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German Pages 248 Year 1987
Zur Architektonik der Vernunft
Zur Architektonik der Vernunft Manfred Buhr zum sechzigsten Geburtstag Mit Beiträgen von Claudio Cesa, Milan Damnjanovic, Jacques D'Hondt, Masao Fukuyoshi, Antonio Gargano, Albert Heinekamp, Dieter Henrich, Hans Heinz Holz, Reinhard Lauth, Domenico Losurdo, Jaime Quijano-Caballero, T o m Rockmore, Hans J ö r g Sandkühler
herausgegeben von Lothar Berthold
Akademie-Verlag Berlin
Zum Geleit Diese Schrift ist dem sechzigsten Geburtstag von Manfred Buhr gewidmet. Dem Akademie-Verlag, der einen wesentlichen Teil des wissenschaftlichen Werkes Manfred Buhrs durch Jahrzehnte veröffentlichen konnte, war dieses Jubiläum Anlaß, Philosophen, die unterschiedlichsten Traditionen, Denkschulen und Philosophien verpflichtet sind, zusammenzuführen in dem Versuch, systematische und historische Grundfragen zum Stand und der Perspektive der Philosophie in unserer Welt zu diskutieren. Leitmotiv waren dabei die vier Fragen Kants: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? Sie sind gerade heute von brennender Aktualität. So sei diese Festgabe verstanden als ein kleiner Baustein in der großen Koalition der Vernunft, der das humanistische Ethos der Arbeit am Begriff, des Ringens um die Bewahrung der Vernunft und der Vernünftigen vor Augen führt. Allen sei gedankt, die zu unserem Band beigetragen haben. Mit ihm ist ein Dialog begonnen worden, der fortgesetzt werden soll: Multis pertransibunt et scientia augehitur. Lothar Berthold
Ich verstehe unter einer Architektonik die Kunst der Systeme. . . . Unter der Regierung der Vernunft dürfen unsere Erkenntnisse überhaupt keine Rhapsodie, sondern sie müssen ein System ausmachen, in welchem sie allein die wesentlichen Zwecke derselben unterstützen und befördern können. Immanuel Kant 1781
Inhalt DIETER HENRICH
(München) Konstellationen Philosophische und historische Grundfragen für eine Aufklärung über die klassische deutsche Philosophie 11 JACQUES D'HONDT
(Paris) Der Tod der Philosophie in Frankreich
28 J A I M E QUIJANO-CABALLERO
(Bogota) Zur neuen philosophischen Übersichtlichkeit Über die gegenwärtige Wende in Rolle und Funktion der Philosophie aus der Zukunftsperspektive des lateinamerikanischen gesellschaftlichen Menschen 52
HANS JÖRG SANDKÜHLER
(Bremen) Das Recht der Menschen auf Wahrheit, Handeln und Hoffen Zur Moralität wissenschaftlichen Handelns 62 A L B E R T HEINEKAMP
(Hannover) Leibniz und das Glück 91 HANS HEINZ HOLZ
(Groningen) Bemerkungen zu Kants „Analogien der Erfahrung" 117 M I L A N DAMNJANOVIC
(Belgrad) „Handle sprachlich" — oder: Warum blieb die Sprache bei Kant unthematisiert? 141 REINHARD LAUTH
(München) Fichte in den Jahren 1802 und 1803 153 MASAO FUKUYOSHI
(Nagoya) „Die Einbildungskraft" ;n der Umstellungszeit Im Anschluß an J. G. Fichte 177
DOMENICO LOSURDO
(Urbino) Die Fran2ösische Revolution und das Bild des klassischen Altertums: von Constant zu Hegel 189 TOM ROCKMORE
(Québec) Hegel und die gesellschaftliche Funktion der Vernunft 205 ANTONIO GARGANO
(Neapel) Die gegenwärtige Krise der Philosophie und der Mut des Denkens 220 CLAUDIO CESA
(Pisa) Zwischen juristischem Sozialismus und sozialistischer Religion Die Diskussion über Fichte in Italien zu Beginn des 20. Jahrhunderts 233 Autorenverzeichnis 245
DIETER HENRICH
(München)
Konstellationen Philosophische und historische Grundfragen für eine Aufklärung über die klassische deutsche Philosophie
I. Historische Rechtfertigungen, Selbstdarstellungen und Spektren von Theorien Die Erforschung der Geschichte der Philosophie steht in einem anderen Verhältnis zum Gang des philosophischen Denkens als etwa die Erforschung der Geschichte der Physik zur weiteren Ausbildung der physikalischen Theorie. Schon die Gedanken der frühen griechischen Philosophie haben sich zu einem guten Teil als Kritik" fehlgehender oder nicht verläßlicher Denkweisen entfaltet, denen sie entgegentraten oder mit denen sie konkurrierten. Piaton gewann Klarheit in der Entfaltung seiner Ideenlehre aus einer Übersicht über die Lehren der Philosophen, die ihm vorausgingen — über ihre Stärken und über den Grundmangel, der sie doch allesamt von der Dimension ausgegrenzt hielt, auf die sich das Denken eigentlich zu konzentrieren hätte. Aristoteles hat seine ontologischen Grundbegriffe zwar der natürlichen Sprache der Griechen abgewonnen — aber in einer Anstrengung, die sich zuerst gegen die Weise der Begriffsbildung 11
richtete, die Piaton, sein Lehrer, erarbeitet hatte. Die moderne Philosophie hat dann zwar viele Unternehmen heraufgeführt, das philosophische Denken einer der alten Wissenschaften (der Geometrie) oder der neuen Naturtheorie (der mathematischen Physik) anzugleichen. Doch die klassische deutsche Philosophie kam wieder zu der Einsicht zurück, welche sie mit der klassischen Philosophie der Griechen in eine neue Verbindung brachte: Die philosophische Grundlegung hat nach einem nur ihr eigentümlichen Verfahren zu geschehen. Und über dies Verfahren ist nur Klarheit zu gewinnen, wenn in einem damit Klarheit über den gesamten historischen Gang des Denkens erreicht wird — über seine guten Gründe ebenso wie über seine Verwicklungen und Irrwege. Kants Kritik ist zugleich eine Theorie der Denkmotive und ihrer Logik, aus denen sich zuvor die Positionen formierten, welche er „dogmatische" und „skeptische" nannte. Hegels spekulative Logik schließt fugenlos eine Theorie des Aufbaus aller historischen Gestalten der Metaphysik in sich ein. Kants und Hegels Überblick über die Geschichte der Philosophie läßt sich aus ihrem Selbstverständnis erklären: Sie wollten das Denken aus einer zuvor unvermeidlichen Gegenläufigkeit von Möglichkeiten auf eine sichere Grundlage stellen. Und sie meinten, diese ihre Grundlegung ergäbe nicht nur einen verläßlichen Methodenbegriff, der ja mit künftiger Theorienvielfalt vereinbar gewesen wäre, sondern ebenso auch schon den Grundriß eines Systems, das dauern müßte. Sie zielten somit auf einen Abschluß der philosophischen Denkanstrengung im Prinzip. Insofern aber der Methodenbegriff zugleich einen solchen definitiven Abschluß ergeben sollte, konnte 'der Umstand, daß er dem Denken bisher unzugänglich geblieben war, nicht als unerklärbarer Zufall oder aus dem Denken ganz fremden Bedingungen verstanden werden. Es mußte einem Denken, das mit seinem Begriff auch zu seinem Abschluß kommt, selbst eigentümlich sein, nur in einer Anstrengung gegen in ihm selbst begrün12
dete Täuschungsquellen oder bloß vorläufige und im Grundsatz unvollständige Konzepte seiner selbst zur Klarheit über sich zu gelangen. Die Einsicht in die Geschichte seiner Herkunft aus einer selbst einsichtigen Folge von Weisen und Stufen sich zu verfehlen, gehört somit zu dem eigentlichen Verstehen seiner selbst, zu dem das Denken erst in seiner Vollendung zu finden vermag. Da nun aber die klassische deutsche Philosophie selbst in die Geschichte des Denkens übergegangen ist, kann dieses ihr Selbstverständnis nicht weiter fortgeschrieben werden. Was auf sie folgte und vor allem was sich an sie anschloß, läßt sich nicht als Ausfluß der bloßen Unfähigkeit der Nachfolgenden verstehen,' an dem wirklich erreichten Abschluß festzuhalten oder ihn doch immer aufs neue anzueignen. Und diese Denkfigur, an die sich zu binden orthodoxe Kantianer und Hegelianer nicht umhin können, ist am meisten durch die historische Verständigung über die eigentliche Verfassung der klassischen deutschen Philosophie der Glaubwürdigkeit beraubt worden, zu der wir zweihundert Jahre nach deren Beginn schließlich gelangt sind. Wir haben Kants Kritik und Hegels Logik mit einer Anstrengung durchsichtig zu machen versucht, die durch ihre Ausdauer und die Differenziertheit ihrer analytischen Mittel alles übertrifft, was Kants und Hegels Zeitgenossen aufwenden konnten. Sie mußten sich auf die in ihrer Zeit neuen Methoden und Systeme des Denkens unmittelbar einlassen, sei es im Anschluß an oder im Widerspruch gegen sie. Aus der Distanz zu ihnen und aus den Unzulänglichkeiten ihrer späteren Aneignungsgeschichte wuchs uns die Aufgabe, aber auch die Möglichkeit zu, ihre innere Formation in Jahrzehnten einer Bemühung nachzuzeichnen, die sich auf definitive Schlußfolgerungen nicht vorab oder doch alsbald festzulegen hatte. Dabei hat sich aber herausgestellt, daß auch die Begründer der klassischen deutschen Philosophie selbst nicht in schon vollendeter Klarheit über ihrem eigenen Begründungsgang standen, daß 13
sie ihre imponierenden Werke vielmehr auf der Grundlage einer unzulänglich reflektierten Methode und Weise der Systembildung ausgearbeitet hatten. So zeigte sich auch, daß diese Konzepte gerade in dem, wodurch sie Aufklärung über die Grundlagen des Denkens sind, aus ihrem eigenen Wortlaut nicht dauerhaft aufgeschlossen und nicht eindeutig oder gar überzeugend gemacht werden können. Sie bedürfen darum einer Wiederholung aus selbständig erworbenen Gesichtspunkten. Und die muß grundsätzlich dazu imstande sein, auch von ihrer Selbstdarstellung abzuweichen, um gerade dadurch erst, sei es den wirklichen Aufbau ihrer Begründungsform, sei es das bestmögliche Muster für einen solchen Aufbau in ihrem eigenen Sinne, zu erreichen. Wenn es sich aber so verhält, so ergeben sich Folgerungen für die Stellung der klassischen deutschen Philosophie in der Geschichte des Denkens, und zwar zum einen in Beziehung auf die ihr vorausgehende Denkgeschichte, zum anderen aber auch in der Geschichte ihrer eigenen Entfaltung. Zum ersten: Kant hatte ebenso wie Hegel die Klarheit in der Begründung der eigenen Grundtheorie mit der Übersicht über die vorausgehende Geschichte des Denkens verbunden — und zwar so, daß diese Übersicht aus der Klarheit und Überzeugungskraft der Begründung und Selbstbegründung in einer abschließenden Theorie ermöglicht und hergeleitet sein sollte. Ist aber die Abschlußtheorie ihres eigenen Methodenkonzeptes selbst gar nicht wirklich mächtig, so daß es aus historischer Distanz sowohl neu gewonnen wie zu höherer Klarheit gebracht werden muß, so scheint sich das Verhältnis von systematischer Klarheit zu historischer Übersicht nunmehr in Richtung auf eine Umkehrung zu verschieben: Daß eine neue Grundtheorie eine Übersicht über die Wege des Denkens im Rahmen eines selbst wieder systematischen Konzeptes erlaubt, wird zu einem wesentlichen Moment ihrer eigenen Beglaubigung. Sie eröffnet eine Dimension von Denken und Begründen, von der her sich die widerstrei14
tenden Möglichkeiten zur philosophischen Theorie, die ein Bewußtsein unheilbarer Verwirrung und einer grundlegenden, aber nicht eigentlich faßbaren Mangellage nach sich zogen, als zwar nicht harmonischer, aber doch sinnvoller Gesamtzusammenhang darstellen. Und eben die Fähigkeit zu einer solchen Darstellung gibt nunmehr ein gutes Argument dafür ab, eine Grundtheorie auch dann für überzeugend oder gar unabweisbar zu halten, wenn die Weise, in der sie sich selbst theoretisch rechtfertigt, nicht zur vollen Durchsicht gebracht ist, wenn sie eigentlich kaum übersehbare Mängel in der Selbstdarstellung und Selbstrechtfertigung aufweist. Aus der Umkehrung in den Graden der Klarheit zwischen historischer Rechtfertigung und systematischer Selbstdarstellung sind aber, zum anderen, auch Folgerungen zu ziehen, welche unsere Verständigung über den historischen Prozeß betreffen, in dem die Methodenbegriffe und die Systemformen der klassischen deutschen Philosophie aufeinander gefolgt sind. Und es sind diese Konsequenzen, denen die folgenden Überlegungen zur Methodik der Erforschung der klassischen deutschen Philosophie vor allem nachgehen wollen. Traut man den Begründern ihrer Konzeptionen zu, die eigene Leistung ganz zu durchschauen und in einer angemessenen Selbstdarstellung zu beherrschen, so muß sich ein ganz anderes Bild von den Verhältnissen zwischen ihnen ergeben als dann, wenn man zu der Überzeugung gelangt, daß sie die Gründe, die sie zu ihrer Konzeption bewogen, weit besser verstanden als deren Aufbau und die inneren Bedingungen, kraft derer er Zustandekommen konnte. Sieht man in den Begründern selbstgenügsame Heroengestalten des Denkens, so kann das Verhältnis unter ihnen nur nach einem der beiden folgenden Modelle gedacht werden: Ihre Konzeptionen sind entweder Alternativen, die zur Entscheidung gegeneinander stehen, oder notwendige, in sich selbst aber 15
jeweils vollendete Stufen in einem Erkenntnisprozeß, der eben diese Stufen zu durchlaufen hat, um zu seinem eigentlichen Abschluß zu kommen. Kämen nun nur diese Modelle in Betracht, so müßten wir uns für das erste von ihnen entscheiden — also gegen Hegel und auch gegen die gegenüber Hegels Anspruch unentschiedene Mehrheit der späteren Historiker der Philosophie. Denn die Verständigung über die klassischen Systembildungen aus der historischen Distanz hat zumindest ergeben, daß die Gesamtleistungen von Kant, Fichte und Hegel nicht in eine lineare Zuordnung und eine einsinnige Abfolge gestellt werden können. Fichtes Wissenschaftslehre ist mit Kants Kritik durch ihre Orientierung am gnoseologischen Problem verbunden. Sie teilt aber mit Hegels Logik die methodische Fundierung durch eine Formalontologie, in welcher der Gegensatz, also eine Form von negativer Beziehung, eine mit Kants Denken unvereinbare Grundstellung innehat. Andererseits ist Fichtes Ausgang von der Theorie des Erkennens und von Bewußtsein überhaupt ein entscheidender Grund dagegen, seine Gegensatzlehre zu einer spekulativen Negationstheorie auszubilden, der in Hegels Logik eine Schlüsselstellung zukommt. Insoweit sind alle drei Positionen also wirklich als inkommensurable Alternativen zueinander anzusehen. Darüberhinaus bleibt aber die weitergehende Einsicht in Kraft, daß keine der drei Konzeptionen zur vollen Durchsicht durch die eigenen Formationsbedingungen und damit zu einer dauerhaft haltbaren Selbstdarstellung ihrer methodischen und systematischen Verfassung gelangen konnte. Am ehesten ist dies noch Kant zuzugestehen, der die kritischen Hauptwerke am Ende eines langen Arbeitsganges, nicht in jugendlichem Alter und aus früh entschlossenem Zugriff, konzipiert hat. Aber seine Selbstinterpretation gewinnt ihre Überlegenheit nicht aus konziser, allseits gesicherter und ausgiebig begründeter Methodenklarheit. Sie 16
ist vielmehr Kants Besonnenheit zu verdanken, welche die Methodenbegriffe dort im Unbestimmten stehen läßt, wo sie sich ihm als unzugänglich für eine überlegte und theoretisch beherrschte Rechenschaftslegung erwiesen. Wir müßten imstande sein, die Einsatzpunkte und die Entfaltungsart aller drei Konzeptionen aus eigener, wenngleich von ihnen angeleiteter Kraft in ein stabiles Verhältnis zueinander zu bringen, wenn es uns gelingen sollte, den theoretischen Raum, der sich zwischen ihnen öffnete, auszumessen und in einer Theorie zu beherrschen, die nicht am Ende doch wieder auf unvereinbare und gar unbezogene Alternativen hin ausdifferenziert werden muß. Nun sind aber alle diese Konzeptionen zwar nicht Leistungen einer Generation, aber doch einer Epoche, die das Maß von dreißig Jahren nicht einmal erreicht. Durch diese Anzahl von Jahren pflegt man aber eine Generation zu definieren. Die Konzeptionen der klassischen deutschen Philosophie sind somit Leistungen von Zeitgenossen. Noch zur Lebzeit Kants und während er sich weiter um die letzte Fassung seiner transzendentalen Begründung mühte, hatten die Konzeptionen Fichtes und Hegels schon ihre letzte reife Form angenommen. Wenn wir sie aus der Distanz und ohne den Druck einer durch sie schlechthin bestimmten Problemlage nur nach einer jahrzehntelangen Anstrengung in ein angemessenes Verhältnis zueinander stellen können — um wieviel weniger war von ihren Zeitgenossen zu erwarten, daß sie zur Klarheit über die theoretische Konstellation und das Spektrum von Theoriemöglichkeiten hätten kommen können, unter denen sie ihre theoretischen Entscheidungen zu treffen und im Blick auf die sie einen auf Einsicht begründeten Lebensweg auszubilden hatten!
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Zur Architektonik
II. Theoretische Konstellationen und Konstellationen in Gesprächen Je tiefer wir uns in die Diskussionsgänge einarbeiten, über welche die Rezeption der Kantischen Kritik in die erste Ausbildung der folgenden System- und Methodenkonzepte hinüberwirkte, um so deutlicher werden die Auswirkungen der Unübersichtlichkeit jener für Zeitgenossen im Grunde unbeherrschbaren Konstellation. Die Debatte über Kants Vernunftkritik kam seinerzeit nur langsam in Gang. Sie wurde zunächst von den Vertretern der metaphysischen und der empiristischen Schulphilosophie aufgenommen. Sie haben sie mit der für solche Debatten bisher gewohnten gemächlichen Gründlichkeit eingeleitet. Doch bald kam in der Rezeption von Kants Kritik eine ganz andere Ton- und Gangart auf. Es wurde Ernst gemacht mit dem Bewußtsein, das auch Kants eigenes gewesen war: daß die Kritik nicht nur eine Stelle in der Theoriegeschichte besetzen würde, daß sie vielmehr der Geschichte der Menschheit zugehört, so wie die Werke von Luther und Rousseau. Diese Wandlung in der Rezeptionsweise wurde erst dann unvermeidlich, als Kants moralphilosophische Grundwerke erschienen waren. Denn in ihnen wurde vollends deutlich, daß die Kritik für den „gemeinen Mann" sprechen wollte, daß sie als Theorie zugleich auf eine Klärung und damit eine Befreiung seines Selbstbewußtseins und seiner Selbstinterpretation abzielte. So trat der Zusammenhang zwischen der Kritik auf der einen Seite und den großen Zeitfragen auf der anderen Seite ins Licht, welche nicht die Grundlagen der Erkenntnis, sondern die der Religion und des Staates betrafen. Mit Reinholds Anschluß an Kant und mit Jacobis erster Kantkritik war diese Umbildung der Anschlußweise an Kant vollzogen. In der Atmosphäre theoretischer Erregtheit, die so entstanden war, traten in schneller Folge und immer aus irgendeiner Anschlußnahme an Kant, die sie über alle Differenzen hinweg mit18
einander verbunden hielt, die weiteren Konzeptionen der klassischen deutschen Philosophie hervor. Nur wenige v o n ihnen, vor allem die Konzeptionen v o n Fichte und v o n Hegel, haben ein theoretisches Gewicht, das dauerhaft dahin wirken wird, sie als Alternativen zu Kants eigener Theorieform in E r w ä g u n g zu halten. Damit war jene Konstellation eingetreten, die es ausschloß, v o n Zeitgenossen selbst in sichere Übersicht gebracht werden zu können. D i e Einreden der alten Kritiker, um die sich nun neue Skeptiker und die Theologen scharten, die v o n der kritischen Philosophie herausgefordert waren, konnten sich, die der Skeptiker ausgenommen, kaum noch Gehör verschaffen. Auch wenn sie Argumentationen v o n Rang aufboten, standen sie doch abseits der Bahnen, in denen sich das Denken zu orientieren hatte: auf die E r k u n d u n g der Grundlagen und der ferneren Konsequenzen, die aus dem Kantischen Neubeginn in der Theorie ebenso wie in der Verständigung über Religion und Staat gezogen werden konnten. Und in diese E r k u n d u n g war jene Dringlichkeit, die Eile bei einem nicht zu vertagenden Geschäft, gekommen, welche zwar nicht der Forschung, wohl aber der Selbstverständigung auf einem gefährdeten Lebensweg eigen ist. In'der Arbeit und im Wirken derer, die bei der Ausbildung der klassischen deutschen Philosophie auf ihrem weiteren W e g e irgendeine Rolle gespielt haben, läßt sich diese Eile, die aus Orientierungsnot kommt, überall erkennen. Jeder v o n ihnen hatte zwischen seiner Begabung, seinem spezifischen Interesse, seinen Lebenskonflikten und auch zwischen seiner Vorsicht und seinem theoretischen Wagemut ein mehr oder weniger prekäres Gleichgewicht zu finden. Die aber mit wirklicher Konzeptionskraft und der K r a f t zur Selbständigkeit auf ihrem W e g begabt waren, konnten in einer solchen Situation und in einer Zeit, deren K ü r z e erstaunen macht, Leistungen des Denkens aus sich heraussetzen, welche die Bedingungen ihres Ursprungs überragen, obgleich deren 2»
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Spuren auch in sie eingezeichnet geblieben sind — deutbar aber erst für die in unserer Zeit in Gang gekommene Forschung. Man darf solche Entstehungsbedingungen nicht schon vorab zum Einwand gegen die Glaubwürdigkeit dieser Leistungen machen. Es gehört zur Philosophie als solcher, daß in ihr die Konzeption einen Vorrang gegenüber der Forschung und der Ausbildung der Details hat — und zwar in einem Maße, das Philosophie deutlich von anderen theoretischen Disziplinen unterscheidet. Viele der großen Theorien der Philosophie sind Konzeptionen, die aus kritischen Lebenslagen und aus dem Zwang zur Verständigung hervorgegangen sind. Piatons, Descartes', Spinozas und Rousseaus Werk geben dafür Beispiele jenseits des deutschen Sprachraums. Und solcher Zwang ins Denken muß auch nicht zu dessen Befangenheit führen. Er kann das Problembewußtsein steigern und die Wachheit für die Entdeckung von möglichen Denkbahnen, die andernfalls nicht deutlich erfaßt und sicher nicht eingeschlagen worden wären. Dennoch haben im Falle der klassischen deutschen Philosophie besondere Umstände dazu geführt, daß die Nötigung ins Denken die Übersicht über seine Verfassung ausgeschlossen hat: Die durch Kant schon zu extremer Höhe gesteigerte Problemlage, sein gänzlich neuer und von jeder etablierten Wissenschaft abgesetzter Methodenbegriff, die besonnene Verweigerung Kants, über die von ihm gebrauchte Methode eine durchsichtige Rechenschaft zu geben, die Verpflichtung jeder Konzeption, die Kant nachfolgte, auf die Engführung der philosophischen Grundtheorie mit einer Aufklärung über die eigentlichen Grundlagen der Religion und der politischen Freiheit. Man versteht aber nun, warum einer solchen Situation der philosophischen Kommunikation eine besondere Bedeutung zuwachsen muß. Leibniz' System konnte in der Isolation und in der Form von Briefwechseln über Europa hinweg ausgearbeitet und dargelegt werden. Noch Kant erarbeitete die 20
Kritik am Rande der gelehrten Welt. An seinem Tisch war alles Thema einer ausgedehnten und gepflegten Konversation — mit der einen Ausnahme der Philosophie. Noch der Anfang von Fichtes Weg war der eines vereinsamten Hofmeister. Aber die fernere Entfaltung der klassischen deutschen Philosophie ist von Lagen des Austauschs und des anhaltenden Gesprächs nicht abgehoben zu denken. Diese Gespräche waren angebunden an eine öffentliche Debatte in den weitverbreiteten Rezensionsorganen der Zeit, deren Tempo extrem beschleunigt war. Was aber in ihnen entschied, war doch die Verständigung im direkten und vertrauten Austausch oder im Blick auf die Leistungen von Mitstreitern und Freunden, mit denen man einst in solchem Austausch gestanden hatte. So erklärt es sich zu einem guten Teil, daß die weiterführenden Leistungen des Denkens nach Kant ihre Wurzeln an nur wenigen Orten hatten, die einen solchen Austausch in einer Situation der Orientierungsnot und der Öffnung neuer Denkbahnen begünstigten: unter Stipendiaten des Tübinger Stifts, an der Universität Jena, in Hölderlins Umkreis in Frankfurt und Homburg. Und daraus erklärt sich weiterhin, daß die Erforschung der klassischen deutschen Philosophie in der späteren Phase ihrer Ausgestaltung vor spezifischen Schwierigkeiten steht. Die Werke, die aus diesen Konstellationen hervorgingen, wurden jedermann zugänglich vor die Augen der Zeitgenossen und der Nachfolgenden gelegt. Aber die Evidenzen, von denen diese Werke ausgehen und die sie denkend auszuarbeiten suchen, wurden in Gesprächslagen und in Beziehung zu den Ideen und Positionsnahmen von Freunden gewonnen, die nur spärlich oder gar nicht überliefert worden sind. So ist eine Voraussetzung adäquaten Verstehens, diese Gesprächslagen aus dem Schatten der reif gewordenen Werke und aus den Spuren von oft früh sich verlierenden Lebensbahnen von Teilnehmern solcher Gespräche wieder hervortreten zu lassen. Diese Aufgabe ver-
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bindet die Bemühung um die Verständigung ,und die innere Form der entwickelten klassischen deutschen Philosophie mit der Bereitschaft, in Forschungsunternehmen vom Stile der historischen Feldforschung einzutreten. Sie sind lange behindert worden durch den Reichtum der literarisch dokumentierten Denkleistungen. Diese Fülle disparater und doch verwandter Gedanken kam in so kurzer Zeit auf, daß die Meinung begünstigt werden konnte, die Publikationen der Zeit böten genügenden Anhalt für eine Aufklärung, die erschöpfend sein kann. Inzwischen sind wir aber zu der Einsicht gekommen, daß selbst noch in der kurzen Zeit, die von Kants Wirkung bis zur Reife von Hegels Werk verging, Gesprächslagen und Etappen der Verständigung wesentliche Bedingungen der Entfaltung der Gedanken waren, die sich beinahe ganz in der Verständigung zwischen Personen und diesseits jeglicher Publikation ausgebildet haben. Briefwechsel und oft nur durch glückliche Zufälle überlieferte Manuskripte sind darum die einzigen Dokumente, die einer Rekonstruktion durch Forschung Anhalt und Verläßlichkeit geben können. Nur darf diese Einsicht wiederum nicht zu der Meinung führen, daß der Rückgang auf solche in ihrer Weise durchaus produktive und für unsere Erkenntnis der Denkgeschichte der klassischen deutschen Philosophie wesentliche Etappen die Ausbildung der Werke erschöpfend erkläre, um derentwillen die detektivisch-historische Aufklärung der Konstellationen erfolgt, aus denen heraus sie zustande kamen. Die Konzeptionen bleiben die Leistungen einzelner, insofern ihre formativen Grundgedanken nur von ihnen allein erfaßt und in einen systematischen Entwurf überführt worden sind. Aber diese Gedanken und Entwürfe kamen auf und entfalteten sich auf einem von ihren Autoren nur unzureichend aufgeklärten Fundament. Und sie mußten gleichwohl extrem weit ausgespannten Zielsetzungen folgen. Denn sie hatten, in der Fortführung des Kantischen Programms, sowohl eine gänz22
lieh neue Weise der Begriffsbildung und der Begründung wie auch eine Systematik zu gewinnen, in der die Freiheit des spontan sich bildenden Bewußtseins und damit die eigentlichen Grundlagen von Religion und Menschengemeinschaft begriffen und beheimatet sein konnten. Es war der große Zuschnitt und die Dringlichkeit dieses Zieles, das dem vertrauten philosophischen Dauergespräch, dem „Symphilosophieren", die Kraft und die Rolle zuwachsen ließ, leitende Evidenzen für die Ausbildung von Systemen entstehen zu lassen, welche nicht nur die intellektuelle Welt des gesamten Europa verändert haben. Es sind somit die Grundorientierungen und die grundlegenden Wendungen in der Orientierung eines Lebenswerkes, in denen sich dessen Einbindung in eine Konstellation des Gespräches nachhaltig und dauerhaft auswirkt.
III.
Konstellationsforschung
So haben wir also in unserem Bemühen um Aufklärung über die klassische deutsche Philosophie zwei Arten von Konstellationen zu berücksichtigen: Zum einen die Konstellation zwischen den Begriffs- und Systembildungen der großen Theorien und zum anderen die Konstellationen des philosophischen Gesprächs, die für die Ausbildung der Systeme nach Kant und Fichte und wohl auch für Fichtes eigenen Weg in Jena und über Jena hinaus eine nicht ignorable Bedeutung gehabt haben. Beide Arten von Konstellation sind von jeweils gänzlich anderer Art. Und die Erkenntnis einer jeden von ihnen verlangt den Gebrauch von nur für sie geeigneten Methoden — die erste Verfahren der Analyse von Argumentund Begriffsformen, die zweite die Verfahren der historischen Quellenforschung. Aber beide Methoden müssen doch in Verbindung miteinander ins Spiel gebracht werden. Und die Aufgaben, denen 23
sie nachgehen, sind nur in ihrer Beziehung aufeinander sicher genug zu bestimmen. Denn die historische Quellenforschung würde blindes Suchen bleiben und könnte allenfalls zur Bereicherung einer unphilosophischen, weil gegen Gedanken abgeschotteten Motiv-, Geistes- oder Sozialgeschichte gelangen, wenn sie nicht aus der Einsicht in die theoretischen Bedingungen ihre Anleitung gewinnt, unter denen die Systeme der klassischen deutschen Philosophie konzipiert worden sind — der Einsicht in das Dunkel der methodischen Begründung des Denkens, auf die Kant und mehr noch seine Nachfolger aus waren, und somit in das Ungenügen der von ihnen vorgetragenen Selbstdeutungen. Aber diese Einsicht ist umgekehrt wiederum eine noch immer unzureichende Voraussetzung dafür, die Aufgaben, denen sich diese Konzeptionen verpflichteten, und die Evidenzen, denen sie folgten, verständlich zu machen. Dazu bedarf es des Aufschlusses über die Konstellationen der Gesprächslagen, in denen auf dem noch durchaus unvermessenen Terrain einer neuen philosophischen Methode und Problemanordnung die Klarheit und die Entschlossenheit der neuen Systemkonzepte gewonnen worden sind und auch allein gewonnen werden konnte — der Konzepte, die theoretische Interessen nur dann zu befriedigen vermochten, wenn sie ebensosehr dem Leben dienen, indem sie dessen vor ihm selbst zuvor verstellte Verfassung zu begreifen wußten. So müssen wir uns also auf eine doppelte und in der Doppelung kombinierte Analyse zweier Typen von Konstellation dauerhaft einlassen, wenn eine Verständigung über die klassische deutsche Philosophie zustande kommen soll, die ihrer historischen Gestalt und den in ihr freigekommenen Möglichkeiten des Denkens gleichermaßen gerecht werden kann. Noch stehen wir am Beginn von Arbeitsgängen, die aus der Orientierung an dieser Forschungs- und Denkaufgabe hervorgehen. Zwar werden derzeit zuvor ungekannte Auf-
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Wendungen gemacht, um die Werke und die Werdegänge der nachkantischen Systembildungen zu erschließen. Aber diese Anstrengungen sind doch noch immer weitgehend fragmentarisch. Sie ergeben sich vor allem im Rahmen der Arbeit an den kritischen Werkausgaben der Philosophen. Doch sind sie auch dort, wo sie nicht in diese eingebunden sind, zumeist aus dem Bemühen um nur einen der maßgeblich gewordenen Systementwürfe motiviert. In dieser Begrenzung kommen aber die eigentlich formativen Bedingungen für die Ausbildung der klassischen deutschen Philosophie nach Kant nur verzerrt in den Blick. Denn diese Bedingungen müssen einer so orientierten Arbeitsweise als Randbedingungen einer Werkgeschichte erscheinen. Angemessener aber wäre eher noch die direkte Umkehrung der Orientierung, in der dann die Werkgeschichten als später Ausfluß einer Konstellationsgeschichte zur Darstellung kämen. Auch darin läge freilich noch immer eine Deformation. Denn es gibt wirklich die individuellen Leistungen, derer, die eine maßgebliche Konzeption erarbeitet haben. Sie muß aber als solche auf die Konstellationen des Gesprächs durchgängig bezogen bleiben, von denen sie sich schließlich abgehoben hat. Sie muß zudem von dem Spektrum der theoretischen Möglichkeiten her erwogen werden können, die sich in dem nach Kant unübersichtlich gewordenen Terrain philosophischer Grundlegungsprobleme aufgetan haben. Und dies ist wohl die noch schwierigere Aufgabe. Denn sie verlangt Vertrautheit mit mehr als nur einer der Konzeptionen der von Kant ermöglichten Epoche der Philosophie. Und sie verlangt zudem, daß man sich in diesen Konzeptionen mit anderen als nur den von ihnen selbst bereitgestellten Mitteln zu bewegen vermag, ohne damit auch schon den Kontakt zu den Intentionen zu verlieren, aus denen sie hervorgegangen sind. Aber keine der beiden Aufgaben läßt sich auf die andere reduzieren. Und keiner der die Ausbildung der nachkantischen Philosophie determinierenden Faktoren läßt sich zugunsten 25
des einen oder des anderen unter ihnen in den Hintergrund drängen. Der Komplexion dieser historischen Epoche des Denkens kann nur eine in sich selbst ebenso komplexe Orientierung und Verfahrensart einer ebenso historischen wie philosophischen Aufklärung gerecht werden. E s versteht sich, daß die Umsetzung dieser methodischen Aufklärung in wirkliche Forschung nach neuen Formen der Kooperation verlangt. Auch in der Philosophie sind Forschungsinstitute mit vielerlei Zweckbestimmungen eingerichtet worden. Die Aufgabe der Edition der Werke einzelner Philosophen dominiert unter ihnen. Aber diese Organisationsweise wird bald schon quer stehen zu den Fragestellungen, welche in Beziehung auf die klassische deutsche Philosophie die eigentlich produktiven sind. Unter der Voraussetzung der bestehenden Organisationsweise wäre zunächst einmal produktiv die Verflechtung der Diskussion um die Ausgaben untereinander. In dieser Richtung sind einige wenige Schritte auch schon getan worden. Doch muß weitergegangen werden. Das fortgeschrittene philosophische Problembewußtsein muß Eingang finden in die Arbeit am Aufschluß über die Formationsbedingungen der Theorieformen der klassischen deutschen Philosophie. Ein wesentlicher Grund dafür ist, daß sich deren historische Erforschung von der Werkgeschichte zur Konstellationsgeschichte zu wandeln hat. Und es ist dargelegt worden, warum eine solche Forschung ohne alle Anleitung ist, wenn sie diese Anleitung nicht aus dem Blick auf die Grundbedingungen gewinnt, unter denen das Denken stand, das seinen Ausgang von Kant genommen hat. So müssen Arbeitsweisen entwickelt werden, die nicht dazu tendieren, in der Alltagsroutine von Editoren oder Archivaren aufzugehen, die sich aber ebensowenig über diese Art der Arbeit nur hinwegsetzen. So muß eine neue Weise des Symphilosophierens, dem die klassische deutsche Philosophie (wie in ihrer Weise übrigens auch die analytische) so viel verdankt, auch die Konstellationsforschung begleiten 26
und durchdringen. Nur wer selbst Philosoph ist, kann bei der Aufklärung einer der produktivsten Epochen des Denkens andere als Kärrnerarbeit — und womöglich noch eine diffuse — leisten. Auf solchen Wegen kämen wir auf einer neuen Stufe philosophischer und historischer Bewußtheit wieder in eine Entsprechung zu der Situation, von der die Erforschung der klassischen deutschen Philosophie in der Berliner Akademie den ersten und noch immer fortwirkenden Impuls gewonnen hat — in eine Entsprechung also zur Leistung v o n Wilhelm Dilthey. Es kann nicht ausbleiben, daß in einer solchen Situation und in der ständigen Nachfrage nach den Formationsbedingungen einer maßgeblichen Epoche des Denkens auch eine Frage in den Blick kommt, die zum Problembestand der Philosophie als solcher gehört: Was das Verhältnis des Denkens zu seiner Geschichte ist und wie infolge dessen die Stellung der Philosophie in der Geschichte des Zeitalters zu bestimmen ist, das auch unsere Gegenwart über alle Wandlungen hinweg noch mit der klassischen deutschen Philosophie verbindet. Die Konstellationsforschung ist in ausgezeichneter Weise offen auch für diese Fragestellung: Sie gilt Gedanken, sowie deren Ursprung und Begründung, nicht nur Interessen, die nach irgendeiner Rechtfertigung verlangen. Aber sie gilt wiederum auch Gedanken nur insofern, als sie aus Lebenslagen hervorgehen, die der Orientierung aus und im Denken bedürftig sind. Und sie geht somit auf Gedanken, die, anders als irgend eine wissenschaftliche Theorie, gegenüber ihrer Aneignung in einem bewußt geführten Leben nicht gleichgültig sein können.
JACQUES
D'HONDT
(Paris)
Der Tod der Philosophie in Frankreich Im Vorwort zu seiner wichtigen, unlängst erschienenen „Geschichte der Philosophie" schrieb Brice Parain: „Die Philosophie schickt sich vielleicht vor unseren Augen zum Sterben an." Aber er hoffe trotzdem weiter auf ein Überleben, während andere — weniger zartfühlend — schon meinten, einen Totenschein ausstellen zu können.
Zweideutiges Und so verkündete und verkündet man verschiedenenorts den Tod der Philosophie. Im allgemeinen wird die Nachricht lustvoll dramatisiert: „Madame liegt im Sterben! Die Dame Philosophie ist tot!" Manche lärmen dermaßen über diesen Tod, daß man beinahe meinen könnte, sie glaubten wirklich daran. Doch ihr wildes Geschrei hat nur geringe Wirkung. Philosophieprofessoren und' -Studenten sind darüber zwar aufgebracht, aber nicht tief betrübt. Offen gesagt: man nimmt das Geschrei nicht ganz ernst, es löst nur verschwommenes Unbehagen und unklare Beklemmungen aus. Weshalb bewirkt es nur diesen relativ diffusen Skeptizismus? 28
Zuerst - vielleicht deswegen, weil diejenigen Koryphäen, die der Philosophie den Tod bescheinigen oder sein Nahen voraussagen, selbst meist nicht jenes endgültig klingende Wort als Benennung dafür verwenden. Sie spüren, auch wenn sie sich das nicht klar machen, wie waghalsig und unsicher eine so ausgedrückte Proklamation wäre. Sie sprechen daher lieber von einem Ende, einem Erlöschen, Sich-Erschöpfen, Verschwinden der Philosophie: eine sanftere Sterbehilfe. Den groben Ausdruck ,>Tod der Philosophie" verwenden vor allem unbesonnene Schüler, schlagzeilenbeflissene Journalisten oder um Effekte verlegene Redner. Und sie versuchen dann noch, andere dafür verantwortlich zu machen. Denn selbst zu den weniger pathetischen Worten wird nicht so ohne weiteres gegriffen. Zuweilen resultiert ihr Gebrauch nur aus falschem Verstehen, aus geistiger Leichtfertigkeit von Lesern, Kommentatoren oder Übersetzern. Aus nichtigen Gründen wird die Idee vom Ende der Philosophie großen Autoren zugeschrieben, die sie selbst vielleicht nie gehabt haben. Man kennt schöne Beispiele für solche Fehlgriffe. So wurde der Titel einer berühmten Schrift von Friedrich Engels wie folgt ins Französische übersetzt: Ludwig Feuerbacb et la fin de la philosophie classique allemandeA Nun ist gewiß gleich anzumerken, daß es sich gerade um die klassische Philosophie und speziell die deutsche handelt, daß also eben nicht die ganze Philosophie in Rede steht. Jenes teilweise Ende bereitet vielmehr den Boden für eine andere Philosophie, die nicht mehr klassisch, nicht mehr nur deutsch wäre: gerade für die neue Philosophie eines Engels und seines Freundes Marx. Vor allem ist jedoch einzuwenden, daß Engels im Deutschen den Ausdruck Ausgang verwendet, der zwar in man1
F. Engels, Ludwig Feueibach et la fin de la philosophie classique allemande, Paris 1966.
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chen Fällen das Ende bedeuten kann — aber immerhin in dem grundlegenden Sinn eines Hinausgehens, eines Auswegs, einer Öffnung zu einem anderen Ort, eines Übergangs. Engels hätte das deutsche Wort nehmen können, das dem französischen la fin am strengsten entspricht: das Ende. Auch dieses Wort ist übrigens nicht synonym mit Tod in all dessen Anwendungsfällen. Wenn Balzac das Wort fin, Ende, unter ein Manuskript setzt oder wenn das Wort Ende auf der Leinwand des Kinos erscheint, dann bedeutet das nicht, daß der Roman oder der Film tot seien, sondern vielmehr, daß sie sich dem Leben darbieten, dem Publikum und dem Gedächtnis. Was die Schrift von Engels angeht, müßte die Übersetzung des Titels lauten: Ludwig Feuerbach et l'issue de la pbilosophie classique allemande, denn Engels wollte darin zeigen, daß die Entwicklung dieser philosophischen Strömung, die er hoch schätzte und in Ehren hielt, dialektisch auf eine andere Philosophie führte und nicht auf die Abschaffung allen Denkens. Das ist zur Genüge belegt durch den Schluß dieses Textes: „Die deutsche Arbeiterbewegung ist die Erbin der deutschen klassischen Philosophie." 2
Die Gefahren der Metapher Dieses Beispiel wurde nur angeführt, um gleich eingangs zu zeigen, daß sich bezüglich des Schicksals der Philosophie mehr oder minder deutlich eine bunte Konstellation von Wörtern abzeichnet: von Wörtern mit angrenzenden, schwer unterscheidbaren Bedeutungen, die sich wechselseitig so berühren und andere — stärkere — zur Folge haben, daß Gefahren für das klare Denken entstehen. 2
Ebenda, S. 85. — F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: K.Marx/F. Engels, Werke, Bd. 21, Berlin 1962, S. 307.
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Welcher Ausdruck auch immer gewählt wird — es gilt hier nachzuforschen, welcher Gedanke wirklich nahegelegt werden soll. Und letzten Endes ist es wohl doch am besten, das Wort vom „Tod der Philosophie" festzuhalten, denn es ist eher als andere geeignet, Einwände auf sich zu lenken. Wenn es keinen Tod der Philosophie gibt, dann wird es auch kein Ende, Verbleichen, Verlöschen usw. derselben geben. Die Wahl dieses Wortes durch so viele Schriftsteller enthüllt nämlich gut die theoretische Verworrenheit und die pathetische Übertreibung, die ihre Intention kennzeichnen. Es entspricht in der Tat dem Wunsch, den zu beschreibenden Prozeß zu vermenschlichen. Warum eigentlich nicht? Warum nicht ein bewegendes Bild verwenden, um stärker aufmerksam zu machen? Das Bild vom Tod gibt der Idee, die man aufdrängen will, einen Anstrich des Trauerns und macht sie damit sinnlich zugänglich und populär. Das bietet etliche Vorteile, vorausgesetzt jedoch, daß man die Nachteile nicht verschleiert. Es gilt, sich die damit verbundenen Gefahren vor Augen zu halten — und womöglich auch das Tückische an dem Verfahren, das zu einem solchen Ergebnis führt. Viele wackere Geister scheinen zu vergessen, daß der Tod hier nur metaphorisch heraufbeschworen wird. Auf die Philosophie angewandt mag der Tod als Bild dienlich sein, aber mehr kann und darf es nicht ausrichten. Dessen muß man sich bewußt sein, und da ist denn Anlaß, mit Paul-Louis Courier auszurufen: „Jesus, mein Erlöser, erlöse uns von der Metapher!"3 Denn das Bild, das hier gewählt wird, begeht seine Sünden gewiß nicht in aller Unschuld! Das Wort Tod bringt sogleich auf den Todesgedanken, und daran ist nichts Erstaunliches. Aber man assoziiert zuerst den Tod der menschlichen Person, 3 P.-L. Courier, Œuvres complètes, Paris o. J., S. 211.
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mit seinem gesamten Geleit von Trauerzeichen: und in der Hinsicht kann man erstaunt genug sein, wenn man es ohne jede Vorsicht und Abwandlung auf die Philosophie angewandt findet. Der Todesgedanke weckt in uns mehr oder minder lebhaft ein Empfinden von Erschrecken, Furcht und Mitleid. Und diejenigen, die ihn mit Bezug auf die Philosophie hervorrufen, wollen nahelegen, daß ein eventueller Abgang der Philosophie mit dem Tod eines Menschen verglichen werden könne — oder gar ihm gleiche —, und daß er den Hinterbliebenen denselben Kummer aufbürde wie der Verlust eines seiner Lieben. Solch eine Gleichsetzung oder auch solch ein Vergleich ist aber — strenggenommen und so weit getrieben — unhaltbar. Wer wollte denn wagen, zur Philosophie die schmerzenden Fragen Paul Valérys, des Lukrez der Neuzeit, zu stellen: „Où sont des morts les phrases familières, L'art personnel, les âmes singulières?" („Wo sind die Worte, die den Toten fehlen, Wo ihre Künste, die besondren Seelen ?") / j Die Metapher bewirkt eine emotionale Erregung — und dazu wird sie gebraucht. Aber der Philosoph mißtraut dieser zu weit mitreißenden Emotion und so auch der Erregung und der Metapher samt der Illusion, die sie gemeinsam erzeugen: der Illusion, daß es sich bei der Philosophie um „phrases familières", „art personnel", „âmes singulières", um eine individuelle Lebensbegabung, um eine Persönlichkeit handele, die sich ihrer selbst und anderer bewußt wäre. Die Philosophie als solche ist weder ein Individuum noch eine Art, sie ist ein Allgemeines. Man muß einigen Leuten ihre 4
P. Valéry, Le Cimetière marin. — Nachdichtung: R. M. Rilke, Friedhof am Meer.
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Hoffnung nehmen, eines Tages die Philosophie so zum Tode zu befördern, wie man einen Passanten ermordet: mit einem einzigen Dolchstoß — wenn man geschickt genug ist.
D i e sterbliche Philosophie Solch eine Demystifikation versteht sich jedoch nicht von selbst, sie verlangt etliche komplexe Vorbemerkungen. Die Frage nach dem Schicksal der Philosophie ist nicht einfach, und diejenigen, die sich — ohne Umschweife! — für ihren Tod aussprechen, setzen sich zweifellos deswegen am stärksten ins Unrecht, weil sie diese Frage zu rasch entscheiden wollen. Der „Tod der Philosophie" steht für utid bezeichnet Situationen und Ereignisse, die man sich sehr verschieden vorstellen kann, und diese Vielfalt läßt sich nicht aussparen. Eine privilegierte Bedeutung zeichnet sich zunächst ab: jene der völligen Vernichtung der Identität oder Besonderheit, die das Lebewesen oder die konkrete Wirklichkeit kennzeichnet. Und hier ist ein Eingeständnis fällig. In diesem Sinn völliger Vernichtung des konkreten Charakters, der Identität und der Vereinigung der Unterscheidungsmerkmale eines Seienden ist die Philosophie, wie wir sehr wohl wissen, sterblich. Menschliches Tun und Werk, Tun und Werk eines in seiner Ausdehnung und Dauer begrenzten Menschengeschlechts: wir wissen wohl, daß das, was endlich, was bestimmt ist, eines Tages enden muß. Und zumindest dann, wenn das Menschengeschlecht am Schluß seines Weges anlangt, wenn es endet — wie man dieses Ende auch verstehen will —, wird mit ihm auch die Philosophie enden, so wie die Kunst, die Wissenschaft und das übrige. Die Philosophiebücher werden die Gesellschaft vielleicht einen Augenblick überdauern, gleich den Marmor3
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und Bron2estatuen, aber nur einen Augenblick — und zwecklos. Die Philosophie und das Menschengeschlecht sind in der Zeit entstanden und geboren worden, wenn auch ihre Geburt noch andauert; und alles, was entstanden ist, ist wert, daß es zugrunde geht. Selbst das imperiale Rom ist nicht mehr! Eines Tages — wenn man es so sagen darf — wird die Philosophie verscheiden.
Der kulturelle T o d Klar ist jedoch: Wenn der Philosophie heute mit dem T o d gedroht wird, dann ist ein ganz anderer T o d gemeint. Man zielt dann auf einen Tod, ein Verschwinden, eine Vernichtung nicht am Ende der menschlichen Entwicklung und infolge ihres Abbrechens, sondern während dieser menschlichen Entwicklung als ein innerhalb der menschlichen Erfahrung erlebtes Geschehen. Die Philosophie würde vor den Augen der Menschen umkommen, die Menschen aber würden weiterleben, sie sterben sehen und danach schmausen. Diesen T o d könnten wir zur Kenntnis nehmen, wir oder unsere Neffen. Wir hätten Muße, ihn zu beobachten — und aus ihm Lehren zu ziehen, seltsamerweise. Die Philosophie, würde zu den Opfern rechnen, die die Menschheit an ihrem Wege zurückläßt. Ist die Philosophie wirklich unter so bestimmten Bedingungen vergänglich? Dazu wäre nötig, das sei angemerkt, daß keines ihrer Unterscheidungsmerkmale, kein Glied ihrer Bestimmung mit Notwendigkeit einem Wesenszug des Menschen selbst entspräche. Der Mensch müßte eines Tages die Philosophie als Ballast abwerfen können, ohne dadurch etwas v o n dem zu verlieren, was ihn zum Menschen macht. Die Bestimmung der Philosophie müßte — in ihrer Allgemeinheit — so parti-
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kulär, so eng und so ärmlich bleiben, daß sie mit keinem wesentlichen Merkmal des Menschen zusammenfällt. Also brauchte man die Philosophie nur angemessen zu bestimmen, damit es keinen Tod der Philosophie gibt . . . Jedenfalls muß, wenn man das Wort Tod unbedingt auf sie anwenden will, stets der Gedanke vor Augen bleiben, daß der Tod einer geistigen, kulturellen oder historischen Wesenheit etwas anderes ist als der Tod eines Menschen. Wer sich davon überzeugen will, braucht nur Gibbons berühmte „Geschichte des allmählichen Sinkens und endlichen Unterganges des Römischen Weltreiches" nachzulesen, von der sich Hegel seinerzeit anregen ließ. Der Tod eines Menschen bringt einen Zerfall des Körperlichen, einen Sturz aus dem Organisierten ins Elementare, eine Auflösung in, wie Bossuet sagt, „ein Irgendetwas, das in keiner Sprache mehr einen Namen hat" 5 . Wonach sich Bossuet allerdings aufrafft — um der Ketzerei zu entgehen — und hinzufügt, daß Gott kein Element dieses Körpers aus dem Blick verliert und ihn in all seiner Herrlichkeit auferstehen lassen wird: „Er, in dessen Augen nichts verlorengeht und der alle Teile unseres Körpers verfolgt, wohin in der Welt Verfall oder Zufall sie auch immer treiben" 6 . Tod und Auferstehung der Philosophie im Verlauf des menschlichen Abenteuers können aber weder in der einen noch in der anderen Weise verstanden werden. Damit die Philosophie sterben kann, muß sie zunächst als solche existieren. Und dann darf sie nicht aus einer bloßen Sammlung von heterogenen Individuen bestehen, sonst könnte man stets nur von Philosophien sprechen, im Plural. Da ihr Leben dann negiert wäre, stünde die Frage ihres Todes nicht mehr. Wenn die Philosophie nichts weiter wäre als bestenfalls ein bequemes Wort zum Bezeichnen eines J.-B. Bossuet, Oraisons funébras. Panégyriques, Paris o. J., S. 108. 6 Ebenda, S. 109. 5
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Aggregats von regellos zusammengenommenen, durch keinerlei Verwandtschaft untereinander verbundenen Einzelsystemen, dann wäre die Philosophie freilich tot. Diese Auffassung von den philosophischen Dingen hat kaum woanders Sinn und Gültigkeit als in den Augen eines gewissen gegenwärtigen Strukturalismus. Aber wenn dieser den Tod der Philosophie verkündet, gibt er diesem Wort noch eine andere und besonders abwegige Bedeutung, denn in diesem Fall besagt das Verkünden des Todes der Philosophie nur, daß die Philosophie nie existiert, nie jene Wesenhaftigkeit, jene relative Einheit und erst recht nicht jene Identität besessen hat, die notwendige Bedingung jedes Hinscheidens sind. In letzter Zeit hat man in Paris ein paar Tage lang ein Stück mit dem Titel „Wie soll man vernichten, was es nicht gibt?" aufgeführt. Dieses Lustspiel ist, so scheint es, nicht lange auf dem Spielplan geblieben, und das Publikum hat — vielleicht zu Unrecht —, etwas ins Nichts geschickt, was vielleicht nicht nichts war. Was also heißt leben, und was heißt sterben? Eine gewisse Art von Strukturalismus rebelliert gegen die Existenzansprüche einer Geschichte der Philosophie. Aber die ganze Geschichte der Philosophie erhebt sich gegen die Vorstellung einer nur en détail gelieferten Philosophie. Was sollten wir tun, so frage ich, wenn das Wort Philosophie keinen Sinn hätte? Ich meine, man will uns das Brot nehmen! Die Philosophie stirbt nicht körperlich, wenigstens nicht so, wie menschliche Körper sterben, sofern man gelten läßt, daß ihr mehrtausendjähriger Körper von den Schriften, den Büchern, den aufgezeichneten Worten der Philosophen gebildet wird. Die Bibliotheken und Filmarchive lassen sich denn doch nicht ganz mit Friedhöfen vergleichen, auch nicht mit jenen — immerhin philosophisch stimmenden — Friedhöfen am Meer; sie sind auch Stätten der Pflege und Erhaltung, deren Mitarbeiter gerade damit emsig beschäftigt 36
sind: sie wachen über die ihnen überlieferten Bücher und Handschriften, sie schützen sie, transkribieren sie, wenn sie in ihrer ersten Gestalt verblassen, fotografieren sie, filmen sie, speichern sie elektronisch, vervielfältigen sie und lagern die Exemplare an verschiedenen Orten, um den Wirkungen einer punktuellen Katastrophe vorzubeugen. Was für ein Unterschied! Wir erleiden das Schicksal unserer sterblichen Körper. Aber der Tod der Philosophien gestattet das Überleben ihres jeweiligen Corpus.
Die Prosperität Überleben ist noch zu wenig gesagt! Wir stehen vor einer erstaunlichen Prosperität! Was erzählt man uns da vom Tod der Philosophie! Alles ringsum bezeugt augenfällig, wie müßig solch eine Befürchtung ist! Die sichtbare Masse der Philosophien schwillt ständig, rasch, enorm an. Keine Knappheit auf diesem Gebiet! Heutzutage erscheinen in der Welt binnen zehn Jahren mehr Philosophiebücher — philosophisch intendierte, philosophisch auftretende Fachschriften im Sinn einer eng definierten Aktivität —, als in dieser Welt bis zum Ende des 19. Jahrhunderts herausgegeben wurden. Jedes Buch, wie verdienstvoll oder schwach auch immer, erreicht eine weit beträchtlichere Auflage als seinerzeit die berühmtesten philosophischen Werke. Die Schriften unserer namhaftesten Zeitgenossen werden nahezu unverzüglich in alle fremden Sprachen übersetzt. Es hatte 54 Jahre gedauert, bis die 1781 erschienene „Kritik der reinen Vernunft" ins Französische übersetzt wurde. Die „Phänomenologie des Geistes", von Hegel 1807 mit Müh und Not veröffentlicht, hatte 132 Jahre auf ihre französische Übersetzung (1939, von Jean Hyppolite) zu warten. Die 37
philosophische Lektüre hat sich über die ganze Erde verbreitet. Bald wird ein Kosmonaut Piaton in seinem Raumschiff mitnehmen. Denn die immense Verbreitung der zeitgenössischen Werke drängt die klassischen Autoren nicht in den Schatten. Niemals, überhaupt noch nie waren die Werke Piatons, Aristoteles', Descartes', Spinozas, Leibniz', Kants so verbreitet wie heute, in solch verschwenderischem Angebot in so vielen und so verschiedenen Ländern. Wie viele Griechen hatten Piaton während seines langen Daseins gehört oder gelesen? Heute blättern dieLeutein der U-Bahn im „Gorgias" . . . Autoren, die lange vergessen waren, werden wieder herausgegeben. Die Philosophie ist wie ein Dornröschen, das von gelehrten — und gewiß auch charmanten — Prinzen recht spät geweckt wird. Und just da will man sie lautstark totsagen! Noch nie haben sich so viele Professoren, Schüler und Studenten der Philosophie verschrieben, noch nie sind in so üppiger Fülle philosophische Institute, Forschungszentren und Kollegien gegründet, Kongresse, Kolloquien und Seminare veranstaltet worden. Jahr um Jahr bringt jeder Philosophieprofessor seinen kleinen Artikel unter oder publiziert sein Büchlein. Nicht jeder kann einen Supermarkt aufmachen! Und freilich klagen und stöhnen alle. Aber welcher Krämer sagt schon offen, daß sein Laden floriert? In mancherlei Hinsicht geht es der Philosophie also besser als je. Wenn man sie dennoch für tot erklären wollte, müßte man diesem Ausdruck einen Sinn geben, der subtiler und ungewöhnlicher wäre als die Bedeutungen, denen wir schon begegnet sind. In diesem Licht wird der Wortsinn abgeschwächt. Hier wäre nun ein Tod — oder ein Ende — der Nachbar, Begleiter, ja Bettgenosse einer erstaunlichen und üppigen
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Vitalität ist. Dermaßen sogar, daß dieses vitale Leben Besorgnis erregen müßte, weil Reichtum und Überfülle der Äußerungen sein geheimes Elend und seine Hinfälligkeit denunzieren würden. Der Tbd wäre dann, auf die Philosophie bezogen, die Disharmonie zwischen dem Aufsehen, das sie erregt, und dem Begriff, den sie von sich haben müßte. Um sie stünde es wie mit jenen Witwen, die Bossuet bedauert: „Wie viele von ihnen müßte man also als Tote beweinen, von diesen jungen und lachenden Witwen, welche die Welt so glücklich findet." 7 Hätten wir eine Philosophie zu beklagen, die die lustige Witwe ihres Begriffs ist?
Der Tod der Philosophien In der Tat entgleitet gerade der Begriff des „Todes der Philosophie" unaufhörlich unserem Zugriff. Und dies, sobald sich die Philosophie in der Kontinuität ihrer Geschichte, der Identität ihres Seins, der Einheit ihres Schicksals unserer Betrachtung darbietet. Vielleicht können wir dann diesen Begriff in seiner Anwendung auf die Philosophie im allgemeinen besser fassen, wenn wir zunächst versuchen, seinen Inhalt in der Anwendung auf die Philosophien im besonderen abzuwägen? Um gleichsam stufenweise in der Untersuchung der Schwierigkeit voranzukommen, fragen wir uns also zunächst, was man vernünftigerweise unter dem Tod einer Philosophie verstehen könnte. Das wäre offensichtlich doch nicht ihr radikales Verschwinden, ihre Vernichtung. Eine besondere, einzelne Philosophie, zum Beispiel die Philosophie Kants, wäre nur dann tot, wenn bereits alle Bücher von Kant, alle Bücher über Kant und schließlich der ' Ebenda, S. 159.
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Name des Philosophen selbst verschwunden wären. Das alles ist jedoch unvorstellbar. Die Menschen werden eher verschwinden als die Bücher, besonders wenn die zu diesem Zweck entwickelten selektiven Spezialwaffen angewandt werden. Bis auf Ausnahmefälle ist eine Philosophie in ihren objektiven Zeichen immer da (Dasein]) — in Reichweite, wie Fleisch im Kühlschrank. Objektiv verschwindet sie nur ausnahmsweise. Sterben heißt für eine Philosophie, außer Gebrauch zu kommen, nicht von den Bibliotheksregalen, wohl aber aus dem Begehren und aus dem Gedächtnis, dem Geist der lebendigen und tätigen Menschheit zu verschwinden. Tot ist eine Philosophie, die, obschon immer noch da, keine aktuelle Aufmerksamkeit, kein aktuelles Interesse mehr weckt. Sie ruft nicht mehr Anhänglichkeit oder auch Feindschaft hervor. Denn die Philosophie, die noch immer Zorn oder Entrüstung entfacht, ist durchaus lebendig. Stendhal sagt: „Für einen großen Menschen heißt Glück, noch hundert Jahre nach seinem Tod Feinde zu haben." Die meisten Philosophen zählen hundert Jahre nach ihrem jeweiligen Tod schon keine Parteigänger oder Feinde mehr; sie überdauern in einer Art von gelehrter Neutralität. Worin besteht also diese besondere Beharrens- oder Existenzweise, die man als Tod einer Philosophie bezeichnen könnte? Wagen wir es, einige ihrer Merkmale zu beschreiben: Tot ist eine Philosophie, die Fragen zu beantworten sucht, die die Leser von sich aus nicht mehr stellen. So kann man zum Beispiel — und durchaus sinnvoll — fragen, ob Spinoza Pantheist war. Wer aber befragt sich noch selbst deswegen? In seinem „Dictionnaire des idées reçus" bemerkt Flaubert unter anderem: „Pantheismus — dagegen wettern!" Wer aber wettert heutzutage noch gegen den Pantheismus? In Frankreich wogte zwischen 1830 und 1850 ein enormer 40
Streit zu diesem Thema. In der Rückschau verwundert er uns. Wir können freilich das dicke Buch des A b b é Maret über den Pantheismus nachlesen, das eine A u f l a g e nach der anderen erlebte, bis der A b b é Maret Hochwürden wurde. Man kann gewiß mit Gewinn nachsehen, welch übertriebene Thesen der A b b é Bautain aus dieser Schrift ableitete, und man m a g dann seine Vorstellungen v o n der Debatte anhand der Studie von Hochwürden Poupard über diesen Autor weiter klären. Der A b b é Bautain denunzierte die pantheistische Ketzerei noch in harmlosesten Glaubensauffassungen und Formulierungen, und in einer v o n der Vorsehung gesandten Wende der Dinge wurde schließlich er auf den Index gesetzt. Mit Interesse wird man die Veränderung der gewundenen Plädoyers eines der Hauptbeschuldigten, Victor Cousins, verfolgen. Aber offen gestanden, man wird lange suchen müssen, u m im Frankreich von 1984 einen erklärten Pantheisten zu finden, und niemand geht mehr mit eingelegter Lanze auf diese verlassene Mühe los. Die F r a g e steht nicht mehr, sie liegt niemand mehr am Herzen, der tätige Geist hat dies ehemals heiß umkämpfte Feld verlassen. D a s heißt längst nicht, daß die Kenntnis des Pantheismus jedes historische Interesse verloren hätte. Aber es ist hier gerade ein Todeszeichen, daß der Pantheismus gleichsam zum reinen Studienobjekt geworden ist. Man kann dann mit Bezug auf dieses Problem, auf die philosophischen Äußerungen, auf die Philosophen, die es berührt, das wiederholen, was Paul Valéry in seiner „ G r a b rede auf eine Fabel v o n Daphnis und Alkimadur" sagte, einem Versstück, das seinem Verfasser L a Fontaine besonders viel bedeutet hatte: Diese Fabel „wird ohne Sinn und Zweck noch gedruckt und wieder gedruckt. Findet sie in irgendeiner Seele etwas, das sie weckt? Niemand braucht sie und niemand schert sich um sie."
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Valéry erinnert dann an „all die Wünsche, all die Neigungen, das ganze Ideal eines Jahrhunderts, dessen Werke, selbst die Trefflichen, häufig nach und nach eine wundersame Abgeschmacktheit' annehmen . . ." „ D a s fatale L o s unserer meisten Schriften", so f ü g t er hinzu, „ist es, unfaßbar oder fremd zu werden. D i e nacheinander Lebenden fühlen immer weniger mit ihnen mit, man betrachtet sie immer mehr als naive oder unbegreifbare oder bizarre Produkte einer anderen Art v o n Menschen . . . Nach und nach verschwinden diejenigen, die sie liebten, die sie genossen, die sie verstehen konnten. T o t sind auch jene, die sie verabscheuten, verrissen, persiflierten . . . Andere Menschen begehren oder verwerfen andere Bücher. Was Instrument des Vergnügens oder der A u f r e g u n g war, wird alsbald zum Schulrequisit; was wahr, was schön war, wandelt sich zu einem Zwangsmittel oder zu einem Objekt der Wißbegier, aber einer Wißbegier, die sich zwingt, wißbegierig zu sein . . ." Und Valéry schließt traurig: „Alles endigt an der Sorbonne."8
Das Universitätsparadies In Wirklichkeit hat nicht alles die Ehre, an der Sorbonne zu endigen, wie Valéry großzügig unterstellt. E s gibt alte Philosophien, die dafür zu gering geschätzt, im Stich gelassen werden. Wahr ist aber, daß das Interesse an denjenigen, die im Schulbetrieb überleben, sich verlagert. E s wird nicht mehr gefragt, ob der Pantheismus Spinozas wahr oder gültig oder tragbar ist. Man fragt nur, ob es wahr ist, daß Spinoza Pantheist war, und meint, daß diese Frage schon schwierig genug ist. 8 P. Valéry, Variété II, Paris o. J., S. 49-52.
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Wir dürfen also nicht glauben, daß das Studium einer Philosophie an der Universität genüge, um sie ins Leben zurückzurufen. E s verschafft ihr zwar einen Hörerkreis, es schafft wieder genaue Kenntnis von ihr, und ihr Wappenschild wird etwas aufpoliert. — Dies alles aber wirft ein neues Licht auf den Todesgedanken. Eine Philosophie kann sehr lebendig und doch von der Universität ausgeschlossen sein. Alle großen Philosophen haben diesen Ausschluß mindestens vorübergehend erfahren. Aber umgekehrt kann eine Philosophie in der Universitätslehre intensiv leben und doch im Leben völlig tot sein. Die Universität scheint sogar in manchen. Zeiten eine Vorliebe für tote Philosophien zu zeigen. Wählt sie sie als Studienobjekt, so richtet sie einen Raum müheloser Toleranz und gleichgültigen Pluralismus ein — voll Eintracht und Glück, der Arbeit zum Wohl. So hat man Frieden, und das ist sehr angenehm; auch sehr nützlich. Aber ein großer Hochschullehrer konnte unlängst feststellen: „ E s stimmt nur zu sehr, daß sich die Philosophielehre an unseren Fakultäten tendenziell auf den Unterricht in Geschichte der Systeme und Ideologien reduziert, ohne daß sich unsere Studenten darüber Sorgen machen, ob die dargestellten Thesen für uns noch Wahrheitswert haben. Unsere Universitäten neigen zu einer historisierenden Scholastik, unsere Prüfungen und Wettbewerbe gründen sich auf die Auslegung, und das liegt in der Logik des Systems. Gestatten Sie mir dennoch, darüber betrübt zu sein, auch wenn es bei uns eine Tradition gibt, die von Victor Cousin bis zu Lachelier und ihren Epigonen dafür hält, daß alles schon gesagt ist und daß der Philosoph nur die Aufgabe hat, das Werk der Verstorbenen zu sammeln und zu verstehen." 9 9
R. Roirier, in: Bulletin de la Société Française de Philosophie, Paris, Januar-März 1973, S. 26.
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Die Todeszeichen Wenn die Zuneigung zu einer Philosophie schwindet, bekommt diese ein archaisches, starres Aussehen und wird für fremd gehalten. Hegel hat den Zustand, in den eine vom lebendigen Geist verlassene, nicht mehr den menschlichen Erfordernissen ihrer Epoche entsprechende menschliche Realität auf diese Weise gerät, unter dem Namen Positivität beschrieben. In dieser Sicht hat er vor allem den Fall der Religionen und der Staaten untersucht. Aber dasselbe Phänomen ist bei Philosophien zu beobachten. Ihr spezieller Wortschatz wird auf die Dauer rätselhaft, nur für Fachleute entzifferbar und selbst für die gebildete Öffentlichkeit unverständlich. Sie erstarren in Ausdrücken, die für keinen Lebenden mehr einen aktuellen Sinn besitzen und denen niemand mehr anmerkt, was sie unmittelbar nutzen oder fordern. Indessen ist diese Globaleinschätzung zu nuancieren. Der Tod einer Philosophie ist kein einfaches Ereignis. Sie kann in manchen ihrer Aspekte oder mit manchen ihrer Thesen lebendig und sogar fortpflanzungsfähig bleiben und in anderen Aspekten unwirksam und leblos werden. Der Totenschein darf in jedem Fall nur nach eingehender Prüfung ausgestellt werden, und er muß sich auf vielfältige und oft unbestimmte Zeichen gründen; nicht jedes hat in allen vorkommenden Fällen hinreichenden Wert. Ohne sie beschreiben und analysieren zu wollen, sollen einige dieser Zeichen angeführt sein, die bei vollzähligem Auftreten vielleicht definitiv und unwiderruflich entscheidend sind. Eine tote Philosophie ist eine Philosophie, die nicht mehr auf aktuelle Fragen antwortet, die nicht mehr Aufmerksamkeit und Interesse weckt. Obendrein muß sie Langeweile erregen (eine Wirkung, die Hegel besonders festgehalten hat, so daß sich bei ihm ein — wie man sagen könnte — Kriterium der Langeweile finden läßt); sie ist, um Valerys Wort zu ver44
wenden, abgeschmackt geworden; sie zeigt keine Wirksamkeit mehr, das heißt, sie hat keinen Einfluß mehr auf die anderen Disziplinen, die Religionen, die Wissenschaften, Künste, Techniken, kapselt sich also ab und verknöchert in ihrer fatalen Einsamkeit; sie verliert jede Popularität, und außer Fachphilosophen meint niemand mehr, auch nicht vom Hörensagen, daß sie ihn angehe; sie wird so zum Gut einiger Eingeweihter oder einiger Archäologen; da sie keine Rolle mehr im wirklichen Leben spielt, d. h. im konkreten Leben der Menschen, also im Leben, wie es von einem Bündel vielfältiger und verschiedener, miteinander wachsender und fortdauernder Tätigkeiten konstituiert wird, hat sie keine Fruchtbarkeit mehr aufzuweisen. „Schöpfer ist, wer Schaffen macht": lebendig ist eine Philosophie, die zum Suchen, Entdecken, Erfinden erregt, die sich von selbst ausweitet und zu neuem Denken und zu adaptierter Praxis anregt. Eine so abgestorbene Philosophie bringt es nur zu einer Art von Scholastik, wobei mit Scholastik hier nicht der Makel einer besonderen Philosophie, sondern vielmehr das Schicksal aller solchen Philosophien gemeint ist. Sie kommt dahin, daß sie sich ständig selbst wiederholt, stets denselben überlebten Inhalt bewahrt, auch wenn sie ihn um der Originalität willen in dunkle und auffallende Formulierungen kleidet.
Mörderische Philosophen Alle großen Philosophen haben, und zwar stets sehr grob und ohne Rücksicht auf anderer Leute Gefühle, den Tod der Philosophien verkündet, die der ihren vorangingen; mit großer Blindheit geschlagen behaupten sie im übrigen ihre eigene Unsterblichkeit. Wir würden der ganzen philosophischen Tradition untreu, wenn wir nicht so vorgingen wie sie; indessen haben wir das Recht, uns weniger grausam, 45
weniger abrupt, weniger selbstsicher und — um alles zu sagen — weniger dogmatisch zu zeigen als sie. Wir empfinden sehr wohl, daß der Tod einer Philosophie sie doch auf zweideutige Weise in der Existenz beläßt, und daß wir uns mit dieser Zweideutigkeit abfinden müssen, um nicht eine ganze Kultur zu verlieren und ein großes und wertvolles Erbe zu verleugnen. Sie aber haben im Stolz auf ihre neue Wahrheit der philosophischen Vergangenheit mit provozierendem Jubel die Stunde geläutet. Aristoteles liebte Piaton wohl, aber er gab seiner eigenen — nicht mehr platonischen — Wahrheit den Vorzug. Descartes wiederum, so sagt uns Schelling, „begann damit, allen Zusammenhang mit der früheren Philosophie abzubrechen, über alles, was in dieser Wissenschaft vor ihm geleistet war, wie mit dem Schwamm wegzufahren, und diese ganz von vorn, gleich als wäre vor ihm nie philosophiert worden, wieder aufzubauen" 10 . In seiner mörderischen Passion wurde er indessen überboten von Kant, dem man den Beinamen „der Robespierre der Philosophie" gab. Die Formulierungen, mit denen er seine Vorgänger dem Tode weiht, sind selbst für unsere gewaltsame Epoche von erstaunlicher Grobheit, Eitelkeit und Zusammenhanglosigkeit: „Wenn also die kritische Philosophie sich als eine solche ankündigt, vor der es überall noch gar keine Philosophie gegeben habe, so tut sie nichts anderes, als was alle getan haben, tun werden, ja tun müssen, die eine Philosophie nach ihrem eigenen Plan entwerfen." 1 1 Der kritische Philosoph, sagt er, müsse unwillkürlich lachen, „wenn er die papierenen Systeme derer, die eine lange Zeit das große Wort führten, nacheinander einstürzen und alle 10
F. W . J . Schelling, Descartes, in: F. W. J . Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie. Münchener Vorlesungen, hg. von M. Buhr, Leipzig 1966, S. 21. I. Kant, Metaphysik der Sitten, hg. von K. Vorländer, Leipzig 1945, S. 6.
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Anhänger derselben sich verlaufen sieht: ein Schicksal, was jenen unvermeidlich bevorsteht" 12 . In dem Geschäft, die veralteten Systeme vom Leben zum Tode zu befördern, erweist sich jedoch Hegels historische Methode nicht minder wirksam als die dogmatische Destruktion, er begnügt sich damit, sie auf den Status von, wie er sagt, „Mumien des Denkens" zu reduzieren.
Die Reinteriorisation der Vergangenheit Das sind recht seltsame Mumien: geistige Mumien. Den radikal zerstörenden Dogmatismus seiner Vorgänger meidend, gibt Hegel in der Tat vor, daß wir diese verstorbenen Philosophien noch immer — in gewissem Maße — wiederbeleben können. Wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten, nicht ohne Mühen, so vermöchten wir doch, den tiefen Sinn der vergangenen Philosophien in uns wiederzufinden und wiederherzustellen. Das philosophische Denken der alten Autoren hat sich in Texten exteriorisiert, geäußert und vergegenständlicht, und unter gewissen Bedingungen ist es uns dank dieser Objektivität möglich, es zu reinteriorisieren, es uns wieder in Erinnerung zu rufen oder seine Reminiszenz abzuwarten, es zu „re-subjektivieren". Diese Operation, die wesentlich ist für die Philosophie, weil sie das Andenken der gestorbenen Philosophien bewahrt, setzt voraus, daß es in der Entwicklung des menschlichen Denkens zwar Unterbrechungen gibt, daß aber diese Unterbrechungen nie radikal oder absolut sind. Wenn es solch einen Absolutismus oder solch eine Radikalität der epistemologischen Brüche gäbe, könnten wir die vergangene Existenz der Philosophien weder wachrufen, noch könnten wir ihren letzten Schlaf achten. 12 Ebenda, S. 8.
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Diese These erscheint grundlegend. Wenn der Tod der Philosophien radikal wäre, wüßten wir nichts von diesem Tod. Diese These beruht auf einer besonderen Auffassung vom Tod der Philosophien, dem Vertrauen in ein Fortdauern der Philosophie. Doch wenn sie erlaubt, etliche theoretische Schwierigkeiten zu überwinden, so verfehlt sie ihrerseits nicht, einige andere heraufzubeschwören. Und wenn es sich nur um folgende handelte: Wie soll man das Maß bestimmen, in dem die Wiederbelebung und Reinteriorisation einer vergangenen Philosophie möglich ist? In welchem Maße können wir Anspruch erheben, dank Einfühlung und Anstrengung mit dem Denken übereinzustimmen, das zu seiner Zeit und in Griechenland authentisch dasjenige des Aristoteles war? Ein Problem, das sich Hegel, Hölderlin und einige andere mit Bezug auf einen anderen, erhabenen Gegenstand eines Tages auf der Terrasse der Würmlinger Kapelle stellten . . . Ein Problem, das noch erschwert wird durch eine Feststellung, die Schelling nach Hegel oder zeitgleich mit ihm getroffen hat: „Ehe ich nun zu Kant selbst fortgehe, will ich eine allgemeine Bemerkung vorausschicken, die mehr oder weniger auf alle menschlichen Taten anzuwenden ist, daß nämlich ihre eigentliche Wichtigkeit, d. h., daß ihre wahren Wirkungen meist andere sind, als die beabsichtet worden oder die im Verhältnis der Mittel stehen, durch welche sie hervorgebracht wurden." 13 Soll man die Philosophie eines Autors für lebendig halten, von dem man das aufgreift, was er nicht beabsichtigt hat, und dessen gemeuchelte Intentionen man begräbt, sei's auch unter Bergen von Blumen? 13
F. W . J. Schelling, Kant — Fichte. System des transzendentalen Idealismus, in: F. W . J. Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie, a . a . O . , S. 94.
V o m Nutzen der Kenntnis des vergangenen Denkens Wenn die Philosophie leben soll, ist zumindest nötig, daß die toten Philosophien noch zu etwas dienen — gleich in welcher Weise. Aber diese Treue schließt nicht jeden Scharfblick aus. Was tot ist, ist tot, und man muß die Toten ihre Toten begraben lassen. Doch das anrührende und zuweilen angenehme Gedenken ist auch nützlich. Es ist nützlich zu sehen, wie sie „vorbeiziehn, die verstorbnen Jahre, Auf Himmelsbaikonen im Kleid alten Stils" („passer les défuntes années, Sur les balcons du ciel en robe surannés"). Und dies schon, um das Veraltete, die singulären Züge des Veralteten, zu empfinden und zu erfassen: das, was ein Descartes, ein Kant im Grunde nicht vermochten! Lektüre und Studium der vergangenen Philosophien, angemessen betrieben, bereichern die Erfahrung der Verschiedenheit, der Fremdheit, der Hinfälligkeit. Sie führen uns vor Augen, wie andere gedacht haben, und nur dieses Wahrnehmen der Unähnlichkeit in der Identität gestattet eine fruchtbare Wiederverwertung, es allein gestattet auch dem historischen Geist, aufzukommen und seine Lehren reich zu verbreiten. Überdies offenbart uns die Kenntnis der philosophischen Vergangenheit, was wir sind, indem sie uns in Erinnerung ruft, daß wir geworden sind und was wir geworden sind. Wir würden uns selbst nicht recht begreifen, wenn es uns nicht gelänge, in uns — und nahezu in ihrer Echtheit — jene aufgehobene Vergangenheit wiederzufinden, deren Gegenwart uns zu dem macht, was wir sind, indem wir sie verändern. Natürlich sind diese Wiederentdeckungen nur dann bereichernd, wenn das Wiedergefundene richtig als solches — 4
Zur Architektonik
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eben als Vergangenes — identifiziert wird. Sonst verfiele man dem Fehler, vor dem uns Descartes warnt: „. . . ist man allzu begierig, die Dinge zu erfahren, die in den früheren Jahrhunderten geschehen sind, so bleibt man gewöhnlich recht unwissend in dem, was in unserem Zeitalter geschieht" Aus der Überzeugung, daß die Philosophien sterben, darf man jedenfalls keineswegs die Folgerung ziehen, daß man sie weder studieren noch verstehen solle! Die Philosophie dagegen kann sich ihrerseits nicht auf irgendeine dieser toten Philosophien beschränken. Mors immortalis 15 Der Tod der Philosophien, die in der Zeit aufeinander folgen, ist die erste Bedingung für das Leben der Philosophie. Wie alles Lebende, ist die Philosophie ein stets wiederbegonnenes Sterben und somit zugleich eine fortwährende Schöpfung. Solange Philosophien sterben, wird die Philosophie leben. Denn es wird ein stets wieder begonnenes Leben sein. Und unter diesen Bedingungen offenbart sich das Wesen derer, die da sagen, daß die Philosophie tot sei. Es sind diejenigen, die nicht wahrhaben wollen, daß ihre Philosophie stirbt oder sterblich ist, diejenigen, die sich dermaßen an eine einzelne und einseitige Auffassung von der Philosophie klammern, daß sie sich nicht vorzustellen vermögen, daß diese eines Tages einer anderen Auffassung weichen kann. Sie glauben, wenn ihre Philosophie verschwände — eine 14
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R. Descartes, Abhandlung über die Methode, in: Ausgewählte Schriften, Leipzig 1980, S. 11. K. Marx, Das Elend der Philosophie, in: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 4, Berlin 1959, S. 130. - Verkürztes Lukrez-Zitat; De rerum natura, III/882: „mortalem vitam mors cui immortalis ademit" (das sterbliche Leben hat ihm der unsterbliche Tod genommen).
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Philosophie, diejenige, der sie sich verschrieben haben —, dann würde damit die gesamte Philosophie erlöschen. Im übrigen lassen sie dieses Todesurteil für die Philosophie von der Höhe des Gipfels herniederfahren, den sie erklommen haben und den sie für unübertrefflich halten. Ob es ihnen nun voll bewußt ist oder nicht, so gehen sie von den Normen und Verheißungen einer partikulären — und gefährdeten — Philosophie aus, wenn sie das Ende der Philosophie für nahe halten. So ist denn auch die Bemerkung sehr banal geworden, daß sie, die alles philosophische Denken jetzt und künftig für unmöglich erklären und diese Unmöglichkeit zu beweisen versuchen, gerade damit recht lebhaft oder jedenfalls voller Schärfe weiter philosophieren. Wir sind jedenfalls, solange wir da sind, durchaus überzeugt, daß die Philosophie lebt und daß sie leben wird, solange es Menschen geben wird. Dieses Leben der Gattung muß mit einem Tod der Arten bezahlt werden — wobei das, was wir in diesem Fall Tod nennen, ein sehr spezieller und in mancher Hinsicht auserlesener Tod ist. Wir haben also die Entstehung oder Entwicklung einer neuen Philosophie zu erwarten und zu erhoffen. Jeder stellt sie sich nach der Couleur seines gegenwärtigen Denkens vor — und er träumt davon. Aber wir wissen gut, daß wir sie nicht wahrhaft vorhersagen können, ohne sie zu schaffen. Sie wird uns alle überraschen. Doch ohne die positiven Merkmale, die sie annehmen wird, präzisieren zu wollen, können wir immerhin die objektiven Bedingungen beschreiben, unter denen sie aufkommen und von denen sie in gewisser Weise abhängen wird. Jedenfalls sind wir mit unseren Studien, unseren Forschungen, unseren kleinen Arbeiten, diesem ganzen Gewimmel von geringfügigen Aktivitäten dabei, sie vorzubereiten. Alles in unserer Welt kündigt im Negativ ihrer Heraufkunft an. Wer wird der junge Gedankenathlet sein, der sich dieses sorgsam ausgesparten Raums bemächtigt? In leidenschaftlicher Erwartung umringen wir die noch leere Stätte. 4*
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J A I M E QUIJANO-CABALLERO
(Bogotá)
Zur neuen philosophischen Übersichtlichkeit Über die gegenwärtige Wende in Rolle und Funktion der Philosophie aus der Zukunftsperspektive des lateinamerikanischen gesellschaftlichen Menschen Auf der Suche nach einer aktuellen Vernunft \ die heute der Welt so not tut und die wohl für alle Philosophie, die auf Vernunft ausgeht, Gültigkeit haben soll, könnte man behaupten, daß weder Hegel noch Marx seinerzeit bekanntlich eine „vernünftige" Meinung über die Entwicklungen in Lateinamerika bezüglich der Unabhängigkeitsbewegungen auf diesem Kontinent hatten. Schon um 1840 bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts waren Stimmen in einigen lateinamerikanischen Ländern laut geworden, die sich über eine „amerikanische Philosophie" eine „Filosofía americana", Gedanken machten. So Juan Bautista Alberdi in Argentinien (1838) 2 und Andrés Lamas in Uruguay (1840) 3 , der sich in dieser Richtung über „ameri1
Vgl. M. Buhr/J. D'Hondt/H. Klenncr, Aktuelle
Vernunft. Drei
Studien
zur Philosophie Hegels, Berlin 1985. 2
J. B. Alberdi, Fragmento preliminar al estudio des derecho, Buenos Aires 1 8 3 8 , ders., Ideas para presidir la confección del curso de filosofía contemporánea en el Colegio de Humanidades, Montevideo 1840.
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Vgl. A . A . Roig, Teoría crítica del pensamiento latinoamericano, Mexiko 1981, S. 285 ff.
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kanische Literatur", „literatura americana", äußerte. Ihr Ideengebäude, das unter dem Einfluß des europäischen romantischen Historizismus stand und als unmittelbarer Ausläufer der 1830 stattgefundenen Revolution in Frankreich auftrat, betrachteten sie als sozialistisch. Dasselbe geschah in Bogotá im Oktober 1850, wo sich beim Eintritt in die Freimaurerloge José María Samper zwei Jahre nach der Veröffentlichung des Kommunistischen Manifests durch Marx und Engels auch als Sozialist bekannte4 — wenn auch nicht als Kommunist, so doch als antretend gegen die Oligarchie und für die Proletarier. Heute dagegen, im Zuge der Befreiungskämpfe unserer Völker, steht es auf der historischen Tagesordnung, eben eine „vernünftige" Meinung auf der Grundlage des wissenschaftlichen Materialismus in Konzeption und Anwendung einer adäquaten wissenschaftlichen philosophischen Reflexion und wissenschaftlichen Natur- und Gesellschaftskonzeption zu erarbeiten. Wenn wir uns heute auf die Ereignisse der letzten 150 Jahre besinnen und aus der lateinamerikanischen Sicht nicht nur nach Europa Ausschau halten, sondern uns die Wesenszüge der Gesamtentwicklung der sogenannten Ersten, Zweiten und Dritten Welt sowie die innere Logik der historischen Entwicklung und deren Veränderungen vor Augen halten und versuchen, die „Gesetzmäßigkeiten" dieser Veränderungen zu entdecken, das Hauptsächliche und Grundsätzliche ihrer objektiven Logik darzulegen,5 dann steht vor uns die erneute Frage nach Rolle und Funktion der Philosophie, speziell, in der Gegenwart und der Zukunft. Und damit auch die Frage nach dem gesetzmäßig korrekten Vgl. A. Carnicelli, Historia de la Masonería Colombiana, Bd. 1 : 1833—1840, Bogotá 1975, S. 1 4 3 - 1 5 2 . 5 Vgl. Politischer Bericht des Zentralkomitees der KPdSU an den XXVII. Parteitag der KPDSU, Berichterstatter: M. S. Gorbatschow, Generalsekretär des ZK der KPdSU, Moskau 1986, S. 11. 4
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theoretischen Denkansatz für eine erneuerte philosophische Reflexion — nach unserem Dafürhalten — auf ortbonomiscber Basis. Das orthonomische Denken besteht für uns nämlich gerade darin, die Gesetze und Gesetzmäßigkeiten zu entdecken und die objektive Logik der historischen Entwicklung in Theorie und Praxis zu veranschaulichen. 6 Dies um so mehr, wenn wir uns aus derselben Sicht über das in den letzten 70 Jahren der Menschheitsgeschichte Geschehene befragen. In den letzten 50 Jahren hat sich auf weltweiter Ebene das Erkenntnisvermögen dahingehend erweitert, daß sich zwei Richtungen als Tendenzen aus einer Weltsicht erkennen und definieren lassen, in deren Grenzen sich die philosophische Reflexion unserer Epoche grundsätzlich vollzieht. Einerseits die unwiderrufliche historische Tendenz der Suche nach einer neuen Gesellschaftsformation, deren Form und Inhalt sich noch in ihren widersprüchlichen Anfängen befinden. Andererseits ermöglicht es das noch nie so dagewesene menschliche Leistungsvermögen speziell der letzten Jahrzehnte, immer tiefer in die Mikro- und Makroweit des Universums einzudringen und immer neue Grenzen der relativen und der absoluten Erkenntnis sichtbar zu machen. Diese Entwicklungen haben es ermöglicht, völlig neue Beziehungen zwischen einer wissenschaftlich fundierten philosophischen Reflexion und den allgemeinen und Einzelwissenschaften zu fördern und zu festigen. In diesem Zusammenhang wurden auch die Kategoriensysteme zur Vertiefung und Differenzierung sowie Integration des menschlichen Erkenntnisvermögens auf immer allgemeinerer und spezifizierterer Grundlage entwickelt. Dies diente dem Ziel, 6
Vgl. J. Quijano C., Wissenschaft, Orthonomie. Politische Ideologie in der Praxis des antiimperialistischen Befreiungskampfes, Diss. B, Berlin 1981; ders., Discurso de la Ortonomia, in: Ausgewählte Werke. Sammlung über Marxismus und Orthonomie, Bd. 1.1, Bogotá 1986 (in Druck); H. Krumpel, Dialéctica y Ortonomia, in: Ebenda, Bd. 1.3.
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neue Resultate in der Erweiterung der Kenntnisse des Menschen und über den Menschen zu erzielen. Um in diese Sicht einzudringen, ist es zweifelsohne notwendig gewesen, eine materialistische und zugleich dialektische Fundierung zu entdecken und in die Praxis umzusetzen. Die dafür notwendigen Instrumentarien, d. h. der damit verbundene Weg der Erkenntnis und die dementsprechende Methodologie als Hebel des sich immer mehr befreienden Denkens, hat speziell in den letzten Jahren auch weltweit zu ganz bestimmten Überzeugungen geführt. Dadurch ist es möglich geworden, und zwar zum ersten Mal, definierte Probleme als Globalprobleme zu erfassen, d. h. als Probleme, die die gesamte Menschheit unmittelbar ansprechen und betreffen. Die dialektische, materialistische, historische Sicht hat außerdem dazu geführt, und dies auch zum ersten Mal, die Gesamtproblematik des Menschen als ein System globaler Probleme unserer Zeit auffassen zu können. 7 Der Übergang zu einer neuen Gesellschaftsformation, die Einheit der Welt als Prozeß einer ständig fortschreitenden Verifikation durch die gesellschaftliche Praxis und die Vorstellung von einem System der globalen Probleme der Menschheit in unserer Zeit führen also zu einer dreifach dialektischen Einheit. •Nun hat man gesagt, daß die Geschichte ständige Wieder7
Vgl. I. Frolow/V. Zagladin, El mundo en vísperas del Tercer Milenio: Mitos y Realidad, in: Revista Internacional, 9/1979; V. Zagladin/I. Frolow, Globale Probleme der Gegenwart, Berlin 1982; N . Inozemtsev/L. Grómov u . a . , Problemas Globales de Nuestro Tiempo, Moskau 1981; I. Frolow, Aprender a pensar y actuar de una manera neu va, in: Tiempos Nuevos, 27/1985, S. 23/24. Letztgenannter Artikel berichtet über die vom 3. bis 6. Juli 1985 stattgefundene Konferenz: „ E l Socialismo y los problemas globales de nuestra época", an der folgende Länder teilnahmen: D D R , Ungarn, Bulgarien, Polen, Vietnam, CSSR, Sowjetunion, Italien, Kanada, Frankreich, Finnland und Vertreter internationaler Organisationen. (Die Konferenz fand in Prag statt.)
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geburt sei (Hermán Nohl, 1907). Aber jede Wiedergeburt hat ihren Ansatzpunkt ausgehend von Prinzipien, seien es nun logische oder hermeneutische Prinzipien, die verschieden von der wiedergeborenen Epoche sind. Die Frage ist dann, welches Prinzip oder welche Prinzipien werden jeweils bei der Interpretation des Wiedergeborenen angewandt. Hierbei erhält z. B. Kants These von der Kopernikanischen Wende ihre Rationalität. Bekanntlich geht Kant von dem Ansatzpunkt aus, daß man, bevor man die Erscheinungen der Welt analysieren kann, zuerst das eigene Erkenntnisvermögen untersuchen muß. Das brachte einen neuen theoretischen Denkansatz mit sich, der in seiner praktischen Umsetzung grundsätzlich neue Wege für die philosophische Reflexion eröffnete. 8 Ausgehend von dem obengenannten nie zuvor dagewesenen widerspruchsvollen Beschleunigungsprozeß in unserer Zeit ergibt sich meines Erachtens — unter Voraussetzung der vorhergegangenen philosophischen Reflexionen in Lateinamerika —9 ein qualitativer Wendepunkt im philosophischen Denken. Diesen Wendepunkt vergleiche ich im übertragenen Sinne mit der Kantschen These von einer Kopernikanischen Wende. Dies kommt darin zum Ausdruck, daß etwa um 1985 für die philosophischen Reflexionen in Lateinamerika und der Karibik an der Schwelle zum dritten Jahrtausend sich auf lange Sicht neue Perspektiven eröffnen. 10 Aus dieser 8 9
Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft. Vgl. R. Frondizi/J. J. E. Gracia, El Hombre y los Valores en la filosofía latinoamericana del siglo X X . Antología. Fondo de Cultura Económica, Mexiko 1 9 7 5 , H. Cerutti Guldberg, Filosofía de la Liberación LatinoAmericana, Mexiko 1 9 8 3 , A . A . Roig, Teoría y Crítica del pensamiento latinoamericano,
1 9 8 1 ; L. Zea, América en la Historia, Mexiko
1957,
Madrid 1 9 7 0 ; Sh. B. Liss, Marxist thougth in Latin America. University of California Press, 1 9 8 4 ; O. Fals Borda/G. Molina u. a., El Marxismo Colombia,
Bogotá
1983,
en
A . Díaz/L. Fernández/D. Herrera/J. M. Jara-
millo u. a., Estudios de Historia de la Filosofía, Cali 1982. 10
Die kubanische Revolution hat in den 25 Jahren ihrer Entwicklung nach
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Sicht werden die vier Fragen Kants im Zeitrahmen der letzten 50 Jahre noch prägnanter in ihrer Gegenwärtigkeit: „Was kann ich wissen?", „Was soll ich tun?", „Was darf ich hoffen?", „Was ist der Mensch?" In diesem Zusammenhang kann man behaupten, daß im philosophischen Denken Lateinamerikas der Mensch immer v o m Standpunkt seines eigenen Kontextes aus gedacht und analysiert wurde. Auch wenn eine Besonderheit dieser Reflexion in Lateinamerika darin bestand, die Eigentümlichkeit ihres Philosophierens zu entdecken und als „filosofía americana" zu konzipieren. 1 1 Die Eigentümlichkeit bestand u. a. darin, daß sich dieses philosophische Denken immer in Konfrontation mit realen Problemen des Menschen und dem Fortschritt der Völker und Nationen, die sich v o n Europa unabhängig gemacht haben, befand. Dies zeigt sich u. a. zum Beispiel am Einfluß 'des Positivismus, 1 2 aber auch, wenn philosophische Reflexion auf den Spuren und Gleisen des scholastischen Denkens katholischer Prägung über den Menschen und das Jenseits unter strikter Aberkennung der unserer Meinung konkrete Perspektiven vornehmlich im lateinamerikanischen Raum und der Karibik eröffnet. Es kann behauptet werden, daß das Wesen der kubanischen Revolution darin besteht, die Wissenschaft in ihrer Gesamtheit in Theorie und Praxis in den Dienst des realen Humanismus gestellt zu haben. — Die kritische Bewegung der Wissenschaftsentwicklung in Lateinamerika und der Karibik (Movimiento Crítico), die vom Autor 1983 konzipiert und in Kraft gesetzt wurde, hat zum prinzipiellen Gegenstand, aus der Sicht des wissenschaftlichen Materialismus einen Vergleich zwischen den Fortschritten unter dem Sozialismus in Kuba und den Schwierigkeiten des Fortschritts im lateinamerikanischen Raum unter kapitalistischen Bedingungen anzustellen. — Vgl. I. Andréjev, La ciencia y el progreso social, Moskau 1979; V. Keshelava, Humanismo real y humanismo fictívo, Moskau 1977. 11
12
Vgl. H. Ortega, La filosofía de la liberación. Tesis, Panamá 1975¡ Leopoldo Zea, Dependencia y Liberación en la filosofía latinoamericana, i n : Dianoia. Anuario de Filosofía, Mexiko, 20/1974; A. Salazar Bondy, Existe una filosofía de nuestra América?, Mexiko 1968. Vgl. A. A. Roig, Teoría y Crítica del pensamiento latinoamericano, Mexiko 1981.
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autochthonen Werte präkolumbianischer Kulturen stattfand. Das drückte sich auch später in jüngeren Einflüssen aus, die sich innerhalb der letzten 50 Jahre aus einem Gesamtzusammenhang herausschälten. Dabei traten zwei grundsätzliche Positionen zutage: Einmal ging es darum, den „Marxismus zu überwinden" und zum anderen darum, den „Marxismus zu verstehen". Hierbei spielte und spielt noch heute eine wesentliche Rolle, daß diverse Formen des marxistischen Denkens und der Auslegung des Marxismus als fremdländische Ideen (Ideas foráneas) ausgegeben werden. Oder es geht umgekehrt darum, wie es seit den 70er Jahren speziell in der Theologie der Befreiung geschehen ist, grundsätzliche marxistische Prinzipien zum Verständnis des Klassenkampfes unserer Zeit unter lateinamerikanischen Verhältnissen heranzuziehen und als bekräftigende Reflexion und Aktion im Zuge der Befreiungsbewegungen zu verstehen und anzuwenden. In diesem Zusammenhang muß ganz allgemein unterstrichen werden, daß bei der Marxismusrezeption in Lateinamerika, ausgehend von den 20er Jahren dieses Jahrhunderts bis zur Gegenwart, eine in der Tendenz vorherrschende einseitige Entwicklung und Anwendung des kategorialen Systems des historischen Materialismus erfolgte. Aus diesem Grunde kam es mir im Zusammenhang mit der Entwicklung unserer Gesamtarbeit an der Universität INCCA de Colombia (1955 bis 1985) darauf an, die in Lateinamerika vernachlässigte theoretische und methodologische Substanz dialektisch-materialistischen Denkens (wissenschaftliche Dialektik) zu entwickeln. Damit wurde die wesentliche Grundlage für die von mir 1983 konzipierte und in Kraft gesetzte strategische „Kritische Bewegung (Movimiento Crítico) der Wissenschaftsentwicklung und der gegenwärtigen globalen Probleme in Lateinamerika und der Karibik" geschaffen. 13 13 Obra del Colectivo de Autores Colombia — Cuba. Edición Inaugural de
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An dieser Stelle möchte ich nochmals die Frage stellen, worin liegt im Sinne eines neuen theoretischen Ansatzes für eine umfassendere und aktualisierendere philosophische Reflexion in Lateinamerika und der Karibik der schon oben erwähnte qualitative Wendepunkt? Wie die Geschichte bisher zeigte, sucht der Mensch selbst auf verschiedenen Wegen seine Vernünftigkeit. Die bisher und auch noch heute vorherrschende Betrachtung zersplitterter und vereinzelter Problematiken und Fakten, die durch die verschiedenen Strömungen und ideologischen Tendenzen, z. B. den Neopositivismus, zutage treten, verdecken die objektive Gesamtproblematik des konkreten Menschen und rufen dadurch Unübersichtlichkeit hervor. 14 Der oben erwähnte qualitative Wendepunkt in der philosophischen Reflexion in Lateinamerika entspricht dagegen einer neuen Perspektive. Dieser Wendepunkt besteht darin, daß nicht von der hier genannten Unübersichtlichkeit ausgegangen wird, sondern dem entgegengesetzt von dem objektiven dialektischen System der globalen Probleme, d. h. von dem konkreten sozialen gesetzmäßigen historischen Lebensprozeß der Menschen in unserer Zeit. Dies kommt u. a. in dem dialektischen Verhältnis Mensch-Natur, MenschTechnik, Mensch-Mensch und den damit verbundenen moralischen und humanistischen Problemen zum Ausdruck. Dazu gehört auch das Prinzip der Erhaltung des Friedens auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene. Diese hier genannten objektiven globalen Probleme und der damit verbundene historische Lebensprozeß widerspiegeln sich in der These, daß die Einheit der Welt in ihrer Materialität
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290 Contribuciones. Resúmenes en dos tomos. Movimiento Crítico del desarrollo de la ciencia y problemas globales contemporáneos en Latinoamérica y el Caribe. Diagnóstico Complejo y Estratégia Prospectiva. I a Conferencia Internacional — Simposio de Bogotá, Sept. 26—28/85, Universidad INCCA de Colombia, Bogotá — Colombia. Vgl. J. Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a. M. 1985.
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besteht. Zu diesem hier genannten Wendepunkt haben wir in einem mehr als 20 Jahre dauernden Prozeß einen konsequenten wissenschaftstheoretischen und praktischen Beitrag geleistet. Im Mittelpunkt des hier genannten Gesamtzusammenhangs steht der konkrete Mensch und seine neue Vernünftigkeit, die er zur objektiven Lösung seiner Probleme im Sinne des gesellschaftlichen Menschen einsetzt und gebraucht. Deshalb entsteht in der Perspektive eine organische objektive Relation zwischen Philosophie, wissenschaftlicher Philosophie und Einzelwissenschaften im Sinne einer zukünftigen historisch vorausschauenden Entwicklung zu einer Wissenschaft des Menschen. Hier ist der Gedanke wichtig, daß die Wissenschaft vom Menschen nur eine einzige Wissenschaft sein kann, in der die theoretische und methodologische Verallgemeinerung der spezifischen einzelwissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit dem Menschen beschäftigen, zusammenläuft. Aus dieser Sicht erhält auch die Fragestellung über philosophische Probleme der Natur-, Technik- und Sozialwissenschaften eine immer größere Vereinheitlichung, was sich u. a. in dem Anwachsen ihrer theoretischen und praktischen Gesamtbedeutung ausdrückt. Es ist eine Tatsache, daß die heutige Wissenschaftsentwicklung und die Frage nach der Lösung der konkreten Probleme des Menschen unmittelbar mit dem Begriff der friedlichen Koexistenz zwischen den beiden großen Gesellschaftssystemen unserer Zeit verbunden ist. Dabei darf Koexistenz allerdings nicht einfach als Versöhnung gedeutet werden, sondern sie ist vielmehr eine Form der Auseinandersetzung auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens. Doch diese Auseinandersetzung, die u. a. auch in den nationalen und sozialen Befreiungsbewegungen ihren Ausdruck erhält, kann nur mit einer neuen Vernünftigkeit zum Erfolg geführt werden, die auf der Erkenntnis objektivhistorischer Entwicklungstendenzen und ihrer praktischen 60
Ausnutzung beruht. Diese Situation läßt sich auch in der jüngsten Entwicklung nachweisen, wie sie in der Gegenüberstellung zwischen der sogenannten Theologie der Versöhnung und der Theologie der Befreiung auftritt. 15 15
Vgl. J. Giigulévich, La Iglesia católica y el movimiento de liberación en América Latina, Moskau 1984.
H A N S J Ö R G SANDKÜHLER
(Bremen)
Das Recht der Menschen auf Wahrheit, Handeln und Hoffen Zur Moralität wissenschaftlichen Handelns Bürgerlich-gesellschaftliches Bewußtsein in der Krise — das Phänomen ist vielfach beschrieben. Die Bewußtseinskrise drückt sich auch als Verlust der Fähigkeit aus, aus der Wahrheit wissenschaftlicher Erkenntnis Hoffnung auf die Möglichkeit praktischer Eingriffe in die Wirklichkeit zu humanen Zwecken zu gewinnen. Vergesellschaftung des wissenschaftlichen Handelns und Verwissenschaftlichung gesellschaftlicher Praxis scheinen in den Widerspruch zu führen, daß wissenschaftliche Wahrheit und menschliches Hoffen keinen notwendigen Zusammenhang mehr bilden können. Eine Krise kapitalistischer Vergesellschaftung erscheint als Gattungs- und Vernunftkrise: was Folge ist, legt sich als vermeintliche Ursache lähmend über Bewußtsein und Handeln. Die Vertauschung von wissenschaftlichtechnischem Anlaß und sozialer, ökonomischer und politischer Ursache führt zu einer neuen Form des Fetischismus: „die Wissenschaft" erscheint als Prozeß ohne Subjekt und Ziel. Dagegen ist zu setzen: bei der Beurteilung wissenschaftlichen Handelns geht es um menschliche und unmenschliche Wirkungen von gesellschaftlich interessierten 62
Subjekten, deren tätiger Umgang mit Wissen das begründet, was wir auf den Nenner „Wissenschaft" zu bringen gewohnt sind. Wird diese Erkenntnis verdrängt, setzt sich der Fetischismus in zwei zusammengehörigen Formen durch. Wissenschaftliches Handeln erscheint in den verdinglichten Formen eines nicht gewollten und nicht steuerbaren Systems, und das gesellschaftliche System „Wissenschaft" wird — personifiziert — zum Anlaß jener besonderen individualisierten Verantwortungs-Zurechnung an das wissenschaftlich handelnde Individuum, welche die Wissenschafts-Ethik vornimmt. Gibt es zureichende Gründe für spezifische wissenschaftsethische Normen? Wissenschaftspolitiker, aber auch viele Wissenschaftler neigen dazu, die Frage mit Selbstverständlichkeit zu bejahen. Meine Überlegungen plädieren für die humanistische Moralität wissenschaftlichen Handelns und gegen die Z u m u t u n g einer besonderen, wissenschaftspolitisch oktroyierten Verantwortungsethik: Die tatsächlichen Verantwortungsprobleme der Wissenschaftler sind nicht, wenn nicht durch die allgemeine Geltung allgemeiner moralischer Regeln lösbar; die — zwar nicht übergeschichtliche, aber hinsichtlich ihrer Normativität — Universalität der Handlungsregeln ist nur humanistisch begründbar; die vollständige Normenverwirklichung ist nur in Verhältnissen möglich, die human sind; zur Moralität wissenschaftlichen Handelns gehört der Kampf um Verhältnisse, in denen das Recht der Menschen auf Wahrheit, Handeln und Hoffen nicht mehr nur das noch ausstehende Sollen, sondern gesellschaftliche Wirklichkeit ist. Diese Antwort geht von der Betroffenheit aus, die unmenschliche Folgen wissenschaftlichen Handelns erfahren hat, sich von dieser Erfahrung befreien will und, nicht resignierend, nach Ursachen und Gründen fragt. Die Frage nach menschlichen und unmenschlichen Wirkungen zwingt zur Vorfrage: Was ist der Mensch? Was ist menschlich? Sie verlangt nach Kriterien der Unterscheidung: Welches 63
Maß legen wir zugrunde, wollen wir beurteilen, was menschlich ist und was nicht? Die Frage nach derartigen Wirkungen der Wissenschaft weist zurück auf die grundlegendere: Was ist Wissenschaft? Und die Frage nach der Moralität wissenschaftlichen Handelns und nach der Notwendigkeit von Wissenschaftsethik, gar — wie häufig gefordert wird — einer neuen Wissenschaftsethik, entfaltet sich in drei Dimensionen: Von wessen Handeln ist die Rede? Welche geschichtliche Situation ist so neuartig, daß ihr eine neue Ethik der Wissenschaft zu entsprechen hätte? Was heißt Moralität, was Ethik? Alle diese Fragen bergen die Möglichkeit philosophischer Reflexion und philosophischen Wissens. Sie enthalten zugleich die Bedingung einer moralischen Norm wie die Bedingung der Möglichkeit, sich nach dieser Norm zu richten, — die moralische Norm der Wahrhaftigkeit, der ich mich als Wissenschaftler verpflichte, weil sie mit Wahrheit als kognitiver Norm im Verbund steht. Die Geltungsansprüche beider Normen blieben abstrakt, würden sie nicht durch Wissen eingelöst. Es ist kein Zufall, daß man sich — aufgeschreckt durch unmenschliche Folgen wissenschaftlichen Handelns und nach Orientierungen suchend — der Philosophie erinnert. Nicht für jeden Philosophen trifft zu, was die Philosophie der Möglichkeit nach auszeichnet: daß ihr Wissen den Wert der Weisheit hat, die in Güterabwägungen gründet und die sich in Urteilen ausspricht, die immer auch Werturteile sind. Auf die Philosophie richten sich Hoffnungen; die Hoffnung auf Orientierung in einer individuell noch als einheitliches Ganzes und als Totalität von Besonderungen begreifbaren Welt; dieser Hoffnung geht die Enttäuschung voraus, daß die eine Welt durch Verwissenschaftlichung aller kognitiven Wirklichkeitsbezüge in nur noch einzelwissenschaftlich erfaßbare und nur noch arbeitsteilig dem Spezialisten zugängliche Welten zerfließt; die dieser Not verschriebene Tugend 64
„Pluralismus" erweist sich für das Individuum als Lüge; die Hoffnung zum zweiten, philosophisches Wissen führe zur Souveränität einer zwischen „wahr" und „falsch" unterscheidungsfähigen Vernünftigkeit; dieser keineswegs logisch begrenzten, vieljnehr am wertenden Urteil interessierten Hoffnung geht das Unbehagen an der pluralistischen Auflösung des Wahren ins Opportune, am Relativismus der frei konkurrierenden Wahrheiten und an der sich in Wahrheitsfragen durchsetzenden Herrschaft des politisch Mächtigen voraus; drittens schließlich die Hoffnung, daß philosophisches Wissen die Teilhabe an guten Gründen für das menschlich Verantwortbare bedeutet; diese Hoffnung entsteht im alltäglichen Normen- und Wertkonflikt. Ich sage nicht, daß die Philosophie in Gestalt aller ihrer sozialen Träger und als Wissenschaftlergemeinschaft zu diesen Hoffnungen berechtigt. Ich spreche von einer Möglichkeit, die zu verwirklichen notwendig ist. Was sind Mindest-Bedingungen einer Bestimmung des Menschen und der Menschlichkeit, die zur Voraussetzung der Begründung und Rechtfertigung moralischer Normen werden können? Welche Merkmale von Wissenschaft müssen erklärt sein, um Wissenschaft als ein Handeln begreifen zu können, das ohne Moralität nicht auskommt? Wer sind wir als Wissenschaftler und als Philosophen, daß man uns Sondernormen zumuten zu können glaubt? Welche Normen sind so allgemeiner Anerkennung fähig, daß die Intellektuellen sie mit allen Menschen zu teilen in der Lage wären? Der Fall Galilei kann als Fall zu späten Erschreckens und zu später Selbstkritik zeigen, 1 daß nur die ethischen Normen 1
5
Vgl. ausführlicher: H. J. Sandkühler, Pour une philosophie de la paix, in: La pensee, Nr. 250, März/April 1986, S. 63—71; ders., Das einzige Ziel der Wissenschaft. Galilei und Zeiten der Schwäche des Friedens, in: Verantwortung für den Frieden. 5. Vorlesungsreihe an der RWTH Aachen (WS Zur Architektonik
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zur Wahrhaftigkeit, zum Handeln und zum Hoffen taugen, die uns in die Lage versetzen, uns bereits im Wissen human zu orientieren. Galileis Selbstkritik rückt ins Zwielicht, weil selbst seine Empörung über den unterwerfenden Eingriff politischer Herrschaft noch — modern gesprochen — der Unmoral positivistischen Wissenschaftsverständnisses entspringt. Stellen wir uns vor, Galilei habe nicht abgeschworen, seine Courage zum Experiment und zu empirischem Wissen seien ungehemmt von Fremdsteuerung und früher zum Allgemeingut der Wissenschaften geworden — würde dies etwas an der Situation ändern, die oft kurzschlüssig als Resultat der Wissenschaftsgeschichte wahrgenommen wird? Galileis zu späte Erkenntnis, daß die Wissenschaften die Mühseligkeiten der menschlichen Existenz zu erleichtern verpflichtet sind, hebt nur auf die möglichen unmenschlichen Folgen wissenschaftlichen Wissens durch Anwendung ab; für den Entstehungskontext stellt sich ihm das Problem nicht. Wir haben es uns angewöhnt, die Trennung von Naturwissenschaften und Gesellschaftswissenschaften mitsamt der unsauberen Unterscheidung zwischen wertneutralen und wertorientierten Wissenschaften — was nichts anderes bedeutet als: zwischen moralisch, sozial und politisch verantwortungsentlasteter und rechenschaftspflichtiger Wissenschaft — als ideologische Aushecküng des späten 19. Jahrhunderts zu verstehen. Der Fall Galilei aber steht nicht für diese Trennung, sondern für die schon mit der neuzeitlichen Wissenschaft einsetzende Propagierung zweier anderer, folgenreicher Unterscheidungen: die zwischen interessenfreien Entstehungsund interessengesteuerten Anwendungsbedingungen zum einen, die zwischen schuldunfähiger Grundlagenforschung und schuldfähiger Anwendungsforschung zum andern. Zu B. Brechts „Leben des Galilei" gehört — in den Entwürfen 1985/86), hg. v o m Forum Wissenschaftler f ü r Frieden und Abrüstung, Aachen 1986, S. 1 7 1 - 1 8 5 .
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für ein Vorwort — die Reflexion: „ D i e Bourgeoisie isoliert im Bewußtsein des Wissenschaftlers die Wissenschaft, stellt sie als autarke Insel hin, um sie praktisch mit ihrer Politik, ihrer Wirtschaft, ihrer Ideologie verflechten zu können. D a s Ziel des Forschers ist die reine Forschung, das Produkt der Forschung ist weniger ,rein'. Die Formel E = mc 2 ist ewig gedacht, an nichts gebunden. So können andere die Bindungen vornehmen: die Stadt Hiroshima ist plötzlich sehr kurzlebig geworden. Die Wissenschaftler nehmen für sich in Anspruch die Unverantwortlichkeit der Maschinen." 2 L ä n g s t stehen wir vor der paradoxen Situation, daß diesem Selbstverständnis wissenschaftlichen Handelns — das, bliebe es unwidersprochen, dem Anwendungskontext „Politik" die Verantwortung zuzuschreiben verlangte — politisch in Gestalt wissenschaftsethischer Normensysteme scheinbar entgegengesteuert wird, die in Wirklichkeit die Unverantwortbarkeit der Folgen wissenschaftlichen Handelns bedeuten — Verantwortung, die ein Individuum nicht tragen kann, verwandelt sich in ihr Gegenteil. Die Verantwortungsüberlastung der Wissenschaftler und Selbstentlastung der Politik von Verantwortung sind Zwillinge. Die Idee der sich moralisch durch Wissenschaftsgerichtshöfe >— wie etwa in den U S A — oder Ethikkommissionen — wie zunehmend in der Bundesrepublik Deutschland — selbststeuernden Wissenschaft ist die fiktionale F o l g e dieser Paradoxie; in der Regel dient die Ethikkommission nicht zur Kontrolle der Einhaltung, sondern zur Genehmigung der Abweichung von Humanitätsnormen. 2 B. Brecht, Schriften zum Theater, Bd. 4, Berlin-Weimar 1964, S. 222/223.
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Wissen, Handeln, H o f f e n : Menschsein Wollen wir zwischen menschlichen und unmenschlichen Wirkungen unseres Handelns unterscheiden können, müssen wir wissen wollen: Was ist der Mensch? Bereits die Formulierung, wir müßten wissen, wer wir sind, ist eine Teilantwort, und sie stimmt zusammen mit einem Verständnis von Philosophie, wie wir es bei B. Brecht und bei I. Kant vorfinden. „Die Philosophie lehrt richtiges Verhalten. Zu diesem Zweck beschreibt sie erstens menschliches Verhalten und zweitens kritisiert sie es. Um es zu beschreiben (zu erkennen und kenntlich zu machen), ist ebenfalls eine bestimmte Haltung nötig, die gelernt werden muß. Diese Haltung wird gezeigt in der Lehre vom interessierten Widerspruch. Dieselbe behandelt die Probleme der alten Erkenntnistheorie."3 In der Frage, wer wir sind, verhalten wir uns zu uns als solchen, die sich über sich aufklären müssen. „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschliessung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen." 4 Worüber wir uns aufzuklären haben, wollen wir wissen, wer wir sind, hat I. Kant — Brecht spielt darauf an — in vier Fragen gefaßt: „1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich tun? 3) Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch?" Zwar „beziehen sich die drei ersten Fragen auf die letzte" als Ziel, doch hängt die Antwort auf die Frage nach dem Menschen in eindeutiger Hierarchie von der Beantwortung der drei 3
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B. Brecht, Kurzer Umriß einer Philosophie, in: Gesammelte Werke, Bd. 20, Frankfurt a. M. 1967, S. 128. 1 . Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, (Akademie-Textausgabe), Bd. 8, Berlin (West) 1976, S. 35.
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in:
Werke
ersten ab; die geht auf unser Wissen, und es ist kein Zufall, daß Kant diese Fragen in der „Logik" aufwirft, in Ausführungen zum „Begriff von der Philosophie überhaupt": „Philosophieist also das System der philosophischen Erkenntnisse oder der Vernunfterkenntnisse aus Begriffen. Das ist der Scbulbegriff von dieser Wissenschaft. Nach dem Weltb e g r i f f e ist sie die Wissenschaft von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft. [...] Was aber die Philosophie nach dem Weltbegriffe (in sensu cosmico) betrifft: so kann man sie auch eine Wissenschaft von der höchsten Maxime des Gebrauchs unserer Vernunft nennen, sofern man unter Maxime das innere Prinzip der Wahl unter verschiedenen Zwecken versteht. [...] Der wahre Philosoph muß also als Selbstdenker einen freien und selbsteigenen, keinen sklavisch nachahmenden Gebrauch von seiner Vernunft machen." 5 Wir können uns Menschen begreifen als Erkennende, mit Bewußtsein uns zu den Methoden der Gewinnung unseres Wissens Verhaltende, mit erkannten Zwecken Handelnde und deshalb mit Gründen Hoffende. Wir sind zum Selbstdenken und zum Selbstentwurf fähig. Wir sind berechtigt zur Hoffnung, unsern Selbstentwurf zu verwirklichen. Wir wären zu nichts mehr berechtigt als zur schlechten Hoffnung der Vertröstung auf eine Evolution ohne Subjekt und Ziel, wenn wir uns nicht mit dem Mut des freien Verstandesgebrauchs über die Bedingungen der Möglichkeit, uns als Wissende zu wissen, aufklärten (Kritik) und über die Bedingungen, unter denen wir humane Zwecke setzen und zweckmäßig handeln können. Was wir tun sollen, folgt aus nichts als aus diesen Zwecken, auf deren Verwirklichung wir hoffen können, weil wir zu wahren Sätzen über uns und zum Handeln auf ihrer Grundlage fähig sind. Manfred Buhr hat den Rechtsgrund genannt, der dazu 5
I. Kant, Vorlesungen zur Logik, i n : W e r k e (Akademie-Textausgabe), Bd. 9, Berlin (West) 1976, S. 2 3 - 2 6 .
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legitimiert, bei heutigen Bestimmungen der Aufgaben der Philosophie immer wieder auf Kant zu verweisen — nicht im Rückgriff auf die materialen Aussagen des Systems, sondern in der Erinnerung des Programms der Reflexion, der Kritik und intellektueller Autonomie: „Nicht die Untersuchung vom Dasein Gottes, der Unsterblichkeit der. Seele etc. ist der Punkt gewesen, von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der r.[einen] V.[ernunft]: ,Die Welt hat einen Anfang — sie hat keinen Anfang etc. bis zur vierten: Es ist Freiheit im Menschen — gegen den: es ist keine Freiheit, sondern alles ist in ihm Naturnotwendigkeit'; diese war es, welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Kritik der reinen Vernunft selbst hintrieb, um den Skandal des scheinbaren Widerspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu beheben." Manfred Buhr läßt Kants philosophischem Bemühen die Gerechtigkeit historischer Kritik zuteil werden, die weiß: es gibt keinen Weg zu philosophischen Vorläufern zurück, es sei denn den des Vergessens, der blind die Fehler der Vergangenheit wiederholen läßt. Er urteilt: „Näher erscheint KantsLösungsversuch des Grundproblems der klassischen bürgerlichen Philosophie als das Bemühen um wirklich gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis und als Suchen nach wirklich sicheren wissenschaftlichen Kriterien für die ethischen Werte. [...] Kants Philosophie muß [...] als ein großangelegter Versuch angesehen werden, das menschliche Dasein in seinen mannigfaltigen Erscheinungen, Verästelungen und Beziehungen als Totalität zu fassen." 6 Ein solches Urteil erlaubt es, die Erinnerung produktiv 6
M. Buhr, Vernünftige Geschichte. Zum Denken über Geschichte in der klassischen deutschen Philosophie, Berlin 1986, S. 32, 34.— Zu Kants Theorie der Moral vgl. M. Buhr, Immanuel Kant. Einführung in Leben und Werk, Leipzig 1974, S. 1 2 8 f f . ; ders., Die Philosophie Immanuel Kants als theoretische Quelle des Marxismus-Leninismus, in: Revolution der Denkart oder Denkart der Revolution. Beiträge zur Philosophie Immanuel Kants, hg. von M. Buhr/T. I. Oiserman, Berlin 1976, S. 1 1 - 2 1 .
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werden zu lassen; hier soll es verstanden werden als das unausgesprochene Veto gegen den Skandal des scheinbaren Widerspruchs der praktischen politischen Vernunft mit ihr selber: wenn noch immer bereits die Würdigung des Programms der Reflexion und der Kritik zur Revision marxistischer Theorie stilisiert wird und sich so die materialistische Dialektik einer wesentlichen wissenschaftslogischen und epistemologischen (also historisch-logischen und erkenntnis-kritischen) Voraussetzung der Geltungsrechtfertigung ihrer Sätze beraubt, ist dies wider die Vernunft und bedeutet die Kehre des Wissens zum Glauben. Was Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet, ergibt sich aus ihrer Fähigkeit, das Erkennen als einen ihrer Zwecke zu erkennen, sich in ihren Zwecken zu erkennen, sich selbstbezüglich zu verhalten. Menschliche Erkenntnis ist weder die instinktmäßige Anpassung an die Lebensbedingungen noch die reflexartige Wahrnehmung der Außenwelt noch die bloß sensuelle Spiegelung, Verdopplung des Status quo. Erkenntnis ist Lehrenziehen aus als Geschichte begriffener Erfahrung, ist begreifendes Eingreifen in die Gegenwart durch Konstruktion der Erfahrung des Mannigfaltigen zum Wissen des Ganzen, ist Entwurf des Möglichen und der Zukunft. Aus allen diesen Funktionen des Erkennens erwachsen Wissen, Handlungskompetenz und Hoffnung als Handlungsmotiv. In Welterfahrung/Weltkonstruktion nehmen wir das Faktische als Widerstand und als Anlaß zum Widerstand; wir messen das Faktische am Möglichen und bewahren oder überwinden es im Vorbegriff der Zukunft. Was wir als Zukunft entwerfen, gewinnt durch das hoffende Wissen des objektiv Möglichen die Züge des Guten, des Fortschritts, der entwickelteren Humanität. Dies ist menschlich, und unmenschlich ist die Drohung der Umkehrbarkeit des Fortschritts und der Zukunft als Apokalypse. Wo Wissen, Handeln, Hoffen und Menschlichkeit zusammenwirken, ist der Grad der Freiheit des Selbstdenkens und 71
des praktischen Selbstentwurfs hoch. Im Maße des Zusammenspiels aller dieser Momente begreifen wir jedoch auch, daß wir die Entwicklung, die wir nehmen, nicht individuell frei wählen. Wir sind Natur und wir erzeugen gesellschaftliche Natur. Wir sind natürlichen Gesetzen unterworfen und Gesetzen der Gesellschaftlichkeit, die noch naturwüchsig wirken. Zu uns gehört biologisch der Tod, und solange unsere Gesellschaftlichkeit der spontanen Wirkung unbeherrschter Gesetzmäßigkeiten von Unterdrückung und Unterwerfung, sozialer, ökonomischer, politischer und kultureller ZweckWidrigkeit, ausgesetzt ist, bedroht uns der Tod auch sozial. Aber wir können die Verhältnisse, in die wir uns verstricken und die uns gefangen halten, mit unserm zweckmäßigen Entwurf vergleichen; mit der grundlegenden logischen, unsere Kognition bedingenden Fähigkeit des Vergleichens begabt, sind wir kritikfähig, und deshalb gestalten wir unsere Entwicklung, im Unterschied zum Gegebenen, als Veränderung. In der Idee der Veränderung und im praktischen Verändern haben wir das Menschenmögliche als Gattung auch dann vor uns, wenn sich für das Individuum letzte Ziele immer wieder als utopisch erweisen, weil sein Leben immer zu früh endet; zugleich haben wir das Bewußtsein: das Menschenmögliche ist für die Gattung keine Utopie, wenn die geschichtliche Kette des Veränderns nach humanen Maßstäben nicht reißt. Das Mögliche ist Orientierung des Wissens und Handelns; es ist die Instanz der Kritik, und Kritik bedeutet in diesem Sinne „Analyse der Bedingung der Möglichkeit" neuer Zustände menschlicher Entwicklung. Hoffnung gründet darin, daß wir eine Verfassung der Menschheit wissen und handelnd anstreben, in der Vergesellschaftung gelungene Individuation bedeutet; in der wir also nicht darauf reduziert sind, nur die Teilmenge dessen zu sein, was im abstrakten Begriff „der Mensch" bezeichnet wird. Wir suchen unsere Möglichkeit zu verwirklichen, „ein Mensch" zu sein, Individuum und Person. Die freie Association der befreiten Indi72
viduen ist Zweck und Ziel, und an diesem Ziel nehmen wir Maß, sobald sich die Frage stellt: Was soll icb tun? In dieser historischen Perspektive sind wir imstande, die Verantwortung zu ermessen, die uns zukommt und die wir übernehmen können. Zum Bestand unseres Wissens gehört die Erfahrung und das Bewußtsein der Unfreiheit, gehören auch die akkumulierten Erklärungen der Ursachen von Unfreiheit. Wir haben ein enormes Wissen darüber angesammelt, warum der Zusammenhang von Wissen, Handeln, Hoffen und Menschlichkeit zerbricht. Der historische Materialismus verbindet sich mit der dialektischen Begründung des Wissens zur Lehre der Befreiung — die Philosophie erfüllt in dieser Gestalt berechtigte Hoffnungen. Aber diese Philosophie ist noch keineswegs sozial allgemein, ist noch immer mehr regulative Idee und Korrektiv denn Maßstab gesellschaftlicher Organisation. So beginnt in der noch existierenden kapitalistischen Ordnung die Unordnung auch im Bewußtsein — als Teufelskreis der Verzweiflung am Wissen, am Handeln, am Hoffen und am Menschsein. Kierkegaards „Die Krankheit zum Tode" und „Der Begriff Angst" und Nietzsches Zynismus der Ohnmacht der Wahrheit sind die Gespenster, die das spätbürgerliche ideologische Bewußtsein nicht mehr loslassen. Wissen stürzt in Angst, wenn ihm kein Handeln folgen kann, das zur Hoffnung auf Humanität berechtigt. Das getäuschte Bewußtsein neigt dazu, dieses Dilemma dem Wissen, vornehmlich der Rationalität des wissenschaftlichen Wissens, anzulasten, nicht aber den selbsterzeu.gten Verhältnissen, in denen das Subjekt Täter und Opfer zugleich ist. Mit der Flucht in den Mythos der höheren, weil dem „Leben" näheren Würde des Nicht-Rationalen setzt sich die Fiktion des Nicht-Wissens als des eigentlichen Wissens durch, und diese Unmündigkeit ist selbsterzeugt. In den Ruinen der Ordnung von Wissen, Handeln, Hoffen und Menschlichkeit nistet sich der Fetischismus als die vermeint73
liehe Objektivität ein, die Sachzwang genannt wird. Der Sachzwang aus Lohnarbeit und Kapital zersetzt die Maßstäbe menschlichen Seins durch Maßstäbe des Habens von Geld und Macht. Zum Mechanismus der Sachzwänge gehört der Verlust des Bewußtseins der inneren Ordnung, der wechselseitigen Bedingtheit von Wissen, Handeln, Hoffen und Humanität. In diesem Prozeß der Zerstörung wirkt gegenläufig die Philosophie, sowohl als widerständige Kritik des Prozesses wie als in ihn einbezogenes Element; das größere Wissen seit Kants Logik der Aufklärung, seit Hegels begründeter Zurückweisung von Kants Moralitäts-Standpunkt, 7 seit Marx' Theorie der objektiven und subjektiven Bedingungen der Revolution, seit Lenins Verknüpfung von Erkenntniskritik und sozialistischer Vergesellschaftung des Politischen..., es ist Mittel der Veränderung, doch durch verschärfte Arbeitsteilung in Produktion, Distribution und Konsumtion des Wissens ist es nur potentiell Mittel für jedermann. Der Erkenntnis, daß die Einheit von Wissen, Handeln, Hoffen und Menschlichkeit nicht wiederhergestellt werden kann, greifen nicht alle diese vier Momente imLeben des Individuums ineinander, stehen entgegen die abstrakten „Alternativen", deren Namen bekannt sind: Szientismus, Pragmatismus, Utopismus und Philanthropie. In den Debatten über das wissenschaftlich und technisch Verantwortbare treten sie gegeneinander an. Der Szientist setzt auf die Besserung, die eintreten wird, läßt man nur die Spezialisten fürs Wissen herrschen; der Pragmatiker preist die kleinen Schritte des Social engineering gegen die Idee der Umwälzung der Verhältnisse; der Utopist kehrt der Reform den Rücken und vertagt die Hoffnung, zu der es keine Mittel und Wege gibt; der Philanthrop nimmt ein Menschenideal für den wirklichen 7
V g l . hierzu J. Ritter, Moralität und Sittlichkeit. Zu Hegels Auseinandersetzung mit der kantischen Ethik, i n : J. Ritter, Metaphysik und Politik. Studien zur Aristoteles und Hegel, Frankfurt a. M . 1977, S. 2 8 1 - 3 0 9 .
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Menschen, um an dessen Unfähigkeit zu verzweifeln und wahlweise Szientist, Utopist usf. zu werden. Sie alle fordern eine „neue" Wissenschaftsethik: deren Wissenschaftlichkeil: fasziniert den Szientisten, den Pragmatiker die Normierung der wissenschaftlichen Problemlösungen, Ethik als Alternative zu Technik den Utopisten und den Philanthropen die Bestätigung seines Ideals durch „besondere" Menschen, die Wissenschaftler. In allen diesen Scheinalternativen wird die vom Wissenschaftler verlangte Moralität einseitig aus einem der Momente des Zusammenhangs begründet und auf Wissenschaft als Ausnahmezustand zugeschnitten.
Wissenschaft und Intellektuelle Ausnahmegesetze tragen weder dem kognitiven Status noch der sozialen Funktion der Wissenschaft Rechnung. Was ist Wissenschaft? Hier können zwei wesentliche Bestimmungen genügen. 1. Wissenschaft ist eine nach Regeln gewonnene systematisch geordnete Menge überprüfbarer Sätze über Wirklichkeit. 2. Wissenschaft ist eine der kognitiv-sozialen und praktisch-sozialen Tätigkeiten, durch die Menschen den Prozeß ihrer Selbsterzeugung zunehmend rational planen, steuern und realisieren können. Jeder Wissenschaftler und die meisten derer, die von den Wirkungen kognitiver und praktischer wissenschaftlicher Tätigkeit positiv oder negativ betroffen sind, haben ein „Bild der Wissenschaft", das ihre Beziehung zu wissenschaftlicher Rationalität bestimmt. Wer auch nur ein wenig die Debatten der Wissenschaftstheoretiker verfolgt, sieht sich zwischen scheinbar klaren Fronten. Die einfache Tatsache, daß Wissenschaft das Zusammenspiel kognitiver und praktischer Tätigkeiten ist, geht in den Ausschließlichkeitsansprüchen der Kombattanten unter. Doch dies ist nur zu verständlich, vergewissern wir uns einiger Dimensionen und Funktionen von Wissenschaft: sie geht
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auf die analytische Zergliederung und Erkenntnis der mannigfaltigen Besonderungen des Wirklichen; sie ordnet die Menge des erkannten Einzelnen zur Synthese ganzheitlicher Strukturen; sie erklärt Gründe und Wirkungszusammenhänge, und sie tut dies nicht, weil die Gründe selber für sich sprächen, sondern in der interessierten Perspektive von Zielen, von denen her Sachverhalte Bedeutung gewinnen; sie nimmt Wahrheit, zumindest aber pragmatisch gesicherte Geltung für ihre Sätze in Anspruch; sie ist ein kooperatives soziales System von Handlungen, in dem auf das Erkenntnisziel nicht-kognitive Einflüsse sowohl im Entstehungs- wie im Anwendungskontext wirken; sie wird von Menschen gemacht, die auf Grund spezialisierter Tätigkeit eine bestimmte Stellung im gesellschaftlichen Ganzen einnehmen. Im wissenschaftlichen Begreifen der Wirklichkeit gründen ambivalente Möglichkeiten des Eingreifens und Veränderns, und Wissenschaftler stehen in dieser Ambivalenz, verhalten sich zu ihr, entscheiden sich. Die unfruchtbare Alternative, Wissenschaft sei entweder als Menge von Sätzen oder als System gesellschaftlicher Tätigkeit zu definieren, ist ein Ausdruck dieser Ambivalenz. Aus beiden Auffassungen ergeben sich unbefriedigende Konsequenzen für Verantwortung und moralisches Verhalten. Reduziert man Wissenschaft auf empirische und theoretische Sätze und fordert man nicht mehr als die Kontrolle ihrer logischen Konsistenz oder Kohärenz, also der internen Schlüssigkeit der Beziehung zwischen vorausgesetztem (meist ontologischem) Theorierahmen, Methodologie, Methode und empirischem Urteil, so stellt sich die Wahrheitsfrage nicht mehr als Frage menschlicher Zwecke, und wir haben den Fall Galilei zu erwarten. Reduziert man die Kriterien zur Beurteilung von Wissenschaft auf deren Nützlichkeit und fordert nicht mehr als die Kontrolle ihrer sozialen Funktionen, so stellt sich die Wahrheitsfrage nicht mehr als Frage der Übereinstimmung zwischen Sätzen und Wirklich76
keit, und ins Haus steht der Fall Lyssenko, dessen Namen viele Wissenschaftler im Kapitalismus nur zufällig nicht tragen. 8 Verpflichtet sich der Wissenschaftler nur jener Wahrheit, die logisch gerechtfertigt werden kann, so wird er Verantwortung ausschließlich in den Grenzen der Moralnormen für die Wissenserzeugung ableiten und jede Rechenschaftspflicht für praktische Folgen ablehnen; verpflichtet er sich nur jenem Nutzen, der sozial gerechtfertigt werden kann, wird er seine Verantwortung aus Moralnormen für politisches Handeln ableiten und seinerseits die Einheit von Wahrheit des Wissens und Menschlichkeit des Handelns auflösen. Das Problem der Grenzen der Wissenschaftsfreiheit wird entsprechend kontrovers gelöst; die einen befürchten die Einschränkung des Strebens nach Wahrheit und setzen sozialer und politischer Steuerung enge Grenzen; die anderen sehen die menschliche Existenz bedroht und ziehen die Grenzen in der Wissenschaft selber. Die einen und die andern — sie bilden öffentlich das Wir, von dem in der Frage die Rede ist, ob wir eine neue Wissenschaftsethik benötigen. Dieses Wir ist nicht homogen und keine harmonische Einheit. Daß wir Wissenschaftler in Verhältnissen leben, aus denen wir nicht auf archimedische Standpunkte außerhalb der Welt der Interessen emigrieren können, daß die Ergebnisse unserer kognitiven Tätigkeit praktischen Interessen dienstbar sind, daß wir nicht frei über die Richtung und die Qualität der Veränderungen bestimmen, die aus unseren Erkenntnissen hervorgehen, daß wir Mittel der Anpassung an oder des Widerstands gegen inhumane Verhältnisse bereitstellen — sei es materiell oder ideologisch —, dies alles ist bekannt. Ein Mehr an Nachdenken verdient ein anderes Problem: die Wissenschaftlerexistenz als Intellektuellenexistenz. Aus ihr ergibt sich die 8
Hinreichende Belege für diese Behauptung finden sich in: W. Broad/N. Wade, Betrug und Täuschung in der Wissenschaft, Basel — Boston — Stuttgart
1984.
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Forderung, daß Wissenschaftler zunächst Normen der Kognition, des intellektuellen Verhaltens im Erkenntnisprozeß benötigen, bevor sie nach moralischen Normen für.die frühzeitige Abschätzung der praktischen Folgen ihrer Erkenntnisse fragen können. Es geht nicht darum, die schwer erkämpfte Errungenschaft der gesellschaftsgeschichtlichen und gesellschaftswissenschaftlichen Analyse der sozialen Funktion der Wissenschaft preiszugeben; vielmehr: es sollen die Probleme der Wissenschaft, die sich bereits aus der besonderen kognitiven Verfassung ihrer Subjekte, der Wissenschaftler, ergeben, berücksichtigt werden. Diese werden in der Abstraktheit der Frage, ob die Wissenschaft einer neuen Ethik bedarf, verdrängt. Die Wissenschaft tut nichts und bedarf keiner Ethik. Statt dessen ist nach der Moralität der Handelnden zu fragen und danach, unter welchen Bedingungen sie moralisch zu handeln fähig sind. Es sind dies Bedingungen, die zum Unterschied zwischen dem Wissenschaftler und dem Intellektuellen führen. Wissenschaftliche Tätigkeit hat nur selten einen unmittelbaren Bezug zur Realität, und selbst das Verfahren, das „Empirie" heißt, ist mittelbar, schaltet Erkenntnismittel wie Methoden und Instrumente zwischen das Erkenntnissubjekt und die Welt der Objekte, transformiert die wirklichen Objekte in Erkenntnisobjekte. Wissenschaftliche Erkenntnis vermittelt sich vornehmlich in Theorie-Verhältnissen, in Selbstbeyügen theoretischen Wissens. Der Verantwortungsbegriff, den sich der Wissenschaftler bildet, entspricht in erster Linie dieser Besonderheit seiner Tätigkeit. Die Antriebe zu moralischem Verhalten sind zunächst kognitiver Natur. Was der Wissenschaftler einklagt, ist ein Recht auf Wahrheit. Er tut gut daran, seine Moralität auf dieses Recht zu gründen und es als Pflicht zum Selbstdenken aufzufassen. Aber dieser richtigen Einstellung korrespondiert ein zu enges Konzept von Handlung und menschlicher Existenz, welches sich in dem Maße als legitim verfestigt, wie es durch soziale Gratifikationen als hinreichend 78
wertvoll erfahren wird; in der sozialen Institution „Wissenschaft" wird belohnt: die freie Konkurrenz um Wahrheit; die unablässige Reform der Wahrheit durch Falsifikation und Neuerung; das Ausklammern der Praxis als Kriterium von Wahrheit. Diese „Freiheit", die in Vereinzelung ihr Ideal hat, durchbricht erst der Wissenschaftler, der als Intellektueller wirkt. Erst der Intellektuelle ist Bürger nicht nur der Scientific Community, sondern des Gemeinwesens. Die Öffentlichkeit des Politischen ist sein Handlungsraum, in den er den Begriff „Wissenschaft" erweitert. Die Moralität wissenschaftlichen Handelns übergreift nun die Werte „Wahrheit" und „Humanität". Nicht der sich beschränkende Wissenschaftler, sondern der Intellektuelle ist der Träger der H o f f n u n g , die sich aus der Verbindung von Wissen und Handeln ergibt. Die Revolutionen im wissenschaftlichen Wissen und die qualitativen Veränderungen im sozialen wissenschaftlichen Tätigkeitsprozeß und schließlich die qualitativ neuen Erfahrungen mit den Folgen von Wissenschaft und Technologie haben zu einer Situation geführt, in der ein Bedarf nach Normen wissenschaftlichen Handelns unabweisbar erscheint. Fraglich aber ist, ob es einen Bedarf an besonderen Normen für Wissenschaftler gibt und ob diese Normen durch eine besondere „Ethik der Wissenschaft" begründbar sind. Gewiß stehen wir vor der Notwendigkeit einer humanen Rekonstruktion der Wissenschaft. Sozialtechnologie, Biotechnologie und die militärische und zivile Nutzung der Kernenergie werfen alte Fragen neu auf: Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Was dürfen wir hoffen? Was ist der Mensch? Gewißheiten werden fragwürdig: Ist der geschichtliche Fortschritt irreversibel? Führen sozialistische gesellschaftliche Verhältnisse zu neuen Qualitäten der Beherrschbarkeit der Natur-Mensch-Beziehung? Everett Mendelsohn beschließt sein Plädoyer für „Die Notwendigkeit einer humanen Rekonstruktion der Wissenschaft", indem er einem 79
historischen Zeugen das Wort gibt und damit betont, daß es um eine Re-Konstruktion in humanistischer Absicht geht, nicht aber um die Konstruktion einer „neuen Ethik". Sein Zeuge ist Francis Bacon: „Ich würde eine allgemeine Mahnung an alle richten. Sie mögen sich überlegen, was wirklich das Ziel der Erkenntnis ist, und daß sie dieses nicht aus Freude an der Spekulation noch aus Wetteifer, noch zur Erlangung der Herrschaft über andere, noch wegen des Profits, des Ruhmes, der Macht oder eines anderen dieser nebensächlichen Gründe wegen anstreben dürfen, sondern zum Wohle und zum Nutzen des Lebens. Und daß sie diese Erkenntnis in Barmherzigkeit vervollständigen und lenken, denn es war aus Machtgier, daß die Engel fielen, und aus Gier nach Erkenntnis fiel der Mensch, aber bei der Barmherzigkeit gibt es kein Übermaß. Weder Engel noch Mensch wurde jemals durch diese gefährdet." 9 Mit der Forderung nach einer „neuen Wissenschaftsethik" trügen wir der Neuartigkeit unserer geschichtlichen Situation Rechnung — aber auf die paradoxe Weise der Anpassung an die Bedrohung des Überlebens. Würden wir nicht besser begreifen, was Ethik heißt, wenn wir sie als den geschichtlichen Prozeß der Ausbildung jener Rechtsansprüche auf Humanität verstünden, von deren Unverzichtbarkeit sich Menschen in Niederlagen und im Fortschritt überzeugt haben und die anzuerkennen sind, weil der Preis für die Nichtanerkennung Rückschritt bis ins Chaos der Zerstörung der Geschichte, unserer Herkunft, Gegenwart und Zukunft ist? Ein Beispiel mag zeigen, was eine humane Rekonstruktion zu leisten hätte. Am 6. August 1945 um 8.15 Uhr ist in Hiroshima ein Mensch gestorben. Er wußte nicht warum und woran. 9
E. Mendelsohn. Die Notwendigkeit einer humanen Rekonstruktion der Wissenschaft, in: Brauchen wir eine andere Wissenschaft, X . Salzburger Humanismusgespräch, hg. von O. Schatz, Graz — Wien — Köln 1981, S. 205.
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Seinen Namen kennen wir nicht, aber wir sehen seinen eingebrannten Schatten noch heute. Zwei Wochen später waren einhundertvierzigtausend Menschen tot. In diesen Chiffren hat sich uns die Atombombe eingeprägt, in Hunderttausenden der Opfer, in Kilotonnen Mordenergie, in Quadratkilometern an Ruinen. Das Kriegsverbrechen von Hiroshima hat Generationen auch psychisch vergewaltigt, unfähig gemacht zur Trauer um den einen Menschen und um jeden einzelnen Menschen. Die quantitative Vergrößerung des Einsatzes wissenschaftlicher Erkenntnis und technischer Mittel hat das qualitative Prinzip zerstört, daß der Mensch seinen Zweck darin hat, sich als Individuum zu verwirklichen. Die Bombe steht für die neue Disproportion: je gewaltiger die Quanta an Wissenschaft und Technologie, desto geringschätziger der Umgang mit den Folgen. Der Body-Count in vierteiligen Ziffern zersetzt das System moralischer Normen, das auf die Würde der Persönlichkeit geht. Dem nuklearen Winter geht voraus, was Lucien Sève den „affektiven Winter" 10 genannt hat. Jede Wissenschaftsethik, welche diese Ausnahmesituation wissenschaftlichen » Handelns als Normalität sanktioniert und den Wissenschaftler aus der allgemeinen Moralität menschlichen Handelns exiliert, hat ihr Ziel bereits im Ansatz verfehlt; es sei denn, ihr Ziel bestünde gerade darin, den Intellektuellen zu entmündigen und den bornierten Wissenschaftlertypus zu befördern. Die Rechte der Menschen und die Moralität wissenschaftlichen Handelns Im affektiven Winter des Moralbewußtseins finden Antworten auf die Frage nach der Verantwortung der Wissenschaftler günstige Überlebensbedingungen, die nicht im Interesse 10
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L. Sève, Rede anläßlich des 3. Kongresses der Psychologen für den Frieden, Münster, 29. 11.—1. 12. 1985 (zit. nach dem Manuskript). Zur Architektonik
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der Wissenschaftler gegeben werden. Die Orientierungskrise in den Wissenschaften wird ins Kalkül konservativer Politik gezogen. Die Angst, die weithin das öffentliche Bewußtsein gegenüber der Wissenschaft prägt, wird konservativ in das Argument gewendet, die Wissenschaftler selber trügen durch ihre öffentlich geäußerten Skrupel zur — so Hermann Lübbe — „Selbstdistanzierung unserer wissenschaftlichen Zivilisation" bei: die Wissenschaftler kennen ihre Grenzen nicht mehr; indem sie die Gefahr unmenschlicher Folgen wissenschaftlichen Handelns ins öffentliche Bewußtsein projizieren, untergraben sie das Vertrauen der Menschen in die Institutionen des Staats, die als Wahrer von Recht und Moral auch über die Vertretbarkeit der Wissenschaftsund Technologiefolgen wachen; weil „die Verantwortung von Personen und auch von Institutionen [...] nie weiter als die Handlungsmacht dieser Person und Institutionen reichen" kann, beweist die Warnung vor den Folgen „die Bodenlosigkeit eines Moralismus, dessen Verantwortungspathetik das Komplement seiner praktischen Ohnmacht ist, oder auch, schlimmer, die moralische Form der Anmeldung politischer Machtansprüche". 11 H. Lübbes Argument ist nicht bar jeder Rationalität, doch der Kontext, in dem das Plädoyer für eine Verantwortungsselbstbeschränkung und für das Vertrauen auf die institutionalisierte öffentliche Moral steht, läßt es als zynisch erscheinen. Denn gerade die politische Struktur der bürgerlichen Gesellschaft, in welcher der Staat das allgemeine Interesse mit dem partikulären Interesse ökonomischer Machtmonopole zu verwechseln angehalten ist, drängt die Wissenschaftler in die Expertenrolle der Begründer politischer Entscheidungen und hält ihnen zugleich die von Intellektuellen beanspruchte politische Selbst11
H. Lübbe, Wissenschaftsfeindschaft und Wissenschaftsmoral. Über die Verantwortung des Wissenschaftlers, in: Wissenschaft und Verantwortung. Vortragreihe, veranstaltet vom Collegium Generale der Universität Bern, hg. von P. Labudde / M. Svilar, Bern 1980, S. 7.
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bestimmung in der Wissenschaft und Mitbestimmung in Gesellschaft und Staat vor. 1 2 In dieser Situation mächtiger Ohnmacht gerät die Wissenschaft ins Zwielicht: Sie, die sich in den Dienst politischer Herrschaft und ökonomischer Macht gestellt sieht, wird haftbar gemacht für die Folgen von Ökonomie und Politik. Der Wissenschaftler, der sich in dieser Lage nicht widersetzt, wird in der Öffentlichkeit als der betrogene Betrüger wahrgenommen, teils gefürchtet, teils mißachtet. In der „Akzeptanzkrise" auf sich selbst verwiesen, beteiligt er sich an der Kompensation des Mangels an Moral in Staat und Gesellschaft durch ein Verfahren, das ihn scheinbar privilegiert, indem es ihm seine besondere Situation durch besondere Moralnormen bestätigt, in Wirklichkeit aber endgültig der Kontrolle von Interessen unterwirft, die nicht seine Interessen sind: die Wissenschaftsethik, die diese Handlungssituation normiert, ist ein Instrument politischer Herrschaft über die Wissenschaft und schränkt das Recht auf Wahrheit und mit ihm die Rechte der Menschen auf Handeln, Hoffen und Menschlichkeit ein. Zu den Antworten, die Kant auf die sich abzeichnenden Probleme der bürgerlichen Gesellschaft gegeben hat, gehört die moralische Norm, es solle ein jeder so handeln, daß die Maxime seines Handelns jederzeit Grundlage allgemeiner Gesetzgebung werden könne. Oder: man solle jederzeit nach der Maxime handeln, deren Allgemeinheit als Gesetz man zugleich wollen könne. Die Erfahrungen aus dem Verhältnis von Gesellschaft, Staat und Wissenschaft ist hinreichender Anlaß, Kants Imperativ anzuerkennen und aus ihm die Forderung abzuleiten: Die allgemeine Gesetzgebung und die Normen für die Wissenschaft müssen so beschaffen sein, daß sie jederzeit die Grundlage allgemeinen 12
Vgl. hierzu J.-M. Legay, W e r hat Angst v o r der Wissenschaft? Über Wissenschaftler, Politik und Gesellschaft, Leipzig — Jena — Berlin 1984.
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menschlichen und wissenschaftlichen Handelns darstellen. Der Beitrag der Wissenschaftler zur Moralität wissenschaftlichen Handelns wird also nicht darin bestehen können, Moralnormen zu begründen, deren allgemeine Verbindlichkeit nicht mehr forderbar wäre; vielmehr haben Wissenschaftler das Recht und die Pflicht, die Geltung allgemein anerkennbarer humanistischer Normen durch wissenschaftliches Wissen begründen und durchsetzen zu helfen. „Die Wahrnehmung wissenschaftlicher Verantwortung erfordert sowohl entsprechende soziale und institutionelle Handlungsbedingungen als auch den subjektiven Verantwortungswillen der Wissenschaftler." 1 3 Dieser Verantwortungswille der Wissenschaftler wird durch Ausnahmenormen nicht gestärkt, sondern geschwächt. Die individuelle Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit als Entwicklung von Rationalität 14 wie die individuelle Kompetenz zur Beurteilung von Normenbegründungen 1 5 haben zur Voraussetzung, daß der Wissenschaftler die Frage „Was ist der Mensch?" im Bewußtsein der Teilhabe an der Gesellschaft der Menschen und an allgemeiner menschlicher Moralität beantworten kann. Mit Albert Einstein: „Die Grenzlinie ist nicht zwischen Wissenschaftlern und NichtWissenschaftlern zu ziehen, sondern zwischen verantwortungsvollen, anständigen Menschen und allen übrigen." 1 6 Es sprechen keine guten Gründe für eine Wissenschafts13
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G. Handschuh, Die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaftler. Zur Bedeutung der institutionell vermittelten Orientierung der Wissenschaft für die Wahrnehmung wissenschaftlicher Verantwortung, Frankfurt a. M. 1982, S. 371. Vgl. A. Regenbogen, Überlegungen zur Rationalität von moralischen Urteilen, in: Moral und Politik. Soziales Bewußtsein als Lernprozeß, hg. von A. Regenbogen, Köln 1984, S. 113-127. Vgl. H. Wagner, Normenbegründungen. Einführung in die spätbürgerliche Geltungsdiskussion, Köln 1982. A. Einstein, Über den Frieden. Weltordnung oder Weltuntergang?, hg. von O. Nathan/H. Norden, Vorwort von B. Russell, Bern 1975, S . 552.
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ethik, sofern sie durch spezielle Normen die Wissenschaftler mit mehr oder weniger sittlichen Forderungen belastet als jedermann. Alle Grunde sprechen für die Forderung, jeder Wissenschaftler solle die Verteidigung des Zusammenhangs von begründetem Wissen, moralischem Handeln, aktiver Hoffnung und gelebter Humanität zu seiner Maxime mächen. In diesem Zusammenhang werden Wissenschaftler, wird die Wissenschaft frei. Freiheit ist die Voraussetzung dafür, etwas verantworten zu können. Etwas? Die gängige Rede von der Freiheit der Wissenschaft ist eine häßliche Phrase, wenn immer sie nicht mehr bedeutet als — von allen Rücksichten außer der Wissenschaft. „Verantwortung" gehört zum Jargon politischer Herrschaft gegen Wissenschaft, wenn das Wort nicht mehr bedeutet als — nur in wissenschaftlichen Belangen sei der Wissenschaftler verantwortlich. Die ideologisch gängige Münze Wissenschaftsethik hat zu viel mit Ware-Geld-Beziehungen zu tun, als daß man sich von ihrem wissenschaftlichen Glanz kritiklos blenden lassen dürfte. Wie und in wessen Interesse werden wissenschaftsethische Normen begründet? Das Neue, unter dessen Titel häufig die Forderung nach Wissenschaftsethik auftritt, darf nicht aus dem Vergessen entstehen und unser Erinnerungsvermögen nicht verhöhnen. Es gibt einfache Einsichten, zu denen es der Beschwörung des Neuen nicht bedarf. Zu diesen Einsichten gehört: Nach Hiroshima sind bestimmte Irrtümer nicht mehr erlaubt; die klassische Methode „trial and error" ist längst zur Grenze der Wissenschaft geworden; das Unmenschliche kann nicht erprobt werden. Zu den verdrängten Einsichten, an deren Stelle die völlige Neuartigkeit der Lage und der ihr entsprechenden Moralnormen propagiert werden, gehören auch die Menschenrechte. Die Dreistigkeit, mit der konservative Ideologen auf Überraschung rechnen, wenden sie das Thema „Menschenrechte" gegen die Bewegung für den Frieden, setzt auf die Vergeßlichkeit derer, denen Menschenrechte vorenthalten werden. Und es 85
spricht nicht für Geschichtsbewußtsein der Demokraten, daß sie sich in der Defensive fühlen, im Kampf um die Menschenrechte nicht ihre Herkunft vertreten, keine Offensive für die Durchsetzung der Menschenrechte in ihrer Vollständigkeit in Gang setzen. „Das Menschenrecht erkämpfen" — eine Antwort auf die Frage nach der Moralität wissenschaftlichen Handelns. Denn diese Frage läßt sich in drei andere Fragen auflösen: 1. Was sind die Ziele wissenschaftlichen Handelns? 2. Mit welchen Mitteln sollen die Ziele verwirklicht werden? Und 3. Mit wem, an wessen Seite können die Mittel so wirksam werden, daß die Zwecke und Ziele aller Menschen erreicht werden? Erst wenn die Ziele und die Mittel der Wissenschaftler mit allgemein anerkennbaren Zielen und Mitteln zusammenstimmen, kann von Moralität wissenschaftlichen Handelns gesprochen werden. „Allgemeine Ziele und Mittel" — in antagonistischen Gesellschaften kann Allgemeinheit nicht numerisch bestimmt werden; der Widerstand gegen partikuläre Ziele und Mittel muß sich aber an einem Allgemeinen, an Humanität, legitimieren, bedarf der Kriterien, des Maßes. Es gibt Normen, die nicht der Beliebigkeit individueller Wertsetzung anheimgestellt sind; es gibt Normen, die relativistisch in Zweifel zu ziehen nicht möglich ist, weil das Individuum sich den Rechtsgrund menschenwürdiger Existenz selbst entzöge; es gibt Normen, die nicht wissenschaftsethisch konstruiert werden müssen, sondern deren Geltung überindividuell und übernational anerkannt werden und auf deren Beachtung jedes Individuum einen umfassenderen Rechtstitel hat, als es die konservative Reduktion auf die Staatsbürgerrechte gelten lassen will. Diese Normen und Rechte erschließen sich „in der 'Erkenntnis, daß im Einklang mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte das Ideal freier Menschen, die frei von Furcht und Not sind, nur erreicht werden kann, wenn Verhältnisse geschaffen werden, unter denen jeder seine wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen 86
Rechte sowie seine politischen und Bürgerrechte genießen kann" Den Menschen wurden ihre Rechte von niemandem geschenkt, nicht einmal von der Natur. Als Unterdrückte hatten und haben Menschen das Recht auf ihr Leben, als Sklaven das Recht auf ihre Freiheit, als Verhungernde das Recht auf den Ertrag ihrer Arbeit, als Arbeitende das Recht auf Arbeit, Gesundheit, freie Zeit, politische Gestaltung der Produktion, als politisch Handelnde das Recht auf einen Staat, der als Mittel zu sozialer Gerechtigkeit und zum internationalen Frieden dient, zu erkämpfen. Die Rechte der Menschen sind immer wieder zu erklären, sowohl auszurufen wie zu begründen. Solange die kapitalistische Gesellschaft die Knoten zwischen den ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Rechten zerschneidet und Sonderrechte für Privilegierte setzt, denen Sonderpflichten Entrechteter entsprechen, können auch Wissenschaftler dem Thema „Wissenschaftsethik" keinen Vorrang einräumen. Ich will keinen Zweifel daran aufkommen lassen, daß hier nicht gegen Wissenschaftsethik schlechthin plädiert wird. Plädiert wird vielmehr für eine Moral wissenschaftlichen Handelns, die zugleich die Moral allgemeiner Beurteilung wissenschaftlichen Handelns sein kann. Die Werte, auf deren humanistisch orientierende Kraft wir vertrauen dürfen, stehen in Opposition zur Herrschaftsmoral aus partikulären ökonomischen Interessen und aus politischer Hegemonie gegen das Volk. Die Wissenschaftsethik, die wir benötigen, ist eine Theorie der Normenopposition. Wogegen zu opponieren, scheint klarer als mit welchem Ziel. Die Erinnerung an die Menschenrechte enthält die Geschichte des Widerspruchs wogegen wie die Konstruktion des Wofür der Zukunft. Vereinte Nationen. Internationale Konvention über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 16. Dezember 1966, in: H. Klenner, Marxismus und Menschenrechte. Studien zur Rechtsphilosophie. Anhang: Menschenrechtskataloge aus Vergangenheit und Gegenwart, Berlin 1982, S. 430.
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Virginia, 12. Juli 1776, Bill of Rights, Art. 1: Alle Menschen sind v o n Natur aus gleichermaßen frei und unabh ä n g i g . . . 10. Dezember 1948, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte: D a die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet... Art. 2 , 1 : Jeder Mensch hat Anspruch auf die in der Erklärung verkündeten Rechte... 18. Oktober 1961, E u r o päische Sozialcharta: 1. Jedermann muß die Möglichkeit haben, seinen Lebensunterhalt durch eine frei übernommene Tätigkeit zu verdienen. 2. Alle Arbeitnehmer haben das Recht auf gerechte Arbeitsbedingungen ... 18 Man mag einwenden, daß die Menschenrechte konkret wissenschaftliche Handlungen zu normieren nicht geeignet sind. Dieses Argument wird dann produktiv, wenn es dazu veranlaßt, N o r m e n wissenschaftlichen Handelns zu entwickeln, die einzelnen Menschenrechtsbestimmungen und dem Katalog der Menschenrechte in seiner Ganzheit subsumierbar sind. Richtungsweisend sind die „ E m p f e h l u n g e n zum Status der wissenschaftlichen Forscher", die v o n der United Nations Education, Scientific and Cultural Organization ( U N E S C O ) am 20. November 1974 beschlossen worden sind. E s ist gut, sie zu kennen, um zu begreifen, wogegen Regierungen kapitalistischer Staaten heute ihren Protest richten, und es mag dann einsichtiger sein, warum die U S A der U N E S C O vor Beginn der SDI-Forschungen die Mitgliedschaft aufgekündigt haben. Die Empfehlung stützt sich auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und hebt deren Art. 27.1 heraus, demzufolge „jeder das Recht hat, frei am kulturellen Leben der Gemeinschaft teilzunehmen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben". D i e Empfehlung anerkennt, „daß 18 Vgl. ebenda.
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wissenschaftliche Entdeckungen und entsprechende technologische Entwicklungen und Anwendungen große Perspektiven für den Fortschritt eröffnen, der in besonderer Weise durch die optimale Nutzung der Wissenschaft und wissenschaftlicher Methoden für das Wohl der Menschheit und für die Sicherung des Friedens möglich gemacht wird". Die Empfehlung enthält Definitionen zu „Wissenschaft" und „Technologie" und Bestimmungen zur gesellschaftlichen Bedeutung von Wissenschaft und Forschung, und sie nennt Bedingungen, die von den Staaten geschaffen werden müssen, damit Wissenschaftler ihrer Verantwortung Rechnung tragen können: Die Wissenschaftler sollen die Verantwortung und das Recht haben, 1. in einem Geist intellektueller Freiheit zu arbeiten und wissenschaftliche Wahrheit zu formulieren und zu verteidigen; 2. zur Definition der Ziele und Gegenstände der Forschungsprogramme, an denen sie mitwirken, und der Methoden beizutragen, die humanitär, sozial und ökologisch verantwortbar sein sollen; 3. sich frei zum humanitären, sozialen oder ökologischen Wert von Projekten zu erklären und von ihnen Abstand zu nehmen, wenn ihr Gewissen es ihnen gebietet; 4. positiv und konstruktiv zur Erarbeitung von Wissenschaft, Kultur und Erziehung in ihrem eigenen Land, zum Wohlergehen ihrer Nachbarn und zur Verbreitung der Ideale und Ziele der Vereinten Nationen beizutragen. Die Empfehlungen enthalten konkrete Ausführungen zu den Arbeitsbedingungen von Wissenschaftlern, zur Öffentlichkeit der Wissenschaft, zum Koalitionsrecht für Wissenschaftler ... 19 Die Menschenrechte sind ein unveräußerliches Rechtsgut jeder Person. Sie sind durch die Wissenschaft zu schützen und entsprechend dem Wissen auch der Wissenschaftler zu 19
V g l . United
Nations Education,
Scientific and Cultural
Organization.
Recommendation on the status of scientific researchers, adopted by the General Conference at its eighteenth session, Paris 20. November 1974.
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vervollkommnen. Sie sind zugleich als Normen- und WerteSystem, als Netzwerk, in das keine Löcher gerissen werden dürfen, der allgemeine Maßstab, dem die Moralität wissenschaftlichen Handelns zu entsprechen hat und — dies ist wesentlich — entsprechen kann. Sind die Rechte der Menschen das Maß wissenschaftlicher Erkenntnis und wissenschaftlichen Handelns, so stellt sich die Einheit von Wissen, Handeln, Hoffen und Menschlichkeit her, programmatisch und praktisch. Aus ihr entstehen Koalitionen der Vernunft und Pakte der Solidarität.
ALBERT
HEINEKAMP
(Hannover)
Leibniz und das Glück1 Das abendländische Denken hat der philosophischen Frage nach dem Glück in den verschiedenen Epochen in unterschiedlichem Maße Aufmerksamkeit geschenkt. Ich erinnere mich nicht, während meiner Studienzeit in den 50er und zu Beginn der 60er Jahre eine Vorlesung oder ein Seminar über dieses Thema angekündigt gesehen zu haben. Zwar war es unvermeidlich, bei der Besprechung der Nikomaehischen Ethik von Aristoteles und anderer moralphilosophischer Schriften auf das Problem des Glücks einzugehen, aber man hielt dieses Thema nicht für würdig, Gegenstand einer eigenen Lehrveranstaltung zu werden. Offensichtlich war man der Überzeugung, der Begriff des Glücks sei zu vage, als daß man mit philosophischen Überlegungen bei ihm etwas Sicheres herausfinden könnte. Außerdem glaubte man wohl auch, es sei überflüssig, über dieses Thema nachzudenken, weil jeder auch ohnedem wisse, wie er sein Glück erreichen könne. Eine wichtige Rolle spielt ferner wohl der Einfluß Kants, welcher den Glücksgedanken aus der Ethik verbannte^ Geringfügig überarbeiteter Text eines Vortrages, der am 8. Mai 1986 im Klub „Erich Wendt" in Weimar gehalten wurde. 2 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (B), Riga 1787, S. 833.
1
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u. a. deshalb, weil dieser Begriff die Autonomie des Menschen aufhebe und Moralität unmöglich mache. 3 Diese Einstellung hat sich in den letzten Jahren grundlegend geändert. Im „American Philosophical Quarterly" erschien 1983 ein Bericht, 4 in dem insgesamt 51 Veröffentlichungen über das Problem des Glücks aufgeführt werden, und zwar nur in englischer Sprache. Das neu entstandene Interesse an dem Problem des Glücks darf wohl als Reaktion auf eine Enttäuschung über nicht erfüllte Glückserwartungen verstanden werden. Die Aufbruchphase nach dem zweiten Weltkrieg war beherrscht von der neuzeitlichen Hoffnung, durch planmäßiges und besonnenes gemeinsames Handeln sei es möglich, eine gerechte und damit glückliche Gesellschaftsordnung zu errichten oder zumindest die materiellen Voraussetzungen für ein allgemeines Glück zu schaffen. Unter der Idee eines allgemeinen Fortschritts schien das Glück verfügbar gemacht zu sein. Nach einer langen Phase des Optimismus stellte sich jedoch heraus, „daß sich zwar die äußeren Bedingungen des menschlichen Lebens grundlegend wandelten, daß aber das Glück selbst nach wie vor mehr eine ungelöste Frage als eine allgemeine Wirklichkeit ist" 5 . Ja, durch die ins Unvorstellbare gesteigerte Macht des Menschen drohte ein neues Unglück, nämlich die Zerstörung der Menschheit und der Natur durch den Menschen selbst. Daher ist es nicht verwunderlich, daß man sich erneut der Frage nach dem Glück zuwandte. Interessant ist nun, daß der oben erwähnte amerikanische Literaturbericht zu dem Ergebnis gelangt, daß in diesem Schrifttum sämtliche aus der abendländischen Philosophie3 Vgl. I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Riga 1788, S. 59; I. Kant, Kritik der Urteilskraft, Berlin-Libau 1790, § 83. 4
5
D. Den Uyl/T. K. Machan, Recent Work on the Concept of Happiness, in: American Philosophical Quarterly, Bd. 20 (1983), S. 1 1 5 - 1 3 4 . G. Hentrich, Einleitung, in: Vom Glücklichsein. Wegweiser großer Denker, hg. von G. Hentrich, Fieiburg 1983, S. 21.
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geschichte bekannten Teilprobleme der Frage nach dem Glück wieder auftauchen. Wenn das jedoch der Fall ist, dürfte es nicht unnütz sein, auf die Glücksdiskussion der früheren Jahrhunderte zurückzugreifen und ihre Ergebnisse in die heutigen Überlegungen einzubringen. Nun ist der Begriff des Glücks mehrdeutig. Auch wenn man die Bedeutung im Sinne des lateinischen Wortes „fortuna" unberücksichtigt läßt, bleiben noch unterschiedliche Bedeutungen des Wortes übrig. 6 Im folgenden möchte ich mich auf die Bedeutung „letztes Ziel des menschlichen Strebens" beschränken. Leibniz' Theorie des Glücks scheint mir aus verschiedenen Gründen in unserem Zusammenhang besonders interessant zu sein. Er steht am Beginn der Aufklärung. Wie bei den Aufklärern des 18. Jahrhunderts nimmt die Frage nach dem Glück bei ihm eine zentrale Stelle ein. 7 Anzumerken ist, daß es den Denkern der Aufklärung weniger um das private Glück des einzelnen als um das Glück der Menschheit geht. Die Hoffnung, durch ihr Denken und durch ihre Veröffentlichungen zum Glück, der Menschheit beitragen zu können, beflügelte ihre Gedanken. Das ist auch bei Leibniz der Fall; im Gegensatz zu den meisten Aufklärern des 18. Jahrhunderts entwickelte Leibniz jedoch eine Metaphysik, die seiner Lehre vom Glück die Grundlage gibt. Ii Vgl. W . Tatarkiewicz, Über das Glück, aus dem Poln. v o n Z. Wilkiewicz, Stuttgart 1984. 1 Vgl. R. Mauzi, L'idée du bonheur dans la litérature de la pensee française au XVIIIe siecle, Paris 1960.
1. Das Glück als zentrales Thema der praktischen Philosophie von Leibniz Bisher hat die Forschung der Rolle, die der Begriff des Glücks in Leibniz' Denken spielt, wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Zwar wird der Begriff in vielen Veröffentlichungen über Leibniz erwähnt und mehr oder weniger ausführlich untersucht, Guido Aceti ist jedoch meines Wissens der einzige, der ihm eine eigene Abhandlung gewidmet hat. Doch behandelt Aceti das Problem des Glücks nur insoweit, als es für die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie wichtig'ist. 8 Einen anderen Aspekt hat Heinrich Schepers unter dem Thema „Glück durch Wissen" untersucht. 9 Diese Zurückhaltung der Leibniz-Interpreten ist überraschend, denn man kann leicht zeigen, daß der Begriff des Glücks für das Verständnis des Leibnizschen Denkens und Wirkens von zentraler Bedeutung ist. Wie es durch Aristoteles üblich wurde, ist für Leibniz alles Tun des Menschen auf ein Ziel gerichtet. Viele Ziele, die der Mensch erstrebt, sind ihrerseits Mittel zu übergeordneten Zielen, und damit ergibt sich die Frage, ob diese Beobachtung für alle Ziele gilt, d. h., ob jedes Ziel wieder Mittel für ein höheres Ziel ist, oder ob es Ziele gibt, die ihrerseits nicht Mittel zu anderen Zielen sind, sondern nur um ihrer selbst willen gewollt werden. Mit der Tradition war Leibniz der Überzeugung, daß sämtliche Ziele des Menschen auf ein oberstes Ziel hin geordnet sind. Dieses oberste Ziel ist das Glück. Das Glück ist daher für Leibniz das, um dessen willen der Mensch letztlich alles tut, was er tut. Das Glück ist, wie Leibniz bereits 1671 schreibt, der beste Zustand einer Person (status 8
Vgl. G . Aceti, Indagini sulla concezione leibniziana della felicitä, in: Rivista di filosofia neoscolastica, Bd. 49 (1957), S. 9 9 - 1 4 5 .
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Vgl. H. Schepers, Glück durch Wissen, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 26 (1984), Heft 2, S. 1 8 4 - 1 9 2 .
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personae optimus) 10 . Es ist das, was um seiner selbst willen erstrebt wird. Nun war Leibniz gewiß kein Solipsist, dem es nur darum ging, wie er als Individuum sein privates Glück erreichen könnte. Sowohl sein Naturell als auch seine Philosophie ließen ihn stets an das Glück aller denken. Er sagt deshalb gern, daß sein Denken und Streben auf das allgemeine Wohl gerichtet seien, d. h. das Glück aller. Daß Leibniz seine Tätigkeit so gesehen hat, mögen drei Stellen verdeutlichen. Am Schluß seiner Schrift zur „Reform der Rechtswissenschaft" aus dem Jahre 1667 schreibt er: „Ich habe nicht Ruhm, sondern den allgemeinen Nutzen gesucht" als Zeichen dafür weist er darauf hin, daß er die Schrift ohne die Nennung seines Namens habe erscheinen lassen. In einem Brief aus dem Jahre 1699 schreibt er: „Sie kennen meine Prinzipien, die darin bestehen, das öffentliche Wohl allen anderen Überlegungen vorzuziehen, sogar dem Ruhm und dem Geld." 1 2 In der „Meditation sur la notion commune de la justice" aus dem Jahre 1700 betont er: „Was mich anbetrifft, so habe ich kein anderes Motiv, die Untersuchung zu empfehlen, als den, die Erkenntnis der Wahrheit und das allgemeine Wohl voranzutreiben." 1 3 Um es offen zu sagen, ich kann gut verstehen, wenn Menschen unserer Zeit Formulierungen wie diese nur mit Unbehagen und Skepsis lesen oder hören können. Durch die Tiefenpsychologie und die Ideologiekritik haben wir zu sehen gelernt, daß sich hinter diesen erhabenen Worten sehr oft handfeste persönliche Interessen verbergen, und die G. W. Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe, hg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR (im folgenden: Leibniz, SSB), R. VI, Bd. 1, Berlin 1971, S. 466, 473. " Ebenda, S. 364. 12 G. W. Leibniz, Die philosophischen Schriften, hg. von C. I. Gerhardt, 7 Bde., Berlin 1875-90, Bd. 3, S. 261. 13 G. Mollat (Hrsg.), Mitteilungen aus Leibnizens ungedruckten Schriften, neue Bearb., Leipzig 1893, S. 53.
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Geschichte der letzten Jahrhunderte hat gezeigt, daß im Namen der Beglückung der Menschheit oft die schlimmsten Formen von Terror und Gewalt angewandt wurden. Die Skepsis gegen diese Begriffe teile ich. Aber es bleibt doch die Frage, wie wir Menschen ein menschenwürdiges Leben führen können. Ob es angemessen ist, wenn man wie die Kyklopen bei Homer nur für sich lebt, 14 sich um die anderen nicht kümmert, und nur seinen eigenen Vorteil suchen sollte, oder ob es zu einem gesitteten Leben gehört, daß man auf die anderen Rücksicht nimmt, daß man sich mit den anderen solidarisch fühlt, wie man heute gern sagt. Leibniz hat Solidarität mit den Mitmenschen nicht nur gefordert, sondern er hat nach meiner Überzeugung in seiner Philosophie ein Modell entwickelt, nach dem man das Glück des einzelnen nicht losgelöst vom Glück der anderen denken kann, und daher ist die Sorge für das Glück der Menschheit Pflicht eines jeden einzelnen. Nur derjenige ist rechtschaffen und gerecht, der alle liebt, schreibt Leibniz in einem Brief aus dem Jahre 1672. 15 An anderer Stelle stellt er fest, niemand könne in einer Gemeinschaft von Unglücklichen glücklich sein. 10 Kennzeichnend für Leibniz ist, daß er den Egoismus nicht von vornherein als unannehmbar ablehnt, auch der Egoismus hat vielmehr nach seiner Meinung durchaus eine Berechtigung. Aber er ist nicht die ganze Wahrheit. Der Egoismus muß in eine umfassendere Weltsicht integriert werden, und dadurch verliert er den ihm typischen Charakter. Ähnlich wie z. B. Hobbes geht Leibniz davon aus, daß alles menschliche Handeln selbstbezogen ist. Die entgegengesetzte Auffassung belegt er mit Spott: „Die Klugheit ist vom eigenen Wohl nicht zu trennen; was dagegen vorgebracht wird, ist töricht und steht im Gegensatz zum Ver« Vgl. Homer, Odyssee, IX, 2. 15 V g l . Leibniz, SSB, R. II, Bd. 1, Berlin 1972, S. 173. 16 Vgl. Leibniz, SSB, R. VI, Bd. 1, a. a. O., S. 460.
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halten der Vertreter dieser These. Niemand tut irgend etwas mit Überlegung, es sei denn um des eigenen Wohles willen." 1 7 Wenn das jedoch zugestanden ist, ergibt sich die Frage, wie es möglich ist, daß wir das Wohl der geliebten Person um seiner selbst willen erstreben, 18 während wir doch nichts wollen, es sei denn um des eigenen Wohls willen. 19 Das Lieben um des Geliebten willen ist nach Leibniz eine Forderung der Moral, des ehrenhaften Lebens; d. h., man darf den Geliebten nicht als Mittel zur Erfüllung der eigenen Wünsche lieben. Für Hobbes sorgt der Souverain, dem die Individuen ihre Rechte übertragen, für den Ausgleich zwischen den Egoismen der einzelnen Individuen, indem er durch Gesetze festlegt, was getan werden darf und was nicht getan werden darf. Obgleich der Souverain nicht nach völligem Belieben Gesetze erlassen kann, steht ihm ein großer Freiraum zur Verfügung. Und deshalb sind die Gesetze des Guten und des Bösen kontingent und dem Individuum von außen auferlegt. Leibniz möchte den Gegensatz zwischen dem Utile und dem Honestum ohne die Zuhilfenahme eines äußeren Vermittlers lösen. Zu diesem Zweck füllt er den Begriff des für einen selbst Guten mit einem neuen Inhalt. Er greift dabei die traditionelle Unterscheidung zwischen dem durch sich selbst Guten und dem durch etwas anderes Guten auf 2 0 und bestimmt das Bonum per se als Freude oder Angenehmes (Jucundum): „Denn alles Angenehme wird um seiner selbst willen erstrebt, und alles, was um seiner selbst willen erstrebt wird, ist etwas Angenehmes, alles Übrige wird um des Angenehmen willen erstrebt." 2 1 Durch den auf diese Weise mit « Ebenda, S. 461. 18 Vgl. G. W. Leibniz, Textes inedits, hg. von G. Grua, Bd. 1, Paris 1948, S. 10. 19 Vgl. G. W. Leibniz, Opera omnia, hg. v o n L . Dutens, Bd. IV, Teil 3, Genevae 1768, S. 313. 20 Vgl. Leibniz, SSB, R. IV, Bd. 1, a. a. O., S. 458. 21 Ebenda, S. 464. 7
Zur Architektonik
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neuem Inhalt gefüllten Begriff des Guten glaubt Leibniz zu einer Lösung des Problems zu gelangen: „Damit ist leicht zu verstehen, wie das fremde Wohl nicht nur zu unserem werden kann, sondern auch um seiner selbst willen erstrebt wird. Sooft es nämlich uns angenehm ist, daß es anderen gut geht. Von hier aus wird der wahre Begriff der Liebe konstruiert." 22 Anzumerken ist, daß das Wohlgefallen eigentlich nicht durch das Glück des anderen als eines Individuums verursacht ist, sondern durch die Vollkommenheit. Das wird besonders deutlich erkennbar, wenn Leibniz betont, zur ewigen Seligkeit sei nichts weiter erforderlich, als Gott über alles zu lieben; 23 denn Gott ist nach Leibniz unendlich vollkommen. Die Vollkommenheit ist Ursache der Liebe. Mit dieser Bestimmung greift Leibniz in den 90er Jahren in den Streit um die reine und uneigennützige Liebe ein. Der französische Bischof Fenelon und der englische Philosoph Norris hatten die These vorgetragen, unsere Liebe zu Gott und dem Nächsten müßte frei von Selbstinteressen und uneigennützig sein. Dem widersprachen einige Theologen und Philosophen, indem sie behaupteten, es sei unmöglich, jemanden ohne eigenes Interesse zu lieben. Leibniz glaubte, mit seiner Formel diesen Streit schlichten zu können; denn nach ihr werde der geliebte Gegenstand um seiner selbst willen geliebt. Jedoch sei auch das eigene Interesse gewahrt, weil der Liebende aus der Liebe Freude und Vergnügen empfange. 24 Dieser Begriff der Liebe ist von etwa 1670 an das Fundament der Leibnizschen Ethik und Naturrechtslehre; denn „die wahre und vollkommene Definition der Gerechtigkeit lautet: sie ist die Einstellung (habitus), die anderen zu lieben oder Freude zu schöpfen aus der Meinung, daß es den ande22 23
24
Ebenda. G. W. Leibniz, in: Vorausedition zur Reihe V I der Akademie-Ausgabe, Münster 1982ff. (im folgenden: VE), S. 719. Vgl. E. Naert, Leibniz et la querelle du pur amour, Paris 1959.
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ren gut geht" 2 5 . Diese Bestimmung ist jedoch noch unzureichend; denn Leibniz definiert das Gute an sich in deutlicher Anlehnung an die epikureische Tradition reichlich undifferenziert als das Angenehme. Er erkannte bald, daß diese Bestimmung für die Grundlegung einer Moral unzureichend ist, denn es kommt oft vor, daß etwas Angenehmes um seiner selbst willen erstrebt wird und daß sich dieses Angenehme bald darauf als etwas Unangenehmes entpuppt. 26 Das Glück kann jedoch nur eine dauerhafte Freude sein. Deshalb macht Leibniz in den späteren Jahren eine Unterscheidung zwischen dem Vergnügen (Plaisir) und dem Glück (Bonheur). 27 Das Glück ist eine beständige Freude. 28 Während das Vergnügen eine Bewegung der Seele (Motus animi) ist und als Reaktion auf das Erreichen des erstrebten Objektes verstanden werden kann, 29 ist das Glück ein Zustand der Seele (ein Status animi, heute würde man sagen, „glücklich sein" sei ein Dispositionsprädikat); d . h . , der Glückliche empfindet seine Freude nicht in jedem Augenblick, „denn er ruhet bißweilen vom nachdenken . . . Es ist aber genug, daß er i n s t ä n d e ist, die freude zu empfinden, so offt er daran denken will, und daß inzwischen darauß eine freudigkeit in seinem thun und wesen entstehet." 30 Das Glück ist demnach eine Zufriedenheit, die sich beim Nachdenken über den eigenen Zustand einstellt (Contentement reflexi). 31 Die Instanz, die zwischen dem Vergnügen und dem Glück 25
Leibniz, SSB, R. VI, Bd. 1, a. a. O., S. 465.
26
V g l . G. W . Leibniz, Die philosophischen Schriften, Bd. 6, a. a. O., S. 4 4 1 ; ferner G. Accti, Indagini sulla concezione leibniziana della felicitä, a. a. O., S. 130.
2' Vgl. VE, Bd. 2, S. 21, § 5 1 ; ebenda, Bd. 1, S. 2, § 3. - Zum Unterschied vgl. Piatons Argumentation in: Gorgias, 4 9 4 c . 28
Vgl. G. W . Leibniz, Die philosophischen Schriften, Bd. 7, a. a. O., S. 8 6 ; ferner Leibniz, SSB, R. VI, Bd. 6, Berlin 1962, S. 90.
29 Vgl. Leibniz, SSB, R. VI, Bd. 1, a. a. O., S. 6 1 . 30
G. W . Leibniz, Die philosophischen Schriften, Bd. 7, a. a. O., S. 86.
31 Vgl. L. Le Chevallier, La morale de Leibniz, Paris 1933, S. 182. 7*
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unterscheidet, ist die Vernunft. Wenn der Mensch der Vernunft folgen würde, würde er keinen Gefallen an Dingen finden, die nicht wahre Güter sind. 32 Es bedarf oft einer großen Anstrengung, wenn man das wahrhaft Gute erkennen will, 33 und es bedarf oft einer großen Überwindung, wenn der Mensch dem scheinbaren Guten entsagen muß, um sich für das wahrhaft Gute zu entscheiden. 34 Die von der Vernunft geleitete Liebe ist nach Leibniz die Grundlage der Moral und des Rechts, wie es Leibniz in der berühmten Vorrede zum „Codex juris gentium diplomaticus" dargelegt hat. Er schreibt: „Die Gerechtigkeit.. -, die die Griechen Menschenliebe nennen, definieren wir am besten . . . als Liebe des Weisen, d. h. als Liebe, die den Vorschriften der Weisheit folgt. Daher ist das, was Karneades gesagt haben soll, daß nämlich die Gerechtigkeit, die befiehlt, unter Vernachlässigung des eigenen Vorteils für den fremden zu sorgen, die größte Dummheit sei, nur aus der Unkenntnis dieser Definition entstanden. Die Liebe ist ein allgemeines Wohlwollen und das Wohlwollen ist eine Einstellung (habitus) des Liebens. Lieben heißt aber, sich am Glück des anderen erfreuen, oder, was auf dasselbe hinausläuft, das fremde Glück zum eigenen machen." 3 5 An dieser Formulierung wird sichtbar, daß Leibniz' Ethik intellektualistisch ist. Die Vernunft muß die Liebe leiten (Sapientia caritatem dirigere debet). 36 Das ist deshalb so, weil die Liebe sich nach dem Wert des geliebten Gegenstandes richten muß, damit wir uns nicht in der Einschätzung des Besten irren. 37 Auch Gottes Liebe wird durch seine Weisheit 3 2 Vgl. G. W. Leibniz, Die philosophischen Schriften, Bd. 6, a. a. O., S. 289. 33 Vgl. Leibniz, SSB, R. VI, Bd. 1, a. a. O., S. 481. 34 Vgl. VE, Bd. I, S. 2, § 12. 35 G. W. Leibniz, Opera omnia, Bd. IV, Teil 3, a. a. O., S. 294/295, vgl. ferner ebenda, S. 313. 36 Vgl. ebenda, S. 295. 37 Vgl. G. W. Leibniz, Textes inédits, Bd. 2, Paris 1948, S. 622.
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gelenkt und gewissermaßen eingeschränkt. Das allgemeine Wohlwollen möchte Gott veranlassen, allen Wesen alle möglichen Vollkommenheiten zu verleihen; aber das wäre unvernünftig. Darum berücksichtigt Gott das Wohl aller vernunftbegabten Wesen nur insoweit, wie es die Vollkommenheit des Universums zuläßt. 38 Gott ist keinem Irrtum unterworfen. Im Gegensatz dazu kann der Mensch sich irren, indem er etwas für gut hält, was in Wirklichkeit nicht gut ist, und indem er weniger Gutes dem Besseren vorzieht. Das wahre Gute ist nach Leibniz demnach das Vollkommene. Das Vollkommene ist die Ursache des Vergnügens: „Die Lust ist empfindung einer Vollkommenheit oder vortreflichkeit." 39 Um dieses Lehrstück von Leibniz zu verdeutlichen, muß man sich einige Gedanken seiner Metaphysik vergegenwärtigen.
2. Die metaphysischen Grundlagen der Leibnizschen Theorie des Glücks Nach Leibniz besteht die Wirklichkeit letztlich aus einfachen, unausgedehnten und unteilbaren Kraftzentren, den Monaden. Alle Monaden sind von derselben Art und besitzen nur zwei Wesensmerkmale: Perceptio und Appetitus, d. h., sie perzipieren die gesamte Welt, aber die einzelnen perzipierten Teile werden bei den verschiedenen Monaden unterschiedlich deutlich perzipiert. Dadurch unterscheiden sich die einzelnen Monaden voneinander. Jeder Perzeptionszustand enthält außerdem ein Streben nach einem neuen, und zwar nach einem vollkommeneren. Daher strebt jede Monade nach größerer Vollkommenheit, und die Freude entsteht, wenn sie eine größere Vollkommenheit erreicht. Dieses Streben nach Vollkommenheit ist allen Wesen 38 Vgl. Leibniz, SSB, R. I, Bd. 6, Berlin 1970, S. 108. ® G. W. Leibniz, Die philosophischen Schriften, Bd. 7, a. a. O., S. 86.
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eingepflanzt. Jedes Wesen erstrebt Vollkommenheit, und wenn es vollkommener wird, so empfindet es Freude. Gemeint ist hier zunächst die eigene Vollkommenheit, und darum kann man sagen, daß das einzelne Wesen sich verwirklicht, wenn es ein höheres Maß an Vollkommenheit erreicht. Das Streben nach Vollkommenheit entspricht damit der Natur der Einzelwesen, es ist aber auch moralische Pflicht. Hier wird wieder deutlich, daß die moralische Pflicht nicht eine von außen auferlegte Norm ist, sondern dem Wesen des Individuums entspricht. Bei den bisherigen Überlegungen ging es um das einzelne Individuum und seine Vollkommenheit. Es fragt sich, inwiefern die Vollkommenheit der anderen in dieses Vollkommenheitsstreben einbezogen ist. Leibniz' Antwort auf diese Frage lautet: Die „Vollkommenheit auch fremder dinge ist angenehm, als verstand, tapferkeit, und sonderliche schöhnheit eines andern Menschen, auch wohl eines thieres, ja gar eines leblosen geschöpfes, gemähldes oder kunstwercks. Denn das bild solcher frembder Vollkommenheit in uns eingedrückt, macht daß auch etwas davon in unß selbst gepflanzet und erwecket wird, wie dann kein Zweifel, daß wer viel mit treflichen leuten und sachen umbgehet, auch davon vortreflicher werde." 40 Wenn man diesen Gedankengang richtig verstehen will, rrjuß man sich vergegenwärtigen, was Leibniz unter Vollkommenheit versteht. Nun gibt Leibniz sehr unterschiedliche Definitionen der Vollkommenheit. Eine häufig vorkommende Definition lautet: Vollkommenheit ist die Größe des Wesens (Quantitas essentiae). Doch scheint mir diese Definition in unserem Zusammenhang weniger wichtig zu sein. Für aufschlußreicher halte ich eine Definition, die Leibniz in einem Brief an Christian Wolff gibt: „Die Vollkommenheit ist die Harmonie der Dinge oder die Menge der allgeEbenda.
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meinen Beobachtungen, die man machen kann, oder die Zusammenstimmung oder die Identität in der Verschiedenheit." 4 1 Hier wird die Vollkommenheit als Ordnung und Harmonie bestimmt. Die Harmonie ist für Leibniz die Einheit in der Verschiedenheit (Unitas in varietate). 42 Verschiedenheit und Einheit gehören gemeinsam zum Begriff der Harmonie, denn „wo es keine Verschiedenheit gibt, da gibt es auch keine Harmonie . . . andererseits gibt es auch dort keine Harmonie, wo die Vielheit ohne Ordnung ist"/* 3 Anzumerken ist, daß der Begriff der Harmonie ein steigerungsfähiger Begriff ist. Die Harmonie ist um so größer, je größer die Übereinstimmung in einer um so größeren Verschiedenheit ist. 44 Dieser Begriff der Harmonie und die auf ihm beruhende Lehre von der Vollkommenheit sind ein zentrales Thema der Leibnizschen Philosophie. Sie verbinden Leibniz' Ethik und Ästhetik mit der Metaphysik, vermitteln zwischen der Monadenlehre und der Dynamik und stellen zwischen Theologie und Kosmologie die Verbindung her. Die Bedeutung dieser Begriffe für die Ethik und die Ästhetik wird in der von mir schon mehrfach erwähnten Abhandlung „Von der Glückseligkeit" deutlich erkennbar. Leibniz schreibt: „Die Schläge auff der trummel, der tact und die cadenz in danzen, und sonst dergleichen bewegungen nach maaß und regel haben ihre annehmlichkeit von der Ordnung, denn alle Ordnung komt dem gemüth zu hülffe, und eine gleichmäßige, obschohn unsichtbare Ordnung findet sich auch in den nach kunst verursachten Schlägen und bewegungen der zitternden oder bebenden Seiten, . . . die dann auch ferner in uns vermittelst des gehörs einen mitstimmenden wiederhall machen, nach 41
Briefwechsel zwischen Leibniz und Christian Wolff, hg. von C. I. Gerhardt,
42
Vgl. G . W. Leibniz, Textes inédits, B d . 1, a. a. O., S. 12.
Halle 1860, S. 172. « Ebenda. 44
Vgl. Briefwechsel zwischen Leibniz und Christian Wolff, a. a. O., S. 171.
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welchem sich auch unsre lebensgeister regen . . . Und ist nicht zu zweifeln, daß auch im fühlen, schmecken und riechen die Süßigkeit in einer gewißen, obschon unsichtbaren Ordnung und Vollkommenheit oder auch bequemlichkeit bestehe, so die natur darin geleget . . . und daß also aller angenehmen dinge rechter gebrauch uns würcklich zu statten komme." 4 5 Leibniz handelt an dieser Stelle über die Kunst und sucht zu zeigen, auf welche Weise die Kunst den Menschen läutern kann. Die seit der Antike der Kunst zugeschriebenen Leistungen, nämlich Prodesse et delectare, sind bei Leibniz sehr eng miteinander verbunden. Man sieht aber auch, eine wie wichtige Bedeutung der Ordnung und Harmonie in Leibniz' Philosophie zukommt. Die Dinge der Welt wirken angenehm auf den Menschen, insofern als sie geordnet sind. Das ist deshalb so, weil die Monade nach Leibniz selbst Ordnung und Harmonie, nämlich Einheit in der Vielheit ist. Darum ergeben sich Freude und Glückseligkeit aus dem Gefühl der inneren Harmonie und Ordnung. Leibniz schreibt: „Wenn nun die Seele in ihr selbst eine große zusammenstimmung, Ordnung, freyheit, krafft oder Vollkommenheit fühlet, und folglich daran lust empfindet, so verursacht solches eine Freude." 46 Einheit in der Vielheit ist die Monade zunächst in dem ihr Wesen konstituierenden Akt, der Perceptio, welche in einer Vereinigung einer Mannigfaltigkeit besteht, „allgemein gesagt, ist Perzeptio der Ausdruck der Vielheit in der Einheit" 4 7 . Die Perceptio ist allen Monaden gemeinsam, und alle stehen durch die Perzeption mit der gesamten Welt in Beziehung. Aber nicht jede Monade perzipiert das Objekt in gleicher Weise. Die Repräsentationen unterscheiden sich durch unterschiedliche Grade der Klarheit und Deutlichkeit. Je klarer und deutlicher die Perzeptionen einer Monade sind, d. h., je größer die in der Einheit erfaßte Mannigfaltiges G. W . Leibniz, Die philosophischen Schriften, Bd. 7, a. a. O., S. 87. « Ebenda, S. 88. « Ebenda, Bd. 3, S. 69.
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keit ist, um so vollkommener ist die Monade, die Monade „hat Vollkommenheit entsprechend ihren deutlichen Perzeptionen" 4 8 . Weil Gott unendlich vollkommen ist, hat er nur deutliche Perzeptionen. 49 Die anderen Monaden haben sowohl deutliche als auch verworrene Perzeptionen, und danach bemißt sich ihr Vollkommenheitsgrad. Einheit in der Vielheit ist die Monade aber auch in der Apperceptio, d. h. der Reflexion über die Perceptio. Während die Perzeption allen Monaden zukommt, findet sich die Apperzeption nur bei den höher entwickelten, d. h. den Geistmonaden. In der Reflexion besteht für Leibniz das Denken im spezifischen Sinne. Durch sie erhebt sich der Geist zur Erkenntnis der ewigen Wahrheiten und ist über die anderen Monaden erhaben. Die Geistmonaden sind nicht nur Spiegel der Welt, sondern auch Spiegel Gottes. 5 0 Die einzelnen Akte des Denkens sind um so vollkommener, je größer die Zahl der von ihnen begriffenen Objekte ist, d. h., je allgemeiner sie sind: „vollkommener ist die Art zu denken, durch die bewirkt wird, daß ein Denkakt sich gleichzeitig auf mehrere Gegenstände bezieht" 5 1 . Auch unter diesem Gesichtspunkt ist die Monade um so vollkommener, je vollkommener ihre Apperzeptionen sind. Nicht nur in ihrem Sein und Erkennen ist die Monade Ordnung, sondern auch in ihrem Handeln; denn „wir ähneln im kleinen der Gottheit, und zwar im Hinblick auf die Fähigkeit, den uns betreffenden Dingen Ordnung zu verleihen . . . und darin besteht unsere Tüchtigkeit und Vollkommenheit wie unser Glück in dem Vergnügen, das wir daraus schöpfen, besteht" 5 2 . Die vernunftbegabten Monaden handeln um bestimmter Zwecke willen; um eines Zweckes « Ebenda, Bd. 6, S. 604. « Vgl. ebenda. 50 Vgl. ebenda, Bd. 7, S. 542/543. 51 G. W. Leibniz, Textes inédits, Bd. 1, a. a. O., S. 13. 52 G. W. Leibniz, Die philosophischen Schriften, Bd. 6, a. a. O., S. 507.
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willen handeln, heißt aber, eine Mannigfaltigkeit auf eine Einheit, nämlich den Zweck, hinordnen. Der Zweck des Handelns ist nach Leibniz letztlich die Ordnung und Harmonie: „der Grund dafür, daß ein Geist handelt, oder der Zweck der Dinge ist die Harmonie, für den vollkommensten Geist ist es die höchste Harmonie" 5 3 . Darum ist alles, was, der Geist schafft, Ordnung und insofern Abbild seiner selbst, denn die Wirkung muß der Ursache ähnlich sein. Dieser Gedanke ist für Leibniz' Kosmologie von großer Wichtigkeit. Die Welt kann nach ihm nur als Schöpfung eines unendlichen Geistes verstanden werden. Gott ist aber Ordnung. 5 4 Darum findet Gott an der größten Harmonie den größten Gefallen, und deshalb muß seine Schöpfung Ordnung und Harmonie sein. Die Harmonie ist daher das Prinzip der Wirklichkeit: „Sein heißt nichts anderes, als harmonisch sein." 5 5 Weil die Schöpfung Gottes geordnet ist, begegnet sie dem menschlichen Geist, welcher Abbild des göttlichen Geistes ist, nicht als etwas Fremdes. Die Erkenntnis der Welt ist vielmehr, wie Leibniz sagt, häufig Selbsterkenntnis des Geistes. 56 Wenn wir zum Grund der Dinge vordringen, erkennen wir eine wunderbare Harmonie, die sich zur Gottheit verhält wie die Strahlen zur Sonne. Durch die Erkenntnis der Natur vervollkommnet sich der menschliche Geist, und er trägt gleichzeitig zur Verherrlichung Gottes bei. 57 Diese Auffassung der Naturerkenntnis als Gottesdienst hat Leibniz oft betont. Sie muß man sich vergegenwärtigen, wenn man die Leidenschaft und ungebrochene Zuversicht, mit der die frühe Neuzeit die Natur erforscht hat, verstehen will. Daß diese Tätigkeit Freude bereitet und ein wichtiges Moment in Leibniz' Auffassung 63 Leibniz, SSB, R. VI, Bd. 3, Berlin 1980, S. 146. Vgl. G. W. Leibniz, Die philosophischen Schriften, Bd. 6, a. a. O., S. 27. 55 Leibniz, SSB, R. VI, Bd. 3, a. a. O., S. 474. 5« Vgl. V E , Bd. 1, S. 1, § 21. 57 Vgl: Leibniz, SSB, R. I. Bd. 4, Berlin 1950, S. 642.
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des Glücks ist, ist nach dem bereits Gesagten leicht zu sehen. Die Begriffe Ordnung, Vollkommenheit und Geist gehören eng zusammen. Der Geist ist Ordnung, und die Ordnung ist Abbild, Werk und Ziel des Geistes. Darum findet der Geist seine Vollkommenheit und sein Vergnügen in der Ordnung; denn „die Freude und das Vergnügen besteht in der Wahrnehmung der Harmonie" 5 8 . Leibniz geht sogar so weit, zu behaupten, ohne Harmonie gebe es keine Freude. 59 Auf der anderen Seite ist die Harmonie Prinzip des sittlichen Handelns: „die Gerechtigkeit ist nichts anderes als die Ordnung, die beobachtet wird im Hinblick auf das Böse und Gute der vernunftbegabten Geschöpfe" 60 . Aus diesem Grunde gibt es für Leibniz letztlich keinen Gegensatz zwischen Glückseligkeit und Glückswürdigkeit wie für Kant. Leibniz' Konzeption eines Gottesstaates ist Ausdruck dieser Überzeugung. In einem Brief vom 4. Juni 1710 führt er aus: „Ich bin der Überzeugung, daß die Geister niemals ihre Rolle als Bürger des Gottesstaates ablegen. Aus der Tatsache, daß dieser vollkommen gerecht und schön gelenkt wird, folgt, daß wegen der Parallelität des Reiches der Gnäde und der Natur die Seelen durch die Kraft ihrer Handlungen zu Lohn und Strafe aufnahmefähiger werden. In diesem Sinne kann man sagen, daß die Tugend sich selbst Lohn sei und daß das Verbrechen sich selbst die Strafe bringe" «i. Nach Leibniz besteht die sittliche Aufgabe des Menschen im Streben nach Vollkommenheit. Diese Aufgabe steht nicht im Gegensatz zu den Neigungen des Menschen, denn alle Wesen streben von Natur aus nach Vollkommenheit. 6 2 Leibniz, SSB, R. VI, Bd. 1, a. a. O., S. 484. 59 Ebenda, S. 466. 6 0 G. W. Leibniz, Textes inédits, Bd. 1, a. a. O., S. 379. 6 1 G. W. Leibniz, Die philosophischen Schriften, Bd. 7, a. a. O., S. 531. 6 2 Vgl. ebenda, S. 541. 58
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Darum ist die moralische Vollkommenheit bei den vernunftbegabten Wesen eine natürliche. 63 Ihrem Inhalt nach besteht die sittliche Aufgabe in der Erkenntnis der Gesetze der Harmonie und im Handeln nach ihnen. 64 Nun bereitet die Erkenntnis Freude, denn sie bedeutet eine Vervollkommnung: „alle neue erkäntniß ist ein Wachstum unserer Vollkommenheit" 6 5 . Darum ist alles, was zur Vollkommenheit beiträgt, Ursache der Freude. 66 Darum ist alles sittlich Gute gleichzeitig nützlich. 67 Der Mensch ist, kantisch gesprochen, in dem Maße glücklich, wie er glückswürdig ist: „Denn wer einen guten Willen hat, der hat das Glück in der Hand." 6 8 Pflicht und Neigung stehen nicht im Widerspruch zueinander: „Die höchste Weisheit hat alle Dinge so eingerichtet, daß unsere Pflicht auch unsere Glückseligkeit bewirkt, daß jede Tugend ihren Lohn und daß jedes Vergehen sich früher oder später selbst bestraft." 69 Auch zwischen dem Allgemeinwohl und dem eigenen Wohl gibt es für Leibniz letztlich keinen Gegensatz. „Es ist ein Zeichen von Weisheit, wenn man liebt, was für einen selbst gut ist, und dieses ist gleichzeitig gerecht oder gut für die Allgemeinheit." 7 0 Das wahre Bonum proprium besteht in der Erkenntnis und Verwirklichung der Ordnung und Harmonie. Das Bonum commune ist nun aber gerade die Ordnung des Ganzen. Deshalb sorgen wir um so mehr für unser eigenes Wohl, je mehr wir für das allgemeine Wohl Sorge tragen. In diesem Sinne schreibt Leibniz in einer autobiographischen Notiz: „Als ich über die oberste Lebensregel nachdachte . . ., stellte ich vor allem fest, das scheine 63 Vgl. ebenda, S. 306. : Akademie-Ausg., Bd. III, 5, S. 236. 48 Veröffentlicht: Berlin 1806. « Vgl. ebenda, Vorlesung I—III; J. G. Fichte, Erste WL 1804, S- 1 - 1 9 . 60 F. H. Jacobi, in: Jacobi an Fichte, Hamburg 1799, S. 14. 51 Vgl. ebenda, S. 11: „Beyde willen wir [. . .], daß die Wißenschaft des Wißens [. . .] vollkommen werde: nur mit dem Unterschiede: daß Sie es wollen, damit sich der Grund aller Wahrheit, als als in der Wißenschaft des Wißens liegend zeige; ich damit offenbar werde, dieser Grund: das Wahre seihst sey nothwendig außer ihr vorhanden." 52 Vgl. J. G. Fichte, Die Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag von 1804, in: 46 47
165
hatte in seiner „Erklärung" gegen Fichte vom Sommer 1799 die Untersuchungen der Wissenschaftslehre für „fruchtlose Spitzfindigkeiten (apices)" angesehen und das System derselben für „gänzlich unhaltbar" erklärte Alles, was in systematischer Hinsicht erreichbar sei, habe die Kritik schon gegeben. Nach Fichte läuft aber „die Maxime, welche K a n t mündlich und schriftlich so oft wiederholt [hat], und die seine Anhänger auf sein Wort ihm nachgesagt, man [. . .] könne nicht weiter" 54 , ebenfalls auf eine Leugnung der Philosophie als Wissenschaft hinaus; denn eine solche kritische Philosophie bleibt „eine zum Theil auf empirische Data gegründete" 55. Die Wissenschaftslehre ist nun zwar über das Stückwerk der Kritik in Richtung auf ein vollendetes System hinausgegangen, aber sie würde nicht gefaßt. Im Publikum sind nur „Gespenster [der Wissenschaftslehre — R. L.], die durch Verdrehung derselben aus andern Köpfen 56 hervorgegangen sind" 57 , im Umlauf. An deren Stelle sind spekulative Philosophien getreten, die nur noch als pseudotranszendental bezeichnet werden können. „Neuerlich verfällt man allenthalben dem toden Materialism, um nur nicht der Objektivität verlohren zu gehen." 58 Es werde sich aber „zeigen, daß die angeblichen Verbesserer, und Weitergeher Recht behalAkademie-Ausg., Bd. II, 8, S. 2 8 4 : „Giebt's keine Philosophie aus Einem Stücke, so giebt's überhaupt keine Philosophie." 53
I. Kant,
Erklärung
in Beziehung auf Fichte's Wissenschaftslehre,
in:
Intelligenzblatt der Allgemeinen Litteraturzeitung, Nr. 109, Mittwochs den 28ten August 1799, Coli. 8 7 6 - 8 7 8 . 54
J. G. Fichte, Die Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag von 1804, in: A k a demie-Ausg., Bd. II, 8, S. 32.
55
J. G . Fichte, Brief
an Appia v o m 23. Juni 1804, in: Akademie-Ausg.,
Bd. III, 5, S. 264. 56
Gemeint sind hier v o r allem Reinhold, Schlegel und Schad.
5' J. G. Fichte, Erste W L 1804, S. 105. 58
J . G. Fichte, Briefentwurf an F. Schiller v o m 9. Juni 1803, i n : AkademieAusg., Bd. III, 5, S. 166.
166
ten würden, wenn sie — nur wüsten, wovon dermalen eigentlich die Rede sey; und daß sie etwas sagen würden, und in die Zeit eingreifen, — wenn — ich sage nicht keine Wissenschaftslehre, sondern kein Kant, ja kein Leibnit^ vor ihnen gelebt hätte. Der ganze Streit über Subjektivismus, oder Objektivismus liegt tief unter den Principien" 59 der Wissenschaftslehre. Wer wie Schelling die Identitätslehre vertritt, „geht von einem objektiven Satze aus". An die Stelle des ,,redliche[n] u. rechtliche[n] Geist[es] der Wahrheit und des Wissens", der Kant beseelte, ist „in dem Geiste der Zügellosigkeit, u. Frechheit" — nicht philosophiert, sondern spekuliert worden. 60 Der Verzicht auf erkenntnistheoretische Fundierung der Theoreme verrät „die absolute Unbekanntschaft mit den ersten Regeln des Philosophirens". Aber gerade das ist es, „was in dieser Zeit der philosophischen Verwirrung Aufsehen erregt, u. Epoche macht: wenn jemand aus tiefer Verachtung, und mit dem gutmüthigen Zutrauen zu der Menge, daß sie wohl von selbst aus dem Taumel nüchtern werden werde, dazu schweigt, so glauben sie, er wisse nichts dagegen zu sagen" 6 1 . 3. Die „fünfjährige tiefe Revision [s]einer Lehre" 6 2 galt der doppelten Bemühung, die Wissenschaftslehre „innerlich darzustellen, und [anderen] begreiflich zu machen" 6 3 . Was zunächst das, erstere betrifft, so ging es Fichte kaum um die Abwehr von Vorwürfen, die man von außen gegen die Wissenschaftslehre erhoben hatte. Kohlrausch berichtet zwar in seinen „Erinnerungen aus meinem Leben": „Er war [. . .] drei Jahre lang mit tiefen Studien beschäftigt gewesen, ® Ebenda, S. 168. 60 J. G. Fichte, Erste WL 1804, S. 31. 6 1 J. G. Fichte, Dritter Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804, Ms. III, 7 des Fichte-Nachlasses der Deutschen Staatsbibliothek in Berlin, Bl. 15r. 6 2 J. G. Fichte, Brief an F. X. von Moshamm vom 18. Juni 1804, in: AkademieAusg., Bd. III, 5, S. 239. ® J. G. Fichte, Brief an Appia vom 23. Juni 1804, in: Ebenda, S. 247.
167
um die Einseitigkeit und Inhaltsleere seines früheren Idealismus, die er bei seinem tiefen Bedürfniß nach einer höheren Realität wohl fühlte, auszugleichen, und zwar durch die Entwicklung der Idee des Absoluten als des höchsten Real e n . " 6 4 Aber Kohlrausch hat dies über 50 Jahre nach den hier zu beurteilenden Jahren geschrieben. Fichte bemerkt zwar etwas Ähnliches in der 10. Vorlesung des Zweiten Vortrags der Wissenschaftslehre v o n 1804 und bezieht sich damit zweifellos auf Hegels Vorwurf der Leere in „ G l a u b e n und Wissen": daß nämlich durch die Lehre v o m Licht als absoluter Realität das transzendentale System „ g e g e n das größte Gebrechen, welches mit einem philosophischen Systeme vorwerden kann [. . .], gegen den Vorwurf der L e e r h e i t geschützt" sei, denn die „wirkliche wahre Realität [sei] abgeleitet". 6 5 D o c h er ist der Ansicht, wie sich aus einer Stelle in der Erlanger „Wissenschaftslehre" ergibt, daß diese Realität schon seit E r f i n d u n g der Wissenschaftslehre in deren Ästhetik angesetzt worden sei. „ D a ß vor K a n t irgend eine Spekulation das Gefühl begriffen hätte", heißt es dort, „hatte gute Wege. Kant aber, u. alle seine Nachfolger bis diesen T a g haben das Gefühl aus der Spekulation verwiesen. Was der erstere in der K t k - d e r U. über das des Wohlgefallens, u. Misfallens sagt, reicht nicht bis zur Realität. [. . .] D r u m sind diese Spekulationen insgesammt leer. Die W. L . [entwickelte die Lehre v o m Gefühl] v o r 12. Jahren. [Doch ich wurde] ausgelacht. — [Aber sie ist] ruhig fortgefahren: dies ist ihr aber nicht abgemerkt worden. So dürfte sie ausser
64
F. Kohlrausch, Erinnerungen aus meinem Leben, Hannover 1863, S. 64/
06
J . G . Fichte, D i e Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag von 1804, in: Aka-
65. demie-Ausg., Bd. II, 8, S. 144. — Vgl. dazu das Fichte-Kapitel in Hegels Artikel „ G l a u b e n und Wissen" (in: Kritisches Journal der Philosophie, Bd. 2, 1. Stück, Tübingen 1802).
Hegel hat diesen Vorwurf gegen die
Wissenschaftslehre von Jacobi übernommen. Fichte wies ihn schon im Ersten Vortrag zurück (vgl. J . G . Fichte, Erste W L 1804, S. 34, 47).
168
der Vollendung der Form, auch noch einen ganz neuen Charakter tragen, in Absicht der Ansicht der Realität." 66 Man versteht den Stoßseufzer des Philosophen: „Giebt es denn gar keinen Menschen in Deutschland, der auch den 5ten §. meiner [Gr. d. g.] Wissenschaftslehre gelesen habe, und nicht bloß die ersten viere?" 67 Die „Revision" der Wissenschaftslehre galt vielmehr einer anderen Unvollkommenheit, die Fichte zu dieser Zeit wiederholt berührt, wenn er Sich über seine Arbeiten mitteilt. Die Wissenschaftslehre hat nicht nur ein völlig neues Grundobjekt; sie hat auch die Aufgabe, „den Zusammenhang der mannigfaltigen Bestimmungen jenes Grundobjekts begreiflich zu machen. [. . .] In diesem letztern Geschäfte der Ableitung kann man nun, Entweder also verfahren, daß man gewiße Grundunter schiede, welche nur in empirischer Selbstbeobachtung gefunden seyn können, als nicht weiter zu vereinigend, voraussetze; und auf jede dieser besondern GrundEinheiten nun das aus jeder abzuleitende zurükführe: welches theils eine unvollständige, in sich selber nicht zum Ende, d. h. zur absoluten Einheit gekommene; theils eine zum Theil auf empirische Data gegründete, drum nicht streng wißenschaftliche, Philosophie geben würde, die doch [. . .] eine Transc.ale bleibt. — Eine solche Philosophie ist die Kantische. [. . .] Oder man kann also verfahren, daß man jene ursprüngliche Einheit [. . .] in dem, was sie ansich [. . .] ist, durchdringe und darstelle. [. . .] Wird man sie, jene Einheit, recht dargestellt haben, so wird man zugleich den Grund, warum sie [. . .] sich spalte, einsehen; ferner einsehen, warum es in dieser Gespaltenheit, auf eine bestimmte Weise sich weiter spalte; alles schlechthin ä priori, ohne alle Beihülfe empirischer Wahrnehmung, aus jener Einsicht der Einheit; [. . .] welches
66 J. G . Fichte, Wissenschaftslehre 1805, hg. v o n H. Gliwitzky, Hamburg 1984, S. 1 4 1 . 67
J. G . Fichte, Anweisung zum seeligen Leben, Berlin 1806, S. 385.
169
von jeher die Aufgabe der Philosophie gewesen. Diese jetzt beschriebene Philosophie ist die Wissenschafts/ehre."68 „Der ganze zu führende Beweiß von der nothwendigen Form der Erscheinung erschöpft ganz u. vollkommen die Ableitung der W. L. aus Einem Punkte." 69 Und diesen Beweis wollte Fichte geführt haben. „Darin", führt Fichte in der 18. Vorlesung des Ersten Vortrags der Wissenschaftslehre von 1804 aus, „besteht [. . .] der charakteristische Unterschied der wahren u. wirklichen W. L. u. der mancherlei Gespenster die durch Verdrehung derselben aus andern Köpfen hervorgegangen sind, daß in den letztern Identität nichts ist, als die versicherte [. . .] keinesweges eingesehne, u. klar gemachte Identität des schon vorausgesetzten S\ubjekt\ u. 0\bjekt\ also gar keine Einheit an sich, sondern nur einer relativ einen eben also absoluten Zweiheit; die Einheit der erstem aber S. u. O. nicht voraussezt, sondern diese erst genetisch, aus ihr, als ihrem genetischen Princip ableitet." 70 „Darauf also ist Acht zu haben, ob dies geleistet werde." „Das eigenthümliche Princip dieser Spaltung, als Spaltung des Einen [. . .] soll [. . .] angegeben werden; in absoluter Einheit des Princips angegeben werden, und nicht etwa so, daß von den, durch Theorie, oder Probiren gefundenen besondern Principien, z. B. der nur untergeordneten Hauptstandpunkte, jeden insbesondre genommen, u. bei ihm angehoben [,] die Möglichkeit zum Einem absoluten aufzusteigen, und aus dem absoluten zu ihm herabzusteigen, gezeigt, sodann, ,eben in der Einheit dieser gefundnen Möglichkeit' sie zu einer synthetischen Einheit, deren Analyse aber verborgen geblieben, vereinigt werden; sondern, daß man sie selber aus der unmittelbar gefaßten Einheit hervorgehen J. G. Fichte, Brief an Appia vom 23. juni 1804, in: Akademie-Ausg., Bd. III, 5, S. 246/247. 6 9 J. G. Fichte, Nebenbemerkungen zu I., Ms. VI,1 Varia 6 des Fichte-Nachlasses der Deutschen Staatsbibliothek in Berlin, Bl. 14v. 70 J. G. Fichte, Erste WL 1804, S. 105. 68
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sehe, daher sie nicht erst synthetisch zu vereinigen brauche, in dem man sie schon als reine stehende Einheit gefunden. Wird auf die erste Weise verfahren, so wird zwar allerdings W. L. vorgetragen, und die Aufgabe der Philosophie, ihrem Inhalte, u. Zweke nach, vollständig [. . .] gelöst; aber die W. L. ist ihrer eignen innern wissenschaftlichen Form nach, noch nicht vollendet, und die Ansprüche, die man an sie selber, als durchgeführte Einheit des Sinnes, der genetischen Evidenz, ohne Beimischung irgend eines faktischen, zu machen hat, nicht befriedigt. Auf diese Einheit des analytischen Princips, als solchen [. . .] [kommt] es daher, für wissenschaftliche Form an." 7 1 „Die eigene deutliche intelligirende Einsicht in ihr [der WL — R. L.] GrundPrincip, [war deshalb] zwar nicht das am schwersten zu fassende in der W. L., [. . .] aber das am schwersten findende in ihr: wie ich denn mit der Offenheit, welche bei wissenschaftlichem Interesse stets ist, ausdrücklich sagen will, daß dieser Punkt der Grund und Gegenstand meiner Untersuchungen der lezten zwei Jahre gewesen ist." 72 Fichte bezeichnet denn auch in den Vorträgen der Wissenschaftslehre von 1804 diejenigen Lehrstücke, die völlig neu sind. 73 Es ging vor allem darum, die Bedingtheit des Standpunktes der Wissenschaftslehre und des Standpunktes des realen Wissens durcheinander nicht nur faktisch zu realisieren, sondern die Einsicht in diese wechselseitige Bedingtheit zu intelligieren, was Fichte „Beschreibung der Gewißheit" 74 nennt. Mitte 1803 drückte Fichte das gegenüber Schiller so aus: Er sei ausschließlich mit der Wissenschaftslehre beschäftigt, 7» Ebenda, S. 128. 72 Ebenda, S. 127. 73 Vgl. ebenda, S. 133, 139, 172. - Vgl. auch J. G. Fichte, Die Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag von 1804, in: Akademie-Ausg., Bd. II, 8,
74
S. 382. J. G. Fichte, Erste WL 1804, S. 139.
171
„um sie zu reiner Klarheit zu erheben" 75 . In der Philosophia prima geht es nicht eigentlich um die Erkenntnis der Objekte, d. h. der Wissensbestimmungen; sondern „zulezt [ist] absolute Klarheit unsers Auges" 76 das Ziel. „Unser Auge w[ird] verändert, u. vermittelst dieser [Veränderung] erst" „die Ansicht der Objekte". 77 „Wir sollen ja, von allen Objekten, u. Disjunktionen frei, hinauf kommen zur blossen innern Klarheit des absoluten Sehens selber" 78 , die eben erreicht ist, wenn das absolute Wissen gänzlich genetisch evident geworden ist. Damit ist die Wissenschaftslehre erst „wahrhaft als Wissenschaft der Form nach vorhanden" 79 . Daß in der ferneren Ableitung dann keine Fehler vorgekommen sind, dafür bürgt bis zu einem gewissen Grade der „äussere Grund" 80 „der merkwürdigen Organisation des Ganzen" 81 , indem die Prinzipien überall ineinander eingreifen. 4. Mit der Form der Wissenschaftslehre, die zu vollenden war, meinte Fichte aber auch deren methodische und didaktische Gestalt. „Der Wissenschaftslehre", schreibt Fichte Jacobi, „glaube ich durch mein letztes Arbeiten, auch in der J. G. Fichte, Brief an F. Schiller vom 9. Juni 1803, in: Akademie-Ausg. Bd. III, 5, S. 168. '6 J. G. Fichte, Erste WL 1804, S. 49. 77 Ebenda, S.37. 78 Ebenda. 79 J. G. Fichte, Brief an F. X. von Moshamm vom 18. Juni 1804, in: Akademie-Ausg., Bd. III, 5, S. 239. 80 J. G. Fichte, Brief an F. W. J. Schelling vom 31. Mai 1801, in: Ebenda, 5. 52. 8 1 J. G. Fichte, Dritter Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804, Ms. VI, 1 Varia 13 des Fichte-Nachlasses der Deutschen Staatsbibliothek in Berlin, Bl. lr. — Dennoch bleibt die Wissenschaftslehre im Gegensatz zum Hegelschen System ein durch sich selbst offenes System. Fichte betont, „daß es [...] •worauf es mir hier ankommtfür dieBestimmungder We/idurchaus keines andern Princips bedarf [. . .] keiner besonderen occulten Qualität des Wissens, oder etwas jenseits des Wissens [. . .]. Keine absolute, sondern nur relative Unbegreiflichkeit. (Dies scheide uns, u. Schelling [. . .] recht streng.) — Unbegreiflicbkeit [wird] nicht zugegeben an sich." (Ebenda, Ms. III, 7, Bl. 12v.) 15
172
äußern Form vollendet, und bis zum höchsten Grade der Mittheilbarkeit, mich bemächtigt zu haben." 82 Was Fichte darunter versteht, sagt er sehr klar im Dritten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804: „ich will es in der absoluten Unabhängigkeit von allem Ausdruke, u. aller Form besitzen; stets vermögend es aus dem innern Leben in jeder beliebigen Form zu erschaffen". Dies „ist bei der W. L. sehr möglich, weil es ja nur Ein aus einer Unzählbarkeit [. . .] herausgehobener Gedanke ist, anknüpfbar, wo man will" innerhalb des Wissens. „Erst dann ist man Meister; u. hätte ich ein Seminarium für künftige Lehrer der Philosophie, so würde ich sie zu dieser Meisterschaft zu erheben suchen." 83 Fichte hat sich über diese philosophische Schulung in seinem Brief an von Moshamm vom Sommer 1804 näher geäußert: „Aufgenommen in eine solche Schule kann nur werden ein [. . .] Mann [. . .], der seinen Geist durch gründlich wissenschaftliches Studium schon ausgebildet hat [ . . . ] . Die Einrichtung muß diese seyn, daß er Anfangs einen Theil der wissenschaftlichen Philosophie, mit steter Hinweisung auf die dabei beobachtete Kunst, vortragen höre, darauf die übrigen Probleme durch eigenes Nachdenken zu lösen angehalten werde, endlich daß er die ihm so entstandene Philosophie auf die manigfaltigste, jedem der Philosophie nur fähigen Subjecte faßliche Weise vortragen lerne. [. . .] Meine in diesem Jahre zu Berlin gehaltenen Vorlesungen [. . .] sind Nichts als die ersten Versuche der allmähligen Ausführung jenes Planes." 84 Und in Erlangen sagte Fichte: „Die W. L. [. . .] ist ein lebendiger, ewig neu, u. frisch zu producirender Gedanke, der unter jeder andern Bedingung der Zeit, u. der 82
83
84
J. G. Fichte, Brief an F. H. Jacobi vom 31. März 1804, in: Akademie-Ausg., Bd. III, 5, S. 236. J. G. Fichte, Dritter Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804, Ms. III, 7, Bl. 3r. J. G. Fichte, Brief an F. X. von Moshamm vom 18. Juni 1804, in: Akademie-Ausg., Bd. III, 5, S. 239.
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Mittheilung sich anders ausspricht." 85 Rein didaktisch bleibt das formale Verfahren immer „abhängig vom Publikum"; dieses muß sich, um eine zweckmäßige Mitteilung wählen zu können, „uns kennbar machen". Der Status, in dem der Vortragende die Hörer aufnimmt, ist „so sehr relativ, [. . .] besonders, da es doch gar keine Einheit in den StudienPlänen giebt, u. äusserst wenig Unbefangenheit." 86 Das zuletzt angesprochene Moment leitet auf eine weitere Bedingung, unter der allein der Lehrer Schüler in der Wissenschaftslehre erhält: Sie sind vorgeprägt durch den Zeitgeist. Dieser aber ist in einem solchen Ausmaße historisch und symbolistisch, daß man erkennen muß: „Das Zeitalter kann nicht mehr lesen, und darum ist alles Schreiben vergeblich." Man eignet sich alles Gelesene nur noch historisch an. Darum „wird es hohe Zeit, etwas neues zu beginnen", nämlich „daß man [. . .] wiederum das Mittel der mündlichen Mittheilung ergreife". 87 Fichte betont in der Ankündigung des Ersten Vortrags der Wissenschaftslehre von 1804, er „wählfe] diesen Weg der Mittheilung um so lieber, da er das Resultat seiner neuen vieljährigen Untersuchungen nicht durch den Druck bekannt zu machen gedenkt, indem diese Philosophie sich nicht historisch erlernen läßt; sondern ihr Verständniß die Kunst zu philosophiren voraussetzt, welche am sichersten durch mündlichen Vortrag und Unterredung erlernt und geübt wird" 88 . Denn hierbei wird „das Misverständniß auf der Stelle erscheinen" 89 und kann dann sogleich behoben werden. 85
]. G. Fichte, Wissenschaftslehre v o n 1805, a. a. O., S. 8.
86
J. G. Fichte, Dritter Vortrag der Wissenschaftslehre v o n 1804, Ms. VI, 1 Varia 13, Bl. l r .
87 88
J. G. Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, a. a. O., S. 194. J. G. Fichte, Ankündigung, in: Berlinische Nachrichten V o n Staats- und gelehrten Sachen v o m 5. Januar 1804. — Gleichlautende Mitteilungen auch in: Königlich privilegirte Berlinische Zeitung v o m 3. Januar 1 8 0 4 ; Oberdeutsche allgemeine Litteraturzeitung v o m 14. Januar 1804.
89
J. G. Fichte, Pro memoria f ü r das Königl. Kabinett in Berlin v o m 3. Januar 1804, in: Akademie-Ausg., Bd. III, 5, S. 223.
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Diese Maßnahme bedeutete übrigens nicht, daß Fichte sich überhaupt nicht mehr schriftlich zu Fragen der Wissenschaftslehre äußern wollte. Als Reinhold ihm im Oktober 1803 einen ausführlichen Brief zur Verständigung in ihren philosophischen Ansichten geschrieben hatte, 90 ließ ihm Fichte durch den Verleger Perthes mitteilen, er sei noch „mit einer andern nicht zu unterbrechenden Arbeit beschäftigt, hoffe aber spätestens nach 4 Wochen, durch ein Gedrucktes [. . .] zu antworten". 91 Der Entwurf zu diesem Artikel liegt im Nachlaß vor, 92 aber es kam nicht dazu. Auch kündigte der Philosoph in der 22. Vorlesung über „Die Principien der Gottes- Sitten- und RechtsLehre" synthetisch systematischer Form, in einer anspruchslosen Schrift, etwa einem zweiten „Sonnenklaren Berichte, werde druken lassen", „falls [er] den Sommer Muße" finden werde. Er betont aber, daß dieses Buch nur „für diejenigen, welche die Kunst des Philosophirens schon gelernt haben" von Nutzen sein werde; „den übrigen die die Kunst nicht haben wird es sich in weißes Papier verwandeln". 93 Fichte, der den Zeitaufwand für seine Arbeiten stets genau vorauszuberechnen pflegte, schätzte in dem zuvor zitierten Brief an Perthes vom November 1803, „spätestens in 4 Wochen" mit seinen spekulativen Arbeiten an der Form der Wissenschaftslehre am Ende zu sein. A. W. Schlegel scheint Ähnliches Anfang Dezember Hülsen mitgeteilt zu haben; denn dieser antwortete: „Daß Fichte mit seiner Wissenschaftslehre endlich im Reinen ist, wird besonders seiner Frau eine große Freude gewesen seyn. Ich erwarte von dieser Vgl. K. L. Reinhold, Brief an J. G. Fichte vom 31. Oktober 1803, in: Akademie-Ausg., Bd. III, 5, S. 2 0 9 - 2 1 7 . 9 1 J. G. Fichte, Brief an F. Ch. Perthes vom November 1803, in: Ebenda, S. 218. 92 Vgl. in: Akademie-Ausg., Bd. II, 6, S. 4 0 7 - 4 1 1 . 9 3 J. G. Fichte, Die Principien der Gottes- Sitten- und Rechtslehre, hg. von R. Lauth, Hamburg 1986, Bl. 41r. 90
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Umarbeitung auch in der That etwas Erklekliches: denn diese Fichtesche Festigkeit hat etwas göttliches und was er betrachtet, ist immer ein Blick in die Geheimniße des Geistes." 94 Mit Datum vom 1. Januar 1804 kündigt Fichte seine Vorlesung über die Wissenschaftslehre in verschiedenen Berliner Zeitungen an. Am 3. Januar ersucht der das Königliche Kabinett in Berlin in einem „Pro memoria" um das „Urtheil von Sachkennern" in Form einer Prüfung seiner Wissenschaftslehre in ihrer vollendeten Form durch „Kommißarien" der Akademie der Wissenschaften „nach dem Beispiele [. . .] der Pariser Akademie", 9 5 wohl im Falle Descartes'. Und in dem nun beginnenden Jahre stellt er seiner Zeit und der Nachwelt eine Serie von Vorlesungen dar, die zu den größten Leistungen der Menschheitsgeschichte zählen. 9''
A . L. Hülsen, Brief an A . W . Schlegel v o m 18. Dezember 1803, in: Fichte im Gespräch, Bd. 3, a. a. O., S. 202.
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J. G. Fichte, Pro memoria f ü r das Königl. Kabinett in Berlin v o m 3. Januar 1804, in: Akademie-Ausg., Bd. III, 5, S. 223.
MASAO FUKUYOSHI
(Nagoya)
Die „Einbildungskraft" in der Umstellungszeit Im Anschluß an J. G. Fichte I. Die Gegenwart ist das Atomzeitalter. Aber ich glaube gewiß, daß die Gegenwart auch eine Umstellungs^eit ist, die vom Atomzeitalter, der Gefahr des Aussterbens der Menschheit, zum Friedenszeitalter ohne Kernwaffen übergeht. Der Schriftsteller Kenzaburo Ohe, ein Führer der Anti-AtomFriedensbewegung in Japan, erörtert überzeugend, welche wesentliche Rolle „die Einbildungskraft" spielt, wenn wir die gegenwärtige Situation des Atomzeitalters erkennen und überwinden wollen. Sein Buch „Die Imagination im Atomzeitalter" (1970) verdient vorzügliche Beachtung. Er äußert sich über die Bedeutung und die Rolle der Einbildungskraft: „Wenn wir durch die Imagination leben und sie ausüben, dann ist, was zum Kern der Sache wird, selbstverständlich die Subjektivität. — Was wir als Schlußstein der Vereinigung unserer Subjektivität mit der Welt haben, ist nichts anderes als unsere Imagination." 1 Ohe sagt weiter: „Jeder muß Imagination vom Gesamtbild der Gesellschaft haben, um das Selbst mit der Subjektivität zu befestigen. Erst mit der 1
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K . Ohe, Die Imagination im Atomzeitalter (jap.), Tokio 1970, S. 297. Zur Architektonik
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Imagination vom Anderen wird jede Subjektivität, die in der Gesellschaft und Welt existiert, gewiß." 2 Bei dieser Auffassung von der Imagination liegt das Bemerkenswerte darin, daß Ohe sie nicht in einem „milden, ruhigen Zustand der Seele", sondern in ihrem „kräftig wirkenden Charakter" faßt. Die Auffassung als tätigen Charakter wird in dem Begriff der „Subjektivität" ausgedrückt. Indem wir „das Gesamtbild von der Gesellschaft" entwerfen, üben wir unsere Subjektivität aus. Dabei hängt das Entwerfen des Gesamtbildes von der Gesellschaft mit der genauen Erkenntnis des krisenhaften Zustandes der Gesellschaft, der Kritik an ihm, der Bildung des idealen Gesellschaftsbildes und dem Plan und der Praxis zu ihrem Aufbau zusammen. Daher sagt Ohe: „Die Praxis und die Imagination nähern sich aufs höchste. Ich betrachte es als die für uns im neuen Zeitalter passende Haltung, daß wir unsere Subjektivität so denken, daß beides sich in ihr synthetisiert." 3 So stellt er fest, daß im Atomzeitalter und im Antiatomzeitalter, d. h. in der großen Umstellungszeit, die Imagination die Rolle des einzigen menschlichen „ K o m passes" spielt. Mir scheint, daß Ohes Begriff „Imagination" nahezu gleichbedeutend mit dem Terminus „Einbildungskraft" ist. Das philosophisch repräsentative Buch über die Einbildungskraft in Japan ist Kiyoshi Mikis „Die Logik der Einbildungskraft". Die 20er und 30er Jahre, in denen Miki es verfaßte, waren „das Zeitalter des Krieges und des Faschismus". Daher müssen wir feststellen, daß in der „Logik der Einbildungskraft" „das angestrebte Ziel einer Antwort dieses Philosophen auf die Herausforderung, die der wirkliche Sieg des Faschismus bedeutet hätte, verdeckt gehalten wurde" (Osamu Kuno). 4 Dieses Buch war dreibändig ge2 Ebenda, S. 301. 3 Ebenda, S. 303. * O. Kuno, Nachwort zu: K . Miki, Werke (jap.), Bd. 8, Tokio 1967, S. 515.
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plant. Aber wegen des Krieges wurde es beim zweiten Band unterbrochen. Bald nach dem Kriegsende, am 26. September 1945, kam Miki im Gefängnis um. Daher ist sein Buch unvollendet geblieben. Trotz der Unvollendetheit ist es bedeutungsvoll, daß Miki die Logik der Einbildungskraft in der Linie der Logik der Praxis erfaßte, die „eine neue Form mittels Änderung einer Form der Sache durch wirkliches Einwirken auf sie darstellt", und daß er diese „Praxis" in engem Zusammenhang mit dem, was in der Geschichte geschaffen wird, erfaßte. 5 Mir scheint, daß in diesem Punkte „das angestrebte Ziel einer Antwort dieses Philosophen auf die Herausforderung, die der wirkliche Sieg des Faschismus bedeutet hätte" (Kuno), enthalten ist. Trotz der Kluft von dreißig Jahren zwischen beiden haben Ohes Behauptung von der „Praxis" und „Subjektivität" und Mikis Behauptung von der „Praxis" und dem, „was die Geschichte schafft", etwas Gemeinsames: dies liegt in der Auffassung von der Rolle und Funktion der Imagination bzw. der Einbildungskraft im Zeitalter der Krise, d. h. in der Zeit der Umstellung auf eine neue Welt.
II. Auch Deutschland war am Ende des 18. Jahrhunderts zum Anfang des 19. Jahrhunderts in eine große Umstellungszeit eingetreten. Die gesellschaftspolitischen Verhältnisse in Deutschland zu dieser Zeit sind nicht zu verstehen, wenn man nicht die Beziehungen zu Frankreich (Napoleon) berücksichtigt. Es waren dies, kurz gesagt, die Einverleibung der linksrheinischen Gebiete seitens Frankreichs im Vertrag von Campo Formio (1797), der Abschluß des Rheinbundes (1806), die Niederlage Preußens in der Schlacht von Jena und 5 K. Miki, Werke, Bd. 8, a. a. O., S. 3 - 1 2 .
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Auerstedt und das Ende des Heiligen Römischen Reiches (1806), die Herrschaft Napoleons über Deutschland als Folge des Friedens von Tilsit (1807) und der Aufbruch der preußischen Reform mit den sich anschließenden Befreiungskriegen (1807-1813). Die eigentümliche Entwicklung des „deutschen Idealismus", der sich vor dem und im Hintergrunde dieser gesellschaftspolitischen Umstände entfaltete, war die folgende: In dieser Zeit kam es rasch zur Zusammenarbeit und Spaltung zwischen Kant und Fichte, Fichte und Schelling, Fichte und Schelling/Hegel, Schelling und Hegel. Diese Philosophen disputierten intensiv über das Prinzip und die Methode der Philosophie, die durch die „Einbildungskraft" und die „intellektuelle Anschauung" eine neue Gestalt gewonnen hatte. Als Fichtes erstes Buch „Versuch einer Kritik aller Offenbarung" 1792 anonym erschien, hielt man es für ein Werk Kants. Am 31. Juli 1792 erklärte Kant: „. . . ich habe weder schriftlich noch mündlich auch nur den mindesten Anteil an dieser Arbeit des geschickten Mannes (Fichte),... und halte es daher für meine Pflicht, die Ehre derselben dem, welchem sie gebührt, hiemit ungeschmälert zu lassen." 6 Aufgrund dieser lobenden Erklärung Kants stieg Fichtes Ansehen ganz plötzlich. Wenige Jahre später schrieb Kant in seiner „Erklärung in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre" (7. August 1799) jedoch, daß er „Fichte's Wissenschaftslehre für ein gänzlich unhaltbares System halte" 7 . Dieser Kritik stellte sich Fichte sofort entgegen, und so bekam die Verbindung zwischen Kant und Fichte einen großen Riß. Aber mir scheint darüber hinaus, daß es zu dieser Entfremdung zwischen beiden aus folgenden Gründen notwendig kommen Kant's gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin), Bd. XII, Berlin 1921, S. 359/360. 7 Ebenda, S. 370. 6
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mußte: (1) mit der Lehre von der „produktiven Einbildungskraft", als dem entscheidenden Vermögen in seiner „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre" (1794/95), stand Fichte selbstverständlich in der Nachfolge Kants. Aber (2) in der Wissenschaftslehre ab 1797 spielt die poduktive Einbidungskraft kaum eine Rolle; dagegen wurde der „intellektuellen Anschauung" wesentliche Bedeutung beigemessen; (3) diese „intellektuelle Anschauung" war aber für Kant ein Vermögen, das er nur Gott zuerkannte, von der er aber verneinte, daß der Mensch sie besitze. Werfen wir danach einen Blick auf die Beziehung zwischen Fichte und Schelling. Schelling ging von der Philosophie Fichtes aus. Im Mai 1795 veröffentlichte er sein erstes bedeutendes Buch: „Vom Ich als Prinzip der Philosophie". Darüber schrieb Fichte an Reinhold am 2. Juli 1795: „Schelling's Schrift ist, soviel ich davon habe lesen können, ganz Commentar der meinigen. Aber er hat die Sache trefflich gefaßt." 8 So entstand die Zusammenarbeit zwischen Fichte und Schelling, indem beide die „intellektuelle Anschauung" für wichtig hielten. Im Jahre 1801 veröffentlichte Schelling seine „Darstellung meines Systems der Philosophie". Kurz danach hielt Fichte die Vorlesung „Darstellung der Wissenschaftslehre" in Berlin und übte allerorts strenge Kritik an Schelling (und Hegel). Fichte und Schelling hatten allerdings an die Stelle des unerkennbaren Ding an sich bei Kant „das Absolute" gesetzt. Doch sie hielten das Absolute für das durch „intellektuelle Anschauung" Erkennbare. Schelling hielt nun das Absolute für die „absolute Indifferenz" des Subjektiven und Objektiven. Daran übte Fichte Kritik: diesem Schellingschen Gedanken „liegt die alte Erbsünde des Dogmatismus [zugrunde], daß das absolut Objektive in das
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J. G. Fichte-Gesamtausgabe der bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. von R. Lauth/H. Gliwitzky, Bd. III, 2 (Briefwechsel 1793-1795), Stuttgart-Bad Cannstatt 1970, S. 347.
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Subjektive eintreten soll" 9 . Aus der absoluten Indifferenz kann aber nichts hervorgehen, und wenn der Schellingsche Grundgedanke somit auch stolz die Systematik zu liefern beansprucht, so erweist das vorgebliche System sich doch der genauen Untersuchung als „absolutes Nullitätssystem" 10 . Mit dem Brief Schellings an Fichte vom 25. Januar 1802, in dem Schelling diese Kritik zurückzuweisen sucht, endete beider Freundschaft. Im Jahr 1801 veröffentlichte Hegel seine „Differenz des Fichte'sehen und Schelling'schen Systems der Philosophie" und kritisierte Fichte vom gleichen Standpunkt aus wie Schelling. Zusammen mit Schelling gab er ab 1802 das „Kritische Journal der Philosophie" heraus. Aber beider Zusammenarbeit scheiterte bald, indem Hegel seine Gedanken weiterentwickelte. Am 11. Januar 1807 schrieb Schelling ihm aus München: „Auf Dein endlich erscheinendes Werk bin ich voll gespannter Erwartung." 1 1 Dieses „Werk" war „Die Phänomenologie des Geistes". In der „Vorrede" übt Hegel scharfe Kritik an Schelling, obwohl er ihn nicht namentlich erwähnt: In der Schellingschen Philosophie, die das Absolute für die absolute Indifferenz hält, „sind alle Kühe schwarz" 1 2 . Indem dieses Absolute durch die intellektuelle Anschauung erkannt wird, ergibt diese Art und Weise des Wissens nur ein Unmittelbares, „wie aus der Pistole" 13 . Die wahre Erkenntnis ist nicht durch die intellektuelle Anschauung, sondern ergibt sich durch den „Begriff" als systematisches Wissen. J. G. Fichte, Darstellung der Wissenschaftslehre, in: J. G. Fichtes sämmtliche Werke (im folgenden: SW), hg. von I. H. Fichte, Bd. II, Berlin (West) 1.971, S. 66. 10 Ebenda. 1 1 Briefe von und an Hegel, hg. von J. Hoffmeister, Bd. 1, Hamburg 1952, S. 134. 12 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes. Vorrede, in: Werke in zwanzig Bdn., hg. von E. Moldenhauer/K. M. Michel, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1970, S. 22. « Ebenda, S. 31. 9
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Auf diese Weise übte Hegel Kritik an Schelling und brachte seinen Standpunkt ins Klare. Als Schelling seinerseits Hegels „Phänomenologie" (nur die „Vorrede") las, sah er sich in seiner „gespannten Erwartung" völlig getäuscht. Er schrieb Hegel: „Versöhnen läßt sich freilich Alles, Eines ausgenommen. So bekenne ich, bis jetzt Deinen Sinn nicht zu begreifen, in dem Du den Begriff ¿et [intellektuellen] Anschauung opponierst." 14 Dies war der letzte Brief, der zwischen beiden ging. Danach blieb kein Raum mehr zu einer Wiederversöhnung. Im Falle der Zusammenarbeit und Spaltung innerhalb des „deutschen Idealismus" war für etwas mehr als zehn Jahre (bis 1807) also die Frage nach der Rolle der „Einbildungskraft", der „intellektuellen Anschauung" und nach dem „Begriff" ein zentrales philosophisches Thema. In der großen Umstellungszeit am Anfang des 19. Jahrhunderts beteiligte sich Fichte auch tiefgehend an der Erörterung der gesellschaftspolitischen Fragen und setzte sich auch dabei mit der Kantischen und Schellingschen Philosophie auseinander. Was ist nun die Eigentümlichkeit der unter diesen Umständen konzipierten „ursprünglich produzierenden Einbildungskraft" und der „intellektuellen Anschauung" bei Fichte? Um dies zu erhellen, möchte ich im folgenden die Art und Weise, wie Fichte die „Freiheit" und das „Selbstbewußtsein" des Menschen konzipiert, kurz skizzieren. Es handelt sich ja dabei um ein Grundthema der Transzendentalphilosophie.
III. (1) Obwohl die Bedeutung der „Einbildungskraft" in der „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre" (von 1794/95) sehr betont und herausgearbeitet wird, macht Fichte in der 14
Briefe von und an Hegel, Bd. 1, a. a. O., S. 194.
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„Wissenschaftslehre" von 1801/02 kaum von ihr Gebrauch. Statt dessen wird hier die „intellektuelle Anschauung" für entscheidend angesehen. Zunächst ist das Problem der Beziehung zwischen beiden wichtig. Bei der Einbildungskraft wird auf ihren produktiven Charakter als Grundzug hingewiesen; als Grundzug der „intellektuellen Anschauung" wird später deren Einheits-Charakter herausgestellt. Das erste ist das auf die Produktion des Objekts durch das Ich bezugnehmende Problem, bis zur Produktion der Idee (des Absoluten). Das letztere ist das auf die Einheit der produzierten Idee mit dem Ich bezügliche Problem. Mit einem Wort, es besteht ein großer Unterschied zwischen der Einbildungskraft und der intellektuellen Anschauung in der Art und Weise, wie beide auf die Idee bezogen sind. Daraus resultiert auch der Unterschied der Aufgabe, die sich die Wissenschaftslehre von 1794 und die von 1801 und 1804/05 stellen. Die Haupterkenntnis der Wissenschaftslehre von 1801/02 und 1804/05 besteht darin, daß das Ich sich seiner als des Erscheinens des Absoluten bzw. als dessen Bild bewußt wird. Daher spielt die "Produktion der Idee des Absoluten durch die Einbildungskraft hier keine (wesentliche) Rolle mehr. So erscheint es selbstverständlich, daß die die Einheit des Ich mit dem Absoluten realisierende intellektuelle Anschauung in den Vordergrund tritt. Aber wenn die Verwirklichung dieser Einheit des Ich mit dem Absoluten als „Phänomenologie" weiterentwickelt wird, dann funktioniert die Einbildungskraft in neuer Form. Dieses Problem wird in den „Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters" (1804—1806) und der Schrift „Über das Wesen des Gelehrten" (1805/06) behandelt. Zum Hauptthema haben diese Bücher die Untersuchung der Existenzweise des Menschen, der die Geschichte macht und in der Geschichte lebt. Deshalb kommt die abstrakte Produktion des Subjekts durch die Einbildungskraft hier nicht in Betracht. Vielmehr kommt die Einbildungskraft als die 184
Funktion, die die gegebene Wirklichkeit als seinsollende Verwirklichung der Idee reformiert und in der neuen geschichtlichen Zeit das ideale Gesellschaftsbild bildet, hier in Frage. Dies ist im Übergang von der „Einbildungskraft" zur „bildenden Kraft" in den „Reden an die deutsche Nation" (1808) nachzuweisen. Die „bildende Kraft" ist nichts anderes als die ein Vorbild bildende Kraft. Sie ist insbesondere die das ideale Gesellschaftsbild bildende Kraft. 15 Der Nachdruck, mit dem dieses Gesellschaftsbild behandelt wird, beweist, daß die Aufgabe von wirklichen Reformen als erstes das Volk betreffende Problem angesichts der Napoleonischen Fremdherrschaft über Deutschland (ab 1807) klarer geworden ist. (2) In der Entwicklung von der „Einbildungskraft" zur „bildenden Kraft" ist es wichtig, daß die „Freiheit" und das „Selbstbewußtsein" des Menschen in bezug auf die Geschichtsbildung verstanden werden. Das Problem der „Freiheit" und des „Selbstbewußtseins" des Menschen wird konsequent von Fichte als Hauptthema durchgehalten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verfolgte Fichte aber diese Frage nicht mehr ahistorisch, sondern mit Bezug auf den die konkrete Geschichte bildenden und in der Geschichte lebenden Menschen. Was es ihm ermöglichte, Geschichte in so großen Zügen zu begreifen, hatte seinen Grund und Ursprung im neuen Prinzip der Fichteschen Philosophie, und dieses Prinzip war kein anderes als die Idee des Absoluten, die ihm nach 1801 deutlich geworden war. Die Formulierung der Idee des Absoluten als Prinzip und das Bewußtsein ihrer tiefen Verbindung mit der Geschichte hängen eng zusammen. Vgl. J. G. Fichte, Reden an die deutsche Nation, in: SW, Bd. VII, Berlin (West) 1971, S. 284/285. — Genauer zu untersuchen bleibt die Entwicklung von der Einbildungskraft in der „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre" von 1794/95 bis zur bildenden Kraft in den „Reden an die deutsche Nation" v.on 1807/08 und zur Bildungskraft in der „Wissenschaftslehre" von 1812.
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Denn die Geschichte, aus der auch die Gegenwart' einen Ausschnitt darstellt, ist bei Fichte nichts anderes als „das Erscheinen" der Idee; und in difesem Zusammenhange wird die Rolle der „Freiheit" und des „Selbstbewußtseins" des Menschen — das Hauptthema in der Philosophie Fichtes — verfolgt. (3) Das Absolute als Prinzip wird deutlich vor allem in den Ausarbeitungen der „Wissenschaftslehre" von 1804 und 1805. In dieser Wissenschaftslehre werden Transzendenz und Immanenz als Doppelheit der inneren Konstruktion des Absoluten im Erkennen und für dieses erfaßt. Fichte hält dabei besonders die Seite der Immanenz für wichtig. Welche Eigentümlichkeit und Bedeutung erhält damit die „Transzendentalphilosophie" Fichtes? Ich möchte auf zwei Sachverhalte hinweisen. 'Erstens: dent Absoluten wird der systematische Übergang von der reinen Prinziplehre (Wahrheitslehre) zur Phänomenologie möglich. Die hier angesprochene Immanenz hat vor allem folgende Bedeutung: Das transzendent Absolute, das unabhängig von allem andern, d. i. relationslos „von sich, durch sich, in sich" ist, muß in der Erscheinung notwendig mit der Welt, vor allem mit dem Ich, zusammenhängen. Letztendlich wird das Absolute im Wesen des Ich immanent erfaßt. Dadurch wird das Ich sich seines Wesens als „Bildens" des Absoluten bewußt. Kurz: dadurch werden Welt und Mensch als Erscheinen des Absoluten hingestellt. Hieraus ergibt sich, daß das System des „Wissens" nach Fichtes Einsicht aus der Vereinigung der reinen „Wissenschaftslehre" mit der Geschichtslehre, Naturlehre, Gesellschaftslehre, Sittenlehre und Religionslehre bzw. dem darin Erkannten besteht. 16 16
Über die Rolle des Wissenschaftssystems bei Fichte vgl. M. Buhr, Revolution und Philosophie, Berlin 1965; ders., Vernunft — Mensch — Geschichte, Berlin 1981. Ferner: die Fichte-Forschungen der Münchener Schule (um R. Lauth), z. B.: Erneuerung der Transzendentalphilosophie im Anschluß an Kant
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In dieser Hinsicht 2ieht die „Wahrheitslehre" die innere Konstruktion des Absoluten prinzipiell in Betracht; die Erscheinungslehre hingegen zieht die Welt und den Menschen (das Ich) konkret in Betracht. Zweitens: Durch die Einsicht in die Immanenz des Absoluten in der Erscheinung ist die Hervorhebung der Bedeutung der menschlichen Subjektivität möglich geworden. Der Grund ist folgender: In der 23. Vorlesung des Zweiten Vortrags der Wissenschaftslehre von 1804 stellt Fichte fest: „Die Gewißheit ist in sich selbst das Ich." So verwandelt die Immanenz des Absoluten im Wesen des Ich die Beziehung vom Absoluten zum Ich in das Fürsichsein des (höheren) Ichs, in dem Ich = Ich. Dies bedeutet die Einführung des Absoluten in das Bewußtsein des Ichs, in die Gewißheit seiner selbst. Wenn Fichte das transzendent Absolute erörtert, handelt er davon also immer in Hinsicht auf die Freiheit und das Selbstbewußtsein des Menschen. So läßt sich nachweisen, daß'die Transzendentalphilosophie Fichtes ein ausgezeichneter Ausdruck des Humanismus ist, da sie die zuvor erwähnten Inhalte und Eigentümlichkeiten hat. In der Zeit, die auf diese höchste Durchdringung der Wissenschaftslehre folgt, wird die so konzipierte Aktivität des menschlichen Subjekts in der konkreten geschichtlichen Wirklichkeit wirksam: Nach dem Frieden von Tilsit von 1807 stellt sich die Aufgabe der Befreiung der deutschen Nation von der Herrschaft Napoleons und der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands. Diese Aufgabe wird theoretisch begründet und der Appell an das Volk gerichtet. Man kann also feststellen, daß die Serie: gegebene Lage, philosophische Durchdringung des Problems der Immanenz des Absoluten, Erkenntnis der Rolle der Aktivität des Subjekts, Einwirkung auf die geschichtliche Wirklichkeit, und
Fichte,
hg. v o n
K . Hammacher/A. Mues,
Stuttgart-Bad Cannstatt,
1 9 7 9 ; Der Transzendentale Gedanke. Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes, hg. v o n K . Hammacher, Hamburg 1981.
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die Serie ist, die dem Vorgehen Fichtes entspricht, wie es oben (2) dargestellt ist. (4) Am Ende möchteich auf die Bedeutung dieses Paradigmas und auf die Bedeutung der Rolle der „Einbildungskraft" für unsere Gegenwart zu sprechen kommen. In ihr ist Fichtes Auffassung von der Rolle der Einbildungskraft nicht unbedingt wirksam. Aber wenn wir überlegen, daß Fichtes Erkenntnis, daß die produktive Einbildungskraft bis zur Idee und die bildende Kraft bis zur Konzeption, nach welchem Ideal die Wirklichkeit umzugestalten ist, führt, gibt Fichtes Gedanke uns die tiefste Erkenntnis dessen, was sich vollzieht. Denn die „bildende Kraft" ist nichts anderes als die das Gesellschaftsbild bildende Kraft in engstem Zusammenhang mit der aktuellen gesellschaftspraktischen Aufgabe der Zeit. Wir alle können klar erkennen, daß die gegenwärtige Zeit eine Umstellungszeit ist. Eben deshalb müssen wir in die Zukunft blicken und die Geschichte kräftig bilden, um die „Freiheit" zu verwirklichen. Dazu muß jeder von uns die „Einbildungskraft" und die „bildende Kraft" in sich schöpferisch arbeiten lassen. Mit anderen Worten: Gerade deshalb, weil wir in einer Umstellungszeit leben, muß jeder von uns an dem idealen Gesellschaftsbild mitbilden und es in die Praxis in ihrer komplexen Gegebenheit umzusetzen versuchen, um die ideale Gesellschaft zu verwirklichen.
DOMENICO LOSURDO
(Urbino)
Die Französische Revolution und das Bild des klassischen Altertums: von Constant zu Hegel „Unter dem Vorwand, uns als Spartaner zu achten, wollte man aus uns Heloten machen." So konnte man unter Bezugnahme auf Robespierre, sofort nach seinem Fall, im „Moniteur" vom 30. September 1794 lesen. „Man hat uns die Freiheit Griechenlands und Roms gerühmt und man hat vergessen, daß in Sparta eine Aristokratie von 30000 Adligen unter dem eigenen Joch 60000 Knechte hielt" 1 : dies ist der Leitfaden der antijakobinischen Kampagne, betrieben von den Repräsentanten der siegreichen thermidorianischen Bourgeoisie. Ein kolossales Loch habe also das historische Gedächtnis der Jakobiner charakterisiert: solche Anklage, die wir später bei Constant finden und die noch in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung Schule zu machen scheint, muß weitgehend auf das rechte Maß zurückgeführt werden. Es ist bekannt, daß die jakobinischen Führer es liebten, sich auf Rousseau zu berufen, und bei Rousseau gibt es ja, mit antifeudaler Funktion, das Feiern der antiken politischen Gemeinschaft mit besonderer Bezugnahme auf Sparta, aber 1
Zit. nach: L. Canfora, Ideologie del classicismo, Torino 1980, S. 15—17.
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es w i r d auch d a s V o r h a n d e n s e i n „ d e r g r a u s a m s t e n Sklaverei im S c h ö ß e der v o l l k o m m e n s t e n F r e i h e i t " unterstrichen. D a m i t nicht g e n u g : A l s „ s o w o h l ü b e r f l ü s s i g als auch barb a r i s c h " 2 definiert der G e n f e r P h i l o s o p h die feierliche K r i e g s e r k l ä r u n g , die die E p h o r e n g e g e n die H e l o t e n bei A m t s ü b e r n a h m e machten, zur E r ö f f n u n g u n d R e c h t f e r t i g u n g der M e n s c h e n j a g d , die den jungen Spartanern das V e r g n ü g e n a m K r i e g e v e r s c h a f f e n sollte. U n d m a n v e r g e s s e schließlich nicht, daß der E n t h ü l l u n g der Sklaverei, der antiken einbeGesellschaftsvertrages, griffen, ein g r u n d l e g e n d e s K a p i t e l des des den J a k o b i n e r n teuersten W e r k e s , g e w i d m e t ist. E s ist nicht so, daß letztere v ö l l i g die Institution der Sklaverei im klassischen A l t e r t u m ignorierten, wie die thermidorianische P r o p a g a n d a v o r g a b . S a i n t - J u s t verurteilt die T a t s a c h e , daß in Sparta das H e l o t e n t u m durch die V e r f a s s u n g sanktioniert w a r ; H e l o t e n t u m und L e i b e i g e n s c h a f t sind im G e g e n t e i l zwei v e r s c h i e d e n e Arten, d u r c h die, mit einem A n s c h e i n v o n Legalität, „ein Teil des V o l k e s S k l a v e des anderen i s t " 3 . A u c h jenseits des Rheins feierte die revolutionäre u n d jakobinerfreundliche P r o p a g a n d a die Tatsache, daß es d e m K o n v e n t d u r c h seine E n e r g i e und den E n t h u s i a s m u s , den er wachrief, g e l a n g , die P r o d u k t i o n und die nationale Verteidig u n g nicht allein auf einer sehr viel breiteren Basis als d a s antike Sparta zu organisieren, s o n d e r n v o r allem auch o h n e a u f die knechtische H a n d a r b e i t v o n Heloten zurückzugreifen. 4 E s war s o g a r in Frankreich und auch außerhalb äußerst verbreitet, den dritten Stand, unterdrückt durch den m o n a r -
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J. J. Rousseau, Frammenti politici e Scritti sull'abate die Saint-Pierre, in: J. J. Rousseau, Scritti politici, a cura di M. Garin, con intr. di E . Garin, Bd. 2, Bari 1971, S. 292, 368. Frammenti sulle istituzioni repubblicane, a cura di A. Soboul, Torino 1952, S. 15. Vgl. den unter dem Pseudonym Taciturnus Memoriosus veröffentlichten Text, in: Von deutscher Republik. 1775—1795.Texte radikaler Demokraten, hg. von J. Hermand, Frankfurt a. M. 1975, S. 178.
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chischen Despotismus, den Adel und den Klerus, mit den Heloten zu vergleichen. 5 N o c h bezeichnender ist der Vergleich, der im L a u f e des Entwicklungsprozesses der Revolution zwischen den antiken Sklaven und dem ärmsten Teil des dritten Standes aufkommt, den die „Gemäßigten" von den politischen Rechten ausschließen wollten. G e g e n die v o m Verfassungsentwurf vorgesehenen steuerlichen Diskriminierungen im April 1791 polemisierend, erklärt Robespierre, daß diese in letzter Konsequenz die unteren Volksschichten in die „ K l a s s e der ,Heloten'" zurückwerfen. D a s Schicksal der Heloten in Sparta war also dem geschichtlichen Gedächtnis der J a k o biner wohl gegenwärtig. E s ist jedenfalls ein Paradoxon: Während sie die Jakobiner anklagt, die antike Sklaverei vergessen zu haben, leitet die post-thermidorianische Bourgeoisie den (dann mit Napoleon den Gipfel erreichenden) Prozeß der Wiedereinführung der v o n den Jakobinern unterdrückten modernen Sklaverei in den Kolonien ein. Aber ist es denn möglich, daß den Protagonisten dieser kolossalen Umwälzung, die furchtbaren Widerständen in Frankreich und noch mehr in den Kolonien begegnete, nicht eine sei es auch nur .vage Ideenassoziation mit der antiken Sklaverei aufgekommen ist? In Wirklichkeit gibt es, zumindest bei Saint-Just, einen expliziten Vergleich zwischen Heloten und „farbigen Menschen" einerseits und Spartanern und modernen kolonialistischen „Metropolen" andererseits. 6 Was bleibt nun v o n der seit dem Thermidor an die J a k o biner gerichteten A n k l a g e ? Im Feuer des K a m p f e s zur Zerschlagung der konterrevolutionären Einkreisung auf innerer und internationaler Ebene und zur Weckung des 5
Vgl. den unter dem Pseudonym Apathos veröffentlichten Text, wiedergegeben in: V o n deutscher Republik. 1775—1795. Texte radikaler D e m o kraten, a. a. O., S. 268.
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Frammenti sulle istituzioni repubblicane, a. a. O., S. 154.
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für die Verteidigung und das Überleben des neuen Frankreich notwendigen kollektiven Enthusiasmus berufen sie sich auf „jene öffentliche Tugend, die in Griechenland und Rom soviele Wunder vollbrachte" 7 , wobei das Modell der einhelligen Teilnahme am öffentlichen Leben ausersehen und offensichtlich das Moment der Sklaverei mit Schweigen übergangen wurde, jenes Moment, das die post-thermidorianische Publizistik hingegen ein Interesse hat zu unterstreichen und nachdrücklich zu betonen, um das jakobinische Pathos der Politisierung lächerlich zu machen und die absolute Unverletzlichkeit der Sphäre des Privateigentums in der modernen Welt zu erweisen. Es ist nicht ohne Interesse zu sehen, wie sich diese französischen Wechselfälle in der klassischen deutschen Philosophie widerspiegeln. In den Berliner Schriften Hegels gibt es, auch bezüglich der Sklaverei, eine harte Verurteilung des Christentums, das sich gewiß nicht dem „Sklavenhandel" in Guinea und anderswo widersetzt hat. Man kann hier das Echo der Ereignisse von jenseits des Rheins bemerken: jener selbe Konvent, der das offizielle Christentum zur Diskussion gestellt hatte und der die nationalen Feste unter Berufung auf das Beispiel des klassischen Altertums eingerichtet hatte, schaffte die Sklaverei der Schwarzen in den Kolonien ab, so daß die Verurteilung der Sklaverei und des Sklavenhandels eines der bevorzugten Themen der franzosenfreundlichen und revolutionsfreundlichen Propaganda wurde. Wenn sich ein Hinweis in den „theologischen" Jugendschriften zur Sklaverei in der römischen Welt findet, dann nur um zu behaupten, daß es die allgemeinen Bedingungen der Unfreiheit innerhalb des Imperiums sind, die die Genesis des Christentums erklären. 8 Mit anderen Worten, der Akzent liegt mehr auf der modernen Sklaverei als auf der antiken, 7 8
So drückt sich Robespierre in der Rede vom 5. 11.1794 im Konvent aus. Vgl. G. W. F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, hg. von E . Moldenhauer/ K . M. Michel, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1969, S. 46, 211/212.
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wie es bei den Jakobinern und in der revolutionären Publizistik der Zeit geschieht. In den reifen Schriften findet eine Umkehrung der Positionen statt. Nunmehr wird dem Christentum das Verdienst zuerkannt, die Sklaverei abgeschafft zu haben, zumindest — wird präzisiert — was Europa betrifft, mit dem Hinweis auf das Fortbestehen der Erscheinung in den Kolonien. Zugleich wird unterstrichen, daß die Sklaverei die notwendige Bedingung der „schönen griechischen Demokratie" war: gerade weil „die besonderen Beschäftigungen . . . den Sklaven übertragen waren", konnten die Bürger, die von der Last der Handarbeit und der täglichen Beschäftigungen befreit waren, sich vollständig dem öffentlichen Leben widmen. 9 Aber es wäre verfehlt zu glauben, daß sich die Vision Hegels völlig unter der der post-thermidorianischen Publizistik verflacht habe, und das nicht allein wegen der Tatsache, daß weiterhin beharrlich die Sklaverei in den Kolonien verurteilt wird, während Constant sich darauf beschränken zu wollen scheint, sie als einfache Tatsache zu registrieren. 10 Nein, für Hegel erschöpft sich die moderne Freiheit nicht im Genuß der eigenen Privatsphäre, wie Constant, dessen Gedanken auch gegenwärtig durchaus präsent sind, es will. Gewiß, es gibt eine neue, mit dem Christentum aufgetretene 9
G. W . F. Hegel, Vorlesungen
über die Philosophie der Weltgeschichte,
hg. v o n G. Lasson, Leipzig 1919/20, S. 610/611. 10
W a s Hegel betrifft, vgl. Kapitel I—III und das letzte Kapitel sowie die entsprechenden Einleitungen der v o n uns herausgegebenen Anthologie der Vorlesungen über die Rechtsphilosophie, der nächsten Publikationen des Italienischen Instituts f ü r Philosophische Studien. — Zu Constant vgl. die Behauptung, nach der „dank dem Handel, der Religion, den intellektuellen und moralischen Fortschritten der menschlichen Gattung es bei den europäischen Nationen keine Sklaven mehr gibt", mit einem bezeichnenden Schweigen zum „Rückschritt", der durch die Wiedereinführung der Sklaverei in den Kolonien repräsentiert wird. In: Rede über die Freiheit der Antiken verglichen mit der Modernen, in: B. Constant, Principi di Politica, hg. v o n U. Cerroni, Roma 1970, S. 224.
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Zur Architektonik
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Tatsache, und zwar ist durch „das Sich-selbst-absolut-Wissen" der Einzelheit, dieses „absolute I n - S i c h - S e i n " d i e antike Sittlichkeit unwiederbringlich vergangen. Und dennoch wirkt das Ideal der Po/is weiterhin. Es ist wahr, es ist keine Flucht oder Nostalgie erlaubt. Aber „wenn es erlaubt wäre, eine Nostalgie zu haben", könnte sie sich nur Griechenland und der Po/is wieder zuwenden; ja, die christliche Entdeckung der Unendlichkeit des Subjekts hat die antike Sittlichkeit mit ihrer monolithischen Gelassenheit für immer unaktuell gemacht, und doch wird noch in den reifen Schriften von ihr als der „wahren" 12 gesprochen, Um die politische Bedeutung des Problems adäquat zu beleuchten, sei auf Constant zurückgegangen, der weiterhin den radikalen Unterschied der modernen Freiheit zur antiken so präzisiert: „Der Kredit hatte bei den Antiken nicht denselben Einfluß; ihre Regierungen waren stärker als die Privatpersonen; heute sind die Privatpersonen stärker als die politischen Mächte unserer Epoche; der Reichtum ist eine in jedem Augenblick weit disponiblere Macht, jedem Interesse leichter dienstbar und daher viel realer und besser verfügbar." Das Übergewicht des Reichtums gegenüber der politischen Macht ist integrierender Bestandteil der modernen bürgerlichen Freiheit. Mehr noch, Constant wagt sich an eine Darstellung der Machtmechanismen der bürgerlichen Gesellschaft, die hinsichtlich der Werturteile nicht sehr verschieden von der ist, die von Marx gegeben wird und die in der Regierung, wenn sie auch vom Parlament legitimiert ist, einen einfachen Geschäftsausschuß der Bourgeoisie sieht! „Die Armen", behauptet der berühmte Diskurs über die Freiheit der Antike verglichen mit der der Modernen, „regeln von selbst ihre Geschäfte, die Reichen stellen Sachverständige G. W . F. Hegel, Jenaer Realphilosophie, hg. von J. Hoffmeister, Hamburg 1967, S. 251. 12 Vgl. G. W. F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 18, a. a. O., S. 173 und Bd. 12, S. 57. 11
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an." Und dies eben ist die Regierung: „Aber um nicht unvorsichtig zu sein, prüfen die Reichen, die Sachverständige haben, mit Aufmerksamkeit und Ernst, ob sie auch ihre Pflicht tun." 1 3 Die Unterordnung der politischen Macht unter den Reichtum, die Regierung als Geschäftsausschuß der Eigentümer, all das ist integrierender Bestandteil der modernen Freiheit, die sich schließlich sowohl vom antiken als auch vom jakobinischen Glauben an die Allmacht der Politik über den Gesellschaftskörper befreit hat und schließlich zum Bewußtsein der Unverletzlichkeit der Privatsphäre und des Privateigentums gelangte. Wohl-unterschieden ist die Haltung Hegels, der seinerseits mit Beunruhigung das wachsende Gewicht des „Geldhandels" und der „Banken" im politischen Leben bemerkt: „Gesetzt den Fall, daß die Staaten Bedarf an Geld für ihre Interessen haben, sind sie abhängig von diesem in sich unabhängigen Geldverkehr." 14 In England bleibt die Macht, trotz der Reformen, fest „in den Händen jener Klasse", die mit „dem bisherigen System der Eigentumsrechte" 1 5 verbunden ist: Das ist der wesentliche Anklagepunkt gegen die „englischen Freiheiten", der vom Gesichtspunkt Constants aus ganz im Gegenteil das Wesen der modernen Freiheit ausdrückt. Wenn in Frankreich Constant die Jakobiner und Rousseau kritisiert, schreitet in Deutschland Haym, immer im Namen der modernen Freiheit, zur Liquidierung Hegels, auch er schuldig, stark vom griechischen Modell beeinflußt zu sein, dessen Akzent auf das Ethische und Politische nunmehr unvereinbar ist „mit den Bedürfnissen der heutigen Wirklichkeit und mit dem heutigen Bewußtsein". Wenn für Constant das Primat des Reichtums über die politische Macht grund13 14
B. Constant, Principi di Politica, a. a. O., S. 235/236. G . W. F. Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie, hg. von K . H . Uting, Bd. 4, Stuttgart-Bad Cannstatt 1973/74, S. 520/521.
15
G . W. F. Hegel, Über die englische Reformbill, in: Berliner Schriften, hg. von ]. Hoffmeister, H a m b u r g 1956, S. 480.
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legend für die moderne Freiheit ist, soll für Haym der moderne Staat, statt vom „abstrakten Universalen" auszugehen, wie bei Rousseau und Hegel — das heißt vom Entwurf einer Gemeinschaft —, sich vielmehr darauf beschränken, die (ständische) Gliederung der bürgerlichen Gesellschaft in Schichten oder Klassen und daher die bestehenden sozialen Beziehungen politisch zu legitimieren. 16 Im einen wie im anderen Fall sei es nötig, mit dem Feiern der antiken Po/is Schluß zu machen, die nicht nur die Erinnerung an die den Jakobinern teure Gemeinschaft der citoyens wachruft, sondern auch — schlimmer noch — mit dem Akzent, der auf das Politische gelegt wird, und daher mit der impliziten Mißachtung der zentralen Rolle und Unübersteigbarkeit der Person und der Sphäre des bourgeois, das Gespenst des Kommunismus wachzurufen scheint.17 Das Urteil Hayms ordnet sich in eine klare Linie der Kontinuität zur vorangegangenen Tradition ein: Es genügt daran zu denken, daß bereits in den Jahren, die unmittelbar dem Ausbruch der französischen Revolution folgten, von den reaktionären Kreisen die undurchdachten und unkritischen Traditionen und Lesarten der antiken Klassik unter Anklage gestellt wurden schuldig zu sein, die „Liebe zu den republikanischen Verfassungen und Tugenden" 18 verbreitet zu haben. Eine Wende vollzieht sich mit Schelling. Aber vor ihrer Prüfung ist es angebracht, für einen Augenblick zu Constant zurückzukehren. Auch er nahm — trotz seines Feierns der modernen Freiheit — von der antiken Freiheit etwas wieder 10
17
18
V g l . R. Haym, Hegel und seine Zeit, Berlin 1857 (Nachdruck: Darmstadt 1974), S. 26, 377/378 und 389/390. Vgl. diese These i n : D. Losurdo, Tra Hegel e Bismarck, Roma 1983, besonders S. 51—76. Vgl. die Stellungnahme von E. Brandes (1792) und I. G. Dyk, wiedergegeben in der Anthologie der deutschen konterrevolutionären Publizistik, von J. Garber, Kritik der Revolution. Theorien des deutschen Frühkonservatismus, 1798-1810, Bd. 1: Dokumentation, Krönberg/TS 1976, S. 6 und 130.
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auf, und das ist das otiuni (die Muße): „der unerläßliche Spielraum zur Erwerbung der Kultur und eines rechten Verstandes". Nun, „nur das Eigentum garantiert diesen Spielraum; nur das Eigentum befähigt die Menschen dazu, die politischen Rechte auszuüben" 19 . Um das jakobinische Modell der kollektiven Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten zu diskreditieren, unterstreicht Constant, daß solch eine Teilnahme eben das otium voraussetzt, das den freien Bürgern durch die Arbeit der Sklaven garantiert wird. Jetzt rechtfertigt er im Gegenteil den Ausschluß der „arbeitenden" oder werktätigen „Klasse" von den politischen Rechten im Namen ihres Mangels an otium. Von diesem Gesichtspunkt aus erweist sich Constant viel mehr dem antiken Modell verbunden als Hegel, der keinerlei Bewunderung für das otium hegte, dessen sich im klassischen Altertum die freien Bürger erfreuten und das der Theoretiker des Liberalismus weiterhin den modernen Eigentümern vorbehalten möchte. In Griechenland „ist die dem Bedürfnis zugehörige Besonderheit noch nicht in die Dreiheit aufgenommen, sondern an einen Sklavenstand ausgeschlossen". Aus dieser Erklärung muß man nicht nur die Verurteilung der Institution der Sklaverei entnehmen, sondern auch die Kritik an der Nicht-Arbeit der freien Bürger. Und nicht zufällig zeigt er in einem sehr berühmten Kapitel der „Phänomenologie des Geistes" die auch kulturelle Überlegenheit der Arbeit der Sklaven gegenüber dem otium ihrer Herren auf. 20 Für Constant bleibt das otium weiterhin Voraussetzung der Teilnahme am politischen Leben, nur daß nicht nur die Zahl 19
B. Constant, Principi di Politica, in: Principi di Politica, a . a . O . , S. 1 0 0 , (italien. Übers, leicht verändert).
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Vgl. § 356 der Rechtsphilosophie und, was die „Phänomenologie des Geistes" betrifft, die Seiten über die Dialektik v o n Knecht, oder besser v o n Sklave und Herrn, die nach unserer Meinung in den Rahmen der Debatte über die Sklaverei einzuordnen sind, wie wir glauben, es in der Einführung zum Schlußkapitel der bereits zitierten Anthologie der Vorlesungen über die Rechtsphilosophie gezeigt zu haben.
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seiner Nutznießer eingeschränkt wird, sondern daß es auch nicht mehr die Bedingung für die der Po/is eigenen gemeinschaftlichen politischen Teilnahme aller ist, wohl aber Bedingung der modernen Freiheit, und das heißt des Genusses der Privatsphäre. Das Privateigentum schafft eine beschränkte Anzahl von Bürgern, die das otium genießen können, und dies legitimiert seinerseits die exklusive Machtausübung, von der offen und direkt gefordert wird, die Unverletzlichkeit des Privateigentums zu garantieren. Wenn das otium bei Constant noch eine politische Bedeutung hat, ist bei Schelling nach der Revolution von 1848 einfach nur noch die Privatsphäre zu bemerken, eine mehr verinnerlichte Privatsphäre. Mit solchen Worten wendet sich der Philosoph an das deutsche Volk: „Laßt doch; daß man euch anklagt, ein unpolitisches Volk zu sein, weil die Mehrheit von euch vorzieht, lieber als zu regieren, regiert zu werden, auch wenn ihr es oft nicht seid oder vielmehr schlecht seid —, ihr die ihr als größeres Glück betrachtet, daß man euch das otium läßt, den Geist und die Seele für Dinge, die kein politischer Zank sind . . ." 2 1 Wenn bei Constant das otium die politische Voraussetzung der modernen Freiheit war, einer Regierung, fähig, die moderne Freiheit zu garantieren, indem sie diese unter den Schutz der Illusion einer Massenbeteiligung am öffentlichen Leben und der „kindlichen" Leidenschaften der Nicht-Eigentümer stellt, fällt bei Schelling, in einem Deutschland, das noch nicht die Last der absoluten Monarchie von seinem Rücken schütteln konnte, das otium mit der ruhigen Anerkennung des Regiertwerdens zusammen, mit dem ungestörten Genuß eines — mehr noch als des Privateigentums — innerlichen geistigen Lebens. 21
F. W. J. Schelling, Philosophie der Mythologie, in: Sämtliche Werke, Stuttgart —Augsburg 1856—1861, Bd. 11, S. 549 (wir benutzen die italien. Übers., enthalten in: C. Cesa, La filosofia politica di Schelling, Bari 1969, S. 242).
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Aber ein anderer wichtiger Unterschied ist hervorzuheben. Constant stellt das otium wieder her, ohne bewußten Rückgriff auf das klassische Altertum, ja sogar trotz seiner kräftigen Polemik gegen die antike Freiheit. Schelling hingegen beruft sich ausdrücklich auf Aristoteles, mit dem die Deutschen in der Meinung übereinstimmten, „daß die erste Funktion des Staates ist, das otium den Besten zu garantieren". Nicht nur das, denn wenn bei Constant das Lächerlichmachen des altertümelnden politischen Pathos der Jakobiner die Aufklärung und Verurteilung der Sklaverei in der griechisch-römischen Welt einschließt, zögert Schelling bei Verurteilung der Illusionen und politischen und verfassungsmäßigen Forderungen der revolutionären Bewegung nicht, sich auf den Aristoteles zu berufen, der über den natürlichen Charakter der Sklaverei theoretisierte: „Dem einen kommt das Sklavesein zu, dem anderen das Herrsein." Es ist dies eine Stelle der „Politik", die die „Philosophie der Mythologie" zur Demonstration der Tatsache anführt, daß es „keinen Typ der Ordnung geben kann, der nicht, ,seit der Geburt', eine Unterscheidung zwischen Herrschern und Beherrschten beinhaltet". 22 Wenigstens was Europa betrifft, wird die antike Sklaverei als Argument zugunsten des monarchischen Absolutismus ins Feld geführt, während die eigentliche Sklaverei nur für die Schwarzen denkbar sein könne.? 3 Ausgehend von Schelling ist der Rückgriff auf das klassische Altertum eingeschlossen in konservative oder reaktionäre Politik. Dieselbe Verachtung der Politik und dasselbe Feiern des otium finden wir bei Schopenhauer: die ökonomische „Unabhängigkeit", die Entfernung von den materiellen Besorgnissen sowohl der Arbeit als auch des Berufs, ist 22 23
Ebenda, S. 530 und Fußnote. Vgl. ebenda, S. 514/515; vgl. dazu: G. Lukäcs, Die Zerstörung der Vernunft, italien. Übers., Turin 1959, S. 179/180 und D. Losurdo, Schelling nello specchio dei suoi contemporanei, in: Hermeneutica, 3/1983, S. 194/195
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die notwendige Bedingung des „authentischen Philosophierens", ja jeder wahren Kultur. Die Kultur darf nicht nur nicht die Entwicklung des bürgerlichen Berufslebens bezwecken, sondern nicht einmal und noch viel weniger das politische Leben. Das Unrecht, ja das Verbrechen Hegels bestehe eben darin, den Jugendlichen „die platteste, die philisterhafteste, die vulgärste Lebensauffassung" eingeimpft und damit jeden „Aufschwung für etwas edles" vertilgt und „die materiellen Interessen, zu denen auch die politischen gehören" 24 verabsolutiert zu haben. Wenn bei Hegel die Gestalt des citoyen dazu dient, die Verabsolutierung des bourgeois zu verhindern und letzterem etwas von der Sittlichkeit und der antiken politischen Totalität zu verleihen, wird der citoyen nunmehr zusammen mit dem bourgeois in den Bereich des Banausischen verbannt, demgegenüber das für die authentische Kultur notwendige otium eine unbefleckte Reinheit * erlangt, die selbst im klassischen Altertum in Wirklichkeit unbekannt ist. So bei Schopenhauer und dann bei Nietzsche. Und es versteht sich, daß die Erziehung zum politischen Leben, für den Staat, die von Hegel empfohlen wird, dabei in gewisser Weise am Modell der Po/is festhaltend, jetzt als Ausdruck des Philistertums angesehen wird. Beim Feiern des otiums als Voraussetzung der authentischen Kultur beruft sich Schopenhauer auf Theognis, der später auch Nietzsche besonders teuer wird. Durch Nietzsche werden die vorhergehenden Zweideutigkeiten gelöst. Auf das klassische Altertum berief sich die jakobinische und revolutionäre politische Tradition (deren Echo noch bei Hegel feststellbar ist), um die Einhelligkeit der politischen Teilnahme zu würdigen; aber Schelling berief sich auf das klassische Altertum, um den Vergeßlichen die natürliche Ungleichheit zwischen Regierenden und Regierten und geradezu zwischen den Herren und Sklaven ins Gedächtnis zu 24
A . Schopenhauer, Über die Universitätsphilosophie, in: Sämtliche Werke, hg. von W . v o n L ö h n e y s e n , Bd. 4, Darmstadt 1980, S. 238, 205 und 2 1 3 .
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rufen. Nietzsche beruft sich zwar auf Griechenland, aber auf das Griechenland, das dem A u f k o m m e n der 'Polis v o r a n geht und noch frei v o n der Krankheit der D e m o k r a t i e sei, das Griechenland, dessen strahlende K u l t u r auf der unangefochtenen Existenz der Sklaverei beruht. Bezeichnenderweise spricht auch Nietzsche — mit einem A u s d r u c k , der an den bereits bei Hegel gesehenen erinnert — v o n Griechenland als d e m „ L a n d der N o s t a l g i e " 2 5 . A b e r trotz der scheinbaren A n a l o g i e n ist das L a n d , dem sich die „ N o s t a l g i e " der beiden Philosophen zuwendet, radikal verschieden. Jetzt wird klassisches Altertum S y n o n y m der Sklaverei in ihren verschiedenen F o r m e n und Äußerungen, weil für Nietzsche die d e m antiken Griechenland eigene „ K l a s s e der S k l a v e n " weiterhin bestehen muß, sei es auch-in neuen F o r m e n , im m o d e r n e n Proletariat, wenn m a n den Verfall der Zivilisation verhindern will. M a n versteht nun die Tatsache, daß Nietzsche, nachdem er mit R ü c k g r i f f auf Griechenland behauptet hat, daß '„die Sklaverei in das Wesen selbst der Zivilisation eingeht", dann hinzufügt, daß gerade d e s w e g e n „ K o m m u nisten", „ S o z i a l i s t e n " und sogar „ L i b e r a l e " vereint sind im H a ß „ g e g e n das klassische A l t e r t u m " . 2 6 ^ e n n früher der politische und soziale U m s t u r z angeklagt war, altertümelnde F a r b e n anzunehmen, wird er jetzt hingegen angeklagt, das E r b e und die L e h r e des klassischen Altertums zu leugnen. In der Zwischenzeit ist die D e b a t t e über die Sklaverei mit neuen B e d e u t u n g e n belastet w o r d e n : m a n betrachtet nicht mehr nur das Schicksal der Heloten in Sparta, und nicht einmal hauptsächlich das der Negersklaven, die noch in A f r i k a und anderswo existieren, m a n betrachtet in erster Linie das Schicksal der Arbeiterklasse. Betrachten wir 25
F. Nietzsche,
Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten,
in drei Bänden,
hg. v o n
K . Schlechta,
Bd. 3,
München
in:
Werke
1966, S. 208
und 213. 26
F. Nietzsche, Der griechische Staat, in: W e r k e i n drei Bänden, Bd. 3, a. a. O., S. 178.
201
nochmals die Argumentation Constants, der einerseits nicht müde wird, die Jakobiner anzuklagen, vergessen zu haben, daß die antike Freiheit, von der sie sich inspirierten, in Wirklichkeit auf die Sklaverei gestützt war, andererseits aber auch das Bedürfnis verspürt, den von Robespierre gezogenen Vergleich zwischen Heloten und Nicht-Eigentümern, die des Wahlrechts und daher in letzter Hinsicht des Titels citoyen beraubt sind, zurückzuweisen. Nein, „es handelt sich hier nicht um die Unterscheidungen, die bei den Antiken die Sklaven von den freien Menschen trennten . . ." Anderseits „hat kein Volk alle Individuen als Mitglieder des Staates betrachtet, die wie auch immer auf seinem Territorium wohnen"; es gibt z. B. die Kinder und „jene, die die Armut in einer inneren Abhängigkeit hält und dazu verurteilt, Tag und Nacht zu arbeiten, und die, was die politischen Angelegenheiten angeht, nicht aufgeklärter als die Kinder sind . . ." 27 Kurz und gut, allein die antike Freiheit setzt die Existenz der Sklaverei voraus, die moderne Freiheit verlangt allenfalls Menschen in einer Art fortwährender Unmündigkeit. Hier scheinen sich die Rollen zu vertauschen. Robespierre, der der unkritischen Verherrlichung des Altertums angeklagt wird, zögert nicht anzuprangern, wieviel schreckliches „Antikes" es noch immer in gewissen politisch-sozialen Beziehungen der modernen Welt gab. Und diese Betrachtung gilt auch, in offenkundig anderem Rahmen, für Hegel, eine andere Zielscheibe der Verfechter der modernen Freiheit, der den Hungernden mit dem Sklaven gleichstellt, 28 und 27
B. Constant, Discorso sulla Libertà degli antichi paragonata a quella dei moderni, a. a. O.
28
Der Vergleich ist explizit im Vorlesungskursus über die Rechtsphilosophie von
1819/20 formuliert:
vgl. G. W . F. Hegel, Philosophie des Rechts.
Die Vorlesung v o n 1819/20, hg. v o n D . Henrich, Frankfurt a. M. 1983, S. 196. — Er ist aber später implizit in der Behauptung enthalten, die in allen Kursen und sogar im veröffentlichten Text vorhanden ist, nach der der Hungrige total der Rechte beraubt ist. Nicht zufällig findet dieser Vergleich weite Verbreitung unter den Schülern Hegels, so daß er sich auch
202
nicht zögert, das Fortbestehen dieser antiken Einrichtung in neuen Formen anzuprangern. Dagegen erweist sich die von Constant ausgearbeitete Kritik des antiken Modells als einzigartig verkrüppelt und dem Streben verpflichtet, alle Enthüllungen des Überlebens dieses Modells in der Gegenwart rigoros zu beschränken. Jene „Kinder", die Besitzlosen, haben auch etwas mit den Sklaven gemeinsam, da sie „Tag und Nacht" mit ihrer Arbeit das otium der Eigentümer garantieren, die zur Entfaltung der politischen Aktivität legitimiert sind. Die von^ Constant formulierte Unterscheidung erweist sich als brüchig. Wenig später sollte die Lage der Arbeiter jener Zeit durch Marx als eine Art lohnempfangende Sklaverei definiert werden, aber gewiß nicht, um—wie Nietzsche — die Ewigkeit einer Einrichtung zu feiern, die den Glanz des antiken Griechenlands gesichert hätte, sondern im Gegenteil, um die Sklaverei auch in ihren modernen Formen zu zerstören. Wegen seines gegen die Sklavenhalterei gerichteten Radikalismus erschien der Kommunismus Nietzsche als die totale Negation der Zivilisation und des klassischen Altertums, das er als die höchste Inkarnation der Zivilisation dargestellt hatte. Und gewiß fehlt bei Marx jedwede Verklärung des klassischen Altertums. Selbst die einhellige Teilnahme am öffentlichen politischen Leben, die auf die Jakobiner soviel Zauber ausgeübt hatte, wird in „Die Deutsche Ideologie" mit der Tatsache erklärt: „Die Staatsbürger besitzen nur in ihrer Gemeinschaft die Macht über die arbeitenden Sklaven und sind schon deshalb an die Form des Gemeineigentums gebunden. Es ist das gemeinschaftliche Privateigentum der aktiven Staatsbürger, die den Sklaven bei so verschiedenen Autoren wie Gans und Rosenkranz findet, um nicht direkt von Marx und Engels zu sprechen. Zu all dem verweisen wir auf: D. Losurdo, Diritto e violenza: Hegel, il Notrecht e la tradizione liberale, in: Hermeneutica, 4/1985.
203
gegenüber ge2wungen sind, in dieser naturwüchsigen Weise der Assoziation zu bleiben." 29 Ja, auch Marx kritisiert die Konfusion zwischen „antiker Freiheit" und „moderner Freiheit": „Robespierre, Saint-Just und ihre Partei gingen unter, weil sie das antike, realistisch-demokratische Gemeinwesen, welches auf der Grundlage des wirklichen Sklaventums ruhte, mit dem modernen spiritualistisch-demokratiscben Repräsentativstaat, welcher auf dem emanzipierten Sklaventum, der bürgerlichen Gesellschaft, beruht, verwechselten." 30 Aber diese an die jakobinischen Führer gerichtete Anklage ist gewiß nicht diejenige Constants, zu sehr die Politisierung des Menschen gefeiert zu haben; Marx beklagt im Gegenteil, daß im Verlauf der französischen Revolution „selbst in den Momenten seines noch jugendfrischen und durch den Drang der Umstände auf die Spitze getriebenen Enthusiasmus . . . sich das politische Leben für ein bloßes Mittel, dessen Zweck das Leben der bürgerlichen Gesellschaft ist, (erklärt)." Selbst in der Verfassung von 1793 war die Reinkarnation des Bürgers der Polis, der citoyen, nur das Mittel des Bourgeois.31 Nach dem Thermidor ist mehr denn je das Problem offen, wie ein „realistisch-demokratisches Gemeinwesen", wie es in gewisser Weise die Polis war, zu errichten ist, aber dabei zugleich nicht nur die eigentliche Sklaverei der Antike zu vernichten ist, sondern auch die moderne oder Lohnsklaverei. 29 K . Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, Berlin 1958, S. 22/23. 30 F. Engels/K. Marx, Die heilige Familie, in: MEW, Bd. 2, Berlin 1957, S. 129. 31 K . Marx, Zur Judenfrage, in: MEW, Bd. 1, Berlin 1956, S. 367 und 366.
TOM ROCKMORE
(Québec)
Hegel und die gesellschaftliche Funktion der Vernunft Wenn die Philosophie von positiver gesellschaftlicher Bedeutung sein soll, so ist es offensichtlich notwendig, über die Forderungen nachzudenken, die in ihrem Namen erhoben werden oder erhoben werden können. Im vorliegenden Kontext wird es von Nutzen sein, den Rahmen der Diskussion in zweierlei Hinsicht zu begrenzen. Zum ersten werde ich mich auf die Rolle konzentrieren, die die Philosophie im Unterschied zu ihrer bisherigen Rolle spielen kann oder soll. Demgemäß werde ich nicht erläutern, was die Philosophie in der Vergangenheit war, bis auf einige Anmerkungen dazu, wie selten die Philosophen bereit waren, sich für ihre Überzeugungen zu opfern. Für einen jeden Sokrates oder Spinoza gibt es zu viele Kants, die es vorziehen, sich bescheiden zu unterwerfen. Ich werde auch die gegenwärtige Rolle der Philosophie nicht kommentieren, die unglücklicherweise im allgemeinen zu wenig dazu tut, die Überzeugung zu zerstören, daß sie bestenfalls gesellschaftlich irrelevant ist und schlechtestenfalls dazu dient, gesellschaftliche Veränderung zu verhindern. Zum zweiten werde ich die Diskussion auf eine einzige Auffassung von der gesellschaftlichen Funktion der Philo205
sophie, erläutert an Hegels Standpunkt, beschränken. Dieser Standpunkt ist seit mehr als hundertfünfzig Jahren Gegenstand einer Kontroverse. Diese Kontroverse war sicherlich einer der hervorstechenden Faktoren, die nach Hegels Tod zur Spaltung seiner Anhänger in gegnerische Parteien führte. Da aber dieser Standpunkt anscheinend nicht richtig verstanden worden ist, ist er gegen Kritik nicht so anfällig, wie oft angenommen wird. Die Prämisse zur vorliegenden Diskussion ist einfach aber ausreichend, um einige der üblichen Einwände zu widerlegen, die gegen Hegels Verständnis von der gesellschaftlichen Rolle der Philosophie erhoben worden sind. Von den Anfängen der Philosophie an haben ihre Vertreter ihre Aufgabe als Verteidigung der Vernunft verstanden. Wenn die Philosophie eine gesellschaftliche Rolle und Funktion haben soll, so muß dies vermöge des Begriffs der Vernunft geschehen, den sie vertritt. Bereits im antiken Griechenland scheiden sich Plato und Aristoteles in diesem Punkt, und ihre Nichtübereinstimmung kehrt ceteris paribus im modernen Denken wieder, insbesondere in der aktuellen Diskussion des Verhältnisses von Theorie und Praxis in der Tradition der deutschen Philosophie. Dieses Verhältnis ist ein wichtiges Thema in Kants Denken, obgleich seine Darstellung widerspruchsvoll ist. Aber Hegel, nicht Kant, wird von Generationen von Kommentatoren ob eines Begriffs der Vernunft kritisiert, der seine Forderungen nach ihrem gesellschaftlichen Nutzen nicht rechtfertige. Obgleich Hegels Begriff der Vernunft, auf den sich seine Forderung nach gesellschaftlichem Nutzen der Philosophie stützen muß, allgemein bekannt ist, wird er nicht richtig verstanden. Demzufolge besteht mein Beitrag aus zwei Überlegungen. Erstens möchte ich darlegen, daß im allgemeinen die Kritik, die gewöhnlich gegenüber Hegels Auffassung v o n der gesellschaftlichen Rolle der Philosophie vorgebracht wird, den Begriff der Vernunft, auf dem sie 206
basiert, weitestgehend ignoriert oder zumindest nicht vollständig erfaßt. Zweitens möchte ich darlegen, daß, wenn wir Hegels Begriff der Vernunft untersuchen — vor allem die ihr innewohnende Kreisförmigkeit —, deutlich wird, daß das bekannte Auseinanderklaffen der früheren und späteren Formulierungen seiner Auffassung von der gesellschaftlichen Rolle der Philosophie nur ein scheinbares ist. Das Ergebnis soll eine interessante, von der Gesellschaft mitbestimmte Anschauung über die Rolle der Philosophie zeigen, die sich in ihrer Art beispielsweise vom Kantschen Standpunkt unterscheidet. Hegels Auffassung von der gesellschaftlichen Rolle der Philosophie ist einerseits zwar beständiges Thema seiner Schriften, andererseits aber schwer zu verstehen. Gewissermaßen an Plato erinnernd, besteht Hegel häufig auf der zentralen gesellschaftlichen Bedeutung der Philosophie. So betont er in dem bekannten frühen Brief an seinen Freund und Verleger Niethammer die Entscheidung, seine Kraft der Theorie zu widmen, durch die Bemerkung, daß Ideen, einmal entworfen, nach ihrer eigenen Verwirklichung streben. 1 Später, in seiner Reifephase, in der „Anrede an seine Zuhörer bei Eröffnung der Vorlesungen in Berlin" (1818) betont er die gesellschaftliche Rolle der Philosophie als bedeutsam für die Kultur und als Manifestation der dem Menschen eigenen Fähigkeit in ihrer höchsten Form. 2 Der Unterschied zwischen diesen beiden Ansichten ist offensichtlich. Es ist eine Sache, den gesellschaftlichen Nutzen der Theorie durch die These zu bejahen, daß sie eine 1
„Die theoretische Arbeit, überzeuge ich mich täglich mehr, bringt mehr zustande in der W e l t als die praktische; ist erst das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht aus." (G. W . F. Hegel, Brief an F. I. Niethammer v o m 28. Oktober 1808, i n : Briefe v o n und an Hegel, hg. v o n J. Hoffmeister, Hamburg 1952, S. 253.)
2
V g l . G. W . F. Hegel, System der Philosophie. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, in: Sämtliche Werke, h g . v o n H. Glockner, Stuttgart 1 9 2 7 - 1 9 4 0 , Bd. 8, S. 3 1 - 3 6 .
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positive Rolle bei gesellschaftlicher Veränderung spielen muß. Es ist jedoch etwas anderes, auf der spezifischen Rolle zu bestehen, die der Philosophie aufgrund ihres Mittels zugeschrieben wird, d. h. der reflexiven Form des Denkens, die den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet. Wenn auch der Mensch die Fähigkeit zum Nachdenken besitzen mag, so folgt daraus nicht, daß eine solche Fähigkeit gesellschaftlich nützlich ist. Die Forderung nach einem solchen gesellschaftlichen Nutzen wird jedoch von Hegel in seinen Bemerkungen über die Relevanz der Theorie gegenüber der Praxis erhoben, sowohl im erwähnten Brief als auch an anderem Ort. 3 Gewiß, Hegel hat behauptet, -daß die Philosophie gesellschaftlich nützlich ist. Aber auf Hegelschem Boden scheint diese Behauptung schwer aufrechtzuerhalten gewesen zu sein. Das belegen eine Reihe von Stellen in seinen Schriften, besonders in der Vorrede zu den „Grundlinien der Philosophie des Rechts". Aus theoretischer Sicht wird die Behauptung, daß die Philosophie nur post festum entsteht, häufig so betrachtet, als entziehe sich ihr jegliche nützliche gesellschaftliche Rolle, mit Sicherheit in bezug auf die zukünftige Form der Gesellschaft/» Denn wenn Philosophie erst nach 3
4
Vgl. z. B. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, § 3. „Um noch über das Belebren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat. Dies, was der Begriff lehrt, zeigt notwendig ebenso die Geschichte, daß erst in der Reife der Wirklichkeit das Ideale dem Realen gegenüber erscheint und jenes sich dieselbe Welt, in ihrer Substanz erfaßt, in Gestalt eines intellektuellen Reichs erbaut. Wenn die Philosophie ihre Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug." (G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Vorrede, in: Werke in zwanzig Bänden, hg. von E. Moldenhauer/K* M. Michel, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1970, S. 27/28.)
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der Wirklichkeit entsteht, dann erscheint sie offensichtlich zu spät auf dem Schauplatz, um das zu beeinflussen, was bereits stattgefunden hat und bereits dabei ist, Geschichte zu werden, gerade wenn es endlich erfaßt werden kann. Aus praktischer Sicht erheben seit Erscheinen der „Rechtsphilosophie" viele Kommentatoren auf verschiedene Art und Weise Einwände gegen die vermeintliche Identifizierung der Vernunft selbst mit der zeitgenössischen Realität in Hegels Denken, vor allem gegen eine beabsichtigte Identifizierung der Hegeischen Philosophie mit dem preußischen Staat. Beide Einwände können durch die Bemerkung zusammengefaßt werden, daß Hegel in seinen späteren Schriften zumindest teilweise seinen früheren Glauben an die gesellschaftliche Rolle der Philosophie aufgegeben habe. Nach dieser Interpretation hat das, was einmal eine jugendliche, progressive Denkweise war, einer konservativen, vielleicht reaktionären, jedoch realistischeren Darstellung des gesellschaftlich inkonsequenten Wesens der Philosophie Platz gemacht. Ich habe bereits meine Absicht erklärt, darzustellen, daß Hegels Auffassung vom gesellschaftlichen Nutzen der Philosophie interessanter ist, als oft angenommen wird. Meine Darstellungen sind sicherlich wertlos, wenn sie nicht den erwähnten dagegen erhobenen Einwand widerlegen können. Dieser Einwand betrifft in allen seinen Formen das umfassendere Problem des Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis. Da Kants Standpunkt eine frühe, widersprüchliche Version dieses Verhältnisses enthält, wird es nützlich sein, zunächst diesen zu betrachten. Die Gründe dafür sind einfach. Sie liegen in Hegels Auffassung von der inneren Wechselbeziehung zwischen historischen und systematischen Betrachtungen und des Verhältnisses seines eigenen Bemühens zur kritischen Philosophie. Es ist wohlbekannt, daß Hegel mit der Philosophie seiner Zeit unzufrieden war. Mit Ausnahme Fichtes und 14
Zur Architektonik
209
Schellings hielt er die zeitgenössischen Denker für Repräsentanten der Unphilosophie. Insbesondere war er unzufrieden mit der Aufnahme seines eigenen Denkens. In der Vorrede zur zweiten A u s g a b e der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften" schreibt er, daß die Reaktion der Kritik auf seine Arbeit wenig Befähigung zu dieser A u f g a b e gezeigt habe. Mehr als einmal hat er sich darüber beklagt, daß seine Kritiker es unterlassen hätten, sich mit den Texten auch nur bekannt zu machen. Desweiteren weist er auf das mangelnde Vertrautsein mit abstraktem Denken als ein allgemeines Hindernis hin. 5 Hegels Aufzählung der Hindernisse, die der Würdigung seines Standpunkts entgegenstanden, ist unvollständig. Sie enthält nicht den wesentlichsten Hinderungsgrund, der die Notwendigkeit aufzeigt, sich dem geschichtlichen Hintergrund zuzuwenden. Dieser Hinderungsgrund liegt in Hegels Weigerung, sich der Philosophie als einem völlig systematischen Denken, deutlich in Kants Unterscheidung zwischen der Cognitio ex datiis und der Cognitio ex principiis, zu nähern. 6 Diese Weigerung verpflichtet sowohl Hegel als auch seine Schüler zur Kenntnis der gesamten historischen Tradition. Rosenkranz' bekannte Bemerkung, Hegel reagiere auf alle seine wichtigen Vorläufer, 7 trifft die Sache nur halb. Denn er unterläßt es, Hegels Abhängigkeit von vielen unbedeutenderen Denkern, besonders unter den zeitgenössischen Philosophen, zu erwähnen. U m nur ein Beispiel anzuführen, das im vorliegenden Kontext v o n Bedeutung ist, so kann Hegels wichtigste Lehre v o n der Philosophie als im Wesen kreisförmig nicht ohne Reinholds Standpunkt verstanden werden, der zu ihrer Formulierung führte. Die spezifische Relevanz der kritischen Philosophie ergibt Vgl. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, § 3. 6 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (B), Riga 1787, S. 868. 1 Vgl. K. Rosenkranz, Hegels Leben, Berlin 1844, S. 62. 5
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sich aus Hegels Verständnis des eigenen Denkens in bezug auf Kants Entwurf. Allgemein gesagt, Hegels Standpunkt stellt, dessen war er sich bewußt, einen Versuch dar, die philosophische Revolution, die die kritische Philosophie begonnen hatte, zu Ende zu denken. Insbesondere werden wir sehen, daß sowohl Hegels Auffassung von der gesellschaftlichen Rolle der Philosophie, als auch die hauptsächlichsten Arten der Kritik, die dagegen vorgebracht wurden, in bezug auf Kants Denken verstanden werden können. Indem er den gesellschaftlichen Nutzen der Philosophie verteidigt, tritt Hegel in eine Diskussion ein, die in der griechischen Antike begonnen hat. Nur Plato folgt Sokrates in seiner Auffassung, daß die gerechte Gesellschaft ohne Philosophie nicht existieren kann. Sein Verständnis von der Philosophie als einer notwendigerweise voraussetzungslosen Wissenschaft kann in der Behauptung zusammengefaßt werden, daß reine Theorie praktisch ist. Aristoteles jedoch Vinterschied zwischen reinen und praktischen Formen der Vernunft, um eine ganz andere Schlußfolgerung zu ziehen. Er stellte klar fest, daß reine Theorie ohne praktische Relevanz ist. 8 Nach Aristoteles ist nur praktische Theorie, die ungefähres Wissen liefert, praktisch relevant oder gesellschaftlich nützlich. Die Auseinandersetzung zwischen Plato und Aristoteles bezüglich des gesellschaftlichen Nutzens der Philosophie kehrt in der modernen Philosophie wieder, vor allem in der Diskussion des Verhältnisses von Theorie und Praxis in der deutschen Tradition. In Kants Standpunkt finden wir modifizierte Neuformulierungen beider unvereinbarer Anschauungen. Das Ergebnis ist eine ungelöste Spannung, in Kants Sprache: eine Antinomie, im Kern seines Standpunkts. Einerseits führt Kant Gründe für die Unterordnung der Theorie unter die Praxis an. Sein Interesse, diese Schluß8
Vgl. Aristoteles, Metaphysik 982 b 27-28.
14*
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folgerung zu beweisen, letztendlich durch die Einführung einer dritten Fakultät oder der ästhetischen Vernunft, tritt besonders in den Einleitungen zu den verschiedenen Ausgaben der „Kritik der Urteilskraft" zutage. Hier beweist er, daß die Praxis von der Vernunft, die wiederum von ersterer abhängt, unabhängig ist. Es ist kein Geheimnis, daß diese Einsicht die spätere deutsche Philosophie beeinflußt hat. Fichte hat beispielsweise beibehalten, daß die Rolle der Philosophie auf theoretischer Ebene in der Lösung der Probleme besteht, die aus dem gesellschaftlichen Kontext entstehen. Diese allgemeine Ansicht ist offenbar eine spätere Form der aristotelischen Behauptung, daß die Theorie von ihrem Gegenstand nicht unabhängig ist, sondern vielmehr durch ihn bedingt ist. Andererseits bleibt Kant dabei, daß die Theorie die Praxis subsumiert oder vollständig einschließt. 9 Vielleicht besteht Kant aus diesem Gr.unde gelegentlich auf dem notwendigen Nutzen der Theorie als solcher, z. B. in seiner Auffassung von der Philosophie als Conceptus cosmicus, der notwendigerweise die gesamte Menschheit interessiert. 10 Diese Behauptung kennzeichnet offenbar eine bedingte Rückkehr zur ursprünglichen Auffassung Piatos von der reinen Theorie als praktisch nützlich. Kants Darstellung des Nutzens der Vernunft ist widerspruchsvoll, denn es kann nicht sein, daß die Theorie die Praxis sowohl vollständig enthält, als auch von ihr abhängt. Es folgt, daß Kant, der die Bedeutung des Zusammenhangs anerkennt, nicht in der Lage ist, entweder eine annehmbare Analyse desselben zu geben oder den gesellschaftlichen Nutzen der Philosophie zu rechtfertigen. Hegel dagegen Vgl. I. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 6, Berlin 1923, S. 273—313. 10 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (B), S. 868. 9
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besteht häufig auf der Einheit von Theorie und Praxis, was nicht dasselbe ist wie ihr Beweis. Es ist verbürgt, daß viele Kommentatoren Hegel seine angebliche Unfähigkeit, eine kohärente Form dieses Zusammenhanges zu schaffen, vorwarfen. An dieser Stelle möchte ich drei allgemeine Formen der verschiedenen Einwände betrachten, die gegen Hegels Auffassung vom gesellschaftlichen Nutzen der Philosophie durch die Kritik des Verhältnisses von Theorie und Praxis in seinem Standpunkt erhoben wurden. Die erste, und meiner Meinung nach schwächste Kritik wird selten direkt vorgebracht, sondern scheint hinter der Überzeugung zu stecken, daß die Theorie in bezug auf die Praxis indifferent sei. Ein Einwand dieser Art folgt direkt aus, der Kantschen Aufnahme der Praxis in die Theorie, die dementsprechend ohne Belang für die Erarbeitung einer Anleitung zum Handeln ist. Offensichtlich basiert Kants ethische Theorie auf der scharfen Unterscheidung zwischen dem Sein u'nd dem Sollen. Genauso offensichtlich ist, daß diese Unterscheidung für jemanden, der eingehend, zumindest aber mehr als oberflächlich mit Hegels Denken vertraut ist, keine angemessene Grundlage für einen Einwand gegen Hegels Denken bietet. Allgemein gesagt, kann die „Rechtsphilosophie" als eine verbesserte Form der „Politik" des Aristoteles betrachtet werden, mit einem Wort, als allgemeine Theorie des modernen gesellschaftlichen Kontexts. Hegels spezifisches Interesse an dem Verhältnis zwischen Theorie und Praxis wird an vielen Stellen in dieser und anderen Schriften erwähnt. Ein zweiter, unbequemerer Einwand liefert durch die Verneinung der These, daß die Theorie, oder zumindest eine Form davon, in der Lage sei, den gesellschaftlichen Kontext oder die Praxis zu erfassen, eine dialektische Antwort auf Hegels Bejahung. Die Inspiration eines solchen Einwands durch Kant wird deutlich, wenn wir den angeblich nicht erkennbaren gesellschaftlichen Kontext durch das Ding an 213
sich ersetzen. Es ist schwerer aufzuzeigen, daß Hegels Stand-, punkt unzulänglich für das Erfassen der gesellschaftlichen Realität ist, obgleich dies oft behauptet wird, in unserer Zeit in augenfälliger Weise von Georg Lukäcs in vielen Schriften. 11 Bei seinem Einwand bezieht sich Lukäcs auf eine angenommene Unterscheidung zwischen Theorien, die aufgrund einer besonderen Ansicht zum Erfassen des gesellschaftlichen Kontexts geeignet sind, und Theorien, die für diese Aufgabe prinzipiell ungeeignet sind. Der Unterschied jedoch, auf den sich diese Differenzierung bezieht, scheint zu verschwinden, zumindest nach Lukäcs' Formulierung, wenn er auf Hegel zur Anwendung kommt. Denn Lukäcs betont ganz zu recht, daß im Kontext der deutschen Philosophie Hegel der erste Denker ist, der mehr als nur vage Kenntnisse von der politischen Ökonomie hat. Diese Kenntnisse werden in einer Vielzahl Schriften deutlich, vor allem in der bedeutenden Diskussion des „Systems der Bedürfnisse" in der „Rechtsphilosophie". Der dritte Punkt, der ebenfalls von Kant beeinflußt ist, betrifft Hegels angebliche fälschliche Gleichsetzung von Sein und Sollen. Seit Veröffentlichung der „Rechtsphilosophie" ist dieser Gedanke von vielen Kommentatoren auf verschiedene Art und Weise formuliert worden. 12 Es würde zu weit führen, die Vielzahl der Formen, in denen dieser Einwand vorgebracht wurde, näher zu betrachten. Es sei nur soviel gesagt, daß das Erfassen der allgemeinen Natur des Einwands den notwendigen Anhaltspunkt für eine angemessene Erwiderung bietet. 11
Dieses Argument wird von Lukäcs an vielen Stellen angeführt, insbes. in „Geschichte und Klassenbewußtsein", „Der junge Hegel" und „Ontologie des gesellschaftlichen Seins".
12
Zu diesen Kommentatoren gehören: Feuerbach, Marx, Haym, Carritt, Hook,
Ritter,
Fulda, Habermas, Theunissen, Riedel und Rosen. — Zur
gegenwärtigen Diskussion vgl. R. B. Pippin, The Rose and
the Owl:
Some Remarks on the Theory-Practice Problem in Hegel, in: The Independent Journal of Philosophy, 3 (1979), S. 7 - 1 6 .
214
In all seinen vielen Formen setzt dieser Einwand voraus, daß Hegels Verhältnis zum preußischen Staat eine unerträgliche, aber notwendige, zumindest nicht völlig nebensächliche Folge seines Standpunkts ist. Offenbar wird mit dieser Art Einwand beabsichtigt, Hegels Forderung nach gesellschaftlichem Nutzen der Philosophie per modus tollens zu widerlegen, d. h. als unannehmbare Folgen, zu denen sein Standpunkt führen muß und in der Tat führt. Da es aber nie bewiesen und nur behauptet wurde, daß Hegels Verhältnis zum preußischen Staat Ergebnis seines Standpunkts ist, kann diese Form der Kritik nicht unbeanstandet bleiben. Genauer gesagt, sie kann nicht als praktische Widerlegung Hegels theoretischer Auffassung von der gesellschaftlichen Rolle der Philosophie akzeptiert werden. Und in der Tat, eine genauere Untersuchung der Details dieses Verhältnisses genügt, um die vielen weitverbreiteten Meinungen darüber in Zweifel zu zeihen, die in der Hegel-Diskussion häufig vorgetragen werden. 1 3 Ergebnis der vorliegenden Betrachtung sollen zwei Schlußfolgerungen sein. Erstens: Manche, vielleicht alle wesentliche Kritik an Hegels Auffassung von der gesellschaftlichen Rolle der Philosophie basiert zumindest lose auf der kritischen Philosophie. Zweitens: Keine dieser Kritiken ist hinreichend, diese Auffassung zu widerlegen. In gewisser Hinsicht spricht keine dieser Kritiken Hegels Auffassung eigentlich auch nur an, da keine die zentrale Frage nach dem besonderen Begriff der Vernunft, anhand dessen Hegel für diesen Standpunkt Gründe anführt, erhebt. Um das Verhältnis zwischen Hegels Begriff der Vernunft und seiner Auffassung von der gesellschaftlichen Rolle der Philosophie zu beschreiben, müssen wir uns zunächst seinem Begriff der Vernunft zuwenden. Z u m Teil wird auf Grund 13
Vgl. S. Avineri, Hegel's Theory of the Modern State, London 1974, insbes. Kap. 6: The Owl of Minerva and the Critical Mind, S. 115-131.
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des Ignorierens des geschichtlichen Hintergrunds dieser Begriff nur selten verstanden. Bereits in der Differenzschrift, in Hegels erster philosophischer Veröffentlichung, finden wir Grundzüge des Begriffs der Vernunft, den er später weiterentwickelt, aber nie wesentlich modifiziert oder aufgibt. Im vorliegenden Kontext genügt es, zwei Merkmale dieses Begriffes zu erwähnen, die beide deutlich in Beziehung zur kritischen Philosophie stehen. Das erste und bekanntere Merkmal ist die Fähigkeit der Vernunft zu objektiver Synthese. In seiner Darstellung der Notwendigkeit der Philosophie schreibt Hegel, daß sie aus der Dichotomie entsteht, da „Entzweiung . . . der Quell des Bedürfnisses der Philosophie"14 ist. Und er schreibt weiter: „Solche festgewordene Gegensätze aufzuheben, ist das einzige Interesse der Vernunft." 15 So signalisiert Hegel seinen Widerstand gegen alle Formen von Dichotomie insgesamt, gegen Kants Begriff des Verstands im besonderen. In Hegels Darstellung erzeugt der Verstand nicht die gegliederte Einheit, die sich aus der Vernunft ableitet, sondern geht ihr voraus. 16 Das zweite, weniger bekannte und wenig verstandene Merkmal des Hegeischen Begriffs der Vernunft ist die ihr innewohnende Kreisförmigkeit. 17 Dieses Merkmal wird oft erwähnt, aber selten detailliert behandelt, obgleich es in Hegels Erkenntnistheorie ein zentraler Punkt ist. Allgemein gesagt, Hegels Bestehen auf der inneren Kreisförmigkeit der Vernunft ist Ergebnis des von Reinhold begonnenen und von anderen fortgeführten Versuchs, die kritische PhilosoM G. W . F. Hegel, Jenaer Schriften (1801-1809), in: Werke in zwanzigBänden, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1969, S. 20. « Ebenda, S. 21. 1 6 Vgl. z. B. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, § 11. 17 Zur gegenwärtigen Diskussion vgl. meinen Beitrag: Hegel's Circular Epimistology, Bloomington 1986.
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phie in systematischer Form neu aufzubauen. Obgleich Kant die Notwendigkeit des Systems als einzig annehmbare Form der Wissenschaft behauptete, lieferte er es innerhalb seines eigenen Denkens nicht. Die komplexe Diskussion des systematischen Neuaufbaus der Ergebnisse der kritischen Philosophie umfaßt neben Reinhold Maimon, Bardiii, Schulze ( = Aenesidemus), Fichte, Schelling, Hegel, Fries etc. Für unsere Zwecke reicht es aus, drei Linien in der Systemdiskussion in der Tradition des deutschen Idealismus zu unterscheiden. Zum ersten: Reinholds quasi-rationalistisches Bestreben, das Wissen auf einem Anfangsprinzip zu begründen, das er in seiner Elementarphilosophie Vorstellungsvermögen nennt. Zweitens: Fichtes gegen Reinhold gerichtete Behauptung, daß ein wirkliches Anfangsprinzip nicht innerhalb eines Systems aufgestellt werden kann, dessen Aufgabe darin besteht, es zu ermitteln. Aus diesem Grunde behauptet Fichte, daß die Philosophie notwendigerweise eine kreisförmige Form annehmen muß. Die Bedeutung dieses Gedankens, die nur selten beachtet wird, wurde von Hegel unverzüglich gewürdigt. In einer dritten Phase der Diskussion folgert er, daß, obwohl die Vernunft ihrem Wesen nach kreisförmig ist, ihre Forderungen an die Erkenntnis anhand ihrer Ergebnisse gerechtfertigt werden können. Diesen Gedanke«, der ihn auf eine Form von Pragmatismus vor Marx und dem Marxismus festlegt, formuliert Hegel an mehreren Stellen. Am Ende der Differenzschrift wird dieser Gedanke im Vergleich zwischen philosophischer Rechtfertigung und der Bildung eines Kreises deutlich. 18 In der 18
Vgl. G . W. F. Hegel, Jenaer Schriften (1801-1809), i n : Werke in zwanzig Bänden, Bd. 2, a . a . O . , S. 122: ,,[A]ls objektive Totalität begründet das Wissen sich zugleich immer mehr, je mehr es sich bildet, und seine Teile sind nur gleichzeitig mit diesem Ganzen der Erkenntnis begründet. Mittelpunkt und Kreis sind so aufeinander bezogen, daß der erste A n f a n g des Kreises schon eine Beziehung auf den Mittelpunkt ist, und dieser ist nicht ein
vollständiger Mittelpunkt, wenn nicht alle seine Beziehungen, der
ganze Kreis, vollendet sind . . ."
217
„Enzyklopädie" ist der gleiche Gedanke im ersten Satz des ersten numerierten Abschnitts enthalten, in dem Hegel die Philosophie als eine notwendigerweise voraussetzungslose Wissenschaft definiert. 19 Durch das Fehlen der naiven griechischen Ontologie oder des cartesischen Fundamentum inconcussum legt die Annahme dieser besonderen Definition Hegel auf die Behauptung fest, daß die Rechtfertigung des Fortschreitens der Philosophie nur in dessen Ergebnis liegen kann. Hegels Beharren auf der Kreisförmigkeit der Vernunft genügt, um den Vorwurf der Inkonsequenz zu zerstreuen, die viele darin sehen, daß er in seiner frühen Phase die Vernunft als dem Ereignis vorausgehend betont, während er später erklärt, daß die Philosophie erst post festum kommt. Seine Ansicht ist, daß das Denken einer gegebenen Phase der gesellschaftlichen Entwicklung sowohl vorausgeht, als auch folgt. Offensichtlich ist die bewußte Kenntnis von Ideen für ihre spätere gesellschaftliche Realisierung von Bedeutung. Aber die richtige Einschätzung einer gegebenen Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung kann erst nach dem Faktum erfolgen. Wenn die Praxis nicht in Theorie aufgelöst werden soll, müssen wir ihr erlauben, sich zu entfalten, um sie zu begreifen. Um es zusammenzufassen: Für Hegel liegt der gesellschaftliche Nutzen der Philosophie in einem kreisförmigen Verhältnis zum geschichtlichen Kontext, dessen Formen sie vorausgeht und ermöglicht, denen sie folgt und die sie bewertet. Unmittelbare Absicht dieses kurzen Beitrags ist es, Hegels häufig kritisierte, aber größtenteils mißverstandene Auffas19
Vgl. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, in: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 8, Frankfurt a. M. 1970, S. 41: „ D i e Philosophie entbehrt des Vorteils, der den anderen Wissenschaften zugute kommt, ihre Gegenstände als unmittelbar v o n der Vorstellung zugegeben sowie die Metbode des Erkennens für Anfang und Fortgang als bereits angenommen voraussetzen zu können."
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sung von der gesellschaftlichen Funktion der Philosophie anhand seines Begriffes der Vernunft verständlich wiederzugeben. Wir können mit einer Schlußfolgerung aus dieser Auffassung abschließen, die auf einen wesentlichen Unterschied zur kritischen Philosophie hinweist. Wie festgestellt, folgt Kant Plato, wenn er den gesellschaftlichen Nutzen der Vernunft als solchen geltend macht. Im Gegensatz dazu ist es für Hegel nicht die Vernunft als solche, die nützlich ist. Nur jene Form der Vernunft ist nützlich, die kritisch ist. Aus gesellschaftlicher Sicht heißt das: Wenn der Philosoph die Welt, in der er lebt, nicht kritisch betrachtet, um sie zu verbessern, so wird er seiner Aufgabe, der Verteidigung der Vernunft, in keiner Weise gerecht.
ANTONIO
GARGANO
(Neapel)
Die gegenwärtige Krise der Philosophie und der Mut des Denkens In jeder Epoche ihrer Entwicklung hat die Zivilisation aus ihren griechischen Quellen, den Quellen des Logos, geschöpft. In den Augenblicken des Vorwärtsstürmens der Menschheit haben die intellektuellen Avantgarden das Bewußtsein bekräftigt, daß der Mensch jedes Geheimnis der Wirklichkeit ergründen kann, weil sein Verstand, seine Vernunft von gleicher Art ist wie die Vernünftigkeit der Welt, wie die grundlegenden Gesetze der Wirklichkeit. In umgekehrter Weise verfestigten sich in Krisenepochen wie der unsrigen die Spaltung zwischen Subjekt und Objekt, wird die unendliche Entfernung des Menschen von der Welt und daher ihre grundlegende Unerkennbarkeit behauptet. Alles Nachdenken konzentriert sich auf das Ich. Es greifen Solipsismus, Existenzialismus, verschiedenartige Formen des Irrationalismus und des Mystizismus um sich, die die Augen vor den vielfältigen Äußerungendes Wirklichen verschließen. Der Mensch wird in die Position des Schiffbrüchigen gedrängt, dem der Philosoph rät, sich nicht in die gefährlichen Wogen des „Ding an sich" zu wagen, sondern lieber in der Sicherheit der kleinen Insel der eigenen Subjektivität zu bleiben.
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Die eigentlichen Grundlagen der Zivilisation findet man im klassischen Griechenland wieder, und man muß mit Hegel wiederholen: „Bei dem Namen Griechenland ist es dem gebildeten Menschen in Europa, insbesondere uns Deutschen, heimatlich 2umute . . . das Hier, das Gegenwärtige, Wissenschaft und Kunst, was unser geistiges Leben befriedigend, es würdig macht sowie ziert, wissen wir v o n Griechenland ausgegangen, direkt oder indirekt — indirekt durch den Umweg der R ö m e r . " 1 V o r allem ist uns von Griechenland das stolze Bewußtsein v o n der Erkenntnisfähigkeit des Menschen überkommen, deren Grenzen nur die Grenzen der Welt selbst sind, wi6 es Lucretius besingt: „ D a erkühnte zuerst sich ein Grieche, das sterbliche A u g e / Gegen das Scheusal zu heben und kühn sich entgegenzustemmen. / Nicht das Göttergefabel, nicht Blitz und Donner des Himmels / Schreckt' ihn mit ihrem Drohn. Nein, um so stärker nur hob sich / Höher und höher sein Mut. So wagt' er zuerst die verschlossnen / Pforten der Mutter Natur im gewaltigen Sturm zu erbrechen. / Also geschah's. Sein mutiger Geist blieb Sieger, und kühnlich / Setzt' er den Fuß weit über des Weltalls flammende Mauern / Und er durchdrang das unendliche All mit forschendem Geiste." 2 Die Objektivität, die Regelmäßigkeit, die Vernünftigkeit der Weltordnung bestimmen die große Intuition des griechischen Genius: „Diese Welt, dieselbige von allen Dingen, hat weder der Götter noch der Menschen einer gemacht, sondern sie war immer und ist und wird immer sein ein ewig lebendiges Feuer, nach Maßen sich entzündend und nach Maßen erlöschend." 3 Ödipus, ein griechischer Mansch, 1
2
3
G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1974, S. 173. Lucretius, De rerum naturae. — Vgl. die Übersetzung von Hermann Diels in der Ausgabe: Lukrez, Über die Natur der Dinge (Philosophische Bücherei, Band 12), Berlin 1957, S. 30/31. Herakleitos, Fragment 30, vgl. die Übersetzung von Wilhelm Capelle, in:
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enthüllt das Rätsel der Sphinx. Das Mysterium, das dem Menschen im asiatischen Orient droht und ihn erdrückt, ist aufgelöst: der Mythos überläßt den Platz dem Logos. Das Licht der Vernunft kann überall eindringen: das Maßlose ist auf das Maß reduziert: „Die orientalische maßlose Kraft der Substanz ist durch den griechischen Geist zum Maße gebracht und in der Enge gezogen worden. Er ist Maß, Klarheit, Ziel, Beschränkung der Gestaltungen, Reduktion des Unermeßlichen, des unendlich Prächtigen und Reichen auf Bestimmtheit und Individualität." 4 Die Kommensurabilität des Wirklichen mit dem Geist des Menschen, das Geschenk Griechenlands an die Zivilisation, kennzeichnet jede Epoche des Fortschritts. Es genügt, an das italienische Rinascimento und selbst an die große Blütezeit der klassischen deutschen Philosophie in unmittelbarer Nähe der französischen Revolution und der schöpferischen und fortschrittlichen Entwicklungsphase der Bourgeoisie zu denken. In der großen monistischen Philosophie Hegels wird das Wirkliche mit dem Vernünftigen nach der berühmten Formel versöhnt: „Alles was wirklich ist, ist vernünftig, alles was vernünftig ist, ist wirklich." Die Tendenz des Denkens geht dann aber nach der Auflösung des Hegelianismus in jene bereits von Lukács festgestellte und heute noch andauernde Richtung „Herabsetzung von Verstand und Vernunft, kritiklose Verherrlichung der Intuition, aristokratische Erkenntnistheorie, Ablehnung des gesellschaftlich-geschichtlichen Fortschritts, Schaffen von Mythen usw. . . ." 5 Dieser Typologie können heute andere Elemente, andere Formen der Manifestation des Die Vorsokratiker. Die Fragmente S. 142. 4
5
und
Quellenberichte, Berlin 1961,
G. W . F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a. a. O., S. 177. G. Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Darmstadt — Neuwied 1974, S. 15.
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Irrationalismus hinzugefügt werden: die Tendenz zu einem erbitterten Formalismus, der jeglichen historischen Inhalt aus dem Denken ausmerzt und die Philosophie auf Logik reduziert, das Umsichgreifen verschiedener Formen des mystifizierenden Solipsismus, eine kleinliche philologische Forschung bar jedes auslegenden Elements und in platter positivistischer Weise, denen eine raffinierte Hermeneutik begegnet, die dagegen die Unerklärbarkeit des Textes und der Interpretation vorschlägt und in Subjektivismus verfällt. Diese vektorischen Kräfte ergeben eine einzige Resultante: den Relativismus und den Skeptizismus. Von einem rein historisch-philosophischen Standpunkt aus haben all diese Manifestationen des Irrationalismus nach letzter Analyse ihren Ursprung in der Wiederaufnahme des Kantschen Dualismus, unter dessen Zeichen man vielleicht die Parabel der gesamten nachhegelschen Philosophie lesen kann: vom Positivismus zu den positivistischen Reduzierungen des Marxismus der Zweiten Internationale, vom Neopositivismus zur Phänomenologie und zum Existentialismus. Bertrando Spaventa, der größte iinter den Hegelianern Neapels, sah bei Begründung des Konzepts der „Zirkularität des europäischen Geistes" im Denken Hegels den Endpunkt des modernen Denkens, „insofern dies frei ist von allen Widersprüchen und Unvollkommenheiten der vorangegangenen Prinzipien, weil es sie bereits in sich selbst gelöst und begriffen hat, weil es in sich selbst die gesamte Realität des menschlichen Bewußtseins umgestaltet hatte und darum vollkommen adäquat zur Realität selbst ist". 6 Aus jenem Prinzip entsprang für Spaventa die dialektische, nicht zufällige, sondern notwendige Aufeinanderfolge aller „haupt6
Vgl. B. Spaventa, Prolusione e Introduzione alle Lezioni di filosofia nell' Università di Napoli, 23. novembre—23. dicembre 1861 (1908 neuveröffentlicht von G. Gentile unter dem Titel: La filosofia italiana nelle sue relazioni con la filosofia europea).
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sächlichen Stationen der Geschichte der Philosophie". Diese hatte daher eine Notwendigkeit, eine Logik. Gerade nach Hegel ist die Geschichte der Philosophie keine Galerie willkürlicher Meinungen, keine Aufeinanderfolge von Persönlichkeiten, die subjektive und unter sich gleichwertige Weltanschauungen zum Ausdruck bringen: „Die Philosophie aber enthält keine Meinungen; es gibt keine philosophischen Meinungen. Man hört einem Menschen — und wenn es auch selbst ein Geschichtsschreiber der Philosophie wäre — sogleich den Mangel der ersten Bildung an, wenn er von philosophischen Meinungen spricht. Die Philosophie ist objektive Wissenschaft der Wahrheit, Wissenschaft ihrer Notwendigkeit, begreifendes Erkennen — kein Meinen und kein Ausspinnen von Meinungen." 7 Die Geschichte der Philosophie als Erforschung ihrer inneren Entwicklungslogik entsteht mit Hegel: Auch wenn diese Geschichte entgegengesetzte Systeme vorzustellen scheint, ist sie tatsächlich von einem einzigen Prinzip getragen, das identifiziert werden kann. Die Existenz von entgegengesetzten philosophischen Systemen ist kein Argument zugunsten des Skeptizismus, wohl aber zugunsten einer dialektischen Theorie der Geschichte des Denkens. Der Skeptizismus, die Behauptung der Gleichwertigkeit der philosophischen Positionen ist tatsächlich falsch, ist nicht Ergebnis und Te/os der Geschichte der Philosophie, sondern eine spezifische Position, die durch ihre Parteilichkeit selbst überwunden wird. Der Skeptizismus gibt vor, jenseits der Geschichte der Philosophie selbst zu stehen, sich dem Urteilsspruch der Parteilichkeit und der historischen Begrenztheit zu entziehen, der über die anderen Positionen ausgesprochen wurde. Hegel zeigt jedoch, daß er seinerseits eine wohl determinierte, historische Position bildet. Seine Geschichtlichkeit — wie 7
G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a. a. O., S. 30.
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andererseits auch die aller anderen Denkformen — impliziert aber nicht, daß das geheime Schicksal der Geschichte der Philosophie der Relativismus sei. „Es ist nicht einzusehen", argumentiert Vittorio Hösle, „warum dem gegenwärtigen geschichtlichen Relativismus ein anderes Los beschieden sein sollte, warum gerade er mehr als ein historisches Zufallsprodukt sein sollte, auf dessen baldige Erledigung begründete Zuversicht besteht, im Gegenteil: Gerade die Geschichte der Philosophie legt diese Annahme nahe." 8 Der Vernunft des Menschen kommt die Aufgabe zu, die historische Wirklichkeit zu lenken und diese menschliche Welt der Willkür, dem partikulären Willen und der Brutalität der Beziehungen der Gewalt zu entziehen. Tatsächlich ist sie hingegen heute nicht einmal in der Lage, ihren eigenen historischen Weg zu erfassen. Es blühen unzählige und sterile philologische Studien zur Geschichte des Denkens, bar jeder interpretierenden Dimension (während das systematische Denken leer wird, jeden Inhalt, jede Beziehung zur historischen Wirklichkeit verliert). Es ist wahr: „Die Philosophie der Gegenwart wird immer mehr zu einer Philosophiehistorie ohne Philosophie." 9 Für die antiken Lateiner behauptete Giambattista Vico: „Für die Lateiner sind die Begriffe des .Wahren' und des .Geschaffenen' miteinander vertauschbar, oder, wie man sich gemeinhin im Sprachgebrauch der Schulen ausdrückt, konvertibel (verum et factum . . . convertuntur)."10 Es ist nötig, daß die Philosophie heute erneut den von Vico gewiesenen Weg beschreitet, jenen der Neuen Wissenschaft der Geschichte, und 8
V . Hösle, Wahrheit und Geschichte. Studien zur Struktur der Philosophiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Piaton (Reihe „Elea" des Istituto Italiano per gli Studi Filosofici), Stuttgart-Bad Cannstatt 1984, S. 49.
9 Ebenda, S. 22. 10
G . B. Vico, Liber metaphysicus (De antiquissima italorum sapientia, Uber primus I, 1) aus dem Lat. und Ital. ins Dt. übertragen v o n St. Otto und H. Viechtbauer, München 1979, S. 35.
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Zur Architektonik
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dabei der Spaltung zwischen Wahrem und Tatsache ein Ende setzt, die sie steril und leer macht, während das Gespräch über die Welt des Menschen der Rhetorik und pseudowissenschaftlichen Diskursen positivistischen Schlages wie jenen der Humanwissenschaften überlassen wird. Die große griechische Intuition vom Zusammenfallen des menschlichen Logos und des universellen Logos, die Hegeische Koinzidenz von Wirklichem und Vernünftigem — ein Zursammenhang, der auch der theoretischen Kraft von Marx und Lenin, die aus der Hegeischen Dialektik schöpften, gegenwärtig blieb —, ist heute in der bürgerlichen Betrachtung der menschlichen Gesellschaft vergessen; sie scheint nur noch recht und schlecht in der Entwicklung der Naturwissenschaften zu leben. Und gerade von dem größten Wissenschaftler unserer Epoche, Albert Einstein, kommt die Aufforderung, die menschlichen Geschehnisse nicht in den Herrschaftsbereich des Zufalls zu verbannen. Einstein führte einen großen Teil der inneren Armut, die die Menschheit unseres Jahrhunderts ausdörrt, auf die „Gewohnheit zur Interpretierung aller Erscheinungen auf der Grundlage des Zufalls" zurück, auf eine Gewohnheit, die — auch bei den aufmerksamsten Intellektuellen — die Fähigkeit zur Orientierung schwächt und die in ihrer Folge ein Gefühl des Unbehagens einflößt und zum Prohabilismus, zum Skeptizismus und schließlich zum Zynismus hinführt. In einer Situation wachsender Desorientierung — oft verborgen hinter ostentativen, unsicheren und unbegründeten Gewißheiten der Bequemlichkeit — rief Einstein dazu auf, die Aufmerksamkeit auf den Philosophen zu richten, den er immer als den ihm selbst am nächsten empfunden hat, auf Spinoza: „Obwohl Spinoza dreihundert Jahre vor unserer Zeit gelebt hat, ähnelt die geistige Situation, der er begegnete, um ihr kühn entgegenzutreten, der unsrigen in besonderer Weise." 11 11
A . Einstein, Einführung zu: R. Kayser, Spinoza. Portrait of a Spiritual Hero, New Y o r k o. J., S. XI.
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Noch heute ist also das Beispiel des holländischen Philosophen gültig: die Bemühung um das Erfassen der kausalen Zusammenhänge aller Erscheinungen, um das Erfassen der jedem Ereignis innewohnenden Notwendigkeit, und vor allem — schloß Einstein, 12 hat Spinoza uns einen Schatz überlassen — die Kohärenz in der exemplarischen Gestaltung der eigenen Existenz in Übereinstimmung mit dieser Vision von der Wirklichkeit, ohne sich in vereinfachter und hypokritischer Weise darauf zu beschränken, sie bloß zu verkünden. Einstein zeigt also mit Spinoza den Weg der äußersten intellektuellen Strenge und des dementsprechenden folgerichtigen Ausrichtens des eigenen Verhaltens: die Gründe der Realität erforschen und gemäß diesem Streben nach Vernünftigkeit zu leben — wie man leben muß, nicht wie es sieb bietet zu leben, sich nicht der zu ergreifenden Gelegenheit, dem Zufall, dem Zufälligen überlassend. Wenn Einstein glaubte, daß „die Welt auf die Vernunft gegründet ist und begriffen werden kann", scheint es hingegen, daß heute der bedeutendste Teil der Menschheit nur die Beute von rhetorischen, apologetischen, mystischen, irrationalistischen Diskursen ist, auch wenn diese sich unter den Gewändern der Wissenschaft präsentieren. Der Rhetorik der moralistischen Diskurse, die auf abstrakte aufklärerische Kategorien gegründet sind (formale Freiheit, Fortschritt, Suche nach dem Glück usw.: es scheint, daß die gesamte Denkarbeit zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, die aus dem kritischen Nachdenken über die Bedeutung der Französischen Revolution geboren war, von den heutigen Intellektuellen beseitigt worden ist), steht das Wuchern von Diskursen der Nationalökonomen gegenüber (unveränderlich ökonomistischer Art), der Soziologen, der Psychologen, die nur Ausschnitte der zeitgenössischen Wirklichkeit aufgreifen, 12
Ebenda.
15*
227
Fragmente, von denen ausgehend ungebührliche Verallgemeinerungen abgeleitet werden. Die Totalität des historischen Szenariums und die Gesamtheit ihrer Vermittlungen entschwinden vollständig. Es gibt Gelegenheit, an die Worte Piatons zu erinnern: „Die jetzigen Weisen unter den Menschen setzen Eines, wie sie es eben treffen, und Vieles schneller oder langsamer als es sich gehörte, nach dem Einen aber gleich Unendliches; das in der Mitte hingegen entgeht ihnen, wodurch doch eben zu unterscheiden ist, ob wir in unsern Reden dialektisch oder nur streitsüchtig miteinander verfahren." « Die Philosophen verzichten also auf ihre spezifische Funktion, die darin besteht, „die eigene Zeit durch das Denken zu erfassen", die Welt des Menschen in einem konzeptionellen Licht zu interpretieren, das Szenarium der Geschichte durch die Vernunft zu beleuchten. Mehr noch als der Natur selbst ist die Vernunft der „zweiten Natur" zugemessen, jener der Institutionen, der Schöpfungen des menschlichen Geistes, der Beziehungen zwischen den Menschen. Die Welt der Nationen oder die ^ivile Welt, um noch einen Ausdruck von Giambattista Vico zu gebrauchen, ist tatsächlich wegen ihres Wesens dem Verständnis des Menschen gegenüber offener, weil sie nicht die natürliche Welt selbst ist: „. . . daß diese historische Welt ganz gewiß von den Menschen gemacht worden ist: und darum können (denn sie müssen) in den Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes ihre Prinzipien aufgefunden werden. Dieser Umstand muß jeden, der ihn bedenkt, mit Erstaunen erfüllen: wie alle Philosophen voll Ernst sich bemüht haben, die Wissenschaft von der Welt der Natur zu erringen; welche, da Gott sie geschaffen hat, von ihm allein erkannt wird; und vernachlässigt haben nachzudenken über die Welt der Nationen, oder historische Welt, die die Menschen erkennen können, weil sie die Menschen 13 Platón, Philebos, 17 a.
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geschaffen haben", behauptet Vico, 14 wobei er das Baconsche Konzept von der Wissenschaft als Wissen vermöge der Ursachen wieder aufgreift und umwandelt. Unter den verschiedenen Spaltungen unserer Epoche ist besonders verhängnisvoll jene zwischen dem Erkenntnisvermögen und der Welt der Zwecke. Der Raum der Vernunft ist stark eingeengt: ihr verweigert man gerade die Möglichkeit, die Zwecke zu bestimmen, die doch aber das Handeln des Menschen orientieren müßten. Die Vernunft, auf den einfachen Rang „instrumentaler Vernunft" reduziert, verkehrt sich in ihr Gegenteil. Die Ziele des menschlichen Handelns werden grundsätzlich der Gewalt des Irrationalen überlassen, also des individuellen Interesses und Willens — Beweggründen, die jedenfalls der Universalität der Vernunft entgegengesetzt sind. Und die Abdankung der Vernunft zugunsten der destruktiven Kräfte, der Verzicht auf jede universelle Perspektive zugunsten scheeler Partikularismen, der Abschied von den Hoffnungen auf Gleichheit zwischen den Menschen im Namen der faktischen Ungleichheiten (beschönigt und gerechtfertigt durch „technische" und fachmännische Diskurse), das ist der Bankrott der Intellektuellen. In dieser Situation ist ein Wiedererkennen der Zwecke notwendig, die die Menschheit verfolgen muß — auf der Grundlage einer rationalen Analyse der Wirklichkeit und somit gestützt auf das gesamte Erbe der philosophischen Tradition und des wissenschaftlichen Denkens. Die Philosophie muß die Richtungen des Weges der Menschheit, die zu durchlaufenden Wege aufzeigen, um die Beziehungen zwischen den Menschen vernünftiger zu gestalten, um die Welt menschlicher zu machen. Sie muß sich mit Macht als zivile Philosophie bekennen. Es gibt wahrlich das Bedürfnis, 14
G. B. Vico, Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Nach der Ausgabe von 1744 übersetzt und eingel. von E. Auerbach, Bd. 1, München 1924, S. 125.
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um einen v o n Manfred Buhr geschätzten A u s d r u c k aufzugreifen, nach dem „ M u t des D e n k e n s " . E i n großer E x p o n e n t des italienischen bürgerlichen H u m a n i s m u s , L e o n a r d o Bruni, sah in der Episto/a, mit der er an Papst E u g e n i o I V . seine Ü b e r s e t z u n g der Politik des Aristoteles übersandte, die klassische K u l t u r in den Lehren kulminieren, „ d i e die Staaten und ihre R e g i e r u n g bet r e f f e n " . D i e s e Lehren bilden in ihrer Gesamtheit eine Disziplin, die „ d a r a u f abzielt, allen Menschen das G l ü c k zu vers c h a f f e n " : „ . . . e s kann für den Menschen keine vorteilhaftere Disziplin der Erkenntnis geben als über die Stadt und den Staat, auf welche Weise sich die Gesellschaft erhält und wie sie u n t e r g e h t . " 1 5 U n d ein anderer Humanist, Coluccio Salutati, brachte in einer komprimierten F o r m e l das Lebensideal jener Intellektuellen z u m A u s d r u c k , die in der Wiederentdeckung der klassischen Zivilisation N a h r u n g für eine beständige und höchste zivile V e r p f l i c h t u n g f a n d e n : „ . . . daß ich den F r e u n d e n und d e m Vaterland nützlich sein kann, u m der menschlichen Gesellschaft durch das Beispiel und das Werk zu d i e n e n . " 1 6 D i e Idee des tapferen E n g a g e m e n t s des Philosophen in der Po/is war das E r b e , das der italienische H u m a n i s m u s v o m H ö h e p u n k t der griechischen Zivilisation, v o m D e n k e n Piatons übernahm. A u c h für Piaton ist „die größte aber u n d bei weitem schönste Weisheit die, welche in der Staaten u n d des H a u s w e s e n s A n o r d n u n g e n sich zeigte, deren N a m e n Besonnenheit ist und G e r e c h t i g k e i t " 1 7 . „ V o n seiner ersten J u g e n d an bis z u m V o r a b e n d des T o d e s " , schreibt G i o v a n n i Pugliese Carratelli 1 8 , „stellt Vgl. E. Garin, Filosofi italiana del Quattrocento, Firenze 1942, S. 97. C. Salutati, D e nobilitate legum et mcdicinae, zit. nach: E. Garin, a. a. O . , , S. 117. 17 Piaton, Symposion, 209 a. 1® G. Pugliese Carratelli, La citta platonica, in: La parola del passato, 1,1946, S. 6 (jetzt in: G. Pugliese Carratelli, Scritti sul mondo antico, Napoli 1976, S. 412). 15
16
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Piaton in das Zentrum seiner Betrachtung das politische Problem: das Problem der Beziehungen zwischen dem Menschen, in griechischer Weise konzipiert als noXixmov £&ov und der Gesellschaft, nohq und oixrjaig, in der sich umfassend ihre Menschlichkeit manifestiert; zwischen dem qnkoaoipog oder dem acxpÖQ und den anderen noXirixä Cq>a." Die Polis hatte mit der Verurteilung des Sokrates zum Tode die Stimme der Vernunft selbst ausgemerzt. Der kynischen und kyrenäischen Alternative einer Flucht aus dem zivilen und sozialen Leben setzt Piaton das Projekt einer gerechten Stadt in seinem Werk „Der Staat" 1 9 und das große Beispiel seiner eigenen biographischen Wechselfälle entgegen, die uns der 7. Brief beschreibt, mit dem erneuten Versuch, in Sizilien die Geburt einer auf die Vernunft gegründeten Po/is zu inspirieren. Wie Werner Jaeger hervorhebt, bildet die platonische Position die höchste Synthese zwischen dem blinden Praktizismus und der untätigen Theorie: „. . . er bewahrt dadurch den Begriff der .Zukunft', für die der Philosoph sich bildet, vor dem Abgleiten ins Imaginäre und gibt dem .theoretischen Leben' des Philosophen durch die Möglichkeit, jederzeit ins Praktische überzugehen, eine wunderbare Spannung, die grundsätzlich .reine' Wissenschaft entbehrt. Gerade durch diese .Mittelstellung' zwischen der auf kein praktisch-ethisches Ziel bezogenen und der bloß praktisch-politischen Bildung der Sophisten steht der platonische Humanismus in Wahrheit über beiden." 2 0 Wenn es wahr ist, wie Fichte behauptet, daß „vom Fortschritt der Wissenschaften direkt der gesamte W e g der Menschheit abhängt", ist es ebenfalls wahr, daß „es jedem Gelehrten deshalb zukommt . . ., daß er strebe, die Wissenschaft . . . weiterzubringen; von seinem Fortschritte hängen die Fortschritte in allen übrigen Fächern der 19 20
Vgl. A. Koyre, Einführung in die Lektüre Piatons, New York 1944. W . Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Bd. 2, Berlin 1944, S. 360.
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menschlichen Bildung ab; er muß ihnen immer zuvor sein, lim für sie den. Weg zu bahnen, und ihn zu untersuchen, und sie auf denselben zu leiten; und er wollte zurückbleiben? Von dem Augenblick an hörte er auf zu seyn, was er sein sollte; und da er nichts anderes wäre, so wäre er gar nichts." 21 Bei der gegenwärtigen Verschwendung des besten Erbes des Denkens — während Tagesmoden das Feld beherrschen, die an die Kulturindustrie, an die deformierten Logiken der akademischen Kultur und an andere bestehende Interessen gebunden sind — ist die Wiedererweckung der besten Traditionen des Denkens eine vorrangige Aufgabe. Nur auf der Grundlage dieser Wiedererweckung, des Neudurchdenkens der Klassiker der Philosophie zugleich in Konfrontierung mit den Errungenschaften der Wissenschaft, werden neue Synthesen und neue Schritte nach vorn möglich sein: „Dies ist ebenso unsere und jedes Zeitalters Stellung und Tätigkeit, die Wissenschaft, welche vorhanden ist, zu fassen und sich ihr anzubilden, und ebendarin sie weiterzubilden und auf einen hohen Standpunkt zu erheben." 22 Ein Blick, der wirklich der Zukunft zugewandt ist, kann nicht absehen vom gesamten großen Beitrag des philosophischen Denkens zur Erfassung der menschlichen Dimension. 21
22
J. G. Fichte, Von den Pflichten des Gelehrten. Jenaer Vorlesungen 1794/ 95, hg. von R. Lauth/H. Jakob/P. K. Schneider, Hamburg 1972, S. 37/38. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a. a. O., S. 22.
CLAUDIO C E S A
(Pisa)
Zwischen juristischem Sozialismus und sozialistischer Religion Die Diskussion über Fichte in Italien zu Beginn des 20. Jahrhunderts I. Von Manfred Buhr stammen viele brillante Studien über die Beziehungen zwischen dem Denken Fichtes und der „gesellschaftlich-politischen Dynamik der Zeit", die vor allem durch die große Umwälzung ausgelöst wurde, die in Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts stattgefunden hatte und die für über ein Jahrhundert — durch oft deformierte Interpretationsmodelle hindurch — als die „Revolution" par exellence galt. Die politische Dimension (in ihren verschiedenen Aspekten: national, sozial, juristisch) hat die gesamte geistige Geschichte Fichtes begleitet; und es kann nicht verwundern, daß Fichte seinerseits einen bemerkenswerten Einfluß auf das politische Denken in Deutschland und in den anderen europäischen Ländern bis fast in unsere Tage ausgeübt hat. Die Wirkungsgeschichte des Denkens Fichtes ist leider ein noch fast gänzlich zu • erforschendes Thema; aber vielleicht ist es als Forschungshypothese erlaubt zu sagen, daß, wenn sie im Laufe von fast zwei Jahrhunderten 16
Zur Architektonik
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benutzt und diskutiert wurden, es mehr einzelne Werke waren, die als das typische Dokument einer geistigen Grundhaltung genommen wurden, nicht das politische „System" Fichtes in seiner Komplexität, wobei vorausgesetzt wird, daß ein solches System existiert. Für diese Behauptung kann man einige charakteristische Beispiele anführen: die revolutionären Burschenschaftler der ersten Jahre der Restauration erforschten die „Reden an die deutsche Nation"; die „Beiträge" über die französische Revolution wurden mehrmals am Vorabend des Jahres 1848 neuaufgelegt und im Jahre 1859 (unter der Regierung Napoleons III.) mit der augenscheinlichen Absicht demokratischer Propaganda ins Französische übersetzt. Aber die Revolution von 1848/49 hatte „das Gespenst des Kommunismus" in Europa umhergehen sehen — und im Jahre 1851 erschien in der Schweiz, von einem politischen Verbannten herausgegeben, eine italienische Übersetzung des „Geschlossenen Handelsstaates", in dessen Vorwort jener von Fichte „eines der besten Systeme des Sozialismus und in allen Teilen das konsequenteste" genannt wird. 1 Nun, dieses Interesse für den „Sozialismus" Fichtes zeigte sich erneut in Italien ungefähr ein halbes Jahrhundert später, in dem dem ersten Weltkrieg vorangehenden Jahrzehnt. Das stimulierten ohne Zweifel die Diskussionen über die „Krise des Marxismus", die eröffnet wurden mit der Bernstein-Debatte, und die in Italien, einem Kulturraum, in dem deutsche und französische Einflüsse zusammen wirkten, eine besondere Lebhaftigkeit angenommen hatten. Aber es handelt sich nicht um interne Diskussionen in der sozialistischen Partei, noch wurden sie von politisch bedeutenden Persönlichkeiten hervorgerufen, wie es z. B. 1
Ausführlicher in: C. Cesa, G. B. Passerini und die erste italienische Übersetzung von „Der geschlossene Handelsstaat", in: Erneuerung der Transzendentalphilosophie. Festschrift R. Lauth, Stuttgart 1979, S. 84—95.
234
Jean Jaurès war, der in Frankreich Fichte als einen der Ahnen des Sozialismus vorgestellt hatte. 2 In Italien wurde der Name Fichtes von Intellektuellen in die Debatte geworfen, die sich damit brüsteten, sich für Probleme der reinen Theorie (die Möglichkeit einer „wissenschaftlichen" Begründung des Sozialismus) zu interessieren, und die ihre Überlegungen in Abhandlungen akademischen Typs entwickelten.
II. Vom Gesichtspunkt der Information aus ist die lange Abhandlung „Die sozialökonomischen Ideen Fichtes" von L. Clerici 3 ohne Zweifel die bemerkenswerteste. Der Autor, Bibliothekar der Universität Padua, zeigt eine breite Kenntnis der besten deutschen Sekundärliteratur (er zitiert u. a. Schmoller, Roscher, Zeller, Jodl und außerdem einige Schriften von Marx und Engels) und erforscht mit Kompetenz das Problem der Quellen des ökonomischen Denkens Fichtes und dessen Einordnung in das Zusammenfließen der gioßen ökonomischen Schulen des 18. Jahrhunderts. Mehr als ein Drittel der Schrift ist ausdrücklich dem „Sozialismus" Fichtes gewidmet, und es wird dessen Nähe zum „theoretischen Sozialismus" (d. h. zum Marxismus) in Fichtes Polemik gegen die freie Konkurrenz und das „Privateigentum an den Produktionsmitteln" und auch in der Theoretisierung der Pflicht aller, eine Arbeit auszuüben, festgestellt. Ein besonderer Punkt der Konvergenz zwischen 2
3
Die von J. Jaurès 1891 an der Sorbonne vorgelegten lateinischen Thesen hatten den Titel „ D e primis socialismi germanici lineamentis apud Lutherum, Kant, Fichte et Hegel". Schon ein Jahr später erschien eine Übersetzung ins Französische in „Revue socialiste", die später mehrmals nachgedruckt wurde. L . Clerici, Le idee economico-sociali di Fichte, in: Archivo giuridico, 64 (1900), S. 450-518.
16«
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Fichte und Marx wird auch in der „Methode" aufgezeigt — und unter diesem Ausdruck wird, ein wenig formalistisch, eine Art triadische Dialektik und die Nachforschung nach einer einzigen Grundlage aller sozialen Erscheinungen verstanden. Interessant ist die Schlußfolgerung, in der der Autor auch bei Fichte die Typologie ansetzt, die von Engels in der Schrift „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" angewendet wird: Fichte gehört zur „vorwissenschaftlichen" Periode des sozialistischen Denkens, in anderen Worten zur nicht „kritischen", sondern „konstruktiven" und „utopischen" Periode: statt den Ankunftspunkt der menschlichen Geschichte als ein Ergebnis des Klassenkampfes zu konzipieren, hält er ihn für ein „notwendiges Produkt der menschlichen Überzeugung"/* Der theoretische Unterschied zwischen dem „juristischen Kommunismus" 5 Fichtes und dem „modernen kritischen Kommunismus", oder dem Marxismus, erscheint mit einer noch bedeutenderen Rolle in der Abhandlung I. Petrones „Der geschlossene Handelsstaat von J. G. Fichte und die historische Voraussetzung des juristischen Kommunismus" 6 , der wir uns jetzt zuwenden wollen. Igino Petrone, Rechtsphilosoph, war eine komplexe Persönlichkeit, deren tfheoretische Ambitionen nicht immer flankiert waren von einer entsprechenden konzeptionellen Stärke. Praktizierender Katholik mit modernistischen Sympathien (im Jahre 1907 protestierte er öffentlich gegen die Enzyklika „Pascendi dominici gregis"), war er einer der ersten gewesen, die die Schriften von Antonio Labriola über den historischen Materia4
F. Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von det Utopie zur Wissenschaft, in: K . Marx/F. Engels, Werke, Bd. 19, Berlin 1962, S. 518.
5
Zur Bedeutung des Begriffes „juristischer Sozialismus" oder „juristischer Kommunismus" vgl. P. Ungari, In memoria del socialismo giuridico, i n : Politica del diritto, 1970, S. 2 4 1 - 2 6 8 , 3 8 7 - 4 0 3 .
6
I. Petrone, Lo stato mercantile chiuso di G. A . Fichte el la premessa teorica del comunismo giuridico, in: Atti della R. Accademia di scienze morali e politiche di Napoli, 35 (1905), S. 3 9 3 - 4 4 1 .
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lismus studierten. 7 Gegenüber dem „Handelsstaat" Fichtes bringt er lebhaft positive Meinungen zum Ausdruck: „In keinem Buch wird mit gleicher Klarheit und mit ebensoviel Sicherheit der Wahrnehmung die grundlegende theoretische Voraussetzung jeder Zukunft und des möglichen juristischen Sozialismus" 8 zum Ausdruck gebracht; Fichte hat „der Erklärung der persönlichen Rechte die Erklärung des sozialen Rechts unterschoben: Sohn des bürgerlichen Rationalismus, stößt er die Grundlagen jeder künftigen bürgerlichen Philosophie des Rechts und des Staates" 9 um. Petrone benutzt nicht die Kritik liberalen Typs, daß der „Handelsstaat" fast keinen Raum der individuellen Freiheit läßt. Für ihn ist der schwache Punkt der Doktrin Fichtes ein anderer, d. h. der abstrakte „Rationalismus", der eine moralische und juristische Voraussetzung zur Förderung der Umgestaltung der Gesellschaft für hinreichend hält; der Vorschlag Fichtes, so wie er formuliert ist, ist unrealisierbar, weil der Staat keine radikal neue Ordnung einführen kann, als ob die bereits bestehenden Beziehungen nur auf dem legislativen Wege zu beseitigen wären; und außerdem ist er „widersprüchlich", weil die neue Gesellschaft sich ständig ändern müßte, wäre es auch nur, um dem Anwachsen der Bevölkerung zu begegnen: „Jeder nachfolgende und weitere Zyklus ausgleichender Gerechtigkeit widerspricht einem vorherbestehenden Zyklus. Jede Gerechtigkeit verleugnet sich selbst." «> Aus diesen Kritiken entspringt die abschließende Betrachtung, deren Tragweite über Fichte hinausgeht: die 7
Eine zusammenhängende Studie über ihn steht noch aus; zu einer ersten Orientierung siehe L. Picardi, I. Petrone tra materialismo storico e riformismo religioso, Milano 1979.
8
I. Petrone, Lo stato mercantile chiuso di G. A. Fichte el la premessa teorica del comunismo giuridico, a. a. O., S. 395.
9 Ebenda, S. 415. 10 Ebenda, S. 431.
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Rechtsphilosophie ist aus ihrer Natur heraus weder bürgerlich noch sozialistisch, „weil das Recht keinerlei Gesellschaft schafft" sondern sich darauf beschränkt, von Fall zu Fall die Beziehungen zu regulieren, die sich stabilisiert haben. Im Unterschied zum Kommunismus Fichtes vertraut „der moderne kritische Kommunismus" „die Durchführung, seines Programms nicht ethischen Postulaten oder juristischen Konstruktionen an, sondern Prozessen und Tätigkeitsweisen, die dazu taugen, die Grundlagen der Hierarchie und gesellschaftlichen Struktur zu ändern und die Voraussetzungen der Erfahrung und des Lebens umzuwandeln. Die Ankunft der kommunistischen Gesellschaft erwartet er nicht von formalen Imperativen der Vernunft, sondern von der Dynamik der Geschichte, oder von jenem Komplex von Bedingungen, die die Überlegenheit und den Vorrang der proletarischen Klasse vorbereiten und unterstützen." 12 Trotz des so positiven Urteils über den „kritischen Kommunismus" glaubt Petrone nicht an eine Logik der Geschichte, die zur Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft führt. Es ist unvermeidlich, daß letztere, wie jede andere Gesellschaftsformation, überwunden werden wird, aber das wird das Werk des „Lebens", d. h. irrationaler, durch die „Vernunft" nicht orientierbarer Kräfte sein. Das Recht ist für ihn einerseits ein reines Ideal, „Naturrecht" im Sinne der „ewigen Philosophie", 13 andererseits eine reine Regelung bestehender Realitäten: zwischen diesen beiden Formen gibt es keinen Übergang. Die Abhandlung Petrones blieb nicht unbeachtet. Sie wurde von B. Croce und G. Del Veccio r e z e n s i e r t a b e r Ebenda, S. 438. « Ebenda, S. 440. 1 3 Vgl. dazu eines der ersten Bücher I. Petrones: La fase recentissima della filosofía del dritto in Germania, Pisa 1895, bes. S. 219—225. 1 4 Vgl. B. Croce, in: La critica, 1905, S. 1 4 6 - 1 5 0 ; G. Del Vecchio, in: Rivista italiana di sociología, 1905, S. 92—96. 11
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die bedeutendste Erwiderung wurde von Adolfo Ravä, einem ausgezeichneten Kenner des Denkens Fichtes, verfaßt, sie ist betitelt „Der Sozialismus Fichtes und seine philosophisch-juristischen Grundlagen" 1 5 . Ravä verteidigte Fichte vor allem damit, daß er argumentierte, daß das Konzept des Eigentums „an Handlungen, keineswegs an Sachen" genügend elastisch war, um zu erlauben, die Gleichheit der Bürger auch in der neuen Dynamik aufrechtzuerhalten, die geschaffen würde: mit dieser Rücksicht war das Projekt Fichtes nicht „widersprüchlich". Das Bedeutende sei daher nicht so sehr, die Modalität der Realisierung als vielmehr eine rationelle Ordnung der Gesellschaft präsentiert zu haben. Diese hätte, als „reines Regulierungsprinzip" (man beachte die Kantsche Sprache) volle Gültigkeit. Der wirkliche „Widerspruch" Fichtes bestand nach Ravä anderswo, in der Tatsache, daß er, „der größte theoretische und praktische Verfechter der Freiheit", „ein politisches System" ausgearbeitet hätte, „in dem alle Bürger Sklaven der ökonomischen Organisation sind, die in den Händen des Staates liegt" 1 6 . Um den politischen Hintergrund dieser Diskussion augenscheinlich zu machen, ist aber der formale Angriff noch interessanter, den Ravä gegen den „geschätzten Meister" Petrone richtete: „Er billigt das Prinzip des marxistischen Sozialismus, der allein von der Dynamik der Geschichte seine Umsetzung erwartet [. . .], gerade jetzt, da der Marxismus in der Krise ist und da die Sozialisten, weil sie sehen, daß die Geschichte sich nicht gerade auf den Weg zu begeben scheint den Marx vorhergesehen hatte, wieder von Idealen und Gerechtigkeit zu sprechen beginnen." 1 7 A. Ravä, II socialismo di Fichte et le sue basi filosofico-giuridiche, (1907), nachgedruckt in: Studi su Spinoza e Fichte, Milano 1958, S. 281—314. 16 Ebenda, S. 300.
15
17 Ebenda, S. 310.
III. Die Schriften, von denen bis jetzt gesprochen worden ist, gehen alle vom akademischen Bereich aus. Deutlich unterscheidet sich von ihnen das Buch von L. Perego „Der ethische Idealismus Fichtes und der zeitgenössische Sozialismus. Für eine sozialistische Religion" 1 8 . Der Autor, der später freier Dozent für Rechtsphilosophie wurde, dem es aber niemals gelang, sich stabil in die Universität einzuordnen, war ein Dilettant, der wahrscheinlich nicht einmal das Deutsche kannte und der von Fichte nur die „Anweisung" (in der französischen Übersetzung von 1845!) und den „Handelsstaat" (ins Italienische im Jahre 1909 übersetzt) zitierte; von der Sekundärliteratur wird, außer den Schriften von Clerici und Petrone, nur das übrigens bedeutende Buch „Die Philosophie Fichtes" (1902) von X. Leon benutzt. Relativ reichlich sind die Hinweise auf die französische und italienische philosophische und soziologische Literatur; oft zitiert auch J. Royce, dessen „Geist der modernen Philosophie" gerade erst in italienischer Übersetzung erschienen war. Es handelt sich um ungeordnete Lektüren, ohne einen theoretischen Zusammenhang; die Haltung von Perego ist eine Art erkenntnistheoretischen Irrationalismus' bei der Suche nach einer ethischen Grundlage — ein sehr verbreiteter seelischer Zustand in jenen Jahren; und vom Stil jener Jahre ist auch die schwülstige Phraseologie und das Vergnügen, mit großen Antithesen vorzugehen. Auch Perego zitiert oft Bernstein: er akzeptiert von ihm einige Kritiken, aber weist dessen Schlußfolgerungen zurück, insbesondere die Kontinuität zwischen Liberalismus und Sozialismus und den Wunsch, dem Sozialismus eine von Kant abgeleitete ethische Grundlage zu verleihen. Die Moral Kants wird von ihm als „rationalistisch", „abstrakt" und als 18
L. Parego, L'idealismo etico di Fichte e il socialismo contemporaneo. Per una religione socialista, Modena 1911.
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„Refugium der skeptischen Bourgeoisie" beurteilt: 19 gerade gegen sie hatte sich „die große Bewegung der Werktätigen" im Namen einer „neuen Moral" gewandt. Und in diesem Zusammenhang erscheint der erste be2eichnende Bezug auf Fichte: „Wer sieht nicht in dieser Reaktion das Denken Fichtes repräsentiert? Ist es nicht genau Fichte, der der Moral den Wert einer Wissenschaft entzieht [. . .], indem er sie mit der Philosophie zusammenführt, deren Ziel für ihn gerade im Schaffen, im Produzieren eher als im Erkennen besteht?" Was Fichte bedeutend mache, sei vor allem sein „Idealismus" — in der Bedeutung, die dieser Terminus im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts hatte, als er die Reaktion gegen den positivistischen Szientismus bezeichnete. Nun, es war ein Gemeinplatz des Positivismus, daß die Wissenschaft die Alternative zur Religion wäre: E s genügte, das Zeichen zur Gegenposition zu wechseln, und man hatte ein Resultat wie dieses: „Der Sozialismus zeigt sich, in demselben Moment, in dem er der rationalistischen Moral entgegentritt, implizit als ein religiöses moralisches System, d. h. als ein System, in dem die moralische Idee strikt konzipiert sein will als absolut betrachtete Einheit zur Aktion." 20 Um Mißverständnisse zu vermeiden, ist es nötig zu sagen, daß Perego gegenüber dem Christentum stark kritisch ist, das „sentimental", „resigniert", „dualistisch" und unfähig sei, die Religion „der industriellen Zivilisation" zu sein. Eine solche kann hingegen der Sozialismus sein, wenn er es verstünde, mit der „Rehabilitierung des Körpers" auch die Kritik an jeder Form v o n individuellem Eudämonismus zu vereinen: das wird das „substantiell" machen, was für das Christentum nur „formal" war. 2 1 Aber was versteht man hier unter „Religion"? In ihrem Wesen sei sie „die unaufhörlich darauf gerichtete Anstrengung, den Dualismus zwischen 19 Ebenda, S. 60. M Ebenda. 21 Ebenda, S. 213.
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Objekt und Subjekt zu beseitigen", „die fortschreitende Integration des Ich gegenüber der eigenen Autonomie"; 2 2 man kann also sagen, daß die „Religion alle Kennzeichen hat, die Fichte in der »Anweisung' dem »wahrhaften Leben' zugeschrieben hatte" — das Wort „Leben" kehrt übrigens sehr häufig in diesem Buch wieder. Religion will also die notwendige Spannung bezeichnen, um jene Elemente des „Utilitarismus" zu beseitigen, die in die proletarische Bewegung eingedrungen seien, als diese als Bezugspunkt „die ökonomische Entwicklung" anstatt „der gesellschaftlichen Arbeit genommen" hätte. 23 Diese feste antiliberale und antiindividualistische Position gegeben, erkennt Perego dem Fichteschen Staat das Recht zu, Zwang auszuüben, „als eine Garantie der Freiheit für alle, der Respektierung jener Aktionssphäre, die für alle für die vollständige Entwicklung der eigenen Person in Harmonie mit der Gesellschaft notwendig ist" 24 , mit dem Zweck, „jedem das Eigentum einer zu seiner Existenz notwendigen Arbeit zu garantieren" 25 . Und als „Eigentum" darf man auf der Grundlage der berühmten Formulierung Fichtes nur die Arbeit verstehen, die auf den kollektiven Nutzen gerichtet ist, weil das Privateigentum „ein legaler Ausdruck der Gewalt [ist], die die Wenigen gegen die Vielen ausüben" 2C . In jenen Jahren war die Analogie zwischen dem frühen Christentum und der sozialistischen Bewegung ziemlich üblich. Ihrer hatte sich auch Engels am Schluß eines berühmten Textes, der Einleitung von 1895 zu „Die Klassenkämpfe in Frankreich" von Marx bedient. Auch Perego spricht von ihr, wenn er bekräftigt, daß die sozialistischen 22 Ebenda, 23 Ebenda, 24 Ebenda, 25 Ebenda, 26 Ebenda,
S. S. S. S. S.
200. 188. 149. 155. 161.
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Organisationen, wie die ursprüngliche Kirche, „ein Staat innerhalb- des Staates" sein müssen und dabei mit ihrer Aktivität „eine neue staatliche Verfassung im Vergleich zu jener vorwegnehmen, die durch eine Kirche inspiriert und regiert wird, die nunmehr ihren historischen Zyklus vollendet hat". 27 Von einem historisch-philologischen Gesichtspunkt aus' wäre es sehr leicht, das Buch von Perego zu kritisieren; und doch bleibt es, trotz der auffälligen Fehler, ein bedeutungsvolles Zeugnis jener geistigen Gärung, die sich in ganz Europa am Vorabend des ersten Weltkrieges verbreitet hatte. Und wenn es jemanden gab, der Fichte als „nationalen" Denker betrachtete, dann gab es auch jemanden, der ihn als Propheten einer „sozialistischen Religion" sah. 27 Ebenda, S. 227.
Auto r enverzeichnis Prof. Dr. Lothar Berthold, Akademie-Verlag Berlin Prof. Dr. Claudio Cesa, Scuola Normale Superiore, Pisa Prof. Dr. Milan Damnjanovic, Universität Beograd Prof. Dr. Jacques D'Hondt, Universität Poitiers Prof. Dr. Masao Fukuyoshi, Universität Nagoya Prof. Dr. Antonio Gargano, Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, Napoli Prof. Dr. Albert Heinekamp, Leibniz-Archiv der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover Prof. Dr. Dieter Henrich, Ludwig Maximilians Universität München Prof. Dr. Hans Heinz Holz, Universität Groningen Prof. Dr. Reinhard Lauth, Ludwig Maximilians Universität München Prof. Dr. Domenico Losurdo, Università di Urbino Prof. Dr. Jaime Quijano-Caballero, Universidad INCCA de Colombia, Bogotà Prof. Dr. Tom Rockmore, Université Lavai, Québec Prof. Dr. Hans Jörg Sandkühler, Universität Bremen
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Der Beitrag von Jacques D'Hondt wurde von Joachim Wilke (Berlin) aus dem Fran2ösischen, die Beiträge von Claudio Cesa, Antonio Gargano und Domenico Losurdo von Peter Schreiber (Berlin) aus dem Italienischen, und der Beitrag von Tom Rockmore von Ada Heilmann (Berlin) aus dem Englischen ins Deutsche übertragen. Porträtphoto: Karin Petras (Berlin)
Erschienen im Akademie-Verlag Berlin, DDR -1086 Berlin, Leipziger Str. 3 - 4 © Akademie-Verlag Berlin 1987 111-12-12 -'Ag 451/158/86 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: VEB Druckerei „Gottfried Wilhelm Leibniz", Gräfenhainichen • 6790