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German Pages 216 Year 2019
M ETAPHYSIK UND O NTOLOGIE Band 4
Zeit und zeitliche Existenz Von
Peter Kügler
Duncker & Humblot · Berlin
PETER KÜGLER
Zeit und zeitliche Existenz
Metaphysik und Ontologie Herausgegeben von Paola-Ludovika Coriando und Tina Röck
Band 4
Zeit und zeitliche Existenz Von
Peter Kügler
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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© 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany
ISSN 2363-6793 ISBN 978-3-428-15649-8 (Print) ISBN 978-3-428-55649-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-85649-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
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In diesem Buch geht es um Zeit und zeitlich Existierendes, um tempus und temporalia. Zeit und Existenz sind nicht dasselbe, doch sie gehören zusammen, weil alles Existierende in der Zeit existiert und weil umgekehrt Zeit voraussetzt, dass etwas existiert und sich dabei verändert. Dieser Zusammenhang von Zeit und Existenz (oder Sein) ist das theoretische Fundament des Buches, das sich zum Ziel gesetzt hat, den Existenzbegriff zu klären und dadurch einige Probleme der Philosophie der Zeit zu lösen – oder aufzulösen. Ein Hauptaugenmerk liegt auf der Unterscheidung zwischen sinnvollen und sinnlosen metaphysischen Fragen. Nebenbei wird eine Einführung in grundlegende Themen der allgemeinen Ontologie und der Philosophie der Zeit geboten. Beim Schreiben hatte ich Leserinnen und Leser mit philosophischen Vorkenntnissen vor Augen, aber keine Fachleute für die Philosophie der Zeit. Ich dachte eher an die Studierenden des Bachelorstudiums Philosophie, die meine Lehrveranstaltungen besuchen. Wer es sich einfacher machen möchte, findet im Buchhandel populärphilosophische Werke über die Zeit (wie Safranski 2015 oder Wyller 2016). Die Arbeit an dem Buch begann, nachdem ich vergeblich versucht hatte, meine Ideen zur Philosophie der Zeit in handliche Portionen, das heißt Aufsätze zu pressen, wie es heute von allen Seiten gefordert wird. In der Philosophie funktioniert diese Zerstückelung des Denkens deshalb nicht besonders gut, weil jedes philosophische Argument Annahmen voraussetzt, die auf engem Raum nicht begründet werden können, und weil in der Philosophie im Unterschied zu anderen Disziplinen keine Annahme als selbstverständlich gelten kann. Philosophinnen und Philosophen haben bekanntlich schon so ziemlich alles bezweifelt – von der Existenz der Welt und der Existenz moralischer Werte bis zur Möglichkeit des Verstehens und der Gültigkeit des Modus ponens. Um einen kurzen philosophischen Text zu schreiben, ist es daher vor allem nötig, die Augen vor vielem zu verschließen, was man prinzipiell hinterfragen könnte – und meist auch sollte. Das, vor dem man die Augen schließt, heißt in einem einzelnen Argument „Prämisse“ oder „Intuition“, in einem größeren Zusammenhang „Paradigma“ oder gar „Weltanschauung“ und tritt gerne in Gestalt eines „Ismus“ auf. Auch die Philosophie der Zeit enthält einige solcher Ismen; sie erscheinen oft in Gegensatzpaaren wie Präsentismus versus Eternalismus oder Endurantismus versus Perdurantismus. Alternativen wie diese gehen aus theoretischen Entscheidungen hervor, die so oder anders ausfallen können. Trifft man an einer bestimmten Stelle eine Entscheidung, so muss man meist an anderen Stellen des Theoriegebäudes
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entsprechende Änderungen vornehmen – etwa einen Begriff uminterpretieren –, um kohärent zu bleiben. Am Ende stehen einander Theorien, eben Ismen gegenüber, die ähnlich kohärent sind, sich jedoch voneinander in vielen Details unterscheiden. Selbstverständlich zwingt einen auch ein Buch zu unhinterfragten Vorentscheidungen, selektiven Wahrnehmungen und inhaltlichen Beschränkungen, vor allem wenn es wie das vorliegende nicht allzu dick ist. Doch immerhin ist es in einem solchen Rahmen möglich, den Blick etwas weiter schweifen zu lassen, was schon deshalb nötig ist, weil Zeit eine typische „Querschnittsmaterie“ ist, zu der man von allen möglichen Seiten gelangen könnte. Selbst wenn man alle anderen Wissenschaften ausblendet und nur die Philosophie allein berücksichtigt, hätte wohl jede einzelne philosophische Disziplin zum Thema etwas beizutragen. Mein eigener Zugang erfolgt vor allem über die Metaphysik (zu der ich auch die Ontologie zähle), die deshalb auch in allen Kapiteln berührt wird. Darüber hinaus fließen in den sechs Teilen des Buches weitere Perspektiven ein. Im ersten Teil (Kapitel 1 – 3) wird das Zeitvergehen unter anderem aus Sicht der Psychologie und der Philosophie des Geistes betrachtet, im zweiten (4 – 8) aus Sicht der Physik und Naturphilosophie. Im dritten Teil (9 – 11) geht es um Sprache (Bedeutungstheorie) und metaphysische Scheinprobleme, im vierten (12 – 16) um die Anwendung der zuvor gewonnenen Ergebnisse auf Probleme der Philosophie der Zeit. Im fünften Teil (17 – 20) kehrt die Physik wieder, da Möglichkeiten besprochen werden, wie der Präsentismus mit der Speziellen Relativitätstheorie vereinbart werden kann. Der sechste Teil (21 – 24) dreht sich um „Existenz“ im Allgemeinen – das Kernthema der Ontologie – und schließt mit dem klassischen metaphysischen Problem des Anfangs der Zeit. Es folgt nun eine kleine Vorschau auf den Inhalt, gedacht als Hilfestellung für eilige Leserinnen und Leser, die einzelne Kapitel gezielt ansteuern oder überspringen möchten. Es sind übrigens genauso viele Kapitel, wie der Tag Stunden hat, was mir angesichts des Themas ganz passend erscheint. Kapitel 1 (Die Zeit vergeht) setzt mit der aristotelischen Zeitdefinition ein, bevor die Ewigkeit in den beiden Gestalten der zeitlichen Unendlichkeit (Sempiternitas) und der Zeitlosigkeit (Aeternitas) auftritt. Für den Gedankengang des Buches am wichtigsten ist die Unterscheidung zwischen einer dynamischen und einer statischen Zeitauffassung. In John McTaggarts richtungsweisendem Aufsatz über die „Irrealität der Zeit“ von 1908 erscheint die erste Auffassung als „A-Reihe“ und die zweite als „B-Reihe“. Ich erläutere, wie man das Vergehen der Zeit (in der dynamischen Zeitauffassung) verstehen muss, um McTaggarts Argumenten gegen die A-Reihe begegnen zu können. Es ist metaphorisch als „Bewegung“ der (Qualität der) Gegenwärtigkeit zu beschreiben. Kapitel 2 (Das Zeitvergehen wird erlebt) befasst sich mit dem Zeiterleben und der erlebten Gegenwart, die eine kurze Zeitspanne (ungefähr 30 Millisekunden)
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umfasst, wofür es verschiedene psychologische Erklärungen gibt. Eine der bekanntesten philosophischen Konzeptionen des Zeiterlebens ist Henri Bergsons „Dauer“ (durée), die – anders als manchmal angenommen – nicht nur auf das menschliche Bewusstsein gemünzt ist, sondern auch für die objektive Wirklichkeit gelten soll. Bergson wählte Formulierungen, die ihn in die Nähe des Panpsychismus gebracht haben, obwohl sich dieser gar nicht aus seiner Zeitphilosophie ergibt. Zeiterleben ist bekanntlich insofern subjektiv, als die Zeit manchmal schneller, manchmal langsamer zu vergehen scheint, doch die Frage, unter welchen Umständen die Zeit so schnell zu vergehen scheint, wie sie in Wirklichkeit vergeht, ist sinnlos. In Kapitel 3 (Das Zeitvergehen ist keine Illusion) wird die statische Zeitauffassung kritisiert, weil sie impliziert, dass das erlebte Vergehen der Zeit eine Illusion ist, womit zweierlei gemeint sein kann: Die Zeit vergeht nur im Bewusstsein (subjektiv, nicht objektiv), wäre also eine Art sekundäre Qualität, oder sie vergeht nicht einmal im Bewusstsein, also überhaupt nicht (weder subjektiv, noch objektiv). Die erste These widerspricht der plausiblen Annahme, dass es psychophysische Korrelationen gibt, die zweite läuft auf den eliminativen Materialismus hinaus, den viele für a priori falsch halten. Da er jedoch eine genauere Auseinandersetzung verdient, gehe ich auf Daniel Dennetts Umgang mit Qualia und Phänomenalität ein. Kapitel 4 (Physikalische Zeitpfeile) leitet zur Diskussion physikalischer Theorien über, wobei in der Philosophie der Zeit traditionsgemäß die Spezielle Relativitätstheorie die Hauptrolle spielt. In diesem Kapitel geht es jedoch noch um die Frage der Reversibilität oder Irreversibilität von Naturvorgängen, weshalb Thermodynamik und Quantenmechanik im Vordergrund stehen. Ich argumentiere, dass die Zeitrichtung (der „Zeitpfeil“) nicht von der Irreversibilität abhängt. Wie Brigitte Falkenburg betrachte ich das gerichtete Vergehen der Zeit als fundamental, nicht reduzierbar. Außerdem vertrete ich die Auffassung, dass weder Transfertheorien der Kausalität noch Kausaltheorien der Zeit bei der Festlegung des Zeitpfeiles hilfreich sind. Kapitel 5 (Spezielle Relativitätstheorie) präsentiert einerseits relevante Begriffe der Speziellen Relativitätstheorie, wie die Unterscheidung zwischen raum-, zeit- und lichtartig getrennten Ereignissen, und andererseits das klassische Argument gegen die dynamische Zeitauffassung, das auf der Relativität der zeitlichen Relationen zwischen raumartig getrennten Ereignissen beruht. Die naheliegende Antwort darauf lautet, dass die Zeit eben nur zwischen zeit- und lichtartig getrennten Ereignissen vergeht. Diese Antwort ergänze ich um den Vorschlag, dass die Quantität dieses Zeitvergehens unbestimmt ist, was – wie ich zugeben muss – intuitiv ähnlich schwer nachvollziehbar ist wie die quantentheoretische Unschärfe, mit der man jedoch zu leben gelernt hat.
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Kapitel 6 (Eigenzeiten) fügt dem globalen, aber unbestimmten Zeitvergehen des vorigen Kapitels eine Betrachtung der Eigenzeit hinzu, die sich als lokales Zeitvergehen verstehen lässt und durch die „Uhrenhypothese“ mit den Weltlinien von Objekten verknüpft ist, weshalb unter anderem die zeitliche Existenz (Persistenz) von Objekten ins Blickfeld gerät. Die Frage, mit welcher Geschwindigkeit die metaphorische Bewegung, das „Fließen“ der Zeit erfolgt, lässt sich beantworten, wenn man zwei verschiedene Eigenzeiten, zwei Bezugssysteme miteinander vergleicht, zum Beispiel die Erdzeit und die Zeit des Raumschiffs im Zwillingsparadoxon der Speziellen Relativitätstheorie. Die Dimension des Zeitflusses wäre hier „Raumschiffzeit pro Erdzeit“ oder umgekehrt. Kapitel 7 (Kosmologie und Quantentheorie) hat einen weitgehend vorläufigen Charakter, weil die Physik selbst noch unsicher ist, weshalb die Eule der Minerva noch nicht weiß, wohin sie fliegen soll. Ich bestreite trotzdem, dass die moderne Kosmologie eine absolute Zeit impliziert, was allerdings unter anderem davon abhängt, was mit „absolut“ gemeint ist. Darüber hinaus greife ich die Frage auf, ob die quantenmechanische Verschränkung ein ausgezeichnetes Bezugssystem voraussetzt. Da die betreffenden Korrelationen zwischen beliebig weit voneinander entfernten Teilchen physikalisch und philosophisch (noch) rätselhaft sind, sollte man keine voreiligen Schlüsse ziehen. Zuletzt werfe ich einen Blick auf Theorien der Quantengravitation, der Vereinigung von Quantentheorie und Allgemeiner Relativitätstheorie, die nichts daran zu ändern scheinen, dass die Zeit vergeht, selbst wenn diese aus einer fundamentalen Zeitlosigkeit „emergieren“ sollte. Kapitel 8 (Allgemeine Relativitätstheorie und metaphysischer Idealismus) bringt zwei Theorien zusammen, deren Kombination vermutlich Physiker wie Metaphysiker entsetzen wird. Die Allgemeine Relativitätstheorie setzt eine vierdimensionale Punktmenge voraus, auf der eine Metrik definiert wird. Diese Menge ist die Grundlage für das sogenannte „Loch-Argument“ und wirft ganz allgemein die Frage nach der Identität der vierdimensionalen Punkte auf. Ich stelle zur Diskussion, ob verschiedene Varianten des metaphysischen Idealismus, zum Beispiel der absolute Idealismus, zur Beantwortung dieser Frage einen Beitrag leisten können, wobei auch der Panpsychismus zum Vergleich herangezogen wird. Eine Deutung der Punktmenge im Sinne des metaphysischen Idealismus ist möglich, doch spekulativ und mit vielen Problemen behaftet. In Kapitel 9 (Sprachlicher Sinn) wird zunächst in aller Kürze die empiristische Kritik am Sinn metaphysischer Aussagen rekapituliert, die bekanntlich unhaltbar ist, und anschließend (nach einem Frege-Intermezzo) jene Auffassung des sprachlichen Sinns erläutert, die unter anderem bei der Behandlung von Präsentismus und Eternalismus in Kapitel 13 vorausgesetzt wird. Es handelt sich um die von Robert Brandom entworfene inferentialistische Variante der Gebrauchstheorie des Sinns. Die semantische Unbestimmtheit, die unter anderem in Ludwig Wittgensteins Paradox des Regelfolgens und im Überdehnungsfehler sprachler-
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nender Kinder zum Ausdruck kommt, muss als theoretisches Problem hingenommen werden, spielt jedoch für das praktische Beherrschen der Sprache kaum eine Rolle, weil wir sprachlichen Regeln „blind“ folgen (Wittgenstein). Kapitel 10 (Sprachlicher Bezug) betont den Unterschied zwischen der Unbestimmtheit des Sinns (voriges Kapitel) und der Unbestimmtheit des Bezugs. An zwei bekannten Rätseln kommt man bei diesem Thema nicht vorbei: Willard Van Orman Quines „Gavagai“ und Nelson Goodmans „grot“ (Englisch grue). Die Lösung beider Rätsel steht glücklicherweise bereit: der sogenannte „Referenzmagnetismus“, der auf der in diesem Kapitel befürworteten Annahme natürlicher Eigenschaften beruht. Die Begründung, dass Referenzmagnetismus und natürliche Eigenschaften ganz allgemein für die Erklärung des Sprachverhaltens nötig seien, halte ich allerdings für überzogen. Ich versuche die Begründung daher über den Spracherwerb, der vom Gelingen induktiver Schlüsse abhängt. Dazu liegen auch empirische Studien aus der Entwicklungspsychologie vor. Kapitel 11 (Scheinprobleme) greift das Thema der Sinnlosigkeit metaphysischer Aussagen wieder auf. Diesmal geht es um verbale Dispute, um Auseinandersetzungen in der Metaphysik, hinter denen ein unbemerkter Streit um Worte steckt. Als Paradebeispiel dient die Auseinandersetzung zwischen kompatibilistischen und inkompatibilistischen Konzeptionen der Willensfreiheit, mit dem Konsequenzargument und dem Zufallseinwand als Hauptdarstellern. In dieser langen und verzweigten Debatte ist der verbale Disput nicht leicht zu entdecken, weil er sich hinter verschiedenen Begrifflichkeiten verbirgt. Ich orte ihn in zwei Formulierungen: dass eine Handlung „in meiner Macht steht“ und dass eine Entscheidung „zurechenbar“ ist. Ein Nebenthema des Kapitels ist der Determinismus, der in Kapitel 15 wichtig werden wird. Kapitel 12 (Persistenz) führt zurück zur Philosophie der Zeit, genauer gesagt zur Ontologie, wo verschiedene offene Fragen lauern. Behandelt wird die Persistenz, die Existenz von Dingen über die Zeit hinweg, die als Enduranz oder Perduranz gedeutet werden kann. Die Frage, welche Deutung richtig ist, ist ebenfalls ein Scheinproblem. Jede der beiden Interpretationen von „Ding“ (als dreidimensional oder vierdimensional) erfordert bestimmte begriffliche Anpassungen an anderen Stellen, vor allem bezüglich der zeitlichen Grenzen und der zeitlichen Identität von Dingen sowie in der Definition von „Veränderung“. Außerdem stelle ich die Vermutung an, dass ein stillschweigender Essentialismus dafür verantwortlich ist, dass das Scheinproblem nicht also solches erkannt wird. Kapitel 13 (Präsentismus und Eternalismus) diskutiert eine der populärsten Fragen der Philosophie der Zeit: ob nur Gegenwärtiges existiert (Präsentismus) oder Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges (Eternalismus). Diese Unterscheidung darf nicht mit der zwischen der dynamischen und der statischen Zeitauffassung verwechselt werden, die das Zeitvergehen betrifft. Außerdem besteht weder zwischen Präsentismus und Endurantismus noch zwischen Eternalismus
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und Perdurantismus ein notwendiger Zusammenhang. Die Auseinandersetzung zwischen Präsentismus und Eternalismus ist nicht deshalb ein Scheinproblem, weil das Wort „existieren“ auf der einen Seite temporal und auf der anderen atemporal verwendet wird. Doch die inferentialistische Semantik führt zum Schluss, dass die beiden Existenzbegriffe verschieden sind, weil die inferentiellen Rollen verschieden sind, oder wenn man so will: der Gebrauch des Existenzquantors. Kapitel 14 (Existenz ist keine natürliche Eigenschaft) ist deshalb nötig, weil das Ergebnis des vorangegangenen Kapitels voraussetzt, dass der Referenzmagnetismus nicht für das Wort „existieren“ gilt. Um zu zeigen, dass Existenz keine natürliche Eigenschaft ist, setze ich mich mit Theodore Siders Annahme auseinander, dass der Existenzquantor etwas über die Struktur der Wirklichkeit aussagt, und bringe drei Argumente dagegen vor: In der Aussage, dass Dinge der Art F existieren, steckt die Information über die Struktur der Wirklichkeit nicht im Wort „existieren“, sondern allenfalls im Prädikat F; Existenz stützt keine induktiven Schlüsse; auch nicht-fundamentale Dinge existieren. Daher schlage ich mich in dieser Angelegenheit auf die Seite von Hilary Putnam: Für den Existenzbegriff gilt begriffliche Relativität. In Kapitel 15 (Aussagen über Vergangenes und Zukünftiges) wird erläutert, wie sich die Wahrheitswerte von Aussagen über Vergangenes und Zukünftiges im Präsentismus und im Eternalismus verhalten. Im Präsentismus hängt dies vor allem davon ab, ob man temporale Tatsachen annimmt – wogegen es gute Gründe gibt – und ob die Welt deterministisch ist. Im indeterministischen Fall haben viele der Aussagen keinen Wahrheitswert („Neutralismus“), und folgt man Michael Dummett, so beziehen sie sich auf gegenwärtig existierende Rechtfertigungsbedingungen. Im Eternalismus hingegen benötigt man Hans Reichenbachs Konzept der Token-Reflexivität, um „Wahrheit“ für Satzäußerungen mit Hilfe des atemporalen Existenzbegriffs zu definieren. Insgesamt zeigt sich, dass die Wahrheitsbegriffe von Präsentismus und Eternalismus verschieden sind, weil „Wahrheit“ und „Existenz“ eng miteinander verbunden sind. Kapitel 16 (Die wachsende Wirklichkeit) ist der Growing Universe Theory gewidmet, einem Kompromiss zwischen Präsentismus und Eternalismus, der wie der Eternalismus die Existenz der Vergangenheit und wie der Präsentismus die Nichtexistenz der Zukunft annimmt. Er erklärt mittels des Existenzbegriffs, warum wir gegenüber der Vergangenheit andere Einstellungen haben als gegenüber der Zukunft, und deutet das Vergehen der Zeit als ein Anwachsen der Wirklichkeit. Trotz dieser Vorzüge wird die Theorie in den folgenden Kapiteln vernachlässigt, nicht deshalb, weil sie nur von wenigen vertreten wird, sondern weil sich die Überlegungen zum Präsentismus recht leicht auf sie übertragen lassen und weil sich nichts an der Scheinproblemdiagnose ändert: Ist „Präsentismus oder Eternalismus?“ ein verbaler Disput, dann auch „Präsentismus oder Eternalismus oder Growing-Universe-Theorie?“.
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Mit Kapitel 17 (Spezielle Relativitätstheorie und absolute Zeit) beginnt die Serie der Kapitel, die die Vereinbarkeit von Präsentismus und Spezieller Relativitätstheorie zum Inhalt haben. Die erste Möglichkeit besteht darin, eine absolute Zeit zu postulieren, die von der Speziellen Relativitätstheorie nicht erfasst wird. Die physikalischen Indizien dafür reichen derzeit nicht aus, wie in Kapitel 7 festgestellt wurde, weshalb alle philosophischen Vorstöße in diese Richtung spekulativ sind. In einem Buch aus dem Jahr 1922 behauptete Bergson, dass Einsteins Theorie nicht für wirkliche, sondern nur für vorgestellte Beobachter gilt, was letztlich heißt, dass sie empirisch falsch sein müsste – ein Eigentor von Bergson. Michael Tooley, ein Vertreter der Growing-Universe-Theorie, benötigt die absolute Zeit für seine kausale Theorie des Zeitvergehens, die unter anderem auf der fragwürdigen Prämisse beruht, dass ein Raumzeit-Punkt einen anderen kausal hervorbringt. Kapitel 18 (Gleichzeitigkeit-Präsentismus) beschäftigt sich mit der naheliegenden Versöhnung von Präsentismus und Spezieller Relativitätstheorie durch Relativierung des Existenzbegriffs auf Bezugssysteme: Wenn nur Gegenwärtiges existiert und Gegenwärtigkeit vom Bezugssystem abhängt, so hängt auch Existenz vom Bezugssystem ab. Manche halten diesen Vorschlag für absurd – ein Einwand, den man getrost übergehen kann. Ein besserer Einwand ist das „Riet dijk-Putnam-Argument“, das jedoch auf der wackeligen Prämisse beruht, dass der Existenzbegriff in bestimmter Hinsicht transitiv ist. Schließlich gibt es noch den Einwand, dass die Bezugssysteme und Beobachter, auf die Existenz relativiert wird, selbst nicht zur Gänze existieren. Dies erscheint jedoch unproblematisch, sobald man sich klarmacht, dass es nicht um eine Erzeugung (oder dergleichen) von Existenz geht, sondern um eine Relativierung des Begriffs „Existenz“. Der Titel von Kapitel 19 (Lichtkegel-Präsentismus) bezieht sich auf den Lichtkegel eines Ereignisses, der aus Vergangenheits- und Zukunftslichtkegel besteht. Die Oberfläche des Vergangenheitslichtkegels ist die „absolute Gegenwart“ des Ereignisses. Diese Interpretation von „Gegenwart“ ist recht weit vom Alltagsbegriff entfernt, obwohl es auch Übereinstimmungen gibt (wenn zum Beispiel der gesehene Stern als „gegenwärtig“ erlebt wird, obwohl das Licht Jahre benötigt, um zur Erde zu gelangen). Außerdem verletzt die absolute Gegenwart das „Prinzip der Achronalität“, welches besagt, dass von zwei Ereignissen in der absoluten Gegenwart nicht eines zur absoluten Vergangenheit des anderen gehören kann. Doch weder die Nähe zum Alltagsdenken noch das Prinzip der Achronalität sind Bedingungen, die ein Präsentismus unbedingt erfüllen muss. Kapitel 20 (Punkt-Präsentismus) diskutiert die wohl radikalste Form des relativistischen Präsentismus: Relativ zu einem Raumzeit-Punkt existiert nur dieser Punkt selbst; er ist identisch mit seiner eigenen Gegenwart. Der übliche Einwand gegen diese Auffassung – falls sie nicht sofort als „solipsistisch“ abgelehnt wird – lautet, dass dann die Vergangenheit eines Ereignisses niemals gegenwärtig war.
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Meine Antwort darauf ist die, dass jede relativistische Philosophie der Zeit kontraintuitive Konsequenzen hat, in diesem Fall eben bezüglich des Verhältnisses von „gegenwärtig“ und „vergangen“. Ich halte den in der Philosophie der Zeit geächteten Punkt-Präsentismus deshalb für zentral, weil er es erlaubt, den Begriff der Existenz mit der Gegenwärtigkeit-für-jemanden zu verbinden, weshalb hier das vorontologische Seinsverständnis nach Martin Heidegger verortet werden kann, was zu den ontologischen Überlegungen der folgenden Kapitel überleitet. Kapitel 21 (Zeitliche Existenz) ist das erste von drei Kapiteln, in denen drei – nicht notwendigerweise disjunkte – Gattungen der Existenz untersucht werden: zeitliche, abstrakte und uneigentliche Existenz. Da das ganze Buch direkt oder indirekt der zeitlichen Existenz gewidmet ist, begnüge ich mich hier damit, mit Unterstützung von Aristoteles und Thomas von Aquin zu erklären, warum „Existenz“ nicht definierbar ist, was nicht ausschließt, dass man Existenzarten – wie zum Beispiel physische und psychische Existenz – voneinander unterscheiden kann. Abschließend wird kurz der Zusammenhang zwischen dem eternalistischen und den präsentistischen Existenzbegriffen beleuchtet. Der eternalistische kann als Abstraktion des Punkt-präsentistischen Existenzbegriffs interpretiert werden. Kapitel 22 (Abstrakte Existenz) erinnert zunächst daran, dass die Gegenwärtigkeit-für-jemanden nicht nur ein Vorverständnis von physischer Existenz enthält, sondern auch eines von psychischer Existenz, was Franz Brentano als „doppelte Eigenthümlichkeit“ des psychischen Phänomens beschrieben hat. Im Mittelpunkt des Kapitels steht jedoch eine Verteidigung des aristotelischen Verständnisses von Universalien: Diese existieren zeitlich in rebus. Gegen ihre zeitlose Existenz spricht das Chōrismos-Problem, das in verallgemeinerter Form jede Art der zeitlosen Existenz betreffen würde: Der Zusammenhang zwischen zeitlicher und zeitloser Existenz bliebe unklar. Andererseits gibt es gute Argumente gegen den Nominalismus (Tropen- und Ähnlichkeitsnominalismus), über den von Bertrand Russell bereits das Wichtigste gesagt wurde. Kapitel 23 (Uneigentliche Existenz) richtet sich gegen ontologischen Wildwuchs jenseits der im vorigen Kapitel kritisierten zeitlosen Existenz, beispielsweise gegen die Sinnfeld-Ontologie von Markus Gabriel. Der klassische Begriff für solche Eskapaden ist „uneigentliche Existenz“. Heute ist auch von „ontologischer Reduktion“ die Rede. Existenzerklärungen unterscheiden sich von ontologischen Reduktionen dadurch, dass in den ersten das Erklärte nicht wegerklärt wird, während das ontologisch Zurückgeführte eigentlich nicht existiert, obwohl vielleicht darüber geschrieben oder gesprochen wird. Dabei ist festzuhalten, dass manche Aussagen nicht zurückgeführt zu werden brauchen, weil sie einfach falsch sind, und dass die Zurückführung keine Übersetzung zu sein braucht, denn meist genügen Umschreibungen. Ich diskutiere unter anderem die Existenz von Hexen und Staaten.
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Kapitel 24 (Kein Anfang der Zeit) schließt den Kreis, indem es sich wieder der im ersten Kapitel erwähnten Ewigkeit als Sempiternitas zuwendet. Die in der ersten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft aufgeworfene Frage, ob die Welt unendlich alt sein kann, wird im Sinne von Russell beantwortet: In einem unendlich langen Zeitraum ist die von Immanuel Kant bestrittene unendliche Synthesis möglich. Ich kritisiere William Lane Craigs Erwiderung auf Russell, die sich vor allem darauf stützt, dass unendliche Gesamtheiten die aus der Mengenlehre vertrauten kontraintuitiven Eigenschaften haben – was kein Grund ist, sie zu verwerfen. Die vergangene Zeit könnte unendlich sein, falls bereits vor dem Urknall etwas existiert hat. Im kurzen Nachwort ordne ich meine Philosophie der Zeit in das seit Kant bestehende Spannungsverhältnis zwischen Metaphysik und Metaphysikkritik ein. Außerdem denke ich ein wenig über Aeternitas und Mystik nach. Als ich dieses Buch über einen ziemlich langen Zeitraum hinweg schrieb, war ich als Leiter des Instituts für Philosophie der Universität Innsbruck mit vielen Aufgaben befasst, die mich immer wieder von der eigentlichen Arbeit eines Philosophen abgelenkt haben. Zum Glück wurde ich dabei von meinen Kolleginnen und Kollegen am Institut entlastet und unterstützt, was mir das Schreiben erst ermöglicht hat. Dafür und für allerlei Arten von Inspiration bin ich ihnen sehr dankbar. Besonderer Dank gebührt den drei Lesern der vorletzten Textfassung: Mein Freund Ulrich Metschl gab mir wertvolle Hinweise, insbesondere zu McTaggart, Quine und Goodman. Daniel Spitzenstätter, damals studentischer Mitarbeiter an unserem Institut, hat den Text gründlich durchkämmt und zahlreiche Vorschläge gemacht. Ungemein wichtig war außerdem die Hilfe von Gebhard Grübl vom Institut für Theoretische Physik unserer Universität, der die physikalischen Teile des Buches überprüft und mich vor einigen Missverständnissen bewahrt hat. Alle drei haben zur Verbesserung des Buches beigetragen, für dessen Mängel ich allein verantwortlich bin. Beim abschließenden Korrekturlesen hat mir Vera Baumgartner sehr geholfen. Ich widme die folgenden Seiten dem Andenken meines Vaters. Er starb, kurz bevor ich begonnen habe, dieses Vorwort zu verfassen. „Die Lösung des Rätsels des Lebens in Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit“, schreibt Wittgenstein im letzten der drei Paragraphen des Tractatus, die vom Tod handeln (1963: 6.4312). Als Motto meines Buches ist jedoch ein Satz aus seinem Blauen Buch wohl besser geeignet: „Und tatsächlich ist es die Grammatik des Wortes ‚Zeit‘, die uns verwirrt.“ (1984: 49) Innsbruck, im Oktober 2018
Peter Kügler
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis
Erster Teil Ewigkeit und Zeitvergehen 17
Kapitel 1: Die Zeit vergeht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Kapitel 2: Das Zeitvergehen wird erlebt .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Kapitel 3: Das Zeitvergehen ist keine Illusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
Zweiter Teil Zeit in der Physik 43
Kapitel 4: Physikalische Zeitpfeile .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Kapitel 5: Spezielle Relativitätstheorie .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Kapitel 6: Eigenzeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Kapitel 7: Kosmologie und Quantentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Kapitel 8: Allgemeine Relativitätstheorie und metaphysischer Idealismus . . . . . . . . . . . . 73
Dritter Teil Sprache und Sprachkritik 81
Kapitel 9: Sprachlicher Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Kapitel 10: Sprachlicher Bezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Kapitel 11: Scheinprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
Vierter Teil Ontologie der Zeit 109
Kapitel 12: Persistenz .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Kapitel 13: Präsentismus und Eternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Kapitel 14: Existenz ist keine natürliche Eigenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Kapitel 15: Aussagen über Vergangenes und Zukünftiges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Kapitel 16: Die wachsende Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
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Inhaltsverzeichnis Fünfter Teil Spezielle Relativitätstheorie und Präsentismus 149
Kapitel 17: Spezielle Relativitätstheorie und absolute Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Kapitel 18: Gleichzeitigkeit-Präsentismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Kapitel 19: Lichtkegel-Präsentismus .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Kapitel 20: Punkt-Präsentismus .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
Sechster Teil Zeitliche und zeitlose Existenz 173
Kapitel 21: Zeitliche Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Kapitel 22: Abstrakte Existenz .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Kapitel 23: Uneigentliche Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Kapitel 24: Kein Anfang der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
Erster Teil
Ewigkeit und Zeitvergehen
Kapitel 1
Die Zeit vergeht Erster Teil: Ewigkeit und Zeitvergehen Kapitel 1: Die Zeit vergeht
Die vermutlich einflussreichste Definition der Zeit in der Geschichte der Philosophie stammt von Aristoteles. Im vierten Buch seiner Physik steht, dass die Zeit (chronos) die Zahl der Bewegung hinsichtlich des Früher und Später ist (1987: 212; 219b). „Zahl“ ist hier die Übersetzung des griechischen Wortes arithmos, das man auch als „Maß“, „Menge“ oder „Quantität“ wiedergeben könnte. Mehr als anderthalb Jahrtausende später wird der Aristoteliker Thomas von Aquin schreiben, die Zeit (tempus) verhalte sich „zu den zeitlichen Dingen [temporalia] wie ein Maß zum Gemessenen“ (1986: 29). „Maß“ steht in diesem Fall für das lateinische mensura. Zeit ist also vor allem eines: messbar. Neben den heute noch bekannten Sonnenuhren waren in der Antike Wasseruhren in Gebrauch, bei denen der Flüssigkeitsstand in einem Gefäß der verstrichenen Zeit entsprach. Im Jahrhundert, in dem Thomas von Aquin lebte, gab es hydraulische Uhren mit komplizierten Mechanismen und Läutwerken. Gegen Ende seines Lebens – er starb 1274 – oder etwas später dürften die ersten rein mechanischen Uhren entstanden sein, die bald auch auf Türmen von Rathäusern, Kirchen und Palästen zu sehen waren.1 Das zweite wichtige Wort in der aristotelischen Definition ist „Bewegung“, die Übersetzung von kinēsis. Aristoteles merkt allerdings kurz vor der betreffenden Stelle an, es mache keinen Unterschied, ob man von „Bewegung“ oder „Veränderung“ (metabolē) spreche (1987: 208; 218b). Zeit im aristotelischen Sinn setzt somit Veränderung voraus. Umgekehrt gibt es auch keine Veränderung ohne Zeit,2 denn ob sich etwas verändert hat, hängt davon ab, ob die Situation anders ist als zuvor – ob zum Beispiel die räumliche Lage eines Gegenstandes eine andere ist. Wenn ja, hat sich der Gegenstand bewegt. Diese wechselseitige Abhängigkeit von Zeit und Veränderung impliziert jedoch nicht, dass sie identisch sind. Solange es nur irgendwo Veränderung gibt, kann die Zeit auch Inseln der Ruhe enthalten, „denn Zeit ist nicht gleich Bewegung, sondern sie ist die Zahl von Bewegung, innerhalb dieser Anzahl von 1 Der Übergang von hydraulischen zu mechanischen Uhren lässt sich zeitlich nicht genau bestimmen, weil aus den Quellen meist nicht hervorgeht, um was für eine Uhr es sich handelt (Dohrn-van Rossum 1992: 94). 2 „Hier füge ich noch hinzu, daß der Begriff der Veränderung und, mit ihm, der Begriff der Bewegung (als Veränderung des Orts) nur durch und in der Zeitvorstellung möglich ist“ (Kant 1998: B 48).
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Bewegung kann auch das Ruhende sich befinden.“ (Aristoteles 1987: 223; 221b) Abgesehen davon ist die Zeit nicht das einzige Maß der Veränderung, denn die Welt verändert sich bekanntlich in vielerlei Hinsicht: Dinge bewegen sich über verschiedene Distanzen, werden größer oder kleiner, verändern sich in ihrer Zusammensetzung, Oberflächenbeschaffenheit usw. Viele dieser Eigenschaften bzw. Eigenschaftsänderungen lassen sich quantifizieren, weshalb es für sie auch eine „Zahl“ gibt, die aber eben nicht jene der Zeit ist. Um Zeit als eine bestimmte Quantität von anderen Quantitäten der Veränderung zu unterscheiden, müssen Merkmale angegeben werden, die für Zeit charakteristisch sind. Aristoteles tut dies, indem er die Zeit als Zahl der Veränderung hinsichtlich des Früher (proteron) und Später (hysteron) definiert. Hier ließe sich einwenden, dass damit der Begriff „Zeit“ durch Begriffe erklärt wird, die bereits einen zeitlichen Inhalt haben. Doch wie könnte es anders sein? Es kann nicht darum gehen, Zeit auf etwas Nichtzeitliches zurückzuführen, sondern allenfalls darum, die grundlegenden zeitlichen Begriffe ausfindig zu machen. Nach der Definition von Aristoteles sind dies „Veränderung“, „früher“ und „später“, während arithmos selbst keine spezifisch zeitliche Bedeutung besitzt. Die uns allen vertraute Idee, dass die Zeit vergeht – was nach dem eben Gesagten voraussetzt, dass sich etwas verändert –, bezeichnet man als dynamische Zeitauffassung; ihr Gegenteil ist die statische Auffassung der Zeit (Sartre 1993: 255). Das Wort „statisch“ soll zum Ausdruck bringen, dass die Zeit nicht vergeht. Was damit gemeint ist, versteht man am besten, wenn man sich zunächst den Begriff der Ewigkeit genauer ansieht. In der Philosophie werden zwei Arten der Ewigkeit unterschieden, die lateinisch als Sempiternitas und Aeternitas bezeichnet werden. Sempiternitas ist eine unendlich lange Zeit ohne Anfang und Ende. Die Frage, ob das Universum – oder die gesamte Wirklichkeit, falls beides nicht dasselbe sein sollte – seit unendlich langer Zeit existiert oder irgendwann zu existieren begonnen hat, beschäftigt Philosophie und Wissenschaft seit der Antike. Für die Frage, was Zeit eigentlich ist, ist dieses Problem jedoch eher nebensächlich. Der Begriff der Ewigkeit als Sempiternitas wird daher in diesem Buch keine tragende Rolle spielen. Erst im letzten Kapitel wird er wieder zum Vorschein kommen, wenn die Frage behandelt wird, ob die Zeit einen Anfang hatte. Anders steht es mit der zweiten Art der Ewigkeit, der Aeternitas, die für die Frage nach dem Wesen der Zeit unter anderem deshalb wichtig ist, weil sie als Gegenteil der Zeit, als Zeitlosigkeit konzipiert wurde. Platon beispielsweise bezieht sich auf sie, wenn er im Timaios berichtet, dass die Zeit als „bewegtes Bild [eikōn] der Ewigkeit“ geschaffen wurde (1991a: 257; 37d). Im Sinn der Sempiternitas ist etwas ewig, wenn es immer war und immer sein wird. Ist etwas hingegen im Sinn der Aeternitas ewig, so kann man von ihm nicht sagen, dass es war oder sein wird – man könne nur sagen, dass es ist, schreibt Platon (37e-38a). Boethius verstand dies in De Trinitate (Kap. 4) so, dass die Ewigkeit Gottes ein „bleibendes, unbe-
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wegtes Jetzt“ (nunc permanens neque movens) ist, was von Thomas von Aquin später zum „stehenden Jetzt“ (nunc stans) verkürzt wurde (Summa Theologiae I: q. 10, a. 2). Für Platon, Boethius und Thomas unterscheidet sich die Zeit von der Aeternitas dadurch, dass sie vergeht. Sie ist gerade deshalb Zeit, weil es in ihr Bewegung und Veränderung gibt. Die Aeternitas hingegen ist Zeitlosigkeit, weil es in ihr keine Bewegung und keine Veränderung gibt. Ein größerer Unterschied lässt sich kaum denken. Es ist daher eine Ironie der Philosophiegeschichte, dass die Zeit im Rahmen der statischen Zeitauffassung wie die Aeternitas betrachtet wird, das heißt ohne Bewegung und Veränderung. Man könnte dies so ausdrücken, dass die Zeit nach der statischen Zeitauffassung so ist, wie Gott sie sehen würde (wenn dieser existierte). Denn weil Gottes Ewigkeit ein stehendes Jetzt ist, „verharrt auch sein Wissen, das jede Bewegung der Zeit überschreitet, in der Einfachheit seiner Gegenwärtigkeit“ (Boethius 1981: 267). Die statische Auffassung der Zeit erlangte im zwanzigsten Jahrhundert große Bedeutung. Verantwortlich dafür war unter anderem John McTaggart Ellis McTaggart (er hieß wirklich so), der im Jahr 1908 in einem Aufsatz über „Die Irrealität der Zeit“ ein Modell der nichtvergehenden Zeit entwickelte, die sogenannte „B-Reihe“. Er selbst verwarf dieses Modell zwar, doch dies hielt andere nicht davon ab, sich davon inspirieren zu lassen.3 Eine beliebige Reihe von Ereignissen nennt McTaggart „C-Reihe“. Als bloße Anordnung ist eine C-Reihe noch nicht zeitlich. Man kann jedoch versuchen, aus ihr eine zeitliche Ordnung zu machen, indem man annimmt, dass die Ereignisse der C-Reihe durch die Relationen Früher und Später geordnet sind (wie bei Aristoteles: proteron und hysteron). Dabei muss natürlich gelten, dass ein Ereignis genau dann früher als ein anderes Ereignis ist, wenn das zweite später als das erste ist; und wenn ein Ereignis weder früher noch später als ein anderes ist, so sind die beiden gleichzeitig. Diese durch Früher und Später geordnete Reihe von Ereignissen ist die erwähnte B-Reihe. Doch obwohl die Begriffe „früher“ und „später“ dies zu garantieren scheinen, hielt McTaggart die B-Reihe nicht für ausreichend, weil es in ihr keine Veränderung gibt, Veränderung für Zeit jedoch notwendig sei (worin er ebenfalls Aristoteles folgte). Mit „Veränderung“ meinte McTaggart nicht nur, dass sich die Situation zu einem Zeitpunkt von der Situation zu einem anderen Zeitpunkt unterscheidet, denn dies trifft bereits auf die B-Reihe zu. Nehmen wir 3 Siehe McTaggart (1993), Williams (1951), Smart (1963), Mellor (1981) und (1998). Die Bezeichnung „Folge“ würde den zeitlichen Aspekt von McTaggarts „series“ vielleicht besser zum Ausdruck bringen als „Reihe“, doch dieser Begriff hat sich eingebürgert und erinnert außerdem an die „Reihe“ aus Immanuel Kants erster Antinomie (1998: B 454 f.), mit der ich mich in Kapitel 24 beschäftigen werde. Nicht zuletzt ist McTaggarts C-Reihe keine zeitliche Folge.
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an, dass eine grüne Ampel auf Gelb und dann auf Rot springt. In der B-Reihe gibt es dann drei aufeinanderfolgende Ampelphasen: Die gelbe Phase ist später als die grüne und die rote ist später als die gelbe. McTaggart würde dies nicht als „Veränderung“ gelten lassen, weil die Später-Relation zwischen zwei Ampelphasen seiner Meinung nach immer besteht. Dies ist sein wichtigstes Argument gegen das Vorhandensein von Veränderung in der B-Reihe: Die zeitlichen Verhältnisse zwischen Ereignissen – Früher, Später, Gleichzeitig – existieren immer. Es sind permanente Relationen, um den von ihm selbst bevorzugten Begriff zu verwenden. Dass die Relationen permanent existieren, gilt freilich nur, falls es überhaupt sinnvoll ist, zu sagen, dass sie immer, also zu allen Zeitpunkten existieren. Dies trifft jedoch nicht zu. Beispielsweise fanden Cäsars Geburt und Cäsars Tod zu verschiedenen Zeitpunkten statt und das erste Ereignis existierte früher als das zweite, doch die Früher-Relation selbst existiert nicht jetzt. Sie existierte allenfalls in der Vergangenheit, doch genaugenommen kann man von ihr überhaupt nicht sagen, sie habe zu irgendeinem Zeitpunkt existiert. Sie existierte noch nicht zum Zeitpunkt von Cäsars Geburt und ebenso wenig zum Zeitpunkt von Cäsars Tod, weil zu diesem Zeitpunkt das andere Relatum – Cäsars Geburt – nicht mehr existierte. Und nach Cäsars Tod? Als beide Ereignisse nicht mehr existierten, existierte wohl auch die Relation nicht mehr. Diese Überlegungen zeigen, dass der von McTaggart gebrauchte Begriff „permanent“ fehl am Platz ist. Wir müssen sein Argument daher umformulieren, um es überzeugend zu machen. Zu diesem Zweck benötigen wir einen zeitlosen Begriff der Existenz, wobei das Wort „zeitlos“ allerdings irreführend ist, weil es nicht um Zeitlosigkeit im Sinne der Aeternitas geht, sondern lediglich um den Verzicht auf Zeitformen des Verbs „existieren“. Im Englischen steht dafür das Wort „tense“ zur Verfügung, es wird daher zwischen „tensed“ und „tenseless“ unterschieden. In der deutschen Grammatik heißt die entsprechende Kategorie „Tempus“. Wir können somit von der temporalen und der atemporalen (oder tempuslosen) Bedeutung von „existieren“ sprechen. Wird „existieren“ im temporalen Sinn verwendet, tritt es in verschiedenen Zeitformen auf: Die Wörter „existierte“, „existiert“ und „wird existieren“ drücken jeweils Existenz in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus. Wird „existieren“ hingegen im atemporalen Sinn verwendet, so steht es zwar grammatikalisch im Präsens, doch es impliziert nicht, dass das Ereignis in der Gegenwart existiert. Cäsars Geburt existiert nicht im temporalen Sinn, weil das heißen würde, dass Cäsar jetzt geboren wird. Doch das Ereignis existiert im atemporalen Sinn. Dasselbe lässt sich auch über die zeitliche Relation zwischen Cäsars Geburt und seinem Tod sagen: Die Früher-Relation existiert atemporal, jedoch nicht „immer“ bzw. „permanent“.
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Deutet man McTaggarts Argument mit Hilfe dieses atemporalen Existenzbegriffs, so ist die Schlussfolgerung nachvollziehbar, dass es in der B-Reihe keine Veränderung gibt. Denn die Ereignisse der B-Reihe und die zeitlichen Relationen zwischen diesen existieren nur atemporal. Die Zeitformen von „existieren“ stehen zur Beschreibung der B-Reihe nicht zur Verfügung, ebenso wenig die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Daher lässt sich gar nicht ausdrücken, dass die Zeit zwischen zwei Ereignissen vergeht. Denn Zeitvergehen heißt, dass Zukünftiges gegenwärtig wird und Gegenwärtiges in die Vergangenheit abtaucht. In der B-Reihe gibt es also kein Zeitvergehen im beschriebenen Sinn. Werfen wir nun einen Blick auf die A-Reihe. So nennt McTaggart die Reihe der Ereignisse (das heißt die C-Reihe), wenn diese durch die Begriffe „vergangen“, „gegenwärtig“ und „zukünftig“ beschrieben wird. In seinen eigenen Worten handelt es sich bei der A-Reihe um „die Reihe der Positionen, die von der weit entfernten Vergangenheit über die nahe Vergangenheit bis zur Gegenwart und von der Gegenwart über die nahe Zukunft bis zur weit entfernten Zukunft verlaufen“ (1993: 68). Das Verb „verlaufen“ (englisch running) ist hier möglichst neutral zu verstehen, denn McTaggart verwendet es auch für die B- und die C-Reihe. Es impliziert somit noch kein Zeitvergehen. Neu gegenüber der B-Reihe ist in der A-Reihe auf jeden Fall der Begriff der Gegenwart, während „vergangen“ und „zukünftig“ den B-Reihe-Begriffen „früher“ und „später“ ähneln. Hat man den Begriff „Gegenwart“ zur Verfügung, dann kann man sogar „vergangen“ und „zukünftig“ durch „früher“ und „später“ definieren: Ereignisse sind vergangen, wenn sie früher als die Gegenwart sind. Sind sie hingegen später als die Gegenwart, so sind sie zukünftig. Obwohl also die Wörter „vergangen“ und „zukünftig“ auf den ersten Blick Qualitäten, das heißt nicht-relationale Eigenschaften, zu bezeichnen scheinen, sind damit tatsächlich die beiden B-Reihe-Relationen gemeint. Die beiden A-Reihe-Wörter beziehen sich auf die Früher-Relation und die Später-Relation zur Gegenwart. Auf der Suche nach Veränderung in der A-Reihe entdeckt McTaggart jedoch ein vermeintliches Problem: Er behauptet nämlich, dass die A-Reihe widersprüchlich sei, weil jedem Ereignis alle drei Bestimmungen – vergangen, gegenwärtig, zukünftig – zukommen und diese Bestimmungen miteinander unvereinbar sind. Dies erläutert er folgendermaßen anhand eines hypothetischen Ereignisses M: „Wenn M vergangen ist, ist es gegenwärtig und zukünftig gewesen. Wenn es zukünftig ist, wird es gegenwärtig und vergangen sein. Wenn es gegenwärtig ist, ist es zukünftig gewesen und wird vergangen sein. Demnach sind alle drei inkompatiblen Terme prädizierbar für jedes Ereignis“ (1993: 79). Wie McTaggart richtig feststellt, ist dies nicht so gemeint, dass jedes Ereignis zugleich vergangen, gegenwärtig und zukünftig ist. Vielmehr sei es so, dass beispielsweise ein gegenwärtiges Ereignis zukünftig war und vergangen sein wird.
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In der Vergangenheit lag das Ereignis in der Zukunft und in der Zukunft wird es in der Vergangenheit liegen. Die Merkmale „gegenwärtig“, „vergangen“ und „zukünftig“ beziehen sich somit auf verschiedene Zeitpunkte. Tatsächlich bringt diese naheliegende Interpretation den angeblichen Widerspruch sofort zum Verschwinden.4 Unglücklicherweise verwirft jedoch McTaggart diese Lösung, weil er sie für zirkulär hält: „Denn sie setzt die Existenz der Zeit voraus, um die Weise zu erklären, wie Zeitpunkte vergangen, gegenwärtig und zukünftig sind.“ (1993: 79) Dass die Lösung „die Existenz der Zeit voraussetzt“ ist einerseits richtig, denn sie setzt ja den Begriff der Gegenwart voraus. Wie ich bereits erklärt habe, wird dieser Begriff unter anderem benötigt, um „vergangen“ als „früher als die Gegenwart“ und „zukünftig“ als „später als die Gegenwart“ zu definieren. Doch McTaggart hat nicht recht, wenn er diese Voraussetzung für problematisch hält. „Gegenwart“ ist eben jener Begriff, durch den sich die A-Reihe von der B-Reihe unterscheidet. Dass dieser Begriff von der A-Reihe „vorausgesetzt“ wird, ist daher ein untauglicher Einwand. Wir lernen daraus lediglich, dass wir versuchen sollten, uns den Begriff der Gegenwart irgendwie unabhängig von der B-Reihe verständlich zu machen. Eine gängige Interpretation dieses Begriffs besagt, dass das Wort „gegenwärtig“ eine ähnliche Funktion wie das Wort „jetzt“ erfüllt. Laut Michael Dummett, der diese Position vertritt, wollte McTaggart eigentlich sagen, dass „eine Beschreibung der Ereignisse als in der Zeit stattfindender unmöglich ist, ohne daß zeitlich zeichenreflexive Ausdrücke in sie eingehen, das heißt, ohne daß die Beschreibung von jemandem gegeben wird, der selbst in der Zeit ist.“ (Dummett 1993: 123) Das Wort „zeichenreflexiv“ ist die Übersetzung des englischen „token-reflexive“. Gemeint ist damit, dass sich ein Token, ein einzelnes Vorkommnis des Wortes „jetzt“ auf sich selbst und damit indirekt auf den Zeitpunkt der Äußerung bezieht. Mit Hilfe von „jetzt“ kann man so zum Ausdruck bringen, dass etwas zeitgleich mit der Äußerung dieses Wortes stattfindet oder existiert. Dass es „jetzt regnet“, würde etwa bedeuten, dass diese Äußerung mit dem Regen zeitgleich ist.5 Allerdings stellt sich die Frage, wie dann die verschachtelten Formulierungen in McTaggarts Aufsatz zu verstehen sind. Was hieße es beispielsweise, dass ein 4 Michael Dummett (1993: 121) ist anderer Meinung, weil das Problem seines Erachtens auf höherer Ebene wiederkehrt, wenn man die zusammengesetzten Begriffe „vergangen in der Gegenwart“, „gegenwärtig in der Gegenwart“ und „zukünftig in der Gegenwart“ betrachtet, die wieder jedem Ereignis zukommen. Doch „in der Gegenwart“ bezieht sich offensichtlich nicht auf denselben Zeitpunkt, wenn von demselben Ereignis die Rede ist. Daher sind die drei zusammengesetzten Begriffe ebenso miteinander vereinbar wie die einfachen „vergangen“, „gegenwärtig“ und „zukünftig“. 5 Die Idee der Token-Reflexivität geht auf Hans Reichenbach (1999: §§ 50 f.) zurück, der damit die Wahrheitsbedingungen temporaler Aussagen erklärte, also von Aussagen darüber, was war, ist oder sein wird.
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Ereignis „gegenwärtig war“ und „gegenwärtig sein wird“? In solchen Kombinationen wird das Wort „gegenwärtig“ offensichtlich nicht token-reflexiv gebraucht, denn das Wort bezieht sich gerade nicht auf den Zeitpunkt seiner Verwendung, wenn man in dieser Weise über einen vergangenen oder zukünftigen Zeitpunkt spricht. Es ist vielmehr so, als würde man sich mit Hilfe des Wortes „anwesend“ auf einen entfernten Ort beziehen. Ich könnte zum Beispiel sagen, dass jemand dort anwesend ist. Damit will ich selbstverständlich nicht sagen, dass sich dieser Jemand hier, am Ort meiner Äußerung befindet. Das Wort „anwesend“ funktioniert nicht wie das token-reflexive „hier“. Ebenso wenig funktioniert das Wort „gegenwärtig“ wie das token-reflexive „jetzt“. Kurz gesagt scheint „gegenwärtig“ kein token-reflexiver Ausdruck zu sein, jedenfalls nicht in all seinen Verwendungen. Legen wir daher den Vorschlag der Token-Reflexivität beiseite. Eine weitere Interpretationsmöglichkeit besteht in der Annahme, dass das Wort „gegenwärtig“ – wie „früher“ und „später“ – eine zeitliche Relation bezeichnet, und zwar eine Relation, die zwischen gleichzeitigen Ereignissen besteht. Unter anderem würde jedes Ereignis zu sich selbst in dieser Relation stehen. McTaggart zieht die Möglichkeit, dass die Begriffe der A-Reihe für Relationen stehen, auch selbst in Betracht. Er führt sogar zunächst an, dass dies „die vernünftigere Auffassung zu sein scheint“ (1993: 78). Anschließend verwirft er diese Auffassung jedoch aus demselben Grund, aus dem er die B-Reihe verwirft: Er meint, dass die Merkmale der A-Reihe als zeitliche Relationen ebenfalls permanent wären. Jedes Ereignis wäre beispielsweise immer gegenwärtig in Bezug auf sich selbst. Dieses Argument ist natürlich genauso problematisch wie das analoge Argument bezüglich der B-Reihe, das wir schon betrachtet haben, denn „permanent“ und „immer“ sind hier wieder unpassend. Und wieder können wir uns stattdessen einer atemporalen Sprache bedienen und sagen, dass jedes Ereignis gleichzeitig mit sich selbst existiert (im atemporalen Sinn von „existieren“). Wie zuvor müssten wir daraus den Schluss ziehen, den auch McTaggart gezogen hat: dass die Zeit in der A-Reihe nicht vergeht. Würde „gegenwärtig“ die Relation der Gleichzeitigkeit bezeichnen, so würde die Zeit deshalb nicht vergehen, weil alle Ereignisse gleichzeitig mit sich selbst sind und somit „gegenwärtig“ existieren (im atemporalen Sinn). Wenn man das Vergehen der Zeit begrifflich erfassen möchte, darf man die A-Reihe offenbar nicht wie die B-Reihe behandeln (Prior 1967: 6 und 101). Das heißt vor allem, dass man das Wort „gegenwärtig“ nicht so auffassen darf, dass es etwas Permanentes oder atemporal Existierendes bezeichnet. Ein geeigneter Gegenvorschlag ist bereits bei McTaggart zu finden, der an zwei Stellen seines Aufsatzes davon spricht, dass sich die „Gegenwärtigkeit“ (presentness) durch die Zeitreihe bewegt, wobei Gegenwärtigkeit selbst keine Relation ist, sondern eine nicht-relationale „Charakteristik“ oder „Qualität“ von Ereignissen.
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Die erste dieser beiden Textstellen enthält eine Reflexion über die C-Reihe, aus der durch Hinzufügung der Gegenwärtigkeit eine Zeitreihe wird: „Wir können jetzt erkennen, daß die A-Reihe zusammen mit der C-Reihe ausreichend ist, um Zeit zu ergeben. Denn um Veränderung zu erhalten, und zwar Veränderung in einer gegebenen Richtung, reicht es aus, wenn unter Ausschluß aller anderen Positionen eine Position in der C-Reihe die Position ‚gegenwärtig‘ ist und wenn dieses Charakteristikum der Gegenwärtigkeit [presentness] sich entlang der Reihe bewegt, und zwar so, daß alle Positionen auf der einen Seite der Position ‚gegenwärtig‘ gegenwärtig gewesen sind und alle Positionen auf ihrer anderen Seite gegenwärtig sein werden.“ (McTaggart 1993: 73) In diesem Zitat steht „bewegen“ für das englische Verb pass. Die zweite Stelle, an der McTaggart von der Bewegung der Gegenwärtigkeit spricht, ist in der letzten Fußnote des Aufsatzes zu finden und enthält das Wort movement: „Die Darstellung der Zeit durch die Metapher der räumlichen Bewegung [spatial move ment] ist sehr geläufig. Aber soll es sich um eine Bewegung von ‚vergangen‘ zu ‚zukünftig‘ oder von ‚zukünftig‘ zu ‚vergangen‘ handeln? Wenn die A-Reihe als eine Reihe von Qualitäten betrachtet wird, wird sie natürlich als eine Bewegung von ‚vergangen‘ zu ‚zukünftig‘ betrachtet werden, da die Qualität der Gegenwärtigkeit [quality of presentness] den vergangenen Zuständen angehört hat und den zukünftigen angehören wird.“ (McTaggart 1993: 80 f.) Um die eingangs zitierte Formulierung Platons aufzugreifen, könnte man sagen, dass die A-Reihe ein „bewegtes Bild der Ewigkeit“ ist. Die „Ewigkeit“ ist die B-Reihe. Ein „Bild“ dieser Ewigkeit ist die A-Reihe deshalb, weil sie sich von der B-Reihe nur durch die Bewegung der Gegenwärtigkeit unterscheidet. McTaggart hat natürlich recht, dass „Bewegung“ in diesem Zusammenhang als Metapher zu sehen ist. Auf der Bewegungsmetapher beruht auch die gängige Vorstellung, dass die Zeit „fließt“ oder „verrinnt“, die schon in Isaac Newtons Principia Mathematica (1687) an prominenter Stelle zum Ausdruck kommt: „Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfliesst an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig, und ohne Beziehung auf irgend einen äussern Gegenstand. Sie wird so auch mit dem Namen: Dauer belegt.“ (1963: 25) Fließen und Bewegung sind Lageveränderungen im Raum, weshalb die Zeit nicht im eigentlichen Sinn fließen oder in Bewegung sein kann. Wenn wir uns die Zeit als Fluss vorstellen, so stellen wir sie uns als eine mehr oder weniger horizontale Bewegung vor, weshalb wir auch die räumlichen Metaphern „vor“ und „nach“ anstelle von „früher“ und „später“ verwenden. Cäsars Geburt fand früher als sein Tod und damit vor demselben statt. Im MandarinChinesischen spricht man über die Zeit ebenfalls in horizontalen Metaphern, daneben aber auch in vertikalen; die Vergangenheit liegt dabei „oben“ und die Zukunft „unten“. Obwohl solche sprachlichen Unterschiede die Art und Weise beeinflussen, wie Menschen über Zeit denken (Boroditsky 2001), dürften sie für
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die metaphysische Betrachtung derselben jedoch nebensächlich sein. Für McTaggarts Reihen macht es wohl keinen Unterschied, ob man sie sich horizontal oder vertikal vorstellt. Der Fluss der Zeit in der A-Reihe könnte auch eine Art Wasserfall sein. Ein neutrales Wort, das „Fließen“ und andere räumliche Metaphern ersetzen kann, ist „Dauer“, das von Newton in Gestalt des lateinischen duratio am Ende des obigen Zitats verwendet wird. Im nächsten Kapitel wird es als Übersetzung von Henri Bergsons durée wiederkehren. Wählt man diese Terminologie, so lässt sich die dynamische Zeitauffassung auch dadurch charakterisieren, dass die Zeit dauert oder Dauer ist. Freilich wird „Dauer“ auch oft als „Zeitspanne“ verstanden, als „Dauer zwischen zwei Ereignissen“. Diese Dauer gibt es auch in der statischen Zeitauffassung, weshalb ich den Begriff „Vergehen“ vorziehe, um die dynamische Zeitauffassung zu charakterisieren. „Vergehen“ ist zwar ebenfalls eine Metapher, allerdings eine tote, weil man den Bestandteil „gehen“ nicht mehr heraushört und somit die Metapher nicht mehr als Metapher erkennt. Den Ursprung im Gehen teilt dieses Wort übrigens mit dem englischen pass (lateinisch passus, „Schritt“). Die als Qualität verstandene Gegenwärtigkeit ruft eine Schwierigkeit in Erinnerung, die bereits von Aristoteles in der Physik angesprochen wurde (1987: 205; 218a): Die Gegenwart scheint kein echter Teil der Zeit zu sein, sondern die Grenze zwischen zwei Teilen, der Zukunft und der Vergangenheit, und somit ein bloßer Übergang. Existiert die Gegenwart dann überhaupt? Augustinus bejahte diese Frage im elften Buch der Confessiones: „So können wir in Wahrheit von der Zeit nur sagen, sie sei, weil sie zum Nichtsein übergeht.“ (1989: 314) Tatsächlich folgt aus der Feststellung, dass die Gegenwart eine Grenze oder ein Übergang ist, nicht deren Nichtexistenz. Die Gegenwart ist der zeitliche Ort, an dem die Zukunft in die Vergangenheit übergeht. Wir brauchen nicht anzunehmen, dass nur ausgedehnte Teile der Zeit – also Zeitspannen – existieren. Eine andere Frage ist die, wie überhaupt etwas gegenwärtig sein kann, wenn die Gegenwart als Grenze zwischen Zukunft und Vergangenheit keine zeitliche Ausdehnung besitzt. Eine mögliche Antwort darauf lautet, dass dieses Etwas selbst punktförmig sein muss. Auch wenn die Gegenwart nicht zeitlich ausgedehnt ist, kann von einem Ereignis gesagt werden, dass es gegenwärtig ist, wenn man es als Punktereignis auffasst, das heißt als Ereignis, das genau zu einem Zeitpunkt stattfindet. Von solchen Punktereignissen ist in der Physik die Rede – neben Punktteilchen und anderen mathematischen Idealisierungen. Die Idealisierung kann sogar so weit gehen, dass Punktereignisse als bloße Raumzeit-Punkte aufgefasst werden, an denen gar nichts geschehen, also gar kein Ereignis stattfinden muss. Reale Ereignisse sind freilich zeitlich ausgedehnt – sie finden nicht zu einem mathematischen Zeitpunkt statt. Trotzdem kann man auch von ihnen sagen, dass
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sie gegenwärtig sind, also die Qualität der Gegenwärtigkeit besitzen. Sie sind gegenwärtig, wenn die Zeitspanne ihrer Existenz die Gegenwart umfasst oder überdeckt. Fällt ein Apfel vom Baum, so besitzt dieses Ereignis zu jedem Zeitpunkt des Falls die Qualität der Gegenwärtigkeit. Dasselbe gilt für längere Ereignisse wie Fallschirmsprünge, Wirbelstürme und Supernovae. Und natürlich auch für Objekte: Äpfel, Personen, Sterne usw. besitzen die Qualität der Gegenwärtigkeit während ihrer gesamten zeitlichen Existenz, weil sie diese zu jedem Zeitpunkt ihrer Existenz besitzen. Während die Zeit vergeht, „bewegt“ sich die Gegenwart sozusagen durch die zeitlich ausgedehnten Ereignisse und Dinge hindurch – beim Fallschirmsprung beispielsweise vom Absprung der Person bis zu deren Landung. Sollte die Zeit nicht kontinuierlich, sondern in diskreten Schritten vergehen, wie in Philosophie und Physik manchmal vermutet wird (Le Poidevin 2004: 168 f., Kiefer 2008: 227 – 233, Van Bendegem 2011), so würde das eben Gesagte für die kleinsten Zeiteinheiten gelten. Diese „Atome“ der Zeit könnten die Länge der sogenannten Planck-Zeit haben, die in der Größenordnung von 10 – 44 Sekunden liegt. Die Gegenwart wäre dann zwar noch immer eine Grenze, aber eine Grenze mit einer sehr kleinen Ausdehnung. Die Breite des Spaltes zwischen Vergangenheit und Zukunft wäre nicht gleich Null.
Kapitel 2
Das Zeitvergehen wird erlebt Kapitel 2: Das Zeitvergehen wird erlebt
Viele Aspekte von Ereignissen sind wahrnehmbar, wie die in das Ereignis involvierten Gegenstände (ein Apfel), der Ort des Ereignisses (der Apfelbaum) oder dessen Verlauf (die geradlinig beschleunigte Bewegung des Apfels in Richtung Erde). Die allermeisten Ereignisse werden freilich nicht beobachtet, weshalb auch niemand wahrnimmt, dass sie gegenwärtig stattfinden. Doch wenn wir ein Ereignis wahrnehmen, so nehmen wir zugleich seine Gegenwärtigkeit wahr. Hinzufügen muss man allerdings, dass uns die Wahrnehmung in dieser Hinsicht manchmal täuscht – beispielweise dann, wenn wir ein Ereignis als gegenwärtig wahrnehmen, das bereits vergangen ist. Ein kurzer, weit entfernter Blitz existiert schon nicht mehr, wenn wir ihn bemerken. Viel größer noch ist die Differenz zwischen Wahrnehmung und realem Ereignis bei einer Supernova. Im Alltagsleben spielen solche Differenzen jedoch selten eine Rolle. Die meisten irdischen Ereignisse dauern lange genug, dass sie auch dann noch existieren, wenn wir sie bemerken. Der Apfel oder die Fallschirmspringerin fallen noch, während ich sie beobachte. Und während ich sie beobachte, erlebe ich zugleich, dass die Zeit vergeht. Edmund Husserl beschreibt dieses Erleben als ein Zusammenspiel, eine kontinuierliche Abfolge von Empfindung und „primärer Erinnerung“ (Retention), hier am Beispiel des Hörens eines Tones: „stetig wandelt sich das leibhafte Ton-Jetzt (scil. bewußtseinsmäßig, ‚im‘ Bewußtsein) in ein Gewesen, stetig löst ein immer neues Ton-Jetzt das in die Modifikation übergegangene ab. Wenn aber das Bewußtsein vom Ton-Jetzt, die Urimpression, in Retention übergeht, so ist diese Retention selbst wieder ein Jetzt, ein aktuell Daseiendes. […] Das Ton-Jetzt wandelt sich in Ton-Gewesen, das impressionale Bewußtsein geht ständig fließend über in immer neues retentionales Bewußtsein.“ (1966: 29) Retention wird heute „sensorisches Gedächtnis“ oder „Ultrakurzzeitgedächtnis“ genannt. Es ist anzunehmen, dass wir ohne diese Form des Gedächtnisses das Vergehen der Zeit nicht erleben würden – jedenfalls nicht so, wie wir es jetzt erleben. Ein wenig irreführend ist jedoch Husserls Begriff des „Ton-Jetzt“, weil man dieses Jetzt leicht als Zeitpunkt missverstehen kann. Es ist eine bekannte psychologische Tatsache, dass die erlebte Gegenwart nicht punktförmig, sondern zeitlich ausgedehnt ist. Die Länge der erlebten Gegenwart lässt sich ungefähr ermitteln, indem man experimentell feststellt, wie weit Wahrnehmungsreize auseinander liegen müssen, um noch als verschieden wahrgenommen zu werden.
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Erster Teil: Ewigkeit und Zeitvergehen
Dieses zeitliche Auflösungsvermögen hängt unter anderem von der Art der Reize und dem jeweiligen Sinnesorgan ab, und erwartungsgemäß sind auch Faktoren wie Konzentration und Müdigkeit von Bedeutung. Aber insgesamt scheint die zeitliche Auflösung der menschlichen Wahrnehmung zwischen 20 und 60 Millisekunden zu liegen, wobei oft 30 Millisekunden als Richtwert genannt werden (Pöppel/Bao 2014: 249). Auf einen genauen Wert kommt es hier nicht an, wichtig ist nur, dass die erlebte Gegenwart eine Zeitspanne umfasst, die zwar ziemlich kurz ist, aber natürlich um viele Größenordnungen länger als die im vorigen Kapitel erwähnte Planck-Zeit. Das ist nicht überraschend, denn es handelt sich lediglich um einen Spezialfall eines allgemeinen Merkmals der Wahrnehmung. Jeder Wahrnehmungssinn hat ein begrenztes Auflösungsvermögen in Bezug auf die jeweiligen Sinnesqualitäten. Aus der Tatsache, dass wir eng benachbarte Farbnuancen oder Tonhöhen nicht voneinander unterscheiden können, folgt nicht, dass sich die Frequenzen der Farben oder Töne in Wirklichkeit nicht voneinander unterscheiden. Aus der unvollkommenen räumlichen Auflösung des Sehsinns folgt nicht, dass keine räumlichen Differenzen existieren, die wir nicht wahrnehmen können. Angesichts dessen wäre es vermessen, aus der mangelnden zeitlichen Auflösung unseres Erlebens den Schluss zu ziehen, dass die Gegenwart auch in Wirklichkeit eine Zeitspanne von 30 Millisekunden umfasst. Vielleicht nehmen wir sie nur in dieser Weise wahr, während sie tatsächlich die Länge der Planck-Zeit besitzt oder die von Augustinus beschriebene Grenze ist, an der die Zukunft zur Vergangenheit wird. Dennoch stellt sich die Frage, warum wir die Gegenwart in dieser Weise erleben. Warum erleben wir Ereignisse, die wenige Millisekunden auseinanderliegen, nicht als aufeinanderfolgend, sondern als simultan? Es gibt zwei rivalisierende psychologische Theorien, die diese Frage zu beantworten versuchen: die Theorie der sensorischen Persistenz und die des „Zeitfensters“ (Efron/Lee 1971, Busch/VanRullen 2014). Nach der ersten Auffassung kommt der Eindruck der Gleichzeitigkeit dadurch zustande, dass Erlebnisse im Bewusstsein „nachklingen“. Das Erlebnis dauert länger als der Reiz selbst und reicht in die Zeitspanne des zweiten Erlebnisses hinein, weshalb die Reize nicht getrennt werden können. Erlebnisse treten zwar nacheinander auf, überlappen einander jedoch. Die zweite Auffassung geht davon aus, dass sich das Zeiterleben aus Intervallen (perceptual moments) zusammensetzt, innerhalb derer Reize vom Gehirn gemeinsam verarbeitet werden, wodurch der Eindruck entsteht, sie wären gleichzeitig. Dies lässt sich wiederum in zweierlei Weise verstehen: Die eine Interpretation lautet, dass die Intervalle diskrete, das heißt nicht überlappende Zeitfenster sind, die wie die Einzelbilder eines Films aufeinanderfolgen. Henri Bergson behauptet, dass zeitliche Realität meist in dieser Weise aufgefasst wird: „Wir halten quasi momenthafte Anblicke der vorbeiziehenden Realität fest […]. Wahrnehmung,
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intellektuelle Auffassung und Sprache pflegen im allgemeinen so vorzugehen. Ob es sich darum handelt, das Werden zu denken oder es auszudrücken oder es selbst wahrzunehmen, wir machen kaum je etwas anderes, als eine Art inneren Kinematographen in Gang zu setzen.“ (Bergson 2013: 346) Die andere Interpretation des Zeitfensters besagt, dass sich dieses selbst kontinuierlich „bewegt“, oder anders formuliert: dass es eine kontinuierliche Abfolge einander überlappender Zeitfenster gibt (Allport 1968). Eine derartige Auffassung des Zeiterlebens scheint Bertrand Russell vertreten zu haben. Eines von Russells Beispielen betrifft fünf Töne A, B, C, D und E, von denen jeweils drei zusammen erlebt werden können, also jeweils eine erlebte Gegenwart bilden, die Russell „momentary total experience“ nennt. Der Ton C gehört nacheinander den Gegenwarten ABC, BCD und CDE an (Russell 1915: 218). Wir haben somit die Wahl zwischen insgesamt drei Konzeptionen der Dynamik des Zeiterlebens: sensorische Persistenz und zwei Interpretationen des Zeitfensters. Aus philosophischer Sicht ist das, was diese Auffassungen gemeinsam haben, wichtiger als die Unterschiede zwischen ihnen. Gemeinsam ist ihnen die Annahme, dass die subjektive Zeit vergeht: Wir erleben einen Übergang von Erlebnis zu Erlebnis oder von Zeitintervall zu Zeitintervall (mit oder ohne Überlappung). Bergson bezeichnete dieses erlebte Zeitvergehen als „Dauer“ (durée) und argumentierte dafür, dass sich diese Dauer nicht durch räumliche Begriffe beschreiben lässt. Damit meinte er nicht nur räumliche Metaphern für das Vergehen der Zeit wie „Fließen“ oder „Bewegung“, die er selbst gelegentlich benutzte. Er wandte sich vielmehr gegen jeden Versuch, die Zeit sozusagen von außen oder von oben zu betrachten, als ein Nebeneinander irgendwelcher Einheiten, aus denen sich unter anderem die von McTaggart unterschiedenen Reihen zusammensetzen. Die Zeit wird wie der Raum behandelt, wenn sie in Zeitpunkte, Intervalle oder Ereignisse zerlegt wird, denn so verfährt man auch, wenn man eine Raumstrecke in endlich viele Abschnitte zerteilt oder als eine unendliche Menge von Punkten beschreibt. Bergson hielt solche Beschreibungen, solche Zerlegungen der Zeit für ungenügend, weil sie etwas quantifizieren, was keine Quantität sei: „Die wahre Dauer, wie sie das Bewußtsein unmittelbar perzipiert, […] ist […] keine Quantität, und sobald man sie zu messen versucht, substituiert man ihr unbewußt den Raum.“ (1994: 82) Sie sei eine „qualitative Mannigfaltigkeit, die mit der Zahl keine Ähnlichkeit hat“ (S. 168). Im Essai sur les données immédiates de la conscience von 1889, aus dem diese Zitate stammen, vertrat Bergson noch den Standpunkt, dass Dauer nur im menschlichen Bewusstsein existiert, während es „im Raum weder Dauer noch sogar Sukzession gibt in dem Sinne, in dem das Bewußtsein diese Ausdrücke auffaßt“ (1994: 91). In seinen späteren Schriften übernahm er jedoch die weitaus
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populärere Auffassung, dass die Zeit auch objektiv vergeht, hier in seiner 1922 publizierten Auseinandersetzung mit Albert Einsteins Relativitätstheorie: „Wir nehmen die materielle Welt wahr, und diese Wahrnehmung scheint uns – ob zu Recht oder Unrecht – zugleich in uns und außerhalb unser zu sein: Auf der einen Seite ist sie ein Bewusstseinszustand; auf der anderen eine oberflächliche Schicht aus Materie, in der das Fühlende und das Gefühlte zusammenfallen. Jedem Augenblick unseres inneren Lebens entspricht somit ein Augenblick unseres Körpers und der gesamten ihn umgebenden Materie, der mit ihm ‚gleichzeitig‘ ist: Diese Materie scheint also an unserer bewussten Dauer teilzuhaben. Schritt für Schritt dehnen wir diese Dauer auf die Gesamtheit der materiellen Welt aus, weil wir keinen Grund sehen, sie auf die unmittelbare Umgebung unseres Körpers zu beschränken“ (2014: 126 f.).
Dieses Argument ist nachvollziehbar. Das Bewusstsein ist so eng mit dem Körper und der unmittelbaren Umgebung des Körpers verbunden, dass wir eine zeitliche Korrespondenz annehmen müssen. Bergson zog daraus allerdings einen weiteren Schluss, der weniger leicht nachvollziehbar ist. Weil die Zeit in der Gesamtheit der materiellen Welt vergeht, müsse es auch dort Bewusstsein geben: „Dauer impliziert also Bewusstsein; und wir legen den Dingen allein schon dadurch Bewusstsein zugrunde, dass wir ihnen eine Zeit zuschreiben, die dauert.“ (S. 132) Der Dauer zwischen zwei Zeitpunkten soll sogar eine Art von Gedächtnis entsprechen: „Ohne ein elementares Gedächtnis, das die beiden Zeitpunkte miteinander verbindet, wird es nur den einen oder den anderen der beiden geben, und somit nur einen einzigen Zeitpunkt (instant), kein Vorher und Nachher, keine Zeitfolge, keine Zeit.“ (S. 131 f.) Die ganze Materie wäre demnach von Bewusstsein und Gedächtnis durchzogen. Passagen wie diese trugen Bergson den Ruf des Panpsychisten ein. Definiert man den Panpsychismus als „die Ansicht, daß die grundlegenden physikalischen Bestandteile des Universums – ob sie in lebendigen Organismen vorkommen oder nicht – psychische Eigenschaften haben“ (Nagel 2008: 251), so muss man allerdings festhalten, dass sich Bergson niemals explizit zu einer solchen Auffassung bekannt hat, weshalb ihm auch David Skrbina (2005: 159) lediglich einen „Flirt mit dem Panpsychismus“ zuschreibt. Doch diese Liebelei reicht wohl aus, um Bergsons Aussagen über Bewusstsein und Gedächtnis im Sinne eines Panpsychismus zu interpretieren, wenn man diese Interpretation aus irgendwelchen anderen Gründen bevorzugt. Andererseits jedoch lässt sich der Schluss auf den Panpsychismus auch leicht vermeiden, indem man die Behauptung, dass die Zeit ohne Bewusstsein und Gedächtnis nicht vergeht, schlicht und einfach zurückweist, denn sie wird von Bergson nicht besonders gut begründet. Er begründet sie nämlich vor allem dadurch, dass man sich die Zeit wie eine Linie vorstellt: „Ich sage z.B., daß soeben eine Minute abgelaufen ist, und will damit ausdrücken, daß eine Uhr, die die Sekunden anzeigt, 60 Schwingungen vollzogen hat. Stelle ich mir diese 60 Schwingungen
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auf einmal und durch einen einzigen Apperzeptionsakt des Geistes vor, so schließe ich der Hypothese zufolge die Vorstellung einer Sukzession aus: ich denke nicht an 60 aufeinanderfolgende Schwingungsschläge, sondern an 60 Punkte einer starren Linie, von denen jeder eine Schwingung der Uhr sozusagen symbolisiert.“ (1994: 80) Doch aus der Tatsache, dass man sich die 60 Schläge der Uhr auf einer Linie aufgereiht vorstellt, folgt nicht, dass diese Linie eine statische B-Reihe ist und es ohne Bewusstsein und Gedächtnis „kein Vorher und Nachher, keine Zeitfolge, keine Zeit“ gibt, wie Bergson behauptet. Die Linie könnte schließlich auch eine A-Reihe sein, bei der McTaggarts „Qualität der Gegenwärtigkeit“ den Ereignissen auf der Linie nacheinander zukommt. Bergson hat zwar recht, wenn er behauptet, dass man sich diese Ereignisse auch nacheinander vergegenwärtigen muss, um sich diesen Ablauf der Zeit vorzustellen – „Wenn ich mir andrerseits diese 60 Schwingungen sukzessive vorstellen will, […] werde ich an jede Schwingung für sich zu denken haben“ (1994: 80). Doch warum sollte die vorgestellte Zeitfolge nicht auch ohne die Vorstellung der Zeitfolge existieren können? Weil also die Vorstellung der Zeit als Linie nicht nur mit der statischen, sondern auch mit der dynamischen Zeitauffassung vereinbar ist, besteht kein Grund zu einem „Flirt mit dem Panpsychismus“. Doch was man von Bergson lernen kann, ist, dass das Zeiterleben die wichtigste Stütze der dynamischen Zeitauffassung darstellt. Die Tatsache, dass wir das Vergehen der Zeit erleben – oder anders formuliert: dass es uns so scheint, als würde die Zeit vergehen –, ist der beste Grund dafür, die dynamische Zeitauffassung über die Grenzen des menschlichen Bewusstseins hinaus auszudehnen. Wir vertrauen der Erfahrung in dieser Hinsicht, wie wir ihr auch in vielen anderen Bereichen vertrauen, wenn es um die grundlegenden Eigenschaften der Welt geht. Beispielsweise nehmen wir räumliche Merkmale wie Größe, Gestalt und Bewegung wahr und glauben daher mit Recht, dass diese Merkmale den Objekten in Wirklichkeit zukommen. Für das Vergehen der Zeit gilt dasselbe. Wahrnehmung ist zwar relativ, das heißt, wie die Welt wahrgenommen wird, hängt vom wahrnehmenden Subjekt und den Umständen ab, unter anderem von der Relation des Subjekts zum Wahrnehmungsobjekt. Doch auch dies ist für gewöhnlich kein Grund an der Realität des Wahrgenommenen zu zweifeln. So hängt etwa die scheinbare Größe eines Gegenstandes von dessen Entfernung zum Subjekt ab, ohne dass wir daraus schließen würden, dass der wahrgenommene Gegenstand gar keine bestimmte Größe hat. Wir können daraus allenfalls schließen, dass es nicht sinnvoll ist, die Frage zu stellen, aus welcher Entfernung der Gegenstand so groß erscheint, wie er in Wirklichkeit ist. Die wirkliche Größe erscheint eben unterschiedlich aus unterschiedlichen Entfernungen. Der Vergleich mit der Größenwahrnehmung ist unter anderem deshalb aufschlussreich, weil das Zeiterleben von einer ähnlichen Relativität betroffen ist. Es
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ist eine Binsenweisheit, dass die erlebte Zeit „fliegt“ oder „kriecht“ und manchmal sogar stehenzubleiben scheint, je nachdem, womit wir beschäftigt sind oder welche Erwartungen wir haben. Es kommt uns so vor, als würde die Zeit manchmal schneller und manchmal langsamer vergehen. Doch wie bei der Wahrnehmung der räumlichen Größe eines Gegenstandes folgt daraus keinesfalls, dass das Zeitvergehen rein subjektiv ist und die Zeit objektiv nicht vergeht. Wie bei der räumlichen Größe sollten wir allerdings auch hier auf die Frage verzichten, wann die Zeit so schnell zu vergehen scheint, wie sie in Wirklichkeit vergeht, denn auf diese Frage gibt es keine sinnvolle Antwort.
Kapitel 3
Das Zeitvergehen ist keine Illusion Kapitel 3: Das Zeitvergehen ist keine Illusion
Wie Bergson dürften die meisten Menschen der Meinung sein, dass die Zeit vergeht. Selbst wenn sie noch nie darüber nachgedacht haben, würden sie diese Frage wohl mit Ja beantworten, wenn man sie ihnen zum ersten Mal stellt. Sie wären eher überrascht, dass man so etwas überhaupt fragen kann (was für philosophische Fragen typisch ist). Nach der statischen Zeitauffassung wäre ihre Antwort jedoch falsch und das erlebte Zeitvergehen eine Illusion. Bezugnehmend auf McTaggart wird die statische Zeitauffassung oft als „B-Theorie“ der Zeit bezeichnet, womit gemeint ist, dass alles für die Zeit Wesentliche in der B-Reihe enthalten ist (oder in einer mit dieser vergleichbaren Struktur wie der Raumzeit der Speziellen Relativitätstheorie, die Thema des fünften Kapitels sein wird). Da wir die Zeit als vergehend erleben, muss man die Autorität dieses Erlebens zu entkräften versuchen, falls man die B-Theorie der Zeit verteidigen möchte.6 Man muss versuchen zu erklären, weshalb das Zeiterleben kein Grund dafür ist, an das Vergehen der Zeit zu glauben. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es zwei mögliche Strategien. Die erste entspricht dem Standpunkt, den Bergson in seinem Frühwerk vertrat: Dauer gibt es nur im Bewusstsein. Unser Eindruck, dass die Zeit vergeht, wäre demnach richtig, allerdings würde dies nur die subjektive Zeit (des Bewusstseins) betreffen, nicht jedoch die objektive Zeit (der Materie). Die zweite Strategie versucht zu zeigen, dass Dauer überhaupt eine Illusion ist: Es gibt weder ein objektives noch ein subjektives Zeitvergehen. Wenden wir uns zunächst der ersten Möglichkeit zu. Dass der Materie bestimmte Eigenschaften abgesprochen und diese ins Bewusstsein verschoben werden, hat in der Philosophie eine lange Tradition. Man könnte in die Antike zurückgehen, aber bleiben wir in der Neuzeit: Im siebzehnten Jahrhundert entwickelten Philosophen und Wissenschaftler wie René Descartes, Galileo Galilei und John Locke die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten, wobei Farbe neben anderen Eigenschaften zu den sekundären Qualitäten 6 Dazu ein kleiner interkultureller Vergleich: Dass der Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und damit das Zeitvergehen eine Illusion ist, war eine typische Annahme der buddhistischen Philosophie, und auch dort stand man vor dem Problem, wie dies mit dem menschlichen Erleben zu vereinbaren ist. Die philosophisch eher unbefriedigende Lösung (bzw. Nichtlösung) kann man so zusammenfassen, „that the determination of the sameness of the three times was beyond the capabilities of ordinary man.“ (Lancaster 1974: 210)
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gezählt wurde. Während Locke die sekundären Qualitäten für dispositionale Eigenschaften der Materie hielt, war Galilei der Meinung, dass diese im Empfinden selbst existieren (Kügler 2002: Kap. 1 – 3). Die damals entwickelten Auffassungen sind auch heute noch aktuell: Farbe im objektiven Sinn kann als Frequenz bzw. Wellenlänge elektromagnetischer Strahlung aufgefasst werden, oder als Disposition eines materiellen Gegenstandes, diese Strahlung zu emittieren oder zu reflektieren. Farbe im subjektiven Sinn hingegen existiert nur im Bewusstsein. Aus der Existenz dieser erlebten, phänomenalen Farbe dürfen wir nicht schließen, dass es auch in der objektiven Welt Farbe im selben Sinn gibt. Wir dürfen zwar auf die Existenz von objektiver Farbe schließen, beispielsweise auf die Existenz von elektromagnetischer Strahlung mit einer Wellenlänge von ungefähr 600 Nanometern (Orange), doch selbst solche Schlüsse sind oft fehlerhaft, weil zwischen Wellenlänge und phänomenaler Farbe kein eindeutiger Zusammenhang besteht. Manchmal sehen wir sogar Farben, denen keine objektive Farbe entspricht, zum Beispiel wenn wir kurz in die Sonne blicken und danach die Augen schließen, bei farbigen Nachbildern oder bei Erkrankungen des Auges. Mit der Zeit könnte es sich ähnlich verhalten wie mit Farben – sie könnte ebenfalls eine sekundäre Qualität sein. Man könnte daher Galileis These, dass nur Empfindungen rot, blau, grün, gelb usw. sind, auf das Zeitvergehen übertragen. Zeitvergehen wäre dann lediglich ein Merkmal des Bewusstseins. Und so wie die Farbe einer Empfindung einfach nur darin besteht, dass man die betreffende Empfindung hat, so bestünde das Vergehen der Zeit einfach nur darin, dass man es erlebt. Die objektive Zeit jedoch würde nach dieser Auffassung überhaupt nicht vergehen. Für die Beschreibung der objektiven Zeit würden Begriffe genügen, die so oder so ähnlich sind wie die Begriffe, mit denen McTaggarts B-Reihe beschrieben wird. Kurz gesagt lautet die Auffassung, mit der wir uns gerade beschäftigen, dass die subjektive Zeit ohne die objektive Zeit vergeht. Was spricht gegen diese Auffassung? Vor allem die in den Neurowissenschaften und der Philosophie des Geistes etablierte Annahme, dass es psychophysische Korrelationen gibt. Man geht davon aus, dass jedem Ereignis im Bewusstsein – jedem Erlebnis – ein neuronales Ereignis entspricht.7 Solche Korrelationen zwischen einzelnen Ereignissen können entweder materialistisch oder dualistisch interpretiert werden. Nach der materialistischen Interpretation ist das Erlebnis mit dem betreffenden neu7 Es genügt für unsere Zwecke, wenn diese Korrelationen zwischen einzelnen Ereignissen (Vorkommnissen) bestehen, die jeweils in einer bestimmten Zeitspanne existieren. Wir brauchen nicht anzunehmen, dass es auch auf der Ebene der Arten eine Entsprechung gibt, dass also psychische und neuronale Arten miteinander korrelieren. Zur Unterscheidung zwischen einzelnen Vorkommnissen (Token) und Arten (Typen) siehe zum Beispiel Newen (2013: 28 f.).
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ronalen Ereignis identisch. Nach der dualistischen Interpretation gibt es zu jedem Erlebnis ein von diesem verschiedenes neuronales Ereignis, das gleichzeitig mit ihm stattfindet. Nehmen wir nun an, dass die Zeit zwischen zwei Erlebnissen P und Q vergeht. P und Q könnten etwa zwei nacheinander wahrgenommene Töne sein oder der Geschmack und der Nachgeschmack einer Weinprobe. Diesen beiden Erlebnissen P und Q entsprechen zwei neuronale Ereignisse M und N. Wenn man der materialistischen Interpretation folgt und annimmt, dass P mit M und Q mit N identisch ist, dann muss offenbar auch die Zeit zwischen M und N vergehen. Und da M und N physische Ereignisse im Gehirn sind, folgt daraus, dass auch die objektive Zeit vergeht, denn das Gehirn existiert objektiv. Strenggenommen gilt dieser Schluss zwar nur für neuronale Ereignisse, aber man wird kaum annehmen wollen, dass sich physische Ereignisse außerhalb des Gehirns in dieser Hinsicht von neuronalen Ereignissen unterscheiden. Bevorzugt man hingegen die dualistische Interpretation, so ist M ein von P verschiedenes simultanes Ereignis. Dasselbe gilt für N und Q. Würde man annehmen, dass zwar die Zeit zwischen P und Q, nicht jedoch zwischen M und N vergeht, so stünde man vor der Situation, dass zwischen P und Q eine bestimmte zeitliche Relation besteht – nämlich die Dauer, das Zeitvergehen zwischen den beiden Erlebnissen –, die nicht zwischen den jeweils simultanen Ereignissen M und N besteht. Dies erscheint zwar eigenartig, ist für sich allein betrachtet aber noch nicht widersprüchlich. Ein Widerspruch entsteht erst dann, wenn man das Prinzip voraussetzt, dass zeitliche Relationen zwischen Ereignissen auch zwischen Ereignissen bestehen müssen, die zugleich mit ihnen stattfinden. Wichtig ist dabei, dass mit „zeitliche Relationen“ nicht alle Relationen gemeint sind, die irgendeinen zeitlichen Aspekt haben, wie zum Beispiel Kausalrelationen, sondern nur rein zeitliche Relationen wie Nacheinander, Früher-als, In-der-Zukunftvon oder eben: Vergehen/Dauer.8 Glücklicherweise gibt es keinen Grund zur Annahme, dass Bewusstsein und Gehirn verschiedenen Bezugssystemen angehören, denn wie wir in Kapitel 5 sehen werden, können Ereignisse, die in einem Bezugssystem simultan sind, in einem anderen Bezugssystem nacheinander stattfinden, was darauf hinweist, dass das genannte Prinzip nur innerhalb desselben Bezugssystems gültig ist. Schränkt man es in dieser Weise ein, so ist das Prinzip jedoch sehr plausibel. Um es zu entkräften, bräuchte man jedenfalls sehr gute Argumente, die weit mehr bein8 Wenn das neuronale Ereignis M die Ursache des neuronalen Ereignisses N ist, so würde beispielsweise der Epiphänomenalismus (Newen 2013: 19 – 21) bestreiten, dass das mit M simultane Erlebnis P die Ursache des mit N simultanen Erlebnisses Q ist. Kausalrelationen bestünden nur zwischen neuronalen Ereignissen, nicht zwischen Erlebnissen. Alle rein zeitlichen Relationen bestehen jedoch zwischen M und N genauso wie zwischen P und Q.
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halten müssten als die bloße Behauptung, die Zeit sei eine sekundäre Qualität. Ohne solche Gegenargumente haben wir keinen Anlass daran zu zweifeln, dass auch die Zeit zwischen M und N vergeht. Die dualistische Interpretation erlaubt somit ebenfalls den Schluss, dass die objektive Zeit vergeht, falls die subjektive Zeit vergeht. Die Annahme, dass die Zeit eine sekundäre Qualität ist und dass die subjektive Zeit daher ohne die objektive Zeit vergeht, war der erste Versuch die Autorität des Zeiterlebens zu entkräften – was nötig wäre, wenn man eine statische Zeitauffassung vertreten wollte. Der zweite Versuch ist radikaler; er besteht in der Behauptung, dass auch die subjektive Zeit nicht vergeht. Die erlebte Dauer wäre dann im doppelten Sinn illusionär: Wir würden uns nicht nur irren, wenn wir unserem Erleben vertrauen und glauben, dass die Zeit objektiv vergeht; wir würden uns sogar dann irren, wenn wir glauben, dass das Erleben selbst zeitlich ist. Auch Metaphern wie „Fließen“ wären dann in jeder Hinsicht unangebracht. Freilich scheint „etwas erleben“ ein Zeitvergehen zu implizieren. Etwas zu erleben scheint dasselbe zu sein wie etwas in der Zeit Dauerndes zu erleben. Wenn ich zwei aufeinanderfolgende Töne oder die Veränderung des Weingeschmacks erlebe, so erlebe ich zugleich die Dauer der subjektiven Zeit. Für Bergson jedenfalls war dies selbstverständlich und es fällt nicht leicht, sich dieser Evidenz zu verschließen. Erleben, das heißt phänomenales Bewusstsein ist notwendigerweise mit Dauer, mit Vergehen verknüpft. Wenn phänomenales Bewusstsein nicht in der Zeit dauert, dann existiert es überhaupt nicht. Daher läuft die These, dass Dauer eine Illusion ist, letztlich auf einen eliminativen Materialismus hinaus, das heißt auf die These, dass Bewusstsein gar nicht existiert. Dieser eliminative Materialismus – oder kürzer Eliminativismus – findet allerdings in der Philosophie des Geistes wenig Unterstützung, weil die meisten Philosophinnen und Philosophen die Existenz des phänomenalen Bewusstseins für eine unbestreitbare Tatsache halten.9 Man findet daher häufig Stellungnahmen, in denen der Eliminativismus ohne viel zu argumentieren abgelehnt wird, weil er offensichtlich falsch sei. Da im vorigen Kapitel kurz vom Panpsychismus die Rede war, lasse ich in dieser Angelegenheit zunächst einen zeitgenössischen Panpsychisten zu Wort kommen. Galen Strawson schreibt über die Leugnung der Existenz des Bewusstseins: „this particular denial is the strangest thing that has ever happened in the whole history of human thought, not just the whole history of philosophy.“ (Strawson 2006: 5)
9 Etwas populärer als die Elimination des phänomenalen Bewusstseins ist der Eliminativismus in Bezug auf intentionale Zustände (Churchland 1981), aber dieser darf nicht mit der ersten Form des Eliminativismus verwechselt werden. Für uns ist nur die Elimination des Erlebens von Interesse.
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Dies mag ein wenig übertrieben sein, denn Philosophie und menschliches Denken sind insgesamt reich an anderen Seltsamkeiten. Doch Strawsons Polemik zeigt sehr schön, dass hier weniger argumentiert, als an Gewissheiten appelliert wird. Selbst Materialisten bestreiten für gewöhnlich nicht die Existenz des Bewusstseins, vertreten also keinen eliminativen Materialismus, sondern behaupten lediglich, dass das Bewusstsein etwas Physisches ist. Hier eine zweite Beurteilung des Eliminativismus durch einen bedeutenden Vertreter des Materialismus: „One Materialist theory that I have never been drawn to is the Eliminativist account of the mental […]. If I were to become convinced that there is an incompatibility between a materialist or physicalist view of the world and the existence of the mental, then I would reluctantly turn Dualist. Materialism is a theory, even if, as I think, a good theory. The existence of mental things – pains, beliefs and so on – seems to me to be part of bedrock, Moorean, commonsense. Its epistemic warrant is far better than that of Materialism.“ (Armstrong 1993: xviii-xix)
David Armstrong würde also trotz seiner Vorliebe für den Materialismus den Dualismus dem Eliminativismus vorziehen. Doch geben wir dem Eliminativismus noch eine letzte Chance. Der bekannteste Verfechter der Elimination des phänomenalen Bewusstseins ist Daniel Dennett und sein wichtigster Beitrag zu diesem Thema ist der Aufsatz „Quining Qualia“, der unter dem Titel „Qualia eliminieren“ ins Deutsche übersetzt wurde (Dennett 2006). Qualia sind die subjektiven Qualitäten von Erlebnissen, durch die sie sich voneinander unterscheiden: Ein Geschmack unterscheidet sich qualitativ von einem Klang; der Geschmack von Wein unterscheidet sich vom Geschmack von Apfelsaft, usw. Zeitliche Dauer scheint ebenfalls eine solche Qualität zu sein, die sogar allen Erlebnissen zukommt, da wohl jedes Erleben dauert. Dennett geht davon aus, dass Qualia durch bestimmte Merkmale definiert werden können, und versucht zu zeigen, dass diese Merkmale nicht vorhanden sind, woraus er den Schluss zieht, dass Qualia ebenfalls nicht existieren. Es handelt sich dabei um vier Merkmale, die dem Bewusstsein seit Jahrhunderten unter verschiedenen Bezeichnungen zugeschrieben wurden (Dennett 2006: 211): 1. Qualia sind unaussprechlich: Man kann anderen nicht vollständig mitteilen, was man erlebt. 2. Qualia sind intrinsisch: Sie haben keine Bestandteile und sind daher nicht analysierbar. 3. Qualia sind privat: Erlebnisse verschiedener Menschen können nicht miteinander verglichen werden. 4. Qualia sind direkt erfassbar: Sie sind ohne (implizite oder explizite) Schlussfolgerungen erkennbar.10 Es ist hier nicht nötig, Dennetts Argumente gegen das Vorhandensein dieser vier Merkmale zu betrachten. Wir können uns damit begnügen, darüber nachzudenken, was es heißen würde, wenn nichts diese vier Merkmale besitzt, wie Den10 Weil Dennett „direkt erfassbar“ (directly apprehensible) nicht genau erklärt, ist dies mein eigener Erklärungsversuch.
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nett behauptet. Würde daraus folgen, dass es auch keine Qualia und damit kein phänomenales Bewusstsein gibt? Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage gelangt man wieder rasch an den Punkt, an dem Argumente versagen und intuitive Einsichten oder Autoritätsargumente das Ruder übernehmen. Wie ich schon erläutert habe, würden die meisten Fachleute sagen, dass Bewusstsein offensichtlich existiert. Ihrer Meinung nach würde aus Dennetts Kritik an den vier Merkmalen lediglich folgen, dass Bewusstsein nicht – wie vielfach angenommen – unaussprechlich, intrinsisch, privat und direkt erfassbar ist. Diese Merkmale wären dann eben für Bewusstsein gar nicht wesentlich. Wesentlich wäre vielmehr die Phänomenalität, also die Tatsache, dass man etwas erlebt. Dennett geht auf diese Erwiderung in seinem Aufsatz auch ein und hält ihr Folgendes entgegen: „Der Ausdruck ‚phänomenal‘ hat für mich keine offensichtliche und vorurteilsfreie Bedeutung, und er sieht in meinen Augen verdächtig danach aus, als weise er wieder zurück in die Richtung unaussprechlicher, privater, unmittelbar zugänglicher Arten und Weisen, wie uns die Dinge erscheinen.“ (2006: 212) Damit legt Dennett nahe, dass man den Begriff „phänomenal“ nicht unabhängig von den Begriffen „unaussprechlich“, „intrinsisch“, „privat“ und „direkt erfassbar“ verstehen kann. Unser Verständnis von „phänomenal“ sei vielmehr von diesen Begriffen abhängig. Dennetts Kontrahenten hingegen vertreten die Meinung, dass wir „phänome nal“ auch unabhängig von den aufgezählten Begriffen verstehen, weil wir nämlich aus eigener Erfahrung wissen, was es heißt, etwas zu erleben. Phänomenales Bewusstsein ist identisch mit Erleben, und weil man nicht bezweifeln kann, dass man etwas erlebt, kann man auch nicht bezweifeln, dass phänomenales Bewusstsein existiert. Ob phänomenales Bewusstsein darüber hinaus auch noch die von Dennett genannten Merkmale besitzt, ist eine andere Frage. Auch in Bezug auf diese Frage würden zwar viele Dennett widersprechen (zumindest hinsichtlich mancher der vier Merkmale), doch dies ist zweitrangig. Wichtig ist nur, dass Qualia nicht durch jene Merkmale definiert sind, sondern durch ihren phänomenalen Charakter, den wir aus eigenem Erleben kennen. Was für diese Antwort auf Dennett spricht, ist unter anderem die Tatsache, dass man jemandem nicht erklären kann, was mit „phänomenalem Bewusstsein“ oder „Qualia“ gemeint ist, indem man die Begriffe „unaussprechlich“, „intrinsisch“, „privat“ und „direkt zugänglich“ verwendet. Es bleibt einem zu diesem Zweck nichts anderes übrig, als sich implizit oder explizit auf einzelne Erlebnisse oder Arten von Erlebnissen zu beziehen und darauf hinzuweisen, dass Phänomenalität das ist, was all diese Erlebnisse gemeinsam haben. Zahlreiche Lehrbücher und sonstige Publikationen in der Philosophie des Geistes wenden diese Methode an, führen also den Begriff des phänomenalen Bewusstseins anhand von Beispielen ein. Offenbar funktioniert die Methode sehr gut, jedenfalls haben viele Leserin-
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nen und Leser dieser Texte den Eindruck, auf diese Weise verstanden zu haben, was phänomenales Bewusstsein ist. Ich werde mich daher der großen Mehrheit anschließen und weiterhin davon ausgehen, dass phänomenales Bewusstsein existiert, weil ich sicher bin, dass ich allerlei erlebe – dass ich etwas spüre, wahrnehme, mir vorstelle usw. Auch was die Zeit angeht, berufe ich mich auf dieses Erleben, weil ich nämlich erlebe, dass die Zeit vergeht, während ich etwas spüre, wahrnehme oder mir vorstelle. Phänomenales Bewusstsein existiert in einer vergehenden Zeit; es dauert. Man kann das Vergehen der subjektiven Zeit ebenso wenig bezweifeln wie die Existenz des Bewusstseins. Sollte Dauer eine „Illusion“ sein, dann nur in dem Sinn, dass sie nicht objektiv existiert. Aber diese Möglichkeit haben wir schon früher verworfen: Wenn die subjektive Zeit vergeht, vergeht aller Wahrscheinlichkeit nach auch die objektive Zeit.
Zweiter Teil
Zeit in der Physik
Zweiter Teil: Zeit in der Physik
Kapitel 4
Physikalische Zeitpfeile Kapitel 4: Physikalische Zeitpfeile
Die objektive Zeit wirft die Frage auf, ob sich die Art und Weise ihres Vergehens näher erläutern lässt. Worin genau besteht das Vergehen der Zeit in der physischen Welt? Abgesehen von den üblichen Metaphern wie „Bewegung“ und „Fließen“ lässt sich dieses Vergehen ähnlich schwer beschreiben wie das Vergehen der subjektiven Zeit. Das ist einer der Gründe, warum sich die philosophische Diskussion auf jenen Aspekt des Vergehens konzentriert, der scheinbar am einfachsten zu erfassen ist: seine Richtung. Die Zeit vergeht in einer von zwei möglichen Richtungen: Die Gegenwart wird zur Vergangenheit und die Zukunft wird zur Gegenwart. Es verhält sich nicht umgekehrt: Die Vergangenheit wird nicht zur Gegenwart und die Gegenwart wird nicht zur Zukunft. Dieses Gerichtetsein der Zeit wird gerne als „Zeitpfeil“ bezeichnet. In der dynamischen Zeitauffassung ist die Richtung des Zeitpfeils zugleich die Richtung des Vergehens der Zeit. Doch der Zeitpfeil ist auch für die statische Zeitauffassung relevant, denn „früher“ und „später“ bezeichnen asymmetrische Relationen: Findet ein Ereignis M früher als ein Ereignis N statt, so ist N eben nicht früher als M. Dasselbe gilt für „später“. Daher stellt sich auch in der statischen Zeitauffassung die Frage, wodurch die Zeitrichtung festgelegt wird, warum also der Zeitpfeil in die eine Richtung zeigt und nicht in die andere. Tatsächlich beschäftigen sich Anhänger der statischen Zeitauffassung mit dieser Frage ziemlich ausführlich, was bei oberflächlicher Lektüre zum Missverständnis führen kann, sie würden sich mit dem Vergehen der Zeit beschäftigen. Ein Ansatzpunkt für die Beantwortung der Frage ist die Reversibilität oder Irreversibilität von Naturvorgängen. Ein Paradebeispiel für einen reversiblen Vorgang ist der elastische Stoß: Nehmen wir an, ein Objekt A stoße auf ein ruhendes Objekt B, ohne dass Energie durch Reibung oder Deformation der Objekte verloren ginge. A wird dann stehenbleiben und B wird sich mit derselben Geschwindigkeit wie zuvor A in Bewegung setzen. Dieser Prozess folgt den Newtonschen Bewegungsgesetzen (Newton 1963: 32). Dieselben Gesetze beschreiben jedoch auch den umgekehrten Vorgang. Wir können uns vorstellen, dass B aus der entgegengesetzten Richtung kommend auf das ruhende Objekt A stößt – als würde man einen Film rückwärts ablaufen lassen. Die Newtonschen Gesetze gelten für diesen Umkehrprozess ebenso wie für den ursprünglichen Vorgang. Mit einem Wort, die Gesetze sind zeitsymmetrisch und zeichnen daher keine Richtung als die Zeitrichtung aus.
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Auch die populären Transfertheorien der Kausalität helfen bei diesem Problem nicht weiter. Transfertheorien definieren Kausalprozesse dadurch, dass in diesen etwas von der Ursache auf die Wirkung übertragen (transferiert) wird. Beispielsweise wird im elastischen Stoß die Bewegungsenergie von Objekt A auf Objekt B übertragen. Verschiedene Transfertheorien stimmen nicht darin überein, was genau übertragen wird. Vorgeschlagen wurden neben Energie (Fair 1979) noch andere physikalische Erhaltungsgrößen (Dowe 2000: Kap. 5) sowie Informationsübertragung (Collier 1999). Keiner dieser Vorschläge kann jedoch das Problem des fehlenden Zeitpfeils lösen, weil auch Transfertheorien keine Zeitrichtung festlegen, falls die betreffenden Kausalprozesse reversibel sind. Im Umkehrprozess wird genau dasselbe übertragen wie im ursprünglichen Prozess, nur eben in die andere Richtung. So geht im umgekehrten Stoßprozess die Bewegungsenergie von B auf A über. Ein schwieriges Problem ist die Reversibilität von Kausalprozessen auch für die sogenannte kausale Theorie der Zeit. Darunter versteht man die Auffassung, dass zeitliche Relationen Kausalrelationen sind oder auf Kausalrelationen zurückgeführt werden können. Das gilt insbesondere für die Reihenfolge der Zeitpunkte und die Relationen Früher und Später (das heißt für McTaggarts C- und B-Reihe).11 Wenn man sich überlegt, was eine Ursache zu einer Ursache macht, kommt man leicht auf den Gedanken, dass Ursachen unter anderem dadurch definiert sind, dass sie zeitlich vor ihren Wirkungen liegen. Im obigen Beispiel ist die Bewegung von A die Ursache der Bewegung von B und selbstverständlich ist die Bewegung von A früher als die Bewegung von B. Dies könnte man so verstehen (und wird auch oft so verstanden), dass der Begriff „Kausalität“ den Begriff „Zeit“ voraussetzt: Man benötigt einen Begriff wie „früher“, um den Begriff der Ursache zu verstehen. Die kausale Theorie der Zeit hingegen behauptet das Gegenteil: „Kausalität“ sei der grundlegende Begriff; die zeitlichen Relationen müssten ihrerseits durch diesen Begriff definiert werden. Beispielsweise wird in der bekannten kontrafaktischen Analyse der Kausalität von David Lewis die Richtung der Zeit als kontrafaktische Abhängigkeit interpretiert (Lewis 1979).12 Im elastischen Stoß ist die Bewegung des Objekts B kontrafaktisch abhängig vom Aufprall des Objekts A. Das heißt, dass der folgende kontrafaktische Konditionalsatz wahr ist: „Würde A nicht auf B stoßen, so würde sich B nicht in Bewegung setzen.“ Oder retrospektiv formuliert: „Wäre A nicht auf B gestoßen, so hätte sich B nicht in Bewegung gesetzt.“ Der kontrafaktischen Abhängigkeit entspricht nach Lewis die Richtung 11 Ein früher Vertreter einer kausalen Theorie der Zeit war Reichenbach (1977: § 21, Erstausgabe 1928). Eine bekannte Kritik daran stammt von John Earman (1972). 12 Lewis verfeinerte diese Theorie später (in Lewis 2000), die Grundidee der kontrafaktischen Abhängigkeit behielt er jedoch bei.
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der Zeit, daher erfolgt die Bewegung von B in der realen Welt nach dem Aufprall von A. Gegen diese Analyse lässt sich freilich einwenden, dass die kontrafaktische Abhängigkeit auch in der umgekehrten Richtung besteht: Der Zusammenstoß der Objekte A und B ist kontrafaktisch abhängig von der Bewegung von B, weil es sich bei dem Stoßprozess um einen reversiblen Vorgang handelt, der von zeitsymmetrischen Naturgesetzen beschrieben wird. Der umgekehrte Konditionalsatz ist daher ebenfalls wahr: „Würde sich B nicht in Bewegung setzen, so wäre A nicht auf B gestoßen.“ Kontrafaktische Konditionalsätze legen somit keinen Zeitpfeil fest, solange man es mit reversiblen Naturprozessen zu tun hat. Die Lösung dieses Problems könnte daher darin bestehen, auf indeterministische Naturgesetze zurückzugreifen, die nicht zeitsymmetrisch sind. Dann wäre zwar die Zukunft von der Vergangenheit, aber nicht mehr umgekehrt die Vergangenheit von der Zukunft kontrafaktisch abhängig.13 Als Quelle solcher indeterministischen Gesetze kommen vor allem die Thermodynamik und die Quantenmechanik in Betracht. Sehen wir uns dazu noch einmal den elastischen Stoß an, der ja eine theoretische Idealisierung ist: Wären A und B reale Objekte, etwa Billardkugeln auf einem Tisch, so würde die Kugel A durch Reibung Energie verlieren, während sie auf B zurollt. Auch beim Kontakt der beiden Kugeln würde sich Bewegungsenergie in Wärme umwandeln. Der größte Teil der Bewegungsenergie von A ginge zwar auf B über, doch ein kleiner Teil ginge durch eine geringfügige Erwärmung und Verformung der Kugeln, des Billardtisches und der Luft verloren. Für Stoßvorgänge in der realen Welt gilt der zweite Hauptsatz der Wärmelehre, der besagt, dass in einem geschlossenen System die Entropie nicht abnehmen kann. Die Änderung der Entropie ist proportional zur Wärmeänderung des Systems. Da im Billardstoß Wärme erzeugt wird, nimmt somit die Entropie zu. Würde man den „Film rückwärts ablaufen lassen“, so würde die Entropie jedoch abnehmen. Denn im Umkehrprozess, bei dem die Kugel B auf die Kugel A prallt, würden sich die Kugeln und deren Umgebung ein wenig abkühlen und diese Wärme würde sich in Bewegungsenergie von A verwandeln. Der Umkehrprozess würde somit dem zweiten Hauptsatz widersprechen. Thermodynamische Prozesse sind irreversibel. Die Thermodynamik zeichnet daher eine der beiden möglichen Zeitrichtungen aus. Daher könnte man zum Beispiel in McTaggarts A-Reihe die Richtung, in der die Zeit vergeht, durch die Richtung der Entropiezunahme identifizieren. 13 Denn angenommen, eine Ursache habe zwei mögliche, nicht miteinander vereinbare Wirkungen M und N, von denen tatsächlich M eintritt. Dann ist M von der Ursache kontrafaktisch abhängig, denn ohne sie würde M nicht eintreten. Doch die Ursache ist umgekehrt nicht von M abhängig, weil sie auch mit N zusammen auftreten könnte.
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Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt man auf Grundlage der Quantenmechanik, zumindest dann, wenn man die populärste Interpretation derselben voraussetzt, die „Kopenhagener Deutung“. Typische quantenmechanische Prozesse wie der radioaktive Zerfall eines Atomkerns, der Weg eines Photons durch einen Strahlteiler oder die Messung des Spins eines Elektrons sind nach dieser Interpretation indeterministisch und irreversibel.14 Das folgende Gedankenexperiment stammt von Frank Arntzenius (1997): Trifft ein Photon im Winkel von 45 Grad auf einen halbdurchlässigen Spiegel, so wird es diesen mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit durchdringen und mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit reflektiert werden. Stellen wir uns vor, es gäbe einhundert solcher Anordnungen, in denen jeweils ein Photon auf einen Spiegel trifft. Ungefähr die Hälfte dieser Photonen geht durch, die anderen werden reflektiert. Lassen wir den „Film“ in die entgegengesetzte Richtung ablaufen, so werden die reflektierten Photonen auch in diesem Umkehrprozess reflektiert; die nicht-reflektierten werden nicht reflektiert, sondern durchdringen den Spiegel. Somit landet jedes Photon wieder in der ursprünglichen Quelle. In einem realen physikalischen Experiment würden sich die Photonen freilich nicht so verhalten: Würde man ein reflektiertes Photon wieder zum Strahlteiler zurückschicken, so würde es dort nur mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit reflektiert werden; und ein Photon, das zuvor den Strahlteiler durchquert hat, würde diesen jetzt nur mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit durchqueren. Der vorhin beschriebene Umkehrprozess, bei dem genau die reflektierten Photonen wieder reflektiert werden und genau die nicht-reflektierten Photonen den Strahlteiler durchdringen, ist zwar quantenmechanisch ebenfalls möglich, denn es besteht eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich die beiden Gruppen von Photonen genau so verhalten. Doch erstens könnte man die Zahl der Versuchsanordnungen beliebig erhöhen und damit die Wahrscheinlichkeit des Umkehrprozesses immer kleiner machen. Und zweitens kann man diesen Prozess auch deterministisch lesen, also so, dass der Weg der Photonen im Umkehrprozess eindeutig vorherbestimmt ist. Dann würde die Quantenmechanik den Vorgang schon deshalb nicht korrekt beschreiben, weil es dabei gar nicht um Wahrscheinlichkeiten ginge.15 Alles in allem liefert die Physik gute Argumente dafür, dass viele Naturvorgänge irreversibel sind, denn Thermodynamik und Quantenmechanik (in einer passenden Interpretation) beschreiben eine Welt, die sich in einer bestimmten 14 Unter den vielen Interpretationen des quantenmechanischen Formalismus gibt es aber auch solche, die alle quantenmechanischen Prozesse als deterministische und reversible Vorgänge auffassen, zum Beispiel die Viele-Welten-Interpretation und die Bohmsche Mechanik (Passon 2015). 15 In dieser Weise deutet Roger Penrose (1991: 349) eine vereinfachte Form des Gedankenexperiments mit einem Spiegel und einem Photon.
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Richtung entwickelt. Sie gelten nicht für die Umkehrprozesse. Die kontrafaktische Analyse der Kausalität fügt dem hinzu, dass aus diesem Grund zwar die Zukunft von der Vergangenheit, die Vergangenheit aber nicht von der Zukunft kontrafaktisch abhängig ist. Die entscheidende Frage lautet allerdings, ob dadurch auch erklärt wird, worin das Gerichtetsein der Zeit besteht. Dies scheint nicht der Fall zu sein, weil kein Widerspruch in der Annahme liegt, dass die Zeit vergeht, wenn der zweite Hauptsatz der Thermodynamik verletzt wird. Die Zeit vergeht auch dann, wenn die Entropie nicht zunimmt oder sogar geringer wird. Dasselbe gilt für die Quantenmechanik: Auch in einer rein deterministischen Welt ohne quantenmechanische Wahrscheinlichkeiten würde die Zeit vergehen. Es fällt außerdem nicht schwer, sich eine Welt vorzustellen, in der physikalische Vorgänge, die in der realen Welt von der Thermodynamik und der Quantenmechanik beschrieben werden, in die entgegengesetzte Richtung ablaufen, das heißt so wie im zurückgespulten „Film“. Die Entropie eines geschlossenen Systems würde in einer solchen Welt dazu tendieren, mit der Zeit kleiner zu werden, und Objekte wie Photonen würden sich nicht gemäß der Quantenmechanik verhalten, sondern beispielsweise so wie die Photonen im Umkehrprozess, der im Gedankenexperiment von Arntzenius beschrieben wurde. Kurz gesagt spricht nichts dagegen, dass die Zeit auch dann verginge, wenn der zweite Hauptsatz der Thermodynamik und die Gesetze der Quantenmechanik nicht gelten würden. Daher setzt das Gerichtetsein der Zeit die Irreversibilität thermodynamischer und quantenmechanischer Vorgänge nicht notwendigerweise voraus. Wenn es stimmt, dass Thermodynamik und Quantenmechanik die reale Welt richtig beschreiben, dann lässt sich zwar in der realen Welt die Zeitrichtung an den Naturgesetzen faktisch ablesen; doch daraus folgt nicht, dass die Zeit in dieser Richtung vergeht, weil die betreffenden Naturgesetze gelten. Brigitte Falkenburg drückt diesen Befund so aus: „Die Irreversibilität quantenmechanischer Messungen erklärt den Zeitpfeil allerdings ebenfalls nicht. Ähnlich wie der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik beschreibt sie ihn nur; sie konstatiert ebenfalls nur, in welcher Richtung er faktisch verläuft.“ (Falkenburg 2012: 245) Dies lässt sich auch so verstehen, dass die Naturgesetze die Zeitrichtung immer schon voraussetzen. Oder wie Falkenburg an einer anderen Stelle anmerkt: „Wir werden immer wieder darauf zurückgeworfen, den Unterschied von Früher und Später in unsere physikalischen Erklärungen hineinzustecken, anstatt ihn aus ihnen herauszuholen.“ (2012: 253). Naturgesetze beschreiben, was mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit geschehen wird. Sie erlauben zum Beispiel die Voraussage, dass die Entropie langfristig zunehmen wird oder dass ein Photon am Strahlteiler mit gleicher Wahrscheinlichkeit einen von zwei Wegen einschlagen wird. Dabei werden zeitliche Relationen wie Früher und Später immer schon vorausgesetzt.
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Das Argument, dass indeterministische Naturgesetze die Zeitrichtung nicht erklären können, weil die Zeit auch dann verginge, wenn diese Gesetze nicht gelten würden, beruht offenbar auf der dynamischen Zeitauffassung, die ich in den vorangegangenen Kapiteln verteidigt habe. Gemäß dieser Auffassung ist der Zeitpfeil eben die Richtung, in der die Zeit vergeht, und wird nicht durch Naturgesetze festgelegt. Würde man stattdessen die statische Zeitauffassung voraussetzen, so fiele es tatsächlich schwer, den Zeitpfeil von den Naturgesetzen zu trennen. Denn was sollte es heißen, dass die Zeit eine bestimmte Richtung hat, wenn diese weder die Richtung ist, in der die Zeit vergeht, noch die Richtung, die durch irreversible Naturgesetze gegeben ist? In der statischen Zeitauffassung könnte die Zeitrichtung eigentlich nur auf der Irreversibilität der Naturgesetze beruhen. Da wir jedoch annehmen dürfen, dass die Zeit vergeht, können wir den Zeitpfeil als die Richtung dieses Vergehens interpretieren, und zwar völlig unabhängig davon, welche Naturgesetze gelten. Das Vergehen der Zeit ist eine grundlegende, nicht weiter zurückführbare metaphysische Tatsache. Dazu zum Abschluss noch einmal Brigitte Falkenburg: „Die Richtung des Zeitpfeils scheint nicht-reduzierbar; und mit ihr unser subjektives Erleben des Unterschieds von Vergangenheit und Zukunft, der unserer Kenntnis des Unterschieds von Früher und Später zugrunde liegt.“ (2012: 253)16
16 Tim Maudlin (2007: Kap. 4) verteidigt ebenfalls die Auffassung, dass das Vergehen der Zeit ontologisch grundlegend ist, obwohl er diese für „unpopulär“ hält (S. 172), was wohl nur für bestimmte philosophische Kreise gilt.
Kapitel 5
Spezielle Relativitätstheorie Kapitel 5: Spezielle Relativitätstheorie
Es gibt zwar gute Gründe dafür, an das Vergehen der Zeit zu glauben, doch ein Argument konnte viele davon überzeugen, dass die Zeit in Wirklichkeit nicht vergeht. Es beruht auf der Speziellen Relativitätstheorie, genauer gesagt auf der Relativität der Relationen Früher, Später und Gleichzeitig, wobei oft kurz von der „Relativität der Gleichzeitigkeit“ die Rede ist (Einstein 1917: § 9). Die Spezielle Relativitätstheorie unterscheidet zwischen drei Arten von Abständen zwischen Ereignissen: „raumartige“, „zeitartige“ und „lichtartige“. Zwei Ereignisse sind dann raumartig voneinander getrennt, wenn keines das andere kausal beeinflussen kann, wobei die Lichtgeschwindigkeit die Obergrenze für jeden möglichen kausalen Einfluss bildet. Bei raumartig getrennten Ereignissen ist es somit unmöglich, dass ein von einem Ereignis ausgehender Lichtstrahl das andere Ereignis erreicht.17 Das Argument gegen das Vergehen der Zeit stützt sich auf diese raumartig getrennten Ereignisse. Betrachten wir ein beliebiges Ereignis M und dazu ein von diesem raumartig getrenntes Ereignis N. In der Speziellen Relativitätstheorie treten an die Stelle der absoluten Zeit der Newtonschen Physik die relativen Zeiten verschiedener Bezugssysteme. In manchen dieser Systeme sind M und N gleichzeitig, in anderen ist M früher als N und in wieder anderen ist M später als N. Die zeitliche Relation zwischen M und N hängt also vom Bezugssystem ab, weshalb es schwer fällt, zu behaupten, dass zwischen den beiden Ereignissen M und N in Wirklichkeit Zeit vergeht. Denn die Wahl eines Bezugssystems ist eine Sache der Konvention, und ein Merkmal, das bloß konventionell vorhanden ist, kann kein Merkmal der Wirklichkeit sein. Als Vergleich bietet sich die Konventionalität der Sprache an: Die Tatsache, dass man einem Ding verschiedene Namen geben kann, weist darauf hin, dass der Name nichts mit dem Ding selbst zu tun hat. Verschiedene Namen sind insofern gleichwertig, als sie ihren Zweck erfüllen: die Bezeichnung des Dinges. Bezugssysteme, in denen die Relation zwischen M und N unterschiedlich konstruiert wird, sind in physikalischer Hinsicht gleichwertig. Es besteht kein Grund zur Annahme, dass eine Beschreibung besser ist als eine andere, dass also die 17 Zwei raumartig voneinander getrennte Ereignisse liegen außerhalb des Lichtkegels des jeweils anderen. Zeitartig getrennte liegen innerhalb des Lichtkegels, lichtartig getrennte auf dessen Oberfläche (Goenner 1997: 51 f.). Zum Lichtkegel siehe unten Kapitel 19.
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Zeit zwischen M und N in eine bestimmte Richtung vergeht oder dass die beiden Ereignisse in Wirklichkeit gleichzeitig sind. Aus dieser Relativität der zeitlichen Relationen zwischen raumartig getrennten Ereignissen wird dann eben auf die Falschheit der dynamischen Zeitauffassung geschlossen. Wie ein Name nicht das Wesen des benannten Dinges zum Ausdruck bringt, so haben auch Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit nichts mit den Ereignissen selbst zu tun, sondern nur mit der Art ihrer Beschreibung in einem Bezugssystem. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass die statische Zeitauffassung von diesem Argument ebenfalls betroffen ist, weil ja auch die für die statische Zeitauffassung typischen Relationen Früher und Später relativ sind. Wenn man aus der Relativität der zeitlichen Relationen auf die Falschheit der dynamischen Zeitauffassung schließt, so müsste man auch auf die Falschheit der statischen Zeitauffassung schließen. Tatsächlich kann man im Kontext der Speziellen Relativitätstheorie gar nicht von einer statischen Auffassung der Zeit sprechen, sondern nur von einer statischen Auffassung der Raumzeit. Für diese Verschiebung des Themas fand Hermann Minkowski in einem 1908 gehaltenen Vortrag blumige Worte, die gerne zitiert werden: „Von Stund′ an sollen Raum für sich und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken und nur noch eine Art Union der beiden soll Selbständigkeit bewahren.“ (1909: 75) Mathematisch drückt sich die angesprochene „Union“ von Raum und Zeit unter anderem im Raumzeit-Abstand ds aus, für den Folgendes gilt: ds2 = c2dt2 - dx2 - dy2 - dz2. Dabei ist t die Zeitkoordinate und x, y, z sind die Raumkoordinaten. Man kann die Vorzeichen auch vertauschen, was wieder nur eine Frage der Konvention ist. In der gewählten Formulierung hat das Quadrat des Abstandes zwischen raumartig getrennten Ereignissen immer einen negativen Wert. Bei zeitartig getrennten Ereignissen ist der Wert positiv und bei lichtartig getrennten Ereignissen gleich Null. Zeit- und lichtartig getrennte Ereignisse unterscheiden sich von raumartig getrennten unter anderem dadurch, dass sie für keinen Beobachter gleichzeitig stattfinden. Außerdem ist ein Ereignis M entweder für alle Beobachter früher oder für alle Beobachter später als ein Ereignis N, das von M zeit- oder lichtartig getrennt ist. Insofern ist die Ordnung von zeit- und lichtartig getrennten Ereignissen festgelegt, jedenfalls dann, wenn man weiß, auf welche Zeitrichtung sich „früher“ und „später“ beziehen. Findet M früher als N statt, so sagt man auch, dass M in der „absoluten Vergangenheit“ von N liegt. Weil die Ordnung solcher Ereignisse für alle Beobachter dieselbe ist, könnte man genau hier der statischen Interpretation entkommen und das Zeitvergehen in die Spezielle Relativitätstheorie einführen. Man könnte nämlich die These aufstellen, dass die Zeit zwischen M und N vergeht, wenn M in der absoluten Vergangenheit von N liegt. Sie vergeht von M in Richtung N. Allerdings stehen hinter dieser These drei Fragezeichen:
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Erstens ist damit eine Einschränkung des Zeitvergehens auf zeit- und lichtartig getrennte Ereignisse verbunden. Raumartig getrennte Ereignisse sind davon ausgeschlossen; zwischen ihnen vergeht keine Zeit. Wir können daher nicht mehr sagen, dass die Zeit vergeht, ohne hinzuzufügen, von welchen Ereignissen die Rede ist. Zum Vergleich: In der Newtonschen Physik bestand das Vergehen der Zeit darin, dass die Zeit zwischen allen Paaren von Ereignissen vergeht, die nicht gleichzeitig stattfinden. In der Speziellen Relativitätstheorie gilt dies nicht für raumartig getrennte Paare (obwohl zwischen diesen natürlich zeitliche Relationen relativ zu Bezugssystemen bestehen). Meines Erachtens ist dies jedoch kein schwerwiegendes Problem und sollte für sich allein betrachtet niemanden von der dynamischen Zeitauffassung abbringen. Die Einschränkung des Zeitvergehens unterstreicht letztlich nur die für die Spezielle Relativitätstheorie zentrale Unterscheidung zwischen raumartig und nicht-raumartig getrennten Ereignissen. Es überrascht nicht, dass die Zeit zwischen raumartig getrennten Ereignissen nicht vergeht. Die raumartige Trennung besteht unter anderem in diesem Nichtvergehen. Die Unterscheidung zwischen raumartiger und nicht-raumartiger Trennung ist in dieser Hinsicht ein relativistisches Analogon zur Unterscheidung zwischen Raum und Zeit in der Newtonschen Physik. Auch in der Newtonschen Physik vergeht keine Zeit zwischen zwei Ereignissen, die zwar räumlich, aber nicht zeitlich voneinander getrennt sind.18 Das zweite Problem ist freilich etwas komplizierter. Auch die Spezielle Relativitätstheorie enthält keinen Zeitpfeil, weil der Raumzeit-Abstand eine ungerichtete Größe ist (eben ein Abstand und kein Vektor). Aus einem Raumzeit-Abstand zwischen M und N kann man nicht ableiten, welches der beiden Ereignisse das Frühere ist. Auch wenn man sagt, dass ein Ereignis in allen Bezugssystemen früher als das andere stattfindet, so ist dies insofern irreführend, als wir gar nicht wissen, in welcher Richtung der Zeitachse „früher“ liegt. Dieses Problem kennen wir natürlich bereits, denn wir haben im vorigen Kapitel festgestellt, dass sich aus Naturgesetzen keine Zeitrichtung ableiten lässt. Das gilt auch für die Gesetze der Speziellen Relativitätstheorie. Allerdings besteht auch gar keine Veranlassung, aus der Speziellen Relativitätstheorie eine Zeitrichtung ableiten zu wollen. Wir denken derzeit lediglich darüber nach, ob die Annahme, dass die Zeit vergeht, der Speziellen Relativitätstheorie widerspruchsfrei hinzugefügt werden kann. Das scheint auch der Fall zu sein, zumindest wenn man sich an den Gedanken gewöhnen kann, dass diese 18 Wie jeder Vergleich hinkt auch dieser: In der Newtonschen Physik vergeht zwischen zwei Ereignissen keine Zeit, wenn sie gleichzeitig stattfinden. In der Speziellen Relativitätstheorie vergeht zwischen raumartig getrennten Ereignissen keine Zeit, weil deren zeitliche Relation vom Bezugssystem abhängt.
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Annahme nur für zeit- und lichtartig getrennte Ereignisse gilt. Indem wir hier das Zeitvergehen einführen, führen wir natürlich auch eine Zeitrichtung ein. An noch eine weitere Seltsamkeit müssen wir uns gewöhnen, wenn wir Spezielle Relativitätstheorie und Zeitvergehen in dieser Weise zusammenbringen wollen. Damit komme ich zum dritten Fragezeichen: Gemäß unserer Annahme vergeht zwar die Zeit zwischen zwei Ereignissen, wenn das eine in der absoluten Vergangenheit des anderen liegt, die Quantität dieses Vergehens ist jedoch unbestimmt. Wie schnell die Zeit zwischen M und N vergeht, hängt schließlich davon ab, in welchem Bezugssystem sie gemessen wird. Die Messungen ergeben verschiedene zeitliche Distanzen zwischen M und N. Ich erinnere an Aristoteles (Kapitel 1), der die Zeit als Zahl der Veränderung hinsichtlich des Früher und Später charakterisiert hat. Sollte er mit „Zahl“ (arithmos) eine absolute Quantität gemeint haben – was wahrscheinlich ist –, so hätte er damit nach dem gegenwärtigen Vorschlag nicht ganz recht gehabt. Veränderung und Vergehen mögen für Zeit wesentlich sein, doch die Quantität des Vergehens hinge davon ab, von welchem Standpunkt aus die Veränderung betrachtet oder gemessen wird. Diese Unbestimmtheit des Zeitvergehens ist möglicherweise leichter zu akzeptieren, wenn man sie mit der quantentheoretischen Unschärfe vergleicht, die lange genug auf dem Ideenmarkt gehandelt wird, um bei Fachleuten und Laien einen gewissen Gewöhnungseffekt hervorgerufen zu haben. Nach der bereits erwähnten Kopenhagener Interpretation besitzt ein Teilchen nicht zugleich einen bestimmten Ort und einen bestimmten Impuls, weshalb es zum Beispiel vorkommen kann, dass der Weg des Teilchens durch eine Versuchsanordnung unbestimmt ist. Wenn man diese Tatsache anerkennt, könnte man vielleicht auch dazu bereit sein, die Unbestimmtheit des Zeitvergehens anzuerkennen. Dabei sollten jedoch keinesfalls die Unterschiede zwischen den beiden Unbestimmtheiten übersehen werden. Im Fall des Teilchens verschwindet die Ortsunschärfe, wenn der Ort durch eine Messung festgelegt wird, während die Zeitspanne zwischen den Ereignissen M und N in beliebig vielen Bezugssystemen gemessen werden kann, ohne dass dadurch die prinzipielle Unbestimmtheit des Vergehens zum Verschwinden gebracht wird. Abgesehen davon halten viele die quantentheoretische Unschärfe selbst für ein begriffliches Problem, das gegen die Kopenhagener Interpretation spricht. Der Vergleich mit der quantentheoretischen Unschärfe würde daher in ihren Augen die Unbestimmtheit des Zeitvergehens nicht in einem günstigeren Licht erscheinen lassen, sondern nur ihren problematischen Charakter betonen. Auch eine weitere Analogie bringt unser Verständnis nicht viel weiter, nämlich die triviale Tatsache, dass das Ergebnis einer Längenmessung vom verwendeten Maßstab abhängt. Wenn ich eine Länge in Zentimetern oder Zoll messe, bekomme ich verschiedene Zahlenwerte, die sich leicht ineinander umrechnen lassen, weil 2,54 Zentimeter einem Zoll entsprechen. Mit etwas mehr mathema-
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tischem Aufwand lassen sich auch die in verschiedenen Bezugssystemen gemessenen Zeiten ineinander transformieren, wenn man die Relativbewegungen der Bezugssysteme kennt. Die Bezugssysteme wären wie verschiedene „Maßstäbe“, mit deren Hilfe das Vergehen der Zeit gemessen wird. Dieser Vergleich mag didaktisch nützlich sein, doch bei der quantitativen Unbestimmtheit des Zeitvergehens geht es natürlich nicht um verschiedene Zeit einheiten, die mit Zoll oder Zentimetern vergleichbar wären. Betrachten wir zum Beispiel zwei relativ zueinander bewegte Uhren, etwa eine Uhr auf der Erde und eine Uhr in einem Raumschiff, das sich von der Erde wegbewegt. Wir wollen zusätzlich annehmen, dass die beiden Uhren irgendwann synchronisiert wurden.19 Da sie sich relativ zueinander bewegen, könnte man nun behaupten, dass ihre Zeiteinheiten nicht identisch sind. So wie ein Strich auf einem Zoll-Lineal etwas anderes ist als ein Strich auf einem Zentimeter-Lineal, wäre das Ticken einer bewegten Uhr etwas anderes als das Ticken einer ruhenden Uhr. Gegen diesen Vergleich spricht unter anderem die Symmetrie der Situation bei der Zeitmessung (Maudlin 2012: 93): Wenn sich das Raumschiff von der Erde entfernt, entfernt sich aus Sicht des Raumschiffs die Erde vom Raumschiff. Während aus Sicht der Erde die Uhr im Raumschiff langsamer geht, geht aus Sicht des Raumschiffs die Uhr auf der Erde langsamer. Dies ist nicht vergleichbar mit der Relativität der Längenmessung durch Lineale mit verschiedenen Einheiten. Es ist eher so, als würde aus Sicht eines Lineals das jeweils andere in Zoll messen, während jedes Lineal selbst Zentimeter anzeigt. Die Unbestimmtheit des Zeitvergehens lässt sich daher nicht durch den Vergleich mit verschiedenen Maßeinheiten völlig verständlich machen oder gar als eine bloße Frage der Konvention „wegerklären“.
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Zur Synchronisationsmethode siehe Goenner (1997: 35 f.).
Kapitel 6
Eigenzeiten Kapitel 6: Eigenzeiten
Die Spezielle Relativitätstheorie enthält nicht nur keinen Zeitpfeil, sie setzt auch nicht voraus, dass die Zeit vergeht. Sie widerspricht dieser Annahme jedoch nicht, sofern man raumartig getrennte Ereignisse außer Acht lässt. Der Versuch im vorigen Kapitel, das Zeitvergehen zwischen zeit- und lichtartig getrennten Ereignissen einzuführen, brachte jedoch nur ein unbestimmtes Vergehen zum Vorschein. Wieviel Zeit zwischen zwei Ereignissen vergeht, hängt davon ab, in welchem Bezugssystem die Zeitspanne gemessen wird. Vielleicht müssen wir uns an diese Unbestimmtheit des Zeitvergehens gewöhnen, denn schließlich hat die moderne Physik auch schon andere Begriffe, die uns aus dem Alltagsdenken oder der Physik früherer Jahrhunderte vertraut waren, so modifiziert, dass sie zunächst der Intuition widersprachen – bevor wir uns eben daran gewöhnt haben. Ein gutes Beispiel dafür ist die Gleichzeitigkeit, die zur relativen Gleichzeitigkeit wurde. Es gibt allerdings innerhalb der Speziellen Relativitätstheorie noch einen weiteren Ansatzpunkt für die Idee des Zeitvergehens: die Eigenzeit, das heißt die von einer Uhr an einem Ort messbare Zeit. Die Eigenzeit ist die Grundlage der in einem Bezugssystem geltenden Koordinatenzeit. Cord Friebe beschreibt dies so: „Durch Koordinatisierung prägt also ein Beobachter seine Eigenzeit seiner Umgebung auf, wo sie als relative erscheint – nämlich in Gestalt der individuellen x-Achse.“ (2007: 184 f.) Weil die Koordinatenzeit auch raumartig getrennte Ereignisse miteinander verbindet, können wir zwar nicht uneingeschränkt sagen, dass diese Zeit vergeht, doch immerhin kann die Eigenzeit selbst als eine vergehende Zeit betrachtet werden. Sie ist nach diesem Verständnis ein lokales Zeitvergehen, das Ereignisse am selben Ort (zum Beispiel am Ort der Uhr) miteinander verbindet. Steven Savitt behauptet sogar, die Eigenzeit sei „a kind of time perfectly apt for becoming. What is surprising about the special theory (at least in this regard; there are other surprises of course) is that time qua passage is a local phenomenon, tied to a world line. For eons we have tied passage to an advancing global now, and this idea is buried deep in our worldview. It is an idea that we must transcend.“ (2011: 567) Uhren und Beobachter sind besondere Objekte. Beobachter sind Objekte, die andere Objekte und Vorgänge wahrnehmen können, womit das Zeiterleben ins Spiel kommt. Uhren wiederum sind Objekte, die durch periodische Vorgänge die Zeit messen, wobei sich in der Speziellen Relativitätstheorie die Lichtuhr –
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eine Anordnung zweier Spiegel, zwischen denen Photonen hin- und hergeworfen werden – als nützliches Gedankenkonstrukt erwiesen hat. Manche Objekte, zum Beispiel die schwingenden Cäsium-Atome in einer Atomuhr oder zerfallende Myonen in einem Speicherring, lassen sich auch als natürliche Uhren auffassen. Wie im obigen Zitat von Friebe wird der Uhr oft ein relativ zu ihr ruhender „Beobachter“ hinzugefügt, der die Zeit an der Uhr abliest. Von Uhren wird die Eigenzeit also gemessen, während sie von Beobachtern erlebt oder an einer Uhr abgelesen wird. Erklärt man den Begriff der Eigenzeit auf diese Weise durch Uhren und/oder Beobachter, darf dies jedoch nicht so verstanden werden, dass die vergehende Eigenzeit nur dann existiert, wenn eine Uhr oder ein Beobachter vorhanden ist. Als Minkowski den Begriff der Eigenzeit einführte, sprach er von der Eigenzeit einer „Stelle der Materie“ oder eines „materiellen Punktes“ (Minkowski 1908: 100 und 110). Um auch Objekten, die selbst keine Uhren sind, eine Eigenzeit zuzuschreiben, können wir hypothetische, bloß gedachte Uhren und Beobachter in Betracht ziehen – oder noch schärfer: ideale Uhren und Beobachter, die beliebig große Beschleunigungen heil überstehen. Wenn wir der Uhr auch noch die Ausdehnung nehmen, erhalten wir sogar idealisierte punktförmige Uhren (Rindler 2006: 178 f.). Die Eigenzeit eines beliebigen Objekts bzw. des Ortes, an dem sich dieses Objekt befindet, wäre dann die Zeit, die eine solche Uhr neben dem Objekt messen würde oder ein neben dem Objekt befindlicher Beobachter wahrnehmen oder an der Uhr ablesen würde. Weil man Uhren und Beobachter benötigt, um zu verstehen, was mit dem lokalen Zeitvergehen gemeint ist, und weil man Objekte benötigt, um Orte zu identifizieren, setzt der Begriff der Eigenzeit die dauerhafte Existenz – die Persistenz – von Objekten voraus. Die Frage, worin diese Existenz besteht (siehe Kapitel 12), wie Objekte also persistieren, besitzt aus diesem Grund für die Spezielle Relativitätstheorie eine gewisse Bedeutung. Man braucht diese allerdings auch nicht zu überschätzen, denn die Spezielle Relativitätstheorie scheint keine bestimmte Auffassung von Persistenz zu implizieren. Sie setzt lediglich voraus, dass Objekte persistieren. Ähnlich wichtig wie die Persistenz von Objekten ist für den Begriff der Eigenzeit die Uhrenhypothese, die unterschiedlich formuliert werden kann. Eine Version derselben besagt, dass eine Uhr den Raumzeit-Abstand entlang ihrer Weltlinie misst (Maudlin 2012: 76). Die Weltlinie ist der „Weg“ der Uhr durch die Raumzeit; die Uhr misst die „Länge“ dieses Weges. Da die Uhr jedoch auch die Eigenzeit misst, läuft die Uhrenhypothese auf die Identifikation von Eigenzeit und Raumzeit-Abstand hinaus. Eine Uhr misst die Länge ihrer Weltlinie, indem sie ihre Eigenzeit misst. Die Uhrenhypothese kann als bloße Messvorschrift gedeutet werden, als physikalische Interpretation der mathematischen Eigenzeit, als Definition von „Uhr“ oder als Grundprinzip der Speziellen Relativitätstheorie,
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das als solches mit dem Relativitätsprinzip und dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit vergleichbar wäre (Einstein 1917: §§ 5 und 7). Wie schon erwähnt wurde, ist der Raumzeit-Abstand eine ungerichtete Größe. Er legt nicht fest, welches der Ereignisse an den beiden Enden der Weltlinie das frühere ist. Auf den ersten Blick scheint die Uhrenhypothese diese zusätzliche Information zu liefern, denn wenn wir an eine Zeitmessung denken, so denken wir an einen Vorgang, der in einer bestimmten zeitlichen Richtung abläuft. Misst die Uhr beispielsweise die Zeit zwischen den Ereignissen M und N, so beginnt die Messung entweder bei M und endet bei N, oder sie beginnt bei N und endet bei M. Somit ist entweder M früher als N oder N früher als M. Abgesehen von der Richtung der Zeitmessung würde die Weltlinie der Uhr auch eine Ordnung aller Punkte beinhalten, die sich auf ihr befinden, was die Voraussetzung dafür ist, dass man von einem kontinuierlichen Zeitvergehen sprechen kann. Und schließlich scheint die „Bewegung“ der Uhr entlang der Weltlinie sogar ein solches Vergehen der Zeit zu implizieren. Denn die von einer Uhr gemessene Zeit muss doch eine Zeit sein, die vergeht. Wie anders soll man sich das Messen vorstellen – oder gar die Wahrnehmung dieses Messens durch einen Beobachter? Fassen wir zusammen: Die Eigenzeit ist die von einer Uhr an einem Ort messbare Zeit. Die Uhrenhypothese bringt diese Zeit mit der Länge von Weltlinien zwischen Ereignissen in Zusammenhang. Wir neigen außerdem dazu, Zeitmessung als eine Art des Zeitvergehens zu betrachten, das heißt als eine gerichtete, kontinuierliche „Bewegung“ einer Uhr entlang ihrer Weltlinie. Dies legt eine dynamische Interpretation der Eigenzeit und des Raumzeit-Abstands nahe. Wie immer kann man die Sache freilich auch anders betrachten, denn wir sind nicht gezwungen, Zeitmessung im Rahmen der Speziellen Relativitätstheorie dynamisch zu verstehen. Stellen wir uns zum Beispiel eine Lichtuhr vor, deren erster Schlag das Ereignis M ist. Nach einer Reihe weiterer Schläge folgt der letzte Schlag N. Die Uhr hätte somit die Länge ihrer Weltlinie zwischen M und N gemessen. Aber der mit N beginnende und mit M endende Umkehrprozess ist ebenfalls eine Messung der Länge dieser Weltlinie. Auch Uhren legen daher in der Speziellen Relativitätstheorie keine Zeitrichtung fest. Die „Messung“ der Länge der Weltlinie zwischen M und N ist einfach eine Folge von Ereignissen („Schlägen“), die man von M nach N oder von N nach M lesen kann. Nichts zwingt uns zu der Annahme, dass sich die Uhr durch diese Folge hindurch „bewegt“. Die Uhrenhypothese ändert auch nichts an der im vorigen Kapitel postulierten Unbestimmtheit des Zeitvergehens zwischen den Ereignissen M und N. Wenn wir die Eigenzeiten von Uhren betrachten, deren Weltlinien M und N verbinden, so stellen wir fest, dass diese Uhren verschiedene Zeiten messen. Die Unbestimmtheit des Zeitvergehens bleibt daher erhalten. Man könnte diese allenfalls dadurch eliminieren, dass man sich für eine bestimmte Art von Weltlinien entscheidet und diese zum „richtigen“ Maßstab der Zeit erklärt. Die einzigen Weltlinien, die da-
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für in Frage kämen, sind die von gleichförmig bewegten Uhren, also von Uhren, die in Trägheitssystemen ruhen.20 Aber warum sollten solche Weltlinien den Vorzug gegenüber anderen erhalten? Es ist selbstverständlich richtig, dass Trägheitssysteme in der Speziellen Relativitätstheorie eine besondere Funktion haben. Auf sie beziehen sich unter anderem das Relativitätsprinzip und das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. Das erste Prinzip besagt, dass die physikalischen Gesetze in allen Trägheitssystemen dieselben sind, und das zweite, dass die Lichtgeschwindigkeit in allen Trägheitssystemen identisch ist. Aus dieser besonderen theoretischen Stellung von Trägheitssystemen folgt jedoch nicht, dass die zwischen M und N vergehende Zeit nur von einer in einem solchen System ruhenden Uhr, deren Weltlinie die beiden Ereignisse verbindet, richtig gemessen wird. Vorhin habe ich darauf hingewiesen, dass Eigenzeit und Uhrenhypothese eine dynamische Auffassung der Zeit nicht erzwingen. Für uns genügt es jedoch, dass sie mit ihr vereinbar sind. Ja mehr noch: Wie Savitt in der zu Beginn des Kapitels wiedergegebenen Stellungnahme betont, eignet sich die Eigenzeit ausgesprochen gut für eine dynamische Interpretation, weil sie als lokales Zeitvergehen gedeutet werden kann. Ich habe auch Friebes Feststellung zitiert, dass aus der Eigenzeit durch Koordinatisierung die Zeit eines Bezugssystems wird, was eine Art Projektion der Eigenzeit des Beobachters auf seine Umgebung ist. Wenn wir uns hingegen mit der Idee der Unbestimmtheit des Zeitvergehens anfreunden, können wir die dynamische Interpretation ganz ohne Projektion auf zeit- und lichtartig getrennte Ereignisse anwenden. Ohne uns auf eine bestimmte Weltlinie oder eine bestimmte Eigenzeit zu beziehen, können wir sagen, dass die Zeit zwischen solchen Ereignissen vergeht, dass dieses Vergehen jedoch keine bestimmte Quantität besitzt. Erst wenn ein Bezugssystem und damit eine Eigenzeit ins Spiel kommen, erhält das Zeitvergehen einen Wert. Diese Unbestimmtheitsthese hat unter anderem den Vorteil, dass dadurch ein klassisches Problem der dynamischen Zeitauffassung erhellt wird. Was ich soeben „Quantität“ und „Wert“ des Zeitvergehens genannt habe, wird oft metaphorisch als „Geschwindigkeit“ bezeichnet. Wie groß ist diese Geschwindigkeit? Anders gefragt, wie schnell „fließt“ der Fluss der Zeit? Um diese Frage zu verstehen, ist es nützlich, den Zeitfluss mit einer gleichförmigen räumlichen Bewegung zu vergleichen. Die Geschwindigkeit einer solchen räumlichen Bewegung ist die Zeitrate der Positionsänderung. In Analogie dazu müsste die „Geschwindigkeit 20 Ein Trägheits- oder Inertialsystem ist ein Bezugssystem, in dem sich kräftefreie Körper gemäß Newtons Trägheitsgesetz verhalten. Im Raumzeit-Diagramm (Goenner 1997: 29 – 32) ist die Weltlinie einer gleichförmig bewegten Uhr eine gerade Linie. Sie stellt den größten Raumzeit-Abstand zwischen M und N dar. Gekrümmte Weltlinien zwischen M und N entsprechen kürzeren Abständen.
Kapitel 6: Eigenzeiten
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des Zeitflusses“ die Zeitrate des Vergehens sein. Welche Dimension und welchen Wert hat diese? Die Dimension der Geschwindigkeit einer räumlichen Bewegung ist bekanntlich Weg pro Zeit, also beispielsweise Meter pro Sekunde. Die Dimension der Zeitrate des Vergehens könnte nur Zeit pro Zeit sein. Bei der räumlichen Bewegung hängt der Wert davon ab, wie schnell sich das Objekt bewegt, wie viele Meter es pro Sekunde zurücklegt. Im Fall der Zeit hingegen scheint im Zähler und im Nenner immer das Gleiche stehen zu müssen. Die Zeit würde demnach mit einer Rate von einer Sekunde pro Sekunde vergehen – wobei man natürlich auch andere Einheiten und Zahlen verwenden könnte, um dieselbe Zeitrate zu beschreiben, zum Beispiel 10 Stunden pro 10 Stunden, 60 Sekunden pro Minute oder 10 Stunden pro 600 Minuten. Gegner der dynamischen Zeitauffassung ziehen daraus gerne den Schluss, dass am Begriff der „Geschwindigkeit“ des Vergehens – und damit am Begriff des Vergehens selbst – etwas nicht stimmt. So merkt etwa Huw Price an: „A rate of seconds per second is not a rate at all in physical terms. It is a dimensionless quantity, rather than a rate of any sort.“ (1996: 13) Durch die Einheiten könnte man kürzen, dann bliebe nur eine dimensionslose Größe übrig, nämlich die Zahl 1. Geschwindigkeit, auch metaphorische, könne aber nicht dimensionslos sein, meinen Kritiker wie Price. Befürworter der dynamischen Zeitauffassung haben mindestens zwei Möglichkeiten, auf diese Kritik zu reagieren: Sie können die Frage nach der Geschwindigkeit entweder für sinnlos erklären und dennoch am Vergehen der Zeit festhalten, oder sie beißen in den sauren Apfel und akzeptieren, dass die Zeit mit einer Sekunde pro Sekunde vergeht. Tim Maudlin ist einer der wenigen, die die zweite Möglichkeit wählen: „it is necessary and, I suppose, a priori that if time passes at all, it passes at one second per second.“ (2007: 112) Meine Annahme der Unbestimmtheit des Zeitvergehens eröffnet jedoch noch einen dritten Weg: Die Zeit zwischen zwei Ereignissen vergeht, aber sie vergeht nicht in einer bestimmten Geschwindigkeit. Dennoch ist die Frage nach der Geschwindigkeit nicht sinnlos, denn wenn wir von einer Geschwindigkeit sprechen, so vergleichen wir schlicht und einfach zwei Eigenzeiten miteinander. Die Dimension des Zeitvergehens ist daher „Eigenzeit pro Eigenzeit“ – mit verschiedenen Eigenzeiten. Dies lässt sich bestens am bekannten Zwillingsparadoxon der Speziellen Relativitätstheorie erläutern (Goenner 1997: 42 f., Maudlin 2012: 77 – 83): Nehmen wir an, Zwilling A bleibe auf der Erde, während Zwilling B diese in einem Raumschiff verlässt, um nach 100 Tagen Erdzeit wiederzukommen. Nehmen wir außerdem an, für B seien lediglich 60 Tage vergangen. Die Ereignisse, die uns besonders interessieren, sind der Abflug (Ereignis M) und die Rückkehr (Ereig-
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Zweiter Teil: Zeit in der Physik
nis N) des Zwillings B. Zwischen M und N ist gemäß der dynamischen Interpretation Zeit vergangen, aber wieviel Zeit vergangen ist, hängt vom Bezugssystem ab: Auf der Erde sind es 100 Tage, im Raumschiff 60. Ebenso relativ ist die Geschwindigkeit des Zeitvergehens: Sie beträgt 6 Raumschiff-Tage pro 10 Erdtage, wenn man aus Sicht der Erde die Zeit im Raumschiff beschreibt, oder 10 Erdtage pro 6 Raumschiff-Tage, wenn man umgekehrt aus Sicht des Raumschiffs die Erde beschreibt. Auf die Frage, wie schnell die Zeit zwischen M und N vergangen ist, gibt es somit viele Antworten, je nachdem, welche Weltlinien zwischen M und N miteinander verglichen werden. Sinnlos ist die Frage allenfalls dann, wenn man eine Eigenzeit mit sich selbst vergleicht, weil dann die Dimension verschwindet und nur noch die Zahl 1 dasteht.
Kapitel 7
Kosmologie und Quantentheorie Kapitel 7: Kosmologie und Quantentheorie
Die gegenwärtige Physik geht in der Regel nicht davon aus, dass die Spezielle Relativitätstheorie das letzte Wort besitzt, wenn es um das Wesen der Zeit geht. Zeitphilosophische Schlussfolgerungen können auch aus anderen physikalischen Theorien gezogen werden. In diesem Kapitel werfe ich einen Blick auf die Kosmologie, die Quantenmechanik und die in Entwicklung befindlichen Theorien der Quantengravitation. Die Allgemeine Relativitätstheorie wird im nächsten Kapitel behandelt, wobei ein – für viele wohl überraschender – Zusammenhang mit dem absoluten Idealismus hergestellt wird. In der Speziellen Relativitätstheorie gibt es kein ausgezeichnetes Bezugssystem, in dem eine „absolute“ Zeit vergehen würde. Die Zeitdauer zwischen zwei Ereignissen hängt davon ab, in welchem Bezugssystem diese gemessen wird. Manche sind jedoch mit diesem Ergebnis nicht zufrieden und weisen zurecht darauf hin, dass die Spezielle Relativitätstheorie der Annahme eines bevorzugten Bezugssystems zumindest nicht widerspricht. Eine derartige Annahme wird von ihnen sogar für nötig erachtet – aus verschiedenen Gründen. Wenden wir uns zunächst der Kosmologie zu, in der unter anderem vom Alter des Universums die Rede ist. Nach heutigem Stand des Wissens beträgt das Alter des Universums ungefähr 13,8 Milliarden Jahre. Auf den genauen Wert kommt es hier nicht an, sondern allein auf die Hypothese, dass das Universum ein endliches Alter besitzt und irgendwann zu existieren begonnen hat, vermutlich im sogenannten „Urknall“. Um in dieser Weise vom Alter des Universums zu sprechen, könnte man sich auf die kosmische Hintergrundstrahlung beziehen, die ein paar hunderttausend Jahre nach dem Urknall entstand, als das Universum durch Abkühlung transparent wurde. Das bevorzugte Bezugssystem wäre jenes, in dem die kosmische Hintergrundstrahlung isotrop ist, was heißt, dass ein Beobachter in diesem Bezugssystem in keiner Richtung eine größere Rot- oder Blauverschiebung feststellen würde, abgesehen von kleinen Schwankungen.21 Die Altersangabe des Universums bezieht sich auf eine hypothetische Uhr, die in diesem Bezugssystem ruhen würde.
21 Neuere Messungen der kosmischen Hintergrundstrahlung zeigen eine großräumige Anisotropie, deren Erklärung umstritten ist (Aron/Grossman 2013, Tegmark 2015: 97 – 101).
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Gelegentlich wird behauptet, dass durch die Wahl dieses Bezugssystems eine absolute Zeit in die Kosmologie eingeführt wird, die in der Speziellen Relativitätstheorie noch nicht vorhanden war. Die erwähnte hypothetische Uhr würde diese absolute Zeit messen. Die kosmische Hintergrundstrahlung sei vergleichbar mit dem Äther in der Physik des neunzehnten Jahrhunderts (dessen Existenz allerdings durch eine Reihe von Experimenten widerlegt wurde). Bewegung relativ zu diesem neuen Äther sei absolute Bewegung (Craig 2001: 220 f., Kanitscheider 2002: 256, Fußnote 63). Dass man das Wort „absolut“ in diesem Zusammenhang verwenden darf, steht außer Frage, denn das Wort ist vieldeutig genug, dass sich eine passende Bedeutung finden lässt. William Lane Craig unterscheidet sechs Bedeutungen; eine davon ist „absolut“ im Gegensatz zu „lokal“ (Craig 2001: 2). Da die Hintergrundstrahlung überall im Universum existiert, ist sie jedenfalls in diesem Sinn „absolut“. Sie ist jedoch nicht absolut, wenn damit das Gegenteil von „relativ“ gemeint ist. Das Bezugssystem der kosmischen Hintergrundstrahlung ist nicht mehr die absolute Raumzeit der Newtonschen Physik, in der raumzeitliche Positionen und Relationen unabhängig von Bezugssystemen und materiellen Objekten festgelegt sind. Das „absolute“ Bezugssystem der modernen Kosmologie ist durch bestimmte Objekte definiert – die Photonen der kosmischen Hintergrundstrahlung – und durch die Relation eines Beobachters oder einer Uhr zu diesen Objekten. In der Newtonschen Raumzeit gab es metaphysische Tatsachen, die empirisch nicht nachweisbar sind, vor allem den Unterschied zwischen Ruhe und gleichförmiger Bewegung im absoluten Raum.22 Eine gleichförmige Bewegung relativ zur kosmischen Hintergrundstrahlung lässt sich hingegen durch die Wellenlängenverschiebung empirisch nachweisen. Um eine absolute Zeit zu finden, die mehr ist als die in einem bestimmten Bezugssystem innerhalb des Universums gemessene Zeit, müssten wir das Universum sozusagen von außen betrachten. Spätestens an dieser Stelle wird es nötig, sich darüber Gedanken zu machen, was mit „Universum“ überhaupt gemeint ist. Unter anderem könnte man darunter die gesamte Wirklichkeit verstehen, wobei im Kontext der Physik allerdings nur die physische Wirklichkeit gemeint wäre. Wenn jedoch von unserem Universum oder dem beobachtbaren Universum die Rede ist, so ist nur jener Teil der physischen Wirklichkeit gemeint, den wir prinzipiell beobachten können. Er umfasst die Raumregion, aus der Licht seit der Entstehung des Universums zu uns dringen konnte. Messungen weisen darauf hin, dass diese Region eine annähernd flache Geometrie aufweist (Silk 2006: Kap. 9), das heißt, die Winkelsumme eines Dreiecks, dessen Seiten von Lichtstrahlen gebildet werden, beträgt 180 Grad. 22 „Der absolute Raum bleibt vermöge seiner Natur und ohne Beziehung auf einen äussern Gegenstand, stets gleich und unbeweglich.“ (Newton 1963: 25)
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Dieser Befund ist damit vereinbar, dass der Raum über die Grenzen unseres Universums hinausgeht. Das Universum – im Sinne der ganzen physischen Wirklichkeit – wäre dann entweder unendlich groß oder jedenfalls sehr viel größer als das beobachtbare Universum.23 Was die Zeit angeht, so folgt aus dieser Hypothese zwar nicht, dass es eine absolute kosmische Zeit gibt, wenn mit „absolut“ etwas Ähnliches wie in der Newtonschen Physik gemeint ist. Doch es gäbe immerhin relative Zeiten, die insofern „absolut“ sind, als sie nicht durch ein Objekt oder Bezugssystem innerhalb unseres Universums definiert sind. Zeit wäre nicht nur das, was in einem Bezugssystem innerhalb unseres Universum vergeht oder von einer Uhr innerhalb unseres Universums gemessen wird. Mehr an „Absolutheit“ kann uns die physikalische Kosmologie derzeit wohl nicht bieten. Bessere Chancen für die Suche nach einem bevorzugten Bezugssystem bietet vielleicht die Quantenphysik und dort vor allem das Phänomen der quantenmechanischen Verschränkung. Ein typischer Fall sind zwei Photonen, die aus derselben Quelle stammend in verschiedene Richtungen fliegen. Die Art der Quelle sorgt dafür, dass die Photonenspins so korreliert sind, dass diese den entgegengesetzten Wert besitzen. Der Spin, eine Art Drehimpuls, hat drei Komponenten, die den „Drehachsen“ entsprechen. Jede Komponente hat je nach „Drehrichtung“ den Wert +1 oder -1. Die Korrelation der Photonenspins gilt für jede der drei Komponenten: Die x-Komponente, y-Komponente und z-Komponente des Spins des einen Teilchens hat also jeweils den entgegengesetzten Wert der jeweiligen Komponente des Spins des anderen Teilchens. Das darf nicht so verstanden werden, dass bereits vor der Messung feststünde, welcher Wert später gemessen wird. Nach der Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik besitzen die beiden verschränkten Teilchen keinen bestimmten Spin, wenn sie die Quelle verlassen, also bevor ihr Spin gemessen wurde. Die Teilchenzustände „Spin +1“ und „Spin -1“ existieren vor der Messung gar nicht. Nur der Gesamtspin existiert, das heißt die Tatsache, dass die Teilchenspins entgegengesetzt sind. Der Gesamtzustand des Zwei-Teilchen-Systems setzt sich somit nicht aus Zuständen der einzelnen Teilchen zusammen. Durch eine Messung am einen Teilchen wird im selben Moment – das heißt gleichzeitig, ohne Verzögerung – auch der Spin des anderen Teilchens festgelegt. 23 Wenn außerhalb unseres Universums Platz für weitere Universen wäre, könnte die physische Wirklichkeit ein Multiversum bilden, das Max Tegmark (2015) „Ebene-I-Multiversum“ nennt. Neben diesem postuliert er drei weitere, übergeordnete Ebenen von Pa ralleluniversen, die ich hier jedoch nicht berücksichtige, weil sie in physikalischer und philosophischer Hinsicht schwerer zu akzeptieren sind. Sollte das Ebene-I-Multiversum eine endliche Größe haben, so würde daraus übrigens nicht folgen, dass der Raum Grenzen hat, denn auch ein endlicher Raum kann unbegrenzt sein. Die einfachste Variante wäre ein Hypertorus, die dreidimensionale Verallgemeinerung eines zweidimensionalen Torus, der der Oberfläche eines Reifens oder Rettungsrings entspricht (Silk 2006: 229 – 236, Tegmark 2015: 58 f. und 197 f.).
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Da dies ohne Kontakt zwischen den beiden Teilchen und obendrein über beliebig große Distanzen hinweg geschehen kann, sind solche Szenarien als „EPR-Paradoxon“ bekannt. Die Großbuchstaben stehen für Albert Einstein, Boris Podolsky und Nathan Rosen, die im Jahr 1935 ein Gedankenexperiment dieser Art präsentiert haben. Inzwischen ist die quantenmechanische Verschränkung längst kein Gedankenexperiment mehr, weil ihre Existenz in vielen Experimenten bestätigt wurde.24 Bezeichnen wir unsere beiden verschränkten Photonen als A und B und nehmen wir an, dass in einiger Entfernung von der Photonenquelle die x-Komponente des Spins von A gemessen wird und dass diese Messung den Wert +1 ergibt. Das können wir so schreiben: Ax = +1. Durch diese Messung wird auch die x-Komponente des Spins von B festgelegt, nämlich auf den entgegengesetzten Wert Bx = -1. Nehmen wir außerdem an, dass am Photon B gleichzeitig die z-Komponente des Spins gemessen wird und dass diese Messung den Wert +1 ergibt: Bz = +1. Dadurch wird wiederum die z-Komponente des Spins von A auf -1 festgelegt: Az = -1. Insgesamt liegen also nach den beiden Messungen diese vier Werte vor: Ax = +1, Bx = -1, Az = -1, Bz = +1. Die eine Messung wollen wir M nennen und die andere N. M ist die Messung der x-Komponente am Photon A; N ist die Messung der z-Komponente am Photon B. Wir haben angenommen, dass aus Sicht der Quelle, also in deren Ruhesystem, M und N gleichzeitig stattfinden. Aber selbstverständlich gibt es auch Bezugssysteme, in denen M vor N stattfindet, und solche, in denen M nach N stattfindet. In diesen Systemen laufen unterschiedliche Entwicklungen ab. In einem Bezugssystem, in dem M vor N stattfindet, sieht der Ablauf so aus: Zunächst sind die Spins beider Photonen unbestimmt, dann werden ihre x-Komponenten durch die Messung M festgelegt und später werden ihre z-Komponenten durch die Messung N festgelegt. In einem Bezugssystem hingegen, in dem M nach N stattfindet, werden zunächst die z-Komponenten durch die Messung N festgelegt und später die x-Komponenten durch die Messung M. Dies allein ist noch recht unspektakulär. Aber eigenartigerweise haben die beiden Messungen M und N in den beiden Bezugssystemen nicht denselben Charakter. Im einen Bezugssystem ist M eine Messung am Teilchen A, das eine unbestimmte x-Komponente und eine unbestimmte z-Komponente besitzt. Im anderen Bezugssystem ist M zwar auch eine Messung am Teilchen A, aber dieses hat bereits eine bestimmte z-Komponente, weil ja in diesem Bezugssystem die Messung N bereits stattgefunden hat. Kurz gesagt, das Teilchen A kommt in den beiden Bezugssystemen mit unterschiedlichen Eigenschaften zur Messung M. Ähnlich verhält es sich mit dem Teilchen B bei der Messung N: In einem Bezugssystem, 24 Siehe den ausführlichen Kommentar des Herausgebers Claus Kiefer zu Einstein/ Podolsky/Rosen (2015).
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in dem M nach N stattfindet, sind die x-Komponente und die z-Komponente des Spins von B unbestimmt, wenn die Messung N erfolgt. In einem Bezugssystem, in dem M vor N stattfindet, kommt B hingegen mit bereits festgelegter x-Komponente zur Messung N. Aus all dem geht hervor, dass das Teilchen A im einen Bezugssystem eine Eigenschaft hat, die im anderen Bezugssystem zu keinem Zeitpunkt existiert, nämlich die konjunktive Eigenschaft „Ax = +1 und Az = unbestimmt“. Im anderen Bezugssystem hat dafür das Teilchen B die konjunktive Eigenschaft „Bz = +1 und Bx = unbestimmt“, die im ersten Bezugssystem zu keinem Zeitpunkt existiert. Die Existenz dieser Eigenschaften hängt von der Wahl des Bezugssystems ab. Das ist der Kern des Problems. Verfechter einer absoluten Zeit ziehen daraus den Schluss, dass es ein bevorzugtes Bezugssystem geben müsse (Craig 2001: 223 – 233, Callender 2008), etwa das zu Beginn des Kapitels besprochene Bezugssystem, das durch die kosmische Hintergrundstrahlung gegeben ist. In dem Experiment mit den beiden Teilchen könnte es aber auch das Ruhesystem der Photonenquelle sein, in dem die Messungen M und N gleichzeitig stattfinden und keine der beiden genannten konjunktiven Eigenschaften existiert, weil alle Spinkomponenten gleichzeitig durch die simultanen Messungen M und N festgelegt werden. Skeptiker können gegen diese Argumentation einwenden, dass die quantenmechanische Verschränkung ein unverstandenes Phänomen ist, aus dem man keine weitreichenden Schlüsse ziehen sollte. Niemand weiß, worin diese Korrelation zwischen Teilchen besteht und wie es möglich ist, dass eine Messung an einem Ort ein Teilchen an einem anderen Ort simultan beeinflusst. Skeptiker werden daher zur Vorsicht raten. Aus physikalischen Forschungsergebnissen philosophische Schlüsse zu ziehen, ist immer mit einem Risiko verbunden, weil jede wissenschaftliche Theorie durch weitere Forschung revidiert werden könnte. Die Gefahr ist umso größer, wenn wichtige Teile der Theorie unverstanden sind. Eine große Hoffnung der gegenwärtigen Physik besteht darin, dass die Quantentheorie irgendwann zusammen mit der Allgemeinen Relativitätstheorie in einer Theorie der Quantengravitation aufgehen wird. Niemand kann derzeit sagen, wie sich die Verschränkung der Teilchen A und B in einer solchen Theorie genau darstellen wird. Eine abwartende Haltung scheint daher angebracht zu sein. Damit meine ich, dass man vorläufig akzeptieren sollte, dass manche Eigenschaften nur relativ zu Bezugssystemen existieren, darunter die beiden konjunktiven Eigenschaften „Ax = +1 und Az = unbestimmt“ sowie „Bz = +1 und Bx = unbestimmt“. Grundsätzlich ist ja eine solche Relativität vor dem Hintergrund der Speziellen Relativitätstheorie nichts Besonderes, denn auch die gemessene Zeitdauer zwischen zwei Ereignissen ist schließlich relativ. Allerdings gibt es in diesem Fall Eigenschaften, die vom Bezugssystem unabhängig sind, unter anderem die im vorigen
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Kapitel diskutierte Eigenzeit, durch die sich wiederum verstehen lässt, wie die verschiedenen Zeitmessungen zustande kommen. Bei der quantenmechanischen Verschränkung ist die vom Bezugssystem unabhängige Eigenschaft der Gesamtspin, also die Korrelation der Spins von A und B. Aus dieser Eigenschaft lässt sich jedoch weder ableiten, ob eine Spinmessung den Wert +1 oder -1 haben wird, noch lässt sich verstehen, wie das Gesamtsystem diese Eigenschaft haben kann, obwohl die einzelnen Spinwerte unbestimmt sind. Wie erwähnt könnte eine zukünftige Theorie der Quantengravitation Licht in diese Angelegenheit bringen, indem sie die physikalische Wirklichkeit auf einer tieferen Ebene beschreibt als der der Photonen (Callender 2008: 65). Im Idealfall würden sich die verschiedenen Bezugssysteme mit ihren jeweiligen Zeiten als unterschiedliche Perspektiven auf diese Ebene herausstellen (was immer das genau heißen mag). Theorien der Quantengravitation (bzw. Quantentheorien der Gravitation) sind Versuche, die Quantentheorie mit der Allgemeinen Relativitätstheorie zu einer umfassenden Sicht der physikalischen Wirklichkeit zu vereinigen. Es gibt derzeit keine vollständige Theorie dieser Art, sondern nur mehr oder weniger weit fortgeschrittene Ansätze, die sich in unterschiedliche Varianten verzweigen. Die außerhalb der Physik wohl bekanntesten Ansätze sind die Stringtheorie und die Theorie der Schleifenquantengravitation.25 Nach der Stringtheorie besteht die Materie aus eindimensionalen Objekten, den Strings, die sich in einer mindestens zehndimensionalen Raumzeit bewegen. Was die Zeit angeht, so ist diese auf der fundamentalen Ebene der Wirklichkeit unbestimmt. Die String-Zeit ähnelt in dieser Hinsicht dem Ort oder dem Spin eines Photons, bevor diese Eigenschaften durch eine Messung festgelegt werden. Für Objekte wie Photonen gilt die Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation: Manche Paare von Eigenschaften – wie Ort und Impuls, Energie und Zeit oder zwei Spinkomponenten – können dem Photon nicht mit beliebiger Genauigkeit zugeschrieben werden. Für Strings gilt eine Raum-Zeit-Unbestimmtheit, die die Weltlinie des Strings – das heißt seine Bahn durch die Raumzeit – unscharf macht.26 Die Unbestimmtheit der String-Weltlinie unterscheidet diese auch von der Weltlinie einer Uhr. Bei Strings gibt es keine Entsprechung zu der von einer Uhr entlang ihrer Weltlinie gemessenen Eigenzeit (Witten 1996, Yoneya 2000, Huggett/Vistarini/Wüthrich 2013). Der zweite der beiden genannten Ansätze, die Theorie der Schleifenquantengravitation, beruht auf der Annahme, dass Raum und Zeit kein Kontinuum bilden, sondern aus Sprüngen bestehen, die im Bereich der Planck-Länge (ungefähr 25 Für einen kurzen und leicht verständlichen Vergleich der beiden Ansätze siehe zum Beispiel Kiefer (2008: 247 – 264). 26 Weil Strings eindimensionale Objekte sind, ist die Weltlinie eigentlich eine „Weltfläche“.
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10 – 35 Meter) und der Planck-Zeit (ungefähr 10 – 44 Sekunden) liegen. Dass die Zeit nicht kontinuierlich verläuft, sondern eine diskrete Abfolge von Zeitpunkten sein soll, dürfte für viele wohl ähnlich schwer nachvollziehbar sein wie die vorhin erwähnte Unbestimmtheit der Zeit. Denn wenn wir uns dies vorzustellen versuchen, haben wir den Eindruck, dass zwischen zwei Zeitpunkten, selbst wenn diese noch so nahe beieinander liegen, weitere Zeitpunkte liegen müssen. Die Schleifenquantengravitation geht jedoch davon aus, dass dieser Eindruck nicht der Wirklichkeit entspricht. Dass man in Gedanken zwischen allen Zeitpunkten weitere Zeitpunkte einfügen kann, wäre physikalisch und ontologisch irrelevant.27 Folgt man also der Stringtheorie oder der Theorie der Schleifenquantengravitation, so ist die Zeit im Allerkleinsten – wenn wir die Welt sozusagen in höchster Auflösung betrachten – entweder unbestimmt oder sie besteht aus diskreten Zeitpunkten. Beide Neuigkeiten sind gewöhnungsbedürftig, doch es wäre nicht das erste Mal, dass die Physik einer Alltagsintuition oder einer liebgewonnenen philosophischen Überzeugung widerspricht. Einige Fachleute gehen sogar noch einen Schritt weiter und vertreten die Ansicht, dass die Zeit in einer Theorie der Quantengravitation gar nicht mehr vorkommt. Im Bereich der Planck-Länge gibt es ihrer Meinung nach keine Zeit. „Die Zeit existiert nicht“ lautet eine Kapitelüberschrift in einem populärwissenschaftlichen Buch des Physikers Carlo Rovelli (2016: Kap. 7). Und in einem philosophischen Überblicksartikel zum Thema „Time in Quantum Gravity“ wird das folgende Resümee gezogen: „Even though the field continues to be wide open, many approaches seem to suggest that physical space, or physical time, or both, will not be part of the fundamental furniture of the world. If this is borne out, then the physical time we introduced to account for our ordinary experience will play no fundamental role in the world, and hence shouldn’t in our metaphysics either.“ (Huggett/Vistarini/Wüthrich 2013: 258)28 Was es genau heißen soll, dass die Zeit „nicht existiert“ oder „keine fundamentale Rolle in der Welt spielt“, ist in nicht-mathematischer Sprache schwer zu sagen. Möglicherweise lassen sich solche Aussagen im Sinne einer statischen Zeitauffassung verstehen, was heißen würde, dass gar nicht die Existenz der Zeit selbst bestritten wird, sondern lediglich deren Vergehen. Auch in einer Theorie der Quantengravitation gibt es schließlich zeitliche Abläufe, die McTaggarts B-Reihe ähneln und sich zueinander in Beziehung setzen lassen, wobei in der Kosmologie die Entwicklung des Universums der letzte Maßstab ist. Letzteres drückt der Physiker Claus Kiefer so aus: „Anstatt nach dem Zustand eines Sys27 Eine Quantisierung der Zeit wurde auch aus anderen Gründen vorgeschlagen, zum Beispiel um Zenons Paradoxien der Bewegung zu beseitigen (Le Poidevin 2004: 168 f., Van Bendegem 2011). Im Buddhismus ist sie ebenfalls zu finden (Rospatt 1995). 28 Siehe auch Kiefer (2008: 243) und Rovelli (2011).
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tems zu einer bestimmten Zeit zu fragen, kann man nach seinem Zustand fragen, als das Universum so und so groß war. Das Universum definiert selbst die Zeit.“ (Kiefer 2008: 246) Und Rovelli ist der Ansicht, ein Ausschnitt der Raumzeit sei „kein Prozess in der Zeit […]. Er selbst ist der Ablauf der Zeit […].“ (2016: 206) Doch lassen wir die statische Zeitauffassung beiseite und versuchen wir die Rede von der Nichtexistenz der Zeit wörtlich zu nehmen. Gehen wir also für einen Moment davon aus, dass in der Wirklichkeit, wie sie von einer Theorie der Quantengravitation beschrieben wird, keine Zeit existiert, weder eine statische noch eine dynamische. Diese Annahme wirft offensichtlich die Frage auf, wie die von uns erfahrene Zeit aus jener fundamentalen Zeitlosigkeit entsteht: „to understand how humans can come to have the fleeting experiences we do, in a world fundamentally deprived of the resources to ground time or change or both.“ (Huggett/Vistarini/Wüthrich 2013: 258) Die naheliegende Antwort, dass das Zeitvergehen eine bloße Illusion des Bewusstseins ist, habe ich bereits im dritten Kapitel verworfen. Es geht daher bei dem Problem des Hervorgehens der Zeit aus der fundamentalen Zeitlosigkeit um das Verhältnis zwischen verschiedenen Ebenen der physischen Wirklichkeit: der Welt der Quantengravitation (ohne Zeit) und der Erfahrungswelt (mit Zeit). Ein Begriff, der an dieser Stelle oft verwendet wird, ist „Emergenz“: Behauptet wird nämlich, dass die Zeit der Erfahrungswelt aus der fundamentalen Zeitlosigkeit emergiert (Huggett/Wüthrich 2013, Verlinde 2017). Dieser Begriff wird in der Physik zwar sicherlich nicht im selben Sinn verwendet wie in der Philosophie, aber auch aus philosophischer Sicht ist er in diesem Zusammenhang durchaus angebracht, weil damit ein wichtiger Unterschied zum Ausdruck gebracht wird, nämlich der zwischen „Emergenz“ und „Reduktion“. Im Unterschied zu „Emergenz“ impliziert eine erfolgreiche Reduktion, dass das Reduzierte nicht existiert – oder jedenfalls nicht in der Form existiert, wie man vermutet hat. Dazu ein Vergleich aus der Philosophie des Geistes: Die Annahme, dass sich psychische Eigenschaften auf neuronale Eigenschaften reduzieren lassen, impliziert, dass psychische Eigenschaften keine immateriellen Eigenschaften sind. Definiert man psychische Eigenschaften durch Immaterialität, dann kann man dies auch so ausdrücken, dass psychische Eigenschaften gar nicht existieren – in Wirklichkeit existieren eben nur physische Eigenschaften. Bei der behaupteten Emergenz der Zeit erfolgt keine solche Reduktion. Wenn sich die von uns erfahrene Zeit irgendwie aus der fundamentalen Zeitlosigkeit ableiten lässt, so folgt daraus weder, dass diese Zeit nicht existiert, noch folgt daraus, dass die Zeit „in Wirklichkeit“ nicht vergeht. Weil Emergenz keine Reduktion ist, existiert das Zeitvergehen auch dann, wenn dieses nur ein „emergentes“ Phänomen sein sollte.29 29 Daher kann auch ein Präsentist relativ gelassen auf die Quantengravitation reagieren: „Thus, if time is not part of fundamental reality, presentism is true as long as the
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Noch aus einem zweiten Grund ist der Begriff der Emergenz angemessen: Er drückt auch aus, dass das Hervorgehen der Zeit aus der fundamentalen Zeitlosigkeit nicht vollständig verstanden ist. Emergenz im philosophischen Sinn impliziert immer eine Erklärungslücke, und dass im Fall der Quantengravitation eine solche Lücke besteht, lässt sich kaum leugnen.30 Dies ist deshalb so, weil die Emergenz der Zeit in der Quantengravitation nur ein Aspekt des allgemeineren Problems ist, wie die von der klassischen Physik beschriebene Wirklichkeit aus den nicht-klassischen Eigenschaften der fundamentalen Objekte hervorgeht, egal ob diese Objekte nun Elementarteilchen, Strings oder etwas anderes sind. In der Quantenmechanik ist dieses Problem auch als „Messproblem“ bekannt. Ein Beispiel dafür ist die Frage, wie bei einer Messung aus dem unscharfen Spin eines Photons ein bestimmter, gemessener Spin wird.31 Mathematisch werden solche Probleme typischerweise durch Näherungsmethoden gelöst. So ergibt sich die klassische Mechanik als Grenzfall aus der Quantenmechanik, wenn man den Wert des Planckschen Wirkungsquantums gegen Null konvergieren lässt. Andere Näherungsmethoden verwendet man, um aus den Schwingungen von Strings die Eigenschaften der Elementarteilchen zu gewinnen, oder eben aus Formeln ohne Zeitparameter die Raumzeit der Relativitätstheorie. Rovelli meint daher: „Der Eindruck, dass Zeit vergeht, ist eine Näherung, die nur für unsere makroskopischen Maßstäbe gilt: Er ergibt sich aus unserer groben Betrachtungsweise der Welt.“ (2016: 204) Man wird jedoch nicht behaupten wollen, dass mathematische Näherungsmethoden allein die Erklärungslücke schließen können. Denn wie Rovelli richtig anmerkt, ist die große Schwierigkeit die, „sich eine Welt ohne Zeit zu denken und sich vorzustellen, dass die Zeit auf approximative Weise entsteht.“ (S. 281) Wie auch immer die physikalische Wirklichkeit auf fundamentaler Ebene beschaffen sein mag – wir stehen immer vor der Frage, wie die von uns wahrgenommene Wirklichkeit der klassischen Physik aus dieser Ebene hervorgeht oder time that emerges in the appropriate classical limit is time as described by presentists.“ (Monton 2006: 277) Den Präsentismus diskutiere ich ab Kapitel 13, das Thema Reduktion in Kapitel 23. 30 Je nachdem, ob die Erklärungslücke prinzipieller oder kontingenter Natur ist, unterscheidet man zwischen „starker“ und „schwacher“ Emergenz. Lam und Esfeld (2013) unterscheiden drei Begriffe von Emergenz (temporal, kausal und Supervenienz) und bezweifeln, dass sich einer davon auf die angebliche Emergenz der Zeit in der Quantengravitation anwenden lässt. 31 Manche umgehen das quantenmechanische Messproblem dadurch, dass sie eine Variante der Viele-Welten-Interpretation akzeptieren (Kiefer 2008: 112 f., Passon 2015). Nach dieser Interpretation findet der Übergang von der nicht-klassischen zur klassischen Physik gar nicht statt; es erscheint uns nur so. Aus philosophischer Sicht wird das Prinzip der ontologischen Sparsamkeit (aka „Ockhams Rasiermesser“) durch die Unzahl an „Welten“ jedoch so stark verletzt, dass es schwer fällt, sich damit anzufreunden.
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„emergiert“. Dieses Problem wurde noch nicht befriedigend gelöst und wird vielleicht niemals befriedigend gelöst werden. Die Emergenz der Zeit aus der fundamentalen Zeitlosigkeit wäre nur ein Aspekt dieses grundsätzlichen Problems. Doch wegen der Existenz dieser Zeit brauchen wir uns deshalb keine Sorgen zu machen, weil es keinen Grund gibt, daran zu zweifeln. Die Zeit verschwindet nicht aus der Wirklichkeit, selbst wenn sie auf jener Ebene der Wirklichkeit, für die die Quantengravitation zuständig ist, verloren gegangen sein sollte. Auch eine emergente Zeit ist real.
Kapitel 8
Allgemeine Relativitätstheorie und metaphysischer Idealismus Kapitel 8: Allgemeine Relativitätstheorie und metaphysischer Idealismus
Eine Theorie der Quantengravitation würde die Allgemeine Relativitätstheorie in sich aufnehmen, aber da es noch keine fertige Theorie der Quantengravitation gibt, bleibt die Allgemeine Relativitätstheorie zumindest vorerst ein wichtiger Ausgangspunkt für die Philosophie der Zeit. Wie die Spezielle Relativitätstheorie enthält auch die Allgemeine Relativitätstheorie kein bevorzugtes Bezugssystem und keinen absoluten Begriff der Gleichzeitigkeit. Daher besteht auf den ersten Blick kein Anlass anzunehmen, dass die Zeit in der Allgemeinen Relativitätstheorie anders vergeht als in der Speziellen. Nach der Allgemeinen Relativitätstheorie werden die Eigenschaften der Raumzeit von der Materie beeinflusst. Gravitation ist die durch die Materie verursachte „Krümmung“ der Raumzeit. Die Weltlinie einer Uhr und die von dieser gemessene Eigenzeit hängen ebenfalls von der Verteilung der Materie ab. Die Raumzeit der Allgemeinen Relativitätstheorie unterscheidet sich durch diese Merkmale von der Raumzeit der Speziellen Relativitätstheorie und natürlich auch von der Newtonschen Raumzeit. Sie ist kein neutraler „Behälter“, in dem sich Massen bewegen, ohne den Behälter selbst zu verändern. Allerdings gibt es auch in der Allgemeinen Relativitätstheorie einen neutralen Hintergrund, der eine gewisse Ähnlichkeit mit der Newtonschen Raumzeit aufweist. Die mathematische Formulierung der Allgemeinen Relativitätstheorie setzt eine Menge von vierdimensionalen Punkten mit bestimmten Eigenschaften voraus.32 Was diesem mathematischen Gebilde zu einer echten Raumzeit noch fehlt,33 ist eine Metrik, das heißt die Definition eines Raumzeit-Abstandes zwischen den Punkten. Da die Metrik von der Gravitation abhängt, lässt sich diese nicht unabhängig von der Verteilung der Materie bestimmen. Doch damit brauchen wir uns jetzt nicht auseinanderzusetzen; interessant ist für uns die Punktmenge selbst, auf der die Metrik definiert wird. Sie wirft nämlich ein Problem auf, das auf Einstein selbst zurückgeht und als Loch-Argument bekannt ist. Das „Loch“ ist ein beliebiger vierdimensionaler Ausschnitt der Raumzeit, in dem die Materie und die mit ihr zusammenhängenden metrischen Relationen so „verschoben“ werden, dass sich dadurch physikalisch 32 Diese Eigenschaften machen aus der Punktmenge eine vierdimensionale topologische Mannigfaltigkeit. 33 Gemeint ist eine Pseudo-Riemannsche Raumzeit (Rindler 2006: 175).
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nichts ändert. Diese Transformation erfolgt vor dem Hintergrund der vierdimensionalen Punktmenge.34 Die Tatsache, dass sie keinen physikalischen Unterschied macht, wird daher auch als „Hintergrundunabhängigkeit“ der Allgemeinen Relativitätstheorie bezeichnet. Insgesamt ist somit die Raumzeit vor und nach der Transformation in physikalischer Hinsicht dieselbe, doch die Materie wurde innerhalb des „Lochs“ anders auf die Punkte verteilt. Die Weltlinie eines Objekts geht innerhalb des Lochs durch andere Punkte als vor der Transformation, was voraussetzt, dass diese Punkte unabhängig von der Physik eine Identität besitzen – eine „primitive Diesheit“, wie es Michael Esfeld in seiner Diskussion des Loch-Arguments nennt (Esfeld 2008: 60). Offenbar muss ein Punkt eine Identität besitzen und sich von anderen Punkten unterscheiden lassen, bevor überhaupt Raumzeit-Abstände eingeführt werden können. Auch wenn man sagt, dass sich ein Punkt in der „Umgebung“ eines anderen Punktes befindet, muss man die Punkte irgendwie unterscheiden können, obwohl ihnen noch keine Materie zugeordnet wurde. Darf man all dies voraussetzen? Diese Frage ist eine Variation eines alten Themas. Schon in der Debatte zwischen Gottfried Wilhelm Leibniz und dem Newton-Anhänger Samuel Clarke ging es darum, ob Raum und Zeit und deren Eigenschaften unabhängig von der Materie existieren. Weil man diese Unabhängigkeit auch so ausdrücken kann, dass die Raumzeit als Substanz existiert, wird die Newtonsche Auffassung heute als Substantialismus bezeichnet. Dieser Auffassung steht der von Leibniz vertretene Relationismus gegenüber, wonach Existenz und Wesen räumlicher und zeitlicher Beziehungen von der Materie abhängen, weshalb es ohne Materie keine Raumzeit gibt. Im Zusammenhang mit dem Loch-Argument müsste man das Wort „Substanz“ allerdings auf die vierdimensionale Punktmenge beziehen – streng genommen geht es also nicht um einen Raumzeit-Substantialismus wie bei Newton. Dennoch sind die Parallelen offenkundig. In seinem dritten Schreiben an Clarke argumentierte Leibniz, dass zwischen der materiellen Welt und einer im absoluten Raum verschobenen materiellen Welt kein Unterschied bestehe (Leibniz 1991: 38 f.). Dasselbe gelte für die Zeit: Es gebe keinen Unterschied zwischen der Welt und der in der Zeit verschobenen, also früher oder später existierenden Welt. Daher könne es weder einen absoluten Raum noch eine absolute Zeit geben. Überträgt man diese Überlegung auf die Allgemeine Relativitätstheorie, so lautet die Schlussfolgerung, dass die vierdimensionale Punktmenge nicht unabhängig von der Materie existiert. Und die Begründung für diese Schlussfolgerung 34 Technisch gesprochen handelt es sich dabei um einen Diffeomorphismus, eine Abbildung, bei der die differenzierbare Struktur der Mannigfaltigkeit erhalten bleibt (Maudlin 2012: 8 und 147 – 150).
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würde lauten, dass zwischen dem Universum vor und nach der Loch-Transformation kein Unterschied bestehe. Das Loch-Argument wäre somit ein Argument für den Relationismus, der das Problem der Identität, der „primitiven Diesheit“ der Punkte dadurch löst, dass er diese bestreitet: Die Punkte besitzen gar keine Identität, bevor die Materie auf sie verteilt und metrische Relationen zwischen ihnen definiert wurden. Andererseits wird die vierdimensionale Punktmenge aber eben mathematisch vorausgesetzt; und auch die Loch-Transformation ist zumindest eine mathematische Möglichkeit, selbst wenn ihr in physikalischer Hinsicht nichts entspricht. Die Philosophie neigt bekanntlich seit ihren Anfängen dazu, mathematische Möglichkeiten nicht weniger ernst zu nehmen als physikalische. Ein der Mathematik zugeneigter Metaphysiker könnte daher durchaus den Eindruck gewinnen, dass die Loch-Transformation einen Unterschied macht, der zwar kein physikalischer Unterschied ist, aber eben ein metaphysischer. Das Loch-Argument führt also nicht notwendigerweise zum Relationismus. Diese Schlussfolgerung wäre nur berechtigt, wenn man annähme, dass es keine metaphysischen Unterschiede ohne physikalische Unterschiede geben kann. Bestreitet man diese Prämisse, so verschiebt sich die Diskussion von der Physik in die Metaphysik. Man würde dann unter anderem erwarten, dass der vierdimensionalen Punktmenge, die der physikalischen Raumzeit zugrunde liegt, Eigenschaften zugeschrieben werden, die von Physik und Mathematik selbst nicht berücksichtigt werden. Außerdem würde man erwarten, dass bereits bekannte metaphysische Theorien herangezogen werden, denn es ist schwierig, in diesem Bereich etwas völlig Neues zu erfinden. Weil wir über Physik und Mathematik hinausgehen wollen, bietet sich zu diesem Zweck der Geist an. Das heißt, wir kommen zu irgendeiner Art des metaphysischen Idealismus. Als „idealistisch“ im metaphysischen Sinn werden Theorien bezeichnet, die uns davon überzeugen sollen, dass die Wirklichkeit selbst geistig ist oder aus Geistigem hervorgeht. Leibniz zum Beispiel war ein metaphysischer Idealist, weil er der Meinung war, die Wirklichkeit bestehe aus Monaden, aus geistigen Substanzen ohne Ausdehnung (Leibniz 1982). Doch wenn man sich die Frage stellt, ob es eine absolute Zeit gibt und ob die Allgemeine Relativitätstheorie Platz für ein Bezugssystem lässt, in dem diese absolute Zeit vergeht, so wird man zunächst eher jene Form des metaphysischen Idealismus in Betracht ziehen, die oft als absoluter Idealismus bezeichnet wird. Der absolute Idealismus behauptet, dass der Geist, auf den sich angeblich alles zurückführen lässt, ein Subjekt ist. Diese Charakterisierung des absoluten Idealismus stützt sich unter anderem auf die Vorrede zur Phänomenologie des Geistes, wo Hegel schreibt, es komme „alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.“ (1986a: 22 f.) In einem Zusatz zu § 45 der Enzyklopädie von 1830 wird der absolute Idealismus
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durch die Feststellung charakterisiert, „daß dieses die eigene Bestimmung der hiermit endlichen Dinge ist, den Grund ihres Seins nicht in sich selbst, sondern in der allgemeinen göttlichen Idee zu haben.“ (Hegel 1986b: 122 f.)35 Das Subjekt des absoluten Idealismus ist demnach ein göttliches Subjekt. Als Einstein die Allgemeine Relativitätstheorie entwickelte, stand der absolute Idealismus noch hoch im Kurs, zumindest lag seine Blütezeit nicht lange zurück. McTaggart, der die moderne Philosophie der Zeit so sehr beeinflusst hat, ging vom absoluten Idealismus aus, deutete Hegels absoluten Geist jedoch als Einheit individueller Geister, was ihn wieder in die Nähe von Leibniz brachte (McTaggart 1901). Auch Einsteins Kontrahent Henri Bergson bezog sich auf den absoluten Idealismus, ohne diesem ganz zuzustimmen: „Was wir herausstellen wollen, ist, dass man nicht von einer Wirklichkeit sprechen kann, die dauert, ohne Bewusstsein in sie einzuführen. Der Metaphysiker wird direkt ein universelles Bewußtsein [conscience universelle] einschalten.“ (2014: 131) Ob es nun als absoluter Geist, als universelles Bewusstsein oder als Gott bezeichnet wird, ein absoluter Idealist könnte dieses geistige Etwas jedenfalls in der vierdimensionalen Punktmenge der Allgemeinen Relativitätstheorie ansiedeln. Er könnte außerdem behaupten, dass damit ein absolutes, von der Materie unabhängiges Zeitvergehen verbunden ist, weil sich Geist nur zusammen mit Zeitdauer denken lässt. Die Verwandtschaft eines solchen Idealismus mit dem jüdisch-christlich-islamischen Theismus ist offensichtlich. Tatsächlich könnten Theisten das Loch-Argument als weitere Bestätigung für ihren Glauben auffassen. Das Argument würde in dieser Interpretation zeigen, dass es ein von der Materie unabhängiges Bezugssystem gibt, das nur durch die Existenz und das Wesen Gottes verstehbar wäre. Andererseits, selbst wenn man die Existenz Gottes voraussetzt, so scheint doch die Vorstellung, dass er eine Art kosmisches Bezugssystem bildet oder in einem solchen existiert, einem sehr naiven Gottesbild zu entsprechen. Wie im ersten Kapitel erwähnt wurde, wollten bereits Boethius und Thomas von Aquin diese Naivität vermeiden, als sie behaupteten, Gott existiere nicht immer, sondern außerhalb der Zeit. Dies betrifft zwar die Zeit, doch auch die Vorstellung, dass Gott an einer bestimmten Stelle des Raumes existiert, ist befremdlich, weshalb Gott bekanntlich die Eigenschaft der Allgegenwart zugeschrieben wurde.36 Wird Allgegenwart als Existenz an jedem Raumpunkt verstanden, dann taugt Gott jedoch nicht als Bezugssystem, weil sich dadurch kein Punkt von einem anderen 35 Der Zusatz stammt zwar nicht von Hegel selbst, entspricht aber seiner Überzeugung, dass Philosophie und Religion denselben Gegenstand haben (Hegel 1986c: 28). 36 Auch bei Leibniz ist Gott eine Monade mit der Eigenschaft der Allgegenwart: „Man hat sehr gut von ihm gesagt, daß sein Zentrum überall, seine Peripherie indes nirgends sei, da ihm alles unmittelbar, ohne irgendeine Entfernung von diesem seinen Zentrum, gegenwärtig ist.“ (Leibniz 1982: 21; Vernunftprinzipien, § 13)
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unterscheiden ließe. Man könnte zum Beispiel den Nullpunkt eines Koordinatensystems nicht als jenen Ort definieren, an dem Gott ist. Außerdem scheint aus der Allgegenwart zu folgen, dass Gott räumliche Teile besitzt, was von der Theologie meist bestritten wurde, weil diese Auffassung dem Pantheismus nahe kommt, den viele für einen getarnten Atheismus halten. Nach theologischer Auffassung müssten wir uns Gottes Allgegenwart so vorstellen, dass Gott an jedem Ort vollständig, nicht nur teilweise existiert. Dies wiederum ist eine Form der Allgegenwart, die viele für unmöglich oder unverständlich halten. Ich streife diese traditionellen Probleme hier nur deshalb, um darauf hinzuweisen, dass der absolute Idealismus dieselben von der Theologie geerbt hat. In Bezug auf das absolute Subjekt stellen sich nämlich ganz ähnliche Fragen wie in Bezug auf den Gott der Religion: ob dieses Subjekt immer, das heißt in der Zeit, oder außerhalb der Zeit existiert; ob es an einem bestimmten Ort oder überall existiert und wie dieses „überall“ zu verstehen ist. Insgesamt ist festzuhalten, dass die Seinsweise des Subjekts im absoluten Idealismus und dessen Verhältnis zur Raumzeit völlig unklar ist. Der absolute Idealismus kann die angeführten Probleme sicherlich nicht befriedigend lösen.37 Das ist gewiss ein guter Grund dafür, das absolute Subjekt zu streichen und stattdessen eine sparsamere Version des metaphysischen Idealismus zu entwerfen. Wir könnten uns dabei an der Monadenlehre von Leibniz orientieren und annehmen, dass Raumzeit-Punkte geistige Monaden sind. Das absolute Subjekt hätten wir dann eliminiert, dafür würde allerdings die Zahl der Subjekte ins Unendliche wachsen. Als „Subjekte“ müssen die Monaden deshalb bezeichnet werden, weil sie laut Leibniz die äußere Wirklichkeit, das heißt die anderen Monaden, wahrnehmen. Sie streben nach solchen Wahrnehmungen und manche besitzen sogar Selbstbewusstsein und Denken. Aus heutiger Sicht fällt es selbstverständlich schwer, diese Annahmen über Monaden zu akzeptieren, denn Wahrnehmung, Streben, Denken usw. sind komplexe psychische Fähigkeiten, für die Menschen und andere Lebewesen ziemlich kompliziert gebaute Nervensysteme benötigen. Um eine möglichst plausible, weniger anspruchsvolle Form des metaphysischen Idealismus zu erhalten, müssen wir diesen wohl einer Schlankheitskur unterziehen und auf geistige Subjekte sowie auf intentionale Begriffe wie „wahrnehmen“ und „denken“ verzichten. An dieser Stelle ist ein Vergleich mit dem Panpsychismus nützlich, mit dem ich mich schon im zweiten Kapitel im Zusammenhang mit Bergson beschäftigt habe. Die psychischen Eigenschaften, die nach panpsychistischer Auffassung den 37 Dennoch wird der absolute Idealismus bis heute in der Philosophie vertreten. So definiert etwa Holm Tetens Gott als „unendliches Ich-Subjekt“ (2015: 33) und behauptet, alles in der Welt sei „in“ Gott, „in dem Sinne, dass es Inhalt vernünftiger Gedanken Gottes ist.“ (S. 36)
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grundlegenden physikalischen Bestandteilen zukommen und daher überall im Universum vorhanden sind, werden im Panpsychismus oft als primitive Erlebnisse aufgefasst, die ganz anders sind als menschliche Erlebnisse. Der Panpsychismus wird so zu einem Panexperientialismus (Skrbina 2005: 21). In Analogie zu dieser Deutung des Panpsychismus könnte man auch den metaphysischen Idealismus so auffassen, dass das Geistige im Universum eine Art des Erlebens ist: ein kosmisches phänomenales Bewusstsein. Im Unterschied zum Panpsychismus würde dieser Idealismus das Erleben aber nicht den kleinsten Materiebestandteilen zuschreiben, sondern der Raumzeit selbst. Wir gelangen auf diese Weise zur Idee eines „Bewusstseinsfeldes“ – eines Gebildes, das einem physikalischen Feld darin gleichen würde, dass Punkten der Raumzeit irgendwelche Eigenschaften zugeschrieben werden. Diese Eigenschaften wären jedoch in diesem Fall nicht physikalische Eigenschaften wie elektrische Feldstärke oder Gravitationskraft, sondern phänomenale Erlebnisqualitäten (Qualia). Zu beachten ist dabei, dass nicht mehr von einem absoluten Subjekt die Rede ist, weshalb wir es mit einer echten Alternative zum vorhin diskutierten absoluten Idealismus zu tun haben. Über die problematische Beziehung zwischen diesem Subjekt und der raumzeitlichen Wirklichkeit brauchen wir uns daher nicht mehr den Kopf zu zerbrechen. Trotzdem ist auch diese abgespeckte Variante des metaphysischen Idealismus unbefriedigend, unter anderem deshalb, weil wir die postulierten Erlebnisqualitäten der Raumzeit natürlich nicht kennen. Außerdem müsste das Verhältnis zwischen Geist und Materie näher bestimmt werden. Unter anderem wäre die Frage zu beantworten, ob das Universum ein Bewusstseinsfeld ist oder ob man zwischen dem Universum und dem Bewusstseinsfeld unterscheiden muss. Wenn Letzteres zutrifft, gibt es dann eine Wechselwirkung zwischen den beiden und wie könnte man sich diese vorstellen? Oder gibt es gar keine Wechselwirkung, weil Elementarteilchen selbst so etwas wie Quanten des Bewusstseinsfeldes sind? Und schließlich stünden wir noch vor dem Problem, wie das Bewusstsein von Menschen und anderen Lebewesen aus dem Bewusstseinsfeld des Universums hervorgeht.38 Ein vorläufiges Fazit über den metaphysischen Idealismus könnte daher folgendermaßen lauten: Alle Arten des metaphysischen Idealismus sind spekulative metaphysische Theorien, für die es keine empirischen Belege gibt. Ein Anhänger des metaphysischen Idealismus kann allenfalls darauf hinweisen, dass es in der Allgemeinen Relativitätstheorie – wie wohl in jeder physikalischen Theorie – Interpretationslücken gibt, in die man den Geist einsetzen kann. Eine solche Gelegenheit zur metaphysisch-idealistischen Interpretation bietet das Loch-Ar38 Die analoge Schwierigkeit für den Panpsychismus ist das „Kombinationsproblem“ (Skrbina 2005: 108).
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gument. Wer die vierdimensionale Punktmenge oder die Raumzeit selbst als eine Form des Bewusstseins deuten will, braucht keine wissenschaftliche Widerlegung zu fürchten. Doch der metaphysische Idealismus enthält selbst so viele Lücken und offene Fragen, dass sich unser Verständnis der raumzeitlichen Wirklichkeit durch die idealistische Interpretation nicht wesentlich verbessert. Wir verstehen die Raumzeit nicht besser, wenn wir erfahren, dass Gott sich dort aufhält, dass sie aus Monaden besteht oder selbst ein Bewusstseinsfeld ist. Viele würden sogar sagen, dass solche Spekulationen überhaupt sinnlos sind, weil metaphysische Fragen, die derart hemmungslos über die Erfahrung hinausgehen, bloße Scheinprobleme sind. Womit ich bei einem Thema angelangt bin, das uns in den folgenden Kapiteln beschäftigen wird.
Dritter Teil
Sprache und Sprachkritik Dritter Teil: Sprache und Sprachkritik
Kapitel 9
Sprachlicher Sinn Kapitel 9: Sprachlicher Sinn
Der pauschalisierende Vorwurf, alle metaphysischen Aussagen seien sinnlos, wurde vor allem vom Empirismus erhoben. Als sinnlos galten nicht nur metaphysische Aussagen, sondern auch metaphysische Fragen, weil sie nur durch solche Aussagen zu beantworten sind. Im Empirismus stand hinter dieser Kritik die Überzeugung, dass der Sinn einer Aussage oder eines Gedankens eng an die Erfahrung gebunden sei. Im achtzehnten Jahrhundert schrieb David Hume: „Kurz gesagt, der ganze Stoff des Denkens ist entweder aus der äußeren oder der inneren Sinnesempfindung (outward or inward sentiment) abgeleitet: Aufgabe des Geistes und des Willens ist einzig und allein ihre Mischung und Zusammensetzung.“ (1982: 33 f.) Und in einer Vorlesung von Moritz Schlick aus dem Wintersemester 1933/34 heißt es: „Der Sinn des Satzes ist die Art (Methode) seiner Verifikation; um den Sinn des Satzes zu verstehen, muß man zusehen, wie sich der Satz verifiziert und wie er sich falsifiziert.“ (1986: 168) Dieses enge empiristische Verständnis des Sinns stand freilich vor dem Problem, dass auch Bereiche des Denkens von der Sinnlosigkeit bedroht waren, auf die der Empirismus nicht verzichten wollte. Dazu gehören unter anderem induktive Schlüsse, wissenschaftliche Theorien über unbeobachtbare Objekte und sogar Aussagen über vergangene Ereignisse, die keine oder nicht genügend Spuren in der Gegenwart hinterlassen haben, damit die betreffenden Aussagen verifiziert oder falsifiziert werden könnten. Der Wunsch, diese Bereiche vor der Sinnlosigkeit zu bewahren, führte dann zu verschiedenen Abschwächungen der empiristischen Sinnkonzeption. So hielt zum Beispiel Moritz Schlick die logische Möglichkeit der Verifikation für ausreichend. Verifizierbar im Sinne dieser logischen Möglichkeit ist eine Aussage bereits dann, wenn man überhaupt eine Verifikationsmethode angeben kann, egal ob diese tatsächlich anwendbar ist oder nicht. Bei einer Aussage über ein vergangenes Ereignis hätte eine Verifikation darin bestehen können, dass jemand zum damaligen Zeitpunkt das Ereignis beobachtet hätte, auch wenn dies tatsächlich nicht geschehen ist. Und bei einer wissenschaftlichen Theorie hieße Verifizierbarkeit, dass man angeben kann, welche empirischen Belege für und welche gegen die Theorie sprechen oder sprechen würden, selbst wenn diese Belege praktisch außer Reichweite sind. Interessanterweise nahm Schlick sogar eine ontologische Extravaganz der Stringtheorie vorweg, als er schrieb, die Annahme, das Universum habe zehn Dimensionen, sei nicht sinnlos, solange man an-
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geben könne, welche empirischen Belege für diese Annahme sprechen würden (Schlick 1936: 355). Nach dem Sinnkriterium der logischen Möglichkeit der Verifikation ist eine Aussage unter anderem dann sinnlos, wenn sie einen Widerspruch enthält. Ein Beispiel von Schlick lautet: „Mein Freund starb übermorgen“ (1936: 349). „Starb“ impliziert ein vergangenes, „übermorgen“ ein zukünftiges Ereignis; es gibt daher keine möglichen empirischen Umstände, die die Aussage verifizieren oder falsifizieren könnten. Darüber hinaus gibt es sicherlich auch metaphysische Aussagen, die zwar nicht widersprüchlich zu sein scheinen, die aber durch Schlicks Kriterium aus dem Bereich des Sinnvollen ausgeschlossen werden – etwa die Aussage, dass Monaden etwas wahrnehmen. Ob jedoch Schlicks Kriterium weit genug ist, um nicht mehr alle metaphysischen Aussagen auszuschließen, ob also manche metaphysischen Aussagen nach diesem Kriterium sinnvoll sind, ist schwer zu sagen. Das hängt vor allem davon ab, was man unter einer „metaphysischen Aussage“ versteht. Definiert man metaphysische Aussagen dadurch, dass sie prinzipiell jenseits wissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung liegen, so folgt aus dieser Definition selbstverständlich, dass sie auch im logischen Sinn nicht verifizierbar sind. Umgekehrt wäre die von Schlick erwähnte Aussage über die zehn Dimensionen des Universums keine metaphysische Aussage, obwohl die Natur des Raumes ein klassisches Thema der Metaphysik ist. Das wäre freilich nur dann der Fall, wenn empirische Belege für oder gegen die Existenz von zehn Dimensionen prinzipiell möglich wären.39 Auch andere Beispiele für metaphysische Aussagen entziehen sich einer eindeutigen Beurteilung, etwa die These der statischen Zeitauffassung, dass die Zeit nicht vergeht. Selbst Anhänger dieser Auffassung müssen zugeben, dass unsere Wahrnehmung des Zeitvergehens prima facie gegen die Wahrheit dieser Aussage spricht. Es gibt also einen relevanten empirischen Beleg für das Vergehen der Zeit, den Anhänger der statischen Zeitauffassung zu entkräften versuchen (Kapitel 3). Aber wie würde ein empirischer Beleg gegen das Vergehen der Zeit aussehen? Die moderne Version der statischen Zeitauffassung beruht auf einer Interpretation der Speziellen Relativitätstheorie, die ihrerseits empirisch begründet ist. Man könnte dies so verstehen, dass es empirische Belege für die statische Zeitauffassung gibt. Doch wie wir gesehen haben, zwingt uns die Spezielle Relativitätstheorie keinesfalls zur Preisgabe des Zeitvergehens, unter anderem deshalb, weil die Eigenzeit als lokales Zeitvergehen gedeutet werden kann. Die empirischen Belege für die Spezielle Relativitätstheorie sind daher gar keine Belege gegen das Vergehen der Zeit.
39 Um die empirische Überprüfbarkeit der Stringtheorie steht es derzeit nicht zum Besten, aber Teilchenbeschleuniger mit höheren Energien könnten diese Situation ändern.
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Doch wo die Grenzen des Sinns genau verlaufen, falls ein empiristisches Sinnkriterium angelegt wird, ist in Wahrheit nebensächlich. Denn es gibt ein schlagendes Argument gegen alle empiristischen Sinnkriterien, das seit langem bekannt ist: Keines dieser Kriterien genügt sich selbst. Die empiristische Festlegung der Grenzen des Sinns überschreitet sozusagen die Grenzen des empirischen Sinns. Es gibt keine empirischen Belege dafür, dass die Grenzen des Sinns zwischen dem Verifizierbaren und dem Nichtverifizierbaren verlaufen, daher scheint die empiristische Grenzziehung selbst ohne Sinn zu sein. Dieses Argument ist der Hauptgrund dafür, warum empiristische Theorien des Sinns heute kaum mehr vertreten werden. Die empiristische Definition des Sinns als „Methode der Verifikation“ (oder ähnlich) ist glücklicherweise nur eine mögliche Sinndefinition von vielen. Eine verbreitete Alternative dazu ist die Auffassung, dass der Sinn einer Aussage in ihren Wahrheitsbedingungen liegt: Was eine Aussage bedeutet, wird durch die Bedingungen festgelegt, unter denen sie wahr ist. (Sind diese Bedingungen nicht erfüllt, so ist sie falsch.) Der Sinn der Aussage ist das, was man kennen muss, um die Aussage zu verstehen. Daher folgt aus der Wahrheitsbedingungen-Definition des Sinns, dass man die Wahrheitsbedingungen kennen muss, um die Aussage zu verstehen. Eine Aussage zu verstehen, heißt somit zu wissen, unter welchen Bedingungen sie wahr ist. Wahrheitsbedingungen sind jedoch entweder dasselbe wie Verifikationsbedingungen – so meinte Rudolf Carnap, dass „Unter welchen Bedingungen soll S wahr, unter welchen falsch sein?“ und „Wie ist S zu verifizieren?“ nur zwei Formulierungen derselben Frage sind (1931: 221 f.) – oder sie werfen die Frage auf, worin das Kennen der Wahrheitsbedingungen eigentlich besteht, wenn nicht in der Kenntnis der Verifikationsbedingungen. Die Wahrheitsbedingungen einer Aussage zu kennen, könnte zum Beispiel heißen, dass man diese Bedingungen durch andere Aussagen beschreiben kann. Aber dies würde das Problem nicht lösen, sondern lediglich verschieben, weil man nun die Wahrheitsbedingungen dieser anderen Aussagen angeben müsste. Außerdem könnte man natürlich die Wahrheitsbedingungen einer Aussage immer durch diese Aussage selbst angeben – was noch weniger hilfreich wäre. Eine weitere Theorie des Sinns ist die, dass der Sinn einer Aussage eine abstrakte Proposition ist, die wir erfassen, wenn wir die Aussage verstehen. Leider führt man dadurch eine völlig neue Klasse von Objekten ein, eben abstrakte Objekte, womit man grundsätzlich vorsichtig sein sollte (siehe Kapitel 22). Abgesehen davon ist es wieder nicht sehr aufschlussreich, wenn man erfährt, dass die Aussage, dass p, dann verstanden wird, wenn die Proposition, dass p, erfasst wird – oder in der Terminologie Gottlob Freges: wenn der Gedanke gefasst wird, denn „Gedanke“ war Freges Bezeichnung für Propositionen. Frege bemühte sich dieses „Fassen des Gedankens“ verständlich zu machen und stieß dabei auf das
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Ausdrücken, das nicht weniger rätselhaft ist als das Fassen: „Der an sich unsinnliche Gedanke kleidet sich in das sinnliche Gewand des Satzes und wird uns damit faßbarer. Wir sagen, der Satz drücke einen Gedanken aus.“ (Frege 1966: 33) Angesichts der Schwierigkeiten, vor denen die genannten Theorien des sprachlichen Sinns stehen, erscheinen Gebrauchstheorien des Sinns am attraktivsten.40 Der klassische Ausgangspunkt für solche Theorien ist die Philosophie Ludwig Wittgensteins, unter anderem der folgende Satz aus der Philosophischen Grammatik: „,Ein Wort verstehen‘ kann heißen: Wissen, wie es gebraucht wird; es anwenden können.“ (1973: 47) „Gebrauchen“ ist ein sehr allgemeiner Begriff, den Wittgenstein mit Hilfe des Begriffs „Sprachspiel“ näher zu erläutern versuchte. Sprachspiele unterscheiden sich voneinander durch die in ihnen geltenden Regeln (darunter solchen der Verifikation von Aussagen), durch ihre Gegenstandsbereiche und die Zwecke, denen Äußerungen und Handlungen dienen. Unter den in § 23 der Philosophischen Untersuchungen (Wittgenstein 1971) aufgelisteten Beispielen findet man so unterschiedliche Sprachspiele wie „Befehlen, und nach Befehlen handeln“, „Theater spielen“, „Reigen singen“, „Rätsel raten“ sowie „Bitten, Danken, Fluchen, Grüßen, Beten“. Wittgenstein betont an derselben Stelle „die Mannigfaltigkeit der Werkzeuge der Sprache und ihrer Verwendungsweisen, die Mannigfaltigkeit der Wort- und Satzarten“. „Sprachspiel“ selbst ist alles andere als ein scharfer Begriff. Es lässt sich wohl niemals genau angeben, was alles zu einem Sprachspiel gehört, wo das eine anfängt und das andere aufhört. Man darf außerdem vermuten, dass nicht alle Praktiken eines Sprachspiels auf derselben Stufe stehen. Manche scheinen insofern wichtiger zu sein als andere, als sie deren Voraussetzung bilden. Robert Brandom vertritt die plausible These, dass das Behaupten grundlegender ist als andere sprachliche Funktionen, etwa Befehlen, Bitten, Danken, Fluchen, Grüßen und Beten, um bei Wittgensteins Beispielen zu bleiben. Behaupten ist deshalb grundlegender, weil der Inhalt von Begriffen durch inferentielle Beziehungen zwischen Behauptungen und ähnlichen Objekten bestimmt wird. Dies ist der Kern von Brandoms Inferentialismus: „Einer solchen inferentialistischen Auffassung zufolge stellt das Propositionale die grundlegende Form des Begrifflichen dar, und das Anwenden von Begriffen in propositional gehaltvollen Behauptungen, Überzeugungen und Gedanken bildet das Herzstück des Begriffsgebrauchs. Propositional gehaltvoll zu sein, so wird behauptet, heißt in der Lage zu sein, die basalen inferentiellen Rollen sowohl der Prämisse als auch der Konklusion in Inferenzen zu spielen.“ (2001: 24)41 40 Gebrauchstheorien des Sinns werden manchmal auch „semantischer Pragmatismus“ genannt (Brandom 2001: 37). 41 Karl Poppers „rationale Diskutierbarkeit“, die als Liberalisierung empiristischer Sinnkriterien gedacht war, passt hier ins Bild, weil sie auf Begründungen und Schlussfolgerungen beruht (Popper 2009: 306).
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Und wie bei Wittgenstein wird auch bei Brandom das Erfassen des Sinns zu einer praktischen Fertigkeit, einem Wissen-wie (know-how): „Das Verstehen des begrifflichen Gehalts, auf den man sich festgelegt hat, ist ein praktisches Beherrschen: Ein Stückchen Wissen-wie, das darin besteht, das, was aus der Behauptung folgt, und das, was nicht aus ihr folgt, ferner das, was die Behauptung belegen, und das, was sie widerlegen würde, unterscheiden zu können.“ (S. 33) Akzeptiert man diese Gebrauchstheorie des Sinns, so kommt man unschwer zu dem Ergebnis, dass auch metaphysische Theorien sinnvoll sind, weil auch sie auf Inferenzen, also Begründungen und Schlussfolgerungen beruhen. Um sich klarzumachen, dass in metaphysischen Werken begründet und geschlossen wird, genügt es, die ersten drei Paragraphen der Monadologie zu lesen, wo Leibniz im ersten Paragraphen feststellt, dass Monaden einfache Substanzen sind und dass „einfach“ heiße, ohne Teile zu sein. Im zweiten Paragraphen begründet er die Existenz der Monaden damit, dass das Zusammengesetzte eine Anhäufung von Einfachem ist. Und im dritten Paragraphen zieht er daraus den Schluss, dass Monaden „weder Ausdehnung, noch Gestalt, noch Teilbarkeit“ besitzen (1982: 27).42 Wahrscheinlich wird man zwar in jedem metaphysischen Begründungszusammenhang mehr oder weniger große Lücken finden können: Schlussfolgerungen wollen nicht einleuchten, Prämissen erscheinen unglaubhaft, Begriffe werden nicht explizit definiert, Fragen nicht beantwortet. Doch es bleiben immer noch genügend inferentielle Beziehungen übrig, um zugeben zu müssen, dass metaphysische Aussagen in inferentialistischer Hinsicht sinnvoll sind. Ein vieldiskutiertes Problem, das von Gebrauchstheorien des Sinns aufgeworfen wird, ist Wittgensteins Paradox des Regelfolgens. Betrachten wir Wittgensteins eigenes Beispiel: Angenommen, jemand würde das Addieren von 2 nur anhand von natürlichen Zahlen kleiner als 1000 erlernen. Er erlernt dadurch unter anderem die Regel für die Erzeugung der Reihe 2, 4, 6 usw. Er befolgt diese Regel, gelangt dabei bis zur Zahl 1000 und macht dann folgendermaßen weiter: 1000, 1004, 1008 usw. Dazu Wittgenstein: „Wir sagen ihm: ‚Schau, was du machst!‘ – Er versteht uns nicht. Wir sagen: ‚Du solltest doch zwei addieren; schau, wie du die Reihe begonnen hast!‘ – Er antwortet: ‚Ja! Ist es denn nicht richtig? Ich dachte, so soll ich’s machen.‘ – Oder nimm an, er sagte, auf die Reihe weisend: ‚Ich bin doch auf die gleiche Weise fortgefahren!‘ – Es würde uns nun nichts nützen, zu sagen ‚Aber siehst du denn nicht….?‘ – und ihm die alten Erklärungen und Beispiele zu wiederholen. – Wir könnten in so einem Falle etwa sagen: Dieser Mensch versteht von Natur aus jenen Befehl, auf unsre Erklärung hin, so, wie wir den Befehl: Addiere bis 1000 immer 2, bis 2000 4, bis 3000 6, etc.‘“ (1971: § 185)
42 Nicht zuletzt lassen sich allgemeine Aussagen selbst als Schlussfolgerungen verstehen. So drückt „Monaden sind einfach“ einen Schluss von „x ist eine Monade“ auf „x ist einfach“ aus.
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Dritter Teil: Sprache und Sprachkritik
Wittgensteins Geschichte soll zeigen, dass der Gebrauch den Sinn nicht festlegt – man könnte von semantischer Unbestimmtheit sprechen. Ob man im Mathematikunterricht tatsächlich auf derartige Schwierigkeiten beim Addieren stößt, wie sie von Wittgenstein beschrieben werden, bleibe dahingestellt. Häufig vorkommende und gut dokumentierte Fälle von semantischer Unbestimmtheit sind jedoch die „Überdehnungsfehler“ kleiner Kinder (Szagun 2013: Kap. 5. 2. 2). Ein Kind erlernt zum Beispiel das Wort „Hund“ anhand von Hunden, wendet es aber auch auf andere Tiere an. Neben der Überdehnung kommt auch das umgekehrte Phänomen vor. Bei der Unterdehnung wird ein Wort zu eng verwendet, etwa das Wort „Hund“ nur für Hunde mit bestimmten Merkmalen. Der kindliche Spracherwerb liefert also Hinweise auf die reale Existenz semantischer Unbestimmtheit. Die dem Kind bekannte Verwendung des Wortes „Hund“ legt dessen Sinn nicht eindeutig fest, was es dem Kind erlaubt, das Wort auch für Katzen oder nur für schwarze kurzhaarige Hunde zu verwenden. Semantische Unbestimmtheit ist ein wesentliches Merkmal des Sprachgebrauchs, das sich nicht dadurch aus der Welt schaffen lässt, dass man dem Schüler in Wittgensteins Beispiel erklärt, was mit der Addition von 2 bei Zahlen größer als 1000 gemeint sei. Denn solche Erklärungen können niemals alle Zahlen und Anwendungsfälle abdecken. Es werden immer irgendwelche übrig bleiben, die in der Erklärung und im bisherigen Gebrauch der Addition von 2 noch nicht vorgekommen sind. Selbstverständlich kann auch die kindliche Überdehnung und Unterdehnung von Wörtern korrigiert werden, denn Kinder lernen schließlich irgendwann, das Wort „Hund“ richtig zu verwenden. Doch auch hier gilt, dass nichts festzulegen scheint, wie das Wort in neuen Situationen verwendet werden muss. Unter anderem können Wörter auch metaphorisch gebraucht werden. Selbst bei dem harmlosen Wort „Hund“ sind Art und Anzahl metaphorischer Verwendungsmöglichkeiten unerschöpflich, das heißt nicht abschließend aufzählbar, weil man mit Metaphern immer neue Bedeutungen kreieren kann (Lakoff/Johnson 1997: Kap. 21). Das ist die eine Seite der semantischen Unbestimmtheit. Die andere ist die, dass es sich dabei vor allem um ein theoretisches Problem handelt, das in der Praxis selten auftritt, nämlich in bestimmten Bereichen wie dem Spracherwerb und der metaphorischen Erweiterung des Sprachgebrauchs. Offenbar wird die menschliche Kommunikation durch die theoretische Möglichkeit der semantischen Unbestimmtheit kaum beeinträchtigt, obwohl es natürlich vorkommen kann, dass man die Äußerung eines Kindes oder eine neue Metapher nicht auf Anhieb versteht. Wittgenstein trägt diesem theoretischen Charakter des Problems dadurch Rechnung, dass er es als „Paradox“ bezeichnet, denn Paradoxe sind für ihn philosophische Probleme, die aufgelöst und zum Verschwinden gebracht werden müssen, indem man Wörter von ihrer metaphysischen auf ihre alltägliche Verwendung zurückführt (Wittgenstein 1971: §§ 116 und 182).
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Im vorliegenden Fall besteht das Missverständnis darin, dass man das Befolgen der Regel als eine Deutung derselben auffasst, die Freges „Fassen des Gedankens“ nicht unähnlich ist. Tatsächlich glaubt Wittgenstein, dass das Befolgen einer Regel keine Deutung ist, sondern eine Praxis. Wir wählen gar nicht zwischen verschiedenen Interpretationen der Regel bzw. verschiedenen Fortsetzungen des bisherigen Sprachgebrauchs: „Wenn ich der Regel folge, wähle ich nicht. Ich folge der Regel blind.“ (§ 219) Wir erinnern uns daran, dass auch für Brandom das Erfassen des Sinns etwas Praktisches ist: „Das Verstehen des begrifflichen Gehalts, auf den man sich festgelegt hat, ist ein praktisches Beherrschen: Ein Stückchen Wissen-wie […]“ (2001: 33).
Kapitel 10
Sprachlicher Bezug Kapitel 10: Sprachlicher Bezug
In Wittgensteins Paradox des Regelfolgens ging es um die Unbestimmtheit des Sinns. Bei dem ähnlich gestalteten Problem der „Unerforschlichkeit des Bezugs“ (inscrutability of reference), das von W.V. Quine formuliert wurde, geht es hingegen um die Unbestimmtheit des sprachlichen Bezugs. Sinn (Bedeutung) und Bezug (Referenz) sind zwar zwei verschiedene sprachliche Merkmale, doch die im vorigen Kapitel erwähnte Überdehnung und Unterdehnung bei Kindern könnte man auch als Belege für die Unbestimmtheit des Bezugs auffassen: Der Bezug von „Hund“ wird im Lernprozess nicht eindeutig festgelegt, weshalb das Kind das Wort nicht so verwendet, wie es die Erwachsenen gerne hätten, und es auf zu viele oder zu wenige Dinge bezieht. Quine demonstriert die Unbestimmtheit des Bezugs anhand des erfundenen Wortes „Gavagai“, das in einer hypothetischen Sprache in Zusammenhang mit Kaninchen verwendet wird. Für einen Beobachter, der der Sprache unkundig ist und dieses Wort übersetzen möchte, gibt es verschiedene Möglichkeiten: Der Gebrauch des Wortes ließe es zu, dass es sich auf Kaninchen, auf nicht-abgetrennte Teile von Kaninchen oder auf zeitliche Stadien von Kaninchen bezieht (Quine 1975: 46). Zwischen diesen drei Möglichkeiten könnte man zwar entscheiden, wenn man sprachliche Mittel zur Verfügung hätte, um die Frage zu stellen, ob Kaninchenteile bzw. Kaninchenstadien miteinander identisch sind. Dann könnte sich zum Beispiel herausstellen, dass ein Gavagai verschieden ist von einem anderen Gavagai, wobei man einmal auf den Kopf und einmal auf den Rumpf des Kaninchens zeigt, was die Interpretation „Kaninchenteil“ nahelegen würde. Doch Quine weist darauf hin, dass auch Wörter wie „identisch“ und „verschieden“ der Interpretation unterliegen und die betreffenden Ausdrücke der Gavagai-Sprache unterschiedlich übersetzt werden könnten. Das Gavagai-Problem stellt sich also auch für diese Wörter selbst (1975: 50). Falls Quine recht hat, dann lässt sich die Unbestimmtheit des Bezugs – ähnlich wie die Unbestimmtheit des Sinns – niemals völlig beseitigen. Das gilt auch dann, wenn man den traditionellen Lösungsversuch für dieses Problem heranzieht, die Abstraktion. Schon Aristoteles und später vor allem die Empiristen nahmen an, dass Menschen allgemeine Begriffe mit Hilfe der Erinnerung aus der Sinneswahrnehmung ableiten.43 Edmund Husserl – um einen Vertreter der 43 Siehe Aristoteles (Zweite Analytik: 100a, und Metaphysik: 980b-981a) und Locke (1981: Buch 2, Kap. 11, § 9, und Buch 3, Kap. 3, § 6).
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Phänomenologie zu nennen – sprach von der „Fähigkeit, ideierend im Einzelnen das Allgemeine, in der empirischen Vorstellung den Begriff schauend zu erfassen und uns im wiederholten Vorstellen der Identität der begrifflichen Intention zu versichern“ (1975: 109). Könnte man den Sinn eines Wortes auf diese Weise erfassen, so bestünde Hoffnung, dass dadurch auch sein Bezug eindeutig festgelegt wird. Die Gebrauchstheorie des Sinns wäre dann allerdings in Bedrängnis, denn der Gebrauch könnte bestenfalls die empirische Grundlage für das Erfassen des Sinns sein. Ein Kind nimmt zum Beispiel wahr, wofür die Erwachsenen das Wort „Hund“ verwenden, und erfasst durch Abstraktion – oder „Ideation“, wie Husserl sie nennt – das „Wesen“ des Hundes, das heißt jene Eigenschaften, die ein Tier haben muss, damit es als „Hund“ bezeichnet werden kann. Das Wort selbst würde sich auf alle Tiere mit diesen Eigenschaften beziehen. Solange das Kind das Wort falsch verwendet, hätte es weder den Sinn noch den Bezug richtig erfasst. Manche werden vielleicht den Eindruck haben, dass Ideation ein ähnlich mysteriöser Vorgang ist wie Freges „Fassen des Gedankens“, das im vorigen Kapitel erwähnt wurde. Doch mit diesem Problem brauchen wir uns nicht zu beschäftigen. Für unsere Zwecke genügt die Feststellung, dass die Unbestimmtheit des Bezugs auch durch die Ideation nicht verhindert wird, weil der Sprachgebrauch mit verschiedenen Ideationen vereinbar ist. Wenn der Sinn des Wortes „Gavagai“ das ist, was aufgrund des Gebrauchs dieses Wortes mittels Ideation erfasst wird, so ist ein und derselbe Gebrauch mit mehr als einem Sinn vereinbar. Die Verwendung des Wortes lässt nämlich auch die Ideation unbestimmt. Man kann trotzdem „Gavagai“ als „Kaninchen“, „nicht-abgetrennter Kaninchenteil“ oder „zeitliches Kaninchenstadium“ verstehen (wobei „Verstehen“ eben Ideation wäre). Dasselbe gilt offenbar auch für die Addition der Zahl 2, anhand derer Wittgenstein das Paradox des Regelfolgens erläutert hat. Durch Ideation lassen sich verschiedene mathematische Operationen aus dem bisherigen Gebrauch von „plus 2“ ableiten. Was Wittgenstein Deutung der Regel nannte, scheint ohnehin nur eine Art von Ideation zu sein. Aus diesen Überlegungen lässt sich einerseits schließen, dass der sprachliche Bezug unbestimmt bleibt, solange man neben dem, was im Geist eines Menschen (bei der Ideation) vor sich geht, lediglich den Sprachgebrauch berücksichtigt. Hat man andererseits den Eindruck, dass der sprachliche Bezug durch diese Faktoren noch nicht vollständig erklärt wird, so muss man über Sprache und Geist hinausgehen. Dabei rückt die Wirklichkeit selbst ins Blickfeld, denn auch sie könnte zur Fixierung des Bezugs einen Beitrag leisten. Eine moderne Theorie des sprachlichen Bezugs, die diesen Beitrag der Wirklichkeit zu berücksichtigen versucht, ist die des Referenzmagnetismus. Bevor ich auf diese Theorie genauer eingehe, ist es nötig, sich kurz mit einer wichtigen Voraussetzung des Referenzmagnetismus zu beschäftigen, der Annahme natürlicher Eigenschaften.
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Beispiele für natürliche Eigenschaften sind die Eigenschaft eines Elementarteilchens elektrisch geladen zu sein, die Eigenschaft eines Organismus Chlorophyll zu enthalten, die Eigenschaft eines Objekts grün zu sein oder die Eigenschaft eines Tiers ein Tiger zu sein.44 Dass es natürliche Eigenschaften gibt und schon gegeben hat, bevor Menschen jemals über elektrische Ladungen, Chlorophyll, die Farbe Grün und Tiger gesprochen haben, ist zwar eine philosophische These; doch auch außerhalb der Philosophie würden wohl die meisten Menschen der Aussage zustimmen, dass der Unterschied zwischen Löwen und Tigern unabhängig davon besteht, ob wir die einen „Löwen“ und die anderen „Tiger“ nennen. Indem wir über Löwen und Tiger sprechen, treffen wir eine Unterscheidung, die wir dadurch nicht erst herstellen, sondern bereits in der Welt vorfinden. Insofern scheint die These dem Alltagsdenken (oder Common Sense) zu entsprechen. Abgesehen von diesem Verweis auf das Alltagsdenken gibt es auch philosophische Argumente für die Annahme natürlicher Eigenschaften. Man kann dadurch unter anderem erklären, warum manche induktiven Schlüsse erfolgreich sind und andere nicht. Dies lässt sich sehr gut anhand der seltsamen Begriffe erläutern, die Nelson Goodman (1975: Kap. 3) erfunden hat, um das Induktionsproblem neu zu formulieren: Nennen wir ein Ding „grot“, wenn es vor einem bestimmten Zeitpunkt t beobachtet wird und grün ist oder nach diesem Zeitpunkt beobachtet wird und rot ist. Weil Smaragde grün sind, bestätigen Beobachtungen von Smaragden vor dem Zeitpunkt t die Aussage „Alle Smaragde sind grot“. Diese Aussage ist jedoch falsch, weil „grot“ nach t für die Farbe Rot steht. Dieses Beispiel wird gleich noch ein wenig komplizierter, weil man den Begriff „Smaragd“ ebenfalls manipulieren kann, doch bleiben wir zunächst bei „Alle Smaragde sind grot“. Die Interpretation auf der Grundlage natürlicher Eigenschaften lautet, dass der induktive Schluss deshalb misslingt, weil „grot“ im Unterschied zu „grün“ und „rot“ keine natürliche Eigenschaft bezeichnet. Hingegen kann man aus Beobachtungen von Smaragden induktiv auf „Smaragde sind grün“ schließen, weil Smaragd und Grün natürliche Eigenschaften sind. „Grot“ ist ein disjunktiver Begriff: Beobachtungen vor und nach t sind durch „oder“ miteinander verbunden. Es überrascht daher nicht, dass sich auch andere disjunktive Begriffe ähnlich wie „grot“ verhalten, beispielsweise „Löwe-oderTiger“: Beobachtungen von Tigern würden die induktive Verallgemeinerung er44 Ob man zwischen natürlichen Eigenschaften und natürlichen Arten unterscheiden muss, ist umstritten, für uns aber nicht von Belang, weil wir nur den Begriff der natürlichen Eigenschaft benötigen. Häufig werden natürliche Arten so verstanden, dass sie mehrere natürliche Eigenschaften zusammenfassen. Mitglieder einer natürlichen Art hätten demnach mehrere natürliche Eigenschaften, und Mitglieder verschiedener natürlicher Arten könnten natürliche Eigenschaften gemeinsam haben. Von den im Text aufgezählten Eigenschaften würde dann wahrscheinlich nur die Eigenschaft, ein Tiger zu sein, auch eine natürliche Art bilden.
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lauben, dass alle Löwen-oder-Tiger gestreift sind, was deshalb falsch ist, weil Löwen nicht gestreift sind. Die Tatsache, dass der induktive Schluss auf „Alle Löwen-oder-Tiger sind gestreift“ misslingt, ist ein Beleg dafür, dass Löwe-oderTiger keine natürliche Eigenschaft ist.45 Mathematische Operationen wie die von Wittgenstein diskutierte Addition der Zahl 2 werden manchmal ebenfalls als natürliche Eigenschaften betrachtet (Lewis 1983: 376), was allerdings die schwierige Frage nach dem Träger dieser Eigenschaften aufwirft. Da Addieren eine Tätigkeit ist, könnte es sich um eine Eigenschaft von Menschen oder anderen rechnenden Wesen handeln. Es könnte auch eine Relation zwischen Zahlen sein, was wiederum die Frage aufwirft, was Zahlen eigentlich sind. Auf jeden Fall unterscheiden sich mathematische Operationen in vielerlei Hinsicht von natürlichen Eigenschaften wie Smaragd, Grün, Löwe und Tiger, weshalb ich die Frage, ob sie selbst natürliche Eigenschaften sind, gerne offenlassen würde. Dennoch lassen sich die in Bezug auf induktive Schlüsse angestellten Überlegungen auch auf die Mathematik übertragen, sofern diese zur Beschreibung der Wirklichkeit verwendet wird. Mathematische Operationen spielen auch bei empirischen Induktionen eine Rolle, daher stehen sie jedenfalls in einem engen Zusammenhang mit natürlichen Eigenschaften. Dazu ein kleines Experiment: Vor mir stehen zwei zylinderförmige Trinkgläser mit demselben Querschnitt, ein niedriges und ein hohes, die beide bis zum Rand mit Wasser gefüllt sind. Ich lege zwei 1-Euro-Münzen in das kleine Glas, was nicht ausreicht, um das Wasser zum Überlaufen zu bringen. Nun fordert mich jemand auf, „dieselbe“ Anzahl solcher Münzen in das andere Glas zu legen. Die induktive Prognose lautet offenbar, dass das Wasser im zweiten Glas ebenfalls nicht übergehen wird, falls dieselbe Anzahl von 1-Euro-Münzen hinzugefügt wird, weil die beiden Gläser im Querschnitt und im Wasserstand unter dem Rand übereinstimmen. Doch weil dieses Glas höher ist, lege ich – in Analogie zu Wittgensteins Beispiel – vier 1-Euro-Münzen hinein und das Wasser geht über. Der Unterschied zwischen Übergehen und Nichtübergehen ist ein ebenso „natürlicher“ Unterschied wie der zwischen Grün und Rot oder zwischen Smaragden und Rubinen. Dasselbe gilt für den Unterschied zwischen zwei Münzen und vier Münzen, der sich im Übergehen 45 Da wir schon bei diesen beiden Tierarten sind: Liger sind Kreuzungen zwischen männlichen Löwen und weiblichen Tigern. Ist ein Liger zu sein eine natürliche Eigenschaft? Dagegen spricht, dass einige induktive Schlüsse, die für zoologische Arten typisch sind, im Fall von Ligern nicht funktionieren. Phänotypisch unterscheiden sich Liger stark voneinander, weil jeweils verschiedene Merkmale von Löwen und Tigern zur Ausprägung kommen. Zum Beispiel haben nicht alle männlichen Liger eine Mähne. Und da männliche Liger unfruchtbar sind, kann man nicht den für Tierarten charakteristischen Schluss ziehen, dass männliche und weibliche Liger zusammen Nachkommen hervorbringen, die wieder Liger sind.
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des Wassers bemerkbar macht. Vier Münzen hinzuzufügen ist eben nicht dasselbe wie zwei Münzen hinzuzufügen.46 Wer Goodmans Diskussion des Induktionsproblems kennt, weiß freilich auch, dass die bisherige Argumentation für die Existenz natürlicher Eigenschaften noch nicht ganz ausreichend ist (Goodman 1975: Kap. 4). Denn wie ich schon angedeutet habe, kann auch „Smaragd“ zu einem seltsamen Begriff umgeformt werden. Kombiniert man diesen dann mit „grot“, so erhält man wieder zutreffende induktive Schlussfolgerungen. Wir können einen „Smarbin“ als etwas definieren, das vor t beobachtet wird und ein Smaragd ist oder nach t beobachtet wird und ein Rubin ist. Weil vor t beobachtete Smaragde Smarbine sind, bestätigen Beobachtungen von Smaragden vor t die allgemeine Aussage „Smarbine sind grot“. Und weil Rubine rot sind, sind Smarbine auch nach t grot. Der induktive Schluss führt also zu wahren Prognosen über die „Gröte“ von Smarbinen. An dieser Stelle werden wohl manche die Geduld verlieren und das Argument als Spitzfindigkeit, als bloßes Spiel mit Wörtern abtun. Die verbale Spitzfindigkeit zeigt allerdings, dass der Zusammenhang zwischen Induktionen und natürlichen Eigenschaften nicht so einfach ist, wie man vielleicht annehmen würde. Induktive Schlüsse können auch zutreffend sein, obwohl die verwendeten Begriffe („grot“, „Smarbin“) gar keine natürlichen Eigenschaften bezeichnen. Induktion ist daher kein zuverlässiges Kriterium für die Identifikation von natürlichen Eigenschaften. Es soll hier jedoch gar nicht behauptet werden, dass induktive Schlüsse nur mit Begriffen funktionieren, die sich auf natürliche Eigenschaften beziehen. Ich glaube lediglich, dass natürliche Eigenschaften den Erfolg induktiver Schlüsse erklären. Natürliche Eigenschaften erklären auch den Erfolg von Schlüssen, in denen nicht von natürlichen Eigenschaften die Rede ist. Die Annahme, dass Rot, Grün, Smaragd und Rubin natürliche Eigenschaften sind, erklärt beispielsweise, warum man aus Beobachtungen von Smaragden und Rubinen unter anderem „Smaragde sind grün“, „Rubine sind rot“, aber eben auch „Smarbine sind grot“ ableiten kann. Smarbine sind deshalb grot, weil in der Definition der Begriffe dafür gesorgt wurde, dass „Smarbin“ und „grot“ vor und nach dem Zeitpunkt t verschiedene natürliche Eigenschaften bezeichnen.47 46 In diesem Beispiel ging es um die natürliche Eigenschaft des Volumens, aber ich habe es auch deshalb gewählt, weil es noch ein weiteres Missverständnis erlaubt: Würde ich die Bitte so verstehen, dass sie sich auf den Wert der Münzen bezieht (der keine natürliche Eigenschaft ist), könnte ich zum Beispiel vier 50-Cent-Münzen ins Glas legen. 47 Könnte man nicht auch umgekehrt davon ausgehen, dass Smarbin und Grot selbst natürliche Eigenschaften sind? Das würde ebenfalls erklären, warum man aus der Beobachtung von Smaragden und Rubinen auf „Smarbine sind grot“ schließen kann. Gegen diese Annahme spricht, dass man den Gebrauch der Wörter „Smarbin“ und „grot“ nicht auf induktivem Weg erlernen kann. Dazu mehr am Ende des Kapitels.
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Nach diesen Vorbemerkungen über natürliche Eigenschaften ist nun die Zeit gekommen, wie angekündigt den Referenzmagnetismus in Augenschein zu nehmen. Da der Bezug eines Wortes durch dessen Gebrauch nicht eindeutig bestimmt wird, werden zusätzliche Faktoren benötigt, die zur Festlegung des Bezugs beitragen. Diese zusätzlichen Faktoren sind eben die natürlichen Eigenschaften. Um wieder Quines „Gavagai“ zu verwenden: Der Gebrauch dieses Wortes ließe es im Prinzip zu, dass es sich auf Kaninchen, auf nicht-abgetrennte Teile von Kaninchen oder auf zeitliche Stadien von Kaninchen bezieht, aber nur ein Kaninchen zu sein ist eine natürliche Eigenschaft. Daher bezieht sich das Wort „Gavagai“ auf Kaninchen. Die Bezeichnung „Magnetismus“ für die Annahme, dass natürliche Eigenschaften die Unbestimmtheit des Bezugs beseitigen, ist zwar eine einprägsame Metapher, sie ist aber dennoch etwas unglücklich gewählt, weil sie suggeriert, natürliche Eigenschaften würden Wörter gewissermaßen „anziehen“.48 Sie tun selbstverständlich nichts dergleichen. Wenn wir nach dem Grund dafür suchen, warum der Bezug durch natürliche Eigenschaften festgelegt wird, müssen wir uns wieder dem Sprachgebrauch zuwenden. Theodore Sider beispielsweise beruft sich in seiner Begründung des Referenzmagnetismus auf die Annahme, dass der Begriff „Bezug“ (reference) eine explanatorische Funktion habe und unter anderem dazu diene, sprachliches Verhalten zu erklären (Sider 2011: 28). Wenn jemand einen Satz ausspricht oder niederschreibt, so bestehe ein Teil der Erklärung für dieses Verhalten darin, dass sich die Wörter des Satzes auf Bestandteile der Welt beziehen. Diese Erklärung setze wiederum die Existenz natürlicher Eigenschaften voraus, weil dies nämlich laut Sider für alle guten Erklärungen gilt: Gute Erklärungen beziehen sich auf natürliche Eigenschaften (S. 23). Doch meines Erachtens ist es keinesfalls ausgemacht, dass der Begriff „Bezug“ tatsächlich die Erklärungsfunktion hat, die ihm von Sider zugeschrieben wird. Vor allem darf man die von Sider ins Auge gefasste Erklärung nicht mit einer anderen Erklärung verwechseln, nämlich mit der des Wahrheitswertes (wahr, falsch) von Sätzen. Wenn man Wahrheit als Übereinstimmung eines Satzes mit der Wirklichkeit versteht oder davon spricht, dass der Satz durch die Wirklichkeit wahr gemacht wird, dann könnte man diese Beziehung zwischen Satz und Wirklichkeit dadurch erklären, dass sich die Wörter des Satzes auf die Wirklichkeit beziehen. Hier hat der Referenzbegriff also tatsächlich eine explanatorische Funktion: Nur weil sich Wörter auf die Wirklichkeit beziehen, können Sätze wahr oder falsch sein. Doch benötigt man den Bezug auch, um den Sprachgebrauch zu erklären, wie Sider meint? Eher nicht. In der behavioristisch angehauchten Terminologie von 48
Die Metapher geht auf Harold Hodes (1984) zurück.
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Quine könnte man die Frage so beantworten: Nicht der Bezug, sondern die Reize (stimuli), denen Menschen ausgesetzt sind, erklären ihren Sprachgebrauch. Quine selbst schreibt dazu: „Es ist wichtig, daß man das, was den Eingeborenen zur Zustimmung zu ‚Gavagai?‘ veranlaßt, als Reiz und nicht als Kaninchen auffaßt. Der Reiz kann derselbe bleiben, selbst wenn das Kaninchen durch eine Attrappe ersetzt wird. Umgekehrt kann die Fähigkeit des Reizes, die Zustimmung zu ‚Gavagai‘ zu veranlassen, aufgrund von Veränderungen des Winkels, der Beleuchtung und des Farbkontrasts sogar dann variieren, wenn das Kaninchen dasselbe bleibt. Wird der Gebrauch von ‚Gavagai‘ und ‚Kaninchen‘ aufgrund eines Experiments gleichgesetzt, sind es Reize, die miteinander in Einklang gebracht werden müssen, nicht Tiere.“ (1980: 66 f.)
Man würde dies heute zweifellos anders ausdrücken, nämlich weniger behavioristisch. Einerseits würde man auch Ursachen berücksichtigen, die innerhalb des Subjekts liegen, vor allem natürlich die vom Behaviorismus ignorierten Gehirnzustände. Wer nicht einem materialistischen Weltbild anhängt, würde außerdem das phänomenale Bewusstsein ins Spiel bringen und statt von Reizen lieber von Wahrnehmungen sprechen. Sprachgebrauch ist zum Teil durch das erklärbar, was Menschen wahrnehmen, wobei mit „wahrnehmen“ eine Art des Erlebens gemeint ist. Wir müssen wissen, wie Menschen die Welt erscheint, um zu verstehen, warum sie etwas Bestimmtes sagen. Das ist der – von behavioristischen Voraussetzungen befreite – Kern dessen, was Quine von einer Erklärung des Sprachgebrauchs verlangt. Nur wenn wir uns auf das stützen, was Menschen wahrnehmen, können wir beispielsweise erklären, warum das Wort „Gavagai“ auch im Zusammenhang mit Abbildungen von Kaninchen verwendet wird, oder wenn etwas wie ein Kaninchen aussieht, ohne ein Kaninchen zu sein. Hinter Siders Begründung des Referenzmagnetismus steht also ein großes Fragezeichen. Wir benötigen eine überzeugendere Antwort auf die Frage, warum der Bezug von Wörtern durch natürliche Eigenschaften festgelegt wird. Dazu müssen wir einen bestimmten Teil des Sprachgebrauchs in Betracht ziehen, nämlich den Spracherwerb. Seit das Problem der Unbestimmtheit des Bezugs von Quine aufgeworfen wurde, hat sich die Kognitionspsychologie dieses Problems in empirischen Studien angenommen, wobei dem Spracherwerb von Kindern besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Dabei zeigte sich unter anderem, dass induktive Schlüsse beim Spracherwerb eine wesentliche Rolle spielen. Bereits zwei- bis vierjährige Kinder verstehen Begriffe so, dass dadurch induktive Schlüsse gestützt werden, und erwarten, dass alle Objekte einer Kategorie ähnliche Merkmale und Verhaltensweisen zeigen (Gelman/Markman 1986 und 1987, Gelman/Coley 1990 und 1991). Wie wir bereits wissen, werden induktive Schlüsse durch natürliche Eigenschaften ermöglicht. Diese ermöglichen dadurch zugleich das Erlernen des Gebrauchs ihrer Bezeichnungen. Betrachten wir dazu ein letztes Mal die Begriffe
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von Goodman und Quine: Das Wort „grot“ (oder „grün“ in der Bedeutung von „grot“) könnte ein Kind nicht induktiv erlernen. Das Kind würde zunächst lernen, dieses Wort für grüne Dinge zu verwenden und beispielsweise den Schluss ziehen, dass Spinat immer grot ist. Die mit diesem Schluss verbundenen Erwartungen würden jedoch enttäuscht werden, wenn ihm die Erwachsenen nach dem Zeitpunkt t erklären würden, dass Spinat nicht grot ist (weil sich „grot“ inzwischen auf die Farbe Rot bezieht). Man kann nicht auf empirischem Weg lernen, dass sich der Bezug von „grot“ zu einem zukünftigen Zeitpunkt t ändern wird. Ebenso verhält es sich mit „Gavagai“: Kaninchen sehen ähnlich aus und verhalten sich ähnlich. Daher könnte man das, was man anhand einiger Exemplare dieser Tierart gelernt hat, auch auf andere Exemplare übertragen und sich so den Gebrauch des Wortes „Gavagai“ aneignen. Diese Induktionen wären nicht möglich, wenn «Gavagai» für nicht-abgetrennte Teile von Kaninchen oder für zeitliche Stadien von Kaninchen stünde. Verschiedene Kaninchenteile oder verschiedene Kaninchenstadien besitzen ganz unterschiedliche Merkmale, haben aber dennoch den Nachteil, dass sie sich schwer voneinander unterscheiden lassen, während sich ein ganzes Kaninchen meist deutlich von seiner Umgebung abhebt. Auch aus diesem Grund eignen sich Kaninchenteile und Kaninchenstadien schlecht für induktive Verallgemeinerungen. In einer Versuchsreihe wurden drei- und vierjährigen Kindern Bilder von Gegenständen der folgenden Kategorien präsentiert: Banane, Vogel, Karotte, Käse, Kuh, Hund, Fisch, Blume, Ring (Golinkoff et al. 1995). Daneben gab es Abbildungen von Gegenständen, die einer übergeordneten Kategorie angehören, mit dem ersten Gegenstand in einem thematischen Zusammenhang stehen oder diesem perzeptuell ähneln, sowie ein weiteres Exemplar der ersten Kategorie. Ein Beispiel: Ein Bananen-Bild wird dem Kind zusammen mit vier anderen Bildern gezeigt, auf denen eine Weintraube, ein Affe, eine Mondsichel und eine weitere Banane zu sehen sind. Zeigt man auf die erste Banane, äußert dabei ein Wort X und fragt das Kind, ob es ein weiteres X findet, so wählen die meisten Kinder das andere Bananenbild. Dies zeigt eine Präferenz für die Kategorie „Banane“ gegenüber der übergeordneten Kategorie „Obst“ (Banane, Weintraube), dem thematischen Zusammenhang (Banane, Affe) und der perzeptuellen Ähnlichkeit (Banane, Mondsichel). Auch diese Studie machte somit deutlich, dass Kinder dazu neigen, Objekte anhand natürlicher Eigenschaften zu kategorisieren. Kommen wir zum Schluss: Das im vorliegenden Kapitel diskutierte Problem der Unbestimmtheit des Bezugs erscheint nur dann unlösbar, wenn man die Existenz natürlicher Eigenschaften ablehnt. Umgekehrt ist ihr Beitrag zur Lösung dieses Problems ein gutes Argument zu Gunsten natürlicher Eigenschaften. Die „magnetische Anziehungskraft“ dieser Eigenschaften rührt daher, dass sie empirische Induktionen und damit das Erlernen des Gebrauchs ihrer Bezeichnungen ermöglichen. Auf diese Weise kann man den Gebrauch von „rot“ und „Kanin-
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chen“ erlernen, jedoch nicht den von „grot“ oder von „Gavagai“ im Sinne von „Kaninchenteil“ oder „Kaninchenstadium“.49
49 In der Kognitionspsychologie werden Kategorien wie „Banane“ und „Kaninchen“ auch als (semantische oder kognitive) „Basiskategorien“ bezeichnet (basic oder basic-level categories). Nach Eleanor Rosch (1978: 32 – 34) erkennt man eine Basiskategorie daran, dass ihre Mitglieder eine signifikante Anzahl von Merkmalen gemeinsam haben, dass man sie in ähnlicher Weise verwenden oder mit ihnen ähnlich interagieren kann, dass sie eine ähnliche Form besitzen und dass die Kategorie anhand eines typischen, durchschnittlichen Exemplars identifizierbar ist. Dies legt ebenfalls eine Sicht der Wirklichkeit nahe, die der Philosophie natürlicher Eigenschaften entgegenkommt. So heißt es in einem Aufsatz, in dem Rosch und ihre Mitarbeiter eine Reihe von Experimenten schildern, die nicht mit Kindern, sondern mit Psychologiestudierenden durchgeführt wurden: „The aim of the present research is to show that the world does contain ‚intrinsically separate things.‘ The world is structured because real-world attributes do not occur independently of each other. Creatures with feathers are more likely also to have wings than creatures with fur, and objects with the visual appearance of chairs are more likely to have functional sit-on-ableness than objects with the appearance of cats.“ (Rosch et al. 1976: 383)
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Zu Beginn von Kapitel 9 war davon die Rede, dass metaphysische Aussagen sinnlos wären, wenn man eine empiristische Theorie des Sinns voraussetzen würde. Der Anlass dafür war der metaphysische Idealismus, der in Kapitel 8 im Zusammenhang mit dem Loch-Argument der Allgemeinen Relativitätstheorie aufgetaucht ist. Die Frage, ob der metaphysische Idealismus zutreffend ist, ist nach empiristischer Auffassung ein Scheinproblem, weil daraus keine empirischen oder praktischen Konsequenzen abgeleitet werden können. Ersetzt man jedoch den empiristischen Sinnbegriff durch eine passende Gebrauchstheorie des Sinns – was in Kapitel 9 geschehen ist –, so wird der metaphysische Idealismus zumindest zu einer sinnvollen Theorie. Es gibt auch einen rein metaphysischen Gebrauch der Sprache, der metaphysischen Begriffen ihren Sinn verleiht. Dies hat den günstigen Nebeneffekt, dass dadurch auch empirisch unentscheidbare Interpretationsfragen im Zusammenhang mit naturwissenschaftlichen Theorien vom Verdacht der Sinnlosigkeit befreit werden. Das betrifft unter anderem die Interpretationen der Quantenmechanik, beispielsweise die Frage, ob die schon erwähnte Kopenhagener Deutung richtig ist. Es kann sein, dass die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Interpretationen niemals über einen empirisch unentscheidbaren, metaphysischen Disput hinauskommen wird, aber sinnlos ist die Auseinandersetzung deshalb noch lange nicht. Was für den Empirismus ein Scheinproblem ist, verliert somit diesen Status, wenn man „Sinn“ anders auffasst. Dies heißt jedoch nicht, dass eine Gebrauchstheorie des Sinns alle metaphysischen Fragen sinnvoll macht, denn auch auf Grundlage einer solchen Semantik bleiben noch Scheinfragen übrig. Genauer gesagt macht die Gebrauchstheorie diese Fragen erst als Scheinfragen erkennbar, weil sie impliziert, dass Wörter, deren Verwendungen deutlich voneinander abweichen, verschiedene Bedeutungen haben. In einem solchen Fall haben wir einen bloßen Streit um Worte vor uns, der sich verstehen und oft auch friedlich beilegen lässt, sobald man erkennt, dass bestimmte Wörter in mehr als einem Sinn verwendet werden. Hier ein Zitat aus „Verbal Disputes“ von David Chalmers: „Intuitively, a dispute between two parties is verbal when the two parties agree on the relevant facts about a domain of concern and just disagree about the language used to describe that domain. In such a case, one has the sense that the two parties are ,not really disagreeing‘: that is, they are not really disagreeing about the domain of concern and are disagreeing only over linguistic matters. […] Once we resolve an issue about lang uage,
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the dispute over the nonlinguistic domain evaporates, or at least should evaporate. This potential evaporation is one of the central marks of a verbal dispute.“ (2011: 515 f.)
Das folgende Beispiel für einen verbalen Disput stammt von Theodore Sider: Ein Amerikaner und ein Brite streiten darüber, ob sich in einem Gefäß mehr als eine Gallone Wasser befindet. Nehmen wir an, es seien vier Liter, dann müsste der Amerikaner die Frage bejahen, weil eine amerikanische Gallone ungefähr 3,8 Liter umfasst, und der Brite müsste sie verneinen, weil eine britische Gallone ungefähr viereinhalb Litern entspricht. „This debate is pointless. The disputants agree on the volume of the water; they simply need to settle on whether to speak in the British or American way about the agreed-upon facts.“ (Sider 2006: 76) Selbstverständlich ist dieser Fall reichlich trivial, doch man sollte daraus keinesfalls den Schluss ziehen, dass verbale Dispute immer so harmlos sind, denn oft lässt sich nicht leicht feststellen, ob es sich bei einer Meinungsverschiedenheit um einen verbalen Disput handelt. Sider bringt das Gallonenbeispiel deshalb, um anschließend dafür zu argumentieren, dass die Auseinandersetzung zwischen Präsentismus und Eternalismus kein verbaler Disput ist, wie manchmal behauptet wird. Ob dies stimmt, ist sicherlich viel schwerer zu beurteilen als der Fall der Gallone. Ich werde im übernächsten Kapitel erläutern, worum es beim Streit zwischen Präsentismus und Eternalismus geht, und versuchen zu zeigen, dass Sider unrecht hat, dass also tatsächlich ein verbaler Disput vorliegt, was der Hauptgrund ist, warum ich jetzt überhaupt über verbale Dispute nachdenke. Ein besonders lehrreiches Beispiel für einen philosophischen Diskurs, der sich erst bei näherer Betrachtung als verbaler Disput herausstellt, ist das Problem der Willensfreiheit. Eine der Hauptfragen in dieser Debatte ist die, ob Willensfreiheit mit dem Determinismus vereinbar ist. Gemeint ist hier der universale oder kausale Determinismus: Alle Ereignisse (also auch alle Entscheidungen) sind durch vorangegangene Bedingungen determiniert. Man kann diese allgemeine Form des Determinismus auch mit Blick auf die Zukunft definieren, wie es Geert Keil hier vorführt: „Die These des universalen Determinismus besagt in erster Annäherung, dass der gesamte Weltlauf ein für alle Mal fixiert ist, so dass es zu jedem Zeitpunkt genau eine mögliche Zukunft gibt. Determinismus ist somit eine naturphilosophische oder metaphysische Behauptung über den Weltlauf als ganzen, keine wissenschaftliche Theorie über einen bestimmten Gegenstandsbereich.“ (2013: 18)50 Die Antwort auf die Frage, ob Willensfreiheit und universaler Determinismus miteinander vereinbar (kompatibel) sind, trennt kompatibilistische von inkompa50 Der letzte Satz des Zitats bezieht sich auf den Unterschied zu einem Bereichsdeterminismus. Der Bereichsdeterminismus, der für das Problem der Willensfreiheit am wichtigsten ist, beschränkt sich auf Geist und Gehirn und besteht in der These, dass bewusste Entscheidungen durch Gehirnprozesse determiniert sind.
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tibilistischen Auffassungen der Willensfreiheit. Keil vertritt den Inkompatibilismus, aber betrachten wir zunächst eine Variante des Kompatibilismus, die von Harry Frankfurt (2001) stammt: Willensfreiheit besteht demnach in der Übereinstimmung zwischen handlungswirksamen Wünschen und Wünschen zweiter Stufe, die sich auf die ersten beziehen. Der Wille, das heißt der handlungswirksame Wunsch, ist frei, wenn die Person außerdem den Wunsch zweiter Stufe hat, dass jener Wunsch handlungswirksam werde. Anders formuliert ist Willensfreiheit dann vorhanden, wenn jemand etwas tun will und diesen Willen auch haben möchte. Daraus folgt unter anderem, dass der Wille eines Drogensüchtigen nicht frei ist, wenn er zwar den Willen hat, die Droge zu konsumieren, aber diesen Willen lieber nicht haben würde. Soweit Frankfurts kompatibilistische Theorie. Für den Inkompatibilismus hingegen ist die Voraussetzung wesentlich, dass die Bedingungen zum Zeitpunkt der Entscheidung diese Entscheidung nicht determinieren, weshalb Willensfreiheit den Determinismus ausschließt. Die handelnde Person könnte sich unter genau den gleichen Bedingungen auch dafür entscheiden, die Handlung nicht zu vollziehen. Keil deutet in seiner Version des Inkompatibilismus diese Annahme so, dass die Person unter den gleichen Bedingungen auch weiterüberlegen und zu einer Neubewertung ihrer Handlungsgründe kommen könnte. Dies könnte dann zu einem begründeten Nichthandeln oder Andershandeln führen. Kurz gesagt, das „Anderskönnen“ unter identischen Bedingungen ist für Keil ein „Weiterüberlegenkönnen“ (2013: 128). Die konkurrierenden Auffassungen der Willensfreiheit von Frankfurt und Keil sind nur zwei Beispiele von vielen. Sie reichen aber aus, um zu demonstrieren, dass man Willensfreiheit sehr unterschiedlich definieren kann, wobei manche Definitionen mit dem Determinismus vereinbar sind, während andere diesen ausschließen. Leider besteht keine Aussicht darauf, dass sich die Streitparteien eines Tages auf eine Definition der Willensfreiheit einigen werden. Im Gegenteil, die Vielfalt wird immer größer, je länger die Diskussion andauert. Auch die philosophischen „Intuitionen“ in Bezug auf den Begriff der Willensfreiheit könnten kaum unterschiedlicher sein. Während etwa die einen das Anderskönnen unter identischen Bedingungen als wesentlich für Willensfreiheit erachten, können andere diese vermeintliche Evidenz nicht nachvollziehen. Diese mehr oder weniger aussichtslose Diskurslage könnte ein Indiz für einen verbalen Disput sein. So sieht es jedenfalls Mark Balaguer (2009), der die Definition von „Willensfreiheit“ mit der Definition von „Planet“ vergleicht. Wenn ein Himmelskörper nach einer bestimmten Definition ein „Planet“ ist, nach einer anderen Definition jedoch keiner, so sagt dies nichts über die astronomische Wirklichkeit aus, sondern nur darüber, wie man das Wort „Planet“ verwenden möchte. (Pluto hat diesen Status bekanntlich vor einigen Jahren aufgrund einer willkürlichen Definitionsentscheidung verloren.) Aus ähnlichen Gründen ist auch die
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Frage, was Willensfreiheit ist, für Balaguer metaphysisch irrelevant, abgesehen von der trivialen Tatsache, dass man natürlich wissen muss, was man unter Willensfreiheit versteht, bevor man der Frage nachgehen kann, ob die betreffende Art von Willensfreiheit existiert. Irrelevant ist jedoch die Frage, welche der vorgeschlagenen Definitionen die richtige ist: „Philosophers involved in trying to answer the what-is-free-will question are not engaged in a genuine inquiry into the nature of human-decision making processes, and indeed, their investigations are not relevant to such inquiries in any nontrivial way. […] What I’m claiming is not relevant (in any nontrivial way) to metaphysical questions about human beings is the question of which of the many analyses of free will that people have articulated are correct.“ (Balaguer 2009: 7 und 10)
Die meisten Philosophinnen und Philosophen, die sich mit dem Was-ist-Willensfreiheit-Problem beschäftigen, werden diesem ernüchternden Urteil freilich nicht zustimmen. Sie bemühen sich vielmehr darum, ihre eigene Auffassung von Willensfreiheit zu verteidigen, indem sie die ihrer Gegner widerlegen. Die heutige Philosophie der Willensfreiheit ist daher von Einwänden geprägt, die zeigen sollen, dass jeweils andere Definitionen der Willensfreiheit unrichtig sind. Auch hier lohnt sich ein Blick auf zwei Beispiele, das Konsequenzargument und den Zufallseinwand. Das Konsequenzargument ist wahrscheinlich der wichtigste Einwand gegen die Vereinbarkeit von Willensfreiheit und Determinismus: Wenn der Determinismus wahr ist, dann sind unsere Handlungen Konsequenzen von Ereignissen der fernen Vergangenheit, auch solchen, die bereits vor unserer Geburt stattgefunden haben. Es steht nicht in unserer Macht, diese Ereignisse zu beeinflussen, daher stehen auch deren Konsequenzen, also unsere Handlungen, nicht in unserer Macht. Dieses Argument stammt in der vorliegenden Form von Peter van Inwagen (1983: 16 und 56), doch in ähnlicher Weise haben viele Philosophen der Vergangenheit gegen die Vereinbarkeit von Willensfreiheit und Determinismus argumentiert. Die Formulierung „in unserer Macht stehen“ übernehme ich aus der deutschsprachigen Version des Arguments von Geert Keil (2013: 92). Bei van Inwagen selbst liest man, die Konsequenzen (das heißt die Handlungen) seien nicht „up to us“. Beide Formulierungen erinnern an die griechischen Worte eph’ hēmin, mit denen Aristoteles in der Nikomachischen Ethik (1111b – 1115a) zum Ausdruck bringt, dass willentliche Handlungen „bei uns“ liegen. Beide sind mögliche Übersetzungen der aristotelischen Phrase. Inkompatibilisten wie van Inwagen und Keil verstehen das „In-der-Macht-Stehen“ im Sinne eines Anderskönnens unter identischen Bedingungen, was Indeterminiertheit voraussetzt. Sie meinen, dass eine Handlung nur dann „in meiner Macht steht“, wenn es auch in meiner Macht steht, unter identischen Bedingungen die Handlung nicht zu vollziehen. Doch dies ist nicht die einzig mögliche Interpretation dieser Formulierung. Dass eine Handlung „in meiner Macht steht“,
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kann auch einfach heißen, dass sie meine Handlung ist, dass also ich der Urheber dieser Handlung bin. Man braucht also „in der Macht stehen“ nicht so aufzufassen, dass auch das Nichthandeln unter identischen Bedingungen in meiner Macht steht. Diese alternative Interpretation macht Willensfreiheit mit Determinismus vereinbar. In Bezug auf das Konsequenzargument lässt sie die Antwort zu, dass zwar die Ereignisse in der fernen Vergangenheit nicht „in meiner Macht stehen“ (weil sie bereits vergangen sind), sehr wohl jedoch meine gegenwärtigen Handlungen. Diese kompatibilistische Interpretation von „in der Macht stehen“ folgt unter anderem dem aristotelischen Vorbild, denn auch bei Aristoteles ist eph’ hēmin mit dem Determinismus vereinbar (Bobzien 2014: 93). Hinter dem Konsequenzargument verbirgt sich somit wieder ein verbaler Disput. In diesem Fall geht es um das Verständnis von „in der Macht stehen“ (bzw. „up to us“ und eph’ hēmin). Als Einwand gegen den Kompatibilismus beruht das Konsequenzargument auf einer inkompatibilistischen Interpretation dieser Formulierung. Man kann das In-der-Macht-Stehen jedoch auch so deuten, dass es sich mit dem Determinismus verträgt. Es gibt keinen Grund, eine der beiden Interpretationen für „richtig“ und die andere für „falsch“ zu halten, es sei denn, man setzt bereits ein bestimmtes Verständnis von Willensfreiheit voraus. Nur wenn man den Inkompatibilismus voraussetzen würde, wäre das Konsequenzargument ein Einwand gegen den Kompatibilismus. Mit dem anderen der beiden erwähnten Argumente, dem Zufallseinwand, verhält es sich ganz ähnlich. Vereinfacht gesagt lautet dieser Einwand gegen den Inkompatibilismus so: Indeterminierte Entscheidungen sind Zufallsprozesse und Freiheit ist nicht Zufall. Auch diese Überlegung nimmt verschiedene Gestalten an; so behauptete zum Beispiel Max Planck in einem Vortrag im Jahr 1923, jede Handlung beruhe auf bewussten oder unbewussten Motiven, die die Handlung mit Notwendigkeit hervorbringen. Das Gegenteil komme aus wissenschaftlicher Sicht nicht in Frage: „Mögen auch manchmal die Motive einer Handlung ganz im Dunkeln liegen, ein Handeln ganz ohne Motiv ist wissenschaftlich ebensowenig annehmbar wie ein absoluter Zufall in der unbelebten Natur.“ (1923: 39) Warum hielt Planck Zufall für unannehmbar? Vor allem deshalb, weil Willensfreiheit eine Voraussetzung für moralische Verantwortlichkeit sei und man niemanden für zufällige Entscheidungen verantwortlich machen könne. Im 1936 gehaltenen Vortrag über das „Wesen der Willensfreiheit“ kritisierte Planck, „daß einige namhafte Physiker gegenwärtig der Meinung sind, man müsse, um die Willensfreiheit zu retten, das Kausalgesetz zum Opfer bringen, und daher kein Bedenken tragen, die bekannte Unsicherheitsrelation der Quantenmechanik, als eine Durchbrechung des Kausalgesetzes, zur Erklärung der Willensfreiheit heranzuziehen. Wie sich allerdings die Annahme eines blinden Zufalls mit dem Gefühl der sittlichen Verantwortung zusammenreimen soll, lassen sie dahingestellt.“ (Planck 2001: 137 f.)
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Dritter Teil: Sprache und Sprachkritik
Dies wirft schon die nächste Frage auf: Warum schließt Zufall Verantwortung aus? Im ersten der beiden zitierten Vorträge spricht Planck von Handlungen, die „unerklärlich, rätselhaft, launisch erscheinen“ (1923: 39). Und Keil, der als Inkompatibilist den Zufallseinwand selbst ablehnt, gibt diesen folgendermaßen wieder: „Wenn wir unter identischen Bedingungen so oder anders entscheiden könnten, wären unsere Entscheidungen grundlos, irrational, unerklärlich, unverständlich, kapriziös, erratisch.“ (2013: 115) All diese Begriffe bringen auf verschiedene Weisen zum Ausdruck, dass die zufällige Entscheidung der Person nicht zurechenbar ist. Kurz gesagt lautet der Zufallseinwand daher, dass indeterminierte Entscheidungen nicht zurechenbar und deshalb nicht frei sind. Damit sind wir wieder an jenem Punkt der Argumentation angelangt, an dem ein verbaler Disput zum Vorschein kommt, denn die betreffenden Wörter – von „unerklärlich“ über „grundlos“ bis „erratisch“ – decken ein Bedeutungsspektrum ab, das zwei ganz verschiedene Begriffe der Zurechenbarkeit überbrückt. Das Fehlen der Zurechenbarkeit wird entweder dadurch begründet, dass die Entscheidung nicht rational ist – das heißt nicht aus den Motiven der Person heraus verständlich – oder dass sie nicht vollständig erklärbar ist, weil sie eben ein Zufalls prozess ist. Keil drückt dies so aus: „Man kann zwischen zwei Stoßrichtungen des Zufallseinwands unterscheiden. Entweder steht die Rationalität einer Entscheidung zur Debatte oder ihre kausale Erklärbarkeit. Im ersten Fall gefährdet der Zufall die Vernünftigkeit oder Verständlichkeit der Wahl und der Person. Im zweiten Fall lautet der Einwand, dass zufällige Ereignisse gegen das deterministisch verstandene Kausalprinzip verstoßen.“ (2013: 115 f.) Etwas anders formuliert ist „Zurechenbarkeit“ entweder rationale oder kausale Zurechenbarkeit.51 Mit rationaler Zurechenbarkeit ist gemeint, dass die Person Motive für ihre Entscheidung hat – sie entscheidet sich nicht „grundlos“. Kausale Zurechenbarkeit hingegen impliziert, dass sich die Entscheidung vollständig erklären lässt – was bei einer indeterminierten Entscheidung nicht möglich ist, denn die Entscheidung hätte unter genau denselben Bedingungen auch anders ausfallen können. Eine indeterminierte Entscheidung lässt sich nicht vollständig erklären, schon gar nicht durch Faktoren, die in der Person selbst liegen. Wer den Inkompatibilismus mit Hilfe des Zufallseinwandes kritisiert, versteht die Zurechenbarkeit offenbar als kausale Zurechenbarkeit. Eine indeterminierte Entscheidung sei „unerklärlich“ und „rätselhaft“, meinte Planck. Wer hingegen wie Keil einen inkompatibilistischen Begriff der Willensfreiheit vertritt und den Zufallseinwand ablehnt, versteht die Zurechenbarkeit als rationale Zurechenbarkeit. Diese ist auch bei einer indeterminierten Entscheidung vorhanden, falls die Person passende Motive für die Entscheidung hat. Die Beurteilung des Zufalls 51 Keil unterscheidet terminologisch auch zwischen intentionaler oder „subjektiver“ und kausaler oder „objektiver“ Zurechnung (2013: 116).
Kapitel 11: Scheinprobleme
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einwandes gegen den Inkompatibilismus hängt somit davon ab, welchen Begriff der Zurechenbarkeit man bevorzugt: entweder einen, der Indeterminiertheit zulässt (rationale Zurechenbarkeit), oder einen, der Indeterminiertheit ausschließt (kausale Zurechenbarkeit). Wir haben wieder einen verbalen Disput vor uns. In diesem Kapitel habe ich erläutert, was ich unter einem metaphysischen Scheinproblem verstehe: einen Streit um Worte, der verschwindet, wenn man sich klargemacht hat, dass bestimmte Begriffe unterschiedlich verwendet werden können. Auf den ersten Blick scheint dies eine allzu triviale Feststellung zu sein – ein Eindruck, der durch wenig anspruchsvolle Beispiele wie das der amerikanischen oder britischen Gallone noch verstärkt wird. Aus diesem Grund habe ich mich etwas ausführlicher mit dem Problem der Willensfreiheit beschäftigt, das viele für ein echtes metaphysisches Problem halten. Der Unterschied zu trivialen Disputen besteht vor allem darin, dass im Fall der Willensfreiheit eine verzweigte argumentative Auseinandersetzung stattfindet – und zwar bereits seit Jahrhunderten – und dass das Scheinproblem erst durch genaues Studium der Argumente und ihrer Voraussetzungen erkennbar wird. Wie ich gezeigt habe, haben wir es sogar mit mehr als einem verbalen Disput zu tun, weil auch im Konsequenzargument und im Zufallseinwand begriffliche Zweideutigkeiten vorhanden sind. Ich wende mich nun Scheinproblemen in der Philosophie der Zeit zu, die hinsichtlich ihrer Komplexität dem Problem der Willensfreiheit wohl näherstehen als der Frage, ob vier Liter mehr oder weniger als eine Gallone sind.
Vierter Teil
Ontologie der Zeit Vierter Teil: Ontologie der Zeit
Kapitel 12
Persistenz Kapitel 12: Persistenz
Materielle Dinge existieren über einen mehr oder weniger langen Zeitraum – sie persistieren. Diese Persistenz lässt sich entweder als Enduranz oder als Perduranz verstehen.52 Nach endurantistischer Auffassung existiert zu einem Zeitpunkt das ganze Ding, weil dieses ein dreidimensionales Etwas ohne zeitliche Ausdehnung ist. Nach perdurantistischer Auffassung hingegen haben materielle Dinge neben den drei räumlichen auch eine zeitliche Dimension. Das Ding besitzt daher nicht nur räumliche Grenzen, sondern auch zeitliche: einen Anfang und ein Ende in der Zeit. In einer Zeitspanne, die zwischen diesen beiden zeitlichen Grenzen liegt, existiert nicht das ganze vierdimensionale Ding, sondern nur ein zeitlicher Abschnitt, ein Stadium desselben. Und zu einem Zeitpunkt innerhalb der Lebenspanne des Dinges, der als Punkt keine zeitliche Ausdehnung besitzt, existiert nur ein dreidimensionaler Querschnitt des vierdimensionalen Dinges. Auch die perdurantistische Auffassung erlaubt somit die Aussage, dass ein Ding „zu einem Zeitpunkt“ existiert, wenn man diese so deutet, dass sie sich auf einen solchen Querschnitt bezieht.53 Nach der endurantistischen Auffassung besteht die Persistenz eines Dinges darin, dass zu späteren Zeitpunkten dasselbe dreidimensionale Ding existiert, das schon früher existiert hat. Dies wirft unter anderem das Problem der zeitlichen Identität auf: Aufgrund welcher Eigenschaften ist das spätere Ding mit dem früheren Ding identisch? In der perdurantistischen Auffassung stellt sich dieses Problem ein wenig anders, weil die Identität „innerhalb“ des Dinges selbst liegt. Dass das zu einem bestimmten Zeitpunkt existierende Ding identisch ist mit dem zu einem späteren Zeitpunkt existierenden Ding, heißt nun, dass die beiden dreidimensionalen Querschnitte zum selben vierdimensionalen Ding gehören. Die entsprechende Identitätsfrage lässt sich so formulieren: Wie müssen die Querschnitte miteinander verbunden sein, damit man vom „selben“ Ding sprechen kann? Hat sich etwas – ein Naturding, ein Artefakt, ein Mensch oder was auch immer – innerhalb eines Zeitraums sehr stark verändert, so liegt nach endurantisti52 Eine umfassende Diskussion dieser Unterscheidung bieten die Beiträge in Haslanger/Kurtz (2006). 53 Das vierdimensionale Ding des Perdurantismus kann als Prozess betrachtet werden, weil Prozesse ebenfalls eine zeitliche Ausdehnung, einen zeitlichen Anfang und ein zeitliches Ende haben. Die meisten Alltagsdinge sind langsame Prozesse, weil sie sich nur langsam verändern.
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Vierter Teil: Ontologie der Zeit
scher wie nach perdurantistischer Auffassung die Vermutung nahe, dass es sich nicht mehr um dasselbe Ding handelt (wobei das „Ding“ eben je nach Auffassung entweder drei oder vier Dimensionen besitzt). Denken wir etwa an einen Tonklumpen, aus dem jemand eine Tierfigur formt. Der Klumpen scheint auf den ersten Blick nicht mit der Figur identisch zu sein. Zwischen dem Klumpen und der fertigen Figur liegt außerdem eine mehr oder weniger lange Periode des Übergangs, in der wir nicht mehr nur einen Tonklumpen vor uns haben, sondern bereits Konturen der späteren Tierfigur erkennen, ohne dass man bereits von einer Tierfigur sprechen könnte. Das Beispiel zeigt, dass die Lebensdauer eines Dinges oder – nach perdurantistischer Auffassung – das vierdimensionale Ding selbst keine deutlichen zeitlichen Grenzen besitzen muss. Das ist insofern nichts Ungewöhnliches, als Dinge auch keine scharfen räumlichen Grenzen haben. Bei Wolken ist dies offensichtlich, aber auch ein Festkörper wirft die Frage auf, welche Atome auf seiner Oberfläche noch zu ihm gehören. Solche Fragen kann man stellen, sie haben aber zumeist keine praktische Bedeutung. Auch die analoge Frage, wann genau ein Ding zu existieren beginnt und zu existieren aufhört, stellt sich in der Praxis selten. Eine wichtige Ausnahme sind Lebewesen, vor allem Menschen, denn es kann moralisch oder rechtlich von Belang sein, ab wann die Ansammlung von Zellen in der Gebärmutter ein „Mensch“ ist oder – am anderen Ende des menschlichen Lebens – in welchem Stadium des Sterbeprozesses aus der menschlichen Person eine Leiche, ein toter Körper wird. Die erwähnten Fälle lassen sich besser analysieren, wenn man zeitliche Identität als relative Identität versteht (Geach 1967). Das heißt, es geht gar nicht um die Beantwortung der Frage, ob x mit y identisch ist oder ob x dasselbe Ding wie y ist. Die Frage sollte vielmehr lauten, ob x dasselbe F wie y ist, wobei F eine Kategorie ist, die weniger allgemein ist als „Ding“ – zum Beispiel „Mensch“, „Person“, „Tonklumpen“ oder „Tierfigur“. Die Tierfigur ist derselbe Tonklumpen wie zuvor, auch wenn dieser inzwischen in die Form eines Tieres gebracht wurde. Die Leiche ist derselbe Mensch wie die Person, die zuvor am Leben war, jedoch nicht mehr dieselbe Person, weil eine Leiche ein toter Mensch und keine Person mehr ist. Ob ein menschlicher Embryo derselbe Mensch ist wie der spätere Erwachsene, hängt vor allem davon ab, ob der Embryo ein Mensch ist. Ebenso hängt die Frage der Identität der Person davon ab, ob man den Embryo als Person betrachten will. Viele würden diese beiden Fragen wohl so beantworten: Der Embryo ist derselbe Mensch, aber nicht dieselbe Person wie der spätere Erwachsene, weil der Embryo zwar ein Mensch, aber keine Person ist. Diese Analysen zeigen, dass der Begriff der relativen Identität zur Klärung zeitlicher Identitätsprobleme beitragen kann. Die Unschärfe der zeitlichen Grenzen kann allerdings auch er nicht beseitigen. Selbst wenn wir zeitliche Identität als relative Identität verstehen, gibt es keine Antwort auf die Frage, wann genau der Tonklumpen zu einer Tierfigur, eine Ansammlung menschlicher Zellen zu ei-
Kapitel 12: Persistenz
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nem Menschen oder ein Mensch zu einem toten Menschen wird. Selbstverständlich ist es in jedem dieser Fälle möglich, eine Grenze einfach festzusetzen, etwa für rechtliche Zwecke. Dabei muss man sich aber darüber im Klaren sein, dass es sich um eine Konvention handelt, die manche für unpassend halten werden, weil sie den unscharfen Ausgangsbegriff, aus welchen Gründen auch immer, lieber anders präzisieren würden. Wir brauchen die bisher angesprochenen Themen nicht weiter zu vertiefen, denn für uns ist vor allem der Umstand wichtig, dass Endurantismus und Perdurantismus insgesamt vor vergleichbaren Problemen stehen. Keine der beiden Auffassungen scheint einen Vorteil zu bieten, wenn es um die zeitliche Identität oder die Unschärfe der zeitlichen Grenzen geht. Legt zum Beispiel der Endurantismus fest, unter welchen Bedingungen ein Ding zu einem Zeitpunkt mit einem Ding zu einem anderen Zeitpunkt identisch ist, so werden diese Bedingungen im Perdurantismus so gedeutet, dass zwei zeitliche Querschnitte zum selben Ding gehören. Eine konventionelle Festsetzung des Beginns der Lebensdauer eines Dinges bezieht sich in der endurantistischen Deutung auf den ersten Zeitpunkt, zu dem das dreidimensionale Ding existiert, und in der perdurantistischen Deutung auf eine zeitliche Grenze des vierdimensionalen Dinges. Verzichtet man auf eine solche Konvention, so gibt es nach endurantistischer Auffassung eine Zeitspanne, für die sich nicht eindeutig sagen lässt, ob das Ding – die Tierfigur, der Mensch – existiert. Und auch nach perdurantistischer Auffassung lässt sich dies nicht eindeutig sagen, weil nicht feststeht, ob in dieser Zeitspanne ein zeitlicher Abschnitt des Dinges existiert.54 Bei der Frage, ob Dinge wie Pflanzen, Menschen und Tonklumpen durch den Endurantismus oder den Perdurantismus besser beschrieben werden, geht es unter anderem auch um die Frage, was Veränderung eigentlich ist. Nach endurantistischer Auffassung verändert sich ein Ding dadurch, dass es im Lauf der Zeit verschiedene Eigenschaften annimmt. Die Kerze ist zunächst gerade und wird später 54 Wie die zeitliche Identität kann übrigens auch die modale Identität – die Identität von Dingen in verschiedenen möglichen Welten – endurantistisch oder perdurantistisch verstanden werden. Die Aussage, dass ein Ding in der realen Welt mit einem Ding in einer möglichen Welt identisch ist, muss sich auf irgendeine Zeit beziehen, wenn man den Endurantismus voraussetzt. Im Perdurantismus hingegen betrifft diese Aussage die Identität des vierdimensionalen Dinges in der realen Welt mit dem vierdimensionalen Ding in der möglichen Welt. Beide Interpretationen stehen wieder vor ähnlichen Problemen, wobei das wohl bekannteste von Roderick Chisholm (1967) stammt und auf der Überlegung beruht, dass sich das Ding in der möglichen Welt bis zur Unkenntlichkeit vom realen Ding unterscheiden kann. Beide Interpretationen stehen auch demselben Gegner gegenüber, der „Counterpart“-Theorie von David Lewis (1986), nach der das Ding in der möglichen Welt gar nicht mit dem Ding in der realen Welt identisch, sondern ein Gegenstück (counterpart) desselben ist. Die Auffassung von Lewis scheint ebenfalls sowohl mit dem Endurantismus als auch mit dem Perdurantismus vereinbar zu sein, das heißt, das reale Ding und sein Gegenstück in der möglichen Welt können dreidimensional oder vierdimensional sein.
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Vierter Teil: Ontologie der Zeit
durch die Wärme der Flamme krumm. Hier stellt sich das folgende Problem: Die gerade Kerze ist identisch mit der krummen Kerze, daher scheint die Kerze zwei unvereinbare Eigenschaften zu haben. Mark Hinchliff drückt dies so aus: „There can be two candles with incompatible shapes; but if the straight candle persists, it is the bent candle. So there is only one candle with incompatible shapes, which is impossible.“ (1996: 119) Die Lösung dieses Problems ist allerdings sehr einfach, ohne dass man dafür den Endurantismus aufgeben müsste. Der erwähnte Widerspruch tritt nur auf, wenn man annimmt, dass das Prinzip der Ununterscheidbarkeit des Identischen auch für die zeitliche Identität gilt. Gemeint ist der folgende Grundsatz: Wenn x mit y identisch ist, dann haben x und y genau dieselben Eigenschaften. Angewandt auf unsere Kerze: Wenn die gerade Kerze mit der krummen Kerze identisch ist, dann ist die Kerze sowohl gerade als auch krumm. Es besteht jedoch kein Grund zur Annahme, dass das Identitätsprinzip auch für die zeitliche Identität gilt. Eben das scheint sogar der wichtigste Unterschied zwischen der zeitlichen (diachronen) Identität und der Identität zu einem Zeitpunkt (der synchronen Identität) zu sein.55 Halten wir also fest, dass die endurantistische Beschreibung der Veränderung, wonach ein und dasselbe Ding nacheinander verschiedene Eigenschaften annimmt, keinen Widerspruch impliziert, weil das Identitätsprinzip für die zeitliche Identität nicht gilt. Wenden wir uns nun einem Argument gegen die perdurantistische Deutung der Veränderung zu. Nach perdurantistischer Auffassung verändert sich das Ding selbst überhaupt nicht, denn ein vierdimensionales Ding ist einfach das, was es ist. Genauer gesagt findet „Veränderung“ entlang seiner zeitlichen Dimension statt, also wieder „innerhalb“ des Dinges: Der frühere zeitliche Teil der Kerze ist gerade, der spätere zeitliche Teil ist krumm. Dass die Kerze die Eigenschaft Gerade und die Eigenschaft Krumm zu verschiedenen Zeiten besitzt, wurde von Perdurantisten oft so verstanden, dass man der Kerze in Wahrheit gar keine Eigenschaften zuschreibt, sondern Relationen zu Zeitpunkten: Die Kerze ist gerade-zu-t und krumm-zu-t´. Kritiker des Perdurantismus weisen daher gerne darauf hin, dass Eigenschaften wie Gerade und Krumm keine Relationen sind: „If we know what shape is, we know that it is a property, not a relation.“ (Lewis 1986: 204) „The relational theory thus denies our intuition that the shapes are properties.“ (Hinchliff 1996: 121) David Lewis und Mark Hinchliff, von denen diese beiden Zitate stammen, haben wohl recht: Die Form der Kerze ist selbst keine Relation zwischen der Kerze 55 Da das Prinzip der Ununterscheidbarkeit des Identischen im strengen Sinn nur für die synchrone Identität gilt, scheint es trivial zu sein. Große praktische Bedeutung hat jedoch die Umkehrung des Satzes: Wenn x eine Eigenschaft hat, die y nicht hat, nicht haben kann oder die ich an y nicht erwarte, dann schließe ich daraus auf die (synchrone) Nichtidentität von x und y.
Kapitel 12: Persistenz
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und einem Zeitpunkt. Wir können dieselbe Eigenschaft, die wir unserer Kerze zum Zeitpunkt t zuschreiben, dieser Kerze auch zum Zeitpunkt t´ zuschreiben, was dagegen spricht, dass diese Eigenschaft eine Relation zwischen der Kerze und dem Zeitpunkt t oder t´ ist. Denn die Kerze hat zu anderen Zeitpunkten als t nicht die Eigenschaft Gerade-zu-t. Die perdurantistische Deutung der Veränderung ist durch diesen Einwand jedoch noch lange nicht erledigt, denn der Fehler liegt nicht im Perdurantismus selbst, sondern in der Zusatzbehauptung, dass Eigenschaften Relationen zu Zeitpunkten sind. Der Perdurantismus sollte auf dieser relationalen Deutung von Eigenschaften nicht beharren. Die Relativierung auf Zeitpunkte erfolgt nämlich nicht bei der Eigenschaft selbst, sondern beim Ding, dem die Eigenschaft zugeschrieben wird. Betrachten wir dazu wieder unsere Kerze: Zum Zeitpunkt t stelle ich fest, dass sie gerade ist. Durch die Aussage „Die Kerze ist gerade“ schreibe ich nicht der Kerze die Eigenschaft Gerade-zu-t zu, sondern der Kerze-zu-t die Eigenschaft Gerade. Der Kontext meiner Aussage legt fest, dass ich mich auf die Kerze zum Zeitpunkt t beziehe, also auf einen zeitlichen Querschnitt (oder ein kurzes Stadium) des ganzen vierdimensionalen Dinges, das die Kerze nach perdurantistischer Auffassung ist. Die perdurantistische Deutung der Veränderung sollte daher nicht so verstanden werden, dass das Ding verschiedene Eigenschaften hat, die jeweils Relationen zu verschiedenen Zeitpunkten sind. Vielmehr haben verschiedene zeitliche Querschnitte (oder Stadien) des Dinges verschiedene Eigenschaften, die selbst nicht relational sind. Gegen diese Lösung des Problems wurde unter anderem vorgebracht, echte Veränderung bestehe darin, dass ein und dasselbe Ding seine Eigenschaften wechselt: „Change requires one and the same changing thing to have both the incompatible properties concerned.“ (Mellor 1981: 111.) Hinchliff, der diese Aussage von D.H. Mellor ebenfalls zitiert (1996: 121), verwendet in diesem Zusammenhang mehrmals das Wort „Intuition“ – eine passende Bezeichnung, weil philosophische Intuitionen keine absolute Gültigkeit besitzen und verworfen werden können, wenn eine Alternative zur Verfügung steht. Im Fall der „Intuition“ bezüglich des Wesens der Veränderung, die in dem Zitat von Mellor zum Ausdruck kommt, gibt es eine solche Alternative. Es ist zwar richtig, dass sich ein vierdimensionales Ding nicht verändert, wenn mit „Veränderung“ gemeint ist, dass die Eigenschaften ein und desselben Dinges wechseln. Doch wir können „Veränderung“ auch so verstehen, dass sie sich innerhalb des Dinges, entlang seiner zeitlichen Dimension vollzieht. Die Veränderung eines vierdimensionalen Dinges besteht dann einfach darin, dass seine zeitlichen Querschnitte oder Stadien verschiedene Eigenschaften haben. Kritiker wenden hier manchmal ein, dieser perdurantistische Begriff der Veränderung bringe keine „echte“ oder „reale“ Veränderung zum Ausdruck. Aber es ist unklar, was mit diesen Wörtern gemeint ist. Ein Perdurantist könnte auf
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Vierter Teil: Ontologie der Zeit
den Einwand antworten, dass perdurantistische Veränderung ebenfalls „echt“ ist und ebenfalls einen „realen“ Unterschied betrifft – unter anderem deshalb, weil sich nicht jedes Ding im perdurantistischen Sinn verändert. (Zumindest sind Dinge denkbar, die sich nicht so verändern.) Eine Kerze, die nicht brennt und sich deshalb nicht verformt, verändert sich beispielsweise nicht im perdurantistischen Sinn (wenn man nur leicht erkennbare Veränderungen zählt). Es gibt also auch im Perdurantismus einen „realen“ Unterschied zwischen Veränderung und Nichtveränderung. Hinchliff zufolge bestreitet der Perdurantismus „our intuition that the candle itself must have the shapes, and in effect denies that there is such a form of change as alteration, admitting only the generation and destruction of temporal parts.“ (1996: 120) Richtig daran ist, dass der Perdurantismus Veränderung nicht als „alteration“, als Wechsel der Eigenschaften ein und desselben Dinges auffasst. Man muss dem Zitat jedoch hinzufügen, dass nicht jede „generation and destruction of temporal parts“ eine Veränderung ist. Das ist nur dann der Fall, wenn die zeitlichen Teile auch verschiedene Eigenschaften haben.56 Es ist nun Zeit für ein Zwischenfazit: Wie wir festgestellt haben, lassen sich Fragen und Behauptungen über die zeitliche Identität von Dingen und über den Beginn und das Ende ihrer Existenz sowohl in der Sprache des Endurantismus als auch in der des Perdurantismus formulieren. Auch die Veränderung von Dingen lässt sich endurantistisch oder perdurantistisch beschreiben. Letztlich scheint es nur darauf anzukommen, was man unter „Ding“ und „Veränderung“ versteht. Der Streit zwischen Endurantismus und Perdurantismus ist daher wohl wieder nur ein verbaler Disput. Wie bei der im vorigen Kapitel erwähnten „Gallone“, die eine amerikanische oder eine britische Maßeinheit sein kann, oder wie bei der Willensfreiheit, die sich kompatibilistisch oder inkompatibilistisch definieren lässt, gibt es zwei verschiedene Interpretationen, die jeweils in sich schlüssig sind. In bestimmten Zusammenhängen kann zwar eine der beiden Interpretationen von „Ding“ praktische Vorzüge besitzen oder sich leichter in die Theorieumgebung einfügen lassen, aber daraus braucht man nicht unbedingt metaphysische Schlüsse zu ziehen. Denken wir an die Uhren der Speziellen Relativitätstheorie (Kapitel 6): Es ist zwar elegant, die Weltlinie einer Uhr als vierdimensionales Etwas zu betrachten, weil es keinen absoluten Raum gibt, in dem eine dreidimensionale Uhr liegen könnte. Doch es ist auch nicht unmöglich, die Weltlinie als den Weg einer 56 Zur Verteidigung von Hinchliff sei angemerkt, dass er selbst darauf hinweist, dass philosophische Intuitionen nicht infallibel sind (1996: 132, Fußnote 7), was sicherlich auch für Intuitionen über die Natur der Veränderung gilt. Erinnern wir uns außerdem an die im ersten Kapitel angesprochene Intuition McTaggarts, dass Veränderung Zeitvergehen impliziert. Auch ohne Zeitvergehen – das heißt in der statischen Zeitauffassung – gibt es einen sinnvollen Begriff der Veränderung, der sich auf die Tatsache bezieht, dass sich die Dinge zu verschiedenen Zeiten voneinander unterscheiden. Es gibt also „Veränderung“ mit oder ohne Zeitvergehen.
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solchen dreidimensionalen Uhr durch die vierdimensionale Raumzeit aufzufassen. Zu jedem Zeitpunkt existiert nach dieser Interpretation die ganze dreidimensionale Uhr, nur existiert sie nicht in einem absoluten Raum, und der „Zeitpunkt“ selbst gehört nicht zu einer absoluten Zeit, sondern zur Eigenzeit der Uhr.57 Ein Grund, warum der Streit zwischen Endurantismus und Perdurantismus selten als verbaler Disput erkannt wird, dürfte darin bestehen, dass man die Frage der zeitlichen Identität von Dingen unter essentialistischen Gesichtspunkten betrachtet und annimmt, dass nur eine der beiden Theorien das „Wesen“ des persistierenden Dinges erfassen kann. Wenn man herausfinden will, was es heißt, dass x zu einem Zeitpunkt mit y zu einem späteren Zeitpunkt identisch ist, so kann man leicht auf den Gedanken verfallen, dass es etwas geben muss, das x zukommt und y zukommt und für die Identität von x und y logisch hinreichend und notwendig ist. Dieses Etwas wäre das Wesen von x bzw. y – die Haecceitas („Diesheit“), wie die traditionelle, aus dem Mittelalter stammende Bezeichnung dafür lautet. Diese Haecceitas müsste eine Eigenschaft oder Menge von Eigenschaften sein, die x und y notwendigerweise zukommt und nicht auch einem anderen, von x und y verschiedenen Ding zukommen könnte. Es ist unwahrscheinlich, dass sich eine solche Eigenschaft oder Eigenschaftsmenge immer finden lässt. Als Reaktion auf die vergebliche Suche nach ihr könnte man zwar die Annahme aufgeben, dass die Haecceitas eine Eigenschaft oder Eigenschaftsmenge ist, die man begrifflich erfassen kann, und sie zu einem unbeschreibbaren Etwas erklären – für manche mag sogar gerade darin der Reiz der Haecceitas liegen. Doch dieser Ausweg ist ein Akt der Verzweiflung, der sich gegen die Konzeption selbst richtet: Die Unbeschreibbarkeit der Haecceitas wäre ein guter Grund an ihrer Existenz zu zweifeln.58
57 Die Zweideutigkeit des Dingbegriffs findet man nicht nur bei gewöhnlichen Dingen wie Uhren, die nach der einen Sichtweise drei und nach der anderen vier Dimensionen haben, sondern auch bei den seltsamen Objekten der Stringtheorie. Strings sind eindimensionale Objekte (Linien), die sich durch die Raumzeit bewegen (Witten 1996). Abgesehen davon, dass das „Ding“ jetzt nicht mehr drei, sondern nur noch eine Dimension besitzt, ist dies eine endurantistische Auffassung. Die entsprechende Variante des Perdurantismus wird jedoch ebenfalls vertreten: „the string is a true 2-dimensional object, not an ,endur ing‘ 1-dimensional one – a curve of constant σ no more tracks a stringy point over time than a curve of constant Xi represents the history of a spatial point in spacetime.“ (Huggett/ Vistarini/Wüthrich 2013: 253) (In diesem Zitat steht σ für die räumliche Koordinate eines Punktes auf dem String und Xi für die drei Koordinaten eines Raumpunktes.) Wie bei dreibzw. vierdimensionalen Objekten sind also auch bei Strings beide Deutungen möglich. 58 Wenn von der Unbeschreibbarkeit der Haecceitas die Rede ist, so ist mit „Beschreibung“ nicht eine jener nichtssagenden Formulierungen gemeint, die in diesem Zusammenhang gerne verwendet werden. In einer derart banalen Weise wäre die Haecceitas von x zwar beschreibbar, doch es ist nicht sonderlich informativ, wenn wir erfahren, sie sei „die Eigenschaft, mit x identisch zu sein“ oder „das x-Sein von x“.
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Vierter Teil: Ontologie der Zeit
Überzeugender ist es, die Haecceitas und damit die essentialistische Betrachtung der zeitlichen Identität ganz einfach fallenzulassen. Einzeldinge haben kein Wesen, jedenfalls keines, mit dem man aus metaphysischer Sicht zufrieden sein könnte. Es gibt lediglich Merkmale, anhand derer wir ein Ding in der Praxis identifizieren. Solche Identitätskriterien sind eine Art epistemisches Gegenstück zur metaphysischen Haecceitas. Meine Armbanduhr besitzt einige Merkmale, anhand derer ich sie von anderen Uhren desselben Typs unterscheiden kann, unter anderem eine deutlich erkennbare Kratzspur auf der Lünette. Es gibt wohl keine zweite Uhr desselben Typs, die genau die gleiche Beschädigung aufweist, und vermutlich wird die Kratzspur auch noch in einigen Jahren vorhanden sein. Die Existenz einer Uhr, die von meiner völlig ununterscheidbar ist, ist zwar eine logische Möglichkeit, und vielleicht wird der Kratzer eines Tages auch wieder verschwinden, wenn die Uhr restauriert werden sollte, weshalb hier eben nicht von einer Haecceitas im metaphysischen Sinn die Rede sein kann. Doch solche Denkmöglichkeiten ändern nichts daran, dass die Identitätsmerkmale praktisch wie eine Haecceitas funktionieren, weil sie in epistemischer Hinsicht das „Wesen“ meiner Uhr ausmachen. Epistemische Identitätskriterien sind fest in unserem Denken, Sprechen und Handeln verankert, denn wir sind im täglichen Leben darauf angewiesen, Dinge anhand solcher Kriterien wiederzuerkennen. Das hat noch nichts mit Metaphysik zu tun; wir sprechen nicht von einem „Wesen“ im metaphysischen Sinn. Dennoch sind auch epistemische Identitätskriterien für die Auseinandersetzung zwischen Endurantismus und Perdurantismus relevant, denn einerseits scheinen sie eine endurantistische Sichtweise nahezulegen: Die Uhr an meinem Handgelenk erfüllt die Identitätskriterien meiner Uhr, was dafür spricht, dass sie meine Uhr ist und nicht bloß ein zeitlicher Abschnitt meiner Uhr. Andererseits stützt das Versagen epistemischer Identitätskriterien eine perdurantistische Sichtweise der Uhr, weil es zeigt, dass diese Kriterien nur mehr oder weniger zuverlässige Anhaltspunkte sind, die für die Identität der Uhr weder hinreichend noch notwendig sind. Nach einer Restauration wird meine Uhr die Merkmale, anhand derer ich sie jetzt von anderen Uhren unterscheiden kann, nicht mehr besitzen. Es wird die Gefahr der Verwechslung mit anderen Uhren bestehen, dennoch wird es sich noch immer um dieselbe Uhr handeln. Die Tatsache, dass epistemische Identitätskriterien hier nicht anwendbar sind, kann der Perdurantismus so deuten, dass die Uhr selbst ein kontinuierliches vierdimensionales Ding ist, dessen Identität weder auf einer Haecceitas noch auf dem Besitz irgendwelcher Identitätsmerkmale beruht. Somit lassen sich epistemische Identitätskriterien zur Unterstützung beider Positionen heranziehen: Die Verwendung solcher Kriterien stützt den Endurantismus, während ihr gelegentliches Versagen für den Perdurantismus spricht. Ein notwendiger Zusammenhang besteht jedoch in keinem der beiden Fälle. So
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ist der Umstand, dass wir Dinge normalerweise anhand von Identitätskriterien identifizieren, auch mit dem Perdurantismus vereinbar. Dabei erkennen wir nach perdurantistischer Deutung nicht, dass x und y dasselbe Ding sind, sondern dass sie als zeitliche Teile zum selben Ding gehören. Und auch der Endurantismus kann mit Fällen umgehen, in denen die Identität besteht, ohne dass die jeweiligen Identitätsmerkmale vorhanden sind. Die restaurierte Uhr kann auch nach endurantistischer Auffassung mit meiner Uhr identisch sein, obwohl sie nicht mehr deren charakteristische Merkmale besitzt (da der Kratzer wegpoliert wurde). Die Identität besteht hier einfach in einem kontinuierlichen raumzeitlichen Zusammenhang: Zwischen der alten und der restaurierten Uhr liegen unendlich viele Zeitpunkte, an denen ebenfalls eine Uhr existiert, und die Abfolge dieser jeweils zu einem Zeitpunkt existierenden Uhren bildet ein raumzeitliches Kontinuum.
Kapitel 13
Präsentismus und Eternalismus Kapitel 13: Präsentismus und Eternalismus
Unter Präsentismus versteht man die Auffassung, dass nur Gegenwärtiges existiert: Alle existierenden Dinge und Ereignisse existieren in der Gegenwart. Im Gegensatz dazu besagt der Eternalismus, dass nicht nur gegenwärtige, sondern auch vergangene und zukünftige Dinge und Ereignisse existieren.59 Diese Unterscheidung darf nicht mit der ähnlichen Unterscheidung zwischen der dynamischen und der statischen Zeitauffassung verwechselt werden (Kapitel 1). Während Präsentismus und Eternalismus die Frage betreffen, was existiert – und damit indirekt auch, was mit „Existenz“ gemeint ist –, geht es bei der anderen Unterscheidung darum, ob die Zeit vergeht. Es wäre allerdings eigenartig, wenn man zwar den Präsentismus akzeptieren, zugleich aber bestreiten würde, dass die Zeit vergeht. Vielleicht weist das im ersten Kapitel erwähnte „stehende Jetzt“ von Boethius und Thomas von Aquin in diese Richtung, doch das wäre nur ein Beleg dafür, dass dieser Begriff problematisch ist. Das „stehende Jetzt“ ist eigentlich keine Gegenwart, kein Stück der Zeit, sondern die zeitlose Ewigkeit. Wir dürfen daher ruhigen Gewissens annehmen, dass der Präsentismus eine dynamische Zeitauffassung voraussetzt. Andererseits kann man jedoch durchaus der Meinung sein, dass die Zeit vergeht, ohne zu glauben, dass nur Gegenwärtiges existiert. Die dynamische Zeitauffassung ist also auch mit dem Eternalismus vereinbar. Wenn man den Eternalismus vertritt, ist es freilich verlockend, aus der Existenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft den Schluss zu ziehen, dass die Zeit nicht vergeht, und so den Eternalismus mit der statischen Zeitauffassung zu kombinieren. Denn als Eternalist kann man das Vergehen der Zeit nicht so verstehen, dass aus noch nicht existierender Zukunft existierende Gegenwart und aus existierender Gegenwart nicht mehr existierende Vergangenheit wird. Man müsste das Zeitvergehen anders deuten. Dieses Problem erübrigt sich, wenn man die dynamische Zeitauffassung ganz aufgibt. Zu klären ist außerdem, wie sich die Präsentismus/Eternalismus-Unterscheidung zu der im vorigen Kapitel besprochenen Unterscheidung zwischen Endurantismus und Perdurantismus verhält. Gelegentlich wird nämlich behauptet, dass einerseits Präsentismus und Endurantismus und andererseits Eternalismus 59 Die Raumzeit aus Sicht des Eternalismus wird oft als „Blockuniversum“ bezeichnet (siehe zum Beispiel Esfeld 2008: 51).
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Vierter Teil: Ontologie der Zeit
und Perdurantismus notwendigerweise zusammengehören (Dorato 2012). Eine entscheidende Rolle spielen dabei Argumente, die zeigen sollen, dass der Präsentismus nicht mit dem Perdurantismus und der Eternalismus nicht mit dem Endurantismus vereinbar ist (Merricks 1995). Das wohl wichtigste Argument dafür, dass der Präsentismus nicht mit dem Perdurantismus vereinbar ist, beruht auf der Prämisse, dass die zeitlichen Teile eines Dinges, die in der Vergangenheit oder Zukunft liegen, laut Präsentismus nicht existieren. Dies wirft die Frage auf, wie etwas aus nichtexistierenden Teilen bestehen kann. Ein Tisch besteht aus einer Platte und einer Anzahl von Beinen. Wenn eines dieser Beine nicht existiert, so kann dieses auch kein Teil des Tisches sein. Metaphorische Verwendungsweisen des Wortes „Teil“ müssen hier selbstverständlich ausgeklammert werden. Eine verstorbene Person kann insofern noch ein „Teil“ der Familie sein, als die anderen Familienmitglieder sie vermissen und an sie denken. Aber hier dient das Wort „Teil“ offenbar dazu, etwas anderes auszudrücken als das Verhältnis zwischen Teil und Ganzem. In Wirklichkeit ist die Familie kleiner als vorher, weil die verstorbene Person nicht mehr zu ihr gehört. Im eigentlichen Sinn des Wortes ist diese kein Teil der Familie mehr. Es sieht so aus, als könnte ein Ganzes nur dann nichtexistierende Teile haben, wenn auch das Ganze selbst nicht existiert. Ein Einhorn beispielsweise besteht aus einem Pferd und einem Horn. Ein existierendes Pferd würde zusammen mit einem nichtexistierenden Horn ein nichtexistierendes Einhorn ergeben, das somit einen existierenden und einen nichtexistierenden Teil hätte. Diese Überlegung könnte man auch auf perdurierende Dinge übertragen: Der in der Gegenwart liegende zeitliche Teil eines solchen Dinges existiert, alle anderen zeitlichen Teile existieren nicht und auch das ganze vierdimensionale Ding existiert nicht. Die Kombination aus Präsentismus und Perdurantismus führt somit zu dem Schluss, dass keine ganzen perdurierenden Dinge existieren. Dies ist zwar ein Argument gegen die Kombination von Präsentismus und Perdurantismus, denn eine Theorie über Dinge, die impliziert, dass Dinge gar nicht existieren, ist zweifellos ungewöhnlich. Aber es ist nur ein schwaches Argument, weil im Perdurantismus der Begriff der Existenz eines Dinges auch so definiert werden kann, dass dieser zum Präsentismus passt. Dass ein perdurierendes Ding „existiert“, kann man nämlich auch so verstehen, dass irgendein zeitlicher Teil des Dinges existiert: „A perduring object […] exists at different times derivatively – it does so by having parts at those times.“ (Merricks 1994: 167) Der Präsentismus fügt dieser Definition hinzu, dass mit Existenz gegenwärtiges Existieren gemeint ist. Nimmt man diese begriffliche Anpassung vor, so ist der Präsentismus sicherlich mit dem Perdurantismus vereinbar. Nun zum Eternalismus. Das wichtigste Argument dafür, dass dieser nicht mit dem Endurantismus vereinbar ist, kennen wir bereits aus dem vorigen Kapitel: Veränderung im endurantistischen Sinn heißt, dass ein Ding zu verschiedenen
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Zeiten verschiedene Eigenschaften hat. Wenn x das Ding zu einem früheren und y dasselbe Ding zu einem späteren Zeitpunkt ist und wenn x die Eigenschaft F hat und y die Eigenschaft F nicht hat, so scheint daraus ein Widerspruch zu folgen: x bzw. y hat die Eigenschaft F und hat diese Eigenschaft nicht. Ich habe jedoch darauf hingewiesen, dass man diese widersprüchliche Schlussfolgerung nicht ziehen darf, weil das Prinzip der Ununterscheidbarkeit des Identischen für die zeitliche Identität nicht allgemein gültig ist. Ein Widerspruch würde nur auftreten, wenn das Ding die Eigenschaft zum selben Zeitpunkt hätte und nicht hätte. Jetzt geht es allerdings nicht mehr um die innere Konsistenz des Endurantismus selbst, sondern um dessen Vereinbarkeit mit dem Eternalismus. Trenton Merricks behauptet, dass uns in diesem Fall der erwähnte Ausweg nicht mehr zur Verfügung steht. Setzt man den Eternalismus voraus (den Merricks übrigens „Indexikalismus“ nennt), so folgt seiner Ansicht nach aus dem Endurantismus, dass ein und dasselbe Objekt die Eigenschaft F besitzt und nicht besitzt (Merricks 1995: 526 f.). Unter Voraussetzung des Eternalismus wäre der Endurantismus somit inkonsistent. Das Argument von Merricks steht allerdings auf tönernen Füßen, denn er begründet es lediglich damit, dass Eigenschaften keinen Bezug zu Zeiten aufweisen: „If properties are relations to times, or time-indexed, nothing contradictory is forced upon the endurantist. But, it seems that, for example, an object’s shape (its being bent) is neither a relation to a time, nor a time-indexed property […]. It would be nice to solve the problem without doing violence to our intuitions about apparently intrinsic features of an object, such as its shape.“ (Merricks 1994: 168; siehe auch 1995: 528) Es ist nachvollziehbar, wenn Merricks meint, dass Eigenschaften wie die Form eines Objekts keinen Zeitindex aufweisen. Im vorigen Kapitel habe ich jedoch ebenfalls erläutert, dass man die Relativierung auf Zeitpunkte auch anderes betrachten kann, nämlich so, dass diese nicht bei den Eigenschaften der Dinge, sondern bei den Dingen selbst ansetzt. Statt zu sagen, dass eine Kerze die Eigenschaft Gerade-zu-t besitzt, können wir auch sagen, dass die Kerze-zu-t die Eigenschaft Gerade besitzt. Selbstverständlich ist für den Endurantismus die gerade Kerze-zu-t identisch mit der Kerze zu einem anderen Zeitpunkt, an dem sie nicht mehr gerade, sondern krumm ist. Aber wieder ergibt sich daraus nur dann ein Widerspruch, wenn man das Prinzip der Ununterscheidbarkeit des Identischen voraussetzt. Ohne dieses Prinzip können wir nicht darauf schließen, dass dieselbe Kerze gerade und krumm ist. Wir dürfen somit Merricks’ Argumentation gegen die Vereinbarkeit von Eternalismus und Endurantismus zurückweisen.60 60 Merricks (1994) stellt das Prinzip der Ununterscheidbarkeit des Identischen nicht in Frage, er setzt es vielmehr an mehreren Stellen seines Aufsatzes voraus. Die beiden von mir diskutierten Unvereinbarkeitsargumente findet man in Merricks (1995). Sie sollten
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Es stimmt sicherlich, dass der Endurantismus sehr gut zum Präsentismus passt, und auch der Perdurantismus passt sehr gut zum Eternalismus. Die erste Kombination besagt, dass ein „Ding“ in der Gegenwart vollständig existiert, weil Dinge keine zeitliche Ausdehnung haben und Existenz – präsentistisch betrachtet – gegenwärtige Existenz ist. Die zweite Kombination besagt, dass ein „Ding“ zeitlich ausgedehnt ist und daher zu einem Zeitpunkt nur ein Teil des Dinges existiert, welches als Ganzes im eternalistischen Sinn existiert. Es gibt jedoch weder einen notwendigen Zusammenhang zwischen Endurantismus und Präsentismus noch einen zwischen Perdurantismus und Eternalismus. Das Ergebnis des vorigen Kapitels – dass die Auseinandersetzung zwischen Endurantismus und Perdurantismus ein Scheinproblem ist – lässt sich daher nicht unmittelbar auf die andere Unterscheidung übertragen. Das heißt, es könnte durchaus sein, dass die Auseinandersetzung zwischen Präsentismus und Eternalismus mehr ist als ein verbaler Disput. Wir werden jedoch gleich sehen, dass dem nicht so ist. Auch „Präsentismus oder Eternalismus?“ ist ein Scheinproblem im Sinne von Kapitel 11. Zunächst ist festzuhalten, dass man den Präsentismus und den Eternalismus sehr leicht so formulieren kann, dass der Disput zu einem Scheinproblem wird. Diese Formulierung wäre zwar tendenziös, aber es ist dennoch lehrreich, sich damit kurz auseinanderzusetzen. Zu diesem Zweck erinnere ich an die im ersten Kapitel getroffene Unterscheidung zwischen Existenz im temporalen und im atemporalen Sinn. Der Präsentismus behauptet, dass nur Gegenwärtiges existiert, während der Eternalismus behauptet, dass Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges existiert. Würde man das erste „existiert“ im temporalen Sinn verstehen und das zweite im atemporalen, so wäre die Debatte beendet, bevor sie überhaupt begonnen hat, denn beide Parteien hätten recht. Nur Gegenwärtiges existiert, wenn „existieren“ gegenwärtiges Existieren bedeutet. Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges existiert hingegen, wenn atemporale Existenz gemeint ist. Präsentismus und Eternalismus sprechen nach dieser Interpretation nicht dieselbe Sprache. So wie das Wort „Gallone“ im Beispiel aus Kapitel 11 wird das Wort „existieren“ in zwei Bedeutungen verwendet. Der Konflikt ist daher ein Scheinkonflikt. Diese Auflösung des Problems wäre jedoch zu billig. Man kann daraus lediglich lernen, dass Präsentismus und Eternalismus das Wort „existieren“ im selben Sinn verwenden müssen, wenn sich die Auseinandersetzung um ein echtes Problem drehen soll. Und hier gibt es offenbar zwei Möglichkeiten: Zum einen könnte zeigen, dass die folgenden Implikationen gelten: „Präsentismus impliziert Nicht-Perdurantismus“ und „Eternalismus impliziert Nicht-Endurantismus“. Wenn wir zusätzlich annehmen, dass jeweils nur die Alternative „Präsentismus oder Eternalismus“ bzw. „Endurantismus oder Perdurantismus“ besteht, so würde aus den beiden Implikationen die Äquivalenz von Präsentismus und Endurantismus sowie von Eternalismus und Perdurantismus folgen. Ich habe dafür plädiert, dass bereits die beiden Implikationen unbegründet sind.
Kapitel 13: Präsentismus und Eternalismus
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das Wort „existieren“ von beiden Parteien im temporalen Sinn verwendet werden. Doch dies würde den Eternalismus sofort aus dem Rennen werfen. „Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges existiert“ hieße dann nämlich, dass Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges gegenwärtig existiert. Aber niemand würde behaupten wollen, dass Cäsar gegenwärtig existiert. Es bleibt daher nur die andere Möglichkeit übrig: Im Präsentismus und im Eternalismus muss „existieren“ in einem atemporalen Sinn verwendet werden. Dies allein garantiert jedoch noch nicht, dass „existieren“ im Präsentismus und im Eternalismus im selben Sinn verwendet wird. Auch der atemporale Sinn des Wortes könnte sich in zwei Bedeutungen aufspalten. Und tatsächlich führt die in Kapitel 9 erläuterte inferentialistische Theorie des Sinns zu diesem Ergebnis: Das Wort „existieren“ hat im Präsentismus und im Eternalismus nicht denselben Sinn, weil dessen inferentielle Rollen grundlegend verschieden sind. Insbesondere folgt nach präsentistischer Ansicht aus „x existiert“, dass x gegenwärtig ist, was in Brandoms Terminologie eine „Festlegung“ ist, die im Eternalismus nicht vorgenommen wird. Die inferentiellen Beziehungen, aus denen sich die inferentielle Rolle einer Aussage zusammensetzt, sind laut Brandom von dreierlei Art: Festlegungen (commitments), Berechtigungen (entitlements) und Inkompatibilitäten (incompatibilities) (Brandom 2001: 65).61 Wer als Präsentist behauptet, dass x existiert, legt sich damit auf die Behauptung fest, dass x gegenwärtig ist. Im Eternalismus hingegen ist dies nicht der Fall. Dafür gilt im Eternalismus unter anderem der Schluss von „x ist vergangen“ auf „x existiert“, während im Präsentismus die erste Behauptung die zweite ausschließt – eine Inkompatibilität. Diese Unterschiede in den inferentiellen Rollen können nicht als nebensächlich abgetan werden, denn sie sollen immerhin metaphysische Zusammenhänge zwischen Zeit und Existenz zum Ausdruck bringen. Es sind auch keine „Berechtigungen“, also keine Schlüsse, die man ziehen darf, aber nicht ziehen muss, sondern eben Festlegungen und Inkompatibilitäten. Der Unterschied im Begriffsgebrauch zwischen Präsentismus und Eternalismus lässt sich auch nicht dadurch wegerklären, dass die Kontrahenten darüber uneins wären, ob ein vergangenes Ding eine bestimmte Eigenschaft besitzt, aus der seine Existenz oder Nichtexistenz folgen würde. Das heißt, die Situation ist nicht vergleichbar mit dem folgenden Fall: Zwei Personen streiten sich darüber, ob Delfine Fische sind, wobei es eigentlich um die Frage geht, ob Delfine Säugetiere sind. Beide sind sich nämlich darin einig, dass Fische keine Säugetiere sind (eine Inkompatibilität), sie sind sich nur nicht dar61 Hinzu kommen „nichtinferentielle Spracheingangszüge im Bereich der Wahrnehmung und Sprachausgangszüge im Handeln“ (Brandom 2001: 44), die hier nicht von Belang sind.
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über einig, ob Delfine Säugetiere sind (eine Festlegung). Beim Disput zwischen Präsentismus und Eternalismus gibt es keine Eigenschaft, die der umstrittenen Eigenschaft, ein Säugetier zu sein, entsprechen würde. Der Disput dreht sich beispielsweise nicht um die Frage, ob vergangene Dinge eine Eigenschaft besitzen, die impliziert, dass diese Dinge nicht existieren. Es geht einfach nur darum, ob sie existieren oder nicht. Zusammenfassend gesagt: Wenn der Sinn eines Wortes sein Gebrauch ist, insbesondere sein inferentieller Gebrauch, dann ist der Streit zwischen Präsentismus und Eternalismus ein verbaler Disput, weil das Wort „existieren“ nicht im selben Sinn verwendet wird. Mauro Dorato hat daher völlig recht, wenn er die Auseinandersetzung zwischen Präsentismus und Eternalismus als philosophische Übertreibung einer pragmatischen Differenz deutet: „the presentist/eternalist debate originates from an illicit transformation of a pragmatic difference into an ontological gap. Therefore, we should say that sometimes we rely on the tensed sense of existence, and then we take a perspectival attitude toward it; at other times, for different, mostly scientific purposes, we rely on a tenseless sense of existence and we look at reality from ,nowhen‘, by counting as (tenselessly) existent any past, or present or future event.“ (2006: 106)62 Wer dies bestreiten möchte, müsste nachweisen, dass der Sinn des Wortes „existieren“ nicht oder nicht allein durch seinen Gebrauch bestimmt wird. Eine Möglichkeit, mit der wir uns im nächsten Kapitel befassen werden, besteht darin, auf den Referenzmagnetismus aus Kapitel 10 zurückzugreifen und mit diesem die These zu verknüpfen, dass Existenz eine natürliche Eigenschaft ist, auf die sich das Wort „existieren“ bezieht. Die zentrale Frage wird daher lauten, ob Existenz eine natürliche Eigenschaft ist. Daneben gibt es noch eine weitere Möglichkeit: Man könnte versuchen, eine explizite Definition des Wortes „existieren“ anzugeben, die als gemeinsame Basis für die Diskussion zwischen Präsentismus und Eternalismus dienen würde. In einer solchen Definition würde man „existieren“ durch einen oder mehrere andere Begriffe definieren. Auf die Frage der Definierbarkeit von Existenz werde ich in Kapitel 21 zu sprechen kommen, doch wer die lange, in die antike Philosophie zurückreichende Geschichte dieses Problems kennt, wird in eine explizite Definition von vornherein wenig Hoffnung setzen.63 62 Obwohl Dorato (2012) für einen notwendigen Zusammenhang zwischen Endurantismus und Präsentismus sowie zwischen Perdurantismus und Eternalismus argumentiert (was ich in diesem Kapitel bestritten habe), kommt er bezüglich beider Dispute zu einem ähnlichen Ergebnis wie ich: „Wie im Falle der Präsentismus/Eternalismus-Debatte kann man sowohl Perdurantist als auch Endurantist sein, je nachdem, welches Sprachsystem man bevorzugt.“ (2012: 25; das Zitat stammt aus der deutschen Zusammenfassung des Aufsatzes.) 63 Um einen bekannten neuzeitlichen Definitionsversuch zu erwähnen: George Berke ley vertrat einen recht verständlichen Existenzbegriff, der leider mit dem Idealismus be-
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Und noch ein dritter Ausweg steht zur Verfügung, der kurz besprochen werden muss, bevor wir uns der Frage zuwenden können, ob Existenz eine natürliche Eigenschaft ist. Manchmal wird der Begriff der unbeschränkten Quantifikation (unrestricted quantification) herangezogen, um zu gewährleisten, dass „existieren“ im Präsentismus und im Eternalismus im selben Sinn verwendet wird. Zur Erklärung: Wenn wir Wörter wie „existieren“ oder „es gibt“ verwenden, so tun wir dies normalerweise in einem eingeschränkten Sinn. Wir beziehen uns dabei jeweils auf einen bestimmten Gegenstandsbereich. Wir sprechen zum Beispiel über Pflanzen und stellen fest, dass es blaue Rosen gibt, die ihre Farbe durch Gentechnik bekommen haben; oder wir sprechen über natürliche Zahlen und sagen, dass manche von ihnen Primzahlen sind. Die Entsprechung zu „Pflanzen“ und „natürliche Zahlen“ wäre im Präsentismus „Gegenwart“. Das heißt, man könnte den Präsentismus so verstehen, dass dieser den Existenzquantor auf Gegenwärtiges beschränkt. Daraus würde wieder folgen, dass der Streit zwischen Präsentismus und Eternalismus ein verbaler Disput ist, weil natürlich der Eternalismus den Existenzquantor nicht in diesem eingeschränkten Sinn verwendet. Um diese Schlussfolgerung zu vermeiden, müsste man daher behaupten, dass beide Parteien den Existenzquantor im unbeschränkten Sinn verwenden, also auch der Präsentismus. So meint etwa Theodore Sider, dass Präsentisten den Existenzquantor im unbeschränkten Sinn verwenden, weil sie nicht „beabsichtigen“ (intend), ihre Auffassung zu einer trivialen Wahrheit zu machen (Sider 2006: 79). Die präsentistische These, dass nur Gegenwärtiges existiert, wäre ja trivialerweise wahr, wenn sich der Existenzquantor nur auf Gegenwärtiges beziehen würde. Die Antwort auf Sider muss lauten, dass hier die bloße Absicht nicht ausreicht. Denn in welchem Sinn Präsentisten und Eternalisten den Existenzquantor verwenden, hängt nicht von ihren Intentionen ab, sondern eben von der Verwendung. Der Sinn des Existenzquantors wäre zwar in beiden Theorien derselbe, wenn die inferentielle Rolle des Existenzquantors allein durch die Regeln der Quantorenlogik gegeben wäre, denn in rein logischer Hinsicht gibt es keinen Unterschied zwischen Präsentismus und Eternalismus. Aber weder im Präsentismus noch im Eternalismus erschöpft sich die inferentielle Rolle des Existenzquantors allein in den Regeln der Quantorenlogik. Als möglichen Einwand gegen seine Argumentation nennt Sider selbst „the claim that presentists and eternalists mean different things by the existential quantifier, ‚∃‘.“ (2006: 79) Präsentisten und Eternalisten könnten also mit dem Existenzquantor Verschiedenes meinen. Aber auch auf das „Meinen“ kommt es nicht an. Der Existenzquantor hat im Präsentismus deshalb einen anderen Sinn als im Eternalismus, weil sich die inferentiellen Rollen unterscheiden. zahlt wurde. Zu existieren heiße „wahrgenommenwerden“ (percipi) oder „wahrnehmen“ (percipere) oder „wollen, das heißt handeln“ (velle i.e. agere) (Berkeley 1979: 54 f., Nr. 429 und 429a).
Kapitel 14
Existenz ist keine natürliche Eigenschaft Kapitel 14: Existenz ist keine natürliche Eigenschaft
Im zehnten Kapitel haben wir festgestellt, dass der Referenzmagnetismus die semantische Unbestimmtheit beseitigt. Die Schwierigkeit, dass der Gebrauch der Sprache ihren Bezug nicht eindeutig festlegt, konnte dadurch gelöst werden. Das Ergebnis des vorigen Kapitels war, dass im Präsentismus und im Eternalismus das Wort „existieren“ nicht in derselben Weise verwendet wird. Ein Anhänger des Referenzmagnetismus könnte nun den Standpunkt vertreten, dass es auf diese Unterschiede im Gebrauch nicht ankomme, weil die verbleibenden Gemeinsamkeiten ausreichen, um das Wort „existieren“ im Präsentismus wie im Eternalismus mit der natürlichen Eigenschaft der Existenz zu verbinden – was voraussetzt, dass Existenz überhaupt eine natürliche Eigenschaft ist. Theodore Sider, den wir bereits als Anhänger des Referenzmagnetismus kennengelernt haben, schreibt in einem Aufsatz aus dem Jahr 2006, es gebe „logische natürliche Arten“ (logical natural kinds), die er folgendermaßen beschreibt: „The world has distinguished ‚logical joints‘: candidate meanings for logical words that are special, just as distinguished groupings (for instance the electrons) are special. The language of an ideal inquirer must contain logical words for these logical joints, just as it must contain predicates for the more commonly recognized natural kinds. One of the distinguished logical joints is a distinguished meaning, call it existence, for the existential quantifier. Eternalists and presentists, being metaphysicians, intend to carve the world at its logical joints. In the mouths of each, then, the quantifiers ,there exists‘ and ,∃‘ express existence.“ (2006: 81 f.; Fettdruck im Original; eine Fußnote und ein Absatzwechsel wurden entfernt.)
In seinem fünf Jahre später erschienenen Buch verzichtet Sider zwar auf den Begriff der logischen natürlichen Art, er behauptet jedoch weiterhin, dass der Existenzquantor die Wirklichkeit „an den Gelenken zerteilt“ (2011: 92 und 170).64 Dasselbe drückt er auch durch die Begriffe „fundamental“ und „Struktur“ aus: Bestimmte Begriffe seien fundamental, weil sie die Struktur der Wirklichkeit beschreiben, was eben die Aufgabe der Metaphysik sei. Zu diesen fundamentalen Begriffen gehören laut Sider neben dem Existenzquantor alle Begriffe für natürliche Eigenschaften. Damit stellt sich die Frage, ob der Existenzquantor tatsächlich die Struktur der Wirklichkeit beschreibt, wie Sider meint. Dagegen spricht einiges. Nehmen 64
Eine bekannte, auf Platons Phaidros 265e zurückgehende Metapher.
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Vierter Teil: Ontologie der Zeit
wir an, „Elektron“ sei ein fundamentaler Begriff. Durch die (affirmative) Existenzaussage „Elektronen existieren“ würden wir dann zwar die Struktur der Wirklichkeit beschreiben, doch diese Information steckt nicht im Wort „existieren“, sondern im Wort „Elektron“. Dasselbe gilt für negative Existenzaussagen wie „Tachyonen (Teilchen, die sich schneller als das Licht bewegen) existieren nicht“, wo das Wort „Tachyon“ die Strukturinformation liefert. Das Wort „existieren“ drückt aus, dass sich „Elektron“ auf die Wirklichkeit bezieht und dass sich „Tachyon“ nicht auf die Wirklichkeit bezieht. Wir verwenden es, um zu sagen, dass Elektronen zur Struktur der Wirklichkeit gehören und dass Tachyonen nicht zu ihr gehören. Mit seiner Hilfe beziehen wir uns also tatsächlich auf die Struktur der Wirklichkeit, doch Existenz selbst ist kein Strukturmerkmal. Letzteres erkennt man schon daran, dass auch dann, wenn die Wirklichkeit eine ganz andere Struktur besäße, alles in ihr existieren würde.65 Gegen die Annahme, dass Existenz ein Strukturmerkmal bzw. eine natürliche Eigenschaft ist, spricht weiters die Tatsache, dass Existenz keine induktiven Schlüsse stützt – was bei einer natürlichen Eigenschaft der Fall sein sollte (Kapitel 10). Nehmen wir das bekannte Beispiel: Aus der Tatsache, dass alle in der Vergangenheit beobachteten Smaragde grün waren, kann man induktiv schließen, dass auch alle Smaragde, die man in Zukunft beobachten wird, grün sein werden. Ersetzt man hier „Smaragd“ durch „existieren“ bzw. „Existierendes“, so fällt es schwer, einen Begriff zu finden, den man an die Stelle von „grün“ setzen könnte, ohne dass sich dadurch der induktive Schluss in einen analytischen Schluss verwandelt, der nicht mehr einen empirisch-induktiven, sondern einen begrifflichen Zusammenhang ausdrückt. Dies lässt sich sehr gut anhand des Präsentismus demonstrieren, also der Auffassung, dass alles Existierende gegenwärtig ist. Der gesuchte Begriff ist in diesem Fall „gegenwärtig“. Ersetzen wir also „grün“ durch „gegenwärtig“ und „Smaragd“ durch eine passende Form des Wortes „existieren“. Den gesuchten Schluss könnte man dann folgendermaßen formulieren: „Alles in der Vergangenheit beobachtete Existierende war gegenwärtig, daher wird auch alles in Zukunft beobachtete Existierende gegenwärtig sein“. Dies sieht zwar vielleicht auf den ersten Blick wie ein induktiver Schluss aus, tatsächlich beruht er aber nicht auf empirischer Induktion, sondern auf der präsentistischen These, dass zwischen „existieren“ und „gegenwärtig“ ein begrifflicher Zusammenhang besteht. Den Bezug auf die Beobachtung und damit auf empirische Induktion könnte man deshalb auch ersatzlos streichen: „Alles in der Vergangenheit Existierende war gegenwärtig, daher wird auch alles in Zukunft Existierende gegenwärtig sein“. 65 Man kann sogar widerspruchsfrei annehmen, dass alle logisch oder mathematisch möglichen Universen – alle möglichen Strukturen – existieren (Nozick 1981: Kap. 2, Tegmark 2015: Kap. 12). Auch deshalb kann Existenz selbst kein Strukturmerkmal sein.
Kapitel 14: Existenz ist keine natürliche Eigenschaft
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Was aber vielleicht am meisten gegen die Annahme spricht, dass der Existenzbegriff die Wirklichkeit „an den Gelenken zerteilt“, ist der Umstand, dass auch Objekte existieren, die keine Smaragde, Elektronen usw. sind, also Objekte, die ganz sicherlich nicht zur fundamentalen Struktur der Wirklichkeit gehören. Manche dieser Objekte sind sogar diskontinuierlich, das heißt, sie bestehen aus räumlich nicht zusammenhängenden Teilen, wie etwa das Land Italien, zu dem auch Sizilien, Sardinien und eine Reihe kleinerer Inseln gehören. Über die Existenz solcher diskontinuierlichen Dinge hat Hilary Putnam einiges zu sagen: „Aren’t almost all the ,objects‘ we talk about – chairs and tables, our own bodies, countries, not to mention such scientific objects as solar systems and galaxies – ,strange discontinuous objects‘? It hardly follows that they don’t really exist. Yet, if my body exists, if this chair exists, if the solar system exists, then why should we not say that the discontinuous object consisting of my nose and the Eiffel Tower also exists? This is an unnatural object to talk about, to be sure, but what has the ,naturalness‘ of an object to do with its existence?“ (Putnam 1987: 35)
Man muss nicht unbedingt so weit gehen wie Putnam und sogar einem aus einer Nase und dem Eiffelturm bestehenden „Objekt“ Existenz zubilligen. Vielleicht fehlt einem solchen Gebilde die nötige Konstanz – immerhin kann sich eine Nase in eine beliebige räumliche Relation zum Eiffelturm begeben. Anders als dieses veränderliche Gebilde sind jedoch diskontinuierliche Objekte wie Italien räumlich sehr stabil, weshalb es uns leicht fällt, ihm Existenz zuzuschreiben. Zweifellos existieren auch Stühle und Tische, obwohl diese ebenfalls „unnatürlich“ sind und nicht zur fundamentalen Struktur der Wirklichkeit gehören. Und sicherlich existieren darüber hinaus auch natürliche Objekte wie Sonnensysteme und Galaxien, die anders als Elektronen oder Strings nicht fundamental zu sein scheinen. Es besteht also kein Grund, den Existenzbegriff nur in Zusammenhang mit der fundamentalen Struktur der Wirklichkeit zu verwenden. Nicht nur das Fundamentale existiert, sondern auch das aus Fundamentalem Zusammengesetzte. Putnams Frage ist völlig berechtigt: Was hat die „Natürlichkeit“ eines Objekts mit seiner Existenz zu tun? Ich komme ein letztes Mal auf Sider zurück, der einen metaphysischen Reduktionismus vertritt: Seiner Ansicht nach lassen sich nicht-fundamentale Tatsachen auf fundamentale Tatsachen zurückführen. Um zwei seiner eigenen Beispiele zu verwenden: Nicht-fundamental sei die Tatsache, dass manche Leute lächeln, wenn sie Süßigkeiten essen, sowie die Tatsache, dass Philadelphia eine Stadt ist (2011: 105 und 107). Solche nicht-fundamentalen Tatsachen bestehen laut Sider nur aufgrund von fundamentalen Tatsachen, zu welchen unter anderem Tatsachen über Elementarteilchen gehören. Man kann diesen Reduktionismus ablehnen oder akzeptieren, was man aber jedenfalls nicht akzeptieren sollte, ist die Schlussfolgerung, dass auch der Begriff „Existenz“ selbst bzw. der Existenzquantor fundamental ist.
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Diese Schlussfolgerung kleidet Sider in eine rhetorische Frage: „what is fundamental, if quantification is not?“ (2011: 182) Die Antwort darauf ist überraschend einfach: Wenn man den Reduktionismus akzeptiert, dann gibt es zwar fundamentale Tatsachen wie „Elektronen existieren“ neben nicht-fundamentalen Tatsachen wie „Städte existieren“, die aufgrund der fundamentalen Tatsachen bestehen. Daraus folgt jedoch nicht, dass Existenz selbst fundamental ist. Dass sie es nicht ist, zeigt eben die Existenz von Städten und anderen nicht-fundamentalen Objekten. Da der Existenzbegriff somit die Wirklichkeit nicht „an den Gelenken zerteilt“, versagt der Referenzmagnetismus in diesem Fall auch als Korrektiv für die semantische Unbestimmtheit. Es lässt sich nicht verhindern, dass das Wort „existieren“ verschiedene Bedeutungen besitzt, wenn es wie im Präsentismus und im Eternalismus auf verschiedene Weisen verwendet wird.66 Dass vorhin Putnam erwähnt wurde, ist kein Zufall, denn die Vieldeutigkeit von „Existenz“ ist ein zentraler Aspekt der Idee der begrifflichen Relativität, die in seiner Philosophie eine wichtige Rolle spielt. Begriffliche Relativität (conceptual relativity), meint Putnam, „turns on the fact that the logical primitives themselves, and in particular the notions of object and existence, have a multi tude of different uses rather than one absolute ,meaning‘.“ (1987: 19, im Original zum Großteil kursiv) Diese Erläuterung entspricht genau dem Ergebnis meiner Diskussion von „Endurantismus versus Perdurantismus“ in Kapitel 12 und von „Präsentismus versus Eternalismus“ im vorigen Kapitel. Beim Disput zwischen Endurantismus und Perdurantismus ging es um die Zweideutigkeit von „Objekt“ (oder „Ding“, „Gegenstand“), beim Disput zwischen Präsentismus und Eternalismus um die Zweideutigkeit des Existenzbegriffs. Einen Realismus, der die These der begrifflichen Relativität beinhaltet, nennt Putnam „internen Realismus“. In The Many Faces of Realism lesen wir, der interne Realismus sei „just the insistence that realism is not incompatible with conceptual relativity. One can be both a realist and a conceptual relativist.“ (1987: 17) Und ein paar Jahre später – in Sense, Nonsense, and the Senses – heißt es, der interne Realismus weise die folgenden Annahmen zurück: „(1) a fixed totality of all objects; (2) a fixed totality of all properties; (3) a sharp line between properties we ,discover‘ in the world and properties we ,project‘ onto the world; (4) a fixed relation of ,correspondence‘ in terms of which truth is supposed to be defined.“ (1994: 463, Fußnote 41)
66 Die von ihm bestrittene Mehrdeutigkeit des Existenzbegriffs bezeichnet Sider als „quantifier variance“. Als bestes Argument dagegen betrachtet er die theoretische Unentbehrlichkeit (indispensability) der Quantifikation (2011: 188). Doch aus der Tatsache, dass keine Theorie auf Quantoren verzichten kann, folgt selbstverständlich nicht, dass diese gleich verwendet werden. Man kann nur den Schluss ziehen, dass jede Theorie den Existenzbegriff in irgendeinem Sinn verwenden muss.
Kapitel 14: Existenz ist keine natürliche Eigenschaft
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Entscheidend ist in diesem Zitat das Wort „fixed“. Der interne Realismus bestreitet, dass die Bedeutung von ontologischen Begriffen wie „Objekt“ und „Eigenschaft“ feststeht und dass es daher nur eine mögliche oder richtige Korrespondenzbeziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit gibt. Dies darf nicht so verstanden werden, dass überhaupt jeder Bezug zur Wirklichkeit geleugnet wird. Die Korrespondenz zwischen Sprache und Wirklichkeit ist für den internen Realismus zwar nicht mehr eindeutig fixiert, weil verschiedene „Abbildungen“ der Sprache auf die Wirklichkeit möglich sind – unter anderem deshalb, weil man unter „Objekt“, „Eigenschaft“ und „Existenz“ Verschiedenes verstehen kann. Aber setzt man eine der verschiedenen möglichen Abbildungen voraus, dann ist eine Aussage über die Wirklichkeit wahr, wenn die Wirklichkeit so ist, wie es in der Aussage behauptet wird. Der interne Realismus ist eben ein Realismus. Aus dem internen Realismus darf auch nicht der Schluss gezogen werden, dass die Wirklichkeit vor und unabhängig von Beschreibungen gar keine Struktur besitzt. Wäre die Wirklichkeit ein solches strukturloses Etwas, so wäre sie für uns ein völliges Rätsel, ein unerkennbares „Ding an sich“. Unter anderem wüssten wir nicht, wie wir es uns vorstellen sollen, dass diese Wirklichkeit durch die Beschreibung eine Struktur bekommt (Davidson 1986: 270 – 274). Der interne Realismus entgeht diesem Problem, weil er eine andere These aufstellt: dass man die Wirklichkeitsstruktur unterschiedlich beschreiben kann, je nachdem, was man zum Beispiel unter einem „Gegenstand“ versteht. Er bestreitet also nicht, dass die Wirklichkeit vor der Beschreibung eine Struktur besitzt, sondern nur, dass es lediglich eine Beschreibung, lediglich ein Verständnis von „Gegenstand“ gibt, das diese Struktur korrekt wiedergibt. Putnam veranschaulicht diesen Sachverhalt anhand dreier Objekte (Putnam 1987: 18 und 32), die ich durch drei Stühle in einem leeren Raum ersetzen möchte: Versteht man unter einem „Gegenstand“ einen einzelnen Stuhl, so gibt es in dem Raum drei Gegenstände. Versteht man das Wort „Gegenstand“ jedoch so, dass auch mereologische Summen oder Mengen von Stühlen darunter fallen, dann gibt es insgesamt sieben „Gegenstände“: drei einzelne Stühle plus drei Paare von Stühlen plus die ganze Stuhl-Triade. „Es gibt sieben Gegenstände“ ist daher ebenso eine richtige Beschreibung der Struktur der Wirklichkeit wie „es gibt drei Gegenstände“, weil „Gegenstand“ in den beiden Beschreibungen nicht dasselbe bedeutet. Offensichtlich gäbe es auch unzählige Beschreibungen, die die Struktur der Wirklichkeit falsch wiedergeben würden. Versteht man unter „Gegenständen“ einzelne Stühle, so dürfte man beispielsweise nicht behaupten, dass ein Gegenstand Teil oder Element eines anderen Gegenstandes ist – was nach der anderen Beschreibung sehr wohl der Fall ist. Und wenn es in dem Raum sieben „Gegenstände“ gibt, so wäre es falsch zu behaupten, dass es mehr oder weniger als sieben sind. Dass mehrere Beschreibungen richtig sein können, impliziert also keines-
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falls, dass jede beliebige Beschreibung richtig ist. Hat man sich einmal auf eine Bedeutung von „Gegenstand“ festgelegt, gibt es wenig Spielraum. Dann trifft man die Wahrheit oder man verfehlt sie.
Kapitel 15
Aussagen über Vergangenes und Zukünftiges Kapitel 15: Aussagen über Vergangenes und Zukünftiges
Wir haben soeben festgestellt, dass Putnams interner Realismus mit einem realistischen Wahrheitsverständnis vereinbar ist. Er lässt es zu, dass Aussagen durch die Wirklichkeit wahr oder falsch gemacht werden.67 Mit anderen Worten, wir können den internen Realismus als einen semantischen Realismus betrachten, den Michael Dummett folgendermaßen definiert hat: „So construed, realism is a semantic thesis, a thesis about what, in general, renders a statement in the given class true when it is true. The very minimum that realism can be held to involve is that statements in the given class relate to some reality that exists independently of our knowledge of it, in such a way that that reality renders each statement in the class determinately true or false, again independently of whether we know, or are even able to discover, its truth-value.“ (Dummett 1982a: 55)
Im Folgenden werde ich diesen semantischen Realismus voraussetzen und mich zunächst mit einer bestimmten Klasse von Aussagen befassen, den Aussagen über Vergangenes. Auf Basis des semantischen Realismus stellt sich nämlich die Frage, auf welche Wirklichkeit sich solche Aussagen beziehen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, dies zu präzisieren; unter anderem könnte man die folgenden Fragen stellen: Womit korrespondieren Aussagen über vergangene Ereignisse? Wodurch werden sie wahr gemacht? Worin ist ihre Wahrheit begründet? „Beziehen“, „korrespondieren“, „wahr machen“ und „begründen“ sind vier typische Begriffe, die in diesem Zusammenhang verwendet werden. Aber es ist hier nicht nötig, sich für einen von ihnen zu entscheiden. Wie die Relation zwischen Wirklichkeit und Aussage genau beschrieben wird, spielt für uns keine Rolle. Ich werde meist das Wort „beziehen“ verwenden, vor allem aus stilistischen Gründen. Es ist zum Beispiel naheliegend, zu sagen, dass sich die Aussage „Pompeji wurde durch einen Ausbruch des Vesuvs zerstört“ auf den Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79 bezieht. Wäre Pompeji nicht durch einen Ausbruch des Vesuvs zerstört worden, so wäre die Aussage falsch, weil sie sich auf kein vergangenes Ereignis bezöge.
67 Dabei ist allerdings zu bedenken, dass Putnam unter internem Realismus nicht immer genau dasselbe verstanden hat. In seinem Buch Vernunft, Wahrheit und Geschichte ging es ihm noch um die Ablehnung eines realistischen Wahrheitsbegriffs, insbesondere der Korrespondenztheorie der Wahrheit. Er definierte Wahrheit damals antirealistisch als rationale Akzeptierbarkeit unter epistemisch idealen Bedingungen (1982: 83).
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Vierter Teil: Ontologie der Zeit
Die Annahme, dass Aussagen über Vergangenes wahr sein können, spielt zunächst dem Eternalismus in die Hände, weil dieser davon ausgeht, dass auch Vergangenes existiert. „Pompeji wurde durch einen Ausbruch des Vesuvs zerstört“ ist nach eternalistischer Auffassung wahr, weil sich diese Aussage auf ein existierendes Ereignis bezieht. Für den Präsentismus hingegen stellt sich die Angelegenheit etwas komplizierter dar, weil dieser ja davon ausgeht, dass das vergangene Ereignis nicht existiert. Man könnte zwar versuchsweise annehmen, dass die Wahrheit der Aussage in ihrem Bezug auf dieses nicht mehr existierende Ereignis besteht, doch dann würde auch die Wahrheit selbst nicht existieren. Denn die Relation zwischen der gegenwärtigen Aussage und dem vergangenen Ereignis existiert nicht in der Gegenwart, was nach präsentistischer Auffassung bedeutet, dass sie überhaupt nicht existiert. Kurz gesagt, die Aussage kann für den Präsentismus nicht wahr sein, weil die Relation zur Wirklichkeit nicht jetzt und damit überhaupt nicht existiert. Die Standardlösung dieses Problems besteht in der Annahme, dass sich die Vergangenheitsaussage tatsächlich auf etwas Gegenwärtiges bezieht: „Since presentists hold that there are no past or future events, those events cannot ground the truth of past or future-tensed statements. Instead, the present state of the world must ground the truth of past- (and future-) tensed statements if anything does.“ (Miller 2013: 354) Die einfachste Möglichkeit, diesen Vorschlag in die Tat umzusetzen, ist die Einführung temporaler Tatsachen (tensed facts; Prior 1959, Swinburne 1990). Obwohl das Ereignis selbst in der Vergangenheit stattfand, existiert nach diesem Vorschlag in der Gegenwart die temporale Tatsache, dass das Ereignis stattfand. So bezöge sich die Aussage „Pompeji wurde durch einen Ausbruch des Vesuvs zerstört“ auf die temporale Tatsache, dass Pompeji durch einen Ausbruch des Vesuvs zerstört wurde. Die Aussage und die temporale Tatsache würden beide in der Gegenwart existieren. Dieser Lösung könnte man unter anderem mangelnde ontologische Sparsamkeit vorwerfen – man denke nur daran, wie viele temporale Tatsachen zum jetzigen Zeitpunkt existieren müssten, damit alle wahren Aussagen über Vergangenes wahr gemacht werden. Allerdings verzichtet der Präsentismus im Gegenzug auf die Existenz der Vergangenheit selbst. Während die temporalen Tatsachen gegenwärtig existieren, existieren die vergangenen Tatsachen nach präsentistischer Auffassung nicht. Die ontologische Großzügigkeit auf der einen Seite wird daher durch die Sparsamkeit auf der anderen Seite aufgewogen. Eine unmäßige Aufblähung der Ontologie würde erst dann stattfinden, wenn man die Existenz der temporalen Tatsachen mit dem Eternalismus kombinieren würde, weil dann nämlich alle temporalen Tatsachen aller Zeiten existieren würden.68 68 Eine Theorie dieser Art wird von Kit Fine vertreten, und zwar als eine Form des Präsentismus namens „factive presentism“ (Fine 2005: 299), die in Wirklichkeit eine Form des Eternalismus ist, wie Jonathan Tallant (2013: 304) feststellt.
Kapitel 15: Aussagen über Vergangenes und Zukünftiges
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Ein stärkerer Einwand gegen temporale Tatsachen betrifft deren Abstraktheit, womit gemeint ist, dass sie sich nicht raumzeitlich lokalisieren lassen. Zum Vergleich: Die Tatsache, dass der Vesuv ein Vulkan in der Nähe von Neapel ist, besteht in einer räumlichen Relation zwischen zwei physischen Gebilden, einem Berg und einer Stadt, und sie besteht solange, solange sich diese beiden Gebilde in der räumlichen Relation der Nähe zueinander befinden. Wenn man sich an einem geeigneten Ort aufhält, kann man sogar sehen, dass der Vesuv ein Vulkan in der Nähe von Neapel ist. Im Gegensatz dazu lässt sich die Tatsache, dass Pompeji durch einen Ausbruch des Vesuvs zerstört wurde, weder raumzeitlich lokalisieren noch wahrnehmen. Es ist zwar richtig, dass es bei dieser Tatsache unter anderem um zwei Orte geht, aber die Tatsache selbst existiert gegenwärtig nicht dort, wo sich die Reste von Pompeji und der heutige Vesuv befinden. Anders als die Tatsache, dass der Vesuv ein Vulkan in der Nähe von Neapel ist, kann die abstrakte Tatsache auch nicht aufhören zu existieren. Sie besitzt somit eine recht seltsame Existenz (siehe Kapitel 22). Gegen die Einführung temporaler Tatsachen spricht jedoch nicht nur deren Abstraktheit. Robin Le Poidevin (2004) weist mit Recht darauf hin, dass es sich dabei um einen Trick handelt, der das Problem nur scheinbar löst. Denn man kann ja weiterfragen, warum die temporale Tatsache existiert, und wird dann auf eine andere Tatsache verwiesen, die nach präsentistischer Auffassung nicht existiert, jedoch in der Vergangenheit existiert hat. Die Tatsache, dass Pompeji durch einen Ausbruch des Vesuvs zerstört wurde, existiert nur wegen der vergangenen Tatsache, dass Pompeji durch einen Ausbruch des Vesuvs zerstört wird. Le Poidevin drückt dies so aus, dass eine Aussage über eine temporale Tatsache „entweder ein unzulässiger Verweis auf eine vergangene Tatsache ist oder einfach genau das umformuliert, was erklärt werden muss“ (2004: 191 f.). Was erklärt werden muss, ist die Wahrheit der Vergangenheitsaussage. Nach der Umformulierung des Problems mit Hilfe von temporalen Tatsachen müsste eben die Existenz dieser Tatsachen erklärt werden.69 Angesichts dieser Schwierigkeiten wäre es wohl besser, wenn der Präsentismus ohne temporale Tatsachen auskäme. Dabei muss er sich selbstverständlich mit dem begnügen, was gegenwärtig der Fall ist: Die Wahrheit einer Vergangenheitsaussage besteht also in ihrem Bezug auf etwas gegenwärtig Existierendes. 69 Die erwähnten Einwände gegen temporale Tatsachen treffen auch eine ungewöhnliche Version des Präsentismus, die Craig Bourne „ersatzer presentism“ nennt. Sie enthält eine abstrakte „Ersatz“-Zeitreihe aus geordneten Paaren, die jeweils aus einer Menge von Propositionen (im Präsens) und einem Zeitpunkt (date) bestehen (2006: 54). Diese Konstruktion ist zweifellos ontologisch verschwenderisch und wieder stellt sich die Frage, warum die abstrakten Objekte existieren. Metaphysische Probleme lassen sich oft im Handumdrehen lösen, indem man irgendetwas Abstraktes einführt, was Anlass zu Skepsis gegenüber solchen „Lösungen“ gibt.
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Vierter Teil: Ontologie der Zeit
Im Aufsatz „Realism“, aus dem ich zu Beginn des Kapitels zitiert habe, spricht Dummett von einer „Reduktionsthese“ (reductive thesis; 1982a: 70), weil man die betreffende Forderung an den Präsentismus auch so formulieren kann, dass Wahrheiten über Vergangenes auf Wahrheiten über Gegenwärtiges zurückgeführt werden müssen. Diese Reduktionsthese scheint eine bemerkenswerte Konsequenz zu haben: Viele oder sogar die meisten Fragen über Vergangenes können nicht wahrheitsgemäß beantwortet werden, weil die gegenwärtige Wirklichkeit keine der möglichen Antworten als wahr erweist. Der Ausbruch des Vesuvs hat die meisten Informationen über Pompeji ausgelöscht, und selbst wenn diese Katastrophe nicht stattgefunden hätte, wäre es unmöglich, genau zu rekonstruieren, was die Bewohner der Stadt an einem beliebigen Tag getan oder gesagt haben. Zu all dem gäbe es einfach keine Wahrheiten. Wahr wären laut der Reduktionsthese nur jene Aussagen, deren Wahrheit sich aus den erhaltenen Überresten oder aus anderen Quellen eindeutig ergibt. Daher könnte beispielsweise eine Aussage über das Durchschnittsalter der Bewohner Pompejis zum Zeitpunkt des Vulkanausbruchs nicht wahr sein. Freilich setzt diese Argumentation ein bestimmtes Verständnis der Reduktionsbasis voraus. Ich habe soeben angenommen, dass diese aus gegenwärtigen Belegen besteht, mit deren Hilfe sich Aussagen über die Vergangenheit epistemisch rechtfertigen lassen. Der Präsentismus kann diese Annahme zurückweisen und die Reduktionsbasis statt in einem epistemischen, in einem metaphysischen Sinn verstehen. Dann kommt es nicht auf das Erkennen an, also etwa darauf, ob wir tatsächlich in der Lage sind, das Leben der Bewohner von Pompeji und deren Durchschnittsalter aus den gegenwärtig existierenden Tatsachen zu erschließen. Vielmehr lautet dann die entscheidende Frage, ob der Weltverlauf grundsätzlich reversibel ist. Die Frage, ob Naturgesetze reversible oder irreversible Vorgänge beschreiben, hat uns bereits in Kapitel 4 beschäftigt. Ist der Weltverlauf reversibel, dann wäre es im Prinzip möglich, die Vergangenheit aus der Gegenwart abzuleiten. Selbstverständlich wäre dies nicht für uns Menschen möglich, sondern nur für ein fiktives Wesen wie den berühmten Laplaceschen Dämon: „Eine Intelligenz, welche für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte, von denen die Natur belebt ist, sowie die gegenseitige Lage der Wesen, die sie zusammen setzen, kennen würde, und überdies umfassend genug wäre, um diese gegebenen Grössen einer Analyse zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegungen der grössten Weltkörper wie die des leichtesten Atoms ausdrücken: nichts würde für sie ungewiss sein und Zukunft wie Vergangenheit ihr offen vor Augen liegen.“ (Laplace 1886: 4)
Die Auffassung, dass der gegenwärtige Weltzustand zusammen mit den Naturgesetzen alle zukünftigen und vergangenen Weltzustände determiniert, wurde im Lichte dieses Zitats als Laplacescher Determinismus bezeichnet. Würde dieser
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Determinismus zutreffen, dann gäbe es für den Präsentismus keine Wahrheitswertlücken. Wahrheiten über Vergangenes ließen sich dann prinzipiell – wenn auch nicht praktisch – auf Wahrheiten über Gegenwärtiges zurückführen. Allerdings hat es der Determinismus heute weniger leicht als zur Zeit von Laplace – das französische Original des obigen Zitats stammt aus dem Jahr 1814 –, wofür unter anderem die Thermodynamik und die Quantentheorie verantwortlich sind. Selbstverständlich könnte der Weltverlauf dennoch determiniert sein, aber der heutige Stand der Physik spricht eher gegen diese Annahme. Auf jeden Fall können wir die Falschheit des Laplaceschen Determinismus nicht ausschließen, weshalb wir auch nicht ausschließen können, dass viele Aussagen über Vergangenes auf präsentistischer Grundlage weder wahr noch falsch sind.70 Bisher ging es in diesem Kapitel um Aussagen über Vergangenes, doch die meisten Überlegungen lassen sich auch auf Aussagen über Zukünftiges übertragen. Beispielsweise kann die Aussage „Der Vesuv wird ausbrechen“ aus präsentistischer Sicht nur dann wahr sein, wenn sie sich auf Aussagen über gegenwärtig Existierendes zurückführen lässt. Auch hier besteht wieder die Chance, dass sich alle zukünftigen Ereignisse wahrheitsgemäß beschreiben lassen, wenn der gegenwärtige Weltzustand alle zukünftigen Weltzustände determinieren würde. Dann ließen sich im Prinzip alle Wahrheiten über Zukünftiges auf Wahrheiten über Gegenwärtiges zurückführen. Doch die Zweifel an der Wahrheit des Determinismus führen auch in diesem Fall dazu, dass wir mit Aussagen rechnen müssen, die weder wahr noch falsch sind. Die Auffassung, dass Aussagen über Zukünftiges weder wahr noch falsch sind, bezeichnet Dummett als „Neutralismus“ (1982a: 69). Der wohl bekannteste Neutralist war Aristoteles. Im neunten Kapitel seiner Hermeneutik (19a) stellt er fest, dass Aussagen über zukünftig Mögliches wie „Möglicherweise wird morgen eine Seeschlacht stattfinden“ einen Wahrheitswert besitzen. Auch Aussagen über logisch Notwendiges wie „Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden oder es wird keine stattfinden“ seien wahr. Anders verhalte es sich hingegen mit Aussagen darüber, was in Zukunft der Fall sein wird, wie „Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden“. Diese Aussage ist laut Aristoteles weder wahr noch falsch, weil es nicht notwendig ist, dass morgen eine Seeschlacht stattfindet, und es auch nicht notwendig ist, dass sie morgen nicht stattfindet. Der aristotelische Neutralismus beruht also auf der Annahme, dass Zukünftiges nicht notwendigerweise stattfindet, das heißt auf dem Indeterminismus.71 70 Abgesehen davon, ob der Laplacesche Determinismus mit der modernen Physik vereinbar ist, kommt dieser natürlich auch für Inkompatibilisten nicht in Frage, die an die Existenz der Willensfreiheit glauben (Kapitel 11). 71 Wer umgekehrt den Determinismus gerade dadurch begründet, dass Aussagen über die Zukunft einen Wahrheitswert besitzen, vertritt den sogenannten logischen Determinismus (Keil 2013: 21). Der logische Determinismus scheint allerdings das Pferd von hinten
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Vierter Teil: Ontologie der Zeit
Nur wer als Präsentist an den Determinismus glaubt, braucht nicht zu bestreiten, dass alle Aussagen über Zukünftiges einen Wahrheitswert besitzen. Doch egal, ob der Präsentismus mit dem Determinismus oder dem Indeterminismus kombiniert wird, in beiden Fällen beziehen sich Zukunftsaussagen eigentlich auf Gegenwärtiges. Dass der Präsentismus ein derart „enges“ Verständnis von Wahrheit hat, weil er den Bereich des Wahren auf die Gegenwart einschränkt, ist nicht überraschend, denn schließlich besitzt der Präsentismus ein ebenso enges Verständnis von Existenz. Die Begriffe „Existenz“ (bzw. „Wirklichkeit“) und „Wahrheit“ sind miteinander verknüpft, daher ist zu erwarten, dass eine Neuinterpretation des einen Begriffs auch Konsequenzen für den anderen Begriff hat. Versteht man Existenz als gegenwärtige Existenz und Wahrheit als Bezug zur Wirklichkeit, so muss man eben Wahrheit als Bezug zur gegenwärtigen Wirklichkeit verstehen. Was sich nicht auf solche Wahrheiten zurückführen lässt, kann nicht wahr sein im präsentistischen Sinn von „Wahrheit“. Weil man die Reduktionsbasis – wie wir gesehen haben – auch in einem metaphysischen Sinn deuten kann, sind wir zwar nicht gezwungen, die „gegenwärtige Wirklichkeit“, von der hier die Rede ist, so zu verstehen, dass sie die Rechtfertigungsbedingungen der jeweiligen Aussagen umfasst. Eine solche epistemische Deutung ist aber zweifellos naheliegend. Auch in diesem Punkt können wir uns auf Dummett stützen, genauer gesagt auf seinen 1959 veröffentlichten Aufsatz „Truth“, wo Wahrheit durch Rechtfertigungsbedingungen definiert wird: „Wir sind nur dann berechtigt zu sagen, daß eine Aussage P entweder wahr oder falsch sein muß, daß es etwas geben muß, vermöge dessen P entweder wahr oder falsch ist, wenn P eine Aussage ist der Art, daß wir uns in einem endlichen Zeitraum in eine Lage bringen könnten, in der entweder unsere Behauptung oder unsere Verneinung von P gerechtfertigt wäre, d. h. wenn P eine effektiv entscheidbare Aussage ist. […] Der Sinn des Existenzquantors z. B. wird dadurch bestimmt, daß man überlegt, welche Art von Fakten eine Existenzaussage wahr machen, und das bedeutet: die Art von Fakten, die wir als Rechtfertigung unserer Behauptungen von Existenzaussagen anzusehen gelehrt worden sind.“ (Dummett 1982b: 33)
Es ist aufschlussreich, dass Dummett hier seine Wahrheitsdefinition anhand von Existenzaussagen erläutert. Die Anwendung auf den Existenzbegriff des Präsentismus fällt daher besonders leicht: Die meisten Aussagen darüber, was in der Vergangenheit existiert hat, sind weder wahr noch falsch, weil sie sich nicht durch gegenwärtige Belege rechtfertigen lassen. Dummett selbst kommt genau zu diesem Schluss, wenn er ein Jahrzehnt später feststellt: „only those statements about the past are true whose assertion would be justified in the light of what is now the case.“ (Dummett 1969: 249; siehe außerdem 2005: 56, 87 und 103 f.) aufzuzäumen, denn die Behauptung, dass Zukunftsaussagen wahr sind, müsste ihrerseits begründet werden, beispielsweise durch den Laplaceschen Determinismus.
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Im Gegensatz zum Präsentismus bevorzugt der Eternalismus ein „weites“ Verständnis von Existenz und gelangt daher auch zu einem anderen Verständnis von Wahrheit: Aussagen über Vergangenes und Aussagen über Zukünftiges sind wahr oder falsch, je nachdem, ob die Ereignisse, auf die sie sich beziehen, im eternalistischen Sinn existieren oder nicht existieren. „Der Vesuv wird ausbrechen“ ist wahr, wenn der zukünftige Ausbruch des Vesuvs eternalistisch existiert. Im Eternalismus muss Wahrheit streng von epistemischer Rechtfertigung unterschieden werden: „Der Vesuv wird ausbrechen“ kann wahr sein, obwohl dies erst beim nächsten Ausbruch des Vesuvs zweifelsfrei festgestellt werden kann. Ein naheliegender Einwand gegen diese Annahme lässt sich in die Frage kleiden, wie die betreffende Aussage wahr sein kann, obwohl das zukünftige Ereignis noch gar nicht existiert. Setzt man den Indeterminismus voraus, gewinnt dieser Einwand sogar noch an Schärfe: Wie kann die Aussage wahr sein, wenn noch nicht einmal feststeht, ob das Ereignis in der Zukunft existieren wird? Die Antwort des Eternalismus auf beide Fragen lautet, dass in ihnen das Wort „existieren“ falsch, das heißt nicht im Sinne des Eternalismus verwendet wird. Formulierungen wie „noch nicht existieren“ oder „existieren werden“ kommen im Eternalismus gar nicht vor. „Der Vesuv wird ausbrechen“ ist vielmehr wahr, wenn das betreffende Ereignis relativ zur Äußerung in der Zukunft liegt. Oder anders formuliert: wenn das Ereignis später als die Äußerung existiert – im atemporalen Sinn von „existieren“. Dies lässt sich wiederum so interpretieren, dass sich die Äußerung nicht nur auf das Ereignis, sondern auch auf sich selbst bezieht. Äußerungen sind Satztoken und Selbstbezug ist Reflexivität, weshalb diese Hypothese als „Token-Reflexivität“ bekannt ist (Reichenbach 1999: §§ 50 f., Smart 1963: 132 – 142, Mellor 1981: Kap. 2).72 Ich habe sie schon im ersten Kapitel erwähnt, allerdings ging es dort noch um explizit indexikalische Ausdrücke wie „jetzt“. Gedacht ist die Idee der Token-Reflexivität nicht nur für Sätze mit solchen Ausdrücken, sondern für alle temporalen Aussagen. Ob man über Gegenwärtiges, Vergangenes oder Zukünftiges spricht, immer bildet die Äußerung selbst den zeitlichen Bezugspunkt. Blickt zum Beispiel jemand aus dem Fenster und sagt dabei „Es regnet“, so heißt dies, dass der Regen simultan mit der Äußerung existiert – wobei „existiert“ eben im atemporalen Sinn zu verstehen ist.
72 Nachdem D. H. Mellor die Idee der Token-Reflexivität im Buch Real Time von 1981 vertreten hatte, verwarf er sie in Real Time II wieder (Mellor 1998: 32 – 34), weil es angeblich wahr sein könne, dass „jetzt keine Token existieren“ (wenn nämlich zu diesem Zeitpunkt nichts Sprachliches existiert). Doch dies kann ebenso wenig wahr sein wie das cartesianische „Ich existiere nicht“. Dabei setze ich voraus, dass Wahrheitsträger zeitlich lokalisierbar sind, also keine „Propositionen“, wie Mellor meint (1998: 23 f.).
Kapitel 16
Die wachsende Wirklichkeit Kapitel 16: Die wachsende Wirklichkeit
Der zuletzt betrachtete Einwand gegen den Eternalismus war der, dass eine Aussage über die Zukunft nicht wahr sein könne, da das Zukünftige noch nicht existiere. Dieser Einwand konnte durch die Annahme beantwortet werden, dass das Zukünftige im atemporalen Sinn existiert. Wenden wir uns nun einer anderen Antwort zu. Sie besteht darin, auf die Existenz der Zukunft zu verzichten und vom Eternalismus nur die Existenz der Gegenwart und der Vergangenheit zu übernehmen. Dieser Kompromiss zwischen Eternalismus und Präsentismus wird oft als Growing Universe Theory bezeichnet, er ist aber auch unter anderen Namen bekannt. Die amüsante Bezeichnung „no-futurism“ (Bourne 2006: 13) bringt die Nichtexistenz der Zukunft vielleicht am besten zum Ausdruck. Die Gegenwart ist nach der Growing-Universe-Theorie die Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft, an der zur bisherigen Existenz stets neue Existenz hinzukommt. Das Universum – oder besser gesagt die Wirklichkeit als Gesamtheit alles Existierenden – besteht aus Vergangenem und Gegenwärtigem und „wächst“ in Richtung Zukunft. Der frühe Bergson ist noch Präsentist, der 1889 die folgende Frage stellt: „Was von der Dauer existiert außerhalb unser? Nur die Gegenwart oder, wenn man lieber will, die Simultaneität“ (1994: 168). Doch bereits in Matière et mémoire von 1896 scheint er eine Growing-Universe-Theorie zu befürworten: „Entweder also wird man annehmen müssen, daß dieses Universum durch ein wahrhaftes Wunder in jedem Moment der Dauer vergeht und wiedergeboren wird, oder man wird ihm die Kontinuität der Existenz übertragen müssen […] und aus seiner Vergangenheit eine Realität machen, die fortlebt und sich in seine Gegenwart erstreckt“ (Bergson 2015: 189).73 Zwei weitere Vertreter der Growing-Universe-Theorie neben Bergson sind C. D. Broad (1923: Kap. 2) und Michael Tooley (1997: Kap. 1). Die Theorie, schreibt Broad, „accepts the reality of the present and the past, but holds that the future is simply nothing at all. Nothing has happened to the present by becoming 73 Etwa ein Jahrzehnt später ist dann die Rede von der „Notwendigkeit eines kontinuierlichen Anwachsens des Universums“ (Bergson 2013: 386). Die Wissenschaft beschränke sich darauf, „von der fließenden Realität nur Momentaufnahmen zu machen“, doch man müsse „dahin gelangen, in der Zeit ein progressives Anwachsen des Absoluten […] zu sehen.“ (S. 387)
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past except that fresh slices of existence have been added to the total history of the world.“ (1923: 66) Da diese Auffassung die Existenz der Zukunft leugnet, spricht für sie unter anderem die relative Unplausibilität des Eternalismus. Außerhalb der Philosophie käme wahrscheinlich niemand auf den Gedanken, dass die Zukunft existiert, wie vom Eternalismus behauptet wird. Doch auch in der Philosophie selbst ist die Existenz der Zukunft nicht besonders populär, was unter anderem auf den Einfluss von Aristoteles zurückzuführen ist: Die Nichtexistenz der Zukunft ließe sich durch seinen Neutralismus begründen, von dem im vorigen Kapitel die Rede war. Aristoteles war freilich kein Growing-Universe-Theoretiker, sondern ein Präsentist, weil er das Vergangene wie das Zukünftige zum Nichtseienden gezählt hat (1987: 225; 221b-222a). Im Unterschied zur Growing-Universe-Theorie behandelt der Präsentismus Vergangenheit und Zukunft gleich – er spricht beiden die Existenz ab. Im menschlichen Leben kann jedoch von einer solchen Gleichbehandlung keine Rede sein, denn unser Verhältnis zu den beiden Zeiten ist von einer deutlichen Asymmetrie geprägt, unter anderem in epistemischer Hinsicht: Wir erinnern uns an die Vergangenheit, weil vergangene Ereignisse in den dafür zuständigen Bereichen des Gehirns Spuren hinterlassen haben. Die Zukunft können wir bestenfalls voraussagen. Weil Erinnerungen meist zuverlässiger sind als Prognosen, wissen wir bedeutend mehr über die Vergangenheit als über die Zukunft. Dieselbe Asymmetrie findet man bei anderen Einstellungen und Verhaltensweisen. Wir freuen uns auf die Zukunft oder fürchten uns vor ihr; wir erwarten ein zukünftiges Ereignis und setzen Handlungen, mit denen wir uns auf das Ereignis vorbereiten. Es ist jedoch unmöglich, zu erwarten oder sich darauf vorzubereiten, dass in der Vergangenheit etwas geschieht; es ist sinnlos, sich auf etwas Vergangenes zu freuen oder sich davor zu fürchten.74 In De rerum natura von Lukrez findet man eine Überlegung, die später als „Symmetrieargument“ bekannt wurde. Der Tod sei nichts Schlechtes, weil die Zeit nach dem Tod der Zeit vor der Geburt gleiche: „Schaue zurück: was ist sie für uns, die ewige Dauer / Jener vergangenen Zeit, noch ehe geboren wir waren? / Diese hält die Natur uns gleichsam vor, als den Spiegel / Jener künftigen Zeit, die nachfolgt unserem Tode. / Siehst du was Schreckliches drin? erscheinet ein trauriges Bild dir?“ (Lukrez 1960: 115; 3.972 – 976) Wir bedauern nicht, dass wir vor der Geburt nicht existiert haben, daher sollten wir auch nicht bedauern, dass wir nach dem Tod nicht existieren werden. Philosophen wie Lukrez versuchten auf diese Weise unsere Einstellung zur Zukunft unserer Einstellung zur Vergangenheit anzugleichen, und vielleicht gelingt 74 Manche Symptome einer Angststörung, die durch ein traumatisches Ereignis ausgelöst wurde, lassen sich vielleicht so verstehen, dass sich die betroffene Person vor etwas Vergangenem fürchtet. Aber das ist eben ein pathologischer Fall.
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es manchen Menschen tatsächlich, mit Hilfe dieses Arguments Gleichmut gegenüber dem eigenen Tod zu erlangen. Doch es ist sicherlich schwierig, dem Vorschlag in allen Lebensbereichen Folge zu leisten und beispielsweise eine Zahnoperation, die morgen stattfinden wird, mit derselben Gelassenheit zu betrachten wie eine Zahnoperation, die bereits vor einiger Zeit stattgefunden hat. Zukunft und Vergangenheit völlig gleich zu beurteilen und identische Einstellungen zu ihnen zu entwickeln, dürfte praktisch unmöglich sein, wenn man kein Mensch ist, der dem Leben entsagt hat. Der Präsentismus scheint diesen offensichtlichen Unterschied zwischen einer vergangenen und einen zukünftigen Zahnoperation zu verfehlen. Die Asymmetrie unserer Einstellungen findet jedenfalls in seiner Verwendung des Existenzbegriffs keinen Widerhall. Dies hat zur Folge, dass der Präsentismus die Asymmetrie auch nicht mit Hilfe des Existenzbegriffs erklären kann. Im Rahmen des Präsentismus könnte man allenfalls sagen, dass Vergangenheit und Zukunft aus unterschiedlichen Gründen nicht existieren – die Vergangenheit existiert nicht, weil sie nicht mehr existiert; die Zukunft existiert nicht, weil sie noch nicht existiert. Eine solche Begründung wäre jedoch nicht besonders aussagekräftig, denn sie liefe auf die Aussage hinaus, dass die Vergangenheit nicht existiert, weil sie vergangen ist, und die Zukunft deshalb, weil sie zukünftig ist. Die Erklärung der Asymmetrie unserer Einstellungen mit Hilfe des Existenzbegriffs ist hingegen eine Stärke der Growing-Universe-Theorie. Denn ein Grund dafür, warum wir eine zukünftige Zahnoperation erwarten oder uns gar davor fürchten, liegt nach dieser Theorie darin, dass das Ereignis (noch) nicht existiert. Außerdem erklärt sie, warum wir dieselben Einstellungen bezüglich der Gegenwart und der Vergangenheit als unberechtigt oder unmöglich empfinden: Wenn die Zahnoperation bereits existiert, kann man ihre Existenz nicht erwarten. Abgesehen von dieser Deutung der Asymmetrie mit Hilfe des Existenzbegriffs kann die Growing-Universe-Theorie auch erklären, worin das Gerichtetsein der Zeit besteht, nämlich wieder im Unterschied zwischen der Existenz von Vergangenheit und Gegenwart und der Nichtexistenz der Zukunft. Dazu noch einmal Broad: „The sum total of existence is always increasing, and it is this which gives the time-series a sense as well as an order. A moment t is later than a moment t´ if the sum total of existence at t includes the sum total of existence at t´ together with something more.“ (1923: 66 f.) Die Richtung der Zeit ist also die Richtung des „Wachstums“ der Wirklichkeit. Diese Definition ist möglicherweise der größte theoretische Vorzug der Growing-Universe-Theorie gegenüber dem Präsentismus und dem Eternalismus, die die Richtung der Zeit immer auf andere Weise im theoretischen Gebäude unterbringen müssen. Die Growing-Universe-Theorie besitzt somit zumindest zwei Vorteile: Sie liefert eine elegante Erklärung für die Asymmetrie unserer Einstellungen zu Vergangenheit und Zukunft und sie interpretiert die Zeitrichtung als Anwachsen der
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Existenz. Freilich ist nicht klar, wie groß diese beiden Vorteile tatsächlich sind. Auch der Präsentismus kommt mit der Asymmetrie der Einstellungen prinzipiell zurecht, denn solange er davon ausgeht, dass die Zeit eine Richtung besitzt, akzeptiert er auch einen Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft. Dies dürfte als Erklärung für die Asymmetrie unserer Einstellungen genügen, denn wir können eben nur das freudig erwarten oder befürchten, was in der Zeitrichtung vor uns ist. Solche Einstellungen implizieren, dass das betreffende Ereignis nicht in der Vergangenheit liegt. Um es mit einem Begriff aus Brandoms Inferentialismus auszudrücken (Kapitel 9 und 13): Es bestehen eine Reihe von Inkompatibilitäten, unter anderem zwischen „ich freue mich auf das Ereignis X“ und „X ist vergangen“. Von der Existenz oder Nichtexistenz des Ereignisses X braucht dabei keine Rede zu sein. Und was den zweiten Punkt angeht – die Erklärung der Zeitrichtung –, so habe ich im vierten Kapitel verschiedene Möglichkeiten erörtert, wie eine solche Erklärung aussehen könnte. Zwar konnte keine davon restlos überzeugen, aber vermutlich werden viele den Eindruck haben, dass die eine oder andere dieser Erklärungen immer noch besser ist als die Erklärung durch das Anwachsen der Wirklichkeit. Selbst wenn man alle Erklärungen für das Gerichtetsein der Zeit als ungenügend zurückweisen sollte, kann man sich immer noch auf den Standpunkt stellen, dass sich die Zeitrichtung im Vergehen der Zeit manifestiert und dieses Vergehen selbst ein primitives, nicht weiter erklärbares Faktum ist.75 Immerhin beruht die Feststellung, dass die Zeit vergeht, auf unserem Zeiterleben. Sie ist daher – zusammen mit der Existenz der Gegenwart – weitaus besser belegt als beispielsweise die Existenz der Vergangenheit. Die Annahme der Existenz der Vergangenheit, die die Growing-Universe-Theorie mit dem Eternalismus teilt, dürfte dem vielzitierten Common Sense ebenso widersprechen wie die Annahme, dass die Zukunft existiert. Den meisten Menschen dürfte es plausibler erscheinen, das Dinge und Ereignisse aufgehört haben zu existieren, nachdem sie aus der Gegenwart in die Vergangenheit hinabgesunken sind. Die Growing-Universe-Theorie ist auch kein Grund, den Disput zwischen Präsentismus und Eternalismus nicht mehr als Scheinproblem zu betrachten (Kapitel 13). Sie fügt diesem Disput lediglich eine dritte Möglichkeit der Interpretation des Existenzbegriffs hinzu – und damit ein weiteres Scheinproblem, nämlich die Frage, ob die Growing-Universe-Theorie die richtige Theorie der zeitlichen Existenz ist. Wenn man „existieren“ so verwendet wie in der Growing-Universe-Theorie, dann existieren Vergangenheit und Gegenwart, aber nicht die Zukunft. Da Existenz keine natürliche Eigenschaft ist (Kapitel 14), kann sie im Sinne des Präsentismus, des Eternalismus oder der Growing-Universe-Theorie verstanden 75 Diesbezüglich habe ich am Schluss von Kapitel 4 auf Falkenburg (2012) und in einer Fußnote auf Maudlin (2007) verwiesen.
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werden. Die Growing-Universe-Theorie hat zwar die eben erläuterten theoretischen Vorteile, aber daraus folgt nicht, dass die anderen beiden Beschreibungen der Zeit nicht in Frage kommen. Wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, müssen Präsentismus und Eternalismus den Wahrheitsbegriff, genauer gesagt die Wahrheitsbedingungen temporaler Aussagen, an ihre jeweiligen Vorgaben anpassen, weil ein enger Zusammenhang zwischen den Begriffen „Wahrheit“ und „Existenz“ besteht, wenn man den semantischen Realismus voraussetzt. Dasselbe gilt natürlich auch für die Growing-Universe-Theorie, die Vergangenheitsaussagen wie der Eternalismus und Zukunftsaussagen wie der Präsentismus behandelt, abgesehen davon, dass die Reduktionsbasis um die Vergangenheit ergänzt wird. Das heißt, Aussagen über die Zukunft müssen auf Aussagen über Gegenwärtiges oder Vergangenes zurückführbar sein, um einen Wahrheitswert zu besitzen. Dass „Wahrheit“ in den drei Theorien der Zeit nicht dasselbe bedeutet, ist deshalb möglich, weil der semantische Realismus den Wahrheitsbegriff unvollständig, bloß „formal“ charakterisiert und genauere inhaltliche Bestimmungen offen lässt. Wenn es in Dummetts im vorigen Kapitel zitierter Definition des semantischen Realismus heißt, dass die „Wirklichkeit unabhängig von unserem Wissen von ihr existiert“, so bleibt dabei unbestimmt, was mit „Wirklichkeit“ und „Existenz“ genau gemeint ist. Präsentismus, Eternalismus und Growing-Universe-Theorie präzisieren diese beiden Begriffe in unterschiedlicher Weise und durch den semantischen Realismus werden diese Unterschiede auf den Wahrheitsbegriff übertragen. Daher ist zum Beispiel die Wahrheit von „Pompeji wurde durch einen Ausbruch des Vesuvs zerstört“ im Präsentismus etwas anderes als in der Growing-Universe-Theorie. Und während im Eternalismus „Der Vesuv wird ausbrechen“ wahr sein kann, falls ein solches Ereignis im atemporalen Sinn existiert, müsste die Growing-Universe-Theorie diese „Wahrheit“ auf gegenwärtige und vergangene Existenz zurückführen – andernfalls handelt es sich um eine Wahrheitswertlücke.
Fünfter Teil
Spezielle Relativitätstheorie und Präsentismus Fünfter Teil: Spezielle Relativitätstheorie und Präsentismus
Kapitel 17
Spezielle Relativitätstheorie und absolute Zeit Kapitel 17: Spezielle Relativitätstheorie und absolute Zeit
„Unsere Zustimmung zu einer Ontologie ähnelt, so meine ich, unserer Zustimmung zu einer wissenschaftlichen Theorie, sagen wir: einem System der Physik […]. Unsere Ontologie steht fest, sobald wir uns für das umfassende Begriffsschema entschieden haben, das die Wissenschaft im weitesten Sinn aufnehmen soll; und die Überlegungen, die eine vernünftige Konstruktion irgendeines Teils dieses Begriffsschemas bestimmen, zum Beispiel des biologischen oder physikalischen Teils, sind ihrer Art nach nicht von den Überlegungen verschieden, die eine vernünftige Konstruktion des Ganzen bestimmen.“ (Quine 2011: 49)
Dieses Zitat stammt aus Quines Aufsatz „On What There Is“ aus dem Jahr 1948. Die drei Begriffsschemata (conceptual schemes), auf die es in der Philosophie der Zeit ankommt, sind der Präsentismus, der Eternalismus und die Growing-Universe-Theorie, die Thema der vorangegangenen Kapitel waren. Um die Wissenschaft – wie von Quine gefordert – „aufnehmen“ zu können, sollten diese Begriffsschemata vor allem mit dem etablierten Stand der Physik vereinbar sein, wobei hier wieder die Spezielle Relativitätstheorie im Mittelpunkt des Interesses steht. Wenn ich beispielsweise das Wort „jetzt“ äußere, so bezieht es sich auf alles, was mit der Äußerung gleichzeitig ist. Doch was mit der Äußerung gleichzeitig ist, hängt vom Bezugssystem ab, weil Gleichzeitigkeit relativ ist. Dies spricht auf den ersten Blick für die statische Zeitauffassung, daher musste der Begriff des Zeitvergehens in Kapitel 5 modifiziert werden, um die dynamische Zeitauffassung mit der Speziellen Relativitätstheorie zu versöhnen. Die vorgeschlagene Lösung bestand darin, dass die Zeit nur zwischen zeit- und lichtartig getrennten Ereignissen vergeht und dieses Vergehen keine eindeutig bestimmte Quantität besitzt. Doch die Relativität der Gleichzeitigkeit hat eben nicht nur für das Zeitvergehen Konsequenzen, sondern auch für die Ontologie, für die Existenz von Ereignissen. Präsentismus und Growing-Universe-Theorie schreiben der Gegenwart einen besonderen Status zu: Alles Existierende liegt entweder in der Gegenwart oder wird von der Gegenwart begrenzt. Was alles zur Gegenwart gehört, hängt jedoch wieder vom Bezugssystem ab. Es gibt daher beliebig viele Gegenwarten. Was soll es also heißen, dass nur Gegenwärtiges bzw. nur Vergangenes und Gegenwärtiges existiert?
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Fünfter Teil: Spezielle Relativitätstheorie und Präsentismus
Präsentismus und Growing-Universe-Theorie haben verschiedene Möglichkeiten, mit diesem Problem umzugehen. Eine einfache, wenn auch spekulative Antwort lautet, dass es eine absolute Gleichzeitigkeit gibt, die von der Speziellen Relativitätstheorie schlicht und einfach nicht erfasst werde. Ein früher, jedoch missglückter Versuch, der diese Richtung einschlägt, stammt von Bergson. In Durée et simultanéité von 1922 führt er eine absolute Zeit ein, indem er sich vorstellt, dass sich überall im Universum menschliche Bewusstseine befinden, die „einander aber gerade so nah sind, dass jeweils zwei von ihnen, die sich nebeneinander befinden und die man zufällig herausgreift, den äußersten Abschnitt des Feldes ihrer äußeren Erfahrung gemeinsam haben. […] Durch diese Gemeinsamkeit verschmelzen sie zu einer einzigen Erfahrung und spielen sich in einer einzigen Dauer ab, die beliebig die des einen oder des anderen der beiden Bewusstseine sein wird. Da man denselben Gedankengang immer wieder wiederholen kann, wird eine und dieselbe Dauer auf ihrem Weg die Ereignisse der gesamten materiellen Welt in sich versammeln; und wir können dann die menschlichen Bewusstseine weglassen, die wir zunächst hier und da als Anhaltspunkte für die Bewegung unseres Denkens verteilt hatten: Es wird nur noch die unpersönliche Zeit geben, in der alles geschieht.“ (Bergson 2014: 129)
Es ist bemerkenswert, dass Bergson hier nicht erwähnt, ob sich die „Bewusstseine“ (consciences) relativ zueinander in Bewegung befinden, denn nur unter diesen Umständen würde die Relativität der Gleichzeitigkeit in Erscheinung treten. Im Vorwort zur zweiten Auflage seines Buches schreibt er jedoch ausdrücklich, dass zwischen relativ zueinander bewegten Systemen „hinsichtlich der Zeit kein Unterschied besteht.“ (2014: 69) Und im Buch selbst geht er ausführlich auf entsprechende Beispiele ein, unter anderem auf das bekannte Gedankenexperiment, in dem Einstein das Bezugssystem eines fahrenden Zuges mit dem Bezugssystem des Bahndamms vergleicht (Einstein 1917: § 9): Zwei Blitze, die an verschiedenen Punkten des Bahndamms einschlagen, sind im Bezugssystem des Bahndamms gleichzeitig, nicht jedoch im Bezugssystem des fahrenden Zuges, was Bergsons absolutem Zeitbegriff widerspricht. Bergson versucht dieses Problem dadurch zu lösen, dass er das Ergebnis von Einsteins Gedankenexperiment schlicht und einfach bestreitet: „Hält man sich also wirklich an das Wahrgenommene, Erlebte, befragt man einen wirklichen Beobachter im Zug und einen wirklichen Beobachter auf dem Bahndamm, so wird man erkennen, dass man es mit einer und derselben Zeit zu tun hat: Was im Verhältnis zum Bahndamm Gleichzeitigkeit ist, ist auch im Verhältnis zum Zug Gleichzeitigkeit.“ (2014: 207) Den Widerspruch zwischen dieser Behauptung und der Speziellen Relativitätstheorie beseitigt er durch die Unterscheidung zwischen wirklichen und bloß vorgestellten Beobachtern. Wirkliche Beobachter, meint er, erleben die absolute Zeit, während für vorgestellte Beobachter die Relativität der Gleichzeitigkeit gelte. Die absolute Zeit sei „wirklich, weil der Physiker sie wirk-
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lich durchlebt. Die anderen, bloß gedachten, sind behelfsmäßige, mathematische, symbolische Zeiten.“ (S. 211) Diese Unterscheidung zwischen wirklichen und vorgestellten Beobachtern bzw. Zeiten entbehrt freilich jeder Grundlage in der Speziellen Relativitätstheorie. Letztlich behauptet Bergson nur, dass die Relativitätstheorie falsch ist, weil sie angeblich nicht beschreibt, wie wirkliche Beobachter die Welt erleben. Die Tatsache, dass sich die „mathematischen“, „symbolischen“ Zeiten der Speziellen Relativitätstheorie seit Bergson in zahlreichen Experimenten und technischen Anwendungen bewährt haben, spricht jedoch dafür, den Spieß umzudrehen: Während die Spezielle Relativitätstheorie die Wirklichkeit beschreibt, sind Bergsons „wirkliche“ Beobachter imaginär. Die absolute Zeit ist eine bloße Vorstellung. Es ist selten eine gute Idee, darauf zu beharren, dass eine empirisch bewährte physikalische Theorie falsch sei. Im Fall von Bergson mag dies verzeihlich sein, da die betreffende Theorie noch relativ neu war. Kritiker, die später einen ähnlichen Weg wie Bergson einschlugen, mussten hingegen vorsichtiger sein und die Sache geschickter angehen. Sie argumentierten daher, dass die Spezielle Relativitätstheorie nicht falsch, sondern lediglich unvollständig sei, weil sie kein bevorzugtes Bezugssystem enthalte, in dem die Zeit absolut vergeht (Prior 1968: 133).76 Dieser Gedanke ist uns bereits aus Kapitel 7 bekannt: Die Existenz einer absoluten Raumzeit wurde unter anderem durch kosmologische und quantenmechanische Überlegungen begründet. Davon abgesehen werden in der Philosophie aber auch Argumente vorgebracht, die von der Physik unabhängig sind. Michael Tooley – den ich schon im vorigen Kapitel als Vertreter der Growing-Universe-Theorie erwähnt habe – beruft sich zwar ebenfalls auf das Phänomen der quantenmechanischen Verschränkung, doch sein Hauptaugenmerk gilt der Möglichkeit, das Vergehen der Zeit so zu interpretieren, dass die Vergangenheit die Zukunft kausal hervorbringt. Er vertritt damit eine kausale Theorie der Zeit (Kapitel 4), genauer eine kausale Theorie des Zeitvergehens und damit auch der Zeitrichtung. In seiner Variante der Growing-Universe-Theorie wird das Zeitvergehen zur kausalen Hervorbringung der Zukunft. Tooley definiert absolute Gleichzeitigkeit als Gleichzeitigkeit in einem Bezugssystem, das im absoluten Raum ruht. Dass etwas im absoluten Raum ruht, heißt wiederum, dass es sich zu verschiedenen Zeitpunkten am selben Ort befindet. Dies setzt voraus, dass man angeben kann, unter welchen Bedingungen sich Raumzeit-Punkte am selben Ort des absoluten Raums befinden. Tooley nennt dafür die folgende Bedingung: Zwei verschiedene Raumzeit-Punkte sind am selben 76 Einen Präsentismus, der auf dieser Annahme beruht, nennt Hinchliff „surface presentism“ (2000: S584 – S586).
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Ort, wenn die Existenz eines der beiden Punkte die Existenz des anderen Punktes verursacht (Tooley 1997: 343).77 Die Aussage, ein Raumzeit-Punkt könne die Existenz eines anderen Raumzeit-Punktes „verursachen“, klingt seltsam – und zwar selbst dann, wenn man wie Tooley auch Kausalbeziehungen zwischen Sachverhalten (states of affairs) zulässt (1997: 101). Betreffen die Sachverhalte physische Dinge und Ereignisse, dann lässt sich dies noch recht leicht nachvollziehen: Der Sachverhalt, dass die Billardkugel durch Reibung Energie verliert, ist zum Beispiel die Ursache dafür, dass sie am Ende zum Stehen kommt. Doch ein Raumzeit-Punkt ist weder ein physisches Ding noch ein physisches Ereignis, und ein Sachverhalt, der Raumzeit-Punkte betrifft, ist etwas anderes als ein Sachverhalt, der physische Dinge oder Ereignisse betrifft. „Kausalität“ ist für Tooley ein theoretischer Begriff, den er durch Prinzipien definiert, in denen es um Wahrscheinlichkeiten geht. Vereinfacht gesagt wird die Wahrscheinlichkeit der Ursache auf die Wirkung übertragen (1997: 57 – 63). Außerdem behauptet er, dass Ursachen die Existenz ihrer Wirkungen hervorbringen – Causes as Bringing Effects into Existence lautet eine Zwischenüberschrift in seinem Buch (S. 49). Ein solcher Begriff der Kausalität passt zwar meines Erachtens auf physische Ereignisse, doch er erscheint nicht sinnvoll, wenn es um die Existenz von Raumzeit-Punkten geht. Es ist schwer nachvollziehbar, dass Kausalbeziehungen nicht nur zwischen Ereignissen, sondern auch und vor allem zwischen Raumzeit-Punkten bestehen sollen, wie Tooley betont (S. 261, 286, 291). Wie kann ein Punkt der Raumzeit die Existenz eines anderen, späteren Punktes „hervorbringen“? Oder in der Sprache der Sachverhalte: Wie kann der Sachverhalt, dass ein Raumzeit-Punkt existiert, den Sachverhalt, dass ein anderer Raumzeit-Punkt existiert, verursachen? Um die Versuche von Bergson und Tooley richtig einschätzen zu können, muss man sich vor Augen führen, dass man sehr gute Argumente benötigt, falls man die Absicht hat, über die Spezielle Relativitätstheorie hinauszugehen und die Existenz einer absoluten Raumzeit zu postulieren. Was physikalische Argumente angeht, so haben wir im siebten Kapitel festgestellt, dass zwar in der Kosmologie und der Quantentheorie Indizien für eine absolute Raumzeit zu finden sind, dass diese Indizien jedoch noch nicht ausreichen. Vor allem die quantenmechanische Verschränkung ist selbst ein weitgehend unverstandenes Phänomen, das nicht verständlicher wird, wenn man annimmt, dass es in einer absoluten Raumzeit stattfindet. Der Philosoph und Literaturnobelpreisträger Bergson war von überzeugenden Argumenten gegen die Physik leider weit entfernt. Doch auch Tooleys kausa77 Zusätzlich müssen noch vier weitere Bedingungen erfüllt sein, die hier jedoch nicht von Belang sind.
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le Theorie der Zeit verfehlt trotz deutlich besserer Voraussetzungen dieses Ziel. Seine Theorie erinnert an die ältere, vorrelativistische Metaphysik in Arthur Schopenhauers Abhandlung Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, in der Zeitpunkte als „zureichender Grund des Seins“ (ratio sufficientis essendi) späterer Zeitpunkte aufgefasst werden: „Jeder Augenblick ist bedingt durch den vorigen; nur durch jenen kann man zu diesem gelangen; nur sofern jener war, verflossen ist, ist dieser.“ (Schopenhauer 1988: 142, § 38) Das Wort „Grund“ diente in der Philosophiegeschichte häufig dazu, über Verständnisschwierigkeiten hinwegzutäuschen. Tooley verschlimmert die Sache allerdings noch, indem er aus Schopenhauers Seinsgrund eine „Ursache“ macht, während dieser streng zwischen Seinsgründen und Ursachen unterschieden hat. Die angesprochene Beziehung zwischen Zeitpunkten ist für Schopenhauer nämlich gerade keine der Kausalität, denn ihm zufolge missbraucht man diesen Begriff, „so oft man das Gesetz der Kausalität auf etwas Anderes, als auf Veränderungen, in der uns empirisch gegebenen, materiellen Welt anwendet“ (S. 102, § 24).
Kapitel 18
Gleichzeitigkeit-Präsentismus Kapitel 18: Gleichzeitigkeit-Präsentismus
Vielleicht wird eines Tages durch die Vereinigung von Quantentheorie und Allgemeiner Relativitätstheorie (Kapitel 7) eine physikalische Theorie entstehen, aus der sich die Existenz einer absoluten Raumzeit überzeugend ableiten lässt. Doch im Augenblick ist es noch vernünftiger, nach Maßgabe der Speziellen Relativitätstheorie zu philosophieren, was uns zu relativistischen Varianten des Präsentismus führt, in denen Gegenwart als relative Gegenwart verstanden wird. Dabei gibt es zumindest drei Möglichkeiten, den Begriff der relativen Gegenwart näher zu bestimmen: durch die Gleichzeitigkeit im Ruhesystem des Beobachters, als Vergangenheitslichtkegel eines Punktes auf der Weltlinie des Beobachters oder als dieser Punkt selbst (Hinchliff 1996 und 2000, Rea 2003: 273). Nennen wir diese drei Theorien „Gleichzeitigkeit-Präsentismus“, „Lichtkegel-Präsentismus“ und „Punkt-Präsentismus“.78 Zu jeder derselben gibt es auch eine passende Variante der Growing-Universe-Theorie. Man erhält diese Varianten, wenn man das, was im jeweiligen Präsentismus als „Vergangenheit“ aufgefasst wird, zum Existierenden hinzuzählt. Beispielsweise wird im Lichtkegel-Präsentismus die Gegenwart mit der Oberfläche des Vergangenheitslichtkegels identifiziert.79 Die Vergangenheit besteht dann aus den Ereignissen innerhalb dieses Kegels. Die entsprechende relativistische Variante der Growing-Universe-Theorie würde somit besagen, dass beide Arten von Ereignissen existieren, also der gesamte Vergangenheitslichtkegel, nicht nur dessen Oberfläche. Damit die Diskussion nicht ausufert, werde ich jedoch die relativistischen Varianten der Growing-Universe-Theorie nicht mehr weiter berücksichtigen und nur auf die Relativierungen im Präsentismus näher eingehen. Die Ähnlichkeiten zwischen den betreffenden Auffassungen sind groß genug, dass sich die Überlegungen bezüglich des Präsentismus leicht auf die Growing-Universe-Theorie übertragen lassen. 78 Ich erinnere daran, dass die Gegenwärtigkeit das ist, was sich beim Vergehen der Zeit durch die Zeitreihe „bewegt“ (Kapitel 1). Die drei Arten des Präsentismus sind daher auch drei Theorien des Zeitvergehens. 79 Der gesamte Lichtkegel eines Ereignisses M besteht aus allen Ereignissen, die von M zeit- oder lichtartig getrennt sind. Ereignisse des Vergangenheitslichtkegels können M kausal beeinflussen, solche des Zukunftslichtkegels können von M kausal beeinflusst werden. (Für Ereignisse außerhalb des Lichtkegels wäre dafür Überlichtgeschwindigkeit nötig.) Die Oberfläche des Vergangenheitslichtkegels besteht nur aus von M lichtartig getrennten Ereignissen. Lichtstrahlen, die M treffen, bewegen sich also auf dieser Oberfläche.
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Fünfter Teil: Spezielle Relativitätstheorie und Präsentismus
Das gilt bereits für den ersten Einwand, der sehr allgemein gehalten ist: Da der Präsentismus besagt, dass nur das Gegenwärtige existiert, wird Existenz selbst relativ, wenn man die Gegenwart auf eine der drei Weisen relativiert. Gegen eine solche Relativierung der Existenz werden manchmal grundsätzliche Vorbehalte geäußert. So meint etwa Michael Rea: „Admittedly, embracing relative existence avoids the conflict between presentism and SR. But is presentism really so powerfully intuitive that we should be willing to relativize existence in order to save it? My own inclination is to say no – mainly because I find the notion of relative existence wholly unintelligible.“ (Rea 2003: 273; SR steht für die Spezielle Relativitätstheorie.) Der Gegner des Präsentismus muss also zunächst zugeben, dass der Konflikt zwischen Präsentismus und Spezieller Relativitätstheorie durch die Relativierung beseitigt wird, doch abgesehen davon hält er den Begriff der relativen Existenz für unverständlich. Dies allein ist freilich noch kein überzeugendes Argument, solange man nicht hinzufügt, worin die Unverständlichkeit eigentlich besteht. Zum Vergleich: Die im siebten Kapitel erwähnte quantenmechanische Verschränkung ist insofern unverständlich, als kein kausaler Prozess – kein Modus operandi – bekannt ist, der zwischen den Orten der beiden Teilchen vermittelt. Austauschteilchen mit Überlichtgeschwindigkeit wären dafür geeignet, doch deren Existenz wird durch die Spezielle Relativitätstheorie ausgeschlossen. Es sieht daher so aus, als würde ein Prinzip verletzt, das für unser Verständnis von Kausalität entscheidend ist, das Prinzip der Lokalität: Ereignisse haben lokale Wirkungen, die sich durch den Raum fortpflanzen und dafür eine gewisse Zeit benötigen. Bei verschränkten Teilchen legt die Messung an einem Ort jedoch das Messergebnis an einem entfernten Ort simultan, ohne zeitliche Verzögerung fest. Man kann somit sehr gut erklären, warum aus heutiger Sicht das Phänomen der quantenmechanischen Verschränkung unverständlich erscheint. Aber warum sollte dies auch für den Begriff der relativen Existenz gelten, wie Rea im obigen Zitat behauptet? Im Lichte dessen, was in den vorangegangenen Kapiteln über Existenz gesagt wurde, sind relative Existenzbegriffe lediglich weitere Varianten des Gebrauchs des Wortes „existieren“. Wem diese Varianten unverständlich erscheinen, kann sich immerhin damit trösten, dass alle anderen Gebrauchsweisen dadurch nicht entwertet werden. Das heißt unter anderem, dass man das Wort „existieren“ natürlich auch weiterhin im Sinn des Eternalismus verwenden kann. Relative Existenz wird einem erst dann unverständlich erscheinen, wenn man glaubt, Existenz habe ein „Wesen“, das nur durch einen bestimmten Begriff der Existenz erfasst werden könne. Doch in Kapitel 14 habe ich Argumente dafür gesammelt, dass dem nicht so ist.80 80 Den Übergang zur relativen Existenz könnte man auch so beschreiben, dass das Wort „Existenz“ nicht mehr wie ein Prädikat verwendet wird, sondern wie ein Relations-
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Sehen wir uns nun die drei erwähnten Varianten des Präsentismus genauer an. Am bekanntesten dürfte der Gleichzeitigkeit-Präsentismus sein, der sich unter anderem auf die Tatsache berufen kann, dass in der Speziellen Relativitätstheorie viele Eigenschaften auf Bezugssysteme relativiert werden, etwa die Eigenschaft Geschwindigkeit. Die Geschwindigkeit von Lichtteilchen im Vakuum ist zwar absolut, aber wenn von anderen Objekten die Rede ist, dann ist deren Geschwindigkeit relativ zu irgendeinem Bezugssystem gemeint. Der Gleichzeitigkeit-Präsentismus behandelt die Eigenschaft der Gegenwärtigkeit auf analoge Weise. Betrachten wir dazu das Ruhesystem irgendeines Beobachters und stellen wir dieses wie üblich als zweidimensionales Koordinatensystem dar, in dem die Zeit durch die x-Achse repräsentiert wird. Die y-Achse umfasst jene Ereignisse, die in diesem Koordinatensystem mit dem Nullpunkt gleichzeitig sind. Das Vergehen der Zeit in dem System lässt sich als kontinuierliche Verschiebung der y-Achse entlang der x-Achse veranschaulichen. Dies ist selbstverständlich eine vereinfachte Darstellung, denn die y-Achse entspricht nur einer Raumdimension. Da der Raum dreidimensional ist, haben wir es in Wirklichkeit mit einer dreidimensionalen Hyperebene zu tun, die oft auch als „Gleichzeitigkeitsebene“ bezeichnet wird.81 Der Gleichzeitigkeit-Präsentismus besagt, dass ein Ereignis im Ruhesystem des Beobachters zu einem auf der x-Achse liegenden Zeitpunkt existiert, wenn es zur jeweiligen Gleichzeitigkeitsebene gehört. Zu einem Zeitpunkt t existieren alle Ereignisse, die in diesem Sinn mit t gleichzeitig sind. Jede Existenzbehauptung ist daher nur dann verständlich, wenn man weiß, auf welches Ruhesystem sie sich bezieht. In der Praxis kann man freilich davon ausgehen, dass bestimmte Bezugssysteme aus pragmatischen Gründen bevorzugt werden. Wenn ich zum Beispiel sage, dass es „jetzt“ an einem anderen Ort bereits regnet (in der Erwartung, dass der Regen auch bald zu mir kommt), so liegt es nahe, diese Äußerung auf mein Ruhesystem zu beziehen und nicht auf das Ruhesystem des Windes oder gar auf das der Sonne, in dem ich mich zusammen mit der Erde mit mehr als 100000 Stundenkilometern bewege. Gegen den Gleichzeitigkeit-Präsentismus gibt es einen bekannten Einwand, der nach seinen Erfindern „Rietdijk-Putnam-Argument“ getauft wurde (nach Rietdijk 1966 und Putnam 1967). Das Argument beruht auf der Überlegung, dass man für jeden Beobachter A und jedes beliebige Ereignis M einen weiteren Beobachter B konstruieren kann, der sozusagen zwischen A und M „vermittelt“. Außerdem wird angenommen, dass M für B sowie B für A existiert, woraus ausdruck. Statt „x existiert“ sagt man, dass x relativ zu einem Beobachter, einem Objekt oder einem Raumzeit-Punkt existiert. 81 Eine Hyperebene ist die Verallgemeinerung einer zweidimensionalen Ebene auf beliebige Dimensionen, in diesem Fall auf drei.
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dann geschlossen wird, dass M auch für A existiert. Am Ende dieses transitiven Schlusses steht der Eternalismus – jedes Ereignis existiert. Betrachten wir dieses Argument im Detail: Person B bewegt sich relativ zu Person A. Greifen wir einen Raumzeit-Punkt auf der Weltlinie von A heraus, den wir als „A-jetzt“ bezeichnen wollen. Den Raumzeit-Punkt auf der Weltlinie von B, der im Ruhesystem von A mit A-jetzt gleichzeitig ist, nennen wir „B-jetzt“. Wegen der Relativität der Gleichzeitigkeit ist B-jetzt zwar im Ruhesystem von A mit A-jetzt gleichzeitig, nicht jedoch im Ruhesystem von B. Im Ruhesystem von B sind andere Ereignisse mit B-jetzt gleichzeitig, die im Ruhesystem von A nicht mit A-jetzt gleichzeitig sind. Nehmen wir an, M sei ein solches Ereignis, das im Ruhesystem von B mit B-jetzt gleichzeitig ist. Dann wird die vorhin erwähnte Schlussfolgerung gezogen: M existiert für den Beobachter B, und B existiert für den Beobachter A, daher muss auch M für A existieren. Auf diese Weise könnte man zeigen, dass jedes beliebige Ereignis für A existiert. Denn man kann immer einen möglichen Beobachter konstruieren, der sich relativ zum Ruhesystem von A bewegt und für den (das heißt in dessen Ruhesystem) das betreffende Ereignis existiert. Zum Zeitpunkt A-jetzt würden daher nicht nur die Ereignisse in der Gleichzeitigkeitsebene von A-jetzt existieren, sondern überhaupt alle Ereignisse, auch die der Vergangenheit und der Zukunft. Erfreulicherweise ist die Antwort auf dieses Argument jedoch sehr einfach. Denn die Schlussfolgerung, dass M für A existiert, weil M für B und B für A existiert, beruht auf der Annahme, dass „Existenz-für“ transitiv ist. Der Gleichzeitigkeit-Präsentismus braucht diese Transitivität nicht anzuerkennen (Sklar 1981: 130, Hinchliff 1996: 130 f.). Es gibt sogar einen guten Grund gegen die Transitivität von „Existenz-für“: Die Plausibilität der Aussage „B existiert für A“ beruht nämlich darauf, dass B-jetzt mit A-jetzt im Ruhesystem von A gleichzeitig ist. Zur Erinnerung: B ist ein Beobachter, B-jetzt ein Punkt auf dessen Weltlinie. Strenggenommen existiert nicht B selbst, sondern lediglich B-jetzt für A. Warum sollte daher aus der Tatsache, dass M für B existiert, folgen, dass M auch für A existiert? Man könnte versuchen, diese Erwiderung auf das Rietdijk-Putnam-Argument zu umgehen, indem man den transitiven Schluss anders formuliert, nämlich unter Erwähnung der jeweiligen Raumzeit-Punkte: M existiert zu B-jetzt im Ruhesystem von B, und B-jetzt existiert zu A-jetzt im Ruhesystem von A, daher existiert M auch zu A-jetzt im Ruhesystem von A. Hier ist nicht mehr davon die Rede, dass „ein Beobachter für einen anderen Beobachter existiert“. Doch auch in der neuen Formulierung wird deutlich, dass es um Existenz in zwei verschiedenen Ruhesystemen geht. Warum sollte aus der Existenz von M im Ruhesystem von B und der Existenz von B-jetzt im Ruhesystem von A folgen, dass M im Ruhesystem von A existiert?
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Die Unterscheidung zwischen den beiden Beobachtern A und B einerseits und den Raumzeit-Punkten A-jetzt und B-jetzt andererseits hat soeben zur Entkräftung des Rietdijk-Putnam-Arguments beigetragen. Sie bildet allerdings auch die Grundlage für einen weiteren Einwand gegen den Gleichzeitigkeit-Präsentismus: Existenz wird in diesem auf etwas relativiert, das selbst gar nicht gegenwärtig existiert, jedenfalls nicht zur Gänze, nämlich auf Beobachter bzw. deren Weltlinien. Zum Zeitpunkt des Ereignisses M existiert nicht die ganze raumzeitliche Person B, dennoch spricht man über die Existenz von M im Ruhesystem von B. Entsprechendes gilt für die Existenz von B-jetzt im Ruhesystem von A. Wie können die Existenz von M und die Existenz von B-jetzt von etwas abhängen, das selbst weit über die gegenwärtige Existenz hinausreicht? Wer diese Frage stellt, hat vermutlich den Eindruck, dass Existenz irgendwie durch den Beobachter „hervorgebracht“ oder „erzeugt“ wird. Doch das ist natürlich nicht gemeint, wenn man sagt, dass sie vom Beobachter abhängt oder auf Bezugssysteme relativiert wird. Es ist keine kausale Abhängigkeit oder dergleichen gemeint, sondern eine semantische. Anders formuliert, nicht die Existenz eines Ereignisses hängt im Gleichzeitigkeit-Präsentismus vom Bezugssystem ab, sondern der Existenzbegriff. „Existenz-im-Ruhesystem-von-A“ und „Existenz-im-Ruhesystem-von-B“ sind zwei verschiedene Existenzbegriffe. Sobald der Existenzbegriff auf diese Weise durch Relativierung festgelegt wurde, hängt es allein von der Wirklichkeit ab, ob ein Ereignis in dem betrachteten Bezugssystem existiert oder nicht. Diese Überlegung gibt übrigens auch eine sprachphilosophische Antwort darauf, warum die beiden vorhin diskutierten transitiven Schlüsse nicht berechtigt sind: weil in den Prämissen nicht von derselben Art von Existenz die Rede ist.
Kapitel 19
Lichtkegel-Präsentismus Kapitel 19: Lichtkegel-Präsentismus
Nun zur zweiten Variante des relativistischen Präsentismus. Wie bereits erwähnt wurde, umfasst die „Gegenwart“ des Lichtkegel-Präsentismus die Oberfläche des Vergangenheitslichtkegels eines Raumzeit-Punktes. Eine passende Bezeichnung dafür ist absolute Gegenwart. Diesen Begriff übernehme ich von Arthur Eddington (1931: 53), der ihn allerdings für den Bereich außerhalb des Lichtkegels (das heißt die raumartig getrennten Ereignisse) verwendet, was er „nicht für eine glückliche Bezeichnung“ hält, weshalb er ihn durch „Absolutes Anderswo“ ersetzt. In der folgenden Abbildung aus der deutschen Übersetzung von Eddingtons The Nature of the Physical World (1931: 52) wird das, was ich „absolute Gegenwart“ nenne, als „Jetzt-Gesehen“ bezeichnet:
Handelt es sich bei dem Punkt in der Mitte um A-jetzt, dann bilden die „jetzt gesehenen“ Raumzeit-Punkte auf der Kegeloberfläche die absolute Gegenwart für den Beobachter A zum Zeitpunkt A-jetzt. Diese Punkte sind lichtartig von A-jetzt getrennt, das heißt, dass ein von ihnen ausgehendes Lichtsignal den Beobachter A zu A-jetzt erreicht oder erreichen würde. Die absolute Vergangenheit besteht aus dem Vergangenheitslichtkegel inklusive seiner Oberfläche, das heißt aus den von A-jetzt zeit- oder lichtartig getrennten Ereignissen. Die Ereignisse außerhalb des Vergangenheitslichtkegels liegen in der Zukunft von A-jetzt, wobei es naheliegt, diese auf den Zukunftslichtkegel einzuschränken, das heißt auf die absolute Zukunft von A-jetzt, die aus jenen Ereignissen besteht, die für alle Beobachter später als A-jetzt stattfinden.
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Fünfter Teil: Spezielle Relativitätstheorie und Präsentismus
Der Lichtkegel-Präsentismus ist eine mögliche Explikation des Präsentismus, die mit der Speziellen Relativitätstheorie vereinbar ist. Auf den ersten Blick erscheint sie zwar etwas weit hergeholt, doch sie besitzt durchaus eine Entsprechung im Alltagsdenken: Ereignisse, die ich jetzt sehe, fasse ich üblicherweise als gegenwärtig existierend auf, obwohl das Licht eine mehr oder weniger lange Zeit benötigt hat, um vom Ereignis in meine Augen zu gelangen. Letzteres gilt sogar für meine unmittelbare Umgebung, wobei hier die Verzögerung im Bereich von Mikrosekunden liegt. Doch vor allem bei astronomischen Objekten gewinnt der Lichtkegel-Präsentismus an Plausibilität: Das Licht der Sonne benötigt über acht Minuten zur Erde, Licht vom Saturn mehr als eine Stunde und Licht von nahen Sternen einige Jahre. Trotzdem haben wir bei der Beobachtung des Himmels den Eindruck, dass das gesehene Objekt gegenwärtig so existiert, wie wir es wahrnehmen. Diese Annahme entspricht genau dem Verständnis von „gegenwärtig“ im Lichtkegel-Präsentismus. Der Lichtkegel-Präsentismus führt allerdings auch Konfliktpotential mit sich, da er impliziert, dass einige weit zurückliegende Ereignisse gegenwärtig existieren, wie der am 23. April 2009 im Sternbild Löwe registrierte Gammastrahlenblitz GRB 090423, dessen Strahlung rund 13 Milliarden Jahre bis zur Erde benötigt hat. Dieses Ereignis existierte laut dem Lichtkegel-Präsentismus an jenem Tag in unserer Gegenwart, weil es sich in unserer absoluten Gegenwart befand, was der Art und Weise zu widersprechen scheint, wie Experten und astronomische Laien über die Vergangenheit des Universums reden. Wer würde sagen wollen, dass ein 13 Milliarden Jahre zurückliegendes Ereignis „gegenwärtig“ ist? Ein anderer Einwand gegen den Lichtkegel-Präsentismus betrifft die absolute Vergangenheit: Ein auf der Oberfläche des Vergangenheitslichtkegels, also in der absoluten Gegenwart von A-jetzt liegendes Ereignis M findet für alle Beobachter früher als A-jetzt statt – genau dies ist mit „absoluter“ Vergangenheit gemeint. Der Einwand lautet nun, dass zwei Ereignisse nicht gegenwärtig für einen Beobachter sein können, wenn eines der beiden in der absoluten Vergangenheit des anderen liegt. Savitt (2000: S567) und Hinchliff (2000: S582) bezeichnen die hinter diesem Einwand stehende Prämisse als Prinzip der Achronalität, das im vorliegenden Fall so lautet: Liegen zwei Ereignisse in der Gegenwart von A-jetzt, so kann nicht eines der beiden zur absoluten Vergangenheit des anderen gehören. M gehört jedoch zur absoluten Vergangenheit von A-jetzt, und da A-jetzt selbst zur Gegenwart von A-jetzt gehört, folgt aus dem Prinzip, dass M nicht in der Gegenwart von A-jetzt liegen kann. Wie die Transitivität, auf der das Rietdijk-Putnam-Argument beruhte (siehe voriges Kapitel), erscheint auch das Prinzip der Achronalität auf den ersten Blick einleuchtend. Und wie jene Transitivität braucht auch dieses Prinzip nicht akzeptiert zu werden, denn seine Plausibilität speist sich offenbar aus der Betrachtung der Ereignisse im Inneren des Vergangenheitslichtkegels. Solche Ereignisse sind
Kapitel 19: Lichtkegel-Präsentismus
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zeitartig von A-jetzt getrennt, weshalb sie das Prinzip der Achronalität erfüllen: Jedes von ihnen gehört zur absoluten Vergangenheit von A-jetzt und nicht zu dessen Gegenwart. Während die Ereignisse im Inneren des Lichtkegels den weitaus größten Teil der absoluten Vergangenheit ausmachen, bildet die Kegeloberfläche – die absolute Gegenwart – deren Rand oder Grenze. Dies gibt Anlass zu der Vermutung, dass das, was offensichtlich für das Kegelinnere gilt, auch für die Kegeloberfläche gelten muss. Doch bekanntlich gibt es viele Unterschiede zwischen geometrischen Figuren und deren Grenzen – unter anderem haben Grenzen eine Dimension weniger, was verschiedene geometrische Konsequenzen nach sich zieht. Gemäß dem Lichtkegel-Präsentismus kommt zu diesen Unterschieden ein weiterer hinzu: Anders als das Kegelinnere liegt die Kegeloberfläche in der absoluten Vergangenheit und in der Gegenwart von A-jetzt.82 Zusammenfassend gesagt gibt es im Lichtkegel-Präsentismus – wie im Gleichzeitigkeit-Präsentismus – einige Elemente, die unserem intuitiven Verständnis von „Gegenwart“ widersprechen. Der Lichtkegel-Präsentismus verwirft das Prinzip der Achronalität für Ereignisse der absoluten Gegenwart, außerdem die intuitiv richtig erscheinende Forderung, dass gegenwärtige Ereignisse gleichzeitig sind, die der Gleichzeitigkeit-Präsentismus noch erfüllt. Darüber hinaus verletzt der Lichtkegel-Präsentismus wie der Gleichzeitigkeit-Präsentismus die Transitivität: Existiert ein Ereignis N für M (weil N in der absoluten Gegenwart von M liegt) und M für A-jetzt (weil M in der absoluten Gegenwart von A-jetzt liegt), so folgt daraus nicht, dass auch N für A-jetzt existiert (weil N nicht in der absoluten Gegenwart von A-jetzt liegen muss). Doch ebenso wenig wie die Übereinstimmung mit dem Alltagsdenken als Argument für eine philosophische Theorie ausreicht, können Konflikte mit dem Alltagsdenken eine Theorie allein zu Fall bringen. Die vom Lichtkegel-Präsentismus postulierte Gegenwärtigkeit des Gammastrahlenblitzes GRB 090423 im April 2009 wäre eben nur eine weitere ungewöhnliche These über die Zeit, die Philosophie und Physik im Laufe ihrer Geschichte hervorgebracht haben. Von solchen Zumutungen abgesehen, ist der Lichtkegel-Präsentismus ein konsistenter Vorschlag zur Verwendungsweise des Wortes „existieren“, der sowohl dem präsentistischen Grundgedanken, dass nur Gegenwärtiges existiert, als auch der Speziellen Relativitätstheorie gerecht wird.
82 Dem könnte man am besten Rechnung tragen, indem man den Begriff „absolute Vergangenheit“ auf das Kegelinnere ohne die Grenzfläche einschränkt. Das Prinzip der Achronalität würde dann keine Verwirrung mehr stiften.
Kapitel 20
Punkt-Präsentismus Kapitel 20: Punkt-Präsentismus
Der dritte relativistische Präsentismus ist vielleicht noch ungewöhnlicher als der Lichtkegel-Präsentismus: Nach dem Punkt-Präsentismus existiert zu A-jetzt lediglich dieser Raumzeit-Punkt selbst, der somit seine eigene Gegenwart ist. Aus „Existenz“ wird „Existenz hier-und-jetzt“. Diese Auffassung wurde von Howard Stein (1968) vertreten, der sie „solipsistisch“ nannte, was nicht unpassend erscheint. Es trug aber wohl dazu bei, dass der Punkt-Präsentismus vielen von vornherein absurd vorkam, weil der Solipsismus in der Philosophie im Allgemeinen keinen guten Ruf genießt. Einen wichtigen Unterschied zum metaphysischen Solipsismus brachte Stein dadurch zum Ausdruck, dass er den „Solipsismus“ des Punkt-Präsentismus als „pluralistisch“ bezeichnete (1968: 18). Denn während die These des metaphysischen Solipsismus besagt, dass nur ein Subjekt, das eigene Ich, existiert, behandelt der Punkt-Präsentismus alle Raumzeit-Punkte gleich, weil jeder Punkt seine eigene Existenz bekommt. Der Standardeinwand gegen den Punkt-Präsentismus geht wieder auf Putnam zurück und lautet, dass es nach dieser Auffassung Ereignisse gibt, die in der Vergangenheit liegen, jedoch niemals gegenwärtig waren (Putnam 1967: 246, Hinchliff 2000: S579). Mit „Vergangenheit“ ist der Vergangenheitslichtkegel von A-jetzt gemeint. Die meisten Ereignisse in diesem Bereich liegen nicht auf der Weltlinie von A, sie waren daher niemals „gegenwärtig“ im Sinne des Punkt-Präsentismus. Nur für Ereignisse auf der Weltlinie von A gilt, dass sie für A gegenwärtig waren und daher für A existiert haben. Es gibt zwei mögliche Antworten auf diesen Einwand, die jedoch beide ungenügend sind. Zunächst könnte man darauf hinweisen, dass auch ein Ereignis in der Vergangenheit von A-jetzt, das für A niemals gegenwärtig war, in seiner eigenen Gegenwart existiert hat. Denn schließlich existiert nach dem Punkt-Präsentismus jedes Ereignis in seiner eigenen Gegenwart. Es kann daher keine Rede davon sein, dass das Ereignis „nie gegenwärtig war“. Das Problem besteht allerdings auch gar nicht darin, dass das Ereignis überhaupt nicht gegenwärtig war, sondern dass es eben für A nicht gegenwärtig war. Putnams Einwand beruht auf der (scheinbaren) Unannehmbarkeit der Schlussfolgerung, dass für A vergangene Ereignisse für A niemals gegenwärtig waren. Die erste Antwort geht somit am Problem vorbei. Die zweite Antwort ist eine Umdeutung der „Vergangenheit“ von A-jetzt: Wir brauchen darunter nicht den Vergangenheitslichtkegel zu verstehen; die vergan-
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Fünfter Teil: Spezielle Relativitätstheorie und Präsentismus
gene Weltlinie kommt dafür ebenfalls in Frage. Die für A vergangene Zeit wäre nach diesem Vorschlag die vergangene Eigenzeit, die einst Gegenwart für A war. Diese Variante des Punkt-Präsentismus widerspricht jedoch einer Grundannahme des Präsentismus: Wie wir aus Kapitel 15 wissen, versteht der Präsentismus die Wahrheit von Vergangenheitsaussagen als Bezug zu etwas Gegenwärtigem. Aussagen über vergangene Ereignisse haben einen Wahrheitswert, wenn diese Ereignisse in der Gegenwart Spuren hinterlassen haben. Für den Punkt-Präsentismus heißt dies, dass Aussagen über Vergangenes eigentlich als Aussagen über das Hier und Jetzt zu verstehen sind. Grundsätzlich können aber alle Ereignisse im Vergangenheitslichtkegel Spuren im Hier und Jetzt hinterlassen, sie müssen dazu nicht auf der Weltlinie von A liegen. Die Umdeutung des Vergangenheitsbegriffs würde daher den Bereich der Vergangenheit zu weit einschränken. Kehren wir also zur ursprünglichen Annahme zurück: Die Vergangenheit ist der gesamte Vergangenheitslichtkegel von A-jetzt. Der Einwand gegen den Punkt-Präsentismus war der, dass die meisten Ereignisse im Vergangenheitslichtkegel niemals gegenwärtig waren. Ist diese Aussage wirklich unannehmbar, wie der Einwand suggeriert? In seiner Diskussion des Punkt-Präsentismus weist Hinchliff (2000: S580) darauf hin, dass eben Änderungen zu erwarten seien, wenn man den Präsentismus mit der Speziellen Relativitätstheorie in Einklang bringt. Das galt schon für den Wahrheitsbegriff: Werden die „Spuren“ in der Gegenwart, durch die der Präsentismus die Wahrheit von Vergangenheitsaussagen erklärt, epistemisch gedeutet, so handelt es sich dabei um gegenwärtig existierende Rechtfertigungsbedingungen, woraus folgt, dass viele der betreffenden Aussagen weder wahr noch falsch sind. Das ist ein Wahrheitsverständnis, das nicht von allen geteilt wird. Viele dürften die These, dass unentscheidbare Vergangenheitsaussagen weder wahr noch falsch sind, für ebenso absurd halten wie die These, dass einige vergangene Ereignisse niemals gegenwärtig waren. Dabei sollten wir wieder im Auge behalten, dass jede Theorie der Zeit ihre eigenen „Absurditäten“ aufweist. In den beiden vorangegangenen Kapiteln war davon die Rede, dass eine Relativierung des Gegenwartsbegriffs intuitiv abgelehnt wird und dass durch die ersten zwei Relativierungen bestimmte Prinzipien verletzt werden, die manche für richtig halten. Konflikte zwischen solchen Evidenzen, die letztlich auf dem Alltagsdenken beruhen, und den drei relativistischen Präsentismen sind unvermeidlich. Dem ist nur noch hinzuzufügen, dass auch der Eternalismus dem uns vertrauten Verständnis von Zeit widerspricht, denn dass vergangene und zukünftige Ereignisse existieren, erscheint auf den ersten Blick ebenfalls absurd. Was die intuitive Unplausibilität angeht, haben daher die verschiedenen Zeittheorien einander nichts vorzuwerfen. Nicht zuletzt enthält die Spezielle Relativitätstheorie selbst viele Annahmen, die dem alltäglichen Verständnis der raumzeitlichen Wirklichkeit widersprechen. Es ist daher keinesfalls erstaunlich, sondern vielmehr zu erwarten, dass eine an die Spezielle
Kapitel 20: Punkt-Präsentismus
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Relativitätstheorie angepasste Philosophie der Zeit kontraintuitive Konsequenzen hat. Eine andere Frage ist freilich die, wofür wir den Punkt-Präsentismus überhaupt benötigen. Worin liegt eigentlich die Stärke dieser Interpretation von „Gegenwart“ und „Existenz“? Die Antwort auf diese Frage kommt von Steven Savitt, der Präsentismus und Eternalismus als zwei Perspektiven auf die Wirklichkeit deutet, die verschiedene Zwecke erfüllen: „Presentists adopt a point of view that is close to temporal experience, confronting the actually occurring, as opposed to merely past or future, events. Eternalists consider the totality of actual, as opposed to merely possible or otherwise non-historical, events. The latter perspective seems necessary for physics, for the determination of the geometric structure of space-time. The former perspective is, as it were, that of those living inside the structure contemplated by the latter from ,outside‘. […] Each perspective is compelling, unless it errs by thinking that it is the only point of view worth taking.“ (Savitt 2006: 124)
Es ist nachvollziehbar, dass der Eternalismus die Perspektive der Physik wiedergibt, in deren Theorien die Gegenwart nicht vorkommt. In keiner physikalischen Formel gibt es eine für die Gegenwart reservierte Zeitvariable. Darüber sollte man allerdings nicht vergessen, dass die Gegenwart für die wissenschaftliche Praxis – wie für jede menschliche Praxis – insofern im Zentrum steht, als wissenschaftliche Forschung in der Gegenwart betrieben wird. Aussagen wie „Die Erde entstand vor viereinhalb Milliarden Jahren“ oder „Die globale Klimaerwärmung wird in den nächsten hundert Jahren zwei bis vier Grad betragen“, in denen natürliche Prozesse in Bezug auf die Gegenwart datiert werden, klingen darum so vertraut. Zählt man zur Wissenschaft auch die Anwendung von Theorien in der Zeit, so ist die zweite Perspektive – die des Präsentismus – genauso „wissenschaftlich“ wie die erste. Die Perspektive des die Zeit erlebenden Menschen spiegelt sich in jeder Form des Präsentismus wider. Besonders erfolgreich ist in dieser Hinsicht jedoch der Punkt-Präsentismus, weil er die zwei Bedeutungen von „gegenwärtig“ zusammenführt. Wenn bisher in diesem Buch vom Gegenwärtigen die Rede war, dann war damit Existenz zur gegenwärtigen Zeit gemeint. Daneben hat „gegenwärtig“ aber auch eine andere, epistemische Bedeutung, denn es kann noch heißen, dass etwas jemandem gegenwärtig ist. Wenn ich ein Ereignis wahrnehme, so ist es mir in diesem zweiten Sinn gegenwärtig – es ist Gegenstand meines Bewusstseins. Der Punkt-Präsentismus lässt sich so deuten, dass er seinen Begriff der Gegenwart – als Existenz im Hier und Jetzt – von der Gegenwärtigkeit-für-jemanden ableitet. Das gegenwärtig Existierende ist das, was einem Beobachter gegenwärtig ist oder gegenwärtig sein könnte (wenn dieser zum Beispiel die Augen öffnen oder sich an einen geeigneten Ort begeben würde). Betrachten wir dazu noch einmal den Beobachter A und das Ereignis A-jetzt: Was nach dem Punkt-Prä-
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Fünfter Teil: Spezielle Relativitätstheorie und Präsentismus
sentismus in der Gegenwart des Ereignisses A-jetzt existiert – nämlich A-jetzt selbst –, ist zugleich das, was der Person A aktuell oder potentiell gegenwärtig ist. Damit führt uns der Punkt-Präsentismus wieder zum Erleben zurück, von dem wir in den Kapiteln 2 und 3 ausgegangen sind. Freilich nimmt der Punkt-Präsentismus – wie der Eternalismus und die anderen Formen des Präsentismus – theoretische Idealisierungen vor, weil er von Raumzeit-Punkten oder beliebig kleinen Zeitspannen spricht, während die erlebte Gegenwart immer eine zeitliche Mindestausdehnung besitzt. Auch ein allenfalls vorhandener räumlicher Abstand zwischen der Person und dem von ihr wahrgenommenen Ereignis wird vernachlässigt. Der Existenzbegriff des Punkt-Präsentismus erweist sich so als Idealisierung des Begriffs der Gegenwärtigkeit-für-jemanden. Mit Martin Heidegger könnte man sagen, dass der Punkt-Präsentismus durch diese Idealisierung aus dem vorontologischen Seinsverständnis einen ontologischen Begriff des Seins (der Existenz) gewinnt.83 Einer der Begriffe, die Heidegger in Sein und Zeit verwendet, um die Frage nach dem Sinn von Sein zu klären, ist der der Anwesenheit. Das Anwesende ist das, was dem Menschen – bzw. dem „Dasein“ in Heideggers Terminologie – gegenwärtig ist: „Das λέγειν selbst, bzw. das νοεῖν – das schlichte Vernehmen von etwas Vorhandenem in seiner puren Vorhandenheit, das schon Parmenides zum Leitband der Auslegung des Seins genommen – hat die temporale Struktur des reinen ‚Gegenwärtigens‘ von etwas. Das Seiende, das sich in ihm für es zeigt und das als das eigentliche Seiende verstanden wird, erhält demnach seine Auslegung in Rücksicht auf – Gegen-wart, d. h. es ist als Anwesenheit (οὐσία) begriffen.“ (Heidegger 1979: 25 f.)
Ich verstehe, was es heißt, dass dieser Apfel vor mir auf dem Tisch „existiert“. Ich nehme ihn wahr; er ist anwesend. Würde er nicht existieren, so würde ich ihn auch nicht wahrnehmen (denn ich neige nicht zu Halluzinationen). Dass wir Dinge als anwesend erleben, ist die Grundlage jedes Verständnisses von Existenz. Dieses vorontologische Seinsverständnis kann jedoch nicht das letzte Wort sein, denn Dinge existieren auch, ohne wahrgenommen zu werden. Außerdem gibt es Wahrnehmungstäuschungen, scheinbare Anwesenheit von Gegenständen, die in Wirklichkeit gar nicht existieren. Das vorontologische Seinsverständnis ist daher zwar der Ausgangspunkt für die Ontologie, die Heidegger als „das explizite theoretische Fragen nach dem Sein des Seienden“ (1979: 12) definiert; doch es muss erst zu einem theoretischen Begriff umgestaltet werden. Das geschieht im Präsentismus und im Eternalismus, deren Seinsbegriffe weit über das vorontolo-
83 Ich unterscheide in diesem Buch nicht zwischen Sein und Existenz, bevorzuge jedoch das zweite Wort. Heidegger selbst verwendet „Existenz“ bekanntlich anders, nämlich für das Sein des Menschen, des „Daseins“ (1979: 42).
Kapitel 20: Punkt-Präsentismus
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gische Seinsverständnis als Anwesenheit hinausgehen, wobei der Punkt-Präsentismus demselben noch am nächsten steht. Heidegger gebraucht die Wörter „Vorhandensein“ oder „Vorhandenheit“, um „die ontologische Bedeutung des überlieferten Terminus existentia“ (1979: 42) zum Ausdruck zu bringen – das heißt für Sein im theoretischen Sinn. Meist bezieht er sich damit auf das Vorhandensein von Dingen, doch es macht keinen großen Unterschied, wenn man Dinge durch Ereignisse ersetzt. Im Punkt-Präsentismus ist die Existenz eines Ereignisses sein Vorhandensein, also seine Gegenwart an einem Raumzeit-Punkt. Wir haben ein vorontologisches Verständnis dieses Vorhandenseins, weil wir wissen, wie es ist, wenn ein Ereignis unserem Bewusstsein gegenwärtig ist – wenn es anwesend ist. Wie gesagt, von allen Theorien der zeitlichen Existenz, die in diesem Buch behandelt wurden, steht der Punkt-Präsentismus diesem vorontologischen Verständnis des Seins am nächsten. Dies erklärt auch, weshalb gerade hier der scheinbar widersprüchliche Begriff einer Vergangenheit, die niemals Gegenwart war, aufgetaucht ist. Der zu Beginn des Kapitels diskutierte Einwand gegen den Punkt-Präsentismus lautete ja, dass es vergangene Ereignisse gibt, die niemals gegenwärtig waren. In der phänomenologischen Philosophie ist der Begriff einer Vergangenheit, die niemals Gegenwart war, längst bekannt. Maurice Merleau-Ponty bezieht sich mit diesem Begriff auf eine „nicht-thetische, vorobjektive und vorbewußte Erfahrung“ (1966: 282), die ein präreflexives Empfinden ohne „Gegenwärtigkeit“ ist. Zwar lässt sich dieser phänomenologische Begriff nicht unmittelbar auf den Punkt-Präsentismus übertragen, denn die Vergangenheit, die niemals Gegenwart war, wird im Punkt-Präsentismus auch niemals erfahren. Doch es besteht eine Analogie: Wegen der engen Beziehung zwischen dem Existenzbegriff des Punkt-Präsentismus und dem phänomenologischen Begriff der Gegenwärtigkeit wird da wie dort der Begriff der Vergangenheit auf ähnliche Weise modifiziert. Da wie dort gibt es Vergangenes, das nicht gegenwärtig war – in den beiden Bedeutungen von „gegenwärtig“ als gegenwärtige Existenz und gegenwärtig-fürjemanden. Auf die Phänomenologie werde ich im übernächsten Kapitel zurückkommen.
Sechster Teil
Zeitliche und zeitlose Existenz Sechster Teil: Zeitliche und zeitlose Existenz
Kapitel 21
Zeitliche Existenz Kapitel 21: Zeitliche Existenz
In den Kapiteln 13 und 14 habe ich dafür argumentiert, dass das Wort „existieren“ im Präsentismus und im Eternalismus nicht dieselbe Bedeutung besitzt. Differenzierungen innerhalb des Präsentismus ergaben sich durch die Relativierungen, die in den letzten drei Kapiteln untersucht wurden. In diesen Versionen des Präsentismus hat das Wort „Gegenwart“ verschiedene Bedeutungen, weshalb auch die jeweiligen Existenzbegriffe verschieden sind. Alle betrachteten Theorien haben gemeinsam, dass es um Existenz in der Zeit geht. Von dieser zeitlichen Existenz besitzen wir ein vorontologisches Verständnis, weil wir Dinge und Ereignisse als anwesend erleben. Daraus entwickelt sich der theoretische Begriff der Vorhandenheit an einem Ort zu einer Zeit, der in idealisierter Form im Zentrum des Punkt-Präsentismus steht. Wenn in der Philosophie der Zeit davon die Rede ist, dass Ereignisse „existieren“, so werden dazu meist einige typische Fragen gestellt. Man fragt beispielsweise nach Bedingungen, die die Zuschreibung von Existenz rechtfertigen; man diskutiert, ob nur gegenwärtige oder auch vergangene und zukünftige Ereignisse existieren; man stellt die Frage, ob Existenz eine natürliche Eigenschaft ist, oder formuliert all diese Fragen so um, dass es dabei nicht um eine Eigenschaft namens „Existenz“, sondern um die Reichweite des Existenzquantors geht. Die Frage, was mit Existenz eigentlich gemeint ist, wird jedoch eher selten gestellt. Dies hat einen guten Grund: Begriffe werden für gewöhnlich durch allgemeinere Begriffe definiert; „Existenz“ gehört jedoch bereits zu den allgemeinsten Begriffen und kann daher nicht durch noch allgemeinere Begriffe definiert werden. Man kann zwar Formen des Existierens – ontologische Kategorien oder Seinsweisen – voneinander unterscheiden, aber was Existieren selbst ist, kann man nicht sagen. Das ist der von Aristoteles vertretene Standpunkt, der allem Anschein nach richtig ist. Eine Definition erfasst seiner Ansicht nach das Wesen (ousia) einer Sache, und wie das Eine (to en) ist auch das Seiende (to on) kein Wesen, „denn das Seiende und das Eine wird am allgemeinsten von allem ausgesagt.“ (1991: 147; 1053b) Von mittelalterlichen Aristotelikern wurden „Seiendes“ (lateinisch ens) und „Eines“ (unum) daher zu den „transzendentalen“ Begriffen gezählt, die jenseits der zehn aristotelischen Kategorien liegen, die die höchsten Gattungen des Seienden bilden. Diese aristotelische Begründung für die Undefinierbarkeit des Existenzbegriffs setzt voraus, dass in einer Definition Begriffe verwendet werden müssten, die allgemeiner sind als der zu definierende Begriff. Auf die traditionelle aris-
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Sechster Teil: Zeitliche und zeitlose Existenz
totelische Definitionsmethode durch Gattung und Artunterschied trifft dies zu. Dabei sind „Gattung“ und „Art“ natürlich nicht im biologischen, sondern im begriffslogischen Sinn gemeint, aber wir können uns trotzdem ein biologisches Beispiel ansehen: Ein Dromedar (Art) ist ein Kamel (Gattung) mit nur einem Höcker (Artunterschied). Um „Existenz“ nach diesem Muster zu definieren, müsste man ebenfalls eine höhere Gattung finden und angeben, was existierende Mitglieder dieser Gattung von nichtexistierenden unterscheidet. Das scheint nicht möglich zu sein, weil es keine höhere Gattung gibt. Doch Definitionen können auch anders gestaltet sein. Nicht immer benötigt man Gattungen und Arten, oft genügt ein einziges Wort. So wäre „ein Kamel“ eine gute Antwort auf die Frage, was denn ein „Wüstenschiff“ sei. Diese Antwort kann informativ und völlig ausreichend sein, wenn jemand bereits weiß, was ein Kamel ist. Eine weitere Möglichkeit der Definition besteht darin, Begriffe miteinander zu kombinieren, die weniger allgemein sind als der zu definierende Begriff: „Kamel“ könnte man disjunktiv definieren als „Dromedar oder Trampeltier“. (Trampeltiere haben zwei Höcker.) Was ließe sich im Falle des Existenzbegriffs mit derartigen Definitionen erreichen? Dass man ein anderes Wort für „Existenz“ finden kann, wird kaum jemand bestreiten wollen. So ist zum Beispiel in vielen Publikationen zur Philosophie der Zeit nicht von der Existenz von Ereignissen die Rede, sondern von deren Realität. Entscheidet man sich für diese Terminologie, könnte man etwa den Gegensatz zwischen Eternalismus und Präsentismus in die Frage kleiden, ob neben gegenwärtigen Ereignissen auch vergangene und zukünftige Ereignisse real sind. Und auch aus den drei relativierten präsentistischen Existenzbegriffen werden dann verschiedene Begriffe des Realen: Existenz in einem Bezugssystem wird beispielsweise zur „Realität“ in einem Bezugssystem. All dies könnte man schließlich mit einer Definition von „existieren“ durch das Wort „real“ krönen: Etwas existiert genau dann, wenn es real ist. Offensichtlich würde uns eine solche Erklärung eines Wortes durch ein synonymes Wort keinen Schritt weiterbringen. Wir bräuchten mehr als bloß ein anderes Wort für „Existenz“, wenn wir durch die Definition lernen wollen, was Existenz ist.84 Nicht viel besser sieht die Sache aus, wenn wir versuchen, „Existenz“ durch eine Disjunktion von Begriffen zu definieren, die weniger allgemein sind als „Existenz“ selbst – nach dem Vorbild der Definition von „Kamel“ als „Dromedar oder Trampeltier“. Nehmen wir an, jemand würde behaupten, dass etwas genau dann existiert, wenn es entweder physisch oder psychisch ist. Wäre dies als De84 Ich unterscheide weder zwischen „Realität“ und „Existenz“ noch zwischen „Realität“ und „Wirklichkeit“. Was existiert, ist real/wirklich, und umgekehrt. Man sollte jedoch im Auge behalten, dass „real“ bzw. „wirklich“ in der Philosophie oft in einem engeren Sinn verstanden werden, etwa wenn zwischen Erscheinung und Wirklichkeit unterschieden und zugleich gesagt wird, dass Erscheinungen existieren.
Kapitel 21: Zeitliche Existenz
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finition von „Existenz“ gemeint, so stieße sie auf den folgenden Einwand: Man kann von einer Sache wissen, dass sie physisch oder psychisch ist, ohne dass daraus die Existenz dieser Sache folgt. Tachyonen (Teilchen mit Überlichtgeschwindigkeit), Zentauren (halb Mensch, halb Pferd) und Engel (Geistwesen im Himmel) sind jeweils physisch oder psychisch (oder beides), doch sie existieren nicht. Die Definition „physisch oder psychisch“ ist offenbar nur dann sinnvoll, wenn man sie so versteht, dass Existenz entweder physische Existenz oder psychische Existenz ist. Dabei wird „Existenz“ aber nicht durch andere Begriffe definiert, sondern vielmehr vorausgesetzt. Die vermeintliche Definition entpuppt sich damit als Aufzählung zweier Arten von zeitlicher Existenz. Es ist zwar interessant, zu wissen, welche Arten es gibt, doch wir erfahren dadurch nicht, was Existenz ist. Die Unterscheidung zwischen „physisch“ und „psychisch“ lässt sich in dieser Hinsicht mit den aristotelischen Kategorien vergleichen: Weiß man, dass etwas qualitativ oder quantitativ ist – um nur zwei der zehn Kategorien zu nennen –, so weiß man noch nicht, ob es auch existiert. Die zehn Kategorien sind zehn Gattungen der Existenz, zehn Seinsweisen, doch „Existenz“ selbst lässt sich nicht als Disjunktion der Kategorien definieren. Wie ich schon erwähnt habe, galt „Seiendes“ (ens) aus diesem Grund als transzendentaler Begriff. Formulieren wir dieses Ergebnis möglichst allgemein: Angenommen, „Existenz“ werde definiert durch eine Beschreibung D, die den Begriff „Existenz“ selbst nicht enthält. Dann scheint die Aussage, dass etwas D ist, nicht zu implizieren, dass dieses Etwas existiert. Aristoteles erläutert diese Überlegung in der Zweiten Analytik (92b) am Beispiel des Bockhirsches (tragelaphos), eines Mischwesens aus Hirsch und Ziegenbock. Thomas von Aquin wird diesen in De ente et essentia (Kap. 4) durch den Vogel Phönix ersetzen: „Jedes Wesen [essentia] oder jede Washeit [quiditas] aber kann gedacht werden, ohne daß man etwas über sein (ihr) Sein weiß: ich kann nämlich wissen, was ein Mensch oder ein Phönix ist, und dennoch nicht wissen, ob er Sein im Reich der Wirklichkeit hat. Also ist offenbar, daß das Sein etwas anderes ist als Wesen oder Washeit.“ (Thomas von Aquin 1979: 49)85 Wenn Aristoteles und Thomas recht haben, dann kann keine Beschreibung das Wesen der Existenz zum Ausdruck bringen. Wenn wir nur wissen, dass etwas D ist, dann wissen wir noch nichts über seine Existenz. Das gilt jedenfalls unter der Annahme, dass D kein in sich widersprüchlicher Begriff wie „rundes Viereck“ ist; dann wüssten wir nämlich, dass die Definition missglückt ist, weil etwas, das D ist, gar nicht existieren kann. Abgesehen von solchen Fällen lässt die Definition stets die Frage offen, ob etwas, das D ist, auch existiert.86 85 Wieder ein paar Jahrhunderte später findet Kant dafür eine seither oft zitierte Formulierung: „Sein ist offenbar kein reales Prädikat, d. i. ein Begriff von irgend etwas, was zu dem Begriffe eines Dinges hinzukommen könne.“ (1998: B 626) 86 „Offene Frage“ ist eine Anspielung auf das „open question argument“, mit dem G. E. Moore die Undefinierbarkeit von „gut“ begründet hat. Die Begründung lautet, „daß
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Sechster Teil: Zeitliche und zeitlose Existenz
Dass sich „Existenz“ nicht definieren lässt, heißt jedoch nicht, dass es nur einen Existenzbegriff gibt, dass also „Existenz“ immer dasselbe bedeutet. Die Überlegungen zur zeitlichen Existenz in den vorangegangenen Kapiteln sollten zeigen, dass es mehrere Bedeutungen gibt, die durch den Eternalismus und die drei Präsentismen repräsentiert werden. Im Eternalismus „existiert“ überhaupt jedes Ereignis der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Gleichzeitigkeit-Präsentismus relativiert „Existenz“ auf Bezugssysteme, was man so verstehen kann, dass es für jedes Bezugssystem eine eigene Art der Existenz gibt. Im Lichtkegel-Präsentismus erfolgt die Relativierung auf Vergangenheitslichtkegel und im Punkt-Präsentismus auf Raumzeit-Punkte. Letzterer fristet zwar in der Philosophie der Zeit ein Schattendasein, doch dies ist darauf zurückzuführen, dass für gewöhnlich nach der einen richtigen Theorie der Zeit gesucht wird und der Punkt-Präsentismus im Vergleich mit den anderen Theorien zu exzentrisch erscheint. Sobald man erkennt, dass es mehrere Begriffe der zeitlichen Existenz gibt, weil Existenz keine natürliche Eigenschaft ist (Kapitel 14), bekommt auch er seine Chance. Der Punkt-Präsentismus ist jedoch nicht nur eine von mehreren Möglichkeiten, den Präsentismus mit der Speziellen Relativitätstheorie in Einklang zu bringen. Wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, steht sein Existenzbegriff dem vorontologischen Seinsverständnis sogar am nächsten. Denn „Existenz hier-undjetzt“ ähnelt Heideggers Begriff der Gegenwart als „Anwesenheit“. So gesehen ist der Punkt-Präsentismus gar keine Außenseiterposition, sondern vielmehr die hermeneutische Grundlage für jede Theorie der zeitlichen Existenz. Wir verstehen zunächst, was es heißt, zeitlich zu existieren, weil wir verstehen, was es heißt, dass etwas hier und jetzt anwesend ist. Der Punkt-Präsentismus ist nur die theoretische Verarbeitung dieser Einsicht, die Heidegger in der im vorigen Kapitel zitierten Passage als „Vernehmen von etwas Vorhandenem in seiner puren Vorhandenheit“ beschrieben hat (1979: 25). Was den Gegenpol zum Punkt-Präsentismus, nämlich den eternalistischen Existenzbegriff angeht, so könnte man diesen als Resultat einer Abstraktion des Punkt-präsentistischen Existenzbegriffs betrachten. Den Abstraktionsvorgang selbst kann man sich so vorstellen, dass die Wörter „hier“ und „jetzt“ durch Variablen ersetzt werden, die für beliebige Raumzeit-Punkte stehen, wodurch „Existenz-hier-und-jetzt“ zu „Existenz-irgendwo-und-irgendwann“ wird. Der eternalistische Existenzbegriff ist sozusagen der Begriff einer Gegenwart oder Anwesenheit, die den Bezug zu bestimmten Orten und Zeiten verloren hat. Auf paradoxe Weise ließe sich dies so ausdrücken, dass für den Eternalismus alles und daher nichts gegenwärtig ist. bei jeglicher angebotenen Definition angesichts des definierten Ganzen stets zu Recht gefragt werden kann, ob es selbst gut ist.“ (Moore 1970: 46)
Kapitel 22
Abstrakte Existenz Kapitel 22: Abstrakte Existenz
Wenn über Präsentismus und Eternalismus debattiert wird, so denkt man dabei vor allem an die Existenz physischer Dinge und Ereignisse. Dass in diesem Buch über Zeit und Existenz auch das Zeiterleben berücksichtigt wurde, ist allerdings bereits ein Hinweis darauf, dass sich zeitliche Existenz nicht auf physische Existenz allein beschränken lässt, weil auch Erlebnisse in der Zeit existieren. Edmund Husserl erläutert dies in der zweiten seiner Logischen Untersuchungen folgendermaßen, wobei er zeitliche Existenz mit Realität gleichsetzt: „Als real gilt uns das ‚Im‘ Bewußtsein genau so, wie das ‚Außen‘. Real ist das Individuum mit all seinen Bestandstücken; es ist ein Hier und Jetzt. Als charakteristisches Merkmal der Realität genügt uns die Zeitlichkeit. […] Denn worauf es hier allein ankommt, das ist der Gegensatz zum unzeitlichen ‚Sein‘ des Idealen.“ (Husserl 1984: 129) Das „unzeitliche Sein des Idealen“ wird uns gleich beschäftigen. Bleiben wir zunächst noch beim Bewusstsein: Weil es in der Zeit existiert, existiert es ebenso real wie die Wirklichkeit außerhalb des Bewusstseins. Wie wir wissen, stellt die Anwesenheit, die Gegenwärtigkeit-für-jemanden, ein vorontologisches Verständnis der Existenz physischer Dinge bereit. Unser Verständnis der Existenz des Bewusstseins hat denselben Ursprung, denn wenn ich ein Ding wahrnehme, so zeigt sich mir nicht nur, was es heißt, dass das Ding existiert, sondern auch, was es heißt, das Ding wahrzunehmen. Franz Brentano beschrieb diesen Zusammenhang so, dass das Wahrnehmen zwei Objekte hat, ein „primäres“ und ein „sekundäres“: „In demselben psychischen Phänomen, in welchem der Ton vorgestellt wird, erfassen wir zugleich das psychische Phänomen selbst, und zwar nach seiner doppelten Eigenthümlichkeit, insofern es als Inhalt den Ton in sich hat, und insofern es zugleich sich selbst als Inhalt gegenwärtig ist. Wir können den Ton das primäre, das Hören selbst das secundäre Object des Hörens nennen.“ (1874: 167; ein Absatzwechsel wurde entfernt.) Dass beim Hören das Hören selbst ein (sekundäres) Objekt des Bewusstseins ist, wurde von Brentanos Nachfolgern bestritten. Sie stießen sich vor allem daran, dass dieses Bewusstsein ein Objektbewusstsein sein soll. Jean-Paul Sartre machte daher daraus ein nicht-objektsetzendes Bewusstsein, das er auch „präreflexives Cogito“ nannte (1993: 17) – wir kennen es bereits von Merleau-Ponty (Kapitel 20). Aus Brentanos „doppelter Eigenthümlichkeit“ des psychischen Phänomens wurde so eine Identität von objektsetzendem und nicht-setzendem Bewusstsein
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Sechster Teil: Zeitliche und zeitlose Existenz
(S. 21). Noch früher als Sartre schrieb Edmund Husserl, das Erleben werde erst zum Objekt „in der psychologischen Reflexion, deren Auffassungsweisen wir nicht in den unmittelbaren Tatbestand hineindeuten dürfen. Daß der zugehörige Belauf an Empfindungen oder Phantasmen erlebt und in diesem Sinne bewußt ist, besagt nicht und kann nicht besagen, daß er Gegenstand eines Bewußtseins in dem Sinne eines darauf gerichteten Wahrnehmens, Vorstellens, Urteilens ist.“ (1984: 165) Wie auch immer die beiden Seiten des psychischen Phänomens genau zu deuten sind, worauf es für uns ankommt, ist die von Husserl angesprochene Tatsache, dass es prinzipiell möglich ist, über das Erleben zu reflektieren und damit das psychische Phänomen zu einem Objekt zu machen, falls es nicht schon vorher eines war. Dadurch erhalten wir einen weiteren Begriff der Existenz neben dem der physischen Existenz. Während physische Existenz Vorhandenheit ist, ist psychische Existenz die Seinsweise des phänomenalen Bewusstseins, das man etwas hochtrabend als „präreflexives Cogito“ oder bescheidener als „Erleben“ bezeichnen kann. Die Philosophie hat dafür noch viele weitere Namen, zum Beispiel „Idee“, „Empfindung“ oder „Vorstellung“. Die so bezeichneten psychischen Objekte existieren in der Zeit und sind somit – in Husserls Terminologie – „real“. Nun zum unzeitlichen Sein des Idealen, das Husserl an der zu Beginn des Kapitels zitierten Stelle aus den Logischen Untersuchungen von der realen Existenz trennt. Das Wort „Sein“ steht dort noch in Anführungszeichen, doch wenig später im Text gehen diese verloren. Man kann daher ohne Vorbehalte sagen, dass Husserl zwischen realer und idealer Existenz unterschieden hat. Ideale Existenz ist für ihn die Existenz des Allgemeinen, wobei er meist von „Spezies“ spricht. Ich werde die andere traditionelle Bezeichnung „Universalien“ verwenden.87 Da Husserl ideale Existenz als zeitlose Existenz versteht, kommen für diese Form von Existenz freilich nicht nur Universalien in Frage. Noch von vielen anderen Dingen wurde in der Philosophiegeschichte behauptet, dass sie zeitlos existieren. Dazu gehören unter anderem Naturgesetze, Tatsachen, mathematische Objekte, logische Zusammenhänge, moralische Werte, nicht-realisierte Möglichkeiten, literarische Fiktionen, Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke sowie rein geistige Wesenheiten wie Seelen und Gottheiten. Bezüglich all dieser Arten von Dingen ließe sich die Frage stellen, ob sie jeweils existieren und, wenn ja, ob sie zeitlos existieren. Eine derart umfassende ontologische Untersuchung liegt freilich weit jenseits der Grenzen dieses Buches. Doch was die zweite Frage angeht – die der Zeitlosigkeit –, so ist eine relativ kurze, pauschale Antwort möglich, denn es gibt gute Gründe dafür, den Begriff der zeitlosen Existenz abzulehnen. 87 Man kann Husserls Position platonistisch nennen, obwohl er den „platonischen“ oder „platonisierenden Realismus“ zurückweist, für den Universalien „real“ seien (Husserl 1984: 127 f.).
Kapitel 22: Abstrakte Existenz
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Unter anderem sind hier zwei Punkte zu berücksichtigen: Erstens wirft die zeitlose Existenz das Problem auf, wie das Zeitlose mit dem Zeitlichen zusammenhängt. Zweitens verfügen wir über kein hinreichendes Verständnis von zeitloser Existenz. Zunächst zur ersten Schwierigkeit: Die Frage des Zusammenhangs zwischen Zeitlichem und Zeitlosem nimmt verschiedene Formen an, je nachdem, mit welchen Gegenständen welcher Theorien wir es zu tun haben. Eine der bekanntesten Varianten ist das „Chōrismos-Problem“, die Frage des Zusammenhangs zwischen den platonischen Ideen und den von diesen getrennt (chōris) existierenden empirischen Dingen. Eine andere Variante des Problems betrifft die Frage, wie ein zeitlos gedachter Gott ein zeitliches Universum erschaffen konnte. Und eine weitere ergibt sich, wenn man Naturgesetze als zeitlose Universalien oder Relationen zwischen solchen Universalien auffasst: Wie gelingt es einem zeitlosen Naturgesetz zeitliche Abläufe in der physischen Wirklichkeit zu „steuern“? Hierzu ein Beispiel aus jüngerer Zeit, in dem die Naturgesetze selbst sozusagen die Rolle des Schöpfergottes übernehmen: Der Physiker Alex Vilenkin (2008: Kap. 17) beschreibt die Entstehung des Universums als einen quantenmechanischen Prozess, der nichts voraussetzt außer die Gesetze der Quantentheorie selbst bzw. die fundamentalen Gesetze der Quantengravitation. Das Universum sei aus einem „Nichts“ hervorgegangen, in dem nur Naturgesetze existiert haben. Wie gelang es diesen Gesetzen bloß, das Universum hervorzubringen? Diese wenigen Beispiele machen deutlich, dass die Annahme von zeitlos Existierendem stets zu unlösbaren Problemen führt, die seine Beziehung zum zeitlich Existierenden betreffen. In den günstigsten Fällen wird das Zeitlose postuliert, um die Existenz oder bestimmte Merkmale des Zeitlichen zu erklären. Platon etwa erklärte die Ähnlichkeit zwischen zwei Dingen durch deren Teilhabe (methexis) an derselben Idee; die Existenz des Universums wurde durch Gott oder Naturgesetze (oder beides) erklärt. Doch alle derartigen Erklärungen werden dadurch entwertet, dass der Zusammenhang zwischen Explanans und Explanandum rätselhaft ist.88
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Platon war sich dieses Problems bewusst, wie man auf den ersten Seiten des Dialogs Parmenides nachlesen kann. Was den göttlichen Schaffensprozess angeht, so meint dazu Tetens: „Es ist freilich unerheblich, dass uns unser Vorstellungsvermögen in diesem Falle im Stich lässt. Auch die Quantenmechanik zum Beispiel behauptet über Quantenobjekte vieles, und das meiste davon können wir uns nicht vorstellen, sondern es nur mathematisch widerspruchsfrei beschreiben. Genauso ist es mit Gottes Denken und Wollen.“ (2015: 39 f.) Ich bin nicht der Meinung, dass dies „unerheblich“ ist. Denn erstens kann man das göttliche Schaffen nicht „mathematisch widerspruchsfrei beschreiben“, zweitens lässt sich die Quantenmechanik experimentell überprüfen, und drittens schließlich steckt sie voller philosophischer Probleme, die zu ihrem Untergang führen würden, wenn sie nicht mathematisch widerspruchsfrei beschreibbar und experimentell überprüfbar wäre.
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Sechster Teil: Zeitliche und zeitlose Existenz
Die zweite Schwierigkeit besteht wie gesagt darin, dass auch das jeweilige Explanans unverständlich ist, die zeitlose Existenz. In den beiden vorangegangenen Kapiteln habe ich erläutert, wie unser Verständnis der zeitlichen Existenz zustande kommt: Existenz-hier-und-jetzt ist uns in der Erfahrung gegenwärtig. Der Eternalismus beispielsweise abstrahiert von dieser Erfahrung und gewinnt so den Begriff der atemporalen Existenz, der Existenz-irgendwo-und-irgendwann. Die zeitlose Existenz würde uns jedoch dazu zwingen, auch noch von Raum und Zeit selbst zu abstrahieren. Dass unser vorontologisches Verständnis von zeitlicher Existenz uns dabei hilft, diesen letzten Schritt zu verstehen, darf bezweifelt werden. Zum Vergleich: „nach Cäsars Tod“ bezieht sich auf eine zeitliche Relation zu einem Ereignis, Cäsars Tod. Ersetzen wir „Cäsars Tod“ durch eine Variable, so erhalten wir „nach x“. Dieser Schritt ist leicht nachvollziehbar, doch wenn wir nun auch noch die Variable streichen, so bleibt das Wort „nach“ übrig. Was soll „nach“ heißen, wenn damit nicht „nach x“ gemeint ist? In Analogie dazu lässt sich die Frage stellen, was „existieren“ heißen soll, wenn damit nicht „existieren zur Zeit x“ gemeint ist. Die beiden angesprochenen Schwierigkeiten dürften groß genug sein, um den Schluss zu erlauben, dass angeblich zeitlose Objekte entweder gar nicht oder ebenfalls in der Zeit existieren. Mit Husserl gesprochen: Wenn solche Objekte existieren, sind sie nicht ideal, sondern real. In der gebräuchlichsten Bedeutung des Wortes „abstrakt“ ist das Abstrakte dasselbe wie das Ideale; die Schlussfolgerung kann daher auch so ausgedrückt werden, dass es nichts Abstraktes gibt. Ist mit „Nominalismus“ die Ablehnung des Abstrakten gemeint, dann handelt es sich dabei um eine nominalistische Schlussfolgerung.89 Es gibt jedoch noch eine zweite Bedeutung von „Nominalismus“: Versteht man darunter nämlich die Ablehnung des Allgemeinen, so besteht kein Grund, auch diese Form des Nominalismus zu akzeptieren, denn Universalien scheinen in der Zeit zu existieren. Sie existieren solange, wie es Einzeldinge und Ereignisse gibt, denen sie zukommen (Armstrong 1989: Kap. 5). Beispielsweise existiert die Eigenschaft, Chlorophyll zu enthalten, solange es Dinge gibt, die Chlorophyll enthalten, die also diese Eigenschaft besitzen. Entsprechendes gilt für die Universalie, Chlorophyll zu sein, die nur dann existiert, wenn der Farbstoff existiert. Bevor es Chlorophyll gab, gab es auch die Universalie nicht, und wenn irgendwann der Farbstoff nicht mehr existiert, dann wird auch die Universalie aufgehört haben zu existieren. Jetzt zum Beispiel existiert die Universalie; sie hat gestern existiert und wird auch morgen existieren. 89 Hier ist allerdings Vorsicht geboten, weil das Wort „abstrakt“ nicht einheitlich verwendet wird. Unter anderem gelten auch Tropen (siehe unten) als „abstrakt“, weil sie sich von ihrem Träger gedanklich abtrennen, eben „abstrahieren“ lassen. Außerdem sollte man das Abstrakte nicht mit dem Allgemeinen identifizieren, weil sonst die Unterscheidung zwischen den beiden Arten des Nominalismus hinfällig würde.
Kapitel 22: Abstrakte Existenz
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Dass Universalien eine zeitliche Existenz „in den Dingen“ (in rebus) besitzen, entspricht bekanntlich dem aristotelischen Standpunkt: „das Allgemeine aber ist zugleich in vielem vorhanden. Daher ist denn offenbar, daß kein Allgemeines neben dem Einzelnen selbständig [chōris] existiert (1991: 73; Metaphysik: 1040b; ein Aufzählungsbuchstabe wurde entfernt). Dies ist leichter zu akzeptieren als die platonische Sichtweise, dass Universalien von der zeitlichen Wirklichkeit unabhängig existieren. Unter anderem lässt sich so das Chōrismos-Problem vermeiden. Allerdings bleibt auch im Rahmen der aristotelischen Auffassung eine Frage offen: Wozu ist es überhaupt nötig, die Existenz von Universalien anzunehmen? Immerhin stehen nominalistische Alternativen zur Verfügung, die vorgeben, ohne das Allgemeine auszukommen. Für unsere Zwecke werden zwei genügen: Tropen-Nominalismus und Ähnlichkeitsnominalismus. Der Tropen-Nominalismus geht davon aus, dass die Wirklichkeit aus einzelnen Eigenschaften besteht, die als „Tropen“ (Einzahl „Trope“) bezeichnet werden (Armstrong 1989: Kap. 6, Campbell 1990). Ein grünes Ahornblatt zum Beispiel besteht aus einer einzelnen Farbe, einer einzelnen Form, einer einzelnen Masse und weiteren einzelnen Eigenschaften. Ein Elektron ist ein Bündel von einzelnen physikalischen Eigenschaften wie Masse, Ladung und Spin. Während Universalien an mehreren Orten gleichzeitig sein können, sind Tropen räumlich lokalisiert. Sie kommen also im Unterschied zu Universalien keinem anderen Blatt oder Elektron zu. Tropen sind eine philosophische Angelegenheit, man könnte auch sagen „Erfindung“. Der Ähnlichkeitsnominalismus steht dem Alltagsdenken näher, weil er die Tropen durch einzelne Dinge ersetzt (Armstrong 1989: Kap. 3, Rodriguez-Pereyra 2002). Das Blatt und das Elektron sind solche Einzeldinge. Dass sie bestimmte Eigenschaften haben, erklärt der Ähnlichkeitsnominalismus – wie sein Name schon sagt – durch Ähnlichkeitsrelationen zwischen den Einzeldingen. Gerade die Tatsache, dass Dinge einander gleichen, diente freilich seit Platon als wichtigste Begründung für die Existenz von Universalien. Fünflappige Ahornblätter gleichen einander in der Form und unterscheiden sich dadurch von dreilappigen Ahornblättern und Blättern anderer Baumarten. Es sieht so aus, als könnte man solche Ähnlichkeiten und Unterschiede nicht angemessen beschreiben, ohne sich auf etwas Allgemeines zu beziehen – eben auf die allgemeine Blattform. In einem bekannten Argument gegen den Nominalismus führte Bertrand Russell ins Treffen, dass man zumindest Ähnlichkeiten selbst als Universalien akzeptieren müsse. Denn die Formähnlichkeit zwischen zwei fünflappigen Ahornblättern ist dieselbe wie die Formähnlichkeit zwischen zwei anderen fünflappigen Ahornblättern. Und die Ladungsähnlichkeit zwischen zwei Elektronen ist dieselbe wie die Ladungsähnlichkeit zwischen zwei Myonen. Wenn man aber solche Universalien zur Tür hereinlässt, dann könne man auch gleich weitere hereinbitten, meinte Russell: „Und wenn wir dies erst einmal zugegeben haben, wer-
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Sechster Teil: Zeitliche und zeitlose Existenz
den wir finden, daß es kaum der Mühe wert ist, schwierige und wenig plausible Theorien zu erfinden, um die Einführung solcher Universalien wie Schwärze und Dreieckigkeit zu vermeiden.“ (Russell 1967: 85 f.)90 Diese Überlegung ist nach wie vor das beste Argument für die Existenz von Universalien. Russell erreicht damit zumindest, dass sich die Argumentationslast auf die Seite des Nominalismus verschiebt. Denn dieser muss nun erklären, wie es gelingen soll, ganz ohne Universalien auszukommen. Je zwei Ahornblätter sind einander ähnlich – wie vermeidet man es, daraus den Schluss zu ziehen, dass es hier eine allgemeine Formähnlichkeit gibt? Die nominalistische Antwort auf diese Frage ist einigermaßen überraschend: Ähnlichkeiten existieren gar nicht, daher könne man auch nicht die Existenz von Universalien durch die Existenz von Ähnlichkeiten begründen. Wenn wir sagen, dass sich die beiden Blätter hinsichtlich ihrer Gestalt ähneln, dann sei diese Aussage zwar wahr, aber nicht deshalb, weil zwischen den Blättern eine Gestaltähnlichkeit bestehe. Die Aussage sei vielmehr deswegen wahr, weil die beiden Blätter existieren. Sehen wir uns diesen Vorschlag etwas genauer an: Allgemein würde demnach gelten, dass eine Aussage der Form „x ähnelt y“ durch die Existenz von x und y wahr gemacht wird. Es sei nicht nötig, darüber hinaus die Existenz einer Ähnlichkeit zwischen x und y anzunehmen, behaupten zum Beispiel David Armstrong (1989: 56) und Gonzalo Rodriguez-Pereyra (2002: 115). Bei x und y könnte es sich um Tropen handeln, etwa um die Gestalt des einen Blattes und die Gestalt des anderen Blattes – was dem Tropen-Nominalismus entgegenkommen würde. Die Variablen könnten sich aber auch auf Einzeldinge beziehen, nämlich auf die beiden Blätter selbst – was im Sinne des Ähnlichkeitsnominalismus wäre. Entscheidend ist nicht, ob es sich um Tropen oder Einzeldinge handelt, sondern die These, dass die Ähnlichkeit zwischen x und y nicht zu existieren braucht, weil die Existenz von x und die Existenz von y allein ausreichen, um den Satz „x ähnelt y“ wahrzumachen. Diese These ist meiner Ansicht nach jedoch nicht überzeugend, denn Sätze werden nicht durch Tropen oder Einzeldinge wahr gemacht, sondern durch Tatsachen, die diese betreffen. So macht zum Beispiel nicht das einzelne Ahornblatt x die Aussage „x ist fünflappig“ wahr, sondern die Tatsache, dass x fünflappig ist. Dasselbe gilt für die Aussage „x ist grün“, die durch die Tatsache, dass x eine bestimmte Farbe hat, wahr gemacht wird. Ebenso wird die Aussage „x ähnelt y farblich“ nicht durch x und y wahr gemacht, sondern durch die Tatsache, dass x eine bestimmte Farbe hat, und die Tatsache, dass y eine bestimmte (nämlich dieselbe) Farbe hat – oder wenn man so will: durch die Tatsache, dass x und y 90 Armstrong (1989: 53 – 57) diskutiert eine allgemeine Fassung dieses Arguments, die sich nicht nur auf den Ähnlichkeitsnominalismus bezieht. Für eine Verteidigung Russells gegen den Ähnlichkeitsnominalismus siehe Bird (2003).
Kapitel 22: Abstrakte Existenz
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einander farblich ähneln. Der folgende Vergleich soll illustrieren, worauf es hier ankommt: Nicht die Existenz von Paris und die Existenz des Eiffelturms machen die Aussage „Der Eiffelturm steht in Paris“ wahr, sondern die Tatsache, dass der Eiffelturm in Paris steht. Dies lässt sich unter anderem daran erkennen, dass der Eiffelturm im Prinzip auch in einer anderen Stadt stehen könnte. „Paris existiert“ und „Der Eiffelturm existiert“ implizieren daher allein nicht die Wahrheit von „Der Eiffelturm steht in Paris“. Der Nominalismus hat nur eine Chance, diesem Einwand zu entgehen: Wenn x und y existieren, dann muss notwendigerweise gelten, dass x und y einander farblich ähneln. Anders gesagt: Es ist unmöglich, dass x und y existieren und einander nicht farblich ähneln. Oder wie Armstrong (1989: 43) es ausdrückt: Ähnlichkeit ist eine interne Relation, das heißt eine Relation, die zwischen x und y notwendigerweise bestünde. Bei Einzeldingen geht diese Verteidigung des Nominalismus allerdings sicherlich ins Leere, denn wenn x ein Ahornblatt und y ein anderes Ahornblatt ist, dann scheint es durchaus möglich zu sein, dass beide existieren, ohne einander farblich zu ähneln. Eines der Blätter könnte vertrocknen und braun werden, die Farbähnlichkeit würde dann verschwinden. Dasselbe gilt für die anderen Eigenschaften der beiden Blätter. Am vernünftigsten erscheint die Annahme, dass die Ähnlichkeit zwischen x und y eine interne Relation ist, wenn x und y Tropen sind. Dies wirft jedoch die schwierige Frage auf, wodurch Tropen eigentlich individuiert werden, was also eine Trope zu der macht, die sie ist, und was sie von anderen Tropen unterscheidet (Campbell 1990: 68 – 71). Werden Tropen durch ihren Ort im Raum oder ihren Träger, das jeweilige Einzelding, individuiert, dann gilt wieder dasselbe wie für Einzeldinge: Dann könnten die Tropen x und y im Prinzip auch andersfarbig sein. Das Grün des einen Ahornblattes könnte sich in ein Braun verwandeln und dabei dieselbe Trope bleiben. Die Ähnlichkeit zwischen den Farbtropen der beiden Ahornblätter wäre daher nicht notwendig und somit keine interne Relation. Nur wenn die beiden Tropen zusätzlich durch ihre Farbe individuiert werden, könnte man die These aufrechterhalten, dass die Ähnlichkeit zwischen ihnen notwendigerweise besteht. Verwandelt sich das Grün des einen Ahornblattes in ein Braun, so wird dabei nach dieser Deutung tatsächlich eine Trope durch eine andere ersetzt. Die Grüntrope verschwindet und macht einer Brauntrope Platz, weil die erste ja nur als etwas Grünes existieren kann. Russell würde hier vermutlich einwenden, dass wir soeben Universalien ins Bild geschmuggelt haben. Denn wenn man sagt, dass Tropen neben ihrer räumlichen Lokalisierung noch durch weitere Merkmale individuiert werden, muss man sich auf allgemeine Eigenschaften wie etwa Farben beziehen. Was die Trope zu der macht, die sie ist, ist eben unter anderem die Universalie Grün oder die Universalie Braun.
Kapitel 23
Uneigentliche Existenz Kapitel 23: Uneigentliche Existenz
Im vorigen Kapitel habe ich einige Kandidaten für zeitlose Existenz aufgezählt. Genannt wurden Universalien, Naturgesetze, Tatsachen, mathematische Objekte, logische Zusammenhänge, moralische Werte, nicht-realisierte Möglichkeiten, literarische Fiktionen, Bedeutungen und geistige Wesenheiten. Diese Liste ist nicht vollständig, doch lang genug, um zu veranschaulichen, worum es geht: Da es so etwas wie zeitlose Existenz (vermutlich) nicht gibt, müssen die Objekte auf der Liste zeitlich existieren, falls sie überhaupt existieren. Wie wir gesehen haben, stellen Universalien in dieser Hinsicht keine unüberwindbaren Hürden dar. Wer ihre Existenz anerkennt, sollte sich der aristotelischen Tradition anschließen. Wer hingegen die Einwände gegen den Nominalismus im vorigen Kapitel nicht überzeugend fand, kann die Existenz von Universalien nach nominalistischem Vorbild einfach ablehnen.91 Naturgesetze – der zweite Listeneintrag – können als Relationen zwischen aristotelischen Universalien interpretiert werden (Armstrong 1983: Kap. 6), womit ihre Existenz ebenfalls gesichert wäre. Doch man müsste viel Mut aufbringen, um zu behaupten, dass alles auf der Liste in irgendeiner Weise existiert. Andererseits ist es natürlich durchaus möglich, diesen Mut aufzubringen und das Wort „Existenz“ in einem so weiten Sinn zu verwenden, dass auch nichtexistierende Objekte trivialerweise „existieren“. Ein ausgezeichnetes Beispiel für eine solche Vorgangsweise liefert Markus Gabriel, der Existenz als Erscheinen in einem Sinnfeld definiert (2013: 68). „Sinnfeld“ ist ein eher nebuloser Begriff, doch für unsere Zwecke genügt es zu wissen, dass ein Sinnfeld unter anderem dann entsteht, wenn man über etwas redet. Geht man derart großzügig mit dem Existenzbegriff um, dann existieren auch Universalien – und sogar Hexen. Universalien existieren unter anderem im Sinnfeld „platonische Metaphysik“ und Hexen, wie Gabriel schreibt, „beispielsweise in Goethes Faust, in Blair Witch Project, in den verwirrten Köpfen der spanischen Inquisitoren und im Kölner Karneval.“ (2013: 116) Der Einwand gegen diese saloppe Verwendung des Existenzbegriffs kann nicht lauten, dass das Wort hier falsch verwendet wird. Eine der wichtigsten Annahmen, die ich in diesem Buch vertreten habe, war immerhin die, dass man 91 In diesem Fall müssten übrigens die natürlichen Eigenschaften aus Kapitel 10 nominalistisch gedeutet werden (Lewis 1983: 347, Edwards 2014: 118 – 128).
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Sechster Teil: Zeitliche und zeitlose Existenz
„Existenz“ unterschiedlich gebrauchen kann, weil Existenz keine natürliche Eigenschaft ist. Man kann das Wort auch so großzügig wie Gabriel handhaben, dann „existiert“ etwas eben bereits dann, wenn man bloß darüber spricht. Schon Wittgenstein hat angemerkt, dass man „X existiert“ auch als „‘X‘ hat Bedeutung“ verstehen könne: „dann ist es kein Satz, der von X handelt, sondern ein Satz über unsern Sprachgebrauch, nämlich den Gebrauch des Wortes ‚X‘.“ (1971: § 58) Durch eine Interpretation wie diese könnte man sich wohl auch mit Gabriels Existenzbegriff anfreunden; denn „Hexen existieren“ würde dann einfach heißen, dass das Wort „Hexe“ Bedeutung hat. Der entscheidende Einwand gegen Gabriel ist ein anderer: Ein allzu liberaler Existenzbegriff ist schlicht und einfach uninteressant, weil eben alles, worüber wir nachdenken oder sprechen, „existiert“. Die interessante Frage lautet schließlich nicht, ob Universalien in der platonischen Metaphysik erscheinen, sondern ob sie auch unabhängig von unserem Denken und Sprechen existieren. Und diese Frage lässt sich am besten so ausdrücken: „Existieren Universalien oder existieren sie nicht?“ Dass Universalien „in der platonischen Metaphysik“ existieren, ist keine Antwort auf diese Frage. Gabriels Existenzbegriff ist somit wenig nützlich, wenn man interessante Fragen stellen möchte. Er verwischt gerade die Unterschiede, auf die es ankommt. Brentano und Husserl hätten gesagt, dass Gegenstände, die lediglich in „Sinnfeldern“ erscheinen, nur in einem uneigentlichen Sinn existieren (Brentano 1933: 3 – 31, Husserl 1984: 129 f.). Brentanos Schüler Alexius Meinong (1899: 186) sprach sogar von Pseudo-Existenz, das heißt von falscher oder vorgetäuschter Existenz.92 Es verhält sich hier ähnlich wie bei anderen uneigentlichen Redeweisen: Wenn man beispielsweise metaphorisch sagt, dass Herakles ein Löwe war, so heißt das eigentlich, dass er stark oder mutig wie ein Löwe war. Dasselbe gilt für die Existenz: Wenn man sagt, dass es einen Löwen gibt, den Herakles im Kampf besiegt hat – den Nemeischen Löwen –, so heißt dies eigentlich, dass Hesiod und andere Autoren von diesem Löwen berichten, dass der Kampf auf Vasen, in Mosaiken und Gemälden dargestellt wurde, usw. Der moderne Nachfolger der Existenz im uneigentlichen Sinn ist der Begriff der ontologischen Reduktion. Damit ist Folgendes gemeint: Objekte einer Art A werden auf Objekte einer Art B ontologisch reduziert, wenn einsichtig gemacht 92 Von Meinong stammt das Bonmot: „Wer paradoxe Ausdrucksweise liebt, könnte also ganz wohl sagen: es gibt Gegenstände, von denen gilt, daß es dergleichen Gegenstände nicht gibt“ (1904: 9). Gemeint sind Objekte wie goldene Berge und runde Vierecke. Dieses beliebte Zitat trug dazu bei, dass Meinong oft ein sehr weiter Existenzbegriff unterstellt wurde, doch die Formulierung zeigt bereits, dass die Aussage nicht ernst gemeint war. Goldene Berge und runde Vierecke besitzen laut Meinong gar keine Existenz (kein Sein), sondern nur ein Wesen (Sosein). Allerdings glaubte Meinong wie Husserl an ideale Existenz, die er „Bestand“ nannte (Meinong 1904: 5 – 7).
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werden kann, dass Aussagen über A-Objekte eigentlich Aussagen über B-Objekte sind und A-Objekte gar nicht existieren. Solche Zurückführungen können unterschiedlich begründet werden und mehr oder weniger detailliert ausfallen. Der Idealfall wäre eine Abbildung, eine Übersetzung aller Aussagen über A-Objekte in Aussagen über B-Objekte (Quine 1964: 214). Das ist jedoch oft nicht möglich, etwa wenn man es mit zu vielen Aussagen zu tun hat, die obendrein nicht in strukturierter (etwa axiomatischer) Form vorliegen, weshalb man sich für gewöhnlich mit zwei Einschränkungen zufrieden geben muss: Erstens brauchen nicht alle Aussagen über A-Objekte in Aussagen über B-Objekte übersetzt zu werden, weil manche der Aussagen einfach als falsch verworfen werden können. Dazu ein Beispiel aus Kapitel 15, wo es unter anderem um temporale Tatsachen ging, wie die Tatsache, dass Pompeji durch einen Ausbruch des Vesuvs zerstört wurde. Die Existenz solcher Tatsachen habe ich skeptisch beurteilt. Tatsächlich kann die Aussage „Die Tatsache, dass Pompeji durch einen Ausbruch des Vesuvs zerstört wurde, existiert“ in eine Aussage über das Ereignis selbst übersetzt werden: „Die Zerstörung Pompejis durch einen Ausbruch des Vesuvs existiert“. Die atemporale Existenz der Tatsache ist somit auf die atemporale Existenz des Ereignisses selbst zurückführbar. Hingegen ist die Aussage „Die Tatsache, dass Pompeji durch einen Ausbruch des Vesuvs zerstört wurde, existiert jetzt“ schlicht und einfach falsch und braucht daher nicht übersetzt zu werden. Zweitens sind die „Übersetzungen“ einer ontologischen Reduktion häufig eher Umschreibungen (Paraphrasen), die nur ungefähr wiedergeben, was mit Aussagen über A-Objekte gemeint ist. Betrachten wir wieder Gabriels Behauptung, dass Hexen „in Goethes Faust, in Blair Witch Project, in den verwirrten Köpfen der spanischen Inquisitoren und im Kölner Karneval“ existieren. Dass sie in Faust existieren, ist offenbar so zu verstehen, dass in Goethes Text von Hexen die Rede ist, dass in Aufführungen des Theaterstücks Personen auftreten, die Hexen verkörpern, usw. Dass die Hexe von Blair existiert, heißt unter anderem, dass Schauspieler in dem Horrorfilm über eine Hexe reden und so tun, als würden sie sich vor ihr fürchten. Die anderen beiden Formulierungen beziehen sich beispielsweise darauf, dass spanische Inquisitoren an Hexen geglaubt und entsprechend gehandelt haben und dass im Kölner Karneval passend verkleidete Personen herumlaufen. Wer über die Existenz von Hexen spricht, spricht eigentlich über solche Sachverhalte, die insgesamt freilich so kompliziert und vielfältig sind, dass keine einfachen Übersetzungen möglich sind. Man kann die entsprechenden Übersetzungen daher nur paraphrasieren (was ich soeben getan habe). Die Umschreibungen sind vor allem Hinweise darauf, wodurch die Aussagen eigentlich wahr gemacht werden. Denn die Wahrmacher liegen nicht dort, wo sie dem Wortlaut nach zu liegen scheinen. Die Aussage, dass manche Hexen einen Verjüngungstrank brauen
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können, wird nicht durch eine reale Hexe, sondern durch Goethes Theaterstück wahr gemacht. Wer so über Hexen spricht, spricht eigentlich über Faust, der Tragödie erster Teil. Die Tatsache, dass die zurückgeführten Objekte nicht existieren, unterscheidet eine ontologische Reduktion von einer bloßen Existenzerklärung, die man auch als explanatorische Reduktion bezeichnen könnte. Erklärt man die Existenz der A-Objekte durch die Existenz der B-Objekte, so gibt man damit nicht zu verstehen, dass die A-Objekte nicht existieren – man setzt deren Existenz gerade voraus. Viele Existenzerklärungen sind Kausalerklärungen, bei denen die Existenz der A-Objekte das Ergebnis von Kausalprozessen ist, in die die B-Objekte involviert sind. So erklären die in Boden und Luft vorhandenen Nährstoffe das Pflanzenwachstum, der radioaktive Zerfall von Teilchen erklärt die Existenz der Zerfallsprodukte, die Arbeit von Maschinen die Existenz des industriellen Produkts. In den Naturwissenschaften werden Kausalerklärungen bevorzugt. Sucht man hingegen nach Existenzerklärungen, die nicht kausal sind, wird man in anderen Disziplinen leichter fündig. Ein gutes Beispiel, das von Derek Parfit ausgiebig analysiert wurde (1984: 211 f.), ist die Existenz von Staaten (englisch nations). Es gibt in der Rechtswissenschaft verschiedene Ansichten darüber, was ein Staat ist, doch es genügt, wenn wir die klassische Theorie von Georg Jellinek heranziehen, dass ein Staat aus „Land, Volk und Herrscher“ besteht (1914: 144). Das Wort „Herrscher“ sollte dabei nicht (nur) monarchistisch verstanden werden, sondern allgemeiner als „Regierung“ oder „Staatsgewalt“. Territorium, Bevölkerung und Regierung wären demnach die drei Elemente eines Staates. Parfit meint, die Existenz des Staates sei durch die Existenz seiner Elemente erklärbar, und verwendet in diesem Zusammenhang unter anderem die Verben „involve“, „consist in“ und „imply“: Die Existenz des Staates beinhalte oder umfasse die Existenz seiner Elemente (je nachdem, wie man „involve“ übersetzen möchte); sie bestehe in der Existenz derselben; die Aussage, dass seine Elemente existieren, impliziere die Aussage, dass der Staat existiert. All dies möchte Parfit nicht als Ausdruck einer ontologischen Reduktion verstanden wissen, das heißt der Nichtexistenz von Staaten. Vielmehr existiere neben seinen Elementen auch noch der Staat selbst. Dies dürfte ganz im Sinne von Jellinek sein, für den der Staat ein von seinen Elementen verschiedenes, aber durch diese konstituiertes Rechtssubjekt ist (1914: 169). Die ontologische Reduktion lehnt auch er ab, weil sie den Staat zu einer „Fiktion“ machen würde, was dem Eingeständnis gleichkäme, „daß man ihn juristisch nicht zu erfassen vermag.“ (S. 168) Jellinek und Parfit sind sich also darin einig, dass Staaten von der Rechtswissenschaft nicht ontologisch, sondern nur explanatorisch reduziert werden können. Da es sich dabei nicht um eine Kausalerklärung handeln kann, würden manche Philosophinnen und Philosophen hier von einer metaphysischen Erklärung spre-
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chen. Die Existenz von Territorium, Bevölkerung und Regierung wäre dann ein „metaphysischer Grund“ für die Existenz des Staates. Wie man in dem von Fabrice Correia und Benjamin Schnieder herausgegebenen Sammelband Metaphysical Grounding (2012) nachlesen kann, fällt angeblich sehr vieles unter diesen Begriff, unter anderem die Beziehung zwischen einem Ganzen und seinen Teilen, zwischen semantischen und nicht-semantischen Tatsachen sowie zwischen normativen und nicht-normativen Tatsachen – um nur drei Fälle nennen. So wäre etwa die Existenz der Teile eines Tisches der metaphysische Grund für die Existenz des ganzen Tisches. Und was den Staat angeht: Die Begründung juristischer Tatsachen durch nicht-juristische, zum Beispiel soziale Tatsachen wird gleich auf der ersten Seite des Buches erwähnt. Bei einigen der sogenannten metaphysischen Erklärungen liegt allerdings der Verdacht nahe, dass es sich in Wirklichkeit um ontologische Reduktionen handelt, dass also das Zurückgeführte gar nicht existiert. Zumindest lässt sich in vielen Fällen darüber streiten, ob es existiert. Dass beispielsweise normative Tatsachen nicht existieren, ist ein bekannter Standpunkt, der in der Metaethik als „Nonkognitivismus“, „Antirealismus“ oder „Irrtumstheorie“ vertreten wird. Ist er zutreffend, braucht die Existenz normativer Tatsachen gar nicht durch die Existenz nicht-normativer Tatsachen erklärt zu werden.
Kapitel 24
Kein Anfang der Zeit Kapitel 24: Kein Anfang der Zeit
Immanuel Kants Kritik der Metaphysik beruhte auf seiner Philosophie der Zeit, in deren Mittelpunkt die Annahme stand, dass die Zeit „eine reine Form der sinnlichen Anschauung“ ist (1998: B 47). Das Zeiterleben, mit dem ich mich in den Kapiteln 2 und 3 auseinandergesetzt habe, war der Ausgangspunkt seiner Philosophie. Was jenseits allen möglichen Erlebens liegt, liegt auch außerhalb der Zeit, daher müsste die Existenz solcher Objekte zeitlose Existenz sein. Zu ihnen würden die in Kapitel 9 erwähnten Monaden von Leibniz gehören, aber wohl auch die von Geistersehern herbeigeträumten Wesen „aus dem Schlaraffenlande der Metaphysik“ (Kant 1975: 48 f.; II 356). Dass wir von all dem nichts wissen können, begründete Kant unter anderem damit, dass wir uns bei unseren diesbezüglichen Erkenntnisversuchen in Fehlschlüsse und Widersprüche (Antinomien) verwickeln. Den engsten Bezug zum Thema Zeit weist die erste der vier Antinomien in der Kritik der reinen Vernunft auf. Es geht dabei um die Frage der Endlichkeit oder Unendlichkeit von Zeit und Raum, doch wir können hier den Raum außer Acht lassen und uns auf die Zeit beschränken. In dieser vereinfachten Form besagt die erste Antinomie, dass die Welt weder einen Anfang in der Zeit noch keinen Anfang in der Zeit hatte. Gegen die Existenz eines Weltanfangs wandte Kant ein, dass diesem eine „leere Zeit“ vorangegangen sein müsste: „Nun ist aber in einer leeren Zeit kein Entstehen irgend eines Dinges möglich; weil kein Teil einer solchen Zeit vor einem anderen irgend eine unterscheidende Bedingung des Daseins, vor die des Nichtseins, an sich hat (man mag annehmen, daß sie von sich selbst, oder durch eine andere Ursache entstehe).“ (1998: B 455) In einer leeren Zeit hätte die Welt also gar nicht entstehen können, daher kann sie keinen Anfang haben. Dieses Argument beruht auf dem Gedanken, dass es in einer leeren Zeit keinen Grund geben konnte, warum die Welt zu einem Zeitpunkt und nicht zu einem anderen entstanden ist, „weil kein Teil einer solchen Zeit vor einem anderen irgend eine unterscheidende Bedingung des Daseins, vor die des Nichtseins, an sich hat“. Dies würde sogar dann gelten, wenn man sich die Entstehung der Welt als göttliche Schöpfung vorstellt, worauf sich wohl Kants Anmerkung „oder durch eine andere Ursache“ bezieht. Der Begriff „leere Zeit“ verweist auf die Newtonsche Physik, in der die Zeit auch dann vergeht, wenn nichts geschieht. Wenn wir hingegen davon ausgehen, dass es ohne Veränderung keine Zeit gibt – wie in Kapitel 1 erläutert wurde –, ist
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der Begriff einer leeren Zeit sinnlos. Wir müssten dann vielmehr annehmen, dass es vor dem Anfang der Welt auch keine Zeit gab, sondern ein zeitloses Nichts. Die Formulierung „vor dem Anfang“ ist allerdings noch zu ungenau, weil sie sich auf eine Zeit vor dem Anfang zu beziehen scheint. Weniger missverständlich wäre die Aussage, dass der Anfang der Welt auch der erste Zeitpunkt war. Nichts lag vor diesem Zeitpunkt, weil es kein „davor“ gab. Wenn wir den Anfang der Welt in dieser Weise betrachten, ändert sich auch das von Kant aufgeworfene Problem. Es betrifft nämlich nun nicht mehr die Frage, zu welchem Zeitpunkt der leeren Zeit die Welt zu existieren begonnen hat. Wir haben vielmehr wieder das in Kapitel 22 erwähnte Problem vor uns, wie das Zeitliche mit dem Zeitlosen zusammenhängt. Ein Beispiel dafür war das platonische Chōrismos-Problem, ein anderes die Frage, wie zeitlose Naturgesetze das Universum aus dem Nichts hervorgehen lassen. Im vorliegenden Fall haben wir es sogar mit einer verschärften Variante des Problems zu tun, weil es nicht um das Verhältnis zwischen zeitlicher und zeitloser Existenz geht, sondern um das zwischen der zeitlichen Existenz und dem zeitlosen Nichts. Statt zu fragen, wie die Welt durch zeitlose Universalien, Naturgesetze oder Gottheiten hervorgebracht werden konnte, müssen wir nun die Frage stellen, wie sie im reinen Nichts entstanden ist. Freilich könnte jemand die Hypothese aufstellen, dass die Welt irgendwie aus dem Nichts entstanden ist, doch die Rätselhaftigkeit dieses Ereignisses ist Grund genug, die Hypothese zu verwerfen. Das heißt, dass Kants Kritik an der Existenz eines Weltanfangs auch dann nachvollziehbar ist, wenn man die leere Zeit durch das zeitlose Nichts ersetzt: Die Annahme wird zurückgewiesen, weil die Weltentstehung aus dem zeitlosen Nichts problematisch ist. Doch auch die entgegengesetzte Annahme, dass die Welt keinen Anfang in der Zeit hatte, versuchte Kant zu widerlegen: Hätte es nämlich keinen Weltanfang gegeben, so wäre „eine unendliche Reihe auf einander folgender Zustände der Dinge in der Welt verflossen. Nun besteht aber eben darin die Unendlichkeit einer Reihe, daß sie durch sukzessive Synthesis niemals vollendet sein kann. Also ist eine unendliche verflossene Weltreihe unmöglich, mithin ein Anfang der Welt eine notwendige Bedingung ihres Daseins“ (1998: B 454). Auf dieses Argument von Kant gehe ich gleich näher ein. Zuvor sei noch erwähnt, dass er aus der Antinomie den Schluss zog, dass beide Antworten auf die Frage nach der zeitlichen Unendlichkeit der Welt falsch sind, weil sie angeblich auf einem falschen Verständnis von „unendlich“ beruhen. Wenn von einer unendlich langen Zeit die Rede ist, so dürfe man dies nicht so verstehen, dass die Welt seit unendlich langer Zeit existiert habe. Gemeint sei damit vielmehr, dass es prinzipiell möglich ist, in Gedanken immer weiter in die Vergangenheit zurückzugehen. Für diesen potentiellen Regress sei keine Grenze erkennbar, oder wie Kant es ausdrückt, er sei ein „unbestimmbar fortgesetzter Regressus (in indefinitum).“ (1998: B 546) Kurz gesagt bestand Kants Lösung also darin, die aktuale
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Unendlichkeit der Vergangenheit durch eine potentielle Unendlichkeit zu ersetzen. Dies war eine Art Rückkehr zu Aristoteles, der ebenfalls der Meinung war, dass das Unendliche „nur in der Weise der Möglichkeit vorkommt.“ (Aristoteles 1987: 135; 206a)93 Ein Einwand gegen Kants Lösung lautet, dass die Ersetzung der aktualen durch die potentielle Unendlichkeit keinen großen Unterschied macht. Denn es stellt sich die Frage, warum der Regress überhaupt möglich ist, und die naheliegende Antwort auf diese Frage ist die, dass der Regress möglich ist, weil die Vergangenheit aktual unendlich ist (bzw. war). Wir würden die potentielle Unendlichkeit des Regresses durch die aktuale Unendlichkeit der Vergangenheit erklären müssen. Abgesehen davon wäre Kants Lösung natürlich nur dann nötig, wenn überhaupt ein Problem vorliegen würde. Nur wenn die Annahme der aktualen Unendlichkeit widerlegbar wäre, wie Kant behauptet, bräuchte man die aktuale durch die potentielle Unendlichkeit zu ersetzen. Es gibt jedoch keine überzeugenden Gründe gegen die Existenz aktualer Unendlichkeiten – was uns zu Kants Argument zurückführt. Sein Einwand lautete, dass eine unendliche Reihe „durch sukzessive Synthesis niemals vollendet sein kann.“ Dies würde auch stimmen, falls die „sukzessive Synthesis“ in endlicher Zeit stattfinden müsste. Doch wenn die Welt schon unendlich lange existiert hat, dann ist eine unendliche Zeit vergangen, und in einer unendlichen Zeit ist auch die sukzessive Synthesis einer unendlichen Menge von Weltzuständen möglich. Beispielsweise kann man die Menge der natürlichen Zahlen nicht in endlicher Zeit aufzählen, eben weil sie unendlich ist. Doch nicht von ungefähr wird diese Menge in der Mathematik „abzählbar unendlich“ genannt: Hätte man unendlich lange Zeit, so könnte man alle natürlichen Zahlen aufzählen.94 Diese Antwort auf Kant ist keinesfalls neu – ich habe sie von Bertrand Russell übernommen (1926: 208). Eine Kritik daran stammt von William Lane Craig: „Sometimes it is wrongly alleged that the reason an actual infinite cannot be formed by successive addition is because there is not enough time. But this is wholly beside the point. Regardless of the time involved an actual infinite cannot be completed by successive addition due to the very nature of the actual infinite 93 Siehe auch Metaphysik: 1066b. Es gibt noch eine andere Auflösung der Antinomie, die Kant zurecht nicht in Betracht zog: Wäre die Zeit zirkulär, dann wäre sie endlich, ohne einen Anfang zu haben. Le Poidevin (2004: 122 – 128) nennt eine solche Zeit „zyklisch“ (cyclic), was missverständlich ist, weil es an die periodische Wiederkehr von Sonnenaufgängen, Jahreszeiten, Kometen, Festen, Weltzuständen usw. erinnert. Eine zirkuläre Zeit hingegen wäre ein einziges Paradoxon: Jeder Zeitpunkt wäre zum Beispiel früher und später als jeder andere Zeitpunkt und als er selbst. 94 Der Vergleich mit den natürlichen Zahlen hinkt ein wenig, denn wenn die Zeit kontinuierlich verläuft, wäre die Menge der vergangenen Zeitpunkte sogar überabzählbar unendlich. Aber die sukzessive Synthesis der Weltzustände wäre natürlich trotzdem möglich.
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itself.“ (Craig 1979: 104; eine auf Russell verweisende Fußnote wurde entfernt.) Der letzte Satz dieses Zitats ist insofern zutreffend, als es tatsächlich in der „Natur“ des aktual Unendlichen liegt, dass es nicht durch sukzessive Synthesis oder „Addition“ (Craig) entstehen kann. Dies gilt aber eben nur dann, wenn man voraussetzt, dass die Synthesis in einer endlichen Zeitspanne erfolgt, denn dann ist für die Synthesis „nicht genug Zeit“, wie es im ersten Satz des Zitats heißt. Diese Aussage ist keinesfalls „beside the point“, wie Craig im nächsten Satz behauptet. Craigs Kritik an Russells Kritik an Kant ist daher unberechtigt. Der Grund, warum er die Existenz aktualer Unendlichkeiten zurückweist, hat allerdings nichts mit Russell zu tun. Es geht dabei vielmehr um die Vermeidung von Unsinn, denn „while the actual infinite may be a fruitful and consistent concept in the mathematical realm, it cannot be translated from the mathematical world into the real world, for this would involve counter-intuitive absurdities.“ (1979: 69) Zu diesen „kontraintuitiven Absurditäten“ des Begriffs der aktualen Unendlichkeit zählt Craig wohlbekannte Inhalte der Mengenlehre wie die Unterscheidung zwischen abzählbar und überabzählbar unendlichen Mengen – die Menge der reellen Zahlen ist zum Beispiel überabzählbar unendlich – oder die Tatsache, dass unendliche Mengen unendliche Teilmengen haben, weshalb eine unendliche Menge durch beliebig viele Elemente ergänzt werden kann, ohne größer zu werden. Es stimmt wohl, dass diese und andere Eigenschaften unendlicher Mengen unser Vorstellungsvermögen auf die Probe stellen, aber dieser Umstand allein ist sicherlich kein hinreichendes Argument gegen aktuale Unendlichkeiten. In den Worten von Michael Martin: „Craig’s a priori arguments are unsound or show at most that actual infinities have odd properties. This latter fact is well known, however, and shows nothing about whether it is logically impossible to have actual infinities in the real world.“ (1990: 104 f., Fußnote entfernt) Abgesehen davon, dass ein gutes Lehrbuch der Mengenlehre dem Vorstellungsvermögen auf die Sprünge helfen kann, lässt keine der „odd properties“ den Schluss zu, dass die Vergangenheit nicht aktual unendlich sein kann. Wenn sie unendlich war, dann kann man ein Stück von ihr „abschneiden“, ohne etwas an ihrer Unendlichkeit zu ändern – die Zeit vor dem Jahr 1900 wäre gleich lang wie die Zeit vor dem Jahr 2000, obwohl der ersten 100 Jahre fehlen. Man könnte sich auch ausmalen, dass der unendlichen Vergangenheit an beliebig vielen Stellen Zeitspannen hinzufügt werden. Eine Vergangenheit, in der der siebenjährige Krieg nicht sieben, sondern siebzehn und das achtzehnte „Jahrhundert“ daher nicht 100 sondern 110 Jahre gedauert hat, wäre ebenfalls unendlich und somit nicht länger als die reale Vergangenheit. Dass solche „Einschübe“ denkmöglich sind, zeigt gerade, dass es sich dabei um keine „kontraintuitiven Absurditäten“ handelt. Während Craig mit seiner Kritik an der aktualen Unendlichkeit nachweisen wollte, dass die Welt einen Anfang hatte, wollte Kant alle metaphysischen Aussa-
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gen über die Endlichkeit oder Unendlichkeit der Zeit vom Tisch wischen. Beide gingen damit auf ihre Weise zu weit. Die Möglichkeit einer aktual unendlichen Vergangenheit lässt sich nicht so leicht widerlegen, wie es sich die beiden Philosophen gedacht haben. Nach allem, was wir wissen, könnte es sein, dass bis zum jetzigen Zeitpunkt bereits eine unendliche Zeit vergangen ist. In diesem Fall hätte bereits vor dem Urknall etwas existiert – falls sich dieser überhaupt je ereignet hat (Ijjas/Steinhardt/Loeb 2017).
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Gegen Metaphysik kann man aus verschiedenen Gründen sein, doch Kant stellte die entscheidende Weiche, als er annahm, dass Begriffe leer sind, wenn sie dazu verwendet werden, die Grenzen der Erfahrung zu überschreiten. Seither wurde Metaphysikkritik meist als Sprachkritik verstanden. Explizit vollzogen wurde dieser Schritt von Kants Zeitgenossen. Für Johann Georg Hamann beispielsweise war die Sprache „der Mittelpunct des Misverstandes der Vernunft mit ihr selbst“ (1967: 224). Im zwanzigsten Jahrhundert nahm die Kritik an der metaphysischen Sprache eine unglückliche Wendung durch die Suche nach einem empiristischen Sinnkriterium, deren Scheitern zur Renaissance einer Metaphysik führte, in der die Sprachkritik oft vernachlässigt wurde. Ich bin in diesem Buch nicht davon ausgegangen, dass alle metaphysischen Sätze sinnlos sind. Andere sprachkritische Strategien standen im Vordergrund, wie die Unterscheidung zwischen sinnvollen Fragen und Scheinproblemen, zwischen verschiedenen Existenzbegriffen und zwischen Existenz und Pseudo-Existenz. Zur Beschäftigung mit Metaphysik gelangt man, wenn man sich für die Welt im Großen und Ganzen interessiert. Dies ist wahrscheinlich nirgends deutlicher zu spüren als in der Philosophie der Zeit, die eine „Übersicht der ganzen Zeit und alles Seins“ verspricht, von der sich Platon nicht weniger erhoffte als philosophische Gelassenheit gegenüber dem Tod (1991b: 439; 486a). Wer die Welt sub specie aeternitatis betrachtet, könne das menschliche Leben nicht mehr für etwas Großes halten, meinte er. Der Ausdruck „sub specie aeternitatis“ stammt freilich nicht von ihm, sondern von Baruch de Spinoza (1977: Teil 5), der in diesem Buch noch nicht vorgekommen ist. Spinozas „Gesichtspunkt der Ewigkeit“ ist uns jedoch schon im ersten Kapitel als stehendes Jetzt begegnet (Boethius, Thomas von Aquin). Die unter diesem Gesichtspunkt betrachtete Wirklichkeit ist wohl die der statischen Zeitauffassung (McTaggarts B-Reihe). Wenn wir Platons Anregung aufgreifen, kann uns der Gesichtspunkt der Ewigkeit dabei behilflich sein, uns gelegentlich von den irdischen Dingen, den Nöten des Alltagslebens und der politischen Realität zu distanzieren. Manchen Menschen mag es dabei vielleicht sogar gelingen, Gelassenheit gegenüber dem eigenen Tod zu erlangen. Mehr Distanz ist gar nicht wünschenswert, weil die Gegenwart schließlich nicht weniger, sondern mehr Engagement benötigt. Gelassenheit gegenüber dem Sterben anderer sollte nicht universell sein. In der Praxis sind wir ohnehin hoffnungslos dem Präsentismus verfallen, und in gewisser Hinsicht findet man dafür in einigen der vorangegangenen Kapitel sogar eine metaphysische
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Rechtfertigung. Ich wollte schließlich zeigen, dass neben dem mit der statischen Zeitauffassung verwandten Eternalismus auch präsentistische Standpunkte ihre Berechtigung besitzen. So wie wir in der Metaphysik eternalistisch und präsentistisch denken dürfen, so können wir auch im außerphilosophischen Leben von der präsentistischen Konzentration auf die Gegenwart zur eternalistischen Distanzierung wechseln und uns anschließend wieder in die Welt zurückbegeben. Wittgenstein – dessen Tractatus logico-philosophicus von Spinoza beeinflusst war – bezeichnete das mit dem Gesichtspunkt der Ewigkeit verbundene Gefühl als „das mystische“ (1963: 6.45). „Mystisch“ heißt für ihn, dass man über etwas staunt, ohne dieses Staunen in eine sinnvolle Frage kleiden zu können. Für Menschen, die gerne staunen – also auch für Philosophinnen und Philosophen – mag es daher eine gute Nachricht sein, dass man dazu nicht unbedingt den Ewigkeitsstandpunkt einnehmen muss. Auch die moderne Physik gibt genug Anlass zum Staunen. Dies wird unter anderem an den relativistischen Varianten des Präsentismus ersichtlich, in denen der Begriff der Gegenwart auf eine Weise verzerrt und verschoben wird, die uns ebenfalls über die Alltagserfahrung erhebt. Sich gedanklich in einen dieser Gegenwartsbegriffe zu vertiefen, kann mindestens ebenso „mystisch“ sein wie die Betrachtung der Welt sub specie aeternitatis.
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Register Register Register
Absolute Vergangenheit 163 – 165
11, 52, 54,
Aeternitas 6, 13, 20 –22, 199 f. Ähnlichkeitsnominalismus Aktuale Unendlichkeit
12, 183 f.
195 – 197
Allport, D. A. 31, 201 Antinomie (Kant) 13, 21, 193 – 195 Anwesenheit
170, 178 f.
Blockuniversum 121 Bobzien, S. 105, 201 Boethius
20 f., 76, 121, 199, 202
Boroditsky, L. 26, 202 Bourne, C. 137, 143, 202 Boyes-Braem, P. 208 Brandom, R. B. 8, 86 f., 89, 125, 202 B-Reihe 6, 21, 23 – 26, 33, 35 f., 46, 69, 199
A-Reihe 6, 23 – 27, 33, 47 Aristoteles 12, 19 – 21, 27, 54, 91, 104 f., 139, 144, 175, 177, 195, 201
Brentano, F. 12, 179, 188, 202
Aristotelisch 6, 12, 19, 104 f., 139, 175 – 177, 183, 187
Buddhismus
Armstrong, D. M. 39, 182 – 185, 187, 201 Arntzenius, F. 48, 49, 201
Chalmers, D. J. 101, 202
Balaguer, M. 103 f., 201
Chisholm, R. 113, 202
Bao, Y. 30, 207
Chōrismos-Problem 12, 181, 183, 194
Begriffliche Relativität 132 Bendegem, J. P. van 28, 69, 201 Bergson, H. 7, 11, 30 – 33, 35, 38, 76 f., 143, 152 – 154, 201 Berkeley, G. 126 f., 201 20, 26
Bewegungsmetapher 26 f., 31, 38, 45 Bewusstsein – nicht-objektsetzendes 179 – phänomenales 36, 38 – 41, 78, 180 – universelles 76 Bewusstseinsfeld Bird, A. 184, 201
78 f.
Callender, C. 67 f., 202 Carnap, R. 85, 202
27, 30, 201
Bewegtes Bild der Ewigkeit
35, 69
Busch, N. A. 30, 202 Campbell, K. 183, 185, 202
Aron, J. 63, 201 Augustinus
Broad, C. D. 143, 145, 202
Churchland, P. M. 38, 202 Coley, J. D. 97, 204 Collier, J. D. 46, 202 Correia, F. 191, 202 Craig, W. L. 13, 64, 67, 195 f., 202 C-Reihe 21, 23, 26 Dauer 7, 26 f., 31 f., 35, 37 – 39, 41, 143 f., 152, 201 Davidson, D. 133, 202 Dennett, D. 7, 39, f., 202 Determinismus 203
9, 102 – 105, 138 – 140,
Diskrete Zeit 28, 69
Register
212
Dohrn-van Rossum, G. 19, 202
Fair, D. 46, 203
Dorato, M. 122, 126, 203
Falkenburg, B. 7, 49 f., 146, 203
Dowe, P. 46, 203
Fine, K. 136, 203
Dummett, M. 10, 24, 135, 138 – 140, 203
Fließen der Zeit 8, 26, f., 31, 38, 45, 60, 143
Dynamische Zeitauffassung 6 f., 20, 27, 33, 45, 50, 52 f., 60 f., 121, 151
Frankfurt, H. G. 103, 203 Frege, G. 8, 85 , 204
Earman, J. 46, 203 Eddington, A. S. 163, 203
Friebe, C. 57 f., 204
Edwards, D. 187, 203
Gabriel, M. 12, 187 – 189, 204
Efron, R. 30, 203
Gavagai 9, 91 f., 96 – 99
Eigenzeit 8, 57 – 62, 68, 73, 84, 117, 168
Geach, P. T. 112, 204
Einstein, A. 51, 59, 66, 73, 76, 152, 203
Gebrauchstheorie des Sinns 101
Eliminativismus Emergenz
7, 38 f.
70 – 72
Endurantismus 5, 9, 111 – 114, 116 – 119, 121 – 124, 126, 132 Epiphänomenalismus
37
Esfeld, M. 71, 74, 121, 203, 205 Eternalismus 5, 8 – 10, 102, 121 – 127, 129, 132, 136, 141, 143 – 147, 151, 158, 160, 168 – 170, 175 f., 178 f., 182, 200 Ewigkeit 6, 13, 17, 19 – 21, 26, 121, 199 f. Existenz – abstrakte
12, 85, 137, 182
Gegenwärtigkeit 6, 11, 12, 21, 25 – 29, 33, 157, 159, 165, 169 – 171, 179 Gelman, S. A. 97, 204 Geschwindigkeit des Zeitvergehens 60 f. Gesichtspunkt der Ewigkeit
199 f.
Gleichzeitigkeit 11, 25, 30, 51 f., 57, 73, 151 – 153, 157, 159 – 161, 165, 178, 201 Gleichzeitigkeit-Präsentismus 165
157, 159,
Goenner, H. 51, 55, 60 f., 204 Goethe
187, 189 f.
– atemporale 10, 22 f., 25, 124, 141, 143, 147
Golinkoff, R. M. 98, 204
– ideale 179, 182, 188
Gray, W. D. 208
– physische 180
Grossman, L. 63, 201
– psychische
Grot 9, 93, 95, 98 f.
177, 180
8, 87, 92,
Goodman, N. 13, 93, 95, 98, 204
– temporale 22, 124 f.
Growing-Universe-Theorie 10, 11, 143 – 147, 151 – 153, 157
– uneigentliche 12, 188
Haecceitas
– reale
179 f., 182
– zeitliche
8, 179, 183
– zeitlose 12, 22, 173, 180 – 182, 187, 193 f. Existenzerklärung 12, 190 Existenzquantor 10, 127, 129, 131, 140, 175
117 f.
Hamann, J. G. 199, 204 Haslanger, S. 111, 204 Hegel, G. W. F. 75 f., 204 Heidegger, M. 12, 170 f., 178, 204 Hinchliff, M. 114 – 116, 153, 157, 160, 164, 167 f., 204
Register
Hodes, H. T. 96, 204 Huggett, N. 68 – 70, 117, 205 Hume, D. 83, 205 Husserl, E. 29, 91 f., 179 f., 182, 188, 205 Idealismus
8, 63, 73, 75 – 79, 101, 126
Identität
– zeitliche
157, 163 – 165,
Loch-Argument 8, 73 – 76, 79, 101 Locke, J. 35, 36, 91, 206 Loeb, A. 197, 205 Lukrez 144, 206 Martin, M. 196, 206
112 9, 111 – 114, 116 – 118, 123
Ijjas, A. 197, 205 Induktion 9, 83, 93 – 95, 97 f., 130 Inferentialismus
Lichtkegel-Präsentismus 167, 178
Markman, E. M. 97, 204
– modale 113 – relative
213
8, 10, 86, 125, 146, 202
Inferentielle Rolle 10, 86, 125, 127 Inwagen, P. van 104, 205 Jellinek, G. 190, 205
Materialismus
7, 36 – 39, 97
Maudlin, T. 50, 55, 58, 61, 74, 146, 206 McTaggart, J. M. E. 6, 13, 21 – 27, 31, 33, 35 f., 46 f., 69, 76, 116, 199, 203, 206 Meinong, A. 188, 206 Mellor, D. H. 21, 115, 141, 206 Merleau-Ponty, M. 171, 179, 206 Merricks, T. 122 f., 206
Johnson, D. M. 208
Mervis, C. B. 208
Johnson, M. 88, 205
Miller, K. 136, 206
Kanitscheider, B. 64, 205
Minkowski, H. 52, 58, 206
Kant, I. 13, 19, 177, 19 – 196, 199, 205
Monaden
Kausale Theorie der Zeit 11, 46, 153, 155
Monton, B. 71, 207
Keil, G. 102 – 104, 106, 139, 205
Mystik
Kiefer, C. 28, 66, 68 – 71, 205 Konsequenzargument
9, 104 f., 107
Kügler, P. 36, 205 Kurtz, R. M. 111, 204
75, 77, 79, 87, 193
Moore, G. E. 177 f., 207 200
Nagel, T. 32, 207 Naturgesetze 187, 194
47, 49 f., 53, 138, 180 f.,
Lakoff, G. 88, 205
Natürliche Eigenschaften 9 f., 93 – 97, 126 f., 129 f., 146, 175, 178, 188
Lam, V. 71, 205
Neutralismus
Lancaster, L. R. 35, 205
Newen, A. 36 f., 207
Laplace, P. S. 138 f., 205
Newton, I. 27, 45, 64, 74, 207
Lee, D. N. 30, 203
Newtonsche Physik 73 f., 193
Leibniz, G. W. 74 – 77, 87, 193, 206 Le Poidevin, R. 28, 69, 137, 195, 205
Nichts
10, 139, 144
45, 51, 53, 64 f.,
181, 194
Lewis, D. 46, 94, 113 f., 187, 206
Nozick, R. 130, 207
Lichtartige Trennung 151, 157, 163
Ockhams Rasiermesser 71
Lichtkegel
7, 51 – 54, 57, 60,
11, 51, 157, 163 f., 167 f., 178
Olguin, R. 204
Register
214
Ontologische Reduktion 188 – 190 Panpsychismus
12, 70, 71,
Realismus
7 f., 32 f., 38, 77 f., 207
Paradox des Regelfolgens
8, 87, 91 f.
Parfit, D. 190, 207 Passon, O. 48, 71, 207 Perdurantismus 5, 10, 111 – 119, 121 f., 124, 126, 132 Planck, M. 28, 30, 105 f., 207 Platon 20 f., 181, 183, 199, 207 180 f., 183, 187 f., 194
Podolsky, B. 66, 203
– semantischer
135, 147
Referenzmagnetismus 126, 129, 132
9 f., 92, 96 f.,
Relativitätstheorie – Allgemeine 101
8, 63, 67 f., 73 – 76, 78,
– Spezielle 6 – 8, 11, 35, 51 – 54, 57 – 61, 63 f., 67, 73, 84, 116, 149, 151 – 154, 157 – 159, 164 f., 168 f., 178 Rietdijk, C. W. 159, 208
Pöppel, E. 30, 207 Popper, K. R. 86, 207 Potentielle Unendlichkeit 195 Präsentismus 5 f., 8 – 11, 71, 102, 121 f., 124 – 127, 129 f., 132, 136 – 141, 143 – 147, 149, 151 – 153, 157 – 161, 163 – 165, 167 – 171, 175 f., 178 f., 199 f. Price, H. 61, 207 Prinzip der Achronalität
– interner 132 f., 135
Reichenbach, H. 24, 46, 141, 208
Penrose, R. 48, 207
Platonisch
Rea, M. C. 157 f., 208
11, 164 f.
Rietdijk-Putnam-Argument 11, 159 – 161, 164 Rindler, W. 58, 73, 208 Rodriguez-Pereyra, G. 183 f., 208 Rosch, E. 99, 208 Rosen, N. 66, 203 Rospatt, A. 69, 208 Rovelli, C. 69 – 71, 208 Ruan, W. 204
Prior, A. N. 25, 136, 153, 207
Russell, B. 12 f., 31, 183 – 185, 195 f., 209
Psychisch
Safranski, R. 5, 209
12, 32, 36, 70, 77, 177, 179 f.
Punkt-Präsentismus 12, 157, 167 – 171, 175, 178 Putnam, H. 10, 131 – 133, 135, 159, 167, 208 Quantengravitation 8, 63, 67 – 73, 181, 209 Quantentheorie 7 f., 47 – 49, 63, 65, 67 f., 71, 101, 105, 139, 154, 157, 181, 207 Quine, W. V. 9, 13, 91, 96 – 98, 151, 189, 208 Raumartige Trennung 7, 51 – 53, 57, 163 Raumzeit-Abstand 52 f., 58 – 60
Sartre, J.-P. 20, 179, 209 Savitt, S. F. 57, 60, 164, 169, 209 Schleifenquantengravitation
68 f.
Schlick, M. 83 f., 209 Schnieder, B. 191, 202 Schopenhauer, A. 155, 209 Sempiternitas
6, 13, 20
Shuff-Bailey, M. 204 Sider, T. 10, 96 f., 102, 127, 129, 131 f., 209 Silk, J. 64 f., 209 Sinnfeld 12, 187 Sinnkriterium
84 – 86, 199
Register
Undefinierbarkeit des Existenzbegriffs 175, 177
Sklar, L. 160, 209 Skrbina, D. 32, 78, 209
Universalien
Smarbin 95
12, 180 – 185, 187 f., 194
Ununterscheidbarkeit des Identischen 114, 123
Smart, J. J. C. 21, 141, 209 Spinoza, B. 199 f., 209 Statische Zeitauffassung 6 f., 9, 20 f., 27, 33, 35, 38, 45, 50, 52, 69 f., 84, 116, 121, 151, 199 f. Stehendes Jetzt
215
21, 121, 199
Stein, H. 167, 209
Urknall 13, 63, 197 VanRullen, R. 30, 202 Verbaler Disput 9 f., 95, 102 f., 105 – 107, 116 f., 124, 126 f.
Steinhardt, P. J. 197, 205
Vergangenheit, die niemals Gegenwart war 171
Strawson, G. 38, 209
Verlinde, E. P. 70, 210
Stringtheorie 68 f., 83 f., 117
Vilenkin, A. 181, 210
Struktur der Wirklichkeit 133
10, 129, 131,
Swinburne, R. 136, 209 Symmetrieargument
Vistarini, T. 68 – 70, 117, 205 Vorontologisches Seinsverständnis 170 f., 175, 179, 182
144
12,
Szagun, G. 88, 209
Wahrheit 10, 24, 27, 84 f., 96, 114, 127, 134 – 141, 147, 168, 185, 202 f., 208, 210
Tallant, J. 136, 210
Weltlinie 8, 58 – 60, 62, 68, 73 f., 116, 157, 160 f., 167 f.
Tegmark, M. 63, 65, 130, 210 Temporale Tatsachen 10, 136 f., 189 Tetens, H. 77, 181, 210
Williams, D. C. 21, 210
Thermodynamik 7, 47 – 49, 139 Thomas von Aquin 177, 199, 210
12, 19, 21, 76, 121,
Token-Reflexivität 10, 24 f., 141 Tooley, M. 11, 143, 153 – 155, 210 Transfertheorien der Kausalität 7, 46 Transitivität von Existenz-für 164 f. Tropen-Nominalismus Uhrenhypothese
11, 160 f.,
12, 182 – 185
8, 58 – 60
Unbeschränkte Quantifikation
127
Unbestimmtheit – der String-Weltlinie 68 – des Bezugs 9, 91 f., 96 – 98 – des Sinns 9, 88, 91 – des Zeitvergehens
Willensfreiheit 9, 102 – 107, 116, 139, 203, 205, 207
54 f., 57, 59 – 61
Witten, E. 68, 117, 210 Wittgenstein, L. 8 f., 86 – 89, 91 f., 94, 188, 200, 210 Wüthrich, Ch. 68 – 70, 117, 205 Wyller, T. 5, 210 Yoneya, T. 68, 210 Zeitartige Trennung 7, 51 – 54, 57, 60, 151, 157, 163, 165 Zeiterleben 6 f., 29 – 31, 33 – 35, 38, 57, 146, 170, 179, 193 Zeitrichtung 7, 45 – 47, 49 f., 52 f., 59, 145 f., 153 Zufallseinwand
9, 104 – 107
Zurechenbarkeit 106 Zwillingsparadoxon
8, 61