zweites gegenüber etc. In der Tat hat es seinen Ursprung im Praktischen. Unser Selbst gleicht einem Kreis, dessen Radien Willensvorgänge sind. Anästhesien, Unempfindlichkeit und Schwinden des Selbstbewußtseins sind miteinander verbunden, woraus der Zusammenhang des Willenskreises mit dem Selbstbewußtsein hervorgeht. Das Erlöschen des Selbstbewußtseins erfolgt gleichzeitig mit vollständiger Apathie, mit der Aufhebung aller Gefühlsvorgänge. Die Kategorie von Zweck und Mittel entwickelt sich in Willensverhältnissen und wird übertragen auf die Natur. Zweck ist eine Vorstellung, deren Realisierung Gegenstand des Strebens. Ein berechnender Charakter ist derjenige, der für seine Zwecke ein System von Mitteln zu finden versteht, deren Effekt aber der gesuchte Zweck ist. Es gehört zur Berechnung, daß zu Erreichung eines Zweckes mehrere Ursachen als Mittel ins Spiel gesetzt werden. Berechnende und nach unmittelbarem Gefühl handelnde Naturen. Eine berechnende Natur ist nicht schlechthin zu identifizieren mit einer egoistischen. N u r dort, wo gar nicht mehr auf den Wert eines Gegenstandes, wie er an sich ist, gesehen, sondern alles nur mit dem Gesichtspunkt des Nutzens für andere betrachtet wird, da herrscht Egoismus. Die Begehrung wird zum Willen durch das hinzutretende Bewußtsein, etwas zu begehren und es erreichen zu können. Wollend fühlt sich der Mensch souverän Begehrungen streben unter sonstigen gleichen Umständen nach dem Grade ihrer Stärke sich gegenseitig zu verdrängen. Es gibt keine Naturvölker im Sinne des 18. Jahrhunderts, sondern nur Völker, die auf niedrigerer Kulturstufe stehen als andere kultiviertere. Drei Eigentümlichkeiten werden nach Waitz bei solchen Naturvölkern angetroffen: Zügellosigkeit der Begierde, entsprechend demjenigen Grade des Willens, da die augenblicklichen Eindrücke auf ihn maßgeblich und ein System von geordneten Zwecken fehlt. Begehrungen werden nicht mit anderen verschmolzen, sondern nur die Vorstellungen von denselben. So entsteht das empirische Ich in seinen praktischen Voraussetzungen, so entfaltet sich der Charakter, der nur da ist, wo eine entschiedene Richtung des Begehrens eine Vorherrschaft gewonnen und von ihr aus das ganze Leben des Gemüts beherrscht.
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Freiheit des Willens. Trendelenburg bemerkt richtig, daß bei den alten Philosophen diese Frage nur sehr wenig berücksichtigt [wurde], Dilthey behauptet weiter, daß das eigentliche Problem der Freiheit bis auf Aristoteles gar nicht bekannt war. Später im Mittelalter hatte diese Frage vornehmlich Bedeutung im Hinblick auf religiöse Fragen; seit dem Aufleben der Naturwissenschaft hat sie eine andere Bedeutung erhalten. Das Gesetz der Kausalität faßt Dilthey so: Eine jede Veränderung muß eine Ursache haben (nicht aber ein jedes Ding, denn das führt auf einen ewigen Zirkel). Dieses Gesetz muß kollidieren mit dem Satze der Freiheit, wonach Veränderungen ohne Kausalität frei vor sich gehen. Hobbes und Spinoza erklären sich deshalb gegen die Freiheit. Die Freiheit des Willens sucht Spinoza auf zweierlei Weise zu erklären: 1) Wir sind zwecksetzende Wesen. N u n sind wir aber der Ursache unserer Handlungen uns doch gar nicht bewußt; wir werden tatsächlich getrieben von Handlung zu Handlung, und da wir die Ursache unserer Handlung nicht einsehen, schreiben wir uns Freiheit des Willens zu. Das Problem der Freiheit ist eigentlich nur in einer Metaphysik lösbar, aber die empirische Psychologie kann doch einiges zu deren Existenz anführen, was die Erfahrung an die Hand gibt. Kantische Lösung durch Unterscheidung einer phänomenalen und intelligiblen Welt. Nach dieser Lösung wird die wirkliche Natur der menschlichen Handlungen zu einem vollständigen Mysterium. Diese Lösung akzeptierten auch Schelling, Schopenhauer, Müller. Alle die Lösungen ungenügend und widersprüchlich, und zwar weil gerade das moralische Gesetz, woraus er die Freiheit ableitet, diese enthält in bezug auf Handlungsverhältnisse in der Gegenwart, in der Wirklichkeit; ich bin frei in einer Handlung, in bezug auf eine frühere etc. 1 4 1 Entweder muß man annehmen, daß etwas in den in der Zeit gegebenen Handlungen sei, was nach den gewöhnlichen Naturgesetzen nicht zu erklären, oder .. , 1 4 2 Daß man jeden Augenblick handeln könne, wie man nur will, widerspricht der Tatsache des Charakters, auf den man im Leben rechnet, worauf ja Tun und Glauben beruhen. Zwischen der Ansicht Kants und der anderen müssen wir einen Mittelweg einschlagen. Wir haben in der Tat Motive in dem oben angegebenen Sinne; damit aber hat jedoch die Freiheit nichts zu tun (vgl. dazu Schopenhauer). Wir handeln immer aus Motiven, wenn auch zuweilen aus solchen, die wir nicht sofort mit unserer Reflexion erreichen oder erfassen. Der kausale Zusammenhang unserer Handlungen oder der Motivation unserer Handlungen beruht auf jenen Motiven und findet ohne Zweifel statt. Allein, die Motive wirken nur auf unseren Willen zur Handlung, aber zwingen denselben nicht. Wenn wir etwa handelten, so maßen wir an gewissen Bedürfnissen, die wir hatten, unsere Willensrichtung. Dies ist empirische Tatsache. Aber es gibt keinen empirischen Grund in uns für die Behauptung, daß gemäß mechanischen Gesetzen irgendein stärkstes Motiv uns zur Handlung zwänge. Der Satz vom zureichenden Grunde gibt hierüber gar keinen Aufschluß, ebensowenig aus der Kausalität, die überhaupt nur eine Abstraktion, aus den Ereignissen unseres Willens abgezogen worden, folglich diesen nicht erklären kann. Demgemäß können wir sagen: Es gibt keine Handlungsweise ohne
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Motive, ferner - w o r i n Spinoza recht hat - keine, die durch bloße Vernunft bestimmt wäre. Die Quantitätsverhältnisse aber, die zwischen diesen Motiven herrschen, sind v o m empirischen Standpunkt aus durchaus nicht meßbar. Darum kann auch das Individuum kein Bewußtsein davon haben, daß es etwa einem stärksten Motive seiner Motive in seinen Handlungen gefolgt sei. N u n liegt aber in dieser mechanistischen Auffassung die Entscheidung gegen die Freiheit des Willens, folglich ist das Problem der Freiheit empirisch nicht lösbar. Gegen die Annahme derselben ist empirisch nichts Mögliches vorzubringen, w e n n sie auch positiv nur in einer metaphysischen oder ethischen Erwägung dargetan werden könne. Vom empirischen Standpunkte ist die Unmöglichkeit der Freiheit nicht erweisbar. O h n e alle Frage fühlen wir uns frei, aber die besondere Natur unserer Freiheit (wie sie hervorragende Denker und selbst Spinoza angenommen haben) ist empirisch nicht zu erklären.
Wir beginnen mit einer mittleren Tatsache. Man sagt: ignoti nulla cupido. Wenn auch dieser Satz im allgemeinen unseren Erfahrungen entspricht, so gibt es doch eine Anzahl von Fällen, welche nicht demselben untergeordnet werden kann. Es gibt Naturtriebe, welche wirksam sind in uns, bevor noch die Erfahrung des Genusses gemacht ist. Das Primäre in uns ist die Energie, das Bewußtsein unserer Antriebe und Energien ist erst die Welt unserer Gefühle. Nicht weil unsere Lust befriedigt wird durch ein Objekt, begehren wir dasselbe. Nicht dies ist unter allen Umständen der Tatbestand, sondern aus dem tiefsten Bedürfnis unseres Selbst entspringen die Gefühle. Es ist die Befriedigung unserer Existenz nie zu suchen in jenen momentanen Erfüllungen unserer Bedürfnisse, die sich als augenblickliche und starke Lust anzeigen. Das Glück liegt in jenen normalen, unablässig voranschreitenden Tätigkeiten, in diesem Punkte berühren sich Ethik und Psychologie. Man kann davon ausgehen, daß das Gefühl das Primäre sei. Man hat dann die Ansicht, daß eine möglichst hohe Summe von solchen momentanen Befriedigungen die Glückseligkeit der menschlichen Existenz ausmache; dies ist der Eudämonismus - die herrschende Ansicht. Zählt man die Stimmen, so entspricht diese Ansicht der Mehrzahl der Stimmen innerhalb der Gesellschaft wie der Welt der wissenschaftlichen Forschung; wägt man aber die Stimmen, so ergibt sich ein entgegengesetztes Resultat. Es ist nur Schein, mit welchem uns die Phänomene necken, daß wir in der Bewußtseinsform unsere Befriedigung zu finden glauben, in Wirklichkeit behält die entgegengesetzte Ansicht recht, welche als das Primäre im Menschen den Antrieb, die Energie und Tätigkeit seiner geistigen Natur betrachtet. Aus jenem Eudämonismus entsprang im 18. Jahrhundert die Weltansicht des Optimismus, wie sie Leibniz ausgebildet, ein Bild, welches aber damals bereits
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unbarmherzig durch den Skeptizismus zerstört wurde. Und aus derselben Grundvoraussetzung entsprang jener Pessimismus, dessen Druck auf der Gegenwart lastet. Es ist mit Recht überall der Gedanke entwickelt worden: Jede Befriedigung hat zu ihrer Voraussetzung eine Schmerzempfindung in der Begierde, jede Befriedigung ist momentan, dagegen die vorangegangene Begierde dauert lange. Auch ist unzweifelhaft die Schmerzempfindung ihrer Intensität nach stärker als die Lustempfindung. Daher, wenn man die Bedingungen des Lebens betrachtet, die wenigen Momente des Glückes abgerechnet, das Leben eine Last sein würde, wenn das Glück abgemessen würde nach der Befriedigung der Begierde. Aber im wirklichen Leben zeigt sich wenig Ähnlichkeit mit solchen Theoremen. Die Menschen sind dann am zufriedensten, wenn sie ein in sich geordnetes System von in sich voranstrebendem Willen haben, wenn ein Leben darin eine Analogie mit einem Rechenexempel hat, wenn es im geordneten System dem Ziele entgegenstrebt. Daraus folgt, daß die wirkliche Befriedigung der menschlichen Existenz in der Betätigung der Energie selber liegt. Nicht wenn das Ziel erreicht würde, sind wir glücklich, sondern wenn die Tätigkeit ihren normalen und günstigen Verlauf hat, und nicht darum, weil das Ziel lockt, sondern weil es Grundnatur des Menschen ist, Energie des Begehrens, Energie der Richtung auf Schönheit usw. zu sein. Man pflegt nun in der Regel drei elementare Naturtriebe zu unterscheiden. Zweifellos tun sie sich vermöge ihrer Stärke hervor, es sind jene beiden mächtigen Triebe, welche der Erhaltung des Individuums innewohnen: der Nahrungs- und Bewegungstrieb und der dritte, welcher der Erhaltung in ihren Dienst gegeben ist; aber das sind nur die wirksamsten. Zwischen ihnen walten viele andere; so viele mannigfache Spannungen als die Welt unserem Selbst zeigt, so viele solcher Triebe gibt es, und es muß darauf verzichtet werden, Systeme hiervon aufzustellen. Man durchtastet gewissermaßen die Außenwelt, um sich in ihr zu orientieren. Wenn das Begehren herrschend geworden, so entspringen unsere Leidenschaften, unsere Affekte. Nun ist in jedem Moment unsere Seele in dem Zustand einer sich betätigenden Energie. So gut wie wir sagen, es gibt keinen Moment unserer Existenz ohne Vorstellungsinhalt, ohne eine gewisse Stimmung des Gefühles, so gibt es auch keinen Moment, in welchem unsere Seele nicht in irgendeinem Strebenszustande sich befände. Interesse und Aufmerksamkeit sind das Streben innerhalb der vorstellenden Energie, so wie der aktive Wille, der Bewegungen hervorruft, das Streben innerhalb des Gebietes unseres handelnden Lebens ist. Das Anfangen ist in Wirklichkeit der naturgemäße Eindruck des in der Seele vorhandenen Tatbestandes; daher denn auch das
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Leben eines Menschen ganz aufgehen kann in der Realisierung eines Systems von Mitteln zu einem großen Zweck, bei welchem ihm selbst sehr fraglich ist, ob er je in sein Bewußtsein fallen und von ihm als erreicht bewußt werde genossen werden können. Wir suchen im Handeln nicht bloß das Ziel des Handelns, und darum ist es für den Menschen einerlei, ob dies Ziel ein Königreich oder etwas Geringeres ist, ob wir die Linien eines solchen geordneten Systems von Mitteln zu einem Zwecke in einem Palast entworfen [haben] oder in einem Dorfe; der wesentliche Unterschied für die Befriedigung unseres Lebens liegt darin, ob unsere Aktionen uns zugleich eine Befriedigung gewähren oder nicht. Unglücklich sind alle diejenigen, bei welchen die Bedingungen und äußeren Verhältnisse des Lebens und die dadurch ihnen aufgedrungenen äußeren Zwecke im Widerspruch mit der Richtung der Energien des geistigen Lebens [stehen]. Sie finden im Streben, in der Tätigkeit ihrer Energien als solcher keine Befriedigung, sondern sie erwarten dieselbe vom Resultate, ganz so, wie wenn einer eine Dichtung lesen wollte, nur um zum Abschluß zu gelangen. Der Spiegel dieses Lebens unserer Leidenschaften und unserer Willensimpulse liegt in der Welt der Poesie, vor allem der tragischen Dichtung. Es ist früh erkannt worden, daß sie in der Darstellung der Leidenschaften als solcher in enger Beziehung dazu stehen. Dichter der Leidenschaft ist Shakespeare; seine Grenze ist da, wo Goethe und Schiller ihre Eigentümlichkeit haben. Diese stellen die individuellen Affekte mit einer wunderbaren Klarheit dar. Nicht jene durch die Intelligenz hervorgegangenen Leidenschaften sind der Gegenstand Shakespeares, sondern die elementaren Gewalten, die der Natur am nächsten stehenden, die am nächsten an die Grundaffekte anknüpfen. Daher es auch ein Irrtum ist, ihn als einen historischen Dichter zu bezeichnen. Darstellung der historischen Vorgänge setzt die Darstellung der höheren Affekte voraus. Dagegen ist nichts belehrender als die Darstellung der elementaren Affekte bei Shakespeare. Alles, was sonst eine psychische Gegenwirkung in unserer Seele zu [be]wirken geeignet wäre, löst er ab: Die Darstellung in seinen Tragödien [nimmt] einen so rapiden Gang, weil er sie ganz alleine darstellt; daher eilen die Schicksale seiner Helden und der Leidenschaften mit rapider Gewalt zu Ende, und sie lassen sich überschauen, wie die Naturgeschichte einer einzelnen Leidenschaft, wie das Urphänomen der Leidenschaft. Wir gehen einen Schritt weiter, indem wir vom Selbstbewußtsein ausgehen. Der Ursprung des Selbstbewußtseins, das erste Hervortreten desselben, ist der Gegenstand mannigfacher psychologischer Erörterungen und entgegengesetzter Erklärungsweisen geworden. Bekannt ist, daß Fichte einen reinen theoretischen Vorgang hier wahrzunehmen glaubte. Er setzt sich die Welt gegenüber und wird sich seiner als eines Gesetzten selber bewußt; er reflektiert auf
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sich selbst. Er fand hierin einen Vorgang von rein theoretischem Verlaufe; in Wirklichkeit ist, wie die Grundnatur des Menschen eine praktische ist, dieser Vorgang ein praktischer, ein Vorgang des Willens, nicht aber theoretischer Sonderung und Vernunft. Der geringste Wurm, wenn er getreten wird und wenn er sich krümmt, scheidet sich aus dem Dasein in ebenso kraftvoller Weise, wie der Gebildetste als „Ich" dem „Nicht-Ich" sich entgegenstellte. In der Klarheit und Deutlichkeit des Bildes vom eigenen Wesen liegt diese Energie. Unser Selbst gleicht einem Kreis, als dessen einzelne Radien sich die Bewegungsantriebe, die Willensimpulse darstellen, welche alle zurückgehen auf den einen Mittelpunkt; dieser dunkle Mittelpunkt wird von der Reflexion allmählich erhellt. Wir versuchen diese Tatsache näherzubringen durch die merkwürdige Erscheinung der Anästhesie. Diese zeigt, wie ein Experiment, daß Unempfindlichkeit und Verschwinden des Selbstbewußtseins verbunden sind. Wir können daraus einen Rückschluß machen, wie das System unserer Gefühle mit unserem Selbstbewußtsein in ursächlicher Verkettung steht. Das Verhältnis des Bewußtseins zum Selbstbewußtsein trat am klarsten zur Zeit des allmählichen Erwachens (nämlich eines Betäubten), und zwar das eine Mal in höchst beunruhigender Weise hervor. Nachdem die Sinnesnerven aus ihrer Lethargie erwacht sind und die Wirkung der Außenwelt dem Sensorium [Reize] zuzuleiten begann, erkannte ich die Personen, die ich vor dem Eintritt der Narkose um mich gesehen hatte. Wenn ich einen Dritten bei ihnen vermißte, ohne eigentlich zu ahnen, daß ich selber der Dritte sein müßte, konnte ich bei dem Erwachen aus einer zweiten Narkose meine Persönlichkeit nicht von der einer anderen, auf die mein erwachendes Auge fiel, trennen. In jenem Fall war schon ein Kampf zwischen dem objektiv Wahrgenommenen und der ihrer leiblichen Grenzen sich noch nicht recht bewußten Seele eingeleitet. Es war schon das Gefühl der Unlust an diesem Zustande der Ungewißheit an dem eigenen Dasein vorhanden. Das zweite Mal, wo ich keine Unlust hatte, sah ich ganz gleichgültig mich selbst in den gesehenen Personen oder ihre Erscheinung in mir aufgehen, ohne das Gefühl zu besitzen, daß ich zu jenen in jenem Verhältnis stehe. Deutlich erinnere ich mich noch der Überraschung, als ich ein paar Augenblicke später in einen Spiegel sah und in diesem Momente erst völlig zum Selbstbewußtsein kam. Also mit dem Grade des erwachenden oder ersterbenden Gefühlslebens erhebt sich oder erlischt das Selbstbewußtsein. Hier also findet momentan mitten in der höchsten Entwickelung des Selbstbewußtseins in einem hochbegabten Menschen ein Erlöschen desselben zugleich mit der Aufhebung der Gefühle durch ein äußeres Reizmittel statt. Mit der Betäubung der Nerven und mit der Aufhebung der Gefühlsvorgänge erlischt das Selbstbewußtsein auf eine
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Zeit hindurch, ein deutlicher Beweis, wie das Selbstbewußtsein sich erhellt durch Unterscheidung einer gleichgültigen Zone der Außenwelt von der Welt unserer Interessen, unserer Gefühle, der von uns ausgehenden Bewegungsvorgänge. Dasjenige, was im Selbst143 gegeben ist als die Vorstellung, welcher der Wille entgegenstrebt, bezeichnen wir als Zweck. Wir verstehen darunter also einen Tatbestand, welcher in unserer Vorstellung existiert und Gegenstand des Strebens unseres Selbst ist, damit er realisiert wird. Hat das Begehren einen Zweck ergriffen, dessen Realisierung nicht einfach ist, welcher nicht direkt realisiert werden kann, so strebt es eine Reihe von Tatsachen zu finden, welche es in seiner Gewalt hat und durch die es sich dem Endpunkte des Zweckes zu nähern vermag. Diese Tätigkeit bezeichnen wir als Berechnung. Wir verstehen unter einem „berechnenden" Charakter denjenigen, welcher für seine Zwecke, mögen dieselben auch noch so fern, noch so schwierig erscheinen, Mittelglieder einzuschieben versteht, d. h. Tatsachen aufzufinden, deren Effekt der beabsichtigte Zweck ist und welche doch in der Gewalt des Begehrenden selber stehen. Und so suchen wir Ursachen selbsttätig ins Spiel zu bringen, damit jene Ursachen Wirkungen mit sich bringen; ja, es gehört zur Natur der Berechnung, mehrere Ursachen zu bringen, welche diese Wirkung haben können. Wir alle bedienen uns dieses Verhältnisses von Mittel und Zweck. Nie kann ein Individuum so im unmittelbaren Genuß des Augenblickes leben, so im unmittelbaren Genuß des ihm Erreichbaren, daß es nicht Zwecke darüber hinaus sich setzte, welche nur durch eine Mehrheit von Mitteln ihm erreichbar werden. Aber es gibt Naturen der eigentlichen Virtuosität, deren Zentrum des Willens in dieser Tätigkeit des Berechnens gelegen ist. Sie stehen im schärfsten Gegensatz zu denjenigen unmittelbaren Naturen, die im augenblicklichen Gefühl, in denjenigen Gefühlen, welche der Augenblick hervorbringt, ihr Dasein haben. Naturen, welche berechnen, zeigen jederzeit ein solches Ubergewicht des zwecksetzenden Verstandes, daß wir geneigt sind, sie als egoistisch zu bezeichnen. Indes ist ein solcher Schluß an und für sich nicht richtig. Man kann auch rechnende Naturen denken, welche für das Wohl des Ganzen dieses System von erwogenen Mitteln und Zwecken ins Spiel setzen. Der Egoismus ordnet den ganzen Weltzusammenhang unter den Gefühlsgrund der Relation des „Ich" zur Außenwelt. Ja, es gibt Menschen, welche andere Individuen ausschließlich unter diesem Gesichtspunkte betrachten, dieselben wie Ziffern ansehen, sie gar nicht außerhalb ihrer Berechnungen ins Auge fassen. Hier liegt eine Entartung praktischen Talentes vor, welches eben leicht ins Gegenteil umschlägt. Denn aller wahrer Sinn für die Welt fordert eine gewisse Unmittelbarkeit der Betrachtung, eine gewisse Unbefangenheit in der
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Auffassung, welche die Gegenstände auch um ihrer selbst willen ins Auge faßt. Wo diese Fähigkeit ganz untergegangen ist im Rechnen, wo die Zustände gar nicht mehr gewahrt werden, um sie einfach zu erfassen, wie sie sind, sondern nur unter dem Gesichtspunkt, was sie nützen können, da kann auch eine höhere Fähigkeit der Benutzung gar nicht mehr statthaben. Man kann wohl sagen, daß manche Individuen geboren zu sein scheinen mit der Fähigkeit, alles, was sie umgibt, zu benützen, in ein Verhältnis zu ihrem Selbst zu setzen. Wer sich vorherrschend kontemplativ verhält, wie die Germanen, der kann hoch in die Jahre kommen, ohne daß er irgendwie gelernt hätte, die Dinge, die ihn umgeben, auch in Relation zu seinem persönlichen Interesse zu betrachten. Wie anders stellen sich italienische und französische Naturen dar. So stehen sich aufs schärfste Menschen im Leben gegenüber, welche, wo ihnen Individuen begegnen, sie auffassen in eigener Art, ohne auf den Gedanken zu kommen, dasselbe zu schätzen und es zu untersuchen, welche Stellung es etwa zu uns oder wir zu ihnen einnehmen könnten, und dicht daneben Menschen, welche überhaupt gar keine andere Betrachtungsweise kennen, welche nicht gewohnt sind, irgendein Objekt der Welt anders als in dieser Beziehung auf den eigenen Lebenssinn, auf die Fülle der eigenen Bedürfnisse zu betrachten. Doch die letzte Beschaffenheit bedarf immer noch einer gewissen Dosis von unmittelbarem Wahrnehmen. Die häßlichsten Personen sind die, in welchen diese Dosis aber allmählich verbraucht ist vom Egoismus und in welchen nur eine Berechnung zurückgeblieben ist, in der jeder Mensch eine bloße Ziffer ist. Die Freundschaft solcher Individuen ist eine falsche Münze. Sie gedenken das gute Geld der Zuverlässigkeit anderer einzutauschen gegen den falschen Schein ihres eigenen bloßen Sich-freundschaftlich-Stellens und Im-Hintergrunde-Benutzenwollens. Dies gelingt aber nie; im Gegenteil werden solche berechnenden Naturen gerade den eigentümlichen Eindruck darbieten, immer etwas zu wollen und immer zu manquieren [?] in bezug auf das, was sie durchzusetzen denken. Ihre Rechnung ist natürlich immer die, wenn zehn Pläne vereitelt sind, durch das Gelingen eines elften sich zu entschädigen. Das echt praktische Talent hat zu seiner Grundlage eine gesunde Schätzung des eigenen Selbst zu anderen Faktoren und ein ruhiges Geltenlassen der Ansprüche der übrigen. Es hat jenes Fundament von gesundem Anerkennen der Ansprüche und Erfordernisse der anderen, der Selbständigkeit und des eigenen Wertes der Interessen und Zwecke anderer Individuen; so wie in der großen Politik bei Anerkennung der berechtigten Forderungen nur Glück möglich ist, so ist es auch im Privatleben. Also dem Selbst stellt sich in einer solchen Verknüpfung seiner Vorstellungen und Begehrungen eine Ordnung von Zwecken und Mitteln dar. Es wird
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auf dieser Grundlage dann aus dem Begehren das Wollen. Man hat den Willen wohl definiert als das begehrende Bewußtsein, doch erfolglos. Drobisch meint, das Wollen ist immer zuerst eine Art desjenigen Begehrens, das seines Gegenstandes bewußt ist: denn um zu wollen, muß man wissen, was man will. Die Wirklichkeit läßt die eigentümlichen Merkmale des Wollens sich darstellen in zwei Arten: Die Begierde wird zum Willen, indem sie einmal sich dessen bewußt ist, daß es den Gegenstand will und wie es diesen seinen Zweck im System seiner Zwecke taxiert, alsdann, indem die Möglichkeit des Berechnens vorausgesetzt wird. Daß ich will, heißt so viel als: Ich bin mir einmal meines Triebes und seines Gegenstandes bewußt und weiß, was ich daran habe, und ich werde diesen Gegenstand berechnen. Mit dem Nachweis der Unmöglichkeit dessen, was begehrt wird, sinkt auch das Wollen in sich zusammen und wird zum bloßen Wunsch, zur bloßen Sehnsucht. So ist denn im Wollen die Auffassungsweise der Dinge eine andere als im Intellekt. Die Außendinge kommen und gehen, werden betrachtet unter dem Gesichtpunkt der Verwirklichung unserer Zwecke. Der Mensch weiß sich als den Herrn der Umstände; der wollende Mensch setzt sich als eine Macht über Dinge und über Menschen, wollend also findet sich der Mensch souverän und in dieser Souveränität des Willens liegt eine Anknüpfung an die letzten metaphysischen Geheimnisse. Aber das Wollen hat noch eine andere Seite: Der Ausdruck repräsentiert zugleich eine bestimmte Entwicklung im Verhältnis der Begehrungen zueinander. Dies ist darin gelegen, daß wir sagten, in dem Wollen liegt, daß der Gegenstand des Wollens im System unserer Zwecke seine bestimmte Taxation erhalten hat; Begehrungen wachsen mit der Wiederholung und werden zu festen Neigungen, Gewohnheiten. So also liegt in der Natur der Begehrung ein Grundgesetz, nach welchem ihre Kraft mit der Wiederholung der Begierde zunimmt, und zwar ist dann unter sonst gleichen Umständen die stärkste Begehrung am meisten geneigt, in Aktivität überzugehen. Begehrungen also streben einander unter sonst gleichen Umständen nach dem Grade ihrer Stärke zu verdrängen. Waitz in seiner „Anthropologie" 1 4 4 und alle übrigen Forscher stimmen damit überein - hat drei Grundzüge im Leben der Naturvölker festgestellt. Man findet bei diesen folgende Eigenschaften: Scheu vor Arbeit, Macht der Gewohnheit, Zügellosigkeit der einzelnen Begierden und einen völligen Mangel an Zusammenhang der Bestrebungen. Diese Charaktereigentümlichkeiten bestätigen den Entwicklungsgang des Willens. Erst wo in unsere Vorstellung ein höherer Zusammenhang eintritt, durch welchen dieser als ein Teil unseres Selbst diesem Selbst Kontinuität, Zusammenhang, Gliederung gibt, erst wo also unser praktisches Selbst eine höhere Gliederung erlangt hat, erst da finden wir das feste Handeln des von der Vernunft geleiteten Willens. Dies Handeln erscheint nicht auf denjenigen
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Stufen, auf denen die Begierde, die Energie, die Strebung unseres Selbst ungeordnet neben- und durcheinander herlaufen. Auf diesen Stufen zeigt dann das Individuum die hier hervorgehobenen Eigenschaften, jene Zügellosigkeit der einzelnen Begierde, welche daraus entspringt, daß man noch gar nicht imstande ist, den realen Wert eines Gutes von seinem Augenblickswert zu unterscheiden. Es entsteht hieraus jener Unzusammenhang, auch die Scheu vor der Arbeit hängt hiermit zusammen. Der Wilde scheut sich keineswegs vor Arbeiten, welche einen augenblicklichen Erfolg haben. Was aber der Wilde nicht vermag, ist für Zwecke [zu] arbeiten, welche in der Zeit weit vorausliegen. Es ist das Leben des Menschen nach dem komplizierten System zu ordnen und diesem Systeme gemäß einzurichten; es ist der Ackerbau mit der in ihm gelegenen Erwartung der Früchte; es ist der Ackerbau, welcher den Menschen zuerst hinüberlenkt und Gewöhnungen stiftet, welche sein Leben in die Zukunft hineinstrecken, und alle Völker, welche nicht zur Stufe des Ackerbaues gelangt sind, zeigen diese Irregularität der Bestrebungen. Es verschmelzen also miteinander Vorstellungen, sofern sie als Zwecke gedacht werden; Begehrungen als solche werden an sich nicht verschmolzen, sondern sie finden sich nur miteinander verbunden durch die Verschmelzung der Vorstellungen, die mit ihnen verknüpft sind; wohl aber verschmelzen mannigfache Begehrungen auf eine indirekte Weise, wenn sie nämlich auf einen Gegenstand gerichtet sind. Alsdann ruft dieser Gegenstand alle die mannigfachen Begehrungen hervor. Es reproduzieren sich von seiner Wahrnehmung aus Begehrungen und Gefühle mannigfacher Art. So entsteht die Vorstellung des empirischen „Ich" und seiner praktischen Relationen zur Außenwelt. In ihr liegt es, daß unsere Strebungen in einen Zusammenhang gebracht sind, daß das Bewußtsein ihre Stärkeverhältnisse verwandelt. Und so entfaltet sich die durchgreifende Kraft des Charakters. Denn Charakter ist nur da, wo eine entschiedene Vorherrschaft einer bestimmten Begehrungsrichtung in der Seele vorhanden ist, welche alle Vorstellungen, Gefühle und Begehrungen sich unterordnet und in eine feste Beziehung zu sich gebracht hat. Es fordert alsdann die hinzutretende Bewußtheit, welche das Selbst und seine Relation zum wirklichen Selbst (?) einheitlich gefaßt hat. Charakter ist also erst da, wo ein Mensch eine unbeugsame und unveränderliche Richtung seines Selbst eingeschlagen hat, welche durch gar keine Reize der Außenwelt eine völlige oder auch nur eine längere Ableitung erleidet. Das Gegenteil ist, daß in einem Individuum Begehrungen mannigfacher Art sich um die Herrschaft streiten. Dies ist oft gar nicht leicht zu erkennen. Wir sehen einen Menschen bald in diese bald in jene Tätigkeit sich stürzen. In vielen Fällen liegt der Grund darin, daß unter einem Gesichtspunkt, des Gelderwerbes vielleicht, die einen, unter einem anderen, vielleicht der Erkenntnis oder einer höheren
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Entwickelung, die anderen tätig sind, und wenn ein Individuum nicht eine dominierende Richtung seiner Natur hat, dann sieht es sich bald in diese, bald in jene Richtung fortgerissen. Der Vorgang, in welchem ein neuer Gegenstand auftritt und mit dem System unserer Begehrungen in Beziehung tritt, hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Prozeß der Apperzeption. Auch hier findet ein Abwägen des Begehrungswertes des neuen Objektes statt, bis dieses im System der Gegenstände seine Stelle erreicht hat und das Individuum wieder sein „ich will, ich will nicht" auszusprechen in der Lage ist. Es sind dies die psychologischen Formen unserer Begehrungen, Triebe, unseres Willens; hinter diesen allen liegt also eine metaphysische Frage, welche in der Philosophie unter der Bezeichnung der Freiheit des Willens Gegenstand sehr mannigfacher Erörterungen geworden ist. Es ist schon von Trendelenburg bemerkt worden in der Sammlung seiner Abhandlungen, 145 daß die alte Philosophie das Problem der Freiheit des Willens keineswegs in den Vordergrund gerückt hat, ja, es ist bei den meisten der alten Philosophen überhaupt schwierig, eine Ansicht sich zu verschaffen, wie sie darüber gedacht. Man möchte behaupten, daß die alte Philosophie in ihrer klassischen Zeit bis auf Aristoteles das ganz klare Problem der Freiheit des Willens noch gar nicht besaß. Dieses Problem entfaltet sich in jener theologischen Epoche der menschheitlichen Entwickelung, wie sie in der letzten 146 Zeit des untergehenden Heidentums und seit dem aufgehenden Christentum uns gegenübertritt. Und zwar stellte es sich dar zuerst als das Problem, daß einerseits die Verantwortlichkeit des Individuums die Freiheit desselben vorauszusetzen hat, andererseits der Gedanke der Vorsehung und der unbedingten Macht der Gottheit die Fähigkeit des einzelnen Individuums auszuschließen scheint, in die Pläne Gottes einzugreifen. Diese Schwierigkeit war es, welche das Problem aufschießen ließ. Aber während innerhalb der religiösen Richtungen, Schulen und Sekten das Problem in dieser Gestalt fortexistierte und fortarbeitete, trat seit dem Beginn der modernen Naturwissenschaft 147 eine andere Fassung desselben Problems auf. Diese Fassung ist bedingt durch den ganzen methodischen Charakter der modernen Naturwissenschaft, als welche für eine vorhandene Veränderung im Naturganzen eine Ursache derselben aufsucht und voraussetzt, welche zureichend wäre, diese Veränderung zu erklären. Der Naturforscher, wenn er ein Gestein sich verändern sieht, wenn er irgendeinen Stoff, der an dem gegenwärtigen Tage die eine Gestalt hat, am nächsten in anderer Gestalt vor sich sieht, setzt unter allen Umständen voraus, daß ein zureichender erklärender Grund in der Natur gesucht werden müsse, welcher diese Veränderung hervorgebracht habe. Die Annahme, welche also hier vorliegt, wolle man sich ja nicht
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verwirren lassen. Es handelt sich nicht darum, daß jede Tatsache oder jedes Ding eine außer ihm gelegene Ursache haben müsse. Gesetzt, man faßte die Sache so, so ist klar, daß man in einen unendlichen Zirkel kommt. Es ist klar, daß man sagen kann: Wenn etwas eine Wirkung ist, so muß es eine Ursache haben. Man kann sagen, eine jede Veränderung, welche wir im Weltall gewahren, muß durch das Hinzutreten einer Bedingung oder eines Grundes zu der bereits vorhandenen erklärt werden. Dies ist die Maxime, auf welcher die Gesamtheit der Naturforschung basiert. Diese Maxime mußte feindlich zusammentreffen mit der Annahme, es gäbe irgendwo einen Punkt im Weltall, wo Veränderungen vorgingen, welche nicht in zureichender Ursache begründet wären. Wenn das der Fall wäre, so gäbe es ein imperium in imperio, ein selbständiges Reich freier Veränderungen mitten in jenem umfassenderen Reich, in welchem jede Veränderung begründet ist. Zuerst wurde dieser Gegensatz formuliert von Hobbes und Spinoza, 148 welche sich dagegen verwahrten, daß jenes Gesetz der Kausalität irgendwo eine Ausnahme in diesem Weltall hätte. So erklärte dann Spinoza die Freiheit des Willens als Annahme auf psychologischem Grunde und beschritt damit einen Pfad, welchem von da ab aller Determinismus natürlich folgen mußte. Wie Locke, als er die Tatsache angeborener Ideen leugnete, in erster Linie zu erklären hatte, wie denn diese Annahme in uns entstünde und wie die angeborenen Ideen in Wirklichkeit zu erklären seien, so hatte Spinoza vor sich, das Problem zu erklären, 149 wie wir denn zu der Annahme einer Freiheit des Willens kämen. Dies zu erklären, bediente er sich zweier psychologischer Erklärungsweisen. Einmal: Wir sind Zwecke setzende Wesen. Wir finden also, daß wir überall aus Zwecken handeln. Das System von Mitteln und Zwecken ist demgemäß das in uns herrschende System, aus welchem wir Tatbestände erklären. N u n finden wir uns aber den Ursachen unserer Handlungen gar nicht bewußt. Diese Ursache, welche doch im System der Zwecke ganz durchsichtig vorliegen müßte, finden wir sehr oft verborgen. Wir handeln, ohne zu wissen, warum wir denn so handeln, zumal da, wo nicht eine Beratschlagung vorhergeht; wo wir aus unmittelbaren Impulsen handeln, da handeln wir, ohne uns bewußt zu werden, welches das wirkliche Motiv unseres Handelns sei. Wir werden also tatsächlich vorangetrieben von Handlungen zu Handlungen und befinden uns sozusagen in der Bewegungslinie des Handelns, und wir sind uns doch nicht bewußt, was uns gerade in dieser Bewegungslinie vorantreibt. Aus dieser Ignoranz 150 schaffen wir eine dahinterliegende Ursache, welche wir als Freiheit betrachten respektive bezeichnen. Dies ist aber ganz unvollkommen. Inzwischen knüpfte sich gerade an Spinoza in der neueren Zeit derjenige Kampf um die Freiheit des Willens, welcher am mächtigsten auf die Gemüter gewirkt hat. Denn an Spinoza, 151 Leibniz und
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Wolff knüpften sich einerseits die Vorstellungen, welche Kant von Determinismus hatte, andererseits knüpfte Jacobi seinen Kampf für die Freiheit des Willens geradezu an Spinoza und an das Verhältnis Lessings zu Spinoza. Die Schrift von Jacobi „Uber Lessings Verhältnis zu Spinoza" 152 wurde das Signal zu einer allgemeinen Debatte über das große Problem, und unmittelbar auf dem Fuße folgte ihr die Arbeit von Kant, und der Vorgang ist auch hier derselbe.153 Jacobi, Kant, später Schelling, Lotze, sie alle zeigen eine zusammenhängende Reihe von Geistern, die sich bemühen, sich dem Übergewicht der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise zu entziehen und eine Tatsache, die sich in uns vorfindet, daß wir nicht ein Mechanismus sind, diese Tatsache zu einer unbefangenen Anerkennung zu bringen. Zu einer reinen empirischen Betrachtung müssen wir uns begnügen uns zu erheben, und wenn wir hier auch nicht eine gänzliche Lösung des Problems finden, so wird es uns doch gelingen, gerecht zu werden in den Fragen, die sich darum gruppieren. Wenn ich die Arbeit, die wie meine inneren Zustände gegeben ist, der bloß phänomenalen Welt zurechne, alsdann herrscht ja auch innerhalb dieser nicht die Wahrhaftigkeit des Dinges an sich, sondern die Gesetzgebung der bloßen Phänomene. Nun nahm aber Kant in der Tat an, daß nicht nur die äußere Welt uns als ein subjektives Phänomen gegeben sei, sondern daß nicht anders auch die innere für uns so vorliege, schon deshalb, weil sie uns im inneren Sinne gegeben ist, welcher alles in der Zeit erfaßt.154 Da demgemäß im Zeitverlaufe vermöge der Form unseres Auffassens erfaßt wird, bleibt ganz dahingestellt, wie an sich selber unsere Handlungen sich verhalten mögen in bezug auf den Zeitverlauf. Nur als Phänomene erscheinen sie, in einem ersten Entschluß der Ausführung oder in einer Überlegung der darauf folgenden Entschlüsse und alsdann der Ausführungen. Diese zeitliche Erscheinungsweise der menschlichen Handlungen ist nicht ihre Natur, und wir wissen nicht, ob in einer solchen Form Handlungen an sich selber existieren. Dazu kommt dann, wenn wir in dem Verhältnis von Ursache und Wirkung unsere Handlungen verknüpfen, so ist auch dies nur die notwendige Form unserer Auffassung. Es braucht aber nicht angenommen zu werden, daß in den Handlungen selbst diese Verknüpfungsweise existiere als ein reales, ihnen innewohnendes Band. So also verknüpft man freilich die Handlungen so, daß man sagt: „Ich wurde damals veranlaßt durch die und die Überlegung, mir die Sache so und so vorzustellen; aber da ich Gewicht legte auf ein anderes Ziel, so mußte ich aufgrund einer anderen Vorstellung meine Handlungen so einrichten", d.h. nichts anderes als: Ich bringe die Handlungen in Ursache und Wirkung respektive in deren Verhältnis; wie sie aber an sich existieren mögen, davon wissen wir nichts. Geht Kant von solchen Voraussetzungen aus, so sieht man wohl, daß die
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deterministische Betrachtungsweise ihn zur naturnotwendigen Auffassungsform des Verstandes wendet. Er muß glauben, der Verstand betrachtet nachträglich alle Handlungen als im Zeitverlauf nach Ursache und Wirkung sich realisierend. Dies ist die verstandesmäßige Betrachtungsweise unserer Handlungen, welche aber nicht der Natur der Handlung selbst angehört. Wenn also Shakespeare in jeder Tragödie den ursächlichen Zusammenhang in der Handlungsweise eines Menschen darstellt, dann ist dies für Kant nur die verstandesmäßige Betrachtungsweise eines Zuschauers, der entweder die Handlung anderer von außen oder seine eigenen Handlungen nachträglich sich zurechtlegt. Wenn ich von solchen Voraussetzungen ausgehe, dann wird die wirkliche Natur der menschlichen Handlungen zu einem vollständigen Mysterium. Sie kann nicht abgeleitet werden aus der Art, wie sie empirisch gegeben, vom Verstände aufgefaßt wird. Vielmehr kann ihre Natur ganz heterogen der Art, wie sie erscheint, sein. Wie möglicherweise die Ursache für die Farbenempfindung, die wir haben, ganz heterogen dieser Farbe ist, so kann möglicherweise dasjenige, was wirklicher Vorgang des Handelns in uns ist, etwas ganz anderes sein als das, was unserer empirischen Bewußtheit des inneren Sinnes und der verstandesmäßigen Auffassung des darin Geschehenen erscheint. Nun wüßten wir gar nicht, fährt Kant fort, welche Betrachtungsweise wir anwenden sollten auf das Problem der menschlichen Handlungen, gäbe es nicht in der Region der Menschen eine Tatsache, welche den sicheren Schluß gestattet, freilich nicht einen Schluß nach der Art der Naturwissenschaft, aber doch einen Schluß präziser Art. Gegeben ist uns nämlich die Tatsache, daß wir uns verantwortlich fühlen für die Art, wie wir gehandelt haben, daß wir ein Bewußtsein der Pflicht in uns tragen. Nun aber liegt in diesem Bewußtsein eingeschlossen die Tatsache, daß wir so, wie wir handeln müssen, auch handeln können. Denn das „Müssen" wäre ein leeres Wort, wenn das „Können" ihm nicht entspräche. Dies „Können" ist aber nichts anderes als die Tatsache der Freiheit, welche mit eingeschlossen liegt in der Tatsache der Verbindlichkeit und des sittlichen Gesetzes. So gewiß es also ein Gewissen gibt, so gewiß muß ihm die Tatsache der sittlichen Freiheit existieren, da dem „Sollen", welches das Gewissen ausspricht, ein „Können" unter allen Umständen entsprechen muß. Wie aber sollen wir nun dieses „Können" denken? Der Verlauf unserer Handlungen in der Zeit, als welcher nur Phänomen ist, unterliegt dem kausalen Gesetz und der ursächlichen Form. Demgemäß können wir nur eine intellektuelle Beschaffenheit unseres Willens außerhalb aller Zeit und aller Verstandesauffassung annehmen, vermöge deren er Spontaneität, d. h. die Fähigkeit ist, eine Reihe ganz von selber anzufangen. In der Seele also liegt dieses Vermögen einer unbedingten, ganz neuen und durch gar keine vorhergegangene
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Tatsache als einen zureichenden Grund bestimmten Handlung, und hier liegt also der wahre intelligible Charakter unseres Ichs und unseres Willens, wonach derselbe Spontaneität ist in sich und solchergestalt allem Zeitlauf entnommen ist. Diese Lehre ist dann zuerst von Schelling „Über die Freiheit", dann von Schopenhauer entwickelt worden. Auf das Gebiet der Theologie ist sie übertragen worden von Julius Müller „Uber die Sünde". 1 5 5 Aber die Lehre Kants leistet nicht, was sie möchte. Sie will das sittliche Bewußtsein erklärlich machen. Sie will diejenigen Postulate entwickeln, welche in unserem sittlichen Bewußtsein gelegen sind in betreff des großen Problems der Freiheit. Wenn aber Kant zu dem Ergebnis kommt, unsere Handlungen, wie sie einzeln unser Leben erfüllen, sind notwendig, und nur unsere metaphysische Natur, welche ihnen allen zugrunde liegt, ist frei, 156 dann setzt sich Kant durch diese Annahme in offenkundigen Widerspruch mit demselben sittlichen Bewußtsein, aus welchem er seine Postulate zu entwickeln bestrebt ist. Denn dieses sittliche Bewußtsein behauptet gerade die Freiheit meiner gegenwärtigen Handlungen in bezug auf meine früheren Handlungen: Sie behauptet also gerade dasjenige, was Kant leugnet, und andererseits, in diesem Sittlichen ist eine Annahme über das, was Kant behauptet, über den unzeitigen Charakter unseres Selbst, gar nicht enthalten. Die Lehre Kants gehört in die Klasse jener Versuche, welche eine Konkordanz zwischen dem sittlichen Leben und den Anforderungen des naturwissenschaftlichen und daher im weiteren Sinne philosophischen Denkens dadurch herstellen möchten, daß sie die Rechte beider anerkennen und die Tatsachen sozusagen aneinanderkoppeln. Dies enthält eine Lehre einer Art von doppelter Buchführung. Innerhalb der Welt der Phänomene gilt das Naturgesetz, es wird davon aber eine Welt geschieden, innerhalb deren das sittliche Bewußtsein seine Rechte behält. Eine Fortentwickelung oder Durchführung dieses Standpunktes ist dann die weitere Ausführung von Lange in seiner Geschichte des Materialismus. In Wirklichkeit aber würde entweder die Freiheit gesucht werden müssen in den wirklichen realen Handlungen der Menschen oder nirgends; man wird annehmen müssen, daß etwas, was keine Analogie mit dem Gesetze der Natur hat, in dem wirklichen Handeln der Menschen vorliegt, in den uns im Zeitverlauf gegebenen Handlungen der Menschen - oder man wird besser tun, die Gültigkeit des Determinismus und des schlechthinnigen Zusammenhangs der kausalen Ordnung über die geistigen Erscheinungen auszudehnen. 157 Demgemäß löst 158 der Weg, den Kant einschlägt, das Problem vielleicht nicht. Auf der anderen Seite ist nicht anzunehmen, daß man sich befriedigen könnte mit der gewöhnlichen Vorstellung der Wahlfreiheit, als welche in sich schließt, daß das Individuum in einem gegebenen Augenblick zu jeder denkba-
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ren Handlung fähig wäre. Denn eine solche Annahme steht ja in offenbarem Widerspruch mit dem Begriff der Verantwortlichkeit; dann könnten wir aber nie auf die Hilfe eines Freundes z . B . rechnen. Nun beruht aber gerade die Sicherheit unseres sittlichen Bewußtseins, der Begriff, welcher die Gesellschaft zusammenhält, der Begriff von Treue und Glauben auf dieser Verläßlichkeit der Charaktere, also der Willensbeschaffenheit der Individuen derart, daß, nachdem sie in einer Reihe von Jahren von bestimmten Beweggründen getrieben handelten, diese Beweggründe fortfahren werden, ihre Herrschaft zu behaupten. So werden wir also zwischen der reinen metaphysischen Annahme Kants einen mittleren und rein empirischen Weg zu gehen haben. Hier wird ein Satz mit völliger Klarheit festgestellt werden können. Diejenigen, die die Annahme der Freiheit angreifen, berufen sich wohl darauf: wie könne man annehmen, daß jemand ohne Motiv handle? Für die Handlungsweisen der Menschen lassen sich stets Motive aufzeigen. Aber was ein Motiv ist, haben wir entwickelt: Es ist eine gegebene Vorstellung, welche eine Triebkraft in uns besitzt, vermöge deren sie uns als Ziel für eine Handlung oder eine Reihe von Handlungen vorschwebt. Nun ist ganz offenbar, wir haben in der Tat für unsere Handlungen Motive, und die Annahme der Freiheit hat mit der Leugnung, daß Motive unserem Handeln zugrunde liegen, gar nichts zu tun. Insbesondere hat Schopenhauer ein eitles Spiel getrieben, indem er dies Handeln ohne Motiv als Vogelscheuche hinstellte. Wir handeln also immer aus Motiven. Es kann geschehen, daß der bewegende Anreiz so geringfügig ist, daß er nicht zu unserem Bewußtsein kommt. Es geschieht zuweilen aufgrund eines psychologischen oder physiologischen Reizes. Hier erklärt es sich, wie es kommt, daß der Mensch in betreff gleichgültiger Dinge zu einer Entscheidung kommt, ob man mit dem rechten oder linken Fuße zuerst das Zimmer verlasse; es sind nur unmerkliche und geringfügige Reize psychischer oder physiologischer Natur, aber nicht eine Willkür, die uns bestimmt, sondern es liegt auch hierfür ein Grund vor. Wir handeln also immer aus Motiven. Demgemäß, der Historiker, der Psychologe hat immer freien Raum für diejenigen Operationen, nach welchen er für die Entscheidung der Menschen Beweggründe zu finden hat und einen kausalen Zusammenhang herzustellen. Der kausale Zusammenhang also, welcher darin liegt, daß Motive für die Handlungen vorliegen, der kausale Zusammenhang dieser Art, das Verhältnis der Modifikation, findet in unseren Handlungen ohne alle Frage statt. Aber Leibniz unterscheidet einmal: Die Beweggründe inklinierten die Menschen, aber sie necessitierten sie nicht: sie wirkten nur als Impuls. Das ist ein dunkler Ausdruck. Fragen wir uns, was in dem empirischen
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Stande unseres Bewußtseins denselben entspricht. Wenn wir uns entscheiden in irgendeiner großen Krisis unserer Existenz für eine bestimmte Richtung unseres Handelns, eine andere Richtung desselben abzuweisen, alsdann liegt selbstverständlich für diese Handlungsweise eine Reihe von Motiven und Überlegungen vor. Selbstverständlich war ein Prozeß vorhanden, in welchem die möglichen Ziele, das, was erreicht würde, auf dem einen oder anderen Wege gemessen wurde an dem Bedürfnisse unseres Selbst. Diese möglichen Ziele waren Motive. Wir maßen, wenn wir den Weg einschlagen. So würden wir etwas Gegebenes erreichen, etwas anderes auf einem anderen Wege, auf dem dritten wieder etwas anderes, und nun maßen wir das, was wir erreichen auf dem Wege a oder b oder c, an den wirklichen und wahrhaften Bedürfnissen unserer selbst. Doch nicht so einfach stellte sich dann die Sache, wenn wir in die Tiefe unseres Selbst zurückgingen, aus ihm Entschlüsse zu schöpfen suchten oder einen wichtigen Moment unserer Existenz. Eine Art von Anstrengung und Kampf entwickelte sich, und aus ihm erst entsprang das Resultat. Wenn wir dies Schema ins Auge fassen, so liegt ein Vorgang der Motivation (?) vor, aber keine Empirie und kein Schlußverfahren vermögen die Stärke der einzelnen Motive, welche in uns kämpften, abzumessen und demgemäß festzustellen, daß wir in der Tat dem stärksten Motive gefolgt seien. Es gibt gar keinen empirischen Grund, keinen Grund der wissenschaftlichen Reflexion für die Behauptung, alle diese Beweggründe in uns hätten eine meßbare und quantitative Macht. Und derjenige Beweggrund, welchem das stärkste Q u a n tum von Kraft innewohne, überwiege in uns nach dem Gesetz der Mechanik. Es gibt gar keine Erfahrung und keine Ratio, welche uns zwänge, eine solche Annahme zu machen. Auch kann hier nicht das Gesetz des zureichenden Grundes als eine solche Ratio angewandt werden. Dies Gesetz besagt zwar, daß für eine jede Veränderung ein zureichender Grund angenommen werden müsse, es besagt aber über das rein Mechanische in dem Wirken in der Kombination dieser der Erkenntnis gegebenen Gründe gar nichts. Ebensowenig kann behauptet werden, daß in dem Begriffe der realen Ursache ein Zwingendes läge. Denn dieser Begriff ist ja eine bloße Abstraktion aus dem Erlebnis unseres Willens. Demgemäß werden wir sagen können: Es gibt keine unmotivierten Handlungen, es gibt ferner keine Handlungsweisen - und darin hat Spinoza vollständig recht - , welche durch bloße Vernunft dirigiert würden. Nichts ist törichter als die Annahme, daß der Vernunft als solcher eine Fähigkeit beiwohne, unsere Handlungen zu regeln. Unser Handeln also verläuft immer nach Motiven, und Motiv ist nur, was eine Willensmacht in uns ist. Die Quantitätsverhältnisse aber, welche zwischen diesen Motiven herrschen, sind empirisch gerade so wie alle anderen psychischen Quantitätsverhältnisse einer Messung gar nicht zu unterwerfen. Ist dies
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der Fall, so kann auch das Individuum selbst unter gar keinen Umständen ein Bewußtsein davon haben, ob es quantitative Gründe für sich hatte und dem stärksten folgte oder welcher sonst der Vorgänge in ihm war. Eine solche nachträgliche Kenntnis kann man nicht haben, da wir weder in noch nach dem Akt die einzelnen Willensimpulse zu messen imstande sind. Nun aber liegt gerade in der Auffassung dieser Intensität das Problem der Freiheit des Willens. O b man stetige Größen annimmt und eine überwiegende Größe (?) oder ob man Willensfreiheit annimmt, Veränderlichkeit des Gewichtes der Motive aufgrund der Macht unseres Selbst, dieses dependiert ausschließlich von der Auffassung, die man von den Stärkeverhältnissen der einzelnen Willensimpulse in unserem Inneren hat, und da darüber keine Erfahrung existiert, so kann von einer empirischen Lösung des Problems ebensowenig die Rede sein als nach dem Schema, daß aus stetigen Ursachen stetige Wirkungen folgen. So liegt denn gar kein Grund vor, die Freiheit des Willens in diesem wohlverstandenen Sinne zu leugnen, in welchem sie keineswegs eine Motivlosigkeit unserer Handlungen in sich schließt. Weder die Empirie noch die festen Wahrheiten der Philosophie enthalten eine Instanz gegen die Annahme einer Freiheit des Willens, wie sie als Postulat unseres sittlichen Bewußtseins aufgefaßt werden kann. In dem sittlichen Bewußtsein und in der metaphysischen Weltansicht kann allein eine Begründung der Annahme der Freiheit des Willens gesucht werden. In der Empirie ist weder ein Grund dafür noch dagegen. Dies ist der Grund, aus welchem die Freiheit des Willens dem Streit unterlegen hat. Wäre sie eine Tatsache, die nur aufgefaßt zu werden braucht, um außer allem Streit in bezug auf ihre Fassung zu sein, so stünde die Sache einfach genug. Nun ist ohne alle Frage, daß wir uns frei fühlen, daß wir ein deutliches Bewußtsein haben, daß diejenigen deterministischen Äußerungen, welche auf dem Gebiet der Natur herrschen, nicht in unserem Bewußtsein herrschen. Aber dementsprechend haben auch irgendeine Art der Freiheit des Willens sich die meisten Denker zu reservieren gesucht. Selbst Spinoza spricht von einer causa libera, und diejenigen, welche als die Hauptvertreter einer deterministischen Ansicht betrachtet zu werden pflegen, wie Herbart, auch diese haben nur den Anspruch gemacht, die Freiheit des Willens in einer ganz bestimmten Weise zu begründen. Wenn aber auch alle hervorragenden Forscher einig sind, daß wir frei sind, so kann doch dies nicht durch die empirische Untersuchung festgestellt werden. Die besondere Natur der Freiheit des Willens, eine Fassung, nach welcher dieselbe leicht verständlich für uns würde, ist eine Sache der Spekulation.
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IV. 1 5 9 A B S C H N I T T : Die Vorgänge, welche dem in dem Bewußtsein verlaufenden psychischen Akte zugrunde liegen 160 [§] 1. D i e E m p f i n d u n g . A l l g e m e i n e E i g e n s c h a f t e n d e r E m p f i n d u n g Diese entspricht einem Reize. Im Augenblicke der Empfindung aber können wir unmöglich den Vorgang in unserem Nervensystem wahrnehmen. Das Heben von Gewichten ergibt, daß die Quantität des Gewichtes resp. die Verschiedenheit derselben keineswegs ganz konform 1 6 1 der Intensität der Empfindung des Druckes sei, sondern hier ein komplizierteres Verhältnis stattfinde. Experiment Webers. 1 6 2 Solche Experimente betreffen immer nur das Verhältnis des Reizmittels zu unserer Empfindung, niemals aber das Verhältnis des physiologischen Vorganges zur Empfindung. Die dem Forscher zu Gebrauch stehenden Experimentmittel sind also beschränkt. Wir können nunmehr auch einen umgekehrten Weg einschlagen. Wir nehmen ein Tier und verletzen einen Teil desselben, seines Nervensystems, wenden daran verschiedene Experimente. Wir können nun die physiologischen Wirkungen vergleichen mit den Gebärden des Tieres und ein Verhältnis feststellen; wir vermuten einen entsprechenden Empfindungsvorgang. Allein, von diesen psychischen Folgen haben wir am Ende doch nur schwache Vermutungen. Wir können nicht einmal feststellen, ob ein enthauptetes Tier Empfindung habe oder nicht. Wir haben noch einen anderen Weg. Wo die Natur gewisse bestimmte Verletzungen hervorgebracht hat, . . . Aphasie, Sprachlosigkeit oder Vermischung von Worten bei Nervenkrankheiten, selbst bei vollkommen vorhandener Verstandeskraft, Erscheinungen, die sich mit gewissen physiologischen Krankheitserscheinungen zusammenbringen lassen. Welche Art von Schlüssen können wir nun aus diesen Tatsachen ziehen? Alle Wahrnehmungsvorgänge lassen sich in drei Klassen zerlegen: 1) Ein äußerer Vorgang, Bewegungs- oder chemischer Vorgang; dieser ist für uns erkennbar nach bestimmten Gesetzen. 2) Ein Vorgang innerhalb unseres Körpers, der durch Mitteilung von Bewegung oder chemischer Veränderung möglich wird, bis er an das Nervensystem herantritt. Dieser Vorgang läßt sich in drei Stadien betrachten: 1) Endapparat, 2) Uberleitung in den Nervenstrang bis 3) in das Gehirn. 3) Ein psychischer Vorgang. Auch dieser unterliegt wieder manchen Zweifeln und Hypothesen. Man sollte meinen, da dieser Vorgang mit Bewußtheit verläuft, er auch ganz bewußt sein werde. Bei der Annahme unbewußter Vorstellungen kann man annehmen, daß wir nur das Resultat des psychischen Vorganges wissen, nicht aber die unbewußt verlaufenen Vorbereitungen. N u r bei Nichtannahme von unbewußten Vorstellungen müssen wir den psychischen Vorgang ganz erkennen können, während alsdann das uns nicht Bekannte im physiologischen Vorgang zu finden [ist]. In jenem Falle haben wir ein treffliches Hülfsmittel, von dem dann Herbart einen
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ausgebreiteten Gebrauch gemacht habe zur Erklärung von Assoziation, Verschmelzung etc. Die Anhänger [?] von Wundt erklärten damit die unbewußten Schlüsse, d. i. eine nicht bewußte Leistung, die im Grunde äquivalent ist der Natur einer physiologischen Wirkung. Ich gewahre nämlich einen Körper, er befindet sich in meinem Sehraum, d. i. projiziert, d. i. er befindet sich jenseits meines Auges. Wie k o m m t es, daß ich das Bild jenes Körpers, das doch in meinem Gehirn ist, an jene Stelle hin versetze? Ich schließe: In mir ist eine Affektion, eine Wirkung nicht von mir, sondern von etwas anderem außer mir, und zwar in einem gewissen Verhältnisse zu anderen Körpern, die mich ebenfalls affizieren. Diese Leistung hat nur den Wert eines Schlusses, und zwar haben wir es also hier mit einem unbewußten Schlüsse zu tun. Diese Theorie ist von H e l m holtz und Wundt aufgestellt worden. Ich kann nun die Wahrnehmung jenes Körpers teilen und vollziehe einen Vorgang der Analyse, der auf dem Grundsatze beruht: „Was ich in meiner Empfindung isoliert besitzen kann, ist auch auf ein isoliertes Empfindungselement zurückzuführen." Die Entfernung, in der ich den Körper setze, täuscht. D e r Blindgeborene würde glauben im plötzlichen Augenblick der Erlangung der Sehkraft, daß jener seine Netzhaut berührte. Die Entfernung also liegt nicht in den elementaren objektiven Tatbeständen des K ö r pers, sie ist ein Erwerb, der später hinzugekommen; er ist perspektivisch gesehen worden. E s bleibt übrig die Extension, die Intensität und Qualität. 1 6 3
Die 164 einfachsten Erscheinungen des Seelenlebens erfassen wir nur durch Schlüsse, ganz so, wie wir die einfachsten Tatbestände der Natur nur durch ein spekulatives Schlußverfahren begreifen, aber in Wirklichkeit nicht gewahren. So wenig als die Wirklichkeit unseren Augen Atome darbietet, so wenig bietet unsere innere Erfahrung die einfachen psychischen Tatsachen, und so sind wir denn an inneres und äußeres Experiment und an Schlußverfahren gewiesen, um in betreff dieser einfacheren Tatsachen Einsicht zu gewinnen. Wir finden in unserem Gedankenlaufe, wie Vorstellungen sich verknüpfen und sondern, und hier liegt ein erstes Experiment. Wir sind aber dann auch imstande, physiologische Experimente vorzunehmen, und zwar ist nun das merkwürdige Grundverhältnis, daß wir in Leib und Geist zwei Beobachtungsfelder besitzen, von denen immer nur dann das eine eröffnet ist, wenn das andere uns so gut als verschlossen ist. Wenn die innere Wahrnehmung und die Erinnerung der Zustände bei uns tätig ist, dann können wir den Nerven nicht beobachten in seiner Funktion, und wenn wir in der Lage sind, den Nerven zu untersuchen, alsdann können wir ein Bewußtsein der Wahrnehmungs- und Empfindungsakte, welche diesen Nervenvorgang begleiten, nicht haben. 165 Die einfachsten Eigenschaften der Empfindungen, welche wir uns vergegenwärtigen. Die Empfindung entspricht dem Reiz, sie steht in einem gesetzmäßigen Verhältnis zu demselben. Nun möchten wir wohl dieses Verhältnis studieren, und der ganze Abschnitt, in welchen wir eintreten, beruht auf einer Herstel-
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lung von Beziehungen zwischen der wechselnden Natur der Reize und der Natur der Empfindungen. Jedoch reicht keine direkte Methode zu einem Verfahren solcher Art zu. Denn gegeben ist uns in unserer inneren Wahrnehmung die Empfindung. Wenn wir sie aber haben, haben wir nicht in demselben Augenblick die Kenntnis von dem Zustande unseres Nervensystems, denn die Veränderungen, welche in diesen Nerven vorgehen, können wir keinem Studium unterwerfen zu derselben Zeit, in welcher wir der Empfindung gewahr werden, die diese Nervenvorgänge begleiten. Dies ist unmöglich, da es unmöglich ist, an uns selber Versuche zu machen, welche über die allereinfachsten Formen von Wechsel mit der Natur äußerer Reize hinausgehen. Alle Versuche, welche wir an uns selbst machen in bezug auf die Beziehung der Empfindung zu den physiologischen Vorgängen, alle diese Versuche müssen ein Stadium auslassen, den Vorgang im Nerven, und an die Stelle desselben einen andern Tatbestand setzen, den äußeren Reiztatbestand, der herangebracht wird an das Nervensystem, nicht [den], der sich vollzieht im Nervensystem. So können wir also z . B . die Empfindung von Gewicht und Druck messen, indem wir Gewichte heben und die uns bekannte Größe derselben mit der Empfindung vergleichen, welche dieser Größe korrespondiert. Man kommt auf diese Weise zu einem merkwürdigen Satze, daß „keineswegs in einer einfachen Proportion mit dem Wachstum der Schwere des Gewichtes auch die Druckempfindung wächst, daß vielmehr die Beziehung, die zwischen diesem Reiz und der Empfindung besteht, noch eine viel verwickeitere ist als die einer einfachen Proportionalität". 166 Beginnen wir mit einem Gewicht von 12 Pfund, nehmen darauf das von 6, darauf das von 3, alsdann sinkt die Druckempfindung nicht wie 12, 6, 3, sondern sie sinkt in geringerem Verhältnis. Solche Versuche können wir machen. Wir können dann z . B . die Nadel an die Haut bringen, Stellen berühren und sehen, ob wir die Stellen zu unterscheiden vermögen, wenn wir das Auge schließen. Auch das untersuchte Weber, welcher davon ausging, das Auge schließend, seine Hand vor sich hinzulegen und dann Stellen mit einer Nadel zu berühren. Er fand, daß die Entfernungen der berührten Stellen, innerhalb deren eine Empfindung eintritt, keineswegs an allen Teilen des Körpers einander gleich sind, daß also die Empfindungskreise, d. h. diejenigen Kreise, innerhalb deren eine verschiedene lokale Empfindung nicht stattfand, von einer mannigfachen Größe sind, wenn man die gesamte Hautumgebung des Körpers auf diese Weise untersuchte. 167 Fragen wir uns also, wieweit diese Untersuchungen tragen, die der Forscher an sich selber vornehmen kann. Sie168 betreffen nie die Beziehungen eines physiologischen Vorgangs zu einem psychologischen, sondern immer nur die
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Beziehung einer Reiztatsache zu einem psychologischen Vorgange. Sie betreffen also immer nur das Verhältnis der herangebrachten Reize, nie aber das Verhältnis des physiologischen Vorgangs zu dieser Empfindung. Wenn wir nun annehmen, daß der physiologische Vorgang dem physischen außer uns proportional ist, alsdann können wir den physiologischen anstelle des physischen setzen. Dies geschieht aber doch nur durch eine an sich nicht demonstrierbare Hypothese. So eng sind also die Mittel der Untersuchung, innerhalb derer wir direkterweise an uns selbst mit unserer Empfindung ein Präzedens dieser Empfindung vergleichen. Wir können nie das physiologische Präzedens vergleichen, immer nur das Reizpräzedens mit dem psychischen Vorgange selbst. Und was können wir dann? Wir können nur einen umgekehrten Weg gehen. Wir können nur anderes lebendes Wesen vernehmen, und da wir uns gestatten, Tieren Verletzungen 169 künstlich beizubringen, um die Folgen derselben für das Physiologische und Psychische an ihnen zu studieren, so können wir an Tieren Teile des Nervensystems bloßlegen, oder wir können heftige Reize an sie heranbringen, oder wir können Teile ihres Nervensystems durch gewaltsame Eingriffe verletzen, wie es die frühere Methode machte, durch Einschnitte, wie es die jetzige macht, durch chemische Verletzung. Als Äußerungen der Folgen haben wir nur die körperliche Bewegung. Wir können also vergleichen diese physiologischen Tatbestände mit den Gebärden des Tieres unter Voraussetzung, daß diese Gebärden einen bestimmten Empfindungswert für uns ausdrücken, und so können wir ganz umgekehrt bei uns selber verfahren. Während bei uns das klar Gegebene die Empfindung war und der physiologische Vorgang nur vermöge des Reizvorganges einigermaßen vorgestellt werden konnte, so gehen wir bei dem Tiere von dem Vorgange aus und vermuten dazu eine Empfindung; aber freilich, ein solches Verfahren ist sehr schwierig in bezug auf den letzten Teil. 170 Wohl können wir etwa die vier Hügel im Gehirn eines solchen Tieres oder irgendeinen andern Teil durch einen chemischen Eingriff in einer ganz bestimmten Weise verletzen, wir können uns also ein ganz klares Bild des Eingriffs machen, aber von den psychischen Folgen desselben haben wir nur ein vermutungsweises und wenig plausibles Bild, und so weit gehen die Vermutungen auseinander in bezug auf diesen, daß z . B . die Frage auftauchen könnte, ob der enthauptete Frosch noch Empfindungen habe und Antriebe oder ohne solche sei. Aus den ungestümtesten Bewegungen eines solchen Tieres können wir immer noch keinen Schluß ziehen; sowenig sind wir imstande, uns auf diesem Wege, indem wir von dem Tier ausgehen und seine Verletzungen und Gebärden vergleichen, einen Schluß zu machen. Es bleibt uns wiederum noch ein anderes Feld. Wir haben allerdings insbesondere gegenüber den merkwürdigen Tatsachen der Aphasie uns eines Mittels
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zu bedienen gelernt. Da wo die Natur selbst in der Erkrankung des Nervensystems Verletzungen einer bestimmten Art hervorgerufen hat, können wir an dem Menschen die psychischen Folgen solcher Verletzungen studieren. 171 Die Untersuchung der Leichen gestattet uns, die Art der Verletzungen ganz deutlich aneinanderzuhalten mit dem psychischen Zustand, welcher in Beziehung zu dieser Art der Verletzung stand. Es gibt ζ. B. eine freilich aus vielen Tatbeständen zusammengesetzte Gruppe von Erscheinungen, welche zusammengefaßt werden unter dem Ausdruck der Aphasie. Es ist dies nicht das völlige Unvermögen zu sprechen, wohl aber Hemmung größeren oder geringeren Charakters. Es enthält beinahe eine jede Klinik Fälle solcher Erkrankungen in ihrer Abteilung für Nervenleidende. D a gewahrt man Menschen, welche wohl imstande sind, ζ. B . ein Schachspiel mit Verstand zu Ende zu führen, welchen aber das Wort versagt für die einfachsten Dinge, welche Wortvertauschungen dafür eintreten lassen, deren Lexikon auf 10, 12, 14 Worte zusammengeschmolzen ist. Das sind also solche Fälle, in denen wir die Beziehungen zwischen physiologischen Veränderungen (denn es zeigt sich in der Tat, daß ganz bestimmte Abänderungen im Zentralapparat mit dieser Erkrankung zusammenhängen) mit ihren psychischen Wirkungen verstehen. So bilden wir uns ein eng umschränktes Gebiet von Versuchen, durch welche wir den rätselhaften Beziehungen der einfachsten psychischen Elemente, der Empfindung, [der] Vorstellung, mit den physiologischen Vorgängen nachzugehen versuchen. Fragen wir nun, wenn unsere Mittel so beschränkt sind für diesen Umkreis, welche Art von Schlüssen - wie denn die Wissenschaft bis jetzt überhaupt in bezug auf die Erklärung der im Bewußtsein scheinbar einfachen gegebenen Elemente, die aber zusammengesetzt sind (?) - möglich sind. 172 Gehen wir aus von den einfachsten Tatbeständen. Alle Wahrnehmungsvorgänge lassen sich zergliedern in drei Gruppen von Tatsachen: Es ist [1.] ein äußerer Vorgang, welcher sie einleitet, ein Vorgang, den wir nur kennen durch die naturwissenschaftliche Abstraktion und den wir schließlich fassen als den Bewegungs- oder chemischen Vorgang. Dieser Vorgang ist für uns nach seinem Bewegungsgesetze und nach seiner Form erkennbar, und so dringt an die Pforte unserer Sinnesorgane die Bewegung, die den Äther durcheilt, so dringen an sie heran die massiveren Bewegungen der Wärme, die anderen Bewegungsvorgänge, jene chemischen Veränderungen, welche sich uns als Geschmack oder Geruch kundtun. Sie alle wirken auf diese Umkleidung unseres Körpers, sie alle sind für uns faßbar durch die naturwissenschaftliche Untersuchung, sie alle stellen ein erstes Stadium der Vorgänge vor, um welche es sich hier handelt. Es folgt auf diesen Vorgang der Außenwelt ein Vorgang innerhalb unseres
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Körpers, 173 und zwar wird dieser eingeleitet durch eine Mitteilung der Bewegung oder [eine] chemische Veränderung durch die äußere Umkleidung bis da[hin], wo der Vorgang an die Endigung des Nervensystems selbst herantritt. Sich verzweigend breiten sich diese Nerven aus, und da, wo sie in ihren Endapparaten verlaufen, da werden sie getroffen von jenen Reizen, die von der Außenwelt auf sie einwirken, und wo sie getroffen werden, sind es mehr oder weniger künstliche Apparate, durch welche das Nervensystem diese Reize erst sondert, klärt, bevor es sie weiter mitteilt. Der Vorgang innerhalb des Organismus läßt sich alsdann in einer Kette von drei Gliedern betrachten. Der Endapparat bildet das erste Glied, in ihm wird die erste Leistung vollbracht, bei Auge und Ohr eine höchst komplizierte und künstliche. Der Endapparat setzt sich alsdann als Nervenkombination fort in jenem Nervenstrang, welcher zu der Endigungsstelle im Gehirn verläuft, und an dieser Stelle haben wir dann die drei Partien des physiologischen Vorganges. Er verläuft also durch denjenigen Endapparat, welcher sich nach außen streckt, durch die Leitung, welche im peripherischen Nervensystem vorliegt, und in dem anderen Endapparate, welcher das Zugeleitete im Gehirn verarbeitet. Über den physiologischen, den zweiten, wissen wir in bezug auf seine besondere Natur nur dasjenige, was zuerst in den Untersuchungen von Du BoisReymond ausgebildet, 174 dann über den elektrischen Vorgang gesagt werden kann, welcher anschwellend und wachsend in den Nerven selber verläuft. Auch der dritte Vorgang, 175 ob man gleich glauben sollte, er wäre in unserem Bewußtsein gegeben, unterliegt doch in bezug auf seinen Verlauf den Vermutungen, Zweifeln und Hypothesen der Wissenschaft. Man könnte denken, dieser Vorgang sei nur als ein bewußter vorhanden. Wenn ich annehme, es gibt keine unbewußten Vorstellungen, so muß ich auch annehmen, daß der Vorgang, in welchem wir einen Eindruck empfangen, in unserem Bewußtsein einfach und direkt gegeben sei. Wenn ich aber annehme, daß es unbewußte Vorstellungen gibt oder solche wenigstens von minimalem Bewußtseinsgrade, alsdann ist es möglich zu denken, daß von den psychischen Vorgängen nur derjenige Teil bekannt ist, der im Bewußtsein verläuft, daß aber ein anderer verläuft, der unbewußt diesem vorhergeht. Dann können wir annehmen, daß wir nur das Resultat dieses psychischen Vorganges besitzen und daß die Vorbereitungen in dem Unbewußten verlaufen. 176 Aber wie entsteht nun psychisch dieses Wahrnehmen? Gäbe es Vorstellungen geringsten Bewußtseingrades, alsdann haben wir an der Annahme dieser unbewußten Vorstellungen ein höchst ausgiebiges Mittel, zwischen den physiologischen Vorgängen und den uns bewußten Wahrnehmungsvorgängen Zwischenglieder einzuschieben. Wir dürfen annehmen, daß zwischen den physiologischen Vorgängen und dem Entstehen der Wahrnehmung ein Vor-
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gang sich vollziehe, welcher sich hieraus erklären kann. In diesem Zwischengemach zwischen den physiologischen Vorgängen und den bewußten psychischen können wir dann alles Unerklärliche hinauswerfen, welches wir weder aus dem physiologischen Prozeß aufzeigen noch in dem uns bewußten psychischen Akte entdecken können. Dieses Hilfsmittels haben sich denn auch die gegenwärtige Physiologie und Psychologie in der ausgiebigsten Weise bedient in zwei Richtungen: indem die Herbartianer davon ausgingen, in dieser dunklen Zwischenkammer befinden sich Assoziations- und Verschmelzungsprozesse, dagegen die Schule von Wundt und Helmholtz annahm, in dieser dunklen Zwischenkammer befinde sich das, was sie unter unbewußten Schlüssen verstehen. Sie verstanden darunter denjenigen psychischen Vorgang, welcher sich nachträglich von uns in der Gestalt eines Schlusses darlegen läßt, welcher also den Erkenntniswert eines Schlusses hat oder dessen Leistung äquivalent (mit) einem Schlüsse ist. Demgemäß verstehen sie unter dem, was in diesem Zwischenstadium vorgeht, eine unbewußte, rein psychische Leistung, welche in ihrem Ergebnis äquivalent ist einem Schlüsse aus der Natur der physiologischen Affektion, welche als Wirkung angenommen wird, auf eine Ursache dieser Wirkung. Ich betrachte eine Lampe, sie befindet sich in meinem Sehraume, und zwar projiziert, d. h., sie ist jenseits der von uns in dem Spiegel wahrnehmbaren Augen (?). Wie kommt man aber nun dazu, daß die Seele einen Zustand, der an den Endigungsstellen des Augennervs, also innerhalb des Gehirns sich befindet, diesen Zustand verlegt an diese Stelle? Das Bild der Lampe ist doch von der Seele entwickelt aufgrund des Affektionszustandes in dem Gehirn; der körperliche Vorgang also, der überhaupt stattfindet, findet sich in den Endigungen. Was tut nun die Seele? Sie gibt ein Bild jenseits des Körpers an einer entfernten Stelle; also gewissermaßen hinausgeworfen sind diese Bilder. Wie sollen wir uns nun erklären, daß sie projiziert sind? Bleiben wir bei der Annahme der unbewußten Schlüsse; die Affektion ist da. Diese Affektion wird Anlaß der Bearbeitung für das psychische Leben. In welcher Art? Die H y p o these sagt nun so: Alle solche Affektionen betrachtet unsere Seele jederzeit als Wirkungen, zu denen sie die Ursachen hinzukonstruiert, und in dem Einfallswinkel der Strahlen, die das Auge treffen, konstruiert sie an einer bestimmten Stelle nach bestimmten optischen Gesetzen jene Lampe, also ganz so, als ob sie einen Schluß vollzogen hätte. Die Leistung der Seele hat also den 177 Schlußwert, welchen auch ein Schlußverfahren haben würde. Diese Leistung ist aber unbewußt, und so wählt diese Schule den verkürzten Ausdruck „unbewußte Schlüsse" für ein solches Verfahren, in welchem die Seele der Affektion in einem bestimmten Teile des Gehirns gewahr wird und die Ursache dafür konstruiert. Dies ist eben die Theorie von Wundt, Helm-
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holtz und anderen. Ich kann also entweder annehmen, in dieser Zwischenkammer verläuft die Vorbereitung des Wahrnehmungsresultates, oder ich kann annehmen, diese Vorbereitungen sind begründet in unserer physiologischen Organisation. Fassen wir, noch einen Schritt weitergehend, diese Wahrnehmung ins Auge. 178 Wir nehmen die Lampe wahr, wir sagen uns aber sofort: man kann diese Wahrnehmung teilen. Man kann das Weiße derselben verdecken, ja eine Einrichtung treffen, nach welcher nur ein kleinster Punkt derselben beleuchtet wäre und alles andere im Dunkeln [bliebe]. Da, wo die Farben verschieden sind, da, wo die Lichtintensität hier heller, hier weniger hell ist, da habe ich ganz verschiedene psychische Tatbestände. Wir schließen daraus: Diese Wahrnehmung der Glocke ist selbst in bezug auf die bloße Farbenempfindung und Intensität und Ausdehnung etwas Zusammengesetztes. Man vollzieht also zunächst einen Vorgang der Analyse. Diesem Vorgang liegt zugrunde ein allgemeiner Satz, er gibt ihm erst sein Recht und seine Bedeutung. Er lautet: „Was ich in meiner Empfindung isoliert besitzen kann, das ist auch auf ein isoliertes Empfindungselement zurückzuführen." Uberall da, wo ich eine Unterscheidung machen kann, von dem einen absehend und das andere gewahrend, da besitze ich auch einen unterschiedenen Bestandteil meiner Empfindung. Wenn ich nun meine Wahrnehmungen ansehe auf ihr ganz elementares Substrat und aus ihnen absondere alles das, was mein Verstand augenscheinlich hinzutut, so bleibt übrig eine Verschiedenheit der Qualität, eine Verschiedenheit der Intensität der Qualität und eine Verschiedenheit der Extension derselben. Nimmt man diese drei, so wird man finden, daß alles andere aus Verstandestätigkeit erklärt werden muß und kann. Hier aber sind Elemente, mit welchen diese Verstandestätigkeit arbeitet. 179 Die Entfernung, in die man diese Lampe versetzt, täuscht. Sie erscheint unter verschiedenen Bedingungen verschieden. Dem Ungeübten erscheint sie anders als dem Geübten. Daraus schließt man, daß der Vorgang, durch welchen man der Lampe in bestimmter Entfernung gewahr wird, daß dies ein Verstandesvorgang, ein nachträglicher Erwerb ist, nicht aber eine primitive Ausstattung des einfachsten Wahrnehmungsprozesses selbst. Was liegt nun in diesem Vorgange in seiner primitivsten Gestalt eingeschlossen? Die Lokalisation liegt nicht darin, sie ist für den Blindgeborenen, wenn er zu sehen beginnt, noch nicht da; diese Abmessung ist eben ein Erwerb unseres Sehens vermöge der Erfahrung und des Verstandes, welcher die Erfahrung zu benutzen versteht. Daß die Lampe perspektivisch gesehen wird, läßt sich nun darauf zurückführen. Was bleibt alsdann übrig? Das Ausdehnungsbild dieser Lampe, und dies ist nichts anderes als die Extension der qualitativen Empfin-
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düngen, deren Summierung die Lampe ist. Das sind die elementaren Besitztümer unseres Gewahrwerdens. Wir unterscheiden also die Qualität, die Intensität und die Extension an den Empfindungen. Diese Bestimmtheit, welche den letzten Elementen unserer sinnlichen Wahrnehmung beiwohnt, bleibt zurück, wenn wir auch von all dem, was die verstandesmäßige Auslegung hinzufügt, absehen. Ich verlege den Gesichtsausdruck, den ich von jemandem habe, an eine bestimmte Stelle im Räume; ich sehe die Gestalten perspektivisch, ich schreibe ihnen eine gewisse Höhe, Breite usw. zu, dies alles tue ich nicht vermöge des elementaren Vorganges in mir, sondern vermöge der Auffassung dieses elementaren Vorganges. Von diesem allem kann ich auch abstrahieren, wie einfach daraus hervorgeht, daß ich annähernd Eindrücke haben kann, in welchen dieses alles nicht stattfindet. Der am meisten exakte Beweis dafür, daß nur diese angegebenen elementaren Eigenschaften der Wahrnehmung ihr ursprünglich beiwohnen, der Qualität, der Intension und einer örtlichen Bestimmtheit, dieser Beweis liegt in der Tatsache, daß Blindgeborene, wenn sie zum Sehen gelangen, nicht imstande sind, die Dinge (wie bereits oben bemerkt) an einen bestimmten Ort jenseits ihrer zu verlegen, sondern glauben, daß Berührungen mit ihren Augen stattfänden, und es entstehen flächenhaft sinnliche Eindrücke gewissermaßen unmittelbar an ihren Augen. N u r sehr allmählich gewöhnen sie sich, im Räume und unter den Erscheinungen sich [zu] orientieren, Entfernungen festzustellen und zu messen. Daraus geht mit Sicherheit hervor, daß dem Menschen die Verlegung eines Gegenstandes an einen bestimmten Ort innerhalb des Raumes in einer bestimmt abgemessenen Entfernung seiner Naturanlage noch nicht zukommt, daß es also der Erwerb der Erfahrung ist, vermöge dessen wir eine solche Einsicht allmählich erlangen. Fassen wir nun das Verhältnis dieser Wahrnehmungselemente zu einem Reiz, 180 der sie hervorruft, ins Auge, so sind es Reize sehr mannigfacher Art, welche hier zugrunde liegen. Doch wollen wir dieselben in eine Art von Klassifikation bringen. Die Empfindungen entspringen ^entweder aus peripherischer Reizung oder aus einer zentralen Reizung, d.h., entweder ist es das peripherische Nervensystem oder das zentrale, das affiziert wird. Beginnen wir mit ersterem, als dem am meisten normalen und am häufigsten vorkommenden Falle, der auch für unser geistiges Leben die größere Bedeutung hat. Empfindungen pflegen wir anzusehen, als entstünden sie dadurch, daß eine peripherische Stelle gereizt wird, daß also jene Verzweigungen der sensiblen Nerven, welche aus jenen zentralen Strängen heraustreten, einen Eindruck empfangen. Diese Empfindungen aus peripherischer Reizung wollen wir ins Auge fassen, und wenn wir die Empfindungen im weitesten Sinne nehmen, so daß Gefühle miteinbegriffen werden, so können diese zweierlei
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Art sein: Es können entweder peripherische Sinnesempfindungen sein, d. h. Affektion jener einzelnen Endapparate durch von außen eindringende Reize, oder es können innere Zustände der Apparate sein, welche sich [in] unbestimmten schwankenden Empfindungen äußern. Wir können also eine Empfindung im Auge haben dadurch, daß Licht eintritt, oder dadurch, daß ein Zuströmen von Blut dahin stattfindet, eine Uberfüllung der gerade hier so reichlich vorhandenen Blutgefäße und infolge davon unbestimmte farbige Eindrücke [auftreten], wohl auch Schmerzgefühle. Die andere Möglichkeit ist die, daß man eine Empfindung hat aufgrund dessen, was die moderne Psychophysik als eine zentrale Reizung bezeichnet. Es sind dies die Empfindungen, welche entsprechen einer Anreizung des Zentralapparates. Hierher werden wir zunächst zu rechnen haben jene phantastischen Gesichtserscheinungen, welche in so großer Mannigfaltigkeit auftreten in kranken wie in anscheinend normalen Zuständen der Individuen. Hier findet eine Reizung jener Stellen im Gehirn statt, welche als Endigungspunkte der Leitungsbahnen des betreffenden Sinnesnerven angesehen werden oder welche in einem Zusammenhange mit solchen Stellen stehen. Daher derjenige, welcher durch ein Gehirnleiden eine starke Uberfüllung der Gefäße einer bestimmten Partie des Gehirns mit Blut hat, welche mit den Endigungsstellen der Gesichtsnerven zusammenhängen, Gesichtserscheinungen hat, während Ohrensausen und die Vermutung, Töne zu hören, da eintritt, wo die Endigungspunkte der Gehörleitungsbahnen in Frage kommen usw. Eine andere Klasse von Empfindungen, welche aus zentralen Reizungen entspringen, sind jene Innervationsempfindungen, welche ein Ausdruck der Tatsache sind, daß von unserem Zentralapparate aus ein Antrieb hingeht durch die Vermittlung eines motorischen Nervs an einen Muskel. Gesetzt also, im Zustand der Ruhe plötzlich aufgerufen, erhebt man sich vom Stuhl, so ist dieses Aufstehen verbunden mit Innervationsempfindung, d. h. der Empfindung, daß man einen Antrieb durch die motorischen Nerven an die Muskeln schickt, der eine bestimmte Stärke hat. Die Empfindung ist gewissermaßen die Stärke des Antriebes, welcher dem Muskel mitgeteilt werden soll. Hebe ich ζ. B. verschiedene Gewichte auf, alsdann sind die Innervationsempfindungen sehr verschieden in bezug auf die Stärke des Antriebs der Anstrengungen, welche der Muskel macht, wenn er 1 Pfund oder eine Anzahl von Pfunden aufhebt. So spielt eine wichtige Rolle in unserem Sehakte die Tatsache, daß wir, wenn auch noch so unmerklich, eine Empfindung davon haben, daß wir eine Wendung mit unseren Augen in einer bestimmten Richtung von einer bestimmten Stärke vornehmen. Wenn man das Auge so richtet, daß der Punkt des deutlichsten Sehens gerade auf einem entfernt stehenden Gegenstand sich befindet, wenn man auf diese Weise ein deutlichstes Sehen herbeiführt, alsdann
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hat man von derjenigen Wendung des Augapfels, die durch Hilfe der Muskeln geschah, eine Empfindung, natürlich nur als Anstrengung. Zu diesen Empfindungen können wir noch hinzunehmen jene dem Gefühle sich mehr annähernden Gemeingefühle, welche vom Rückenmark und Gehirn ihren Ausgang nehmen und ein gewisses Gefühl der Existenz uns mitteilen. Ein solches ist der Zustand der Ermüdung nach der Arbeit, der Zustand erster Frische. N u n sind es gar mannigfache Reize, welche herausdringend durch die Pforte der Sinne oder wirksam innerhalb des Organismus einen Nerven oder einen Zentralapparat affizieren und dadurch Empfindung hervorrufen. Diese Reize können wir uns ebenfalls nach ihren mannigfachen Gestalten folgendermaßen vergegenwärtigen: Es gibt, wenn wir die äußeren Vorgänge ins Auge fassen, welche als Sinnenreize wirken können, Vorgänge der mannigfachsten Art. 181 Sehr verschieden sind diejenigen äußeren Vorgänge, welche als Reize unserem Empfindungsleben dienen und sich in demselben abzuspiegeln imstande sind. Es sind solche Reize allgemeiner Art, welche auf alle Sinne zu wirken imstande sind. So der mechanische Druck oder Stoß. Ferner Elektrizität, Wärme, chemische Einwirkungen. Daneben gibt es dann besondere Reize, welche zu den einzelnen Sinnen eine besondere Beziehung eingehen. Sie sind „spezifische" Sinnesreize. Ein solcher ist das Licht für das Auge, der Schall für das Gehör, die chemischen Einwirkungen von Flüssigkeiten für den Geschmack, die chemischen Einwirkungen gasförmiger Körper für den Geruch. Fassen wir nun noch die Qualität der Empfindung ins Auge. 182 Es gibt qualitativ einförmige Empfindungen, 183 solche, welche nur eine Qualität in Intensitätsabstufungen gewahr werden lassen; so alle Organempfindungen, alle Gemeingefühle. Sie unterscheiden sich voneinander nur je nach den Organen, scheinen aber in jedem einzelnen Organ nur intensiv veränderlich zu sein. Alsdann Empfindungen der Haut für Druck, Wärme und Kälte, Innervationsgefühle der Nerven und Muskeln. Muskelgefühle sind dann solche, welche Zustände der Muskeln, z . B . der Ermüdung, bezeichnen, und zwar sind die Innervationsgefühle solche aus zentralen Reizungen, denn sie sind unabhängig von dem Zustande der Muskeln. Daneben stehen dann qualitativ mannigfache Empfindungen, jede Art von diesen besteht aus verschiedenen Qualitäten, welche aber in einer ähnlichen abgestuften Weise wie die Intensitätsgrade ineinander übergehen, so bei den vier Spezialsinnen. Die Qualitäten eines jeden dieser Sinne bilden eine stete Mannigfaltigkeit. Jedoch kann ein vollständiges Kontinuum innerhalb eines bestimmten Empfindungskreises nur hergestellt werden für die zwei höchsten Sinne, bei den anderen haben wir Übergänge in der Erfahrung, können aber eine eigentliche Anordnung nicht herstellen.
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Fassen wir nun ins Auge das Verhältnis, welches besteht zwischen der Natur des Reizes und der Natur der Sinnesempfindung. 184 Wir untersuchen also jetzt dieses Verhältnis. Wir beschränken uns dabei auf diejenigen Sinne, welche wirkliche Umkreise von Empfindungen besitzen, welche also die Natur der Reize in einem höheren Grade abzubilden und abzuspiegeln überhaupt imstande sein können. Es ist das Auge, Ohr, das Tastorgan insbesondere, dann die niederen Organe, welche einen bestimmten Umkreis von Empfindungen besitzen. Wie verhält sich nun die wechselnde Natur der Reize zur wechselnden Natur dieser Empfindungen? Die Antwort gibt die von Joh. Müller geschaffene Lehre von den spezifischen Sinnesenergien, wir meinen den Umkreis von Qualitäten, welche ein jeder Sinn umfaßt, angesehen auf die Ursachen. Müller hat im V. Buch seiner speziellen Physiologie der Sinne 185 gewissermaßen eine Philosophie derselben entworfen. Zuerst angeregt wurde er vornehmlich von Goethe, welchem das Verdienst zukommt, auf die Wichtigkeit derjenigen Lichterscheinungen seine Aufmerksamkeit nachdrücklich gerichtet zu haben, welche auf bloßen inneren Erregungen beruhen. Aufgrund dieser Beobachtungen von subjektiven Gesichtserscheinungen folgten 1819 und 1823 die Arbeiten von Purkinje, 186 welcher grade für diese Art von Beobachtungen ein ungemeines Genie besaß. Dann trat 1826 das Werk von Müller „Über die phantastischen Gesichtserscheinungen" hervor. 187 Hierauf baute sich sein 5. Buch der Physiologie. 1.)188 Der erste Fundamentalsatz: „Wir können durch äußere Ursachen keine Art des Empfindens haben, welche wir nicht auch ohne äußere Ursache in Form bloßer Zustände unseres Körpers unabhängig von der Außenwelt besäßen. Es gibt keine Klasse von Empfindungstatsachen, welche nicht ebensogut als durch einen von außen an den Körper herantretenden Reiz auch durch einen Zustand des Körpers herbeigeführt werden könnte." 189 So entsteht der widrige Geschmack sehr oft aus einer bloßen Nervenstimmung, ohne daß wirklich eine chemische Veränderung vorläge, welche durch einen von außen herangebrachten Reiz verursacht würde. Selbst Gerüche sind öfter beobachtet worden als infolge von krankhaften Nervenzuständen entspringend. Sehr bekannt ist dann aber, daß Gehöreindrücke oder das Wahrnehmen von Farben ebensogut die Folge von inneren Erregungen sein kann, als solche auftreten infolge der Anregung äußerer Objekte. 2.) 190 „Und zwar ruft ganz dieselbe Ursache in verschiedenen Sinnen auch verschiedene Empfindungen hervor." 191 Ich kann also von einer Ursache ausgehen, und dies ist eine Beobachtung von fundamentaler Bedeutung, und diese eine Ursache, wenn ich sie wirken
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lasse auf verschiedene Sinne, wirkt in denselben auf eine ganz verschiedene, diesen Sinnen gemäße, also ihrer spezifischen Energie entsprechende Art. Unter innerer Ursache verstehen wir eine Zuständlichkeit der Sinnesnerven, welche bedingt ist durch die Zustände des Organismus, nicht aber durch einen Reiz, welchen der Sinnesnerv von außen empfindet. Eine solche innere Zuständlichkeit ist vor allem die Häufung des Blutes bei allen subjektiven Zuständen. Sie ruft die Empfindung des Blitzes, des Sausens hervor, im Gefühl, in den Tastorganen schmerzhafte Gefühle usw. Aber dieselbe äußere Ursache kann in den verschiedenen Sinnen verschiedene Empfindungen hervorrufen. Unter äußerer Ursache verstehen wir jene allgemeinen Reize (die spezifischen Reize wirken ja nur auf einen Sinn), so ζ. B. ein galvanischer Strom ruft im Auge heftige Lichterscheinungen hervor, im Ohr Zischen und stoßweises Geräusch. Die Nase empfindet eine phosphorartige Geruchsempfindung, die Zunge säuerlichen Geschmack; so tritt dieser Reiz dem Tastsinn als Geschmack entgegen. Der Schluß liegt nun nahe: Es ist dieselbe Ursache, welche in fünffacher Gestalt nach der Zahl der Sinne Empfindungen hervorruft. Sie ruft also fünf Klassen von Empfindungen hervor. Wir haben also eine Ursache, und wir haben fünf Klassen von Wirkungen, wir können kontrollieren, was an diesen Wirkungen nicht auf die Ursache zurückgeführt werden kann. Zurückgeführt werden kann nicht auf die Natur der Ursache dasjenige, was in der Wirkung in den verschiedenen Sinnen auftritt. Eben dahin führt ein anderer Weg. Ich kann ja Lichterscheinungen im Auge durch ganz heterogene Ursachen hervorrufen, durch einen galvanischen Strom, einen Lichtstrahl, durch Anhäufung des Blutes usw. Das heißt also doch, es kann von der Tatsache, daß ich Licht, Farbe sehe, nichts begründet sein in der Natur des Reizes, weil nicht bloß der Lichtstrahl eine Lichtempfindung hervorruft, sondern auch der galvanische Strom, Anhäufung des Blutes, Druckes usw. Der Schluß ist deutlich und zwingend genug. Eine Lichtempfindung ist Wirkung. Ich frage, was von dieser Lichtempfindung in dem Reiz als Ursache gelegen sei, was dagegen gelegen sei in den Organen, innerhalb deren die Lichtempfindung stattfindet. Diese Frage beantworte ich: Nicht bloß der Reiz des einfallenden Strahles bringt die Lichtempfindung im Auge hervor, sondern diese Empfindung kann ebensogut durch einen galvanischen Strom etc. hervorgerufen werden. 192 Wenn das der Fall ist, so ist unmöglich anzunehmen, daß sich die Natur des Lichtstrahls abspiegele in dem Lichteindruck von Weiß, denn wäre das der Fall, dann wäre der Lichteindruck von Weiß gebunden an den Reiz des Lichtstrahls. Das ist er aber nicht, folglich kann ich den Eindruck einer bestimmten Farbe oder einen bestimmten Lichteindruck nicht betrachten als eine Folge der Beschaffenheit des Lichtes und der Objekte außer mir selber.
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Wir erschließen also auf doppelte Weise: Einmal bringt dieselbe Ursache verschiedene Empfindungen hervor, ein andermal bringen verschiedene Ursachen dieselbe Empfindung hervor. Unsere Versuche zeigen, daß eine Ursache in den Apparaten verschiedene Wirkungen zur Folge hat oder daß eine Wirkung als Wirkung verschiedener Ursachen gedacht werden kann. In beiden Fällen erweist sich als notwendige Tatsache: Es ist nicht die Natur eines bestimmten Reizes, welche sich darin abspiegelt, daß ich Farben sehe, Töne höre usw., vielmehr, daß ich diese verschiedenen Empfindungen habe, ist die Folge der Organisation meines Nervensystems und meines geistigen Lebens. Ich sehe in Farben, weil ich den psychophysischen Apparat besitze, und dessen Natur spricht sich aus in dem System der Farben. Ist dies der Fall, so können wir nunmehr weiter schließen: Das Verhältnis zwischen dem Reize und dem Empfinden kann nur darin ein Entsprechen anzeigen, daß die Auswahl innerhalb eines Empfindungskreises bedingt ist durch die besondere N a tur des Reizes; z . B . wenn man an ein Klavier tritt, so ist die Möglichkeit, Töne hervorzurufen, ruhend in diesem Instrument. N u r die Vorstellung von Ton tritt in eine Beziehung zu dem Instrument dadurch, daß ich gerade diese Saite zum Anklingen bringe oder eine andere. Der Empfindungskreis des Auges gleicht sozusagen einer solchen fertigen Klaviatur. Die Empfindungsreize haben ein gesetzmäßiges Verhältnis zu den einzelnen Stellen dieser Klaviatur. Dagegen, ihre Natur spricht sich nicht in dem Tatbestand aus, daß dies alles Farben, Gesichtseindrücke sind. Daher denn, um nun einen letzten Schluß zu machen, das Verhältnis zwischen dem Sinnesreiz und zwischen der Empfindung nur das von [Entsprechung] sein kann. Für uns bedeutet eine bestimmte Farbe eine bestimmte Klasse von äußeren Lichtreizen, sie repräsentiert (daher) für uns ein für alle Mal diese Klasse; der Wert der Farbenempfindung ist für uns, daß eine bestimmte Klasse von objektiven Gesichtsreizen in einer gesetzmäßigen Beziehung zu dieser Empfindung steht. O b dahinter eine innere Beziehung liegt, welche uns unbekannt bleibt, ist für uns unerkennbar, erkennen können wir nur, daß unser Auge uns diesen Dienst leistet, daß es für uns in Farben eine Skala objektiver Lichtvorgänge charakterisiert und vertritt. Demgemäß sind die einzelnen [Empfindungen] innerhalb der Empfindungskreise für uns nur Repräsentanten für objektive Vorgänge, und sie repräsentieren sie nicht nach ihrer spezifischen Qualität, sondern nach der Stelle, die sie in dem betreffenden Systeme einnehmen, und dies erscheint schließlich als d a s ( ? ) . . ,193 Unser Organismus ist ja doch keine neutrale Durchgangsstelle für objektive Reize derart, daß diese Reize nur einfach ihrer Art nach gesehen würden, sozusagen als fiele ein objektiver Reiz, ein Lichtstrahl etwa, in ein Leeres, das nur die Fähigkeit besäße, das zu gewahren, was hineinfiele, sondern wir sind
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ein kompliziertes psychophysisches Ganzes, welches in den Wirkungen, als welche eine Farbe oder Gehörempfindung betrachtet werden muß, nicht nur die Eigenschaften des objektiven Reizes repräsentiert, sondern ebensogut die Beschaffenheit des Reizes selbst. Die Empfindung ist ein Produkt aus dem Zusammenwirken des Psychophysischen einerseits, des Reizes andererseits, und als solches Produkt zeigt sie die beiden Seiten ihres Ursprunges: Sie ist ebensogut bedingt in ihrer Beschaffenheit durch diesen psychophysischen O r ganismus als andererseits durch die Reize. Die Theorie der Sinne hat zu ihrer Voraussetzung die Theorie der Vorgänge im Bewußtsein: Sie stellt uns zunächst den Vorgang, in welchem sich die sinnliche Wahrnehmung entwickelt, nach seinen Hauptstadien dar. Wir hatten zu unterscheiden einen physischen, psychischen und physiologischen Vorgang. Der erste war derjenige, welcher in der Außenwelt verlief und unsere körperliche Organisation traf. In dem Augenblicke, in welchem er an die Pforten unserer Sinne anschlug, wurde er physiologisch usw. Eine Wahrnehmung ist es, welche hieraus entspringt wie aus dem Haupt des Zeus die Athene. Was wir suchen, ist die Erklärung, nicht bloß uns zu vergegenwärtigen, was der Inhalt solcher Wahrnehmungen zu sein pflegt, wir wollen ihn zurückführen auf seine Bestandteile, aus denen er entsprungen ist. Es reicht also nicht aus, daß ein jeder Wahrnehmungen kennt und sie vergleichen kann, daß er weiß, was sein Auge ihm leistet. Wir wollen nicht bloß diese Bilder beschreiben, wir wollen ihre Entstehung erklären. Das würden wir aber sicher nur erkennen, wenn wir die Urphänomene erfassen, in welchen diese Wahrnehmungen entspringen, und wir werden sie erfassen müssen einmal durch Nachdenken über den uns bewußten und täglich verlaufenden Vorgang und dann durch Experiment, welches das Hinzugekommene ausscheidet. Die Netzhaut ist z . B . gereizt, diese Reizung setzt sich um in den psychischen Vorgang. Diesen Vorgang in seiner einfachsten Gestalt wollen wir aufsuchen. Aber es gilt vorsichtig zu sein, indem wir diesen Weg betreten, und wir haben deswegen mit ruhiger Objektivität zunächst uns den einfachsten Vorgang festzumachen gesucht und dann diesen Vorgang analysiert. Wir gehen aus von einer einfachen Tatsache. Nicht immer und zu allen Zeiten ist ein Wahrnehmungsbild für uns dasselbe. Es gibt Momente, in welchen ein Wahrnehmungsbild flächenhaft, immateriell an uns vorüberzieht, und wenn wir diesen Eindruck festzuhalten suchen, so gewahren wir in solchen Momenten in uns kaum Körper; es ist ein Flächenhaftes, bloß aus Vorstellungen Gewebtes, was vor uns flüchtig vorübereilt. Schrittweise wächst an materieller Inhaltigkeit und Substanz dieses Bild, wie wir uns in dasselbe versenkten, wie unsere Tastorgane gewissermaßen sich hinüberversetzen und die Wi-
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derstandskraft der Wand gewissermaßen nachfühlend etc. Alsdann versetzt die Phantasie gewissermaßen sich mit allen Tastorganen hinüber in die einzelnen Teile dieses Ganzen, fühlt die Widerstandskraft und Dichtigkeit, gewahrt die Entfernung und empfängt ein Bild von der materiellen Existenz der einzelnen umgebenden Dinge. Dieser Vorgang ist aber nicht ursprünglich, er enthält vielmehr ein mehr flächenhaftes Bild von viel geringerer Materialität, der Eindruck gleicht mehr einer Kulisse. Diese Tatsache läßt sich experimentell feststellen, indem man Versuche an Blindgeborenen gemacht, und eine Reihe solcher Versuche hat gezeigt, daß es erst ein Hineintragen unserer Erfahrung in unser Gesichtsbild ist, aus welchem die Tiefendimension, die Perspektive, die Massenhaftigkeit in den Erscheinungen entsteht; negativ: Ursprünglich [entspricht] dem Gesichtseindruck als solchem nichts als eine Färbung, eine bestimmte Intensität derselben und eine örtliche Bestimmung oder Extension. Dies ist das, was ursprünglich einer jeden Empfindung eignet; dies findet sich als Bestandteil nebeneinander in dem einfachsten Vorgang der Empfindung, in dem Urphänomen der Wahrnehmung. Wir faßten alsdann ins Auge das Verhältnis dieser Wahrnehmungen zu dem Reize; indem wir diesen Punkt berührten, eröffnet sich uns eine wichtige Perspektive in das Problem der menschlichen Erkenntnis, in die Frage nach der Erkennbarkeit ihrer Objekte.
Anthropologie und Psychologie als Erfahrungswissenschaft
(Wintersemester 1881/82)
§ 1. Einleitung Die Tatsachen des Bewußtseins, welche durch unser Selbstbewußtsein zur Einheit verbunden sind, bilden den Gegenstand einer Erfahrungswissenschaft. Da die Einheit dieser Tatsachen im Gegensatz zur materiellen Welt eine im Bewußtsein liegende, innere, geistige ist, so bezeichnen wir als den Gegenstand dieser Erfahrungswissenschaft die inneren, geistigen oder psychischen Tatsachen. N u r in diesem Sinne bezeichnet der Ausdruck „Psychologie, Wissenschaft von der Seele" den Gegenstand dieser Erfahrungswissenschaft richtig. Denn die Tatsachen des Bewußtseins bilden das erste Gebiet194 der Analysis der Erfahrung überhaupt. Man kann bei der Wissenschaft, welche diese Tatsachen analysiert, nicht von der Voraussetzung einer seelischen Substanz ausgehen, denn es gibt keine der Psychologie voraufgehende Wissenschaft, welche eine solche Voraussetzung feststellen könnte, vielmehr ergibt sich erst aus dieser Wissenschaft von den Tatsachen des Bewußtseins die Beurteilung der metaphysischen Annahme von der Seele als einem substantiellen Träger der Tatsachen des Bewußtseins. Fortgang von Einzelerfahrung zu Begriff und Gesetz. Direkt sind die psychischen Tatsachen als Wahrnehmung und Beobachtung unserer eigenen Zustände gegeben, indirekt in der Wahrnehmung von Körpern außer uns und in dem Schluß der Analogie aus der Verwandtschaft der Gebärden, Handlungen, Sprache auf ein verwandtes psychisches Leben als Erklärungsgrund. 195 Endlich schließen wir aus den Rückständen des geschichtlichen Lebens vor uns auf dieses. Das in diesen drei Weisen Gegebene bildet das Material der Psychologie als Erfahrungswissenschaft. Die psychische Erfahrung ist von der der Naturgegenstände verschieden: 1. Sie ist Erlebnis, somit Erregung der Totalität unserer Gemütskräfte. 2. Sie ist unmittelbar. 196 3. Während die durch die Sinne vermittelte Wahrnehmung subjektiv ist, ist die Tatsache des Bewußtseins als solche wahrhaft. Schon das natürliche Denken bezeichnet die psychischen Zustände, die singulär gegeben sind, durch Ausdrücke, welche ein Gleichförmiges herausheben. 197 Die Wissenschaft ent-
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wirft eine Deskription des psychischen Lebens, indem sie das Gleichförmige in Gesetzen ausdrückt. Die Psychologie als Grundwissenschaft der Geisteswissenschaft. Die Ausbildung der Erfahrungswissenschaft der Seele befriedigt das stärkste, auf allen Kulturstufen gleiche menschliche Erfahrungsinteresse. Sie ist bestimmt, in der Erziehung der Individuen gegenüber der großen Aufgabe der Gesellschaft ein ebenso mächtiger Hebel zu werden, als die Naturwissenschaft für [die] Benutzung der Naturkräfte geworden ist. Im Zusammenhang der Wissenschaften bildet die Psychologie die Grundlage der Geisteswissenschaft, 198 denn jede Theorie, welche irgendein dauerndes System der Kultur darstellt, wie des Rechts oder der Religion oder der Kunst, wird in der Verknüpfung psychologischer Wahrheiten mit den Erfahrungstatsachen des betreffenden Systems entworfen. Das Verständnis der Geschichte ist aber bedingt durch das Zusammenwirken der Kenntnisse der geschichtlichen Tatsachen mit den Wahrheiten der Psychologie und der auf sie gebauten Theorie der einzelnen Zweige menschlicher Kultur.
§ 2 . Die Geschichte der Psychologie und die wichtigsten Standpunkte in der Auffassung des Seelenlebens 1. Epoche. Der Animismus der ältesten Epoche und das mythische Vorstellen. 199 Wir haben bis jetzt keinen Volksstamm kennengelernt, der nicht Vorstellungen von Geistern, Dämonen, höheren geistigen Wesen besessen hätte. Schlaf, Traum, Vision, Krankheit, Tod sind Ursachen für die Ausbildung eines im ganzen sich gleichbleibenden Schemas. Die Seele gleicht dem Körper, aber wie Schatten dem Gegenstande; sie bewohnt den Körper, ist Ursache seines Lebens, vermag ihn zu verlassen und Wachenden und Träumenden zu erscheinen. 2. Die metaphysische Epoche. Die mythische Auffassung der Welt geht im 6. Jahrhundert v. Chr. allmählich in die wissenschaftliche über, aber die Seele wurde fortdauernd als materiell vorgestellt, als Feuer, Atem, Luft, Blut, leichteste runde Atome. Erst die Beschäftigung mit geistigen Tatsachen in der sophistischen und Sokratischen Schule brachte die Vorstellung einer immateriellen, unausgedehnten Seele hervor, welche den Mittelpunkt der Platonischen und Aristotelischen Metaphysik bildet. Das Beweisverfahren dieser Schule: 1. Materie erscheint nach der Lage der damaligen Naturerkenntnis als tote, demnach wird alle Bewegung auf ein seelisches, geistartiges Prinzip zurückgeführt. - 2. Willkür der Bewegung fordert eine selbständige Grundlage. - 3. Das abstrakte Denken, welches das
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Allgemeine begreift, kann nicht in der Materie entspringen. So bildet sich die komparative Psychologie des Aristoteles. Seele ist Prinzip des Lebens, im Pflanzenreich durch die Funktion von Ernährung und Fortpflanzung, im Tierreich dies und Empfindung und Bewegung. Im Menschen tritt der νοΰς, ratio, Vernunft unabhängig von seinem Organismus hinzu. Vierteilung der Seelenkräfte: theoretische und praktische, höhere und niedere. In der christlichen Philosophie entwickelt sich ein Beweis für die Existenz einer immateriellen einfachen seelischen Substanz aus der Einfachheit des Bewußtseins in ihrem Gegensatz zu dem Aufbau der Materie aus der .. .200 3. Epoche. Ausbildung einer Erfahrungswissenschaft von den Gesetzen des Seelenlebens. Die Entdeckung der grundlegenden Gesetze der Mechanik und Astronomie regte das Streben auf, auch die scheinbar regellosen und von Willkür geleiteten Tatsachen des Bewußtseins einem gesetzlichen Zusammenhang unterzuordnen. 201 Spinozas Ethik. Humes 2 0 2 Entdeckungen der Gesetze der Ideenassoziation. Die Engländer bilden eine Assoziationspsychologie aus, in Deutschland werden seit Fechners Psychophysik besonders die Beziehungen zwischen den geistigen und körperlichen Tatsachen untersucht.
I. ABSCHNITT: Die Tatsachen des Bewußtseins § 1. Von den Mitteln, die Tatsachen des Bewußtseins aufzufassen Die Auffassung der psychischen Tatsachen in dem Beobachter selbst unterliegt203 mannigfachen Täuschungen und Schwierigkeiten. 204 Die in ihr gegebenen psychischen Zustände können nur teilweise unmittelbar aufgefaßt werden; eine Tatsache des Bewußtseins, deren wir so innewerden, ist so, wie wir ihrer innewerden, denn wir werden ihrer inne, sofern sie eine Tatsache des Bewußtseins ist. Es gibt also hier nicht, wie bei der äußeren Wahrnehmung, einen Beobachter und ein vom Beobachter unterschiedenes Objekt, daher gibt es auch nicht einen inneren Sinn. Andere Tatsachen fassen wir als [] 205 auf. Das Gewahrwerden anderer oder die Menschenkenntnis läßt sich als ein Schluß der Analogie darstellen; der in mir stattfindende Zusammenhang einer Äußerung und einer psychischen Tatsache bildet das zugrundeliegende erste Urteil. Die Verwandtschaft zwischen ihr und einer anderen nicht mit meinen psychischen Zuständen verbundenen Äußerung bildet das andere Urteil, und
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nun wird aus der verwandten Äußerung auf eine verwandte psychische Tatsache außer mir geschlossen. In diesen Schluß geht zwar die bloß phänomenale Tatsächlichkeit dieser Äußerungen ein, aber sie hat nur den Wert eines Zeichens, welches im Ergebnis eliminiert ist. 206 Auch aus den geschichtlichen Resten erschließen wir psychische Zustände.
§2. Die psychische Lebenseinheit und der Körper, besonders das Nervensystem 1. Die psychische Einheit und der Körper. Das Selbstbewußtsein, welches die verschiedenen psychischen Zustände in seiner Einheit zusammenhält, konstituiert die psychische Lebenseinheit, als welche wir uns gewahr werden. 207 Die psychische Lebenseinheit erscheint sich in dem unmittelbaren Bewußtsein als in einem Organismus verbreitet, so örtlich bestimmt und in Wechselwirkung mit der Außenwelt. 208 Und zwar ist das so gegebene Psychische für die Wissenschaft nicht als solches auffaßbar, sondern wenn wir unsere psychischen Zustände gewahren, sind wir nicht sogleich imstande, die zunächst mit ihnen verbundenen Vorgänge im Gehirn ebenfalls zu gewahren. Das Verhältnis zwischen dem psychischen Zustand und dem mit ihm verbundenen körperlichen Vorgang kann daher zunächst durch den mathematischen Begriff der Funktion ausgedrückt werden. 209 Die Natur dieser Beziehungen wird nun näher durch wissenschaftliche Schlüsse festgestellt. 2. Das Nervensystem. Der tierische Körper baut sich aus denselben einfachen Elementen auf, die sich auch in der anorganischen Natur vorfinden; aber diese gehen in ihm Verbindungen ein, welche weder die anorganische Natur noch die chemische Kunst hervorbringt. Die organischen Stoffe, aus welchen sich das Nervensystem zusammensetzt, sind bis jetzt nur mangelhaft erkannt, und von dem Zusammenhang ihres chemischen Verhaltens mit den Funktionen des Nervensystems können wir uns noch keine Vorstellung machen. [3.] Gliederung des Nervensystems. Das Nervensystem als zerebrospinales besteht in seinen zentralen Teilen aus dem Gehirn, der kompakten Masse, welche die Schädelhöhle füllt, und dem Rückenmark, dem zylindrischen Anhang, der sich in die Wirbelsäule erstreckt. In seinem peripherischen Teil besteht es aus den Nervenstämmen, welche von Gehirn und Rückenmark abgehen, und deren Verästelung. Von ihm ist relativ gesondert das sympathische oder Eingeweidesystem, zwei innerhalb des vegetativen Rohres zu beiden Seiten der Wirbelhöhle hinablaufende Stränge, welche mit den zerebrospinalen Nervensträngen durch feine
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Äste zusammenhängen und durch das reichliche Geflecht ihrer peripherischen, den Eingeweiden und Gefäßen bestimmten, Verzweigung sich auszeichnen. [4.] Formelemente. Dieses Nervensystem setzt sich aus drei Formelementen zusammen. Die Nervenzellen sind bald runde, bald mehr eckig gestaltete Protoplasmaklümpchen, von denen manche die Sichtbarkeit mit bloßem Auge erreichen, in denen ein lichter, deutlich bläschenförmiger und mit einem Kernkörperchen versehener Kern sich befindet. Die Nervenfasern oder -röhren haben alle als wesentlichen Bestandteil einen zylindrischen Faden, den Achsenzylinder, welcher von einer ihn umhüllenden Substanz, der Markscheide, umkleidet sein kann, diese von der Schwannschen Primitivscheide. Zu diesen beiden Bauelementen tritt die Zwischensubstanz, in welche sie eingebettet sind. [5.] Die funktionelle Bedeutung der Formelemente. 210 Aus den Strukturverhältnissen läßt sich schließen: Die Nervenzellen sind die zentralen Sitze der psychischen Vorgänge, der Achsenzylinder der Nervenfaser hat die Funktion der Leitung der Sinnesapparate zur Zelle, von einer Zelle zur anderen und von da zu den Endapparaten, Muskeln, Drüsen; jedes andere Formelement als Zelle und Nervenfaser betrachtet man als indifferente Stütze und Umhüllungsgewebe. Wieweit die Ganglien des Sympathikus (Ganglien und Nervenzellen) als nur weit vorgeschobene Knotenpunkte des Gesamtnetzes anzusehen sind oder ihnen die Bedeutung selbständiger Zentralpunkte zukommt, ist noch nicht sicher abzugrenzen. [6.] Zwiefache Funktionen der peripherischen Nerven. Die Außenwelt und das Seelenleben stehen in geordneter Wechselwirkung durch das Nervensystem. Vorgänge der Außenwelt wirken als Reize auf das Nervensystem, und indem die Erregung auf den Zentralapparat übertragen wird, bewirken sie Empfindung. Andererseits gehen vom Zentralapparat Anstöße aus, welche teils Drüsenfunktionen, Vorgänge im Ernährungsprozeß erregen, teils auf die Muskeln wirken und so Bewegung hervorrufen. 211 Auf dem Rückenmark treten auf jeder von beiden Seiten die Nervenwurzeln in zwei Längsreihen [auf] und verzweigen sich nach allen Seiten. Die Reizung der hinteren Nervenwurzeln erzeugt Schmerz, ihre Durchschneidung macht die ihnen zugeordnete Strecke der Haut unempfindlich, sie sind sensibel. Die Reizung der vorderen ruft Muskelkontraktionen hervor, ihre Durchschneidung Muskellähmung, sie sind motorisch. Somit sind an der U r sprungsstelle im Rückenmark die motorischen und sensiblen Leitungsbahnen gänzlich voneinander gesondert und ordnen sich erst in ihrem weiteren Verlauf zusammen. Bei den meisten Hirnnerven bleibt diese Sonderung auf einem längeren Teil ihrer Bahn oder während des ganzen Verlaufs ihrer Bahn erhalten. 212
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[7.] Die Reflexbewegung. Als Reflexerregung bezeichnet man die infolge von Reizung sensibler Nerven ohne Vermittlung des Bewußtseins hervortretende Muskelbewegung. Diese Übertragung der Erregung von sensorischen auf motorische Bahnen vollzieht sich in der grauen Substanz des Zentralteils. Der Hauptsitz der Reflexaktionen sind Rückenmark und verlängertes Mark, und zwar enthalten die Reflexbewegungen koordinierte Bewegungen, welche zusammenwirken.
§ 3. Die natürliche Gliederung der Tatsachen des Bewußtseins und die Seelenvermögen 1. Die natürliche Gliederung der psychischen Tatsachen. Die Gliederung des Nervensystems zeigte das psychische Leben in seiner Doppelstellung, als Einwirkung von der Außenwelt empfangend und auf sie zurückwirkend. So unterscheiden wir die Vorgänge, welche mit durch Reize der Außenwelt hervorgerufenen Erregungen beginnen und sich in ihrer geistigen Verarbeitung fortsetzen, und die anderen, welche in Antrieben anheben und Bewegungsvorgänge einleiten. Der Fluß des Seelenlebens beginnt in den Sinnen und tritt in den Apparaten der Bewegung wieder nach außen. Diese Auffassung [wird] durch Vergleich des Tieres, Kinder, der Naturvölker bestätigt. Im Kinde springt der Empfindungsvorgang plötzlich in Bewegungsvorgänge um; mit der Entwicklung tritt zwischen jenen Anfangs- und diesen Endvorgang das auf Vorstellungen beruhende geistige Leben und wird zum Zentrum einer Gliederung, von welcher aus dann sowohl Wahrnehmen und Fühlen als Begehren geleitet werden. 2. Die Einteilung der psychischen Tatsachen. Die Einteilung Piatons geht einseitig von den im Willen einander selbständig gegenüberstehenden Motiven aus und unterscheidet so niederes Begehren, eiferartigen Mut und vernünftige Überlegung. Aristoteles geht von der in obiger Gliederung enthaltenen Zweiteilung aus und sondert voneinander das theoretische und praktische Verhalten. Innerhalb dieser beiden Glieder unterscheidet er wieder niedere und höhere geistige Tätigkeit, aufgrund des doch schwer denkbaren Unterschiedes des tierischen und menschlichen Seelenlebens und einer damit in Verbindung gebrachten falschen Sonderung des an Organe gebundenen und des von ihnen unabhängigen psychischen Lebens. Die Tatsache des uninteressierten, also vom Willen gesonderten Gefühlslebens in den ästhetischen Gefühlen und der moralischen Billigung ward von den Engländern studiert und führte auf die Dreiteilung: Erkennen, Gefühl, Wollen, deren klassische Vertreter Tetens und Kant sind. Kants richtig verstandene Dreitei-
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lung behauptet nicht drei verschiedene Grundkräfte, sondern nur eine im Bewußtsein gegebene Verschiedenheit der Beziehung zu den Inhalten. Er ging aus von den verschiedenen Beziehungen der Vorstellung im Bewußtsein: 1. Vorstellungen, insofern sie bloß auf Objekte und die Einheit des Bewußtseins derselben bezogen werden, Erkenntnis; 2. Vorstellungen, sofern sie als Ursache der Wirklichkeit eines Objektes auftreten, Begehrungsvermögen; 3. Beziehung der Vorstellung auf das Subjekt und seine Selbsterhaltung in Lust und Schmerz, Gefühlsvermögen (Innewerden, Zustand von Lust und Schmerz hier nicht zureichend unterschieden). Gegenüber der neuen Ableitung von Gefühl und Wille aus den Verhältnissen zu den Vorstellungen stellte Hamilton 213 einen Beweis der Unableitbarkeit von Gefühl und Wille aus Vorstellungen auf. Lotze hat ihn benutzt. Denkt man sich ein vorstellendes Wesen, so ist kein Grund im Vorstellungsvorgang, aus welchem Ubereinstimmung der Vorstellung oder Widerstreit als Lust und Unlust empfunden würde; denkt man sich ein vorstellend-fühlendes Wesen, so ist es wieder nur ein aus unserer Gewöhnung entspringender Zusatz, wenn wir aus dem Unlustzustande eines solchen Wesens ein Streben nach heilender Verbesserung hervorgehend denken. In dieser Darlegung ist der Beweis erbracht, daß eine Zurückführung der psychischen Tatsachen aufeinander unmöglich ist. Lotze entwickelt diese Theorie weiter dahin, daß das Vorstellen das Gefühl auslöse, letzteres den Willen. 214 Aber in den sinnlichen Gefühlen finden wir keinen Grund zu der Annahme, daß ihr Vorstellungsinhalt den Gefühlsinhalt in ihnen auslöse.215 3. Die Theorie selbständiger Methode derselben. 216 Ausgangsmethode: der Bewußtseinszustand, status conscientiae, in einem Durchschnitt aufgefaßt. Wir nehmen alle Klassen psychischer Zustände, die und insoweit [es] sie im Bewußtsein gibt, als Tatsache des Bewußtseins wahr. Aber wir stellen den Zusammenhang dieser psychischen Tatsachen, wie er ist, nur soweit vor, als die Gesetzmäßigkeit unseres Vorstellens den aufzufassenden Tatsachen entspricht. Demnach kann die in Mathematik und Logik zur Darstellung gelangende Gesetzmäßigkeit unseres Vorstellens ganz durchsichtig werden. Dagegen kann über die Zusammenhänge des Fühlens und Wollens nicht von vornherein dasselbe behauptet werden. 217 a. Gegenwart von Vorstellungsinhalt in jedem status conscientiae. Wir unterscheiden Vorstellung als das von der Wahrnehmung Zurückbleibende von ihren Teilinhalten. Ein solcher Teilinhalt (Vorstellungsinhalt) ist jede qualitative Bestimmtheit (z.B. blau) oder inhaltliche Beziehung ( z . B . Lage im Raum). 218 Ein solcher Vorstellungsinhalt kann in jedem status conscientiae aufgefunden werden.
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b. Gefühle. Wahrscheinlichkeit des Vorkommens von Gefühl in allen Bewußtseinszuständen. Wir können durchgängig in allen Willensvorgängen eines Gefühlsbestandteils innewerden. Die Denkakte sind durchzogen von Uberzeugungsgefühl, Gefühl des Widerstreits von Sätzen, Unruhe von Sätzen des Denkens, Freude am Ergebnis, Ruhegefühl usw. In bezug auf die Wahrnehmung nahmen Wundt, Horwicz u. a. an, daß die Empfindung als Element der Wahrnehmung zunächst in Qualität und Intensität bestimmt sei, alsdann vermöge ihrer Beziehung zum Bewußtsein einen Gefühlston besitze. Auch wenn man diese Annahme auf die Zustände der Versenkung in die Wahrnehmung einschränkt, da sie nur in diesen Grenzen beweisbar ist, 219 so ergibt sich doch hieraus das Vorhandensein eines Gefühlsbestandteiles in den Zuständen, in welchen wir uns vorzugsweise wahrnehmend verhalten. Das Gefühl entsteht nicht erst aus Verhältnissen der Vorstellungen. Hier definitive Widerlegung der Hypothese Herbarts aus der Tatsache, daß einer Empfindung oder Wahrnehmung als solcher ein Gefühlston zukommen kann. So bezeichnet diese Hypothese nicht einmal die Bedingungen des Auftretens von Gefühlen. c. Der Wille. Wahrscheinlichkeit des Vorkommens von Willen oder Spontaneität in allen psychischen Akten. Die Willkür in den Bewegungen des Neugeborenen. Induktive Betrachtung über die Anwesenheit dieser Seite des psychischen Lebens in allen Bewußtseinszuständen, auch in der Wahrnehmung. In dieser findet sich die Spontaneität durch den Eindruck so bestimmt, daß sie ihn nicht aufzuheben vermag. Im Denkvorgang ist der Wille wirksam in Setzung und Aufhebung. 220
II. A B S C H N I T T : Vom Bewußtseinszustand und der Verbindung der Vorstellung §4. Wahrnehmung und Vorstellung 221 1. Wahrnehmung. Das Sinnesorgan ermöglicht die Sonderung der Reize. Empfindung ist ein Teilinhalt der Wahrnehmung. Wahrnehmung kommt innerhalb unserer Erinnerung nie als das psychische Äquivalent eines Reizzustandes vor, sondern immer nur als die Gestaltung des in diesem Reizzustand Gegebenen im Zusammenhang des ganzen Seelenlebens. 2. Vorstellung, äußere. Wenn der Reiz aufhört, kann im Sinnesorgan die Erregung fortdauern, und
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so geht die Wahrnehmung in das Nachbild über, welches noch nicht Vorstellung ist, denn auch nachdem der Reiz vorübergegangen ist, kann der Zustand im Sinnesorgan, den er hervorrief, fortdauern. (Positives und negatives Nachbild). Endet die Erregung im Sinnesorgan, so wird aus der Wahrnehmung die Vorstellung. Am nächsten der Wahrnehmung steht das Erinnerungsnachbild, d.h. die an die Wahrnehmung unmittelbar sich anschließende Vorstellung. Verschiedentliche Vorstellung bei verschiedenen Individuen in bezug auf das Perzipieren der Gesichtsvorstellung im Sehraum, ihre Klarheit und Färbung; Beispiel von Dichtern und Malern. 3. Die Wahrnehmung der inneren Zustände. 222 Die Beschäftigung mit dieser, die Stärke, in welcher Gefühle und Affekte vorhanden sind, das Interesse, das sich ihnen zuwendet, sind bei verschiedenen Personen außerordentlich verschieden. Dem entspricht, daß auch Zahl, Feinheit und Bedeutung der Vorstellungen von inneren Zuständen sehr verschieden sind. In dem pathologischen Dichter überwiegt das Interesse an den eigenen Gemütszuständen.
§ 5. Das Verharren der Vorstellung, die Verschiedenheit ihrer Bewußtseinsgrade. Schlaf und Wachen, Aufmerksamkeit Von jeder Wahrnehmung bleibt in der Seele ein Residuum; hiervon wissen wir nur aus der Tatsache, daß eine Wahrnehmung unter bestimmten, begünstigenden Umständen im Bewußtsein als Vorstellung reproduziert werden kann. Wollen wir solche Residua oder Spuren uns ihrer Beschaffenheit nach vorstellen, so können wir es nur nach der Analogie der reproduzierten Vorstellung selbst, sonach als Vorstellung. D a sie aber als Residuum nicht im Bewußtsein ist, entsteht der Begriff: unbewußte Vorstellungen. Dieser hypothetische Begriff wird von den einen Physiologen leidenschaftlich bekämpft und durch die Annahme eines bloß physiologischen Residuums im Gehirn ersetzt, von den anderen verteidigt. Es fragt sich, welche Tatsachen über die Bewußtheit von Vorstellungen festgestellt werden können und wie weit Schlüsse aus den Tatsachen des bewußten Lebens auf die Beschaffenheit dieser Residua tragen. Allen wiederauftretenden Vorstellungen liegt ein Gesetz der Beharrung zugrunde. Diese Beharrung reicht aber in der psychischen Welt weiter als in der der Körper. Während in der Natur Verbindungen und Formen vorübergehend sind, erhalten sich dieselben im psychischen Leben. 1. Der Schlaf. Die Tätigkeit des Hirns ist während desselben herabgesetzt. Wir unterscheiden Schläfrigkeit, Einschlafen, tiefen Schlaf, [a] Der Vorstellungsablauf, der
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nicht von der psychischen Tätigkeit geleitet ist, bildet auch wachend den Hintergrund unseres Lebens; in den Zuständen des Träumens macht er sich selbständig geltend, ebenso im Schlafe, da hier die Spontaneität in hohem Grade abzunehmen scheint, [b] Aber das psychische Leben geht wahrscheinlich auch im tiefsten Schlaf weiter. 223 Wir haben bei dem Erwachen aus dem Schlaf, über dessen Träume keine Erinnerung zurückgeblieben ist, eine Vorstellung von der Dauer desselben, was ein Fortbestehen des Bewußtseins voraussetzt. Wir haben die Vorstellung eines angenehmen Zustandes vorher, auch erhäschen wir oft noch das letzte Traumbild. Von gleich starken Reizen erwacht der, der keine Verbindung mit dem Bewußtseinszustande hat, nicht, während der andere vermöge einer solchen Verbindung erwacht. Daher wird das psychische Leben in normalem Zustande als eine ununterbrochene Kontinuität betrachtet werden müssen. Tatsache, daß nur von wenig Träumen Erinnerung bleibt, aus dem Unterschied bewußter Perzeptionen und der Apperzeption erklärt, kurze Dauer der Erinnerung an bloße Perzeption. [2.] Unterschiede der bewußten Perzeptionen von den Apperzeptionen. Die Bewußtheit hat nicht nur Grade, sondern in der Perzeption tritt eine Bewußtheit neuer Beschaffenheit auf. Gründer dieser Lehre ist Leibniz, [sie wird] innerhalb dieser Schule besonders von Tetens fortgebildet und tritt bei Kant in den Mittelpunkt seiner Psychologie. Die neue Apperzeptionslehre der Herbartschen Schule ist nicht wie diese der reine Ausdruck eines psychischen Tatbestandes, sondern ein Teil der erklärenden Theorie dieser Schule. Der Unterschied der bewußten Perzeption und der Apperzeption kann nur als eine Tatsache unseres Bewußtseins wahrgenommen und verzeichnet werden. Wir haben bei einem Teil unserer Wahrnehmungszustände ein Bewußtsein von Spannung, einer Richtung unseres geistigen Blickes, unserer Aufmerksamkeit. Bei anderen Wahrnehmungszuständen findet die Erinnerung - denn die Richtung der Aufmerksamkeit stört hier das Phänomen, sonach gibt es kein Wahrnehmen desselben - nichts von der Art. Bei den Vorgängen, in welchen aus einer größeren Verwicklung von Tatsachen ein plötzlicher Schluß gezogen wird oder eine sie beherrschende Intuition entspringt, sind minimalbewußte Vorstellungen mit tätig. Fechner nennt sie mitschwingende Vorstellungen. Ein zwingender Schluß aus unbewußten Vorstellungen würde nur 224 mit Hilfe des Satzes von der Enge des Bewußtseins in einer durch die Erfahrung nicht festgestellten Fassung möglich sein.
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§6. Die Elemente des Vorstellungsverlaufes und die Gesetzmäßigkeit in demselben Die Gesetze sind zu finden, nach welchen Wahrnehmung und Vorstellung in Beziehung zueinander treten und Wahrnehmungen im Geiste verarbeitet werden. 1. Aus der Zerlegung des im Fluß der Wahrnehmung Gegebenen, gemäß der Richtung des Geistes auf Erfassen von Dasein, entspringen die einzelnen Anschauungen und ihre Teilinhalte. Diese Teilinhalte sind die Elemente, die unserem Vorstellen und Denken als Material zur Verfügung stehen. 2. Diese Elemente sind nur in der äußeren und inneren Wahrnehmung gegeben, und kein solches Element kann durch die Phantasie oder das abstrakte Denken geschaffen werden. Die Produktivität unseres Geistes ist an dieses Material gebunden. 3. Das Grundgesetz für die Reproduktion dieser Elemente ist: Die Vorstellungen streben, die anschaulichen Verbindungen, in welchen sie als Wahrnehmungen sich befanden, so wie die hinzugebildeten gedankenmäßigen Verbindungen, welche zwischen ihnen gestiftet wurden, wiederherzustellen.
§ 7. Erster Grundvorgang: die Verschmelzung und ihre Gesetze Allgemeines Gesetz: Der Vorgang der Anschauung erweckt unter bestimmten Bedingungen des Bewußtseins den ihm ähnlichen früheren Akt, welcher nunmehr Disposition geworden ist, zum Bewußtsein und verschmilzt mit ihm ganz oder teilweise, nur daß das Bewußtsein der Verschiedenheit erhalten bleibt. Spezielle Gesetze: 1. Die Verschiedenheit, welche zwischen dem Inhalt der ganz wiedererweckten Vorstellung und der ganz vollzogenen Anschauung bestehen würde, hindert die völlige Verschmelzung nicht, wenn etwa die Anschauung die Vorstellung nur in ihren gleichen Momenten wieder bewußtmacht oder die Vorstellung die Anschauung nur in ihren gleichen Momenten vollziehen läßt. Tritt sonst eine Verschmelzung ohne Rest ein, so geschieht es, weil die objektiven Vorgänge vermöge eines geringen Grades von Interesse nur undeutlich aufgefaßt wurden. In allen diesen Fällen entscheiden Trieb, Gefühl, Interessen im Wahrnehmungsvorgang über den Grad der Vertiefung wie über den Grad der Ausbildung der Wahrnehmung. Pure Wahrnehmungen können wir überhaupt nicht mehr haben, denn mindestens werden die Teile einer neuen Wahrnehmung durch vorhandene Vorstellung rekognosziert. 2. Wo225 aber diese Verschiedenheit zum Bewußtsein gelangt, ist es wiederum das Interesse, welches hierüber entscheidet. Entweder entsteht eine teilweise Verschmelzung mit vorherrschendem Bewußtsein des Verschiedenen,
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dann überwiegt die Wahrnehmung des Kontrastes, oder der Verschmelzungsvorgang überwiegt, und während die Verschiedenheit doch bewußt wird, entsteht die Ähnlichkeit, Vernunft. In beiden Fällen geht der psychische Vorgang von dem Wahrgenommenen zum Vorgestellten über, und so entsteht auf der Grundlage einer teilweisen Verschmelzung ein Vorgang von Assoziation. 3. Aus dem Akt der Verschmelzung entstehen die festen Vorstellungen.226 Es sind entweder feste Vorstellungen eines Objektes oder Allgemeinvorstellungen. Allgemeinvorstellungen enthalten ein verschiebbares Schema. Sie sind Bedingung der Sprache und werden durch die Sprache fixiert. Unsere Entwicklung geht von Namen zu den Allgemeinvorstellungen, die mit ihnen verbunden sind. Allgemeinvorstellungen bilden die Grundlage für die Vereinfachung in den psychischen Prozessen und für die Begriffsbildung.
§ 8. Zweiter Grundprozeß: die Assoziation und ihre Gesetze 227 1. Die Tatsache des Gedächtnisses kann nicht erklärt werden durch ein Erinnerungs- oder Gedächtnisvermögen. Dies ist eine Allgemeinvorstellung, welche nur den Tatbestand ausdrückt, aber nicht erklärt. Ihn erklären heißt: für den Akt des Erinnerns die Bedingungen angeben, für das Gleichförmige in allen Tatsachen von Erinnerung gleichförmige Bedingungen angeben. Diese Bedingungen liegen einmal in dem ersten konstituierenden Bewußtseinsstande, in welchem der Verband gestiftet wurde, der nun in dem Erinnerungsakt reproduziert wird. Sie liegen alsdann in den späteren Akten, in denen dieser Verband wieder vorkam; sie liegen endlich in dem gegenwärtigen Bestände, dessen Inbegriff auf den Akt des Erinnerns einwirkt. 2. Der Bewußtseinsstand, in welchem der Verband gestiftet wurde, der nun reproduziert wird, kann auf den gegenwärtigen Akt in doppelter Weise wirken. Entweder seine Wirkung dauert als ein psychisches Residuum fort, dieses muß dann als unbewußte Tatsache aufgefaßt werden, oder er wirkt als ein physiologisches Residuum im Gehirn fort. Eine grundlegende psychologische Theorie, welche zwischen beiden Annahmen entschiede, ist unmöglich. Gründe für die größere Wahrscheinlichkeit der zweiten. Und zwar wirkt das Residuum aus jenem ersten Vorgang so, daß der damals gestiftete Zusammenhang die Möglichkeit enthält, von dem einen Teil desselben zu dem anderen oder zum Ganzen in der Erinnerung fortzugehen. 3. Zu dieser Bedingung, welche in dem Antezedens der Erinnerung, d.h. dem Auftreten des Verbandes und den Reproduktionen, gelegen ist, tritt als zweite Bedingung des Erinnerns der gegenwärtige Bewußtseinsstand. So erklärt sich nunmehr der Grad von Leichtigkeit der Erinnerung und die Rieh-
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tung, welche diese innerhalb eines Verbandes von einem gegebenen Teil aus nimmt. Die Leichtigkeit der Erinnerung ist das Produkt der Art, wie das Residuum physiologisch oder psychisch wirkt, der Eingewöhnung, des Interesses und der Natur der Verbindung. Die Stärke der Verbindung zwischen zwei Vorstellungen, welche einander reproduzieren, wächst mit dem Inhalt und Gewicht ihrer Verbindung, andererseits dem Grade der Eingewöhnung, der von Zahl, Dauer und Intensität des Bewußtseinsaktes abhängt. Verbindungen derselben Festigkeit werden als Glieder einer längeren Reihe leichter reproduziert, als wenn etwa nur zwei Vorstellungen miteinander verkettet sind. Die Reproduktion einer Reihe kann in einer doppelten Richtung vollzogen werden; sie vollzieht sich leichter in der natürlichen Richtung der Anschauung, in der Richtung der Gewohnheit, in der Richtung vom Unbekannten zum Bekannten. 228 4. Vermöge der sogenannten Enge des Bewußtseins, welcher gemäß Vorstellungen nur nacheinander erzeugt oder mit Aufmerksamkeit wiedererzeugt werden, wird der Vorstellungsverband bei der Reproduktion in eine Reihe umgewandelt. § 9. Die Verarbeitung der Wahrnehmungen im Bewußtsein 229 1. Die elementaren Vorgänge, welche der Bearbeitung zugrunde liegen. Eine Wahrnehmung oder reproduzierte Vorstellung wird einem Schema oder einem Begriff untergeordnet (subsumierender Prozeß). Wahrnehmung oder Vorstellung wird mit anderen, welche denselben Grad von Allgemeinheit haben, in innere Beziehung gesetzt, oder die Unmöglichkeit einer solchen wird festgestellt. Eine Wahrnehmung oder Vorstellung bildet das Schema oder den Begriff oder den Verband allgemeiner Ideen um, in welches sie eintritt. Schöpferisches Verfahren von Wissenschaft und Kunst. 2. Der Erfolg der Bearbeitung von Eindrücken im geistigen Leben hängt von dem Reichtum des vorhandenen geistigen Gehalts, von der Vielfachheit der Reproduktion desselben und von der Ausbildung der Beziehungen innerhalb des Interessenkreises ab. 3. Die Verfassung des geistigen Lebens, welche der Eindruck vorfindet, ist verschieden. Entweder besteht eine herrschende Gruppe (monarchischer Charakter), oder das Individuum ist ordnungslos den Eindrücken hingegeben in vielseitiger Empfänglichkeit, aber ohne straffen Zusammenhang (anarchischer Charakter), oder zwei, auch mehrere Gruppen stehen im Bewußtsein unmittelbar gegeneinander. 4. In der Verarbeitung unterscheiden wir gemäß den drei Seiten des psychischen Lebens und dem Vorherrschen derselben in den einzelnen Akten die
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Richtung der Bearbeitung, in welcher das Gefühlsleben vorherrscht, die andere, die unter der Vorherrschaft des Willens steht, die dritte, die durch das Vorherrschen des Vorstellens und Denkens, sonach [der] Erkenntnis des Wirklichen bedingt ist.
§ 10. Von der Phantasie überhaupt und von dem künstlerischen Vermögen 230 1. Die Phantasie ist nicht ein Vermögen, welches für sich einen psychischen Tatbestand erfüllt. Jeder Vorgang, sofern Phantasie in ihm ist, enthält etwas, was über die bloße Reproduktion hinausgeht, und zwar findet sich ein solches in allen schaffenden Akten des Menschen. Es ist enthalten in den Erkenntnisakten als Erfindung, in den künstlerischen Vorgängen, in dem praktischen Verhalten des Menschen, und zwar bildet dasselbe nur einen Bestandteil des Vorgangs. Fehlt dieser, alsdann verhält sich die Tätigkeit des Menschen unproduktiv; herrscht aber die Phantasie allein, ohne die Beziehung auf die Wirklichkeit, welche der Zweck des Aktes fordert, alsdann entsteht das phantastische Verhalten. 2. Dieser Vorgang kann am einfachsten studiert werden in den Tatbeständen, in welchen er am reinsten heraustritt, so in den Schlummerbildern oder in dem Vorgang der Entstehung einer Melodie. Phantasie ist daher eine Folgeerscheinung der umfassenden Tatsache, die Kant als Spontaneität bezeichnete. Die Elemente allen menschlichen Schaffens sind in der Wirklichkeit gegeben, ein nie gefühltes Gefühl, einen neuen Ton, eine neue Farbe kann keine Einbildungskraft erfinden. Alles Neue im menschlichen Schaffen besteht daher darin, daß der Fortgang von dem bekannten Elemente a zu einem anderen, bereits vorhandenen neu ist. Wie es aber die Seele anfange, einen solchen neuen Fortgang zu machen, kann die Wissenschaft nicht ableiten, denn was abgeleitet wird, vollzieht sich nach dem Satze vom Grunde, dieser hat aber hier seine Grenzen. Spontaneität ist eine Tatsache des Bewußtseins, deren wir innewerden; dieses Innewerden bildet den letzten Grund aller Gewißheit, auch der Wahrheit des Satzes vom Widerspruch werden wir nur inne. Das künstlerische Schaffen richtet sich darauf, Wahrnehmungen und Vorstellungen dem Gemütsleben gemäß so umzugestalten, daß sie diesem eine Befriedigung gewähren. Daher ist die formale Richtung der Ästhetik unzureichend. Was schön sei, können wir einmal unter dem Gesichtspunkt des Auffassenden, alsdann unter dem des Schaffenden betrachten. Kant hat die ästhetische Stimmung des Auffassenden richtig als interesselose, d. h. von jeder Be-
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ziehung des Begehrungsvermögens auf Zwecke außerhalb der bloßen Betrachtung freie Anschauung bezeichnet. Das Kunstwerk befriedigt, insofern durch dasselbe der ganze Mensch über seine persönlichen Lebenszwecke hinausgehoben und in eine ruhende Gemütslage gebracht wird. Wo dem Kunstwerk ein Mangel anhaftet oder etwas in ihm dem Gemütsleben widerstrebt, kann es bedeutend sein, ihm fehlt aber der volle Charakter der Schönheit. Dieser Vorgang im Aufnehmenden entspricht dem im Hervorbringenden; nur vermittelst einer sehr großen Mächtigkeit in der Erfassung des Wirklichen und den mit ihr verbundenen Erregungszuständen vermag er den Aufnehmenden aus dem Zusammenhang der persönlichen Zwecke desselben herauszuheben und eine relativ allseitige Gefühlsbefriedigung in ihm hervorzurufen. Daher ist die künstlerische Natur als in ihren Anlagen sehr abweichend anzusehen. Es muß schon in den Sinnesorganen sowie in der Fähigkeit der Reproduktion eine Anlage vorhanden sein. Ihr kommt entgegen die beständige Hinwendung auf Eindrücke bestimmter Art und Erregbarkeit durch sie, daher dem Künstler die Wirklichkeit nicht Mittel zur Erreichung seiner Zwecke sein darf; Kindlichkeit und Naivität der Künstlernatur. Auch so entsteht ein Kunstwerk zwar in, aber nicht durch ein Individuum; das Individuum empfängt bestimmte Typen, einen Stil der Bekundung, Stoffe usw. Shakespeares Stoffe, Faust etc. Indem nun unter diesen Bedingungen sich ein Individuum in eine Vorstellungswelt mit all seinen Affekten versenkt als in eine Wirklichkeit, entsteht das Kunstwerk. Balzac, Dickens (Goethe bemerkt, er habe keine eigentliche Tragödie geschrieben, durch die Absicht, eine Tragödie zu schreiben, könnte er sie zerstören). Sonach ist das Problem des Schönen durch die Beziehung der Wirklichkeit und ihrer Elemente zu ihrer Gemütsbewegung gelegt, d.h. der Vorstellung zur Gemütswelt. Diese Beziehung ist eine andere in der Klasse der Künste, welche die Wirklichkeit abbildet 1) für das Auge: Malerei und Plastik, 2) für das Gehör: Poesie, eine andere für die Künste, welche bloße Elemente der Wirklichkeit nach dem Gesetz des Gefühlslebens verknüpfen 1) für das Auge: Arabesken und Architekturen, 2) für [das] Gehör: Musik. Kunstwerke drücken daher nicht Ideen aus, sondern sie sind irrational, inkommensurabel.
§11. Von dem theoretischen und dem praktischen Verstände 1. Die Verarbeitung der Erfahrung im Bewußtsein vollzieht sich weiter durch die logische Tätigkeit des Geistes. Auch diese ist eine psychologische Tatsache; als solche pflegt sie Verstand genannt und [in] theoretischen und praktischen Verstand unterschieden zu werden. Auch sie aber verlangt eine Erklärung. 2. Für die Erklärung ist zunächst das logische Denken in Beweis, Urteil,
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Schluß und Begriff gegeben. Diese Formen des Denkens sind mit der Sprache verbunden und werden als diskursives Denken zusammengefaßt. Die Annahme der metaphysischen Philosophie war: Diese Formen bildeten einen Bestandteil der dem Menschen mitgegebenen geistigen Ausrüstung, und die Hypothese wurde gebildet, daß diese dem Zusammenhang der äußeren Wirklichkeit entspreche (Aristoteles). 3. Da diese Hypothese die Analogie des Verhältnisses der sinnlichen Qualitäten sowie des Raumes zu der Wirklichkeit gegen sich hat, so kann sie einer wissenschaftlichen Philosophie nicht zugrunde gelegt werden; daher die philosophische Forschung dahin gedrängt wurde, die Formen des diskursiven Denkens zu zerlegen. 4. Alles Denken bezieht sich schließlich auf ein unmittelbares Gewissen. Ein solches ist uns als Innewerden, als Tatsache des Bewußtseins gegeben. 5. Unterscheiden ist Innewerden der Verschiedenheit von zwei Tatsachen des Bewußtseins und der Grade dieser Verschiedenheit, Ineinssetzen Innewerden des Gegenteils. 6. Die Richtung der Aufmerksamkeit läßt uns von den Bestandteilen einer Wahrnehmung oder Vorstellung absehen, die methodische Anwendung dieses Absehens ist Abstraktion. So entsteht ein methodisches Bewußtsein der Allgemeinheit. Das Allgemeine, welches Tatsachen in sich begreift, ist Begriff, das Allgemeine, welches aus der Veränderung eine Regel abstrahiert, ist Gesetz. 7. Von der direkten Vergleichung unterscheidet sich die mittelbare, in welcher zwei Tatsachen an eine dritte gehalten und dadurch ihr gegenseitiges Verhältnis bestimmt wird. Ein Fall der mathematische Satz: Zwei Größen, die einer dritten gleich, sind untereinander gleich. Dieses Verhältnis tritt da ein, wo eine direkte Vergleichung ausgeschlossen ist. Die logische Form, in welcher es sich im diskursiven Denken darstellt, ist der Syllogismus. Der Charakter des so gewonnenen Satzes [ist] Notwendigkeit. Man könnte ein Bewußtsein vorstellen, in welchem vereinzelte Eindrücke nebeneinander und nacheinander beständen, dieser Tatbestand ausgedrückt und durchgängig zwischen diesen Verhältnissen hergestellt würde. Unser Bewußtsein ist nicht von dieser Art. In ihm sind die Eindrücke vereinigt unter den beiden Formen von Ding und Wirken. Die Welt ist ihm ein Zusammenhang, in welchem Dinge in dem Zusammenhang von Tun oder Leiden stehen, das Selbst eine lebendige Einheit, welche tut oder leidet. Diese Einheit stammt aus dem Selbstbewußtsein. 8. Indem unser Denken diese Form zugrunde legt, werden ihm Eindrücke zu Eigenschaften, Tun und Leiden von [?] Dingen. So entsteht aus der Gleichung das Urteil im engeren Sinne, welches von einem Subjekt Eigenschaften, Tun, Leiden, Relationen als Prädikate aussagt. Und indem solche Urteile [hin-]
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zutreten, entstehen ebenso wie oben [bei] der Vergleichung vermittelnde Urteile, Schlüsse. 9. Somit ändert das diskursive Denken den Tatbestand der inneren Wahrnehmung nicht. Denn sowohl die Vorstellung des Subjektes psychologischer Aussagen als die der kausalen Relationen, in denen es sich befindet, sind nur Ausdruck der Selbsterfahrung, und auch die Formen des diskursiven Denkens sind nur Produkte unserer Fähigkeit, innezuwerden, zu vergleichen, sowie der aus der Selbsterfahrung stammenden Vorstellungen. Unsere Kenntnis der N a tur hat es nur mit Erscheinungen zu tun, das Subjekt der Natur ist uns unbekannt. Wir übertragen die Erfahrungen unseres Selbst und bilden so die Begriffe der Substanz und Kausalität zum Verständnis des Naturgesetzes.
III. A B S C H N I T T 2 3 1 : Der theoretische Zusammenhang der psychologischen Tatsachen § 12. Das Selbstbewußtsein und das empirische Ich 1. Die Beschreibung der Tatsache des Selbstbewußtseins darf nicht das IchSagen des Kindes als den Moment der Entstehung des Selbstbewußtseins zum Ausgangspunkt nehmen. Tatsächlich tritt im Gegensatz zu der Annahme Kants und seiner Schule dieser Ausdruck bei dem Kinde neben dem Eigennamen versuchsweise auf. Sein Auftreten ist zunächst ein Ereignis im Sprachgebrauch des Kindes, welches man erlernt hat, daß der jedesmal Sprechende sich mit dem Ausdruck „ich", so wie den Angeredeten mit dem Ausdruck „ d u " bezeichnet. Die Anwendung dieses Ausdrucks setzt das Vorhandensein des Selbstbewußtseins voraus, aber dasselbe kann ebensogut vom Anfang im psychischen Leben enthalten gewesen sein oder sich lange vor Erlernung dieses Sprachgebrauchs entwickelt haben. 232 2. Beschreibung des Selbstbewußtseins. Im Selbstbewußtsein ist ein Doppeltes enthalten: Ich unterscheide mich in ihm von der Welt, welche nicht „Ich" ist, und ich finde andererseits in ihm den einzelnen psychologischen Zustand, die Veränderung, die Handlung mit den übrigen zu einer Einheit verbunden, welche der Erwachsene als „Ich" und „Selbst" bezeichnet. Die Art und Weise dieser Einheit kann durch das ontologische Merkmal bezeichnet werden, daß wir Zustände und Handlungen an dem Selbst oder Ich finden. Davon ist das logische Merkmal, daß diese Zu-
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stände oder Handlungen Prädikate des Subjektes [, des] Ich sind, der Ausdruck. Der Redende weiß sich im Selbstbewußtsein als derselbe mit dem, welcher etwas will oder wollte, fühlt oder fühlte. Was sich von der Welt unterscheidet, ist nicht der einzelne psychische Akt, sondern das Subjekt desselben, das Ich oder Selbst, welches in dem „ich denke, ich fühle, ich will" alle Handlungen begleitet. 233 Und zwar ist dieser Tatbestand nicht auf die Intelligenz beschränkt, wie dies seit Kant die herrschende Annahme war. Denn in dem Selbstbewußtsein vollzieht sich nicht die gleichgültige Vorstellung eines „Ich", das irgendwo vorhanden wäre und sich von einem anderen so unterschiede wie etwa dies von einem dritten. Und doch könnte das Selbstbewußtsein nichts anderes als etwa eine solche nüchterne und gleichgültige Abspiegelung sein, wäre es eine bloße Tatsache unserer Vorstellung. Lotze hat daher mit Recht gefolgert, daß die Grundlage desselben in dem Lebensgefühl liege, welches seine Sphäre von der einer gleichgültigen Außenwelt sondert. Diese Tatsache muß dahin ergänzt werden, daß dem Selbstbewußtsein ebensowohl der Wille zugrunde liegt, welcher Widerstand und einer von ihm nicht beherrschten Welt seines Selbst inne wird. Dieser Wille und die von ihm eingeleiteten willkürlichen Bewegungen grenzen daher eine Sphäre, innerhalb deren Bewegungsimpulse direkt wirken, Bewegungen von einer ihnen entsprechenden Intensität der Bewegungsgefühle begleitet sind, 234 ab von der Außenwelt; einen Willen, der nach außen greift, vermögen wir ohne einen Punkt, von dem er ausgeht, nicht vorzustellen. Das Selbstbewußtsein kann nicht aus Empfindung, Gefühl, Anstößen des Willens und den Assoziationen derselben erklärt werden. Seine Entstehung kann auf dem Wege direkter Beobachtung nicht festgestellt werden, der Beginn unserer Erinnerung findet dasselbe bereits vor. Dächte man sich nun ein Wesen, welches mit den eben angegebenen Fähigkeiten ausgestattet wäre, von wechselnden Zuständen des Lebensgefühls erfüllt, so würde das Selbstbewußtsein aus diesen Prämissen nicht abgeleitet werden können; einem solchen Wesen würden Empfindungen, Gefühle einfach als vereinzelte Tatbestände vorschweben und wiederkehren. Soll erklärbar werden, daß diese eine Kontinuität bilden, in welcher sie als Zustände eines Selbst erscheinen, das eine zusammenhängende Vergangenheit hat, alsdann muß mindestens die Tatsache der Einheit des Bewußtseins oder eine andere ihr äquivalente Tatsache hinzugedacht werden, denn nur dadurch erklärt sich das Selbstbewußtsein, indem die Einheit des Bewußtseins verschiedene Zustände zusammenhält, im Fortgang derselben die Abwandlung aufrechterhält und so die Selbigkeit des Ich herstellend gedacht werden kann. Rationaler erscheint die Auffassung bei den Tatsachen, Selbstbewußtsein und Einheit des Bewußtseins als Folgeerscheinung eines für uns nicht vorstell-
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baren Bedingungsinbegriffs aufzufassen, aus welchem auch die Erscheinungen der Aufmerksamkeit erklärt werden. Dieser Tatbestand wird da gemeint, wo der Ausdruck „Seele" gebraucht wird. Er bezeichnet ein Einheitliches, Selbständiges im Zusammenhang des psychischen Lebens. Die Selbständigkeit des Seelenlebens ist für den Menschen der Gegenstand unmittelbaren Innewerdens. Denn was auch die Natur über ihn verhänge, sein Wille vermag zu verneinen und unbeugsam sich zu erhalten; hierauf beruht das Bewußtsein der Souveränität des Menschen. Hierzu Kant, daß wir zusammenhängend mit diesem Tatbestand der Freiheit innewerden, das Bewußtsein der Verantwortlichkeit löst uns aus dem Naturzusammenhange. Dieser Erfahrungstatbestand empfängt nun eine Bestätigung durch den Schluß aus der Einheit des Bewußtseins. In ihr liegt die Tatsache vor, daß wir in jedem Vergleichungsurteil Empfindungen zusammen besitzen, ohne daß sie doch getrennt wären; vielmehr unser Innewerden muß sie ineinander haben, damit ihr Verhältnis zum Bewußtsein kommen kann. Aus diesem Tatbestand hat die Metaphysik seit dem Neuplatoniker Plotinus geschlossen. Dieser Schluß tritt am bündigsten bei Mendelssohn auf; er wird in Kants Dialektik behandelt; auf ihn hat Lotze seine ganze Metaphysik der geistigen Wesenheiten gegründet. Der Körper als ein materielles Ganzes besteht aus Teilen. Dächte man, diese Teile seien mit geistigen Fähigkeiten ausgestattet, so wäre ein jedes von ihnen eine Art von Seele, allenfalls könnten sie sich psychische Anstöße mitteilen, aber ein Punkt, an welchem diese gesondert bestünden und doch aufeinander bezogen würden, würde auf diese Weise nicht gewonnen werden. Diese Demonstration empfängt eine noch größere Schärfe, wenn man von der Mechanik der Atome seinen Ausgangspunkt nimmt. Alsdann hat man es mit lauter diskreten Teilen zu tun, zwischen welchen eine Einheit des Bewußtseins nicht vorgestellt werden, an die Empfindungen wohl verteilt werden könne, ohne daß doch aus dem Zusammensein dieser Empfindungen in lauter diskreten Teilen eine Vergleichung entstehen könnte. Diese Argumentation ist natürlich nur gültig unter der Voraussetzung der Mechanik der Atome, aber die Verteidigung der Selbständigkeit des geistigen Lebens kann selbstverständlich nur aufgrund des Zusammenhanges der gegenwärtigen Wissenschaft geführt werden. Diese Selbständigkeit des psychischen Lebens werden wir von nun ab mit dem Ausdruck Seele bezeichnen. Die Seele kann nicht als eine Substanz aufgefaßt werden, denn der Begriff der Substanz stammt selber aus dem Selbstbewußtsein; er ist nicht, wie Kant annahm, eine bloße Form des Verstandes, denn dann wäre er für den Verstand gänzlich durchsichtig, wie es Zahlenverhältnis, Identität und Unterschied sind. Im Gegenteil enthält dieser Begriff eine unzersetzbare Realität, welche durch keine Definition eines Metaphysi-
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kers erschöpft wird. Diese stammt mit ihrer Lebendigkeit aus der Erfahrung des Selbstbewußtseins. Indem aber diese Erfahrung in den Dingen wiedergefunden wird, welche sich im Raum ausbreiten, entsteht in dem Begriff des Dinges, und das ist der Begriff: Substanz, mit seinem Relationsbegriff (den Akzidenzien) eine Reihe von Schwierigkeiten, welche zu immer neuen Annahmen treibt, ohne eine Lösung zu finden. Denn in dem Ding, soweit es Substanz ist, soll ein Dauerndes vom Wechselnden, ein Sein von Wirken und Leiden, ein Rückhalt der Realität von den wesentlichen Eigenschaften und diese wieder von den zufälligen unterschieden werden. Dies ist alles unausführbar und verwickelt in Widersprüche; daher entspricht dem metaphysischen Substanzbegriff nichts Faßbares in der Wirklichkeit der Objekte, sondern er kann nur psychologisch und erkenntnistheoretisch aufgeklärt werden. [Ihn] auf die in der Erfahrung klare Tatsache des seelischen Lebens an[zu]wenden, führt nur zu einer Verdunkelung derselben, und das Tote, Starre, was die Anforderungen des Naturerkennens, die auf ein Festes gehen, in diesen Begriff hineintragen, entfremdet die Seele ihr selber.
§ 13. Die Zustände des Selbstbewußtseins, welche von der Regel des wachen Lebens abweichen 1. Halluzination, Vision, Illusion. Unter Halluzination verstehen wir Täuschungen der Sinne, welche ganz den Charakter von außen erweckter Sinnesempfindungen für den Getäuschten annehmen, ohne daß in der äußeren Wirklichkeit etwas zu ihrer Erregung vorhanden ist. Unter Vision verstehen wir die Halluzination des Gesichtssinnes. Unter Illusion verstehen wir eine Sinnestäuschung, für welche zwar ursächliche Objekte in der äußeren Wirklichkeit vorhanden sind, deren Inhalt aber in einer irrtümlichen Richtung über das in dem ursächlichen Objekt Vorhandene hinausgeht. Die Erklärung dieser Tatsachen ist vorläufig noch sehr unsicher. Die Wahrnehmung kann Nachbilder in komplementären Farben zur Folge haben, dies ist bedingt durch die Ermüdung des Sinnesorgans; nur beobachtet man auch solche Nachbilder von andauernden Phantasiebildern, wenn auch in geringerer Intensität. Hierdurch wird wahrscheinlich, daß die Tätigkeit, welche als Vorstellung eingeleitet ist, einen Erregungszustand mit sich führt, der sich zum Sinnesorgan verbreitet, also in umgekehrter Richtung verläuft als die Erregung, die den Wahrnehmungsgegenstand begleitet. 2. Der Traum. Die wichtigsten Elemente des Traumlebens gehören dem Gesichtssinn an. Hier wirken zusammen Eindrücke auf denselben von außen und innere Erre-
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gungszustände des Organs selbst. Beispiel der ersten Klasse: die Strahlen des Mondes. Das Sehfeld zeigt in jeder Zeit Spuren von irgendwelchen Erregungen des Gesichtssinnes. Der Lichtstrahl in den ruhenden Augen, alsdann die immerzu in Farben wechselnden Erregungen des Gesichtssinnes selbst rufen Schlummerbilder hervor, als deren Fortsetzung unter veränderter Bedingung ja die Traumbilder betrachtet werden müssen. Hierzu treten Druck- und Temperaturempfindungen; bei Abwesenheit einer absichtlichen, gerichteten Aufmerksamkeit können sie beinahe unaufhörlich während des Schlafes zur Empfindung gelangen. U n d die von ihnen hervorgerufenen Eindrücke haben infolge ihrer Verbindung mit dem Gemeingefühl lebhaft erregende Träume zur Wirkung. Der Gehörsinn empfängt einzelne aufblitzende Eindrücke. Gerüche scheinen nur zu Gesichtsbildern anzuregen, ohne selbst eine Umgestaltung zu erfahren. 235 Diese Eindrücke empfangen ihre Färbung und Richtung erst durch das Gemeingefühl und die mit ihnen verbundenen Einzelgefühle. Der Zustand während des Traumes zeigt erhebliche Schwankungen, die von der Tiefe des Schlafs bedingt sind. Im Traum ist das erfüllte und der Kontinuität des Lebens bewußte Selbstbewußtsein nicht vorhanden, es verbleibt nur ein Zentrum, von welchem aus die einzelnen Traumerscheinungen aufgefaßt und auf welches das Gemeingefühl und die Einzelgefühle bezogen werden. Dementsprechend haben die Traumerscheinungen keineswegs im Durchschnitt die volle Wirklichkeit; zunächst fehlt ihnen die Konstanz, welche durch das Beharren der Gegenstände im Raum dem wirklichen Wahrnehmen gesichert ist. Der Wechsel der Eindrücke im Gesichtsfeld, der in den inneren Reizen begründet ist, führt während des Schlafes zu einer raschen Metamorphose der Traumeinbildungen. Erst da, wo sie von Angstgefühlen und Fluchtversuchen nicht aufgehoben werden können, empfangen diese Traumeinbildungen einen höheren Grad von Wirklichkeit. Im Traum fehlt die spontane Tätigkeit des Willens, der willkürliche Bewegungen hervorruft, die Aufmerksamkeit richtet und den Vorstellungslauf beherrscht. Zugleich fehlen ihm diejenigen höheren Gefühle, deren Objekte ein abstraktes Denken voraussetzen; es fällt in ihm die Moralität des wachen Lebens weg. Unsere Erinnerung an Träume ist am lebhaftesten, wenn ein plötzliches Erwachen das letzte Traumbild noch erhäschen läßt, von welchem aus wir dann den ganzen Ablauf der Traumbilder oder doch die Hauptteile wieder erinnern können. Dagegen haben wir längere Zeit nach dem Verfließen des Traumes nur selten die Fähigkeit spontaner willkürlicher Erinnerung, wogegen im Lauf des Tages irgendeine Assoziation unwillkürlich den Traum zurückrufen kann. Dieser ganze Tatbestand spricht gegen die Annahme, daß sich von jedem Eindruck eine Spur das ganze Leben hindurch erhalte.
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Das Schlafwandeln entspringt aus dem Übergang lebhafter Traumbilder und der sie begleitenden Erregung sensorischer Zentren auf motorische. So entsteht eine Traumhandlung, und zwar ist in ihr die Mitwirkung der Sinne auf das mit der Traumidee Zusammenhängende beschränkt. Selbstbewußtsein und Schlußvermögen sind klarer als im Traumleben, und so bildet das Schlafwandeln in seinen entwickeisten Formen einen abnormen Zwischenzustand zwischen dem Traumleben und Wachen. Auch von solchen Traumhandlungen bleibt, nachdem sie in regulären Schlaf übergegangen sind, meist keine deutliche Erinnerung zurück. Die Erscheinungen des sogenannten tierischen Magnetismus wurden in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts durch Mesmer in ein phantastisches System gebracht. Wissenschaftlich untersucht wurden einzelne Tatsachen aus diesem System, welche als Hypnotismus aufgefaßt werden können. Die Ursache dieses abnormen Zustandes darf nicht in der Naturkraft dieses Magnetismus gesucht werden, sondern sie liegt in der Einwirkung der uns bekannten Sinnesreize auf das Nervensystem. 2 3 6 Ebenso sind die Wirkungen auf die Effekte, die solche Sinnesreize hervorbringen, zurückzuführen, und ihnen entsprechen . . , 237 Der Zustand selber zeigt allerdings eine Erhöhung der Reflexerregbarkeit; versteht man jedoch unter Reflexbewegungen solche, welche unter Ausschluß des Bewußtseins stattfinden, so dürfen schwerlich alle Bewegungen im hypnotischen Zustande als solche betrachtet werden. Denn wenn eine Anzahl Hypnotisierter sich auf Erinnerung so verhält, daß eine Assoziation dieselbe zurückruft, so werden die Bewegungen auch bei denen, welche eine solche Erinnerung nicht haben, folgerichtig auf einen Erklärungsgrund zurückgeführt werden dürfen, welcher das Bewußtsein ausschließt. [3.] Die Bewußtseinszustände und ihre psychische Unterlage. Die Beziehungen des Zentralapparates zum psychischen Leben empfangen einige Aufklärung durch die Vereinigung des Studiums der anatomischen Struktur mit dem der pathologischen Zustände, welche eine Vergleichung zwischen psychischen Störungen und dem Ergebnis des körperlichen Befundes gestatten, sowie endlich mit dem psychischen Experiment. 238 Die bisherigen Ergebnisse sind dem auf psychischem Wege von uns Festgestellten nicht ungünstig. Das selbständige psychische Leben bedarf eines Inbegriffes von körperlichen Mechanismen, und zumal wenn man eine uns unbewußte Mitarbeit der Seele an der Erhaltung der Gleichgewichtslage des Körpers, an dem Zustandekommen der Sinneswahrnehmungen, der Raumanschauungen, der unwillkürlichen Bewegungen ausschließt, so steigen die Anforderungen an diesen Mechanismus noch erheblich. Die bisherigen Entdeckungen lehrten uns einige Zentren für diese Leistungen kennen, die niedrigsten im Rückenmark, welche für sich die einfachste Form von Reflexbewe-
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gung zu vermitteln imstande sind. Alsdann im verlängerten Mark die Zentren für die Reflexbewegungen des Atmens, des Hustens, Schluckens, der mimischen Bewegung usw. Geht man weiter aufwärts, so ist eine von den Erregungen des Gesichtssinnes ausgehende Einleitung einer Anzahl unwillkürlicher Bewegungen als Funktion der vier Hügel [ . . . ] ; auch die Sehhügel, das kleine Gehirn enthalten Zentren, welche der Regulierung der Bewegungen dienen, und im Großhirn ist ein Apparat der Sprache entdeckt worden. Gerade die Untersuchungen über diesen Apparat machen eine Erweiterung der Annahmen über die Leistungen des Gehirns wahrscheinlich, wie sie auch durch unsere psychologischen Untersuchungen des Gedächtnisses erforderlich wurden. Die Spuren, welche die Herstellung des Erinnerungsbildes ermöglichen und die zwischen ihnen stattfindenden Verbindungen werden als eine Leistung der Zellen und Nervenfäden des großen Gehirns angesehen werden können. Die amnetische Aphasie besteht in einem Ausbleiben des Wortes bei Vorhandensein der Sachvorstellung und obwohl dem Wort die Artikulation zur Verfügung steht. Sie zeigt also das Ausfallen etwa eines abgegrenzten Gebietes des Gedächtnisses, und zwar verbunden mit einer zirkumskripten Erkrankung innerhalb des Großhirns. Indem nun diese Funktionen des Gehirns der Entwicklung, dem Alter und krankhaften Störungen unterliegen, gewähren oder versagen sie dem selbständigen geistigen Leben seine Bedingungen. Dazu kommen als positiv wirkend krankhafte Anomalia in den Leistungen des Nervensystems. Sie rufen Überreizung des Gefühls, Veränderungen des Gemeingefühls, Halluzinationen, Entwicklung krankhafter Neigungen von einzelnen Organen aus hervor. So lassen sich alle Veränderungen, welche im Gefolge der wechselnden Zustände unseres Organismus innerhalb des geistigen Lebens eintreten, aus denjenigen Veränderungen ableiten, welche innerhalb der angegebenen Leistung des Zentralapparates liegen. Hiermit ist in Ubereinstimmung, daß wir uns keine Beziehung zwischen den bisher angenommenen Funktionen von Nervenzellen und Nervenfasern einerseits und der psychischen Tatsache der Ursache des Entschlusses, der logischen Evidenz, des Urteils der Verneinung usw. andererseits denken können. Gerade das höhere, spontane psychische Leben, welches nach den religiösen und ethischen Uberzeugungen unser übersinnlicher Bestandteil [ist], ist zwar innerhalb der Sinnenwelt an die hervorgehobenen Leistungen des Nervensystems gebunden, aber nur indirekt, und es liegt kein Grund vor, in den bisherigen Erfahrungen dasselbe etwa als eine Funktion des großen Gehirns zu betrachten; vielmehr können wir uns gar keine Art von Vorstellung machen, wie die Elemente desselben die eben bezeichneten Leistungen auszuführen vermöchten.239
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I. Der Zusammenhang der Erkenntnis § 14. Leben und Erkennen Aus der Darlegung des Selbstbewußtseins folgt, daß uns die Wirklichkeit in der Totalität unseres geistigen Lebens gegeben ist, nicht aber, sofern wir uns bloß vorstellend verhalten. Wahrnehmung, Empfindung sind bloße Abstraktionen, sie sind aus der Wirklichkeit abstrahiert, die dem erfüllten Selbstbewußtsein gegeben ist; Vorstellungen beziehen sich nur auf diese Wirklichkeit und sind wahr als in ihr enthalten und falsch als in ihr nicht enthalten. Demnach ist uns auch direkt nur das Ding gegeben als eine Zusammenordnung unserer Eindrücke auf dem Hintergrund dieses Widerstehenden und sonach real, Substanz aber ist nur eine Abstraktion hieraus.
§ 1 5 . Empfindung und Wahrnehmung Gegeben ist uns das Ding, und die Wahrnehmung ist bereits eine Aussonderung eines Teilinhalts aus dem so Gegebenen. Die Empfindung aber ist uns erschlossen, und zwar vermögen wir nicht zugleich die Empfindungswahrnehmung zu haben und den physiologischen Vorgang zu sehen. Die Selbstbeobachtung, das Experimentieren mit uns selber, kann nur Reize mit Empfindungen vergleichen; der zwischen beiden befindliche physiologische Vorgang fällt für sie aus, und der Tierversuch sowie die Untersuchung pathologischer Zustände gewähren nur eine unvollkommene Ergänzung. Und zwar ist der Vorgang der Sinnes Wahrnehmung in drei Bestandteile zu zerlegen: Der erste derselben ist der Vorgang außerhalb des Körpers, welcher unser Sinnesorgan als Reiz trifft, ihn untersucht hauptsächlich die Physik; der zweite Vorgang findet innerhalb des Nervensystems statt, beginnt im Sinnesorgan, pflanzt sich auf der Nervenbahn fort und endigt im Gehirn. Ihn untersucht die Physiologie. Der dritte Vorgang ist der psychische, welcher Empfindungen und ihre Beziehung zum Wahrnehmungsbilde in sich schließt. Das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien ist von Joh. Müller aufgestellt worden. Wir können nach demselben keine Arten des Empfindens durch äußere Ursachen haben, die wir nicht auch ohne dieselben zu haben imstande wären; und zwar ruft ganz dieselbe innere Ursache in verschiedenen Sinnen verschiedene Empfindungen hervor, ebenso wirkt dieselbe äußere Ursache auf unsere verschiedenen Sinnesorgane je nach der Beschaffenheit ihrer Energien. Das Gesetz der Sinnesenergien kann in eine weitere Differenzierung verfolgt
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werden. Innerhalb der einzelnen Sinnessphären bestehen so viele Energien des Sinnesorgans, als dasselbe Grundempfindungen hat. So können auf drei Grundfarben die Sinnesenergien des Auges zurückgeführt werden. Die Theorie Kants nahm an, daß der Verstand Fähigkeiten besitze, durch welche von ihm die Eindrücke auf Substanzen zurückbezogen würden sowie in ursächliche Verbindung miteinander gebracht [würden]. Die moderne Naturwissenschaft hat insbesondere durch Helmholtz die Ansicht zur herrschenden gemacht, daß aus der einen Fähigkeit des Intellekts, das Geschehene auf Ursachen zu beziehen, die Verknüpfung unserer Eindrücke erklärlich sei. Gemäß der Darlegung über die Leistung des Selbstbewußtseins erscheint als die natürliche Annahme, daß die Eindrücke bezogen werden auf die für unseren Willen und für unser Gefühl vorhandene uns widerstehende Realität. Uber die Art dieser Beziehung [bestehen] zwei entgegengesetzte Theorien, die nativistische und die empiristische. Das Denken ist berechtigt, von den Tatsachen des Bewußtseins, unserem Selbst einerseits, einer objektiven Welt andererseits, auszugehen. Bestände die apriorische Kausalanlage aufgrund der Annahme von Wirklichkeit, so fiele diese Berechtigung weg, und der Solipsismus bliebe allein übrig, die Wirklichkeit wäre nur eine höchst wahrscheinliche Hypothese. Die Theorie des Selbstbewußtseins hat dagegen nachgewiesen, daß wir des Selbst und der Wirklichkeit in unmittelbarer Erfahrung gewiß sind.
§ 16. Der Zweckzusammenhang der menschlichen Erkenntnis Der Zweckzusammenhang des menschlichen Erkennens entwickelt sich auf der Grundlage des dargelegten Wahrnehmungsvorganges, und zwar bilden seine weiteren psychologischen Voraussetzungen: 1. Das Verhältnis der Vorstellung zur Wahrnehmung und das Gedächtnis. Die Vorstellung hat [ . . . ] Interesse; die Wahrnehmung stellt ihr nicht bloß einzelne Eindrücke, sondern die Verbindung derselben im Lebensverlauf zur Verfügung, so entsteht das Material der Erkenntnis. Dieser aber muß aus dem, was so durch den Zufall des Wahrnehmens zusammengetragen ist, Zusammengehörigkeit ableiten. Die andere Voraussetzung 2. liegt in der Aufmerksamkeit, welche aus dem Wahrgenommenen einen Teil heraushebt, den anderen zurücktreten läßt. Die kunstmäßige Benutzung dieses psychologischen Verfahrens im Erkenntnisvorgang, d. h. das Herausheben eines Teilinhaltes aus einem Bewußtseinsbestande unter Absehen von dem übrigen. Unter diesen Voraussetzungen vollzieht sich der Erkenntnisvorgang vermöge derjenigen Fähigkeit, welche wir Denken nennen. Diese ist zunächst
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die Funktion des direkten Vergleichens von Eindrücken und Tatbeständen. Als solche ist sie ein Innewerden von Identität, Ähnlichkeit, teilweiser Ubereinstimmung, Unterschied, Einheit und Zahl. Hieran schließt sich die Fähigkeit indirekten Vergleichens; wo Α nicht direkt mit Β verglichen werden kann, kann ein C zu Hilfe genommen werden. Dies ist die einfachste Art von Schluß. Den indirekt festgestellten Satz bezeichnen wir als notwendig. Ding und Wirken sind wie dargelegt in dem psychischen Grundverhalten für uns da, in welchem dem Selbst eine Wirklichkeit gegenübertritt. Aus ihnen wird der metaphysische Begriff der Substanz und der der Kausalität abstrahiert. Sie sind nicht Verstandesformen, wie sie Kant aufgefaßt hatte; dies ergibt sich daraus, daß sie nicht wie Einheit, Unterschied für den Verstand durchsichtig sind. Wie im Begriff der Substanz die Einheit von dem in ihr befaßten Mehrfachen abgegrenzt werden könne, das Beharrliche von dem Wechselnden, die Wesensbestimmungen von den Akzidenzien, hat kein Metaphysiker klarzumachen vermocht, ebensowenig wie ein Räumliches als von einer Einheit zusammengehalten gedacht werden könne. Dies sind nicht Widersprüche, wie Herbart solche im Substanzbegriff annahm, aber die Verstandesmäßigkeit dieser Begriffe wird so ausgeschlossen, daher sie weder Verstandesformen noch metaphysisch gültige Begriffe sind. Der Begriff der Substanz wurde im Altertum ausgebildet, für dessen ganze Metaphysik dieser Begriff den Mittelpunkt bildet. Die Ausbildung des Begriffs der Kausalität gehört der neueren Zeit an. Indem der Begriff der Substanz, Tun und Leiden unserem Denken zutritt, entsteht das kategorische Urteil. Denn das kategorische Urteil tut nichts anderes als: es schreibt einem Subjekt ein Prädikat zu, das Prädikat ist aber von (?) Substanz: Tun und Leiden. „Die Rose ist rot" ist kategorisch. Hier handelt es sich um das Verhalten einer Substanz zu einem Prädikat. D e r . . ,240 Das Urteil als kategorisches unterscheidet sich vom vergleichenden Denken, indem das Ding, das Tun und Leiden in das Denken eintreten. Das hypothetische Urteil beruht auf dem Satz vom Grunde, welcher ein Erkenntnis-, nicht ein Denkgesetz ist. Die Entwicklung der Erkenntnis vollzieht sich, indem an die sich erweiternde Erfahrung Theorien herangebracht werden zu ihrer Erklärung. Diese gehen entweder an dem Unvermögen, die Tatsachen zu erklären, zugrunde, oder sie bilden sich mit ihnen fort. Oft werden sie in einer früheren Zeit als unzureichend zurückgesteckt, um später in einem reiferen Stadium wiederaufgenommen zu werden (so geschah dies der atomistischen Theorie).
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[II. G e f ü h l u n d Wille] § 17. Die Beziehungen von Gefühl und Wille241 Gefühl, Trieb, Begehren, Willen zeigen miteinander verwandte Züge, und sie bilden eine kontinuierliche Reihe. Daher werden sie als die Welt des Gemütes zusammengefaßt. Der Gegensatz von Lust und Unlust, von Neigung und Abneigung, Zuwendung und Abwendung ist gleichartig. Es fragt sich, ob diese Verwandtschaft nicht auf einen gemeinsamen Ursprung deutet; das Gefühl könnte entweder auf den Willen zurückgeführt werden oder dieser auf jenes. Die erste dieser Theorien, Zurückführung des Gefühls auf den Willen, liegt bei Aristoteles vor. Seine Theorie der Energien betrachtete die Lust als ein Zeichen des Gelingens des Handelns der Energie. Nach den Stoikern ist Selbsterhaltung ein ableitbarer Antrieb, und die Lust ist ein Zusatz zu dem gelingenden Streben nach dem, was mit unserer Natur übereinstimmt. Eine neue, an die Stoiker anknüpfende tiefere Begründung gab dieser Theorie Spinoza. Die Psychologie verdankt Spinoza zwei weittragende Anregungen: Die erste lag in seiner Attributenlehre, ihr gemäß stellt sich die Menschennatur auf zweifache Weise als ein Zusammenhang von physiologischen Vorgängen und als ein solcher von psychischen Tatsachen dar. Demnach korrespondiert einem jeden psychischen Akt ein physiologischer Vorgang. Diese Theorie ist von Fechner und Wundt psychologischen Arbeiten zugrunde gelegt worden, von dem letzteren freilich nicht festgehalten. Die andere Anregung lag in Spinozas Affektentheorie; diese hat Joh. Müller in seiner Physiologie als ein unbestreitbares Ergebnis aufgenommen. Nach dieser Theorie ist in dem Streben nach Selbsterhaltung die fundamentale psychische Grundlage gegeben. Dieses Streben macht das Wesen des Menschen aus. Denken wir es von Bewußtsein begleitet, so wird es als Begierde bezeichnet, und zwar existiert diese nicht als ein abstraktes Vermögen, sondern in den einzelnen Willenszuständen. D a aber der Mensch als ein Modus der göttlichen Substanz von außen determiniert ist, so findet sich dieses Streben gehemmt oder gefördert, in der Hemmung desselben entsteht die Unlust, in der Förderung die Lust. 242 Begierde, Lust und Unlust sind die drei primären Affekte, aus welchen im Zusammenhang des Vorstellungslebens die übrigen hervorgehen. So ist Liebe nur die Beziehung der Lust oder der Aufhebung der Unlust auf ihre vorgestellte Ursache. Spinoza selbst hat sich darüber nicht ganz ausdrücklich geäußert, wie sich hiernach Begierden und Willen zum Gefühl verhalten. Doch ist im Zusammenhang seiner Gedanken die Ergänzung notwendig, daß die Ge-
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fühle nur ein Innewerden der Zustände des Willens sind. Diese Theorie ist zunächst in der Bezeichnung Selbsterhaltung zu eng, da die empirische Beobachtung des Lebensverlaufes das Streben nach Entfaltung und Steigerung in den Willen miteinzuschließen gebietet. Sie enthält alsdann eine zu enge Definition des Gefühls, denn nur ein Teil unserer Gefühle kann als Innewerden unserer Willenszustände aufgefaßt werden, z . B . unsere ethischen Gefühle nicht; sie vermag auch nur durch Trugschluß das Mitleid abzuleiten. Eine Fortsetzung dieser Theorie gab die Willenslehre von Schelling; sie trat zuerst hervor in seiner Schrift über die Freiheit und ist in seinen nachgelassenen Schriften entwickelt. Schopenhauer gab von dieser Theorie Fichtes und Schellings eine mehr populäre und dem Zeitgeist angepaßte Umbildung. Nach ihr ist der Mensch primär Wille, und dessen Darstellung ist das Leben; dieser Wille ist an sich unveränderlich, und nur die Mittel, deren er sich bedient, wechseln. Der menschliche Wille unterscheidet sich dadurch, daß er mit einem Intellekt verbunden ist, welcher eine Funktion des Gehirns ist. Demnach kann er von abstrakten Begriffen geleitet werden. Gehemmter Wille ist Leiden. Erst aus dieser Hemmung entspringt ein Bedürfnis der Befreiung, dessen Befriedigung das Glück ist; daher ist zwar das Leiden positiv, das Glück aber nur negativ. Eine provisorische Aufhebung des so aus dem Willen entspringenden Zustandes von Leiden ist die willenlose Hingabe an die Idee in der Kunst. Eine definitive würde nur in der Aufhebung des Willens selber liegen. Diese Theorie faßte den Willen als ausschließlich auf die Befriedigung des die Person angehenden Strebens gerichtet. Sie ist daher konsequent, wenn sie in allen Akten des Willens nur einen Ausdruck des Egoismus findet. Hieraus folgt dann, daß das Leben dem Willen keine Befriedigung gewähren kann (pessimistischer Standpunkt), daß andererseits das Schöne und Gute nur als Aufhebung des Willens gedacht werde. Aber das ästhetische Schaffen entspringt in einer von dem Willen geleiteten Tätigkeit; die Erkenntnis ist nicht nur nicht Wollendes, vielmehr herrscht sie über den Zufall des Gedankenlaufes durch die Macht des Willens. Überhaupt aber ist der Intellekt so wenig ohne Wille möglich als dieser ohne jenen. Das Problem des ganzen Standpunktes aber ist unlösbar: Innewerden des Willensbestandes und Gefühlszustand bleiben zweierlei. Eine entgegengesetzte Theorie entwarf unter anderen Piaton im Protagoras, Demokrit, dem dann Epikur folgte: Die Lust ist uns Anfang jedes Strebens und Meidens, und auf sie läuft unser ganzes Tun hinaus. Wir bezeichnen eine psychologische Auffassung, welche die Erkenntnis aus sinnlichen Wahrnehmungen ableiten zu können glaubt, den Willen und das Schöne und Gute in ihm aus Lust und Unlust, als Sensualismus. Der von der epikureischen Schule in römischer Welt sehr ausgebreitete Sensualismus wurde im 17. und 18. Jahrhundert in Frankreich und England fortgebildet. Jeremias Bentham hat diese
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Theorie zur Grundlage der Wissenschaft von Staat und Gesellschaft gemacht und seine weitverbreitete Schule der radikalen Politik begründet. Doch gelang es nur, indem dem Streben nach der eigenen Eudämonie des Individuums das nach der sozialen Eudämonie substituiert wurde. N u n kann aber das letztere nur insofern ins erstere eingeschlossen werden, als eine Befriedigung, ein Zuwachs von Lust und Unlust mit dem Glücke anderer für uns verbunden ist, demnach uns in dem Maße a l s . . , m Demnach bildet das Maximum von Unlust und Lust jederzeit den Maßstab, und so löst sich das Prinzip der sozialen Eudämonie wieder auf. In Wirklichkeit sind einander das Prinzip der individuellen und der sozialen Eudämonie entgegengesetzt. 244 Ebensowenig aber kann aus [dem] Gefühl der Wille abgeleitet werden. Die bloße Vorstellung vom zukünftigen Eintreten des Gefühls wird nicht für sich zu einem Willensakt. Die Passivität der Gefühle und die Aktion bleiben auseinander. Der Entschluß hat nicht mehr das doppelte Verhalten der Gefühle in Lust und Unlust in sich, die Aktivität des Willens kann nicht zureichend aus der bloßen Absicht, aus dem erreichten Zweck, einen glücklichen Zustand zu besitzen, erklärt werden. 245
§18. Das Gefühl 1. Das Gefühl im Zusammenhang der psychischen Akte. Wir unterscheiden zwischen dem einen Lebensmoment erfüllenden Bewußtseinszustand und seinem Teilinhalt. Gefühl ist zunächst ein Teilinhalt, eine Seite des Bewußtseinszustandes überhaupt und erst in einem weiteren Sinne der Zustand, in welchem diese Seite vorherrscht. Jedes Gefühl hat einen Vorstellungsinhalt, und bei genauerer Prüfung der Erinnerung erscheint es auch mit einem Willenszustand durchgängig verbunden. Andererseits hat der Bewußtseinsinhalt jedes wirklichen Lebensmomentes eine Gefühlsfärbung, einen Gefühlston. Die weiter gehende Behauptung, daß Empfindung und Vorstellung als solche mit einem Gefühlston ausgestattet seien, kann nicht bewiesen werden. Denn die Tatsache, daß Versenkung in Wahrnehmung einer einfachen Sinnesqualität eine Gefühlsfärbung derselben zur Folge hat, enthält nur den eben aufgestellten Satz in sich. Die Sinnesqualität braucht nicht unter allen Bedingungen unseres Bewußtseins dieselbe Folge für unser Gefühlsleben zu haben. 2. Das Wesen des Gefühls. Die Mannigfaltigkeit der Gefühle kann in eine Reihe von Intensitäten geordnet werden, welche von einem Indifferenzpunkt aus sich in der einen Richtung
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nach Intensitätsgraden von Lust oder Gefallen ordnen, in der anderen als solche von Unlust oder Mißfallen. Allen diesen Zuständen ist gemeinsam, daß sie eine Beziehung der Umstände, unter welchen unsere psychologische Lebenseinheit funktioniert, auf diese Lebenseinheit enthalten. Die Natur dieser Beziehungen wird unmittelbar im Gefühl erfahren. Für den Gedanken kann sie durch die Vorstellung des Wertes dieser wechselnden Lagen für unsere Lebenseinheit aufgeklärt werden. Vermöge des Gefühls stellt sich uns das uns Affizierende als eine Stufenordnung von Werten dar, wie vermöge des Erkennens ein Zusammenhang von Tatsachen und Wahrheiten. In jeder der beiden Seiten finden wir Lust, Gefallen, Eindruck der Vollkommenheit nebeneinander, sonach enthält jede dieser Seiten qualitative Verschiedenheiten und Arten der Gefühle. Das Gefühl muß sich ferner von dem Innewerden eines psychischen Zustandes, welcher die Bedingung der inneren Wahrnehmung ist, unterscheiden lassen. Wird auch der Ausdruck „Gefühl" für beide Arten von psychischen Tatsachen im Leben gebraucht, so ist doch das Gefühl, welches die Beziehung einer Tatsache zur Lebenseinheit in Lust und Unlust abmißt, vom unmittelbaren Innewerden dieser psychischen Tatsachen ganz verschieden. [3.] Die Gesetze des Gefühlslebens. Entwicklung und Arten desselben. Die Lebenseinheit, welche den Grund unserer Gefühle bildet, wird physisch durch den im Gemeingefühl sich darstellenden Bestand unseres Organismus, psychisch durch die Gliederung der Faktoren gebildet, die der Zeitfolge als unser Lebenszusammenhang in der Gegenwart, als unsere äußere und innere Lage sich darstellt. Diese Gliederung enthält dasjenige, was konstant innerhalb unseres geistigen Gesichtsfeldes, wenn auch mit sehr variabler Bemerkbarkeit sich befindet. Ihr Ausdruck ist das Lebensgefühl des Individuums. Das Lebensgefühl des gegenwärtigen Augenblicks bildet für die Prinzipien einer auftretenden Affektion auf die Lebenseinheit im Gefühl die Grundlage und wirkt somit bedingend auf die Bildung des neu entstehenden Gefühls. Somit wird von ihm aus der Gefühlswert einer Affektion, welche sonst als stetig angenommen werden könnte, bestimmt. Die Gewöhnung vermindert die Stärke eines Gefühls, auch wenn die Umstände, welche dasselbe hervorgerufen haben, unvermindert fortdauern. Dies ist teilweise bedingt durch die immer neu stattfindende Anpassung unserer Lebenseinheit an die sich verändernden Umstände. Eine Reproduktion der Gefühle, somit eine Erinnerung derselben, findet nicht statt, sondern nur mittelbar wird durch Reproduktion der Vorstellungen, die mit einem Gefühl verbunden waren, das Gefühl selber wieder erzeugt, weil f...] die Stellung der Lebenseinheit zur Vorstellung dieselbe geblieben ist. Die Fähigkeit des Individuums, einen Reichtum an Gefühlen zu erzeugen, ist auch dadurch bedingt, daß die Lebenseinheit desselben andere Individua und deren
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Schicksale in erweitertem Kreise in sich schließt. So entstehen die Familiengefühle, die geselligen, die Naturfgefühle]. [4.] Die Stellung der Gefühle in der Gesellschaft und der Menschheit.246 Gefühle bilden nicht gleich Erkenntnis- oder Willensakten unter sich einen Zweckzusammenhang, weder im Individuum noch in der menschlichen Gesellschaft. Trotzdem besteht eine Gemeinschaftlichkeit und ein Zusammenhang der Gefühle in einer bestimmten Generation, ja gemeinsame Grundzüge der Entwicklung des Gefühlslebens in der Menschheit. Die Elemente des Gefühlslebens sind selbstverständlich immer dieselben, die Entwicklung findet statt in bezug auf die Verknüpfung derselben. In einer gegebenen Generation sind die Gefühle zunächst indirekt miteinander in Zusammenhang; die Gleichartigkeit der Lebensbedingungen, welche zu den Lebenseinheiten in Beziehung stehen, bringt gleichartige Gefühlslagen in einer bestimmten Generation hervor. Direkt stehen aber die Gefühle im Zusammenhang durch eine Übertragung derselben, welche jedoch nicht wie die der Vorstellung eine vollständige ist. Das mächtigste Hilfsmittel einer solchen Übertragung liegt in der Anschauung einer gefühlsgewaltigen Individualität, mag diese das Leben oder die Dichtung gewähren. Gewisse Grundzüge der Entwicklung des Gefühlslebens gestattet die Geschichte der Kunst festzustellen, denn diese bringt Gebilde hervor nach dem inneren Gesetz von Metamorphose, nach welchem die Wirklichkeit dem Gefühlsleben entsprechend gestaltet wird. Ihre Schöpfungen sind daher ein Ausdruck des Gefühlslebens. Schillers Sonderung naiver und sentimentaler Poesie schied die Dichtung nach einem solchen inneren Gegensatz der Gefühlsweise. Die Romantiker haben die Entwicklung des in der Kunst wirksamen Gefühls in Europa in einer Dreiteilung [darzustellen] versucht, welche dem Tatbestand am meisten entsprechend erscheint.
§19. Der Wille und seine Freiheit247 Die Theorie des Willens bildet die Grundlage der Wissenschaften der Gesellschaft, des Staates und des Rechts und ist besonders einflußreich in bezug auf die Behandlung der Geschichte. Das Altertum vernachlässigte diese Theorie. Erst die Epoche des Kampfes der Weltreligionen entwickelte die religiöse Fassung der Frage in dem Gegensatz von Prädestination und Freiheit. Die Frage trat in ein neues Stadium durch die mit der Aufstellung der Gesetze Galileis im 17. Jahrhundert beginnende Einsicht in die Gesetzmäßigkeit der Außenwelt. Es bildeten sich scharfe Begriffe von Gesetz, Notwendigkeit, Beziehung von
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Ursache und Wirkung, welche ein Ausdruck der in der Natur waltenden Gleichförmigkeit war. Die Übertragung dieser Begriffe und Sätze auf die innere Welt, den Willen und seine Handlung, vollzog sich für die metaphysische Schule in Spinoza, für die empirische in Hume. Spinoza leitete aus den aus der Natur gebildeten Begriffen der Substanz, der Ursache und des Grundes, aus dem „omne quod est, vel in se, vel in alio est"248 die gänzliche Bedingtheit des Einzelwesens aus dem in der ersten Ursache oder Substanz gegründeten Naturzusammenhang ab. Aber die Begriffe haben ihren Ursprung in der inneren Erfahrung, und es ist daher eine metaphysische Illusion, sie auf eine Einheit der Welt zu übertragen, und zwar in der Form, die sie an der Natur gewonnen haben, von hieraus aber den Befund zu verneinen, aus dem sie entsprungen sind und der Erfahrungstatsache ist. Spinoza erklärte weiter die Erfahrung der Freiheit aus der ignorantia über die Ursachen unserer Handlungen. Jedoch aus der Abwesenheit unserer Kenntnis des ursächlichen Zusammenhangs in einem gegebenen Falle folgt unmöglich das positive Bewußtsein der Freiheit. Hume betrachtet als das den Begriffen Ursache und Notwendigkeit Zugrundeliegende die Erfahrung der Gleichförmigkeit in der Aufeinanderfolge von Tatsachen und die psychisch hierdurch bedingte Gewöhnung. Ursächlichkeit und Notwendigkeit können also nach ihm nur empirisch begründet werden. So sei in der Erfahrung das Bewußtsein der Notwendigkeit des Naturlaufs entstanden, und zu derselben Annahme eines notwendigen und gesetzlichen Zusammenhangs in bezug auf die Handlung zwingt die erfahrene Gleichförmigkeit in diesem Handeln, die Tatsache, daß wir auf die Handlung anderer Menschen wie auf Naturereignisse rechnen können, die Zuversicht in betreff der Charaktere, auf der unsere moralischen Beziehungen begründet sind. So richtig die von Hume angewandte Methode der Beweisführung ist, gründet sich dieselbe doch durchgängig nur darauf, daß innerhalb gewisser Grenzen Regelmäßigkeit besteht, 1) weil dieselben Kräfte der Menschennatur in denselben Lagen wiederkehren, 2) weil im Bereich der Abwägung der logischen Berechnung Notwendigkeit herrscht. Die empirische Methode Humes empfing eine Erweiterung in den Arbeiten der Statistik. Der Begründer dieser Richtung, Quetelet, gehörte der Richtung Humes an, aber die ersten Autoritäten der gegenwärtigen Statistik249 finden der Mehrzahl nach die Folgerungen aus den statistischen Tatsachen gegen die Freiheit des Willens unbefriedigend. Der Wille besteht nicht in der Gegensätzlichkeit des Begehrens und Verabscheuens, sondern dies erscheint nur so durch die Einwirkung der Gegensätze des Gefühls auf ihn; er selber ist positiv, und der in ihm gelegene Gegensatz ist der des Bestimmtwerdens und Bestimmtseins. Die Verschiedenheit des Willens vom Gefühl erkennen wir daher an der Verschiedenheit der Grundverhältnisse
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beider. Hierzu kommt, daß das Gesetz der Abstumpfung für die Gefühle gültig ist, nicht aber für den Willen, das der Gewöhnung aber250 umgekehrt. Der Typus des Willensvorganges besteht in der Beziehung eines vorschwebenden Effektbildes zu der Lebenseinheit. Diese Beziehung stellt sich im Abwägen von Motiven und im Entschluß dar.251 Die Lebenseinheit besitzt als eine innere Gliederung eine sehr mannigfaltige 252 Reaktionsfähigkeit zu handeln gegenüber ihren möglichen und wirklichen Umständen, ζ. B. sie sucht Lust, will das für andere Nützliche, strebt nach Entfaltung ihrer Kräfte. Das vorschwebende253 Effektbild in seinem Zusammenhange, d. h. seinen Wirkungen angesehen, enthält sein Mannigfaltiges von Beziehungen zu dieser Gliederung, z.B. das Effektbild einer Reise, Gesundheit, Schaden in Geschäften, Trennung, Vergnügen. Jede solche Beziehung bildet ein Motiv, d. h. einen in der Beziehung der Lebenseinheit gelegenen Beweggrund, die Handlung zu vollbringen oder zu unterlassen. Motive, welche sozusagen auf derselben Fläche innerhalb der Reaktionsfähigkeit der Lebenseinheit zu Handlungen liegen und welche dennoch254 gegeneinander meßbar sind, werden unter normalen Umständen mit Notwendigkeit gegeneinander abgewogen. Der Charakter und die Freiheit beziehen sich auf die innere Gliederung von nicht vergleichbaren Werten innerhalb der Lebenseinheit. Die Entwicklung dieser inneren Beziehung ist die Gestaltung des Charakters. Diese Gestalt vollzieht sich mit Freiheit. Diese Freiheit wird in der inneren Erfahrung der Verantwortlichkeit, des Freiheitsbewußtseins, der Zurechnung, der Reue erlebt. Sie kann nicht erkannt werden, da alles Erkennen nach dem Satz vom Grunde notwendigen Zusammenhang aufsucht. Der logische Zusammenhang und die Naturwirkung sind korrekte Begriffe. Kant versuchte die Tatsachen der sittlichen Freiheit mit der Annahme des Kausalzusammenhangs in den Handlungen zu vereinigen, indem er die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich auf das Gebiet der innerlichen Erfahrung übertrug. So entstand sein Begriff des intelligiblen Charakters und der intelligiblen Freiheit. Die Erscheinungen unseres Lebens als in der Zeit verlaufend werden durch die Verstandesfunktion als Ursache und Wirkung zu dem Ganzen eines Charakters und Lebenslaufes verknüpft, innerhalb dessen Notwendigkeit herrscht, der Wille an sich selber aber ist Freiheit. Diese Lehre haben Schelling und Schopenhauer fortgebildet, Julius Müller hat sie in die Theologie eingeführt. Aber alle Theorie des Menschenlebens ist, was Kant als Erscheinung bezeichnete, in den tatsächlichen Erscheinungen des Lebenslaufes, und hier oder nirgend muß die Freiheit gefunden werden.
Β. D I E B E R L I N E R
PSYCHOLOGIE-VORLESUNGEN
DER ACHTZIGER J A H R E
(1883-1889)
Psychologie (Wintersemester 1883/84)
Einleitung § 1. Die Aufgabe der Psychologie 1) Die Tatsachen des Bewußtseins sind in unserem Selbstbewußtsein zu einer inneren Einheit verbunden, welche das Zusammensein und die Aufeinanderfolge psychischer Zustände zu einem Ganzen verknüpft, das wir Leben nennen. Zunächst ist der inneren Erfahrung eine Lebenseinheit gegeben, alsdann [erschließen wir durch einen Schluß der Analogie ähnliche Lebenseinheiten außer uns; aus der Wechselwirkung derselben baut sich der Zusammenhang der Menschheit auf (Geschichte, Gesellschaft). Die Wissenschaft dieser Lebenseinheiten nennen wir Psychologie oder Wissenschaft der Seele, ohne daß mit letzterem Ausdruck zunächst etwas anderes bezeichnet würde als der einheitliche Kreis von Tatsachen, welche das Selbstbewußtsein verknüpft. Die Wissenschaft, welche diesen Erfahrungskreis analysiert, kann nicht von der Voraussetzung einer seelischen Substanz ausgehen, denn es gibt keine der Psychologie vorausgehende Wissenschaft, welche die Existenz einer solchen Substanz streng zu erweisen imstande wäre. Vielmehr ergibt sich erst aus dieser Erfahrungswissenschaft die Beurteilung der metaphysischen Annahme von einer Seele als einem substantialen Träger der Zustände und Tätigkeiten, welche die innere Wahrnehmung uns zeigt. 2) Die Wahrnehmung psychischer Tatsachen unterscheidet sich von der äußeren Wahrnehmung zunächst als ein Erleben der eigenen, als ein Miterleben, Mitempfinden der fremden Zustände: So befriedigt sie das auf allen Kulturstu-
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fen gleiche stärkste menschliche Erfahrungsinteresse. Sie unterscheidet sich alsdann dadurch, daß in ihr allein Tatsachen so wahrgenommen werden, wie sie sind. Das Studium der Außenwelt bezieht sich nur auf Phänomene, und auch die von der Naturwissenschaft diesen Phänomenen untergelegten Sätze und Elemente überschreiten nicht das Gebiet der Erscheinungswelt. In der Psychologie eröffnet sich ein Gebiet von Tatsachen, denen so, wie sie gegeben sind, Wirklichkeit zukommt. Die Gesetze des geistigen Lebens, die an den Lebenseinheiten festgestellt werden können, sind der Zusammenhang des geistigen Lebens. Dies zu erkennen, ist das Ziel der Psychologie. 3) Und wie der Mensch als psychische Lebenseinheit in der inneren Erfahrung gegeben ist, so ist er als leibliche Organisation in der äußeren Wahrnehmung gegeben: Er ist ein psychophysisches Ganzes. Inneres Gewahrwerden und äußere Auffassung können wir nun nicht zugleich vollziehen, daher ist uns die innere Beziehung zwischen den körperlichen Vorgängen und den psychischen Akten nicht direkt und unmittelbar gegeben. Wir können nur ihr äußeres Zusammensein und ihre äußere Abfolge auffassen und hierauf eine Theorie gründen: Diese Theorie hat ihr Begründer Fechner „Psychophysik" genannt. Sie stellt fest, daß in einem weiten Umfange geistige Zustände, Vorgänge, Veränderungen mit körperlichen verbunden sind; für diese merkwürdige, regelmäßige Verbindung sucht sie eine Erklärung. So entspringt für das psychologische Studium eine zweite wichtige Aufgabe: „Es gilt, eine Brücke zu schlagen von dem Studium der körperlichen Vorgänge zu dem des geistigen Lebens." 2 5 5 Diese Aufgabe kann nur gelöst werden, wenn zunächst so, wie der Zusammenhang der körperlichen Erscheinungen, auch der des geistigen Lebens unbefangen erforscht wird; alsdann erst kann die Beziehung beider Erfahrungskreise der Untersuchung unterzogen werden. 4) Die Psychologie ist die Grundwissenschaft der Geisteswissenschaften; 256 die Gesellschaft besteht aus einer Mehrheit von Systemen der Kultur, wie Recht, Sitte, Kunst, Religion, Wissenschaft, sowie in einer äußeren Organisation. Ein System der Kultur existiert nur in den einzelnen Individuen als ein psychischer Teilinhalt derselben. Diese Individuen sind durch einen Zweckzusammenhang verbunden; die Begriffe und Sätze, von denen aus ein solches System entwickelt werden kann, sind psychologische, und zwar zweiter Ordnung. Auch die äußere Organisation der Gesellschaft hat ihre Existenz in dem Verhältnis von Bindungen und Gemeinschaften, die psychologischer Natur sind. 257 - Daher beruhen die Einzelwissenschaften der Gesellschaft: Jurisprudenz, Theologie, Politik, Erziehungslehre usw. auf der Grundwissenschaft „Psychologie". -
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§2. Von den Mitteln, die Tatsachen des Bewußtseins aufzufassen Die Auffassung psychischer 258 Tatsachen in der inneren Wahrnehmung unterliegt mannigfachen Schwierigkeiten, mag sie den besonderen Zustand des Individuums oder als psychologischen die Gleichförmigkeit des psychischen Lebens zum Gegenstande haben. Das Gebiet der psychologischen Beobachtung ist sehr eng, denn der Akt der Beobachtung stört die unwillkürlichen Zustände in vielen Fällen, und er ändert, wo ein Zustand der Willkür vorliegt, die Richtung desselben; aber die tatsächliche Kenntnis der Mannigfaltigkeit unserer psychischen Zustände setzt eine Wahrnehmung derselben voraus. Diese besteht als ein Innewerden unserer Zustände; 259 die Erinnerung hält dann das Bild des Wahrgenommenen fest;260 so wird die Erinnerung zu einem wichtigen Hilfsmittel der inneren Wahrnehmung neben der Beobachtung. Das Gewahrwerden anderer oder die Menschenkenntnis läßt sich als ein Schluß der Analogie darstellen. Der bei mir stattfindende Zusammenhang einer sinnlich wahrnehmbaren Äußerung mit einer psychischen Tatsache bildet das erste zugrundeliegende Urteil; die Verwandtschaft einer mir gegenüberstehenden sinnlich wahrnehmbaren Äußerung mit der meinigen bildet das andere, und hieraus wird der Zusammenhang der an anderen aufgefaßten Äußerungen mit einem psychischen Leben erschlossen, welches in einem bestimmten Verhältnis von Verwandtschaft zu meinem eigenen steht. In diesen Schluß geht zwar die nur phänomenale Tatsächlichkeit körperlicher Vorgänge ein, aber diese hat hier nur den Wert eines die Feststellung des inneren Zustandes vermittelnden Zeichens. Die Hauptbedingung der Menschenkenntnis liegt in dem Reichtum des eigenen Inneren; die Mängel des von diesem Inneren ausgehenden Analogieschlusses müssen durch die methodische Benutzung der Mannigfaltigkeit der Erfahrungen ausgeglichen werden. - Ergänzung durch Studium einfacher Seelenzustände (Kinder, Naturvölker), der Seelenzustände bei Abwesenheit bestimmter Faktoren (Blindgeborene, Taubstumme), der Zustände, die von der N o r m abweichen (Hypnosen, Schlafwandel, geistige Störungen), der Tiere. -
§3. Die Psychologie kann nicht auf Metaphysik begründet werden 261 Die älteren Werke über die Psychologie benutzten zur Bearbeitung der so in der Erfahrung gegebenen Tatsachen die Metaphysik; sie betrachteten diese als Grundwissenschaft, als Königin der Wissenschaften. Noch Herbart, der Begründer einer mechanischen Auffassung des geistigen Lebens, und Lotze benutzten die Ergebnisse ihrer Metaphysik für die Psychologie.
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Aber die Metaphysik als Wissenschaft besteht nicht; sie trat auf mit dem Ansprüche, den allgemeinen inneren Zusammenhang der Erscheinungen zu erkennen. Die älteren wie die neueren europäischen Völker haben nach dem mythischen ein metaphysisches Stadium ihrer geistigen Entwicklung durchlaufen; in demselben wurden die gedanken-, ja zweckmäßigen Formen des Naturzusammenhanges auf das Wirken geistiger Wesen zurückgeführt, denn man hatte die Mittel einer mechanischen Erklärung noch nicht. Eine einheitliche wissenschaftlich haltbare Metaphysik bestand nun solange, als die Unvollkommenheit der Naturwissenschaft eine solche Erklärung der Naturform notwendig machte. Dann trat seit dem 17. Jahrhundert eine Zersplitterung der Metaphysik in eine Mehrheit unbeweisbarer Weltansichten ein, von denen jede denselben Anspruch auf Geltung hat. Endlich wurde im 18. Jahrhundert die metaphysische Grundlegung der Wissenschaft durch eine erkenntnistheoretische, das metaphysische System durch den inneren Zusammenhang der Einzelwissenschaften abgelöst; in ihnen ist heute für uns die wissenschaftliche Wahrheit. Gründe für die Unmöglichkeit einer metaphysischen Wissenschaft oder einer wissenschaftlichen Metaphysik: 1) Ein einheitlicher Zusammenhang aller unserer Erfahrungen kann nur durch Trugschlüsse hergestellt werden, denn das Studium der Natur führt auf zwei Klassen von Bedingungen: Elemente und Gesetze. Dieser Dualismus ist in der Natur des Urteils logisch begründet und bleibt unüberwindlich. Wir können weder angeben, warum Atome eine im Gesetz darstellbare Gleichförmigkeit des Verhaltens zeigen, noch, warum sie in Wechselwirkung stehen, noch endlich, warum zweckmäßige Tatbestände sich aus ihnen zusammensetzen. Gehen wir über den Naturzusammenhang hinaus, so ist alle Theorie, welche geistiges Geschehen in einen realen Zusammenhang mit dem körperlichen bringt, ein bloßes logisches Arrangement. 2) Die Bänder des metaphysischen Weltzusammenhanges: Substanz und Kausalität, können nicht zu klarer Erkenntnis und eindeutiger Begriffsfassung gebracht werden; ja der Erkenntnis wert der Begriffe Substanz und Kausalität für das Naturgebiet bleibt unsicher. 3) Das metaphysische Denken, welches diesen Weltzusammenhang feststellen will, stößt auf Widersprüche, die innerhalb des metaphysischen Standpunktes unauflösbar sind: a) Materielle Einheiten werden als unzerlegbar behandelt. b) Der Verstand legt die Endlichkeit des Wirklichen seiner Betrachtung zugrunde; für die Anschauung aber sind Raum und Zeit und ursächliche Verkettung unendlich. c) Der Verstand setzt überall kausalen Zusammenhang, sonach notwendige
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Verknüpfung voraus; der inneren Erfahrung ist eine Spontaneität des Willens gegeben, welche diesem notwendigen Zusammenhange nicht unterworfen ist. 4) Dieser Zusammenhang schließt als Naturerkenntnis nur Erscheinungen in sich; durch keine Art von Schluß können wir das Gebiet derselben überschreiten, denn alle Begriffe, durch welche wir schließen, haben nur für Erscheinungen Gültigkeit. Dies ist unter Voraussetzung des Empirismus von Hume bewiesen worden, unter der des Rationalismus von Kant.
§4. Die Psychologie kann nicht der Naturwissenschaft untergeordnet werden, aber sie kann nur mit Hilfe der Ergebnisse der Physiologie wissenschaftlich vollendet werden 1) Psychologie kann nicht der Naturerkenntnis untergeordnet werden. a) Geistige Vorgänge sind aus ihren materiellen Bedingungen nicht zu begreifen; bei vollendeter Kenntnis aller Teile des materiellen Systems bleibt doch unbegreiflich, wie diesen Teilen nicht sollte gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewegen.262 Dieses Bedenken, das neuere Naturforscher anerkannt haben, bezeichnet indes überhaupt eine immanente Schranke der Naturforschung und -erkenntnis, welche nicht nur in Rücksicht der Empfindung besteht. Tatsachen von verschiedener Provenienz können nicht eine aus der anderen hergeleitet werden; von den Eigenschaften des Räumlichen gelangen wir nur vermittelst der Tatsächlichkeit der Tastempfindung zu der Vorstellung einer Materie. Unser Naturerkennen ist sonach darauf eingeschränkt, die Gleichförmigkeiten in Rücksicht der Koexistenz und Aufeinanderfolge festzustellen, welche zwischen diesen Tatsachen stattfinden. Wenn es also möglich wäre, bestimmt definierte Tatsachen, die im Zusammenhange der mechanischen Naturbetrachtung eine feste Stelle einnehmen, bestimmt definierten Bewußtseinstatsachen zu substituieren, alsdann würden diese letzteren dem Zusammenhange des Naturerkennens so gut untergeordnet sein, als es optische und akustische Tatsachen sind. b) Aber die ganze Psychologie wird die Unmöglichkeit hiervon zeigen; der Zusammenhang des psychischen Lebens ist dem mechanischen Naturzusammenhange nicht vergleichbar. Indem wir die Beziehungen psychischer Tatsachen aufeinander denen von körperlichen Elementen zueinander unterordnen wollen, entsteht ein Widerspruch. Aufgrund von Piatons „Theätet" 185 ff. und Aristoteles' „De anima" III, 2 [426 b] hat Plotin einen Beweis für die Selbständigkeit der Seele daraus entwickelt, daß die Sinneseindrücke in einer unteilbaren Einheit zusammentreffen müssen, soll eine Vergleichung derselben möglich sein. Dieses Argument bildeten fort Thomas von Aquino, Leibniz, Wolff,
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Mendelssohn, noch zuletzt Lotze; wenn auch als solches falsch, erweist es doch dabei die Unmöglichkeit, aus den Gesetzen des mechanischen Naturlaufes das geistige Leben zu erklären. Hinzu treten die Tatsachen der Spontaneität und Verantwortlichkeit. 2) Dagegen enthalten die Gesetze der Physiologie unentbehrliche Hilfsmittel für die Psychologie als Erfahrungswissenschaft; die von einigen Psychologen, ζ. B. Brentano, versuchte Absonderung der psychologischen Erfahrungswissenschaft von den physiologischen Erfahrungen kann nicht durchgeführt werden. -
I. ABSCHNITT: Die Systematik der psychischen Zustände § 5. Die Mannigfaltigkeit der psychischen Zustände und die Aufgabe, ihre Systematik aufzufinden Die psychischen Einzelzustände werden durch die Aufmerksamkeit aus der Kontinuität des Lebensverlaufes herausgehoben. Kehrt die Beachtung derselben oftmals wieder, so hält die Sprache durch eine bestimmte Bezeichnung die allgemeine Vorstellung fest. Und zwar wird die Auffassung der inneren Zustände hierbei unterstützt durch die des äußeren Kausalzusammenhanges, in welchem die Bedingungen der einzelnen Zustände liegen; zumeist bilden wenigstens einzelne Elemente der Vorstellungen von diesen Bedingungen einen Teil des Inhalts des betreffenden Zustandes. Wir finden nun, daß bei Wiederkehr der Bedingungen ein Typus eines Zustandes oder Aktes zurückkehrt. Wie entsteht nun eine Systematik, welche diese Typen von Zuständen in systematischer Erkenntnis verknüpft? Zunächst halten wir verwandte Zustände aneinander; 263 wir machen uns deutlich, wie in dem System der äußeren Bedingungen die Verschiedenheit dieser Bedingungen a, b, c, d auf einer gemeinsamen Grundlage auch eine Verschiedenheit der einzelnen Bestimmungen α, β, γ, δ herbeiführt. Wir lösen das, was den verwandten Zuständen gemeinsam ist, als ein allgemeines Verhalten in einem Begriffe aus ihnen aus. So gelangen wir zu Begriffen, welche das an unseren Zuständen herausheben, was vom Wechsel der Bedingungen unabhängig ist, auch in den am meisten primitiven Zuständen enthalten ist und nicht weiter abgeleitet werden kann. Solche Begriffe sind die des Vorstellens, Wollens, Fühlens. Mit solchen Ausdrücken
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bezeichnen wir nicht Funktionen, die für sich bestünden, sondern nur die letzten nicht aufhebbaren Unterschiede in dem Verhalten der Seele, wie es an den einzelnen Akten wahrgenommen wird.
§ 6. Die bisherigen Versuche einer Klassifikation und die Lehre von den Seelenvermögen 1) Die älteste Einteilung, die Piatons, geht einseitig von den im Willen einander selbständig gegenüberstehenden Motiven aus und unterscheidet so niederes Begehren (έπιθυμητικόν), eiferartigen Mut (θυμός) und Denken (λογιστικόν). Aristoteles geht von den zwei Hauptseiten unseres Verhaltens aus; er trennt die Vorgänge, in denen das Sein auf uns wirkt, und die anderen, in denen wir auf das Sein wirken, unser theoretisches und unser praktisches Verhalten. Alsdann trennt er innerhalb sowohl der theoretischen als der praktischen Entwicklung niedere und höhere psychische Tätigkeiten. Hierbei stützt er sich auf zwei Tatsachen, einmal darauf, daß diese niederen Tätigkeiten uns mit den Tieren gemeinsam seien, die höheren aber uns von ihnen unterscheiden; alsdann stützt er sich darauf, daß die niederen Tätigkeiten an Organe gebunden, die höheren aber unabhängig von ihnen wirksam seien. Beide Tatsachen unterliegen dem Zweifel, und die auf sie begründete Trennung der niederen und höheren Fähigkeiten hat eine feinere beschreibende wie eine erklärende Psychologie während des Altertums wie des Mittelalters sehr gehemmt. 2) Die Tatsache des uninteressierten, also vom Willen gesonderten Gefühlslebens in dem ästhetischen Gefallen und der moralischen Billigung wurde von den Engländern studiert und führte auf eine Dreiteilung, welche schon Mendelssohn und Tetens gegeben haben, und deren klassischer Vertreter Kant ist. Kants richtig eingerichtete Dreiteilung behauptet nicht drei verschiedene Grundkräfte, sondern nur eine im Bewußtsein gegebene Verschiedenheit der Tatsachen. Den Ausgangspunkt der Einteilung fand er in der verschiedenen Beziehung, in der unsere Vorstellungen264 innerhalb des Bewußtseins stehen: a) Vorstellungen, sofern sie bloß auf Objekte und die Einheit des Bewußtseins derselben bezogen sind, gleich Erkenntnis. b) Die objektive Beziehung der Vorstellungen, da sie zugleich als Ursache der Wirklichkeit des Objekts betrachtet werden, gleich Begehrungsvermögen.c) Beziehungen derselben bloß auf das Subjekt, gleich Gefühl. - 265 Die besondere Art, in welcher hier Kant die Dreiteilung durchführt, hat sich in der späteren Entwicklung nicht erhalten, denn es ist einseitig, wenn er im
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Entwerfen der Gesamtzustände überall vom Vorstellen ausgeht, und es ist irrig, wenn er jede Beziehung der Vorstellungen auf das Subjekt zurück als Gefühl auffaßt. 3) Gegenüber den erneuten Versuchen einer Ableitung des geistigen Geschehens aus den Verhältnissen der Vorstellungen stellten Hamilton und Lotze den folgenden Beweis der Ursprünglichkeit der drei Klassen auf:266 Denkt man sich ein vorstellendes Wesen, so ist kein Grund, daß dasselbe den Widerstreit seiner Vorstellungen oder die Ubereinstimmung in Lust oder Unlust empfinde; sonach muß das Gefühl als ein vom Vorstellen unabhängiges Vermögen betrachtet werden. Denkt man sich ein vorstellend-fühlendes Wesen, so ist es wieder ein aus unserer Natur fließender Zusatz, wenn wir aus den Unlustzuständen derselben ein Streben nach heilender Verbesserung entspringend denken; sonach ist der Wille ein Vermögen, das nicht aus Vorstellen und Fühlen abgeleitet werden kann. Dieser Nachweis von drei Seelenvermögen setzt voraus, daß aus gegebenen psychischen Faktoren nie ein psychischer Zustand entspringen könne, der ganz neue Merkmale enthielte. Da auf dem Gebiete der Natur die Chemie ein entgegengesetztes Verhältnis aufweist, führt schon Stuart Mill die Vorstellung von einer psychischen Chemie ein. Diese Vorstellung verkennt den Unterschied zwischen in den Sinnen subjektiv gegebenen Wahrnehmungen und dem Gewahrwerden psychischer Zustände. Jedenfalls aber ist der Satz jedem267 Streit entnommen: Vorstellen, Gefühl, Wollen treten in unserem Bewußtsein als unableitbare, vom Wechsel der Bedingungen unabhängige Tatsachen auf. Einseitig ist nur an dieser Betrachtung, daß das Hervortreten des Gefühls vom Vorhandensein des Vorstellens, das des Willens von dem des Gefühls abhängig gedacht wird. Neben dieser Zwei- und Dreiteilung hat sich noch der Versuch erhalten, aus dem Vorstellen sowohl das Gefühl als den Willen abzuleiten. Die Schule von Leibniz und Wolff betrachtete das Gefühl als eine dunkle intuitive Erkenntnis des Guten und Bösen. Sie drehte das wirkliche Verhältnis um, nach welchem jede theoretische Einsicht über Wert und Unwert, Gut und Böse abstrahiert ist aus dem Leben der Gefühle. Herbart ging dann davon aus, die einzige Reaktion des einheitlichen Seelenwesens gegen äußere Reize liege in den Vorstellungen. Aus den Verhältnissen der Vorstellungen leitet er dann Fühlen und Wollen als sekundäre Ergebnisse ab. Diese Theorie wird schon durch die Tatsache widerlegt, daß den einfachen Empfindungen ein Gefühlston eigen ist.
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§ 7. Vorstellen, Wollen und Fühlen als die drei Seiten des psychischen Lebens 1) Methode der Untersuchung. Unseren Ausgangspunkt bildet der status conscientiae, Bewußtseinsstand eines bestimmten Augenblicks. Dieser wird von uns nicht in der Beobachtung aufgefaßt; aber, wenn wir den gegenwärtigen Zustand unterbrechen, so kann er in einem Erinnerungsbilde noch mit annähernder Vollständigkeit aufgefaßt werden. Von diesem Bewußtseinszustande, der nicht selten als Zustand des Fühlens oder Wollens bezeichnet wird, unterscheiden wir die in ihm enthaltenen Bestandteile. 2) Die Beweisführung von Hamilton und Lotze hat zunächst folgenden Satz dargetan: Vorstellen, Wollen und Fühlen sind die allgemeinsten Begriffe, zu denen die Zerlegung der Bewußtseinszustände zurückgehen kann. Das, was in diesen drei Begriffen ausgedrückt ist, kann nicht in einem anderen gemeinsamen Begriff als dem des Bewußtseins überhaupt zusammengefaßt werden. Das Fühlen zeigt gar keine Verwandtschaft mit dem Vorstellen, ebensowenig das Wollen mit einem von beiden. - 2 6 S [3)] Gegenwart von Vorstellungsinhalten in allen psychischen Akten. Terminologisch unterscheide Vorstellung von Vorstellungsinhalt: Vorstellungsinhalt ist jede qualitative Bestimmtheit (ζ. B. blau) oder inhaltliche Beziehung ( z . B . Lage im Raum), die in einer psychischen Tatsache vorkommt; Vorkommen in Erkenntnisvorgängen selbstverständlich. In jedem Willensvorgange ist eine Objektvorstellung enthalten. 269 Streitig erscheint, ob in allen Gefühlsvorgängen, insbesondere den gemeinen Gefühlen, ein Vorstellungsinhalt mitenthalten sei; doch können auch hier qualitative Bestimmtheiten (ζ. B. Brennen, Stechen) sowie Lokalisierung oder doch überhaupt Orientierung des Körpers im Räume in den Zuständen aufgefunden werden. 270 [4)] Wahrscheinlichkeit des Vorkommens von Gefühlen in allen psychischen Tatsachen. Zur Terminologie: Anwendung des Ausdrucks „Gefühl" für Sinneseindrücke, welche keine Beziehung auf einen Gegenstand enthalten ( z . B . Muskelgefühle), ist zu verwerfen; dagegen [ist] der Begriff „Gefühl" auszudehnen über Lust und Unlust, Gefallen und Mißfallen, Billigung und Mißbilligung (ästhetische und moralische Gefühle). Gefühle kommen in allen Willenszuständen tatsächlich vor, da das Streben aus einem gegebenen in einen zu erreichenden Zustand in Gefühlen seine Voraussetzung hat. Gefühle sind ein Bestandteil aller Wahrnehmungsakte. 271 Zwar ist die Annahme von Wundt, H o r wicz und anderen nicht erweisbar: „Jeder Empfindung kommt neben ihrer Qualität und Intensität ein Gefühlston zu"; 2 7 2 aber beschränkt man auch diese
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Annahme auf die Zustände der Versenkung in eine Wahrnehmung, dann enthält sie doch immer Anwesenheit von Gefühlen. In unseren Wahrnehmungszuständen und den aus ihnen stammenden Vorstellungszuständen, in der Assoziation der Vorstellungen spielt das Gefühl eine wichtige Rolle; ebenso begleiten die Gefühle des Gelingens, Mißlingens, der Unruhe usw. das Denken. Hier kann die Hypothese Herbarts über das Gefühl definitiv widerlegt werden: Das Gefühl entspringt nicht aus den Verhältnissen der Vorstellungen untereinander, denn es kommt einfachen Vorstellungen als Gefühlston zu. Ebenso erweist sich die Hypothese von Lotze als unzureichend; es gibt Gefühle, welche nicht erst durch Vorstellungen ausgelöst werden. [5)] Wahrscheinlichkeit des Vorkommens von Willen 273 in allen psychischen Akten. 2 7 4 Der Bestand der Tatsache: „Wille" als einer unableitbaren wurde durch die Theorien in Frage gestellt, welche aus dem Zusammenkommen von Gefühlen mit Vorstellungen sowie der Innervationsempfindung und Muskelempfindung 275 die innere Erfahrung „Wille" ableiten zu können glaubten. In Wirklichkeit tritt diese Erfahrung (Anspannung, Arbeit, Energie) ganz ebenso da auf, wo keine Bewegungsempfindungen mit Gefühlen verbunden sind, ζ. B. wenn ich eines Namens mich zu erinnern strebe, zu einem Entschlüsse gelangen will. Diese Tatsache „Wille" können wir ebenfalls annähernd in allen psychischen Akten nachweisen. In bezug auf die Wahrnehmung vergleiche [man] die Augenbewegung beim Auffassen eines Objekts sowie den begleitenden Vorgang von Interesse und Aufmerksamkeit. Wo in der Wahrnehmung ein Gegenstand gesetzt wird, geschieht dies infolge der Bestimmung des Willens durch das Objekt, welche dieser selber nicht aufzuheben vermag. Ebenso ist der Wille im Denken wirksam, denn diesem kommt Spontaneität zu; Setzung und Aufhebung haben eine Willensseite. Dieser Zusammenhang der Tatsachen drängt eine Hypothese auf, welche uns von der naturwissenschaftlich so wenig plausiblen Theorie pausierender, ruhender und nur zeitweise tätiger Vermögen befreit. Nach dieser sind Vorstellen, Fühlen und Wollen die drei Seiten des psychischen Vorganges überhaupt. Der psychische Lebensprozeß verläuft in einer beständigen Tätigkeit in dieser dreifachen Art. In einem jeden Bewußtseinsstande sind sie gleichsam in einer bestimmten Strukturform verbunden.
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II. A B S C H N I T T : Die Intelligenz
Erstes Kapitel: D i e W a h r n e h m u n g § 8. Wahrnehmung und Vorstellung 1) Die intellektuelle Entwicklung vollzieht sich in Akten, in welchen im Mittelpunkte des Bewußtseinsstandes das Vorstellen sich befindet. Ihre Unterlage ist die Wahrnehmung, und das Problem dieses Abschnittes ist, den Kausalzusammenhang und die Gesetze zu erkennen, nach welchen auf der Unterlage der Wahrnehmung die höheren Formen des geistigen Lebens sich entfalten. Das Studium dieser Entwicklung erschließt einerseits das Verständnis der intellektuellen Entwicklung des Menschen und begründet andererseits den einer exakten Ausbildung am meisten fähigen Teil der Pädagogik: die Didaktik oder Methodik. 2) Alle Wahrnehmungszustände sind untereinander verwandt; in ihnen ist der Gegenstand gegeben. Sie unterscheiden sich durch die Merkmale der Sinnenfälligkeit, Objektivierung, Unverdrängbarkeit (Gegebensein) von den Vorstellungen; das Nachbild als Zwischenglied; das Erinnerungsbild 276 Fechners; die Stufenfolge in der Abnahme der Deutlichkeit und Objektivierung. Innerhalb des Vorstellens hebt sich das Denken von dem freien Spiel der Vorstellungen ab durch die Merkmale der Spontaneität und des Anspruchs auf Allgemeingültigkeit (Evidenz). - Die Wahrnehmung ist die Grundlage aller höheren Entfaltung der Intelligenz. Wir können keine Vorstellung bilden, die nicht Residuum einer Wahrnehmung oder aus solchen Residuen zusammengesetzt wäre. § 9. Die Empfindung als [ein] durch Abstraktion aus der Wahrnehmung zum Zweck der Analyse abgesondertes Element Indem 277 wir die Wahrnehmung oder das in ihr gegebene Objekt zergliedern, finden wir regelmäßig wiederkehrende Elemente in ihr, die mit Leistungen eines Sinnesorgans beständig verbunden auftreten. Zum Zweck der Analysis unserer Wahrnehmungen sondern wir diese Elemente, Empfindungen, durch einen Vorgang der Abstraktion aus. Diese Empfindungen und die in ihnen gegebene Sinnesqualität treten in der Wirklichkeit nie isoliert auf, aber zum Zwecke der Zerlegung können sie isoliert vorgestellt werden. Denn die Struk-
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tur unserer höheren Sinnesorgane kann mit der Tatsache der Wahrnehmung nur durch die Annahme in Verbindung gebracht werden, daß die Leistung der im Sinnesorgan gesonderten Nervenendigung im Hervorbringen der einfachen Empfindung liegt (ζ. B. Anordnung der Stäbchen und Zäpfchen in der Retina des Auges). Jedoch muß die Regel beobachtet werden, daß die Empfindungen in der Untersuchung 278 beständig auf den Wahrnehmungszustand bezogen werden, aus welchem sie abstrahiert sind. Zugleich muß die Möglichkeit offen gehalten werden, daß diese Leistung, Empfindung, zunächst nur als eine physiologische anzusehen sei. Sie würde dann als ein Reiz im Zusammenhange des psychischen Lebens eine erst durch diesen Zusammenhang bedingte psychische Veränderung hervorrufen, aber sie bestünde nicht als eine isolierte psychische Tatsache.
§ 10. Die drei Glieder des Empfindungsvorganges Die Empfindung entsteht durch einen Vorgang in drei Gliedern: 1) Das Spiel des geistigen Lebens wird beständig durch Reize der Außenwelt unterhalten. Die Objekte werden nicht durch ihren bloßen Bestand Ursache der Empfindung, sondern durch ihre Wirkung: durch Bewegungen, indem sie sich der Oberfläche unseres Körpers bis zur Berührung nähern oder die sie einem Medium mitteilen, welches diese dann von Atom zu Atom bis zur Oberfläche unseres Körpers fortpflanzt. Die Beschaffenheit dieser Reize der Außenwelt kann nicht festgestellt werden, denn sie sind nur in den Empfindungen für uns da, 279 und wir sind nicht imstande, Objekte als solche unabhängig von den Bedingungen unseres Bewußtseins vorzustellen. Daher gelangt auch die erklärende Naturwissenschaft nur bis dahin, Teilinhalte unserer Wahrnehmungen zu einem System von Verhältnissen der Abhängigkeit dieser Erscheinungen untereinander 280 durchzubilden und vermittels dieser den Raum, die Zeit und die Bewegung benutzenden Konstruktion ein Zeichensystem der objektiven Ordnung zu entwickeln. 2) Der zweite Bestandteil des Empfindungsvorganges findet innerhalb unseres Körpers statt und gehört vorherrschend dem Nervensystem an. Die Nervenapparate des menschlichen und tierischen Körpers werden durch Anwendung äußerer Agenden in einen veränderten Zustand versetzt, den man einerseits an ihnen durch physikalische Hilfsmittel 281 erkennen kann, und der sich andererseits durch Wirkungen besonderer Art bemerkbar macht. So verrät sich dieser veränderte Zustand einiger Nerven durch Zusammenziehung der mit ihnen verbundenen Muskeln; 282 diese werden motorische Nerven genannt. Andere erregen unter denselben Umständen Empfindungen vom Gehirn als
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dem körperlichen Organ des Bewußtseins aus: sie heißen deshalb sensible Nerven. Die Veränderung, welche die äußeren Reize so in den sensiblen Nerven hervorbringen, ist jedoch nur die nähere Ursache der Empfindung, noch nicht die Empfindung selbst. In bestimmter Bahn und mit bestimmter Geschwindigkeit findet die Fortpflanzung eines Vorganges statt, den für mehr als physisch 283 anzusehen wir keinen Anlaß haben. Unsere Kenntnis dieses Erregungsvorganges im Nerven beschränkt sich noch im wesentlichen darauf, daß die Leistung desselben von elektrischen und chemischen Veränderungen begleitet wird. 3) Zwischen dem ersten und zweiten Vorgange einerseits, dann der Empfindung als drittem Gliede andererseits besteht für unsere Erkenntnis kein Übergang; keine Zergliederung der Ätherwellen zeigt uns, warum wir sie gerade als Licht und weiter als diese bestimmte Farbe empfinden. 284 Auch genügt für unsere Naturkenntnis und Naturbenutzung, daß durchschnittlich bestimmte Reize regelmäßig mit bestimmten Empfindungen durch den Nervenvorgang verknüpft sind. So sind Empfindungen die Abbildungen von Reizen als285 Folgen und sonach Zeichen für dieselben.
§ 1 1 . Von den Sinnesorganen 286 Die Sinnesempfindungen sind das Ergebnis des Zusammenwirkens des äußeren Reizes und der spezifischen Energie des Sinnesnerves. Wir können weder eine Beziehung zwischen der Beschaffenheit der Reize und dem Spezifischen der Sinnesqualitäten feststellen, noch können wir einen Grund für die Sonderung gerade dieser Qualitätenkreise und innerhalb derselben den Ubergang von einer zur anderen Qualität angeben, daher wir nicht ausschließen können, daß andere Wesen anderer Empfindungsweisen fähig seien. Denn unser Erkennen kann nur die uns gegebenen Data der verschiedenen Sinnesqualitäten analysieren, aber es kann nicht hinter sie zu einem allgemeinen sie erklärenden Prinzipe zurückgehen. Das von Johannes Müller zuerst aufgestellte Gesetz der spezifischen Sinnesenergien besagt, daß die Modalitäten der Empfindung nicht abhängen von der Art des äußeren Eindrucks, durch den die Empfindung erregt wird, sondern ausschließlich durch den Sinnesnerv bestimmt sind, der von dem Eindruck getroffen worden ist. Ganz verschiedene Einwirkungen rufen in demselben Sinnesnerv nur einen bestimmten Kreis von Empfindungen hervor. So bringen Ätherschwingungen, welche das Auge treffen, Druck auf den Augapfel, elektrische Ströme, die durch das Auge geleitet werden, die eine Lichtempfindung hervor, und dieselben äußeren Einwirkungen bringen in den verschiedenen
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Sinnesnerven verschiedene Empfindungen hervor, ebenso aber auch dieselbe innere Ursache, wie Anhäufungen des Blutes. 287 Diese Theorie Johannes Müllers ist unanfechtbar in bezug auf den ersten Satz, daß jede Erregung, welche ein einzelner Sinn erfährt, stets nur Empfindungen innerhalb seines Qualitätenkreises zur Folge hat; sofern ein Sinn überhaupt von Reizen erregt wird, antwortet er auf diese immer in seiner bestimmten Sprache, wie groß auch die Verschiedenheit dieser Reize gewesen sein mag. Sonach sind Empfindungen nicht Abbilder von Reizen, sondern Folgen derselben und als solche Zeichen. Aber hierdurch ist nicht entschieden, daß zwischen der spezifischen Natur des Reizes und dem Auftreten einer Empfindungsklasse eine regelmäßige Beziehung nicht bestehe. Johannes Müller berücksichtigt ausschließlich die Anfangsform des Reizes; aber es bleibt möglich, daß ein inadäquater Reiz unter anderen Folgen auch solche innerhalb des Sinnesorgans hätte, welche für diesen Sinn ein adäquater Reiz wären. Die jetzige Fassung des Gesetzes spitzt sich wesentlich auf die Lichtempfindungen, welche durch Stoß, Druck des Augapfels, elektrische Reizung hervorgebracht werden, ebenso auf Tonempfindungen aus inadäquaten Reizen, auf Geschmacksempfindungen aus elektrischen Reizen. Wenn aber der Stoß oder Druck die ponderabelen Elemente des Augapfels erschüttert, so kann diese Erschütterung sich auf den Äther fortpflanzen, den wir in dem Medium des Auges anzunehmen nicht gehindert sind; der elektrische Reiz kann durch chemische Prozesse die Geschmacksempfindung vermitteln. -
§ 12. Von den Qualitäten der Empfindung Die Verschiedenheiten in der Qualität der Sinnesempfindungen sind zwiefacher Art; Empfindungen, sofern sie verschiedenen Sinnen angehören, sind nur darin miteinander vergleichbar, daß der Zustand des Gewahrwerdens sich abhebt 288 von dem des bloßen Vorstellens. Eine Kälteempfindung und ein bitterer Geschmack können nicht in eine innere Beziehung zueinander gebracht werden. Diesen Unterschied bezeichnen wir mit Helmholtz als den der Modalität der Empfindungen. Diese Verschiedenheit ist bedingt durch die spezifische Energie des Nerven in einem bestimmten Sinnesapparate. Im U m kreis der Empfindung desselben Sinnes besteht dagegen zwischen den einzelnen Qualitäten, in welchen derselbe sich ausspricht, eine Vergleichbarkeit. Die Zahl der spezifisch verschiedenen Leistungen unserer Sinnesnerven wird durch die Unterscheidung von fünf Sinnen nicht genau bezeichnet. Die Unterscheidung trennt nur nach räumlichen Bezirken, an welche die Leistungen geknüpft sind.
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Zunächst unterscheiden wir Sinnesempfindungen von den Gemeingefühlen mit Ernst Heinrich Weber dadurch, daß nur die ersteren Inhalte haben, welche auf äußere Objekte bezogen werden. Von den durch unseren ganzen Körper verbreiteten Gemeingefühlen: Kitzel, Schauder, Hunger, Durst, Ermüdungsgefühl etc., sondert sich hiernach zunächst der Muskelsinn; der Temperatursinn ist dann als Leistung abgesondert von dem Drucksinne (Tastsinn). Die Bedingungen dieser zwei verschiedenen Leistungen lassen sich noch nicht ausreichend auseinanderhalten. Neben den Endigungen 289 der einzelnen Nervenfasern in oder zwischen den Zellen der Oberhaut und anderer Gewebe sind spezifische Sinnesapparate aufgefunden worden: Tastkugeln, Endkolben, die sogenannten pacinischen Körperchen, aber welcher Anteil an der spezifischen Leistung der Temperaturempfindung oder der Druckempfindung diesen Gebilden zukomme, ließ sich noch nicht entscheiden. Dagegen haben die anderen Sinnesempfindungen: Geschmack, Geruch, Gehör, Gesicht, jede einen besonderen Sinnesapparat. 290 Wir teilen gewöhnlich die Empfindungen in zwei Klassen: in Gefühle, mit Lust und Schmerz verbunden, welche sich nur auf uns selbst beziehen, und Empfindungen, welche wir benutzen, um uns objektive Verhältnisse vorzustellen. Erstere fassen wir unter dem Namen Gemeingefühl zusammen, beide sind aber im Grunde nicht voneinander verschieden. Die einen Empfindungen stehen mit dem vegetativen Leben in enger Verbindung: Atmung, Herzschlag; sie haben Gefühle, welche jede Abweichung von den Normen anzeigen. Das Gemeingefühl ist die Grundlage des Lebens- oder Selbstgefühls, es gestattet dem Menschen, sich von der Welt abzusondern; es ist auch die Grundlage unseres Selbstbewußtseins. Es gibt daneben auch einen Muskelsinn, welcher uns über den Anfang und die Energie der Bewegungen Aufschluß gibt. Bei allen Bewegungsempfindungen spielen die Tastempfindungen eine große Rolle. Mit der Muskelempfindung an und für sich ist stets eine Muskelbewegung verbunden, welche von der Innervationsempfindung vollkommen unabhängig ist; diese ist vielmehr wie auch jene nur ein Teil der Willensempfindung. Denken wir uns einmal ein Individuum, das bloß mit Gemeingefühl und Bewegungsempfindung ausgestattet wäre: Welches würde die Leistung desselben sein können? D a es Bewegungsempfindung hat, hat es auch eine Vorstellung von Veränderung, wenn es die verschiedenen Zustände in der Erinnerung festzuhalten vermag. Es hat also eine Vorstellung von der Zeit. Weiter sei das Wesen ausgestattet mit den Sinnesapparaten, welche sich über die Haut des Körpers erstrecken (Tastempfindung, Temperaturempfindung): Welches ist die Leistung dieser anderen Eigenschaften? Die Leistung der Temperaturempfindung ist ihrem Werte nach für den Aufbau unseres Lebens weit geringfügiger
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als die der Tastempfindung. Ihre Leistung besteht in der Regulierung des körperlichen Aufbaus. Wie kommen diese Empfindungen zustande? Zunächst reden wir jetzt von der Temperatur: Eine höhere Temperatur der Umgebung teilt der Hand Wärme mit, eine mindere entzieht ihr solche und veranlaßt so eine Bewegung im Nerven, welche wir im ersteren Falle als Wärme, im letzteren als Kälte empfinden. Die Temperatur unseres Körpers bildet gleichsam den Nullpunkt der Skala eines subjektiven Thermometers. Wir haben darin aber kein absolutes Maß, sondern messen nur Temperaturdifferenzen. Das einzige, was wir noch absolut angeben können, ist das Minimum der Differenz, welche wir noch empfinden (2A Grad, ja Ά bis Ά Grad). Wichtiger in Rücksicht der Verhinderung schädlicher Einflüsse der Außenwelt ist die Leistung der Druck- oder Tastempfindung, welche entsteht durch eine Kompression der Haut infolge von Widerstand, welche einen Erregungszustand der in der Haut enthaltenen Nervenendigungen veranlaßt. Condillac und Helvetius, Materialisten des vorigen Jahrhunderts, haben die Wichtigkeit der Druckempfindung nachgewiesen. Nicht jede Kompression ruft eine Druckempfindung hervor, es bedarf dazu einer bestimmten Größe des Druckreizes. Fechner hat für diese Tatsache den Ausdruck Empfindungsschwelle eingeführt. Auch hier haben wir kein absolutes Maß, auch hier können wir nur Druckdifferenzen messen. Was wir höchstens bestimmen können, ist: Welches ist die eben merkliche Druckdifferenz? Mit diesen Tatsachen beschäftigt sich die Psychophysik, welche von Weber begründet und von Fechner in einem seiner wichtigsten Werke durchgeführt ist. Nicht ein bestimmter Zuwachs muß zu einem Gewichte hinzutreten, um als Druckunterschied empfunden werden zu können, sondern nur das Verhältnis der Gewichte zweier Körper kommt hier in Betracht. Wenn zwei Gewichte sich wie 29:30 verhalten, so können wir noch eben den Druckunterschied empfinden. O b der Reiz zu- oder abnimmt, ist für die eben merkliche Druckempfindung einerlei. Dieses Verhältnis [wurde] von Weber aufgestellt; Fechner hat damit den Anfang einer experimentellen Psychologie gemacht. Seine Hoffnung, auf sie eine Psychophysik begründen zu können, hat sich nicht ganz erfüllt. - Die Druckempfindungen unterscheiden sich auch qualitativ; sie hängen ab von den verschiedenen Stellen unserer Haut und der Verschiedenheit der Objekte. In letzterer Hinsicht sprechen wir von spitzen, stumpfen, harten, weichen Gegenständen. Von der Stärke der Empfindungen und deren Verhältnis zu den Reizen: 291 Einen anschwellenden Ton wahrnehmend, unterscheiden wir auch kleinere Veränderungen seiner Stärke, aber wir können nicht direkt eine gegebene Stärke als Verdoppelung einer früheren bezeichnen. Daher können wir zwar
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Reize derselben Art auf unsere Empfindung wirken lassen, deren Stärke genau meßbar ist, aber wir können nicht die von ihnen hervorgebrachten Empfindungen mit Genauigkeit in bezug auf das Verhältnis ihrer Stärke messen. So sind wir nicht imstande, direkt ein Gesetz abzuleiten, dessen Formel das Verhältnis des Anwachsens von Empfindungen zu dem Anwachsen von Reizen ausdrückte. Die Untersuchungen von Ernst Heinrich Weber ([R.] Wagners Handwörterbuch [der Physiologie mit Rücksicht auf physiologische Pathologie] 3, 2. Artikel: [Der] Tastsinn und [das] Gemeingefühl) hatten Ergebnisse, von denen aus Fechner ein solches Gesetz zu entwickeln versucht hat ( [ G . T h . ] Fechner, „Elemente der Psychophysik", Leipzig 1860; vgl.: „Revision der Hauptpuncte der Psychophysik", Leipzig 1882). Zunächst haben die Untersuchungsreihen von Weber, Fechner und anderen für den Bereich mittlerer Reizstärke annähernd das folgende Verhältnis ergeben, wobei die Abweichungen auf die Mitwirkungen anderer Faktoren zurückgeführt werden können: Der Unterschied zweier Reize innerhalb desselben Sinnesgebietes, welcher einen eben merklichen Unterschied der Empfindungen noch ermöglicht, ist 292 eine konstante Größe. Die gegebene Reizgröße b, welche zu a hinzugefügt, einen eben merklichen Unterschied in der Stärke der so entstehenden Empfindung β von der durch a erweckten Empfindung α zur Folge hatte, kann zu dem verzehnfachten Werte von a hinzugefügt werden, ohne daß hierdurch nun ebenfalls ein merklicher Unterschied in der Intensität der Empfindungen hervorgerufen würde. Vielmehr beträgt der Unterschied der beiden Reize, welcher eine Unterscheidung der von ihnen hervorgerufenen Empfindungen eben ermöglicht, für jede Empfindungsklasse regelmäßig einen bestimmten Bruchteil der Größe, welche der erste der beiden Reize schon besitzt (vgl. Wundts physiologische Psychologie).
Bedingungen, unter denen die Intensität der Empfindungen nur gemessen werden kann. 1) Wir denken uns ein aufglimmendes Licht, wir vernehmen einen anschwellenden Ton, dann können wir bemerken, daß unsere Sinne für die Steigerung der Intensität sehr empfindlich sind. Doch alle Größenbestimmungen sind hier nur Verhältnisbestimmungen: Es kann sich bloß darum handeln, an einem Maßstabe der Intensitätsgröße andere Intensitäten zu messen. 2) Unser unmittelbares Bewußtsein gibt uns nirgends eine konstante Intensitätseinheit, an der wir die anderen Empfindungen messen könnten; und hätten wir wirklich eine solche, so könnten wir dieselbe nicht als Maßstab an die wechselnden Zustände unseres geistigen Lebens anlegen. 3) Hieraus folgt: Wir sind nicht imstande, das Verhältnis von Reizen zu
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Empfindungen und der Empfindungen zueinander so zu messen, wie wir äußere Dinge miteinander durch den Maßstab vergleichen. Es kann sich bloß darum handeln, einen Maßstab innerhalb des Empfindungslebens zu finden, welcher hierfür einen Ersatz bietet. Ein Empfindungsunterschied, der eben merklich ist, kann nun als konstante Größe angesehen werden. Die Untersuchung führte hier zu folgendem Resultate: Weber ging von der Empfindbarkeit für Druckempfindung aus; er belastete beide Hände gleichzeitig mit Gewichten. In diesem Falle sind wir nicht imstande, die gleiche Belastung als gleich zu erkennen; es erscheint das linke Gewicht größer. Sodann belastete er dieselbe Hand nacheinander mit Gewichten. Der Unterschied wurde noch empfindlicher, solange das Verhältnis der Gewichte dasselbe blieb; es wurden Differenzen von Vit-Vx wahrgenommen. - Er ging dann zum Heben über; hier ist die Empfindlichkeit noch weit größer ( V i s - V x wird wahrgenommen; an einer Hand sogar noch Vio Unterschied). Das Resultat findet sich in den Elementen der Psychophysik von Fechner I860. 293 Verallgemeinerung des Ergebnisses: Es gibt für jeden Sinn einen Minimalgrad des Reizes; Fechner nannte ihn die Reizschwelle, 294 d.i. die Größe, welche ein Reiz haben muß, um in einer Empfindung noch für uns vorhanden zu sein. - Es gibt auch eine obere Grenze; diese hat Wundt Reizhöhe 295 genannt: Wir erreichen einen Punkt, von dem aus noch eben Unterschiede der Intensität aufgefaßt werden können. Innerhalb der Reizschwelle und -höhe liegt eine Skala von allen eben merklichen Empfindungsunterschieden. Man mache nun die folgenden Voraussetzungen: Die Fähigkeit zur Unterscheidung der Stärke von zwei Empfindungen derselben Art ist, Störungen abgerechnet, ausschließlich von dieser Stärke selber abhängig. Wenn eine eben merkliche Empfindung entstanden ist, was für jede Art der Empfindung eine konstante Größe des Reizes zur Voraussetzung hat, dann sind in der aufsteigenden Reihe der anwachsenden Intensitäten alle eben merklichen Unterschiede einander gleich. Unter diesen Voraussetzungen kann mit Fechner das von Weber aufgefundene empirische Verhältnis in die folgende Formel gebracht werden: Die Zunahme der Stärke der Empfindungen um gleiche Differenzen, sonach in arithmetischer Progression, ist von einer Zunahme der Reizstärke in geometrischer Progression abhängig. 296 Neben der von Fechner versuchten psychophysischen Deutung des empirischen Tatbestandes ist eine physiologische sowie eine psychologische möglich. Die psychologische Deutung betrachtet das von Weber gefundene Verhältnis als Spezialfall eines allgemeinen Gesetzes der Relativität. - 2 9 7
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§ 13. Von den räumlichen Bestimmungen der Empfindungen und der Entstehung der Raumvorstellung 1) Grundlage dieses Teiles der Psychologie in Kant. Alle Empfindungen sind nach Intensität und Qualität verschieden; insbesondere die des Gesichts- und Tastsinnes sind außerdem in einer bestimmten räumlichen Anordnung gegeben. Die Vorstellung des Raumes enthält ein N e beneinander, dessen Teile kontinuierlich oder stetig verbunden sind. Über jede gegebene Grenze hinaus setzen wir die Raumvorstellung fort: Der Raum erstreckt sich in drei Dimensionen. Diese stellen sich dar in drei in einem Punkte aufeinander senkrecht stehenden Geraden; ihr idealer Kreuzungspunkt ist in dem Kopf des Sehenden. In diesem Räume verhalten sich alle einzelnen Räume als Teile eines Ganzen. Dieser Raum erscheint zunächst dem unbefangenen Beobachter als äußerer Tatbestand, wie Körper in ihm. Doch entstanden früh Schwierigkeiten, indem die Vorstellung dieses objektiven Raumes folgerecht durchgeführt wurde. Die erste Klasse dieser Schwierigkeiten hat Kant in dem letzten Teile seiner Kritik der reinen Vernunft, der transzendentalen Dialektik, zusammengefaßt. Erste Antinomie: Die räumliche Welt muß als endlich und in Grenzen eingeschlossen betrachtet werden, denn die Vorstellung eines unendlichen Raumes vermittels der Synthesis seiner Teile würde eine unendliche Zeit fordern; sonach ist sie unvollziehbar. Andererseits müssen wir die räumliche Welt als unendlich denken, denn eine endliche Wirklichkeit wäre durch den leeren Raum begrenzt, und so entstünde ein Verhältnis dieser Welt zum leeren Raum. Zweite Antinomie: Jeder Körper in der Welt besteht aus einfachen Teilen, aber die Teile eines räumlichen Ganzen sind selber räumlich; als solche sind sie teilbar, somit zusammengesetzt. - Wir fügen eine zweite Klasse von Schwierigkeiten hinzu: Ein objektiver Raum müßte eine Eigenschaft der Körper oder selber ein Ding, eine die Körper umschließende Wirklichkeit, oder er müßte ein Verhältnis zwischen ihnen sein. Als Eigenschaft von Körpern würde er endigen, wo diese endigen; dann wäre zwischen ihnen weder eine räumliche Ordnung noch ein Zwischenraum denkbar. Als Wirklichkeit würde er eine zweite und rätselhafte Klasse der Wirklichkeit bilden neben den Dingen, und eine Beziehung zwischen ihm als einem Wirklichen und den Dingen, die er umschließt, müßte gedacht werden können. Als Beziehung zwischen Körpern hätte er seine Realität nur in den inneren Zuständen der Körper, welche sich in dieser Beziehung befinden. So würde die an der Eigenschaft entwickelte Schwierigkeit zurückkehren. Hierüber hinaus hat die Beziehung nur in dem beziehenden Denken selber ihre Stelle.
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So gelang es dem Denken nicht, die Vorstellung eines objektiven Raumes widerspruchslos durchzuführen. Aus diesen Gründen wurde die Realität des Raumes früh bezweifelt. Nachdem die Subjektiviät der Sinnesempfindungen (sekundären Qualitäten) durch Physik, Physiologie und Psychologie bewiesen war, wurde diese Lehre von der Subjektivität der Eigenschaften der Außenwelt auch auf Raum, Zeit und Bewegung (primäre Eigenschaften) ausgedehnt. Berkeley und Leibniz stellten diese Theorie über den Raum auf, und Kant machte dies zur Grundlage der Erkenntnistheorie. Kant unternimmt in der transzendentalen Ästhetik zu erweisen, der Raum sei eine Anschauung a priori, d. h. entstehe in der Erfahrung, doch nicht aus der Erfahrung. Hiermit war die Allgemeinheit und Notwendigkeit der geometrischen Sätze verbunden wie die der logischen Axiome mit dem apriorischen Ursprünge der Denkformen. Von diesem Apriori schied er die Art, wie Farben in unserer körperlichen Organisation bedingt sind. Von seinen Beweisen war der erste der wirkungsvollste: Der Raum kann nicht aus der Erfahrung stammen, weil er die Bedingung der Erfahrung ist. „Damit gewisse Empfindungen auf etwas außer mir bezogen werden, imgleichen damit ich sie als außer einander vorstellen könne, muß die Vorstellung des Raumes schon zugrunde liegen." 298 Dieser Beweis schließt die Möglichkeit jedoch nicht aus, daß unserer gegenwärtigen Erfahrung ein Vorgang vorausgehe, in welchem aus veränderlichen 299 Empfindungselementen unsere Raumanschauung sich gebildet hatte. Der zweite Beweis: „Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum sei, ob man sich gleichwohl denken kann, daß keine Gegenstände darin angetroffen werden." 3 0 0 Im Gegensatze zu dieser Annahme Kants vermögen wir weder Tast- noch Gesichtsempfindungen von der Räumlichkeit loszulösen noch die Raumvorstellungen von irgendeinem qualitativen Inhalte. Aber auch diese psychologische Tatsache beweist nicht, daß eine solche Verbindung 301 jederzeit bestanden haben müsse. Endlich beweist Kant aus der Allgemeinheit und Notwendigkeit der mathematischen Urteile, daß ihr Ursprung nicht in der Erfahrung liegen könne, sonach a priori sei. Aber der Charakter unserer mathematischen Urteile zeigt nur, daß der Raum für die Analysis der Geometrie a priori ohne Bewußtsein eines Ursprunges aus der Erfahrung gegeben sei. Dagegen ist es für dieses Bewußtsein vom Charakter geometrischer Sätze augenscheinlich gleichviel, ob der Raum, den die Geometrie analysiert, in einer Erfahrung entstand, die vor unserer Erinnerung liegt, oder in den Bedingungen des Bewußtseins begründet ist. Daher hat Kant überall nur den folgenden Satz erwiesen: Unsere Erfahrung wie unsere wissenschaftliche Zergliederung des Raumes setzt eine ausgebildete Raumanschauung voraus, von deren Entstehung wir keine Erinnerung
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haben und deren Eigenschaften unabhängig von den einzelnen Erfahrungen an diesem Raumanschauen selbst festgestellt werden können; dieser Raum ist für jede Zusammenordnung von Erfahrungen 302 zu einer Erfahrung die Bedingung. 303 So führt Kant zu dem Punkte, wo die Frage entsteht: „Kann dieser Raum als Ergebnis eines Zusammenwirkens von Erfahrungen aufgefaßt werden, oder kann nachgewiesen werden, daß derselbe ganz oder in angebbaren Grundbestandteilen angeboren ist?" 304 So entwickelt sich aus den Untersuchungen Kants der Streit zwischen den Empiristen und den Nativisten; 305 letztere sehen den Ursprung der Raumanschauung in einer Mitgift der menschlichen Natur; erstere unternehmen es, diese Raumanschauung aus Erfahrungen zu erklären. -
§ 14. Die empiristische Raumtheorie 1) Die empiristische Theorie ist von Locke und Berkeley begründet und am folgerichtigsten in England von Bain, in Deutschland von Helmholtz durchgeführt worden. Sie hat zunächst das Verdienst, die willkürliche Beschränkung der Untersuchungen bei Kant auf den Zusammenhang der Bedingungen des Bewußtseins zu vermeiden und dann Raumvorstellungen in ihrer natürlichen Beziehung zu den Gesichts-, den Tastsinnen und den Bewegungsempfindungen aufzufassen. 2) Diese Theorie wurde zu einer Probe der sogenannten Assoziationspsychologie. Dieselbe unternimmt, aus der Leistung der einzelnen Sinne, einzelne, qualitativ unterschiedene Empfindungen hervorzubringen, unter Leistung einer Fähigkeit der Assoziation dieser Empfindungen die höheren seelischen Gebilde, so auch den Raum, abzuleiten. In der Annahme, daß nur Qualitäten die ursprünglichen Empfindungsinhalte seien, begegnet sie sich mit Herbart; andererseits entspricht eine solche Aufgabe den Annahmen der verschiedenen 306 physiologischen Schulen Deutschlands über das Verhalten körperlicher Vorgänge zu geistigen. 3) Die Lösung der Aufgabe geht von den Empfindungen aus, welche mit der Kontraktion des Muskels verbunden sind. Diese sind verschieden nach der Dauer der Empfindung und nach der Wahrnehmung der aufgewandten Kraft, welche sich in der Schnelligkeit der Bewegung äußert. Verschiedene Dauer einer Bewegungsempfindung bei gleicher Schnelligkeit oder verschiedene Schnelligkeit bei gleicher Dauer ergeben eine verschiedene Ausdehnung. Die Bewegungsempfindungen treten weiter zu den Tastempfindungen in Beziehung. Eine bestimmte Bewegung hat jedesmal eine bestimmte Reihe von Tast-
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empfindungen zur Folge; dieselbe Reihe kann in umgekehrter Ordnung durchlaufen werden. Auch bei verschiedener Schnelligkeit der Bewegung bleibt die Reihe dieselbe; der Schluß tritt hinzu, daß in jedem zwischen zwei Bewegungen liegenden Momente ein bestimmter Bewegungsimpuls die ganze Reihe hätte zur Wahrnehmung bringen können. Dies zusammen erzeugt die Eigenschaften von Permanenz, Festigkeit der Anordnung, gleichzeitiges N e beneinanderbestehen, welche den Raum bezeichnen. Zunächst bildet sich nun so die Vorstellung einer Linie. Aber wir können die Bewegung nach verschiedenen Richtungen ausführen, sofern die verschiedenen Muskel, die an einem Gliede befestigt sind, in Tätigkeit treten können und wir eine Empfindung davon haben. So entstehen die Vorstellungen von Länge und Breite. Eine Fläche bedeutet die Möglichkeit, innerhalb gewisser Grenzen von Länge und Breite immer Berührungsgefühle zu erhalten usw. Ebenso verbindet sich der Gesichtssinn mit den Bewegungsempfindungen. 4) Die Aufgabe, welche diese Theorie sich gestellt hat, kann nur innerhalb gewisser Grenzen überhaupt aufgelöst werden. Tast- und Gesichtsempfindungen sind unlösbar mit Räumlichkeit verbunden. Wie aus ihrem Zusammen und Nebeneinander ein Kontinuum werden könne, ist nicht ersichtlich. John Stuart Mill nimmt den Begriff einer psychischen Chemie zur Hilfe: In dem Produkt der Empfindungen, das wir Raum nennen, sollen Eigenschaften auftreten können, welche weder in der Empfindung noch in der Tatsache ihrer Verschmelzung oder Assoziation von uns gefunden werden. Es gibt aber kein anderes Beispiel einer solchen psychischen Chemie und doch müßte sie ein allgemeines Verhalten der Seele sein. So müssen wir jedenfalls eine Eigenschaft des Seelenlebens annehmen, welche in der Verschmelzung der Empfindungen zum Raum den Ubergang von einem Zusammen zu einem Nebeneinander ermöglicht. Ferner enthalten die Beobachtungen an neugeborenen Tieren und die Art und Weise der Auffassung kleinster Raumgebilde noch Schwierigkeiten. Kußmaul schließt aus seinen Versuchen an neugeborenen Kindern: „Der Mensch kommt mit einer wenn auch dunklen Vorstellung eines äußeren Etwas, mit einer gewissen Raumanschauung zur Welt." 307 Erst sorgfältige Experimente werden vielleicht diese Bedenken beseitigen können. 308
§ 15. Die nativistische Theorie und die Lehre von den Lokalzeichen 1) Die nativistische Theorie, sofern sie unseren Raum mit seinen Dimensionen als angeboren ansieht, findet schon an den Erfahrungen über Blindgeborene Schwierigkeiten. Ferner sieht sie sich zum Zweck der Erklärung der Orientierung im Raum genötigt, das Zusammenwirken von Tastsinn und Ge-
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sichtssinn mit Bewegungsempfindungen ebenso in Anspruch zu nehmen als die empiristische Theorie. 2) So entstand Lotzes Lehre von den Lokalzeichen. 3 0 9 Sie ging von der berechtigten Anforderung aus: „Nur was auf das auffassende Bewußtsein wirkt, ist für es da." „Raumverhältnisse sind nicht darum, weil sie bestehen, auch schon für das Bewußtsein da." Aber sie verknüpfte hiermit einen unberechtigten Satz: „In der Einheit des Bewußtseins gehen Raumunterschiede unter." Sonach können nur solche räumlichen Bestimmungen in ihm enthalten bleiben, welche als qualitative Zeichen der räumlichen Lage mit den Empfindungen verbunden sind. So postulierte er als Zwischenglied zwischen der äußeren Ordnung und dem inneren Aufbau der Raumanschauung eine jeder Empfindung mitgegebene qualitative Bestimmung, welche die Lage des Reizes im Räume repräsentiere, etwa wie die Etiketten der Bücher einer Bibliothek bei einem Umzug den Standort. Diese qualitative Bestimmung nannte er L o kalzeichen. 3) Aber die Forderung dieser Lokalzeichen ist unberechtigt: existiert ein objektiver Raum, so lösen sich die Schwierigkeiten nicht; ist der Raum Phänomen, dann besteht das Problem gar nicht. Ist der Raum wirklich, dann bestehen auch die Reize, welche qualitative Empfindungen zur Folge haben, in Bewegungsvorgängen. Wenn nun die Verschiedenheit der Lage auf unser Bewußtsein nicht wirken kann, so kann auch rot und grün von uns nicht unterschieden werden, denn die Bewegung besteht ja in einer Verschiebung der Lage der Elemente. Also: Dieselbe Schwierigkeit, die Lotze im Raumvorstellen findet, besteht auch für die qualitative Empfindung. Ersetzt man aber die Raumvorstellung durch ein unräumliches Geschehen, dann verschwindet das ganze von Lotze hervorgehobene Problem. In beiden Fällen bleibt nur die Anforderung, daß im Endpunkt des physiologischen Vorgangs die Anordnung, welche der Räumlichkeit des Gegenstandes zugrunde lag, durch eine entsprechende Anordnung von Erregungselementen repräsentiert wurde. Weiter erscheinen die von Lotze hypothetisch eingeführten Lokalzeichen des Auges, der Muskelempfindungen nicht ausreichend, die Feinheit unserer Unterscheidung im Räume zu erklären. 4) Die nativistische Theorie im Sinne angeborener, vollständiger Raumanschauung wird schon durch die einfachen Erfahrungen an Blindgeborenen unwahrscheinlich gemacht. Die empiristische Theorie macht zunächst die Entstehung des Raumes aus einem Zusammenwirken von Erfahrungen wahrscheinlich, aber sie kann zwei Hilfsannahmen nicht entbehren, durch welche sie sich der nativistischen annähert: Die Auffassung des Zusammen von Empfindungen als eines Nebeneinander in einem Kontinuum setzt eine Bedingung im Bewußtsein voraus. Diese kann freilich einen uns noch unbekannten Zu-
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sammenhang mit den Gesetzen der Verbindungen im Bewußtsein haben; alsdann empfiehlt sich die Annahme, daß eine dem Tastsinn und Gesichtssinn gemeinsame psychophysische Einrichtung besteht, welche direkt eine elementare Raumwahrnehmung gewährt. Eine solche direkte Wahrnehmung der Lage kann nicht aus allgemeinen Gründen mit Lotze verworfen werden. Ernst Heinrich Weber hat zuerst auf Tatsachen aufmerksam gemacht, bei welchen eine solche Einrichtung gefunden310 werden kann. Der Raumsinn ist nach ihm ein Generalsinn. Zunächst ist an verschiedenen Stellen der Haut die Raumempfindlichkeit verschieden; die zwei Spitzen eines Zirkels werden auf der Zungenspitze schon unterschieden, wenn sie eine halbe Pariser Linie voneinander entfernt sind. An der Nasenspitze müssen sie bereits 3, an manchen Stellen des Oberarms bereits 30 Pariser Linien voneinander entfernt sein, um noch als verschieden empfunden zu werden. Diese Feinheit der Empfindlichkeit für Raumunterschiede fand nun Weber proportional [zu] der Zahl der Nervenfäden, welche, die in der Haut verlaufenden Nervenenden vereinigend, zum Gehirn gesondert verlaufen. Ein ähnliches Verhältnis findet innerhalb des Gesichtssinns statt. Dieses Verhältnis spricht offenbar für eine Leistung dieser Einrichtung in Rücksicht auf das Gewahrwerden von Raumverhältnissen: Stattfinden der Erregung in verschiedenen Nervenfasern entspricht dann dem Gewahrwerden des Ortsunterschiedes, Stattfinden in mehr oder weniger Nervenfasern dem Gewahrwerden von Unterschieden der Ausdehnung. Eine weiter gehende Entscheidung zwischen der nativistischen und empiristischen Theorie kann zur Zeit noch nicht getroffen werden.
§ 16. Betrachtungen über die Sinnlichkeit unter dem Gesichtspunkte der pragmatischen Psychologie 311 1) Pragmatische Psychologie oder Psychologie in pragmatischer Hinsicht ist Anwendung der Erkenntnisse der Psychologie zur Auflösung der Probleme des praktischen Lebens. Hier nimmt die pädagogische Praxis eine hervorragende Stelle ein. Jeder wissenschaftlich begründete pädagogische Lehrsatz ist ein Satz der pragmatischen Psychologie; eine Pädagogik als Wissenschaft existiert noch nicht. Die einzelnen pädagogischen Lehrsätze, die wissenschaftlicher Entwicklung fähig sind, können nur im Zusammenhang der Psychologie als Wissenschaft erkannt werden. Dagegen kann die Benutzung der einzelnen psychologischen Sätze für den pädagogischen Handgebrauch nur ein Halbwissen hervorbringen. 2) Die Ausbildung der Sinnlichkeit, insbesondere der in ihr so wichtigen Raumanschauung, erwies312 sich als die große Leistung der ersten Lebensjahre,
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welche jedem methodischen Unterrichte vorausgehend seine Grundlage bildet. Hierin liegen Reiz und Bedeutung des Spieles für das Kind zum großen Teil. Zwischen das Spiel und den Schulunterricht in Mathematik und Naturwissenschaft schiebt nun die neuere Pädagogik ein Zwischenglied, das vom natürlichen Gange der geistigen Entwicklung gefordert sei: den Anschauungsunterricht. Derselbe soll die Ausbildung der Sinnlichkeit und die Bekanntschaft mit den Naturkörpern vervollständigen, andererseits aber die Antriebe wecken und verstärken, welche auf Zerlegung und Erklärung dieser Naturkörper gerichtet sind. In der Tat kann ein solcher Anschauungsunterricht so dazu beitragen, das natürliche Verhältnis zwischen Wissenstrieb und Schulunterricht wiederherzustellen, welches unserer modernen Welt 313 verlorengegangen ist. Dies geschieht durch Entwicklung der Fähigkeiten der Beobachtung, welche dann naturgemäß eine ernstere Befriedigung suchen, und durch Erregung von Fragen und ersten Versuchen, welche auf Zerlegung und Erklärung hinweisen. Zwei Richtungen: Comenius, Rousseau, Basedow wollen von den empirischen Objekten ausgehen; dagegen sind Pestalozzi und Herbart in seiner schönen Jugendschrift: „Pestalozzis Idee eines A B C der Anschauung als ein C y klus von Vorübung im Auffassen der Gestalten wissenschaftlich ausgeführt, 2te Auflage [Göttingen] 1804", auf die Ausbildung des Vermögens gerichtet. Den Ausgleich zwischen diesen Richtungen hat Waitz in seiner allgemeinen Pädagogik 314 richtig gefunden: Übung in der Beobachtung der Objekte als Anfang, dann Zergliederung derselben in ihre Elemente, hiernach erst Verknüpfung dieser Elemente in geometrischer Konstruktion.
§ 17. Das Selbstbewußtsein 1) Wir haben bei der Untersuchung der Empfindungen von der Tatsache des Selbstbewußtseins absichtlich abgesehen. Durch dasselbe ist nun bedingt, daß uns die Verbindung von Empfindungen zum äußeren Gegenstande wird. Man könnte einen Lebensprozeß denken, in welchem einzelne Empfindungen, Anstöße des Willens usw. einander ablösen, ohne daß eine sie in sich fassende Einheit vorhanden und bewußt wäre; dann entstünde weder die Einheit des Gegenstandes noch setzten wir dem Selbst unabhängig diesen Gegenstand gegenüber. Erst das Selbstbewußtsein leistet das eine und das andere. 2) Wir beschreiben den in dem ausgebildeten Selbstbewußtsein enthaltenen Tatbestand: In dem Selbstbewußtsein unterscheide ich mein Ich von der Welt, d.h. der äußeren Wirklichkeit. Die beständig während des wachen Lebens stattfindende Aktion, durch welche ich der äußeren Wirklichkeit des Gegenstandes als eines von mir unabhängigen innewerde, ist mit der eins, in welcher
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im Unterschiede von dieser äußeren Wirklichkeit mein Ich für mich da ist. So begleitet meine psychischen Akte ein „Ich denke, ich will" oder kann sie doch begleiten. 3) Diese Tatsache finde ich in mir mit naturwüchsigen metaphysischen Vorstellungen von einem Ich als einer denkenden, fühlenden und wollenden Substanz verbunden. Wir suchen sie näher zu beschreiben, indem wir die hinzutretenden metaphysischen Vorstellungen auslösen. a) Der psychische 315 Akt ist für uns mit einem Innewerden desselben verbunden. b) Das Innewerden von Tun und Leiden schließt unmittelbar das eines Affizierens, 316 die Unterscheidung des Aktes von dem von ihm Unabhängigen (dem Objekte) ein. c) Im Ubergange von einem Akte zum anderen findet ein Bewußtsein der Selbigkeit statt, die Akte werden zu dem Ganzen der Lebenskontinuität verbunden. d) Dieser Selbigkeit in den einzelnen Akten werde ich als einer Selbigkeit des Subjektes derselben inne. e) Dieses Selbstbewußtsein ist von dem Selbstgefühl und dieses von der Selbsterhaltung nicht zu trennen; dies ist zunächst durch die Verbindung unserer Gefühle mit den VorstellungsVorgängen bedingt: Lust und Unlust sind im Gefühle unmittelbar für uns da. Durch sie hat unser Selbst für uns eine unvergleichliche Bedeutung; es ist dadurch eine Verbindung dieser Vorgänge mit Willensvorgängen bedingt. Die Sphäre unseres Selbst wird so von der der Gegenstände gesondert.
§ 18. Das Selbstbewußtsein und die Entstehung einer Außenwelt, äußerer Objekte 1) Das Bewußtsein unserer selbst ist in dem entwickelten Seelenleben mit der Unterscheidung unabhängiger Objekte oder einer Außenwelt verbunden. Wir fragen nach dem Kausalzusammenhang, in welchem unsere Empfindungen als äußere Gegenstände aufgefaßt werden. 2) Diese Frage wurde von den bisherigen Psychologen ungenügend gelöst, weil sie die erklärenden Gründe in den intellektuellen Prozessen ausschließlich suchten; doch hätte schon die Tatsache, daß unser Selbstbewußtsein im Selbstgefühle seine augenscheinliche Grundlage hat, die Bedeutung des Gefühlslebens und damit verbunden der Willensvorgänge für die Unterscheidung der Objekte von einem Selbst zeigen können. 3) Die herrschende Erklärung geht von dem Zusammenwirken von nach
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Qualität und Intensität unterschiedenen Empfindungen mit dem Vorstellen und Denken aus; vgl. die Erklärung bei Helmholtz, [Handbuch der physiologischen] Optik § 2 9 [S. 598ff.]: Wir stellen uns stets solche Objekte als im Gesichtsfelde vorhanden vor, wie sie dasein müßten, um unter den gewöhnlichen normalen Bedingungen des Gebrauchs unseres Sinnesorgans denselben Eindruck auf den Nervenapparat zu machen. Wir gehen sonach von unseren Sinnesempfindungen auf eine äußere Ursache derselben über. So vollziehen wir einen uns unbewußten Schluß, der von den Empfindungen als Wirkungen fortschreitet zu ihren Ursachen, den Objekten. Helmholtz sieht daher mit Kant und Schopenhauer in dem Gesetz der Kausalität, vermöge dessen wir von der Wirkung auf die Ursache schließen, ein aller Erfahrung vorausgehendes Gesetz unseres Denkens. 4) Die Schwierigkeiten der Annahme eines solchen 317 Kausalgesetzes, dessen Wirkungen zudem ein doppeltes System von psychischen Tatsachen: eine bewußte Ordnung von Empfindungen und eine solche von zu ihnen hinzugedachten Objekten, erwarten ließ, schwinden, wenn wir im Gegensatze hierzu die Kausalbeziehung nur als den begrifflichen Ausdruck eines lebendigen, in der Totalität unseres Wesens, insbesondere in unserem Willen begründeten Vorgangs ansehen. 5) Empfindungen sind uns zunächst sowenig als unsere Zustände bewußt wie als äußere Objekte, aber in der Empfindung findet unser Wille sich gebunden. Die Art, wie Gefühle mit den Empfindungen verwebt sind, verstärkt noch den Eindruck einer von uns unabhängigen Macht. Das, was den Willen bestimmt und beschränkt, ist ihm ein anderes; in der räumlichen Anordnung wird es ihm zu einem Außen. Im Gegensatz zu unserem freien Vorstellen finden wir uns im Wahrnehmen von außen bestimmt. Viele von diesen Wahrnehmungen stehen zu unserem Lebensgefühle in Beziehung. Sie sind da, mögen sie uns gefallen oder nicht. So entsteht das Bewußtsein einer uns überwältigenden Macht der Außenwelt. In jeder von Willensakten geleiteten Tastempfindung findet der Wille Grenzen seines Wirkens: Vorstellungen von Wirkungen und Gegenwirkungen entstehen. Unsere Erinnerung nähert sich einer Zeit, in welcher die Kraft unseres Willens noch nicht da war, dagegen die Kräfte der Natur bestanden. So sind im Gegensatz gegen obige Theorie die Erfahrungen des Willens das erste, Vorstellungen von Kraft, Ursache, Gesetz der Kausalität erst Abstraktionen aus dieser Erfahrung. Die Entstehung der Auffassung äußerer Objekte aus diesen Erfahrungen findet eine Bestätigung in den Erscheinungen des Mythos und der Sprache wie in der frühesten Entwicklung des Kindes. Die Einheit zuerst der Welt, dann der Einzelobjekte ist ebenfalls durch die Eigenschaft des Selbstbewußtseins bedingt.
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§ 19. Das Selbstbewußtsein und die in der inneren Wahrnehmung gegebenen Elemente des geistigen Lebens 1) Wie wir die Empfindungen in der Einheit des Objektes uns gegenüberstellen, so sind andererseits Gefühl und Willensakte als Zustände, Tun und Leiden eines Subjektes uns gegeben. Wir können dann weiter auch von den Empfindungen innewerden, daß sie an diesem Selbst stattfinden. Also alles, was überhaupt für uns da ist, ist da als ein Bestandteil an diesem Selbst. 2) Wir nennen innere Erfahrung jeden Tatbestand, sofern er uns als Zustand, Handeln, Leiden unseres Selbst gegeben ist und uns folgerecht über dasselbe belehrt. Diese innere Erfahrung ist teils eine religiöse, sittliche, praktische, kurz eine solche, welche sich auf den Gehalt des Selbst, seinen Wert und seine Leistungen bezieht, teils ist sie eine theoretische oder psychologische, sofern sie die Elemente oder Gesetze dieses geistigen Lebens zum Gegenstande hat. 3) Die Frage nach den Elementen des in der inneren Erfahrung gegebenen geistigen Lebens kann erst im weiteren Zusammenhange beantwortet werden. Die Elemente, welche der Vorstellung äußerer Objekte als Empfindung zugrunde liegen, konnten nach ihrer Beziehung zu den Sinnesapparaten ausgesondert werden. Neben ihnen treten im Bewußtsein andere Elemente und zusammengesetzte Tatsachen auf, welche nur als innere Zustände aufgefaßt werden können: Gefühle und Willensakte; sie gehören daher nur der inneren Wahrnehmung an. Die Zerlegung in ein System zugrundeliegender Elemente des Willensund Gefühlslebens kann erst in der Willens- und Gefühlslehre vollzogen werden. 4) Die Herkunft aus der äußeren oder inneren Wahrnehmung entscheidet über den Charakter der äußeren und inneren Welt. So tritt der räumlichen Erstreckung gegenüber die unräumliche inneren Geschehens, dem Widerstande und der Festigkeit der im Tastsinn gegebenen Materie eine immaterielle Ordnung, den wechselnden Qualitäten der sinnlichen Welt die unsinnliche des geistigen Geschehens. 318 Dieser Gegensatz ist bedingt durch die Art, wie uns die beiden Erfahrungskreise gegeben sind.
§ 20. Die innere Erfahrung unter dem Gesichtspunkte der pragmatischen Psychologie 1) Die innere Erfahrung bildet die zweite Hälfte unseres Erfahrungskreises. Der Mensch war mit der Außenwelt zunächst beschäftigt, daher ist nur allmählich in einzelnen, noch erkennbaren großen Erschütterungen des Geisteslebens 319 die Bedeutung der inneren Erfahrung für unser Wissen vom Weltzusammenhange und unser zielbewußtes Handeln zur Anerkennung gekommen.
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2) Sie bildet den Mittelpunkt der religiösen Wahrheit; ebenso ist die Poesie auf innere Erfahrung gegründet. 3) In der ursprünglichen Anlage des Menschen entsteht die Hinneigung zu inneren Erfahrungen aus einer größeren Kräftigkeit der Willens- und Gefühlszustände; jedoch muß das Nachsinnen hinzutreten, welches diese Zustände sich zum Gegenstande macht. Gefahren der inneren Erfahrung in Goethes „Bekenntnis einer schönen Seele". 320 Die Enge der persönlichen inneren Erfahrung wird erweitert durch das Nacherleben des Geschichtlichen. Hier bieten sich die Ideale für das Gefühl und den Willen dar. Daher wird die Kräftigkeit der inneren Erfahrung in den Kindern unterstützt zuerst durch erfundene Erzählung wie das Märchen, alsdann durch die Geschichte und die Literatur.
Zweites Kapitel: Die Zustände des Bewußtseins und der Verlauf der Vorstellungen Erstes Stück: Die Vorstellung und die Unterschiede in ihrer Bewußtheit 321 § 21. Die Vorstellungen und ihre Residuen 1) Wenn der Reiz aufhört, kann im Sinnesorgan die Erregung fortdauern, dann geht die Wahrnehmung in das Nachbild über, welches von der Vorstellung zu sondern ist; denn, ist auch der Reiz vorübergegangen, so dauert doch bei dem Nachbild der Zustand im Sinnesorgan fort, welchen der Reiz hervorrief (positive und negative Nachbilder). Endigt die Erregung, so wird aus der Wahrnehmung Vorstellung. Der Wahrnehmung steht am nächsten diejenige Vorstellung, welche sich unmittelbar, ohne von ihr durch andere Eindrücke oder Vorstellungen getrennt zu sein, an die Wahrnehmung anschließt. Fechner bezeichnet sie als Erinnerungsnachbild. 322 Treten dann andere Vorstellungen zwischen den Eindruck und seine Reproduktion, so nimmt die Vorstellung an Sinnfälligkeit, Deutlichkeit und Vollständigkeit immer mehr ab. Der Unterschied zwischen Wahrnehmung und Vorstellung ist bei verschiedenen Personen von verschiedener Größe in bezug auf die Verlegung in den Außenraum, auf das Standhalten der Eindrücke, auf die Klarheit der Sinnesqualitäten, ζ. B. bei Gesichtsbildern, den Farben, wie den Zeichnungen. In dem malenden oder bildenden Künstler herrscht die Vorstellungskraft für Gesichtseindrücke vor, in dem Musiker die für Gehörseindrücke. Die Grenze, welche in allen Fällen Vorstellung von der Wahrnehmung trennt, liegt nicht in
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der bloßen Verschiedenheit der Lebhaftigkeit (Hume), sondern in der Abwesenheit der vollständigen Erregung der Sinnesapparate, wie sie den Wahrnehmungszustand zur Folge hat, und des hierdurch bedingten Zwanges des Willens. An der Grenze zwischen Wahrnehmung und Vorstellung steht die Halluzination. Griesinger: „Unter Halluzinationen versteht man subjektive Sinnesbilder, welche aber nach außen projiziert werden und dadurch scheinbare Objektivität und Realität bekommen; Illusionen nennt man falsche Deutungen äußerer Objekte." 3 2 3 Die Illusion kann sonach als teilweise Halluzination bezeichnet werden. Der Ausgangspunkt der Entstehung der Halluzination liegt in dem Vorstellen und Phantasievorgange sowie den diese Leistung bedingenden Teilen des Gehirns. Es kann aber erwiesen werden, daß die Erregung sich von hier aus nach dem Sinnesapparat hin fortpflanzt, und die hier auftretende Erregung wird nun nach Analogie der meisten Fälle interpretiert, in welchen äußere Objekte sie hervorriefen. Die Halluzination kann begleitet sein von dem Bewußtsein ihres subjektiven Ursprunges, und sie wird durch dasselbe nicht gestört. In dem Zustand des Irreseins steht die Halluzination mit dem Druck der Gefühle in Beziehung; dieser ist physiologisch bedingt. So empfängt sie eine Macht der äußeren Wirklichkeit, die sogar zur Umdeutung realer Vorgänge von ihr aus führt. Auf dem Gebiete der inneren Wahrnehmung entspricht dem Gegensatz der äußeren Wahrnehmung und der Vorstellung der des Erlebnisses und der Nachbildung desselben. In der Nachbildung wird auch der eigene Zustand Gegenstand. Zunächst geht das, was als äußere Wahrnehmung mit der inneren verbunden ist, in Vorstellung über: Umgebung, Umstände, Personen usw. Von diesem Vorstellungsbegriff 324 aus wird nun die Nachbildung von Gefühls- und Willensakten eingeleitet. Uberall da, wo die Folgen eines Tatbestandes für mein Gefühl und meinen Willen fortdauern, treten Gefühle und Willensakte in neuem Erlebnis auf. Es gibt eine wirkliche Nachbildung eines Willenszustandes aufgrund der Vorstellung der Bedingungen, die ihn hervorrufen können. Diese Nachbildung unterscheidet sich von dem Erlebnis ganz so ursprünglich, wie die Vorstellung von der Wahrnehmung. 2) Von jeder Wahrnehmung bleibt 325 ein Residuum; hiervon wissen wir nur durch die Tatsache, daß diese Wahrnehmung unter bestimmten begünstigenden Umständen im Bewußtsein als Vorstellung reproduziert werden kann. Das, was so zurückbleibt, kann in Rücksicht auf seinen Ursprung Residuum oder Spur genannt werden; berücksichtigt man, daß es die Möglichkeit für die Entstehung einer Vorstellung enthält, so kann es als Disposition bezeichnet werden. Soll das Zurückbleibende nach seiner Beschaffenheit vorgestellt werden, so ist diese entweder als ein physiologischer Zustand oder als ein etwa mit
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diesem verbundener psychologischer zu denken. Im letzteren Falle können wir diesen Zustand nur nach Analogie der reproduzierten Vorstellung, sonach als Vorstellung denken. Da diese aber als bloße Disposition zu einer bewußten Vorstellung besteht, entsteht der Begriff der unbewußten Vorstellung; er bezeichnet eine bloße Hypothese.
§ 2 2 . Die Grade und Weisen des Bewußtseins 1) In der direkten Erfahrung ist uns nun der zuerst von Leibniz näher dargestellte Unterschied von Perzeption und Apperzeption gegeben. 326 Wir beschäftigen uns mit einem Zustand oder einer Vorstellung direkt, sie ist im Blickpunkt unserer Aufmerksamkeit, aber neben ihr laufen Akte von geringerer psychischer Merklichkeit 327 her. Ein solcher Fall von gering merklicher Wahrnehmung liegt jedesmal vor, wenn ein unbeachteter Gesichts- oder Gehörseindruck erst nachträglich von uns in das Verständnis erhoben wird. Diese Tatsache kann nicht durch das Sinnengedächtnis erklärt werden. Ebenso sind im Aufbau unseres Denkzusammenhanges nicht alle Teile gleichmäßig deutlich im Bewußtsein, denn ζ. B. ein im Mittelpunkte unseres Interesses befindlicher Denkakt kann Voraussetzungen haben, aus denen das ihn begleitende Bewußtsein von Evidenz herstammt, und welche doch nicht deutlich mitvorgestellt werden. In anderen Fällen bin ich mir der Grenze eines Satzes bewußt, ohne daß doch die Sätze, welche diese Grenze bestimmen, zugleich mit in dem Bewußtsein wären. 328 Keine direkte Beobachtung kann den Gesamtzustand des Bewußtseins in einem gegebenen Augenblick auffassen, vielmehr schwindet vor dem Blick des Beobachters sein Gegenstand, und ihm bleibt nichts als die leere Richtung des Beobachtens selbst übrig. Daher ist das nachbleibende Erinnerungsbild das einzige Mittel, sich über den Inhalt eines status conscientiae in einem gegebenen Augenblick zu orientieren. Nun ist aber die Fähigkeit der Erinnerung durch den Grad des Interesses bedingt, welcher einem Inhalte im Bewußtsein zukam. Der Eindrücke, welche ohne alles Interesse im Bewußtsein auftraten, können wir uns schon im nächsten Augenblick nicht mehr erinnern. Daher enthält das Erinnerungsbild von einem eben vergangenen Augenblick nicht mehr alle Inhalte, welche denselben erfüllt haben. Unmerkliche Akte von viel größerer Zahl, als meine Erinnerung aufbewahrt hat, können im Bewußtsein aufgetreten sein. 329 3) Diese gering merklichen Vorstellungen, deren Bewußtseinsgrade abwärts sich dem Nullpunkt nähern, ohne daß sie ihn erreichen müssen, sind eine Tatsache. Die Benutzung dieser Tatsache leistet nun für die psychologische Erklärung dasselbe, was die Hypothese unbewußter Vorstellungen und Akte
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zu leisten vermag; daher ist die Benutzung dieser Tatsache nach methodischen Regeln jener Hypothese vorzuziehen, denn sie bleibt in den Grenzen der in der Erfahrung nachweisbaren Tatsachen. Zudem vermeidet sie die Schwierigkeit, die im Begriff unbewußter Vorstellungen liegt. Bewußtsein ist die Art und Weise, wie ein Inhalt für mich da ist, er ist aber nur für mich da, wenn er von mir aufgefaßt wird. Daß ein Inhalt für mich da sein soll, ohne in meinem Bewußtsein zu sein, ist ein schwer vollziehbarer Gedanke, nichtsdestoweniger bleibt die Annahme unbewußter Vorstellungen eine mögliche Hypothese; unverträglich ist diese Hypothese mit der anderen, welche psychische Vorgänge als Leistungen unseres Organismus auffaßt.
§23. Die Enge des Bewußtseins und die Grundgesetze der Aufmerksamkeit 1) Enge330 des Bewußtseins nennt die Psychologie die Tatsache, daß gleichzeitig nur wenige Vorstellungen uns bewußt sind, während doch die Zahl der Vorstellungen, die in unserem Besitze sind, die wir reproduzieren können, eine sehr große ist. Der Ausdruck ist bildlich. Aber das Bewußtsein ist nicht ein erleuchteter Raum von einer begrenzten Weite, durch welchen Vorstellungen gleiten; der Ausdruck Bewußtsein substantiiert vielmehr nur eine Eigenschaft psychischer Akte, die in sehr verschiedenem Grade auftritt. 2) Herbart nahm nun an, daß nur wenige Vorstellungen gleichzeitig im Bewußtsein seien. Sein Schüler Waitz schloß aus der Einfachheit der Seele, dieselbe sei in jedem gegebenen Augenblicke nur zu einer Tätigkeit befähigt; da nun Vorstellen eine Tätigkeit sei, so könne in jedem Momente nur eine Vorstellung im Bewußtsein sein. Aber die Theorie Herbarts von der Einfachheit der Seele ist nicht in Ubereinstimmung mit den Erfahrungen. Die Konsequenz aus dieser Theorie bei Waitz steht im Widerspruch damit, daß wir überall, auch in der äußeren Welt, Elemente in einer Mehrheit von Wechselwirkungen stehend und eine Mehrheit von Zuständen erfahrend denken. Ferner zeigen die Erfahrungen das Zusammenbestehen von Wahrnehmungs- und Vorstellungsinhalten im selben Augenblick; vgl. ein Wahrnehmungsbild und eine gleichzeitige Gedankenreihe. Nähme man einen schnellen Wechsel der Eindrücke und Vorstellungen für die Erklärung zu Hilfe, so würde dieser mit dem Zusammenhange der Gedankenreihe in Widerspruch stehen. 3) Lotze wies auf die Tatsache der Vergleichungen hin. Wir vergleichen nur, was wir im Bewußtsein aneinander halten; dazu müssen wir es gleichzeitig besitzen. N u n können wir eine Mehrheit aufeinanderfolgender Eindrücke wie Farben, Töne miteinander vergleichen. 4) Die Frage, wie groß die Zahl der Inhalte sei, welche gleichzeitig im
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Bewußtsein sein können, ist geeignet, experimenteller Behandlung unterworfen zu werden. Hierauf wurde man aufmerksam durch die Erfahrungen, welche als persönliche Differenz oder persönliche Gleichung der Astronomen bezeichnet worden sind. Sie331 erweisen, daß, wenn die Aufmerksamkeit mit großer Spannung332 einem Gehörs- oder Gesichtseindruck zugewandt ist und nun diese beiden gleichzeitig eintreten, doch nicht dieselben gleichzeitig aufgefaßt werden. Aber diese Tatsache beweist nur die Enge des Blickfeldes der Aufmerksamkeit; sie zeigt aber nicht, daß zwei disparate Sinneseindrücke nicht gleichzeitig im Bewußtsein sein könnten. Der Versuch von Wundt, die Zahl der Vorstellungen zu bestimmen, welche gleichzeitig im Bewußtsein sein können, geht von Tonvorstellungen aus; er wählt als sukzessive Sinnesreize Pendelschläge. Zunächst zeigt sich nun, daß es ein gewisses Maß von Geschwindigkeit der Abfolge dieser Pendelschläge gibt, welches ihrer Auffassung, Erinnerung und Verbindung am günstigsten ist. Dieses Maß beträgt gegen eine halbe Sekunde. Läßt man zwölf Pendelschläge aufeinander folgen, und zwar so, daß jeder vom folgenden durch den Zeitraum einer halben Sekunde getrennt ist, und umschließt sie bei 1 und bei 12 mit einem Glockenschlage, so kann man diese Tonreihe und eine entsprechende darauf folgende noch vergleichen. - Wundt schließt: „Hiernach dürfen wir wohl 12 einfache Vorstellungen als den Maximalumfang des Bewußtseins für relativ einfache und aufeinander folgende Vorstellungen betrachten." 333 Hier wird aus dem Experimente zu viel gefolgert. Die Vorstellungen sind vielmehr im Bewußtsein verbundene Inhalte, hebt doch Wundt selbst hervor, daß die rhythmische Gliederung ihre Auffassung und Erhaltung im Bewußtsein erleichtert. Wird der Abstand, in welchem sie auftreten, ungleich, dann sinkt die Zahl der gleichzeitig festzuhaltenden Vorstellungen. Wirken nun auch diese Abstände nicht als Vorstellungen, so ermöglichen sie doch einen Verband. Wählt man nun anstatt der in diesen Versuchen zugrunde gelegten Verbindung von Tonvorstellungen eine engere, so kann der Verband auch eine größere Zahl von Toninhalten umfassen. Dies zeigt jede rasch ablaufende Melodie.334 Wir wissen aber ferner auch nicht, ob die Maximalgrenze etwa bei einer Abfolge von Gesichtsempfindungen nicht erst bei einer größeren Zahl von Inhalten erreicht wird. Wir unterscheiden in bezug auf den Umfang des Bewußtseins: 1) Wahrnehmungen und Vorstellungen, und zwar nach den Sinnesgebieten, in denen sie auftreten. 2) Das Hervorbringen und das Aufbewahren von Inhalten. 3) Die Grade der Bewußtheit; zusammenhängend damit die Verteilung der Aufmerksamkeit. Der Grad von Bewußtheit eines Sinnesinhaltes ist zunächst durch die Stärke
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des Sinnesreizes bedingt, dann aber durch die des Interesses, das im Zusammenhange des Bewußtseins dem Inhalte zukommt. Das Interesse als eine unwillkürliche Aufmerksamkeit ist von der willkürlichen Aufmerksamkeit zu unterscheiden. Die Richtung der Aufmerksamkeit wechselt; nimmt die Intensität derselben zu, so wird ihr Umfang enger. Sie ist von einer Spannungsempfindung begleitet, welche einerseits physiologisch in Muskelempfindungen und Tastempfindungen besteht, andererseits aber ein Innewerden der Willensanstrengung 335 ist, denn die Aufmerksamkeit ist die Willensseite der intellektuellen Vorgänge. Sinnesinhalte können bei gleichmäßig verteiltem Interesse in einer durch keine nähere Bestimmung zu begrenzenden sehr großen Zahl gleichzeitig im Bewußtsein besessen werden, und zwar können sie disparat in Rücksicht auf ihre Reizklasse sein. Herbert Spencer bemerkt, daß fünf disparate Reihen von Sinneseindrücken zugleich durch das Bewußtsein hindurchgehen können. Kann auch eine solche Zahl nicht festgehalten werden, so zeigt doch die Beobachtung, daß wir gleichzeitig Gesichts-, Gehörs-, Tast- wie Temperatureindrücke besitzen können. - Auch eine große Zahl von Vorstellungsinhalten kann das Bewußtsein bei gleichmäßig verteiltem Interesse zusammen besitzen. Klarere Bestimmungen sind erst möglich in bezug auf den Umfang, in welchem die gespannte und willkürliche Aufmerksamkeit Inhalte umfaßt. Sie kann nur eine Richtung haben, und sonach umfaßt sie eine Mehrheit von Inhalten nur dann, wenn diese miteinander durch einen Zusammenhang verbunden sind. Die Bedingungen, unter denen diese Verbindung gleichzeitige Auffassung ermöglicht, sind schwer zu bestimmen. Dieses Verhältnis wurde experimentell erwiesen durch eine Reihe von Versuchen, in denen unter Anspannung der Aufmerksamkeit zwei disparate Sinnesreize gleichzeitig zur Apperzeption kommen. Angeregt wurden sie durch eine Beobachtung, welche von den Astronomen bei der Bestimmung der Zeit des Durchgangs eines Sterns durch den Meridian des Beobachtungsortes gemacht wurde: Einige Zeit, ehe der Stern den mittleren Vertikalfaden des Fadennetzes, der mit dem Meridian zusammenfällt, erreicht, sieht der Beobachter nach der Uhr und zählt dann die Sekunden nach den Schlägen derselben weiter; er muß sich dem Ort des Sterns bei dem letzten Sekundenschlag vor dem Durchtritt des Sterns durch den Meridian (resp. Mittelfaden) merken, ebenso den Ort desselben bei dem ersten Sekundenschlag nach dem Durchtritt. Die Vergleichung der Aufzeichnungen verschiedener Beobachter zeigt auffällige Differenzen. Diese erklären sich daraus, daß der Sinnesreiz im Gesichtssinn und der im Gehörsinn nicht gleichzeitig apperzipiert werden und daß die Apperzeptionsdauer bei verschiedenen Personen eine verschiedene ist. - An diese Tat-
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sache schlossen sich Versuche, welche diese Zeitverschiebung aufzuklären suchten (die letzten und ausführlichsten Versuchsreihen von Wundt).336 Die Zeit, welche verfließt zwischen dem Wirken eines Reizes und der Apperzeption desselben, kann nicht direkt gemessen werden; aber es kann die Zeit experimentell festgestellt werden, welche zwischen dem Auftreten des Reizes und der Registrierung desselben durch die Versuchsperson verfließt. Der Vorgang setzt sich dann zusammen aus der Leitung vom Sinnesorgan in das Gehirn, der Perzeption, der Apperzeption, alsdann einer Willenserregung, welche auf eine Bewegung gerichtet ist, endlich der Leitung der motorischen Erregung zu den Muskeln und dem Anwachsen der Energie in ihnen bis zur Ausführung dieser registrierenden Bewegung. Der erste und der letzte Teil des Vorgangs sind rein physiologisch. Die ganze Zeit, die dieser Vorgang beansprucht, bezeichnen wir als einfache Reaktionszeit; sie beträgt bei Einwirkung eines einfachen, mäßigen Reizes bekannter Beschaffenheit '/s-'A Sekunde. Die Apperzeption wird erleichtert, wenn auch die Zeit des eintretenden Reizes durch die Regelmäßigkeit der Reihe oder ein besonderes dem Reiz voraufgehendes Signal bestimmt ist. In diesem Falle nimmt die Dauer des Vorgangs ab. Da nun der physiologische Anfangs- und Schlußvorgang hierdurch in Rücksicht ihrer Zeit nicht beeinflußt werden, so wirkt die Erleichterung der Apperzeption auf die Zeitdauer, die sie beansprucht. Ebenso kann Erschwerung des psychologischen Vorganges herbeigeführt werden, indem Klasse und A n des Reizes sowie Stärke desselben unbekannt gelassen werden; schon wenn die Apperzeption nicht einer bestimmten Stärke vorher angepaßt ist, verlängert sich die Zeit. Ein schwacher Schall beansprucht in diesem Falle 0,3 Sekunden. Ein in jeder Rücksicht unerwartet eintretender Reiz kann bis Vi Sekunde Reaktionszeit in Anspruch nehmen und ist von einem dem Erschrecken ähnlichen subjektiven Effekt begleitet.
§24. Die Aufmerksamkeit in pragmatischer Rücksicht Interesse und Aufmerksamkeit bezeichnen die Mitwirkung des Gefühls und des Willens, welche auch die Vorgänge der Wahrnehmung und des Denkens begleitet. Die Individuen sind verschieden in bezug darauf, welche337 Leistungen und Gegenstände ihres intellektuellen Lebens von Lust und demgemäß von Interesse begleitet sind. Sie sind ebenso verschieden in bezug auf das von ihnen erworbene Maß der willkürlichen Aufmerksamkeit. Diese Unterschiede, zusammenhängend mit denen der ursprünglichen Fähigkeiten, die elementaren Prozesse zu vollziehen, entscheiden über Anlage und Beruf derselben. Die Psychologie lehrt diese Anlagen in den elementaren Funktionen
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aufsuchen; in diesen schon ist der bildende Künstler von dem Musiker, der Mathematiker von dem geschichtlichen Forscher unterschieden. Die Erziehung hat diese Verschiedenheit der Anlage festzustellen und zu benutzen; sie muß von dem Interesse oder der unwillkürlichen Aufmerksamkeit ausgehen. Die Reform der Erziehung, welche den naturgemäßen Gang vom Empirischen 338 zum Abstrakten wieder geltend machte, hat auch die Lust an der intellektuellen Tätigkeit im Gegensatz gegen den Zwang wieder rege zu machen gesucht. Das Kind wird zunächst von der Lust an Wahrnehmungen geleitet; allmählich beginnt es selbsttätig in 339 der Richtung seines Interesses Vorstellungen zu reproduzieren; später noch entsteht die willkürliche Aufmerksamkeit, die sich planvoll und zweckmäßig dem Objekte zuwendet und es festhält. Diese willkürliche Aufmerksamkeit wird aber nur durch den äußeren Zwang geübt, und die Neigung, einen Aufwand von Anstrengungen zu machen, ist dem Kinde nicht natürlich. Daher bedarf jenes philanthropische Prinzip eines Rousseau und Basedow der Ergänzung in der Anerkennung, daß der Zwang allein dem Willen Übung und Bereitschaft, Anstrengungen auf sich zu nehmen, erwirbt. Die Gesetze der willkürlichen Aufmerksamkeit fordern aber einen regelmäßigen Wechsel der Gegenstände, einen Wechsel von Erholung und Ruhe und eine Angemessenheit des Vortrags an die Geschwindigkeit der Auffassung; der Zwang muß allmählich ersetzt werden durch das Interesse, welches der Anlage des Zöglings gemäß einen Mittelpunkt geistiger Tätigkeit gestaltet, 340 zu welchem die willkürliche Aufmerksamkeit sich selbsttätig immer wieder wendet.
§ 2 5 . Die Einheit des Bewußtseins 1) Die Tatsache der Einheit des Bewußtseins war schon von den Alten zum Zweck des Schlusses auf eine Seelensubstanz herausgehoben worden. - Piaton: „Wenn wir das in verschiedenen Sinnen Gegebene vergleichen können, so setzt das ein von den Sinnesorganen Verschiedenes, die Seele, voraus." 341 Aristoteles: „Das Urteil ,Süß ist nicht weiß' ist unmöglich, wenn diese Empfindungen an verschiedene Subjekte verteilt werden und nicht in demselben Subjekte zusammen bestehen." 3 4 2 Plotin: „Damit die Einheit eines Objektes entstehe oder Empfindungen miteinander verglichen werden, müssen sich die Sinneseindrücke in einer unteilbaren Einheit begegnen. Brächte ein materieller Teil eine Empfindung, ein anderer eine zweite hervor, dann würde die Vergleichung derselben hierdurch nicht ermöglicht werden; es wäre so gut, als ob verschiedene Individuen diese Empfindung hätten." 3 4 3 Leibniz, Wolff und Mendelssohn, letzterer besonders im „Phaedon oder Uber die Unsterblichkeit
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der Seele", haben diesen Beweis als gültig betrachtet. Kant bekämpft ihn von der Annahme der Phänomenalität unserer inneren Erfahrungen aus. - Lotze hat im Mikrokosmus und in seiner Metaphysik ihn wieder verteidigt, ja seine ganze Psychologie auf denselben gebaut. 344 2) Die Linie des psychischen Lebens, wie der Zeitverlauf 345 sie beschreibt, läßt rückwärts immer nur einen Inhalt verschwinden, der mit anderen im Zusammenhange stand, vorwärts einen solchen auftreten, der in den Zusammenhang eintritt. Bestände diese Beziehung, welche den gegenwärtigen Inhalt des Bewußtseins mit dem früheren und zukünftigen verbindet, nicht, alsdann würde das psychische Leben in einzelnen, getrennten Anstößen verlaufen. Wären sie in unserem Bewußtsein nicht miteinander verbunden, sondern ein Inhalt, eine Vorstellung erfüllte ausschließlich einen Lebensmoment, alsdann folgte eine andere Vorstellung, dann würde zwischen ihnen die zur Hervorbringung der nächsten Vorstellung erforderliche Zeit vergehen, dann könnten wir ein stetiges Bewußtsein nicht besitzen. Damit wir einen Satz auffassen, genügt nicht, daß die Lautbilder und die Vorstellungen dessen, was sie bedeuten, aufeinander folgen wie Einzelpersonen; 346 sie müssen vielmehr in einem Unteilbaren des Bewußtseins zusammengehalten aufeinander bezogen sein, sonst wäre der Sinn eines Satzes nur für ein zweites auffassendes Bewußtsein da. Ebenso stehen die Empfindungen in bezug auf ihre räumliche und zeitliche Ordnung in Beziehung 347 zu dem Selbst und anderen Empfindungen. Diese räumliche Orientierung, dieses Zeitbewußtsein wird, wenn auch schwach, unsere anderen psychischen Zustände immer begleiten. So stehen unsere Empfindungen in der Wahrnehmung in einem von der Einheit des Bewußtseins hergestellten Zusammenhange, und nur unter der Bedingung dieser Einheit des Bewußtseins besitzt unsere Intelligenz den Zusammenhang der Natur in einem System von Gattungen und Arten und in einer Verknüpfung von Gesetzen. 348 3) Das diese Tatsachen bedingende elementare Verhältnis zeigt sich in dem einfachen Fall: Zwei im Bewußtsein bestehende, zusammentreffende Inhalte verschwinden nicht als Faktoren in einem Produkt, sondern das psychische Leben erhält das Bewußtsein von beiden und fügt das der Zustandsänderung hinzu, die beim Ubergang von einem zum anderen eintritt. So entstehen die Vorstellungen von Verwandtschaft, Verschiedenheit, Graden. 349 4) Die Aufmerksamkeit, welche einer Empfindung sich zuwendet, hat jedesmal zur Folge den Versuch, sie dem Zusammenhange, der in dem Bewußtsein 350 gegeben ist, einzuordnen. Wir bestimmten den Begriff Apperzeption als Aufmerksamkeit, Interesse; nun empfängt er hiernach die weitere Bedeutung der hiermit verbundenen Aufnahme der Perzeption in den Zusammenhang des Bewußtseins.
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5) Die Einheit des Bewußtseins kann nicht aus einzelnen psychischen Elementen abgeleitet werden; sie ist vielmehr die allgemeine Bedingung, unter der allein Inhalte zur Erfahrung und zur Einheit des Gegenstandes verknüpft werden. Der Schluß aus dieser Bedingung unseres Bewußtseins auf eine zugrundeliegende reale Einheit „Seele" ist nur innerhalb einer gewissen Grenze berechtigt: Wahr ist, daß nur in einer unteilbaren Einheit Inhalte zu Vergleichung, Urteil und Einheit des Objekts verknüpft werden können. Dieser Satz schließt die Annahme, daß in einem Zusammen materieller Elemente der Grund psychischer Erscheinungen gelegen sei, schlechterdings aus. Betrachtet man sonach die Grundlagen der mechanischen Naturauffassung dogmatisch als eine Summe von Wirklichkeiten, dann muß jenseits derselben die Seele als eine weitere Wirklichkeit wissenschaftlich angenommen werden. Da aber diese ganze Materie sowie ihre Zerlegung in kleinste Dinge oder Atome nur Phänomen und Hilfstheorie zur Erklärung von Phänomenen sind, so ist dies Nebeneinanderbestehen eines Zusammen von Atomen und eines Zusammen von Seele nur für diese 351 Betrachtungsweise erwiesen. Jenseits ihrer bleibt nur die Gewißheit, daß die Einheit des Bewußtseins ein Unteilbares, Immaterielles zur Voraussetzung hat, dessen Stellung zur materiellen Welt hier zunächst nicht bestimmt werden kann. Die Tatsache des Selbstbewußtseins und die Tatsache der Freiheit enthalten erst weitere Züge, gestatten erst weitere Schlüsse in bezug auf diese Grundfrage der Psychologie. - 3 5 2
§ 2 6 . Das Selbstbewußtsein 1) Die 3 5 3 Analysis des Selbstbewußtseins ließ die Frage auftreten, ob Selbstbewußtsein nicht erst im genetischen Zusammenhange des Lebens entstehe: hierfür hat man sich auf das Auftreten des „Ich-Sagens" beim Kinde berufen. Dies ist aber nur ein Ereignis im Sprachgebrauche des Kindes. Es bezeichnet wohl den Termin, an welchem das Selbstbewußtsein da sein muß, aber lange, bevor von außen eine Bezeichnung für dasselbe aufgenommen wird, kann es vorhanden gewesen sein. 2) Das Selbstbewußtsein kann nicht aus den niederen Seelenvorgängen der Empfindungen, der Lust- und Unlustgefühle und der Assoziationen hergeleitet werden. Eine solche Erklärung würde das, was die Bedingung des Erfahrens ist, aus der Erfahrung ableiten. An diesem Punkte liegt ein großes Verdienst von Kants Vernunftkritik: 354 Ein Objekt ist nach ihr nur durch die Synthesis der Eindrücke zum Ganzen des Gegenstandes für mich da. 355 Die bloße Aufeinanderfolge der Akte des Bewußtseins erklärt nicht, daß eine Beziehung derselben im Bewußtsein besessen, ein Urteil durch Vergleichung
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ausgesprochen, ein Zusammenhang in der Einheit jenes Gegenstandes hergestellt wurde. 356 Mit dieser ersten Bedingung alles Wahrnehmens und Erfahrens hängt eine andere zusammen: Im Wechsel der Zustände wird die Identität dessen besessen, der sie erfährt; dächte man sich dies hinweg, so wäre Erfahrung nicht mehr möglich. Hierauf beruht dann das Denkgesetz der Identität, das moralische Gesetz der Verbindlichkeit, nach welcher eine Person sich an ihre früheren Willensakte gebunden findet; so wird das Selbst zur Person. 3) Die Analysis des Selbstbewußtseins 357 ging bei Kant und Fichte von dem Verhältnis der Vorstellung zu ihrem Gegenstande aus; sie vermochte aber nicht auf diesem Wege die Tatsache zu erklären, daß das, was als „Ich" vorgestellt wird, sich mit dem Vorstellenden in eins setzt. Wenn das Subjekt das Selbst 358 vorstellt, und zwar wieder als ein sich Vorstellendes, so bleibt das „Sich" getrennt von dem Subjekte. So wird der Akt des „Sich-Vorstellens" immer wieder erneuert und bringt doch nie das „Selbst", welches den Akt vollzieht, mit dem „Sich" zusammen, welches vorgestellt wird. Dies beweist, daß in dem Ansätze selbst ein Fehler liegen muß, und es ist das Verdienst Herbarts, auf diesen Fehler in der Kant-Fichteschen Theorie aufmerksam gemacht zu haben. Aber Herbarts Auflösung der Schwierigkeit ist nur eine scheinbare; diese Schwierigkeit führt vielmehr zur Anerkennung, daß dem Selbstbewußtsein eine andere Tatsache zugrunde liegen muß, nämlich die des Innewerdens. 4) In 359 dem Innewerden sind Willensakte und Gefühlszustände unmittelbar für uns da; aber auch der Wahrnehmungs- und Vorstellungsakt besteht nicht ausschließlich in der Inhaltlichkeit, die ich mir in ihm gegenübersetze; vielmehr begleitet diese ein Innewerden des Aktes selbst oder kann wenigstens nachträglich hervorgerufen werden. Spannung der Aufmerksamkeit, Ruhe in der sinnlichen Auffassung, Befriedigung oder Hemmung während des Denkvorganges sind Bewußtseinszustände, die als ein Innewerden des Aktes den Wechsel der Inhalte begleiten. Vor allem aber bilden die Willens- und Gefühlstatsachen den Mittelpunkt solcher Erfahrungen unserer selbst. In ihnen finden wir uns durch ein anderes bedingt, wir bezeichnen es folgerecht als Wirklichkeit; wir trennen den Bezirk unserer Gefühle von der Außenwelt. 360 So sondert sich unsere eigene Zuständlichkeit, deren innerer Zusammenhang für uns da ist, von der Welt der äußeren Wirklichkeit. Dieser Tatbestand kann von uns in dem Selbstgefühle und dem Lebensgefühle aufgefaßt werden: In dem ersteren wird [der Wille] vorherrschend seiner Lage zur Welt inne, in dem zweiten das Gefühl. Unser Selbstbewußtsein entsteht nun erst, wenn durch die Einheit des Bewußtseins die einzelnen Zustände verknüpft werden und dieser Zusammenhang uns wie ein Objekt gegenübertritt. Dies wird aber dadurch ermöglicht, daß uns das, dessen wir innewerden, zugleich durch die äußere Wahrnehmung
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in unserem Körper gegeben ist. Unsere Sinnesempfindungen, welche das Bild unseres Körpers entwerfen, sind in beständiger und regelmäßiger Verbindung mit dem Innewerden von Zuständen, die in den Bewegungsgefühlen und Organgefühlen ebenfalls lokalisiert auftreten. Diese sichtbare Oberfläche des Körpers, welche zugleich die Hand betasten kann, bezeichnet die Grenzen, innerhalb deren andererseits unsere Gefühle lokalisiert erscheinen, der Anprall von Körpern Schmerzgefühl oder Lustgefühl hervorruft und der Wille direkt willkürliche Bewegungen einzuleiten vermag, und zwar besteht eine besondere Leichtigkeit, diese Gesichts- und Tastwahrnehmungen immer zu wiederholen. So wird aus dem erlebten Zustande das „Ich" als Objekt, als ein Träger unserer Zustände, unseres Tuns und Leidens. 361 Diese Theorie, welche für die Erklärung des Selbstbewußtseins von den drei Seiten des psychischen Lebens ausgeht, wird gestützt einerseits durch die Erscheinungen bei Analgie, andererseits durch die Untersuchungen der Ursachen der Alienation des „Ich" bei geistigen Störungen.-
III. ABSCHNITT: Vom Verlauf der Vorstellungen §27. Erster Grundvorgang: die Verschmelzung und ihre Gesetze Wir suchen die Gesetze, nach welchen Wahrnehmungen und Vorstellungen 362 in Beziehung zueinander stehen und daher einander hervorrufen. Erstes Gesetz: Der Vorgang der Anschauung erweckt unter bestimmten Bedingungen den ihm ähnlichen früheren Akt, welcher unmittelbare Disposition geworden ist, zum Bewußtsein und verschmilzt mit ihm ganz oder teilweise, nur daß das Bewußtsein, daß frühere Akte stattgefunden haben, erhalten bleibt. 363 1) Die Verschiedenheit, welche zwischen dem Inhalt der ganz wieder zurückgerufenen Vorstellung und der ganz vollzogenen Wahrnehmung bestehen würde, hindert nicht an sich eine völlige Verschmelzung. Die Vorstellung muß nicht in jedem Falle wie ein toter Tatbestand ganz so zurückkehren, wie die zurückgebliebene Spur früherer Eindrücke es ermöglicht. Die Wahrnehmung braucht nicht alle in der Empfindung gegebenen Elemente zur Bildung der Anschauung zu benutzen; der Vorstellungsverlauf kann es mit sich bringen, daß die Anschauung die Vorstellung nur in [den] ihr gleichen Elementen bewußt macht oder die Vorstellung die Anschauung innerhalb der ihr gleichen Elemente vollziehen läßt.364 Dies kann infolge bestimmter Richtung des Inter-
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esses stattfinden. Es kann aber auch geschehen, daß die objektiven Vorgänge oder die reproduzierten Vorstellungen vermöge eines geringeren Grades von Interesse nur in ihren gleichartigen Teilen aufgefaßt werden. In all diesen Fällen entscheiden Trieb, Gefühl, Interesse über Grad und Richtung der Ausbildung der Wahrnehmung und der Reproduktion der Vorstellung. Bloße Wahrnehmungen können überhaupt nur in dem Falle mangelnder Apperzeption auftreten. In den meisten Fällen wird eine Wahrnehmung früheren Eindrücken eingeordnet, in allen anderen können mindestens Teile der neuen Wahrnehmung wiedererkannt werden. 2) Wo aber die Verschiedenheit zum Bewußtsein gelangt, ist es wieder das Interesse, das hierüber entscheidet: Entweder entsteht eine teilweise Verschmelzung mit vorherrschendem Bewußtsein des Verschiedenen - dann überwiegt die Wahrnehmung des Kontrastes - ; die Anschauung und die reproduzierte 365 Vorstellung treten als verschieden nebeneinander, und der Schein entsteht, der Kontrast habe die Vorstellung reproduziert. Oder der Verschmelzungsvorgang herrscht vor; und da trotzdem die Verschiedenheit zum Bewußtsein kommt, werden Ähnlichkeit, Verwandtschaft aufgefaßt. 366 So entsteht die Reproduktion einer Spur früherer Eindrücke infolge eines begonnenen Verschmelzungsvorganges. 3) Aus der Verschmelzung entstehen die festen Vorstellungen. Es sind entweder feste Vorstellungen eines Einzelobjektes oder Allgemeinvorstellungen. Letztere enthalten ein verschiebbares Schema; sie sind die Bedingungen der Sprache, und diese wirkt dann wieder zurück auf ihre Festigung. 367 Die Bedeutung der Allgemeinvorstellungen im geistigen Haushalt ist eine sehr große; sie sind eine Grundlage der Vereinfachung in den psychischen Prozessen und der Begriffsbildung. Eine Vorstellung, die allgemein wäre, ist genaugenommen ein Widerspruch. Die Vollziehung einer Einzelvorstellung ist hier von dem Bewußtsein der Allgemeinheit begleitet.
§ 2 8 . Zweiter Grundvorgang: die Assoziation und ihre Gesetze 1) Die Tatsache des Gedächtnisses kann nicht erklärt werden durch ein Erinnerungs- oder Gedächtnisvermögen. Dies ist eine allgemeine Vorstellung, welche nur den Tatbestand ausdrückt, aber nicht erklärt. Ihn erklären heißt, für die Akte des Erinnerns die Bedingungen angeben, und zwar für das Gleichförmige in diesen Akten die konstant im Bewußtsein wirkenden Bedingungen. Diese Bedingungen liegen einmal in dem ersten konstituierenden Bewußtseinsstande, in welchem der Verband gestiftet wurde, der nun in dem Erinnerungsakte reproduziert wird, dann in den späteren Akten, in welchen dieser
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Verband wieder vorkam, endlich in dem gegenwärtigen Bewußtseinszustande, der auf den Akt des Erinnerns einwirkt. 2) Der Bewußtseinszustand, in welchem der Verband gestiftet wurde, der nun reproduziert wird, kann auf den gegenwärtigen Akt in doppelter Weise wirken; entweder seine Wirkung hat als unbewußte geistige Tatsache fortgedauert oder als Residuum 368 im Gehirn. Eine Entscheidung zwischen diesen Annahmen ist zur Zeit unmöglich, doch sprechen viele empirische Tatsachen, welche die Abhängigkeit des Gedächtnisses, seiner Leistungen, seiner Abnahme, der in ihm auftretenden Störungen von Gehirnzuständen erweisen, mehr für die zweite Annahme. 369 Zu dieser Bedingung, welche in der Herstellung des Verbandes durch einen ersten Akt und vielleicht durch folgende Reproduktion gelegen ist, tritt hinzu als andere der gegenwärtige Bewußtseinsstand. Indem man beide Bedingungen zusammennimmt, erklärt sich der Grad der Leichtigkeit der Erinnerung und die Richtung, welche diese innerhalb eines zugrundeliegenden Verbandes von einem gegebenen Teile aus nimmt. Die Leichtigkeit der Erinnerung ist das Produkt der Dauer und Zahl der Reproduktionen und der Art des Verbandes, endlich des Interesses und der Aufmerksamkeit, welche den Akten zukam. Die Stärke der Verbindung zweier Vorstellungen, welche einander reproduzieren, wächst mit dem Inhalte und Gewicht (Interesse) der Verbindung, andererseits mit dem Grade der Eingewöhnung, der von Zahl, Dauer und Intensität (willkürlicher Aufmerksamkeit) der Bewußtseinsakte abhängt. Verbindungen von derselben Festigkeit370 werden als Glieder einer längeren Kette leichter reproduziert, als wenn etwa nur zwei Vorstellungen miteinander verkettet sind. Die Reproduktion einer Reihe kann in doppelter Richtung vollzogen werden: Sie vollzieht sich leichter in dem natürlichen Zusammenhange der Anschauung, in der eingewöhnten Richtung und in der vom weniger Geläufigen zum Geläufigen. 3) Vermöge der sogenannten Enge des Bewußtseins, welcher gemäß Vorstellungen mit Aufmerksamkeit nacheinander erzeugt 371 werden, wird ein zusammengesetzter Wahrnehmungsverband bei der Reproduktion in eine Reihe umgewandelt.
§ 29. Das Gedächtnis in pragmatischer Hinsicht Das Gedächtnis ist sonach nicht eine einheitliche Kraft der Seele, sondern eine Leistung, die sich zusammensetzt aus Einzelleistungen, wie sie den einzelnen Verbindungen zukommen. Das Gedächtnis in bezug auf eine bestimmte Verbindung von Inhalten, d. h. die Art, wie ich in einem gegebenen Augen-
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blick diese Verbindungen besitze, ist der Grad von Leichtigkeit ihrer Reproduktion. Dieser aber kann bestimmt werden durch den Arbeitsaufwand, der noch erforderlich ist, die Verbindung für die Reproduktion zur Verfügung zu stellen. Bevor die Elemente, welche in dem Ergebnis der Reproduktion zusammenwirken, einmal einzeln der experimentellen Untersuchung in bezug auf ihr Wirken unterzogen sind, können nur unbestimmte Regeln für die Pflege und Ausbildung des Gedächtnisses gegeben werden. Die Art der Verbindungen ist zunächst verschieden, damit auch ihr Wert; solche Verbindungen sind zu entwickeln, welche den inneren Zusammenhang für die Erkenntnis enthalten. So wird die Leistung des Gedächtnisses eine Grundlage für die des Verstandes, es liefert nur rohen Stoff, den der Verstand bearbeitet; Kausalbeziehungen, rationale Verhältnisse sind als Verbindungen zu bevorzugen, die Künste der Mnemonik 372 zu verwerfen. Die Individuen sind verschieden in bezug auf die Verbindungen, die sie am häufigsten und mit dem stärksten Interesse vollziehen. Die Verschiedenheit der Anlagen setzt sich so innerhalb des Gedächtnisses fort. Mit dem Elemente, das in der Art der Verbindung liegt, hängt das zusammen, welches in den begleitenden Gefühlen und den Interessen besteht. Die Einheitlichkeit der Geistesrichtung begünstigt die Stärke des Interesses und dadurch das Gedächtnis. Ein äußerliches Nebeneinander von Beschäftigungen oder die Ablenkung des Interesses durch Liebhaberei mindert die Leistungen des Gedächtnisses. Das letzte Element liegt in der Zahl, der Dauer und Intensität der Wiederholung. Auch hier wird die Leistung des Gedächtnisses durch die Einschränkung auf ein Gebiet und die Herstellung des Zusammenhanges in ihm verstärkt. Die wahre Gedächtniskunst 373 besteht daher, da die ursprüngliche physiologische Anlage nicht wesentlich geändert, sondern nur einerseits durch Übung gestärkt, andererseits durch richtige Benutzung geschont werden kann, darin, das Gebiet früh zu wählen, innerhalb dessen ein Individuum Verbindungen am leichtesten und mit dem größten Interesse reproduziert. Es in einer stetigen Lebensführung festzuhalten, es mit den höchsten Lebensinteressen in Beziehung zu setzen und innerhalb desselben einen einheitlichen Zusammenhang herzustellen: Das muß auch für die Erziehung die Hauptregel sein. Wo sie einen logischen Zusammenhang nicht herstellen kann, verfahre sie nach der Regel: zunächst eines fest und sicher anzueignen, dann das andere sich darauf beziehen zu lassen. (Lesenswerter Roman: Anton Reiser von Moritz.) -
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§ 30. Die Verarbeitung der Wahrnehmungen im Bewußtsein 1) Die elementaren Vorgänge, die der Verarbeitung zugrunde liegen. Eine Wahrnehmung oder reproduzierte Vorstellung wird einer anderen Vorstellung oder374 einem Begriff375 untergeordnet; eine Wahrnehmung oder Vorstellung wird mit anderen Vorstellungen und Verbindungen von solchen in Beziehung gesetzt, oder die Unmöglichkeit einer solchen Beziehung wird festgestellt. Eine Wahrnehmung oder Vorstellung bildet rückwärts Vorstellungen und ihre Verbindungen, 376 in welche sie eintritt, um. (Schöpferisches Verfahren in Wissenschaft und Kunst.) 2) Der Erfolg der Verarbeitung von Eindrücken hängt vom Reichtum des vorhandenen geistigen Gehaltes, von der Vielfachheit der Reproduktion desselben und von der Ausbildung der Beziehung innerhalb des Interessekreises ab. 3) Die Verfassung des geistigen Lebens, welche der Eindruck vorfindet, ist in den verschiedenen Individuen verschieden; entweder besteht eine beherrschende Gruppe (monarchischer Charakter), oder das Individuum ist ohne klare Ordnung den Eindrücken hingegeben in vielseitiger Empfänglichkeit, aber ohne straffen Zusammenhang (anarchischer Charakter), oder mehrere Gruppen stehen ohne vollständige Ausgleichung im Bewußtsein nebeneinander. Die für die geistige Arbeit glücklichste Verfassung ist in der Herrschaft eines zentralen Interesses bei großer Empfänglichkeit für die unbefangene Auffassung des Wirklichen. 377
§31. Die Sprache und das Denken 1) Das Wahrnehmen und der unwillkürliche Gedankenlauf nach den Gesetzen von Assoziation und Verschmelzung sind schon durchzogen von Denkprozessen. Diese laufen dann in dem diskursiven Denken selbständig ab. Sinnesurteile, der unbewußte Schluß, der eine Wahrnehmung herstellt, die Allgemeinvorstellungen bilden die logische Unterlage aller Wahrnehmungen. Dieser Satz kann auch als der von der Intellektualität der Sinneswahrnehmungen bezeichnet werden. Er ist von Kant begründet, von Schopenhauer veranschaulicht, von Weber, Helmholtz, Fechner an den höheren Sinnen durchgeführt und bewiesen worden. 2) Die elementaren logischen Vorgänge sind: „Vergleichen, Unterscheiden, Ineinssetzen"; sie unterscheiden sich von denen der Assoziation und können auf diese nicht zurückgeführt werden. Nicht in mir wird gedacht, sondern ich denke (Spontaneität). Es ist die Aufgabe der Logik zu zeigen, wie in diesem
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Zusammenhange die Formen des diskursiven Denkens sich ausbilden: Urteil, Begriff und Schluß. Logische Prozesse, wie die Anordnung von Inhalten nach Verhältnissen 378 der Abhängigkeit (des Grundes), wie ferner die Verneinung, wirken zusammen mit der inneren und äußeren Erfahrung. In der inneren Erfahrung entspringen die Beziehungen des Dinges und seiner Eigenschaften, des Tuns und Leidens, denn wir finden uns selbst als ein Beharrendes, d. h. als ein sich als dasselbige Wissendes im Wechsel der Zustände. So entstehen die Begriffsverhältnisse der Substanz und Kausalität, die voneinander unzertrennlich sind. Zugleich wirken die Grundverhältnisse der äußeren Wirklichkeit; so entsteht der Zusammenhang des diskursiven Denkens: die Mannigfaltigkeit der Urteilsformen, die Verhältnisse der Begriffe in der Einteilung und im Schluß, die Methoden der Analysis und Synthesis, der Induktion und Deduktion. 3) Das Problem der Entstehung des diskursiven Gedankenzusammenhanges kann nicht von dem der Entstehung der Sprache getrennt werden. Zwei Ansichten treten sich auch hier gegenüber: Nativismus und Empirismus. Die nativistische Theorie wurde von Humboldt begründet, die empiristische von Herbart, Jakob Grimm, [Charles] Darwin, [Lazarus] Geiger. Sie macht sich geltend sowohl in bezug auf die Entstehung von Verbindungen fester Vorstellungen mit Lautbildern als auf die Entstehung der syntaktischen Gliederung. -
§ 3 2 . Der Fortschritt der intellektuellen Entwickelung 379 Der Fortschritt ist uns nachweisbar auf dem Gebiete der intellektuellen Entwicklung, denn Vorstellungen, Begriffe, Beweisführungen sind übertragbar von einer Generation auf die folgende. Da nun der Erwerb der früheren Generationen leichter angeeignet wird, als er geschaffen wurde, so kann er in der nächsten vermehrt werden. Daher besteht Vererbung und Steigerung auf dem Gebiete des geistigen Lebens, 380 und zwar besteht dieser Fortschritt sowohl im Anwachsen der Zahl und Verbindungen der Sätze, welche aus der Wirklichkeit nach Denkregeln allgemeingültig abgeleitet sind, als in der Vervollkommnung der geistigen wie der äußeren Werkzeuge. So bildeten sich zuerst mit der Sprache die Formen des Denkens in einem langen Zeiträume aus, dann trennte sich das Denken von den anderen Seiten des geistigen Lebens und entwickelte sich technisch als Werkzeug zur Auflösung des Problems der Erkenntnis. So wuchsen die Methoden.
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IV. ABSCHNITT: Gefühl und Wille § 33. Das Verhältnis des Gefühls zu den anderen Seiten des psychischen Lebens Wir unterscheiden zwischen dem den Lebensmoment erfüllenden Bewußtseinszustande und seinen Teilinhalten. Gefühl ist zunächst ein Teilinhalt; erst in einem zweiten Sinne wird der Ausdruck benutzt, den Zustand zu bezeichnen, in welchem dieser Teilinhalt vorherrscht. Jedes Gefühl hat Vorstellungsinhalt und ist mit Willenszuständen verbunden, andererseits hat der Bewußtseinsinhalt jedes Lebensmomentes eine Gefühlsfärbung, einen Gefühlston. Die weiter gehende Behauptung, jede Empfindung und Vorstellung als solche sei mit einem Gefühlston ausgestattet, kann nicht bewiesen werden. - 3 8 '
§ 34. Der Wille und die Beziehungen des Gefühls zu ihm Gefühl, Verlangen, Trieb, Wille zeigen miteinander verwandte Züge und bilden eine kontinuierliche Reihe. Daher werden sie als die Welt des Gemütes zusammengefaßt. Der Gegensatz von Lust und Unlust, von Neigung und Abneigung, Zuwendung und Abwendung ist gleichartig; es fragt sich, ob diese Verwandtschaft nicht auf einen gemeinsamen Ursprung deute: Das Gefühl könnte entweder auf den Willen zurückgeführt werden oder dieser auf jenes. Zurückführung des Gefühls auf den Willen liegt in der Aristotelischen Theorie der Energien vor. Diese betrachtet die Lust als ein Zeichen des Gelingens des Handelns. Nach den Stoikern ist der Antrieb der Selbsterhaltung eine ursprüngliche Tatsache. An sie knüpfte Spinoza an. Die Psychologie verdankt Spinoza 382 neben seiner Lehre von der Korrespondenz der physiologischen mit den psychischen 383 Tatsachen die erste Durchführung einer Mechanik der Willens- und Gemütszustände. Streben nach Selbsterhaltung wird im Menschen von Bewußtsein begleitet und tritt als Begierde auf. Diese ist nicht ein abstraktes Vermögen, sondern besteht in den einzelnen Willenszuständen. Indem die Begierde von den Bedingungen der Außenwelt determiniert wird, entstehen die einzelnen Zustände (affectus). Sie werden von ihm nur definiert durch Feststellung einerseits ihrer Beziehung zur Selbsterhaltung, andererseits zu den Lebensbedingungen. Aus der Hemmung der Selbsterhaltung entsteht Unlust, aus ihrer Förderung Lust. Liebe ist nur die Beziehung der Lust oder der Aufhebung von
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Unlust auf eine vorgestellte Ursache. Hiernach erblickt Spinoza in den Gefühlen nur ein Innewerden der Lagen und Zustände des Willens. Diese Theorie ist zunächst in der Bezeichnung „Selbsterhaltung" zu enge; die empirische Beobachtung gebietet, in den Willen das Bestreben nach Entfaltung und Steigerung einzuschließen. Sie enthält sodann eine zu enge Definition des Gefühls, denn nur ein Teil unserer Gefühle kann als Innewerden unserer Willenszustände aufgefaßt werden. Das Gefallen an einer Farbe oder an einem Tone widerlegt die Ableitung des Gefühles aus dem Willen. Eine Fortsetzung dieser Theorie gab die Willenslehre von Schelling.384 Schopenhauer hat diese und die verwandte Lehre von Fichte aufgenommen. Nach ihm ist der Mensch primär Wille, die Darstellung dieses Willens das Leben; er selber [ist] unveränderlich, nur seine Mittel wechseln.385 In dem Menschen ist er mit einem hochentwickelten Intellekte verbunden, dessen Funktion das Gehirn ist. Erst aus einer Hemmung entspringt ein Bedürfnis der Befriedigung; daher ist das Leiden positiv, das Glück negativ. Eine provisorische Aufhebung des Willenszustandes, die willenlose Hingabe an die Idee in der Kunst liege in der Aufhebung des Willens selbst. - 386 Fehler dieser Theorie: Das ästhetische Schaffen entspringt in einer vom Willen geleiteten Tätigkeit; die Erkenntnis ist nicht nur nicht willenlos, sondern herrscht über den Zufall des Gedankenlaufs durch den Willen.387 Eine entgegengesetzte Theorie, die in den Wahrnehmungen und Gefühlen die einzige primäre psychische Tatsache sieht, wird in Piatons Dialog „Protagoras" als Lehre dieses Sophisten dargestellt. Ihr folgen Demokrit und Epikur. Im 17. und 18. Jahrhundert wurde dann dieser Sensualismus in Frankreich und England durchgebildet. Jeremias Bentham hat eine weitverbreitete Schule der radikalen Politik auf die Theorie begründet, doch gelang dies nur, indem dem Streben nach der eigenen Glückseligkeit des Individuums das nach dem Glücke der Gesellschaft substituiert wurde. 388 Dies kann aber immer nur durch einen logischen Fehler geschehen.
§35. Das Wesen des Gefühls Die Mannigfaltigkeit der Gefühle kann in eine Reihe von Intensitäten geordnet werden; diese verläuft nach der einen Richtung in Graden von Lust, Gefallen, Billigung, nach der anderen in Graden von Unlust usw. Andererseits umfaßt der Begriff des Gefühls ein qualitativ Mannigfaltiges: Lust, Gefallen, Eindruck der Vollkommenheit, Billigung und ihr Gegenteil (Innewerden eines psychischen Zustandes für sich ist nicht als Gefühl zu bezeichnen 389 ). Diesen
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Zuständen ist gemeinsam, daß sie eine Beziehung der Umstände enthalten, unter denen eine Lebenseinheit funktioniert. Die Natur dieser Beziehungen wird unmittelbar im Gefühl erfahren. Im Zusammenhange der Gedanken kann diese Beziehung durch den Begriff des Wertes bezeichnet werden. 390
§36. Die Gesetze des Gefühlslebens. - Seine Entwicklung und seine Arten Das Lebensgefühl des gegenwärtigen Augenblickes bedingt als Grundlage; wie ein neu auftretender Tatbestand auf unser Gefühlsleben wirkt, so wird von diesem Lebensgefühle aus der Gefühlswert dieses neu eintretenden Tatbestandes bestimmt. 391 Die Gewöhnung vermindert die Stärke eines Gefühls, auch wenn die Umstände, die es hervorriefen, ungeändert fortdauern. Dies ist teilweise bedingt durch die immer neu stattfindende Anpassung unserer Lebenseinheit an die sich ändernden Umstände. Eine Reproduktion der Gefühle, somit ein Erinnerungsvorgang in denselben kann nicht erwiesen werden. Vielmehr reicht die Annahme aus, daß die Reproduktion des Tatbestandes, der mit einem Gefühle verbunden war, dieses selber dann wieder erzeugt, wenn die Stellung der Lebenseinheit zu diesem Tatbestande dieselbe geblieben ist. Die Fähigkeit des Individuums, einen Reichtum von Gefühlen hervorzubringen, nimmt durch die Nachbildung von Gefühlen zu. Die Gefühlsentwicklung vollzieht sich im Individuum wie in der Menschheit in einem Vorgange von Differenzierung, indem das Gefühlsleben neben dem Handeln und Erkennen Selbständigkeit erlangt.392 [Die] Einteilung der Gefühle [ist] nicht trennbar von ihrer Entwicklungsgeschichte: 1) das sinnliche Gemeingefühl, 2) sinnliche Einzelgefühle, 3) Gefühle, die aus der Lage der Selbsterhaltung zu den Lebensbedingungen entspringen, 4) den Verlauf der Vorstellungen begleitende Gefühle, 5) ästhetische Gefühle, 6) moralisch-religiöse Gefühle.
§ 37. Die Leitung und Metamorphose der Vorstellungen von dem Gefühlsleben aus. - Phantasie und künstlerisches Vermögen 1) Jeder Vorgang, sofern Einbildungskraft in ihm ist, enthält etwas über die bloße Reproduktion Hinausgehendes; solches in allen schaffenden Akten des
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Menschen, in den Erkenntnisakten als Erfindung, in dem praktischen Verhalten als schöpferische Einwirkung auf Natur und Gesellschaft. 393 2) Der Vorgang [ist] am einfachsten zu studieren in den Tatbeständen, in denen er am meisten isoliert auftritt, so in den Schlummerbildern, in der Bildung einer Melodie. Die Elemente alles menschlichen Schaffens sind in der Wirklichkeit gegeben; keine Einbildungskraft kann einen neuen Ton, eine neue Farbe erfinden. Das Schaffen besteht in der Richtung des Fortganges 394 von Element zu Element. 3 9 5 3) Das künstlerische Schaffen ist darauf gerichtet, Wahrnehmungen und Vorstellungen dem Gemütsleben gemäß so umzugestalten, daß sie diesem eine Befriedigung gewähren. 396 Kant hat die ästhetische Stimmung als interesselose, d. h. [als] von jeder Beziehung des Begehrungsvermögens auf außerhalb der bloßen Betrachtung gelegene Zwecke freie Anschauung bezeichnet. Das Kunstwerk befriedigt, insofern durch dasselbe der ganze Mensch über seine persönlichen Lebenszwecke hinausgehoben und in eine ruhende Gemütslage gebracht wird. Wo ein Kunstwerk nur eine Seite unseres Gemütslebens ausfüllt oder gar etwas in ihm einer Anforderung des Gemütslebens widerspricht, kann es bedeutend sein; ihm fehlt aber der volle Charakter der Schönheit, der Klassizität, und mitten im Genuß wird der Mangel empfunden. 397 4) Sehr abweichende ursprüngliche Anlage der Künstler schon in den Sinnesorganen, dann im Interesse, der Fähigkeit der Reproduktion; hinzu kommt die 398 Hinwendung auf Eindrücke bestimmter Art um ihrer selbst willen, 399 die freie Erregbarkeit durch sie; 400 Kindlichkeit oder Naivität des Künstlers den Zwecken des Lebens gegenüber. Das Kunstwerk entsteht zwar in, doch nicht durch ein Individuum. 401 Das Verhältnis des Gemütslebens zu den Vorstellungen, welche so eine Metamorphose erfahren, [ist] ein anderes in den Künsten, welche die Wirklichkeit abbilden, als in denen, die wie Musik und Architektur aus ihr abstrahierte Elemente frei verknüpfen. 402 Kunstwerke drücken nicht Ideen aus, sondern die Gemütserfüllungen und Steigerungen des Daseins, die sie gewähren, können nicht für den Verstand klar gemacht werden. -
§ 3 8 . Der Wille und seine Freiheit 403 Die Erörterung der Freiheit bildet den Grenzpunkt der Psychologie. Der notwendige Zusammenhang der menschlichen Handlungen gründet sich darauf, daß innerhalb gewisser Grenzen dieselben Kräfte der Menschennatur in denselben Lagen wiederkehren, daß im Bereich der Abwägung nach logischen Gründen Notwendigkeit besteht. Der Typus des Willensvorganges besteht in der Beziehung eines vorschwebenden Effektbildes zu der Lebenseinheit. Diese
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Lebenseinheit besitzt eine innere Gliederung, eine mannigfache Reaktionsfähigkeit. Die Bedingungen enthalten ihrerseits ein Mannigfaches von Beziehungen zu dieser Gliederung. Jede solche Beziehung ist nun ein Motiv. Motive, die gegeneinander meßbar sind, werden nach logischen Gesichtspunkten abgewogen, und hier herrscht Notwendigkeit. Den Charakter und die Freiheit dürfen wir nur in der inneren Gliederung selbst aufsuchen, in welcher einander unvergleichbare Werte innerhalb der Lebenseinheit sich zueinander verhalten. Die Entwicklung dieser Beziehungen der Werte zueinander ist die des Charakters. Daß sie sich mit Freiheit vollziehe, wird in der inneren Erfahrung, dem Bewußtsein von Verantwortlichkeit und Zurechnung erlebt. Erkannt kann die Freiheit nicht werden, da alles Erkennen einen notwendigen Zusammenhang nach dem Satze vom Grund aufsucht.
Psychologie als Erfahrungswissenschaft (Wintersemester 1 8 8 5 / 8 6 )
I. Es ist der Standpunkt, welcher Metaphysik verwirft, der Standpunkt, welcher nichts als Erfahrung anerkennt, von dem wir die Psychologie betrachten404 Was ist der Begriff der Psychologie? - Ubersetzt = Lehre von der Seele. Alle Völker, die Naturvölker allesamt, haben irgendeinen Ausdruck für das, was wir in unserer Sprache Seele, Träger des Denkens, des Willens etc. nennen. Und zwar haben sich die Naturvölker hierüber eine einmütige Vorstellung gebildet. Sie betrachten als diesen Träger etwas, was materiell und doch zugleich geistig sei, ein Wesen, welches nicht gebunden sei an unsere Körperlichkeit. Es ist, wenn es den Körper verlassen hat, nach dem Tode nicht mehr gebunden an unsere Körperlichkeit. Es ist unabhängig von den Grenzen des Raumes und der Zeit, in gewissem Grade, an die unsere Körperlichkeit gebunden [ist]. Die Existenz solchen Dinges leiten die natürlichen Völker ab aus der Geburt, dem Schlaf, dem Traum, dem Tode usw. Der natürliche Mensch hat die Vorstellung eher eines Schattens von der Seele des Menschen. Die europäischen Völker sind alsdann übergegangen zu der metaphysischen Theorie der menschlichen Seele. Nun wird die Vorstellung dieses körperlichen und doch die Grenzen des Körperlichen überschreitenden Wesens zu der einer denkenden Substanz. Die Seelenäußerungen werden zurückgeführt auf eine besondere und immaterielle Substanz. Die Substanz ist nun ein Unräumliches. Die Theorie dieser Seelensubstanz wird nunmehr in der Psychologie entwickelt, und diese ist nichts mehr als die Ableitung eines Seelenlebens aus der Substanz heraus. Das Altertum faßte den Begriff der Seelentätigkeit noch sehr weit auf. Herbart und Lotze sind die ersten Forscher auf dem Gebiete der Psychologie. Sie gehen beide von der Annahme einer solchen immateriellen Substanz aus. Dieser Standpunkt muß allmählich von der Erfahrungswissenschaft abgelöst werden. Durch unsere Sinne gewahren wir Objekte der Außenwelt; dagegen durch unsere Gefühle nehmen wir Zustände unserer selbst wahr. Diese Wahrnehmungen psychischer Art finden sich verbunden untereinander durch die Tatsache des Selbstbewußtseins. Diese Tatsache bildet eines der merkwürdigsten
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Rätsel der Psychologie: die Anspannung des Denkens auf ein innerlich zusammenhaltendes „Ich" zu beziehen. Alle Akte des Innern werden auf eine zusammenhängende Einheit bezogen. So entsteht in ihnen die notwendige Vorstellung einer Lebenseinheit in dem Sinne, daß alles dasjenige miteinander verbunden ist und durch die Vorstellung des Ich miteinander verknüpft. So entsteht jene Einheit des Lebens, welche als „Ich" bezeichnet wird. Unser Leben ist eine Entwicklung, ist eine Einheit, und diese Einheit ist es, welche den Gegenstand der Psychologie ausmacht. Es ist für uns vorläufig ein X , ein Geheimnis. Es wird sich für uns nur darum handeln, diese Tatsachen der Lebenseinheit im Verlaufe der Psychologie aufzuklären. Sind wir für uns selbst eine Lebenseinheit, so finden wir durch den Schluß der Analogie, daß es Lebenseinheiten analoger Art auch jenseits unseres Selbst gebe. Und so entsteht in uns die Vorstellung eines Inbegriffs von Seelenleben, welches der Untergrund der ganzen Weltgeschichte ist. Dieser ist der Gegenstand der Psychologie, und Psychologie ist nichts anderes als die Lehre von der Lebenseinheit, wie sie durch Schlüsse im Selbstbewußtsein uns gegeben ist. Im Menschen findet sich Interesse an Charakteren und Schicksalen, sei es an etwas Geschehenem oder Erdichtetem. Bei allen Menschen und allen Völkern findet sich der unersättliche Drang danach, Menschliches zu vernehmen und Menschliches aufzufassen. Was ist der Grund dieses Interesses? Die erste Antwort: Liegt uns doch nichts näher als wir uns selbst. Und Goethe sagt: „Das höchste Studium des Menschen ist der Mensch." 4 0 5 Von aller Naturkenntnis unterscheidet sich die Auffassung dieses Menschen durch die Organe. Wir fassen die Natur auf durch gleichgültiges Wahrnehmen, aber was im Menschen vorgeht, durch ein Mit-Erleben. Die Mit-Empfindung ist die Grundlage der Erkenntnis des Menschlichen. Wir empfinden mit und werden miterregt durch die Ereignisse anderer Menschen. Ist das aber, dann begreifen Sie nunmehr das Interesse, welches an solchen Tatsachen haftet, sich zu entfalten, sich auszubreiten, sich zu fühlen. Das Romanlesen hat seinen Grund darin, daß das Leben ergänzt wird durch anderes. In diesem Drange wurzelt ferner aber auch das künstlerische Leben. Wir werden finden, wie die Phantasie imstande ist, sich in ein ganz anderes Leben hineinzuleben. Aber auch der Gegenstand und die Art, wie derselbe von uns zu wählen ist, ist ganz verschieden von dem der äußeren Natur. Die äußere Natur bietet uns nichts als Erscheinungen. Sie ist uns nur gegeben an unserem Bewußtsein. Aus 406 unserem Bewußtsein ist die ganze äußere Natur gewebt, und zwar aus den Sinneseindrücken. Diese Wahrnehmungen sind also nicht wirkliche Tatsachen der Außenwelt. Den Farben entspricht nicht ein Farbiges außer uns, den Tönen entspricht nicht ein Tönendes außer uns. Darüber gibt uns auch die Naturwissenschaft keine Auskunft.
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Ganz anders ist es nun mit den Eindrücken des Seelenlebens. Hier haben wir es mit wirklich Erlebtem zu tun. In dem Bewußtsein sind die Erscheinungen des Bewußtseins, wie sie wirklich sind. Der Farbenerscheinung entspricht nicht Farbiges außer mir, aber das Stattfinden von Erscheinungen in meinem Selbstbewußtsein ist eine Tatsache. An diesen Tatsachen haftet daher ein Interesse, welches sehr groß und sehr berechtigt ist. Denn wir haben es hier mit Wirklichem, nicht mit Erscheinungen zu tun. Diese Tatsache des Selbstbewußtseins streben wir nun wissenschaftlich zu erklären, und diese Erklärung entspricht auch einem ursprünglichen Bedürfnis des Menschen. Alle Kunst des Lebens, aller Instinkt, aller Takt, alle Feinheit, alle Empfänglichkeit für Kunst, für Geschichte, alle Leichtigkeit des Verständnisses wird gesteigert, indem das Seelenleben solchergestalt leichter faßbar, in seinen einzelnen Eindrücken verständlich wird. Daher ist es für die Kunst des Lebens ein wesentliches Moment, daß ein Mensch sich mit Psychologie beschäftigt. Bei sonst gleichen Fähigkeiten wird ein Arzt mehr vermögen, der sich in die Zustände des Kranken am meisten versetzen kann. Niemand aber bedarf mehr als der Pädagoge dieses sympathischen Emlebens in das Seelenleben. Auch täusche man sich nicht, dasselbe könne sich von selbst machen.
II. [Die Psychologie steht mit den Zuständen des gesunden und kranken K ö r p e r s in Beziehung] Resümee: Wissenschaft von der Seele kann nicht mehr betrachtet werden als ein Studium einer seelischen Substanz. O b eine solche Substanz der Seele besteht, wissen wir nicht. Die Sprache hat zwar das Wort „Seele" als Bezeichnung für etwas Wesentliches. Das, was gleichzeitig in der Einheit des „Ich" gefaßt, was in der Zusammenhängung der Zustände festgehalten wird, dies bildet die Lebenseinheit. Dieser Tatbestand macht das Feld der Psychologie aus, die Lebenseinheit. Die gesamte Außenwelt hat es nur mit Erscheinungen zu tun, die Psychologie mit Tatsachen. Der Psychologe beschäftigt sich mit realen Tatsachen. Fortsetzung: Die Psychologie steht mit den Zuständen des gesunden und kranken Körpers in Beziehung. Das Problem dieser Tatsache gehört in das Studium der Psychologie. Fechner in seiner Psychophysik hat gedacht, das Problem der Beziehungen zwischen seelischen und körperlichen Erscheinungen in Angriff zu nehmen und Gesetze darüber aufzustellen. Diese Beziehungen, welche das geistige und körperliche Leben miteinander verbinden, sind sehr schwer zu erforschen,
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denn die Tatsachen der äußeren Natur halten der Betrachtungsweise stand und bilden ein kontinuierliches Ganzes; die Seelenerscheinungen bilden zwar auch ein Ganzes, aber die Vergleichung beider Erscheinungen ist sehr schwierig. Ein Zustand des Nachdenkens findet statt, während man das Gehirn nicht offenlegen kann; das Gehirn kann man offenlegen, wenn es nicht mehr denkt. Der Geisteskranke kann dann freilich, wenn er seziert wird, einen Aufschluß geben, wenn sein Gehirn sich nach seinem Tode anders erweist als bei Gesunden. Diese Schwierigkeit ist nun der Grund, weshalb das Studium der Psychologie so spät entstanden ist. Das Studium der modernen Psychologie ist experimentell. Die elementaren Tatsachen der Psychologie müßten mit denen der Physik verglichen werden können. Die Psychologie konnte erst da beginnen, als die Physiologie bereits eine gewisse Reife erlangt hatte. Die Wissenschaften der Gesellschaft können daher jetzt noch keine wissenschaftliche Gestaltung haben. Der Grund lag darin, daß die elementaren Prozesse jetzt erst bekannt wurden. Untersuchungen, wie sie in bezug auf den Tastsinn von Weber, über die Empfindungen des Auges und des Gehörs von Johannes Müller, Helmholtz, Meynert u. a. angestellt sind, sind noch neu. Es kann das Seelenleben vielfach mit der Natur verglichen werden. Kußmaul: „Über das Sprachvermögen", „Über das Leben der Neugeborenen", 4 0 7 Joh. Müller, Weber, Helmholtz haben stets ihr Interesse dahin gewendet, wo Körper und Seele ineinander zu greifen scheinen. Wird es nun möglich sein, aus diesen einzelnen Tatsachen die Frage beantworten zu können: Welches ist der wirkliche Zusammenhang zwischen Körper und Geist? Wir haben noch keine Hoffnung, daß die Träume der Metaphysiker uns eine Antwort geben werden. Aber auch die Erfahrungswissenschaften sind zur Zeit ohne Aussicht, eine definitive Antwort zu geben. Geistreich hat Leibniz die Möglichkeiten in einem Bilde dargestellt: Man kann sich denken, der Körper und der Geist glichen zwei Uhren, die so miteinander in Beziehung gesetzt sind, daß die Veränderungen der einen auch die der anderen Uhr bedingen. Man kann sich aber auch denken, die Gottheit hat diese beiden Uhren so eingerichtet und so gestellt, daß jede für sich abläuft, aber beide stets miteinander korrespondieren. Oder endlich, sagen die Neueren, man kann sich denken, es ist nur eine Uhr mit zwei Zifferblättern, einem äußeren und einem inneren. Es ist eine Uhr, welche sich nur außen und innen zeigt. Die Psychologie hat in letzter Stelle die Aufgabe, die Grundlage zu bilden für die einzelnen Geisteswissenschaften und für die Fakultäten der Theologie, der Staats- und Rechtswissenschaft. Alle diese Fakultäten haben ihren Grund in der Psychologie, denn sie haben es zu tun mit der Gesellschaft. Es gibt nichts Wechselhafteres, Geheimnisvolleres als das Leben der Gesellschaft. Es ist so verschlungen, daß die Entwicklung der Gehirns einfach erscheint dage-
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gen. Und doch setzt sich dieses unermeßliche Ganze aus lauter einzelnen Individuen zusammen. Diese letzteren sind gleichsam die Atome, die Elemente desselben. Aber während die Atome der Naturforscher eine bloße Hypothese sind, sind uns die Lebens-, Gesellschaftsatome in der Erfahrung gegeben. Die Individuen treten in den verwickelten Zusammenhang der Gesellschaft ein und treten wieder aus dem Zusammenhang aus. Sie sind jedes für sich ein Singulares, jedes Individuum ist ein Wert für sich, nicht einem anderen gleich. Wohl erkennen wir nun diese Individuen nach dem, was in ihnen sich vollzieht; kennen wir doch uns selbst! Wir verstehen uns selbst viel besser, als wir die äußere Natur zu verstehen meinen. Die Natur verstehen wir nicht in ihren inneren Regungen und Bewegungen. . . . Hiervon stammt der Ausdruck der „erhabenen Ruhe der Natur" her. Aber die Seelenregungen des Menschen und der Gesellschaft verstehen wir unmittelbar. Aber wir kennen die Gesetze nicht, nach denen die Gesellschaft sich entwickelt und lebt. Diese sind zu schwer: Die Einzelwesen sind alle anders untereinander, die Naturbedingungen wechseln, unter denen sie leben. Die Individuen halten uns nicht stand wie die Tatsachen der Außenwelt. Daher kommt es, daß das Studium der Gesellschaft den Forscher lange nicht so befriedigt als das der Natur. Unser Verstand scheint beinahe keine Grenzen der Erkenntnis in bezug auf die Natur zu haben. Wie ganz anders in bezug auf die Wissenschaft der Gesellschaft.
III. [Psychologie ist die G r u n d w i s s e n s c h a f t der Geisteswissenschaften überhaupt. Hilfsmittel, welche der Psychologie zur Verfügung stehen, diese A u f g a b e zu lösen] Dreifacher Gesichtspunkt: 1) Es haftet an dem Studium der Psychologie ein großes Interesse wegen der Seelen der Individuen. 2) Es haftet daran ein sehr starkes Interesse, weil die Kenntnis der Natur erst ihren Abschluß findet in der Psychologie. 3) Psychologie ist die Grundwissenschaft der Geisteswissenschaften überhaupt. Unter Geisteswissenschaften verstehen wir die, welche zum Gegenstand haben die menschliche Gesellschaft und die Geschichte. Fassen wir die Gesellschaft und die Geschichte als ein Ganzes zusammen, so ist dieses unbegrenzt für den menschlichen Verstand und unergründlich. Das Studium der Gesellschaft hat den Vorteil, daß dasselbe es zu tun hat mit Faktoren, Kräften und Elementen, welche in uns gegeben sind und uns genau bekannt sind. Die Bestandteile der Gesellschaft sind Lebenseinheiten, wie wir selbst eine sind.
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Wir werden mit den Tatsachen des gesellschaftlichen Lebens durch ein unmittelbares Verständnis verknüpft. Aber so komplex sind die Tatsachen, daß nur sehr wenige und unbestimmte Gesetze für die Entwicklung der Gesellschaft aufgestellt werden können. Die Aufgabe des Berufs, die Aufgabe, welche in dem kirchlichen Beruf liegt, die, welche in dem politischen oder Rechtsberuf, die, welche in dem Erziehungsberuf liegt, alle diese haben sich allmählich zu einer Technik entwickelt. Mittels einer Analysis der Gesellschaft eignete man sich eine gewisse Kenntnis derselben an. Doch die Fakultätsstudien sind es gewesen, welche eine Analysis der Gesellschaft herbeizuführen begannen. Das ist der Zustand, in dem sich noch heute diese Analysis befindet. Es pflegten nun nämlich diese einzelnen Tatsachen in Begriffen nebeneinander gehalten zu werden; man betrachtet die Religion und die Kirche wie eine reale Existenz, den Staat wie etwas Substantielles. Denn in Wirklichkeit existiert so etwas nicht. In Wirklichkeit existieren nur die Lebenseinheiten. Es gibt nicht solche substantielle Wesenheiten. N u n folgt aus diesem Zusammenhang, daß jede der Fakultätswissenschaften zu ihrer Grundlage die Psychologie hat. So ist es für die Theologie der Begriff des Gottesbewußtseins, der der Sünde, der der Seele etc., welche die Grundlage ihres ganzen Studiums bilden. Alsdann fasse man die Begriffe, deren der Jurist sich bedient, ins Auge: der Begriff von Recht und Rechtsgefühl, der Begriff des Eigentums. Sie sind alle sekundäre psychologische Begriffe, welche auf die primären zurückgeführt werden müssen, um verstanden zu werden. Den Begriff des Staates kann man nicht verstehen, wenn man sich nicht die psychologischen Tatsachen, die ihm zugrunde liegen, klar macht. Der Begriff der Aufmerksamkeit, der der Übung, der der Charakterbildung gehören zu den Elementarbegriffen der Psychologie. Es ist also unmöglich, irgendeines der Fakultätsstudien ernst zu betreiben, wenn man sie nicht auf die Psychologie zurückführt. Es ist die Schule Schleiermachers gewesen, welche stets auf die Psychologie zurückgewiesen hat. Die gesamte Jurisprudenz wird einmal auch wie die Pädagogik auf die Psychologie gegründet sein. Wir gehen einer Zeit entgegen, wo das große Problem der menschlichen Gesellschaft in den Vordergrund aller Wissenschaft treten wird. Es muß daher mit dem Studium der Gesellschaft Ernst gemacht werden. Denn wir müssen das Rätsel dieses Problems lösen, oder wir werden in den Abgrund gerissen. Der Mensch hat die Herrschaft über die Natur erlangt seit dem letzten Jahrhundert, aber nur dadurch, daß er der Natur ihre Gesetze ablauschte, und zwar namentlich die Kausalgesetze. Die Erkenntnis dieser Gesetze bewirkte, daß der Mensch die Herrschaft über die Natur erlangte. Derselbe Gang soll nun begonnen werden in Rücksicht auf die menschliche Gesellschaft. Die
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Gesetze der Gesellschaft sollen ebenso belauscht werden. Das folgende Jahrhundert wird vor allem die Aufgabe haben, die Grundlagen der Gesellschaftswissenschaft zu legen, der Soziologie. Erst dann wird ein ruhiger Gang der menschlichen Gesellschaft und ein größeres Glück der Individuen herbeigeführt werden. Hilfsmittel, welche der Psychologie zur Verfügung stehen, diese Aufgabe zu lösen: Das erste unter diesen Hilfsmitteln der Psychologie ist das Studium unseres eigenen Selbst, die innere Erfahrung. Und zwar ist diese innere Erfahrung die allgemeinste Bedingung, unter der jede Erfahrung der Lebenseinheiten steht. Denn von den anderen Lebenseinheiten wissen wir nur soviel, als wir von uns selbst wissen. Denn wir übertragen nur unsere Zustände auf die anderer, weil wir Ähnlichkeit oder Gleichheit aller Lebenseinheiten annehmen. Männer verstehen einander besser als Männer und Frauen. Kinder erkennen Erwachsene kaum, aber auch Erwachsene verstehen Kinder schwer. Wir gehen also bei dem Studium anderer Lebenseinheiten von uns selbst aus. Es ist die erste Grundeigenschaft eines jeden großen und wahren Dichters und Geschichtsschreibers, daß ihm nichts Menschliches fremd sei. Das Studium unseres eigenen Selbst hat aber sehr große Schwierigkeiten. Das, was das Christentum sittlich-religiöse Selbsterkenntnis nennt, ist von der wissenschaftlichen zu unterscheiden. Von Goethe haben wir seine eigenen Seelenkämpfe geschildert. Es gibt ein unwillkürliches Spiel der Begehrungen, über welches wir so wenig Herr sind als über das unwillkürliche Vorstellungsvermögen. Aber dieses Spiel gehört der Gesetzmäßigkeit des Seelenlebens an. Aber nun treten [uns] in bezug auf die wissenschaftliche Psychologie eine Menge Schwierigkeiten gegenüber, welche die Beobachtung unserer selbst beinahe unmöglich zu machen scheinen.
IV. [ U n s e r e K e n n t n i s v o n inneren Z u s t ä n d e n hat zu i h r e m Material die W a h r n e h m u n g unseres eigenen Selbst. H i l f s m i t t e l für die A u f f a s s u n g der Z u s t ä n d e anderer Individuen] Unsere Kenntnis von inneren Zuständen hat zu ihrem Material die Wahrnehmung unseres eigenen Selbst. Wie viele Personen wir auch außer uns wahrnehmen, daß wir ihnen ein Inneres zuschreiben, das ist die Folge davon, daß wir unser eigenes Innere wahrnehmen und verstehen. Es ist das wissenschaftliche Studium der inneren Zustände, welches uns allein befähigt, die moralisch-religiöse Selbstbetrachtung mit mehr Sicherheit vorzunehmen. Und nun:
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Ist eine wissenschaftliche Selbsterkenntnis möglich? Kant und Comte haben diese Tatsache abgeleugnet. Sie gehen davon aus: Wahrnehmung unserer selbst beruht auf Beobachtung unserer selbst. Beobachtung unserer selbst: Wir setzen uns selbst uns gegenüber. Dies ist nicht möglich. Kant bezeichnet dieses Vermögen als „inneren Sinn", und ob er gleich diesen nicht ableugnete, so meinte er doch, daß derselbe uns nicht ein Abbild von unserem Innern verschaffte. Comte leugnet eine solche innere Auffassung überhaupt. Aber ein jeder weiß, daß Neid, Haß, Liebe usw. in ihm selbst bestehen. Ich stimme mit diesen beiden Forschern darin überein, daß die Beobachtung unserer selbst nur in einem sehr geringen Umfang möglich ist. Aber welches ist der wirkliche Grund der inneren Beobachtung? Was ist die innere Beobachtung selbst? Es ist klar, wir können in einem Augenblick nicht in inneren Zuständen sein und diese zugleich beobachten. Falls man das Denken zum Gegenstand seiner inneren Beobachtung machen will, so wird der Denkvorgang unterbrochen, und man kann ihn nicht beobachten. In dem Zustand des Zornes schwindet derselbe selbst, wenn man ihn beobachten will. N u n sollte man denken, man befände sich günstiger in Rücksicht der Vorstellungen und Gefühle und Begehrungen, die nicht von dem Willen gelenkt sind; und doch, sobald man die Vorgänge der Vorstellungen beobachten will, schwindet auch die Vorstellung hinweg. Trotzdem aber gibt es Zustände unseres eigenen Innern, welche wir imstande sind, zum Gegenstand unserer Beobachtung zu machen, ohne daß sie vorher zergehen. Diese finden überall statt, wo ein physischer Zustand die Unterlage bildet, der sich nicht verdrängen läßt. Es ist ein gewisses, wenn auch enges Gebiet in der Selbstbeobachtung möglich. Aber sind wir denn nur auf Selbstbeobachtung angewiesen? Wir nehmen doch unsere eigenen Zustände wahr. N u n können wir direkt die Tatsache nicht verwerten, aber indirekt durch die Erinnerung. Am wichtigsten aber ist das Erinnerungsnachbild. Der große Psychologe Fechner wandte diesen Ausdruck für Erinnerungen der Außenwelt an. Wir können aber auch von den psychischen Zuständen und Vorgängen ein Erinnerungsbild konstruieren, und die Erinnerungen bilden den großen Schatz der Psychologie. So also fassen wir Zustände unserer selbst auf. Man könnte denken, wir seien imstande, unser „Selbst" aufzufassen, gleichsam das Geheimnis unseres „Ichs" zu erklären; davon ist nicht die Rede. Davon, was hinter den Zuständen unserer Seele den Untergrund ausmacht, wissen wir nur durch Schlüsse, wie von den Seelenzuständen der anderen Menschen. Zweites Hilfsmittel für die Auffassung der Zustände anderer Individuen: Uns umgibt die Außenwelt, durch die Sinne vermittelt, und um uns bewegen
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sich die Körper. Und zwar glauben wir, in das Innere anderer Menschen unmittelbar hineinzublicken. Hierzu werden wir verführt, weil die Schlüsse, die uns dahin führen, so zahlreich und so schnell sind. So glauben wir denn hineinzublicken wie durch eine durchsichtige Hülle durch die Gebärden, die Mienen, das Antlitz der Menschen in ihre innere Beschaffenheit. Es ist eine ästhetische Erscheinung, in der das Innere sich durch das Außere erkennen läßt. Trotzdem ist es ein Schlußverfahren. Den Obersatz in demselben bildet: So oft ich in einem Zustande war, waren meine Worte, meine Handlungen, meine Gebärden diese gegebenen. In den Besitz des Obersatzes gelange ich, weil ich an mir selbst diese Wahrnehmung mache, daß ein bestimmter Zustand mit einer gewissen, aber bestimmten Lebensäußerung zusammenhing. Der Untersatz wird gebildet: Diese Gebärden, diese Mienen, diese Handlungen sind verwandt denjenigen, welche ich jetzt an einem Körper außer mir durch meine Sinne auffasse. Schluß der Analogie: Folgerecht muß auch verwandt sein der Zustand, der bei anderen dieselben Folgen hervorbringt wie bei mir ein Zustand, eben diesem letzteren Zustand. Dieser Schluß hat seine Gefahren. Er ist nur ziemlich ungefährlich, wenn wir auf die nächsten Verwandten desselben Alters und Geschlechtes schließen wollen. Aber wir können an anderen besser beobachten als an uns selbst und sind außerdem noch unparteiische Beobachter. Und doch sind Schwierigkeiten vorhanden, die sehr groß sind. Zuerst, das Verstehen, das Auffassen des Charakters eines anderen geschieht, indem wir den Einzelzügen des anderen eine Schablone eines Idealmenschen oder unsere eigene Empfindung unterlegen. Man pflegt anzunehmen, der religiöse Glaube muß in einem Menschen mit Wahrhaftigkeit verbunden sein. Dies ist ein Vorurteil. Denn es zeigt sich oft, daß der Glaube da ist und doch nicht der wahre ist. Kurz, das Schema des Menschen, das wir von uns auf andere übertragen, ist ein subjektives. Objektiv hat nicht ein Mensch gesehen. Und nehmen Sie den mächtigsten und allerobjektivsten aller Dichter, Shakespeare, auch sein Typus ist subjektiv. Aber andere Schwierigkeiten liegen noch in der Natur des Objektes und der Art, wie es gegeben ist. Die Menschen pflegen den Zusammenhang zwischen den Gebärden usw. einerseits und dem Inneren andererseits sich nicht folgerecht entwickeln zu lassen; entweder sie verhüllen oder sie lügen. Ein bekannter Diplomat hat gesagt, die Worte seien dazu da, die Gedanken zu verhüllen. Der Wohlstand gebietet uns allen, den lebendigen Zusammenhang zwischen dem eigenen bewegten Innern und dem Ausdruck desselben zu mildern, herabzustimmen. Dickens glaubte, nachts herumwandelnd, die Personen seiner Dichtung neben sich gehen zu sehen; in der Gesellschaft zeigte sich nichts von solchen Sonderbarkeiten. 408
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V. [Die Unmöglichkeit, die Psychologie auf Metaphysik zu begründen. Das Hilfsmittel der Erfahrung. Die erste Aufgabe: Analyse der Seelenbegriffe] Die innere Wahrnehmung war das eine Hilfsmittel der psychologischen Erkenntnis. Denn gleichviel, was wir außer uns gewahren mögen, immer nur durch eine Übertragung von der Selbsterkenntnis können wir auf etwas schließen, was unserem Innern analog ist. Das eigene Innere aber erfassen wir nur in einzelnen psychischen Tatsächlichkeiten und diese auch meist nur durch die Erinnerung an das, was mit Bewußtsein erlebt worden war. - Unbestimmt also und einzeln sind diese Bilder, und sollte es sich darum handeln, ein Ganzes des Seelenlebens, das wir selbst haben, zu geben, so ginge es eben nicht. Solche Schwierigkeiten scheinen sich zu verringern, wenn man andere Personen, die der Beobachtung standhalten, beobachtet. Doch sehen wir, wie dieser Vorteil mit Nachteil verbunden ist, da die meisten Menschen sich nicht so zeigen wie sie sind. Es wachsen aber solche Schwierigkeiten, wenn die Person, um die es sich handelt, nicht mehr unter den Lebenden weilt, wenn es sich um historische Rekonstruktion handelt. Es stehen dann meist Schöpfungen da von dem Verstorbenen, und diese Schöpfungen des Toten haben den Vorteil, wahrhaft zu sein. Aber meist sind wir auf die Mitteilung anderer über die verstorbene Person angewiesen. Es handelt sich dann hier darum, erst das Medium, die Mittelperson, zu konstruieren. Es ist das unsterbliche Verdienst der deutschen Geschichtsforschung, dieses Verfahren für die Geschichte zuerst angewandt zu haben. Wir suchen nun aber das Entstehen des Seelenlebens zu erforschen. Wir erinnern uns unserer Kindheit fast gar nicht, und alle Schlüsse, die wir aus den Äußerungen der Kinder ziehen, sind ebensowenig möglich, uns Aufschluß zu geben. Wir müssen aber trotzdem zu direkten Mitteln schreiten. Das Studium des Kindes, des Tieres und der Naturvölker ist sehr wichtig. Die experimentelle Psychologie trägt die ganze Hoffnung der Psychologie. Es wäre nun günstig, wenn [es] uns einen festen Leitfaden durch die Psychologie in der Metaphysik zu finden möglich wäre. Nach meiner festen Uberzeugung ist dies nicht möglich. Es gibt keine Metaphysik als allgemeingültige Wissenschaft, von der alle anderen Erscheinungen der Psychologie abgeleitet werden könnten. Es gibt vielleicht Wahrscheinlichkeiten, die für alle Erscheinungen der Psychologie aufgestellt werden können, aber dies könnte nur am Schluß der Psychologie sein. Ich kann dies hier nicht ausdrücklich e r k l ä r e n . . . . Das Menschengeschlecht durchlief nach Comte drei Stadien. In dem ersten derselben verhielt es sich mit mythischem Glauben der Außenwelt gegenüber.
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Alles, was in dieser Außenwelt sich bewegte, war für dieses mythische Stadium auch etwas Lebendiges, und die ganze Welt war mit Gottheiten beseelt. Es folgte diesem Stadium das metaphysische. Hier ging man von ganz einfachen Betrachtungen aus, welche durch die einfachsten Naturerscheinungen bewirkt wurden. Hier betrachtete man die Materie als tot und ihren ursprünglichen Zustand als Ruhe. Jeder Teil strebe danach, in die Ruhe zurückzukehren. Und man nahm nun an, wo ein Teil in Bewegung begriffen ist, ist es ein Unmaterielles, was die Unterlage der Bewegung ausmacht, und wo eine allgemeine Bewegung stattfindet, da ist das Immaterielle gleichsam in dem Materiellen drin. Wenn die Gestirne sich bewegen, so muß es Gestirngeister geben, die sie bewegen und leiten. Wenn die Pflanzen wachsen, so wohnen in ihnen Gottheiten. Dann trat hinzu eine zweite Betrachtung. Für dieses metaphysische Stadium war der Gedanke an Zweckmäßigkeit noch nicht da. Man sagte, wie in den Bewegungen der Gestirne, dem Wachsen der Pflanze, dem Wachsen des tierischen Organismus etwas Zweckmäßiges liegt, so müsse ein Geistiges diesen Erscheinungen zugrunde liegen, das das Zweckmäßige will. Dieses Stadium hat angedauert von Piaton oder noch früher bis zum 15. und 16. Jahrhundert. Als Galilei das Gesetz von der Trägheit und der Bewegung der Körper aussprach, begann der Sturz des metaphysischen Stadiums. Wir sind alsdann im 17. und 18. Jahrhundert in Gefahr geraten, die Metaphysik des Materialismus an die Stelle der alten zu setzen. In dem Maße, als es gelang, einen Vorgang psychischen Lebens in Beziehung zu setzen zu dem körperlichen Leben, schien der Schluß berechtigt, das psychische Leben nur als eine Folge des physischen zu betrachten. Was aber auch dieser Betrachtungsweise eine starke Grenze entgegenstellt, ist die Erkenntnistheorie. Hier ergab sich, daß alle Erscheinungen der körperlichen Welt eben nur Erscheinungen für uns sind. Wir sind also zur Zeit darauf angewiesen, die Erfahrungen vorsichtig ans Licht zu ziehen und daraus Schlüsse zu ziehen. Widersprüche bestehen für jeden Hauptbegriff, welchen die Metaphysik aufgestellt hat. Der Begriff, um welchen es sich in der Psychologie handelt, ist der von der Substanz, insbesondere von der Substanz der Seele. Kant sagt, der Begriff der Substanz ist a priori. Haben Sie einen Apfel, so nehmen Sie in Wirklichkeit die einzelnen Eigenschaften des Apfels mit verschiedenen Sinnen wahr und machen daraus sich durch eine Funktion Ihres Intellektes das Ganze, welches wir dann Substanz nennen. Man darf auf nichts außer uns und auch auf uns selbst nicht den Begriff der Substanz anwenden. Es könnte sein, daß diese Funktion des Gehirns auf uns selbst angewandt wird und man erst zu dem Begriff der Seele käme. Aber auch solche Funktion der Substanzbildung kann ebensowenig bewiesen werden.
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Es wird angenommen, daß die Substanz eine zusammenhängende Einheit sei. Das, was nebeneinander besteht, soll durch die Einheit zusammengehalten werden zur Substanz. Dies ist aber in sich sehr dunkel, und es ist nie dem menschlichen Geiste gelungen, diesen Begriff zu erklären. Im Gegenteil, der Ursprung des Begriffs ist ein ganz anderer. In uns selbst erfahren wir eine solche Einheit, und von uns übertragen wir sie auf alle anderen Dinge. Sie ist ein Produkt der Erfahrung, aber nicht der Außenwelt. Ist die Wurzel aber des Substanzbegriffes in der Selbsterkenntnis, dann hat er sich nach der Außenwelt erstreckt. Nun aber, nachdem er durch den Menschen materialisiert worden ist für die Erscheinungen der Außenwelt, nun darf der Begriff der Substanz nicht wieder von der Außenwelt auf die Psychologie hinübergenommen werden. So treten wir mit dem Hilfsmittel der Erfahrung an die Psychologie heran. Es ist nun die erste Aufgabe, die Seelenbegriffe zu analysieren. Wir müssen eine gewisse Gemeinsamkeit des Sprachgebrauchs herstellen und bis zu einem gewissen Punkte die Gliederung des Seelenlebens uns verdeutlichen. Hierin arbeitet uns allen die Sprache vor. Blicken Sie in Ihre inneren Zustände, in Ihr eigenes Innenleben, dann gewahren Sie einen Ablauf von seelischen Zuständen, der in der Kontinuität verläuft und durch die Vorstellung des „Ich" zusammengehalten wird. Rückwärts tritt ein Zustand aus dem Bewußtsein, und vorwärts tritt ein neuer ein. Dies geschieht während eines wachen Zustandes. Die Aufmerksamkeit hebt aus diesem Fluß ein einzelnes heraus, unser Interesse, unsere Erinnerung löst aus dem Ganzen ein einzelnes los. In der Erinnerung lösen sich also einzelne Bilder der Erfahrung heraus. Sie werden miteinander verglichen. Zustände ähnlicher Art werden an anderen Personen beobachtet, auch an Tieren sogar. So also bilden sich Allgemeinvorstellungen. Diese sind Typen von Tatbestandteilen. Die Mannigfaltigkeit der Bilder ist förmlich in diesem Bilde, diesem Schema enthalten - z.B. ich sage jetzt „Schreck". Solche Sprachgebräuche, welche Typen enthalten, mehren sich mit der Feinheit des Lebens. Die Sprache schafft immer mehr Hilfsmittel, solche Allgemeinvorstellungen zu bezeichnen. Der Dichter dann schafft immer mehr Vorstellungen von den Affekten. Shakespeare hat Typen der Affekte geschaffen, von großen Charakteren. Shakespeare läßt durch einen solchen Typus oft das ganze Drama in Bewegung setzen. Nun jedoch ergibt sich, daß in diesen Allgemeinvorstellungen Nachteile mit Vorteilen gemischt sind. Die Allgemeinvorstellung, die wir uns von dem Nerven und dem Muskel zu geben imstande sind, ist viel deutlicher als die von „Neid" oder „Zorn". Dagegen sind Vorzüge mit diesem Nachteil verknüpft. Nehme ich Begriffe der Außenwelt, so bedarf es erst der chemischen Analyse, um sie kennenzulernen, ζ. B.
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die Schwefelsäure; dagegen die Vorstellungen von Affekten, von Gemütszuständen enthalten die Analyse des Begriffes in sich selbst, die ganze Geschichte seiner, des Affektes, Entstehung.
VI. [Vorläufige Übersicht über die Haupttatsachen der Seele. D i e A n f ä n g e des Bewußtseins einer Gliederung des Seelenlebens] Die Gliederung des Seelenlebens ist der erste Hauptteil der Psychologie. Wir sind genötigt, eine vorläufige Ubersicht über die Haupttatsachen der Seele aufzustellen. Dieser Abschnitt ist vielleicht der schwierigste der ganzen Psychologie. Sie blicken in sich selbst, d. h. Sie unterbrechen den Ablauf der psychischen Ereignisse in Ihnen und machen denselben zum Gegenstande Ihrer Aufmerksamkeit. Dann beobachtet man, daß es ein Abfluß, eine Kontinuität der Seelenzustände ist. Nun hebt aber unsere Aufmerksamkeit aus diesem Fluß des Lebens einzelne Bilder heraus, umzeichnet und umgrenzt sie. Sie haben einen plötzlichen und in bezug auf Ihre Selbsterhaltung erschreckenden Eindruck. Eine Wahrnehmung findet statt, diese ist von einem Gefühlszustande begleitet und dieser von einem Fluchtversuch. Dieser ganze Eindruck wird mit einem Worte: Schrecken bezeichnet. Morgen kann dann vielleicht ein Bild von diesem Ereignisse in Ihnen auftreten. Wenn Sie also einen solchen Schreckeindruck haben, so erinnern Sie sich an frühere Momente, die ebenso waren, oder auch an dieselben Zustände an anderen Personen oder an Tieren. Dadurch entsteht die Allgemeinvorstellung; dieselben Typen, ebensolche Allgemeinvorstellungen, haben Sie in Ihrem Bewußtsein viele. Es wäre interessant, die Verschiedenheit zu verfolgen, welche in dieser Rücksicht in verschiedenen Sprachen obwaltet. Diese Bilder zeigen nun Vorzüge eigentümlicher Art, verbunden mit Schattenseiten verschiedener Art. Denn verlangt jemand einen Nerven zu sehen oder einen Muskel, so kann dieser in bestimmter Abgrenzung gezeigt werden. Verlangt dagegen einer den Stolz oder Neid zu sehen, so ist dies nicht der Fall. Dafür entschädigt, daß die Zustände der Seele Bestandteile des Bewußtseins sind; sie sind nach ihrer Entstehung gegeben, und wir kennen sie ihrem Innern nach, weil sie in unserem Bewußtsein sind. Wenn man den Begriff „Hoffnung" nimmt, so hat man damit auch gleich die Bedingungen, unter denen die Hoffnung entsteht, Beschränkung und Hinderung - Unlustgefühl - , Trachten nach Besserung etc. Es ist also in dem Bewußtsein des Zustandes zu gleicher Zeit die Genesis des Zustandes mitgegeben. Irgendein Stoff, z . B . die Schwefelsäure,
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sagt uns nicht gleich, wie er entstanden ist. Die Zustände der Seele sind eben für uns so gegenwärtig, wie sie wirklich stattfinden. So ist es denn möglich gewesen, Definitionen solcher Zustände aufzustellen. Es ist ferner möglich gewesen, eine Vorstellung von dem gesamten Zusammenhang des ganzen Seelenlebens zu bilden. Berühmte Definitionen solcher Art entwarf Spinoza. Unter Haß, sagt Spinoza, verstehen wir einen Zustand der Hemmung unter Hinzunahme der Ursache der Hemmung. Er fügte die Hypothese hinzu, daß das Seelenleben Selbsterhaltung sei. Dieser Hypothese bediente er sich, um eine Definition der ganzen Seele zu geben. Welche Hilfsmittel haben wir, diese allgemeinen Vorstellungen in Beziehung zueinander zu setzen und eine Klassifikation des Seelenlebens von ihnen aus zu entwerfen? Es sind namentlich drei Hilfsmittel. Ich kann diese Allgemeinvorstellungen unter dem Verhältnisse von Koordination und Subordination stellen. Rot-, Blau-, Grün-Sehen sind Empfindungen, und ich finde, daß sie alle koordiniert sind. Ich ordne sie dem „allgemeinen Sehen" unter. „Sehen" ist koordiniert mit „Riechen"; ich ordne beide der sinnlichen Wahrnehmung unter und diese der Wahrnehmung überhaupt. Und dann bilde ich den Begriff des Vorstellens. Wenn wir so verfahren, so ist hier ein Wissen von Verwandtschaft, von Art und Grad, was uns im wesentlichen leitet und welches uns einen Überblick über das Seelenleben in seinen Allgemeinvorstellungen gibt. Wir finden, daß ein innerer Zusammenhang der Zustände untereinander in dem Bewußtsein über diese Zustände enthalten ist und daß wir diesen inneren Zusammenhang der Sequenz, der Abfolge usw. uns verdeutlichen können. Sie erfahren in sich den Zustand der Wahrnehmung, in welchem Ihr Sinnesorgan affiziert ist und ein Bild hervorbringt. Diese Wahrnehmung ist die Unterlage des Erinnerungsbildes. Denn dieses enthält in sich die Vorstellung seines Ursprungs. Das Erinnerungsnachbild ist die Grundlage für Phantasiebilder und diese für abstraktes Denken. Eine solche Entwicklungsreihe über die Seelenzustände kann aus dem Wissen derselben oder durch hohen Grad von Abfolge entstehen. 409 Wir verfolgen zunächst, wie das Menschengeschlecht im Laufe seiner Entwicklung ein Bewußtsein über die Gliederung des Seelenlebens bekommen hat. Ich darf erinnern an das über die Stadien der geschichtlichen Entwicklung Dargelegte. Es folgte auf ein mythisches ein metaphysisches Stadium. In diesem ist es geschehen, daß man metaphysische Prinzipien benutzte, um ein Seelenganzes zu konstruieren. Man nahm an, es gäbe eine Seelensubstanz. Also eine solche seelische Substanz wurde angenommen. Piaton geht aus von der Tatsache, daß das höhere Leben der Menschen nicht erklärt werden könnte aus den Leistungen der Materie; folglich nahm er an, es gäbe eine unsterbliche Substanz. Er hat getrennt das niedere Seelenleben, wel-
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ches eine Leistung des Körpers ist, und das höhere Seelenleben, welches die Leistung dieser unsterblichen Substanz ist. Es bedurfte nun aber ein solcher Gegensatz der Vermittlung. Sofern wir auch körperlich sind, nehmen wir wahr und sind wir von sinnlichen Begierden geleitet. Dies geschah durch Zusammenwirken unserer Seele und unseres Körpers. Sofern wir nur Seele sind, denken wir. Das Seelenleben ist in drei Teile zerschnitten: 1.) Begierde, sinnliche Lust aus sinnlicher Wahrnehmung entstanden, 2.) eifriger Mut, diese Begierden zu unterdrücken und von der Vernunft leiten zu lassen. 3.) Wir sind ein vernunftbegabtes Wesen. Eine solche Einteilung des Seelenlebens zerreißt das Seelenleben. Piaton sagt sogar noch, es streiten die verschiedenen Teile der Seele miteinander. Dann erhob sich die Theorie des Aristoteles, und diese bestand bis zum 15. Jahrhundert. Der Ausgangspunkt derselben: Uberall da, wo eine von innen ausgehende kontinuierliche Bewegung stattfindet, müssen wir einen entsprechenden Mittelpunkt annehmen. Also, wo Wachstum etc. stattfindet, müssen wir eine Seele annehmen. Eine rückständige Vorstellung dieser Seele ist der Bildungstrieb oder die Lebenskraft. Es ist dies die anima vegetativa, die tierische Seele. Aber jenseits dieser finden wir unabhängig von dem Körper die Fähigkeit der Vernunft, d. h. des Denkens einerseits und des freien Vernunftwillens andererseits. Dies ist der νοϋς, die Menschenseele gleich der göttlichen Vernunft. Von dem Tiere trennt uns die Vernunft, und nun trennt Aristoteles dieses Niedere vom Höheren. Das Gedächtnis und das Vorstellen haben wir mit den Tieren gemein. Trieb und Begehren haben wir mit dem Tiere gemein, und sie sind an die Organe unseres Körpers geknüpft. Hierauf erhebt sich das theoretischvernünftige Verhalten, das Denken, das absolute Denken und in anderer Hinsicht der freie Wille. Die Einteilung des Seelenlebens in niederes und höheres ist ganz falsch und war der Hauptgrund, weshalb die Psychologie so weit zurückgeblieben war. Und sagt Aristoteles, jene höchsten geistigen Leistungen sind von dem Organismus unabhängig, so ist dies ebenso falsch.
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VII. [Das metaphysische Stadium und der erfahrungswissenschaftliche Standpunkt] Das metaphysische Stadium, welches in Europa mit Heraklit [und] bei den Eleaten beginnt und bis zum 15. Jahrhundert nach Christi reicht, ist beherrscht von der Voraussetzung, daß das Seelenleben die Leistung einer seelischen Substanz ist. Diese seelische Substanz wird mit den Gestirngeistern und den Seelen, die in den Pflanzen und Tieren lebendig sind, gleichgesetzt, ja sogar mit der Gottes selbst. Sie ist der Grund von jeder Bewegung und dann von der Zweckmäßigkeit der Welt. Innerhalb dieser Auffassung wird dieser seelischen Substanz zugeschrieben, zusammen mit körperlichen [Substanzen] zu existieren. Hieraus ergibt sich die Unterscheidung in höhere und niedere Seelentätigkeit. Aristoteles hat zum ersten Mal eine vergleichende Seelenuntersuchung angestellt. 1) Es gibt eine vegetative Seelentätigkeit in den Pflanzen. 2) Es gibt eine Steigerung der Seele in den Tieren. 3) In dem Menschen tritt von außen in diesen Körper ein νοΰς, eine Vernunft ein, die der göttlichen ähnlich und verwandt ist. Diese Vernunft ist fähig, in freiem Denken und freiem Willen zu arbeiten. Faßt man nun diese drei Stufen des Seelenlebens ins Auge, so gehört die innere Erfahrung, das Auffassen von psychischen Zuständen des Bewußtseins dem Tier- und Menschenseelenleben an. Das niedere haben wir mit den Tieren gemein, und es ist an die Funktionen des Körpers gebunden. Das höhere haben wir allein, und dieses ist nicht abhängig von dem Körperlichen. Die Fehler einer solchen Betrachtungsweise haben sich in dem ganzen Mittelalter nur gesteigert. Es ist umsonst, das Leben der Tiere auf eine nur physische Weise erklären zu wollen. Daher ist der Fehler des Aristoteles augenscheinlich, das niedere Seelenleben egal zu setzen mit unserem und das höhere Seelenleben den Tieren ganz abzusprechen. Längst ist der Glaube innerhalb der Physiologie widerlegt, daß das höhere Geistesleben von den Organen unabhängig sei. Es ist kein Zweifel daran, daß das höhere Geistesleben des Menschen abhängig ist von den Organen. In ihren Folgen ist die Grundlage des Aristoteles verhängnisvoll. Zerschneidet man nämlich so das Seelenleben im Menschen, so ist es unmöglich, das Seelenleben zu begreifen. Es folgte der metaphysischen Zeit eine andere, in welcher man begann, sich der Erfahrung unbefangener zuzuwenden, die Methoden der natürlichen Wissenschaften auch auf das geistige Leben anzuwenden. Es ist das 16., 17., 18. Jahrhundert, und bis ins 19. hinein reichen die Versuche, das Geheimnis, die
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innere Struktur der Seele ohne metaphysische Grundlagen zu erkennen. Dies ist aber auch unmöglich. Indes, es wurden zwei Betrachtungsweisen angewandt. Betrachten Sie die Erscheinungen des Seelenlebens, die Sie an sich und anderen gewahren, so findet eine Mannigfaltigkeit dieser Erscheinungen in zweifacher Beziehung statt. Einmal, die Erscheinungen zeigen eine Mannigfaltigkeit, die als Entwicklungsreihe sich bezeichnet. Aus Empfindungen leiten wir Wahrnehmungen ab, z . B . dieses Gemaches. Schließt man das Auge, so erhalten wir die Vorstellung. Diese ist im Gedächtnis enthalten und kann reproduziert werden. Jenseits des Gedächtnisses findet sich das Umgestaltete der Vorstellung, die Phantasie. Alsdann weiter bedürfen wir dieser Kräfte, um im abstrakten Denken Begriffe miteinander zu verknüpfen. Dennoch tritt hier ein Höheres hinzu. Zu Wahrheit - Gedächtnis und Einbildungskraft. In der Wahrnehmung tritt zu der Empfindung etwas hinzu, was in der Empfindung noch nicht ist; und doch setzt die Wahrnehmung das Empfinden voraus, usf. In dieser Entwicklungsreihe kommt das menschliche Seelenleben zu seiner Entfaltung. Ist es aber eine einfache Klasse von Bestandteilen oder mehrere? Eine dieser [Klassen] sind die Sinnesempfindungen. Hinzu treten innere einfache Erfahrungen. Aber können wir Lust oder Unlust auf diese Sinnesempfindungen zurückführen? Können wir Lust und Begehren auf diese Sinnesempfindungen zurückführen? Es ist ganz was anderes, wenn man eine Stimme hört und wenn einem die Stimme angenehm ist. Es gibt nun eine doppelte Richtung. Entweder überwiegt die Neigung zu erklären nach dem Verfahren, das in den Naturwissenschaften angewandt wird, nämlich alles Seelenleben auf eine Klasse von gleichen Bestandteilen zurückzuführen. Es entstand die monadische Theorie. Oder es ist ein Mensch für die Mannigfaltigkeit, für die Unabhängigkeit des Höheren von dem Niederen. In einem solchen Kopfe entsteht die Lehre von den Seelenvermögen. Die erste Theorie ist einmal von Spinoza, dann von den englischen Assoziationsmännern, dann von Herbart bei uns aufgestellt worden. Spinoza geht von Gesamtzuständen aus. Er nennt sie affectus, welchen er den Willen der Selbsterhaltung zugrunde legt. Ich bin ein von Selbsterhaltung erfülltes Wesen, welches von der Außenwelt umgeben ist. Diese hindert oder befördert meine Selbsterhaltung. Hemmt sie meine Selbsterhaltung, so empfinde ich dies als tristitia und umgekehrt als laetitia. Habe ich ein Bewußtsein meiner tristitia, so werde ich die Ursache hassen, umgekehrt werde ich die Ursache jener laetitia lieben. D a nun Assoziationen dieser Affekte entstehen, so werden schwierige Verhältnisse entstehen. Es entsteht förmlich eine Mechanik der Seele durch Spi-
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noza, und so mächtig ist der Eindruck der Lehre Spinozas, daß noch Johannes Müller die Affektentheorie Spinozas als allgemeingültige Theorie wörtlich aufgenommen hat. Ein zweiter Versuch ist von den Engländern unternommen worden. Er geht nicht von dem Willen aus, sondern von den Empfindungen. Die Elemente des Seelenlebens sind: die sinnlichen Empfindungen, die Lust- und Unlustgefühle. Dann entsteht durch die Beziehungen der Empfindungen zu den Gefühlen das Assoziationsgesetz. Herbart glaubte, die Gefühle seien jederzeit etwas Abgeleitetes und entsprängen aus den Empfindungen. Dies ist aber nicht richtig; Gefühle können nicht aus einfachen Empfindungen abgeleitet werden. Dagegen kann der Versuch der Engländer, die Gefühle neben den Empfindungen bestehen zu lassen, anerkannt werden. Aber auch er hatte keinen Erfolg. Diese Theorie mußte zu der künstlichen Annahme einer psychischen Chemie greifen. Ich behaupte hier zunächst nicht, daß eine solche psychische Chemie nicht stattfände, aber es gibt nirgends einen Beweis für diese Annahme. Wir sind also nicht berechtigt, eine solche Hypothese zu begründen.
VIII. [Die erklärende Erfahrungswissenschaft und die Lehre von den Seelenvermögen] Es handelt sich um die Auffassung der Systematik des geistigen Lebens. Wir möchten die Gliederung des Seelenlebens feststellen, um an der Hand derselben die Probleme der Psychologie mit größerer Leichtigkeit behandeln zu können. Diese Aufgabe wird sich uns nun an dieser Stelle als nicht vollständig lösbar erweisen, doch müssen wir gewisse Grundzüge feststellen können, die es uns ermöglichen, in die einzelnen Fragen der Psychologie einzutreten. In der Zeit des metaphysischen Denkens glaubte man eine Lösung der Frage nach der Zusammensetzung der Seele gefunden zu haben. Als nun aber mit dem 17. Jahrhundert die erklärende Erfahrungswissenschaft in Europa sich von den Problemen der Mechanik aus allmählich ausbildete, da sollte ein solcher Fortgang die Wirkung auch auf dem Gebiete der Psychologie zeigen. Schon bald, nachdem Descartes und Galilei die Mechanik der Natur begründet hatten, ist es Spinoza gewesen, welcher die Mechanik der Seele begründet hat. Innerhalb dieses Stadiums wirken also zusammen einerseits die erklärende Wissenschaft, andererseits die metaphysische Richtung. Die Zeit hat gedauert bis in das 19. Jahrhundert, wo man Anspruch darauf machte, die Gliederung
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des Seelenlebens gefunden zu haben. Wir sind heute bescheidener geworden. Zwei Theorien hatten sich der Sache nach ausgebildet: 1) Blicken Sie in Ihr eigenes Seelenleben, so gewahren Sie zunächst, Sie haben einen Wahrnehmungszustand, sodann bleibt uns ein Vorstellungsbild übrig, Sie können dieses Bild reproduzieren etc. Die „erklärende Theorie" setzt sich nun die Aufgabe, die höheren Stufen des Seelenlebens abzuleiten aus den niederen. Was wir als freien Willen als Erfahrungstatsache kennen, soll nur eine Kombination der einzelnen Begehrungen sein. Die englische Assoziationspsychologie nimmt an: Empfindungen, die die Wahrnehmungen zusammensetzen, Lust- und Unlustgefühle, unter denen unsere Interessen entstehen. Diese Interessen bilden die Unterlage für alle sittlichen Tatsachen. Herbart, in Deutschland, nahm an, die Mechanik wird ihre durchsichtigste Gestalt gewinnen, wenn man nur eine Art von Leistungen annimmt. Gegenüber dieser Theorie hat sich dann die Vermögenslehre durch Kant ausgebildet. Die erklärende Theorie stößt doch an Schwierigkeiten, die sie nicht bewältigen kann. Nehmen wir schon die Stufenfolge. Es ist ja möglich, aus Wahrnehmungen und den Wechselwirkungen ihrer Elemente das Gedächtnis abzuleiten, aber nicht den Verstand. In diesem haben wir es ja mit Vergleichen, Unterscheiden usw. zu tun. Es ist eine sehr schwierige und sehr subtile Frage. Bis jetzt ist ein Auflösungsversuch nicht gelungen. Hier ist eine Tatsache, die auftritt, aus den bisherigen Leistungen nicht abzuleiten. Jene merkwürdige Tatsache des Wohlwollens ist nicht abzuleiten aus den bloßen Lust- und Unlustgefühlen, welche sich an die Selbsterhaltung knüpfen. Können wir so die Stufen nicht ableiten, so auch nicht die eine Klasse auf die anderen zurückführen. 2) Die Vermögenstheorie. Auch sie hat nicht die Frage lösen können. Sie schafft Begriffe wie Sinnlichkeit, Wahrnehmung, Verstand usw. und bezeichnet damit Kräfte, bestimmte Leistungen, die nicht ableitbar sind aus den anderen, hebt solchergestalt substantiierend Seelenvermögen hervor. Diese Theorie wird vertreten durch Wolff, Mendelssohn, Tetens, Kant und [August Hermann] Niemeyer. Die gesamte Kantsche Schule war die Trägerin der Vermögenstheorie. In der letzteren wird nun gesagt, die Seele gleiche einer Bühne, auf welcher immer wieder andere personifizierte Kräfte auftreten. Die Kräfte wirken gegeneinander, gegen die Sinnlichkeit arbeitet die praktische Vernunft usw. Lauter Einzelkräfte ringen so auf der Bühne der Seele. Dies ist das Bild der Vermögenslehre. Es ist vollständige Mythologie. Nun ist ganz klar, was an dieser Theorie nicht haltbar ist. Nicht haltbar ist die Personifikation der Kräfte, die Isolierung derselben. Es sind die Leistungen des Gedächtnisses und der Einbildungskraft, wel-
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che die Grundlage des Verstandes bilden. Das Wahre ist: Es gibt Leistungen in dem Zusammenhange dieses Lebens, die nicht eine aus der anderen ableitbar sind. Die Frage ist, ob die Zahl der Vermögensklassen angegeben werden kann. Zwei Ansichten kämpfen gegeneinander: 1) Die Ansicht, die eine einzige Klasse von Seelenvermögen annimmt; 2) die, welche zwei annimmt: a) Vorstellen, b) Fühlen und Begehren. Diese Einteilung ist schon die von Aristoteles angenommene, das Doppelverhältnis, in welchem der Mensch von außen empfängt und auf außen wirkt, bezeichnende. Doch als die Tatsachen des Gefühls zu genauerer Betrachtung gelangten, wurde dies anders. Die Tatsachen des Gefühlslebens treten in dem 18. Jahrhundert in den Vordergrund. Das ästhetische Gefühl braucht gar nicht in Handlungen überzugehen. Dies war eine neue Ansicht.
I X . [Die kritische Behandlung der Klassifikation des Seelenlebens] Die Probleme, die wir betrachtet haben, sind: 1.) Gliederung des Seelenlebens, 2.) die Hilfsmittel zur Auflösung, 3.) die Geschichte, welche diese Frage bis jetzt durchlaufen hat. In der letzteren unterschieden wir: 1.) metaphysische Betrachtungsweise, 2.) erklärende Versuche, die Seele zu erklären: a) die erklärenden Theorien, b) die Lehre von den Seelenvermögen. An der Grenze dieses zweiten Versuchs steht Kant. Er hat eine Theorie aufgestellt, in welcher er darauf verzichtete, das hinter der Erfahrung Liegende der Seele zu erkennen, durch welche Mittel auch immer. Kant sagt, es gibt drei Klassen von Bestandteilen: Denn es ist etwas ganz anderes, wenn unser Seelenleben sich vorstellend verhält oder ob es diese Vorstellungen auf sich selbst zurückbezieht und zu Gefühlen gelangt oder ob der Mensch sich zu den Gefühlen in Beziehung setzt und den Willen geltend macht. Es bestehen also: 1.) Empfangen, 2.) Empfinden, 3.) Begehren. Diese Formeln sind aber zu abstrakt. Lotze hat die drei Verhältnisweisen des Seelenlebens in besserer Weise ausgedrückt. Positive Lösung Es ist das dritte Stadium der Auflösung dieser Frage, welches mit Kant beginnt, welches die Aufgabe kritisch auffaßt und [die] jetzt zu lösen ist. Handelt es sich doch darum, die Kausalverhältnisse und Beziehungen der Seelenkräfte zueinander zu erklären. Die erklärende Theorie und die Theorie der Seelenver-
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mögen drücken nur zwei Hälften eines und desselben Tatbestandes aus. Die erklärende Theorie hatte recht, wenn sie annahm, die Zustände der Seele könnten zurückgeführt werden auf einzige und einfache Bestandteile, zweitens, wenn sie einen stetigen Zusammenhang unter den Seelenkräften und drittens ein festes Kausalverhältnis annahm. Aber auch die Gegner hatten recht: [1.)] Denn es gibt nicht eine einzige Klasse von Bestandteilen des Seelenlebens. Wir müssen so viel Klassen annehmen, als nicht aufeinander zurückzuführen sind. 2.) In der Seele herrscht nicht ein solches Kausalverhältnis wie in der Außenwelt. 3.) Es herrscht kein Gesetz von der Masse, aber ein Gesetz von der Steigerung. - Aber dadurch geraten wir in eine Region des Ubernatürlichen.
X . [Die drei Klassen v o n psychischen Vorgängen oder Elementen: Vorstellen, Fühlen, Wollen] [1.)] Es handelt sich im Anfange der Psychologie darum, die Idole zu beseitigen. Lotzes und Herbarts Psychologien sind sogar noch durch solche Idole bestimmt. Solche Auseinandersetzungen, wie dort, sind nur möglich, wo die Schwierigkeiten übersprungen oder verfehlt werden. Nicht aus Empfindungen als solchen kann die ganze Mannigfaltigkeit des Seelenlebens begreiflich gemacht werden. Wir verwerfen aber ebenso am Beginn die Vermögenslehre, welche sich im Gegensatz gegen solche Einheitslehre befindet. Auch sie hat nur Idole. Denn solche Kräfte, die auf der Bühne des Seelenlebens ihr Wesen treiben, sind nicht möglich. [2.)] Die Tatsachen des Seelenlebens, welche sich uns im Wechsel der Bilder, der nachträglich in der Erinnerung aufgefaßt wird, zeigen, sind sehr zusammengesetzt. Die erklärende Psychologie analysiert sie und sucht einfache Vorgänge auf in dieser Zusammengesetztheit. Die Ausdrücke, welche in dieser Rücksicht gebraucht werden, sind verschieden; diese Verschiedenheit aber darf Sie nicht beirren. Man spricht von Elementen, einfachen Elementen, wenn das Zuständliche ins Auge gefaßt wird. Aber auch diese Tatsachen haben eine Entstehung, ein Wachstum und ein Ende. Alles eigentlich kann unter den Ausdruck „Vorgang" gebracht werden. Daher kann man als den allgemeinsten Ausdruck „einfache Vorgänge" anwenden. Diese einfachen Vorgänge sind in ihrem Entstehen bedingt einerseits durch die Reize von außen, andererseits durch die Vorgänge in der Seele, welche ihnen vorausgegangen sind. Sonach diese seelischen Vorgänge stehen in Kausalverhältnissen, sie entspringen aus Faktoren und äußeren Bedingungen und rufen wieder ihrerseits Veränderun-
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gen hervor. Als Sie auf der Straße jene Bilder hatten, da waren es die Wechsel der äußeren Reize, welche in den Bildern die Veränderungen hervorriefen. Also der Wechsel der äußeren Umstände bildet den ersten Grund, weshalb Vorgänge neu auftreten in unserem Bewußtsein. 3.) Wenn wir über die Straße gehen, tritt vielleicht das Bild einer andern Straße in unser Gedächtnis. Dies ist eine innere Bedingung, daß das geschieht. Und höchst zusammengesetzt ist das Spiel der Bedingungen, aufgrund deren die Vorgänge in unserem Bewußtsein auftreten. Denkt man Goethes Werke und betrachtet dieselben unter sich, so vergleicht man und urteilt, und es ist nun fraglich, ob dieses auch eine Folge von früheren Bedingungen ist. Dies wissen wir noch nicht, aber wir wissen, daß dieses Urteilen und Denken in dem Kausalzusammenhang der geistigen Vorgänge begründet ist. Der Kausalzusammenhang wird nicht einmal da aufgehoben, wo wir von Freiheit des Willens sprechen. Aber nehmen wir an, es bestände eine vollständige Wahlfreiheit, so könnte dieselbe doch nur bestehen auf Vorstellungen hin, auf Ansichten und andere Bedingungen, und so reicht denn der Kausalzusammenhang des geistigen Lebens von Vorgang zu Vorgang, von den niedrigsten bis zu den höchsten Leistungen des menschlichen Geistes und umfaßt die gesamte Einheit desselben als eines Ganzen. Aber nun lassen Sie uns auch die andere Seite ins Auge fassen: Die Unterschiede sind teilweise bedingt durch die Verschiedenheit der äußeren Reize, teils lassen sie sich aus den Verschiedenheiten der Antezedenzien ableiten. Aber ich kann z.B. nicht ohne weiteres davon, daß ich Bilder von Goethes Faust und seinen Gedichten habe, ableiten, daß ich sie miteinander vergleiche. Dieses Vergleichen ist also nicht ableitbar aus dem Vorstellen. Zwei Dinge sind also zu trennen: 1.) Schon in dem Neugeborenen finden wir gewisse Unterschiede des Seelenlebens, welche nicht abhängig sind von dem Wechsel der Reize, welche wir also genötigt sind, als angeboren anzusehen. 2.) Im Laufe der Entwicklung treten innerhalb der Gradation Unterschiede auf, welche ihre Bedingungen wohl im Seelenleben haben, aber nicht aus solchen abgeleitet werden können. Die ersten Unterschiede sind: Vorstellen, Fühlen und Wollen. Ich denke mir, um Ihnen die Unabhängigkeit dieser drei Leistungen voneinander faßbar zu machen, ein nur vorstellendes Wesen. Dieses wäre der Schauplatz eines Spieles von Bildern, Empfindungen und Vorstellungen, aber es würde doch mit vollständiger Gleichgültigkeit alles betrachten. Ein solches Ungeheuer würde in der Schlacht alle Gefahren sehen, aber sie gleichgültig betrachten. Wir denken unwillkürlich, daß Unlust- und Lustempfindungen entstehen müßten, aber dies geschieht ja bei uns nur, weil wir so konstruiert sind mit
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Empfindungsfähigkeit. Aber in dem Vorstellen allein liegt dies nicht. N u n indes, da ein solches Vorstellen stets von Gefühl begleitet ist, würde jenes Wesen erschrecken vor der Gefahr, es würde Unlust empfinden. Aber es wäre nun noch kein Antrieb zum Handeln, zur Verteidigung und zur Abwehr vorhanden. Also ist es umsonst, das Auftreten eines Willensaktes aus den Vorstellungen ableiten zu wollen. Es ist nicht möglich, die eine der drei Klassen aus einer anderen abzuleiten. Alle drei Klassen von seelischen Äußerungen sind beständig vorhanden. Auch sind es nicht innere Bedingungen, welche eintreten müssen, um die drei Arten von Empfindungen wirken zu lassen. Alle drei Klassen von Seelenbestandteilen sind ebenso primäre Tatbestände. Wie sind aber die drei Klassen in jedem Lebensakte miteinander verbunden? Wir gebrauchen Willen, Gefühl, Vorstellen als Gesamtzustand der Seele, aber auch einzeln für die einzelnen Teile. Man kann sprechen von Gefühl, Willen und Vorstellen oder Denken und Erkennen in doppelter Hinsicht. Die Ausdrücke können bezeichnen: 1.) die drei Klassen einfacher Vorgänge und 2.) das, was aus ihnen zusammengesetzt ist. Herrscht dann in diesen das Vorstellen vor, dann bezeichnen wir das Gesamte als Vorstellen, herrscht das Gefühl vor, so nennen wir das Gesamte eine Empfindung, und ist der Wille vorherrschend, so nennen wir es einen Willensakt. Die drei Klassen dieser einfachen seelischen Zustände können wir als vorhanden beinahe in jedem seelischen Zustande vereint vorfinden. Sie haben eine Wahrnehmung, diese setzt sich aus einzelnen Empfindungen zusammen. Aber dieser Wahrnehmungszustand ist der Regel nach begleitet von Gefühlen. Nicht beweisbar zwar ist die Behauptung, daß jeder Vorstellung ein Gefühlston entspricht und mit ihr verbunden ist. Aber das ist wahr, daß jedem Empfindungsgesamtzustand ein Gefühlston eignet. Der Wechsel der Töne ist von einem Wechsel des Gefühles begleitet. Tiefe Töne rufen einen gewissen Ernst in dem, der sie vernimmt, hervor. Es gibt Instrumente, welche den tiefen Tönen angepaßt sind. Umgekehrt, ein Gefühl, mag es noch so sehr als einfaches Gefühl uns gegenübertreten, enthält doch Empfindungs- oder Wahrnehmungselemente in sich. Solche Elemente des Vorstellungslebens gehen durch das gesamte geistige Leben, und es gibt keine einzige Gruppe desselben, welche nicht in jedem wirklichen Lebensmoment die ganze Gruppe enthält.
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XI. [Die Grundstruktur des Seelenlebens und der dadurch bedingte Typus der menschlichen Struktur] Resümee: Positiv ist gefunden: Das gesamte Seelenleben läßt sich zerlegen in Einzelvorgänge. Diese können auch als Elemente des Seelenlebens betrachtet werden. Sie sind innerhalb des Seelenlebens miteinander verbunden. Das Seelenleben besteht also: 1.) aus Einzelbestandteilen, 2.) den Arten, wie diese ersteren miteinander verbunden sind. Diese Elemente und Koordinationsweisen befinden sich untereinander in einem Verhältnis von Ursache und Wirkung. Innerhalb der Seele tritt ein jeder Tatbestand auf, durchläuft eine Entwicklung und hört auf. Folgerecht, wenn ein Beginn und eine Veränderung in einem Tatbestande der Seele vor sich geht, so werden wir jederzeit eine Ursache dafür aufsuchen, und wir werden Bedingungen im Seelenleben für jede Veränderung auffinden können. Jede Seelenveränderung ist bedingt durch andere, die ihr vorausgehen oder zugleich stattfinden. So ist ein einziger Kausalzusammenhang, welcher alle Vorgänge des Seelenlebens zusammenhält, von den niedrigsten Leistungen bis zu den höchsten hinauf. Es gibt drei Klassen von psychischen Vorgängen oder Elementen. Diese Klassen sind von Anfang des Seelenlebens an innerhalb desselben vorhanden, und in jedem Zustand des Seelenlebens können sie beinahe aufgezeichnet werden: Vorstellen, Fühlen und Wollen. Man kann sich ein vorstellendes Wesen denken, ohne daß das Spiel der Wahrnehmungen jemals ein Gefühl veranlaßt oder sogar eine Willensäußerung. Fortsetzung: Schon in dem Beginn des Seelenlebens sind es Reize, die in dem Kinde auftreten. Das erste Schreien des Kindes bezeichnet Unlustempfindungen. Es zeigt ferner das Verlangen an; die Gewalt der Selbsterhaltung, die Macht der Liebe beruhen nicht auf Erfahrungen, also auch nicht auf Erkenntnis. Jede der drei Leistungen hat für sich eine große und eigentümliche Bedeutung. Bestehen diese drei Klassen, so ist es, daß wir in einem gegebenen Augenblicke immer nur eine zu sehen und zu beobachten vermögen. Aber in jedem Augenblick ist doch eine jede der drei Klassen vertreten. Der Ausdruck „Vorstellung" wird freilich in verschiedenem Sinne gebraucht. Unter Vorstellung versteht man in einem engeren Sinne das, was zurückbleibt, wenn der Wahrnehmungszustand vorbei ist. Es gibt aber einen weiteren Verstand des Wortes; unter Vorstellen versteht man alsdann die Art, wie überhaupt Inhalte in unserem Bewußtsein sich befinden. Es ist stets etwas Qualitatives. Entweder nämlich herrschen Vorstellungen selber vor, oder man hat es mit Gefühlen zu tun. Dann hat ein jedes Gefühl ein qualitatives Ele-
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ment, ζ. B. Stechen, Brennen etc. Es gibt also keinen Gefühlszustand, in dem nicht auch eine Vorstellung sich befindet, ζ. B. wenn auch nur von der Lage, die wir in dem Räume haben. Gehen wir zu der Welt der Begehrungen und Willensakte über, so kann nicht ein Willensakt zustande kommen, wenn nicht ein Gefühl als Ursache zugrunde liegt und eine Objektwahrnehmung stattfindet, welche die Willensäußerung leitet. Auch in dem Willensakte ist Gefühl vorhanden. Zwar die Momente, in denen gleichsam die Freudigkeit über unsere Existenz sich in einem mächtigen Gefühle kundgibt, sind selten. Aber in jedem Augenblicke ist doch in einem geringen Grade etwas von Gefühlsausdruck wahrnehmbar. Die Eindrücke, die Empfindungen der Außenwelt rufen aber auch stets zugleich Gefühle in uns hervor. Unsere Denkakte sind von Gefühlen des Gelingens und Mißlingens begleitet. Am schwierigsten freilich ist das Verhältnis beim Wollen. Aber eben in den Zuständen, wo unser Wollen gehemmt wird, sind auch Willensakte. Unser ganzes Leben durchzieht ein Willensfortgang. Die Aufmerksamkeit ist Willenszustand. Wenn wir die aufsteigende Reihe der Lebewesen betrachten, von den niederen Tieren ab, so findet einander entsprechend statt einerseits eine Differenzierung des Nervensystemes und des Sinnesorgans nebst einer wachsenden Verbindung der Teile des Nervensystems, entsprechend einer größeren Mannigfaltigkeit psychischer Zustände, und es wächst die Verbindung zwischen diesen Zuständen. Ein Seestern zeigt uns einzelne Ganglienzentren, welche wenig Verbindung miteinander haben. Bei den Gliedertieren sind dieselben Verhältnisse zu gewahren, und hinauf bis zu den Menschen finden wir Bestandteile des Seelenlebens, welche unabhängig von dem Gesamtzusammenhange existieren neben denjenigen, welche beständig in diesen Zustand aufgenommen werden. Betrachten Sie sich selbst: Sie essen oder gehen mit einer Aufgabe beschäftigt, die Sie ganz erfüllt. Es sind dann nur schwache Gefühle, die dadurch hervorgerufen werden, und leise Antriebe, welche z . B . die Gehbewegung unterhalten. Ein Kind geht vielleicht ganz in dem Essen auf, aber wenn Sie lebhaft beschäftigt sind mit einer Aufgabe, so haben Sie nur ein leises Bewußtsein vom Essen. Es geschieht dies dann gleichsam in einer niederen Etage des Bewußtseins, gleichzeitig mit der Hauptbeschäftigung des Seelenlebens. Alle diese Vorgänge haben eine und dieselbe Struktur: Ein Wahrnehmungszustand bewirkt einen Empfindungszustand und dieser einen Willensakt. So wirkt durch die Vermittlung des Gefühls das Lebewesen wieder rückwärts auf die Außenwelt. Eingebettet ist jedes Lebewesen von den Bedingungen der Außenwelt. Der Mensch empfängt Eindrücke, mißt diese in Rücksicht auf sein Dasein und reagiert auf die Außenwelt, um sie seinem Leben anzupassen. Dies
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ist die Grundstruktur aller Lebewesen. Es wäre unmöglich, die Erhaltung der Arten zu erklären, müßte man nicht annehmen, daß es die Lust- und Unlustgefühle sind, welche in Rücksicht auf die Nützlichkeit Nachricht geben. Können Sie sich ein Wesen denken, welches mit Lustgefühlen die Neigung verbände, diese abzuhalten? Es besteht eben der Zusammenhang zwischen den seelischen Vorgängen, und dieser ist der, daß der Zweck ist für die Lebewesen, sich selbst zu erhalten. Es entsteht so eine Grundstruktur des Seelenlebens und ein dadurch bedingter Typus der menschlichen Struktur. Die Sätze kann man benutzen, um ganze Nationen oder einzelne Menschen zu betrachten. Ein vollkommener Mensch ist der, in dem ein Gleichgewicht aller drei Seiten des Selbstbewußtseins in relativer Beziehung stattfindet.
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§ 1. [Die Aufgabe der Psychologie und ihre Stellung im Zusammenhang der Erfahrungswissenschaft] 410 1) Die Tatsachen des Bewußtseins sind in unserem Selbstbewußtsein zu einer 411 Einheit verbunden, welche das Zusammensein und die Aufeinanderfolge der psychischen Zustände zu einem Ganzen verknüpft, das wir „Leben" nennen. So ist jedem zunächst in der inneren Erfahrung eine Lebenseinheit gegeben. Alsdann erschließen wir durch einen Schluß der Analogie ähnliche Lebenseinheiten außer uns. Aus der Wechselwirkung derselben baut sich der Zusammenhang des Lebens der Menschheit auf. Den Querschnitt durch diesen Zusammenhang nennen wir „Gesellschaft", die Abfolge desselben „Geschichte", die Wissenschaft dieser Lebenseinheiten heißt „Psychologie" oder Lehre von der Seele. Doch ist mit letzterem Ausdruck (Seele) nur der Kreis der Tatsachen bezeichnet, der für die innere Wahrnehmung da ist und durch das Selbstbewußtsein zur Einheit verknüpft wird. Die Psychologie darf nicht von der Voraussetzung einer seelischen Substanz ausgehen; 412 denn es gibt keine der Psychologie zugrundeliegende Wissenschaft (Metaphysik), welche die Erkenntnis einer solchen Substanz allgemeingültig zu erweisen imstande wäre. Es ergibt sich vielmehr erst aus dieser Erfahrungswissenschaft Psychologie ein Urteil über die metaphysischen Annahmen in betreff der menschlichen Seele. 2) Die Wahrnehmung psychischer Tatsachen unterscheidet sich von der äußeren Wahrnehmung zunächst als ein Erleben der eigenen [Zustände], ein Miterleben, eine Nachempfindung, ein Verstehen fremder Zustände. So befriedigt sie das auf allen Kulturstufen gleiche, stärkste menschliche Erfahrungsinteresse. Sie unterscheidet sich alsdann dadurch, daß in ihr allein Tatsachen so wahrgenommen werden, wie sie sind. Die Außenwelt ist für uns nur an413 unserem Bewußtsein da. So ist sie nur Phänomen für uns, und auch die von der Naturwissenschaft diesen Phänomenen untergelegten Elemente und Gesetze überschreiten nicht das Gebiet der Erscheinungswelt. In der inneren Erfahrung eröffnet sich ein Gebiet von Tatsachen, denen so, wie sie gegeben sind, Wirklichkeit zukommt. Sie sind nicht durch Sinnesorgane vermittelt und verändert. Auf diesem Gebiet Gesetze festzustellen, ist das letzte Ziel der Psychologie.
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3) Und wie der Mensch als psychische Lebenseinheit in der inneren Erfahrung gegeben ist, so ist er als leibliche Organisation, als Körper, in der äußeren Wahrnehmung gegeben. Er ist ein psychophysisches Wesen.414 N u n ist uns aber die innere Beziehung zwischen den körperlichen Vorgängen und den psychischen Akten nicht unmittelbar und direkt gegeben; wir können nur ihren äußeren Zusammenhang und ihre äußere Abfolge auffassen. 415 Die Gleichförmigkeiten, welche sich hierin finden lassen durch Selbstbeobachtung, durch Tierexperimente, durch Studium geistiger Störungen bilden die Gesetze der Beziehung zwischen körperlichem und geistigem Leben. Eine solche Theorie hat zuerst Fechner in seiner „Psychophysik" aufzustellen versucht. Das Studium dieser Beziehungen ermöglicht aber erst die elementaren Tatsachen des Seelenlebens: Empfindung, sinnliche Gefühle, Gedächtnis, wissenschaftlich zu erforschen. Daher ist die Psychologie erst in unserem Jahrhundert in das Stadium einer strengen Wissenschaft eingetreten, nachdem Mathematik, Physik, dann Chemie und zuletzt Physiologie sich als Erfahrungswissenschaften konstituiert 416 hatten. Joh. Müller, Helmholtz, Weber, Fechner haben den Zusammenhang physiologischer Vorgänge mit psychischem Geschehen an den elementaren 417 Prozessen untersucht. Eine metaphysische Theorie ist z. Zt. durch die Ergebnisse der Erfahrungserkenntnis nicht ermöglicht worden. 4) Die Psychologie ist die Grundwissenschaft 418 der Geisteswissenschaften. Die Gesellschaft besteht aus einer Mehrheit von Systemen der Kultur: Recht, Sitte, Kunst, Religion, Wissenschaft. Sie hat also eine äußere Organisation in Familie, Staat, Kirche. N u n existiert jedes System der Kultur nur in der Wechselwirkung der einzelnen Lebenseinheiten als Teilinhalte ihres Lebens. Auch die äußere Organisation der Gesellschaft hat ihre reale Existenz nur an den psychischen Verhältnissen von Gemeinschaft, Abhängigkeit, Zwang. Die Lebenseinheiten bestehen in verschiedenen Systemen von Verwebung, und so existieren Religion, Kirche, Recht, Staat, Erziehung. Daher beruhen die Einzelwissenschaften der Gesellschaft: Jurisprudenz, Theologie, Staatswissenschaft, Geschichte, auf der Grundwissenschaft der Psychologie.
§2. Von den Mitteln, die Tatsachen des Bewußtseins aufzufassen 1) Die Auffassung psychischer Tatsachen in der inneren Wahrnehmung unterliegt vielfachen Schwierigkeiten,419 mag sie als religiös-sittliche Erfahrung auf die besonderen Zustände des Individuums oder als psychologische auf die Bestandteile und Gesetze des geistigen Lebens gerichtet sein. Das Gebiet der psychologischen Beobachtung ist sehr eng, denn der Akt der Beobachtung
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stört die unwillkürlichen Zustände in vielen Fällen. Wo eine Richtung des Willens schon vorliegt, ändert er sie in die Willensrichtung des Beobachters ab, wo ein unwillkürliches Spiel besteht, wird dasselbe durch die Richtung der Aufmerksamkeit aufgehoben. Dennoch setzt die tatsächlich bestehende Kenntnis der Mannigfaltigkeit unserer psychischen Zustände eine Wahrnehmung derselben voraus. Wir wüßten von uns selbst nichts, wenn nicht Zustände unseres Inneren von Bewußtsein begleitet und dadurch für uns da wären. Dies einfache Sachverhältnis ist von Kant und A. Comte verkannt worden, und so entstanden die von diesen geäußerten Bedenken. Kant nimmt einen inneren Sinn an, der, ähnlich wie der äußere, auf die Tatsachen des Bewußtseins wie auf Objekte gerichtet ist. Comte hält es für unmöglich, eigene Zustände zu beobachten, denn Beobachtung setze eine Verschiedenheit des Beobachtenden und seines Objektes voraus. Beide verkennen, daß wir von inneren Zuständen durch einfaches Gewahrwerden wissen. 420 Dieses Wissen wird in der Erinnerung 421 aufbewahrt. Daher sind die Bedenken anzuerkennen, welche in bezug auf absichtliche 422 Beobachtung gemacht werden. Diese ist nur in engem Umfange möglich. Einen Ersatz 423 bietet das absichtliche Hervorrufen von Erinnerungsnachbildern psychischer Zustände, 424 welche entstehen, wenn man diese Zustände zum Zweck der Beobachtung unterbricht. [2)] Das Gewahrwerden anderer oder die Menschenerkenntnis läßt sich als Schluß der Analogie darstellen. Erstes Urteil: Eine sinnlich wahrnehmbare Äußerung ist bei mir regelmäßig mit einem inneren Zustande verbunden. Zweites Urteil: Diese sinnlich wahrnehmbare Äußerung ist verwandt derjenigen, die ich an einem fremden Körper mit den Sinnen wahrnehme. Schluß der Analogie: Also wird ein verwandter 425 Zustand auch in den fremden Körpern die Unterlage der sinnlich wahrnehmbaren Äußerung bilden. 426 Die erste Bedingung der Menschenerkenntnis liegt hiernach in dem Reichtum des eigenen Lebens, die andere in der scharfen Auffassung der äußeren Erscheinungen anderer Lebenseinheiten und der richtigen Kombination. Die Grenze der Erkenntnis psychischer Zustände liegt zunächst in der Begrenztheit der inneren Erfahrungen auch des reichsten Menschen. In dem Grade, in welchem die Verwandtschaft zwischen den psychischen Lebenseinheiten eine entferntere ist, nimmt das Verstehen ab. Daher kann das innere Leben der Tiere durch die Tierpsychologie immer nur sehr annähernd aufgeklärt werden. Die zweite Klasse von Schwierigkeiten liegt in der Weise, in welcher andere menschliche Individuen ihr Inneres teilweise verschließen, d . h . nicht in sinnlich wahrnehmbaren Äußerungen zur Darstellung bringen oder gar Abweichendes an die Stelle davon setzen. Die Schwierigkeiten steigen, wenn wir zu der Kenntnis nur durch eine
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Mittelperson gelangen,427 wie dies vielfach bei unserer geschichtlichen Kenntnis der Fall ist. Hier entsteht die wissenschaftliche Aufgabe der höheren historischen Kritik (Niebuhr, Ranke), zuerst das Innere der Medien zu konstruieren.428 Die Zustände, die wissenschaftliche Forscher an sich und anderen auffassen, sind der Regel nach das verwickelte Produkt einer voraufgegangenen Entwicklung. Ihr Verständnis ist daran gebunden, die einfachen Elemente aufzufassen. Diese werden uns zugänglich durch das Studium der Neugeborenen, des Kindes, in ergänzender Weise durch das der Naturvölker und der Tiere. Endlich aber sind wir auch auf diesem Gebiet für die Feststellung einfacher Bestandteile und Gesetze 429 an die experimentelle Methode gewiesen. Selten bietet uns die Natur wie an Blindgeborenen, an Taubstummen ein Experiment. 430 Der Regel nach müssen wir Abweichungen von der N o r m künstlich herstellen und die Wirkung davon beobachten. Die wissenschaftliche Psychologie ist in der Grundlage experimentell.
§ 3. Die Psychologie kann nicht auf Metaphysik begründet werden Die älteren Werke über Psychologie benutzen zur Bearbeitung der in der Erfahrung gegebenen Tatsachen die Metaphysik; sie betrachten diese als Grundwissenschaft. Noch Herbart, der Begründer einer mechanischen Betrachtungsweise, 431 und Lotze benutzten die Ergebnisse ihrer Metaphysik für ihre Psychologie und legten derselben432 eine Seelensubstanz zugrunde (Lotze, Medicinische Psychologie [oder Physiologie der Seele, Leipzig] 1852; Herbart, Psychologie als Wissenschaft [,neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik, 2 Theile, Königsberg] 1824 [-1825]). Aber Metaphysik als Wissenschaft besteht nicht, sie wäre die Erkenntnis des allgemeinen, inneren Zusammenhangs der Erscheinungen. Ältere und neuere Völker Europas haben nach dem mythischen Stadium ein metaphysisches durchlaufen. In diesem wurden die von einem Mittelpunkt hervorgerufenen andauernden Bewegungen und die zweckmäßigen Formen des Naturzusammenhangs auf den Willen geistiger Wesen zurückgeführt. 433 Denn man hatte eine mechanische Erklärung 434 noch nicht, bis diese den Beweis für das metaphysische System zerstörte. 435 Die Analyse der organischen Wesen zerstörte die Zurückführung der physiologischen Zustände 436 auf eine wirkende Seele.437 So wurde die metaphysische Grundlegung 438 abgelöst durch den Zusammenhang der Erfahrungswissenschaften auf der Grundlage der Erkenntnistheorie.439 Darum muß Psychologie als Erfahrungswissenschaft 440 behandelt werden.
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I. A B S C H N I T T : Die Gliederung der psychischen Zustände § 4 . Der Vorgang, in dem aus den einzelnen Erfahrungen die allgemeinen Bezeichnungen für die Arten und Gattungen psychischer Zustände entstehen, 441 und die Methoden, auf dieser Grundlage eine wissenschaftliche Systematik zu bilden 1) So finden wir uns ohne Leitfaden metaphysischer Voraussetzungen der Mannigfaltigkeit psychischer Zustände gegenüber. Wie in den Naturwissenschaften orientieren wir uns durch eine Klassifikation; sie gewährt jedenfalls Ubersicht und feste Bezeichnung, vielleicht Einblick in die innere Gliederung. Wie entstehen Klassenvorstellungen und ihre Bezeichnungen? 442 Die in der inneren Erfahrung auftretenden Zustände sind in der Kontinuität des psychischen Lebens und seines Ablaufs verbunden (§1.1). Interesse und Aufmerksamkeit heben aus diesem Zusammenhang Einzelbilder hervor; so ein überraschendes Wahrnehmungsbild, das es begleitende Schreckgefühl und den so verursachten Fluchtversuch. Eine Erinnerung dieses Zustandes besteht fort. Kehrt nun dieser oder ein ähnlicher Zustand wieder in der inneren Erfahrung und in der äußeren [Erfahrung] an anderen, alsdann verschmilzt der letzte Eindruck mit den früheren ähnlichen Bildern, so entsteht der Typus, das Schema eines Lebenszustandes. Dieses faßt eine Gruppe ähnlicher Bilder in sich, Allgemeinvorstellungen; diese wird von der Sprache durch eine Bezeichnung befestigt, sie wird in der Literatur durch dichterische Darstellung, wissenschaftliche Charakteristik und Analyse verdeutlicht. Diese Allgemeinvorstellung (ζ. B. von Haß, Neid) ist im Unterschied von der sinnlichen Klarheit der äußeren Objekte dunkel; sie hat aber vor der eines Naturobjektes einen großen Vorzug, der aus den Eigenschaften von Bewußtseinserscheinungen folgt. Die Eigenschaften der Schwefelsäure enthalten keine unmittelbare Aufklärung darüber, woraus sie zusammengesetzt sei. Erst die chemische Analyse gibt Aufklärung. In dem psychischen Zustande der Gegenwart ist meist Bewußtsein der äußeren Bedingungen, unter denen die Lebenseinheit in den Zustand geraten ist, enthalten; so ist Haß ein an sich dunkler Affekt, der aber die Vorstellung einer äußeren Hemmung des Lebensgefühles und einer persönlichen Ursache derselben einschließt. In anderen Fällen ist in den Gesamtzustand ein Bewußtsein seiner seelischen Grundlage eingeschlossen; so faßt eine Erinnerung die Beziehung auf eine Wahrnehmung in sich, die ihre Grundlage bildet. Diese Indizien benutzt Spinoza, indem er an die Selbst-
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erhaltung äußere Bedingungen herantreten läßt und so einen genetischen Zusammenhang der Affekte entwirft. Das andere Hilfsmittel, die Systematik zu finden, liegt im Studium der Koexistenz und Sukzession der einzelnen Zustände, aus denen die Kausalverhältnisse abgeleitet werden können. 2) So führte schon das natürliche Denken einer wissenschaftlichen Systematik entgegen. Die Methoden, sie herzustellen, waren: 1) Man ordnet nach Verwandtschaft; so ist Rotempfinden Grünempfinden verwandt, der Allgemeinvorstellung „Sehen" unterzuordnen. Sehen ist dem Hören verwandt; die443 äußere Wahrnehmung entsteht und umfaßt die Klassen der Sinnesleistungen.444 2) Da ein Zustand oft einen früheren als seine Grundlage einschließt, kann die Psychologie Entwicklungsreihen bilden, in denen ein elementarer Zustand Grundlage eines höheren ist. So bilden Empfindung, Wahrnehmung, Erinnerungsbilder, Vergleichung, Unterscheidung, schöpferische Einbildungskraft, Verstand eine aufsteigende Reihe der intellektuellen Entwicklung. 3) N u n tritt die Berücksichtigung der wechselnden äußeren Bedingungen hinzu; 445 es fragt sich, wie der Wechsel der inneren Zustände davon abhängt. 4) Die Aufeinanderfolge und Koexistenz der Zustände gestatten Schlüsse auf die Kausalverhältnisse, und so ergibt sich die Möglichkeit, die Gliederung zu erkennen, in der aufgrund der wechselnden Bedingungen, unter denen das Seelenleben steht, die aufsteigende Reihe seiner Leistungen entsteht.
§ 5. Die bisherigen Versuche einer Klassifikation psychischer Tatsachen und die Lehre von den Seelenvermögen Es folgten einander Systeme, erstens die, [welche] die innere Gliederung der Funktionen des Seelenlebens ableiteten, zweitens solche, die zwar die metaphysische Begründung aufgaben, aber noch das innerste Wesen und die aus ihm entspringende Gliederung 446 erkennen zu können glaubten, drittens die, [welche] den letzten Standpunkt fallen lassen und den der empirischen Seelenlehre streng durchführen. 1. Stadium: Piaton ist der erste, von dem uns eine Einteilung der Seelenkräfte überliefert ist. Er nahm Teile der Seele an; seine Dreiteilung ist aus metaphysischen Grundsätzen gewonnen. Die unsterbliche Seele ist in das Gefängnis des Leibes eingetreten; sofern sie mit ihm verwachsen ist, entsteht das sinnliche Seelenleben, dieses teilen wir mit Pflanzen und Tieren.447 Zwischen dieses und das höhere Seelenleben stellt er einen vermittelnden Seelenteil. So entsteht die Dreiteilung in Sinnlichkeit, das έπιθυμητικόν, das Vermögen, diese Sinnlichkeit der Vernunft zu unterwerfen, das θυμοειδές oder θυμός, und die Vernunft, das λογιστικόν. Diese Lehre begründet er: Diese drei Teile
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können in Streit [treten], aber auch Beweggründe der Vernunft können gegeneinander in Widerstreit treten. Die Annahme von Teilen der Seele hebt die Einheit des Seelenlebens auf. Aristoteles ist der Schöpfer einer vergleichenden Psychologie (περι ψυχής). Er leitet ebenfalls aus metaphysischen Prinzipien ab; andererseits benutzt er die vergleichende Betrachtung der organischen Wesen in anatomischer, physiologischer und psychologischer Weise. In den organischen Wesen wirkt von der Pflanze aufwärts zunächst eine unterste seelische Funktion: Ernährung, Wachstum, Fortpflanzung (anima vegetativa, aus ihr der spätere Begriff der Lebenskraft); in den Tieren aufwärts tritt die Funktion, zu empfinden und Bewegungen einzuleiten, hinzu. Auf dieser Grundlage verbindet sich [im Menschen] damit die Funktion der Vernunft, die dem Tier nicht eigen, an kein Organ gebunden, weder mit dem Körper entsteht, noch untergeht. Durch diese Vernunft sind wir vielmehr mit der göttlichen Vernunft (νοϋς) verwandt. In bezug auf den engeren Kreis der in der Erfahrung des Inneren auftretenden Seelenzustände mußte also Aristoteles die niederen von den höheren Vermögen trennen. Die ersteren, an körperliche Organe gebunden, sind Mensch und Tier gemeinsam,448 die letzteren nicht. Mit dieser Einteilung in zwei Stufen kreuzt sich bei Aristoteles eine solche in zwei Seiten des Seelenlebens. Einmal wird die Seele von dem Sein außer ihr zum Wahrnehmen und Erkennen bestimmt; dann strebt sie im Begehren und Wollen, auf das Sein zurückzuwirken (theoretische und praktische Seele). So entsteht die Einteilung, die bis Ausgang des Mittelalters die Psychologie beherrschte: sinnliches Auffassen, sinnlicher Trieb und Begehren, vernünftiges Denken, vernünftiges Wollen.449 2. Stadium: Als die Methoden der Erfahrung im 17. Jahrhundert auf die Natur insbesondere durch Galilei angewandt worden waren und so eine erklärende Naturwissenschaft sich auszubilden begann, strebte man diese Verfahrungsweise auch auf das Studium geistiger Tatsachen anzuwenden. So entstanden die erklärenden Theorien, die einfache Bestandteile des Seelenlebens aufsuchten und aus der Wechselwirkung derselben nach Gesetzen selbst das Höchste 450 abzuleiten strebten. Spinoza war der erste, Ethica III, IV,451 Lehre von den affectus, die andere wurde in England, dann [in] Frankreich ausgebildet. Aus den Assoziationsverhältnissen der Empfindung und [der] Lust- und Unlustgefühle werden (noch heute in England herrschend, Bain) die höchsten Seelenleistungen abgeleitet. Herbart zog eine letzte Konsequenz, indem er nur eine Klasse von Bestandteilen452 zugestand. Aber es gelang nicht, die Erklärung durchzuführen. 453 So entstand im Gegensatz gegen sie die berühmte Lehre von den Seelen vermögen. Begründer war Wolff: Gedanken von Gott, Welt, Seele; er stellte bereits eine empirische Psychologie neben seine rationale, und diese
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empirische Richtung überwog in seiner Schule. Mendelssohn, Tetens, Garve, Moritz haben sie durchgebildet. 454 Überall, wo eine spezifische Leistung des Seelenlebens aufzutreten schien, wurde ihr eine bestimmte spezifische Kraft untergelegt. So wurde das Fachwerk immer zusammengesetzter entwickelt; im unteren und oberen Stockwerk [des Seelenlebens] wurde eine große Zahl von Kräften untergebracht. 455 Sie sollten unter bestimmten Bedingungen in der Seele in Wirksamkeit treten und hinter die Kulissen des Bewußtseins zurücktreten bis zum Stichwort, sollten sich stützen und bekämpfen. Herbart in seiner „Psychologie als Wissenschaft", 1824, machte dieser Ansicht den Prozeß. 3. Stadium: Die erklärende Theorie und die Seelenvermögenslehre sind die beiden Seiten der Wahrheit. Kant zuerst mit kritischem Geist hat [darauf] verzichtet, das Wesen der Seele zu erfassen und zu zersplittern. Die erklärende Theorie hat recht, wenn sie einen Kausalzusammenhang bis zu den höchsten Leistungen annimmt und die Voraussetzungen verwirft; in der Vermögenslehre ist die Steigerung innerhalb des Seelenlebens richtig. So entsteht das Problem, diese Struktur zu erkennen.
§6. Auflösung des Problems: die Gliederung des Seelenlebens456 1) Die erklärende Psychologie löst mit Recht die zusammengesetzten Zustände des Bewußtseinszustandes in einem gegebenen Augenblick in ihre Bestandteile auf. Da jeder Bestandteil, auch wo er als Zustand uns gegenüber tritt, einen Anfang, einen Verlauf, ein Ende hat, so bestimmen wir diese Bestandteile als einfache Vorgänge. Die erklärende Psychologie ist weiter im Recht, wenn sie das Auftreten eines einfachen Vorgangs oder die Veränderung in ihm abhängig macht von Bedingungen im Seelenleben selbst oder in der umgebenden Außenwelt. Von den niedrigsten bis zu den höchsten Leistungen [des Seelenlebens] reicht ein einziger Kausalzusammenhang, und auch, wo eine Wahlfreiheit angenommen wird, liegen dem Willensentschluß Bilder und Schätzungen der Werte zugrunde. 2) In diesem umfassenden Kausalzusammenhang treten uns zunächst Unterschiede der einfachen Vorgänge entgegen, die wir schon am Neugeborenen finden und die von der Außenwelt unabhängig sind: Vorstellen, Fühlen, Wollen. Wir bezeichnen mit diesen Ausdrücken die allgemeinsten Unterschiede, die innerhalb des Seelenlebens überhaupt auftreten. Diese Unterschiede können nicht aus den Antezedenzien der Vorgänge im Bewußtsein abgeleitet, nicht mit dem Wechsel der Reize in erklärenden Zusammenhang gebracht werden. Es sind drei verschiedene Seiten des Seelenlebens, die durch diese drei Klassen
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einfacher Vorgänge bezeichnet werden. Ich kann mir ein rein vorstellendes Wesen denken, das Spiel der Empfindungen, Wahrnehmungen und Bilder in demselben würde kaum stattfinden können, ohne daß Gefühle, d. h. Lustoder Unlustzustände, daraus sich ergäben. 457 Diese drei Klassen [von Vorgängen] des Seelenlebens sind in Rücksicht auf die in ihnen stattfindende Leistung voneinander klar getrennt. Die innere Beziehung ihrer Leistungen aufeinander macht die Bedeutung des Lebens aus. Diese drei Klassen von Vorgängen finden nun beinahe in jedem Moment unseres Seelenlebens statt und sind nachweisbar. Vorstellungen finden sich vor in jedem sinnlichen Gefühl; die qualitativen Bestimmtheiten desselben (Brennen, Stechen), die Lokalisierung des Gefühls, die Orientierung des Körpers im Räume sind auch in den Momenten des sinnlichen Gefühls enthalten. Höhere Gefühle setzen überall Vorstellungen voraus, die sie anregen. Alsdann ist in jedem Willensvorgang eine Objektvorstellung enthalten. So kann das Vorkommen des Vorstellens annähernd in jedem Status unseres Bewußtseins aufgezeigt werden. Auch war dies der Grund dafür, aus dem Zusammenwirken von Vorstellungsinhalten die anderen Leistungen des Seelenlebens abzuleiten. Aber auch Gefühle können annähernd in jedem Status des Bewußtseins aufgezeigt werden. Hierbei ist zu erwägen, daß das Gefühl neben Lust und Unlust auch Gefallen und Mißfallen, Billigung und Mißbilligung umfaßt. Gefühle sind zunächst ein Bestandteil aller mit Aufmerksamkeit vollzogenen Willensakte, Wahrnehmungsakte. Zwar ist die Annahme von Wundt u.a. nicht erweisbar, daß jeder Empfindung neben ihrer Qualität und Intensität ein Gefühlston zukomme, aber sie ist richtig in der Einschränkung auf die Zustände der Versenkung in eine Wahrnehmung. In der Assoziation der Vorstellungen spielen dann die Gefühle eine wichtige Rolle. Auch unser Denken wird von Gefühlen der Unruhe, Befriedigung über Gelingen und Mißlingen etc. begleitet. Jeder Vorgang von Trieb, Begehren oder Willen schließt ein Gefühl ein, weil dieses der Motor der Willensspannung ist. Endlich können wir in den meisten bewußten Momenten 4 5 8 unseres Lebens ein gesteigertes oder gehemmtes Lebensgefühl in uns auffinden. Auch Willenszustände sind beinahe in jedem Momente unseres Bewußtseins nachweisbar. Triebe bilden die Grundlage unseres ganzen geistigen Lebens, es wird von ihnen in Bewegung gesetzt. In der Wahrnehmung finde ich mich bestimmt von außen, also in einem Zustande des beschränkten Willens. Die Innervationsempfindungen schließen einen Willensvorgang ein, denn die Erfahrung von Anspannung, Arbeit, Energie, wenn ich eines Namens mich zu erinnern strebe oder zu einem Entschluß gelangen will, ist der ganz gleichartig, die der Ausführung einer Bewegung vorausgeht. Ferner sind Willenszustände als Aufmerksamkeit und Interesse bei jedem Auffassen eines Objektes gegen-
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wärtig. Weiter ist das Spiel unserer Vorstellungen vielfach von Interesse, Sehnsucht, Verlangen bestimmt. Das Denken ist von der Willenstätigkeit geleitet, haben doch Setzung und Aufhebung im Urteil eine Willensseite. In unseren Gefühlszuständen tritt bald ein Bewußtsein der eigenen Energie, bald des Bestimmtwerdens von außen hervor. Hier liegt der Grund dafür, daß Schopenhauer sein Apergu von der zentralen Bedeutung des Willens für das Seelenleben durch viele Tatsachen scheinbar begründen konnte. Dasselbe ist die einseitige und willkürliche Verwendung der Tatsache, daß Vorgänge von Trieb, Begehr und Wille das ganze Seelenleben durchziehen und beinahe in jedem Augenblick des Bewußtseins gegenwärtig sind. Diese Tatsachen drängen zu folgender Hypothese: Vorstellen, Fühlen und Wollen sind die drei Seiten des Lebensprozesses der Seele. In jedem Moment des erfüllten Bewußtseins sind sie zu einer bloßen 459 Strukturform verbunden. Diese Hypothese befreit von der bedenklichen Vorstellung teilweise pausierender, 460 dann wieder tätiger Vermögen; sie tut auch nicht, wie die Herbarts, der Erfahrung Gewalt an, denn er mit seiner Meinung, daß nur eine Klasse von Vorgängen, Empfindungen, Vorstellungen die Faktoren des Seelenlebens seien und aus deren Verhalten erst Gefühle und Willensakte entsprängen, wird schon durch die Tatsache des körperlichen Schmerzes oder des eine einfache Farbenwahrnehmung begleitenden Gefühlstones widerlegt. Die psychischen Lebensmomente unterscheiden sich nun voneinander, je nachdem eine dieser drei Seiten des psychischen Lebens vorherrscht. Diesem ordnen sich dann die anderen als Bestandteile unter oder bestehen ohne Zusammenhang mit ihm für sich; so ist dem Willenszustand das Objekt, Bild, und der als Motor wirkende Gefühlszustand eingeordnet. So ist denn dem Vorgang die Spannung des Willens eingeordnet, die ihn in Bewegung setzt, und Unruhe über Gelingen oder Mißlingen begleiten ihn. Ist so dieser Gesamtzustand alsdann der Mittelpunkt des Seelenlebens, so finden wir denselben doch gleichsam peripherisch von Vorgängen umgeben, die ohne Zusammenhang mit ihm und gering merklich neben ihm bestehen: so während eines körperlichen Schmerzzustandes etwa die räumliche Orientierung; so während ein Willensakt geschieht, Sinnesempfindungen in großer Zahl, die ohne Zusammenhang mit ihm in der Seele bestehen. Die drei Totalzustände, die so entstehen, werden je nach dem Vorherrschen einer der drei Seiten ebenfalls als Vorstellung, fühlend und wollend bezeichnet. Diese Ausdrücke werden also in mehrfachem Sinne gebraucht, zumal unter Vorstellung im engeren Sinne auch der Zustand verstanden wird, in dem eine Wahrnehmung reproduziert wird. Stets aber wird Empfindung als Element der Wahrnehmung im jetzigen Sprachgebrauch streng unterschieden von Gefühl, für das der Gegensatz von Lust und Unlust charakteristisch ist.
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Diese drei Klassen von Vorgängen sind nun zu einer einfachen Struktur im Seelenleben verbunden. Vorgänge des Vorstellens werden von dem Gefühl in ihrem Verhältnis zur Selbsterhaltung abgeschätzt, und Lust und Unlust setzen Begehren und Wille, Zurückwirkungen auf die Außenwelt in Bewegung. Von den niederen Formen des tierischen Lebens an ist die Wirkung der Reize von der Außenwelt her auf das Eigenleben und dessen Rückwirkung in Bewegungen das Grundschema des Lebens. Im menschlichen Seelenleben ist dieses Schema am reichsten, mannigfaltigsten und einheitlichsten gegliedert. Wie im menschlichen Organismus das Mannigfache der Reizempfänglichkeit und die Verbindung der unzähligen Empfindungen zur Einheit am vollkommensten durchgeführt ist, so ist auch die Struktur des Seelenlebens des Menschen am kompliziertesten und andererseits am einheitlichsten. Das Gleichgewicht der in dieser Struktur verbundenen drei Seiten bezeichnet den vollkommensten Typus des Menschen.
II. A B S C H N I T T : D i e Elemente des Seelenlebens und die zwischen ihnen stattfindenden einfachen Prozesse Erstes Kapitel: D i e Elemente des Seelenlebens (Einfache Vorgänge) I. D i e einfachen E m p f i n d u n g e n § 7. Wahrnehmung, Vorstellung, Empfindung 4 6 ' Das Vorstellen im weiteren Sinne des Wortes umfaßt Wahrnehmung, die die Gegenwart des Objektes einschließt, Vorstellung im engeren Sinn, welche die Voraussetzung der Abwesenheit desselben macht, und die Prozesse zwischen ihnen, diesen Wahrnehmungen und Vorstellungen, durch die die höheren Seelenleistungen ermöglicht werden.
§ 8. [Die Elemente unserer äußeren Wahrnehmung sind die einfachen Empfindungen] Die Elemente unserer äußeren Wahrnehmung sind unsere Vorstellungen. 462 Die äußeren Objekte treten im Bewußtsein auf, als wären sie in der Wahrnehmung 463 gegeben. Die Analyse der äußeren Wahrnehmung hat diese Schwierig-
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keit 464 zerstört und gezeigt, daß die Wahrnehmung Ergebnis eines zusammengesetzten und schon vom Denken geleiteten Vorgangs ist. Die für uns nicht weiter zerlegbaren Elemente (einfache Sinnesinhalte), die im Wahrnehmungsvorgang verbunden werden, sind die Empfindungen (Unterschiede dieser Empfindungen von Gefühlen, welche Lust oder Unlust einschließen). I. psychologischer 465 Grund der Annahme von Empfindungen: Sie kehren im Wechsel der Objekte regelmäßig wieder; auch unsere Vorstellungen sind stets aus diesen Elementen zusammengesetzt. II. physiologischer 466 Grund: Wir können unsere Wahrnehmungen mit der Struktur unserer höheren Sinnesorgane nur durch die Annahme in Verbindung setzen, daß die Leistungen der im Sinnesorgan gesonderten Nervenendigung im Hervorbringen eines einfachen Endresultats liegen, das freilich zunächst nur ein physiologisches ist. Aus diesen Endresultaten setzt sich dann unsere Wahrnehmung zusammen. Doch kommen diese Empfindungen abgesondert nur im analysierenden Denken vor; die Analysis des Chemikers stellt ein Element isoliert dar, die des Physikers 467 kann die Farbenempfindung „blau" nur in räumlicher Erstreckung und vom dunklen Sehfeld umgeben auffassen. Aus diesen Empfindungen sind auch alle unsere Vorstellungen zusammengesetzt. Denn durch keine Anstrengung der Phantasie oder des Verstandes können wir eine Empfindung herstellen oder ihre Vorstellung haben, wenn sie nicht in einem Wahrnehmungszustand gegeben war.
§ 9. Der Vorgang, in dem aus dem Reiz die einfache Empfindung entsteht Der Kausalzusammenhang, in dem aus den Veränderungen der Außenwelt die Veränderung im Seelenleben entsteht, die wir Empfindung nennen, verläuft in drei Gliedern: [1)] Das Spiel des geistigen Lebens wird stets durch Reize der Außenwelt unterhalten. Die Objekte werden aber nicht durch ihren bloßen Bestand Ursache der Empfindung, sondern sofern sie wirken. Diese Wirkungen stellt die Naturwissenschaft als ein Mannigfaltiges von Bewegungen dar. Die objektive Beschaffenheit der Reize der Außenwelt kann nicht festgestellt werden, denn sie sind nur in den Empfindungen für uns da. Objekte, Dinge können nicht unabhängig von den Bedingungen unseres Bewußtseins, wie sie an sich wären, vorgestellt werden. Daher gelangt auch die Naturwissenschaft nur bis dahin, Teilinhalte unserer Wahrnehmung zu einem abstrakten Ganzen, System, zu verknüpfen, das den Wechsel der Empfindungen abzuleiten gestattet. So zerstört sie unter allen Umständen die Annahme, daß die Sinnesqualitäten Eigenschaften von Objekten seien.
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Von diesen äußeren Reizen unterscheiden wir die inneren Reize. Diese sind hauptsächlich von Joh. Müller studiert worden. Die Empfindungen, die durch jenseits unserer Haut wirkende Reize 4 6 8 hervorgerufen werden, können auch durch Ursachen innerhalb des Körpers, wie Zirkulationsveränderung des Blutes, bewirkt werden. So entstehen Traum, Vision 469 etc. 2) Der zweite Bestandteil des Empfindungsvorganges gehört unserem Körper an. Nachdem der Reiz innerhalb desselben zu dem empfindlichen Nervenende gelangt ist, tritt hier ein Erregungszustand ein, der in den sensiblen Nerven verläuft bis zur Endstation des physiologischen Prozesses. Dieser Erregungsvorgang ist von elektrischen und chemischen Veränderungen begleitet. Man hat sich vorgestellt, der Erregungszustand des Nerven von seinem zunächst gereizten Anfang ab, der für äußere Einwirkungen empfänglich ist, bis zur Sinnesfläche des Gehirns sei von einem Empfindungszustand in der ganzen Erregungsbahn begleitet. Doch ist diese Annahme mindestens überflüssig, denn die Folgen der Durchschneidung der Sinnesnerven zeigen, daß der Empfindungsfortgang ebenfalls würde stattfinden müssen. So hat eine solche Annahme keinen faßbaren Nutzen für die Erklärung. 3) Der dritte Bestandteil ist das Auftreten der Empfindungen im Bewußtsein, und zwar besteht zwischen den eben dargestellten zwei körperlichen Vorgängen und dem Auftreten der Empfindung für unsere Erkenntnis kein Ubergang. Keine Lichtzergliederung zeigt, warum wir es in Farben sehen. Auch genügt es für unsere Erkenntnis und Benutzung der Natur, daß in der Regel bestimmte Reize durch den Nervenvorgang mit bestimmten Empfindungen verknüpft sind. So sind die Empfindungen nicht Abbilder der Reize; unser natürliches Bewußtsein ist nicht im Recht, wenn es 470 Eigenschaften der Gegenstände annimmt, und muß diese Ähnlichkeit durch die Verhältnisse von Spiegelbildern zu den Objekten, von Gemälden zu ihren Originalen sich vorstellig machen. Aber sie sind regelmäßige Folgen, die die Anwesenheit von Reizen 471 anzeigen, und zwar sind sie in der Regel in den höheren Sinnen die Folgen der Anwesenheit äußerer Reize. Daher werden sie als Zeichen für diese im Zusammenhang unseres Bewußtseins genommen. 472
§ 10. Die Empfindungsqualitäten in bezug zu den Reizklassen. 473 Joh. Müllers Gesetz von den spezifischen Sinnesenergien Diese einfachen Empfindungen 474 bilden eine Mannigfaltigkeit; wir unterscheiden in derselben die Unterschiede des Grades und der Qualität. Jede Empfindung besitzt eine gewisse Intensität und kann in dieser Beziehung mit anderen verglichen werden. Jede hat ferner einen qualitativen Charakter, 475
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und zwar bilden zunächst gewisse Qualitäten, als untereinander verwandt, einen Qualitätenkreis, nur je einem Sinnesapparat jedesmal zugehörig. Helmholtz nennt ihn Modalität der Empfindung. Eine solche ist das Sehen, Hören; innerhalb der Modalitäten der Gesichtsempfindung unterscheiden wir Farben als Qualitäten, die Bestandteile des Sinnes einer gegebenen Modalität sind. Die Modalitäten der Sinne sind miteinander unvergleichbar: bitter - grün. 476 N u r gleiche Beziehungen zum Gefühl stiften eine entferntere Vergleichbarkeit; die gewöhnliche Teilung in fünf Sinne zerlegt gleichsam den Körper in Sinnesprovinzen und trennt den Hauptsinn über unsern ganzen Körper von Geruch, Geschmack, Gehör, Gesicht. Geht man aber von den Bewußtseinszuständen aus, so muß der Tastsinn ebenso als eine Modalität, ein Sinn angesehen werden als der Temperatursinn, und eine genauere Analyse nötigt uns, noch mehr Modalitäten der Empfindung anzuerkennen. N u n stehen die Unterschiede der Modalitäten unserer Empfindungen zu Unterschieden der Reize innerhalb der vier höchsten Sinne in einer näheren Beziehung. Hier unterscheiden wir Reize, die für den Sinn spezifisch sind (adäquate), z . B . Schallwellen für das Ohr, von den inadäquaten Reizen. Joh. Müller hat versucht, das Verhältnis der Faktoren, aus denen die Empfindung entsteht, genauer zu erkennen, indem er das Verhältnis der Reizklassen zu den Empfindungsqualitäten untersuchte. Diese Methode, sich an die beiden Außenglieder des Empfindungsvorganges zu halten, ist derjenigen verwandt, durch die Fechner 477 alsdann den gesetzlichen Zusammenhang zwischen Reizstärke und Empfindungsintensität aufzufinden suchte: 1. Wir können keine Art von Empfindung durch äußere Reize erhalten, die nicht auch durch innere Reize hervorgebracht werden kann. 2. Diese inneren Reize rufen in verschiedenen Sinnen verschiedene Modalitäten der Empfindung hervor ( z . B . Anhäufung des Blutes in den Kapillargefäßen des Sinnesnerven). 3. Die dasselbe äußernden Reize können in verschiedenen Sinnesnerven verschiedene Modalitäten der Empfindung hervorrufen, z . B . Stoß, Schlag, elektrischen Reiz. 4. Die eigentümlichen Empfindungen eines jeden Sinnesnerven können durch ganz verschiedene innere und äußere Reize hervorgerufen werden, so Lichtempfindungen im Auge durch Stoß, Schlag, Elektrizität, chemische Mittel. Hieraus hat Müller mit Recht gefolgert, 478 daß der Sinnesnerv eine Fähigkeit hat, durch die er, welcher Reiz auch immer ihn anrege, immer mit einer bestimmten Klasse von Empfindungen antwortet. Der Kreis seiner Empfindungen [ist] seine Sprache; es besteht also nicht ein festes Verhältnis zwischen einer Klasse von Reizen als Ursachen und einer Art von Empfindungen als Folge. Diese Sätze sind nur Verallgemeinerungen des Tatbestandes. Joh. Müller aber überschritt sie, indem er einerseits von Kants Lehre des Apriori sich
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leiten ließ, andererseits entsprechend der damaligen Naturphilosophie das Apriori der Empfindung in eine organisierte, spezifische, energienfähige Materie, ζ. B. Sehsinnsubstanz, verlegte. Die Modalität der Empfindung ist Folge des Reizes, andererseits der Natur des Sinnesnerven, den der Reiz trifft. Nun sah es Müller als Grundeigenschaft der organisierten Materien an, daß die Reize für sie nur Anlässe seien, die ihnen innewohnenden Sinnesenergien ins Spiel treten zu lassen. Diese Ansicht aber steht mit der gegenwärtigen Richtung der Wissenschaft von Organismen in Widerspruch. 479 Die allmähliche Entwicklung der Sinnesorgane in der aufsteigenden Tierreihe muß ohne Neuschöpfungen möglich sein und verständlich. So erscheint es wahrscheinlicher, daß die spezifische Natur der Sinnesreize von Generation zu Generation wirkt, in einem festen Kausalverhältnis zu den spezifischen Energien der einzelnen Sinne steht. Hiermit sind auch die Tatsachen der Nervenlehre in Einklang (UnUnterscheidbarkeit des Erregungsvorganges in den verschiedenen Sinnesnerven, Veränderungen in der Leistung derselben experimentell herbeigeführt). So dürfen wir annehmen, daß die Verschiedenheit der Sinne sich allmählich aus der indifferenten Reizbarkeit der organisierten Materie aufgrund der Einwirkung der äußeren Reize herausgebildet, vervollkommnet, erweitert hat.
§11. Die Mannigfaltigkeit der einfachen Empfindungen in bezug auf Modalität und Qualität Die Grundlage der einzelnen seelischen Vorgänge bildet das Lebensgefühl, das Zustände des Willens, Gefühls und der Empfindungen getrennt und verschmolzen 480 enthält. Trennen wir aus ihm die Empfindungen, die es mit Lustund Unlustgefühlen verbunden enthält, so entsteht der Begriff des oder der Gemeingefühle, in denen Empfindungen nicht auf Objekte bezogen werden, sondern als Zustände des Eigenlebens ineinanderliegen. 481 Dasselbe enthält zunächst die Organgefühle, dieselben sind unter normalen Verhältnissen zu schwach, unter abnormen von zu starken Gefühlen begleitet; es überwiegt das Gefühl zu sehr die Empfindung, als daß eine deutliche Unterscheidung derselben möglich wäre. So begleiten sie die Prozesse unseres vegetativen Lebens: Atmen, Herzschlag, Verdauung 482 mit dunklen Gesamtstimmungen. Nur w o sich Muskelempfindungen mit ihnen verbinden, wie beim Gefühl der Atemnot, erhalten sie größere Deutlichkeit. 483 An diese Gefühle schließen sich nun überhaupt die in den Bewegungswahrnehmungen enthaltenen Empfindungen der Muskelkontraktion, Ermüdung des Muskels, Innervation vielfach an. Endlich werden auch Sinnesempfindungen von geringer Merklichkeit zum Teil
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nicht zur Auffassung von Gegenständen benutzt, sondern mischen sich in den 484 Gemeinzustand unseres Eigenlebens. Auf der Grundlage dieser Gemeingefühle trennen sich die in der Bewegungswahrnehmung enthaltenen Modalitäten der Empfindungen, andererseits die im Hauptsinn enthaltenen. Die Bewegungswahrnehmung ist aus einer Mehrheit von Empfindungen zusammengesetzt. Diese sind in ihr so verknüpft und auf den Zweck der Abschätzung der Bewegung und Orientierung im Räume bezogen, daß wir in der Regel diese Modalitäten nicht unterscheiden. Einen ersten Bestandteil 485 bildet die Druckempfindung der Haut; Störungen der Hauttätigkeit können Unsicherheit der Bewegungen zur Folge haben. 486 Ein zweiter Bestandteil liegt in den Empfindungen, die die Kontraktion des Muskels begleiten; bei Anästhesie der Haut besteht doch die Empfindlichkeit über Unterschiede beim Heben von Gewichten normal fort. Entsprechend dem die Untersuchungen von Sachs 487 über die Ausbreitung sensibler Fasern in den Muskeln. Ein dritter Bestandteil wird in den Innervationsempfindungen zu suchen sein. Der Paralytiker, der sein gelähmtes Bein aufzuheben sucht, hat ein sehr deutliches Gefühl von Kraftanstrengung. Willkürliche Bewegungen sind von einem Anteil des Willens hervorgerufen, von dessen Stärke und Richtung im Bewußtsein eine Wahrnehmung vorhanden ist. Insofern sind die Innervationsempfindungen 488 dem Vorgang verwandt, in dem wir eine verlorene Erinnerung suchen, mit Kraft einen Entschluß fassen. 489 In allen diesen Fällen ist Aufwendung von Energie, Willensarbeit bemerkbar. Es unterscheidet sich aber von diesen Willensanstrengungen das Innervationsgefühl, sofern der Willensantrieb von den motorischen Zentren [her] Erregung im motorischen Nerven hervorruft, die zu Muskelkontraktion führt. Dieser Unterschied hat zur Folge, daß die Empfindung der Innervation peripherisch in den Muskeln, deren Kontraktion eintritt, lokalisiert wird. Geschmack und Geruch bilden ein Sinnespaar als diejenigen 490 Sinne, die im Zusammenhang stehen mit den Sinnen der Nähe und eng verbunden sind mit der Selbsterhaltung. So finden wir die Geruchsorgane am Eingang des Atmungsapparates, des Geschmacks an dem des Ernährungsapparates. Daher sind die Empfindungen dieser Sinne von heftigen Gefühlen begleitet. Dieser Gefühlston gibt ihnen ihren subjektiven Charakter, aufgrund dessen der Ausdruck „Geschmack" von den Leistungen der Sinnesorgane auf die Auffassung von Kunstwerken übertragen ist. Die Empfindungen der beiden Sinne gehen oft ineinander über. Wir unterscheiden im Geschmack sechs Qualitäten, die sich uns als einfache darstellen: süß, sauer, bitter, salzig, alkalisch, metallisch. Alle anderen Geschmacksempfindungen gestatten, dieser als ihre Komponenten gewahr zu
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werden. Damit ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß vielleicht diese in unserem Bewußtsein einfachen Empfindungen doch zusammengesetzt sind. Nuancen scheinen darin nicht zu bestehen. Es mischen sich in sie die Tast- und Muskelempfindungen. (Das Adstringierende von Säuren, die Ekelempfindungen aus Salzen und Bitterstoffen.) Der Qualitätenkreis des Geruchs ist uns noch unvollkommener bekannt als der des Geschmacks. In unserer Empfindung tritt eine größere Zahl unterscheidbarer Empfindungen hier hervor, aber die einfachen auszusondern oder gar in Beziehung zueinander zu setzen, ist uns unmöglich. So sind auch die Bezeichnungen von den Substanzen oder Prozessen hergenommen, die der Geruchsinn als Reize empfindet; auch hier verbinden sich die qualitativen Sinnesempfindungen des Geruchs mit Tastempfindungen und Bewegungswahrnehmungen. Noch stärker drängt sich bei diesem Sinn die Beziehung auf Selbsterhaltung auf, da Gerüche von den stärksten Gefühlen begleitet sein können. Gesichtsempfindungen: 1) In den Gesichts- und Tonempfindungen erweitert sich der Gesichtskreis des Seelenlebens; das ist die Folge davon, daß der adäquate Reiz für den Sehnerven die schwingende Bewegung eines durch den Vollraum verbreiteten elastischen Mittels ist, für den Gehörnerven die Schwingungen der Luft. Daher können beide Wirkungen aus großer Ferne in Empfindungen auffassen, sie sind die Sinne der Ferne. Die Empfindungen dieser höchsten Sinne lösen sich von der engen Verbindung mit dem Eigenleben los und werden ausschließlich auf die Auffassung eines von uns unabhängigen Wirklichen bezogen. Daher werden in den Gefühlen, die diese Empfindungen begleiten, die Eigenschaften dieser Wirklichkeit genossen, als die Schönheit der Welt, losgelöst von der Beziehung auf die Notdurft unseres Eigenlebens. So ermöglichen sie die ästhetischen Wirkungen der Welt und die künstlerische Gestaltung. Daher teilen sich nach Lessings Laokoon 491 die Künste in die des Gesichts und [die des] Gehörs. 2) Diese Leistung des Gesichtssinnes, zunächst uns die Außenwelt aufzuschließen für die Erkenntnis und das zweckmäßige Handeln und den Genuß ihrer Schönheit zu gewahren, ist durch folgenden Apparat ermöglicht. In der knöchernen, fast kugelförmigen Augenhöhle ist der Augapfel eingebettet und mit [Hilfe von] sechs Muskeln nach allen Seiten drehbar. Der Apparat, den dieser Augapfel einschließt, kann der Camera obscura des Photographen verglichen werden. Statt des innen geschwärzten Kastens finden wir hier die straffe, dicke, weiße Sehnenhaut, innen mit der von schwarzem Pigment dicht bedeckten Aderhaut ausgekleidet. Vorn ist in sie die stärker gewölbte, von durchsichtiger Knorpelmasse gebildete Hornhaut eingesetzt. Der Innenraum [des Auges] ist von der Hornhaut ab angefüllt mit der wäßrigen Feuchtigkeit,
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dahinter die Kristallinse, hinter dieser die schwerflüssige, durchsichtige Masse des Glaskörpers. Hier üben492 die Funktionen der verschiebbaren Glaslinsen des Photographen [aus] die unveränderliche Wölbung der Hornhaut und die linsenförmige, weich-elastische, äußerst durchsichtige Kristallinse, deren Wölbung verstärkt werden kann. Die Aufgabe einer Camera obscura, optische Bilder zu entwerfen, wird gelöst, indem Lichtstrahlen, welche von einem leuchtenden Punkt, dem Objektpunkte, ausgegangen sind, so durch die Glaslinse gebrochen werden, daß sie sich hinter ihr wieder in einem Punkte vereinigen, im Bildpunkte. Dasselbe geschieht im Auge. Aber das Bild, das dort auf der photographischen Platte fixiert wird, wird hier entworfen auf der im Augenhintergrund sich ausbreitenden Netzhaut, dem Endapparat des Sehnerven. Die in dem feinen Mosaik der Stäbchen und Zapfen vom Licht hervorgerufenen Erregungszustände haben, durch den Sehnerven zum Gehirn geleitet, die Empfindungen zur Folge, aus denen die Objekte bestehen. Da wir am Gesichtssinn uns eine genauere Vorstellung von den Leistungen dieser Endapparate bilden können, zwischen ihnen aber und den aus ihnen gebildeten räumlichen Objekten ein so weiter Abstand besteht, so ergeben sich hier die wichtigen Grundbegriffe der Empfindungen des seelischen Vorgangs, in dem aus ihnen das Objekt konstruiert wird, und der Wahrnehmung als ihres Ergebnisses. Vgl. Helmholtz, Physiologische Optik, 1867; Thatsachen in der Wahrnehmung, 1878. Denn die Leistungen des Sinnes und seiner Empfindungen bestehen in bloßen Mannigfaltigkeiten qualitativ und intensiv verschiedener Licht- und Farbempfindungen, die im Bewußtsein in einer uns unbekannten Weise aufgrund der Lageverhältnisse im Raum oder des diesen Erscheinungen objektiv Entsprechenden auseinandergehalten und aufeinander bezogen werden. So entsteht die Aufgabe, die psychischen Vorgänge festzustellen, in denen der Aufbau des Bildes der Außenwelt geleistet wird. Hierbei wirken dann freilich mit dem Gesicht[ssinn] das Gemeingefühl, die Bestandteile der Bewegungswahrnehmung und die Druckempfindung der Haut mit. 3) Das Material zu diesem Aufbau. Die Mannigfaltigkeit der Gesichtsempfindungen zeigt eine dreifache Verschiedenheit, die zu Unterscheidungen in den adäquaten Reizen in Beziehung steht: 1. Farbenqualitäten (= Ton); 2. Sättigungsgrad, von der Sättigung der reinen Spektralfarben abwärts im Verhältnis der Beimischung des Weißen abnehmend (Farbenstufe); 3. Lichtintensität. Die Farbenqualitäten, wie sie im Spektrum auftreten, bilden einen Kreis, der vom Rot aus durch Orange, Gelb, Grün, Blau hindurch in dem Violett sich wieder dem Rot nähert. Man kann das fehlende Bogenstück dieses unvollständigen Kreises ergänzen, wenn man die durch Mischung der Endfarben des Spektrums (Rot und Violett) entstehende Farbe (Purpur) hinzufügt. Daß wir Rot, Gelb, Grün, Blau als Hauptfarben ansehen, ist nur durch die
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Färbung besonders wichtiger Objekte und die so entstehende Vorstellungsbildung und Sprachbezeichnung bedingt. In der Farbenblindheit treten merkwürdige Anomalien der Farbenempfindungen auf; sie ist entweder total, dann werden nur Unterschiede der Lichtintensitäten, nicht Farben empfunden, oder partiell, dann fällt ein bestimmter Teil des Spektrums in der Empfindung ganz aus oder ist sehr schwach. Innerhalb des Gesichtssinnes bestehen weitere Gesetze, nach denen bei Gleichheit von O r t und Zeit Farben zu Mischfarben verschmelzen, nach Vorübergang des Reizes die Netzhauterregungen und die hervorgebrachten Lichtempfindungen fortbestehen können (Nachbilder). Bei der Reizdauer tritt Ermüdung der entsprechenden Teile der Netzhaut ein. Aus diesen gesetzlichen Verhältnissen kann eine Anzahl auffallender Erscheinungen erklärt werden. Die für die Psychologie wichtige Frage ist dann, wie weit physiologische Erklärungen solcher Erscheinungen reichen und wo psychische Vorgänge zur Erklärung benutzt werden müssen. Die Gehörsempfindungen: 1. Das O h r dient ebenfalls Bedürfnissen des Eigenlebens, vervollständigt unser sinnliches Bild der Natur. Aber da aus der Verbindung zwischen dem Wechsel unserer Seelenzustände und unserer Stimme Sprache und Musik als Ausdrucksmittel des Seelenlebens entstehen, wird uns in Tönen das Seelenleben der uns umgebenden Menschen zugänglich. 2. Tönende Körper sind in Erzitterung begriffen, die durch die Luft dem Gehörsorgan sich mitteilt. Hinter dessen kunstvollen, diese Wellen leitenden und anpassenden Apparat treffen wir in der Tiefe des Felsenbeines, in das hinein unser inneres O h r ausgehöhlt ist, die Schnecke, eine mit Wasser gefüllte Höhle, ähnlich dem Gehäuse der Weinbergschnecke. In ihr sind die Teile, die die Endigungen des Gehörnerven enthalten und die zusammen als das Cortische Organ bezeichnet werden. Zwar ist die Bedeutung der hier wie Tasten des Klaviers regelmäßig nebeneinanderliegenden Blättchen und anderer Endorgane noch streitig, aber das folgende Prinzip kann aufgestellt werden: Das O h r analysiert zusammengesetzte Luftbewegungen in ihre einzelnen Bestandteile. So müssen wir voraussetzen, daß diese Bestandteile zu besonderen Endorganen in Beziehung stehen. Man kann sich die Endorgane als auf einzelne einfache Töne so abgestimmt denken, daß nur dieser einfache Ton das entsprechende Endorgan in Erregung versetzt. Dies Prinzip hat seine Begründung nicht in anatomischen Feststellungen, sondern in den experimentell aufgefundenen psychophysischen Verhältnissen zwischen Schallwellen, einfachen Tonempfindunge« und von der Stimme oder dem Instrument hervorgebrachten Klängen. 493 So konnte die Tonlehre die psychologisch außerordentlich wichtigen Begriffe der einfachen Empfindungen, die in der Regel im Auffassen nicht gesondert werden und durch die Richtung der Aufmerksamkeit auf die O b -
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jekte und die so entstehende Gewöhnung immer schwerer zu sondern sind, alsdann der Wahrnehmung als einfach aufgefaßter Verbindung dieser Empfindungen darstellen. Ein einfacher Ton ist ein solcher, wie er durch einen Wellenzug von der reinen Wellenform erregt wird: alle anderen We//ercformen, wie sie von den meisten musikalischen Instrumenten hervorgebracht werden, erregen mehrfach zusammengesetzte Tonempfindungen. So sind alle Töne der musikalischen Instrumente als Akkorde mit vorwiegendem Grundton zu betrachten, die begleitenden Obertöne werden in der Regel nicht unterschieden. 3. Die Mannigfaltigkeit der Schallempfindungen zerfällt in Klang, d . h . die durch regelmäßig periodische Schwingungen, und Geräusch, d. h. die durch unregelmäßige Schwingungen erzeugten Empfindungen. Zwischen der unteren Tongrenze, jenseits deren die Schwingungen so langsam sind, daß sie nur als einzelne Luftstöße empfunden werden, und der oberen, jenseits deren sie so schnell sind, daß sie ein zischendes Geräusch bilden, liegt die aufsteigende Reihe der Tonempfindungen, ein Kontinuum, innerhalb dessen ein Ton in einen anderen stetig übergeht. Schallempfindungen sind [außerdem] voneinander nach ihrer Intensität verschieden (Grad ihrer Stärke).
§ 12. Von der Stärke der Empfindungen und deren Verhältnis zu der Stärke der Reize Einen anschwellenden Ton, den wir hören, unterscheiden wir, auch kleine Veränderungen seiner Intensität; 494 wir können aber eine gegebene Stärke nicht als Vermehrung einer früheren bezeichnen. Wir können daher Reize derselben Art nacheinander auf unsere Empfindungen wirken lassen, auch ihre Stärke genau messen, aber nicht die von ihnen erzeugten Empfindungen in bezug auf ihre Intensität bestimmen. 495 Daher sind wir nicht imstande, direkt in den Erfahrungen ein Gesetz aufzuzeigen, das das Verhältnis des Anwachsens von Empfindungen zu dem von Reizen ausdrückt. Die Untersuchungen von Weber 496 hatten Ergebnisse, aus denen Fechner indirekt ein solches Gesetz zu entwickeln suchte (Revision der Hauptpuncte der Psychophysik, Leipzig 1882). Die Untersuchungsreihen haben zunächst für den Bereich mittlerer Reizstärken annähernd folgendes Verhältnis ergeben, wobei die Abweichungen auf die Mitwirkung anderer Faktoren (Ermüdung, Übung) zurückzuführen bisher nicht gelungen ist. Auch ist das gesetzliche Verhältnis nur auf dem Gebiete der Schallempfindungen durchgehend bestätigt, minder auf dem der Licht-, Druck- und Bewegungsempfindungen, gar nicht innerhalb der anderen Empfindungen. Der Unterschied der Reize innerhalb desselben Sinnes[gebietes], der einen eben merklichen Unterschied der
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Empfindungen hervorzubringen imstande ist, besitzt nicht dieselbe absolute Größe. Die gegebene Reizgröße B, die zu Α hinzugefügt einen merklichen Unterschied in der Stärke der so entstehenden Empfindung b von der durch A erzeugten Empfindung a zur Folge hat, kann zu dem verzehnfachten Wert von Α hinzugefügt werden, ohne daß nun diese Hinzufügung einen merklichen Unterschied in der Empfindungsintensität zur Folge hätte. Vielmehr beträgt der Unterschied von zwei Reizen, der eine Unterscheidung der von ihnen hervorgerufenen Empfindungen eben ermöglicht, regelmäßig einen bestimmten Bruchteil der Reizstärke, die der erste der beiden Reize besaß. Man mache nun folgende Voraussetzung: Soll eine eben merkliche Empfindung entstehen, so bedarf es dazu innerhalb jeder Sinnesmodalität einer konstanten Minimalgröße des Reizes. Von dieser ab steigt innerhalb des Sinnesgebietes die Intensität der Empfindung mit dem Wachstum der Reize. Die minimal auffaßbaren Unterschiede in der Skala der Empfindungsintensitäten sind die eben merklichen Unterschiede zwischen zwei einander benachbarten Gliedern der Reihe. Die Voraussetzung ist nun: Diese eben merklichen Unterschiede sind einander gleich. Unter dieser Voraussetzung kann nach Fechner das von Weber aufgefundene empirische Verhältnis in folgende Formel gebracht werden: Ein Unterschied der Reize wird dann als gleich groß empfunden mit einem anderen, wenn das Verhältnis der Reize dasselbe bleibt, als es in dem ersten Falle war. Oder: Soll die Intensität der Empfindungen um gleich absolute Reize zunehmen, so muß der relative Reizzuwachs konstant bleiben. Diesem Satz läßt sich dann der folgende Ausdruck geben, indem er als psychophysische Formel oder Grundgesetz bezeichnet worden ist: Die Stärke der Reize muß in einem geometrischen Verhältnis ansteigen, soll die der Empfindungen in einem arithmetischen zunehmen. 497 Die Zahl, welche den Zusatz ausdrückt, der zu einer Reizstärke hinzutreten muß, um einen merkbaren Empfindungsunterschied zu ergeben, beträgt bei den Lichtempfindungen '/too, [bei den] Muskelempfindungen Vi?, [bei den] Druckempfindungen und [bei den] Schallempfindungen Ά. Sowohl die Frage nach der tatsächlichen Geltung dieses Grundgesetzes als die nach seiner Deutung ist noch offen. Eine Zusammenfassung der Einwände gegen Fechner gibt am besten Elias Müller in „Zur Grundlegung der Psychophysik" 498 [. Kritische Beiträge, Berlin] 1878. Die Versuche ergaben, daß das Gesetz nur innerhalb gewisser Sinnesgebiete, und zwar bei mittlerer Reizstärke, dazu mit erheblichen Abweichungen gültig ist. Die Frage ist, ob die Abweichungen nur aus den mitwirkenden Faktoren, Ermüdung, Übung etc., herstammen. 499 Das Gesetz ist einer dreifachen Deutung fähig: 1) Die physiologische Deutung erklärt das langsame Anwachsen der Empfindung verglichen mit dem der Reize aus den Eigenschaften der Nervensub-
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stanz. Die Erregung im Sinnesnerven wächst nach ihr langsamer als die Reizstärke. Diese Erklärung setzt dann der Erregungsstärke die der Empfindung und schließlich das Urteil über das Verhältnis der Empfindungen proportional. 2) Die psychophysische Deutung Fechners glaubte ein Grundgesetz der Beziehungen körperlicher und geistiger Vorgänge hier gefunden zu haben. 500 Sie setzt das Wachstum der Reize dem der Erregung in der Nervensubstanz proportional und nimmt nun an, daß die Empfindungen im angegebenen Verhältnis langsamer wachsen als die Nervenerregung; dem Verhältnis der Intensität der Empfindungen setzt sie dann das Urteil über dies Verhältnis proportional. 3) Die psychologische Deutung verlegt das Auftreten der gesetzlichen Verhältnisse in die Beziehung zwischen der Empfindung und der auffassenden Tätigkeit. Nach ihr wachsen den Reizen proportional die Erregungsstärken in den Nervensubstanzen, diesen proportional die Intensitäten der Empfindung. Aber die Auffassung des Unterschiedes von zwei Empfindungen im Urteil geschieht stets von der Grundlage des ersten Empfindungszustandes aus. Von diesem aus wird der zweite abgeschätzt. Diese psychologische Deutung ordnet das Gesetz einem allgemeineren der Relativität unter. Insbesondere Wundt vertritt diese Deutung. Der Streit zwischen den drei Deutungen ist selbstverständlich so lange hoffnungslos, als der empirische Tatbestand ein noch so wenig gesicherter ist.
§ 13. Elemente unserer Raumvorstellung Innerhalb des Tast- und Gesichtssinns sind Empfindungen nicht nur nach Qualität und Intensität verschieden, sondern auch in einer bestimmten räumlichen Anordnung gegeben. 501 Die Empfindungen wechseln, während die räumliche Vorzeichnung festgehalten werden kann. So entsteht die Anschauung des Raumes, indem wir die Empfindungen und die aus ihnen zusammengesetzten Objekte wie in ein Gefäß verlegen. 502 Die natürliche Auffassung betrachtet diesen Raum als ein außerhalb unser sich Erstreckendes. Derselbe ist aber nur eine Tatsache unseres Bewußtseins. Die Erklärung dieser Tatsache kann diese Raumvorstellung als ein Ganzes, als angeboren, betrachten. Kant sah sie psychologisch als die Form des äußeren Sinnes 503 an. Joh. Müller nahm psychologisch ein Sich-[selbst]-Gewahrwerden der räumlich erstreckten Sehsubstanz an. Diese Auffassungen stehen mit einer Anzahl von Sinnestäuschungen, mit der Erfahrung an Neugeborenen und Operationen an Blinden in Widerspruch. Der Raum ist aus einfachen Elementen an der Erfahrung entwickelt. Die streng empiristisch entwickelte Raumtheorie versucht aus dem
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Zusammenwirken von Tast-, Gesichts-, Bewegungsempfindungen den Raum abzuleiten. Aber aus Qualitäts- und Intensitätsunterschieden und deren Verhältnissen kann das Auseinander nicht abgeleitet werden. 504 Daher sind wir genötigt, ursprüngliche Raumelemente anzunehmen, die der Tatsache unserer Raumvorstellung zugrunde liegen.
§ 14. Wahrnehmen und Vorstellen Wenn der Reiz aufhört, kann im Sinnesorgan die Erregung fortdauern, dann geht die Wahrnehmung in ein Nachbild über. Wo die Erregung im Sinnesnerven nicht mehr fortbesteht, kann der Inhalt der Wahrnehmung als Vorstellung fortdauern oder reproduziert werden. Der Wahrnehmung steht die Vorstellung, die ohne Zwischeneintreten anderer sich an sie anschließt, der Beschaffenheit nach am nächsten. 505 Fechner nennt sie Erinnerungsnachbild. Treten andere Vorstellungen zwischen [den] Eindruck und seine Reproduktion, so nimmt die Vorstellung an Sinnfälligkeit, Deutlichkeit, Vollständigkeit ab. Der Unterschied zwischen Wahrnehmen und Vorstellen ist bei verschiedenen Personen verschieden groß; die Grenze, die in allen Fällen beide trennt, liegt nicht in der bloßen Verschiedenheit des Grades, sondern in der Abwesenheit der vollständigen Erregung der Sinnesapparate und des hierdurch bedingten Willensganges.
II. Die Zustände des Gefühls § 15. Die Analysis der Gefühlszustände in ihre Elemente506 1) Das507 Gefühl, dessen Merkmal die bloße Zuständlichkeit in Lust und Unlust ist, kommt im Seelenleben nur als eine Teiltatsache desselben vor. Die Aufgabe der Analysis ist, diese Teiltatsache abzugrenzen von den mit ihr verbundenen anderen, und da sie zusammengesetzt ist, sie in die Zustände zu zerlegen, die unterschieden werden können. 2) Die Auflösung dieser Aufgaben würde vollständig nur möglich sein, wenn wir die physiologische Unterlage der Gefühlszustände 508 kennen und experimentell Variationen dieser Zustände herbeiführen könnten. Die physiologische Unterlage ist vorläufig nur vermutungsweise feststellbar. Daher glaubte man, die Selbständigkeit des Gefühlslebens in Frage stellen zu dürfen. Beachtenswerte Untersuchungen s.i. Meynerts Psychiatrie 1884. Er sucht die
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Grundlage der Gefühlszustände 509 in der des Gefäßsystems und [die] so bedingten Veränderungen in der Ernährung und dem chemischen Zustand der Nervenelemente [nachzuweisen]. 3) Das Gefühlsleben zeigt zunächst den qualitativen Unterschied von Lust und Unlust, alsdann eine Skala von Intensitätsgraden, alsdann treten qualitative Modifikationen auf, die von dem Wechsel der Wahrnehmungen und Vorstellungen510 unabhängig sind. Eine solche wird besonders durch die Abstufung der Höhe und des Adels der Gefühle gebildet. Ein weiterer Unterschied der Gefühle liegt in der Form und Art der Ausbreitung derselben im Bewußtsein. Schwache Gefühle von großer Expansionskraft und langer Dauer nennen wir Stimmungen,511 starke in kurzen Stößen Affekte, starke mit großer Expansionskraft und dauernd Leidenschaften.512 Die Art, wie im Schreck das Unlustgefühl in plötzlicher Stärke auftritt, hat etwas Verschiedenes von der Art, wie es sich im Zorn steigert. Da starke Gefühle zumeist Willensvorgänge zur Folge haben, enthalten die letztangegebenen Willenszustände in sich.
III. Zustände des Willens § 16. Die Analysis von Trieb, Begehren, Wille513 1) Der Schmerz kann eine ebenso ursprüngliche Reaktion auf einen Reiz sein als die Wahrnehmung.514 So ersetzt auch im Triebe ein physiologischer Zustand Wahrnehmung und Gefühle, die sonst als Motoren die Unterlage von Willenszuständen bilden. Im Trieb hat der physiologische Zustand Gefühle zur Folge, und diese rufen Spannungen515 des Begehrens hervor, die der Erfahrung der Lust vorausgehen.516 2) Trieb, Begehren und Wille dürfen nicht als verschiedene Arten von Kräften betrachtet werden. Durch unser ganzes Seelenleben geht als Teilinhalt aller seiner Zustände ein Willensvorgang hindurch, der in der inneren Erfahrung als Selbsttätigkeit, Widerstand, den dieser erfährt, Bestimmtheit von außen erfahren wird. Die Regsamkeit des Willens ist folgerecht schon im Neugeborenen vorhanden und vermag nur noch nicht zweckmäßig Bewegungen hervorzurufen. 3) Die physiologische Unterlage der Willensvorgänge liegt in dem System der motorischen Nerven und den mit ihnen verbundenen Muskeln, die Unterlage der Verbindung der Willensvorgänge mit den Zuständen des Gefühls und der Vorstellung in der Reflexbewegung. 4) Wir unterscheiden die Triebhandlungen der Tiere, die der Regel nach
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einem sinnlichen Reize ohne Wahl folgen. Alsdann die Wahl zwischen sinnlichen Reizen, weiter Willensvorgänge, die von einer Vorstellung als ihrem Motiv geleitet sind. Ferner Wahlhandlungen, die zwischen mehreren solchen Motiven eine Entscheidung treffen. Endlich die inneren Willenshandlungen, die in der Aufmerksamkeit und dem Denken die inneren Vorgänge der Seele lenken. Allen diesen Willensvorgängen stehen dann die gegenüber, in denen die innere Tätigkeit unseres Selbst sich bestimmt abhängig von außen findet.
Zweites Kapitel: D i e Elementarprozesse des Seelenlebens § 17. Die Struktur des Seelenlebens Das Seelenleben besteht in der Wechselwirkung mit einer Außenwelt, die als das Milieu desselben bezeichnet517 wird, und zwar ruft sie Wirkungen im Bewußtsein hervor, Wahrnehmungen und Vorstellungen. 518 Das Seelenleben reagiert auf diese im Gefühl, indem die Werte der Objekte 519 für die Selbsterhaltung aufgefaßt werden und abgemessen [werden]. Die Gefühle rufen alsdann Spannung, sei es des Begehrens oder Wollens, hervor. Die einen derselben bringen Veränderungen im Bewußtsein hervor, innere Willenshandlungen, die anderen solche in der Außenwelt, äußere Willenshandlungen. Dieser Zusammenhang ist teleologisch, auf ihm beruht auch die Steigerung in der Stufenfolge des Tierlebens. In seiner einfachsten Gestalt wird er von uns am Kinde aufgefaßt, in dem ein beständiger Kreislauf von Reizen zu Empfindungen, diesen zu Gefühlen, Gefühlen zu Willenserregungen stattfindet.
§ 18. Grade und Weisen520 der Bewußtseinszustände 1) Wir unterscheiden [zunächst] das Gewahrwerden, die Wahrnehmungen von der Vorstellung. 521 Diese beiden Bewußtseinszustände unterscheiden sich nicht nur, wie Hume meint, durch den Grad der Lebhaftigkeit, sondern es besteht ein Qualitätsunterschied zwischen der Art, wie beide auftreten. Die Grenzen zwischen Wahrnehmungen und Vorstellungen werden durch die Tatsachen der Vision, Halluzination, Illusion nicht etwa verwischt oder aufgehoben. Diese abnormen Zustände sind nicht Vorstellungen, sondern Wahrnehmungszustände, denn als ihre physiologische Unterlage muß dieselbe Reizung des Sinnesorganes angenommen werden, die der objektiven Wahrneh-
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mung zugrunde liegt. Dieser Erregungszustand wird nur irrtümlich auf eine äußere Ursache, wie sie der Regel nach die Erregungszustände des Sinnesorgans und Gehirns hervorzurufen pflegen, in dem vorliegenden Fall zurückgeführt. Jede Vorstellung ist als Ganzes oder in ihren Teilen ursprünglich in der Wahrnehmung gegeben gewesen. Auf dem Gebiet der äußeren Erfahrung finden wir zwischen der Wahrnehmung und der Vorstellung nicht nur einen Unterschied quantitativer Art, sondern die Wahrnehmung ist qualitativ von den Vorstellungen verschieden. Doch ist die Lebhaftigkeit der sinnlichen Elemente, die Annäherung an räumliche Projektion bei verschiedenen Personen eine verschiedene, und hierin ist ein wichtiger Unterschied der Anlagen begründet. Auf dem Gebiet der inneren Erfahrungen entsprechen die Unterschiede der äußeren Wahrnehmung und Vorstellung dem [Unterschied] des Erlebnisses und seiner Nachbildung. In dieser wird auch der eigene Zustand zum Gegenstande. Zunächst gehen die äußeren Wahrnehmungen, 522 die mit einem Gefühls- oder Willenszustand verbunden sind, in Vorstellungen über, die Bilder der Personen, der Umgebung. Die Vorstellungen, mit der Wahrnehmung verbunden, werden reproduziert; aber von diesem Vorstellungsinbegriff aus wird die Nachbildung von Gefühls- und Willensakten eingeleitet. Es treten, wo die Folgen eines Tatbestandes für Gefühl und Wille fortdauern, bei lebhafter Reproduktion dieses Tatbestandes in einem neuen Erlebnis Gefühls- und Willensakte auf. Aber es gibt ferner eine Nachbildung des Gefühls- oder Willenszustandes, die sich vom Erlebnis so spezifisch unterscheidet wie die Vorstellung von der Wahrnehmung. Freilich mischen sich in sie in der Regel Neubildungen von Gefühlen oder Spannung des Willens und geben ihnen Lebendigkeit, stören aber andererseits ihre Reinheit, besonders im Kunstwerk. 2) Von jeder Wahrnehmung bleibt im Residuum eine Spur. Hiervon wissen wir durch die Tatsache, daß diese Wahrnehmungen unter bestimmten begünstigenden Umständen im Bewußtsein reproduziert werden können. Berücksichtigt man diese möglichen Reproduktionen, so kann, was- zurückbleibt, als Disposition bezeichnet werden. Weder die erste noch die zweite Bezeichnung523 sagt etwas über die Beschaffenheit der Spur oder Disposition aus. Die erste Bezeichnung 524 charakterisiert in bezug auf ihren Ursprung, die zweite in bezug auf die mögliche Folge. Diese Beschaffenheit der Disposition oder Spur ist entweder als ein physiologischer oder zugleich als ein psychologischer oder ausschließlich als ein psychologischer Zustand zu denken. Denken wir ihn auch als einen psychologischen, so müssen wir ihn nach Analogie der reproduzierten Vorstellung, sonach als Vorstellung denken. Da aber diese Beschaffenheit in der bloßen Disposition zu einer bewußten Vorstellung besteht, so
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entsteht der Begriff einer unbewußten Vorstellung. Die Behauptung unbewußter Vorstellungen als existierend ist eo ipso Hypothese. Einen inneren Widerspruch enthält die Annahme jedoch nicht, 525 nur ungeschickt ist der Ausdruck. Aus den uns bekannten Tatsachen des Gedächtnisses kann zwischen diesen Hypothesen eine Entscheidung nicht getroffen werden. Wir können sie als unbewußte Vorstellungsäquivalente bezeichnen. 3) Nun tritt eine weitere Tatsache hinzu, 526 die uns gestattet, Schlüsse zu machen auf die Zustände von Residuen, die für unser Bewußtsein nicht da sind, nämlich die Wirkung solcher Residuen auf den Verlauf der Vorstellungen527 im bewußten Seelenleben. Das Schlagen der Uhr, Klappern der Mühle. Die Fälle, in denen Energie und528 Färbung unserer Vorstellung bedingt ist durch die Einwirkung von Vorstellungen, die uns nicht getrennt zum Bewußtsein kommen. Die Fälle, in denen der logische Aufbau des Denkens abhängt von der Mitwirkung von Vorstellungen, die nicht getrennt sind und zum Bewußtsein kommen. Begriffe und Sätze bekommen Begründungen und Begrenzung von der Einwirkung des Vorstellungsgefüges, dem sie angehören, ohne daß uns dieses in seinen getrennten Gliedern zum Bewußtsein kommt. Diese Tatsache erklärt sich uns erstens durch die Annahme, daß die Reproduktion von Vorstellungen durch Spuren in dem Gehirn ermöglicht wird; zweitens durch die Annahme, daß der psychologische Tatbestand von Residuis in einem physiologischen sein beständiges Korrelat habe; drittens durch die Annahme, daß diese Spuren oder Dispositionen nur psychologische Tatsachen, unbewußte oder einen geringen Bewußtseinsgrad besitzende Vorstellungen seien. 529 Es 530 kann diese letzte Annahme zunächst fallen, und wahrscheinlich ist es, daß die Reproduktion von Vorstellungen an die Leistungen der Großhirnrinde gebunden ist. Galls Lokalisationslehre; Flourens leitete dann aus seinen Versuchen ab, daß Intelligenz und Wille an das Großhirn gebunden seien und mit der Abnahme der Hirnsubstanz entsprechend Intelligenz und Wille vermindert würden. So wirkt das Großhirn nach ihm gleichmäßig diese Verrichtung aus. Die Rückkehr zu einer verbesserten Lehre von der Lokalisation der geistigen Leistung in einzelnen Partien des Gehirns wurde zunächst durch genauere anatomische Erkenntnis des getrennten Verlaufs der Fasern sowohl der Sinnesais Bewegungsnerven weit in die Gehirnmasse hinein wahrscheinlich gemacht. So gelangt man z . B . zur Voraussetzung einer unterschiedenen Leistung der Provinz der Gehirnrinde, in der der Sehnerv sein Ende findet. Das physiologische Experiment ermöglicht genauere Bestimmungen über die Abhängigkeit der einzelnen seelischen Leistungen von einzelnen motorischen und sensiblen Rindenstellen, aufgrund von Reizversuchen und Ausfallsversuchen. Und nun treten ältere pathologische Erfahrungen unter Gesichtspunkte, durch die sie eine vorher trotz unzähliger Zergliederungen des Gehirns gelähmter und gei-
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steskranker Personen nicht geahnte Bedeutung gewannen. Die wichtigsten dieser Erfahrungen waren die der Aphasie, Sprachstörung, in ihren verschiedenen Formen und Graden sowie der die Aphasie regelmäßig begleitenden Veränderungen im Gehirn. So konnte der Satz feststehen: „Die Reproduktion bestimmter sinnlicher Vorstellungen ist wie ihre erste Wahrnehmung an bestimmte Stellen des Gehirns gebunden." Die Generalisation ist unabweisbar, daß die Reproduktion aller Sinnesvorstellungen an die Leistung getrennter Stellen des Großhirns gebunden ist. Die bequemste Vorstellung ist nun die, daß in den mehr als 600 Millionen Nervenzellen der Großhirnrinde die Bilder sitzen, die von den Wahrnehmungen zurückbleiben; und diese ist auch von den meisten neueren Physiologen zugrunde gelegt worden. Zunächst ist abzuweisen, wenn einige hoffen, von dieser Annahme aus das ganze Seelenleben als Effekt von Gehirnvorgängen ableiten zu können, denn die uns bekannte Mechanik der Gehirnvorgänge gibt uns gar keinen Anhalt, wie ein verneinendes Urteil zum Beispiel als ein solcher Effekt abgeleitet werden kann oder ein Willensentschluß, in dem die Werte von Motiven abgewogen und moralisch bevorzugt werden. Aber auch die Annahme, daß diese als Spuren [der] in den Gehirnzellen sitzenden Bilder das Material der Seelenvorgänge seien, beruht auf der falschen, seit Hobbes durchgeführten psychologischen Vorstellung, die die Vorstellung substantiviert und als Wesenheiten anführt, die in bezug zueinander stehen. Sie ist von dieser falschen Theorie ganz so abhängig, als einst die Phrenologie Galls von der damaligen Vermögenslehre. Wir gehen von der anderen Seite der Sache, von den seelischen Bedingungen der Reproduktion von Vorstellungen, aus, um eine angemessene Auffassung herzustellen: I. Der bewußte Vorstellungsverlauf ist bedingt überall durch den außerhalb befindlichen verdunkelnden Vorstellungszusammenhang. Wenn wir die Schläge einer Uhr, denen wir keine Aufmerksamkeit widmen, nachträglich beachten und dann zusammenzählen können, so kann hier eine Summierung bloß physiologischer Wirkungen nicht stattfinden, denn wie sollte die Wiederholung desselben Reizes getrennte Folgen in den Nerven hervorrufen, die nebeneinander erhalten bleiben. Ebenso ist nicht vorstellbar, wie meine Aufmerksamkeit sich einem leisen Reize aufgrund des Interesses, das doch erst der Vorstellungszusammenhang ihm zuteilt, zuwenden soll, wenn nicht dieser Reiz eine psychologische Folge hervorgerufen hat. Unerklärt ist endlich, daß unser Gedankenlauf durch den Zusammenhang, in dem er steht, der aber nicht deutlich bewußt ist, Bestimmtheit, Begrenzung, Begründung erhält, wenn nur physiologische Dispositionen außer dem deutlich bewußten Vorstellungsverlauf bestehen. II. Die Bestandteile unseres Gedankenlaufs zeigen verschiedene Grade von
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Interesse und so bedingter Bewußtheit. Und wir finden, daß von dem Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit sich diese Grade abstufen im umgebenden Umkreis bis zur Peripherie der Bewußtheit hin. [.. .]531 III. Wie unser bewußter Gedankenlauf Zusammenhang hat, so finden wir auch sein Verhältnis zum erworbenen Zusammenhang der Erfahrungen wirkend und verändernd. 532 Sonach sind auch die verdunkelten Vorstellungsmassen als Zusammenhang da und wirksam. [.. .]533 Das Verhältnis zwischen den physiologischen Bedingungen der Reproduktion von Vorstellungen zu diesem Vorstellungsablauf darf nicht als das von Ursache zu Wirkungen aufgefaßt werden. Aber auch die Formel von einem Parallelismus entspricht den Tatsachen nicht. Näher kann die zunächstliegende Annahme, daß den Zellen der Gehirnrinde die sinnlichen Bilder durch den Wahrnehmungsvorgang mitgeteilt werden und in ihnen verharren, nicht mit den Tatsachen in Einklang gebracht werden. So gestattet unsere gegenwärtige Kenntnis einerseits der physiologischen, andererseits der psychologischen Seite der Vorgänge eine erklärende Theorie noch nicht.
§19. Die Enge des Bewußtseins [1)] Unter Enge des Bewußtseins versteht die Psychologie die Tatsache, daß uns in jedem gegebenen Augenblick nur eine beschränkte Zahl von Wahrnehmungen, von Vorstellungen deutlich bewußt ist, während doch die Zahl der Vorstellungen, die auf diese einwirken, eine viel größere ist; die Zahl derer, die reproduzierbar sind, [ist] eine sehr große. Der Ausdruck ist bildlich. Das Bewußtsein ist nicht ein erleuchteter begrenzter Raum, durch den Vorstellungen gleiten, er substantiviert vielmehr nur eine Eigenschaft der psychologischen Akte. 2) Herbart nahm an, daß nur wenige Vorstellungen zugleich im Bewußtsein sein können. Sein hervorragender Schüler Waitz Schloß aus der Tatsache der Einfachheit der Seele, sie sei in jedem gegebenen Augenblick nur zu einer Tätigkeit befähigt. Da nun Vorstellung Tätigkeit534 ist, könne in jedem Moment nur eine Vorstellung im Bewußtsein sein. Aber Herbarts Theorie von der Einfachheit der Seele stimmt nicht mit der Erfahrung [überein]; Waitz' Konsequenz aus dieser Theorie steht in Widerspruch mit der Tatsache der Vergleichung, durch die Lotze sie widerlegt. Wir vergleichen nur, was wir aneinanderhalten, sonach gleichzeitig besitzen; ebenso wird sie durch die Lustgefühle, die die Harmonie begleiten und umgekehrt, hervorgerufen. 3) Die Frage, wie groß die Zahl der Inhalte sei, die gleichzeitig im Bewußtsein sein können, schien der experimentellen Behandlung zugänglich zu wer-
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den, seit man in der persönlichen Differenz der Astronomen einen einfachen Fall zu besitzen glaubte.535 Dieser aber beweist nur die Enge des Blickpunktes, der Aufmerksamkeit, nicht aber, daß zwei disparate Reize nicht gleichzeitig ins Bewußtsein eintreten oder gar von ihm besessen werden können. Die Versuche von Wundt und Dietze 536 gehen davon aus, daß die Zahl der simultan besessenen Vorstellungen eine unbestimmte ist wegen der Verdunkelung der Vorstellungen an der Grenze des Blickfeldes; sie wählen daher einander folgende Eindrücke, nämlich Pendelschwingungen. Zunächst ergibt sich, daß die günstigsten Bedingungen für den Zusammenbesitz dieser Eindrücke in einer Distanz derselben liegen von 0,3-0,2 Sekunden bei den meisten Beobachtern, alsdann, daß die Vorstellungen mindestens durch Aneinanderschluß von je zweien im Bewußtsein gegliedert werden, daß die Zahl der gleichzeitig besitzbaren mit der Gliederung unter denselben wächst. Läßt man nun sechzehn solcher Pendelschläge von Glockenschlägen umfaßt sein und sechzehn andere darauf folgen, verbindet man im Bewußtsein je zwei dieser Eindrücke, so kann die Gleichheit der Zahl noch richtig beurteilt werden. Bei einer Verbindung von je zwei dieser Gehörseindrücke unter günstigen Bedingungen bildet also die Zahl 16 die Maximalgrenze der gleichzeitig besitzbaren Eindrücke. Steigert man dagegen die Verbindung [zu] der einer feineren rhythmischen Gliederung, dann kann der Maximalumfang der im Bewußtsein so besitzbaren Eindrücke auf vierzig zunehmen. Die Voraussetzung dieser Versuche liegt in der Annahme, daß die Einzelglieder dieser Reihen diskret besessen würden. Die experimentelle Psychologie bedarf überall für ihr Messen dieser Voraussetzung diskreter Einheiten. Aber in Wirklichkeit haben wir nur einen Zusammenhang, dessen einzelne Teile keineswegs als diskrete Größen in deutlichem Bewußtsein zu sein brauchen. Daher erweist sich schon darum ein solcher Versuch [als] fragwürdig in seinen Ergebnissen, weil die Art, wie die erste Reihe am Schluß besessen wird, in bezug auf ihre Anfangsglieder der Art nach nicht verschieden ist von der Art, wie sie noch am Schluß der zweiten Reihe besessen wird. 537
§20. Beziehung des Problems von der Enge des Bewußtseins auf den Vorgang der Aufmerksamkeit 538 Können wir so weder aus der metaphysischen Natur der Seele eine Lösung der Frage nach der Verteilung der Bewußtheit herbeiführen, können wir auch nicht eine einfache Entscheidung auf experimentellem Wege erzielen: so kann doch die Frage entschieden werden durch eine umfassendere Berücksichtigung der in der inneren Erfahrung gegebenen Tatsachen.
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Der Verlauf der Vorstellung, der Grade von Bewußtheit, der Empfindungsaggregate oder Vorstellungszusammenhänge ist zunächst abhängig von dem Interesse. In unserem Eigenleben und Gefühl ist der Anteil begründet, den wir den Empfindungen und Vorstellungen zuwenden. Tritt ein Bewußtseinsaggregat auf, so bestimmt zunächst zwar die sinnliche Stärke desselben den Grad des Interesses. Sobald aber der Zusammenhang desselben zum Mittelpunkt unseres Seelenlebens aufgefaßt wird, so entsteht eine andere Art von Interesse und Gefühlsanteil. Die Stärke dieses Interesses bedingt in erster Linie die innere Erfahrung von Intensitätsunterschieden unserer Vorstellung. Der Gefühlszustand des Interesses ruft alsdann nach der Struktur des Seelenlebens die innere Willenshandlung hervor, die auf das Bewußtmachen und Verarbeiten der Eindrücke oder Vorstellungen gerichtet ist. Diese innere Willenshandlung nennt man Aufmerksamkeit; sie ist unwillkürlich, solange sie nur vom direkten Interesse geleitet ist und mit ihm wechselt. Die willkürliche Aufmerksamkeit entsteht, indem von einem Zweck aus die Seelenakte absichtlich vollzogen, festgehalten, in Zusammenhang erhalten werden. Da nun äußere Reize Assoziationen von Vorstellungen, Ermüdung eine Ablenkung der Aufmerksamkeit herbeizuführen geneigt sind, so ist die willkürliche Aufmerksamkeit mit dem unangenehmen Gefühl der Anstrengung verbunden. Der Kraftaufwand des Willens wird im Spannungsgefühl, [im] Anstrengungsgefühl wahrgenommen. Daher entsteht der Begriff der geistigen Arbeit. Daß diese Willenshandlung in bezug auf ihre Energie und Dauer begrenzt sei, kommt uns zur Erfahrung, wenn wir vergeblich die Störungen fernzuhalten, den Faden eines vom Zweck geleiteten Denkzusammenhanges festzuhalten streben, oder wenn nach längerem Andauern solcher Anstrengung die Aufmerksamkeit ermüdet, Zerstreuung oder Wechsel des Interesses gegen unseren Willen herbeigeführt wird. Aus dieser Beschränktheit des Kraftaufwandes, über welchen wir in einer gegebenen Zeit verfügen, folgt die Tatsache, daß mit der Zunahme der Intensität unserer Aufmerksamkeit ihr Umfang abnimmt. Das Verhältnis der Intensität zum Umfang konnte bisher noch nicht experimentell quantitativ bestimmt werden. Da die Leistung der Aufmerksamkeit in der Steigerung der Bewußtheit, sonach Feststellen von Unterschieden, andererseits Herstellen von Beziehungen besteht, so ergibt sich hieraus weiter: Im Grade, in dem wir uns einem engeren Umkreis von Inhalten [durch] klares, deutliches Auffassen und mannigfaches Verbinden zuwenden, nimmt das Bewußtsein der angrenzenden Vorstellungen ab. Endlich nimmt mit dem Wachstum der Intensität der Aufmerksamkeit die Dauer ab, in der wir sie bei einem Vorstellungsinbegriff festhalten können. So tritt also die Tatsache der Enge des Bewußtseins in den Zusammenhang des obersten Gesetzes von der Struktur des Seelenlebens. Die Verteilung der
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Bewußtheit zwischen unserer Vorstellung ist abhängig von dem inneren Zusammenhang, in dem Empfindungsaggregate oder Vorstellungszusammenhang zum Mittelpunkt unseres Seelenlebens in den Gefühlen treten, [ist] abhängig also von der Verteilung des Interesses. Diese aber bedingt zunächst die Willenshandlung der Aufmerksamkeit. Auf den Wechsel, der nun hier stattfindet, wirken ein: 1. Unterscheidungen von Wahrnehmung und Vorstellung, und zwar nach den Sinnesgebieten, in denen Inhalte auftreten, 2. von Hervorbringen und Aufbewahren von Inhalten, 3. von Graden des Anteils, Verteilung des Interesses und dadurch bedingter Verteilung von Aufmerksamkeit. Und zwar wirken diese Unterscheidungen bei verschiedenen Individuen sehr verschieden. Man bemerke vor allem, daß lebendiges Interesse noch nicht die Energie des Willens in der Aufmerksamkeit zur Folge hat, vielmehr erstmals Individuen von lebendigem Interesse zu anhaltender Aufmerksamkeit wenig befähigt sind. Dies beweist auch hier, daß der Wille zwar von Gefühl bedingt, aber nicht Folge ist. Sinnesinhalte können bei gleich verteiltem Interesse gleichzeitig in unbestimmt großer Zahl im Bewußtsein besessen werden, und zwar können sie disparat in Rücksicht auf die Reizklassen sein. Spencer bemerkt, daß fünf disparate Reihen von Sinneseindrücken gleichzeitig nebeneinander durch das Bewußtsein gehen können: Gesichts-, Gehör-, Tast-, Temperatureindrücke neben einer Vorstellungsreihe. Innerhalb jeder Klasse kann gleichzeitig eine Mannigfaltigkeit besessen werden. Auch eine große Zahl von Vorstellungsinhalten kann das Bewußtsein bei gleich verteiltem Interesse zusammen besitzen. Wie groß diese Zahl sein kann, diese Frage konnte nicht durch die oben erwähnten Versuche entschieden werden, denn eine solche Mannigfaltigkeit von Zuständen wird stets in Zusammenhang zu bringen gesucht. Dieser Zusammenhang aber ist uns in vielen Fällen in einem Umriß gegenwärtig, während doch die einzelnen Inhalte nicht klar und deutlich voneinander unterschieden werden. O b das Bewußtsein eine Mehrheit disparater Empfindungen gleichzeitig hervorbringen kann, kann in bezug auf interesselose und darum gering merkliche Eindrücke nicht beobachtet werden. Unsere Aufmerksamkeit aber kann immer nur das Hervorbringen eines Sinnes- oder Vorstellungszusammenhanges zum Zweck sich nehmen, denn die Richtung einer Willenshandlung ist immer nur eine.
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§21. Die quantitativen Untersuchungen des Umfangs der Aufmerksamkeit und die Bestimmung der Apperzeptionszeit, überhaupt die Messung der Zeit, die psychische 539 Vorgänge in Anspruch nehmen Der vorletzte Satz kann experimentell bewiesen werden. Die Versuche wurden veranlaßt durch eine Beobachtung, die von den Astronomen bei der Bestimmung der Zeit des Durchganges eines Sternes durch den Meridian des Beobachtungsortes gemacht wurde. Einige Zeit, ehe er den mittleren Vertikalfaden des Fadennetzes, der mit dem Meridian zusammenfällt, erreicht, sieht der Beobachter nach der Uhr und zählt dann nach den Sekundenschlägen derselben die Sekunden weiter. Er muß sich den Ort des Sternes beim letzten Sekundenschlag vor dem Durchtritt des Sternes merken, ebenso seinen Ort beim ersten Sekundenschlag nach dem Durchtritt. N u n zeigte die Vergleichung zweier der Aufzeichnungen verschiedener Beobachter auffällige Differenzen. Diese erklären sich daraus, daß im Gesichtssinn und Gehörsinn bei dem so durch den Zweckzusammenhang der Untersuchung erregten Schwanken nie gleichzeitig Apperzeption eintritt und die Apperzeptionsdauer bei verschiedenen Beobachtern verschieden ist. An diese Tatsache schlossen sich Versuche, die Apperzeptionsdauer überhaupt zu bestimmen. Hierbei verstehen wir unter Apperzeption die Aufnahme unserer Empfindung im Zusammenhang des Bewußtseins infolge der Willenshandlung von Aufmerksamkeit. N u n kann die Zeit, die zwischen dem Wirken eines Reizes und seiner Registrierung durch die Versuchsperson verfließt, nicht direkt gemessen werden, aber es kann experimentell festgestellt werden, wie lange zwischen dem Auftreten des Reizes und seiner Vollendung verfließt. Dieser Gesamtvorgang setzt sich dann aus folgenden einzelnen [Vorgängen] zusammen: 1. der Leitung vom Sinnesorgan zur Sinnesfläche des Gehirns, 2. der Perzeption, d. h. der Entstehung des Empfindens oder des Empfindungsaggregates, 3. der Apperzeption, d. h. der Aufnahme der Empfindung oder des Empfindungsaggregats in den Zusammenhang des Bewußtseins und der Zuleitung der Aufmerksamkeit, 4. der Willenserregung, die von der Apperzeption bedingt und auf eine Bewegung gerichtet ist, 5. [der] Leitung der motorischen Erregung zu den Muskeln und dem Anwachsen der Energie in ihnen bis zur Ausführung dieser registrierenden Bewegung. 1 und 5 sind rein physiologisch, 2 und 4 psychologisch, sie umschließen in 3 die Apperzeption. Die Gesamtzeit, die der ganze Vorgang in seinen fünf Gliedern braucht, wird als einfache Reaktionszeit bezeichnet, sie erreicht bei Einwirkung eines mäßigen, einfachen Reizes von bekannter Beschaffenheit V« bis Vi Sekunde. Die Apperzeption wird erreicht, wenn auch die Eintrittszeit des Reizes bestimmt ist, alsdann nimmt die Dauer des Vorganges sehr ab. Ebenso
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können Erschwerungen 540 herbeigeführt werden des psychologischen Vorganges, indem Art und Klasse unbekannt sind sowie Stärke des Reizes. Dann verlangsamt sich die Apperzeption; schon wenn sie nicht einer bestimmten Stärke des Reizes vorher angepaßt ist, verlängert sich die Zeit, der sie bedarf. Ein in jeder Rücksicht unerwarteter Reiz kann bis Vi Sekunde Reaktionszeit beanspruchen. Wundt geht nun davon aus, daß der psychologische Anfangsund SchlußVorgang durch die Erleichterung und Erschwerung nicht beeinflußt werde. So sieht er die Zeitunterschiede hauptsächlich durch den Wechsel in der Dauer der Apperzeptionszeit und Willensreaktionszeit bedingt. So gewinnt er die Möglichkeit, diese psychologischen Vorgänge in bezug auf ihre Dauer zu messen. Jedoch ist die Wirklichkeit der Ergebnisse abhängig von dieser seiner Voraussetzung, die nicht nur unbewiesen, sondern sogar unwahrscheinlich ist. Man kann nun folgende Voraussetzungen machen: Die Vorgänge, die vom Eintreten des Reizes bis zum Vorgang, in dem der Eindruck in den Zusammenhang des Bewußtseins aufgenommen wird, [reichen], kann man als eine im ganzen konstante Zeitgröße behandeln. Alsdann diejenigen, die von dem Vollzug der Aufnahme in das Bewußtsein bis zur Registrierung des Eindrucks verlaufen. Unter diesen Voraussetzungen kann man aus der einfachen Reaktionszeit durch Subtraktion der zwei eben bezeichneten Zeitgrößen die Dauer des Vorgangs der Aufnahme eines einfachen Eindruckes in dem Bewußtsein ableiten. Diese beträgt dann durchschnittlich V12-V.ίο Sekunde, also mehr als die Zeiten der umschließenden Vorgänge. Man kann nun weiter zwischen Reiz und Bewegung anstatt der Aufnahme eines einfachen Reizes im Zusammenhang des Bewußtseins kompliziertere Vorgänge einschalten und die Zeit messen, deren alsdann der Gesamtvorgang bedarf. Diese Zeit wächst, wie zu erwarten ist, mit der Komplikation des eingeschalteten psychologischen Vorganges. Macht man nun die weitere Voraussetzung, daß dieser eingeschaltete Vorgang in Bestandteile zerlegt werden kann, daß diese Zerlegung auf allgemeingültige Weise vollzogen werden kann, daß die Zeitdauer des Vorganges erstens beim Hinzutreten von [komplizierten Bedingungen wächst], zweitens dieselbe bleibt usw., dann können folgende Schlüsse gezogen werden. Man kann zunächst statt der Aufnahme eines Reizes in dem Bewußtsein die Unterscheidung zweier oder mehrerer von den Versuchspersonen vornehmen und ihren Vollzug registrieren lassen. Die Zeit, deren dieser Vorgang, wenn die Dauer der Aufnahme in das Bewußtsein abgezogen wird, alsdann bedarf, nennen wir die Unterscheidungszeit. Man kann ferner die Versuchsperson etwa R o t mit der rechten Hand registrieren lassen, Grün mit der linken, alsdann tritt eine Wahlzeit hinzu, oder man kann an die Aufnahme des Eindrucks in das Bewußtsein Assoziationen knüpfen und die Dauer messen, deren ihr Vollzug je nach ihrer
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Art und Ausdehnung bedarf. Diese Dauer nennen wir Assoziationszeit. Ein einfacher Unterscheidungsakt erfordert Άο-Άο Sekunde, die Erkennung einer einfachen Zahl '/ίο Sekunde, die einer sechsstelligen Zahl mindestens eine ganze Sekunde, eine einfache Wahl zwischen rechter und linker Hand bedarf ca. derselben Zeit als ein einfacher Unterscheidungsakt. Zu der Wahl zwischen zehn Belegungen ist ungefähr eine Vi Sekunde nötig. Daß wir Worte als einheitliche Bilder auffassen, geht hier daraus hervor, daß wir wenig mehr Zeit zur Auffassung eines ein- bis zweisilbigen Wortes brauchen als zu der eines Buchstabens. Der Vollzug einer Assoziation erfordert durchschnittlich Vi-^A Sekunden; hier treten sehr interessante Unterscheidungen hervor, indem die einen Versuchspersonen schneller nach logischen Bezeichnungen, die anderen nach bloß äußerlichen Verbindungen schneller assoziieren. Ein einfacher Untersatz, der einen plötzlich dargebotenen Begriff einem allgemeinen Gattungsbegriff unterordnet, braucht ca. Vio Sekunde mehr als eine Assoziation. Ich habe die Voraussetzungen hervorgehoben, unter denen allein diese experimentellen Ergebnisse Gültigkeit haben, die zur Zeit als völlig gewiß festgestellt werden. Diese Versuche schlossen sich an die Beobachtung der persönlichen Differenzen der Astronomen. Es wurde versucht, die Größe der Reaktionszeit zu bestimmen von [J.] Hartmann in [J. Α.] Grunert, Archiv für Math[ematik] und Physik [, mit besonderer Rücksicht auf die Bedürfnisse der Lehrer an höheren Unterrichtsanstalten, Greifswald, Bd. 31] 1858, von [Α.] Hirsch und [E.] Plantamour in [J.] Moleschott [Hrsg.], Untersuchungen [zur Naturlehre des Menschen und der Thiere, Gießen 1865] Bd. IX [, S. 183-199 und S. 200-208]. Diesen Methoden waren dann die Versuche von Wundt nachgebildet, die er 1861 der Naturforscherversammlung vorlegte in Speyer (Tageblatt [der Naturforscherversammlung zu Speyer] p. 25). Alsdann haben [F. C.] Donders und seine Schule, [J.J.] De Jaager [De physiologische Tijd bij psychische Processen, Utrecht] 1865, Donders selbst im Archiv für Anatomie [, Physiologie und wissenschaftliche Medicin, Leipzig] 1868 Versuche angestellt, die Wahlzeit zwischen zwei Bewegungen experimentell festzustellen. Vgl. [Karl von] Vierordt „Der Zeitsinn nach Versuchen" [, Tübingen] 1868. Diese Arbeiten sind alsdann von Wundt und seiner Schule vervollständigt worden, und Wundt hat in seiner „Psychologischen Physiologie]" (II, 2. [Aufl.], 219 ff.) diese Beobachtungsreihe über die Dauer von Reaktionsvorgängen zu verwerten versucht. Doch ist dieser Verwertung entgegenzuhalten, daß sie nur unter den angegebenen, höchst fraglichen Voraussetzungen Gültigkeit hat. Spätere Versuche von seinen Schülern in dessen philosophischen Studien seit 1882, Bd.I, 39ff., 213ff., 495ff.; [Bd.] II, Iff., 73ff., 603ff., 635ff. 5 «
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§22. Der so entstehende Zusammenhang des Seelenlebens und die Erklärung der Tatsachen von Verdrängung einer Vorstellung aus dem Bewußtsein und Wettstreit von Vorstellungen aus diesem Zusammenhange 542 1) Psychologische Elemente oder Verbindungen dauern fort und können reproduziert werden. Dies darf nicht mit Herbart mechanisch als Beharren bestimmt werden, denn das Dauern einer Vorstellung ist nicht selbstverständlich und unbegrenzt. Wir halten eine Vorstellung nur fest, weil ein vom Eigenleben und Gefühl bedingtes Interesse besteht. Wir reproduzieren die Vorstellung ebenso in dem Zusammenhang mit dem Interesse. Sonach ist es der Zusammenhang, in dem nur eine Wahrnehmung oder Vorstellung im Seelenleben mit dem ganzen Erwerb desselben verbunden ist, der über den Anteil entscheidet, den sie hervorruft, und die Aufmerksamkeit bestimmt, die ihr zugewandt wird. 2) Eine Wahrnehmung oder Vorstellung kann aus der Enge des Bewußtseins verdrängt werden; 543 auch dies ist in dem Anteil der Seele bedingt, der ihr zuteil wird. Es kann ein Wettstreit zwischen mehreren Vorstellungen oder Wahrnehmungen entstehen, wenn unsere Aufmerksamkeit die eine festzuhalten strebt, indes der anderen ein starkes Interesse zuteil wird.
§23. Einheit des Bewußtseins [1)] Unter Einheit des Bewußtseins versteht man die Tatsachen des Vergleichens und Unterscheidens, der Abwägung und die Bedingungen, unter denen diese Tatsachen verständlich sind. 544 Was im Bewußtsein verglichen oder bezogen wird, muß einerseits unverändert und unvermischt nebeneinander bestehen, andererseits muß es gleichzeitig in einem unteilbaren Akte aneinandergehalten werden. Derselbe einheitliche Akt findet bei der Abwägung von Antrieben, Motiven gegeneinander statt. So gestattet diese Tatsache eine Grundeigenschaft [des Seelenlebens] festzustellen, durch die dasselbe sich von dem Verhalten des Räumlichen gänzlich unterscheidet. Unabhängig von der Stelle im Zusammenhang des Seelenlebens, die ein Bestandteil einnimmt, kann er mit jedem anderen [anjeinandergehalten werden, identifiziert und unterschieden werden. Sofern wir diese Grundeigenschaft als Einheit des Bewußtseins bezeichnen, ist sie alsdann inneren Wahrnehmungen erschlossen. Die Einheit des Bewußtseins ist von Piaton bis Lotze benutzt, [um] den metaphysischen Begriff einer seelischen Substanz zu begründen. Zuerst ward sie von Piaton verwertet. Wenn wir das in verschiedenen Sinnen Gegebene vergleichen wollen, setzt das ein von den Sinnesorganen Verschiedenes voraus, in dem die Vergleichung sich vollzieht: die Seele.
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Aristoteles sagte, das Urteil: „Süß ist nicht weiß", ist unmöglich, wenn diese Empfindungen an verschiedene Objekte verteilt werden. Daher muß die Seele als nichtteilbares Subjekt betrachtet werden. Plotin: Damit die Einheit eines Objektes entstehe oder Empfindungen verglichen werden können, müssen die Sinneseindrücke sich in einer unräumlichen, unteilbaren Einheit begegnen. Brachte ein materieller Teil Α eine Empfindung a, ein anderer [Teil] Β eine [Empfindung] b hervor, dann entstünde eine Vergleichung von a und b hierdurch, als wenn ganz verschiedene Personen diese verschiedenen Eindrücke hätten. Leibniz, Wolff, Mendelssohn haben so von der Einheit des Bewußtseins auf eine [imjmaterielle Seelensubstanz geschlossen. Kant bestritt diesen Schluß aus der Annahme der Phänomenalität der inneren Erfahrungen. Herbart und Lotze verteidigten ihn und haben auf ihn ihre Psychologien gegründet. 2) Eigenschaft der Einheit des Bewußtseins. Die Linie psychischen Lebens läßt rückwärts verschwinden die Inhalte aus dem Zusammenhang, vorwärts in ihn solche eintreten. Wären die Inhalte in unserem Bewußtsein nicht miteinander verbunden, so besäßen wir die Kontinuität des Bewußtseins nicht. Daß wir einen Satz auffassen, dazu genügt nicht, daß Lautbilder und Vorstellungen dessen, was sie bedeuten, einander folgen wie Einzelpersonen, sie müssen vielmehr in den unteilbaren Handlungen des Bewußtseins ineinandergehalten und aufeinander bezogen werden. 545 Die nächste Bedingung dieser Leistung ist darin, daß die im Bewußtsein zusammentreffenden Teilinhalte nicht als Faktoren in ein Produkt verschwinden, sondern im Bewußtsein fortbestehen. Die weiteren Bedingungen aber sind, daß sie zugleich, obwohl getrennt, unterschieden, doch in der einheitlichen und [unheilbaren Handlung der Vergleichung oder Beziehung zueinander sind. Hier drückt sich die gänzliche Verschiedenheit der Grundeigenschaften des Seelenlebens von denen der materiellen Welt am deutlichsten aus. 3) Die Schlüsse aus dieser Tatsache. Die Einheit des Bewußtseins kann nicht aus einzelnen psychischen Elementen abgeleitet werden, sie ist vielmehr die allgemeine Bedingung, unter der allein Sinnesinhalte zur Einheit des Gegenstandes verknüpft werden. Der Schluß aus ihr auf eine reale Sinneseinheit ist innerhalb gewisser Grenzen berechtigt, denn nur in unteilbarer Einheit der Handlung können Sinnesinhalte zur Einheit des Objektes oder zum Urteil verknüpft werden, können Sinnesinhalte verglichen oder Antriebe gegeneinander abgewogen werden. Es kann in einem Zusammenhang materieller Elemente der Grund für diese Leistungen nicht gefunden werden. Betrachtet man die Grundlagen der mechanischen Naturauffassung, besonders die Atomistik, dogmatisch als Summe von
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Wirklichkeiten, dann muß jenseits derselben die Seele als eine weitere Wirklichkeit angenommen werden. Betrachtet man die mechanische Naturordnung als Erscheinungen von etwas, das nicht räumliche, diskrete Materie ist, so fällt die Schwierigkeit weg, Seelenleben zu den psychologischen Vorgängen in eine Beziehung zu setzen. In beiden Fällen bleibt gewiß, daß die Einheit des Bewußtseins zu ihrer Voraussetzung unteilbare, immaterielle Handlungen des Bewußtseins hat. Die Stellung dieser Seelenvorgänge zur Materie kann deshalb nicht bestimmt werden, weil die wahre Beschaffenheit der äußeren Erscheinung uns unbekannt ist. Diese Grundlagen für die Uberzeugung von einem unräumlichen, den materiellen Vorgängen unvergleichlichen Seelenleben werden erweitert durch die Tatsachen des Selbstbewußtseins und der Freiheit. Dagegen ist die Unterordnung der Tatsachen des unteilbaren Lebenszusammenhangs unserer Seele unter den Begriff der Substanz zu verwerfen. Die Einheit des Seelenlebens ist uns nur als Zusammenhang des Einwirkens der Vorgänge untereinander gegeben. Zu dem Schluß aber auf substantielle Träger hinter ihnen sind wir nicht berechtigt.
§ 2 4 . Der elementare Prozeß der Verschmelzung Der Vorgang der Anschauung erweckt unter bestimmten Bedingungen den ihm ähnlichen früheren Akt, der nunmehr Disposition geworden ist, zum Bewußtsein und verschmilzt in ihm ganz oder zum Teil, nur daß das im Bewußtsein erhalten bleibt, daß hier frühere Akte stattgefunden haben. Das Ineinstreten der entsprechenden Inhalte und das Ineinssetzen derselben, das Auftreten der Unterscheidungen und der Akt der Unterscheidung sind nur voneinander unterschieden durch die Art von Aufmerksamkeit, die den Vorgang begleitet. Hierbei unterscheiden sich folgende Fälle: 1) Die Verschiedenheit, die zwischen dem Inhalt der ganz wieder zurückgerufenen Vorstellungen und der ganz vollzogenen Wahrnehmung bestehen würde, hindert nicht an sich eine vollständige Verschmelzung. Die Vorstellung muß nicht in einem jeden Fall wie ein toter Tatbestand so zurückkehren, wie die Spur früherer Eindrücke es ermöglicht. Die Wahrnehmung braucht nicht alle in der Empfindung gegebenen Elemente zu benutzen. So kann der Vorstellungsverlauf infolge der von den Gefühlen aus bedingten Verteilung der Bewußtseinserregung es mit sich bringen, daß nur die gleichen Elemente sowohl der Wahrnehmung als der Vorstellung reproduziert werden. Entweder die gegenwärtige Wahrnehmung überwiegt an Interesse und macht von der Vorstellung nur die ihr gleichen Elemente bewußt, oder die reproduzierte Vorstellung überwiegt und läßt die Wahrnehmung nur innerhalb der ihr gleichen
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Elemente vollziehen. 546 Wenn dagegen das Interesse entweder der Wahrnehmung und der Vorstellung gleichmäßig zugewandt ist oder eines, eine differente Partie der Wahrnehmung oder eine solche der Vorstellung, das Interesse auf sich ziehen [würde], so wird zwar die Vorstellung von den gleichen Bestandteilen aus reproduziert, aber das Bewußtsein wird auch zu den ungleichen übergeleitet. Nur selten treten in unserem Bewußtsein bloße Wahrnehmungen auf, fast immer werden sie früheren Eindrücken eingeordnet, und stets werden mindestens Teile der neuen Wahrnehmung mit älteren Eindrücken verschmolzen. So entstehen die festen Objektbilder und Allgemeinvorstellungen, [ein] näherer Zusammenhang, den unser Seelenleben bildet; sie sind die Bedingungen für die Entstehung unserer Sprache. Die Allgemeinvorstellung ist sonach Vollzug einer Einzelvorstellung, die vom Bewußtsein einer Mehrheit von Akten der Verschiebbarkeit ihrer einzelnen Inhalte in diesen Akten begleitet ist. Denn eine Vorstellung, die wirklich allgemein wäre, ist genaugenommen ein Widerspruch. 547
§ 2 5 . Zweiter Grundvorgang: die Assoziation und ihre Gesetze. Erklärung der zusammengesetzten psychischen Erscheinungen und Tatsachen des Gedächtnisses 1) Reproduktion und Assoziation. Unter Gedächtnis verstehen wir eine Kraft der Seele, die die Reproduktion von ehemals im Bewußtsein aufgetretenen Wahrnehmungen oder Vorstellungen ermöglicht. Eine solche Kraft im Sinne der Vermögenslehre besteht nicht, vielmehr müssen wir die gesetzmäßigen Beziehungen der Vorgänge untereinander aufsuchen, die als Ursachen die Reproduktion zur Wirkung haben. Die Reproduktion tritt aber in einer doppelten Weise auf: Durch eine Anstrengung des Willens rufen wir Wahrnehmungen oder Vorstellungen in das Bewußtsein, wir besinnen uns auf etwas: Wir bezeichnen den Vorgang als willkürliche Assoziation. Oder ohne unsere Absicht, ja oftmals gegen unseren Wunsch treten Vorstellungen in dem Bewußtsein auf: Wir nennen diesen Vorgang unwillkürliche Assoziation. Dies sind die Tatsachen der Reproduktion. Die Bedingungen, die wir der Reproduktion zugrunde legen müssen, sind: 1) Ineinandertreten des Gleichen und Ahnlichen, bildlich Verschmelzung genannt. 2) Ein Verhältnis zweier ungleicher Inhalte, das wir bildlich als Assoziation bezeichnen. Sonach ist Assoziation das Verhältnis zweier ungleicher Inhalte, das wir, um einen Kausalzusammenhang herzustellen, annehmen müssen zur Erklärung der gegenseitigen Reproduktion ungleicher Gebilde.
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Der Begriff Assoziation hatte ursprünglich einen weiteren Umfang. Aristoteles hatte als einen Zusammenhang von Bewegungsvorgängen das Sich-Besinnen und das Gedächtnis beschrieben. Hume zuerst versuchte nach Analogie der Gravitation die Kräfte, welche die Reproduktion ermöglichen, zu entdekken. Vorstellungen haften nach ihm aneinander in einer der Anziehung vergleichbaren Art nach den Grundverhältnissen von: 1) Anziehung und Kontrast (Gemälde und Original), 2) Anstrengung in Zeit und Raum (Zimmer - Haus), 3) Ursächlichkeit (Wunde - Schmerz). Diese Grundverhältnisse wirken als Kräfte, die das Haften der Vorstellungen herstellen, deren Folge dann Reproduktion ist. Wir trennen das erste Grundverhältnis, das Verschmelzung und Verbindung derselben mit Assoziationen zur Unterlage hat, von den zwei anderen, in denen eine Reproduktion zweier ungleicher Inhalte statthat, kraft deren dieselben außereinander bleiben, aber einander wieder aufrufen. Dieses Verhältnis nennen wir Assoziation. Das Problem ist nun das folgende: Wie ist der Kausalzusammenhang zu denken, in dem Verschmelzung und Assoziation die Gedächtniserscheinungen zur Folge haben? Wie können wir aufgrund von Schlüssen aus diesen Erscheinungen die eben als Assoziation bezeichnete Tatsache näher bestimmen? 2) Das Gedächtnis. Die Tatsache des Gedächtnisses kann nicht durch Gedächtnisvermögen erklärt werden; ein solcher Begriff drückt nur den Tatbestand aus, aber erklärt ihn nicht. Ihn erklären heißt: die Bedingungen angeben für die Akte der Reproduktion, die Gleichförmigkeiten in diesen Akten auf Gleichförmigkeiten in den Ursachen zurückführen. So entsteht eine Kausalerklärung. Diese Bedingungen bestehen nun in dem ersten kontinuierenden Erfahrungsvorgang, in dem ein Verband gestiftet wurde, alsdann in den späteren Akten, in denen dieser Verband wieder vorkam, aufgefaßt mit Berücksichtigung der Zwischenräume zwischen ihnen, endlich in dem gegenwärtigen Bewegungszustand, von dem aus die Reproduktion stattfindet, wiederum mit Hinzunahme des Zwischenraumes bis zum letzten vorhergegangenen Akte, den der Verband enthält. In diesen Akten sind folgende Faktoren (Ursachen) zu unterscheiden, die Möglichkeit und Art der Reproduktion beeinflussen: 1) Inhalte und Verbindungsweisen derselben, 2) das Interesse, das die Seele ihnen in den einzelnen Akten zuwandte, und dadurch bedingt Aufmerksamkeit und Bewußtseinserregung, 3) die Zahl der Wiederholungen und deren Leistung, 4) die Abstände der Zeiten, die alle diese Akte voneinander trennen. 548 Die Grundtatsachen, die die Reproduktion ermöglichen, sind Verschmelzung und Assoziation. Die Assoziation kann auf das folgende Grundverhältnis zurückgeführt werden: Gebilde, die in der Einheit eines Bewußtseinszustandes miteinander vereinigt
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waren, erfahren hierdurch in bezug auf die Reproduktion eine Veränderung, nach der die aneinandergrenzenden Gebilde sich gegenseitig reproduzieren und auch die durch Zwischenglieder getrennten eine Erleichterung in bezug auf Herstellung der Reproduzierbarkeit empfangen. Der Bewußtseinszustand, in dem der Verband gestiftet wurde, kann [als] in doppelter Weise auf den gegenwärtigen Akt wirkend gedacht werden: entweder als nur physiologisch oder als psychologisch. Zu dieser Bedingung, die der Herstellung des Verbandes durch den ersten Akt der Erfahrung oder auch der Phantasievorstellung zugrunde liegt, treten in den meisten Fällen später Reproduktionen. Erst die letzte Bedingung liegt im gegenwärtigen Bewußtseinszustand; aus ihm erklärt sich der Vorgang der Reproduktion. Derselbe ist das Produkt von Dauer, Zahl und Abstand der Akte, Art und Stärke des Verbandes, endlich des Interesses. Daher erhalten sie zunächst Wahrnehmungen geringerer Stärke und geringeren Interesses, das aus dem Zusammenhang mit dem Eigenleben kommt, überhaupt nicht so im Zusammenhang des Bewußtseins ist, daß derselbe sich zu reproduzieren vermöchte. Die Reproduktionsfähigkeit wächst einerseits mit dem Gewicht der Verbindung und nach dem Verhältnis ihres Inhaltes. Sie wächst alsdann in dem Verhältnis ihres Inhaltes, von Zahl, Dauer und Intensität, bedingt durch Interesse der Bewußtseinsakte. Sie nimmt ab in dem Verhältnis des Abstandes des Aktes.549 Verbindungen derselben Festigkeit werden leichter als Glieder einer längeren Reihe reproduziert, als wenn etwa nur zwei Inhalte miteinander verkettet sind. Die Reproduktion ist leichter in der eingewöhnten als in umgekehrter Richtung. Akte der Verbindungen wirken nicht nur auf die Assoziation der unmittelbar aneinandergrenzenden Inhalte, sondern auch die durch Zwischenglieder getrennten werden durch diese Akte leichter gegenseitig reproduziert. Vermöge der sogenannten Enge des Bewußtseins, der gemäß Vorstellungen mit Aufmerksamkeit nur nacheinander erzeugt werden können, wird ein zusammengesetzter Wahrnehmungsverband bei der Reproduktion in eine Reihe verwandelt. 3) Experimentelle Untersuchungen dieser Tatsache, innere Erfahrungen zum Gegenstand 550 habend. 551 Teils können sie das Verhältnis der Änderungen des Gehirnes zu den wechselnden Vorstellungen des Gedächtnisses als Angriffspunkt benutzen. Erstere ermöglichen von den Verhältnissen, nach denen die Zahl der angeeigneten Elemente, der wiederholten [Elemente] und die Abstände der Akte in der Zeit auf die Festigkeit der Aneignung 552 wirken, eine deutliche Vorstellung zu bilden. Das oben dargestellte Verhältnis, in dem die Faktoren auf den Gedächtnisvorgang wirken, kann zwar nicht an allen Punkten experimentell zu quantitativen Bestimmungen gebracht werden, aber eine numerische Beschaffenheit
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kann in bezug auf die Wirkung der Zahl der Wiederholung, der Abstände derselben und der Zahl der zusammengefaßten einfachen Inhalte erreicht werden. (Vgl. [H.] Ebbinghaus „Uber das Gedächtnis", [Untersuchungen zur experimentellen Psychologie, Leipzig] 1885). Diese Abhandlungen bedienen sich sinnloser Silbenreihen als des Materials der Experimente. Durch einen schönen Kunstgriff machen sie die erreichte Festigkeit der Vorstellungsverbände, bevor diese das Niveau der Reproduktion erreicht haben, numerisch bestimmbar durch die Zahl der Wiederholungen, die noch erforderlich ist, die Reproduktion herzustellen. Die Zahl der Wiederholungen, die für die Aneignung erforderlich ist, wächst nach diesen Untersuchungen schneller als der Umfang der neu anzueignenden Silbenreihen. Die Festigkeit der Aneignung ist zunächst innerhalb gewisser Grenzen der Zahl der Wiederholungen proportional; wie sich dieselbe dann der Reproduktionsfähigkeit nähert, wächst sie langsamer. Das Vergessen schreitet in der nächsten Zeit nach der Aneignung rascher fort als später. Gestatten diese Unterscheidungen zur Zeit noch nicht, klare Kausalverhältnisse aufzuzeigen, ja kann zur Zeit für die Erklärung des Gedächtnisvorganges von ihnen noch kein Gebrauch gemacht werden, so kann aus der zweiten Klasse experimenteller Untersuchungen der Schluß schon hinreichend begründet werden, daß die Erhaltung der Spuren von den Funktionen des Großhirnes bedingt sei. Schon die Entwicklung des Gedächtnisses in Kindern und seiner Abnahme im Greise, seine Störung infolge von Erschütterungen lassen die Abhängigkeit von dessen Funktionen erkennen. Ein sicherer Schluß wurde durch das Studium der Sprachstörungen ermöglicht. Dieselben sind 1) in vielen Fassungen bedingt durch Hemmungen, die die Artikulation treffen, 2) sind sie ohne jeden solchen Zusammenhang die Folge des Ausfalls der Wortbildungsspuren. Es kann nun als regelmäßige Bedingung dieser Störungen Erkrankung der ersten Schläfenwindung nachgewiesen werden (cf. [Α.] Kußmaul, [Die] Störungen der Sprache [. Versuch einer Pathologie der Sprache, Leipzig] 1877; [H.] Münk, Über die Funktionen der Großhirnrinde, [Berlin] 1881; Zusammenfassung dieser Untersuchungen mit denen über Gehirnbau: [Th. H.] Meynert, Psychiatrie [. Klinik der Erkrankungen des Vorderhirns, begründet auf dessen Bau, Leistungen und Ernährung, Bd. 1, Wien] 1884).
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[III. A B S C H N I T T : Das Zusammenwirken der elementaren Prozesse des Seelenlebens und der so entstehende Zusammenhang desselben nach seinen Haupterscheinungen] 553 §26. 554 Zusammenwirken der elementaren Prozesse unter den Bedingungen der äußeren und inneren Wirklichkeit 1) Der einfachste Fall, in dem der Zusammenhang des Seelenlebens auf einen Einzelvorgang wirkt und dieser Einzelvorgang auf den Zusammenhang zurückwirkt, liegt in dem Apperzeptionsvorgang. Leibniz hat diesen Begriff zuerst festgestellt und von der Perzeption unterschieden. Perzeption nennen wir die Entstehung eines Empfindungsaggregates aus einem Reiz. Apperzeption nennen wir die durch die Richtung der Aufmerksamkeit vermittelte Aufnahme dieser Perzeption in den Zusammenhang des Bewußtseins. Die Apperzeption ist also bedingt zunächst durch das ganze oder teilweise Ineinandertreten des Empfindungsaggregates und eines vorhandenen Vorstellungszusammenhangs. Hierdurch wird weiter die Aufnahme der so entstandenen Wahrnehmungsvorstellung in den Zusammenhang vermittelt, in dem sich das Vorstellungsgefüge schon befand. Hiervon kann die Folge dann eine Änderung an der Perzeption sein, ebenso aber kann auch rückwärts von der Perzeption aus in dem Zusammenhang des Seelenlebens eine Änderung eintreten (Sinnesschlüsse und Täuschungen). 2) Schon die Veränderung in dem Zusammenhang des Seelenlebens kann ebenso von inneren Antrieben aus eingeleitet werden. Eben in der beständigen Abwechslung äußerer Anstöße von der Perzeption her und innerer Antriebe vollzieht sich die Ausarbeitung, der Bildungszusammenhang unseres Seelenlebens. Einige Psychologen bezeichnen nun neuerdings alle Vorgänge, die Verarbeitung des im Seelenleben Auftretenden zur Folge haben, als Apperzeption (Steinthal), andere bezeichnen jedoch durch die innere Willenshandlung der Aufmerksamkeit geleitete Vorgänge als Apperzeption (Wundt). Beide Terminologien widersprechen dem ursprünglichen Wortsinn und sind daher zu verwerfen, zumal es für die so zu bezeichnenden Vorgänge entsprechende Ausdrücke gibt. 3) Die Ausbildung fester Vorstellungen und Beziehungen derselben untereinander vollzieht sich während des ganzen Lebens nach dem Grundgesetz, daß sowohl Verschmelzungen als Verbindungen durch die Zahl der Wiederholungen und den Grad des Interesses eine wachsende Festigkeit erlangen.
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Darum verhalten sich Inhalte und ihre Verbindungen im Seelenleben zu Tatsachen und Verhältnissen der Außenwelt als Zeichen. So hat dieses Grundgesetz eine zweckmäßige Wirkung für die Anpassung der Bewegungsvorgänge an den Zusammenhang. Wo Verbindungen durch den Zufall des Sinneslebens gestiftet wurden, entschwindet diese vorübergehende Kombination bald wieder aus dem Seelenleben. Wo dagegen die realen Grundverhältnisse der Wirklichkeit Verbindungen herbeiführen, da haben sie auch beständige Wiederholungen zur Folge, und so erlangen die Verbindungen von Inhalten im Seelenleben die größte Festigkeit und das größte Gewicht, die die für uns wichtigsten Grundverhältnisse der Wirklichkeit in Zeichen ausdrücken. Das Interesse, vom Eigenleben geleitet, betont gerade die Verbindungen am meisten, die Grundverhältnisse555 in der Wirklichkeit ausdrücken, da diese bei der Anpassung unserer Lebensprozesse an die Wirklichkeit in Handlungen besonders berücksichtigt werden müssen. Uns aber unterscheiden sich die willkürlichen Vorgänge, die Verbindungen herstellen, von den absichtlichen nur graduell durch die Stärke des Interesses und die Beteiligung innerer Willenshandlungen bei ihnen. So entsteht ein Kausalzusammenhang, der von den Tatsachen der Verschmelzung, Assoziation und Verdrängung zu den Leistungen unseres Denkens führt. Es besteht ein teleologischer Zusammenhang, durch den die Anpassung der geistigen Vorgänge an den inneren Zusammenhang und die Grundverhältnisse der Wirklichkeit festgestellt wird. 4) Diese Vorgänge haben Umbildung dessen, was als Empfindungsaggregat in das Bewußtsein eintritt, wie das, was als Vorstellung in demselben reproduziert wird, zur Folge. So entstehen Bildungsvorgänge, die aufgrund der elementaren Prozesse in zweckmäßiger Weise Vorstellungen in Beziehung zueinander setzen. Die Herbartsche Schule nennt diese Bildungsvorgänge Apperzeptionsprozesse. Der Ausdruck Apperzeption entstand zur Bezeichnung der Einordnung eines Empfindungsaggregates (Perzeption) in den Zusammenhang des Seelenlebens und ist in diesem Verstände von der Leibniz-Schule ausgebildet worden. Dagegen benutzen [H.] Steinthal, Abriß der Sprachwissenschaft I [. Teil: Die Sprache im allgemeinen. Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft], 166-263, und [M.] Lazarus, [Das] Leben der Seele [in Monographieen über seine Erscheinungen und Gesetze, Band] II, 253, den Ausdruck, um die verwickeiteren Bildungsprozesse zu bezeichnen. Diese finden auch statt zwischen Reproduktionsvorstellungen, wenn etwa ein Dichter eine erfundene Gestalt durch weitere Züge charakterisiert oder ein Forscher eine Erklärung einer Tatsache, die längst bekannt war, aus Daten, die er ebenfalls bereits besaß, findet. Es erscheint daher angemessener, den Ausdruck Apperzeption in jenem ursprünglichen Sinne für das Eintreten einer Perzeption in den Zusammenhang des Bewußtseins zu benutzen, dagegen diese Vor-
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gänge überhaupt als Bildungsvorgänge zu bezeichnen. Wenn Wundt 556 unter Apperzeption den Anteil des Willens am Vorstellungsverlauf bezeichnet, unter Apperzeptionsprozessen die, in denen die aktive Aufmerksamkeit Vorstellungen557 sukzessive in den Blickpunkt des Bewußtseins hebt, so wird auch durch diese Bezeichnung dem Ausdruck etwas nicht in ihm Liegendes zugemutet. Es bestehen bereits die Ausdrücke: unwillkürliche, willkürliche Aufmerksamkeit, Interesse für diese Seite der Bildungsvorgänge. 5) Die Grundformen dieser Bildungsprozesse sind durch verschiedene Einteilungen entworfen worden. Der Wert der Aufstellung solcher Formen der Bildungsvorgänge ist davon abhängig, wiefern sie den inneren Aufbau der Bildungsvorgänge, die Kausalbeziehungen in ihnen, die Gesetze dieser Kausalbeziehungen zu erkennen nützlich sind. Wir unterscheiden zunächst die Apperzeptionsprozesse, die durch einen äußeren Anstoß des Reizes aus einem Bildungsvorgang eingeleitet sind,558 und die inneren Bildungsvorgänge, die zwischen reproduzierten Vorstellungen stattfinden. Wir unterscheiden alsdann den Vorgang, wie er zwischen simultan auftretenden, nebeneinander bestehenden Inhalten wirkt, und den Vorgang, wie er zwischen sukzessiv einander folgenden Bestandteilen eintritt. Wir unterscheiden endlich die verschiedenen Formen, in denen solche Bildungsprozesse auftreten, und dieser Unterschied ist das Wichtigste: a) der identifizierende Prozeß; b) der subsumierende; c) Einordnung in einen Zusammenhang; d) Rückwirkung des Einordnungsprozesses auf diesen Zusammenhang selbst und Umgestaltung desselben. 6) Die Verfassung des geistigen Lebens, als welche der so entstehende Zusammenhang sich darstellt, ist in verschiedenen Individuen verschieden. Es entsteht: 1) eine Gruppe (monarchischer Charakter), oder das Individuum ist ohne starken Zusammenhang vielseitiger Empfänglichkeit hingegeben oder 2) anarchischer Charakter, 3) zwei oder mehrere zusammenhängende [Bildungsprozesse] stehen oft noch ohne vollständige Ausgleichung im Bewußtsein nebeneinander (Dualismus), 4) die glückliche Verfassung des Seelenlebens bildet sich oder die Herrschaft eines zentralen Interessenzusammenhangs. In diesem Bildungsprozeß besteht ein stetiger Ubergang von dem Spiel der Vorstellung zu logischen Prozessen. Dieser Vorgang wird beständig durch Verstärkung der Aufmerksamkeit der Willenshandlung erwirkt. Dieser Vorgang kann in der inneren Wahrnehmung aufgefaßt werden. Daher ist die Auffassung Lotzes, nach welcher das Spiel der Vorstellung als untere Region des Seelenlebens von einem beziehenden Denken ganz getrennt ist, eine irrige. Wie könnte man denken, daß verwandte Leistungen durch ganz verschiedene Funktionen
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des Seelenlebens hergestellt werden? Zudem wäre dann der Entwicklungszusammenhang aufgehoben in der Reihe der lebendigen Wesen. Dieser Dualismus muß sonach in jeder Gestalt verneint werden.
§27. Das Selbstbewußtsein 1) In dem Zusammenhang des Seelenlebens tritt uns die Vorstellung eines „Ich" entgegen, von welchem eine Außenwelt unterschieden wird. Wir bezeichnen den psychischen Tatbestand, in welchem die Ichvorstellung begründet ist, als Selbstbewußtsein. Die Erklärung dieses Tatbestandes fragt zuerst, ob dasselbe angeboren sei oder im Verlauf des Lebens entstehe. Für diese letzte Ansicht hat man sich darauf berufen, daß das Ich-Sagen des Kindes zu bestimmter Zeit auftritt. 2) Das Problem. Das Selbstbewußtsein gehört den Tatsachen des entwickelten Seelenlebens an. Alle diese Tatsachen sind nach ihrer Natur für die Psychologie Probleme, denn die Erinnerung [?] reicht nicht aus, den Ursprung dieser Tatsachen festzustellen, haben wir doch von den wichtigsten Perioden keine Erinnerung; die etwa vom dritten Jahr ab sind spärlich und nicht zusammenhängend. Die Psychologie muß sie erstlich beschreiben, alsdann die über ihren Ursprung aufstellbaren Hypothesen prüfen. 3) Deskription des Selbstbewußtseins. Das Gewebe der Vorstellungen, Gefühle und Willensakte im Menschen ist in einem Gegensatz zerlegt: Ein Ich findet sich einer Wirklichkeit gegenüber. Dies enthält: a) Der Wahrnehmungsvorgang ist vom Bewußtsein des Aktes begleitet, der Denkvorgang von dem: Ich denke, jede Tätigkeit der Seele von dem Innewerden eines Tätigen, b) Und zwar hat dieses Tätige das Bewußtsein seiner Selbigkeit im Wechsel der Lebensakte, seiner Einheit im Mannigfachen derselben und seines Zusammenhangs. Und zwar ist dieser Zusammenhang so geartet, daß er sich gleichsam auf einen unsichtbaren Mittelpunkt bezieht, von welchem aus im Gefühl die Werte bestimmt werden, von dem aus das Weltbild orientiert wird, von dem aus die Willenshandlung entspringt, c) Dieses Einheitliche, Konstante findet sich einer Außenwelt gegenüber, trennt eine Sphäre des Gefühls, des direkten Interesses und des Willens von etwas, auf welches es diesen Einfluß nicht hat und das verhältnismäßig für es ist. Selbstbewußtsein ist so mit Erhaltung und Schätzung verbunden, das sind nur die verschiedenen Seiten desselben Tatbestandes. 4) Aufgabe der Zurückführung auf eine Entwicklung. Das Selbstbewußtsein, wie es sich in dieser Deskription darstellt, ist das
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Ergebnis eines Entwicklungsvorganges, denn wir erinnern uns zwar eines Zustandes nicht, in welchem es noch nicht bestand, aber die Beobachtung des Kindes zeigt uns, daß dieses Gebilde nicht von Anfang an im Seelenleben so besteht. Die Aufgabe entsteht, aus den Bestandteilen und Prozessen des Seelenlebens das Selbstbewußtsein abzuleiten. Doch ist sie nur bis zu gewissem Grade allgemeingültig auflösbar. 5) Falsche Versuche der Erklärung. Das Selbstbewußtsein kann nicht aus den Bestandteilen und Prozessen, die bisher entwickelt sind, ganz erklärt werden. Kant hat mit Recht in seiner Vernunftkritik entwickelt, daß das synthetische Vermögen unserer Intelligenz, das in der Einheit des Bewußtseins sich äußert, die Bedingung unserer Erfahrung selber ist. Hiermit hängt zusammen, daß das Selbstbewußtsein auf einer Bedingung für Einheit und Zusammenhang des Seelenlebens zurückführt, deren Natur uns zwar unbekannt ist, die aber nicht geleugnet werden kann. Die Identität dessen wird besessen, der sie erfährt. Dächte man sich dies hinweg, so wäre eine Erfahrung nicht mehr möglich. Hierauf beruht dann das Denkgesetz der Identität, das moralische Gesetz der Verbindlichkeit, in welchem eine Person sich an ihre früheren Willensakte gebunden fühlt. So wird das Seelenleben559 zur Person.560 Freilich drückt der Begriff der Substanz diesen Tatbestand nur unangemessen aus. Ebensowenig hat die Kant-Fichtesche Theorie die Tatsache des Selbstbewußtseins ausreichend erklärt. Sie betrachtet das Selbstbewußtsein als ursprüngliche Tatsache unseres Vorstellungslebens. Dem Vorstellen ist eigen, daß der Vorstellungsinhalt dem Bewußtsein gegenübergestellt wird. Diese Annahme macht nicht verständlich, daß in der Ichvorstellung mit dem Vorstellenden der Gegenstand des Vorstellens: das Ich, in eins gesetzt wird. Stellt in dem Selbstbewußtsein das Subjekt das Selbst vor, so bleibt dieses von jenem getrennt. Eine unendliche Reihe entsteht, der Akt der Vorstellung wird erläutert und bringt doch nie das Selbst, das den Akt vollzieht, mit dem Ich zusammen, das vorgestellt wird. Dies beweist, daß im Ansatz selbst ein Fehler liegen muß. Das Selbstbewußtsein darf nicht mit Kant und Fichte als eine Tatsache des bloßen Vorstellens aufgefaßt werden. Herbart hatte das Verdienst, den Fehler zu bemerken, aber so vortrefflich seine Vorstellung der Schwierigkeiten des Selbstbewußtseins ist, so hat er doch nur scheinbar eine Auflösung gegeben. Die wirkliche Lösung wird erst von der bisher gegebenen Darstellung der Struktur des Seelenlebens aus möglich sein.561 Das Selbstbewußtsein ist nicht eine Leistung des bloßen Intellekts. 6) Versuch einer Erklärung. In dem Innewerden sind für uns Willensakte und Gefühlszustände unmittelbar dargestellt. Auch der Wahrnehmungsakt enthält nicht nur einen Inhalt, der
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mir gegenübergestellt wird, er enthält zugleich ein Innewerden des Aktes selbst, oder ein solches Innewerden kann nachträglich hervorgerufen werden. Weiter ist der Wechsel der Inhalte unseres Wahrnehmens und Vorstellens beständig mit Spannung der Aufmerksamkeit, Bewegungsgefühl verbunden. Vor allem bildet die Willens- und Gefühlstatsache den Mittelpunkt solcher Erfahrungen unserer selbst. In ihnen finden wir uns durch ein anderes bedingt, wir bezeichnen es als Wirklichkeit. Von dieser Außenwelt trennen wir den Bezirk unserer Gefühle und Willenshandlungen. So sondert sich unsere eigene Zus t ä n d i g k e i t von der äußeren Wirklichkeit. Diese Sonderung nimmt zu, indem der innere Zusammenhang unseres Seelenlebens sich entwickelt und das Bewußtsein seiner Einheit und Konstanz wächst. Der Gegensatz eines Innen und Außen, eines Selbst und einer Welt, des Ich und seiner Objekte entwickelt sich. Dieser Tatbestand kann von uns in dem Selbstgefühl 562 aufgefaßt werden. Wird der Wille seiner Lage zur Welt inne, so bezeichnen wir das als Selbstgefühl, findet die Sphäre unserer Gefühle sich beengt von dem, was jenseits ihrer Außenwelt ist, so bezeichnen wir das als Lebensgefühl. Selbstgefühl, Lebensgefühl bilden die elementare Unterlage, die zunächst dem Menschen und Tier gemeinsam [ist], auf welcher in einer langen Entwicklung das Selbstbewußtsein sich bildet. Die Erinnerung vergleicht die gegenwärtige Lage des Selbstgefühls mit früheren. 563 Es entsteht die Vorstellung eines gegliederten Zusammenhangs unseres Seelenlebens innerhalb der Grenzen des Körpers. Dies wird dadurch unterstützt, daß uns der Körper, der Sitz unserer Gefühle und Willenshandlungen, in der äußerlichen Wahrnehmung gegeben ist. Unsere Sinnesempfindungen 564 sind in beständiger Verbindung mit den Bewegungs- und Organgefühlen innerhalb des Körpers. So bezeichnet die sichtbare Oberfläche des Körpers, welche die Hand zugleich betasten kann, die Grenzen, innerhalb deren unser Gefühl auftreten und der Wille willkürliche, direkte Bewegungen einleitet. Die Leichtigkeit, diese Gruppe von Wahrnehmungen immer zu wiederholen, gibt der Vorstellung unseres Selbst eine besondere Festigkeit und trennt sie von den Vorstellungen wechselnder äußerer Objekte. Diese Erklärung wird bestätigt durch die Erscheinungen im Gefolge der Anästhesie und durch die Untersuchung der Ursachen der Alienation des Ich bei geistigen Störungen.
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§ 28. Entstehung der Objekte und der Außenwelt 565 1) Objekte sind nicht für das Bewußtsein des Neugeborenen da, sondern sie entstehen erst in einer längeren Entwicklungsgeschichte. Dies folgt aus der elementaren Psychologie und wird bestätigt durch Beobachtung über die erste Lebenszeit (cf. [W. Th.] Preyer, Die Seele des Kindes, 2. Aufl., [Leipzig] 1885). Aus dem Empfindungschaos, inmitten dessen der Neugeborene sich findet, löst erst allmählich die Aufmerksamkeit Empfindungsaggregate gemäß der Beziehung derselben zum Eigenleben des Kindes [heraus]. Ihr wiederholtes Auftreten unter wechselnden Bedingungen verstärkt die zwischen den Empfindungen bestehende Assoziation. Die Verflechtung verschiedener Klassen von Empfindungen, nach der z . B . eine Gruppe von Tastempfindungen und einige Gesichtsempfindungen auf dasselbe System von Raumstellen bezogen werden, hat den festeren Zusammenschluß, gleichsam die Verdichtung des Empfindungsaggregates zur Folge. Aufgrund der Reproduktion verschmelzen alsdann erinnerte Vorstellung mit der Wiederkehr des Empfindungsaggregates. 566 [2)] Der Zustand des Seelenlebens, in welchem diese Empfindungsaggregate zu den Gefühlen und Willenshandlungen in festem Verhältnis stehen, hat die Ausbildung der Vorstellung von Objekten und einer Außenwelt zur Folge. Das ergibt sich schon daraus, daß der Vorgang der Trennung des Selbst vom Objekt von der einen Seite angesehen die Grundlage des Selbstbewußtseins, von der anderen 567 des Weltbewußtseins ist, das Selbstbewußtsein aber in den Gefühlen und Willenszuständen, in dem Selbst- und Lebensgefühl seine U n terlage hat. Der Zusammenhang des Seelenlebens setzt mit der Empfindung regelmäßig die Gefühle und die so bedingten Willenshandlungen in Verbindung. Insbesondere mit der Tastempfindung der greifenden Hand und den schreitenden Füßen ist ein Innewerden von Bewegungsantrieben regelmäßig verbunden sowie das Gefühl von Widerstand und einer Grenze. 5 6 8 Wahrnehmungen treten zu unserem Eigenleben in Verhältnisse, welchen gemäß wir den Druck, die Beschränkung unseres Willens, die Macht der Objekte über uns erleben. Indem unsere Erinnerung in eine Zeit geringerer psychologischer Deutlichkeit zurückgeht, 569 erfahren wir ein wechselndes Verhältnis der Stärke unseres Eigenlebens zu der Macht der Objekte. Als wir noch nicht bestanden, waren bereits die Objekte da. So bildet sich die Vorstellung eines von uns Unabhängigen, der Wirkungen desselben auf uns, unserer Gegenwirkung nach dem Kausalgesetz. Also nicht aus einem apriorischen Kausalgesetz entspringt die Erfahrung einer Wirklichkeit. 570 In der lebendigen Erfahrung sind Kausalvorstellung und Kausalgesetz gegründet.
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§ 29. Unsere Raumvorstellung Das von uns Unabhängige wird für uns zur Außenwelt. Auch die Raumvorstellung entsteht aus elementaren Leistungen des Seelenlebens. Dies kann bewiesen werden: 1) durch eine Anzahl von Sinnestäuschungen, 2) durch Erfahrungen am neugeborenen Kinde oder besser am Blindgeborenen. Es entsteht eine Lokalisation der Empfindungen innerhalb aller Sinnesorgane; dagegen Extension der Empfindung in räumlichen Kontinuen eignet nur den Tast- und Gesichtsempfindungen. Ist der Raum so erworben, so bleibt die Frage zu entscheiden, ob die Qualitäts- und Intensitätsunterschiede der Empfindung ausreichen, ihn zu erklären: Empirismus, oder ob unabhängige Leistungen unserer Sinnesorgane hinzugezogen werden müssen: eingeschränkter Nativismus. § 30. Empiristische Raumtheorie 1) Begründet von Locke, durchgeführt in England von Bain (über Sinne und Intelligenz), 571 in Deutschland von Helmholtz (physiologische Optik und Tatsachen in der Wahrnehmung). Die Theorie hat das Verdienst, 572 || die willkürliche Beschränkung der Untersuchung bei Kant auf die innere Erfahrung zu verbreitern und die natürlichen Beziehungen der Raumvorstellungen zu Gesichts- und Tastsinn, insbesondere zu dem Faktum der Bewegungsempfindung, hergestellt zu haben. 2) Aber wie aus qualitativ und intensiv bestimmten Empfindungen die Wahrnehmung der Extension, d . h . ihr Nebeneinander in einem Kontinuum werden könne, vermag sie nicht zu zeigen. Schon Stuart Mill nimmt den Begriff einer psychischen Chemie zur Hilfe. In dem Produkt der Empfindung, das wir „Raum" nennen, sollen Eigenschaften auftreten können, die weder in diesen Empfindungen selbst noch in den Tatsachen ihrer Verschmelzung oder Assoziation enthalten sind. Aber eine solche Theorie müßte ein allgemeineres Verhalten der Seele sein, während es doch kein klares Beispiel desselben im ganzen Seelenleben gibt. So müssen wir jedenfalls eine Eigenschaft des Seelenlebens annehmen, aus welcher bei der [?] Verschmelzung von Empfindungen der Ubergang und die Extension eines Kontinuums folgt. Damit nähert sich diese Theorie dem beschränkten Nativismus. Ferner enthalten aber die Beobachtungen an neugeborenen Kindern noch Schwierigkeiten, welche diese Theorie vorläufig nicht lösen kann. Kußmaul schließt aus seinen Versuchen an neugeborenen Kindern: „Der Mensch kommt mit einer, wenn auch dunklen Vorstellung eines äußeren Etwas, mit einer gewissen Raumanschauung zur Welt."
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§ [31.] Die nativistische Theorie 1) Die Annahme, unser ganzer Raum mit seinen Dimensionen sei angeboren, ist in psychologischer Fassung aufgestellt von Kant (Kritik der reinen Vernunft, Abschnitt „transzendentale Ästhetik"), in physiologischer Fassung von Joh. Müller: „Die Netzhaut empfindet sich selbst im Akte des Sehens in irgendeinem Zustande." 573 Diese Annahme wird durch die Erfahrungen an Kindern, deutlicher an Blindgeborenen, die das Gesicht wiedererhalten, endlich durch gewisse Klassen von Sinnestäuschungen widerlegt. 2) So empfiehlt sich ein gemäßigter Nativismus, welcher eine dem Tast- und Gesichtssinn gemeinsame psychophysische Einrichtung annimmt, die eine elementare Raumauffassung gewährt und aus der Entwicklung die Entstehung unserer komplizierten Raumauffassung ableitet. Dieser Standpunkt wird begründet von Ernst Heinrich Weber.574 Er wurde ausgeführt von [C.] Stumpf „Uber den psychologischen Ursprung der Raumanschauung [, Leipzig] 1873". Weber betrachtet den Raumsinn als Generalsinn und weist die Einrichtung desselben zunächst an der Tastempfindung nach. An verschiedenen Stellen der Haut ist die Auffassung räumlicher Unterschiede verschieden. Die zwei Spitzen eines Zirkels rufen auf der Zungenspitze getrennte zwei Empfindungen hervor, wenn sie nur lA Pariser Linie voneinander entfernt sind; sie müssen an der Nasenspitze schon drei, am Oberarm 30 Pariser Linien voneinander entfernt sein, um noch verschiedene Empfindungen hervorzurufen. Die Feinheit der Empfindlichkeit für Raumunterschiede fand Weber direkt proportional der Zahl der Nervenfäden, welche die in der Haut verlaufenden Nervenenden enthalten.
§ [32.] Lokalisation der Empfindungen und Lokalzeichen N u r was auf uns wirkt, ist für uns da. Das Lageverhältnis von Empfindungen kann sonach für das Seelenleben nur da sein, sofern es auf dasselbe wirkt. N u n geht aber dieses Lageverhältnis, das räumliche Außereinander in dem willkürlichen [?] Wirken der Seele weiter. Aus diesen Prämissen erschloß [?] Lotze (Physiol. Psychologie) 575 seine Theorie der Lokalzeichen. Es muß, [von] der Empfindung abgesehen, zwischen qualitativer und intensiver Bestimmtheit ein Raumzeichen auftreten, welches aus der Stelle des Reizes im Raum herstammt und ihr die entsprechende Stelle im Vorstellungsraum [?] zuzuteilen uns zuläßt [?]. Näher bediente sich dann Lotze der Hypothese: Da Empfindung der Bewegung, durch welche das Auge einen Eindruck zur Stelle des deutlichsten Sehens bringe, sei dieses [ein] Lokalzeichen. Aber wir empfinden
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Raumunterschiede solcher Kleinheit [?], daß [eine] Bewegung des Auges bei ihrer Auffassung nicht empfunden ist. Sie aufzufassen, streben wir jedoch das Auge ruhig zu halten. Alsdann würde diese Theorie ihre Voraussetzung - die Wahrnehmung qualitativer Unterschiede - unmöglich machen. Kann die Seele Verschiedenheiten der Lage nicht direkt auffassen, so kann sie auch Änderungen derselben nicht auffassen. Bestehen nun aber für die phänomenale Betrachtung die Reize des Auges, des Ohrs aus Bewegungsvorgängen, so würde unsere Seele die Raumverhältnisse nicht direkt auffassen, auch diese Vorgänge nicht aufzufassen imstande sein. Das ganze Problem schwindet, sobald die objektive Realität des Raumes aufgehoben wird.
§[33.] Das Einzelding. Eigenschaft, Kraft, Tun und Leiden Das Einzelding entsteht nun unter einer beständigen Verbindung von Sinneseindrücken, die sich bei Ortsveränderung erhält, als Sitz von Wirken und Leiden dem Selbst gegenübertritt, wodurch die Raumanschauung zu einem Äußeren gegenüber dem Inneren wird. Sinnesempfindungen werden nun zu Eigenschaften. Regelmäßige Abfolge von Veränderungen wird durch eine Übertragung lebendiger Erfahrung zu dem Kausalverhältnis zwischen den Dingen. Die Kategorien unseres Auffassens und Denkens bilden sich, unter diesen sind Dinglichkeit (daraus die Abstraktion der Substanz) und Kausalität die am meisten durchgreifenden.
§ [34.] Das diskursive Denken und seine Unterlage in der Sprache Verschmelzung, Assoziation und die anschaulichen Bildungsprozesse gehen vermittelst der Verstärkung des Willensantriebs in den begrifflichen Operationen von Verbinden und Trennen (Abstrahieren), von Gleichsetzen (Subordination) und Unterscheiden über. Dieser einfache Begriff Operationenkreis liegt alsdann den zusammengesetzteren Leistungen des Intellektes zugrunde. Diese Entwicklung zum begrifflichen Denken wird ermöglicht, indem die Sprache die Erwerbungen des Seelenlebens, darunter auch des Logischen, festhält, in Termini fixiert und von einer Generation an die anderen überliefert.
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§ 35. Die Erkenntnis: [ . . . ] So entstehen die Prozesse des Erkennens im Zusammenhang der Struktur des Seelenlebens, da das Erkennen zunächst der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse durch [ . . . ] . D a aber [das] Wahrnehmen [ . . . ] der Außenwelt mannigfach mit Lust und Befriedigung verknüpft ist, so wird in der Entwicklung der Menschheit das Erkennen zum Selbstzweck. Es stellt sich dann in dem selbständigen System der Wissenschaft dar. Aus den Prozessen der Assoziation und Verschmelzung entwickeln sich vermittelst des stärkeren Willensanteils die vier logischen Grundoperationen: Analysis, Synthesis, Induktion, Deduktion. Die logische Operation ist sonach nur die Fortbildung der Assoziations[...]. Es treten unter den Verbindungen zwischen Inhalten besondere hervor, die von Ding und Eigenschaften, von Wirken und Leiden. Dieselben entstehen aus der Übertragung der Erlebnisse des Willens auf die Empfindungen und Wahrnehmungen. II
II § 36. Die Mannigfaltigkeit der Gefühle 576 Empfinden, Wahrnehmen, Vorstellen werden nur insofern in stärkerer Erregung des Bewußtseins aufgefaßt, als sie mit Gefühl in Verbindung stehen, und diese Gefühle gehen in Willenshandlungen über. Die Gefühle können zunächst in eine Reihe von Intensitäten geordnet werden, die von einem Nullpunkt der Indifferenz aus sich in der einen Richtung nach Intensitätsgraden von Lust, Gefallen, Billigung, in der anderen nach Graden von Unlust, Mißfallen, Mißbilligung darstellen. Es ist ihnen aber weiter gemeinsam, daß sie eine Beziehung zwischen unserer psychophysischen Lebenseinheit und den Umständen, unter denen sie funktioniert, enthalten. Es ist nur eine Auslegung dieses Tatbestandes, wenn Lotze u. a. sagen, das Gefühl sei der teleologische Ausdruck der Förderung oder Schädigung der Lebenseinheit. In dem Grundverhältnis des Selbst zu dem Objekt ist nun anzunehmen, daß die Gefühle entweder auf die Objekte bezogen oder mit dem Selbst verbunden sind. Wir genießen in der Lust teils die Beschaffenheiten der Gegenstände, ihre Schönheit und ihr [ . . . ] , teils erfahren wir in ihr Steigerung unseres eigenen Daseins, Beschaffenheiten unserer Person, insbesondere unseres Willens, die unserem Dasein Wert geben. Der vorstellungsmäßige Ausdruck für diese Erfahrung des Gefühlslebens ist in den Wertbestimmungen gegeben. Diese bilden dann so gut als Empfindungen und Wahrnehmungen einen Erfahrungskreis. Die Gefühle sind auch qualitativ voneinander verschieden. II
C. DIE VORLESUNG ÜBER A N W E N D U N G E N DER PSYCHOLOGIE AUF DIE PÄDAGOGIK (Berlin ca. 1893/94)
Anwendungen der Psychologie auf die Pädagogik
Einleitung Ein immer steigendes Interesse nimmt in unserer Zeit die Unterrichtsfrage für sich in Anspruch. Durch welche Änderungen sollen die von keiner Seite geleugneten Mißstände auf diesem Gebiet beseitigt werden? Es scheint, als ob in dieser Frage viel zu viel Gewicht auf die Entscheidung, was gelehrt werden solle, gelegt wird. Weit wichtiger als das Was ist das Wie. Ohne daß wir die Bedeutung solcher Fragen, ob der eine oder der andere Unterrichtsgegenstand mehr in den Vordergrund treten müsse, für die Pädagogik zu unterschätzen brauchen, so müssen wir sie doch an Wichtigkeit derjenigen, wie gelehrt werde und gelehrt werden solle, nachstellen. Auf diesem Gebiete haben wir somit auch die Ursachen der jetzigen Mißstände zu suchen.577 In der Tat, vergegenwärtigt man sich, wie die große Mehrzahl unserer akademisch gebildeten Lehrer in ihr Lehrfach eintreten: Wie kann der an einsame wissenschaftliche Tätigkeit in der Studierstube gewöhnte Kandidat imstande sein, seinen Beruf als Pädagoge zu erfüllen, wenn ihm die Natur und das Seelenleben des Kindes fremd sind? Wie soll er sich in seinem Beruf wohlfühlen, wie soll er seine Schüler lieben lernen, wenn diese der Annahme seiner Lehren nur Widerstand entgegenzubringen und ihr Vergnügen daran zu haben scheinen, den Lehrer zu ärgern? Er steht seinen Schülern gegenüber wie ein Arbeiter einer Maschine, deren Mechanismus er nicht versteht. Der zukünftige Erzieher bedarf also einer außerhalb seiner Spezialwissenschaft liegenden Ausbildung, die ihn innerlich durch wahre Verstandes- und Gemütsbildung zu seiner hohen und schweren Aufgabe vorbereitet; diese kann aber nicht in einem allgemeingültigen System der Pädagogik gelegen sein. Ein
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allgemeingültiges System der Pädagogik gibt es nicht und kann es nicht geben.578 Pädagogik als Wissenschaft würde zur Voraussetzung haben eine allgemein anerkannte Ethik und Psychologie. D a diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, muß jeder Versuch, ein wissenschaftliches System der Pädagogik aufzubauen, von vornherein als mißglückt angesehen werden. Wie sollte auch ζ. B. das ungeheuerliche Resultat, zu welchem H. Spencer gelangt, jeder Mensch müsse Medizin studieren, um seine Gesundheit aufrechtzuerhalten, ferner Nationalökonomie treiben, um sein Kapital gut verwerten zu können usw., auf Allgemeingültigkeit Anspruch machen? Was soll also dem künftigen Lehrer helfen? Kenntnis der Seele, der psychischen Vorgänge im Menschen, insbesondere deren Entfaltung und Vervollkommnung im Kinde! Studium der Psychologie und ihrer Anwendung auf die Pädagogik!
Erstes Kapitel: D a s allgemeingültige Ziel aller Erziehung, abgeleitet aus den Eigenschaften des Seelenlebens 5 7 9 Es gibt ein solches, ein von den geschichtlichen Bedingungen einer gegebenen Zeit unabhängiges, ein allgemeingültiges Ziel. Das Ziel, das heutzutage ein Gymnasium sich setzt, ist geschichtlich bedingt durch die ganze Lage der heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse. Mit diesem konkreten Ziel haben wir es hier nicht zu tun. Jedes empfindende Geschöpf lebt angemessen der Erhaltung seines Selbst, der Erhaltung und Vervollkommnung seiner Gattung; wir nennen daher seine Handlungen zweckmäßig. 580 Wie kann das geschehen? Es würde ein Geschöpf, wenn es alle seine Handlungen nach eigener Einsicht leitete, von Geburt an wissen müssen, welche Milchsorte, welche Luftart seiner Gesundheit am zuträglichsten sei usw.; es würde von Anfang an eine Art Allwissenheit besitzen müssen. Nun, solche Wesen gibt es nicht. Die Stelle dieses Wissens vertreten, wenn auch nur unvollkommen, in der Natur die Gefühle und Triebe. Sie sind es, die den Kitt bilden zwischen den Wahrnehmungen und Vorstellungen einerseits und den Willensakten und Handlungen andererseits. Im Gefühl wird der Wert des in der Wahrnehmung Dargebotenen abgeschätzt, in den Triebregungen wird die Zweckmäßigkeit der tätlichen Eingriffe in die Natur beurteilt. Es besteht ein teleologischer Zusammenhang zwischen den Äußerungen des Seelenlebens, und auf ihm beruht es, daß die Arten, daß die Gat-
Das Spiel
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tungen sich erhalten. Der Typus des vollkommenen Menschen ist also charakterisiert durch die vollkommene Entwicklung des teleologischen Verhältnisses zwischen den Reizen, Gefühlen und Willenshandlungen. Die Ausbildung aber des Typus Mensch zu dieser Vollkommenheit ist das allgemeingültige Ziel aller Erziehung, wie sehr auch in konkreten Fällen die Ziele auseinandergehen mö-
Zweites K a p i t e l : D a s Spiel Die Prozesse des Seelenlebens warten nicht auf den Erzieher; wenn die Lehre, die Erziehung beginnt, ist schon Seelenleben da. In dem sich selbst überlassenen Kinde findet bereits der Kreislauf der Lebensprozesse in der naturgemäßen Reihenfolge statt. Ein einjähriges Kind macht die Wahrnehmung der Flasche, es bildet sich in ihm die Vorstellung von Lustgefühl an der Ernährung, es regt sich der Trieb, Nahrung aufzunehmen zum Zweck der Selbsterhaltung, unter zappelnden Bewegungen greift das Kind nach der Flasche. In diesem Kreislauf ist nun das Spiel und seine außerordentliche Bedeutung für die Erziehung begründet. Uber die Wichtigkeit des Spiels äußert sich Jean Paul: Das Spiel ist die erste Poesie des Menschen; Kant: Das Spiel ist an sich angenehm, ohne einen andern Zweck zu beabsichtigen; ein anderer sagt: Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt; ferner heißt es: Im Spiel vollzieht sich erst das ganze Leben des Kindes. Woher und warum das alles? Welches ist der psychologische Zusammenhang? Wir sprechen von Klavierspiel, Schauspiel, Übungsspiel, vom Spielen des Wassers, vom Spiel der Vorstellungen. Was ist das Gemeinsame? Überall findet eine Bewegung statt, die frei ist, ungebunden, vom Willen nicht geleitet oder beeinflußt. 582 Die Pflicht, die Arbeit fordert einen Aufwand von Tätigkeit zu einem außerhalb derselben liegenden Zweck; es findet ein Zwang des Willens statt, der Unlustgefühle hervorruft; denn Kraftaufwand bringt Opfer von Lust mit sich. Das Wesen des Spiels dagegen ist, daß der Zweck nicht außerhalb der Tätigkeit liegt. Die in dem Verlauf der Tätigkeit selbst liegende Befriedigung macht seinen Charakter aus. Im Spiel regiert die Gegenwart und die Fröhlichkeit; in der Arbeit liegt der Ernst der Zukunft. Die Tätigkeit des Kindes, an welches der Ernst des Lebens im Unterricht noch nicht herangetreten ist, wird ganz durch das Spiel beherrscht. Nach Beginn des Unterrichts hat dann das Spiel gleichsam die Funktion der beständigen Wiederherstellung des Wohlbefindens, der Gesundheit.
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Worin ist die Möglichkeit psychologisch begründet, einen solchen Kreislauf von unernstlichen Tätigkeiten herzustellen? Wir wissen: Empfindungen lösen Gefühle und Triebe aus, in dem Wechsel der Äußerungen des Seelenlebens wird die Erhaltung des Selbst und der Gattung vollzogen. Nun wird das Kind, wenn es zum Wahrnehmen erwacht, da ihm Aufgaben ernstlicher Art noch nicht vorliegen, im Spiel diesen Kreislauf entfalten, es wird wahrnehmen, aufgrund von Eindrücken und Einbildungen sich Zwecke setzen und durch Bewegungsvorgänge ausführen. Sonach ist für das Kind Spielen Leben und Leben Spielen. Denn nur in diesen Vorgängen hat das Kind die Möglichkeit, die Struktur seiner Seele zu betätigen. Nachdem dann der Unterricht begonnen hat, findet sich das Kind unter einem ihm fremdartigen Zwang: Es muß das tun, was Unlust macht; da bedarf es dann einer beständigen Wiederherstellung des gesunden Ablaufs der Lebensprozesse im Spiel. Das Spiel befreit das Kind immer wieder von dem Zwang und gibt ihm die Freiheit wieder. Betrachten wir zunächst die Entwicklung des Spiels im Kinde! Das Kind spielt zuerst mit seinen Sprechwerkzeugen, seiner Fähigkeit, Laute von sich zu geben, ferner mit seinen Händen, überhaupt mit seiner Muskulatur. Bald beginnt es Wahrnehmungen zu machen, die von Trieben begleitet sind, Veränderungen hervorzurufen; das Kaputtmachen der Gegenstände ist eine wichtige Lebensäußerung. Dann aber tritt ein Moment ein, in welchem die Vorstellungen von den Wahrnehmungen und Empfindungen eine selbständige Bedeutung im geistigen Haushalt bekommen. Da regt sich die Phantasie, und es beginnen die Phantasiespiele: Die Puppe wird zum Menschen, die Schaukel zum lebendigen Pferde; es entsteht eine ähnliche Illusion, wie sie dem Erwachsenen im Schauspiel zuteil wird. So entfaltet sich das Spiel auf der Unterlage der Phantasievorstellungen weiter. Dem Alter verbleiben dann noch Verstandesspiele (Karten, Schach) und Glücksspiele. Die Entwicklung der Spiele in der Menschheit. Es gibt gewisse typische Hauptspiele, die sich durch das ganze Leben der Menschheit hindurchziehen; man kann sie nach ihrer Entstehungsursache in drei Klassen teilen: 1. Das Kind ahmt im Spiel die ernste Tätigkeit des Erwachsenen nach. Der Eskimoknabe baut Eishütten, die australischen Kinder spielen Brautraub; ferner gehört hierher die Nachahmung des Krieges, das Spielen mit Pfeil und Bogen, das Werfen nach der Scheibe usw. 2. Sehr alt sind die Spiele, welche aus dem Bedürfnis hervorgingen, eine gemeinsame spielende Beschäftigung für Alt und Jung zu haben: Jahrhunderte lang vertraten gespaltene Schenkelknochen die Stelle unseres Schlittschuhs.
D a s Spiel
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Uralt ist das Ballspiel; ums Jahr 1500 v. Chr. haben die Perser bereits zu Pferde Ball gespielt und sich dabei des Schlegels bedient. Das Brettspiel war schon den alten Ägyptern, wie auch den Griechen und Römern, das Kartenspiel längst im Orient bekannt. 3. Ein Spiel, welches von Erwachsenen ausdrücklich für Kinder erfunden wurde, ist z . B . das Murmelspiel. Allein, es ist immer eine schwierige Sache, neue Spiele dieser Art zu erfinden. Die eigentlich lebenskräftigen Spiele sind und bleiben die von dem ersten und zweiten Typus. Wenden wir uns jetzt zu einer Übersicht und Einteilung der Spiele aus pädagogischen Gesichtspunkten! Der Charakter eines Spiels ist bestimmt durch die ihm eigentümliche Funktion aus dem Zusammenhang der Lebensprozesse. Somit unterscheiden wir: 1. Klasse: Wahrnehmungs- und Vorstellungsspiele. Das kleine Kind lebt noch ganz im Wahrnehmen; es lebt noch nicht aus einem Zusammenhang der Vorstellungen heraus. Die Spiele auf dieser Stufe beschränken sich also auf die Auffassung von Wahrnehmungsobjekten und auf die Versuche, diese Objekte zu verändern. 2. Klasse: Phantasiespiele. Sobald die Vorstellungen von dem Kinde frei miteinander verknüpft werden können (Ende des ersten, oft erst des zweiten Lebensjahres), sind Phantasiespiele möglich, denn der Vorgang des Spiels wird hier durch die Phantasiebilder selbst gebildet. Es ist also eine höhere Entwicklungsstufe des Gehirns notwendig. Das Objekt wird dann zum Spielzeug. Während das Spielgerät nur Mittel zum Spiel ist, wird das Spielzeug selbst durch die Phantasie belebt: Das Mädchen spielt mit ihrer Puppe, der Knabe mit seinem Pferde. Die Objekte werden dem Kinde als Sitz seiner Phantasievorstellungen gute Kameraden. Verläuft das Phantasiespiel in bloßen Vorstellungen, so entsteht unter anderem das Märchen. Hier aber ist die durch rege Beteiligung der Phantasie hervorgerufene Illusion eine Gefahr für besonders phantasievolle Kinder. Das Märchen erweckt nämlich in dem Kinde die Vorstellung einer von der wirklichen ganz verschiedenen Welt, und so flößt es dem Kinde leicht Furcht und Schauer vor Spukgestalten und dgl. ein. Wenn auch den Romantikern Dank zu wissen ist dafür, daß sie das Märchen, welches von vielen Pädagogen ganz verworfen war, wieder zu Ehren brachten durch Fortlassen schauriger Geschichten aus den Märchensammlungen, so ist doch ζ. B. in der Grimmschen Sammlung noch manches, was der Pädagoge als zu Weichmut und Furcht Anlaß gebend, nicht billigen kann. 3. Klasse: Verstandesspiele. In ihnen ist die Illusion nicht mehr der Kern des Spiels, sie dient nur dazu,
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solche Voraussetzungen künstlich zu schaffen, unter denen Verstandestätigkeit eintreten kann. Alle Verstandesspiele sind Wettspiele und als solche Nachbildungen des Ernstes im Leben. Wer ein Rätsel zu lösen sich bemüht, glaubt sich in unsichtbarer Konkurrenz mit anderen Lösern. Ebenso beruhen alle Brettund Kartenspiele auf der Konkurrenz. Man begreift leicht, welche Gefahr für das Kind in solchen Spielen liegt. Besonders tritt das hervor bei den nackten Verstandesspielen, bei welchen die Bedingungen auf beiden Seiten gleich sind (Schach-, Kriegsspiel). In den meisten Fällen aber macht man die Nachahmung des Lebens dadurch noch vollkommener, daß man den Zufall mit in das Spiel zieht. Die Bedingungen sind im Leben stets ungleich, der eine spielt „mit besseren Karten" als der andere. Das Bestreben des einzelnen, nach seinen Verhältnissen das Höchste zu erreichen, wird im Kartenspiel nachgeahmt. Ja, die Nachahmung geht noch weiter: Es verbinden sich im Leben, wie ζ. B. in der Ehe, verschiedene Individuen zu gemeinsamer Tätigkeit. Ahnlich ist das Verhältnis, wenn eine ganze Partei gegen eine andere spielt. Im Spiel wird da natürlich ebenso wie im Leben auch Zank innerhalb einer Partei vorkommen. Ganz anderer Art und doch verwandt mit den vorigen sind die reinen Glücksspiele, wie ζ. B. das abscheuliche Würfelspiel. Es ist ja auch unnatürlich, sich dem bloßen Zufall zu überlassen. So nähren denn auch die Glücksspiele nur schlechte Affekte, Habgier, Neid usw. Oft ist die Wirkung sogar noch schlimmer: Das Bedürfnis im Menschen, selbst tätig zu sein, sich nicht dem Zufall allein anzuvertrauen, erweckt den Betrug. Kurz, jeder Pädagoge, der es ernst meint, muß ein entschiedener Gegner der Glücksspiele sein.
Drittes Kapitel: Interesse und Aufmerksamkeit als die bewegende Kraft, durch welche der Unterricht die Vorstellungsbildung im Schüler herbeiführt und den Willen bildet Schon die Angabe des Themas zeigt die ungemeine Bedeutung des Interesses und der Aufmerksamkeit für die Zwecke des Unterrichts. Soll eine Betrachtung des kausalen Zusammenhangs zwischen der Entwicklung des Seelenlebens und der Erziehung herbeigeführt werden, so muß zuerst das Augenmerk gerichtet werden auf den Motor, den Hebel, die Springfeder in der Uhr des Unterrichts. Ich werde zeigen, daß dies die Aufmerksamkeit ist.Ki Die Aufmerksamkeit besteht darin, daß der Schüler einem bestimmten Objekt sein Interesse zuwendet, daß die Erregung seines Bewußtseins in Rück-
Interesse und A u f m e r k s a m k e i t
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sieht auf das Objekt eine Verstärkung erfährt. Eine solche Aufmerksamkeit unterliegt allmählich einer aus inneren Gründen entspringenden Ermüdung. Aber auch aus äußeren Gründen entspringt Ablenkung, Zerstreutheit. Denn hier bei den Arten von Ablenkung zu steuern ist die nächste Aufgabe des Lehrers. Wie jeder an sich selbst erfährt, kommt es vor, daß irgendein Wort meine Gedanken in eine andere Bahn lenkt, so daß ich nach einiger Zeit meine Gedanken auf einem ganz anderen Gebiet beschäftigt wiederfinde. Ahnlich und viel stärker ausgeprägt ist das beim Kinde. Das Kind ist in seinen eigenen Interessenkreis wie eingeschlossen; es besitzt eine gewisse Hartnäckigkeit im Festhalten dieser Interessen; es ist träge, wenn es von diesen Interessen ab auf einen bestimmten Gegenstand hingeführt [werden] soll. Daher weicht es den Anforderungen des Lehrers geschickt aus, der Lehrer spricht über die Köpfe hinweg. Dieser möchte, was er für gut hält, in die Köpfe eingießen, wie in ein Gefäß. Aber der Schüler ist nicht daran gewöhnt, seine Vorstellungen bei derselben Sache zu halten, da das Spiel ihm völlige Freiheit gewährte. Die Folge ist: Der Schüler ist zerstreut. Der Lehrer versucht es unwillkürlich mit lauterem Sprechen, die Aufmerksamkeit wachzuhalten, aber vergebens. Das Kind wird hierdurch erst aufgeschreckt, dann erst recht ermüdet. Er versucht es auf andere Weise, indem er von Stunde zu Stunde etwas recht Fesselndes vorzubringen bemüht ist. Dabei fällt der Unterrichtsgegenstand auseinander, und die Schüler werden erst recht zerstreut. N u n versucht er es mit Strafen, und die Schüler werden verstockt! - N u n aber nehme der Lehrer seine Zuflucht zur Psychologie. Was lehrt ihn diese über die Natur des Interesses und der Aufmerksamkeit? Ich nehme in einer Bildergalerie ein Bild wahr, es erweckt mein Interesse, und ich wende ihm meine Aufmerksamkeit zu. Oder: Ich lese einen Roman, und vom ersten bis zum letzten Wort wird meine Aufmerksamkeit festgehalten. Was geschieht hier? Zunächst treten Sinneswahrnehmungen auf, beständig wechselnde Eindrücke von außen; es entstehen Bilder. In584 dem Vorgang, in welchem die Wahrnehmungen, die Sinneseindrücke selbst unsere Aufmerksamkeit festhalten, liegt die primäre Stärke und Natur der Sinneselemente,585 daran schließt sich dann die Apperzeption, die Aufnahme der Sinneselemente im Bewußtsein. Sonach können wir 1. sinnliche und 2. intellektuelle Aufmerksamkeit unterscheiden. Erstere geht allemal rasch vorüber, die letztere ist die eigentlich wertvolle. Worin586 besteht nun aber diese Aufmerksamkeit? Es ist eine Verstärkung der Bewußtseinserregung. (Beim Lesen des Romans bekomme ich einen heißen Kopf.) Demgemäß beruht die Möglichkeit aller Aufmerksamkeit auf der Fähigkeit, einen Zuwachs der Bewußtseinserregung hervorzubringen. Der Grad der Bewußtseinserregung ist im Leben sehr verschieden: Tiefstand ist da
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bei Müdigkeit, Traurigkeit, Zerstreutheit; eine starke Anspannung findet dagegen statt z . B . beim Halten einer Rede, etwa auf einem Kommers. „Es beruht also die Aufmerksamkeit in einer Steigerung der Bewußtseinserregung." Ferner lehrt die Psychologie: „Jeder solcher Zuwachs der Bewußtseinserregung wird durch ein Interesse herbeigeführt, d. i. durch den Gefühlsanteil, der dem Objekt zugewandt wird." Ich stehe vor einer Menge von zerstreuten Köpfen; da erzähle ich eine Anekdote. Das Gefühl ist auf einmal in jedem einzelnen angenehm erregt, so daß er einen gewissen Gefühlsanteil der Anekdote zuwendet; und dieses „Interesse" ruft Aufmerksamkeit hervor. Die Verteilung unserer Gefühlsanteile an den Tatsachen, den Vorstellungen im Bewußtsein ist sehr verschieden und unterliegt beständigen Verschiebungen. Im „Blickpunkt", im Zentrum des Interesses steht ein bestimmtes O b jekt; um dieses Zentrum herum, gleichsam am Horizont des Bewußtseins finden sich zerstreut schwächere Sinneseindrücke. J e geringer die letzteren sind, desto mehr zentralisiert erscheint das Bewußtsein; und eine Herabminderung dieser Zentralisation tritt ein, wenn ein beträchtlicher Teil des Interesses, also auch der Aufmerksamkeit, den begleitenden Sinneseindrücken (ζ. B. heftigen Zahnschmerzen) zugewandt wird. Die Regung des Bewußtseins nun, welche in dem Gefühlsanteil begründet ist, vollzieht sich durch einen Vorgang von Selbsttätigkeit, welcher dem Willen verwandt ist. Uber das, was Aufmerksamkeit sei, wird gestritten: die einen sagen, Aufmerksamkeit sei Wille; andere ( z . B . Wundt), sie sei Apperzeption und diese sei Wille; wieder andere: sie sei zwar dem Willen ähnlich, mit ihm vergleichbar, aber nicht mit ihm identisch. Das ist metaphysische Spekulation oder ein Wortstreit. Tatsache ist, wie jeder weiß, daß Aufmerksamkeit ein Akt von Spannung, von Spontaneität, von Selbsttätigkeit ist. Ein ebensolcher Akt ist der Vorgang, in dem der Wille sich zu einem Ziel durcharbeitet. Es sind verschiedene Vorgänge, aber sie haben gemeinsame Züge. O b ich dabei das Gemeinsame als Wille oder als Arbeitstätigkeit bezeichne, ist eben nichts als ein Wortstreit. - Jedenfalls können wir sagen: Es steht dem Menschen die Fähigkeit zu, die Bewußtseinserregung zu erhöhen; dies kann nur geschehen mittels des Hebels, den wir Gefühlsanteil nennen. Dieser wirkt wie ein Ziel, das uns vorschwebt, wie eine motorische Kraft; er hat also einen dem Willen verwandten Arbeitsaufwand zur Folge. So hat eine solche Selbsttätigkeit, eine solche Bewußtseinserregung ihr Dasein in Einzelprozessen, in welchen die Bewußtseinserregung überhaupt besteht. Diese besteht ja nicht in abstracto, sondern in einzelnen Prozessen: Wir ordnen die Sinneswahrnehmungen einander zu, einander unter, wir trennen, verbinden, stellen Beziehungen zwischen einzelnen Vorstellungen her, ordnen sie unter allgemeinere Vorstellungen, kurz: wir erweitern unseren seelischen Zusam-
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menhang. In solchen Einzelprozessen besteht der Arbeitsaufwand, besteht die Tatsache der Bewußtseinserregung. Die 587 Aufgabe des Lehrers ist also, ganz allgemein gefaßt, Interesse zu erregen; welcher Hilfsmittel soll er sich bedienen? Die 588 Hauptunterlage bei der Wahl liegt in den natürlichen Neigungen des Schülers: Von Newton wird erzählt, er sei in der Schule immer zerstreut gewesen, seine Gedanken beschäftigten sich mit einer Sonnenuhr, die er vom Unterrichtszimmer aus beobachten konnte. Linne konnte schon als zartes Kind durch den Anblick von Blumen beschwichtigt werden. Eine Erbsünde gibt es in verkommenen Familien: die Interesselosigkeit, die sich oft schon an der Gehirnbildung erkennen läßt. Mit solchen Schülern läßt sich nichts anfangen, weil die notwendigen Bedingungen fehlen. Bevor wir aber von den Hilfsmitteln und der Möglichkeit, das Interesse zu erhalten und zu benutzen, sprechen können, müssen wir das direkte und das indirekte Interesse unterscheiden: Das direkte Interesse wird durch den Gegenstand unmittelbar herbeigeführt. N u n ruft aber das Interesse stets eine Anspannung des Willens und diese eine Verstärkung der Bewußtseinserregung hervor. Dem direkten Interesse entspricht hiernach die unwillkürliche Aufmerksamkeit, die darum so heißt, weil sie nicht mit einer mühevollen, verschiedene Hindernisse erst überwindenden Arbeitsleistung verbunden ist. Das indirekte Interesse ist vorhanden, wenn der Gefühlsanteil sich nicht dem Gegenstande selbst ( z . B . einem bestimmten mathematischen Satz), sondern einem ferner liegenden Ziel (Versetzung in eine höhere Klasse, Vermeidung von Strafen) zuwendet. Ihm entspricht dann die willkürliche Aufmerksamkeit, die mit einer merklichen, Unlust bereitenden Willensspannung und Arbeitsleistung verbunden ist. Das eigentliche Mittel des Unterrichts soll die unwillkürliche Aufmerksamkeit der Schüler sein, nur in ergänzender Weise darf die Aufmerksamkeit durch Aufsteigen in der Klasse, durch Strafen und dgl. gefördert werden. Auf drei Umstände hat der Lehrer, welcher das Interesse und die Aufmerksamkeit wach halten will, Rücksicht zu nehmen: 1. Er kann sich folgender äußerer Hilfsmittel 589 bedienen: Sein Auge muß die ganze Klasse übersehen und beherrschen. Der Schüler muß aufstehen, wenn er antwortet. Ferner: Jedes Kind bedarf der Betätigung seiner Bewegungsantriebe, wie ja das Spiel die notwendige Voraussetzung der Arbeit in der Schule ist. Also hat die „Zwischenpause" ihren guten Sinn. Unzweckmäßig aber ist die bestehende mechanische Stundeneinteilung; hier muß der Lehrer selbst durch passenden Wechsel der Unterrichtsgegenstände nachhelfen. Dabei ist zu berücksichtigen, was gelehrt wird. Aus dem Homer kann man lange Zeit ununterbrochen vorlesen, anhaltendes scharfes Rechnen stumpft die Aufmerk-
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samkeit viel eher ab. Ferner kommt es auf die Geschwindigkeit des Vortrages, auf die Schnelligkeit, mit welcher die Vorstellungen aufeinanderfolgen, an. Geht es zu schnell, so ist baldige Ermüdung, geht es zu langsam, so ist Zerstreutheit die Folge. Wo hier die richtige Mitte liegt, das lehrt die Erfahrung. 2. Die Aufmerksamkeit rege zu erhalten, dienen folgende inneren Hilfsmittel:590 Vor allem das Interesse, welches der Lehrer selbst der Sache entgegenbringt. Denn: Interesse ruft Interesse hervor. Darin liegt auch der große Vorzug des lebendigen Vortrages vor einem Buch, wenn es sich um Aneignung, um Erlernung handelt. Daher ist das auf Universitäten nur zu häufig vorkommende Halten von Vorlesungen, welche auf bloße schriftliche Aufzeichnung hinauskommen, ein Mißbrauch des Rechtes zu dozieren. Der Schüler soll hineingezogen werden in den lebendigen Prozeß, den der Lehrer selbst vollzieht. Schon Piaton hat in diesem Sinne gesagt, daß in dem Mitdenken und Sichaneignen bei Gesprächen die Erlernung der Philosophie bestehe; schriftlichen Aufzeichnungen erkannte er eine ganz andere Bedeutung zu. - Ein weiteres Hilfsmittel 591 folgt aus folgender Überlegung: Wenn ich eine Reihe von Sätzen höre, deren Voraussetzungen mir fehlen, wenn ich Schlüsse höre, deren Prämissen mir nicht deutlich gegenwärtig sind, so erlahmt meine Aufmerksamkeit, weil ein Mitdenken, also die Aneignung des Gehörten, erschwert ist. Daher ist Gründlichkeit notwendig, Stetigkeit des Fortganges vom Leichteren zum Schwereren, vom Einfachen zum Zusammengesetzten. 3. Endlich läßt sich durch geeignete Modifizierung des Inhalts des Unterrichts592 die Aufmerksamkeit befördern: Uberall im Unterricht müssen die anschaulichen Mittel bevorzugt werden; alle Denkoperationen müssen auf die Anschauung zurückgreifen. Ferner muß überall der Zusammenhang mit dem ganzen Bewußtsein zu erkennen sein, die Entwicklung des einzelnen muß mit Rücksicht auf „das Ganze im Gesichtskreis" vor sich gehen. Was der Knabe im Leben hier und da zerstreut an Wahrnehmungen und Vorstellungen erworben hat, soll er geordnet, in systematischem Zusammenhang in der Schule wiederfinden. Im allgemeinen, nämlich bei nicht ganz dummen Menschen, kann man voraussetzen, daß eine gewisse Freude am Denken selbst,593 ohne Rücksicht auf den Inhalt oder die Resultate, an den Denkprozessen als solchen stattfindet. Es wird sich also nur darum handeln, diese natürliche Lust an den Denkoperationen zu steigern durch geeignete Fragen und Aufgaben. Kinder fragen fortwährend, weil sie eine Freude am Wissen, am Können haben. Diese Lust am Denken, am Können, die Freude, von dem Können Gebrauch zu machen, soll man im Unterricht benutzen. Uberall, mag es sich um Erlernung eines Gedichts, um Abfassung eines Aufsatzes, um Lösung mathematischer Aufgaben, um Sammlung von Naturobjekten handeln, überall muß die Aneignung, das Können die Hauptsache sein. -
Interesse und Aufmerksamkeit
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Hier gewinnt nun die Unterscheidung zwischen direktem und indirektem Interesse an Bedeutung. Niemals wird es dem Lehrer gelingen, mittels dieser motorischen Hilfsmittel zur Weckung des Interesses lateinische Deklinationen und Konjugationen, viele mathematische Sätze und dgl. zur Aneignung zu bringen. Hierbei pausiert die unwillkürliche Aufmerksamkeit. Allein es ist in Wahrheit auch nur eine Abstraktion, wenn wir nur ein unmittelbares, direktes Interesse betrachten und voraussetzen. Jedem Schüler ist klar, daß die Schule für das Leben da ist; das ist aber die Ursache eines indirekten Interesses für alle Unterrichtsgegenstände. Wir können so sagen: J e stärker das direkte Interesse ist, welches sich einem Objekt zuwendet, desto ungehemmter und energischer vollzieht sich die Aneignung und die selbsttätige Verarbeitung. Es bedarf aber im Unterricht einer Verstärkung des direkten Interesses durch das indirekte. Will ich einen Knaben wahrhaft fesseln, so bedarf es der Verstärkung des Interesses durch die Berücksichtigung dessen und den Hinweis darauf, was für das Leben von Wichtigkeit ist. Die Benutzung der willkürlichen Aufmerksamkeit, die ja das indirekte Interesse begleitet, ist durchweg für allen Unterricht erlaubt, ja sie ist nicht bloß supplementär, sondern überall notwendig. Aber 594 sie darf, ideell angesehen, nur als notwendige Verstärkung des direkten Interesses auftreten. Auf das direkte Interesse muß der Unterricht zunächst basiert werden. In Rücksicht auf die indirekten Interessen aber sind allemal die aus dem Zusammenhang mit dem Leben entspringenden zu bevorzugen vor der Anwendung von Lohn und Strafen; unter diesen aber ist Lohn immer noch vor der Strafe zu bevorzugen, welche stets etwas Herabdrückendes hat. Ein Wort sei hier noch gesagt über die Bedeutung der willkürlichen Aufmerksamkeit, wenn man die sittliche Erziehung des Knaben ins Auge faßt. Die liebenden Mütter hoffen stets, durch Vorschriften und Ermahnungen gute Charaktere heranzubilden. Das sind nur unschädliche Hausmittel. Der Unterricht ist das einzige große Hilfsmittel der Bildung des Volks hinsichtlich des Willens, demnach auch der Sittlichkeit. Tägliche Arbeitsleistung des Willens, Anstrengung des Willens, das ist es, was den Willen stählt, was ihn diszipliniert. Diese Stählung des Willens aber ist hinsichtlich der Charakterbildung die eigentliche erziehende Kraft des Unterrichts (vgl. Herbart). 5 9 5
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Viertes Kapitel: Die B e n u t z u n g des Gedächtnisses u n d die A u s b i l d u n g eines Z u s a m m e n h a n g s im Seelenleben d u r c h den U n t e r r i c h t 1. Es ist zunächst unsere Aufgabe, einige falsche Ansichten über das Wesen und die Natur des Gedächtnisses zurückzuweisen. Man betrachtet dasselbe oft wie ein abgesondertes Vermögen, wie einen Behälter, in den der Lehrer eingießt, was ihm nützlich scheint; was darin aufbewahrt wurde, wird dann gelegentlich herausgeholt. Oder man betrachtet das Gedächtnis wie eine Totalkraft, die man benutzen kann, die man stärken muß, die man aber auch nicht mißbrauchen darf usw. Dergleichen lächerliche Redensarten entspringen aus falschen Anschauungen über die Natur des Gedächtnisses. - Vergegenwärtigen wir uns einmal die Tatsachen: Wir kennen Personen, die mit großer Leichtigkeit Verse behalten können, aber nicht einen mathematischen oder philosophischen Zusammenhang. Andere wieder behalten viel leichter derartige abstrakte Gedankenverbindungen als ein paar Verse von Langbein. Ferner: Es gibt eine Krankheit, die man Aphasie nennt; die von ihr befallenen Personen sind nicht imstande, Laut- und Wortbilder mit Sicherheit hervorzubringen, während sie zum Beispiel Karten- oder Brettspiele sehr gut zu spielen vermögen. Die Pathologie lehrt uns, daß bei solchen Kranken eine physiologische Störung vorliegt, nämlich in einem ganz bestimmten Gebiet des Gehirns. Das Gedächtnis ist aber nicht etwa nur eine physische Tatsache; in zwei verschiedenen Individuen ist das Gedächtnis etwas gänzlich anderes. Es ist wie eine Eigenschaft unserer Vorstellungen und deren Verbindungen. Einzelne Wahrnehmungen veranlassen einzelne Vorstellungen, die, wie wir sagen, sich assoziieren. Ist diese Assoziation stark genug, so vermag das Gedächtnis aus einem Gliede der Kette von Vorstellungen die übrigen zu reproduzieren. Je nachdem wir nun ausdrücken wollen, daß die Reproduktionsfähigkeit sich erstreckt über lange Zeiträume, oder über weite Gebiete, auf viele Einzelwahrnehmungen oder auf nur lose zusammenhängende Vorstellungen, sprechen wir von einem langdauernden oder einem umfassenden, von einem treuen oder einem leichten Gedächtnis. Das Gedächtnis ist also nicht eine einfache seelische Tatsache, aber auch keine rein körperliche, sondern eine psychophysische. Das Gedächtnis ist nicht ein Vermögen, die Einbildungskraft ein anderes usw. Es596 gibt kein schlechthin treues, gutes oder schlechtes Gedächtnis; denn es ist nicht etwas, was hinter den Vorstellungen steckt, sondern es sitzt in den einzelnen Elementen und Beziehungen der Elemente, welche den Zusammenhang des geistigen Lebens ausmachen.
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Hieraus 597 ergibt sich nun für die Pädagogik das Problem: In welcher Weise müssen die Elemente des geistigen Zusammenhangs und ihre Beziehungen hergestellt werden? Die Antwort hierauf richtet sich offenbar nach den Aufgaben, welche von diesen Elementen und ihren Beziehungen oder kurz von dem Gedächtnis im Leben erfüllt werden sollen. Wir fragen also zunächst: 2. Welches 598 sind die Leistungen des Gedächtnisses in der Ökonomie unseres Geisteslebens? Unser geistiges Leben ist wie ein Haushalt, in welchem möglichst viel mit möglichst wenig Aufwand getan werden soll. Die Störungen, die Erschwerungen in unserem kurzen Leben sind ungemein groß. Da ist nun die Leistung, die das Gedächtnis herbeizuführen hat, gleichsam ein Kunstgriff der Hausfrau. Was würde geschehen, wenn wir von den Wahrnehmungen, die wir beständig machen, nichts oder andererseits alles vor unserem Bewußtsein behielten! 599 Die Ökonomie verlangt, daß ein Zusammenhang von Spuren im Bewußtsein zurückbleibt, von solchen Spuren, die der besonderen Lebensaufgabe angemessen sind: Nicht das ist die schönste und schwerste Leistung eines klugen Kopfes, zu räsonieren, ein paar Prämissen zu einem logisch richtigen Schluß zu verbinden, sondern, was das Genie von dem Dutzendmenschen unterscheidet, ist die größere Beweglichkeit der Vorstellungen, die Reizbarkeit der einzelnen Spuren und das angemessene Zusammenwirken der im Bewußtsein zurückgebliebenen Eindrücke. Daran erkennen wir demgemäß auch den Wahnsinnigen, daß der ganze Zusammenhang der erworbenen Vorstellungen bei ihm nicht mehr in seiner Totalkraft wirkt. „Die geistige Substanz eines Individuums ist der Zusammenhang seiner Vorstellungen." (Tantum scimus, etc.) Betrachten wir jetzt die Leistungen des Gedächtnisses etwas näher: Wir sprechen zunächst von einer Verschmelzung der Eindrücke. Habe ich ζ. B. eine Zeit hindurch denselben Menschen häufig gesehen und erinnere ich mich nach einigen Jahren seiner Gesichtszüge, so vermag ich nicht mehr die früheren einzelnen Eindrücke zu unterscheiden, sondern diese sind zu einem Gesamtbild verschmolzen. So sind alle Begriffe, alle Allgemeinvorstellungen entstanden. Einen zweiten Vorgang des Gedächtnisses nennen wir Assoziation. Dieselbe entsteht da, wo verschiedene Eindrücke miteinander verbunden auftreten. Verschmelzung und Assoziation sind die Leistungen des Gedächtnisses bei der Aufnahme von Eindrücken in das Bewußtsein. Durch sie wird das Gedächtnis in den Stand gesetzt, die folgenden beiden Hauptaufgaben im praktischen Leben zu erfüllen: Die erste besteht darin: im gegebenen Augenblicke die einzelnen Elemente des geistigen Zusammenhangs für das Bewußtsein darzubieten durch Repro-
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duktion. Habe ich einmal mit der Erscheinung einer Person die Vorstellung verschmolzen, das sei der Sohn eines mir bekannten Mannes, so reproduzieren beide Vorstellungen einander. Ebenso liegt das Kennzeichen der Assoziation in der Fähigkeit, daß von einem Glied der Kette aus die übrigen reproduziert werden können. Je nach den gegebenen Bedingungen kann sich die Reproduktion unwillkürlich vollziehen, oder sie ist mit einer starken Willensanstrengung verbunden, sobald die Vorstellungen zu einem bestimmten Zweck gesammelt und wiedererzeugt werden sollen. Aber es ist dies nicht die einzige Aufgabe des Gedächtnisses, das Seelenleben leistet mit ihm noch mehr. Es entsteht nämlich vermittelst der Verschmelzung und Assoziation durch Miteintreten von Gefühls- und Willensakten ein „erworbener Zusammenhang des Seelenlebens".600 Die Sprache z.B. oder einen Begriff reproduzieren wir nicht, und doch steht er uns zur Verfügung. Während ζ. B. in der Vorlesung ganz bestimmte Bilder und Vorstellungen im Vordergrunde meines Bewußtseins stehen, werde ich niemals vergessen, an welchem Orte, in welcher Zeit ich mich befinde. Das Gedächtnis liefert mir mit Hilfe der verschiedenen Erinnerungsreste, die nicht deutlich in meinem Bewußtsein sind, einen dunklen Hintergrund zur allgemeinen Orientierung. Nunmehr kommen 601 wir zu der Beantwortung der Frage: 3. Welches ist die Aufgabe des Unterrichts (der Schule) in Rücksicht auf die Ausbildung des Gedächtnisses, und welches sind die Mittel? Der Unterricht soll dem geistigen Zusammenhang neben der größtmöglichen Angemessenheit die größtmögliche Leichtigkeit der Reproduktion verleihen. Überall, wo eine Aufgabe vorliegt, bedarf es der Kenntnis eines Kausalzusammenhangs, dessen man sich bei der Lösung bedienen muß (Baco: Wir haben so viel Macht als Einsicht und so viel Einsicht, als wir Kausalzusammenhang kennen). So fragen wir also auch hier: Welcher kausale Zusammenhang besteht zwischen den verschiedenen Bedingungen und den Leistungen des Gedächtnisses? Vier Faktoren üben ihren Einfluß aus, und die vollkommenste Leistung ist da, wo diese vier Faktoren vollkommen zur Geltung gelangen: 1.) Der physiologische Zustand. Seinen Einfluß können wir studieren bei den Gedächtnisvirtuosen. Stets ist Grundbedingung: Mäßigkeit im Essen und besonders im Trinken, Enthaltung von Ausschweifungen und Vermeidung stürmischer Affekte. Ferner eine etwas pedantische Ordnungsliebe und Aufrechterhalten einer gewissen Lebensheiterkeit. Aber freilich, so leicht und einfach es ist, solche Rezepte zu geben, so schwer ist es oft, ihnen gemäß zu handeln. 2.) Das Interesse. Man erzählt von Hegel, daß er schon als Gymnasiast die sämtlichen Finessen der scholastischen Logik kannte. Mozart vermochte
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schon als 14jähriger Knabe das Miserere von Allegri, nachdem er es einmal gehört, auswendig niederzuschreiben. Das sind besondere Gedächtnisanlagen, die aus dem Interesse für die Sache hervorgehen. Ein Eindruck, der uns ganz besonders interessiert, braucht nur einmal aufzutreten, um unvergeßlich zu bleiben. 3.) Die Art und Stärke des Zusammenhangs. Anders sind die Beziehungen zwischen Zahlen, zwischen Teilen eines Organismus, zwischen abstrakten Begriffen. Je nach den Anlagen reproduziert der eine leichter einen Zusammenhang von dieser, der andere von jener Art. 4.) Die Anzahl der Wiederholungen und die Abstände, in denen sie erfolgen. Am günstigsten ist eine häufige Repetition nach nicht zu kurzen Pausen. Welches werden demnach die praktischsten Regeln zur größtmöglichen Vervollkommnung des Gedächtnisses im Unterricht sein? 1) Die erste und wichtigste Aufgabe für den Lehrer wird sein, die eigentümlichen Anlagen und die besondere Befähigung zu erkennen und demgemäß einen wichtigen Einfluß auf die Wahl des Berufs ausüben zu können. In unseren Tagen wird leider fast nie der Lehrer darum gefragt, und gar zu oft hängt die Berufswahl nur von äußeren Umständen und vom Zufall ab. 2) Zweitens: Nachdem die eigentümlichen Anlagen erkannt sind und die Wahl des Berufs getroffen ist, gilt es, auf eben diesem umgrenzten Gebiet sich zum Meister aufzuschwingen, ohne auf Nebengebiete abzuschweifen. Durch stetige Wiederholung werden die grundlegenden Eindrücke verstärkt, es wird ein Netz von rückständigen Spuren geschaffen, das sich immer weiter ausbreitet. So erst entsteht ein weiter Gesichtskreis. Ein Historiker ζ. B. wird, wenn er es gut mit sich meint, zunächst das ganze Gerüst der Geschichte sich vollständig fest einzuprägen bestrebt sein. L ar größte Feind dagegen für das Studium ist der Wechsel in der Beschäftigung, sind die „Liebhabereien". Gerade jetzt, wo der ideale Geist so oft aus der eigentlichen Berufsbeschäftigung zu weichen scheint, wendet man sich häufig als einem Ersatz einer ästhetischen Nebenbeschäftigung zu, wie der Musik, Malerei, Poesie. Wenn einer mit irgend etwas sich lieber beschäftigt als mit dem Gegenstande seines Studiums, so ist das Interesse und die Aneignungsfähigkeit hierin vermindert! Das zu vermeiden aber, dazu gehört ein zäher Wille, der eine straffe Zucht, eine sorgfältige Ökonomie des geistigen Haushalts innerhalb des ihm geeigneten Gebiets herstellt. Es bedarf neben der Mäßigkeit, der Ökonomie des körperlichen Lebens, welche die Gesundheit erhält, auch 3) einer geistigen Ö k o nomie, durch welche einer Vergeudung geistiger Tätigkeit entgegengetreten wird. Die Stärke des Zusammenhangs, aufgrund dessen sich jeder Bewußtseinsakt vollzieht, ist ferner bedingt durch den Grad der Ordnungsliebe, die sich äußerlich kundgibt in der sorgfältigen Anordnung der Bücher, in der
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pedantischen Einteilung der Zeit (im regelmäßigen Besuch der Kollegien). Auch dies gehört zur Ökonomie des geistigen Lebens, auch hierzu ist ein zäher Wille notwendig. Wir müssen vieles im Leben vergessen wegen der Sparsamkeit. Jeder Musiker vergißt manches von der Theorie; jeder Mediziner vergißt vieles von seiner Physiologie und Botanik usw. - Aber durch stetige Wiederholung nach längeren Zwischenräumen wird immer wieder der Zusammenhang hergestellt, auch ohne phänomenale Gedächtnisanlagen. Dem bisher Gesagten gemäß lassen sich nun für die Schule einige äußere Hilfsmittel angeben, welche für die Entwicklung des Gedächtnisses von günstigem Einfluß sind: 602 Die Unterlage jeder normalen Ausbildung des Gedächtnisses ist die Erwekkung des Interesses. Darum ist die erste Regel: Bevorzugung der Rede vor der Schrift. Schon Piaton macht darauf aufmerksam, daß die mündliche Darstellung eine viel größere Nachdrücklichkeit habe als die schriftliche; er, der größte Prosaiker seiner Zeit, betrachtete seine Schriften nur als Erinnerungen an mündliche Gespräche. So hat auch die Schule die Aufgabe, überall im Unterricht der lebendigen Rede und Unterweisung vor der Inanspruchnahme häuslichen Fleißes den Vorzug zu geben. 603 Diejenigen, welche an die Schüler große Anforderungen bezüglich des häuslichen Fleißes stellen, sind schon allein darum die schlechtesten Lehrer. Erst in den oberen Klassen, wo die Fähigkeit der Selbstbeschäftigung ausgebildet werden soll, kann auf die häusliche Tätigkeit mehr Anspruch erhoben werden; auch hier aber soll es niemals öde Gedächtnisarbeit sein. Eine zweite Forderung war: pedantische Ordnungsliebe, Wiederholung. Daher folgt für die Schule: Möglichst dieselben Lehrbücher, dieselben Ausgaben der Klassiker sind beizubehalten. Man muß in seiner Cicero-, Homer-, Sophokles-Ausgabe zu Hause sein und bleiben, um während des ganzen Lebens die Stellen auf derselben Seite stets wiederzufinden, wie einst in der Jugend. Das hat mehr Wert als die Kenntnis der neuesten Konjekturen. Ferner schließt sich hier noch an die Forderung, daß der Unterricht stufenweise, ohne Lücke und ohne Sprung vorschreite. 3. In der Seele soll sich ein erworbener Zusammenhang des geistigen Lebens herstellen. Vergleichen wir den geistigen Vorrat mit einer wohlgeordneten Büchersammlung. Eine Bibliothek, die jemand geerbt hat, hat wenig Wert für ihn; die er selbst erworben hat, Stück für Stück, in der er den Stand jedes einzelnen Buches und den Inhalt desselben kennt, sie kann als das getreue Abbild des Seelenlebens gelten. Feste, gleichförmige Verbindungen zwischen den einzelnen Vorstellungen herzustellen, nie die Ordnung der erworbenen Eindrücke zu ändern, ist also notwendig. Eine solche Leistung kann aber die Schule nur vollführen, wenn sie stets in direkter Beziehung zum Leben bleibt.
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In unseren Tagen betrachtet man meist das Leben auf der Schule nur als Vorbereitung für die Universität, das Studium auf der Universität nur als Vorbereitung für das Leben. Allein dazu ist das Leben viel zu kurz, um so viele Jahre nur als vorbereitend ansehen zu können. Aber freilich: Durch unsere heutige Schulpedanterie wird die Lebensfrische erstickt, die Lebendigkeit des Geistes (die den Engländern so eigentümlich ist) ertötet. - Da ist vieles zu bessern, und der Anfang ist zu machen mit der Ausbildung und Benutzung des Gedächtnisses! -
Fünftes Kapitel: Die Ausbildung des Verstandes Die Lehre von der Ausbildung des Verstandes ist der bis jetzt am besten entwickelte Teil der Pädagogik, da gerade die Operationen und Leistungen des Verstandes am durchsichtigsten sind. In der Erkenntnistheorie und Logik wird er sich selber Gegenstand. Daher haben diese beiden Wissenschaften schon heute einen hohen Grad von Vollkommenheit erlangt. Daher ist die wissenschaftliche Behandlung der Pädagogik ausgegangen von der Analysis des Verstandes und der Anwendung dieser Analysis auf die Methodenlehre des Unterrichts. Die Ausbildung des Verstandes gehört zuerst der Praxis des Lebens selbst an. Die Sophisten und Sokrates waren die ersten, die eine Technik der Verstandesausbildung entwickelten. Die Sophisten, welche darum bekanntlich in der antiken Erziehung Epoche machten, gingen von dem Grundsatz aus, daß eine formale Bildung im Denken und in der Rede hergestellt werden müsse. Vor ihnen war die Ausbildung der Griechen vorwiegend eine gymnastisch-musische gewesen. Die Art der staatsmännischen Bildung des Themistokles bestand in Unterweisung in der Poesie, in der Musik, daneben in den elementaren Künsten des Lesens, Schreibens und Rechnens. Perikles empfing allen Unterricht als Interpretation von Dichtern und musikalischen Werken. Es war eine Bildung des Gefühls, der Phantasie, eine ausschließlich ästhetische Bildung. Dies war dem griechischen Geiste gemäß, in welchem denkendes Anschauen, d. h. verallgemeinerndes Anschauen und entsprechend der Typus, andererseits lebendiger Prozeß, Bewegung in der Sprache regieren. Diese Richtung des griechischen Geistes wurde verstärkt durch die musisch-gymnastische Erziehung. Homer wurde das Vehikel dieser Geistesrichtung. In der Plastik und dem Drama war sie überall wirksam auf jeden Bürger. Nun verlangte man wegen der veränderten Lebensverhältnisse, da den Ge-
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richts- und Volksversammlungen eine gegen früher viel größere Bedeutung zukam, eine veränderte Erziehung, eine technische Bildung des Verstandes. In diesem Sinne waren die Rhetorenschulen der Sophisten und später die Philosophenschulen tätig. Die Sprache als die anschauliche, sinnliche Form des Denkens, höchste Blüte der lebendigen Beweglichkeit, wurde für die Griechen nunmehr der Mittelpunkt ihres ganzen Unterrichts. Der so entstehende technische Betrieb bestand in der Auffindung und Mitteilung logischer und rhetorischer Regeln, Übung in der Disposition einer Rede, in beständigem Rückgang auf die Regeln und Einübung derselben bei der Lektüre. So ging es her in den Schulen des Protagoras, des Gorgias. Bei Sokrates kam dann hinzu die Ausbildung des Gesprächs. Die im Zusammenhang dieser Bewegung von Isokrates gegründeten Rhetorenschulen sind das Vorbild des heutigen Gymnasiums geworden. Seine Form empfing dieses von Quintilian als lateinische Rhetorenschule. Von den Humanisten wurde es alsdann nach Deutschland übertragen. 1. Diese Technik der Denkübung, angeschlossen an das Gespräch, entfaltete sich im elementaren Unterricht zunächst als von den Geistlichen geübte katechetische Methode. Zur weiteren Ausbildung für die Schulen gelangten diese Methoden durch [F.] E. von Rochow und von Zedlitz, bis dann durch Pestalozzi diese Elementarschulen bedeutend erweitert wurden. Diese Technik ist der eigentliche Grund dafür, daß die europäischen Schulen beständig an Erfahrungen und hausbackenen Regeln für die Ausbildung des Intellekts reicher wurden. 2. Das 17. Jahrhundert begründete dann die Lehre von den Unterrichtsmethoden. Dieser Begriff hatte zur Voraussetzung und Unterlage die Methodenlehre der Wissenschaft überhaupt, die begründet wurde von Bacon und Descartes. Diese schufen die moderne Methode der Induktion und der mathematischen Deduktion. Ihnen schließen sich an die Methodenlehren des Spinoza und Leibniz. Der Fortsetzer in dieser Richtung war Comenius. Derselbe ging von dem Korrelatverhältnis der Sprachen und der Sachen aus. In den Unterlagen suchte er das tiefsinnige Verhältnis zwischen dem System der Mannigfaltigkeit der Worte und der Gliederung der Sachen zum Bewußtsein zu bringen. Noch hat niemand diese tiefe Richtung weiter verfolgt. Er ist eben viel gelobt, aber nicht verstanden worden. Er gedachte die Wortaneignung, diese furchtbare Last für den kindlichen Geist, so zu erleichtern. Auf dieses Korrelatverhältnis wollte er dann zwei Systeme errichten, welche in der Schule parallel entwickeln würden. Das System der Kenntnis der Sprache mußte unter einem solchen Gesichtspunkt zu einer philosophischen Grammatik werden, Ordnungen der Wissenschaften nach der Verwandtschaft.
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3. Eine dritte Epoche wurde dadurch gebildet, daß eine wirkliche Kausalerkenntnis des menschlichen Intellekts herbeigeführt wurde. Den Anfang dazu machte die Oxforder Schule durch Aufstellen des Satzes: Ein jeder Begriff ist eine bloße Vertretung von Einzeltatsachen, von Einzelwahrnehmungen. Begründer einer durchgeführten Kausalerkenntnis auf diesem Gebiet war John Locke. Von ihm ging ein unermeßlicher Antrieb zur Analysis aus. Viele Historiker der Philosophie möchten unserem Kant diese zentrale Stellung einräumen. Allein eine „Zergliederung" des menschlichen Verstandes hat Kant nie angestrebt. Die von Locke ausgegangene Bewegung ging auf Leibniz über, auf Hume, Voltaire, Rousseau usw. Turgot wagte sich an eine analytische Zergliederung des Verlaufs der Geschichte, Adam Smith machte sich an die Nationalökonomie, Rousseau begann die Zergliederung der menschlichen Gesellschaft. Analysis, Zergliederung war das Schlagwort der Zeit, überall galt es, Kausalverhältnisse aufzusuchen. So wurde denn auch die Zergliederung des menschlichen Intellekts die Basis aller intellektuellen Erziehung. Die gewöhnlichen Vorstellungen von dem Wesen des Verstandes unterliegen derselben Konfusion als die vom Wesen des Gedächtnisses und der anderen „Seelenvermögen". Kant sagt: Begriffe ohne Anschauungen sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Aber da fragt man: Wo ist die Grenze zwischen Verstand und Sinnlichkeit? Kant antwortet auf die Frage: „Gehört die Raumvorstellung der Sinnlichkeit an?" im ersten Teil seiner „Kritik" bejahend; nachher sagt er, Verstand müsse auch hinzukommen. Es lassen sich eben nicht Sinnlichkeit und Verstand als verschiedene Vermögen trennen. Gegenüber dieser ganzen Verwirrung stellen wir folgende elementare Sätze auf: 1. Das Seelenleben ist nicht ein Haus mit mehreren Stockwerken, in dessen unterem die Anschauungen und Wahrnehmungen säßen, während eine Treppe höher der Verstand und noch höher etwa die Vernunft ihren Platz hätten. Sondern Sinneswahrnehmungen sind ebensogut diskursive Vorgänge wie die Denkoperationen; in beiden Fällen wird unterschieden, verglichen usw. Wenn ich das Zimmer anschaue, so denke ich über den Raum gerade so, wie in Begriffen, Urteilen und Schlüssen. 2. Dasjenige, was im Sinnesurteil geleistet wird, ist äquivalent den logischen Prozessen, welche diskursiv verlaufen, und läßt sich durch solche darstellen. Die elementaren Prozesse, das Verbinden, Vergleichen etc., sind überall dieselben. Hier löst sich ein Streit aus der Sinnespsychologie, der viel Aufsehen gemacht hat: Helmholtz hat bekanntlich die Lehre vom unbewußten Schlußverfahren entwickelt: Der Mensch betrachtet seine Empfindungen als data essentiae und schließt danach auf das objektive Verhalten der Dinge. Aber die Geschwindigkeit dieses Vorgangs ist so groß, daß der diskursive Verstand mit seinem Schlußverfahren nicht mitkommt. Allein das Wort „Schluß" ist hier ein
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unrichtiger Ausdruck; Helmholtz kann und will offenbar nur sagen: Die Operationen, welche mir die Wahrnehmungen schaffen aus den Empfindungen, sind einem Schlußverfahren äquivalent und lassen sich in einem solchen darstellen. 3. Die Denkvorgänge sind in dem einen wie in dem anderen Falle sehr zusammengesetzter Natur. Die Voraussetzung und Unterlage für alle solche Vorgänge bildet das Interesse. Durch die Aufmerksamkeit wird die Bewußtseinserregung verstärkt zum Beziehen, Vergleichen, kurz zur Einleitung einer Reihe von elementaren logischen Prozessen. Im einen Falle entsteht die Sinnesanschauung, im andern das diskursive Denken. Aus diesen Sätzen ergeben sich für die Pädagogik die nachstehenden Folgerungen: 1. Anschauungsfähigkeit, Gedächtnis, die Kräfte des Denkens sind nicht verschiedene Vorgänge, sondern nur verschiedene Seiten desselben uns schon bekannten Prozesses. Wahrnehmungen sind bei uns vorübergegangen, leise Spuren sind zurückgeblieben, ein Zusammenhang blieb ebenfalls zurück, die Reproduktion wurde möglich, die Vorstellungen traten miteinander in Beziehung. Worte bezeichnen die Allgemeinvorstellungen, die Begriffe von Subjekt und Prädikat sind nunmehr da. 2. Die Pädagogik hat es nie vermocht, den Anschauungsunterricht von den primitivsten Denkübungen zu trennen. Ganz natürlich! Der Anschauungsunterricht ist schon ein elementarer Denkunterricht. Die Abtrennung eines Vokals, das Ziehen einer Linie, das Unterscheiden von Farben und Schattierungen, alles das sind Übungen des Abgrenzens, Beziehens, Schätzens, Übungen des Urteilens und also des Denkens. Der Unterschied liegt in dem Auftreten der Sprache. Diese bezeichnet eine Grenze. Der erste, der systematische Denkübungen vorschlug, war Herr von Rochow (zur Zeit Friedrichs des Großen); er fand, daß seine Bauern in der Verstandesbildung sehr zurückgeblieben seien und daß die Armut unter denselben gerade durch den Mangel der Verstandesbildung verschuldet werde. Die Elementarschule seiner Zeit bot außer dem religiösen Unterricht nichts als Unterweisungen im Schreiben und Lesen; er wollte nun diese Schule zum Sitz der Verstandesbildung machen. Für diese seine Bestrebungen interessierte sich Friedrich der Große derart, daß er sofort 100000 Taler anwies für Beschaffung von Lehrern im Sinne Rochows. Der Knabe sollte sich erst heimisch machen in der Welt; so wurde ihm ein Bild vorgelegt, unter welchem dann Worte und Sätze standen. Anhand dieses Anschauungsmaterials wurden dann die Operationen des Vergleichens, Beschreibens, Einteilens, Definierens geübt. Basedow fuhr in Rochows Sinn fort. Gezeigt und erläutert wurden Bilder der Weltkugel, Darstellungen von menschlichen Verhältnissen, aus der Natur und dergleichen. Eins wurde daher
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bald notwendig: Man mußte den Kindern die Logik selbst, die Gesetze des Denkens in leicht faßlicher Form darbieten; so entstanden Bücher über Kinderlogik von Ebeling, ferner 1786 von Moritz (Berlin). Nunmehr wird planmäßig damit begonnen, Denkübungen anzustellen, die Operationen des Denkens zum Bewußtsein zu bringen. Karl Heinr. Krause (1831, 5. Aufl.) brachte diese Bestrebungen gleichsam zum Abschluß. 604 Nun aber kam eine Gegenströmung, die ausging von Rousseau, Goethes Werther, Schillers Räubern, der Ästhetik der Stürmer und Dränger und vor allem von der Pädagogik Pestalozzis, der sich wie wenige zuvor mit angeborenem Talent in die Kinderseele hineinzuversetzen vermochte. Nicht etwa hat dieser das Denken aus dem Unterricht eliminiert, nur hat er denjenigen, die es besonders zum Geschwätz herabsinken ließen, die Ausbildung des schweigenden Denkens gegenübergestellt.' 05 Sein Anschauungsunterricht war wieder reine Sinnesübung, verbunden mit elementarem Denkunterricht. Schweigendes Erfassen der Objekte und Vertiefung in dieselben kam zuerst, dann erst in zweiter Linie das diskursive Denken. Dem pädagogischen Genius eignet das Vermögen, sich zu vermindern, zu verkleinern, [ein] Zusammenschrumpfen der komplexen geistigen Bildung in das Elementare, Naive, Instinktive. So vermag er den unermeßlichen Wert gerade des Elementaren zu erfassen. Dies ist Pestalozzis Größe [.. .].606 Wie ein Kind war Pestalozzi naiv, von lebendiger Anschauungskraft, fern von aller abstrakten Bildung, ein Kind des Volkes, fähig, sich selbst zu verkleinern und zu verringern zur Kindesseele, nichts in sich von jenen altklugen Aufklärungsversuchen seiner Zeit, nichts von dem tändelnden Spiel mit Kindern vornehmer Eltern. Sein psychologisches Prinzip liegt in dem Satze: Das Seelenleben besteht aus Kräften, jede Erziehung entwikkelt nicht neue Kräfte, sie ist nur eine Evolution des ursprünglichen Systems von Kräften in der menschlichen Seele. Wenn nun die Erziehung Evolution ist, Entfaltung des Kräftesystems, dann ist ihr natürlicher Gang der von den elementarsten Kräften an, von den Anschauungen, von den ursprünglichen Trieben, den zuerst auftretenden Neigungen. Alle Erziehung ist Entfaltung dieses Systems, und „glücklich sein" ist nichts anderes, als: dieses System zu einem möglichst vollkommenen entfaltet [zu] haben. Pestalozzi gehört in diesen Sätzen zur Schule Rousseaus. Aber was Rousseau in der Einsamkeit fand und in den Salongesellschaften der Pariser Welt diskutierte, das führte Pestalozzi unmittelbar in die Kinderstube, in die Schule ein. Wieder zeigte sich, daß der Ort pädagogischer Erfindungen und Fortschritte die Schulstube ist. Das Verhältnis der Schule zum Kinde ist gleichsam ein fortdauernder Anschauungsunterricht. Hieraus ergibt sich dann weiter: Alle Erziehung ist nicht ein Import von Eindrücken in die Seele, sondern eine Entfaltung von innen heraus. Erziehen heißt, das Kräftesystem der Person entfalten. Mache eine Person zum Mittel-
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punkt von Kraft, und diese Person wird sich stets mit Leichtigkeit Kenntnisse jeder Art erwerben. In einem Buche von Sybel wird erwähnt: Als Kaiser Wilhelm I. bejahrt zur Regierung kam, besaß er nur wenig Kenntnisse von der Verwaltung eines Staates. Aber da er die Schule der Kraftentfaltung im eigenen militärischen Dienst durchgemacht hatte, war es ihm leicht, die neuen Kenntnisse sich bald zu erwerben. Einen solchen für das Leben wirksamen Zusammenhang des Seelenlebens herzustellen ist die Aufgabe aller Erziehung. Die durch Pestalozzis Auftreten angeregte Frage: Sind Anschauungs- oder Verstandesübungen vorzuziehen? wird durch folgende Sätze beantwortet: Die Anschauung vermittelst der Sinne ist überall die Unterlage. Von ihr strahlen vielseitige Interessen aus: die Gedächtnisübungen, Übungen in strenger und klarer Auffassung, dies alles ist aber von Verstandesübung gar nicht unterschieden. Die Aufgabe der Erziehung aber ist eben nur, einen klaren Zusammenhang herbeizuführen, der für das Leben nützlich ist. So ist die Lösung des Problems der Erziehung in der Schule Pestalozzis. Eine andere Entfaltung erfuhr dasselbe in den höheren Schulen. Die G y m nasien sind eine Schöpfung des 16. Jahrhunderts, der Reformationszeit, des Humanismus. Sie entstammen den Vorschriften von Cicero Quintiiianus über rechte Bildung; diese Vorschriften entstammen den Rhetorenschulen Griechenlands. Ihre Grundlage ist Sprache, Literatur, ausdrückliches Denken. Am vollkommensten war das (zwiesprachliche) Gymnasium des Melanchthon und des Rektors Sturm zu Straßburg. Die Organisation des Gymnasiums ging von der Unterscheidung der grammatischen, rhetorischen und dialektischen Stufe aus, wie sie sich im Mittelalter ausgebildet hatte. Es war eigentlich eine Schule der systematischen Grammatik, der Logik und Rhetorik, also des Denkens in seiner Verbindung mit dem Sprechen. Sonach hatte die Lektüre einen beständigen Zielpunkt in dem systematischen Lehren von Grammatik, Rhetorik und Dialektik. Demgemäß gab es entsprechende Lehrbücher, auch wurden z . B . die Werke Ciceros in diesem Sinn zu verstehen gesucht. Diese Beschäftigung mit Theorien (die auch einen Erwachsenen beschäftigen konnten) führte eine Entwicklung des Verstandes herbei; die Ziele waren: Auffassung und Verständnis der Alten, Dialektik, formale Logik, Stilistik und Rhetorik, endlich einiger Einblick in die Natur der physikalischen, der geschichtlichen Vorgänge. Somit schuf das Gymnasium eine Art von wissenschaftlichem Abschluß. Es war ein in sich geschlossenes, einen klaren, obwohl eingeschränkten Bildungszweck erreichendes Ganzes.- In Deutschland wurde diese Richtung erst spät aufgegeben, verdrängt durch die Renaissance des Griechentums in dem Zeitalter F. A. Wolfs. Nunmehr betrachtete man das Altertum ästhetisch, das Griechentum als Ideal der Menschheit. So wurde auch die Betrachtung des Alten als des Ideals, die Erhebung der Seele durch Hingabe an das Griechen-
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tum, Aufgabe des Gymnasiums. Bis in das 18. Jahrhundert hinein war das Analysieren der Schriften von Cicero, Tacitus etc. die Hauptsache. Seitdem aber trat das Griechische mit in den Vordergrund. Neben dem Analysieren schaute und betrachtete man auch. Dieses wahre Wesen des „humanistischen" Gymnasiums müßten wir zu erneuern streben. Dazu dienen in unserer Zeit Mathematik und Naturwissenschaften, Logik, Rhetorik, Syntaktik, nicht als besondere Unterrichtsfächer, sondern allgemein eine logische und rhetorische Bildung des Geistes. Die Engländer haben diesen Weg nie verlassen, leider aber wir, verleitet durch Männer wie Heyne, Wolf, die beiden Humboldt. 607
Sechstes Kapitel: Die Struktur des Seelenlebens. Die Stellung der logischen Operationen in demselben und die dort entstehenden Aufgaben der Verstandesbildung I. Der Zusammenhang, in welchem das Denken innerhalb des Seelenlebens auftritt, ist durch dessen Struktur bedingt: Innerhalb der intellektuellen Sphäre sind Eindrücke zunächst miteinander zu Wahrnehmungen verbunden. Diese verschmelzen mit schon vorhandenen Vorstellungen. Aus der Reaktion unseres Trieblebens auf diese Eindrücke entspringt dann eine Mannigfaltigkeit sinnlicher und geistiger Regungen, die nun in Willenshandlungen übergehen. Das Erkennen ist nicht eine Funktion, die vom Himmel gefallen ist, die für sich allein in der Seele stünde. Niemand erkennt ursprünglich, denkt ursprünglich, um eine Befriedigung eines Denkaktes herbeizuführen. Sondern das Denken schiebt sich zwischen Wahrnehmung und Triebleben. Die untersten Lebewesen (Meerbewohner) haben noch nicht einmal getrennte Eindrücke; dann kommt bei höher entwickelten die Trennung der Eindrücke durch verschiedene Sinnesorgane und so fort, endlich die Ausbildung des Gehirns. So sehen wir z . B . den hilflosen Seestern den Zufällen des Lebens ohnmächtig gegenüber; dagegen dann den Fisch, der so viel geschickter ist, Gefahren zu vermeiden, Eindrücke absichtlich herbeizuführen; endlich die vollkommenste Verwertung der Eindrücke beim Menschen. Auch hier ist überall, wie Schopenhauer sagt, der Intellekt die Laterne, die den Weg zu den Zielen des Willens beleuchtet. Gerade so entfaltet sich im Gehirn des Kindes allmählich die Fähigkeit, Eindrücke zu trennen, Assoziationsprozesse zu vollziehen, um sich zurechtzufinden und seinen eigenen Weg zu wandeln.
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Wir sahen: Zwischen Wahrnehmung und Reaktion treten Zwischenglieder ein, deren teleologischer Sinn der ist, die Eindrücke für die Willenshandlungen tauglich zu machen. Das menschliche Denken ist nichts anderes als die Ausbildung dieser Zwischenglieder zwischen den Sinneseindrücken und den Willensund Gefühlsleistungen. Diese Zwischenglieder sind zunächst Prozesse der Assoziation, der Unterscheidung und Verschmelzung, es sind die primären Prozesse, deren das Seelenleben in Rücksicht auf Eindrücke überhaupt fähig ist: Trennen und Verbinden.608 Ein Hund sondert das Bild seines Herrn genau von den Bildern aller anderen Menschen ab; er vermag von der verschiedenen Kleidung desselben abzusehen und ihn als denselben wiederzukennen. So entsteht, wie im Tier, auch im Kinde eine Mannigfaltigkeit von repräsentativen Vorstellungen, welche ihm die einzelnen Eindrücke vertreten, die sich dann also assoziieren und gegenseitig reproduzieren. Diese bloßen Trennungen und Verbindungen ermöglichen schon dem Tiere, sich vor Gefahren zu schützen, anzugreifen oder sich zu verbergen. So entstehen die Gegenstände des Denkens, Totalvorstellungen von Objekten, Allgemeinvorstellungen; immer aber [sind es] Transformationen der einzelnen primären Eindrucksassoziationen durch das Denken. Betrachten wir die also entstandenen psychischen Gebilde, so zeigen dieselben zwei verschiedene Seiten, und auf dieser Zweiseitigkeit beruht das ganze diskursive Denken des Menschen. Die angegebenen Vorgänge bringen erstens an den Vorstellungen eine Tiefendimension hervor, d. h. eine Verschmelzung und Verdichtung mannigfaltiger Eindrücke. Das Bild des Zimmers, der Universität repräsentieren für mich eine große Anzahl früher erlebter Eindrücke. Zweitens findet sich eine jede Vorstellung in Verkettung mit anderen; nirgends im Bewußtsein sind die Vorstellungen isoliert, sondern in feste Verhältnisse, in festen Zusammenhang miteinander gebracht; man kann dies die Längenrichtung der Vorstellungen nennen. Hier können wir nun das diskursive Denken gleichsam im Entstehen belauschen. Es ist Übergang zum Denken in 'Worten, ein Ablauf von Worten, der von Schatten gleichsam von Vorstellungen begleitet ist. Früher nahm man zwei getrennte Stockwerke des Seelenlebens an: ein unteres, in dem die Assoziation, und ein oberes, in dem das diskursive Denken seinen Platz hatte. Allein, im unteren Stockwerk haust gar nicht Assoziation allein, sondern in den elementaren Prozessen ist auch schon das Gleich- und das Ahnlichfinden, das Trennen und Verbinden enthalten, ohne das überhaupt keine Assoziation, keine Verschmelzung möglich ist. Das diskursive Denken aber ist nur genau dasselbe, es sind dieselben elementaren Prozesse, nur unter neuen Bedingungen, in neuen Verhältnissen zur Geltung gebracht. Das Seelenleben ist eben ein einziges Ganzes, und das Eigentümliche des diskursiven Denkens ist nichts als
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das Spiel derselben elementaren Prozesse, nachdem die Sprache zu entstehen begonnen hat. Schon auf der niedersten609 Stufe finden wir Vorgänge, deren Entstehung einem diskursiven Schlußverfahren gleicht. So finden wir, daß Instinkthandlungen zweckmäßig unter Berücksichtigung der Umstände abgeändert werden. Ferner bilden sich610 Allgemeinvorstellungen. Sehe ich, wie ein Hund nur mit ihm ähnlichen Hunden verkehrt, so scheint es doch, als begriffe er die ganze Schar unter einer Gattung zusammen. Denkt man sich nun im Menschen das Verbinden, Trennen etc. mit dem Besitz der Sprachzeichen für die Bestandteile und Verbindungen, die so entstehen, verbunden, so entstehen diskursive Denkakte. Dies stellt sich am einfachsten an den Urteilen dar, die eine explizite, mit Sprachzeichen ausgestattete, daher in Zeitmomenten gesonderte, in Zeitreihen in Wörtern verlaufende Apperzeption sind. Ich denke mir einen Wilden auf der untersten Stufe der Kultur: Er blickte oft in die See und sah dort immer nur kleine Kanus seines Stammes, aber man hat ihm oft erzählt von großen Kriegsschiffen, die die Vorfahren einst gesehen hätten. Nun kommt ihm eines Tages ein Kriegsschiff entgegen. Alsbald wird in seinem Bewußtsein aufgrund der schon erhaltenen Gemeinvorstellungen und der Nachricht ein Satz entstehen: „Das ist ein Kriegsschiff." Dies ist in gewissem Sinn nichts anderes als eine Apperzeption. Das Denken ist also nicht etwas Neues, von den vor sprachlichen intellektuellen Lebensäußerungen gänzlich Verschiedenes. II. Wir kommen jetzt zur Anwendung dieser Erkenntnis auf die Pädagogik. Jede Art von Sinnenübung enthält eine primitive Denkübung in sich; denn sie ist eine Übung im Unterscheiden, Trennen usw., das heißt in den elementaren Prozessen, die im Denkvorgang ebenfalls den Kern bilden. Also a) eine getrennte Übung der äußeren Sinne und des Denkens ist nicht möglich. Fragen wir nun: Was ist das Ziel der so eingeleiteten Denkprozesse? Die Anwendung des Wortes „cognoscere" (erkennen) zeigt, b) daß die Einordnung der Eindrücke unter die bekannten, die Aufnahme der Rohstoffe der Wirklichkeit in den Bewußtseinszusammenhang zunächst geschieht im Erkennen. So ist das Erkennen ein Aneignen des Rohstoffes der Eindrücke, ein Zubereiten durch die Unterordnung unter das schon Besessene, ein Tauglichmachen zur Benutzung für künftige Willenshandlungen. Also falsch ist die Auffassung des Utilitarismus, nach welchem alles Erkennen durchweg und immer im Dienste des Nützlichen steht. Der Naturmensch würde den Druck der Außenwelt nicht ertragen, wenn er nicht die Fülle der Eindrücke gewissen Grundvorstellungen unterordnen würde. So entsteht aus dem Bestreben, über die Affekte, welche die Gewalt und Fremdheit der Dinge [in] uns erregen, die aus deren Einwirkungen entstehen, Herr zu werden, Sprache, Mythus, Religion, Dichtung, ferner der Versuch, das Fremde anzu-
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eignen und zu unterwerfen, die Anfänge aller Metaphysik. Alle weitere Entwicklung der Kultur ist eine Erweiterung dieser Grundvorstellungen. Nun kennen wir das Ziel und wollen hieraus Schlüsse ziehen auf die Pädagogik, auf die Ausbildung des Verstandes. Das Ziel der Schule in bezug hierauf ist die Ausbildung eines angemessenen psychischen Zusammenhangs. Alle Kernhaftigkeit des menschlichen Seelenlebens beruht auf der Ausbildung eines solchen. Fragen wir, worin die Angemessenheit und Leistungsfähigkeit dieses Zusammenhangs beruht, so lautet die Antwort: in der Vielseitigkeit des Interesses, in der Angemessenheit an das Wirkliche, im Zusammenhang, im Schaffen von solchen Verbindungen, die für das Leben nutzbar sind. Als Leitfaden gilt dabei, daß aller Unterricht stufenweise nachgehen muß derjenigen Entwicklung, die das Menschengeschlecht durchgemacht hat. Eine metaphysische Zeit muß auch die Jugend unserer Tage einmal durchmachen, d. h. von gewissen dem Gefühl entsprechenden Grundvorstellungen aus (z.B. aus der Weltanschauung Piatons heraus) die Welt sich unterwerfen. Wir haben nunmehr alle Voraussetzungen zusammen, um die Natur der Verstandesbildung und des Unterrichts ableiten zu können. (Die gewöhnlichen Darstellungen der Pädagogik sind gerade in diesem Hauptpunkt unwissenschaftlich.) Wir können sagen: Jeder Vorgang des Denkens kann von zwei Seiten betrachtet werden: es ist einmal das Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen, andererseits das Verhältnis der Kausalität, des inneren Zusammenhangs. - Von der Außenseite angesehen, ist die Verstandestätigkeit eine Bewegung vom Allgemeinen zum Besonderen, vom Besonderen zum Besonderen oder vom Besonderen zum Allgemeinen, je nachdem ich untersuche, entwickle usw. Die ganze Lehre kann aufgebaut werden auf die Umfangsverhältnisse der vom Denken angewendeten Begriffselemente. Das ist die formale Logik im engsten Sinne; sie behandelt das syllogistische und induktive Denken. - Von innen angesehen, ist das Denken ein Zusammenfassen des Zusammengehörigen, Herstellung der Kausalbeziehungen. Hier ist Denken Verkettung der Glieder, Aufdecken von Ursache und Wirkung. Also erstens das Suchen der Allgemeinheit und zweitens das der Notwendigkeit sind die Tätigkeiten des Denkens; diese beiden Seiten umfaßt die Natur des Denkvorgangs. Fassen wir zuerst die erste Seite ins Auge: Unter einem Allgemeinbegriff verstehen wir dasjenige Gebilde, welches die einzelnen Begriffe unter sich befaßt. Ein Urteil ordnet, formal angesehen, den Subjektbegriff dem Prädikatsbegriff unter; z.B. „Alle Menschen sind sterblich." Der Umfang des Begriffs „sterblich" ist größer als der des Begriffs „Mensch". Wenn ich urteile, so sage ich im allgemeinen nicht: „s ist gleich p", sondern ich ordne das s dem ρ unter; das ρ ist mindestens ebenso umfassend wie das s. Das Urteil ist also,
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formal angesehen, eine Umfangsbeziehung. Das Bejahen ist eine Einschließung des einen Umfangs in den andern, das Verneinen eine Ausschließung. Die Vorstellung dieser Umfangsbeziehungen kann geleistet werden durch Kreise. So kann man die ganze Syllogistik als Fortgang vom Allgemeinen zum Besonderen auf Beziehungen von Kreisen untereinander zurückführen. Ebenso kann die Induktion als ein Fortgang vom Besonderen zum Allgemeinen aufgefaßt werden, wie schon Aristoteles ausführte. Die Induktion ist meist unvollständig. Bacon fand die Notwendigkeit, durch künstliche Methoden diese Lücken auszufüllen. Es bleiben eben Lücken, wenn man das Denken nur von außen betrachtet. Da hilft uns die innere Seite des Denkens, das eine Abhängigkeit des b vom a feststellt. Die Benutzung der Umfangsverhältnisse ist diesem modernen Denken nur Mittel zum Zweck. Das moderne Denken 611 ist Kausalerkenntnis, während das antike nur die Umfangsbeziehungen feststellt. Nehmen wir ζ. B. einen ganz einfachen Fall von Induktion: Ein Physiologe will erfahren, welche Funktionen den einzelnen Teilen der Großhirnrinde zukommen. Er lädiert einen gewissen Teil ζ. B. eines Kaninchens oder trägt ihn ganz ab; dann sucht er durch Atzung oder dergleichen Änderungen in der Lebenstätigkeit hervorzurufen. Nun würde er nach dem Schema des Aristoteles oder Bacon den Beweis der Zusammengehörigkeit erst für erbracht halten, wenn er an allen Hunden, Katzen, Kaninchen experimentiert hätte. Der Physiologe dagegen sagt: Mir genügt ein Fall, wenn ich die Sicherheit habe, daß alle konkurrierenden Faktoren für die Verbindungen zwischen a und b (Läsion und Drehungserscheinungen) unwesentlich oder ausgeschlossen sind. Das ist die Voraussetzung, unter welcher induziert, experimentiert wird. Die Erforschung von Kausalverhältnissen ist zunächst gegründet auf die Analysis, mit ihr verbrüdert sich die Induktion; nunmehr kann durch Synthesis des Gefundenen in Verbindung mit der Deduktion eine Erklärung der Einzeltatsachen aus den allgemeingültigen großen Naturgesetzen erfolgen. Der Unterricht hat nun überall dem Wege der Natur zu folgen; „naturam sequi" ist die oberste Regel der Pädagogik. Zunächst also ist Auffassung, Beschreibung, Erzählung des Tatsächlichen notwendig; alsdann kommt Analysis, Experiment, Interpretation, Induktion; darauf gründet sich dann endlich die Deduktion, die Anwendung. So ist die Reihenfolge: auffassen, denkend sich aneignen und anwenden.
Endlich liegt nun aber hiernach in der Sprache der Inbegriff aller Verbindungsweisen des diskursiven Denkens. Die Grammatik etc., Lesen, Übersetzen [sind] beständige Verständnisoperationen. Übersetzen [ist] eine Induktion, die im Leben sich herausbildet: Bestimmung einer Anzahl unvollkommen bestimmter Elemente durcheinander und Feststellung der Verbindung unter ihnen, Fixierung ihres eindeutigen Sinnes von hier aus.
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Siebentes Kapitel: Die Gliederung und Stufenfolge des Unterrichts Die Gliederung des Unterrichts hat sich geschichtlich entwickelt aus der Priorität der Sprachstudien, zu denen erst später das Hinzutreten der Realstudien kam. Den Ausgangspunkt bildeten die Rhetorenschulen: Der bonus orator, der Schriftsteller, der gebildete Mann, der litteratus war das Ziel des Unterrichts in den Rhetorenschulen. Für den Römer wurde schon ein zweisprachlicher, für den Lernenden des Mittelalters ein 3-, für uns der 5-, für Theologen gar 6-sprachlicher Unterricht nötig. Die Stufenfolge des Unterrichts war: 1. Grammatik, 2. Rhetorik, Stil und Darstellung, 3. die philosophische Stufe, Übung im Denken. Ein Mann, der alle Hauptsprachen beherrschte, so, daß er von ihnen Gebrauch machen konnte, galt für vollkommen gebildet. Zu dieser Vorherrschaft der Sprachstudien kam nun ein steter Blick nach rückwärts wie nach einer vollkommeneren Zeit, die Humanität, das besondere Studium des Griechischen. Die Zeit des Humanismus glaubt nur Nachbildungen, Erinnerungen des von den Alten Geschaffenen geben zu können. In dieser Zeit der Renaissance war man ja davon überzeugt, daß das Ideal der Menschheit einmal zur Wirklichkeit geworden sei, nämlich zur Zeit der alten Griechen. Seit dem Zeitalter der großen Entdeckungen aber verlangten die Realien eine weitere Berücksichtigung. Bis dahin, z.B. im 16. Jahrhundert, wurden die Realien nur geschöpft aus den griechischen Autoren; in der Tat wußten diese mehr als irgendein Autor im 16. Jahrhundert. N u n aber vollzog sich der moderne Aufschwung der Naturwissenschaften (Kopernikus, Kepler, Galilei, Descartes). Und mit einem Male ist der ganze bisherige Unterricht veraltet, die Lehren der Alten sind nur Unterlagen für die Entwicklung der neuen Wissenschaften. Die Veränderung des Schulbetriebes, das Nebeneinanderstellen des Sprachstudiums und Sachstudiums, wurde angestrebt und verfochten vor allem von den Philanthropen. Durch den Streit aber gelangte man zu der ganz falschen Anschauung, daß Sprache und Sache zweierlei Richtungen seien. Das ist nicht der Fall. Gerade in der Sprache drückt sich der historische Genius des Volkes aus. Für uns ist der Gegensatz zwischen verba und res veraltet. An den Dingen lernt das Kind Worte, Analysieren; es lernt fragen: Wozu ist das? Woher kommt das? Der erste große Ausgangspunkt für das Kind ist: Es möchte das Warum in der Natur begreifen, um mit ihr spielen zu können. Dem heranwachsenden Kinde tritt dann eine zweite Welt entgegen, in welcher es sich heimisch fühlen will; es sucht die Menschen zu begreifen, zunächst die Nahestehenden, dann die Fernerstehenden, endlich die menschliche Gesell-
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schaft überhaupt. Mit diesen beiden Welten soll das Kind sich vertraut machen, die transzendentale Welt ist erst für späteres Alter. So hat der Unterricht zu liefern: 1. Naturstudium, vor allem dessen A B C : die Mathematik. 2. Geschichtsstudium, dessen Α Β C die Sprache ist. Welcher Kreis zu bevorzugen sei, ist erst von da ab zu entscheiden, wo schon die Wahl des besonderen Studiums getroffen ist. Daher muß, in der Jugendzeit wenigstens, das Gleichgewicht zwischen Humanität und Naturstudium bestehen bleiben. Unser Gymnasium krankt daran, daß es für beide Gebiete, Humanität und Naturwissenschaften, nur von vorbereitender Bedeutung ist und sein will. Es sollte das Gymnasium zu einem in sich geschlossenen Kreis von Erkenntnissen führen; nicht einseitiges Studium der Sprache pflegen ohne Eindringen in den Geist der historischen Tatsachen, nicht einseitig Mathematik lehren ohne Zusammenhang mit den Naturerscheinungen. Dazu ist aber vor allem zunächst nötig: vollständige Umgestaltung des jetzigen Abiturientenexamens. Es sollte nur das wirkliche Können, nicht das im letzten Jahre Einstudierte geprüft werden, z . B . durch Anfertigen eines deutschen Aufsatzes, je einer Ubersetzung aus den fremden Sprachen und Lösung mathematischer und physikalischer Aufgaben. Doch nun weiter im geschichtlichen Gang der Entwicklung: Nehmen wir irgendein altes Kompendium irgendeiner Wissenschaft zur Hand, so finden wir ein synthetisch entwickeltes System. An der Spitze stehen Voraussetzungen, abgeleitet werden Sätze, Lemmata usw. So war auch der Unterricht nichts als ein Eingießen von festen Systemen. Das änderte sich zur Zeit der großen Erfinder: Descartes zeigte: Die Analysis ist die Methode des Erfinders im Gegensatz zur Synthesis. Bacon spricht sich so aus: Die Induktion ist die erfindende Methode im Gegensatz zur Deduktion. Diese neuen Gedanken bemächtigen sich auch der Schule. Die Reformer lehren nunmehr: Durch Induktion und Experiment muß alles kommen, in der Schule wie im Leben. Dabei muß aber doch die induktive Methode die Möglichkeit der Einordnung in mathematische Sätze zur Voraussetzung haben. Eine feste Begründung erfahren die Lehren von der Bedeutung der Analysis, der Induktion erst durch die moderne Psychologie. Die Didaktiker des 17. Jahrhunderts erreichten das Ziel noch nicht. Herbart bezeichnet als erste Stufe des Unterrichts die Klarheit im Anschauen, dann Assoziation, dann Übersichtlichkeit, System, endlich Methode. Die Herbartsche Schule hat sich bemüht, diese Stufenfolge zu vereinfachen. Am natürlichsten ist wohl: Anschauen, Verarbeiten durch den Verstand (im Denken) und Anwenden. Man wollte nun zuerst diese Reihenfolge auf jedes pädagogische Problem, ja auf jede Schulstunde anwenden. Das ist natürlich übertrieben und unrichtig.
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Suchen wir nach Regeln für die Beschränkung, für die Grenzen der ersten Stufe, der Anwendung des darstellenden, des bloßen Anschauungsunterrichts: Schon nach Comenius ist die wichtigste Unterlage für jede Aneignung das innere Abhängigkeitsverhältnis. Das lehrt auch die Geschichte der Wissenschaften. So mußte zuerst die Mathematik, die Differentialrechnung ausgebildet werden, erst dann kam die Mechanik, dann wieder die Optik und Akustik; darauf konnte die Chemie und nun erst die Physiologie, Biologie, die Grundlagen der Psychologie und Menschheitsgeschichte sich zu Wissenschaften erheben. Und der Grund, weshalb die Alten nicht weiterkamen, ist gerade der, daß sie die Bedeutung der Verknüpfung durch Induktion nicht erkannten. Hiernach ergibt sich: Die Naturwissenschaften haben zwei Unterlagen auf der Schule: 1. Konkrete Vertiefung in das einzelne, Beobachten, Sammeln, Beschreiben. 2. Die Mathematik mit ihren Abstraktionen. So entsteht die richtige Naturerkenntnis; so wird es auch möglich sein, auf dem Gymnasium ein Ganzes darzubieten. Dazu kommt nun als weitere Regel: Das Naturerkennen wie auch das geschichtliche Wissen stehen im Dienste der Anwendung, der Praxis: alles menschliche Wissen dient der Praxis; es ist falsch, die Wissenschaft als etwas Höheres, Absolutes auszugeben. Gehen wir nun die einzelnen Stufen des Unterrichts durch und betrachten zunächst die Erzählung des Lehrers: Die Alten haben ja schon bestimmte Regeln für Rhetoren überhaupt, so auch für das Erzählen gegeben; sie unterscheiden: inventio, dispositio, elocutio, memoria, actio. Was die inventio betrifft, so muß der Lehrer seinen Stoff einschränken; die höchste Einfachheit und Sichtung des Materials ist notwendig. Dann kommt die dispositio; man muß bedenken, daß die Beziehungen von Raum und Zeit die überall wichtigen sind, das Neben- und das Nacheinander. Ferner müssen Ubergänge da sein, die den Kausalzusammenhang der betreffenden Vorgänge ausdrücken. Sodann handelt es sich um die elocutio, die Darstellung im engeren Sinne. Zwei entgegengesetzte Fehler sind zu vermeiden: Undeutlichkeit und Flachheit. Geht der Unterricht zu schnell, so wird die Aufmerksamkeit stumpf; geht er zu langsam, so ermüdet sie ebenfalls. Jede Unterrichtsstunde muß zugleich auch eine Lehrstunde in der Muttersprache sein; dafür hat der Vortrag zu sorgen. Große Bedeutung hat stets die Anschauung, das Zeigen, wie z . B . die Rechenmaschine, der Erdglobus usw. oder, wo das nicht möglich ist, das genaue Beschreiben. Nächst dem Erzählen kommt das Einüben. Hier sind oft große Schwierigkeiten zu überwinden, da das Kind ungemein leicht ermüdet, das Interesse leicht ertötet wird. Das reizvollste Geschäft für den Lehrer ist der Unterricht
Die Bildung des Willens
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in den untersten Klassen; mit Unrecht haben die Gymnasiallehrer eine Abneigung vor den unteren Klassen. Freilich, die heutigen Gymnasiallehrer kennen die Kinderseele weniger als etwa ein Elementarlehrer. Nun zur Erklärung: Der erklärende Unterricht hat sich an Sprachdenkmäler anzuschließen. Man soll verstehen lernen: Konstruktion, Sensus (Verständnis), Sententia (tieferes Verständnis), Argumentum (Wiedererzählen), Explanatio (logische Erklärung), Rhetorica (Hervorhebung des Notwendigen), endlich Mores (ethischer Gehalt). Die Reihenfolge im Unterricht ist: das Vorbesprechen, die Präparation, die einleitende Bemerkung des Lehrers und das Wichtigste, das Ubersetzen. Gerade das Zusammenstellen eines einheitlichen Ganzen aus mehrdeutigen Teilen, das ist es, was der Richter, der Arzt, der Geschichtsschreiber usw. braucht. Daran schließt sich dann eine Ubersicht des geschichtlichen und moralischen Zusammenhangs. Endlich noch ein Wort über die Anwendung: Überall muß das Kind sehen, daß der Lehrstoff anwendbar ist; es darf niemals stehenbleiben bei dem alleinigen Aneignen, sondern muß allmählich sich zum Selbstschaffen emporheben, welches Ziel natürlich erst auf der höheren Stufe des Gymnasiums erreicht wird. Wir haben in unserer Darstellung der „Anwendung der Psychologie auf [die] Pädagogik" zwei wichtige Punkte ausgelassen: die Ausbildung des Gemüts und des Willens; aber hier fehlen für die theoretische Behandlung noch die wissenschaftlichen Grundlagen.
[Achtes Kapitel:] Die Bildung des
Willens612
1. Ideale
[...]" 3 Die Entwicklungsgeschichte des Willens in einem Menschen ist inhaltlich sehr verschieden, aber in der Form dieser Entwicklung besteht ein allgemeines Gesetz. Die Triebe und Gefühlsreaktionen entwickeln sich in jedem Menschen aus derselben [Anlage], Der Fortschritt besteht nun darin, daß die ersten, inhaltlichen Triebe nunmehr den Formen von Befriedigung Platz machen, die aus der Freude an der Form des Handelns entspringen. Letztere ruhige etc. Arbeit. Konsequenz. Hingabe an allgemeine Inhalte und dadurch herbeigeführte Erweiterung der Seele. Sympathie, Wohlwollen und innerer Verband mit anderen Personen. Alsdann macht im Zusammenhang hiermit eine dauernde Richtung
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des Willens sich geltend und wird fest. Einheit aller Volitionen findet statt. Charakter bildet sich aus. Dies ist im ganzen die wohltätige und naturgemäße Form von Entwicklung, die in ganz verschiedenen Menschen im Verlauf des Lebens stattfindet. So entsteht der Typus eines normalen Lebensverlaufs mit einer inneren Entwicklung f···]614 Von diesen Voraussetzungen aus würde der Mensch am besten die Entwicklung des Willens im Knaben sich selbst überlassen. Seine Triebe werden ihn vorandrängen. Seine Erfahrungen werden ihn mäßigen. Das Leben selbst wird ihm Weisheit geben. Dieses ist die Moral der Dichter. Gorgias' Moral des Lebensalters. Goethes Wilhelm Meister. Shakespeares Moral. Der moderne Roman als Ilias und Odyssee eines heutigen Menschen. Die Moral der aristokratischen Klassen. Sich ausleben lassen. Erfahrungen machen und daraus lernen. Große Wahrheit darin. Aber niemand von uns nimmt an, daß die Frauen so sich entwickeln. Wir verlangen eine festgehaltene Reinheit oder Reinlichkeit und Sicherheit des Willens. Aber auch bei den Männern erfahren wir die besondere Schönheit in einer folgerichtigen, säuberlichen Lebensführung, die in den Grenzen einer festen Charakterhaltung sich bewegt hat. Menschen, die nie sich selbst vergessen. Luther und die großen Menschen der Reformation. Kant und die transzendentalen Idealisten. Niebuhr, Dahlmann, Ranke, Ritter, Moltke etc. Darüber hinaus aber gibt es noch einen zwingenderen Gesichtspunkt der Betrachtung: Das Sichausleben entspricht dem Gesichtspunkt der individuellen moralischen Entwicklung. Neben diesem aber steht der Gesichtspunkt der sozialen Moral. Schon Luther hat von diesem aus argumentiert. Das Sichausleben der Individuen der oberen Stände vollzieht sich auf Kosten des vierten Standes. Das Sichausleben der Starken in den oberen Ständen vollzieht sich auf Kosten der Schwachen in diesen: fedes Sichausleben schafft um sich ein Stück Wüste. Es entsteht ein Stück reißendes Tier. Es vermehrt die Korruption in der Gesellschaft. Gewalttaten, uneheliche Kinder, alles, was an diese Korruption sich anschließt. Ebenso vermehrt es das Leiden der Welt. Es schafft die Enttäuschungen und Schmerzen der Mütter. Es hält durch Entfaltung der Egoität die Menschen voneinander [fern]. Vor allem kein Zutrauen, daß Frauen und Kinder in der Gesellschaft wohl behütet sind. Es vermehrt die Egoität, entwickelt harte Züge [...J615 Wenn die Umformung eintritt, haben sich harte Züge des Umsichgreifens schon ausgebildet, die nicht mehr auflösbar sind. Es scheint nichts das Harte im Menschen zu mindern. Nun ist aber im jetzigen Konzepte der vierte Stand den anderen inzwischen in bezug auf Enthusiasmus überlegen. Die oberen Stände können nur fortexistieren, wenn sie ein höheres Ideal ausbilden, welches alle Schönheit und alles Glück von sämtlichen Leben zum Eigentum erhält oder befriedigt. Dem fal-
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schert kann nur ein besseres Ideal, nicht eine abstrakte Gedankenbewegung gegenübergestellt werden. Dieses hat davon auszugehen, daß jedes Unrecht, das irgendein Mensch tut, ein Same von Bösem und Leiden für das Ganze ist. Hier liegt das Recht des utilitaristischen Staats. Derselbe bildet sich gerade in den Ländern aus, welche eine reinliche Lebensführung im Interesse des Ganzen bevorzugen. Seine Hauptrepräsentanten wollen Menschen wie Mill, Grote, in gewissen Grenzen Macauley etc. Die Wahrheit des utilitaristischen Prinzips: Indem die Person sich nach ihrem inneren Gesetz entfaltet, kann und soll sie dabei nur diejenigen Eigenschaften entwickeln, welche ihrer nächsten Umgebung und dem gesellschaftlichen Ganzen nützlich sind. Dieses ist im Verhältnis von Dankbarkeit und Abhängigkeit vom ganzen Zusammenhang gegründet, in dem wir leben und der mit diesem Unsichtbaren zusammenhängt. Der letzte Grund liegt in dem höheren Ziel jedes Menschen, in einem übergreifenden Zusammenhang der Menschen untereinander und mit Gott. Wer diesen Zusammenhang nicht anerkennt, ein Transzendentales, Ideelles nicht gelten läßt, für den ist dieses alles nur Klugheitsmaßregel. Das Sollen ist nur hier gegründet. Und zwar ist unter allen Gütern, welche zu schützen sind, die Familie das wichtigste. Dickens als Repräsentant einer solchen Betrachtungsweise. Regel, nichts zu schreiben, was Schaden anrichtet. Reinlichkeit und Säuberlichkeit der Engländer und Amerikaner.616 2. Psychologische Grundverhältnisse System der Triebe. Begriff von Trieb im engeren Sinne. Die mit Triebmechanismen ausgestatteten massiven Triebe. Die sozialen, die auf Form des Lebens gehenden etc. Wille ist die Einheit oder Spontaneität des Seelenlebens in dieser Sphäre. Phänomen des Wertab schätz ens, Vorziehens und Wählens nicht so elementar, sondern eben Form des Seelenlebens. Keine Vorstellung ohne das Zusammenhalten derselben in der Einheit des Bewußtseins. So auch hier. Gedächtnis des Willens: die Gewöhnung an Schätzungen und Willensprozesse. Möglichkeit des Charakters,617 3. Die Pädagogik Das, was Charakter ist, eben die Einheit der Seele im Gebiet des Wollens, bildet den eigentlichen Angriffspunkt der Pädagogik. Begriff des erziehenden Unterrichts. Der willkürliche Unterricht. Die logische Bearbeitung des Gegenwärtigen und Momentanen im Vorziehen und Wählen. Charakterbildung im Schulleben geschieht zunächst vom überwiegenden Interesse, [von] Autorität und Lehrereinfluß aus. Heteronomie des Willens auf erster Stufe. Aufgabe, diesen Willen autonom zu machen. Entwicklung des Kindes im Schulleben. Bedeutung der Autorität für den Lehrer. [...]
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Begriff des Wertes. Beständige Ursache von wohltätigen Gefühlen und Analogie mit dem des Objektes. Der Wert steht zu dem System der Gefühle und Triebe in einem festen Verhältnis. Das Kind lebt im Gefühl, im Wechselhaften. Es ist darin eigensinnig. Abschätzung der Werte: ihre Relativität; ihr inneres Verhältnis zu der Lebenseinheit, die ein System von einzelnen Gefühlen und Volitionen ist. In dieser Abschätzung wird erst dem, der lebt, diese Einheit selbst klar. Jeder sich selbst ein Nächster. Wird durch das Leben über sich klar. Dieser Vorgang vollzieht sich sehr langsam und enthält die Möglichkeit der Charakterbildung vom Kind zum Jüngling. Er wird aber unterstützt durch die Erfahrungen von den Werten des Lebens, welche in der Poesie, der Religion enthalten sind. Fülle des Lebens nur hierdurch.6™ Ausführung: I. 1. Die Bilder des Menschen in der Poesie. 2. Das Bild von der Evolution des Lebens. 3. Das Bild von einer Gerechtigkeit im Weltlauf. II. Bilder vom Menschen in der Historie. [...] III. Religion als Simplifizierung dieser Erfahrungen. Heutiges Christentum bedarf [der] Universalität. Sie soll dieses ganze höhere Streben des Menschen in sich zusammenhalten. Nur so ist sie wirklich in der Gegenwart lebendig. Größte Gefahr: da Beweise suchen, wo keine sind, Wissenschaft verachten. Zerrissenheit der Seele zwischen Naturwissenschaften und Kritik und religiösen Werten. Christentum als Partikularität. Entspricht dem modernen Geiste so. Nun die Aufgabe, in [der] Seele die richtige Wertbildung überzuführen zum Handeln. Dieses die Disziplinierung des Menschen. Eigenes Gebiet der Schule. Naturvölker. Frauen und Kinder. Der Mann und seine Arbeit.
ANMERKUNGEN
Α . Die Breslauer Vorlesungen zur Psychologie und Anthropologie (ca. 1 8 7 5 - 1 8 8 2 ) Dieser erste Teil der vorliegenden Ausgabe gibt die ältesten erhaltenen Nachschriften von D.s Psychologie-Vorlesungen wieder. Weder von D.s erster Psychologie-Vorlesung in Basel (Sommersemester 1867) - zugleich seine Eröffnungsvorlesung als Ordinarius in Basel - noch von seinem Kieler Psychologie-Kolleg (Wintersemester 1870/71) sind Nachschriften überliefert. Ebenso fehlen Nachschriften seiner ersten Breslauer Psychologie-Vorlesung aus dem Wintersemester 1871/72 über Anthropologie und Psychologie. Die ältesten überlieferten Nachschriften Diltheyscher Psychologie-Kollegs stammen aus der Mitte der siebziger Jahre. Diese Nachschriften aus D.s Breslauer Zeit werden von uns nahezu vollständig dokumentiert. Dies begründet sich einmal aus dem besonderen werkgeschichtlichen Interesse, das diese frühen Psychologie-Vorlesungen D.s beanspruchen können, entstammen sie doch einer Phase, in der D. die Grundlagen seiner späteren Philosophie der Geisteswissenschaften legt, wie dies insbesondere an der sogenannten „Abhandlung von 1875", dem Aufsatz Uber das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat (Ges. Sehr. V, S. 31-73), der Keimzelle der Einleitung in die Geisteswissenschaften, sowie den Versuchen zur Fortsetzung dieser Abhandlung (vgl. Ges. Sehr. XVIII, S. 57-111) sichtbar wird. Zum anderen kommt diesen Vorlesungen auch eine wesentliche psychologiegeschichtliche Bedeutung zu, zeigen sie doch u. a., wie sich der Stand der psychologischen Forschung in den Augen D.s gegen Ende der siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre darstellt. Bei den abgedruckten Texten handelt es sich zuerst um eine undatierte, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit dem Wintersemester 1875/76 zuzuordnende Diktat-Mitschrift der Vorlesung Psychologie, mit ihren Anwendungen auf die Grundlagen des Rechts, der Religion und Erziehung, sodann um eine abrißartige Nachschrift der Psychologie-Vorlesung des Sommersemesters 1878 sowie eine große, allerdings lückenhafte, Mitschrift derselben Vorlesung und schließlich um eine Nachschrift des letzten Breslauer Psychologie-Kollegs vom Wintersemester 1881/82 über Anthropologie und Psychologie als Erfahrungswissenschaft, die mit den Varianten aus einer undatierten Nachschrift, vermutlich aus dem Wintersemester 1879/80, angereichert wird. Das wichtigste Forschungsmanuskript D.s, das parallel zu diesen Vorlesungen entstanden ist, Die Mannigfaltigkeit des psychischen Lebens und ihre Einteilung (ca. 1880), findet sich mit dem Entwurf zu dieser Abhandlung in Ges. Sehr. XVIII, S. 112-183.
Psychologie (ca. Wintersemester 1875/76) C 29 II: 185-190 Rücks.; C 26 II: 227-230 Rucks.; C 29 II: 206-209 Rücks., undatierte Mitschrift einer Psychologie-Vorlesung, die aufgrund der Disposition wie inhaltlicher Kriterien ohne Zweifel auf die Zeit um 1875 zu datieren ist. In Frage kommen die beiden Vorlesungen vom Sommersemester 1874 und Wintersemester 1875/76. Eine eindeutige Zuordnung des Textes auf eine dieser Vorlesungen ist mit letzter Sicherheit nicht möglich. Der wiederholte Bezug der Vorlesung auf Wundts 1874 erschienene „Grundzüge der physiologischen Psychologie" legt allerdings die Datierung der Mitschrift auf das Wintersemester 1875/76 nahe.
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Anmerkungen zu Seite 1-14
Das Ms. stammt von stud. phil. Speck und gibt, wie einer Notiz des Nachschreibers zu Beginn des Manuskripts zu entnehmen ist, das Diktat des Prof. Dilthey zu seinen Vorlesungen über Psychologie wieder, wodurch dem Text eine besondere Authentizität zukommt. Die Mitschrift ist unvollständig überliefert; es fehlt ein erster Abschnitt, der vermutlich - wie üblich bei D.s frühen Psychologie-Kollegs - eine Einleitung in Methode, Geschichte und Literatur der Psychologie enthielt. Das Ms. ist von D. ζ. T. stark überarbeitet und mit einer Fülle von Zusätzen versehen worden. Ob D. dieses Diktat allerdings späteren Vorlesungen zugrunde gelegt hat, ist eher fraglich, da die folgende Vorlesung, diejenige aus dem Sommersemester 1878, in Anlage und Lehrgehalt von diesem Kolleg doch deutlich abweicht. Das Kollegheft, auf das im Text an drei Stellen verwiesen wird, ist offenbar verschollen. 1 I. Kant, Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, in: Kant's gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Band XX, 3. Abteilung: Handschriftlicher Nachlaß, Band VII, Berlin 1942, S. 206. 2 Das im Ms. folgende genötigt ist gestrichen. 3 Am Rand von D.s Hand: Es fragt sich, welche Tatsachen über die Bewußtheit von Vorstellungen festgestellt werden können und wie wir Verhältnisse aus den bewußten Zuständen auf das, was nicht in unserem Bewußtsein für uns da ist, [übertragen. 4 Korrigiert aus: Handsley. 5 Einfügung D.s in den Text: b) Gesetz der Beharrung liegt allgemeine Mechanik [ . . . ] von Vorstellung zugrunde. 6 Vgl.G.Th. Fechner, Elemente der Psychophysik, 1. Theil, Leipzig 1860, S.246ff. 7 Dem Satz vorgestellt von D.s Hand: 3. 8 Vgl. u. a.J. F. Herbart, Lehrbuch zur Psychologie, in: Sämtliche Werke, Band V, hrsg. von G. Hartenstein, Leipzig 1850, § 127: vgl. dazu auch D.s Ges. Sehr. XIX, S. 132-140. 9 An dieser Stelle unleserliche Einfügung von D.s Hand. 10 Es folgt ein Zwischenblatt (C 29 II: 189) von D.s Hand: Psychologie. Einleitung. - erstes Buch. Empfindung. Wahrnehmung. Sinne, das Weltbild. 11 Am Anfang der Zeile unleserlicher Worteinschub D.s. 12 Am Rand von D.s Hand: Grundlage in der Gefühls- und Wollensseite des Vorgangs und hierdurch bedingte Verschiedenheit. Vorstellungen sind in allen Wahrnehmungen enthalten. So entsteht eine Reihe, die durch Grade des Eintretens der Vorstellung in den Wahrnehmungszustand gebildet wird. Äußerstes Ende, wenn die Wahrnehmung ein Zeichen für die Anwesenheit des in der Vorstellung Enthaltenen ist. Im Gegensatz dazu Vereintsein [?] von Gefühl und Interesse in [?] der Wahrnehmung, bei dem kein Selbstbewußtsein [vorhanden ist]. 13 Von Specks Hand unter die Überschrift gesetzt: (cf. Kollegheft p. 30-34) (cf. Diktat am Ende!). - Am Ende der Nachschrift findet sich eine Seite mit dem Titel: zu § 12: Die Assoziation und ihre Gesetze. Diese Seite wurde an der entsprechenden Stelle in den Text eingefügt. 14 Von D. gestrichen und durch drei unleserliche Wörter ersetzt. 15
Vgl. J. Mill, Analysis of the Phenomena of the Human Mind, edited with additional notes by ]. St. Mill, 2 Volumes, London 1869, Vol. I, Chapter III: The Association of Ideas, S. 70-126. 16 Die ursprüngliche, von D. gestrichene, Überschrift des Paragraphen lautet: Die Apperzeption. 17 Rest unleserlich. 18 Geändert aus: in. 19 Konjektur anstelle eines nicht zu entziffernden Wortes. 20 Epikur, Pros Menoikea, 129, 2-4. 21 W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, Leipzig 1874. 22 Vgl. A. Zeising, Ästhetische Forschungen, Frankfurt a.M. 1855, S. 179f. 23 Vgl. W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, a.a.O., S.421. 24 G.Th. Fechner, Elemente der Psychophysik, 2 Bände, Leipzig 1860.
Anmerkungen zu Seite 15-21
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25 Am Rand von D.s Hand: Vielmehr wir können im Unbewußten [?] diese Teilinhalte nicht voneinander getrennt vorstellen. - Wir können keinen Intensitätsakt von etwas qualitativ vorstellen, keinen Qualitätsakt etc. 26 Umschriftliche Wiedergabe für > < . 27 Vgl. auch W. Wandt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, a.a.O., S.304. 28 J. Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen, 2. Band, 2. Abtheilung: Der speciellen Physiologie 5. Buch: Von den Sinnen, Coblenz 1838, S. 247ff. M R. H. Lotze, Mikrokosmus. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit. Versuch einer Anthropologie, 3 Bände, Leipzig 1856-1864. 30 Lücke in der Nachschrift.
Psychologie (Sommersemester 1878) Von der Psychologie-Vorlesung des Sommersemesters 1878 haben sich zwei Nachschriften erhalten: 1. Nachschrift A: C 27 I: 126, 130-131 Rücks.; C 29 II: 204-204 Rucks.; C 26 II: 355-358 Rücks.; C 29 II: 203-203 Rücks.; C 27 I: 128-129 Rücks.; C 29 II: 191-202 Rucks.; C 26 II: 303-314 Rucks.; C 26 I: 285-294 Rücks., 277-284 Rücks., 295-302 Rücks.; C 26 II: 263-267 Rücks.; C 27 I: 132-143 Rücks.; C 26 II: 231-242 Rücks. Die Nachschrift liegt in einem Umschlag mit dem Titel: Dilthey. Psychologie. Sie trägt die Überschrift: Psychologie & Anthropologie. Es handelt sich um ein weitgehend paginiertes Ms., das aus mehreren Heften besteht. Einzelne Datumsangaben finden sich im Text jeweils zu Beginn der betreffenden Vorlesungsstunden. Die Nachschrift stammt von Jul. Jung. Sie bietet keine vollständige Wiedergabe der Vorlesung, sondern weist einige Lücken auf; so fehlt insbesondere der ganze II. Abschnitt der Vorlesung, der die physiologische Grundlegung und die Lehre von den Reflexbewegungen enthielt. Es handelt sich bei dem Text um eine offensichtlich weitgehend wörtliche Mitschrift der Vorlesung; er vermittelt zuverlässig den Duktus der gesprochenen Rede D.s und ist daher besonders aufschlußreich. Das Ms. wurde von D. sehr intensiv mit Lese- und Überarbeitungsspuren versehen; es enthält ζ. T. umfangreiche Randnotizen, Gliederungshinweise, Korrekturen im Text sowie Einfügungen von D.s Hand. Auf C 26 II: 263-264 Rücks. findet sich ein Text D.s, der in die Nachschrift eingelegt ist. Randnotizen des Nachschreibers wurden nicht mitgeteilt; ebensowenig sind die vom Nachschreiber an den Rand gesetzten Fragezeichen etc. wiedergegeben worden. 2. Nachschrift Β : C 27 I: 94-125. Datierte (auf C 27 I: 112 findet sich der Datumsvermerk: 2/7 78), durchpaginierte, allerdings unvollständig erhaltene Nachschrift der Psychologie-Vorlesung vom Sommersemester 1878 von unbekannter Hand. Die Nachschrift trägt die Überschrift: Psychologie v. Herrn Prof. Dilthey. In ihr finden sich keine Überärbeitungsspuren D.s. Die Nachschrift gibt - wie ein Vergleich mit der Nachschrift Α zeigt - offenbar nicht den vollständigen Wortlaut des Kollegs wieder, sondern vermittelt eine Art Essenz. Vermutlich hat sich der Nachschreiber darauf beschränkt, nur D.s zusammenfassende Diktate stichwortartig und in nicht immer vollständigen Sätzen wiederzugeben. Zwei der Nachschrift eingelegte Blätter mit Ergänzungen wurden an der betreffenden Stelle in den Text integriert. Um ein möglichst vollständiges Bild der Vorlesung vom Sommersemester 1878 zu vermitteln, haben wir uns entschlossen - trotz unvermeidlicher Redundanzen -, als Ergänzung zur Nachschrift Α die Nachschrift Β in Petit-Druck voranzustellen. Die geringfügigen Abweichungen bei den Überschriften zwischen den beiden Fassungen wurden nicht jedesmal vermerkt; zugrunde gelegt wurde in der Regel die Version der Nachschrift A.
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Anmerkungen zu Seite 21-36
•" ]. W. Goethe, Die Wahlverwandtschaften, in: Werke (Hamburger Ausgabe). Band. VI: Romane und Novellen. 1. Band, hrsg. von E. Trunz, 8. überarbeitete Aufl. München 1973, S.417. 32 Vgl- J- Locke, Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern, 4. durchgesehene Aufl. Hamburg 1981, Band I, S. 153f. 33 F. Bacon, Novum Organum, 2. Teil, Aphorismi de Interpretation Naturae et Regno Hominis, III, in: The Works of Francis Bacon, coll. and ed. by J. Spedding u. a., London 1 8 ) 8 f f , Vol. I, S. 1)7. 34 A. von Haller, Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und über sich selbst, hrsg. von J. G. Heintzmann, 2 Bände, Bern 1787. 35 P. W. Jessen, Beiträge zur Erkenntnis des psychischen Lebens im gesunden und kranken Zustande, Schleswig 1831. 36 Ε. B. de Condillac, Traite des sensations. Α Madame la Comtesse de Vasse, in: (Euvres Philosophiques de Condillac. Texte etabli et presente par G. Le Roy, Vol. 1, Paris 1947, S. 222. 37 W. Griesinger, Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten für Aerzte und Studirende, Stuttgart 1867. - Im Ms. fälschlich: Griseler. 38 Geändert aus: Jest. 39 F. A. Carus, Nachgelassene Werke, 3. Theil: Geschichte der Psychologie, Leipzig 1808. 40 F.A. Lange, Geschichte des Materialismus, Iserlohn 1866. 41 Über die Zeile geschrieben: das Prinzip der Bewegung. 42 M. Mendelssohn, Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele, in drei Gesprächen, in: M. Mendelssohn's gesammelte Schriften. Nach den Originaldrucken und Handschriften hrsg. von G. B. Mendelssohn, 2. Band, Leipzig 1843, S. 65-206; vgl. besonders das 2. Gespräch. 43 R.H. Lotze, Medicinische Psychologie oder Physiologie der Seele, Leipzig 1852. 44 Geändert aus: Lust. 45 H. Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik, Leipzig 1867 (Allgemeine Encyklopädie der Physik, hrsg. von G. Karsten, Band IX); Populäre wissenschaftliche Vorträge. 3 Hefte, Braunschweig 1865-1876. 46 Vgl. J. St. Mill, System der deductiven und inductiven Logik. Eine Darlegung der Principien wissenschaftlicher Forschung, insbesondere der Naturforschung. In's Deutsche übertragen von J. Schiel. 3. Deutsche, nach der fünften des Originals erweiterte Aufl., 2. Theil, Braunschweig 1868, S. 459ff. 47 J. N. Tetens, Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung, 1. Band, Leipzig 1777. 48 J. F. Herbart, Lehrbuch zur Psychologie, in: Sämmtliche Werke, hrsg. von G. Hartenstein, 5. Band: Schriften zur Psychologie, 1. Theil, Leipzig 1850; Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik, 1. Theil, in: Sämmtliche Werke, 5. Band, a.a.O.; 2. Theil, in: Sämmtliche Werke, hrsg. von G. Hartenstein, 6. Band: Schriften zur Psychologie, 2. Theil, Leipzig 1850. - F. E. Beneke, Lehrbuch der Psychologie als Naturwissenschaft, Berlin 1833; Pragmatische Psychologie oder Seelenlehre in der Anwendung auf das Leben, 2 Bände, Berlin 1850; Archiv für pragmatische Psychologie, 3 Bände, Berlin 1851-1853. - F. Ueherweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie. 3. Theil: Die Neuzeit, 4., verbesserte und ergänzte Auflage Berlin 1875, S. 296-326. - M. W. Drobisch, Empirische Psychologie nach naturwissenschaftlicher Methode, Leipzig 1842. - Th. Waitz, Lehrbuch der Psychologie als Naturwissenschaft, Braunschweig 1849; Anthropologie der Naturvölker, 6 Bände, Leipzig 1859-1871. - M. Lazarus, Das Leben der Seele in Monographieen über seine Erscheinungen und Gesetze, 2 Bände, Berlin 1856-1857. - H. Steinthal, Abriß der Sprachwissenschaft, 1. Teil: Die Sprache im allgemeinen. Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft, Berlin 1871. - R. H. Lotze, Medicinische Psychologie oder Physiologie der Seele, a.a.O.; Mikrokosmus, 1. Band, a.a.O. - W.F. Volkmann, Grundriß der Psychologie vom Standpunkte des philosophischen Realismus und nach genetischer Methode als Leitfaden für academische Vorlesungen und zum Selbststudium, Halle 1856. - W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, a.a.O. 49 Am Rand, vermutlich von D.s Hand: Nb. 50 Bei Aristoteles als Zitat nicht nachzuweisen.
Anmerkungen zu Seite 36-47
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Bei Aristoteles als Zitat nicht nachzuweisen. Ch. Bell, An Exposition of the Natural System of Nerves of the Human Body etc., London 1824, 1830, 1837; Appendix to the Papers on the Nerves, republished from the Royal Society's Transactions, London 1827. 53 ]. Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen, 2 Bände, a.a.O. 54 Th. M. Meynert, Die Windungen der convexen Oberfläche des Vorder-Hirnes bei Menschen, Affen und Raubthieren, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 7 (1877), S. 257-286; Ueber Fortschritte in der Lehre von den psychiatrischen Krankheitsformen, 3 Artikel, in: Psychisches Centralblatt 7 (1877), S. 53-63 und S. 118-126; 8 (1878), S. 1-23. 55 H. Ulrici, Gott und der Mensch, I. Leib und Seele. Grundzüge einer Psychologie des Menschen, 2 Bände, 2. neu bearbeitete Aufl. Leipzig 1874. 56 Vgl. A. Horwicz, Psychologische Analysen auf physiologischer Grundlage. Ein Versuch zur Neubegründung der Seelenlehre, 2 Theile, Halle 1872, S. 156ff. 57 F. D. E. Schleiermacher, Psychologie. Aus Schleiermacher's handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hrsg. von L. George. Friedrich Schleiermacher's Sämmtliche Werke, 3. Abteilung: Zur Philosophie, Band VI, Berlin 1862. 58 H. Steinthal, Abriß der Sprachwissenschaft, 1. Teil: Die Sprache im allgemeinen, a.a.O. 59 M. Mendelssohn, Über das Erkenntnis-, das Empfindungs- und das Begehrungsvermögen (Juni 1776), in: M. Mendelssohn's gesammelte Schriften. Nach den Originaldrucken und Handschriften hrsg. von G. B. Mendelssohn, 4. Band, 1. Abtheilung, Leipzig 1844, S. 122-124. 60 A. Bain, The Senses and the Intellect, London 1855; The Emotions and the Will, London 1859; Mind and Body. The Theories of Their Relation, London 1873. - Th. Ribot, La Psychologie Anglaise Contemporaine, Paris 1870. 61 Diese angekündigten Paragraphen fehlen in der Nachschrift A. 62 Über die Zeile geschrieben: Affekte. 63 Zu diesem Thema findet sich eine Ausführung in einem undatierten Nachschriftenfragment von unbekannter Hand (C 29 II: 174-176), die wir hier ergänzend hinzufügen. Fehler im Text sind stillschweigend korrigiert. Das Manuskript enthält einige Gliederungsspuren und unleserliche Zwischennotizen von D.s Hand, die unberücksichtigt blieben. 52
§3. Die materialistische Hypothese Ich unterscheide zwei Klassen von Gründen theoretischer Natur, welche dem Materialismus seine Macht verleihen. Die einen sind zunächst ein Ausdruck der gegenwärtigen Lage der Wissenschaften. Sie entspringen aus dem jederzeit gleichförmigen Bilde des tierischen Lebens, welches mit einer furchtbaren Eindringlichkeit uns umgibt und entsprechend aus einer in jeder Epoche vorhandenen methodischen Richtung des menschlichen Denkens. Wir gewahren psychisches Leben in allen Klassen der Tierwelt an einem Organismus und dessen Schicksale gebunden. Wie in den Wirbeltieren diejenigen Hirnteile sich entwickeln, welche wir auch bei uns als den Sitz geistiger Tätigkeiten betrachten, wächst in demselben das psychische Leben und Intelligenz. Wie die Struktur ihrer Nervensysteme und ihrer Zentralapparate den unsrigen analog ist, so sind auch die psychischen Tätigkeiten vergleichbar. Der Verstand der höchsten Tiere ist analog unserem eigenen Verstände; denken wir uns ihre Intelligenz als die Funktion ihres Gehirns, so müssen wir schlechterdings unserem eigenen Gehirn dieselben Funktionen zugestehen, und es erscheint dann fast gewagt, für das, was übrig bleibt, eine hiervon gänzlich verschiedene Seele anzunehmen. Unsere Intelligenz bestünde alsdann aus zwei seltsamen, aneinander gekoppelten Wirkungsweisen: dem psychischen Leben der Tiere und den Wirkungen einer besonderen geistigen Kraft. Wir fragen nun, ob die Erscheinung der menschlichen Existenz geeignet sei, eine solche Annahme zu unterstützen. Wir sehen das geistige Leben mit dem Gehirn wachsen, einen Kulminationspunkt erlangen und dann wieder sinken im höchsten Alter bis zur Schwäche. Das Wachstum unserer Erfahrungen verdeckt eine Zeit hindurch die Abnahme des tätigen schöpferischen Vermögens.
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Anmerkungen zu Seite 47-64
Und diese Erscheinung wird da für uns in ein bestätigendes Licht gerückt, wo, wie infolge plötzlicher Verletzungen von außen oder einer inneren Degeneration [?], mit dem Gehirn die geistigen Vermögen schwinden und entarten. In dem engen Gehirn des Mikrozephalen, ebenwohl es von menschlicher Abkunft ist, bildet sich keine Erinnerung an irgendein Individuum, nicht einmal an die eigenen Eltern. Lust- und schmerzempfindende sinnliche Natur, Hunger, durch Kältegefühl eine seltsame Angst vor der Einsamkeit, die dem Mikrozephalen die Tränen ausbrechen läßt, wenn er sich allein befindet: Ein von diesen Antrieben bewegtes Leben stellt ihn tief unter die höheren Tiergeschlechter. Wie man die einzelnen Teile des Gehirns mit dem Messer entfernt, schneidet man schon bei Tieren die Intelligenz schnittweise hinweg. Dies ist das wirkliche Bild des intellektuellen Lebens in den Individuen, welches man gegenüberhalten muß den Vorstellungen, welche nur traditionell und in ihrem Ursprung vielfach verknüpft mit dunklem Gespensterglauben, mit Gestalten, die durch Träume gehen, und mit Köhlerglauben sich in der Menschheit entwickelt haben. Und wie dieses Bild die Menschen zu jeder Zeit umgab, so fand sich auch die menschliche Wissenschaft zu allen Zeiten unter dem Einfluß einiger Regeln, welche den Materialismus begünstigen. Wir erklären nur so lange exakt, als wir uns auf dem Boden der sinnlich anschaulichen Natur und ihrer Zergliederung befinden. Selbst die Hypothesen über die Komplikation der Materie sind jederzeit nur so weit fruchtbar gewesen, als sie aus ganz anschaulich und detailliert gedachten sinnlich vorstellbaren Elementen ableiteten: Wenn man zu einer bestimmten Zeit die Atome durch Haken ineinanderhaften sich vorstellte, so war das die einzig mögliche Hypothese von anschaulicher Genauigkeit. Diese Tatsache regiert unbewußt den Naturforscher, welcher sich außerstande findet, das Gebiet sinnlich anschaulicher Erklärungsgründe zu verlassen und zu bloßen Visionen [?] zu greifen. Eine zweite Klasse von theoretischen Gründen für den Materialismus liegt [?] in der gegenwärtigen Lage der Wissenschaften. Seitdem in der Hierarchie der Wissenschaften als das letzte Glied der Naturwissenschaften die Physiologie als eine Wissenschaft des tierischen Mechanismus mit Ausschließung einer jeden Annahme von Lebenskraft sich entwickelt hat, scheint der Kreis der Wissenschaft des Naturganzen geschlossen, indem in den Menschen das erkennende Subjekt gewissermaßen in sich selber zurückkehrt. Es erscheint möglich, zunächst einmal das Naturganze als ein System materieller Teile zu erklären. Dies zu verdeutlichen bediene ich mich einer Hypothese. Man könnte ein Gehirn denken, dessen Moleküle in denselben Schwingungen als die in unserem sich bewegten, ohne daß dieselben mit irgendeiner Empfindung verknüpft werden. Man könnte sich das Erdganze als ein bloßes System von Bewegungen denken, ohne daß irgendwo in ihm Augen wirklich etwas gewahr würden und Nerven irgendeine Empfindung hätten. Dieses Ganze würde alsdann als bloßes Bewegungssystem von einem höheren Ganzen abgeleitet werden können, und dies wäre alsdann das letzte Ziel der Wissenschaft des Naturganzen. Es ist auch heute das letzte Ziel des Naturforschers. Zu gleicher Zeit sind die Wissenschaften des Menschen und der Gesellschaft weit zurückgeblieben hinter den Anforderungen, welche in der Naturwissenschaft an Methoden gestellt werden. Der Inbegriff der in der Geschichte überlieferten Tatbestände wird erzählt, aber er wird nicht wissenschaftlich bearbeitet. Hieraus ergibt sich, daß die Instanzen, welche gegen die naturwissenschaftliche Ansicht hier liegen mögen, nicht zur Geltung gebracht sind. M Im Ms.: Erfolge. 65 E. Du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens, Berlin 1872. 66 Geändert aus: Teil. 67 Vgl. I. Kant, Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, a.a.O., S. 205f. 68 Vgl. I. Kant, Kritik der Urteilskraft, Einleitung, in: Kant's gesammelte Schriften, hrsg. von der königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1. Abtheilung: Werke Band V, Berlin 1913, S. 171-198. 69 Vgl. A. Horwicz, Psychologische Analysen auf physiologischer Grundlage, a.a.O., S.75ff. 70 Geändert aus: lange betrachtend. 71 Am Rand: auch Beneke im 3. Grundprozeß. 72 F. Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, 1. Band, Leipzig 1874.
A n m e r k u n g e n zu Seite 6 4 - 9 9
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Geändert aus: gefragt. Vgl. oben Anm. 8. 75 Vgl. W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, a.a.O., S.719. 76 Geändert aus: Vorstellungen. 77 ]. Bergmann, Grundlinien einer Theorie des Bewußtseins, Berlin 1870. 78 Geändert aus: so findet. 79 Vgl. D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, hrsg. von R. Richter, Hamburg 1973, S. 24. 80 Geändert aus: formiert. 81 Vgl. Th. Waitz, Lehrbuch der Psychologie als Naturwissenschaft, a.a.O., S. 8 7 f f . 82 Th. Waitz, a.a.O., S.92f 83 Am Rand: Einige praktische Tatsachen des Assoziationslebens. 84 Am Rand von D.s Hand: Diese Verschiedenheiten liegen in der Richtung des Interesses gegründet, welches als Trieb in der Assoziation waltet. D e n n in der N a t u r der Vorstellung liegt kein G r u n d weiterzugehen. 85 Ch. Dickens, The Life and Adventures of Nicholas Nickleby, London 1838-1839. 86 Geändert aus: ein. 87 Am Rand von D.s Hand: I. 88 J. L. Vives, De anima et vita (Liber I-III), in: Joannis Ludovici Vivis Valentini Opera Omnia. Tomus I I I , Valentia 1782, S. 300-520. 89 Korrigiert aus einem unverständlichen Satz. 90 Am Rand von D.s Hand: Stellung dieses Wahrnehmungsverhaltens [?] des Geistes selbst u n d seine Aufgabe - die Wahrnehmungen [werden zu] Erfahrungen z u m Zweck der Erkenntnis von Tatsachen. Als solche bilden sie den Inhalt dieses Grundverhältnisses, die Basis zur L ö s u n g intellektueller u n d praktischer Aufgaben. " Am Rand von D.s Hand: 3) Vorherrschen der durch sachliches Interesse geleiteten Assoziation. Es folgt eine Klammer mit zwei unentzifferbaren Wörtern. 92 Ob es sich hierbei möglicherweise um den seinerzeit bekannten Schriftsteller F. Bodenstedt handelt, ist durch den Kontext nicht zu erschließen. 93 Am Rand von D.s Hand: O f t geringe Intelligenz verbunden mit irrationalen Elementen, besonders bei Frauen. 4) regelmäßige Wiederholung. 94 Lücke im Text. 95 Am Rand von D.s Hand: II. % Am Rand von D.s Hand: a). 97 Am Rand von D.s Hand: b). 98 Abweichender Titel dieses Paragraphen in der Nachschrift B: A p p e r z e p t i o n oder Wechselwirkung zwischen den Wahrnehmungen und den verschiedenen Vorstellungsklassen gemäß den G r u n d prozessen der Verschmelzung u n d Assoziation. In der Nachschrift Α hat D. die Überschrift gestrichen und durch einen neuen Titel ersetzt: I 1 [ . . . ] Verhältnis von Gedächtnis u n d Phantasie oder Apperzeptionsleistung [?] . die Phantasie und die im [ . . . ] Bildungsprozesse. 99 G. W. Leibniz, Principes de la Nature et de la Grace, fondes en raison, in: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, hrsg. von C.J. Gerhardt, 6. Band, Leipzig 1932, S. 598ff. too Dilthey, Über die Einbildungskraft der Dichter, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 10 (1878), S. 42-104. 101 Der Satz bricht ab. 102 Der Satz bricht ab. 103 Vgl. M. W. Drobisch, Empirische Psychologie nach naturwissenschaftlicher Methode, a.a.O., S. 135 f f . 104 Randnotiz D.s: Stellen von Lazarus u n d Steinthal. 105 Randnotiz D.s: 2) die 2 verschiedenen Auffassungen. 106 Der Satz bricht ab. 107 Randnotiz D.s: 3) Diese Ansicht erklärt aus dem U n b e w u ß t e n als einem Topf [?] des G e heimnisses auf dem Gebiet psychologischer Vorgänge [?]. 74
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Anmerkungen zu Seite 99-108
Randnotiz D.s: II. Positive Begründung einer eigenen Ansicht. Am Rand von D.s Hand: 2. Diese Ansicht setzt nur unmerkliche Vorstellungen voraus, während die herrschende ein unbekanntes [?] Gebiet unbewußter psychischer Vorgänge als Hypothesenerklärung hat. 110 Am Rand von D.s Hand: 3) Diese psychologische Annahme fand in der Herbartschen Richtung, die in der Wirklichkeit von der unwahrscheinlichen Annahme von rein mechanischen Vorgängen des Seelenlebens [ausging] , große Ausdehnung. 111 Gemeint ist vermutlich: Hann Jochen. Vgl. F. Reuters Gedicht „Ok 'ne lütte Gaw' för Dütschland". 112 Eine ausführliche Behandlung des Themas dieses Paragraphen findet sich in einer fragmentarischen, undatierten Nachschrift von stud. phil. Wenzig (C 42: 164-179), die im folgenden mitgeteilt wird: 108 109
Die Forscher teilen sich in bezug auf das Verhältnis von Gefühl und Willen in zwei Gruppen. Die einen führen das Gefühl auf den Willen, die anderen den Willen auf das Gefühl zurück. A.) Kritik derjenigen Forscher, welche das Gefühl auf den Willen zurückführen. Wir betrachten die einzelnen Forscher gesondert. a.) Spinoza: Spinoza besitzt die Theorie in der wirrsten Gestalt. Will man seine Lehre von dem Verhältnis von Wille und Gefühl auf einen theoretischen Ausdruck bringen, und er selbst hat diesen Ausdruck nicht gebraucht, sondern hält das Verhältnis in einem Halbdunkel, so wird man sagen müssen, nach Spinoza ist das Gefühl der Zustand, in dem der Wille sich seiner wechselnden Zustände bewußt wird. Nach Spinoza ist Gefühl nichts anderes als ein Innewerden der Zustände, die der Wille in sich selbst erfährt. Der Wille in seiner Spannung, seiner Hemmung, seiner Befriedigung, diese objektiven Zustände sind zugleich für das Individuum da; die Art, wie sie da sind, das Innewerden, das Bewußtsein hiervon, das ist das Gefühl von Willensspannung, von Lust und Unlust. Bei Spinoza verhält sich Wille zum Gefühl, wie die Sache zu ihrem Schatten. Die Wirklichkeit ist der Wille, das Bewußtsein, die Abspiegelung dieser Wirklichkeit ist das Gefühl, und dieses Gefühl ist der notwendige Begleiter jedes Willensaktes. Jeder erfährt nun bei einer starken Anspannung des Willens ein Gefühl. Ein solches Gefühl findet in der Tat statt. Somit ist der Satz bewiesen, welcher als Fundamentalsatz der Spinozischen Psychologie angesehen werden kann. Hätte nun Spinoza dieses nachgewiesen, der Inhalt unseres gesamten Lebens sei Willen, alsdann hätte er mit Richtigkeit den weiteren Schluß gemacht, das Innewerden hiervon sei das Gefühl, und ein anderes Gefühl, als das, welches die wechselnden Zustände des Willens begleite, existiere nicht. Aber die Tatsachen sind anders. Nehmen wir ζ. B. den Zustand des Zahnwehes, der doch sicher Gefühl ist. Handelt es sich dabei um die Hemmung meines Willens? Liegt die Unlust in der Hemmung einer Willenseinheit in uns? Dies ist eine öde Künstelei. Der Unwille über die Hemmung unseres Selbst, darüber, daß unserem Willen Gewalt angetan wird von der Wirklichkeit, das sind doch nur sehr sekundäre Elemente, und man müßte sich einen sehr idealen Menschen konstruieren, wenn man glauben wollte, daß er dabei nicht seinen Schmerz fühle bei Zahnweh, sondern zunächst die Abhängigkeit seines Willens von der Körperlichkeit. Wenn nun freilich auch in unseren Gefühlen eine Willensdetermination mitspielt, aber auf dieses allein kann das einfache körperliche Gefühl nicht zurückgeführt werden. Schon hieran also scheitert die Sache. Das Überzeugungsgefühl, das man in bezug auf eine religiöse Wahrheit hat, ist sicher ein Gefühlszustand, der in gar keinem Zusammenhang mit meinem Willen steht. Auch hier besteht ein Innewerden, aber ein Innewerden nicht der Zustände meines Willens, sondern meiner intellektuellen Zustände. Anders ausgedrückt: Innewerden ist sicher die Natur des Gefühls, aber die Welt der Gefühle reicht weiter als bloß auf die Zustände unseres Willens. So weit überhaupt die Welt unseres psychophysischen Wesens reicht, so weit erstreckt sich auch das Reich der Gefühle. Gefühl ist in letzter Instanz das Bewußtsein, in welchem wir die Zuständlichkeiten unseres gesamten psychophysischen Selbst erfassen.
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b.) Schopenhauer: Schopenhauer hat eine noch engere, eigensinnigere, der Wahrheit noch weniger entsprechende Betrachtungsweise. Man hat viel über den Pessimismus von Schopenhauer pro et contra gesprochen. Dieser Pessimismus ist doch erst verständlich von seiner Ansicht über den Willen aus. Denn indem Schopenhauer dem Willen keinen anderen Inhalt gibt als Glück und Glückseligkeit, und indem er nichts anderes in der menschlichen Natur anerkennt als den Willen und einen bloß abspiegelnden, also indifferenten und unproduktiven Intellekt, so ist es selbstverständlich, daß dieser gänzlich eudämonistische Wille dem Schicksal des Pessimismus verfiel. Der Wille, der nichts will, als die Entfaltung des eigenen Seins, wird freilich dem nicht entgehen können, diese seine letzte Absicht als eine Illusion, als ein niemals zu erreichendes Ziel im Laufe des Lebens zu erkennen, und so besteht denn der ganze Schopenhauersche Pessimismus im Grunde nur in dem Satze: „Der egoistische Wille erfährt in der Entwicklung des Lebens die Verneinung und Aufhebung seines eigenen Selbst." Der egoistische Wille, der in der Jugend sich ausbreiten möchte, erfährt im Verlaufe dieses seines Strebens, daß dasselbe eine Illusion sei. Denn das Glück ist nicht für die da, die das Glück suchen, sondern die allein besitzen es, die das Glück als solches gar nicht suchen, denen wird es vielmehr zuteil, die im Leben eben etwas anderes suchen als dieses Glück. Wer das Glück sucht, der hat es im Leben noch nie gefunden, sondern hat immer das innewerden müssen, daß das Spiel von Begehren, welches auf diese Weise in ihm entfesselt wird, im Grunde notwendig unglückselig macht. Die ganze Schopenhauersche Theorie zeigt sich als gänzlich unbrauchbar, der Intellekt wird dem Willen gegenübergestellt, der Intellekt soll Willenloses, ζ. B. die Kunst, hervorbringen. Alle Produktion hat den Willen hinter sich, oder sie wird zum leeren Spiel. Es ist der Wille, welcher das Ziel der Erkenntnis setzt. In der Kunst soll nun interesseloser Intellekt sich betätigen. Gesetzt, es wäre dies der Fall, woher käme dann das Gefühl, das grade in der Kunst vorwaltet? Endlich die Erkenntnis selbst soll nun schließlich ganz willensfrei sein, sie soll also Zweck und Ziel ausschließen. Nehmen wir aber der menschlichen Erkenntnis die Auffassungsweise nach Ursache und Wirkung, nach Substanz und Akzidens und nehmen wir ihr das Gefühl der Wirklichkeit, so haben wir allerdings die Willenswurzeln ausgerissen, aber auch zugleich die Pflanze getötet. Das Gefühl endlich ist nun auch bei Schopenhauer zu sehr eingeschränkt. Das Gefühl wird sich nicht nur der Zustände des Willens bewußt, sondern aller Zustände des psychischen Selbst, also ebensogut der intellektuellen Zustände. B.) Kritik derjenigen Forscher, welche den Willen als durch das Gefühl hervorgerufen darstellen. a.) Protagoras: Protagoras ist es, der, wie er die Wahrheit zurückführte auf die Tatsache der Empfindung, so den Willen und das Gemüt zurückführte auf die Tatsache der Lust und Unlust. Das ist der Sensualismus oder der grobe Empirismus. Und diesen muß man für unhaltbar erklären. Daraus kann unmöglich die sittliche und ästhetische Welt erklärt werden. Schon die Tatsache der Billigung und Mißbilligung, des Gefallens und Mißfallens, überhaupt die Gefühlstatsachen selbst lassen sich nicht zurückführen auf die Gefühle von Lust und Unlust. Es bedarf schon für die Gefühlslehre einer erheblichen Erweiterung der Grundlagen, welche Protagoras gegeben hat. An die Theorie von Protagoras schließt sich an b.) die Theorie Demokrits und des Epikur: Die Lust, so sagt Epikur, ist uns Anfang jedes Strebens und Meidens, und auf sie läuft unser ganzes Tun hinaus. In diesen Sätzen liegt deutlich der Zusammenhang, der zwischen dieser psychologischen Anlage und dem Eudämonismus als ethischer Anlage besteht. Zunächst muß man sich von einer vorurteilsbefangenen Ansicht losmachen. Der Gedankengang, welchen der Eudämonismus als moralische Weltansicht nimmt, ist folgender. Lust und Unlust sind die Triebfedern der menschlichen Handlungen, das Streben nach einem Maximum von Lust und einem Minimum von Unlust, und zwar streben wir vermöge der Tatsache der Sympathie, die in uns wahrgenommen wird, nicht nur nach unserer eigenen Lust, sondern auch die Lust anderer erregt uns Lust, der Schmerz anderer ruft in uns Unbehagen oder Unlust wach. Die Natur des Menschen ist so eingerichtet, daß sie einem Mechanismus gleicht, welcher nur aufgrund von Lust- und Unlust-
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empfindungen reagiert. Nicht aber sind diese Empfindungen gebunden an das Individuum selbst, sondern auch Lust und Unlust anderer erregen uns mit. Sicher ist dies eine unzweifelhafte Tatsache. Wenn wir in das Getriebe unseres psychischen Lebens blicken, so gewahren wir uns nicht selten mitaffiziert von den Affektionen der Individuen neben uns, sofern uns diese Individuen nahestehen, eng verwandt oder verbunden sind. Und diese Mitempfindung erstreckt sich bis auf die tierische Welt herab, an welcher wir doch auch bis zu einem gewißen Grade einen Anteil an Mitempfindung nehmen. Nun schließt der Eudämonismus weiter. Demgemäß erstreben wir in unserer menschlichen Handlungsweise das Glück aller Menschen, die Glückseligkeit der Gesellschaft, insofern ja ihr Glück bis zu einem gewissen Grade unser Glück, ihr Unglück unser Unglück ist. Das Ziel der Motoren unseres Willens, die in Lust und Unlust spielen, ist das Wohl der Gesellschaft. Und die Gesellschaft gleicht einem Mechanismus, welcher getrieben wird von diesen Impulsen von Lust und Unlust; das Ziel aber, nach welchem die einzelnen Individuen streben, ist das Wohl der Gesellschaft im ganzen. „Streben", hier tritt noch auch plötzlich der Ausdruck auf: „Streben sollen". Das ist noch heute in England die siegreiche Theorie der Staatsräson. Prüfen wir diese. Weit entfernt, daß aus dem Streben des Individuums nach Lust und Vermeidung der Unlust der soziale Eudämonismus folgen sollte, bildet vielmehr dieser soziale Eudämonismus den graden Gegensatz gegen diese Theorien und wird von ihnen ausgeschlossen. Es gibt nun keinen nachlässigeren und unzureichenderen Schluß, als der ist, welcher der Regel nach von den Moralisten Englands zugrunde gelegt zu werden pflegt. Das Individuum tendiert nach einem Maximum von Lust, und hierzu ist erforderlich, daß es, soweit ihm dies möglich ist, die Unlust anderer Individuen vermeidet, weil diese sonst in einem gewissen Grade seine eigene Glückseligkeit hemmt. Jedoch ist klar, daß, wenn das Individuum nach Lust strebt und Unlust zu vermeiden sucht, es nicht in der Lage ist, ein Opfer zu bringen. Das Individuum würde ja nur dann ein Opfer bringen, wenn es seine eigene Lust aufgibt zugunsten jenes Mitgefühls, welches sich auf andere bezieht. Ein solches Sorgen für andere soll aber nach dem Eudämonismus nur insoweit stattfinden, als die eigene Lust dadurch erhöht, nicht aber verringert wird. Dies kann aber niemals ein Opfer genannt werden, niemals kann also innerhalb dieser eudämonistischen Moral ein Opfer auftreten. Denn das würde bedeuten, daß eine größere Lust aufgegeben werden soll für eine kleinere. In dem allgemeinen Gefühl liegt aber, daß jede Art von höherem ήθος sich nur auf der Basis der Aufopferung erheben könne. Nur, wo von einer Aufopferung die Rede sein kann, kann man von Sittlichkeit sprechen. Das ist sozusagen nur in Parenthese, denn uns interessiert hier nur die Folgerung, welche sich daraus ergibt. Es folgt aus dieser Lust- und Unlustlehre, wie wir nunmehr sahen, immer nur die Erstrebung eines Maximums von Lust für das eigene Subjekt. Auch die Lust, welche aus der Förderung eines zweiten entspringt, ist nur als ein Teil unserer Lust aufgefaßt, und diese Förderung selbst ist nur als ein Mittel unserer Lust mitenthalten in dem Komplex von Mitteln, vermöge deren das Individuum seine Glückseligkeit erstrebt. Hieraus folgt, daß niemals aus dieser persönlichen autonomistischen Moral eine sozial-eudämonistische Betrachtungsweise in der Richtung auf das Glück der Gesellschaft sich erheben kann. Das Individuum kann schlechterdings die Grenzen seiner Egoität von diesem Standpunkte aus nicht überschreiten. Sind Lust und Unlust die ausschließlichen Hebel alles menschlichen Handelns, so ergibt sich mit Notwendigkeit, daß das Wohl der Gesellschaft niemals das definitive Ziel vom Handeln des Individuums sein kann. Die Sorge für das Wohl der Gesellschaft kann sich erst dann in dem Individuum erheben, wenn es seine persönliche Glückseligkeit nicht ausschließlich zum Ziel seines Handelns macht. Von diesem Standpunkt gibt es keinen Weg zur Glückseligkeit der Gesellschaft, es ist eine reine Sophistik, wenn die englische Moral die eigene Glückseligkeit überspringt und sich plötzlich vis-ä-vis der Glückseligkeit der Gesellschaft befindet. Jedem bietet sich nun die Frage dar, wie entspringt die Freude des Individuums um seine Tätigkeit für die Gesellschaft, wie ist zu erklären, daß das Individuum, sein Maximum von Glückseligkeit ein Leben hindurch zu erjagen, in der Regel seine Kräfte in den Dienst der Allgemeinheit stellt? Erklärlich ist diese Tatsache nur dadurch, daß die Motoren unserer Handlungen nicht ausschließlich Lust- und Unlustempfindungen sind. Die Tätigkeit als solche gewährt dem Individuum eine persönliche Befriedigung, und weil dies der Fall ist, sehen wir das Individuum dann sein Glück am sichersten erreichen, wenn es in der Arbeit für allgemeine Zwecke sein Leben verlebt. Indem es dies tut, entspringt aus dieser
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Arbeit eine Art von Glückseligkeit, die nicht ersonnen und nicht errechnet werden kann, entspringt eine Glückseligkeit, welche an das Handeln als solches gebunden ist, weil dieses der menschlichen Natur entspricht. Dies ist nur eine vorläufige kritische Bemerkung, die erst später zur Klarheit kommen kann. Wundt hat den Standpunkt dieser Lehre psychologisch so zu entwickeln versucht: Die Grundlage aller unserer Gefühle sind unsere sinnlichen Gefühle, diejenigen Gefühle, welche mit Sinnesempfindungen bei uns verknüpft sind. An diese schließen sich diejenigen Gefühle, welche durch Vorstellungen in uns erregt werden, die ästhetischen Gefühle. Indem nun aber, fährt er fort, diese Gefühle zusammenwirken auf den Lauf unserer Vorstellungen, so entstehen die Affekte und die Triebe. Dieser Vorgang ist folgender: Ein Eindruck erregt uns unmittelbar vermöge des ihm anhaftenden Gefühls, bei dieser Bewegung geraten unsere Vorstellungen in Erregung, und so entsteht der Affekt, der sich dann in der Bewegung reflektiert. Von dem Affekte unterscheiden wir den Trieb. Der Trieb ist diejenige Bewegung unseres Inneren, welche aus einem Gefühl entspringt, das unser Bewußtsein sich in der Zukunft vorstellt, das unser Bewußtsein nicht als ein gegenwärtiges genießt. Der Trieb enthält daher in sich eine Spannung, der Grad der Spannung begründet die Stärke des Triebes, die Beschaffenheit des Eindrucks die Richtung des Triebes. Alle unsere Triebe zerfallen in zwei Klassen, in begegnende und widerstrebende, und sie alle endigen in willkürlicher Bewegung. Der Punkt nun, um den es sich handelt, wird immer der sein: Wie entsteht aus dem Gefühl der Impuls, wie entsteht aus Lust und Unlust der Antrieb, wie entwickelt sich aus der Welt der Gefühle die Welt des Willens? Behauptet jemand, die Welt der Gefühle rufe ohne weiteres die Welt des Willens hervor, so muß er dies beweisen, indem er den Grund in den Gefühlen selbst enthüllt. Durchmustern wir nun diese Theorie. Es gibt einen solchen Fortgang nicht, es ist unmöglich, einen Ubergang zu finden von den Gefühls- zu den Willenszuständen. Wenn Wundt sagt: Von dem Affekt unterscheidet sich der Trieb als eine Gemütsbewegung, die auf künftige Ereignisse gerichtet ist, so soll der Schein erweckt werden, als ob hier nur veränderte Vorstellungsverhältnisse aufträten, als ob die Zukunft des Gefühlszustandes den Willen zum Willen mache, in Unterscheidung vom Gefühl, das innerhalb des gegenwärtigen sich bewegt. Aber es gibt ja, dies scheint Wundt zu übersehen, es gibt ja auch Gefühle von möglichen zukünftigen Zuständen, welche darum noch lange nicht Wille sind. Man kann ja der Zukunft Bilder leihen, in ihnen schwelgen, ohne daß ein Willensentschluß hiermit überhaupt verbunden ist. Dasjenige Gefühl, welches mit einem Bilde der Zukunft verknüpft ist, das ruft noch keinen Willen hervor, das entbindet auch keinen Willensentschluß. Es wird noch immer der Tatsache des Willens bedürfen, damit, wenn es sich um Zukunftsbilder handelt, aus dem Gefühl der Entschluß entstehe. Man umgeht mit solcher Erklärung die Dinge, um die es sich handelt. Daß auf Gefühl willkürliche Bewegung folge, ergibt sich nicht aus dem Gefühl, sondern es handelt sich auch hierbei um die Welt unseres Willens. 113 R.H. Lotze, Mikrokosmus, Band I, a.a.O., S.264; im Text findet sich die falsche Seitenangabe 466. 1,4 J. W. von Goethe, Zur Farbenlehre, 2 Bände, Tübingen 1810. 115 Im Text Hinweis auf R. H. Lotze, Mikrokosmus, Band I, a.a.O., S. 264; im Text findet sich die falsche Seitenangabe 266. '16 Geändert aus: 6. 1.7 Vgl. Ges. Sehr. XIX, S. 17ff.: Philosophie der Erfahrung: Empirie, nicht Empirismus. 1.8 Am Rand von D.s Hand: I. Das Gefühl im Zusammenhang des Bewußtseinsstandes. 4. Jedes Gefühl aber in unserem Bewußtseinsstande [ . . . ] ist mit einem bestimmten Sinn oder mit Spannung des Willens verbunden. 119 R.H. Lotze, Mikrokosmus, Band I, a.a.O., S.264. 120 Vgl. ebd. 121 Rekonstruktion aus einem unverständlichen Satz. 122 Am Rand von D.s Hand: 5. Von der Tatsache des Vorhandenseins des Gefühls als eines Bestandteils in jedem Bewußtseinszustande unterscheiden wir die Tatsache der wechselnden Lebenszustände, die überwiegend das Gefühl hervorbringt. In diesem ist das psychische Leben
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Anmerkungen zu Seite 114-119
durch das Innewerden der Beziehungen von Vorstellungen und Willensdeterminationen rückwärts auf es selber gerichtet. 123 Am Rand von D.s Hand: B. 124
Vgl- W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, a.a.O., S. 456. Einschub am Rand von D.s Hand: Das Gefühl umfaßt als Innewerden die ganze Welt des psychischen Lebens. Innerhalb des Denkens tritt es als intellektuelles Gefühl auf, innerhalb des Wahrnehmens als ästhetisches, innerhalb des Willens als praktisches Gefühl. [Es ist] damit aber nicht erschöpft: Denn die Einheit des Lebens wird [erfahrbar] in psychischen oder seelischen Gefühlen, welche das Zentrum des Gefühlslebens ausmachen. 126 Lücke im Text. 127 Die Seiten 119 und 120 der Nachschrift (C 26 II: 264 und 264 Rucks.) sind paginiert, enthalten aber keinen Text. Auf der S.118 (C 26 II: 263 Rücks.) findet sich eine wahrscheinlich von D. gestrichene Überschrift zu einem nicht ausgeführten Abschnitt: Das Verhältnis der Gefühle zur Reproduktion. D. benutzte die leeren Seiten offenbar für die Skizze zu einem neuen Paragraphen: Die Gesetze, nach denen Gefühle auftreten und verschwinden Dieser Zusammenhang enthält den Beweis dafür, daß in dem Gefühl ein Innewerden der Beziehung der Affektionen zu der Einheit des Seelenlebens stattfindet. Denn 1. es gibt keine Reproduktion von Gefühlen. Kehren Vorstellungen zurück, so wirken sie eventuell als Bestimmungen auf die Lebenseinheit und rufen nun dasselbe oder ein ähnliches Gefühl hervor [wie] als ehemals. Beweis: N u r meine Lage macht mir möglich, daß diese Gefühle zurückkehren. 2. Den Beziehungspunkt unserer Gefühle bildet das ausgebildete Zentrum von Vorstellungen, um welches sich die labilen Vorstellungen bewegen. Gefühle als solche dauern nicht fort, auch nicht einzelne Willensakte. Aber die Fähigkeit dauert fort, in einer bestimmten Art auf Eindrücke durch Gefühle zu reagieren, ebenso Richtungen oder Strebungen des Willens. Beide werden nicht reproduziert. Sie haben eine andere Art von Stetigkeit. Diese Stetigkeit stellen wir vor, indem wir eine dauernde Inhaltlichkeit unseres Selbst annehmen. Leitend aber ist dabei, daß ein gewisses System von Vorstellungen mit unserem Selbst inhaltlich verbunden [ist]. Unsere Vorstellungen sind nicht in beliebige Verbindungen zu treten fähig. Vielmehr bilden sie ein festes Gefüge des Bildes unseres Verhältnisses zur Welt, das von unserem Standorte geographisch, gesellschaftlich etc. ausgeht und die Grundzüge unseres vergangenen Lebens in sich faßt. Das alles existiert in uns in einer abbreviierten [?] Gestalt. Die [.. .]theorie behandelt diese Tatsachen von einer atomistischen Sicht [?] aus und tut ihnen daher nicht Genüge. 3. Soweit ein Tatbestand fortdauert in uns, kann auch das von ihm bedingte Gefühl bei Eintritt des Eindrucks auftreten [...]. Jedoch ist dieses nicht Reproduktion. Solange wir schmerzliche Liebe in unserem Selbstbewußtseinsbestande durch den Tod von Freunden haben, ruft die Rückerinnerung des Bildes unter dem Eindruck der Umstände das Gefühl hervor. Es folgt ein unleserlicher Satz. Individuen in sich: dies kann nicht erklärt werden auf Basis der bloßen Selbsterhaltung. Es gibt überhaupt kein abstraktes, isoliertes Lebensgefühl des Individuums: dasselbe würde sich wie herausgeschnitten aus dem Ursprung seiner Wurzeln finden, wenn etc. Auch das Individualleben in uns. 125
128
Die Paragraphenüberschrift wurde der Nachschrift Β entnommen. Korrigierter Verweis. 130 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik VII 1152b~1154b. 131 A. Augustinus, De Civitate Dei, Buch XIV, 6. 132 F. W.J. Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, in: Ders., Philosophische Schriften, Band 1, Landshut 1809, S. 397-511. 133 Es fehlt ein Gliederungspunkt: 2). 134 Der Satz bricht ab. 135 Die Nachschrift Α gibt den von D. vorgetragenen Paragraphen offenbar nicht vollständig wieder. 129
Anmerkungen zu Seite 125-155 136
Korrigiert
aus einem unverständlichen
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Satz.
Vg/. ]. G. Fichte, Die Bestimmung des Menschen, in: }. G. Fichte's sämmtliche Werke, hrsg. von LH. Fichte, Band2, Berlin 1845, S. 167-319. 138 A. Schopenhauer, Die Grundprobleme der Ethik, behandelt in zwei akademischen Preisschriften, in: Sämtliche Werke, 4. Band, 2. Abteilung, hrsg. von A. Hübscher, Leipzig 1938, S. 14. 139 Aristoteles, De anima III 433 b. - Im Text der Nachschrift fehlerhafte Angahe getilgt. 140 Abweichende Überschrift in der Nachschrift B: Das Selbstbewußtsein, der Wille und die Freiheit. 141 Es folgt der Hinweis: Vgl. Lange, Geschichte des Materialismus. 142 Der Satz bricht ab. 143 Geändert aus: Zweck. 144 Th. Waitz, Anthropologie der Naturvölker, 6 Bände, a.a.O. 145 A. Trendelenburg, Nothwendigkeit und Freiheit in der griechischen Philosophie. Ein Blick auf den Streit dieser Begriffe, in: Ders., Historische Beiträge zur Philosophie, 2. Band: Vermischte Abhandlungen, Berlin 1855, S.112-187. 146 Am Rand von D.s Hand: 2). 147 Am Rand von D.s Hand: 3). 148 Am Rand von D.s Hand: a). 149 Korrigierter Satz. 150 Randnotiz D.s: Denn: ignorantia ist nicht diese Sache, sondern ein Teil [?] dieser inneren Wahrnehmung. 151 Am Rand von D.s Hand: b). 152 F. H. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an Herrn Moses Mendelssohn, Breslau 1785, in: F.H. Jacobi's Werke, 4. Band, 1. Abtheilung, hrsg. von F. Koppen, Leipzig 1819, S. 37-253. 153 Am Rand von D.s Hand: 3) neues historisches Stadium. 154 Korrigierter Satz. 155 ]. Müller, Die christliche Lehre von der Sünde, Breslau 1839. 156 Am Rand von D.s Hand: Kritik. 157 Am Rand von D.s Hand: Einen Eindruck [?] hiervon erhalten wir in wirklich empirischer Beobachtung. [ . . . ] Wir unterscheiden zwischen dem, was unser Bewußtsein bei direkter Beobachtung und Erinnerung enthält, und dem Versuch, den Zusammenhang dieser inneren Wahrnehmung vorstellig zu machen. 158 Das im Ms. folgende vielleicht gestrichen. 159 Geändert aus: III. 160 In der Überschrift der Nachschrift Β ist die Rede von: psychischen Akten. 161 Am Rand: der dabei vorkommenden Verschiedenheit der Intensität. 162 Vgl. E.H. Weher, Der Tastsinn und das Gemeingefühl, in: R. Wagner (Hrsg.), Handwörterbuch der Physiologie mit Rücksicht auf physiologische Pathologie, 3. Band, 2. Abtheilung, Braunschweig 1846, S. 481-588; hier: S. 543-549. 163 Die Nachschrift bricht ab. 164 Dem Textstück vorgestellt ist von D. die Überschrift: 1. [ . . . ] Abschnitt I Schlußverfahren. 165 Es folgt eine unlesbare Zwischenüberschrift D.s: 2) [...]. 166 \?gi ψ Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, a.a.O., S. 282ff. 167 Vgl. E.H. Weber, Der Tastsinn und das Gemeingefühl, a.a.O., S. 537-540; zum Begriff der „Empfindungskreise" vgl. S. 527. 168 Randnotiz D.s: a) Der Forscher beobachtet sich selbst mit [...]. 169 Randnotiz D.s: b) Tierversuch. 170 Korrigierter Satz. 171 Unentzifferbare Randnotiz von D.s Hand. 172 Randnotiz von D.s Hand: 3. Die 3 Beziehungen [?] des Wahrnehmungsvorgangs, a) äußerer Vorgang. 173 Randnotiz von D.s Hand: b) Vorgang innerhalb [des] Körpers. 137
376 174
Anmerkungen zu Seite 155-166 Vgl. E. Du Bois-Reymond,
Untersuchungen
über thierische Elektricität, II. Band, Berlin
I860. 175
Randnotiz von D.s Hand: Randnotiz von D.s Hand: [...] unbewußte Schlüsse. 177 Geändert aus: dann. 178 Randnotiz von D.s Hand: 179 Randnotiz von D.s Hand: [···]· 176
[c)] der psychische Vorgang. 3. Psychologischer Zusammenhang in [der] Wahrnehmung, a)
b) Elemente, die in [der] Wahrnehmung verbunden sind. c) Untersuchung und Auffindung [?] der gegebenen Elemente
180
Am Rand von D.s Hand: 4) die Reize. 1) innere und äußere. Am Rand von D.s Hand: 2). 182 Am Rand von D.s Hand: 3). 183 Am Rand von D.s Hand: 5) die Empfindungen. 184 Am Rand von D.s Hand: 4) 6. Verhältnis des Inhalts der Empfindung zum Reiz. 185 J. Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen, 2. Band, 2. Abtheilung: Der speciellen Physiologie 5. Buch: Von den Sinnen, a.a.O. 186 J. E. Purkinje, Beyträge zur Kenntniß des Sehens in subjectiver Hinsicht, Prag 1818 [Diss.]; Beobachtungen und Versuche zur Physiologie der Sinne I, Prag 1823 [2. Auflage der Diss.]; Neue Beiträge zur Kenntniß des Sehens in subjectiver Hinsicht. Beobachtungen und Versuche zur Physiologie der Sinne II, Berlin 1825. 187 J. Müller, Uber die phantastischen Gesichtserscheinungen. Eine physiologische Untersuchung mit einer physiologischen Urkunde des Aristoteles über den Traum, den Philosophen und Ärzten gewidmet, Coblenz 1826. 188 Am Rand von D.s Hand: a). 189 Vg/. J. Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen, 2. Band, 2. Abtheilung, a.a.O., S. 250. 190 Am Rand von D.s Hand: b). 191 Vgl.J. Müller, a.a.O., S. 251. 192 Am Rand von D.s Hand: Schluß. 193 Der Satz bricht ab. 181
Anthropologie und Psychologie als Erfahrungswissenschaft (Wintersemester 1881/82) C 27 I: 43-68. Unpaginiertes Schreibheft mit der Aufschrift: Psychologie doc. P. P. O. Dilthey W.S. 1881/82. Das Ms. stammt von Sylvius von Manterberg [?]. Es handelt sich um eine Mitschrift der von D. diktierten Lehrsätze der Vorlesung; sie trägt den Untertitel: Psychologie. Der dictirte Auszug. Das Ms. wurde von D. durchgesehen und mit einigen Marginalien und ζ. T. ausführlichen Zusätzen versehen. Die wenigen stenographischen Notizen des Schreibers am Rand des Textes blieben bei der Edition unberücksichtigt. Ergänzend hinzugezogen wurde eine undatierte Nachschrift („Nachschrift B") eines unbekannten Verfassers: C 26 II: 208-226 Rücks.; sie trägt den Titel: Prof. Dr. Dilthey Psychologie
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Aufgrund des inhaltlichen Vergleichs ist zu vermuten, daß es sich hier um eine Nachschrift einer Vorlesung handelt, die wohl unmittelbar vor dem Wintersemester 1881/82 gehalten wurde; signifikant ist insbesondere die unterschiedliche Fassung der Paragraphen 9 und 10. Zum Vergleich und zur Entlastung der Anmerkungen teilen wir die vollständige Gliederung dieser Nachschrift mit: §1. §2.
§ 1. §2. §3. § 4. §5. §6. § 7. 58. §9. §10. §11. §12. §13. § 14.
Einleitung Geschichte und Literatur der Psychologie Erstes Buch. I. Teil: Die Tatsachen des Bewußtseins oder Gliederung, Elemente und Gesetze des bewußten Seelenlebens Von den Mitteln, die Tatsachen des Bewußtseins aufzufassen Die psychische Lebenseinheit und der Körper, insbesondere das Nervensystem Die natürliche Gliederung der Tatsachen des Bewußtseins und die Seelenvermögen Wahrnehmung und Vorstellung Das Verharren der Vorstellung. Die Verschiedenheit ihrer Bewußtseinsgrade. Schlaf und Wachen, Aufmerksamkeit Die Elemente des Vorstellungsverlaufes und die in ihnen gegebene Grundlage seiner Gesetzmäßigkeit Erster Grundvorgang: die Verschmelzung und ihre Gesetze Zweiter Grundprozeß: die Assoziation und ihre Gesetze Die Phantasie. Gedächtnis und Phantasie Das Selbstbewußtsein und das empirische „Ich" Zustände des Selbstbewußtseins, welche von der Regel des wachen Lebens abweichen Die Beziehungen zwischen Gefühl und Wille Das Gefühl Der Wille und seine Freiheit
Die Nachschrift Β wurde von D. ebenfalls durchgesehen und mit zahlreichen, ζ. T. längeren Anmerkungen versehen. In den Anmerkungen werden solche Textpassagen aus dieser Nachschrift mitgeteilt, die Uber den Grundtext hinaus (terminologische) Varianten und weiterführendes Material enthalten. Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: Glied. Fortführung in der Nachschrift B:... , noch mehr abgeleitet in dem Schlüsse auf räumlich von uns Getrenntes oder Vergangenes, für welchen Schluß in der Hermeneutik und Kritik ein besonderes Reich von Regeln der Erkenntnis geschaffen worden ist, da auf ihm alles geschichtliche Wissen beruht. 196 Fortführung in der Nachschrift B: ... und enthält daher die zunächst ursprünglich gegebenen Tatsachen; denn die Beziehung eines Wahrnehmungszustandes auf äußere Gegenstände ist vermittelnd. 197 Fortsetzung in der Nachschrift B: Schon das natürliche Denken gibt in allgemeinen Sätzen Generalisation, die Wissenschaft stellt die Gesetzmäßigkeit des psychischen Lebens fest, d. h., sie entwirft eine Deskription des psychischen Lebens, welche das Gleichförmige in diesem Leben entwickelt. Eine erklärende Psychologie, welche die psychischen Elemente in ihrem gesetzlichen Verhalten bestimmte und aus ihrem Zusammenwirken das ganze geistige Leben ableitete oder eine genetische Erklärung der Tatsachen des Bewußtseins kann vorläufig noch nicht aufgestellt werden, sondern ist erst von der Fortbildung der deskriptiven Psychologie zu fassen, welche ein analytisches Verfahren einhält und die bis jetzt aufgestellten allgemeinen Erklärungen kritisch würdigt. 1,8 Fortsetzung in der Nachschrift B: ..., denn Recht, Staat und Sittlichkeit, Religion, Kunst und Wissenschaft als die Schöpfungen des geistigen Lebens in der Gesellschaft und die Form ihres Bestandes werden nur durch die Verknüpfung der Erfahrungswissenschaft des psychischen Lebens mit dem empirischen Studium einer besonderen Gruppe von gesellschaftlichen und geschichtlichen Tatsachen erfaßt und erklärt. Die Universalgeschichte der Menschheit als Wissenschaft 194 195
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Anmerkungen zu Seite 167-168
entsteht erst aus der Erkenntnis dieser Formen oder Kräfte der Gesellschaft und ihrer Beziehung zueinander; die leitenden Organe, durch welche der Staat diese Gliederung der Gesellschaft regiert, stellen sich in den Berufsarten der Theologen, Juristen, Pädagogen dar; ihr Beruf: Verwaltung, Rechtspflege, geistliches Wohl [?] und Erziehung empfängt seine Grundlegung in Wissenschaften, welche zu einem Teil von der Psychologie abhängig sind. 1,9 In der Nachschrift Β folgen an dieser Stelle Literaturangaben: Carus: Geschichte der Psychologie, 1808; Lange: Geschichte des Materialismus, 1866. 200 Der Satz bricht ab; die Nachschrift Β fährt an der entsprechenden Stelle fort: Die so gegebene Sonderung geistiger und materieller Vorgänge vollendet sich in Thomas von Aquin, dem größten Denker aller Zeiten; der Körper enthält, was er enthält, durch Zusammenfügung seiner Teile, und der Teil umfaßt nie das Ganze. Der Verstand dagegen umfaßt das Weltganze in einem Teil seiner selbst, dem einzelnen Gedanken. Der Körper gibt den Zustand, in dem er sich befand, auf, wenn er in einen neuen übergeht; der Verstand verliert das früher Gedachte nicht, wenn er zu einem neuen Gedanken fortschreitet; der Körper ist individuelle Form und überschreitet niemals das einzelne; der Verstand kann als solcher dadurch dennoch das Allgemeine denken und die Idee das Unendliche fassen. Aufgrund hiervon vertieft sich die metaphysische Begründung auch von der Selbständigkeit des psychischen Lebens. Aus dem Zusammenwirken körperlicher Organe könnte die Einheit des Psychischen nicht erklärt werden, dagegen ist die tatsächliche Abhängigkeit geistiger Zustände von körperlichen durch den Zusammenhang des [ . . . ] mit der Materie erklärt. Diese metaphysische Behandlung der Psychologie dauerte auch in der Folgezeit fort, einerseits in der metaphysischen Schule, andererseits in der Sonderung einer rationalen, d. h. metaphysischen, und empirischen Psychologie. [Zusat2 von D.s Hand:] Beweis aus Einheit. 201 An dieser Stelle folgt in der Nachschrift Β eine längere Ausführung: Spinoza leitete aus dem Zusammenhang der Natur das Streben nach Selbsterhaltung im menschlichen Individuum, hieraus Begierde, Lust und Schmerz als die drei Grundaffekte ab und stellte die Gesetze ihrer Übertragung und Verkettung auf; eine genauere, nur auf Erfahrung begründete Fassung der Gesetzmäßigkeit einer umgrenzten Gruppe psychischer Tatsachen gab zuerst: David Hume; die Anziehungskraft der Empfindungen und Vorstellungen aufeinander, vermöge deren sie sich aufrufen, wirkt nach den Verhältnissen der Ähnlichkeit räumlicher und zeitlicher Zusammenordnung und kausaler Verknüpfung. Im Zusammenhang mit der fortschreitenden Einzelbeobachtung psychischer Zustände bei den Schriftstellern des 17. Jahrhunderts bildete sich in Deutschland eine Gliederung des ganzen Materials nach einzelnen Vermögen, unter welchen Erkenntnis, Gefühl und Wille als unableitbare Grundvermögen festgestellt wurden. In England dagegen war man bemüht, auf die Gesetze der Assoziation alle übrigen psychischen Tatsachen zurückzuführen. Diese Assoziationspsychologie vollendete sich in: James Mill, Stuart Mill, Bain und Spencer; in Deutschland wurde sie in modifizierter Gestalt entwickelt von Herbart und Beneke. Die Erforschung der Gesetzmäßigkeit psychischer Zustände trat in ein weiteres Stadium, als man die Tatsachen, welche das bewußte Seelenleben als seine Elemente vorfindet, mit Hilfe der Physiologie zu zergliedern begann. Kant und die Physiologen seit Joh. Müller wirkten zusammen; Weber, Fechner, Lotze, Helmholtz, Wundt sind die Hauptvertreter dieser Forschungsweise. In Deutschland geht bekanntlich die Psychologie zurück auf Herbart: Lehrbuch der Psychologie und Psychologie als Wissenschaft, Königsberg 1824—25; ein Schüler von ihm im weiteren Sinne und durch die englische Assoziationspsychologie beeinflußt: Beneke, [Lehrbuch der] Psychologie als Naturwissenschaft [, Berlin] 1833. Der beste Ausdruck für Herbarts Lehre liegt in Drobisch: Empirische Psychologie nach naturwissenschaftlicher Methode [, Leipzig] 1842. Waitz löste die Verbindung der Psychologie von Mathematik und Metaphysik: [Lehrbuch der] Psychologie [als Naturwissenschaft, Braunschweig] 1849. Anthropologie der Naturvölker von Gerland 1859 erschienen [Band 5 und 6: Die Völker der Südsee, Leipzig 1870-1871, bearbeitet von Gerland]; Lazarus: [Das] Leben der Seele [in Monographieen über seine Erscheinungen und Gesetze, 2 Bände, Berlin 1856-57]. Als das bedeutendste Werk Steinthal: [Abriß der Sprachwissenschaft, 1. Teil: Die Sprache im allgemeinen.] Einleitung in
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die Psychologie und Sprachwissenschaft [,Berlin] 1871 Bandl. Eine viel freiere Stellung hat Lotze: Medicinische Psychologie [oder Physiologie der Seele, Leipzig] 1852. Dann: Mikrokosmus [. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit. Versuch einer Anthropologie, 3 Bände, Leipzig 1856-1864]; seine jüngste Darstellung psychologischer Ansicht: System der Philosophie. Band II. Metaphysik [. Drei Bücher der] Ontologie, Kosmologie und Psychologie [.Leipzig] 1879. Der englischen Richtung nähert sich: Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, [1. Band, Leipzig] 1874. Von physiologischer Grundlage gehen aus: Fechner, [Elemente der] Psychophysik [, 2 Bände, Leipzig] 1860. Helmholtz: Physiologische Optik [, Leipzig] 1867. [Die] Lehre von den Tonempfindungen [, Braunschweig] 1865, Wundt: Grundzüge der physiologischen Psychologie [, Leipzig] 1874. Dieser Richtung schließt sich in freier Weise an: Horwicz: Psychologische Analysen [auf physiologischer Grundlage. Ein Versuch zur Neubegründung der Seelenlehre] in III. B. [, Halle 1872]. 202 Hier und im folgenden Hume an die Stelle des im Manuskript genannten Newton gesetzt. 203 Zusatz in der Nachschrift B:... , mag sie nur den besonderen Zustand dieses Individuums oder als psychologischer das Studium der allgemeinen psychischen Zustände zum Ziele h a b e n , . . . 204 Fortführung in der Nachschrift B: Die Theorie von einem inneren Sinn verfällt dem von Comte herausgehobenen Widerspruch. In Wirklichkeit ist das in der äußeren und inneren Wahrnehmung Gegebene nur durch die Richtung der Aufmerksamkeit unterschiedene Tatsachen des Bewußtseins, welche mit der betrachtenden Richtung der Aufmerksamkeit auf das Selbst verträglich sind. Ζ. B. Wahrnehmung, Vorstellung des Wahrgenommenen, Körper, Gefühle und Vorstellungen derselben werden in der Wahrnehmung aufgefaßt, alle anderen im Gedächtnis. 205 Lücke im Text. 206 Fortführung in der Nachschrift B: Die Hauptbedingung der Menschenkenntnis liegt daher in dem Reichtum des eigenen Inneren und seiner Kenntnis, wozu dann kommen muß, daß für die Auffassung der Äußerungen anderer Interesse des Berufes oder Muße vorhanden sei. Hermeneutik ist die Theorie der Auslegung eines gesprochenen oder geschriebenen Ganzen mit den Hilfsmitteln der grammatischen und psychologischen Kenntnis. 207 Fortführung in der Nachschrift B:... ; andere Individua erschließen wir. 208 Fortführung in der Nachschrift B: Dieses unmittelbare Bewußtsein spezialisiert sich dahin, daß uns unser Körper in seiner ganzen Umgrenzung als Träger von Gefühlen verschiedener Art, Gemeingefühl, Muskelgefühl, Temperaturempfindungen erscheint, während er zugleich dem Tastund Gesichtssinn als ein Teil der Außenwelt sich darstellt. Die wissenschaftliche Untersuchung findet das psychische Leben unmittelbar mit dem Nervensystem verbunden, vermittelst desselben mit dem übrigen Körper. 209 Fortführung dieses Satzes in der Nachschrift B:... ; da das Verhältnis der Abhängigkeit zwischen diesen beiden Größen sowohl in der Richtung des Physischen auf das Psychische als vom letzteren in Richtung auf das erstere verfolgt werden kann, so kann es durch das Funktionsverhältnis erläutert werden, das zwischen den veränderlichen X und Y in einer Gleichung besteht. Dagegen die Natur der Beziehung selber entzieht sich der Feststellung durch die Erfahrung. 210 Am Rand Hinweis von D.s Hand auf W. Wundt. 211 In der Nachschrift Β eine andere, ausführlichere Fassung: Andererseits gehen vom Zentralapparat Reize aus, welche teils Drüsensekretionen, Vorgänge im Ernährungsprozeß anregen, teils Bewegungen der Muskeln hervorrufen und hierdurch motorisch wirken. Die Tatsache, daß die Erregungsvorgänge bei normaler Beschaffenheit der Reizbarkeit und nicht zu hoher Intensität der Reize örtlich beschränkt bleiben, führt zu einem Prinzip, das als Gesetz der isolierten Leitung bezeichnet wird. Innerhalb der Leitungsbahn bleibt der Leitungsvorgang isoliert, d. h., er springt nicht auf benachbarte Bahnen über. 212 Fortführung in der Nachschrift B: Die so gesonderten Wurzeln der sensiblen und motorischen Nerven, die sich in das Rückenmark einsenken, pflanzen nun innerhalb desselben zum Gehirn ihre Erregungen in komplizierteren Leitungsbahnen fort. 215 Einfügung in der Nachschrift B: und Lotze (Mikrokosmus Β. II). 2,4 Fortführung in der Nachschrift B: Dieser Annahme widersprechen die Tatsachen, welche ein Hervortreten sinnlicher Gefühle vor dem Gewahrwerden des Empfindungsinhaltes oder mit ihnen
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gleichzeitig zeigen. Ohnehin ist die natürliche Annahme, daß der im Gefühl vorliegende Erregungszustand nur die andere [Seite] des Wahrnehmungs- oder Vorstellungsvorganges sei. 215 In der Nachschrift Β findet sich an dieser Stelle eine Randbemerkung D.s: Der Satz ist eine falsche Erweiterung des Verhältnisses der Aufteilung zwischen Wahrnehmung, Gefühl und Trieb. 216 In der Nachschrift Β findet sich ein anderer Anfang dieses Punktes: Theorie, Methode. Ausgangspunkt: der Bewußtseinszustand in einem gegebenen Augenblicke durch die Wahrnehmung wie im Durchschnitt gesehen; kritische Stellung zur Terminologie des Lebens und Feststellung der wissenschaftlichen nach ihrer Brauchbarkeit für Aufstellung von Gesetzen. Die kritische Psychologie findet Grenzen der psychologischen Erkenntnis. 217 Fortführung in der Nachschrift B: Die herrschende deterministische Psychologie darf also nur als Hypothese betrachtet werden, und sie hat nicht vermocht, die Tatsachen ganz mit ihrer Erklärungsweise in Einklang zu bringen. 218 Fortführung in der Nachschrift B:... , welche von einer psychischen Tatsache eingeschlossen wird, vorkommend in jedem Willensvorgang, dem Wahrnehmungs- und Denkvorgange, auch in den meisten Gefühlsakten. Der Streit, ob [ein Vorstellungsinhalt] in Gemeingefühlen, Muskelgefühlen usw. vorkommt, durch Unterscheidung von Vorstellungsinhalt und Vorstellung geschlichtet. Verschiedenheit des Maßes in bezug auf dieses Vorkommen. 219 In der Nachschrift Β findet sich eine andere Version dieses Satzes: . . . , so würde doch hieraus die Anwesenheit von Gefühlen in unseren Wahrnehmungen und sinnlichen Vorstellungen vermöge der Assoziations- und Verschmelzungsprozesse als wahrscheinlich erscheinen. Das Gefühl kann nicht auf eine Klasse psychischer Vorzüge zurückgeführt werden. Zu dem Beweise von Hamilton, Lotze tritt die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung. 220 Am Rand von D.s Hand: Dritter Abschnitt: Die Intelligenz Erstes Kapitel: Von den Empfindungen Zweites Kapitel: Von dem Verlauf der Vorstellungen. 221 In der Nachschrift Β findet sich an dieser Stelle eine Bemerkung von D.s Hand: III. Wir bezeichnen menschliche [.. .]zustände nach der in ihnen vorherrschenden Seite des psychischen Lebens. So [bezeichnet] Vorstellen [eine] Seite des Vorkommens im inneren Sinn. Rest unleserlich. 222 In der Nachschrift Β findet sich eine andere Fassung des folgenden Passus: Die innere Wahrnehmung liegt in Personen vor, welche infolge der Macht ihrer Gefühle und Affekte die psychischen Inhalte weniger zum Verständnis der Außenwelt als dem ihrer selbst verwenden (der pathologische Dichter). Wahrnehmung der inneren Zustände anderer ist mit dem Gedächtnis für die äußeren Zeichen derselben verbunden (der objektive Dichter). 223 Fortführung in der Nachschrift B: ... und wahrscheinlich in, wenn auch minimal, bewußten Bildern und Gefühlen. Gerade der tiefe Schlaf ist von einem angenehmen Gefühl begleitet. 224 Einfügung in der Nachschrift B: von den Voraussetzungen der atomistischen Psychologie aus. 225 Am Rand von D.s Hand: Bis hierher Vortrag und Diktat bis Weihnachten [18]82. 226 In der Nachschrift Β findet sich eine andere Fassung: Bedeutung derselben für die Sprache. In den meisten Fällen stellen sie sich als verschiebbare Schemata dar; sie bilden die Grundlage für die Vereinfachung in den psychischen Prozessen, für die Begriffsbildung und die Entstehung der Sprache. Persönliche Verschiedenheit in bezug auf das Verhältnis des Wahrnehmungs- und Vorstellungsgehaltes des psychischen Lebens. 227 Die Nachschrift Β enthält eine andere Fassung des ersten Absatzes: 1. Die zum Bewußtsein erweckte Vorstellung strebt den gesamten Vorstellungszusammenhang mitzubringen, dessen Teil sie infolge des Wahrnehmungsvorganges oder infolge späterer Prozesse geworden ist, und zwar strebt sie aus dem Ganzen zunächst den einzelnen Teil, mit dem sie am engsten verbunden ist, in das Bewußtsein zu rufen. Dieser Zusammenhang kann im Wahrnehmungsvorgang oder im Denkakte begründet sein, und zwar ist es Interesse, Anteil von Wille, Gefühl, was die Ursache des Fortgangs bildet und die Richtung bestimmt. Hierzu verhält sich das Residuum aus dem Wahrnehmungs- oder Denkakte, die sich im Gehirn erhaltende Spur, nur als eine zu Gebote stehende Bedingung, als Material; die Materie hat kein Gedächtnis, denn Gedächtnis ist nicht bloßer
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Fortbestand, sondern Wiedererkennen und unter dem Gesichtspunkte des gegenwärtigen Bewußtseinsstandes Wiederformen. 228 Fortführung in der Nachschrift B: Anwendung. Das Gedächtnis ist zwar bei jedem Individuum durch die physiologische Beschaffenheit des Gehirns bedingt, aber es gibt eine Erziehung des Gedächtnisses; sie beruht auf der Konzentration des Interesses, der Stetigkeit des Lebensplanes, der geistigen Sparsamkeit und der Bevorzugung fruchtbarer Verbindung. 229 In der Nachschrift Β skizziert D. am Rande von C 26 II: 216 Riicks. einen neuen Paragraphen 9, der in der Vorlesung vom WS 1881/82 ausgearbeitet worden ist: §9. Die Verarbeitung der Wahrnehmungen mittelst des Gedächtnisses im Bewußtsein. Rest unleserlich. Der ursprüngliche Paragraph 9 der Vorlesung Β wurde von D. im Zuge seiner Überarbeitung entsprechend umbenannt in: §10. Von der Phantasie. Gedächtnis und Phantasie. Es folgt ein Zusatz von D.s Hand: überhaupt und das künstlerische Vermögen. Neben dem Titel steht eine unleserliche Notiz D. s. - Auf einem beigelegtem Blatt (C 26 II: 217) findet sich die folgende Skizze von D.s Hand: §10. Von der Phantasie überhaupt und dem künstlerischen Vermögen. Diktat angefangen, wie weit? 2. Jeder Vorgang, sofern Phantasie in ihm ist, enthält etwas über die Reproduktion Hinausgehendes. Diese Seite der menschlichen Natur kann als ihre Spontaneität bezeichnet werden. 3. Dieses Element gibt dem Erkennen, Fühlen und Handeln das Projektive, Erfinderische. Phantastische und unproduktive Staatskunst, Gelehrsamkeit und nicht vorhandene [?] wissenschaftliche Einbildungen. Nebulisten und Kopisten der Natur. 4. Einfachster Fall: die Bilder vorm Einschlafen. 230 Die Nachschrift Β enthält eine andere, ausführlichere Fassung des §10 bzw. 9: Die Phantasie. Der Text, der im folgenden vollständig mitgeteilt wird, weist einige, nicht mehr lesbare, kurze Randnotizen von D.s Hand auf: 1. Gedächtnis und Phantasie. Der Begriff der Apperzeption, welchen Leibniz und Kant zuerst ausgebildet haben, erhielt durch die Herbartsche Schule diejenige Bedeutung, in welcher er von der gegenwärtigen Psychologie gefaßt zu werden pflegt. Perzeption ist ihr: Vorgang der Wahrnehmung; Apperzeption: Vorgang der Einordnung dieser Wahrnehmung in den Zusammenhang der bewußten und unbewußt wirksamen Vorstellungen. Zu je höherem Grade sich die Bewußtheit einer Wahrnehmung zuwendet, desto mehr ihr verwandte Vorstellungen werden durch sie erregt und treten in Verhältnisse von Verschmelzung, Assoziation zu ihr; so wird die Perzeption umgebildet und verwandelt. Dasselbe Verhältnis tritt nach dieser von Herbart beeinflußten Psychologie bei der Reproduktion ein. Das Erinnerungsbild entsteht durch zwei voneinander geschiedene psychologische Prozesse: den der Reproduktion und den der Assimilierung der Reproduktion. - Einfacher und den Tatsachen besser entsprechend erscheint die Zurückführung auf „einen" psychischen Vorgang. Auf der Grundlage des in den Sinnen gegebenen Reizzustandes oder der im Gehirn nachwirkenden Spur entsteht unter den Bedingungen des Bewußtseinsstandes in dem ersten Fall Wahrnehmung, in dem anderen Erinnerungsbild. Diese Annahme bedarf nicht der Hypothese einer entscheidenden Wirksamkeit von ganz unbewußten Vorstellungen und Prozessen. Auch scheint sie in der Beobachtung, wie in uns das komplizierte Erinnerungsbild als eine Art von Phantasiebild allmählich aufgehen kann, sie tatsächlich zu bestätigen. Endlich ist sie allein im Einklang mit dem Gesetze der Relativität der Empfindung, doch bleibt sie immerhin nur die wahrscheinlichere Annahme. - Ihr entsprechend kehrt überhaupt nie genau derselbe psychische Akt zurück. Das Principium indiscernibilium von Leibniz ist psychologisch [ . . . ] begründet; jeder Erinnerungsvorgang ist ein Gestaltungsvorgang. Gedächtnis und Phantasie sind sonach nicht zwei geschiedene Vermögen, Gedächtnis ist nur ein abstrakter Ausdruck für drei zusammenwirkende Tatsachen. [Von D.s Hand: 1)] Es verbleibt von der Wahrnehmung eine Spur, unter bestimmten Bedingungen kann aufgrund dieser Spur die Wahrnehmung als Vorstellung reproduziert werden, und in dem so entstehenden Erinnerungsbilde wird die in der Wahrnehmung enthaltene Tatsache wiedererkannt. [Von D.s Hand: 2)] Dies alles ist auch in dem Begriff von einem Vermögen der Phantasie enthalten; es tritt aber hinzu, daß wir fähig
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sind, von der gegebenen Wahrnehmung etwas zu ändern, zu ihr einen in unserem geistigen Inhalt an Vorstellung nicht enthaltenen Zusatz zu machen. Wenn nun eine solche Veränderung schon bei der Reproduktion stattfinden kann, ja bei allen komplizierten Reproduktionen stattfindet, so sind Gedächtnis und Phantasie nicht voneinander gesondert, sondern die Grundlage des Vermögens der Phantasie ist mit enthalten in den Tatsachen der Reproduktion. Phantasie ist demnach nur begrifflicher Ausdruck für die in der Seele angenommene Kraft zur Erklärung von Tatsachen in ihr, gleichwie das Gedächtnis. Sie umfaßt zum Teil dieselben Tatsachen als das Gedächtnis, nämlich die lebhafteren Erinnerungsbilder. [Von D.s Hand: 3)] Der Vorgang, durch welchen Erinnerungsbilder unter den Bedingungen des Bewußtseinszustandes sich aufbauen, ist wahrscheinlich ein einheitlicher und kann ebensogut als Phantasievorgang bezeichnet werden wie als Gedächtnisvorgang. Wir betrachten nun die Seite des Vorgangs, für welche der Ausdruck „Phantasie" die begriffliche Bezeichnung ist. In Wirklichkeit existiert eine besondere Kraft der Phantasie nicht. Innerhalb der Vorgänge selbst muß man zwischen den unwillkürlich auftretenden und dem willkürlichen, spontan hervorgerufenen unterscheiden, so wie innerhalb des Gedächtnisses zwischen dem willkürlichen Zurückkehren von Vorstellungen und ihrem absichtlichen Zurückrufen unterschieden werden muß. Ferner rufen wir Bilder bald in den Zusammenhang unserer Begierden und Gemütszustände sowie unserer Willenstriebe hervor; sie sind dann ein Bestandteil unserer Wünsche oder Befürchtungen oder idealen Ziele, bald in dem Zusammenhang eines regellosen oder untersuchenden Gedankenlaufes, bald endlich in dem des künstlerischen Vorstellens, das in dem Gestalten von Bildern als solchen Befriedigung findet. Im ersten Fall bezeichnen die Bilder einen künftigen Lebenszustand, dessen Herbeiführung oder Verhinderung dem Handeln vorgestellt wird, die also unserem Begehren oder Wollen als seine Objekte, Motive, vorschweben. Diese Bilder haben ihren Erfahrungsinhalt an den tatsächlichen Lebenszuständen und denjenigen äußeren Faktoren, welche Modifikationen derselben herbeiführen können. Dieser Inhalt wird umgebildet unter der Einwirkung unserer Gemütszustände und unseres Wollens. Der phantastische und der unproduktive Praktiker. Im zweiten Falle bezeichnen die Bilder die Möglichkeiten der Lösung einer für die Untersuchung gestellten Aufgabe, also mögliches Verhalten von Tatsachen. Diese wissenschaftliche Phantasie besteht in einem Spiel freier Vorstellungen von möglichen Verknüpfungen der erfahrungsmäßig genau aufgefaßten Tatsachen. Ihre Vollkommenheit besteht darin, daß bei der Reproduktion der Wahrnehmung oder Tatsachen jede Veränderung ausgeschlossen werde, daß aber andererseits in bezug auf Verknüpfung dieser Tatsachen das Spiel der Vorstellungen ein möglichst lebhaftes sei. Während der wissenschaftliche Phantast den Tatbestand nicht treu reproduziert, fehlt den wissenschaftlichen Unproduktiven das Spiel freier Vorstellungen möglicher Kombinationen. Im dritten Falle gewährt das Gestalten, Umbilden, für andere Sichtbar-Machen der Bilder an und für sich eine Befriedigung. Es ist nicht bloßes Mittel, sondern Zweck, daher Schiller mit Recht die Kunst als ein freies Spiel im Gegensatz zu dem Ernst des Lebens charakterisierte, d.h. ihre Phantasiebilder stehen nicht mit der Herbeiführung eines Lebenszustandes im Zusammenhang. So rufen sie nach Kant interesseloses Gefallen hervor, andererseits sind sie (die Phantasiebilder) nicht gebildet, um einem Tatbestand zu entsprechen oder ihn zu erklären; sie sind schöner Schein im Gegensatz zu der Wirklichkeit, auch wenn sie durch den Künstler in die Sichtbarkeit gestellt sind. Die Frage, welcher der Grund für das Bilden im Künstler, für das Gefallen an Gegenständen sei, ist dieselbe; sie bildet die Grundfrage der Ästhetik, und diese muß eine psychologische Wissenschaft werden. Wie die Erkenntnistheorie alle intellektuellen Gebilde auf das Vorstellen und Denken zurückzuführen pflegt und hierdurch den psychologischen Tatbestand verfälscht, so hat auch die Ästhetik künstlerische Gestaltung und Eindruck auf ein abstraktes Vermögen des Schönen zurückzuführen versucht. In Wirklichkeit sind erfahrungsmäßig Vorstellen, Fühlen und Wollen in den psychischen Akten verbunden, und so bildet der volle ganze Mensch und sein Lebensgefühl auch die Grundlage der ästhetischen Gestaltung und des ästhetischen Eindrucks. Der künstlerische Vorgang unterscheidet sich von dem des Erkennens durch seine Richtung, nicht aber durch ein besonderes in Bewegung gesetztes Vermögen; während der Vorgang des Erkennens die Vorstellungen übereinstimmend mit der Wahrheit, d. h. der Tatsächlichkeit, zu entwickeln tätig ist, richtet sich der künstlerische Vorgang darauf, die Vorstellungen und Bilder in der Richtung
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einer subjektiven Befriedigung unserer Gefühle, zuletzt unseres Gesamtlebensgefühls an ihnen zu gestalten; daher beruht das ästhetische Vermögen objektiv auf den Beziehungen unserer Lebensgefühle oder des erfüllten Selbstbewußtseins zu Gestalten im Raum oder Tonbildern. Diese Beziehungen sind in unserer psychophysischen Organisation begründet. Subjektiv ist die künstlerische Anlage psychophysisch bedingt als Intensität und Klarheit einer Klasse von Wahrnehmungen, Lust an ihrem Hervorbringen, Sinnfälligkeit und Stärke der dieser Klasse angehörenden Erinnerungsbilder, endlich Verbindung der Lebensgefühle mit dieser Klasse. Annäherung der Tonbilder und Gestalten im Künstler an Phantasmen. So verschmilzt in der Schöpfung des Künstlers ein Inneres mit einem sinnlich Erfaßbaren [korrigiert aus: sich sinnlich erfaßbar], und die ästhetische Gemütsverfassung überträgt schließlich die Lebensgefühle und das erfüllte Selbstbewußtsein in die unbelebte Natur, verlebendigt dieselbe, wodurch dann das höhere Naturgefühl und die ästhetische Interpretation der Natur bei spekulativen Philosophen entsteht. Da das Erfahren psychischer Zustände direkt das eigene Innere auffaßt, indirekt die psychischen Zustände anderer, so wird in dem Dichter das Vorherrschen einer dieser beiden Klassen von Wahrnehmungen psychischer Zustände den psychologischen Ausgangspunkt des poetischen Bildens in ihm konstituieren. So entsteht der Unterschied der vorwiegend subjektiven und der vorwiegend objektiven Dichter. 231 Geändert aus: II. Buch. 232 Fortführung in der Nachschrift B: So verdeutlicht zwar das Hervortreten des „Ich-Sagens" und fixiert das Hervortreten dieses Ausdrucks für das Kind die Tatsache des Selbstbewußtseins, aber es bezeichnet nicht den Moment seines Hervortretens. 233 Fortführung in der Nachschrift B. Der Text weist einige kurze, kaum noch lesbare Randnotizen D.s auf: ... und deren Kontinuität in sich faßt. Es stellt sich in dem Beobachter, d. h. in dem Erwachsenen, in welchem die Tatsache des Selbstbewußtseins vollendet und abgeschlossen ist, diese Tatsache dar, wenn er den Ablauf der psychischen Akte unterbricht, um die Tatsache des Selbstbewußtseins in ihnen durch seine Erinnerung aufzufassen. 234 Die Nachschrift Β bietet eine andere Fassung der folgenden Passage:... , von dem Umfange derjenigen Bewegungen und Veränderungen, in welche der Wille nur gelegentlich und indirekt eingreift, und die ihm daher Außenwelt sind. Sonach ist das Selbstbewußtsein in der gesamten psychischen Lebenseinheit begründet, wie sie in dem Begehren, dem Willen, den Bewegungen des Körpers und Bewegungsgefühlen der Lust und Unlust und den Affekten, wie den Vorstellungen und dem Denken ihr Dasein hat. 3. Das Selbstbewußtsein erscheint im Verlauf des Lebens in einer wechselnden Stärke, und zwar erscheint es auch innerhalb des normalen wachenden Lebens in dem Momente von Versenkung des Gedankens oder der Anschauungskraft in ein Objektives sehr vermindert, so daß [es] sich dem Nullpunkt nähert. [Am Rand von D.s Hand: N B . Kein Versuch einer Erklärung der Zusammensetzung! a) Erklärung aus Elementen unmöglich. Tatsache des Ganzen für Wissenschaft [unumgänglich]. b) Veränderung der Gefühle würde sonst eliminiert. Aber ohne Erklärung beschreiben.] 4. Die Erklärung der Tatsache des Selbstbewußtseins oder die Darlegung der Genesis desselben ist nicht auf dem Wege direkter Beobachtung möglich. Die Tatsache des Ich-Sagens wird nur durch eine willkürliche Spekulation auf die Entstehung des Selbstbewußtseins bezogen, und entweder entsteht dieses überhaupt nicht, sondern ist von Anfang an vorhanden, oder seine Entstehung im Kinde entzieht sich der Beobachtung. [Einfügung von D.s Hand: nur der Zusammenhang mit dem Selbstgefühl, Lebensgefühl, dem Lebenstriebe kann so festgestellt werden. So weiterer Beweis, daß Selbstgefühl kein intellektueller Vorgang. Dagegen ist das Problem der Entstehung dieses Selbstbewußtseins transzendent. Es ist ja Problem der Entstehung der Person überhaupt.] Die normalen Tatsachen, die eine Störung des Selbstbewußtseins zeigen, gestatten ebenfalls keine entscheidenden Schlüsse. Der Wahnsinn führt in vielen Fällen zu einer Alienation des Ich, zur Bildung eines neuen Selbst auf den Trümmern des alten. Hierbei wirkt oft begünstigend das Schwinden des Gedächtnisses und mit ihm treuer Erinnerungen über die Kontinuität des Lebenslaufes. Aber die Hauptursachen liegen in den Gemütszuständen, welche als ganz neu und dem Individuum fremdartig auftreten und eine Erklärung suchen, sowie in dem Sinken der Macht des
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Willens gegenüber den Vorstellungen. Daher diese ein Einzelleben erlangen. Halluzinationen geben alsdann, zusammen mit krankhaften körperlichen Gefühlen, das Material für die sich nunmehr bildenden Wahnideen und das neue Selbst. (Unterscheide in der Entwicklung des Irrseins die Periode vorwiegenden Gemütslebens und die der herrschenden Wahnidee.) Auch diese Tatsachen bestätigen den Zusammenhang des Selbstbewußtseins mit allen drei psychischen Funktionen und widerlegen die intellektualistische Auffassung desselben. Eine tiefergehende Erklärung des Selbstbewußtseins geben auch sie nicht. 5. [Von D.s Hand: 1)] Das Wachstum des empirischen Ich vollzieht sich unter dem Einfluß der Reflexion. Zunächst wird dieses Ich durch den Umfang des lebendigen Körpers begrenzt, innerhalb dessen Bewegungen von Bewegungsgefühlen begleitet sind, Widerstand erfahren wird, Eindrücke empfangen werden, Gefühle, Gemütszustände und Selbstbewußtsein auftreten. [Von D.s Hand: 2)] Aber die Reflexion erkennt, daß das Lebendige in diesem Körper von seinen einzelnen Teilen unterschieden werden muß und bildet die verworrene Vorstellung eines auch vom Körper zu unterscheidenden irgendwie Selbst, welches gleichzeitig die Veränderungen des Körpers und die Umwandlungen der inneren Welt hervorbringt. Mit dieser Vorstellung begnügt sich das gewöhnliche Bewußtsein, und erst die Wissenschaft strebt, das Verhältnis des im Selbstbewußtsein gegebenen Ich zu dem Körper strenger zu fassen. Hierbei bedient sich dieselbe zweier Begriffe, welche beide aus der inneren Erfahrung ihren Ursprung nehmen, und welche die Träger einer jeden metaphysischen Ansicht sowohl vom Ich als von der Außenwelt wurden [?]. [Am Rand von D.s Hand: 1. Versuch [...] der Erklärung [?] durch Begriffe Substanz und Kraft.] Die Erfahrung des Willens, welcher die Glieder bewegt und die Vorstellung hervorruft, bildet den Ursprung der abstrakten Begriffe von Kraft und Ursache. [Am Rand von D.s Hand: 2. Gründe dafür, daß diese Begriffe selbst aus Selbstbewußtsein stammen a) Kraft b) Substanz.] Diese Begriffe behalten jederzeit ein Element von innerer Lebendigkeit und Willensmacht, als der Kraft oder Ursache einwohnend und die Bewegungen hervorbringend, welches auf ihren Ursprung zurückdeutet. Weitere Belege liegen in den mythologischen Vorstellungen und in der Auffassung des Kindes von Kräften oder Ursachen. Denselben Ursprung in der inneren Erfahrung hat der Begriff der Substanz, jedoch empfängt er seine weitere Ausbildung unter dem verändernden Einflüsse der äußeren Wahrnehmung. In unserem Selbst können die einzelnen Vorstellungen verbunden sein, mag ein Urteil über Gleichheit zweier Vorstellungen diese behaupten oder leugnen. Damit das Urteil entstehe, müssen die Vorstellungen „in" einander, dürfen nicht „außer" einander sein. Diese psychische Grundtatsache bildet die Unterlage des Selbstbewußtseins, und sie ist es allein, welche uns in unserem Selbst den wahrnehmbaren Tatbestand einer Einheit bei wechselnden Zuständen bietet. So entsteht aus der Beschaffenheit unserer Intelligenz, daß wir auch außer uns Einheit gewahren. Unsere wirklichen und möglichen Wahrnehmungen fassen wir in der Vorstellung von der Welt zu einer Einheit zusammen. Die Einheit des Gegenstandes entsteht überhaupt so: Bei der Erfahrung der Zerlegbarkeit der einzelnen Dinge tritt diese Einheitsvorstellung schließlich in den Begriff des Atoms zurück. Indem wir nun ein Ding als Einheit fassen, unterscheiden wir an ihm eine konstante Unterlage und wechselnde Affektion aufgrund unserer fortschreitenden empirischen Erfahrung. Diese fortschreitende Unterlage nennen wir „Substanz". Sonach kann dieser Begriff der Substanz nicht rückwärts auf die menschliche Seele angewandt werden, wenn er mehr besagen soll als die in uns erfahrene Tatsache der Einheit. [Am Rand von D.s Hand: 3. Sonach kann sie [die Vorstellung von „Substanz"] nicht rückwärts übertragen werden.] Dieser Begriff der Substanz hat mannigfache Veränderungen in der Metaphysik erfahren; aber wie ihn auch ein System bestimmen mag, soll er etwas anderes besagen als die tatsächliche Erfahrung der Einheit des beziehenden Wissens, wie sie sich im Selbstbewußtsein darstellt, dann ist dies Mehrere eine metaphysische Fiktion. Diese Fiktion hat Kant ein für allemal vernichtet. [Am Rand von D.s Hand: 4. Aber durch Selbstbewußtsein und Einheit des Bewußtseins ist Überzeugung [?] da, daß Substanz vorhanden.] Aber ebenso evident ist, daß die Einheit des beziehenden Wissens nicht die Leistung eines aus materiellen Momenten zusammengesetzten Ganzen sein kann, dergleichen Gehirn und Nervensystem ist. Kant faßt diese Einheit so zusammen: „ Denn setzet, das Zusammengesetzte dächte: so würde ein jeder Teil desselben einen Teil des
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Gedanken, alle aber zusammengenommen allererst den ganzen Gedanken erhalten. Nun ist dieses aber widersprechend. Denn weil die Vorstellungen, die unter verschiedenen Wesen verteilt sind, (ζ. B. die einzelnen Wörter eines Verses) niemals einen ganzen Gedanken (einen Vers) ausmachen: so kann der Gedanke nicht einem Zusammengesetzten als einem solchen inhärieren." [Korrigiert nach: I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (1. Aufl.) in: Kant's gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1. Abteilung: Werke, Bd. IV, Berlin 1911, S. 222.] (Analog Lotze Metaphysik.) Auf der Tatsache einer Einheit des Bewußtseins kann die Uberzeugung von der Selbständigkeit eines Seelenlebens sicher beruhen. Jede Vergleichung zweier Vorstellungen, die damit endet, ihre Inhalte gleich oder ungleich zu finden, setzt die unteilbare Einheit dessen voraus, was diese Tätigkeit der Vergleichung ausführt. Schlechthin dasselbe muß es gewesen sein, was zunächst die Vorstellung des a faßte, dann die des b, und was zugleich sich der Art und Weise der Differenz bewußt wird, die zwischen beiden besteht. 235 Fortführung in der Nachschrift B: Ähnlich Geschmacksempfindungen. Indem diese aus den Zuständen der Sinnesorgane herstammenden Eindrücke zusammenwirken, empfangen sie ihre Färbung und Richtung erst durch das Gemeingefühl des Individuums und die mit demselben verknüpften Einzelgefühle. [Am Rand von D.s Hand: 2. Auswirkung des Gefühlslebens. 3. Analysis des Bewußtseinszustandes, in welchem diese Elemente zusammenwirken]. 236 In der Nachschrift Β folgt an dieser Stelle eine längere Randbemerkung D.s: Die Voraussetzung, daß Nachahmungsbewegungen in so weitem Umfang aus dem Reflexmechanismus folgen, ist unwahrscheinlich. Vielmehr [gilt dies] auch für die Willenlosigkeit, tritt aber auf wie bei Hysterie, als Abhängigkeit von fremdem Willen. 237 Der Satz bricht ab. 238 In der Nachschrift Β findet sich an dieser Stelle ein Hinweis auf Griesinger und Kußmaul über die Sprachstörungen. 239 Im Ms. folgt eine Überschrift ohne Ausführung: §14. Auf Psychologie gegründete Darlegung der Grundzüge der Fakta der Geschichte. 240 Der Satz bricht ab. Von Indem bis zum Abbruch ist der Text, offenbar vom Schreiber, in [] gesetzt. 241 Am Rand von D.s Hand: Fortbildung einer Theorie von den drei Seiten. Dadurch 1. Wir haben nur von Außenwelt anschauliche Vorstellungen. Wir übertragen diese, entweder auf gesonderte [?] Tatbestände, die in Wechselwirkung stehen, oder [auf] eines, was vergleichbare [?] Eigenschaften zeigt. 2. Das Problem aber ist, dieses psychische Grundfaktum in Abhängigkeit von diesen Übertragungen aufzufassen, das kann man [als] ein zentrales [?] Problem ansehen. N u r Wahrnehmung ist anschaulich, nur Denken durchsichtig. Einheit und Vielheit [sind] im Lebenslauf [?] in demselben Sinn aufeinander [bezogen] wie in Außenwelt. Atom[ismus] und [ . . . ] daher hier durch Tatsachenerkenntnis widerlegt. 242 Am Rand von D.s Hand: [ . . . ] Die Lusttheorien erhalten in [der] Forschung Wilhelm Wundts (?) ihren entsprechenden Hintergrund, da sie atomistisch im Vorstellungszusammenhang [?] der Atome deren Bezug zu Sinneszuständen [herzustellen sucht]. 243 Der Satz bricht ab. 244 Fortsetzung in der Nachschrift B: Eine psychologische Begründung dieses Standpunktes gab in Deutschland Wundt. Nach ihm entspringen aus Wahrnehmung und Vorstellung Gefühle und wirken alsdann wieder auf den Verlauf unserer Vorstellungen zurück, so entspringen Affekte und Triebe. Aber wenn der Trieb als eine Gemütsbewegung aufgefaßt wird, die auf zukünftige Eindrücke, Gefühle gerichtet ist, so kann durch die bloße Vorstellung vom zukünftigen Eintreten des Gefühls niemals aus einem Gefühlszustande ein Willenszustand werden. Vielmehr würde der so entstehende Zustand immer Hoffnungen in sich schließen, aber keinen Impuls, keinen Entschluß. Sonach erweisen sich die beiden Theorien, welche auf Zurückführung der Tatbestände von Wille und Gefühl auf eine Einheit gerichtet sind, als unzureichend. 245 Am Rand von D.s Hand: Forderung [?] 1. Man kann nichts aus dem Ganzen [?] ablösen. 2. Ihre Gesetze sind verschieden. 246 Am Rand von D.s Hand: Entwicklung. Erste Differenzierung: Gefühle lösen sich immer mehr [...] von Begierde und Vorstellung. Erhalten selbständigen Platz im geistigen Leben. Fort-
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schritt der Kultur grenzt in Geselligkeit aus, was ihr allein dient. Weitere Differenzierung findet innerhalb [der] Gesellschaft [?] mit Rücksicht auf [?] die Gefühle statt; unter Einwirkung großer Naturen entstehen Formen isolierten ästhetischen Gefühlsausdrucks - das Sittliche etc., das Religiöse. Das Erfahren [?] sondert sich vom Zweck [?] etc. Rest unleserlich. 247 In der Nachschrift Β findet sich an dieser Stelle eine Notiz D.s: § Die Seiten des Willens, welche seine allgemeine Beschaffenheit ausdrücken. Rest unleserlich. 248 Vgl. B. de Spinoza, Ethica Ordine Geometrico Demonstrata, in: Opera - Werke, 2. Band, hrsg. von K. Blumenstock, Darmstadt 1967, S. 88 (Axiom I): „Omnia, quae sunt, vel in se vel in alio sunt," 249 In der Nachschrift Β findet sich an dieser Stelle ein Hinweis auf: Knapp, Schmoller, Rümelin. 250 Geändert aus: und. 251 Geändert aus: klar. 252 Geändert aus: mangelhafte. 253 Geändert aus: vorstehende. 254 Geändert aus: demnach.
B. Die Berliner Psychologie-Vorlesungen der achtziger Jahre (1883-1889) Der zweite Teil dieses Bandes dokumentiert die erhaltenen Nachschriften der Psychologie-Vorlesungen, die D. in den achtziger Jahren in Berlin gehalten hat; von den Psychologie-Kollegs der neunziger Jahre sind keine Nachschriften überliefert. D. las, jeweils im Wintersemester, und zwar vom Wintersemester 1882/83 bis zum Wintersemester 1893/94, an der Berliner Universität über Psychologie. Die Vorlesungen standen, mit der Ausnahme der Wintersemester 1882/83 und 1883/ 1884, wo Dilthey über Psychologie las, unter dem Titel: Psychologie als Erfahrungswissenschaft. D. kombinierte diese Vorlesung vom Wintersemester 1884/85 ab jeweils mit seinem einstündigen Kolleg: Anwendungen der Psychologie auf die Pädagogik, als Ergänzung der psychologischen Vorlesung.
Psychologie (Wintersemester 1883/84) Von D.s erster Berliner Psychologie-Vorlesung standen uns mehrere Nachschriften zur Verfügung: 1. Nachschrift von stud. math.G. Wallenberg (Nachschrift A). Der Text, der die Daten der einzelnen Kolleg-Stunden vom 25.10. 1883 bis zum 2.3. 1884 jeweils verzeichnet, umfaßt 93 durchlaufend paginierte Seiten. Die Nachschrift stammt aus dem Besitz von Frau Prof. Dr. Ingrid Leis-Schindler ( f ) und ist, wie einem Eintrag zu entnehmen ist, eine Schenkung von Prof. Dr. Josef Dolch zum 8.5. 1966. Die Nachschrift trägt den Titel: Psychologie Prof. Dilthey Berlin W. S. 1883. 2. Nachschrift von H. Hersel (Nachschrift Β). Fundort: Dilthey-Nachlaß der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. W. Dilthey 12 (100 Seiten). Die Nachschrift trägt den Titel: Psychologie Prof. Dilthey W. S. 1883/84. 3. Mitschrift eines unbekannten Verfassers (Nachschrift C). Fundort: Berliner Dilthey-Nachlaß, C 11: 171-202 Rucks. Ohne Datumsangaben, aber auf-
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grund inhaltlicher und formaler Kriterien wohl dem unmittelbaren Umkreis der Vorlesung des Wintersemesters 1883/84 zuzuordnen. Das Manuskript weist eine von den anderen Nachschriften abweichende Gliederung auf, die wir im folgenden mitteilen: Einleitung § 1. Die Aufgabe der Psychologie §2. Von den Mitteln, die Tatsachen des Bewußtseins aufzufassen, den Methoden ihrer Erkenntnis und von der Literatur 1. Abschnitt: Die Systematik der psychischen Zustände § 1. Die Mannigfaltigkeit der psychischen Zustände und die Aufgabe, ihre Systematik zu finden §2. Die bisherigen Versuche einer Klassifikation der psychischen Zustände und die Lehre von den Seelenvermögen §3. Vorstellen, Gefühl, Wollen. Die drei Seiten des psychischen Lebens 2. Abschnitt: Von den Unterschieden der Bewußtheit § 1. Die Grade und Weisen des Bewußtseins §2. Die Enge des Bewußtseins als Grundgesetz der Aufmerksamkeit §3. Die Einheit des Bewußtseins §4. Das Selbstbewußtsein 3. Abschnitt: Die Intelligenz 1. Kapitel: Die Wahrnehmung § 1. Von den Empfindungen §2. Von der Qualität der Empfindungen §3. Von der Stärke der Empfindungen und deren Verhältnis zu den Reizen 2. Kapitel: Der Verlauf der Vorstellungen § 1. Wahrnehmung, Vorstellung und Erinnerung §2. Erster Grundvorgang: die Verschmelzung und ihre Gesetze § 3. Zweiter Grundvorgang: die Assoziation und ihre Gesetze §4. Die Verarbeitung der Wahrnehmungen im Bewußtsein § 5. Der Fortschritt der intellektuellen Entwicklung 4. Abschnitt: Das Gefühl, die Leitungen unserer Vorstellungen durch dasselbe, Phantasie und Kunst § 1. Das Verhältnis der Gefühle zu den anderen Seiten des psychischen Lebens §2. Die Beziehungen von Gefühl und Willen §3. Das Wesen des Gefühls §4. Die Gesetze des Gefühlslebens, seine Entwicklung und seine Art §5. Die Leitung und Metamorphose der Vorstellungen von dem Gefühlsleben aus. Die Phantasie und das künstlerische Vermögen [§ 6.] Der Wille und seine Freiheit Das Manuskript trägt den Titel: Prof. Dr. Diltheys Diktate über Psychologie als Erfahrungswissenschaft. Von diesem unbekannten Mitschreiber stammt ebenfalls die Nachschrift der Vorlesung zur Einleitung in das Studium der Geisteswissenschaften (Berlin, Sommersemester 1883). Vgl. Ges. Sehr. XX, S. 127-164. 4. Außerdem lag uns von der Vorlesung des Wintersemesters 1883/84 eine unvollständige Nachschrift des 513 vor. Das Fragment stammt von unbekannter Hand und ist undatiert, stimmt aber wörtlich mit dem entsprechenden Textstück der Nachschrift Wallenberg überein. Es trägt den Titel: Nachtrag zur Psychologie. § 13. Von den räumlichen Bestimmungen der Empfindung und der Entstehung der Raumordnung. Fundort: Berliner Dilthey-Nachlaß, Cll: 247-249. Als Basistext der Edition diente die Nachschrift Wallenberg, wobei kleinere Randnotizen Wallenbergs oder von fremder Hand unberücksichtigt blieben. In den Anmerkungen wurde relevant erscheinendes, vom Basistext abweichendes Textmaterial der anderen Nachschriften dokumentiert.
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Vgl. G.Th. Fechner, Elemente der Psychophysik, Band I, a.a.O., S. I f f Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: Geisteswissenschaft. 257 Textvariante in der Nachschrift C: Auch die Tatsache der äußeren Organisation dieser Gesellschaft, der Gesamtwille in ihr kann nur erklärt werden aus den psychologischen Grundverhältnissen von Abhängigkeit, Herrschaft, Freiheit, Bindung des Willens, Gemeinsamkeitsgefühl. 258 Aufgrund der Nachschriften Β und C geändert aus: psychologischer. 259 Fortführung in der Nachschrift C: ... , vermöge dessen ein Zustand Tatsache des Bewußtseins ist. 260 Fortführung in der Nachschrift C: . . . am treusten als Erinnerungsnachbild, und so werden sie nachträglich Gegenstand der Beobachtung. Die Beobachtung und Zergliederung dieser Erinnerungsbilder wird in der Regel verwechselt mit der direkten Beobachtung vorhandener Zustände. 261 Die folgende Darstellung findet in der Nachschrift C eine andere Ausführung, die keinen eigenen Paragraphen bildet: 2. Die Methode der Bearbeitung dieser Tatsachen darf nicht metaphysisch sein, d. h., sie kann nicht von einem Begriffe der Seele und ihres Zusammenhangs mit dem Grunde der Einzeldinge ausgehen. Eine Metaphysik, welche der wirklichen Erklärung der formae naturae die Zurückführung derselben auf das Walten psychischer Ursachen substituierte, ist seit dem Auftreten der mechanischen Naturerklärung vorüber. Jedoch auch eine die Ergebnisse der einzelnen Wissenschaften zusammenfassende Metaphysik ist unmöglich. a. Die Naturwissenschaft führt die Phänomene auf Elemente und Gesetze zurück. Gesetze können aber zu Elementen nicht in eine Beziehung gesetzt werden, noch weniger die Lebenseinheiten zu diesen. b. Die realen Bänder des Naturzusammenhanges: Substanz und Kausalität, können nicht begrifflich klar dargestellt werden, sie stammen aus dem inneren Erlebnis, sind der Außenwelt angepaßt und für die Naturwissenschaft nur Zeichen eines vorhandenen Zusammenhanges. c. Das Denken, wenn es das Anschauliche erkennen will, welches in der äußeren Wahrnehmung gegeben ist, gerät in Antinomien (der unendliche Raum, die endlose Teilbarkeit der Materie), ebenso wenn es den Willen dem Naturzusammenhang unterordnen will. Die eindeutige Bestimmung des Weltzusammenhanges ist weder auf induktivem noch auf deduktivem Wege möglich; da der Satz des Widerspruchs zur Herstellung derselben nicht ausreicht, operiert sie mit der Vorstellbarkeit, welche ein Residuum der Wahrnehmung ist. So wird sie zurückgeworfen auf die Vorstellung der Materie, welche doch nur für unsere Sinne ist, und auf das vergrößerte Bild unserer Selbsterkenntnis. 262 Im Text der Nachschrift Β Hinweis auf: [E.] Du Bois-Reymond, Uber die Grenzen des Naturerkennens [,Berlin 1872] und Die sieben Welträtsel [,Berlin] 1881. 263 An dieser Stelle enthält die Nachschrift Β am linken Blattrand die Notiz: Spinozas Prinzip unrichtig; die Selbsterhaltung unzureichend. - In der Nachschrift C findet sich die Variante: Eine Systematik der psychischen Zustände entsteht nun, indem wir verwandte Zustände aneinanderhalten, das Enthaltensein späterer Zustände in früheren feststellen und mit Zuhilfenahme des Kausalzusammenhanges, in welchem die Lebenseinheit steht, gleichsam die genealogische Gliederung der psychischen Zustände entwerfen. Das klassische Schema einer solchen Gliederung gab zuerst Spinoza (Ethik, Buch III, IV). 264 In der Nachschrift C hier und im folgenden statt „ Vorstellungen": Affektionen. 265 Fortführung in der Nachschrift C: So sondert Kant drei Klassen von Totalzuständen des Bewußtseins, welche zusammengesetzt sind. Hierbei setzt er Affektionen voraus, deren Ursprung nicht erklärt wird, und die Frage entsteht nach den Komponenten dieser zusammengesetzten Zustände. 266 In der Nachschrift C findet sich eine alternative Darstellung dieser Passage: Eine Lösung dieser Frage versuchten Hamilton und Lotze. Der letztere besonders gegenüber dem von Herbart erneuten Versuche, aus Verhältnissen von Vorstellungen alles geistige Geschehen abzuleiten. Die Methode Lotzes sucht anschließend an diesen Versuch, die Unmöglichkeit einer Ableitung der Gefühle aus Vorstellungen, des Willens aus Vorstellung und Gefühl darzutun. Er geht von der Hilfsvorstellung eines nur vorstellenden Wesens aus zu diesem Zwecke, und so gelangt er zu der Annahme, das Vorstellen löse als ein Reiz die Tätigkeit des Gefühlsvermögens aus, und diese die 256
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des Willens Vermögens. Die Methode Lotzes genügt insofern nicht, als vermittelst des Prinzips der Unableitbarkeit vielmehr Vermögen der Seele erschlossen werden können. Alsdann zeigt das sinnliche Gefühl, daß das Gefühlsvermögen keineswegs nur durch Vorstellungen ausgelöst wird, und auch der Wille kann in der Aufmerksamkeit Akte des Vorstellungslebens hervorrufen. Sonach ist hier die Aufgabe, die Komponenten der psychischen Akte zu finden, richtig angefaßt, aber die Methode der Lösung bedarf der Vervollkommnung. 267 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: jenem. 268 Textvariante in der Nachschrift C: 1. Die vervollkommnete Methode verfolgt zunächst den Kausalzusammenhang der Bedingungen, unter welchem die Lebenseinheit steht. Sie betrachtet alsdann die innere Verwandtschaft der psychischen Zustände miteinander: Sehen und Hören als Wahrnehmungen einander verwandt, weil das Residuum der letzteren in der Vorstellung fortdauert, Urteil wiederum der Vorstellung verwandt. (So finden wir Komponenten des psychischen Lebens, welche miteinander keine Verwandtschaft mehr zeigen.) Diese können zugleich als in den meisten status conscientiae enthalten empirisch aufgezeigt werden. 269 Variante in der Nachschrift C: Vorkommend in jedem Willensvorgang als Inhalt des Strebens. 270 Fortführung in der Nachschrift C: So kann induktiv das Vorkommen des Vorstellungsinhaltes annähernd in allen psychischen Tatsachen aufgewiesen werden. 271 Variante in der Nachschrift C: Gefühl ist Hebel in den Willensvorgängen, in den Denkakten ist es als Ideenassoziation leitend enthalten, ebenso als Gefühl vom Widerstreit der Sätze, Unruhe des Denkens etc. In bezug auf Wahrnehmung nehmen Wundt u. a. an, daß Empfindung als Element der Wahrnehmung nicht nur nach Qualität und Intensität bestimmt, sondern auch vermöge ihrer Beziehung auf das Bewußtsein von einem Gefühlston begleitet sei. 272 Vgl. W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, a.a.O., S.426f. und S. 450; vgl. auch A. Horwicz, Psychologische Analysen auf physiologischer Grundlage, 2. Teil, 2. Hälfte, Halle 1878, S. 22. 273 Zusatz in der Nachschrift C: oder Spontaneität. 274 Fortführung in der Nachschrift C: Die Spontaneität muß wirksam sein, wenn ich mich bedingt, abhängig fühlen soll. Wirklichkeit ist für mich nur da, wo mein Wille sich bedingt findet. 275 In der Nachschrift B: der Innervation von Muskelempfindungen. 276 In der Nachschrift B: Erinnerungsnachbild. 277 Anfangsvariante in der Nachschrift C: 1. Der Begriff der einfachen Empfindungen entsteht durch die Verknüpfung psychologischer und physiologischer Tatsachen. Die einzelnen Sinnesqualitäten können zwar nicht isoliert vorgestellt werden, aber sie können durch die Richtung der Aufmerksamkeit auf sie und durch Absehen von den anderen Bestandteilen des psychischen Aktes annähernd isoliert werden. So werden sie dann auch aus dem Wahrnehmungszusammenhang herausgehoben, sie kehren in immer neuen Verbindungen wieder. 278 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: Unterscheidung. 279 Fortführung in der Nachschrift C: ..., diese aber sind zugleich von unserer physiologischen Natur, als ihrer anderen Bedingung, mitbestimmt. 280 In der Nachschrift B: (Stoß, elektrische Reize, chemische Veränderungen, Wärmeschwankungen). 281 Zusatz in der Nachschrift C: nämlich durch Untersuchung ihrer elektromotorischen Wirksamkeit. 282 In der Nachschrift Β am Rand: Goethe, Beitrag zur Morphologie. 283 In der Nachschrift B: physikalisch. 284 In der Nachschrift B: erblicken. 285 Variante in der Nachschrift B: nicht Abbilder von Reizen, aber. 286 Alternativer Titel in der Nachschrift B: §11. Von den Sinnesenergien. 287 Fortsetzung in der Nachschrift C: Zunächst kann aus diesem Tatbestand folgendes mit Sicherheit gefolgert werden: Durch Reizung der sensiblen Nervenfaser können nur solche Empfindungen entstehen, die dem Qualitätenkreise eines einzigen bestimmten Sinnes angehören, und jeder Reiz, welcher die Nervenfaser überhaupt zu erregen vermag, ruft Empfindungen dieses bestimmten Kreises ausschließ-
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lieh hervor. Dagegen in bezug auf die Frage, wie mannigfache und wie geartete Reize Äußerungen der spezifischen Energie im einzelnen Sinne hervorzubringen vermögen, ist die Entscheidung nicht von der Anfangsform des Reizes abhängig, sondern es wäre möglich, daß der Reiz unter anderen Folgen solche innerhalb des Sinnesorgans hätte, welche für den Sinnesnerven adäquate Reize wären. Diese Annahme kann vorläufig in keinem der für die Aufstellung des Gesetzes benutzten Fälle ausgeschlossen werden. Diese Fälle bestehen vor allem darin, daß die Lichtempfindungen durch Stoß, Druck und elektrische Reizung hervorgebracht werden können, Tonempfindungen ebenfalls durch adäquate Reize, Geschmacksempfindungen durch elektrische Reize, aber in allen diesen Fällen kann eine Erklärung gegeben werden, welche als Folge des Anfangsreizes einen der spezifischen Energie des Sinnes adäquaten Reiz entstanden denkt. 288 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: ableitet. 289 In der Nachschrift B: einfachen Endigungen. 290 Abweichend von der Callenberg-Nachschrift enthält die Nachschrift Β die folgenden Ausführungen: Die Muskelempfindung setzt sich aus Kraftempfindung und Kontraktionsempfindung zusammen. Beide sind unabhängig - die Kraftempfindung, die auf Gewicht [?] [...], ist einfach; denn die Muskelempfindung dabei ist einfach. Dagegen die Kontraktionsempfindung besteht aus einer Reihe, z.B. wenn ich die Arme zusammenziehe. Die Muskelempfindungen sind wichtig bei den Bewegungserscheinungen. Wichtig ist dabei die Tastempfindung, doch darf man nicht annehmen, daß Bewegungsempfindung nur aus Tastempfindung entspringt. Vielmehr ist die Bewegungsempfindung von Muskelempfindung begleitet. Es ist aber Empfindung dabei, die den Vorgang gewissermaßen abspiegelt, indem vom Gehirn der Anlaß aus zukommt (Innervation). (Tast- und Temperatursinn. Geruch und Geschmack. Gesicht und Gehör.) 291 Diesem Abschnitt entspricht in den Nachschriften Β und C jeweils ein eigener Paragraph. 292 In der Nachschrift Β folgt auf „ist": nicht. 293 Vgl. G.Th. Fechner, Elemente der Psychophysik, 1. Theil, a.a.O., S. 136ff. und 265ff. 294 Vgl. ebd., S. 238. 295 Vgl. W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, a.a.O., S.282. 296 In der Nachschrift Β am Rand: Es gibt eine obere und untere Reizgrenze für die Unterschiede der Intensität. 297 In der Nachschrift C findet sich der Passus: Die Beurteilung und Deutung der von hier aus durch Fechner gegebenen Formulierung wird erst im Zusammenhang mit der Erörterung über das Unterscheiden und Vergleichen möglich werden. Das Gesetz ist einer physiologischen oder psychophysischen oder psychologischen Deutung fähig. Vgl. übrigens über das Material der bisherigen Versuche und die Kritik der Folgerungen aus ihnen [Georg] Elias Müller: Zur Grundlegung der Psychophysik [. Kritische Beiträge,] Berlin 1878. Fechners Verteidigung gegen Müller in der Revision [der Hauptpuncte der Psychophysik. Leipzig 1882]. 298 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 38. 299 In der Nachschrift B: unräumlichen. 300 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 38f. 301 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: Empfindung. 302 In der Nachschrift B: Empfindungen. 303 In der Nachschrift Β als Zitat. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 38. 304 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 3 7 f f . 305 Fortführung in der Nachschrift B: (Ausdrücke von Helmholtz). (cf. über die Empiristen „Mill gegen Hamilton", cf. Kußmaul, Über neugeborene Wesen). - Gemeint sind: J. St. Mill, An Examination of Sir William Hamilton's Philosophy of the Principal Philosophical Questions Discussed in his Writings, London 1865, und Α. Kußmaul, Untersuchungen über das Seelenleben des neugebornen Menschen, Leipzig 1859. 306 In der Nachschrift B: vorherrschenden. 307 A. Kußmaul, Untersuchungen über das Seelenleben des neugebornen Menschen, a.a.O., S.51.
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In der Nachschrift Β Zusatz am Rand: Wundt, Physiologische Psychologie. Vgl. R.H. Lotze, Medianische Psychologie oder Physiologie der Seele, a.a.O., S. 325ff. 310 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: gemacht. 3,1 Zusatz in der Nachschrift Β am linken Blattrand: [E.] Beneke, Pragmatische Psychologie [oder Seelenlehre in der Anwendung auf das Leben. 2 Bände]. Berlin 1850. Kant, Pragmatische Psychologie. (Vorlesung ediert). Gemeint ist: I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Königsberg 1798, in: Kant's Gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, Band VII, Berlin 1917, S. 117-333. 312 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: bewies. 313 In der Nachschrift B: Bildung. 314 In der Nachschrift Β am Rand: [Th.] Waitz, Allgemeine Pädagogik [und kleinere pädagogische Schriften, 3. vermehrte Aufl., mit einer Einleitung über Waitz' praktische Philosophie hrsg. von O. Willmann,] Braunschweig 1883. 315 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: psychologische. 316 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: das den einen Affizierende. 317 Zusatz in der Nachschrift B: angeblichen. 3" In der Nachschrift B: Unsinnlichkeit des geistigen Lebens. 319 In der Nachschrift B: Gemütslebens. 320 J. W. von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, 6. Buch, in: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Band VII, hrsg. von E. Trunz, München, 9. durchgesehene Aufl. 1977, S. 358-420. 321 In der Nachschrift fehlt ein „zweites Stück". 322 Fortsetzung in der Nachschrift C: Verschiedenheit der Vorstellungen bei verschiedenen Personen in bezug auf das Gewahren der Gesichtsvorstellung im Sehraum, der Farben und der klaren Zeichnung derselben sowie die Dauer der Bilder: Anlage des Dichters und Malers. Entsprechend unterscheidet sich auch das psychische Erlebnis vom Nachbilden des psychischen Zustandes. Der Unterschied ist derselbe als zwischen Wahrnehmung und Vorstellung. Große Verschiedenheit der Individuen in bezug auf die Fähigkeit, psychische Zustände nachzubilden. Ihr entsprechen Zahl, Bedeutung und Feinheit der Vorstellungen von psychischen Zuständen. In dem pathologischen Dichter überwiegt das Interesse an dem Nachbilden oder Vorbilden von Gemütszuständen, welche mit seinem persönlichen Leben zusammenhängen. 323 W. Griesinger, Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten für Ärzte und Studirende, Stuttgart 1867, S. 85. 324 In der Nachschrift B: Vorstellungsinbegriff. 325 Zusatz in der Nachschrift B: (in der Seele). 326 Die wesentlich ausführlichere Anfangspartie dieses Paragraphen in der Nachschrift C lautet: 1. Wir unterscheiden zunächst das Gewahrwerden von dem Abbilden des Gewahrgewordenen. Der Unterschied der Wahrnehmung von der Vorstellung und dem Denken kann nur erlebt, nicht in Begriffen ausgedrückt werden. Diese beiden Bewußtseinszustände unterscheiden sich nicht, wie Hume annahm, durch den Grad der Lebhaftigkeit; auch werden die Grenzen der zwei Bewußtseinszustände nicht durch die Tatsache der Visionen und Halluzinationen aufgehoben, da diese psychologisch als den Wahrnehmungszuständen analog zu erklären sind, Täuschungen nur insofern, als der die Bedingung der Wahrnehmung bildende physiologische Zustand irrtümlich auf ein Objekt als äußere Ursache zurückgeführt wird. Jede Vorstellung ist entweder als Ganzes oder in ihren Teilen in der Wahrnehmung gegeben gewesen. Auf dem Gebiet der Willensakte und Gefühle findet ein entsprechender Unterschied zwischen ursprünglichen und nachgebildeten Akten statt. Jenseits der Grenze der Nachbildung liegt bereits die Reproduktion des äußeren Vorgangs, andererseits die Erneuerung des Willens- oder Gefühlszustandes infolge der Vorstellung einer Tatsächlichkeit, welche als solche oder in ihren Folgen fortdauert. Innerhalb dieser Grenzen liegen verschiedene Formen des Nachbildens, dieses ist selber ein Willens- oder Gefühlsvorgang, aber von dem primären so zu unterscheiden wie Vorstellen von Wahrnehmen. 2. Der andere Unterschied ist als der von bewußten und unbewußten psychischen Akten und 308 309
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Vorstellungen bezeichnet worden. In der direkten Erfahrung ist mir nur der von Leibniz zuerst dargestellte Unterschied von Perzeption und Apperzeption gegeben. 527 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: Wirklichkeit. 328 In der Nachschrift Α fehlt der folgende, in der Nachschrift Β überlieferte Absatz: 2. Dieses Verhältnis der gering merklichen Vorstellungen und psychischen Akte überhaupt zu den deutlich apperzipierten kann aber erst richtig abgeschätzt werden, wenn man erwägt, in welcher Weise und welchem Umfang diese Unterschiede und der Uberblick über die Menge der gering merklichen Vorstellungen für den Beobachter da sind. 329 Die Nachschrift C bietet eine andere Fassung dieses Passus: Es kann erwiesen werden, daß wir von dem Inhaltsbestande eines gegebenen Augenblicks auch in dem nächstfolgenden nicht immer ein vollständiges Vorstellungsbild besitzen. So ergibt sich, daß unmerkliche Akte von viel größerer Zahl, als deren ich mich erinnern kann, mein Bewußtsein erfüllen. Möglicherweise kann das Zentrum meiner Aufmerksamkeit in vielen Augenblicken peripherisch von einer sehr großen Anzahl solcher gering merklichen Vorstellungen und Akte umgeben sein. An die Stelle der Annahme unbewußter Vorstellungen und Akte würde dann die von unmerklichen, insbesondere von nicht erinnerten, treten. 330 In der Nachschrift C findet sich die folgende, abweichende Anfangspartie dieses Paragraphen: Das Problem lautet: Wie groß ist der Umfang der psychischen Akte, welche zu einer Zeit innerhalb unseres Bewußtseins sich befinden? Die Beantwortung dieser Frage ist eine sehr schwierige, weil eine direkte Selbstbeobachtung, wie nachgewiesen, nicht möglich, das Erinnerungsbild an dem vergangenen psychischen Akt aber nur ein abgeschwächtes und lückenhaftes ist. Die Untersuchungen über den Umfang der gleichzeitigen psychischen Tatsachen gehen aus von einem mechanischen Zusammenhang des psychischen Lebens. Da unsere Seele ein einfaches Wesen sei, habe nur eine Vorstellung zu derselben Zeit in ihr Platz, der scheinbare Reichtum an Vorstellungen sei nichts weiter als die große Schnelligkeit, mit welcher das geistige Auge von einer zur anderen Vorstellung gleiten könne. Diese Betrachtungsweise wurde überwunden durch das Experiment auf der Sternwarte zu Greenwich 1795, welches Bessel verwertete zur Auffindung des Gesetzes der sogenannten persönlichen Gleichheit oder persönlichen Differenz. Die Beobachtung, daß, wenn man seine gespannte Aufmerksamkeit zugleich auf einen Gesichts- und einen Gehörseindruck richtete, derjenige, welchem die größere Aufmerksamkeit geschenkt wird, zuerst perzipiert, der andere also später in die Wahrnehmung tritt, wurde von Wundt und anderen weiter verfolgt auf experimentellem Wege. Namentlich Wundt, welcher ursprünglich ausging von der mechanischen Auffassung, gab diese auf zugunsten einer dynamischen. Seine Experimente und die anderer liefern uns folgenden Ertrag. [Vgl. W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, a.a.O., S. 767ff] Die Dauer, welche ein Eindruck braucht, um zur Apperzeption zu gelangen, ist meßbar, und zwar bei gespannt auf ihn gerichteter Aufmerksamkeit und wenn mir seine Eigentümlichkeit bekannt ist, geringer ('/s Sekunde), als wenn mir seine Eigentümlichkeit nicht bekannt ist. Ist der Eindruck mir unbekannt, sowohl in bezug auf die Zeit seines Eintretens als auf seine Beschaffenheit, so bedarf die Auffassung einer längeren Zeit. Das Ergebnis dieser Resultate ist folgendes: Es besteht eine Apperzeptionsenergie, welche bei dem einzelnen Subjekt in einer gegebenen Zeit ein gewisses Quantum hat. Kann das apperzipierende Subjekt sich vorbereitend dem erwarteten Eindruck anpassen, so ist die Zeit, welche zwischen Perzeption und Apperzeption liegt, geringer, als wenn diese Vorbereitung nicht möglich ist. Ist der Eindruck komplizierter, so wächst die für die Apperzeption nötige Zeit. Sind die Reize verschiedenartig, wie ζ. B. Gesichts- und Gehörseindrücke, so ist eine gleichzeitige Apperzeption nicht möglich, d. h. während die beiden Reize die Sinne zur gleichen Zeit treffen, wird der mit geringerer Aufmerksamkeit erwartete später apperzipiert. Somit ist der Beweis geliefert, daß bei der Untersuchung über das Bewußtsein jede mechanische Betrachtung einer dynamischen von Apperzeptionsenergie Platz zu machen hat. Hauptfälle, in welchen ein bestimmter Umfang von Vorstellungen im Bewußtsein vorhanden sein kann und die Bedingungen hierzu. Hierbei ist zu unterscheiden das Besitzen und das eigene Erzeugen von Wahrnehmungen.
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Die Zahl der Wahrnehmungen, welche in einem gegebenen Momente nebeneinander im Bewußtsein existieren kann, ist eine beinahe unbeschränkte. (Spencer:) Die Wahrnehmung der Gegend, in welcher ich mich bewege, meine Bewegungsgefühle, das Tastgefühl meines schreitenden Fußes, eine mich umschwirrende Melodie und eine abstrakte Gedankenreihe füllen in einem Momente mein Bewußtsein. Die Zahl der Vorstellungen, welche nebeneinander in meinem Bewußtsein sich befinden kann, ist jedenfalls größer als eine (Herbart). Der exakte Beweis (Lotze) dafür ist die Möglichkeit einer Vergleichung zweier Gegenstände, welche auf einem Zusammenhalten derselben beruht. Zusammenhalten ist aber nur möglich aufgrund von Zusammenbesitzen in einem bestimmten, gegebenen Momente. Wir bauen eine Gedankenfolge so auf, daß wir von einer Vorstellung zur anderen gehen, verbindend, schließend usw. Die ersten Glieder dieser Kette bleiben im Bewußtsein, treten aber sehr bald beim Weiterschließen aus. Sie scheiden nicht ganz aus, sondern werden nur zu gering merklichen, deren Präsenz im nächstfolgenden Moment nicht mehr erinnert wird. Darum kann man nicht sagen, was bei einem Schlußverfahren gleichzeitig in meinem Bewußtsein ist. Wir wissen von ihm nur durch ein lückenhaftes Erinnerungsbild. Ich kann nur mit aller Wahrscheinlichkeit vermuten, daß, da die Evidenz meines Schlusses auf den und den Prämissen beruht, diese Vorstellungen in unmerklicher Stärke in meinem Bewußtsein vorhanden waren. Eine Zusammensetzung aus den Evidenzen der vorhergehenden Schlüsse wäre sehr viel künstlicher. So können wir denn augenscheinlich eine große Anzahl von engverknüpften Vorstellungen in einem Momente nebeneinander haben. Doch ist der Umfang der gleichzeitigen Vorstellungen geringer als der der gleichzeitigen Wahrnehmungen, weil zu diesen eine geringere Apperzeptionsenergie erfordert wird als zu jenen. 331 Die folgenden Ausführungen finden sich in der Nachschrift C in verkürzter und leicht abgewandelter Form. 332 In der Nachschrift B: Anspannung. 333 w Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, 2. völlig umgearbeitete Aufl., 2. Band, Leipzig 1880, S. 215. 334 Zusatz in der Nachschrift B: (Champagnerlied, Don Juan). 335 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: Willensanschauung. 336 ψ Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, 2. völlig umgearbeitete Aufl., 2. Band, a.a.O., S. 264ff. 337 In der Nachschrift B: welche Vorgänge und Leistungen und Gegenstände. 338 Aufgrund der Nachschrift Β korrigiert aus: Empiristischen. 339 Aufgrund der Nachschrift Β korrigiert aus: zu. 340 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: gestattet. 341 Vgl. Piaton, Phaidon, 74d~7Sb und 76d-e. 342 Vgl. Aristoteles, De anima III, 2, 426 b. 343 Vgl. Plotin, Enneaden, Vierte Enneade, 2. Buch, Kap. 2. 344 Fortführung in der Nachschrift C: Die Tatsache [der Einheit des Bewußtseins] kann dargetan werden, ebenso ihre Unableitbarkeit, aber sie gestattet nur einen negativen Schluß; Abweisung der Erklärung des psychischen Geschehens, welches diese Eigenschaft zeigt, aus einem System materieller Elemente. 345 Aufgrund der Nachschriften Β und C geändert aus: Verlauf. 346 Fortführung in der Nachschrift C: die über die Bühne des Bewußtseins schreiten. 347 In der Nachschrift B: in einer festen Beziehung. 348 In der Nachschrift B: Sätzen. 349 Fortführung in der Nachschrift C: ..., allgemein kann dieses Grundverhältnis in dem Satze Kants ausgedrückt werden, zu dem bewußten Bestände der einzelnen Vorstellungen komme hinzu, daß sie spontan ihre Synthesis vollziehen, die eine [Vorstellung] zu der anderen hinzusetze, eine Beziehung zwischen ihnen herstelle und ein Bewußtsein davon habe. 350 In der Nachschrift B: Selbstbewußtsein. 351 Zusatz in der Nachschrift B: dogmatische. 352 Die Nachschrift C enthält eine anderslautende Zusammenfassung des Paragraphen: 4. In der
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so entstehenden Kontinuität des Lebens entstehen einerseits im Denken ablösbare, einfache Inhalte, andererseits abgesonderte psychische Akte. Eine einfache Vorstellung ist ein Inhalt, welcher unter Abstraktion von dem, womit er verbunden ist, herausgehoben und somit relativ isoliert werden kann, der aber zugleich einen Grenzpunkt in bezug auf die Möglichkeit der Abstraktionen bildet. Diese einfache Vorstellung und die ihr korrespondierend angenommene Empfindung ist also nicht ein Einzelakt des Bewußtseins, sondern ein im Zusammenhang der geistigen Tätigkeit künstlich zur Auffassung gebrachter einfacher Inhalt. Der psychische Akt grenzt sich durch die äußere Fixierung des Ergebnisses ab; so bezeichnen wir als Denkakt das Urteil, das im Satz fixiert wird, als Willensakt den Vorgang, der in einer Bewegung abschließt. 353 In der Nachschrift C lautet der Anfang: 1. Wir haben bisher von der Tatsache des Selbstbewußtseins absichtlich abgesehen. Man könnte einen Lebensprozeß denken, der in einzelnen bewußten Empfindungen, Lust- und Unlustgefühlen verliefe, ohne daß ein Bewußtsein ihres Zusammenhangs in einem tätig vorhanden wäre. Das Selbstbewußtsein unterscheidet von der Welt das Ich, besitzt in ihm den einheitlichen Träger wechselnden Tuns und Leidens, setzt dies Ich, welches ihm Objekt ist, in eins mit dem Auffassenden, für welches es da ist. Demgemäß begleitet ein: „Ich denke, ich will" die psychischen Akte. 354 Fortführung in der Nachschrift C:..., wie viel auch im einzelnen an ihr sich irrig erweisen mag. 355 Fortführung in der Nachschrift C: Eine Vergleichung setzt ein Aneinanderhalten der Eindrücke voraus. Ein Schluß oder Willensakt verknüpft psychische Elemente synthetisch. 356 Fortführung in der Nachschrift C: Vergleichung objektiver Einheiten, Denkzusammenhang haben zu ihrer Bedingung die Einheit des Bewußtseins, die Tätigkeit der Synthesis, das Innewerden derselben aber gibt die Möglichkeit des Selbstbewußtseins. 357 Aufgrund der Nachschrift Β korrigiert aus: Seelenbewußtsein. 358 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: Selbstbewußtsein. 359 Die Nachschrift C beginnt den Absatz wie folgt: 5. Die Lösung des Problems ist also zu suchen in demjenigen Tatbestand, der auch als Einheit des Bewußtseins heraustritt und in dem Innewerden. Das Innewerden ist die ursprüngliche Tatsache des Bewußtseins, . . . . 360 In der Nachschrift C findet sich die Variante: Wir trennen ein Erfahren von Zuständen im Gefühl von einem Bezirk der Gleichgültigkeit. 361 Fortführung in der Nachschrift C: ... und die Lücken unserer Selbsterfahrung werden durch die Wahrnehmung anderer Individuen ergänzt. 362 Zusatz in der Nachschrift C: im Bewußtsein. 363 Zusatz in der Nachschrift C: Spezielle Gesetze: 364 Fortführung in der Nachschrift C: Tritt sonst eine Verschmelzung ohne Rest ein, so geschieht es, weil die objektiven Vorgänge vermöge eines geringen Grades von Interesse nur undeutlich aufgefaßt wurden. 365 Geändert aus: reproduzierende. 366 Fortführung in der Nachschrift C: In beiden Fällen geht der psychische Vorgang vom Wahrgenommenen zum Vorgestellten über, und es entsteht auf der Grundlage einer teilweisen Verschmelzung eine Erinnerung von Unterschied oder Verwandtschaft. 367 Fortführung in der Nachschrift C: Unsere Entwicklung verbindet mit den Namen die auf sie bezüglichen Allgemeinvorstellungen. 368 Abweichende Formulierung in der Nachschrift C: Entweder seine Wirkung dauert fort als ein psychisches Residuum, dieses muß dann als unbewußte Tatsache aufgefaßt werden, oder er wirkt als ein physiologisches Residuum im Gehirn fort. 369 Die Nachschrift C enthält den folgenden alternativen Passus: Eine grundlegende Theorie, die zwischen beiden Annahmen entschiede, ist zur Zeit unmöglich, doch hat die zweite Annahme eine größere Wahrscheinlichkeit für sich, und zwar wirkt das Residuum aus jenem ersten Vorgang so, daß der damals gestiftete Zusammenhang die Möglichkeit enthält, von dem einen Teil desselben zum anderen oder zum Ganzen in der Erinnerung fortzugehen. 370 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: Faßlichkeit. 371 Zusatz in der Nachschrift C: oder mit Aufmerksamkeit wiedererzeugt. 372 In der Nachschrift B: Mnemotechnik.
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Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: Gedächtniskraft. Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: in. 375 In der Nachschrift C: einem Schema oder Begriff. 376 Abweichende Formulierung in der Nachschrift C: bildet rückwärts das Schema oder den Begriff oder den Verband allgemeiner Ideen um. 377 Fortsetzung in der Nachschrift C: 4) In der Verarbeitung sind miteinander verbunden Vorgänge der Verschmelzung und Assoziation und logische Vorgänge. Die Vermittlung bildet das beziehende Wissen; der Wechsel der Vorstellungen und ihrer Verhältnisse ruft in uns eine Rückwirkung hervor, in der ein tätiges Bewußtsein dieser Beziehungen und dieses Wechsels auftritt. Die Richtung des Empirismus, die insbesondere die englische Assoziationspsychologie ausgebildet hat, glaubt aus im unwillkürlichen Gedankenlauf wirksamen Vorstellungen den Denkzusammenhang, d. h. die logischen Vorgänge von Urteil, Begriff und Schluß, hervorgehen lassen zu können. Da der Denkakt Urteil ist und Begriff wie Schluß nur im Urteil entstehen, so ist das Problem, aus jenen elementaren Vorgängen die Urteilsakte abzuleiten. Dieser Richtung steht diejenige gegenüber, welche Kant bis zum äußersten Extrem ausgebildet hat, sie betrachtet die Formen des Denkens als Bedingung des Bewußtseins (apriorischen Bestand). Wenn man nun auch die komplizierte Denkmaschine, die Kant angenommen, für eine Erdichtung hält, wenn man auch eine apriorische Urteilsform der Möglichkeit oder des besonderen Urteils nur als ersonnen betrachtet, so bleibt die Grundannahme Kants hiervon doch unberührt. Nun können wir über den Tatbestand, den unsere Erinnerung vorfindet, mit den gegenwärtigen Mitteln der Wissenschaft nicht hinausgehen; es ist unberechtigt, mit Kant, was unsere Erinnerung so als fertig vorfindet, als a priori zu betrachten, aber es ist ebensowenig geglückt, es abzuleiten. 5) In der Verarbeitung unterscheiden wir das Vorherrschen des Vorstellens und Denkens von dem des Gefühls oder des Willens. Auf dem ersteren beruht die Erkenntnis des Wirklichen, wo dagegen das Gefühl die Vorstellungen leitet und umbildet, entsteht die Sphäre des geselligen Lebens und der Kunst, wo endlich der Wille vorherrscht, entspringt das praktische Leben. 378 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: zum Verhältnis. 379 Abweichender Paragraphentitel der Nachschrift B: Der Fortschritt auf dem Gebiet der intellektuellen Entwicklung. 3,0 Fortsetzung in der Nachschrift C: Jedoch besteht der Fortgang der intellektuellen Entwicklung nicht isoliert und stellt sich daher nicht als eine einfache Vermehrung der Wahrheiten dar. Die intellektuelle Entwicklung vollzieht sich innerhalb eines allgemeinen Differenzierungsprozesses. Wo die Wissenschaft beginnt, findet sie einen von Gemüt und Willen hergestellten Zusammenhang bereits vor, und ihre technische Ausbildung besteht gerade darin, von den Voraussetzungen sie zu befreien und einen Zusammenhang aus kontrollierbaren Wahrnehmungselementen und logischen Schlüssen herzustellen. 381 Fortführung in der Nachschrift C: Denn die Tatsache, daß die Versenkung in die Wahrnehmung einer einfachen Sinnesqualität eine Gefühlsfärbung derselben zur Folge hat, enthält nur den oben aufgestellten Satz in sich. Die Sinnesqualität braucht nicht unter allen Bedingungen unseres Bewußtseins dieselbe Folge für unser Gefühlsleben zu haben. 382 Fortsetzung in der Nachschrift C: . . . zwei Anregungen: Nach seiner Attributenlehre korrespondieren der Zusammenhang physiologischer Vorgänge und die psychischen Tatsachen. Einem jeden psychischen Akt entspricht ein physiologischer Vorgang. Diese Theorie ist besonders von Fechner und Wundt ihren psychologischen Arbeiten zugrunde gelegt, wenn auch von letzterem nicht festgehalten. Die andere Anregung lag in Spinozas Affektenlehre. Johannes Müller hat sie in seiner Physiologie wörtlich aufgenommen. Nach ihr macht Streben nach Selbsterhaltung das Streben des Menschen aus. Denken wir es vom Bewußtsein begleitet, so wird es als Begierde bezeichnet, und zwar existiert diese nicht als ein abstraktes Vermögen, sondern in den einzelnen Willenszuständen. Da aber der Mensch als ein Modus der göttlichen Substanz von außen determiniert ist, entstehen unter den Bedingungen der Außenwelt aus der Selbsterhaltung die einzelnen affectus, d. h. Gesamtzustände. Sie werden von ihm nur definiert durch Feststellung ihrer Beziehung zu der Selbsterhaltung und den Bedingungen, unter denen sie stehen. Aus der Hemmung der Selbsterhaltung entsteht Unlust, aus ihrer Förderung Lust. Begierde, Lust und Unlust sind die 373 374
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drei primären Affekte, aus denen im Zusammenhang des Vorstellungslebens die übrigen hervorgehen. So ist Liebe nur die Beziehung der Lust oder der Aufhebung der Unlust auf ihre vorgestellte Ursache. Spinoza hat sich nicht darüber ausdrücklich geäußert, wie sich hiernach Begierde und Wille zum Gefühl verhalten. Doch ist im Zusammenhang seiner Gedanken die Ergänzung notwendig, daß in den Gefühlen nur ein Innewerden der Lagen und Zustände des Willens vorliege. 383 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: psychologischen. 384 Fortführung in der Nachschrift C: ... sofern er ebenfalls die Gefühle auf den Willen zurückführte. Sie trat zuerst in seiner Schrift „Uber die Freiheit" hervor und ist in seinen nachgelassenen Werken entwickelt. Schopenhauer gab von dieser Theorie Schellings und ihren Ansätzen bei Fichte eine mehr populäre und dem Zeitgeist angepaßte Umbildung. 385 Fortführung in der Nachschrift C: Der menschliche Wille unterscheidet sich von dem tierischen vorzüglich dadurch, daß er mit einem hochentwickelten Intellekt verbunden ist, der eine Funktion des Gehirns ist. Demnach kann er von abstrakten Begriffen geleitet werden; gehemmter Wille ist Leiden. 386 Fortführung in der Nachschrift C: Eine Definition würde nur in der Aufhebung des Willens selber liegen. Indem diese Theorie den Willen als auf die Befriedigung der Person gerichtet deutet, ergibt sich, daß einerseits das Leben dem Willen keine Befriedigung gewähren kann, andererseits das Schöne und Gute nur als Aufhebung des Willens gedacht werde. 387 Fortführung in der Nachschrift C: Der Wille ist so wenig ohne Intellekt, als der Intellekt ohne Wille denkbar. 388 Fortsetzung in der Nachschrift C: N u n kann aber die letztere nur insofern in erstere eingeschlossen werden, als ein Zuwachs von Lust und Unlust für uns mit dem Glück anderer verbunden ist, demnach nur in dem Maße, als unser Glück, das so entsteht, den Verlust an Glück übersteigt, den die Aufopferung für andere einschließt. Daher löst sich praktisch das Prinzip der sozialen Eudämonie wieder auf und erweist sich als dem der individuellen entgegengesetzt. Ebensowenig kann aus dem Gefühl der Wille abgeleitet werden. Wenn wir das Gefühl, das mit einem zu erwartenden Zustande verknüpft ist, antizipieren, so entspringt daraus allerdings ein Trieb, aber das Gefühl wird durch diese Verhältnisse, in denen es sich befindet, nicht zu einem Willensakt. Der Entschluß hat ferner nicht das doppelte Verhältnis der Gefühle in Lust und Unlust in sich. Die Aktivität des Willens kann nicht zureichend aus der bloßen Absicht, in einen anderen Zustand zu geraten, erklärt werden. 389 Abweichende Fassung in der Nachschrift B: ist als Gefühl zu bezeichnen. 3.0 Fortführung in der Nachschrift C: Vermöge des Gefühls stellt sich das uns Affizierende als eine Stufenordnung von Werten dar, wie vermöge des Erkennens als ein Zusammenhang von Tatsachen und Wahrheiten. Sowohl die Intensitätsreihen der Lust und Unlust zeigen ein qualitativ-einfaches [?] Gefallen, Eindruck der Vollkommenheit, Billigung neben der sinnlichen und der höheren Lust. Das Gefühl muß endlich vom Innewerden eines psychischen Zustandes begrifflich gesondert werden. 3.1 In der Nachschrift C lautet die Anfangspartie des § 36: Die Lebenseinheit, welche den Grund unserer Gefühle bildet, wird physisch durch den im Gemeingefühl sich darstellenden Bestand unseres Organismus, psychisch durch die Gliederung der Faktoren gebildet, die in der Zeitfolge als unser Lebenszusammenhang, in der Gegenwart als unsere äußere und innere Lage sich darstellen. Der Ausdruck der Stellung dieser Lebenseinheit zu ihren Bedingungen ist das Lebensgefühl des Individuums, und zwar bildet das Lebensgefühl des gegenwärtigen Augenblicks für die Einwirkung eines auftretenden Tatbestandes auf das Gefühlsleben die Grundlage, und diese wirkt bedingend auf die Bildung der neu entstehenden Gefühle. Sonach wird von ihr aus der Gefühlswert einer Affektion bestimmt und ist daher für verschiedene Zeiten verschieden. 392 Fortführung in der Nachschrift C: . . . und innerhalb desselben das sinnliche Gefühl von dem intellektuellen, religiösen, ästhetischen, moralischen sich ablöst. 393 Fortführung in der Nachschrift C: . . . wie in den künstlerischen Vorgängen, und zwar bildet die Einbildungskraft nur einen Bestandteil aller dieser Vorgänge. Fehlt dieser, alsdann verhält sich die Tätigkeit der Menschen unproduktiv. Herrscht aber die Phantasie allein ohne die Beziehung auf Wirklichkeit, welche der Zweck des erkennenden und praktischen Verhaltens fordert, alsdann entsteht das phantastische Verhalten.
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Aufgrund der Nachschrift Β korrigiert aus: Vorgangs. Fortsetzung in der Nachschrift C: . . . der Aufbau aus denselben [ist] ein neuer. Wie es aber die Seele anfängt, einen solchen neuen Fortgang zu machen, kann die Wissenschaft nicht ableiten, denn was abgeleitet wird, vollzieht sich nach dem Satz vom Grunde. Dieser hat aber hier seine Grenzen. Spontaneität ist eine Tatsache des Bewußtseins, deren wir innewerden. Das Innewerden bildet den letzten Grund aller Gewißheit. Werden wir doch auch des Satzes vom Widerspruch nur inne. 3.6 Fortführung in der Nachschrift C: Daher ist die formale Richtung der Ästhetik unzureichend. Was schön sei, können wir einmal unter dem Gesichtspunkt des Auffassenden, dann unter dem des Schaffenden betrachten. 397 Fortführung in der Nachschrift C: Dieser Vorgang im Aufnehmenden entspricht dem im Hervorbringenden. Nur vermittelst einer sehr großen Mächtigkeit in der Erfassung des Wirklichen und in den mit dieser verbundenen Erregungszuständen vermag der Hervorbringende den Aufnehmenden aus dem Zusammenhang der persönlichen Zwecke desselben herauszuheben, ihn hierdurch zu befreien und eine relativ allseitige Gefühlsbefriedigung in ihm hervorzurufen. 3,8 Zusatz in der Nachschrift B: beständige. 399 In der Nachschrift Β findet sich an dieser Stelle am Rand der bibliographische Hinweis: Zeitschrift für Völkerpsychologie [und Sprachwissenschaft], 10. Bd. [1878, S. 42-104], [W. Dilthey,] Uber die Einbildungskraft der Dichter. 400 Fortführung in der Nachschrift C: ..., daher dem Künstler die Wirklichkeit nicht Mittel zur Erreichung seiner Zwecke sein darf. 401 Fortführung in der Nachschrift C: Dieses empfängt bestimmte Typen, einen Stil der Behandlung der Stoffe. Unter diesen Bedingungen lebt nun der Künstler so in einer Vorstellungswelt, daß sie ihm Wirklichkeit wird und seine Affekte in diese verlegt werden. 402 Fortsetzung in der Nachschrift C: So entsteht die Einteilung der Künste in solche, welche die Wirklichkeit innerhalb des Gesichtssinns abbilden, Malerei, Plastik, solche, welche es innerhalb des Gehörsinns tun, Poesie, und in den anderen, welche frei mit isolierten Elementen arbeiten, innerhalb der Sphäre des Gesichtssinns, Architektur, des Gehörsinns (Musik). In jedem Fall hat die Form zu dem Gefühl ein inneres Verhältnis, und dieses Verhältnis, wie es aus der Wirklichkeit stammt, bleibt auch aus den abstrakten Elementen zurück, mit welchen Architektur und Musik arbeiten. Kunstwerke drücken nicht Ideen aus, sondern die Gemütserfüllung und Steigerung, welche sie gewähren, kann nicht für den Verstand klar gemacht werden. Die Geschichte der Kunst zeigt eine stetig aufsteigende Entwicklung nur in demjenigen, was erlernbar ist, also auf der Seite der Erfahrung, des Verstandes liegt. Im übrigen ist sie teils durch die Macht einzelner Persönlichkeiten bedingt, teils durch Gesetze, wie das, welches starke Erregungen von unabgebrauchten Eindrücken abhängig macht, oder das, nach welchem die verschiedenen Äußerungen des Gemütslebens einander korrespondieren. 403 In der Nachschrift C findet sich eine andere Fassung des Schlußparagraphen, die weitgehend identisch ist mit dem § 19 der oben mitgeteilten Vorlesung vom WS 1881/82. 3.5
Psychologie als Erfahrungswissenschaft (Wintersemester 1885/86) C 26 II: 313-326 Rücks.; 328-342 Rucks.; 362-374. Unvollständige Mitschrift der PsychologieVorlesung vom Wintersemester 1885/86 von unbekannter Hand. Der Text gibt, in offensichtlich selbständiger Wiedergabe, nur die elf ersten Vorlesungsstunden wieder, und zwar die Stunden vom 26.10., 30.10., 31.10., 2. IL, 6.11., 7.11., 9.11., 13. IL, 14. IL, 16.11. 1885; die Nachschrift der letzten Stunde ist nicht datiert. Abgesehen von einer knappen Randnotiz, finden sich keine Überarbeitungsspuren von D.s Hand. Das Ms. trägt den Titel: Psychologie als Erfahrungswissenschaft. Die übrigen erhaltenen Nachschriften der Vorlesung dieses Semesters wurden bei der Edition der Psychologie-Vorlesung vom Wintersemester 1888/89 mitberücksichtigt.
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Im Ms. folgt: Einleitung. § 1. Die Aufgabe der Psychologie und ihre Stellung im Zusammenhange der Erfahrungswissenschaft. 405 / . W. von Goethe, Die Wahlverwandtschaften, a.a.O., S.417. 406 Geändert aus: an. 407 A. Kußmaul, Die Störungen der Sprache. Versuch einer Pathologie der Sprache, Leipzig 1877; Untersuchungen über das Seelenleben des neugebornen Menschen, a.a.O. 408 Zusatz von D.s Hand: Auch können wir eine objektive Projektion [?] nur nach dem Maß der Verwandtschaft erkennen. Frauen haben eine Mutter [?] im Inneren etc. 409 Geändert aus: geschehen.
Psychologie als Erfahrungswissenschaft (ca. Wintersemester 1888/89) C 27 I: 173-182 Rucks.; 172-172 Rucks.; 164-171 Rucks.; 161-161 Rucks.; 147-150, 143-146. (Nachschrift A). Nachschrift von unbekannter Hand, undatiert und ohne Titel. Der Text ist durchpaginiert, umfaßt 53 Seiten und enthält eine Reihe von Arbeitsspuren D.s, wie Ergänzungen, Einfügungen und Korrekturen. Die Nachschrift gibt die Vorlesung nicht vollständig wieder, sondern umfaßt nur die §§1-30. Die ungefähre Datierung der Nachschrift auf das Wintersemester 1888/89 ergibt sich aufgrund bestimmter inhaltlicher Kriterien. Disposition und Inhalt der Nachschrift weisen im Vergleich zu den Nachschriften des Wintersemesters 1885/86 eine große inhaltliche und strukturelle Nähe, aber auch einige bedeutende Differenzen auf. Der Nachschrift kommt eine wesentliche Bedeutung zu, da sie in besonders prägnanter Weise den Inhalt von D.s Psychologie-Kolleg aus den späten achtziger Jahren mitteilt. Aus der zweiten Hälfte der achtziger Jahre standen uns außerdem einige weitere, ζ. T. nur fragmentarisch überlieferte, Nachschriften zur Verfügung: 1.C271: 71-91: Nachschrift der Vorlesung des Wintersemesters 1885/86 von unbekannter Hand (Nachschrift B). Der Text ist fortlaufend datiert und durchlaufend paginiert und umfaßt 41 Seiten. Die Nachschrift ist nicht vollständig erhalten; vorhanden sind nur die §§1-20 und der §36. Das Ms. trägt den Titel: Psychologie als Erfahrungswissenschaft (Prof. Dilthey). Die Nachschrift liegt in einem Umschlag (C 27 I: 70) mit der Aufschrift: I. Psychologie II. Anwendungen der Psychologie auf die Pädagogik (Prof. Dilthey) Wintersemester 1885/86. Eine Nachschrift des Kollegs über Anwendungen der Psychologie auf die Pädagogik aus dem Wintersemester 1885/86 hat sich nicht erhalten. 2. C 29 II: 210-211 Rücks. (Nachschrift C). Fragment einer Nachschrift vom Wintersemester 1885/86 von unbekannter Hand. Der Text trägt den Titel: Psychologie. WS 1885/86. Das Ms. ist nicht paginiert und umfaßt nur die §§ 28-36, wobei der Inhalt des Paragraphen 28 nur teilweise überliefert wird. Der Anfang des Fragments ist datiert auf Sonnabend, den 27. Februar [18]86. 3. C 26 II: 251 Rücks.-261; 264, 262-262 Rücks.; C 27 1: 151-160 Rücks.; C 26 II: 343-354 Rucks.; 243-251 [oder 251 Rucks.] (Nachschrift D). Nachschrift von unbekannter Hand, unpaginiert, ohne Titel. Das Ms., das teilweise, allerdings ohne Jahresangabe, datiert ist, umfaßt die §§ 1-30 und enthält einige Lesespuren von D.s Hand. Aufgrund der großen Ähnlichkeit in Inhalt und Disposition zu den datierten Nachschriften des
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Wintersemesters 1885/86 ist diese Nachschrift mit großer Wahrscheinlichkeit auf dieses Semester zu datieren. 4. C 29 II: 212-214 (Nachschrift E). Fragment einer Nachschrift von unbekannter Hand, undatiert, ohne Titel. Das Ms. umfaßt nur den 51 und den Anfang von § 2; es weist wörtliche Übereinstimmung mit dem Haupttext auf. Um den Basistext zu ergänzen, wurden die §§31-35 aus der Nachschrift C und der §36 aus der Nachschrift Β dem Grundtext angefügt. Dieses Verfahren erschien gerechtfertigt, um ein möglichst vollständiges Bild von D.s Psychologie-Kollegien in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zu vermitteln, ohne dabei zu viele Wiederholungen in Kauf nehmen zu müssen. Ein vollständiger Abdruck auch des Kollegs vom Wintersemester 1885/86 hätte zu übergroßen Redundanzen geführt. Der gefundene Kompromiß verbindet ein Höchstmaß an Information mit einem unvermeidlichen Minimum an Überschneidung. Außerdem ließ sich diese Lösung durch das Ergebnis eines genauen Vergleichs der fraglichen Nachschriften begründen. So läßt die große inhaltliche Nähe der Nachschriften aus dem Wintersemester 1885/86 zum Basistext vermuten, daß die in Frage stehenden Schlußparagraphen 31-36 in der Fassung der zeitlich späteren Vorlesungen sich in ihrer Substanz wohl nicht erheblich von denjenigen der Vorlesung aus dem Wintersemester 1885/86 unterschieden haben. Aufschlußreiche Abweichungen der anderen Nachschriften vom Basistext wurden in den Anmerkungen dokumentiert. Ergänzend abgedruckt wird eine Disposition von Georg Stamper (C 26 II: 167) zu einer nicht mehr vorhandenen Nachschrift einer Psychologie-Vorlesung. Diese undatierte, dreiseitige Disposition, die wir vollständig mitteilen, ist die umfassendste Übersicht über D.s Psychologie-Kolleg der späten achtziger Jahre und vermittelt dadurch ein zuverlässiges Bild der Gesamtanlage der Vorlesung: Psychologie als Erfahrungswissenschaft Einleitung § 1. Die Aufgabe der Psychologie und ihre Stellung als Erfahrungswissenschaft §2. Von den Mitteln, die Tatsachen des Bewußtseins aufzufassen §3. Die Psychologie kann nicht auf Metaphysik begründet werden §4.
§ 5. §6.
I. Abschnitt: Die Gliederung der psychischen Zustände Der Vorgang, in welchem aus den einzelnen Erfahrungen die allgemeinen Beziehungen für Arten und Gattungen psychischer Zustände entstehen, und die Methode, auf dieser Grundlage eine wissenschaftliche Systematik zu bilden Die bisherigen Versuche einer Klassifikation psychischer Tatsachen und die Lehre von den Seelenvermögen Auflösung des Problems: die Gliederung des Seelenlebens II. Abschnitt: Die Elemente des Seelenlebens und die zwischen ihnen stattfindenden einfachen Prozesse
I. Kapitel: Elemente des Seelenlebens (Einfache Vorgänge) 1.) Einfache Empfindungen § 7. Wahrnehmung, Vorstellung, Empfindung § 8. Die Elemente unserer äußeren Wahrnehmung sind die einfachen Empfindungen § 9. Der Vorgang, in welchem aus dem Reiz die einfache Empfindung entsteht § 10. Beziehung zwischen den Reizklassen und den Empfindungsqualitäten. Johannes Müllers Gesetz von den spezifischen Sinnesenergien §11. Die Mannigfaltigkeit der einfachen Empfindungen in bezug auf ihre Modalität und Qualität § 12. Die Stärke der Empfindungen und deren Verhältnis zur Stärke der Reize § 13. Die Elemente unserer Raumvorstellung §14. Wahrnehmen und Vorstellen 2.) Die Zustände des Gefühlslebens
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§15. Die Analysis des Gefühlslebens in Einzelzustände § 16. Die Analysis von Trieb, Begehren und Wille II. Kapitel: Die elementaren Prozesse des Seelenlebens § 17. Die Struktur des Seelenlebens § 18—20. Grade und Weisen der Bewußtseinszustände §21. Die Enge des Bewußtseins §22. Beziehung des Problems von der Enge des Bewußtseins auf den Vorgang der Aufmerksamkeit §23. Die quantitativen Untersuchungen des Umfangs der Aufmerksamkeit und die Bestimmung der Apperzeptionszeit; überhaupt die Messung der Zeit, welche psychische Vorgänge in Anspruch nehmen § 24. Der so entstehende Zusammenhang des Seelenlebens und Erklärung der Tatsachen von Verdrängung einer Vorstellung aus dem Bewußtsein und Wettstreit von Vorstellungen aus diesem Zusammenhange §25-26. Die Einheit des Bewußtseins §27. Zweiter Grundvorgang: die Assoziation und ihre Gesetze. Erklärung der zusammengesetzten psychischen Tatsache des Gedächtnisses I. Reproduktion und Assoziation I. Das Gedächtnis III. Abschnitt: Das Zusammenwirken der elementaren Prozesse des Seelenlebens und der so entstehende Zusammenhang desselben nach seinen Haupterscheinungen §28. Zusammenwirken der elementaren Prozesse unter den Bedingungen der äußeren und inneren Wirklichkeit §29. Das Selbstbewußtsein §30. Entstehung der Objekte und der Außenwelt §31. Unsere Raumvorstellung § 32. Empiristische Raumtheorie §33. Die nativistische Theorie § 34. Lokalisation der Empfindungen und Lokalzeichen §35. Das Einzelding, Eigenschaft, Kraft, Tun und Leiden §36. Das diskursive Denken und seine Unterlage in der Sprache §37. Die Erkenntnis §38. Die Mannigfaltigkeit der Gefühle § 39. Die Gesetze des Gefühlslebens §40. Die Einbildungskraft §41. Der Wille und seine Freiheit 410 Die Nachschrift D beginnt mit den Thesen: Die Erfahrung - die ausschließliche Quelle der Erkenntnis. Die vornehmste Anwendung der Psychologie ist die auf Pädagogik. Diese nichts als angewandte Psychologie. 4,1 Zusatz in der Nachschrift B: inneren. 412 Fortsetzung in der Nachschrift B: Fechner hat geglaubt, Gesetze aufgefunden zu haben zwischen den Beziehungen des Körpers und des Seelenlebens. Das Buch, das er darüber geschrieben hat, heißt Psychophysik und umfaßt zwei Bände. Die moderne Psychologie begann erst da, als die Physiologie schon eine gewisse Reife erlangt hatte. Da die moderne Psychologie noch ziemlich unreif ist, so kann sich die Wissenschaft mit den Erscheinungen der Gesellschaft noch nicht befassen, da dieselben auf der Psychologie beruhen. Leibniz hat Seele und Körper mit zwei gleichgehenden Uhren verglichen. Die Neueren sagen: es sei eine Uhr mit zwei Zifferblättern, einem äußeren und einem inneren. Da wir ein Teil der Gesellschaft [sind], so verstehen wir die Gesellschaft. Die Natur können wir nicht verstehen. Denn diese ist uns nur durch äußere Wahrnehmung erkennbar, wir können das Seelenleben derselben daher nicht kennen. -
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In der Nachschrift B: in. In der Nachschrift D: Geistiges. 415 Fortführung in der Nachschrift D: Die Gleichförmigkeit derselben studieren und hierauf Theorie gründen. 416 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: konstruiert. 417 In der Nachschrift B: elementarsten. 4,8 In der Nachschrift B: Grundlage. 419 Fortführung in der Nachschrift D: . . . , wenn sie den besonderen Zustand dieses Individuums oder als Wissenschaft die Gleichförmigkeiten des psychischen Lebens, die Gesetze desselben zum Gegenstand haben. 420 Fortführung in der Nachschrift D: . . . und daß in diesen nur ein Bewußtsein und dadurch für uns Dasein dieser Zustände liegt. Wäre dieses nicht, dann wüßten wir von psychischen Tatsachen nichts. 421 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: den Elementen. 422 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: absolute. 423 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: Eine Erscheinung. 424 Korrigiert aufgrund der Nachschrift D. In der Nachschrift Β findet sich die Formulierung: von Erinnerungsbildern psychischer Zustände. 425 In der Nachschrift B: verwandter innerer. 426 Fortführung in der Nachschrift D: In diesen Schluß geht zwar die nur phänomenale Tatsächlichkeit körperlicher Vorgänge ein, aber diese hat hier nur den Wert einer die Feststellung des inneren Zustandes vermittelnden Zeichens. 427 Fortführung in der Nachschrift D: In den Selbstvorstellungen findet dies so gut statt als in den Berichten über dritte Personen. 428 In der Nachschrift D findet sich eine Variante: Das Studium der wirklichen Lebenszustände bezieht sich aber immer nur vermittelst der inneren Erfahrung auf die psychischen Zustände, deren wir uns zu erinnern vermögen. Diese sind aber das verwickelte Produkt einer voraufgegangenen Entwicklung des Kindes. Die Hilfsmittel, diese Grenze zu überschreiten und die psychischen Zustände wirklich zu erklären, liegen in der Ergänzung der psychologischen Erfahrung an normalen und erwachsenen Personen, durch die an neugeborenen Kindern, ([Α.] Kußmaul, Untersuchungen über das Seelenleben des neugebornen Menschen [, Leipzig] 1859. [O.] Soltmann, Experimentelle Studien über die Functionen des Grosshirns [der Neugeborenen, in: Jahrbuch für Kinderheilkunde und physische Erziehung N. F. 9 (1876), S. 106-148], 2) an Tieren, 3) an den Naturvölkern (Waitz, Anthropologie der Naturvölker. 1859. [Ε. B.] Tylor, [Die] Anfänge der Cultur [. Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Kunst und Sitte. Unter Mitwirkung des Verfassers in's Deutsche übertragen von J. W. Spengel und F. Poske, 2 Bände, Leipzig] 1873), 4) an Personen, die von der Norm abweichen, Blindgeborenen, Taubstummen. So wird es möglich, das Wirken einfacher Elemente aufzufassen und hinter die persönliche Erinnerung zurückzukehren. 429 In der Nachschrift B: Gefüge. 430 In der Nachschrift B: ein Exempel. 431 Zusatz in der Nachschrift B: des Seelenlebens. 432 In der Nachschrift B: die Annahme einer. 433 In der Nachschrift B: (Die tote Materie). 434 In der Nachschrift B: die Mittel einer mechanischen Erklärung. 435 In der Nachschrift B: Die Begründung der Mechanik in ihrer Anwendung auf die Astronomie zerstörte den Beweis für dieses metaphysische System aus der Regelmäßigkeit und Harmonie des Laufs der Gestirne. - Eine andere Darstellung findet sich in der Nachschrift D: So herrschte ein teleologisch-theistisch-metaphysisches System fast bis ins 17. Jahrhundert. Die Begründung der Mechanik und ihre Anwendung auf die Astronomie zerstörte den Beweis aus der Regelmäßigkeit und Harmonie des Laufs der Gestirne. 436 In der Nachschrift B: Vorgänge. 437 Fortführung in der Nachschrift D: So [wurde] eine Zersplitterung der Metaphysik in eine Mehrzahl unbeweisbarer Weltansichten herbeigeführt. 413 414
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Zusatz in der Nachschrift B: der Wissenschaften. Fortführung in der Nachschrift D: . . . in diesen heute die wissenschaftliche Wahrheit. 440 Zusatz in der Nachschrift B: wie die der äußeren Natur. 441 Korrigierter Satz. 442 Aufgrund der Nachschriften Β und D geändert aus: Beziehungen. 443 Zusatz in der Nachschrift B: Allgemeinvorstellung der . . . . 444 Fortführung in der Nachschrift D: Aber das Einteilungsprinzip ist unzureichend. Es kann von dem Wahrnehmen ebensogut zu dem sinnlichen Gefühl als zu dem Denken führen. 445 Fortsetzung in der Nachschrift D: Es fragt sich, ob es in dem psychischen Zustande Unterscheidungen [?] gibt, welche weder auf umfassendere zurückgeführt noch auf mehr elementare begründet werden können, die doch zugleich unabhängig vom Wechsel der äußeren [?] Bedingungen sind; diese würden die oberste Klasse psychischer Tatsachen bilden. 446 Zusatz in der Nachschrift B: des Seelenlebens. 447 Fortsetzung in der Nachschrift D: Damit [ist] eine Zweiteilung gegeben. Aber er stellt zwischen Sinnlichkeit und vernünftigem Denken als Vermittlung die Vorstellung, zwischen Begehren und vernünftigem Wollen die θυμός, ein Eiferartiges, das die Begierde zähmt, sich selbst der Vernunft unterwirft. So entsteht die Dreiteilung in das έπιφυμητι,κόν, θυμοειδές, λογιστικόν. Erfahrungsbeweis Piatons daraus, daß die drei Teile in Widerstreit treten können. 4,8 Fortführung in der Nachschrift D: Die anderen sind den Menschen allein eigen, ihr Befund ist unabhängig vom Körper, sie bestehen nach dem Tode fort. 44 ' Fortführung in der Nachschrift D: 3) Diese Theorien werden während des ganzen Mittelalters festgehalten. 450 In der Nachschrift B: auch die höchsten Leistungen des Seelenlebens. 451 B. de Spinoza, Ethica Ordine Geometrico demonstrata, Pars III: De Origine et Natura Affectuum, Pars IV: De Servitute Humana, seu de Affectuum Viribus, Amsterdam 1677. 452 Zusatz in der Nachschrift B: des Seelenlebens. 453 Fortführung in der Nachschrift D: Im 18. Jahrhundert begann man, die Ableitungen aus metaphysischen Prinzipien durch die Erfahrung zu ersetzen. Doch behielt man die Hoffnung bei, die innere Gliederung des Seelenlebens zu entdecken. [Chr.] Wolff, Gedanken von Gott, Welt und Seele [Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, Halle 1720] leitete noch aus metaphysischen Prinzipien ab. 454 Fortsetzung in der Nachschrift D: Die Form von der Vermögenslehre entstand, die selbst in Kants System vorherrscht, in der Pädagogik, der Theologie, überall zugrunde gelegt wurde und noch heute einflußreich ist. Entstanden war die Vermögenslehre in der naturwüchsigen Welt. Diese stellte das Verwandte in Klassen zusammen, das Spezifische der Leistung innerhalb einer solchen Klasse bestimmte dazu, eine bestimmte spezifische Kraft unterzulegen. Eine solche soll im Gedächtnis Vorstellungen feststellen. Ausgebildet wurde diese Vermögenslehre in den metaphysischen Systemen. 455 Fortführung in der Nachschrift B:... sinnliches Gedächtnis, Einbildungskraft, Urteilsvermögen etc. 456 In der Nachschrift C findet sich eine andere, abweichende Fassung des jf 6: § 6. Vorstellen, Fühlen, Wollen als die drei Seiten des psychischen Lebens 1. Folgerungen aus dem Bisherigen. Das Streben, die innere Gliederung des Seelenlebens aufzufinden, erwies die Geschichte der Systematik des Seelenlebens als ein vergebliches. Aber wir können aus den Verschiedenheiten des Seelenlebens diejenigen Unterschiede herausnehmen, welche wir nicht aus dem Wechsel äußerer Reize oder der vorhandenen Grundlage früherer Zustände abzuleiten imstande sind. 2. Wir unterscheiden in dem Entwicklungszusammenhang des Seelenlebens primäre Unterschiede, welche schon im Neugeborenen auftreten und während der ganzen Entwicklung fortbestehen, von den Stufen der Entwicklung. 3. Als diese primären Unterschiede treten schon in der Sprache Denken, Fühlen und Wollen heraus. Hamilton und Lotze haben in Ubereinstimmung mit Mendelssohn und Tetens diesen Unterschied zurückgeführt auf [die] dreifache Fähigkeit der uns unbekannten Seele, auf äußere 439
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oder innere Reize zu reagieren. So hat Lotze das Vorstellen, Fühlen und Wollen als drei Vermögen der Seele betrachtet. Man kann ein vorstellendes Wesen denken, ohne daß in dieser Vorstellungsmaschine irgendwo aus Verhältnissen der intellektuellen Prozesse begreiflich würde, daß ein Gefühl entsteht. [Am Rand unleserliche Notiz D.i.] Man kann ein vorstellend fühlendes Wesen denken, ohne daß der Wechsel der Gefühle begreiflich machte, wie Antriebe aus ihm entspringen. Und zwar sind diese drei Reaktionsweisen des uns unbekannten Wesens der Seele in gleicher Weise primär. Das Schmerzgefühl hat keine Wahrnehmungen zur Unterlage, sondern tritt gleichzeitig mit demselben im sinnlichen Schmerz hervor. Der Nahrungs- oder Bewegungstrieb im Neugeborenen geht der Erfahrung der Lust vorher. Endlich treten Vorstellen, Fühlen und Wollen nicht infolge bestimmter Reize im Bewußtsein auf, vielmehr zeigt die Analyse der Natur des Bewußtseins in einem gegebenen Augenblick, daß in der Regel Vorstellen, Fühlen und Wollen in demselben zugleich wahrgenommen werden können. So entsteht die sehr wahrscheinliche Hypothese, daß der Lebensprozeß der Seele beständig die drei Seiten hat. Diese Hypothese befreit uns von der unwissenschaftlichen Vorstellung der Vermögenslehre, daß das Gefühl oder der Wille zeitweise pausieren, um alsdann wieder in Wirkung zu treten. Die Naturwissenschaft weiß nichts von Kräften, die sich so verhielten. Vorstellungen finden sich selbst in dem sinnlichen Gefühl; die qualitativen Bestimmtheiten (Brennen, Stechen), die Lokalisierung des Gefühls, die Orientierung des Körpers im Raum können in ihnen aufgefunden werden. Höhere Gefühlsvorgänge setzen überall Vorstellungen voraus. Alsdann ist in jedem Willensvorgang eine Objektvorstellung enthalten. So kann das Vorkommen des Vorstellens annähernd in allen psychischen Akten nachgewiesen werden. Wahrscheinlichkeit des Vorkommens von Gefühlen in jedem Status der Bewußtheit; terminologisch: der Ausdruck des Gefühls umfaßt Lust und Unlust, Billigung und Mißbilligung. Gefühle sind ein Bestandteil aller Wahrnehmungsakte. Zwar ist die Annahme von Wundt und anderen [?] nicht beweisbar, daß jeder Empfindung neben ihrer Qualität und Intensität ein Gefühlston zukomme, aber sie ist richtig in der Einschränkung auf die Zustände der Versenkung in eine Wahrnehmung. In der Assoziation der Vorstellung spielt dann das Gefühl eine wichtige Rolle. Unser Denken wird vom Gefühl des Gelingens und Mißlingens, der Unruhe usw. begleitet. Auch in allen Willenszuständen kommen Gefühle vor, da sie Motive des Strebens aus einem gegebenen Zustande in einen zu erreichenden sind. Ebenso ist Willenszustand beinahe in jedem Status unseres Bewußtseins nachweisbar. Triebe bilden die Grundlage unseres ganzen geistigen Lebens, es wird von ihnen in Bewegung gesetzt. Die Innervationsempfindung ist der Ausdruck eines Willensvorgangs, denn die Erfahrung der Anspornung, der Arbeit, der Energie tritt ebenso da, wo ich mich eines Namens zu erinnern strebe oder zu Entschlüssen gelangen will, auf, als wenn ich Bewegung ausführen will; demnach ist das ganze Spiel unserer willkürlichen Bewegung von Willenszuständen begleitet. Ferner sind sie als Aufmerksamkeit beim Auffassen eines Objektes in der Wahrnehmung gegenwärtig. Die Erfahrung eines Widerstandes seiner Tätigkeit ist ebenso ein Willenszustand als diese Tätigkeit selbst. Daher sind die Wahrnehmungsvorgänge von Willenszuständen begleitet, welche durch die Unverdrängbarkeit der Eindrücke und ihre Beziehung zu unserem Wohl und Wehe unterhalten werden. Besonders wichtig sind hier die Erfahrungen des Widerstandes, welche die tastende Hand, der schreitende Fuß finden, und die in geringer merklicher Weise auch in den Ruhelagen empfunden werden. Ferner begleiten Bewegungsgefühle in weitem Umfang den Lebensverlauf; sie enthalten Druckempfindung der Haut (vgl. Ataxie infolge von Störung der Hautempfindlichkeit). Sie enthalten spezifische Muskelempfindung (vgl. die Ausbreitung sensibler Nerven in den Muskeln), aber zugleich ist in ihnen ein Bewußtsein von Anspannung, Anstrengung, Arbeit enthalten, welches aus der zentralen Innervation herstammt (vgl. das fortdauernde Bewußtsein von Kraftanstrengungen bei den Paralyten). Nun ist dieses Bewußtsein von Anstrengung bei Bewegungen ganz gleich dem, welches die Mühe des Erringens oder das Streben, zum Entschluß zu kommen, begleitet. Sonach ist es als Willensäußerung anzusehen. Weiter ist das Ziel unserer Vorstellungen von Sehnsucht, Verlangen usw. vielfach bestimmt. Das Denken ist von einer Willenstätigkeit geleitet, haben doch Setzung und Aufhebung im Urteil eine Willensseite. Ferner ist in den Gefühlen entweder ein Bewußtsein der eigenen Energie oder eines Bestimmtwerdens von außen durchgängig
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wahrzunehmen. So wird beinahe in jedem Status des Seelenlebens ein Willenszustand angetroffen. Diese Untersuchung gibt den wissenschaftlichen genaueren Nachweis für das einseitig aufgefaßte A p e ^ u Schopenhauers von der zentralen Bedeutung des Willens für das Seelenleben. Dieser Zusammenhang drängt folgende Hypothese auf: Vorstellen, Fühlen und Wollen sind die drei Seiten des Lebensprozesses der Seele. In jedem Moment des erfüllten Bewußtseins sind sie in einer bestimmten Strukturform verbunden. Diese Hypothese befreit von der bedenklichen Vorstellung zeitweise pausierender, dann wieder tätiger Vermögen, und sie vergewaltigt nicht, wie die Herbarts, den Erfahrungsgedanken, denn schon die Tatsache des körperlichen Schmerzes, des eine einfache Wahrnehmung begleitenden ästhetischen Gefühls widerlegt Herbart. Vorstellen, Fühlen und Wollen sind also 1) für unsere Erklärung letzte Tatsachen, die wir nicht auseinander abzuleiten vermögen. - 2) Sie treten im Neugeborenen gleichursprünglich nebeneinander auf. - 3) Sie werden nicht durch bestimmte Reize in uns hervorgerufen, sind vielmehr im Wechsel der Reize beständig fortdauernde Äußerungsweisen der uns unbekannten Natur unserer Seele. Die erfüllten Lebensmomente unterscheiden sich voneinander, je nachdem eine dieser drei Seelenäußerungen vorherrscht. Diese ordnet sich dem anderen als Bestandteil unter. So ist dem Willenszustand das Objektbild und der als Motor wirkende Gefühlszustand eingeordnet. Oder diese anderen Äußerungsweisen sind gleichsam an der Peripherie unseres Bewußtseins, so die räumliche Orientierung während eines körperlichen Schmerzzustandes. So entstehen drei Totalzustände, und auch sie werden als Vorstellen, Fühlen und Wollen je nach dem Vorherrschen einer der drei Seiten des Seelenlebens bezeichnet. Von diesem Unterschied heben sich nun die ab, welche die ältere Klassifikation als niedere und höhere Stufen begrenzt. Diese letzteren Unterschiede sind darin begründet, daß im Seelenleben die einfacheren Bestandteile und Beziehungen die Unterlage für mehr vermittelte sind. Und, wie in der organischen Natur, ist im Seelenleben ein mehr zusammengesetzter Zustand höherer Leistungen fähig als ein mehr elementarer. Hierin liegt die bleibende Wahrheit der rohen Einteilung in niedere und höhere Vermögen; aus demselben Grund bildet nun das Reich der Vorstellungen, der Gefühle und des Wollens eine Entwicklung. Die Psychologie unternimmt zunächst, die Mannigfaltigkeit und den Wechsel der Vorstellungen zu analysieren. Hierbei nimmt unser rein empirischer Standpunkt die eben dargestellten unableitbaren Unterschiede im Seelenleben als gegeben hin, und er berücksichtigt bei der nun folgenden Erklärung der Erscheinungen der Intelligenz überall den lebendigen Zusammenhang, in welchem auch diese mit dem ganzen Menschen und der Totalität seiner Kräfte stehen. Dies unterscheidet zunächst die von uns versuchte empirische Psychologie von den bisherigen Darstellungen. 457 In der Nachschrift Β gibt es eine Variante zu dieser Textstelle: Ich kann das vorstellende, fühlende Wesen denken, ohne daß in ihm aus dem Wechsel der Gefühle Antriebe entstünden. 458 In der Nachschrift B: Elementen. 459 In der Nachschrift B: in einer bestimmten. 460 Korrigiert aufgrund der Nachschrift B. 461 Die Nachschrift D enthält die folgende, andere Fassung des § 7: § 7. Die Grundlage aller Leistungen unserer Vorstellung sind unsere Wahrnehmungen, sie zerfallen in äußere und innere 1. Vorstellen (im weiteren Sinne des Wortes) umfaßt das Wahrnehmen, welches Gegenwart des Objektes einschließt, wie das Vorstellen, das Abwesenheit desselben voraussetzt, (Vorstellen im engeren Sinne des Wortes). Ein Vorstellen im letzteren Verstände ist auch das Denken. In all diesen verschiedenen Zuständen treten Inhalte und Beziehungen derselben zueinander im Bewußtsein auf. Wir trennen innerhalb der Wahrnehmung äußere und innere. Wie der Ausdruck αϊσΐίησις zunächst äußere Wahrnehmung bedeutet, so wurde auch der Ausdruck Wahrnehmung und der entsprechende der Erfahrung zunächst von der äußeren oder sinnlichen verstanden. Äußere Wahrnehmung kann nach ihren Bedingungen als ein von der Erregung der Sinnesnerven abhängiger Seelenzustand definiert werden. Nach ihren Eigenschaften wird sie als Auftreten einer Beziehung von Sinnesinhalten und der Gegenwart des Objektes bezeichnet werden können. Die innere Wahrnehmung ist das Innewerden eines seelischen Tatbestandes. Dieses findet ohne Vermittlung
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statt. Die innere Wahrnehmung ist dadurch für mich da, daß ein Seelenzustand in meinem Bewußtsein gegenwärtig ist. Auch die innere Wahrnehmung schließt also Gegenwart ihres Gegenstandes ein. Nach dem Aufhören der Wahrnehmung bleibt ein ihr nahe verwandter Seelenzustand zurück, in welchem derselbe Inhalt in anderer Weise für das Bewußtsein da ist: die Vorstellung. Aus den Beziehungen dieser Vorstellungen zueinander im Bewußtsein entstehen Erinnerung, Phantasie und Denken etc. 2. In allen diesen seelischen Prozessen wechseln nur die Beziehungen zwischen den in der Wahrnehmung gegebenen Inhalten. Dagegen werden neue Inhalte in denselben nicht hervorgebracht. Wir beginnen mit Analysis der äußeren Wahrnehmung. 462 In der Nachschrift B: die einfachen Empfindungen. - Vgl. ebenfalls die Nachschrift D. 463 Zusatz in der Nachschrift B: unmittelbar. 464 In der Nachschrift B: diesen Schein. 465 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: psychischer. 466 Aufgrund der Nachschrift D geändert aus: psychologischer. 467 In der Nachschrift Β: des Psychologen. 468 In der Nachschrift B: äußere Reize. 469 In der Nachschrift B: hypnotische Zustände. 470 Fortführung in der Nachschrift B: . . . den Inhalt der Empfindungen als Eigenschaft der äußeren Gegenstände betrachtet. 471 Zusatz in der Nachschrift B: als ihren Ursachen. 472 Fortsetzung in der Nachschrift D: Freilich besteht ein Verhältnis, welches dieser regelmäßigen Beziehung der Empfindung auf äußere Reize gegenüber eine Ausnahme zu bilden scheint. Von dem äußeren Reize unterscheiden wir den inneren, d. h. welcher innerhalb unseres Körpers auf den in demselben eingebetteten Nerven wirkt, und so eine Empfindung hervorruft. Die eine Klasse dieser inneren Reize gehört Organen an, welche solchen inneren Reizen ausschließlich zugänglich sind, und sie rufen nur in pathologischem Zustande stärkere und genauere mit Gefühlen verbundene Empfindungen hervor; die zweite Klasse wirkt auf diese sensiblen Nerven, welche in der Regel von äußeren Reizen erregt werden. Diese inneren Reize, z . B . Veränderung in der Blutzirkulation, bringen Empfindungen hervor (ζ. B. Lichtblitze, wallenden Nebel, Geräusche), wie sie sonst von äußeren Reizen angeregt werden. Da nun der Regel nach diese Empfindungen Zeichen der Anwesenheit äußerer Reize sind, so können infolge von inneren Reizen Sinnestäuschungen entstehen, d. h., die Empfindung wird auf einen äußeren Vorgang bezogen, während sie durch einen inneren Reiz bedingt ist. 473 In der Nachschrift Β findet sich eine andere Überschrift dieses Paragraphen: § 10. Die Beziehung zwischen den Reizklassen und den Empfindungsqualitäten. - In der Nachschrift D lautet der Anfang der Überschrift dieses Paragraphen: § 10. Die Beziehung zwischen dem Wechsel der Reize und dem der Modalität der Empfindung. 474 Die Nachschrift D enthält die Einfügung: ..., welche durch äußere und innere Reize hervorgerufen werden. 475 Zusatz in der Nachschrift B: (grün, bitter). 47b In der Nachschrift B: so kann das „bitter" nicht mit dem „grün" verglichen werden. 477 Zusatz in der Nachschrift B: und Weber. 478 In der Nachschrift D findet sich dazu eine Variante: Die Modalitäten der Empfindung sind einerseits Folgen des Reizes, andererseits die des Sinnesnerven, den dieser trifft. Nun eignet allen Wirkungen, die an der organisierten Materie hervortreten, daß die Eigenschaften dieser überwiegen in dem Effekt, nicht aber die der Reize, und zwar eignen dem sensiblen Nerven unterschiedene spezifische Energien (so spricht er von Sehsinnsubstanz); er dachte sich ferner diese Funktionen unabhängig von dem peripherischen Apparat dem Gehirn zukommend. Die physiologische Ansicht wirkt insbesondere von dem Standpunkt der Entwicklungslehre aus und steht mit den Ergebnissen der gegenwärtigen Untersuchung über das Gehirn nicht mehr völlig im Einklang. Psychologisch ist soviel an dieser Lehre richtig: 1) Soweit ein Sinnesnerv überhaupt auf Reize reagiert, geschieht dies innerhalb der ihm eigenen Modalität. 2) Und zwar ist die
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Verschiedenheit dieser Modalität zunächst der Ausdruck von Eigenschaften unseres psychophysischen Wesens, nicht aber von Eigenschaften der äußeren Objekte. 3) Auch können wir nicht behaupten, daß eine durchgreifende Verschiedenheit der Objekte der Außenwelt diesem Unterschied der Modalitäten entspreche, der für unsere Sinnesauffassung grundlegend ist, ja die von Locke schon erwogene, von Voltaire scherzhaft, dagegen von Lessing in seiner Erziehung des Menschengeschlechtes [, Berlin 1780] sehr ernsthaft beanspruchte [?] Möglichkeit mehrerer Sinne für niederes organisches Wesen ist nicht ausgeschlossen. Jedoch trennt Johannes Müller den spezifischen Reiz zu sehr von der Modalität der Empfindung. Seine Lehre [ist] in dieser Rücksicht eine physiologisch gewandte Fortbildung der Lehre Kants von den angeborenen Funktionen der Raumauffassung, der Zeitauffassung des Verstandes. 479 Fortführung in der Nachschrift B: Die Entwicklungslehre fordert, daß . . . . 480 In der Nachschrift B: ungetrennt verschmolzen. 481 In der Nachschrift B: ineinander klingen. 482 In der Nachschrift B: Verdauungs- und Sekretionsvorgänge. 483 In der Nachschrift D: deutlichere Bestimmung der Lokalisation. 484 In der Nachschrift B: mit dem. 485 Zusatz in der Nachschrift B: der Bewegungswahrnehmung. 486 Variante in der Nachschrift D: Aber ein erster Bestandteil der Bewegungswahrnehmung bildet die Druckempfindung der Haut. Dies kann durch den Zustand der Ataxien bewiesen werden, in welchem die Störungen der Hautempfindlichkeit eine Unsicherheit in der Ausführung der Bewegungen herbeiführen. 487 C. Sachs, Physiologische und anatomische Untersuchungen über die sensiblen Nerven der Muskeln, in: Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin, Jahrgang 1874, S. 175-195. 488 Zusatz in der Nachschrift B: ihrer Beschaffenheit nach. 489 Zusatz in der Nachschrift D: oder eine Depression abschütteln wollen. 4.0 Zusatz in der Nachschrift B: als die chemischen Sinne. 4.1 G. E. Lessing, Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie. Mit beyläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte, 1. Theil, Berlin 1766. 4.2 Von D. verändert aus: liegen. 493 Im Text Hinweis auf: [H. von] Helmholtz, [Die Lehre von den] Tonempfindungen, [als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik,] 4. [umgearbeitete Ausgabe, Braunschweig] 1877. 494 Zusatz in der Nachschrift B: oder Stärke. 495 Fortführung in der Nachschrift D: Wir können auch nicht das Verhältnis dieser Intensitäten zueinander messen. 496 Ε.H. Weber, Der Tastsinn und das Gemeingefühl, a.a.O. 497 Fortführung in der Nachschrift D: Hieraus leitete Fechner weiter ab: Die Merklichkeit einer Empfindung wächst proportional dem Logarithmus des Reizes. 498 Titel korrigiert. 4,9 Eine Variante zu dieser Textstelle findet sich in der Nachschrift D: Fechners Verteidigung gegen seine Hauptgegner, besonders El. Müller, in der angegebenen Revision der Hauptpunkte der Psychophysik. Die Versuche ergaben so erhebliche Abweichungen, daß die Frage entsteht, ob wirklich auf allen Sinnesgebieten eine solche mathematisch genaue Gleichförmigkeit zugrunde liegt und die Abweichungen nur aus den mitwirkenden Faktoren herstammen. 500 Fortführung in der Nachschrift D: Daher der Ausdruck „psychophysisches Grundgesetz" und die Begeisterung, in welcher Fechner hier den Einblick in die Beziehungen zwischen Körper und Geist eröffnet glaubte. 501 Fortführung in der Nachschrift D: Die Vorstellung des Raumes enthält Extension nebeneinander, welche sich in drei Dimensionen kontinuierlich erstreckt. In diesem Räume verhalten sich alle einzelnen Räume als Teile zum Ganzen. Daher bezeichnete ihn Kant mit Recht als eine Anschauung. 502 Die Nachschrift D gibt eine andere Darstellung: Die natürliche Auffassung geht nun davon
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aus, daß dieser Raum unmittelbar in unserem Bewußtsein auftritt; so nimmt sie an, dieser Raum bestünde außer uns und träte einfach und gleichsam ohne Umstände von draußen durch das Auge in das Bewußtsein. Joh. Müller bildete eine dieser Auffassung nahestehende Vorstellungsweise aus, nach welcher die Sehsinnsubstanz sich selbst folgerecht durch ihre Erstreckung im Raum empfände. Diese Auffassungen können als unhaltbar erwiesen werden: 1. Durch eine Anzahl von Sinnestäuschungen, welche die Mitbenutzung von Schlüssen für die Bestimmung räumlicher Verhältnisse beweisen. 2. Durch die Erfahrung an dem neugeborenen Kinde und deutlicher noch an dem operierten Blindgeborenen; dieser bedarf längerer Zeit, um die Gestalt der Objekte mit einiger Klarheit aufzufassen. 3. Und zwar entsteht der Raum, wo Empfindungen zueinander in Beziehung treten. Die Grenze der Empfindung und Vorstellung ist zugleich die des Raumes. Im Unterschied von der bloßen Lokalisation der Empfindung bildet eine Raumanschauung (Extension) nur die Tast- und Gesichtsempfindung aus, unterstützt durch in der Bewegungswahrnehmung enthaltene Muskelund Innervationsempfindungen. 4. Ist nun der Raum erworben, so entsteht die Frage: Welche sind die ursprünglichen Elemente, aus denen er sich bildet? An den vollständigen Nativismus Kants und Joh. Müllers schließt sich ein eingeschränkter Nativismus. Der Empirismus tritt demselben gegenüber.- Die Nachschrift D fährt fort mit den §§ 14, Empiristische Raumtheorie, und Ii: Nativistische Raumtheorie. Diese entsprechen wörtlich den §§30 und 31 der Nachschrift C. 503 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: Seins. 504 Nicht entzifferbare Einfügung D. s. 505 Eine Variante zu dieser Textstelle findet sich in der Nachschrift D: 1) Wenn der Reiz aufhört, kann im Sinnesorgan die Erregung fortdauern. Dann geht die Wahrnehmung in [ein] Nachbild über, welches von der Vorstellung zu sondern ist. Endet auch diese Erregung, so wird aus der Wahrnehmung die Vorstellung; und zwar steht die unmittelbar an die Wahrnehmung sich anschließende Vorstellung auch der Beschaffenheit nach jener am nächsten. 506 Diese Überschrift wurde von D. in der Nachschrift Β geändert aus: Die Analysis des Gefühlslebens in Einzelzuständen. D.s Korrektur ist in die Nachschrift D übernommen: II. Elemente des Gefühlslebens. § 17. Zerlegung der Gefühlszustände in Elemente. 507 Eine Variante zu den beiden ersten Abschnitten dieses Paragraphen findet sich in der Nachschrift D: 1. Die im Bewußtsein unmittelbar auftretenden Gefühle sind Produkte aus einfacheren Bestandteilen, die wir als Elemente der Gefühlszustände bezeichnen, [und] wie Wahrnehmungen aus Empfindungen zusammengesetzt sind. 2. Die Aufsuchung dieser Elemente ist nur in engem Umfang möglich. Denn sie ist hier nicht durch die Kenntnis der physiologischen Unterlage unterstützt, wenn auch eine solche angenommen werden muß. Beachtenswerte Erörterungen in [Th. H.] Meynert, Psychiatrie [. Klinik der Erkrankungen des Vorderhirns, begründet auf dessen Bau, Leistungen und Ernährung, Bandl, Wien] 1884, S. 171 ff., suchen sie in den Zuständen des Gefäßsystems. Auch das Hilfsmittel des Experiments gestattete bisher nur die Gefühle, welche die sinnlichen Empfindungen begleiten, zu isolieren. Cf. Goethes Farbenlehre über die Gefühlsfärbung der einfachen Gesichtsempfindungen. So konnte der Gefühlston einfacher Empfindungen als Elemente aufgezeigt werden. Doch darf hieraus nicht mit Wundt ein jeder Empfindung zukommender Gefühlston gefolgert werden. 508 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: des Gefühlszustandes. 509 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: des Gefühlszustandes. 5,0 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: der Wahrnehmung und Vorstellung. 511 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: Stimmung. 5.2 Aufgrund der Nachschrift D geändert aus: Leidenschaft. 5.3 Alternative Kapitel- und Paragraphenüberschriften finden sich in der Nachschrift D: 2. Kapitel: Psychologie §18. Die Elemente des Schmerzes. 514 Fortführung in der Nachschrift D: Aber der Akt von Begehren oder Willen hat immer Wahrnehmung, Vorstellung und einen mit ihnen verbundenen Gefühlszustand zur Voraussetzung. Eine einzige Ausnahme wird von dem Trieb gebildet. In diesem ersetzt ein physiologischer Zustand die Wahrnehmung.
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Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: Spannung. Eine Variante der Fortsetzung findet sich in der Nachschrift D: 2. So wird die immer vorhandene Regsamkeit des Willens, welche das Mächtigste im Seelenleben ist, in bestimmte Tätigkeit gesetzt. Wir kennen sie nur in dem sehr komplexen Zustand des entwickelten Seelenlebens, in welchem sie von der Einheit unseres Ichs entspringt und eine Reaktion desselben auf die Mannigfaltigkeit der Reize ist. Daher können wir nicht in demselben Sinne Elemente des Willens erkennen, in welchem wir Empfindungen als Elemente des Vorstellens feststellen. Auch sind die Willenszustände untrennbar mit denen des Gefühls verbunden. Sie haben Wahrnehmung zur Voraussetzung, und diese mischen sie mit dem Wollen. Noch weniger als bei dem Gefühl unterstützt uns die Kenntnis der physiologischen Unterlage und das Experiment, wenn wir eben komplexe Willenszustände in seine Elemente zerlegen wollen. 3. Wir unterscheiden zunächst Zustände der Willenshandlung von denen der Willensbestimmtheit. Dann treten wie die Grundlagen von Lust und Unlust, so Begehren und Abwendung einander gegenüber. Intensitätsgrade lassen sich unterscheiden; alsdann hängen die Formen des Willens von der Erregbarkeit zu Akten, von deren Dauer und Intensität ab. 517 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: die Beziehung. 518 Fortführung in der Nachschrift D: An diese schließt sich das Gefühlsleben an. 519 Zusatz in der Nachschrift B: der Außenwelt. 520 Aufgrund der Nachschriften Β und D geändert aus: Weise. 521 Eine Textvariante findet sich in derNachschrift D: Wir unterscheiden zunächst das Gewahrwerden von dem Abbilden des Gewahrgewordenen in der Vorstellung. Der Unterschied der Wahrnehmung von der Vorstellung und dem Denken kann nur erlebt, nicht in Begriffen ausgedrückt werden. 522 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: Vorstellungen. 523 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: Beziehung. 524 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: Beziehung. 525 Fortsetzung in der Nachschrift D: . . . , daß eine Disposition in unserem Seelenleben fortbestehe - als psychische Annahme, ohne doch bewußt zu sein. Der Ausdruck „unbewußte Vorstellung" ist ungeschickt. Die Annahme von Dispositionen als psychische Tatsachen enthält keinen Widerspruch in sich. Endlich kann angenommen werden, daß solche psychischen Dispositionen zugleich mit physiologischen Zuständen verbunden und von ihnen getragen seien. Zwischen diesen möglichen Annahmen kann nun vorläufig aus den uns bekannten Tatsachen der Reproduktion und des Gedächtnisses eine Entscheidung nicht getroffen werden. 526 Fortführung in der Nachschrift D: . . . welche auf die Bewußtseinszustände der Vorstellung nicht wirkt. Empfindungen und Vorstellungen, die nicht klar bewußt sind, wirken auf den Verlauf des bewußten Seelenlebens. 527 Aufgrund der Nachschrift Β geändert aus: Vorstellung. 528 Die Nachschrift Β bricht an dieser Stelle ab; das Ms. enthält nur noch eine Mitschrift des Paragraphen 36. 529 Eine andere Darstellung dieses Passus findet sich in der Nachschrift D: Diese Tatsache kann erklärt werden 1. durch die Fortdauer der nicht klar bewußten Vorstellungen in physiologischen Erregungsvorgängen oder 2. durch die Annahme unbewußter psychischer Vorgänge oder 3. durch die Benutzung der Tatsachen von Wahrnehmungen, Vorstellungen, Willensakten geringeren Grades von Bewußtsein. 530 Die Nachschrift D enthält eine andere Fassung der Fortsetzung dieses Paragraphen: N u n kann die physiologische Deutung ausgeschlossen werden. Die Tatsachen der Reproduktion und des Gedächtnisses können vielleicht durch die Annahme der Fortdauer physiologischer Erregungszustände erklärt werden. Aber die hier vorliegende Tatsache wird von dieser Annahme aus nicht zureichend erklärt. Wenn wir die Schläge einer Uhr, denen wir keine Aufmerksamkeit widmeten, nachträglich beachten und dann noch zusammenzählen können, dann kann diese Tatsache aus bloß physiologischen Wirkungen nicht abgeleitet werden, denn wie sollte die Wiederholung genau desselben Reizvorganges getrennte Folgen im Nerven [Am Rand unleserliche Notiz von D.s Hand.] hervorrufen? Ebenso ist schwer vorstellbar, wie unsere Aufmerksamkeit sich einem Reiz und seinen Folgen soll zuwenden können, aufgrund des Interesses, welches er hat, 516
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wenn nicht eine Wahrnehmung entstanden ist, die Interesse auf sich zieht und so die Aufmerksamkeit zur Folge hat. So zeigt sich, daß unser deutlich bewußter Vorstellungsverlauf überall bedingt ist durch Vorstellungen, die sich außerhalb desselben befinden. O b diese gering merklich sind oder unbewußt, das kann nicht durch direkte Beobachtungen entschieden werden. Unsere Erinnerung zeigt uns vor allem Fälle der ersten Klasse. Aber die Geringmerklichkeit kann sich dem Nullpunkt des Bewußtseins nähern, alsdann sind solche kleinsten Vorstellungen, wie Leibniz sie nannte, auch nicht mehr reproduzierbar. Hier schwindet der Unterschied zwischen diesen zwei möglichen Annahmen, sowohl für die Beobachtung als für den Schluß aus den Tatsachen. Es zeigt sich aber auch, daß sie für die Erklärung dasselbe leisten. Der Umfang, in welchem solche gering merklichen Vorstellungen auf den Verlauf der deutlich und mit Interesse aufgefaßten Wahrnehmungen und Vorstellungen einwirken, entzieht sich der Abschätzung. Denn keine direkte Beobachtung kann den Gesamtzustand des Bewußtseins in einem gegebenen Augenblick auffassen. Vielmehr schwindet vor dem Blick des Beobachters sein Gegenstand, und ihm bleibt nichts als die leere Richtung des Beobachtens selbst übrig. Daher ist die Erinnerung an den eben abgelaufenen Zustand das einzige Mittel, von diesem Zustande ein Wissen zu haben. Nun ist aber die Fähigkeit der Erinnerung durch den Grad des Interesses bedingt, das einem Inhalte im Bewußtsein zukam; Eindrücke, welche ohne merklicheres Interesse auftreten, erinnern wir uns schon im nächsten Augenblick nicht mehr. Daher enthält die Erinnerung des eben vergangenen Augenblicks schon nicht mehr alle Vorstellungen, Gefühle und Strebungen, die denselben erfüllt haben. So können viel mehr Vorstellungen in diesem verflossenen Augenblick im Bewußtsein gewesen sein, als die, deren wir uns gegenwärtig noch erinnern. 531 Nicht zu entziffernder Einschub D.s. 532 Nicht zu entziffernder Einschub D.s. 533 Nicht zu entziffernder Einschub D.s. 534 Geändert aus: Vorstellungstätigkeit. 535 Fortführung in der Nachschrift D: Die persönliche Differenz erweist allerdings: Wenn die Aufmerksamkeit einem Gehörs- und einem Gesichtseindruck sich gleichzeitig zuwenden möchte, so können gleichzeitig eintretende Reize im Gebiet des Gesichtssinnes und in dem des Gehörsinnes doch niemals zugleich aufgefaßt werden. 536 Im Text Hinweis auf: Philosophische Studien, II, III, S. 379ff. - Gemeint sind offensichtlich: W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, 2., völlig umgearbeitete Aufl., 2. Band, Leipzig 1880, S.214f, und G. Dietze, Untersuchungen über den Umfang des Bewußtseins bei regelmäßig aufeinanderfolgenden Schalleindrücken, in: Philosophische Studien II (1885), S. 362-393. 537 Anmerkung D.s: Bis hierher vor Weihnachten [18]88 diktiert, ein Vortrag angefangen, doch nach [...]. Rest unleserlich. - In der Nachschrift D findet sich eine andere Darstellung der angeführten Versuche: Der Versuch von Wundt, die Zahl der Vorstellungen zu bestimmen, welche gleichzeitig im Bewußtsein sein können, geht von Tonvorstellungen aus. Er wählt als sukzessive Sinnesreize Pendelschläge. Zunächst zeigt sich nun, daß es ein gewisses [Maß] von Geschwindigkeit ihrer Abfolge gibt, das ihrer Auffassung, Erinnerung und Verbindung am günstigsten ist. Dieses Maß beträgt etwa Vi Sekunde. Läßt man 12 Pendelschläge aufeinander folgen, jeder vom nächsten durch den Zeitraum einer halben Sekunde begrenzt, und umschließt sie bei 1 und 12 durch [einen] Glockenschlag, so kann man diese Tonreihe mit einer folgenden genau entsprechenden noch vergleichen. Wundt schließt: „Hiernach dürfen wir wohl 12 einfache Vorstellungen als den Maximalumfang des Bewußtseins für relativ einfache, aufeinanderfolgende Vorstellungen betrachten." - Hier wird aus dem Experiment zuviel gefolgert. Die Vorstellungen sind im Bewußtsein verbunden, und die rhythmische Gliederung erleichtert, wie Wundt selbst zugibt, ihre Auffassung und Erhaltung im Verbände. Wählt man nun anstatt der in diesen Versuchen zugrunde gelegten Verbindung von Tonvorstellungen eine engere, so kann der Verband auch eine größere Zahl von Toninhalten umfassen. Dies zeigt jede rasch ablaufende Melodie. Wir wissen ferner auch nicht, ob nicht bei einer Abfolge von Gesichtsempfindungen erst bei einer größeren Zahl von Inhalten die Maximalgrenze erreicht wird.
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538 Eine andere Fassung dieses Paragraphen findet sich in der Nachschrift D: Das Problem verlangt eine Zergliederung der Enge des Bewußtseins in bezug auf die Faktoren, welche hier zusammenwirken. Unter ihnen ist der erste Interesse und Aufmerksamkeit. Das Interesse ist ein Gefühl und eine mit demselben verbundene Willensregung. Diese stehen zu unserem Wahrnehmen und Vorstellen in Beziehung, da ja jeder Bewußtseinszustand die drei Seiten des Seelenlebens hat. In unserem Eigenleben und Gefühl ist der Anteil begründet, den wir den Empfindungen und Vorstellungen zuwenden. Dieser Anteil bestimmt den Stärkegrad von Elementen oder Zusammenhängen in unserem Bewußtsein. Dieser Anteil hat nun die Aufmerksamkeit zur Folge. Diese ist unwillkürlich, solange das Interesse direkt dieselbe hervorruft. Die unwillkürliche Aufmerksamkeit enthält keine Anstrengung des Willens. Von ihr unterscheidet sich die willkürliche dadurch, daß absichtlich die Seelenakte vollzogen und in Zusammenhang erhalten werden. Sie ist also durch einen Zweck bedingt, der zusammengehörig ist, in der Einheit einer Handlung hervortritt. Da nun äußere Reize, Assoziationen von Vorstellungen, Ermüdung eine Ablenkung der Aufmerksamkeit herbeizuführen geneigt sind, so ist die willkürliche Aufmerksamkeit eine Arbeit, Kraftaufwand, der uns in Spannungsgefühlen, in Anstrengungsgefühlen zum Bewußtsein kommt (Festhalten eines Fadens). Dementsprechend nimmt mit der Intensität der Aufmerksamkeit der Umfang derselben ab; das Verhältnis der Intensität zum Umfang konnte bis jetzt noch nicht experimentell quantitativen Bestimmungen zugänglich gemacht werden. Die Leistung der Aufmerksamkeit ist einerseits Feststellen von Unterschieden, andererseits Herstellen von Beziehung oder Zusammenhang. Die Enge des Bewußtseins ist nun in Wirklichkeit näher zu bestimmen als der wechselnde Umfang des Bewußtseins, der durch den Wechsel der Intensität der Aufmerksamkeit bedingt ist. Und zwar wirken auf diesen Umfang ein: 1) der Unterschied von Wahrnehmungen und Vorstellungen, und zwar nach den Sinnesgebieten, in denen sie auftreten; 2) von Hervorbringen und Aufbewahren von Inhalten; 3) von Graden des Anteils und daher von Stärke der Elemente und Verbindungen. Sinnesinhalte können bei gleichmäßig verteiltem Interesse in unbestimmt großer Zahl gleichzeitig im Bewußtsein besessen werden, und zwar können sie disparat in Rücksicht auf die Reizklassen sein. Herbert Spencer bemerkt, daß fünf disparate Reihen von Sinneseindrücken zugleich durch das Bewußtsein gehen können. Wir können gleichzeitig Gesichts-, Gehörs-, Tast- und Temperatureindrücke besitzen und eine Vorstellungsreihe verfolgen. Auch eine große Zahl von Vorstellungsinhalten kann das Bewußtsein bei gleichmäßig verteiltem Interesse zusammen besitzen. O b das Bewußtsein eine Mehrheit disparater Empfindungen gleichzeitig hervorbringen kann, kann in bezug auf interesselose und darum gering merkliche Eindrücke nicht beobachtet werden. Unsere Aufmerksamkeit aber kann immer dem Hervorbringen eines Sinneszusammenhangs, ebenso eines Vorstellungszusammenhangs zugewandt werden. 539 Geändert aus: psychologische. 540 Aufgrund der Nachschrift D geändert aus: Erscheinungen. 541 Es handelt sich um folgende Veröffentlichungen in den Philosophischen Studien: M. Friedrich, Über die Apperceptionsdauer bei einfachen und zusammengesetzten Vorstellungen, in: I (1882), S. 39-77; M. Trautscholdt, Experimentelle Untersuchungen über die Assoziation der Vorstellungen, in: ebd., S. 213-250; E. Tischer, Über die Unterscheidung von Schallstärken, in: ebd., S. 495-542; W. Wundt, Über das Weber'sehe Gesetz, in: II (1885), S. 1-36; J. Merkel, Die zeitlichen Verhältnisse der Willensthätigkeit, in: ebd., S. 73-127; W. von Tchisch, Über die Zeitverhältnisse der Apperception einfacher und zusammengesetzter Vorstellungen, untersucht mit Hülfe der Complicationsmethode, in: ebd., S. 603-634; J. McKeen Cattell, Über die Zeit der Erkennung und Benennung von Schriftzeichen, Bildern und Farben, in: ebd., S. 635-650; vgl. zum Abschnitt W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, a.a.O., S.768f. bzw. 2. Aufl., 2. Band, a.a.O., S. 219-291: Apperception und Verlauf der Vorstellungen. 542 Titel korrigiert nach der Disposition von G. Stamper. - In der Nachschrift D findet sich eine andere Paragraphenüberschrift: §24. Die elementaren Prozesse des Fortwirkens von Elementen und Verbindungen im Bewußt-
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sein, der Verdrängung, des Unterscheidens, des Auffindens von Gleichheit u n d Ähnlichkeit und von den G r a d e n . 543 Die Nachschrift D enthält eine andere Fassung der Schlußpartie dieses Paragraphen: N e n n e n wir die Kraft, die dieses bewirkt, die Stärke der zweiten Vorstellung, dann ist diese Stärke ebenfalls in dem Anteil der Seele addiert, in dem Interesse begründet, welches Eigenleben und G e f ü h l ihr zuteilen. 3) Sinnesinhalte, die simultan oder nacheinander im Bewußtsein sind, k ö n n e n voneinander unterschieden werden. In dem Fortgang von einer zu einer zweiten E m p f i n d u n g findet ein Bewußtsein des Uberganges, der Veränderung statt, der Unterschied wird aufgefaßt. Diese Tatsache hat zu einer unrichtigen Generalisation geführt. Diese bezeichnet als Gesetz der Relativität, daß erst durch den Wechsel der E m p f i n d u n g das Bewußtsein einer Sinnesqualität entstehe u n d die Veränderung des Sinneszustandes von uns erfahren werde, nicht der Sinneszustand selbst. Im Z u s a m m e n h a n g hiermit folgern die englischen Empiristen (Bain, Spencer): „Wir kennen n u r Beziehung, aber nicht ein Absolutes." In Wirklichkeit setzt die Auffassung eines Unterschiedes stets voraus die absoluten Inhalte, die miteinander verglichen werden. Eine erste E m p f i n d u n g könnte nach den Voraussetzungen dieser Theorie nicht entstehen. 544 In der Nachschrift D findet sich eine andere Definition: U n t e r Einheit des Bewußtseins versteht m a n die Bedingung im Seelenleben, welche das A u f t r e t e n von Unterschieden, Ähnlichkeiten, Beziehungen ermöglicht. Dieselbe wird also nicht in der inneren W a h r n e h m u n g aufgefaßt, sondern sie m u ß erschlossen werden. 545 Fortsetzung in der Nachschrift D: Sonst wäre der Sinn eines Satzes nur f ü r ein zweites Auffassen des Bewußtseins da. Unsere E m p f i n d u n g e n stehen in bezug auf ihre räumliche Lage und zeitliche O r d n u n g in festen Beziehungen zueinander u n d zu unserem Selbst sowie dem räumlich orientierten Körper. Diese räumliche Orientierung und dieses Zeitbewußtsein begleiten, w e n n auch schwach, unsere anderen psychischen Zustände beständig. N u r diese beziehenden Akte ermöglichen einen Z u s a m m e n h a n g der N a t u r in einem System von Arten, Gattungen und in einer Verknüpfung von Gesetzen herzustellen. 3. Die Bedingung aller dieser Leistungen liegt darin, daß die im Bewußtsein zusammentreffenden Inhalte nicht als Faktoren in einem P r o d u k t verschwinden, sondern im Bewußtsein fortbestehen und doch zugleich in einem einheitlichen Akte ineinandertreten. 546 Fortführung in der Nachschrift D: Dies kann infolge der gegenwärtigen Richtung des Interesses geschehen. Es kann aber auch durch die N a t u r der zur Verfügung stehenden Vorstellung oder W a h r n e h m u n g bedingt sein. Besonders entscheidet das Interesse über Grad und Richtung sowohl der Ausbildung der W a h r n e h m u n g als der R e p r o d u k t i o n der Vorstellung. 547 In der Nachschrift D finden sich zwei weitere Abschnitte des Paragraphen: 2) Wo aber die Verschiedenheit z u m Bewußtsein gelangt, ist es wieder das Interesse, das hierüber entscheidet; entweder entsteht eine teilweise Verschmelzung mit vorherrschendem Bewußtsein des Verschiedenen, dann überwiegt die W a h r n e h m u n g des Kontrastes, die Anschauung u n d die reproduzierte Vorstellung treten als verschieden nebeneinander. So entsteht der Schein, der Kontrast habe die Vorstellung reproduziert; aber der Verschmelzungsvorgang herrscht vor, und da trotzdem die Verschiedenheit z u m Bewußtsein k o m m t , werden Ähnliches und Verwandtschaft aufgefaßt. 3) In allen diesen Fällen bildet die Grundlage des Vorganges erstlich: ein Verbandzusammenhang des Residuums, der gleiche und ungleiche Bestandteile enthält, verglichen mit dem gegenwärtigen reproduzierenden Tatbestande. Dieser Verbandzusammenhang ist Assoziation. Zweitens: Das Gleiche des gegenwärtigen Vorgangs oder das Ähnliche desselben hebt jenes Residuum z u m Bewußtsein gleichsam e m p o r . Dies ist die Tatsache der R e p r o d u k t i o n . Drittens: D e m Verschmelzungsvorgang eignet n u n , daß die Beziehung von Gleichheit, Ähnlichkeit u n d Verschiedenheit in demselben vorwaltet. Viertens: Aus der Verschmelzung entstehen die festen Vorstellungen; es sind entweder feste Vorstellungen eines Einzelobjekts oder Allgemeinvorstellungen. Die letzteren enthalten ein verschiebbares Schema, sie sind die Bedingungen der Sprache, u n d diese wirkt dann wieder retour auf ihre Festigung. Die Bedeutung der Allgemeinvorstellung im geistigen Haushalt ist eine sehr große. Sie sind Grundlage der Vereinfachung und der Begriffsbildung. Eine Vorstellung, die allgemein wäre, ist genaugenommen ein Widerspruch. Die Allgemeinvorstellung ist
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sonach Vollziehung einer Einzelvorstellung, die von dem Bewußtsein der Allgemeinheit und sonach der Verschiebbarkeit ihrer einzelnen Inhalte begleitet ist. 548 Fortsetzung in der Nachschrift D: Der Vorgang selbst aber, in welchem die Reproduktion stattfindet, besteht in dem Heraufheben eines Residuums zum Bewußtsein von den Bestandteilen desselben aus, welche einem gegenwärtigen Wahrnehmungs- oder Vorstellungsakte gleich oder ähnlich sind. Dieser Vorgang heißt Reproduktion oder Erinnerung. Die Bedingung derselben liegt in der Herstellung eines Verbandes durch frühere Akte. Dieser Vorgang und sein Ergebnis heißt Assoziation. Sonach ist die Assoziation die Bedingung dafür, daß in dem Reproduktionsvorgang von den gleichen Bestandteilen zu den verschiedenen und den benachbarten fortgegangen wird. 2) Das Gesetz der Assoziation und Reproduktion in den scheinbaren Unregelmäßigkeiten aufzufinden, versuchte schon Aristoteles. Der Begründer einer Theorie, welche aus den Assoziationen auch die verwickeiteren geistigen Erscheinungen abzuleiten unternahm, war Hume. Nach ihm werden Vorstellungen miteinander assoziiert und reproduzieren sich nach den Verhältnissen: a) der Ähnlichkeit und des Kontrastes (Porträt und Original), b) der Angrenzung oder Beziehung in Zeit und Raum (ein Zimmer und die im Hause angrenzenden), c) der Ursächlichkeit (Wahrnehmung der Wunde und Vorstellung des Schmerzes). Auf diese Gesetze wurde die englische Assoziationspsychologie begründet. Verschiedene Formulierung bei James Mill, John Stuart Mill und Bain. Der einfache Tatbestand ist: Die von dem Gleichen ausgehende Reproduktion kann entweder zu Ungleichheiten zwischen dem Reproduzierenden und dem Reproduzierten fortleiten oder zu Gliedern des reproduzierten Verbandes, welche dem Reproduzierenden ganz fremdartig sind. Das erstere kann als Verschmelzungsvorgang bezeichnet werden, das zweite als Assoziationsvorgang im engeren Sinne. 3) Der Bewußtseinszustand, in welchem der Verband gestiftet wurde, kann in doppelter Weise auf den gegenwärtigen Akt wirkend gedacht werden. Entweder seine Wirkung hat als unbewußte geistige Tatsache fortgedauert oder das Residuum im Gehirn. Die Tatsachen sprechen vorherrschend für die zweite Annahme. Zu dieser Bedingung, die in der Herstellung des Verbandes durch einen ersten Akt liegt, treten nun in vielen Fällen spätere Reproduktionen. Die letzte Bedingung liegt in dem gegenwärtigen Bewußtseinsbestande. Aus ihnen zusammen erklärt sich der Vorgang der Reproduktion. Derselbe ist das Produkt der Dauer und Zahl der Reproduktionen, der Art des Verbandes, endlich des Interesses, welches die Akte begleitet. Daher erhalten sich zunächst Wahrnehmungen geringer Stärke und Aufmerksamkeit im Seelenleben überhaupt nicht. Die Reproduktionsfähigkeit wächst mit dem Inhalt und Gewicht der Verbindung, mit dem Grade der Eingewöhnung, der von Zahl, Dauer und Intensität der Bewußtseinsakte abhängt. Verbindungen derselben Festigkeit werden leichter als Glieder einer längeren Reihe reproduziert, als wenn etwa nur zwei Inhalte miteinander verkettet sind. Die Reproduktion vollzieht sich leichter in der eingewöhnten als in der umgekehrten Richtung. 4) Vermöge der sogenannten Enge des Bewußtseins, welcher gemäß Vorstellungen mit Aufmerksamkeit nur nacheinander erzeugt werden können, wird ein zusammengesetzter Wahrnehmungsverband bei der Reproduktion in eine Reihe umgewandelt. 549 Zusatz: (in dem Verhältnis) weggelassen. 550 Aufgrund der Nachschrift D geändert aus: Gegensatz. 551 In der Nachschrift D findet sich eine leicht veränderte Fassung der folgenden Beschreibung. 552 Geändert aus: Abneigung. 553 Titeleinfügung nach der Disposition von G. Stamper. 554 In der Nachschrift D folgt an dieser Stelle eine Kapitelüberschrift: III. Abschnitt: Das Zusammenwirken der elementaren Prozesse des Seelenlebens und der so entstehende Zusammenhang desselben nach seinen Haupterscheinungen. 555 Geändert aus: Grundanfänge. 556 Im Text Hinweis auf: [Grundzüge der] physiologischen Psychologie, [2., völlig umgearbeitete Aufl., Band] 2, [S.] 212ff. [und] 309ff. 557 Korrigierter Satz. 558 Korrigierter Satz.
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559 In der Nachschrift D: Selbst. 560 Fortführung in der Nachschrift D: Diese Tatsachen deuten darauf hin, daß dem Zusammenhang unseres Seelenlebens eine Einheit und Konstanz des psychischen Lebens zugrunde liegt, welche durch den Begriff der Substanz nur unangemessen ausgedrückt wird. 561 Fortführung in der Nachschrift D: Diese liegt dem Selbstbewußtsein zugrunde. 562 Zusatz in der Nachschrift D: Lebensgefühl. 565 Fortführung in der Nachschrift D: Ebenso wird das Mannigfaltige simultaner Zustände in der Einheit des Bewußtseins verbunden. 564 Zusatz in der Nachschrift D: ... welche das Bild unseres Körpers entwerfen,.... 565 In der Nachschrift D findet sich eine leicht geänderte Paragraphenüberschrift: § 30. Entstehung von Objekten und einer Außenwelt im Bewußtsein. 566 In der Nachschrift D findet sich eine andere Fassung dieser Textstelle: Hinzu tritt aufgrund der Reproduktion die Verschmelzung des Empfindungsaggregates mit erinnerten Vorstellungen. 567 Fortführung in der Nachschrift D: ... die Gegenüberstellung von Objekten (cf. der empirische Beweis dieses Zusammenhanges in den schwindenden Ichvorstellungen. M. Krishaber, De la Nevropathie [cerebro-cardiaque,] Paris 1873). 568 In der Nachschrift C folgt: Schon die Wahrnehmbarkeit der Sinnesempfindungen ist eine Willenserfahrung und stellt andererseits den Inhalt dieser Sinnesempfindung uns unabhängig gegenüber. - Die Nachschrift D fährt fort: Daher kann die von Helmholtz, Physiologische Optik, [a.a.O., S.] 47ff., zugrunde gelegte Annahme, daß wir von Empfindungen als Wirkungen mittels eines uns angeborenen Kausalgesetzes auf Dinge als Ursachen schließen, durch die Erklärung der Kausalvorstellung selbst und Willenshandlungen des Objektes aus dem Zusammenhang des Seelenlebens ersetzt werden. 3) Der Aufbau sowohl des Selbst als der Außenwelt im Bewußtsein vollzieht sich vermittels unserer Raumvorstellungen. Gefühle und Bewegungsantriebe, die damit verbundenen Wahrnehmungsvorgänge werden innerhalb der Grenzen unseres Körpers lokalisiert, äußere Objekte jenseits unserer Haut räumlich bestimmt. Die hier hervortretende metaphysische oder theoretische Schwierigkeit hat zu der Ausbildung der Lehre Lotzes von den Lokalzeichen geführt. Sie ging von der berechtigten Anforderung aus, nur was auf das auffassende Bewußtsein wirkt, ist für es da. 569 In der Nachschrift C: . . . eine Zeit geringerer psychophysischer Kraft unseres Lebens zurückgeht, indem Erlebnis von Krankheit denselben Tatbestand zeigt . . . . 570 Fortführung in der Nachschrift C: ... die immer Schluß von Empfindungen der Wirkung auf Objekte als Ursachen [ist]. 571 A. Bain, The Senses and the Intellect, a.a.O. 572 Die Nachschrift Α bricht hier ab. Der folgende Text ist der Nachschrift C entnommen. 573 Im Text Hinweis auf: [Handbuch der] Physiologie [des Menschen für Vorlesungen,] 2. Band [, 2. Abtheilung: Der speciellen Physiologie 5. Buch: Von den Sinnen, a.a.O.,] S. 349. 574 Im Text Hinweis auf: [ E . H . Weber,] Abhandlungen über den Raumsinn, [in: Berichte über die Verhandlungen der Königlich] Sächsische[n] Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig. Mathematisch-physische Classe, Jg.] 1852 [, S. 85-164]. 575 Gemeint ist: Medianische Psychologie oder Physiologie der Seele, a.a.O. 576 Der § 36 ist übernommen aus der Nachschrift B.
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C. Die Vorlesung über Anwendungen der Psychologie auf die Pädagogik (Berlin ca. 1893/94) Anwendungen der Psychologie auf die Pädagogik C 27 II: 6 oder 7 Rücks-82, 231 (oder 230 Rücks. )-243. Undatierte Nachschrift oder Ausarbeitung einer Nachschrift der Vorlesung Anwendungen der Psychologie auf die Pädagogik, als Ergänzung der psychologischen Vorlesung, die D. regelmäßig jeweils im Wintersemester in Verbund mit der großen Psychologie-Vorlesung vom Wintersemester 1884/85 bis 2um Wintersemester 1893/94 gehalten hat. Da der Text in ein Doktor-Diplom von 1893 eingelegt war, liegt eine Datierung der Abfassungszeit um 1893 nahe. Es ist dabei nicht auszuschließen, daß diese Nachschrift den Inhalt der letzten Fassung dieser Vorlesung vom Wintersemester 1893/94 wiedergibt und D. diesen Text als Grundlage für eine - allerdings nicht zustandegekommene - Veröffentlichung nutzen wollte. Darauf deuten auch die vielen und ζ. T. massiven Überarbeitungsspuren von D.s Hand, Korrekturen, Einschübe und Randnotizen, hin. Darüber hinaus hat D. die Nachschrift mit einem eigenhändigen Text weitergeführt: C 27 II: 244-249. Eine sichere Datierung ist allerdings ebensowenig möglich wie eine genaue Festlegung der Textart. Das Ms. stammt von K. Necker; es ist ein einseitig beschriebenes, von S. 4 bis S. 180 durchpaginiertes Kollegheft ohne Deckel und Titelblatt und wurde erstmals von Helmut Johach im DiltheyJahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 4 (1986-87), S. 181-222, veröffentlicht. Abweichend von dieser Vorausedition wurden hier - den Prinzipien dieses Bandes der Ges. Sehr, entsprechend - die handschriftlichen Ergänzungen und Korrekturen D.s ohne weiteren Hinweis in den Text integriert und kursiv gesetzt. Dadurch ergeben sich einige Abweichungen hinsichtlich der Anlage und der Anzahl der Anmerkungen. Auf zwei Seiten (C 27 II: 57 und 59) hat D. seine Textergänzungen offenbar einem Schreiber diktiert; diese Passagen wurden ebenfalls kursiviert. 577 Am Rand von D.s Hand: [ . . . ] Es scheint ja ein Vorteil, wenn heute jeder Kandidat am Gymnasium ein Seminar zu seiner Ausbildung vorfindet. Ich sehe von vielem dabei ab. Aber umso wichtiger [ist es], daß der Kandidat die psychologische Vorbereitung mitbringt, welche ihm von dieser beruflichen Realität Kenntnis zu nehmen ermöglicht. Die Elementarbildung [hat] ihre Methode im Mechanismus. Soll sich das wiederholen? Ohne das Studium? 578 Im Ms. folgt ein Hinweis auf den Vortrag D.s in der Berliner Akademie der Wissenschaften vom Juli 1889: Über die Möglichkeit einer allgemeingültigen pädagogischen Wissenschaft; vgl. Ges. Sehr. VI, 56-82. 579 Am Rand von D.s Hand: Zwei Ziele: Allgemein menschliche oder humane - Berufsbildung. Gibt es ein allgemein menschliches Ziel? Neigung zu elementar. Vgl. Rousseau, Pestalozzi. Ich suche Begriffsbestimmung. 580 Am Rand von D.s Hand: Diese Zweckmäßigkeit zeigen die Tiere in ihrer seelischen Struktur so gut als die Menschen. Ich suche die Natur dieser Zweckmäßigkeit durch folgende imaginäre Vorstellung zu erklären: (Ms. bricht ab). 581 Am Rand von D.s Hand: [ . . . ] Das Ziel der Pädagogik ist von Comenius, Rousseau, Pestalozzi ein für allemal bestimmt nach seiner individuellen Seite: Die Kräfte der Menschheit zu steigern und sie glücklich zu machen. Struktur in ihrer teleologischen Wirkung. Rest unleserlich. 582 Am Rand von D.s Hand: Die Freiheit besteht darin, daß das Ziel im Willen selbst liegt, wenn er wählt. Möglichkeit des Wechsels. Siehe Beobachtungen etc. 583 Im Ms. von D. gestrichen: Wir fragen zunächst nach der Aufgabe des Lehrers. 584 Am Rand von D.s Hand: Ich unterscheide zwei Klassen des Interesses und der Aufmerksamkeit: die sinnliche und die intellektuelle. 585 Am Rand von D.s Hand: Sinneseindrücke: blauer Himmel - ein Knall - roter Fleck in einer Landschaft. Kontraste: So am dunklen Nachthimmel eine fallende Sternschnuppe - ein großes
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O b j e k t v o r d e m Auge, das erschrickt: E r k e n n e ich es n u n aber als P f e r d e k o p f , so erregt es in h o h e m G r a d e A u f m e r k s a m k e i t . Rest unleserlich. 586 Am Rand von D.s Hand: 1. Begriff des Interesses = der Anteil, w e l c h e r einer Vorstellung, einer W a h r n e h m u n g infolge ihres Z u s a m m e n h a n g s im Seelenleben z u g e w e n d e t w i r d . [ . . . ] D e r so e n t s t e h e n d e Z u s t a n d ist G e f ü h l . A b e r dasselbe enthält w e n i g e r L u s t - u n d U n l u s t e l e m e n t e als ein B e w u ß t s e i n v o n E r r e g u n g , W ä r m e , A n t e i l n a h m e . - In der S t r u k t u r des Seelenlebens w i r d im Interesse das Verhältnis d e r n e u e n E i n d r ü c k e z u m e r w o r b e n e n Z u s a m m e n h a n g der Triebe, G e f ü h l e u n d Vorstellungen n a c h d e r f u n d a m e n t a l e n B e z i e h u n g ihres Wertes abgemessen. 2. D a s Interesse geht o h n e u n t e r s c h e i d b a r e G r e n z e in A u f m e r k s a m k e i t ü b e r - es ist ü b e r h a u p t u n m ö g lich, a b z u g r e n z e n z w i s c h e n G e f ü h l u n d Volition. So e n t s p r i n g t auch aus d e m Interesse eine K o n z e n t r a t i o n des B e w u ß t s e i n s im Willen. Rest unleserlich. 587
Am Rand von D.s Hand: 1. Fasse die N a t u r der A u f m e r k s a m k e i t . 2. D e r L e h r e r , der o h n e P s y c h o l o g i e sich d e m Schüler gegenübersieht. N u n 3. gleichsam als P r ä p a r a t f ü r das S t u d i u m dieser Vorgänge in p ä d a g o g i s c h e r B e z i e h u n g : der K n a b e v o r d e m U n t e r r i c h t ; d a n n derselbe im U n t e r r i c h t [ . . . ] . a) Zentral Triebe und damit verbundene Gefühle. [ . . . ] Erworbener Zusammenhang des Seelenlebens. b) N u n Spiel der E i n d r ü c k e , G r a d e des B e w u ß t s e i n s , P e r z e p t i o n . G e s e t z , d a ß das Interesse d e n G r a d b e d i n g t . Es e n t s t e h e n verschiedene G r a d e v o n E i n d r ü c k e n . A u c h o h n e A u f m e r k s a m k e i t sind E i n d r ü c k e g r u n d l e g e n d ; [ . . . ] A p p e r z e p t i o n . G e s e t z : N ä c h s t d e m Spiel erstrebt das K i n d reine A u f f a s s u n g sinnlicher E i n d r ü c k e u n d b e v o r z u g t sie v o r d e n intellektuellen. c) sinnliches Interesse. [ . . . ] d) intellektuelles Interesse. e) Unterschied des direkten und indirekten Interesses. Das indirekte Interesse tritt da auf, wo Auffassung und Verständnis einer Tatsache bloß das Mittel für ein Ziel sind. 588 Unleserliche Randbemerkung D.s. 589 Am Rand von D.s. Hand: 1) D i e p s y c h o p h y s i s c h e D i s p o s i t i o n . 5.0 Am Rand von D.s. Hand: a) Interesse des L e h r e r s . 5.1 Am Rand von D.s. Hand: b) Stetigkeit, G r ü n d l i c h k e i t . 5.2 Am Rand von D.s. Hand: c) E r g ä n z u n g der v e r s c h i e d e n e n W a h r n e h m u n g e n (hierbei analysieren etc.). 593 Am Rand von D.s. Hand: d) G r u n d l e g e n d das Interesse an d e n D e n k p r o z e s s e n , a m Versteh e n etc. 5.4 Am Rand von D.s. Hand: D i e u n w i l l k ü r l i c h e A u f m e r k s a m k e i t : überall, w o Interesse gew ö h n l i c h [verweilt]. - A b e r es gibt s p r ö d e D i n g e , die f ü r diese M e t h o d e sich n i c h t eignen etc. D e n n hierauf b e r u h t D i s z i p l i n i e r u n g . 5.5 Es folgt eine unvollständige Einfügung von D.s Hand: D e r Begriff v o n Geist, E i n b i l d u n g s k r a f t , Verstand bezeichnet n u r eine b e s t i m m t e L e i s t u n g d e r p s y c h i s c h e n V e r w e b u n g im e r w o r b e n e n Z u s a m m e n h a n g des Seelenlebens. D i e s e E n t s t e h u n g des e r w o r b e n e n Z u s a m m e n h a n g s aus d e n elementaren Vorgängen [ . . . ] . 596 Am Rand von D.s Hand: N a t u r des G e d ä c h t n i s s e s . 1. A s s o z i a t i o n u n d R e p r o d u k t i o n 2. F a k t o r e n a) Interesse [ . . . ] . 597 Am Rand von D.s Hand: P r o b l e m d e r P ä d a g o g i k . 598 Am Rand von D.s Hand: I) Leistungen des G e d ä c h t n i s s e s im E r k e n n e n . 599 Am Rand unleserliche Randnotiz D.s. 600 Am Rand von D.s Hand: 1. D i e s e r Z u s a m m e n h a n g v e r b i n d e t , w a s im E r l e b e n ist. 2. Er korrigiert u n d k o n t r o l l i e r t die W a h r n e h m u n g e n . 3. Er ist die Q u e l l e d e r P r o d u k t i v i t ä t des Schaffens und Handelns. 601 Anm. D.s mit Einarbeitungszeichen: II N u n die F a k t o r e n 1. Interesse [...].
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Anmerkungen zu Seite 344-362
602 Am Rand von D.s Hand: 1. Die Form der Ausbildung des Gedächtnisses darf nicht von der materialen getrennt werden. Aber die materiale ist [neben] der formalen im Auge zu behalten. Diese besteht darin, daß die Aneignung 1. durch ein Gerüst erleichtert [wird], 2. Verbindungen von Verbindungen angeeignet werden statt Elementen. 603 Am Rand von D.s Hand: Der ganze Schulunterricht beruht auf dieser für die Pädagogik so wichtigen Tatsache. Und zwar kann das Verständnis so allein auch kontrolliert werden. 604 Η. M. F. Ebeling, Versuch einer Logik für den gesunden Menschenverstand. Zum Gebrauch in Schulen und Gymnasien, Leipzig 1785; K. Ph. Moritz, Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik, welche auch zum Theil für Lehrer und Denker geschrieben ist, Berlin 1786; Κ. H. Krause, Versuch planmäßiger und naturgemäßer unmittelbarer Denkübungen für Elementarschulen. Erster Cursus, Halle 1813, Aufl. 1831. 605 Der Satz ist sinngemäß rekonstruiert nach einer unvollständigen Korrektur von D.s Hand. 606 [)rei unentzifferbare Wörter von D.s Hand sind ausgelassen. 607 Am Rand von D.s Hand: [...] Gymnasiums, wie es aus unserer großen Literaturepoche entsprang und den Männern ihre Ausbildung gab, welche seit den Freiheitskriegen unerschütterlich die Ideale vertraten: moralische Selbständigkeit des Menschen, nationalen Staat, eine Religion, die auf sittlichen Uberzeugungen gegründet wäre und sie verstärkte. Diese Richtung war wie alle großen pädagogischen Systeme von endlicher Dauer. Dann Gedanke des erfüllten Ideals etc. Aber in ihr lag der Keim der Richtung, die heute das Ganze [bestimmt], der historischen Schule. Elementarlehre aller Gebiete der Menschlichkeit (humanitas, societas). Das Komplexe der späteren Formen. Ausbau wirklich geschichtlichen Verständnisses aus der Sitte, verbunden mit dem Geschichtsunterricht, also die Alten, das Christentum [...]. Geschichte sucht für sich kein Verständnis. Problem der Verbindung in dem Gymnasium. Demgegenüber der Zusammenhang der Naturwissenschaften. Rest unleserlich. 608 Am Rand unleserliche Notizen D.s. 609 Im Ms. unleserliche Korrektur von D.s Hand. 610 Im Ms.: sie. 611 Am Rand Zusatz von D.s Hand: . . . ist Erkenntnis der Beziehungen, welche zwischen den Einzeltatsachen stattfinden. Zunächst ist festzustellen, daß diese alle unter die Abhängigkeit subsumiert werden können. Dann aber, daß das Erkennen selbst auf dieses bloß formale Verhältnis angewiesen ist. Rest unleserlich. 612 Diese Stichworte zu einem Kapitel sind von D. nachträglich hinzugefügt. 613 Ein unleserlicher Satz ist ausgelassen. 614 Ein unleserlicher Satz ist ausgelassen. 615 Es folgt ein unleserlicher Nebensatz. 616 Unleserliche Schlußsätze. 617 Es folgt ein unleserlicher Schlußsatz. 618 Es folgt ein Entwurf zur Fortsetzung des Textes.
PERSONENREGISTER
Allegri 343 Anaxagoras 29, 33 f. Archimedes 22 Aristoteles 1, 10, 22, 29-32, 34-37, 45, 52f., 85, 91, 117, 126, 128, 133, 142, 167f., 171, 181, 192, 203, 205, 234, 244, 263f„ 268, 281, 311, 314, 355, 366f„ 374f., 393, 412 Augustinus 27, 117, 374 Bacon 21, 23, 124, 342, 346, 355, 357, 366 Bain 19, 32, 45, 219, 281, 324, 367, 378, 4 1 1 ^ 1 3 Balzac 180 Basedow 223, 234, 348 Bell X V I I I , 32, 42, 367 Beneke X L V I I I , 32, 44f., 366, 368, 378, 391 Bentham 11, 193, 245 Bergmann 64, 69, 369 Berkeley 218f. Bessel 392 Bichat X V I I I , 32, 42 Blumenbach 50 Blumenstock 386 Bodenstedt 369 Bonstedt 85, 93 Brentano X X I X , 32, 45, 64, 69, 204, 368, 379 Bruno 46, 48 Calderon 117 Carus 29, 33, 366, 378 Cervantes 117 Cicero 344, 350 f. Comenius 223, 346, 358, 414 Comte 256, 258, 277, 379 Condillac 25, 28, 214, 366 Dahlmann 360 Darwin X X X V I I , 25, 47, 243 De Jaager 309 Demokrit 11, 29, 33, 193, 245, 371 Descanes 29, 31, 38 f., 46, 53, 266, 346, 356 f.
Dickens 87, 180, 257, 361, 369 Dietze 304, 409 Dolch 386 Donders 309 Drobisch 32, 45, 95, 98, 140, 366, 369, 378 Du Bois-Reymond 47, 155, 368, 376, 388 Ebbinghaus X X V I I I , X L V I , 316 Ebeling 349, 416 Eckhart 117 Epikur 11, 117, 193, 245, 364, 371 Fechner X V I I I , X X X I I I , 4f., 12, 14, 32, 43, 46, 48, 58, 64, 68 f., 96, 100 f., 168, 175, 192, 200, 209, 214-216, 227, 242, 251, 256, 276, 288, 294-297, 364, 378f„ 388, 390, 395, 400, 406 Fichte, I. H. 375 Fichte, J. G. X X V I , X X X V I , 19, 44, 48, 53, 126f., 132, 136, 193, 237, 245, 321, 375, 396 Flourens X V I I I , 43, 301 Fortlage 127 Freytag 28 Friedrich 410 Friedrich der Große 348 Galen 32 Galilei 22, 31, 38, 196, 259, 266, 281, 356 Gall X V I I I , 32, 301 f. Garve 282 Gassendi 31 Gebhardt L Geiger X X X V I I , 243 George 367 Gerhardt 369 Gerland 378 Goethe X X I V , X L I V , 18, 21, 27, 30, 35, 43, 77, 83, 109, 113, 117, 132, 136, 161, 180, 227, 250, 255, 270, 349, 360, 366, 373, 389, 391, 398, 407
418
Personenregister
Gorgias 346, 360 Griesinger 28, 131, 228, 366, 385, 391 Grimm, J. 243, 333 Grimm, W. 333 Grote 361 Gründer XVI Grunert 309 Haller 24, 366 Hamilton 2, 52, 54, 56, 118, 172, 206 f., 380, 388, 402 Hartenstein 364, 366 Hartley 3 Hartmann, E.v. 46, 50, 126, 128 Hartmann, J. 309 Hegel 19, 342 Heintzmann 366 Helmholtz XVIII, XXVIII, XXXIVf., XLIV, 3, 18, 32, 43, 64, 69, 151, 156f., 190, 212, 219, 225, 242, 252, 276, 288, 292, 324, 347f., 366, 378f., 390, 406, 413 Helvetius 214 Heraklit 29, 264 Herbart XVIII, XXVI, XXXVIf., XL, 3, 8, 24f., 32, 44f., 48, 52, 54f„ 64, 68, 70, 96, 98, 102, 119f., 124, 149f., 173, 175, 191, 201, 206, 208, 219, 223, 230, 237, 243, 249, 265-267, 269, 278, 281 f., 284, 303, 310f., 318, 321, 339, 357, 364, 366, 370, 378, 381, 388, 393, 404 Hering 7 Hersel 386 Heyne 351 Hirsch 309 Hobbes 31, 38, 41, 117, 133, 143, 302 Homer 89, 337, 344 f. Horaz 93 Horwicz 32, 45, 52, 56 f., 173, 207, 367f., 379, 389 Hübscher 375 Humboldt, A.v. 351 Humboldt, W.v. XXXVII, 243, 351 Hume XXIV, 19, 31 f., 41 f., 44, 72-74, 85, 91, 110, 168, 197, 203, 228, 299, 314, 347, 369, 378 f., 391, 412 Isokrates 346 Jacobi 144, 375 Jean Paul 331 Jessen 25, 29, 366 Johach L, 414 Jung 365
Kant XXVIf., XXXIII, XXXVI, XLVIII, 1, 8, 11, 17, 19, 30, 32, 35, 43-45, 48f., 51-56, 58, 64, 67, 69, 81, 95, 97f., 103, 108, 111, 133, 144-147, 171, 175, 179, 182-184, 190f., 198, 203, 205, 217-219, 225, 235-237, 242, 247, 256, 259, 267f., 277, 282, 288, 296, 311, 321, 324 f., 331, 347, 360, 364, 368, 378, 381 f., 384f., 388, 390f., 393, 395, 402, 406 f. Karl der Große 90 Karsten 366 Kepler 356 Knapp 386 Koppen 375 Kopernikus 356 Krause 349, 416 Krishaber 413 Kußmaul XXXIV, XLVI, 220, 252, 316, 324, 385, 390, 398, 401 Langbein 340 Lange 29, 33, 47, 146, 366, 375, 378 Lazarus 32, 45, 96, 98, 318, 366, 369, 378 Leibniz 8 f., 32, 44, 46, 48, 52 f., 64, 67, 69, 95f., 98, lOOf., 134, 143, 147, 175, 203, 206, 218, 229, 234, 252, 311, 317f., 346f., 369, 381, 392, 400, 409 Leis-Schindler 386 Leonidas 54 Le Roy 366 Lessing, G . E . 144, 291, 406 Lessing, H.-U. XV-XVII Linne 337 Lipps XXXI Locke 19, 22, 31 f., 37f„ 41, 44, 110, 143, 219, 324, 347, 366, 406 Lotze XVIII, XXXI, XXXIII f., XXXVI, XL, 2, 5, 19, 30, 32, 35, 43-48, 52, 54-56, 69, 85, 108f„ 112, 115, 119 f., 125, 144, 172, 183f„ 201, 204, 206-208, 221 f., 230, 235, 249, 268f., 278, 303, 310f„ 319, 325, 327, 365f„ 373, 378-380, 385, 388f., 391, 393, 402f„ 413 Ludwig 18 Luther 360 Macauley 361 Makkreel XX McKeen Cattell 410 Melanchthon 350 Mendelssohn, G.B. 366f. Mendelssohn, Μ. 1, 29 f., 32, 35, 45, 184, 204f., 234, 267, 282, 311, 366f„ 402
Personenregister Merkel 410 Mesmer 187 Meynert X V I I I , X L I V , X L V I , 32, 43, 252, 297, 316, 367, 407 Mill, J. 7, 32, 45, 364, 378, 412 Mill, J . St. X X X I V , 2, 19, 24, 32, 44, 52, 56, 206, 220, 324, 361, 364, 366, 378, 390, 412 Moleschott 309 Moltke 360 Moritz 24, 27, 241, 282, 349, 416 Mozart 342 Müller, G . E. 295, 390, 406 Müller, J o h . X V I I I , X X I I , X X V , X X X I I , X X X I X , 10, 17, 32, 38, 43, 49, 117, 131, 161, 189, 192, 211 f., 252, 266, 276, 287-289, 296, 325, 365, 367, 376, 378, 395, 406f. Müller, Jul. 133, 146, 198, 375 Münk X L V I , 316 Necker 414 N e w t o n 72 f., 337, 379 Niebuhr 278, 360 Niemeyer 267 Novalis X V I Orlowski L Parmenides 29, 33 Pascal 25, 27 Perikles 345 Pestalozzi 223, 346, 349f., 414 Pico della Mirandola 89 Plantamour 309 Piaton 29f., 34f., 167, 171, 193, 203, 205, 234, 245, 259, 262f., 280, 310, 338, 344, 354, 393, 402 Plotin 184, 203, 234, 311, 393 Poske 401 Preyer 323 Protagoras 346, 371 Purkinje 43, 161, 376 Quetelet 197 Quintilian 346, 350 Ranke 278, 360 Reuter 104, 370 Ribot 45, 367 Richter 369 Ritter, C. 360 Ritter, J . W . (?) 46 Ritter, J. X V I
419
Rochow 346, 348 Rodi X V f . , X X , X X X I X Rousseau 24, 28, 45, 223, 234, 347, 349, 414 Rümelin 386 Sachs 290, 406 Scaliger 89 Scanion X X Scheffel 28 Schelling 11, 19, 39, 44, 117f„ 120, 133, 144, 146, 193, 198, 245, 374, 396 Schiel 366 Schiller 77, 83, 132, 136, 196, 349, 382 Schleiermacher 19, 44 f., 52 f., 56, 254, 367 Schmoller 386 Schopenhauer X X V , 11, 39, 50, 117f„ 120-122, 126-128, 133, 1 4 6 f „ 193, 198, 225, 242, 245, 284, 351, 371, 375, 396, 404 Schulenburg X V I I I Scott 84 Shaftesbury 45 Shakespeare 117, 132, 136, 145, 180, 257, 260, 360 Smith 32, 114, 347 Sokrates 29, 167, 345 f. Soltmann 401 Sophokles 344 Speck 364 Spedding 366 Spencer 32, 45, 232, 306, 330, 378, 393, 410f. Spengel 401 Spinoza 1 0 f „ 31 f., 38^(2, 48, 53, 85, 87, 93, 110, 117f., 120, 133 f., 143f., 148f., 168, 192, 197, 244f., 262, 2 6 5 f „ 279, 281, 346, 370, 378, 386, 388, 395f., 402 Stamper 399, 410, 412 Steinthal 8, 32, 45, 52, 56, 96, 98, 3 1 7 f „ 3 6 6 f „ 369, 378 Stumpf X V I f . , X X X I , X L V I I I , 325 Sturm 350 Sybel 350 Tacitus 351 Taine 25 Tauler 117 Tchisch 410 Tetens 1, 32, 45, 171, 175, 205, 267, 282, 366, 402 Themistokles 345 Thomas v. Aquino 203, 378 Tieck 18 Tischer 410 Trautscholdt 410
420
Personenregister
Traxel XVI Trendelenburg 10, 44, 55, 133, 142, 375 Trunz 366, 391 Turgot 347 Tylor 401 Ueberweg 32, 46, 366 Ulrici 32, 44, 367 Vierordt 309 Virchow 47 Vives 91, 369 Volkmann 32, 366 Voltaire 347, 406 Wagner XXXIII, 215, 375 Waitz XXXVI, 32, 45, 48, 76, 78, 132, 140, 223, 230, 303, 366, 369, 375, 378, 391, 401 Wallenberg 386 f., 390 Wallis 89
Weber XVIII, XXII, XXXIII f., XLVIII, 16, 32, 43, 150, 152, 213-216, 222, 242, 252, 276, 294 f., 325, 375, 378, 405 f., 413 Wenzig 370 Wilhelm I. 350 Willmann 391 Wolf 350 f. Wolff 52f., 99, 119, 144, 203, 206, 234, 267, 281, 311, 402 Wundt XVIII, XXIX, XXXIV, XXXVI, 11 f., 18, 32, 45, 65, 71, 109f., 115, 151, 156, 173, 192, 207, 215f., 231, 233, 283, 296, 304, 308 f., 317, 319, 336, 363-366, 369, 373-375, 378f., 385, 389-393, 395, 403, 407, 409f. Yorck v. Wartenburg XXVII, XXXI, XXXIX Zedlitz 346 Zeising 12, 364 Zöllner 3, 46, 48