Wahrheit, Bedeutung, Existenz 9783110324068, 9783110323795

Dieser Sammelband ist den Themen Wahrheit, Bedeutung und Existenz gewidmet sowie dem Bezug dieser Themen zur Realismus-A

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German Pages 315 [317] Year 2010

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Table of contents :
VORWORT
EINLEITUNG MARTIN GRAJNER UND ADOLF RAMI
1. WAHRHEIT UND OBJEKTIVITÄT
ÜBER DIE SUCHE NACH WAHREN ÜBERZEUGUNGEN – ANMERKUNGEN ZU DAVIDSON ANDRÉ FUHRMANN
REALISMUS, ROBUSTE WAHRHEIT UND KOGNITIVE NÖTIGUNG FRANK HOFMANN
HALBGLATZEN STATT HALBWAHRHEITEN. ÜBER VAGHEIT, WAHRHEITS- UND AUFLÖSUNGSGRADE GEERT KEIL
WAHRHEIT UND ERKLÄRUNG – EINE TRÜGERISCHE INTUITION TOBIAS KLAUK
2. BEDEUTUNG UND NORMATIVITÄT
THE ARGUMENT FROM QUEERNESS AND THE NORMATIVITY OF MEANING ALEXANDER MILLER
KRIPKES WITTGENSTEINS SKEPTISCHE LÖSUNG UND DIE METAPHYSIK DES MEINENS TIM KRAFT
IDIOLEKTE, SOZIALER GEHALT UND GEMEINSCHAFTSSPRACHEN CHRISTIAN WIRRWITZ
3. EXISTENZ, ZEIT UND DIE GRENZEN DER VERNUNFT
EXISTENZ, MÖGLICHKEIT, WIRKLICHKEIT ALEX BURRI
PRÄSENTISMUS, ZEITSPANNEN UND DAS ARGUMENT DER MEHRDEUTIGKEIT DES TENSE-OPERATORS PEDRO SCHMECHTIG
GOTT, FREIHEIT UND UNSTERBLICHKEIT– DREI POSTULATE DER UNVERNUNFT? OLAF MÜLLER
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Wahrheit, Bedeutung, Existenz
 9783110324068, 9783110323795

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Martin Grajner, Adolf Rami (Hrsg.) Wahrheit – Bedeutung – Existenz

LOGOS Studien zur Logik, Sprachphilosophie und Metaphysik

Herausgegeben von / Edited by Volker Halbach • Alexander Hieke Hannes Leitgeb • Holger Sturm Band 17 / Volume 17

Martin Grajner, Adolf Rami (Hrsg.)

Wahrheit – Bedeutung – Existenz

Bibliographic information published by Die Deutsche Bibliothek Die Deutsche Bibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliographie; detailed bibliographic data is available in the Internet at http://dnb.ddb.de

North and South America by Transaction Books Rutgers University Piscataway, NJ 08854-8042 [email protected] United Kingdom, Ireland, Iceland, Turkey, Malta, Portugal by Gazelle Books Services Limited White Cross Mills Hightown LANCASTER, LA1 4XS [email protected]

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2010 ontos verlag P.O. Box 15 41, D-63133 Heusenstamm www.ontosverlag.com ISBN: 978-3-86838-094-1 No part of this book may be reproduced, stored in retrieval systems or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, microfilming, recording or otherwise without written permission from the Publisher, with the exception of any material supplied specifically for the purpose of being entered and executed on a computer system, for exclusive use of the purchaser of the work Printed on acid-free paper ISO-Norm 970-6 FSC-certified (Forest Stewardship Council) This hardcover binding meets the International Library standard Printed in Germany by Strauss Druck GmbH

INHALTSVERZEICHNIS VORWORT

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Martin Grajner und Adolf Rami Einleitung

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1. WAHRHEIT UND OBJEKTIVITÄT André Fuhrmann Auf der Suche nach wahren Überzeugungen – Anmerkungen zu Davidson

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Frank Hofmann Realismus, robuste Wahrheit und kognitive Nötigung

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Geert Keil Halbglatzen statt Halbwahrheiten – Über Vagheit, Wahrheits- und Auflösungsgrade

57

Tobias Klauk Wahrheit und Erklärung – Eine trügerische Intuition

87

2. BEDEUTUNG UND NORMATIVITÄT Alexander Miller The Argument from Queerness and the Normativity of Meaning

107

Tim Kraft Kripkes Wittgensteins skeptische Lösung und die Metaphysik des Meinens

125

Christian Wirrwitz Idiolekte, sozialer Gehalt und Gemeinschaftssprachen

181

3. EXISTENZ, ZEIT UND DIE GRENZEN DER VERNUNFT Alex Burri Existenz, Möglichkeit, Wirklichkeit

235

Pedro Schmechtig Präsentismus, Zeitspannen und das Argument der Mehrdeutigkeit des Tense-Operators

257

Olaf Müller Gott, Freiheit und Unsterblichkeit – Drei Postulate der Unvernunft?

279

VORWORT Am Institut für Philosophie der Technischen Universität Dresden werden regelmäßig philosophische Kolloquien abgehalten, die auch thematische Schwerpunkte haben. Aus einigen dieser Dresdner Kolloquien sind bereits Sammelbände hervorgegangen, die die dargebotenen Vorträge in der Form von Aufsätzen einem bereiteren philosophischen Publikum zugänglich machen. Auch dieser Sammelband geht ursprünglich auf ein solches Kolloquium mit einem thematischen Schwerpunkt zurück. Dieses Kolloquium wurde unter dem Titel „Realismus, Wahrheit und Existenz“ im Wintersemester 2006/2007 abgehalten. Die folgenden Personen haben daran teilgenommen: Alex Burri, André Fuhrmann, Olaf Müller, Alexander Miller, Max Kölbel und Tobias Rosefeldt. Das Rahmenthema des Kolloquiums betraf die Rolle, die der Begriff der Wahrheit und der der Existenz in der Antirealismus-Realismus-Problematik spielen. Mit zwei Ausnahmen konnten alle Teilnehmer dazu gewonnen werden, einen schriftlichen Beitrag zu dem geplanten Sammelband zu verfassen. Die Beiträge von Olaf Müller und Alexander Miller sind jedoch anderen Themen gewidmet als die Vorträge, die von beiden im Rahmen des Kolloquiums gehalten wurden. Darüber hinaus konnten Frank Hofmann und Geert Keil, die beide der Einladung zum Kolloquium aus terminlichen Gründen nicht nachkommen konnten, als Beitragende für den Band gewonnen werden. Ganz unabhängig von dem angeführten Kolloquium konnten wir Tobias Klauk, Tim Kraft, Pedro Schmechtig und Christian Wirrwitz davon überzeugen, etwas zu dem Band beizutragen. Diese etwas heterogene Rekrutierung der Beiträge erklärt hoffentlich auch den etwas heterogenen Charakter des Bandes. Denn es ist uns offensichtlich nicht gelungen, wie das ursprünglich unser Plan war, einen Sammelband zu einem einheitlichen Themenkreis, nämlich der Realismusproblematik, zu erstellen. Wir hoffen, dass die Beiträge dieses Sammelbandes, bei denen es sich ausschließlich um Erstveröffentlichungen handelt, trotzdem ihre interessierten Leser finden werden.

M. G. und A. R.

EINLEITUNG MARTIN GRAJNER UND ADOLF RAMI

Wie der Titel des Bandes bereits verrät, gibt es insgesamt drei Themenschwerpunkte, die in den Beiträgen dieses Sammelbandes behandelt werden: Wahrheit, Bedeutung und Existenz. Dabei gibt es bei zahlreichen, aber leider nicht allen Beiträgen einen klaren Bezug zum ursprünglich geplanten Rahmenthema, der Realismusproblematik. Einen eindeutigen Bezug zum Realismusproblem aus dem Bereich der Beiträge zum Thema Wahrheit enthalten die Aufsätze von André Fuhrmann und Frank Hofmann. Beide Beiträge beschäftigen sich mit realistischen und antirealistischen Auffassungen des Begriffs der Wahrheit. Gleiches gilt für die Beiträge von Alexander Miller und Tim Kraft zum Thema Bedeutung. Beide Beiträge beschäftigen sich mit dem von Kripke in Anlehnung an Wittgenstein aufgeworfenen skeptischen Problem in Bezug auf Meinenszuschreibungen, das auf eine anti-realistische Auffassung von solchen wahren Meinens- bzw. Bedeutungszuschreibungen hinausläuft. Die Beiträge aus dem letzten Themenbereich haben allesamt einen Bezug zur Realismusproblematik. Alex Burri versucht die Vorzüge und Nachteile dreier unterschiedlicher realistischer Auffassungen in Bezug auf mögliche Welten herauszuarbeiten. Pedro Schmechtig beschäftigt sich mit Problemen, die eine anti-realistische Auffassung in Bezug auf die Existenz der Vergangenheit und Zukunft mit sich bringt. Olaf Müller befasst sich schließlich im letzten Beitrag mit epistemologischen und methodologischen Fragen, die ein bestimmter Gegenstandsbereich aufwirft, der aus lebensweltlicher Perspektive realistisch gedeutet werden sollte, aber für den aus naturwissenschaftlicher Perspektive eher ein Antirealismus spricht. Im Folgenden wollen wir die Beiträge dieses Sammelbandes noch etwas detaillierter vorstellen, damit sich der potentielle Leser leichter die Beiträge herauspicken kann, die für ihn von Interesse sind. André Fuhrmanns Beitrag „Über die Suche nach wahren Überzeugungen – Anmerkungen zu Davidson“ ist dem Thema gewidmet, welche Rolle ein

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objektiver bzw. realistischer Wahrheitsbegriff für unsere Erkenntnispraxis spielt. In der gegenwärtigen Erkenntnistheorie wird von zahlreichen Autoren die Auffassung vertreten, dass das zentrale Ziel unserer Erkenntnisbemühungen darin besteht, wahre Überzeugungen zu maximieren und falsche Überzeugungen zu minimieren, und zwar in Bezug auf Überzeugungen, die für uns prinzipiell von Interesse sind. Dass Wahrheit ein, wenn nicht sogar das zentrale Ziel unserer Erkenntnisbemühungen darstellt, wurde oft dadurch zu begründen versucht, dass Lebewesen mit wahren Überzeugungen besser an ihre Umwelt angepasst sind und entsprechend mit höherer Wahrscheinlichkeit überleben als solche Lebewesen, die über falsche Meinungen verfügen. Die Auffassung, dass Wahrheit unser zentrales kognitives Ziel darstellt, wurde allerdings von bestimmten Philosophen auch in Zweifel gezogen. Manche Autoren, wie etwa Stephen Stich, haben argumentiert, dass falsche Überzeugungen durchaus einen Überlebensvorteil nach sich ziehen können und dass entsprechend die eben angeführte Begründung der zentralen Rolle von Wahrheit nicht funktioniert. Fuhrmann geht in seinem Aufsatz einer anderen Herausforderung gegen ein derartiges Verständnis der Rolle von Wahrheit für unsere Erkenntnispraxis nach. Diese Herausforderung stammt von Donald Davidson und besteht darin, dass Wahrheit deshalb kein Ziel für uns sein kann, da es prinzipiell nicht erkennbar ist, ob unsere Überzeugungen tatsächlich dieses Ziel erreicht haben oder nicht. Da laut Davidson nur das von uns als Ziel betrachtet werden kann, von dem wir auch erkennen können, ob wir es erreicht haben, folgt, dass Wahrheit eben dieses Erfordernis nicht erfüllt. Gemäß Davidsons ist die Konklusion dieses Arguments zwingend, sofern man annimmt, dass unser Wahrheitsbegriff objektiv oder realistisch ist und nicht in idealem Gerechtfertigtsein, Nützlichkeit oder Behauptbarkeit unter idealen Umständen besteht. Fuhrmann versucht in seinem Beitrag Davidsons Argument anzugreifen, indem er an Davidsons Verständnis von objektiver Wahrheit ansetzt. Er differenziert zwischen drei Sinnen von objektiver Wahrheit, die Davidson zugrunde legen könnte, und weist nach, dass keiner dieser Sinne plausibel ist. Dadurch soll sich zeigen, dass Davidsons Argument gegen die Annahme, dass Wahrheit das Ziel unserer Erkenntnisbemühungen ist, letztlich scheitert.

Einleitung

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Frank Hofmann setzt sich in seinem Beitrag „Realismus, robuste Wahrheit und kognitive Nötigung“ mit der Frage auseinander, ob sich eine Charakterisierung eines realistischen Wahrheitsbegriffs finden lässt, die einen derartigen Wahrheitsbegriff eindeutig von einem anti-realistischen Wahrheitsverständnis abgrenzt. Crispin Wright hat in Truth and Objectivity unterschiedliche Kriterien für einen substantiell-realistischen Wahrheitsbegriff diskutiert. Er ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, das keines der Kriterien zwingend nahe legt, dass der fragliche Wahrheitsbegriff tatsächlich realistisch ist und sich nicht in einem anti-realistischen Verständnis von Wahrheit erschöpft. In den ersten beiden Abschnitten seines Aufsatzes diskutiert Hofmann zunächst zwei Versuche, einen realistischen Wahrheitsbegriff zu charakterisieren, nämlich erstens durch eine Wahrmacherbeziehung und zweitens durch das Merkmal der Evidenz-Transzendenz. Hofmann ist der Meinung, dass beide Versuche scheitern. In dem Rest seines Aufsatzes versucht Hofmann einen positiven Vorschlag zu machen. Hofmann ist der Auffassung, dass das von Wright eingeführte Kriterium der „kognitiven Nötigung“ notwendig ist, um einen realistischen Wahrheitsbegriff auszuzeichnen. Dieses Kriterium besagt, dass, sofern in einem bestimmten Diskursbereich Meinungsverschiedenheiten bestehen, diese lediglich dadurch aufgelöst werden können, dass man einem der Diskurspartner ein kognitives Defizit nachweist. Doch dieses Kriterium alleine ist nicht ausreichend, um zu einem realistischen Verständnis von Wahrheit zu gelangen. Denn das Kriterium der kognitiven Nötigung kann, so Hofmann, auch anti-realistisch interpretiert werden. Hofmann geht davon aus, dass man, sofern man dieses Kriterium mit einem bestimmten Verständnis der Eutyphron-Priorität kombiniert, tatsächlich ein Charakteristikum eines substantiell-realistischen Wahrheitsbegriffs erhält. Das Verständnis der Eutyphron-Priorität, das laut Hofmann in Anspruch genommen werden muss, um zu einem substantiell-realistischen Wahrheitsbegriff zu gelangen, sieht einfach so aus, dass die Tatsachen die Belege einer Person in einem Diskursbereich bestimmen und nicht umgekehrt. Obwohl mit einer derartigen Charakterisierung ein robuster Wahrheitsbegriff ausfindig gemacht worden ist, bleibt Hofmann skeptisch, was die Anwendung dieses Wahrheitsbegriffs in gewissen Diskursbereichen anbelangt. Ob die Wahrheit in der Moral oder in der Ästhetik realistisch nach dem von Hofmann skizzierten Ver-

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ständnis ist, lässt sich nicht sehr leicht festmachen, stellt aber letztlich auch kein prinzipielles Problem für die von Hofmann favorisierte Position dar. Im nächsten Beitrag des Bandes beschäftigt sich Tobias Klauk mit Intuitionen, die einer Theorie des Wahrmachens zugrunde zu liegen scheinen. Diese Intuitionen werden durch die wahren Instanzen der folgenden beiden Schemata ausgedrückt: (WS) Die Proposition, dass p ist wahr, weil p. (NWS) Es ist nicht, der Fall, dass p, weil die Proposition, dass p wahr ist. Sowohl aus (WS) als auch aus (NWS) kann man wahre Instanzen gewinnen, wenn man wahre Sätze für „p“ einsetzt. Die Wahrheit dieser Instanzen scheint nicht nur nahe zu legen, dass (a) die Wahrheit einer Proposition von der Beschaffenheit der Welt abhängig ist, aber nicht umgekehrt die Beschaffenheit der Welt von der Wahrheit einer Proposition, sondern auch die Auffassung, dass (b) in vielen Fällen nicht die Welt als Ganzes, sondern nur bestimmte Bestandteile der Welt für die Wahrheit einer Proposition verantwortlich sind. Manche Autoren haben die Wahrheit dieser Instanzen von (WS) und (NWS) und die eben angeführte Interpretation der Instanzen zur Rechtfertigung eines Prinzips der folgenden Art herangezogen: (WP) Für alle Propositionen x: x ist wahr gdw. es gibt etwas aufgrund dessen x wahr ist Klauk möchte in seinem Beitrag zeigen, dass die besagten Intuitionen keine Begründung für (WP) liefern können und dass die angeführten beiden Deutungen der wahren Instanzen von (WS) and (NWS) somit verfehlt sind. Zur Einstimmung auf sein Vorhaben liefert Klauk einen Überblick über verschiedene Möglichkeiten, (WP) zu interpretieren, restringieren und abzuschwächen. Daran anschließend legt Klauk zwei Vorzüge dar, die von Verfechtern einer Version des Prinzips (WP) oft ins Feld geführt werden. Klauk vertritt die Ansicht, dass beide Vorzüge nur scheinbare Vorzüge von (WP) sind und sich gute Gründe gegen die erwartete Erklärungsleistung von (WP) anführen lassen. Im nächsten Abschnitt versucht er zu zeigen,

Einleitung

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dass es eine Auslegung der wahren Instanzen von (WS) und (NWS) gibt, welche plausibel und nahe liegend ist, die jedoch nicht für die Rechtfertigungen herangezogen werden kann, die der Wahrmachertheoretiker mit diesen Instanzen verbindet. Klauk schließt sich dabei Künne in der Ansicht an, dass „weil“-Sätze als Ausdruck von (partiellen) begrifflichen Erklärungen verstanden werden können, und dass sich diese Auslegung auch plausibel auf die Instanzen von (WS) and (NWS) übertragen lässt. Auf dieser Grundlage liefern diese Sätze Auskünfte über begriffliche Abhängigkeiten ohne die Existenz irgendwelcher Wahrmacher nahe zu legen. Abschließend versucht Klauk zwei weitere Beispielfälle zu liefern, die die These erhärten soll, dass wir nicht nur durch Erklärungen der Form (WS), sondern auch durch solche der allgemeineren Form „Dass p ist wahr, weil q“ oft nichts anderes als begriffliche Abhängigkeiten zum Ausdruck bringen wollen. Klauk ist der Ansicht, dass auf der Grundlage dieser Deutung von „Weil“-Sätzen im Zusammenhang mit dem Wahrheitsprädikat, der Verwendbarkeit von Sätzen der Form (WS) zur Rechtfertigung von (WP) der Boden entzogen wird. In seinem Beitrag „Halbglatzen statt Halbwahrheiten“ beschäftigt sich Geert Keil mit dem Phänomen der semantischen Vagheit. Natürliche Sprachen enthalten Prädikate, die gemeinhin als vage Prädikate bezeichnet werden. Berühmte Beispiele dafür sind die Prädikate ‚ist ein Haufen’, ‚ist glatzköpfig’ und ‚ist rot’. Vage Prädikate zeichnen sich im Allgemeinen dadurch aus, dass es Fälle ihrer Anwendung gibt, bezüglich derer wir nicht wissen, ob das betreffende Prädikat auf einen Gegenstand zutrifft oder nicht, und sich unser Unwissen nicht aus einem Mangel an Wissen über die Beschaffenheit der relevanten Gegenstände zu ergeben scheint. Eine zentrale Frage in Bezug auf das Phänomen der semantischen Vagheit besteht nun darin, zu klären, wie man mit diesen problematischen Fällen der Anwendung solcher Prädikate zu verfahren hat. Keil zufolge stößt man bei der Beschäftigung mit dieser Frage unweigerlich auf die weitere Frage, ob man am Bivalenz-Prinzip, das besagt, dass jeder Satz entweder wahr oder falsch ist, festhalten soll oder nicht. Hält man in Bezug auf Sätze, die vage Prädikate enthalten, am Bivalenz-Prinzip fest, so legt man sich damit auf die These fest, dass der Umstand, dass wir in Bezug auf bestimmte Anwendungen von vagen Prädikaten nicht sagen können, ob diese Prädikate auf

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bestimmte Gegenstände zutreffen oder nicht und ob somit die entsprechenden einfachen Prädikationen der Form ‚a ist F’ wahr oder falsch sind, auf einer noch genauer zu spezifizierenden Form unseres Unwissens basiert. Keil versucht nun einerseits Argumente in Stellung zubringen, welche (a) die Annahme von Wahrheitswertlücken und (b) die Annahme von Wahrheitsgraden als ein verfehltes Manöver in Bezug auf Vagheit ausweisen. Anderseits versucht er das Festhalten am Bivalenz-Prinzip in Bezug auf vage Prädikate durch eine bestimmte Version des Kontextualismus in Bezug auf diese Prädikate zu verteidigen. Seiner Auffassung nach hängt die Wahrheit- oder Falschheit einer einfachen Prädikation der Form ‚a ist F’, wenn ‚F’ ein vages Prädikat ist, von einem zusätzlich kontextrelativen Faktor ab, welchen er den Auflösungsgrad eines Prädikates nennt. Eine solche Prädikation der Form ‚a ist F’ ist somit wahr relativ zu einem Äußerungskontext k gdw. es einen Auflösungsgrad A gibt, so dass ‚a ist F’ relativ zu k die Proposition, dass a ist F relativ zum Auflösungsgrad A, ausdrückt und diese Proposition wahr ist. Auflösungsgrade können sehr grob als Standards der Grob- oder Feinkörnigkeit der Beschreibung der Welt angesehen werden. Unser Unwissen bezüglich des Zutreffens oder NichtZutreffens eines vagen Prädikats auf einen Gegenstand basiert daher nach Keil auf unserem Unwissen in Bezug auf den gewählten Auflösungsgrad eines verwendeten vagen Prädikats. Alexander Miller beschäftigt sich in seinem Beitrag mit Themen, die sich im Anschluss an Kripkes Buch Wittgenstein on Rules and Private Language aufgetan haben. Kripke hatte in dem erwähnten Buch mit Wittgenstein laut Meinung der meisten Interpreten gegen einen semantischen Realismus argumentiert, in dem davon ausgegangen wird, dass es Tatsachen gibt, die Bedeutungs- bzw. Meinenszuschreibungen der Form „S meint mit dem Ausdruck ‚F’ F“ wahr oder falsch machen. Anstatt eines semantischen Realismus’ plädierte Kripke für einen Non-Faktualismus hinsichtlich solcher Bedeutungszuschreibungen. Diese Auffassung besagt, dass Aussagen der eben angeführten Form keine Tatsachenbehauptungen darstellen, weil sie prinzipiell nicht wahr oder falsch sein können. Eine andere skeptische Position, die man hinsichtlich der Semantik solcher Aussagen vertreten könnte, ist – analog zu derselben Position in der Metaethik – eine Irrtumstheorie. Hier würde man davon ausgehen, dass derartige Zuschreibungen zwar

Einleitung

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Tatsachenbehauptungen darstellen – also prinzipiell wahr oder falsch sein können –, aber dass alle positiven Aussagen dieser Art falsch sind, da es keine Meinenstatsachen gibt. Miller untersucht in seinem Beitrag zunächst, ob sich eine derartige Position argumentativ rechtfertigten lässt. Das Argument, das Miller zu diesem Zweck diskutiert, ist an Mackies Argumentation gegen den moralischen Realismus’ angelehnt. Es geht (1) davon aus, dass Bedeutungszuschreibungen, ähnlich wie moralische Urteile, kategorische Gründe für die Anwendung von sprachlichen Ausdrücken liefern müssten. Diese Annahme scheint jedoch (2) davon abzuhängen, dass Bedeutungstatsachen denk- bzw. wunschunabhängig existieren und dass es (3) für einen Akteur direkt erkennbar ist, ob die Verwendung eines bestimmten sprachlichen Ausdrucks dieser kategorischen Geltung entspricht. Da beide Annahmen aber unplausibel bzw. falsch sind, legt das die Auffassung (K) nahe, dass es keine Bedeutungstatsachen gibt. Miller wendet gegen dieses Argument ein, dass eine zentrale Prämisse dieses Arguments, nämlich dass Bedeutungszuschreibungen kategorische Gründe für die Anwendung von sprachlichen Ausdrücken liefern können müssten, falsch ist. Denn solche Urteile liefern laut Miller nur hypothetische Gründe für die Anwendung von sprachlichen Ausdrücken. Miller versucht zu belegen, dass auch Kripke eine derartige Auffassung vertreten hat. Im zweiten Teil seines Aufsatzes diskutiert Miller einen neueren Einwand gegen die in seinem Aufsatz zentrale Auffassung, dass Bedeutungszuschreibungen bloß hypothetische Gründe für die Anwendung sprachlicher Ausdrücke liefern. Dieser Einwand stammt von Daniel Whitings und beruht im Wesentlichen auf der Annahme, dass die sprachliche Bedeutung normativ ist. Miller versucht zu zeigen, dass Whitings Verteidigung der Normativität der Bedeutung nicht erfolgreich ist und dass entsprechend die zentrale Annahme, die Miller in Anspruch genommen hat, um das Argument für die Irrtumstheorie zu widerlegen, plausibel ist. Auch Tim Kraft beschäftigt sich in seinem Aufsatz mit Themen, die Kripkes Buch Wittgenstein on Rules on Private Language betreffen. Im Fokus von Krafts Überlegungen steht die von Kripke entwickelte „skeptische Lösung“ des von Kripke präsentierten skeptischen Paradoxes. Gegen die skeptische Lösung sind in der gegenwärtigen Literatur eine Reihe von Einwänden präsentiert worden und sie gilt allgemein als unhaltbar. Kraft

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versucht in seinem Beitrag zu zeigen, dass diese Einschätzung von Kripkes skeptischer Lösung ein wenig zu voreilig ist, da sie auf einer falschen Interpretation dieser Lösung beruht. Das Hauptanliegen von Krafts Aufsatz besteht entsprechend darin, eine Interpretation von Kripkes Lösung zu entwickeln, die zugleich aufdeckt, dass Kripkes Lösung plausibler ist, als gemeinhin angenommen wird. Im ersten Hauptabschnitt seines Aufsatzes legt Kraft kurz dar, was seiner Meinung nach die wesentlichen Bestandteile des skeptischen Paradoxes sind. Der zweite Abschnitt befasst sich mit der Frage, was die Lösung des Paradoxes, die Kripke Wittgenstein in den Mund legt, zu einer skeptischen Lösung macht. Im dritten Abschnitt seiner Abhandlung geht Kraft der Frage nach, welche Rolle die Annahme spielt, dass es keine Tatsachen gibt, welche Bedeutungszuschreibungen der Form ‚S meint F mit dem Ausdruck ‚F’’ wahr machen. Kraft argumentiert in diesem Zusammenhang gegen gängige Interpretationsoptionen und versucht eine neue Interpretationsmöglichkeit ins Spiel zu bringen, die davon ausgeht, dass der Ausdruck „es ist eine Tatsache, dass p“ als ein Operator zu deuten ist, der der doppelten Negation entspricht. Auf der Grundlage dieser Deutung folgt aus einem Satz der Form „Es ist eine Tatsache, dass p“ nicht ein entsprechender Satz der Form „Es gibt eine Tatsache, dass p“. Damit soll gezeigt werden, dass allein die sinnvolle Anwendung eines Ausdrucks wie „es ist eine Tatsache, dass“ auf Sätze eines bestimmten Diskurses, nicht darauf festlegt, dass manchen Sätzen dieses Diskurses auch prinzipiell Tatsachen entsprechen müssen. Im vierten Abschnitt der Abhandlung befasst sich Kraft mit der positiven Rolle, die Bedeutungszuschreibungen der Form „S meint F mit dem Ausdruck ‚F’“ gemäß der skeptischen Lösung zukommt. Kraft interpretiert Kripke so, dass er Wittgenstein die Auffassung zuschreibt, dass wir durch solche Aussagen gewisse Erwartungen bezüglich der zukünftigen Verwendung eines Ausdrucks durch einen Sprecher kundtun. Man ist aus der Perspektive der ersten Person berechtigt, eine Bedeutungszuschreibung in Bezug auf einen selbst zu äußern, insofern man eine Neigung dazu hat und man von anderen nicht erfolgreich korrigiert wird. Kraft nennt dies das Neigungs- und Korrekturmodell von Bedeutungszuschreibungen. Man ist zu einer Meinens- bzw. Bedeutungszuschreibung in Bezug auf einen anderen berechtigt, sofern die Verwendung eines Wortes durch den anderen weitgehend mit der eigenen Neigung zu Verwendung dieses Wortes übereinstimmt. Auf dieser Grundlage lässt sich

Einleitung

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nun nach Kraft die Unmöglichkeit einer Privatsprache (im Sinn einer Solitär-Sprache) erklären und es kann obendrein gezeigt werden, dass die Übereinstimmung einer Gemeinschaft konstitutiv dafür ist, dass jemand überhaupt etwas meint. Die Überstimmung legt auf dieser Grundlage jedoch nicht fest, ob etwas wahr ist oder wann man zu bestimmten Äußerungen berechtigt ist oder nicht. Laut Kraft kann die von Kripke dargelegte Konzeption der Berechtigungsbedingungen von Sätzen völlig unabhängig von einer Identifizierung von Wahrheit mit Berechtigung formuliert werden. Im fünften Abschnitt legt Kraft dar, warum das skeptische Problem nicht wiederum auf die skeptische Lösung angewendet werden kann und inwiefern die von ihm skizzierte skeptische Lösung überhaupt eine Lösung des ursprünglichen Problems darstellt. Der letzte Abschnitt beinhaltet noch einmal eine prägnante Zusammenfassung der Hauptmerkmale von Krafts Interpretation der skeptischen Lösung. Abschließend nimmt Kraft noch eine Abgrenzung seiner Interpretation von einer Position vor, welche die Auffassung vertritt, dass wahren Meinungszuschreibungen primitive Meinungstatsachen entsprechen. Christian Wirrwitz beleuchtet in seinem Beitrag das Verhältnis zwischen solchen sprachlichen Gehalten die entweder von einzelnen Sprechern oder einer Gemeinschaft von Sprechern determiniert werden. Zu diesem Zweck unterscheidet er zuerst Privatsprachen von Solitärsprachen, Idiolekten und Gemeinschaftssprachen. Daran anschließend versucht Wirrwitz im zweiten Abschnitt seiner Abhandlung, für zwei Thesen zu argumentieren: Der These, dass es keine Garantie für die Übereinstimmung in den Gehalten zwischen Sprechern gibt, selbst wenn die Gemeinschaft die Korrektheitsstandards der Verwendung von Ausdrücken festlegt; und der These: Damit Kommunikation möglich ist, muss der individuelle Gehalt intersubjektiv zugänglich sein, dabei spielt es aber keine Rolle, ob dieser Gehalt gemeinschaftliche Standards erfüllt oder nicht. Im dritten Abschnitt seines Aufsatzes geht Wirrwitz der Frage nach, von welchen gemeinschaftlichen Faktoren die korrekte Verwendung eines sprachlichen Ausdrucks abhängig ist. An erster Stelle beschäftigt er sich in diesem Zusammenhang mit dem Spracherwerb. Wir lernen den korrekten Gebrauch bestimmter Wörter von anderen Sprechern, d.h. aber nicht, dass die Standards der Sprachgemeinschaft als Ganzes dabei eine Rolle spielen würden. An zweiter Stelle be-

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trachtet Wirrwitz Fälle der Fehlanwendung von Ausdrücken, die auf Sinnestäuschungen, Attrappen oder Denkfehlern basieren. Hier sind es erneut einzelne Sprecher, die korrigierend eingreifen können. Die Gemeinschaft als Ganzes scheint aber wiederum irrelevant zu sein. An dritter und letzter Stelle werden Fehler der Anwendung betrachtet, die auf einer falschen Auffassung in Bezug auf die Extension von Ausdrücken oder einer inkorrekten Zuordnung eines Gegenstands zu der korrekten Extension des Ausdrucks basieren. In beiden Fällen kann Wirrwitz keine erklärende Rolle ausmachen, welche die Standards der Sprechergemeinschaft erfüllen könnten. Im vierten und letzten Abschnitt seines Aufsatzes beschäftigt sich Wirrwitz mit dem Phänomen der sprachlichen Arbeitsteilung. In Bezug auf viele Prädikate verfügen wir über kein Wissen, welches uns erlauben würde, die Extension dieser Prädikate eindeutig zu bestimmen. Das kann daran liegen, dass wir falsche notwendige Bedingungen mit diesem Prädikat verbinden, oder dass wir nur über korrekte notwendige, nicht aber über korrekte notwendige und hinreichende Bedingungen verfügen. Dennoch scheinen wir solche Ausdrücke in einem gewissen Sinn korrekt verwenden zu können und zwar dann, wenn wir diese Ausdrücke mit der Absicht verwenden, sie genau so zu verwenden wie Experten im Gebrauch bezüglich dieser Ausdrücke. Wirrwitz versucht nun zu zeigen, dass die Standards der Experten auch in Fällen der sprachlichen Arbeitsteilung nicht wirklich der Maßstab für den korrekten Gebrauch eines Nicht-Experten sind. Auf der Grundlage der eben kurz skizzierten Überlegungen kommt er zu dem Schluss, dass etwaige Korrektheitsstandards einer Sprachgemeinschaft keine wesentliche konstitutive Rolle in Bezug auf die Standards der korrekten Verwendungen durch einen individuellen Sprecher spielen. Bei der Kommunikation zwischen Sprecher kommt es auf den zugänglichen individuellen Gehalt an, der gemeinschaftliche Gehalt spielt nach Wirrwitz dabei keine wesentliche Rolle. Der Beitrag von Alex Burri beleuchtet den Zusammenhang zwischen der Existenz möglicher Welten und der Existenz von Individuen relativ zu einer möglichen Welt. Burri versucht zuerst für die Auffassung zu argumentieren, dass alle möglichen Welten notwendig existieren, wenn mögliche Welten als Totalitäten von konkreten Individuen im Anschluss an David Lewis aufgefasst werden. Daran anschließend ist er bestrebt, die Auffas-

Einleitung

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sung zu plausibilisieren, dass eine mögliche Welt in wesentlicher Weise genau die Individuen enthält, die sie enthält. Aus diesen beiden Auffassungen kann man nun Burri zufolge schließen, dass alle Individuen notwendig existieren. Das ist ein Resultat, welches offensichtlich kontraintuitiv ist und welches Burri selbst als paradox ausweist. Wir könnten diese paradoxe Konsequenz umgehen, wenn wir uns für eine andere Auffassung der Natur von möglichen Welten entscheiden würden. Burri diskutiert neben der von ihm favorisierten Konzeption (a), die von D. Lewis berühmt gemacht wurde, der zufolge mögliche Welten Totalitäten von konkreten Entitäten sind, zwei weitere realistische Positionen in Bezug auf mögliche Welten: (b) die Konzeption, die von A. Plantinga berühmt gemacht wurde, der zufolge mögliche Welten maximal konsistente Mengen von Propositionen sind, und (c) die Konzeption, die auf D. Armstrong zurückgeht, der zufolge mögliche Welten maximal konsistente Totalitäten von Sachverhalten sind, die sich durch Rekombination aus den Individuen, Eigenschaften und Relationen, die aktual existieren, erzeugen lassen. Burri versucht nun Argumente anzuführen, die gegen die Auffassungen (b) und (c) sprechen. Damit sieht Burri einen Realisten in Bezug auf mögliche Welten auf die Konzeption (a) festgelegt. Er ist darüber hinaus der Auffassung, dass der Begriff der möglichen Welt unverzichtbar für die Erklärung der Begriffe der Notwendigkeit und Möglichkeit ist. In diesem Sinne hält der die oben angeführte paradoxe Konsequenz für unvermeidlich. Seiner Meinung nach ist diese Konsequenz aber nur oberflächlich paradox. Denn genau genommen erfordert die Akzeptanz der Konzeption (a) in Bezug auf mögliche Welten und die Akzeptanz der daraus resultierenden Konsequenzen nach Burri nicht die völlig Aufgabe allgemeiner akzeptierter Annahmen, wie die Annahme, dass manch Individuen nicht notwendig existieren. Sie erfordert nur leichte Adaptionen in Bezug auf unser Begriffsschema. Wenn wir mögliche Welten im Sinne von David Lewis auffassen, dann müssen wir viele unserer Begriffe, die über den Begriff der möglichen Welt erklärbar sind, uminterpretieren. Wir müssen daher bspw. den Begriff der notwendigen Existenz Burri zufolge durch den Begriff der Omipräsenz ersetzen. Ein Individuum ist omipräsent, insofern es in allen möglichen Welten Gegenstücke in Bezug auf dieses Individuum gibt. Auch den Begriff der (aktualen) Existenz müssen wir nach Burri dann durch den Begriff der (aktualen) Kopräsenz ersetzen. Ein Individuum A ist kopräsent zu einem Individuum

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B, insofern A und B zur selben möglichen Welt gehören. Wenn wir im langläufigen Sinne sagen, dass ein Individuum A existiert, dann meinen wir damit nun, dass es etwas gibt, was zur selben Welt wie A gehört und A gehört zur aktualen Welt. Pedro Schmechtigs Beitrag befasst sich mit der Frage, ob sich eine Paraphrasestrategie für tempushaltige Existenzaussagen finden lässt, die mit einem Präsentismus kompatibel ist. Der Präsentismus besagt, dass notwendigerweise nur gegenwärtige Dinge existieren. Eine Herausforderung für diese Auffassung besteht darin, dass man die Wahrheitsbedingungen von Aussagen über vergangene oder zukünftig existierende Objekte so spezifizieren muss, dass man sich ontologisch nicht auf die Existenz vergangener oder zukünftiger Objekte festlegt. Präsentisten haben für die Paraphrase solcher tempushaltigen Existenzaussagen gemeinhin einen primitiven, nicht weiter analysierbaren Tense-Operator verwendet. Dieser Operator erlaubt es, Aussagen wie „Cicero hat existiert“ folgendermaßen zu paraphrasieren: „Es war der Fall, dass Cicero existiert.“ Die Einführung des Operators „Es war der Fall, dass“ hat den Vorteil, dass eine eingebetteter Existenzquantor keine ontologische Verpflichtung nach sich zieht. Doch diese Paraphrasestrategie erlaubt es nicht, Aussagen zu behandeln, die plurale Quantoren enthalten – wie etwa „Es hat drei deutsche Könige mit Namen ‚Otto’ gegeben.“ Um diesem Problem zu entgehen, wurde der Vorschlag gemacht, einen Zeitspannen-Operator einzuführen, der es erlaubt, mit Aussagen, die plurale Quantoren enthalten, umzugehen. Doch das Problem mit dieser Position besteht darin, dass der Zeitspannen-Operator mehrdeutig ist und dass diese Mehrdeutigkeit beispielsweise dazu führt, dass gewisse widersprüchliche Aussagen sinnvoll werden. Im Zentrum von Schmechtigs Beitrag steht ein neuerer Vorschlag, im Rahmen einer präsentistischen Konzeption die Probleme, die sich für derartige Paraphrasestrategien ergeben, in den Griff zu kriegen. Dieser Vorschlag stammt von Berit Brogaard und geht davon aus, dass man in der Paraphrase von Aussagen, die sich als Stolpersteine für den Zeitspannen-Operator erwiesen haben, auch auf einen Zeitpunkt-Operator zurückgreifen kann. Eine derartige Konzeption würde entsprechend auf zwei unterschiedliche Operatoren zurückgreifen, um die Wahrheitsbedingungen von Aussagen über vergangen Existierendes korrekt festzulegen. Schmechtig versucht in seinem Beitrag

Einleitung

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nachzuweisen, dass Brogaards Strategie zwar insofern erfolgreich ist, als es ihr gelingt, den Vorwurf der völligen Inkohärenz eines präsentistischen Zeitspannen-Operators abzumildern; letztlich scheitert ihr Ansatz aber daran, dass er nicht in der Lage ist, das in Schmechtigs Text diskutierte Mehrdeutigkeits-Argument nicht entkräften zu können. Ausschlaggebend dafür ist laut Schmechtig, dass bei einer komplexe Verwendung von Zeitpunktund Zeitspannen-Operator eine zweidimensionale Zeitkonzeption zugrundegelegt wird, die mit einem unabhängigen (primitiven) Gebrauch des Zeitspannen-Operators – so wie er im Rahmen eines strikten Präsentismus angenommen werden müsste – nicht verträglich ist. Olaf Müller geht in seinem Beitrag auf erkenntnistheoretische und methodologische Probleme ein, die sich bei klassischen metaphysischen Fragen auftun. Kant hatte bekanntlich bezüglich der Beantwortung der Fragen der sog. metaphysica specialis aus theoretischer Perspektive eine skeptische bzw. agnostische Position vertreten. Seiner Ansicht nach können wir von Sachverhalten wie der Existenz Gottes, der Unsterblichkeit der Seele sowie der menschlichen Freiheit kein Wissen erlangen. Doch laut Kant gibt es andere, nämlich lebensweltlich-praktische Gründe, an der Existenz Gottes, der Unsterblichkeit der Seele und der menschlichen Freiheit festzuhalten und sie als existent zu postulieren. Müller versucht in seinem Aufsatz eine an Kant angelehnte Haltung gegenüber lebensweltlich relevanten Sachverhalten zu entwickeln. Im Fokus von Müllers Überlegungen steht dabei die menschliche Freiheit, deren Existenz in jüngster Zeit durch neurowissenschaftliche Untersuchungen in Frage gestellt wurde. Zu Beginn seines Aufsatzes argumentiert Müller zunächst gegen einen Kompatibilismus, der annimmt, dass Determinismus und Willensfreiheit vereinbar sind. Wenn der Kompatibilismus keine gangbare Strategie ist, die menschliche Freiheit angesichts der Herausforderung durch die Neurowissenschaften zu retten, wie kann man es dann tun? Müller ist der Auffassung, dass man es kann, indem man auf „vernunftfremde“ Erwägungen zurückgreift. Müller versucht seine Idee plausibel zu machen, indem er aufzeigt, dass die „rationalen“ Kriterien, die für eine Wahl von wissenschaftlichen Theorien einschlägig sind, wie etwa empirische Adäquatheit, Einfachheit und ontologische Sparsamkeit nicht zu entscheiden erlauben, ob ein Überzeugungssystem, das Überzeugungen enthält, die implizieren, dass es die menschliche

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Martin Grajner und Adolf Rami

Freiheit gibt, besser ist als ein Überzeugungssystem, das diese Überzeugungen nicht enthält und sich allgemein auf einen durchgehenden Naturalismus festlegt. Ein Ausweg aus diesem Patt besteht nach Müller darin, außerrationale Kriterien ins Spiel zu bringen. Und bei diesen außerrationalen Kriterien handelt es sich laut Müller um moralische Erwägungen. Seiner Ansicht nach ist ein Überzeugungssystem, das sich auf die Existenz der menschlichen Freiheit und auf den Respekt vor der Alltagsmoral festlegt, besser als das alternative Überzeugungssystem, das zur Folge hätte, dass es die menschliche Freiheit nicht gibt. Denn ein Überzeugungssystem, das zur Folge hat, dass es die Freiheit nicht gibt, würde dazu führen, dass man zu viele andere Überzeugungen und Haltungen aufgeben müsste, die man nun einmal hat. Dadurch zeigt sich, dass es durchaus einen Grund gibt, die Existenz der menschlichen Freiheit anzunehmen. Anlog könnte man Müller zufolge in Bezug auf die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele verfahren.

1. WAHRHEIT UND OBJEKTIVITÄT

ÜBER DIE SUCHE NACH WAHREN ÜBERZEUGUNGEN – ANMERKUNGEN ZU DAVIDSON ANDRÉ FUHRMANN

1. Samuel Clarke hat in seinem Essay über den ontologischen Gottesbeweis einmal bemerkt, daß derjenige Gottesbeweis, der die größte Überzeugungskraft habe, auf einem Fehlschluß beruhe, während derjenige Beweis, der richtig sei, leider niemanden überzeuge.1 Diese Bemerkung gilt sinngemäß wohl für viele philosophische Argumente. Im folgenden werden wir ein Argument betrachten, das sicherlich sehr wirkungsvoll ist. Diese Wirkung verdankt es seiner augenscheinlichen Einfachheit und der Plausibilität seiner Prämissen. Das Argument mündet in eine These, die keinen Philosophen kalt lassen kann. Für diese These gibt es einige, sehr komplizierte Argumente. Doch dieses Argument ist, wie gesagt, einfach. Alle Zutaten für eine Erfolgsgeschichte sind also beisammen. Es ist dabei keineswegs eines der Argumente, deren Wirkung auf einem versteckten aber, einmal erkannt, deutlichen Fehler beruht. Vielmehr ist es so: Anfangs überrascht das Argument durch seine Plausibilität. Doch indem man beginnt, es zu drehen und zu wenden, scheint es nicht mehr so richtig zu funktionieren. Damit es nun wieder funktioniert, muß man Zusatzannahmen machen und dabei verfliegt der Zauber: die Plausibilität, die das Argument anfangs so anziehend erscheinen ließ, läßt sich nicht wiederherstellen. 1

Wirkungsvoll aber unrichtig, so glaubte Clarke, sei der teleologische Beweis: der Beweis aus der Idee, daß die Welt im wörtlichen Sinne ein Meisterstück sei. Für richtig, aber wohl wirkungslos dagegen, hielt er seine Version eines ontologischen Beweises. Siehe Clarke (1998).

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André Fuhrmann

Das Argument, um das es hier gehen soll, mündet in die These: Wer auf eine Frage eine Antwort sucht, der mißversteht sein Tun, wenn er annimmt, er versuche die – von seinem Tun unabhängige – Wahrheit herauszufinden. Wenn es so etwas wie eine „Ewige Erkenntnistheorie” gibt, dann kreist sie genau um die Frage nach der Wahrheit oder Falschheit dieser These. Für die These gibt es eine ganze Reihe recht komplizierter Argumente, die sich aus dem Stand heraus nicht beurteilen lassen. Einige dieser Argumente kommen in wissenschaftstheoretischem Gewande daher; zum Beipiel: • Argumente aus dem tatsächlichen, scheinbar „unmethodischem” Verlauf der Wissenschaftsgeschichte; • Argumente, die auf der Beobachtung fußen, daß Theorien im allgemeinen nicht ein bestimmtes Modell („eine Wahrheit”) beschreiben; oder • Argumente aus der Semantik theoretischer Termini. Daneben gibt es eben auch jenes viel einfachere Argument, zu dem jeder Interessierte sofort Zugang finden kann. In verschiedenen Versionen gehört es nicht nur zur philosophischen Folklore, sondern es hat auch kanonische Formulierungen im Werk von Philosophen wie Bas van Fraassen, Richard Rorty oder Donald Davidson erfahren. Im folgenden will ich das Argument in der Formulierung von Davidson betrachten. Sie hat den Vorzug, auf das wesentliche reduziert zu sein und damit die Quellen seiner Überzeugungskraft deutlich zu Tage treten zu lassen.

2. Anläßlich des 70. Geburtstags von Richard Rorty erschien im Jahre 2000 ein Buch, an dem Davidson sich mit dem Aufsatz „Truth rehabilitated” beteiligte.1

1

Brandom (2000).

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Die Rehabilitierung von Wahrheit – als unverzichtbar für eine Theorie der Bedeutung – wird Davidson in diesem Aufsatz deshalb zu einem ernsten Anliegen, weil er sich darin zunächst an Rortys Demontage des Wahrheitsbegriffs tatkräftig beteiligt. Davidson schreibt: Wahrheiten tragen keine „Kennung”, wie das Datum auf einigen Photographien, um diese von Irrtümern zu unterscheiden. [...] Wir wissen vieles, und werden noch mehr dazulernen. Was wir niemals mit Sicherheit wissen werden, ist welche unserer Überzeugungen wahr sind. Da Wahrheit weder als Ziel sichtbar ist noch sich zu erkennen gibt, wenn wir sie erreicht haben, macht es keinen Sinn, Wahrheit ein Ziel zu nennen. Wahrheit ist kein Wert. So ist die „Suche nach der Wahrheit” ein witzloses Unternehmen, sollte man darunter mehr verstehen wollen, als daß es oft lohnt, durch das Sammeln weiterer Evidenz und Nachprüfung unserer Berechnungen das Vertrauen in unsere Überzeugungen zu erhöhen.2

Davidson trägt hier nicht den skeptischen Topos vor, daß man nur dann etwas wirklich weiß, wenn man sich dessen sicher ist, d.h. wenn man weiß, daß man es weiß – die sogenannte KK-These („to know that one knows”). Diese These lehnt Davidson ausdrücklich ab. Nach Davidson kann unsere kognitive Auseinandersetzung mit der Welt Wissen produzieren – sie kann sich jedoch nicht die Produktion von Wissen zum Ziel setzen. Anders gesagt, wenn wir Theorien wählen und verbessern, dann können wir das nicht unter der Maßgabe tun, wahre Überzeugungen falschen vorzuziehen. Der Ausgangspunkt des Arguments, die erste Prämisse, ist eine zunächst plausible These über eine Voraussetzung jeden Handelns: Wer seinem Handeln ein Ziel setzt, der muß im Prinzip in der Lage sein zu erkennen, wann dieses Ziel erreicht ist. Ist er dazu nicht in der Lage – wie in der zweiten Prämisse behauptet wird –, dann kann die Handlung sich nicht an diesem Ziel orientieren. Die angebliche Orientierung ist dann bloße Behauptung, ohne tatsächlich leitende Kraft. In diesem Fall verfolgt der Handelnde entweder ein anderes, oder er verfolgt gar kein bestimmtes Ziel. „Die Wahrheit wissen zu wollen”, so schließt Davidson, ist in genau diesem Sinne kein mögliches Handlungsziel. Wer behauptet, die Wahrheit zu 2

Davidson (2000), S. 69 (meine Übersetzung).

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suchen, sucht tatsächlich etwas anderes, oder er sucht gar nichts Bestimmtes. Diese Überlegung markiert für Davidson eine Weggabelung, an der sich jeder, der über Wahrheit nachdenkt, entscheiden muß. Aus der Tatsache, daß wir niemals in der Lage sein werden zu sagen, welche unserer Überzeugungen wahr sind, schließen Pragmatisten, daß wir genauso gut unsere am besten recherchierten, erfolgreichsten Überzeugungen mit den wahren identifizieren können und geben so die Idee der Objektivität auf. (Wahrheit ist objektiv, wenn die Wahrheit einer Überzeugung oder einer Aussage unabhängig davon ist, ob sie durch alle unserer Evidenz gestützt ist, oder unsere Nachbarn sie akzeptieren, oder es gut ist, sich nach ihr zu richten.) Aber hier haben wir eine Wahl. Statt die traditionelle Vorstellung aufzugeben, Wahrheit sei objektiv, können wir die gleichermaßen traditionelle Vorstellung (an der die Pragmatisten festhalten) aufgeben, daß Wahrheit eine Norm sei, etwas, nach dem zu streben sei.3

Davidson empfiehlt, auf die Normativität zugunsten der Objektivität der Wahrheit zu verzichten. Aber stehen wir wirklich vor diesem Dilemma?

3. Ein erster Verdacht, daß das Dilemma vielleicht gar nicht so zwingend ist wie es erscheinen mag, entsteht, wenn wir uns fragen: Macht es wirklich keinen Sinn, etwas ein Ziel zu nennen, wenn dieses sich in einem bestimmten Sinne nicht zu erkennen geben kann? Bei näherer Betrachtung ist das keinesfalls so offensichtlich wie Davidson anzunehmen scheint. Hier sind einige Beispiele, welche die These Davidsons fragwürdig erscheinen lassen. • In einer komplizierten Position kann es geschehen, daß ein Spieler weder während des Spiels noch nach dem Spiel in der Lage ist zu beurteilen, welcher Zug der beste ist, obwohl es theoretisch einen besten Zug gibt. Wollen wir wirklich sagen, daß es in einer solchen Situation „witzlos” sei, nach dem besten Zug zu suchen? 3

Ebd.

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• Ein Interpret sucht nach einer authentischen Interpretation eines Textes oder einer Partitur. Vielleicht wird er irgendwann zu der festen Überzeugung gelangen, daß er das Problem gelöst und wenn schon nicht die, so doch eine authentische Interpretation gefunden hat. Das berechtigt den Interpreten aber nicht zu Rechthaberei: Er sollte vielmehr zugeben, daß er nicht wissen kann, ob seine Überzeugung, eine authentische Interpretation gefunden zu haben, Wissen darstellt. Wenn er das tut, dann, so Davidson, muß er entweder Abstand nehmen von der Idee, daß es authentische Interpretationen gibt, oder er muß sich eingestehen, daß er diese als Ziel gar nicht in den Blick nehmen kann. In beiden Fällen wäre die Frage der Authentizität für eine Interpretationsanstrengung irrelevant. Viele Interpreten würden das bestreiten; sie würden sich vermutlich gegen die Prämisse wenden, daß die Bemühung um Authentizität nur dann sinnvoll ist, wenn man sich des Ergebnisses völlig versichern kann. • Ein ethischer Konsequenzialist versucht unter einer Reihe von Handlungsalternativen diejenigen herauszufinden, die bestimmte Parameter maximieren und so als ethisch zulässige Handlungen ausgezeichnet sind. Mögliche Langzeiteffekte und unerwartet verletzte Randbedingungen können das zu einer schwierigen Aufgabe machen. Zu schwierig, sagen manche Kritiker (maximierender) konsequenzialistischer Ethiken, um als Grundlage einer praktikablen Ethik dienen zu können. Vermeintliche Konsequenzialisten, so fahren diese Kritiker fort, müssen zulässige Handlungsoptionen tatsächlich auf andere Weise bestimmen, wenn sie auf ethisches Handeln nicht völlig verzichten wollen. Auf diesen Einwand gibt es eine Reihe von Erwiderungen. Allen gemein ist die Feststellung, daß der moralische Zweck nicht allein schon dadurch zu einem unmöglichen wird, daß mit Sicherheit weder prospektiv bestimmt werden kann, welche Handlung dazu als Mittel taugen wird, noch retrospektiv, ob eine Handlung als Mittel zum Zweck getaugt hat. In einer geradezu klassisch gewordenen Diskussion mit Bernard Williams führt J.J.C. Smart in diesem Zusammenhang das Bild von den Ringen im Teich („ripples in the pond”) an.4 Die ethisch relevanten Konsequenzen 4

Smart und Williams (1973).

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einer Handlung breiten sich aus, so Smart, wie die Ringe um die Stelle, an der ein Stein in einen Teich gefallen ist. Je weiter man sich von dieser Stelle entfernt, desto unbewegter bleibt die Wasseroberfläche vom Effekt des Aufschlags. Falls die Auswirkungen von Ereignissen sich generell auf diese Weise verlieren, dann sollten wir Handlungsauswirkungen in zeitlichräumlicher Nachbarschaft nicht nur vergleichsweise größere Aufmerksamkeit schenken, sondern unter Umständen sogar nur diese allein in Betracht ziehen. Denn wenn die unmittelbaren Folgen zweier Handlungsoptionen nur genügend stark differieren, dann können, unter normalen Umständen, entferntere Folgen die schon anfänglich sich zeigende Differenz nicht mehr umkehren. Mit anderen Worten, Smart gibt zu bedenken, daß es beim Vergleich zweier Handlungen im Hinblick auf ihre Folgen normalerweise eine Art Fixpunkt gibt: einen oftmals auch praktisch abschätzbaren Horizont, hinter dem die Handlungen zwar weitere Folgen zeitigen, diese jedoch so gering ins Gewicht fallen, daß die Bewertung der Handlungen sich nicht mehr verändern kann. Smarts These transponiert in den Bereich der Ethik eine Idee, die im Pragmatismus von Peirce von zentraler Bedeutung ist. Denn Peirce war der Meinung, daß wenn wir eine Frage nur lange genug untersuchen, dann werden wir mit Sicherheit irgendwann eine Antwort finden. Und wenn eine Antwort unter jeder weiteren Untersuchung stabil bleibt, dann, so meint Peirce, haben wir die richtige Antwort gefunden: Unter Wahrheit verstehen wir diejenige Meinung, die dazu bestimmt ist, von allen geteilt zu werden, die die Frage untersuchen, und das Objekt, das in dieser Meinung vorgestellt wird, ist die Realität.

Dieser Definitionsversuch mag viele Mängel haben, vielleich sogar absurd sein, wie Russell meinte.5 Keinesfalls absurd – sondern geradezu trivial –

5

Peirce selbst scheint diese Definition manchmal selbst nicht ganz geheuer vorzukommen. So schreibt er in ein und demselben Satz, daß wahre und konvergierte Meinung dasselbe bedeuten und daß das Zusammentreffen von Konvergenz und Wahrheit „eine freudige Hoffnung aller Anhänger der Wissenschaft” sei. Diese Hoffnung sei im Begriff der Wahrheit verkörpert. Wie ein begrifflicher Zusammenhang Gegenstand von Hoffnung sein kann, ist offensichtlich nicht ganz einfach zu erklären.

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ist jedoch die Vorstellung, daß Untersuchungen genau im Peirce’schen Sinne konvergieren können. Hypothesen können sich unter dem Einfluß eines Evidenzstroms stabilisieren bis zu einem Punkt, wo jede weitere Evidenz die Hypothesenwahl nicht mehr umkehren kann. Wichtig ist hier insbesondere die Beobachtung – die Peirce selbst auch schon hervorhebt –, daß der Untersuchende sicher sein kann, daß der Prozeß konvergiert, d.h. eine Hypothese sich stabilisieren wird, obgleich er nicht wissen kann, wann der Konvergenzpunkt erreicht sein wird. Solche Prozesse der Hypothesenstabilisierung sind Gegenstand der formalen Lerntheorie. Der Name ist ein wenig irreführend; er verdankt sich historischen Umständen. Die Theorie wurde Ende der 60er Jahre zunächst als Theorie induktiven Sprachlernens konzipiert. Tatsächlich handelt es sich jedoch um eine allgemeine Theorie der Komplexität induktiver Probleme.6 Sie untersucht die Bedingungen, unter denen ein induktives Problem Peirce’ Definition der Wahrheit setzt unter anderem voraus, daß jede Frage unter idealen Evidenzbedingungen untersucht werden kann und daß es keine Sachverhalte gibt, die nicht gewußt werden können. Aus dieser letzteren Voraussetzung, (*) A →  KA, leitet das Fitch-Paradox die absurde Konsequenz ab, daß alles schon gewußt wird, A → KA. In einem ersten Schritt wird dazu gezeigt, daß wir nicht wissen können, daß etwas nicht gewußt wird: 1. K(A ∧ ¬KA) Annahme (für reductio) 1, K verteilt sich über ∧ 2. KA ∧ K¬KA 2, T-Schema: KB → B – Widerspruch! 3. KA ∧ ¬KA 1,3, reductio 4. ¬K(A ∧ ¬KA) 4, N-Regel: B/ B 5.  ¬K(A ∧ ¬KA) 6. ¬K(A ∧ ¬KA) 5,  = ¬ ¬ Die angestrebte Konklusion folgt nun schnell: Instanz von (*) 7. (A ∧ ¬KA) → K(A ∧ ¬KA) 6,7, modus tollens 8. ¬(A ∧ ¬KA) 9. A → KA 8 – Wir wissen schon alles!?! Siehe Fitch (1968). 6 Für die Zwecke der Theorie ist ein induktives Problem durch vier Aspekte charakterisiert: (1) Eine Menge in Betracht zu ziehender Möglichkeiten, wobei eine Möglichkeit als eine linear („zeitlich”) angeordnete Menge von Daten aufgefaßt wird; (2) eine Menge von Hypothesen (potentielle Antworten auf eine Frage), welche die Menge ernsthafter Möglichkeiten partitioniert; (3) Ein Kriterium für erfolgreiche Hypothesen-

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überhaupt – und in welchem Sinne – lösbar ist. Dabei fördert sie Einsichten zu Tage, für die viele philosophische Traditionen keinen Blick haben. Zu diesen Einsichten gehört jedenfalls die Feststellung, daß Lernalgorithmen („Untersuchungen”) erkennbar auf Konvergenzpunkte zusteuern können, ohne daß der Punkt der Konvergenz selbst durch das Anhalten des Algorithmus erkennbar wäre. Davidsons Prämisse scheint zu implizieren, daß es generell irrational wäre, sich solcher Methoden zu bedienen. Es ist diese Konsequenz, die Davidsons Argument in kein gutes Licht taucht.

4. Wenn jemand vor dem Problem steht, unter einer Reihe von Antworten auf eine Frage zu wählen, dann, so scheint Davidson sagen zu wollen, kann die Vorstellung, daß die Entscheidung von der Suche nach Wahrheit diktiert ist – daß Wahrheit seine Entscheidung normativ bestimmt – nur so zu verstehen sein: Der Entscheidende prüft die möglichen Antworten vor der Entscheidung hinsichtlich der Eigenschaft wahr zu sein und nimmt eine der Antworten nur dann in sein Überzeugungssystem auf, wenn er weiß, daß er mit dieser Antwort eine wahre Überzeugung erwirbt. Aber genau das – dies ist die zweite von Davidsons Prämissen – kann der Entscheidende nicht wissen. Er kann zwar auf eine wahre Antwort stoßen, und wenn er dies auf die richtige Weise tut, dann darf von ihm gesagt werden, daß er die richtige Antwort auf seine Frage weiß. Aber daß er die richtige Antwort weiß, das kann er nicht wissen. Denn die Bedingungen des Wissens sind für den Wissenden nicht transparent: Er kann sich selbst im allgemeinen nicht vergewissern, daß sie wirklich erfüllt sind. Sobald wir die Eigenschaft, wahr zu sein in einem genügend schwachen Sinne verstehen, etwa als gerechtfertigte Behauptbarkeit, dann wird diese zweite Prämisse augenblicklich hinfällig. Denn es ist ja gerade der philosophische Punkt solch schwacher Substitute für Wahrheit, daß diese im Gegensatz zu Wissen transparent sein sollen. Wer zu einer Behauptung gerechtfertigt ist, der hat damit auch eine Rechtfertigung für die Behaupstabilisierung („Konvergenz”); (4) eine Menge zulässiger Methoden. Eine gute Einführung bietet Kelly (2001).

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tung, daß diese Behauptung gerechtfertigt sei. Wenn Wahrheit also in einem solchen, transparenten Sinne verstanden wird, dann kann sie als Ziel von Erkenntnis im Blick bleiben. Dies ist denn auch der Ausweg, den Pragmatisten wie Dewey und Rorty empfohlen haben. Es ist kein Ausweg, den Davidson empfiehlt. Ich will an dieser Stelle auf die Nachteile dieser Strategie nicht weiter eingehen. Es ist Davidsons These, daß das Argument gegen Wahrheit als Erkenntnisziel zwingend sei unter der Voraussetzung, daß Wahrheit objektiv ist. Was Davidson unter objektiver Wahrheit versteht, deutet er so an: Wahrheit ist objektiv, wenn die Wahrheit einer Überzeugung oder einer Aussage unabhängig davon ist, ob sie durch alle unserer Evidenz gestützt ist, oder unsere Nachbarn sie akzeptieren, oder es gut ist, sich nach ihr zu richten.

Diese Auskunft ist offenbar vage. Welche der vielen Theorien über Stützung durch Evidenz dürfen wir hier bemühen? Wie groß darf der relevante Kreis von Nachbarn sein und darf er zum Beispiel auch Hellseher umfassen? Wie eng darf sich der Begriff einer “guten” Überzeugung an den einer wahren Überzeugung anlehnen? Der kanadische Philosoph Henryk Mehlberg hat vage Ausdrücke einmal so charakterisiert: „Ein Ausruck ist vage, wenn man ihn auf verschiedeneWeise verstehen kann, ohne ihn mißzuverstehen.”7 In diesem Sinne dürfen wir Davidsons Andeutung als Einladung nehmen, den Begriff der Objektivität in verschiedener Weise zu verstehen, ohne ihn mißzuverstehen – d.h. ohne daß sein Argument Schaden nimmt. Der Einladung wollen wir nun zum Schluß ein wenig folgen. Ich werde Ihnen drei Lesarten von “objektiv wahr” im Kontext des Arguments vorstellen. Keine dieser Lesarten gibt einen für das Argument befriedigenden Kontext ab.

7

„A term is vague if it can be understood in several ways without being misunderstood”. Mehlberg (1958). Das Zitat von Mehlberg ist die klassische Formulierung der Grundthese der Verschärfungstheorie (supervaluational theory) vager Ausdrücke.

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5. Skeptische Risikoscheu. Eine besonders starke Lesart von ‘objektiver Wahrheit’ legt Davidson nahe durch die Bedingung, daß diese unabhängig von aller Evidenz sein soll. Diese Bedingung soll die Möglichkeit, sich der Wahrheit einer Überzeugung zu vergewissern, skeptisch aushebeln. Denn in einem bestimmten Sinne von ‚Möglichkeit’ kann niemand die Möglichkeit von Irrtum ausschließen. (Hier, wie im folgenden, fahre ich fort, mich nur auf kontingente Überzeugungen zu beziehen.) Der Untersuchende, X, mag zwar wissen, wie es sich verhält und hat damit eine wahre Überzeugung; da er aber skeptische Zweifel an seinem Wissensanspruch nicht ausräumen kann, weiß er nicht sicher zwischen den richtigen und den falschen Wissensansprüchen zu unterscheiden. Jetzt gilt die zweite Prämisse des Arguments: X kann für keine seiner (kontingenten) Überzeugungen alle skeptischen Irrtumsmöglichkeiten ausschließen. In diesem skeptischen Sinne weiß X nicht „mit Sicherheit”, welche seiner Überzeugungen wahr sind. Um das Argument zur Konklusion zu führen, müssen wir nun aber auch die erste Prämisse – die These über mögliche Handlungsziele – in entsprechender Weise lesen; etwa so: Wenn X sich das Ziel stellt, wahre und nur wahre Überzeugungen anzunehmen, dann muß er für seine Überzeugungen jede Irrtumsmöglichkeit ausschließen können. Da letzteres nicht möglich ist, folgt nun tatsächlich die Konklusion, daß X keine wahren Überzeugungen anstreben kann. Die Konklusion wurde durch eine Zusatzannahme erkauft, die dem Untersuchenden X maximale Risikoscheu auferlegt. Nur wenn er dazu gebracht werden kann, diese Zusatzannahme zu teilen, wird er die Vorstellung aufgeben müssen, nach wahren Überzeugungen zu streben. Aber warum sollte das kleinste Risiko, sich zu irren, alle anderen Erwägungen, die bei der Beurteilung einer Hypothese eine Rolle spielen können, vollkommen verdrängen? Irrtumsrisiken zur Kenntnis zu nehmen und sie bei der Theorienwahl zu berücksichtigen, ist sicher ein wichtiger Bestandteil unseres kognitiven Immunsystems. Mit welchen Argumenten könnte X jedoch

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dazu gebracht werden, sein Bestreben, Irrtum zu meiden, so weit zu treiben, daß er auf kontingente Überzeugungen überhaupt verzichten müßte – also sozusagen allergisch jede kontingente Überzeugung abstößt? Vor die Wahl gestellt, könnte X sich dafür entscheiden, Wahrheit anzustreben und dabei das Risiko, sich zu irren, bewußt und kontrolliert eingehen zu wollen. In vielerlei Hinsicht ist das eine attraktivere Position als die pathologische Risikoscheu des Skeptikers.8 Eingeschränkte Überzeugungen. Die Wahrheit einer Überzeugung, so sagt Davidson, sei unabhängig davon, wer oder ob überhaupt jemand sie sich zu eigen macht: Wahrheit und Überzeugung können im Prinzip unabhängig voneinander variieren. So könnte man denken, daß X nur dann Interesse an Wahrheit in diesem Sinne bekundet, wenn er selbst jede Überzeugung, die ein Irrtumsrisiko birgt mit der Einschränkung versieht, daß diese Überzeugung möglicherweise falsch sei. X würde nur dann sicher wissen, daß eine Überzeugung wahr ist, wenn er mit guten Gründen auf die Einschränkung verzichten kann, daß diese Überzeugung möglicherweise falsch sei. Damit nun die zweite Prämisse – X kann nicht wissen, ob seine Überzeugungen wahr sind – gilt, brauchen wir die Zusatzannahme, daß gute Gründe, die Einschränkung fallen zu lassen, nur solche sein können, die skeptische Bedenken zerstreuen. Da X skeptische Bedenken nicht zerstreuen kann, kann er für keine seiner (kontingenten) Überzeugungen auf die Einschränkung, daß diese möglicherweise falsch sei, verzichten. Er kann also in diesem Sinne nicht wissen, wann er das Ziel, wahre Überzeugungen zu haben, erreicht hat. Davidson zufolge, kann Wahrheit daher kein Erkenntnisziel sein. Im Unterschied zum zuvor betrachteten skeptischen Szenario, scheut X jedoch nicht das Risiko, sich zu irren. Er nimmt Überzeugungen an und versieht sie mit einem Hinweis auf das Irrtumsrisiko, d.h. die Möglichkeit der Falschheit. Ist das kohärent? Nach dem vorliegenden Vorschlag schließt die Möglichkeit von Irrtum Wissen aus. Da X für jede seiner (kontingenten) Überzeugungen P ex8

Ad hominem sei hinzugefügt, daß Davidson Wahrheit nicht nur als Norm für Erkenntnis unter skeptischen Bedingungen bestreiten möchte, sondern für jede Art von Erkenntnis unter vernünftigen Vorgaben – insbesondere für wissenschaftliche Erkenntnis.

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plizit die Möglichkeit von Irrtum zugibt, gesteht er explizit ein, daß er nicht weiß, ob P. D.h. X ist systematisch zu Behauptungen der Form P und ich weiß nicht, ob P verpflichtet. Das ist zwar nicht inkonsistent, aber es ist nicht viel besser als die unter dem Namen Moore-Paradoxie bekannte Inkohärenz P und ich glaube nicht, daß P Wer behauptet, der letzte Zug fahre um Mitternacht ab, der gibt normalerweise zu verstehen, daß er das weiß – alles andere wäre wenig hilfreich. In der hier behandelten Lesart des Arguments von Davidson sind alle kontingenten Überzeugungen von dieser scheinbar inkohärenten Art. Der Erfolg des Arguments beruht damit auf der weiteren Annahme, daß solche paradoxen Behauptungen – entgegen dem Anschein – nichts Inkohärentes an sich haben. Dialektisch überzeugend wären natürlich nur solche Argumente für die Annahme, die unabhängig vom hier verhandelten Argument gegen Wahrheit als Erkenntnisziel sind. Das ist das, was der Engländer „eine hohe Rechnung” nennt. Riskante und korrigierbare Überzeugungen. Wir haben zwei Modelle von Überzeugungssystemen betrachtet, in denen die Konklusion Davidsons folgt, wenn wir einmal voraussetzen, daß Handlungsziele verifizierbar sein müssen. Aber im ersten Modell führte die ausschließliche Orientierung an dem Ziel, Irrtum zu meiden, zu einer Selbstblockade des Überzeugungssystems. Und im zweiten Fall führte eine bestimmte Weise, sich die Fehlbarkeit der eigenen Überzeugungen zu vergegenwärtigen, in die Gefahr eines systematisch inkohärenten Überzeugungssystems. Ein attraktiveres Modell müßte einerseits die skeptische Selbstblockade aufheben und andererseits dem Handelnden zugestehen, sich seiner Überzeugungen so sicher zu sein, daß er sie kohärent zum Ausdruck bringen kann. Dabei sollte die Selbstblockade nicht um den Preis einer Aufweichung des Wahrheitsbegriffs aufgehoben werden, und sich seiner Überzeugungen sicher zu sein, sollte nicht zum Privileg von Dogmatikern verkümmern. Dies sind die Desiderata. Es folgt die Skizze eines Modells, das diese Desiderata erfüllt.

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Wenn X sich die Frage stellt, ob er P als Antwort auf seine Frage akzeptieren soll, dann weiß er noch nicht, ob P wahr ist. Er hat die Wahrheit noch nicht herausgefunden. P ist möglicherweise wahr, aber auch möglicherweise falsch. X wird die Angelegenheit untersuchen, und am Ende wird er eine der beiden Möglichkeiten ausgeschlossen haben. Dabei wird er das Ziel, Irrtum zu meiden gegen das Ziel, neue, wichtige Information zu gewinnen, abwägen müssen. Solange die Vermeidung von Irrtum nicht völig aus dem Blick gerät, verfolgt X das Ziel, daß seine Überzeugungen wahr sein mögen. Steht am Ende der Untersuchung die Überzeugung, daß P, dann hat er damit die Möglichkeit, daß P falsch ist, ausgeschlossen. X hat sein Problem gelöst, indem er die wahre Antwort herausgefunden hat. X muß dabei nicht der Meinung sein, daß das nur „seine” Wahrheit sei. Er kann und wird in der Regel ganz selbstverständlich davon überzeugt sein, daß P auch dann wahr wäre, wenn er nicht zu dieser oder wenn er gar zur gegenteiligen Überzeugung gelangt wäre. X glaubt, daß P wahr ist, ganz gleich, in welchem Überzeugungsszustand er oder sonst jemand sich befindet. X sucht wahre Überzeugungen in einem völlig objektiven Sinn von Wahrheit. Wenn X nach Abwägung aller relevanten Faktoren überzeugt ist, daß P, dann ist er ipso facto auch überzeugt, daß P wahr ist, daß er zu seiner Überzeugung auf legitime Weise gelangt ist und daß überhaupt alles „mit rechten Dingen” zugegangen ist. Mit anderen Worten, X ist überzeugt, daß er weiß, daß P der Fall ist. Anderenfalls müßte er ja die der MooreParadoxie verwandte Aussage P und ich weiß nicht, ob P behaupten. Ohne in Moore’sche Inkohärenz zu verfallen, kann und sollte er dagegen behaupten, daß sein Überzeugungssystem korrigierbar ist. Mit dem Hinweis auf die Möglichkeit künftiger legitimer Überzeugungsänderungen kann er kohärent zum Ausdruck bringen, daß er sich jetzt, da er P glaubt, irren kann.

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Im Wesentlichen ist dies die Perspektive, die schon Peirce und James vorgeschlagen haben und die Isaac Levi seit den 60er Jahren zu einer kognitiven Entscheidungstheorie weiterentwickelt hat.9 Was ist aus dieser Perspektive zu Davidsons Argument zu sagen? Wir können, wenn wir es wollen, die erste Prämisse des Arguments in dem folgenden Sinne akzeptieren: Wenn jemand eine Überzeugung dann und nur dann annehmen will, wenn sie wahr ist, dann muß er auf legitime Weise zu der Überzeugung kommen können, daß er weiß, daß seine Überzeugungen wahr sind. Nun können wir legitim zur Überzeugung kommen, daß wir etwas wissen – jedenfalls dann, wenn legitimer Überzeugungswandel keine skeptischen Hürden nehmen muß. Also ist Davidsons zweite Prämisse in dieser Perpektive falsch und das Argument kommt zum Stehen. Die hier vorgeschlagene Perpektive erlaubt es jedoch auch, Davidsons zweiter Prämisse einen anderen, guten Sinn zu unterlegen, d.h. sie so zu lesen, daß wir ihr zustimmen können. In diesem anderen Sinne – den ich sogleich erläutern werde – können wir nicht sicher zwischen unseren wahren und falschen Überzeugungen unterscheiden. X kann sich nämlich fragen, ob seine gegenwärtigen Überzeugungen letztlich Bestand haben werden. Diese Frage reflektiert lediglich den Umstand, daß Überzeugungssysteme in nicht kumulativer Weise korrigierbar sind. Weitere legitime Überzeugungswechsel können zu einem Überzeugungssystem führen, welches mit dem jetzt eingenommenen unverträglich ist. Die Antwort auf die Frage, ob jeder weitere Überzeugungswechsel eine bestimmte gegenwärtige Überzeugung unangetastet lassen wird, erfordert im allgemeinen hellseherische Fähigkeiten. Deshalb kann X, im allgemeinen, nicht auf legitime Weise zu der Überzeugung kommen, daß eine gegenwärtige Überzeugung in allen weiteren Überzeugungszuständen präsent

9

Siehe insbesondere Levi (1967) und Levi (1980).

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sein wird. Mit anderen Worten, er kann nicht wissen, welche seiner Überzeugungen stabil sind. Wenn wir die zweite Prämisse in dieser Weise verstehen, dann zielt Davidsons Argument auf die Konklusion, daß wir uns die Stabilität unserer Überzeugungen nicht zum Ziel setzen können. Der Handelnde würde dann zwar bei jedem einzelnen Überzeugungswechsel auf wahre Überzeugungen zielen können, nicht aber darauf, daß diese „auf lange Sicht” wahr sein mögen, um es in der Peirce’schen Formel auszudrücken. Davidsons Argument würde so zum Schluß führen, daß die oben skizzierte, im wesentlichen Peirce’sche „theory of inquiry” mit der Peirce’schen Wahrheitstheorie unverträglich ist. Ich glaube nicht, daß es sich so verhält. Denn nun, da die zweite Prämisse stark ist, ist die erste schwach. D.h. es gibt gute Gründe zu bestreiten, daß Stabilität nur dann ein Ziel sein kann, wenn man sicher erkennen kann, wann sie erreicht ist. Einige dieser guten Gründe sind von der bereits erwähnten, lerntheoretischen Art. Andere, so meine ich, legt die Theorie des Überzeugungswandels nahe. — Wie dem auch sei, es sollte deutlich geworden sein, daß das scheinbar einfache und gute Argument nicht ganz so einfach und nicht ganz so offensichtlich gut ist, wie es scheinen mag.

Literatur Clarke, S.: A Demonstration of the Being and Attributes of God. Cambridge 1998. Davidson, D.: „Truth Rehabilitated“. In: Brandom, R.: Rorty and His Critics. Oxford 2000. Fitch, F.: „A logical analysis of some value concepts”. In: The Journal of Symbolic Logic 28 (1968), S. 135-142. Kelly, K.: „The logic of success”. In: British Journal for the Philosophy of Science 51 (2001), S. 639-666. Levi, I.: Gambling with Truth, New York 1967.

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André Fuhrmann

Ders.: The Enterprise of Knowledge: An Essay on Knowledge, Credal Probability and Chance. Cambridge (Mass.) 1980. Mehlberg, H.: The Reach of Science. Toronto 1958. Smart, J.J.C. und Williams, B.: Utilitarianism – For and Against. Cambridge 1973.

REALISMUS, ROBUSTE WAHRHEIT UND KOGNITIVE NÖTIGUNG FRANK HOFMANN

1. Einleitung Innerhalb der neueren Diskussion um den Realismus besteht eine der Hauptfragen in der Suche nach einer Charakterisierung eines robusten, ‚echt realistischen’ oder substanziell-realistischen Wahrheitsbegriffs. Einen Realismus in einem interessanten Sinne kann man in einem Diskursbereich genau dann vertreten, wenn sich dort ein substanziell-realistischer Wahrheitsbegriff finden lässt. Wenn Crispin Wright (1992) Recht hat, ist es relativ einfach, für einen Diskursbereich einen minimalen Wahrheitsbegriff zu definieren. Dazu reichen gewisse (nicht allzu anspruchsvolle) epistemische Standards der Behauptbarkeit und eine geeignete ‚deklarative’ Oberflächengrammatik aus. Ein solcher – minimaler – Wahrheitsbegriff erfüllt die minimalen Kernaussagen, die man allgemein mit Wahrheit verbindet, wie z.B. das Disquotationsschema und die Aussage, dass das Behaupten ein Fürwahrhalten ist. Er kommt jedoch den realistischen Intuitionen nicht vollständig entgegen. Die Wahrheitstauglichkeit eines Diskursbereiches (d.h. die Verfügbarkeit eines minimalen Wahrheitsbegriffs) ist per se noch kein Grund, für ihn einen ‚echten’ Realismus zu vertreten. Es fragt sich also, welche zusätzlichen Anforderungen ein Wahrheitsbegriff erfüllen muss, damit er als wirklich robust oder substanziell-realistisch einzustufen ist. Um diese Frage soll es im Folgenden gehen. Crispin Wright hat das Kriterium der Kognitiven Nötigung (KN) vorgeschlagen. Es besagt grob gesprochen: Ein Meinungs-Dissens muss im Falle eines substanziell-realistischen Bereichs als ein kognitives Defizit mindestens einer der beteiligten Parteien interpretiert werden, da eine bestimmte Meinung als die richtige ‚erzwungen’ wird. Ich möchte nun zeigen: Es gibt eine Möglichkeit, das Wrightsche Kriterium der Kognitiven Nötigung zu verwenden, so dass es zur Abgrenzung eines substanziellrealistischen Wahrheitsbegriffs beiträgt. Dies erfordert allerdings den Rückgriff auf eine Euthyphron-Prioritäts-Strategie (eine andere Idee, die

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Crispin Wright in diesem Zusammenhang auch in die Diskussion eingebracht hat): Nur wenn man explizit eine Priorität annimmt (nämlich der Tatsachen gegenüber den epistemischen Belegen und Standards), kann man das KN-Kriterium in dieser Weise benutzen. Denn dann und nur dann kann man sagen, dass die Tatsachen es festlegen, was als die richtige kognitive Reaktion gelten kann, und nicht umgekehrt. Es ist nicht nur so, dass eine bestimmte Meinung als die richtige ausgezeichnet ist oder ‚erzwungen’ wird, es sind die Tatsachen, die sie auszeichnen oder ‚erzwingen’. Das Resultat ist insgesamt gemischt: Einerseits ergibt sich, dass das KN-Kriterium aus sich heraus nicht hinreichend ist. Aber andererseits bietet das KN-Kriterium eine gute Möglichkeit, die Euthyphron-Strategie zu implementieren. Ohne eine Euthyphron-Priorität geht es nicht; aber das KN-Kriterium liefert uns einen Weg, mit Hilfe eines solchen EuthyphronKontrasts zum gewünschten Ziel zu gelangen. Man kann die Hauptaussage auch folgendermaßen darstellen: Der Realist versucht, über verschiedene Formeln (‚Platitüden’, wie Wright es nennt) auszudrücken, was einen substanziell-realistischen Wahrheitsbegriff auszeichnet. Er bemüht zum Beispiel die Formel (I)

Belege sind das, was für die Existenz von Tatsachen spricht.

Aber leider bleibt auch diese Formel beidseitig lesbar. Der Antirealist kann sie so lesen: ‚Belege sprechen für die Existenz von Tatsachen, ja, eben weil die Belege letztlich festlegen, welche Tatsachen existieren’. Andere ähnliche Formeln erleiden dasselbe Schicksal der beidseitigen Lesbarkeit. Erst eine Aussage wie (II)

Die Tatsachen legen fest, was die richtigen Standards und Belege sind.

bricht die Symmetrie der Lesbarkeit; sie ist nur noch ‚eindeutig lesbar’. Allerdings liegt dies natürlich daran, dass sie eben als eine explizite Verneinung der Symmetrie vorgetragen wird. Sie ist expliziter Ausdruck einer Euthyphron-Priorität. Nur deshalb gelingt es so, die antirealistische Lesart zu unterbinden. Ohne eine explizite Euthyphron-Prioritäts-Aussage bleiben alle Formeln doppelt lesbar und sind nicht hinreichend, den Antirealismus auszuschließen.

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Wo stehen wir damit? – Meines Erachtens ist das Gesamtergebnis – auch wenn gemischt – für den Realisten durchaus befriedigend. Es besteht kein Grund für Skepsis oder Pessimismus bezüglich der Ausgangsfrage nach einer Charakterisierung eines substanziell-realistischen Wahrheitsbegriffs. Der Rückgriff auf eine Euthyphron-Priorität ist durchaus legitim und richtet keinen Schaden an. Natürlich ist im Auge zu behalten, dass wir es hier mit einem ganz grundsätzlichen Resultat zu tun haben. Wir haben bestenfalls eine grundsätzliche, abstrakte Charakterisierung eines substanziell-realistischen Wahrheitsbegriffs erzielt. Die Anwendung dieser Charakterisierung auf bestimmte Diskursbereiche – wie etwa die Ästhetik oder Moral – dürfte eher schwierig sein. Denn es ist alles andere als leicht zu entscheiden, ob die moralischen Tatsachen die Richtigkeit von Belegen und Standards festlegen oder umgekehrt. Ob in bestimmten Fällen ein echter Realismus anzunehmen ist oder nicht, ist nur sehr schwer zu beurteilen. Aber unser grundsätzliches Verständnis dessen, was einen substanziellrealistischen Wahrheitsbegriff ausmacht, ist nicht von einer ‚leichten’ Anwendbarkeit abhängig. Es geht zunächst darum zu klären, was man denn beurteilen müsste, um die Frage nach dem Realismus in einem bestimmten Bereich entscheiden zu können.

2. Die Wahrmachertheorie Unsere Ausgangsfrage ist: Was zeichnet einen substanziell-realistischen Wahrheitsbegriff aus? Ein solcher Wahrheitsbegriff sieht Wahrheit als ‚objektiv’ und ‚robust’ an. Solche Kennzeichnungen geben aber bestenfalls eine Richtung an, in der zu suchen ist. Sie klären selbst noch nicht, was einen substanziell-realistischen Wahrheitsbegriff wirklich ausmacht. (Sie gehören zur ‚Phraseologie des Realismus’, wie Crispin Wright gelegentlich bemerkt.) Von ‚Objektivität’ kann man in verschiedenen Bedeutungen sprechen, und ein Wahrheitsbegriff könnte in einer Hinsicht ‚objektiv’ und in einer anderen ‚subjektiv’ sein. (Insbesondere in der Metaethik kommt es häufig vor, dass verschiedene Arten von ‚Objektivität’ unterschieden werden.) ‚Objektivität’ gibt nur eine grobe Richtung vor, wir müssen sie genauer eingrenzen. Nicht viel besser steht es mit dem Attribut ‚realistisch’. Es bringt ein vages Bedeutungsfeld mit sich, aber leistet wegen seiner Viel-

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deutigkeit kaum eine klärende Arbeit. Auch der Zusatz ‚substanziell’ liefert als solcher noch keine entscheidende Information. Aber um wenigstens die Terminologie zu fixieren: Ich werde im Folgenden von einem ‚substanziell-realistischen Wahrheitsbegriff’ sprechen oder – synonym – von einem ‚robusten Wahrheitsbegriff’. Dies sind meine beiden Bezeichnungen für den gesuchten Wahrheitsbegriff, der ‚echt realistisch’ sein soll. (Wenn ich der Kürze halber von ‚Realismus’ für einen bestimmten Bereich spreche, meine ich einen Bereich, für den es einen robusten Wahrheitsbegriff gibt – also einen robusten Realismus. Entsprechend ist ein ‚Antirealismus’ die Verneinung des robusten Realismus.) Die Rede von der Objektivität wird oft im Sinne der Unabhängigkeit interpretiert. Wahrheit – im substanziell-realistischen Sinne – ist unabhängig von unseren Meinungen, Belegen und Standards. Wenn aber von Unabhängigkeit der Wahrheit (gegenüber x, y, ...) gesprochen wird, dann stellt sich die Frage nach der Abhängigkeit: Wovon hängt die Wahrheit ab? – Es gibt nun eine wichtige und naheliegende Antwort auf die Frage, wie ein substanziell-realistischer Wahrheitsbegriff zu charakterisieren ist, nämlich eine ontologische. Nach dieser ontologischen Charakterisierung ist ein Wahrheitsbegriff genau dann substanziell-realistisch, wenn er zu einem Diskursbereich gehört, der von Tatsachen handelt. Wir können dies einen ‚faktiven Diskurs’ nennen. Es gibt in dem entsprechenden Bereich einfach Tatsachen, die festlegen, welche Aussagen wahr und welche falsch sind. Die Wahrheit hängt von den Tatsachen ab.1 Wir haben die grundlegende – realistische – Intuition, dass es zumindest einen solchen faktiven Diskurs gibt. Grob gesprochen ist dies der Diskurs über das kontingente Geschehen in Raum und Zeit. Dieser Diskurs ist ‚deskriptiv’, er zielt darauf ab, korrekt zu beschreiben, was wo und wann geschieht und wie sich die raumzeitlichen Dinge verhalten. Und die Rede von der Wahrheit ist hier natürlich wörtlich gemeint. Sowohl alltägliche Aussagen als auch wissenschaftliche gehören diesem Diskurs an. Hier gibt es Tatsachen. Und weil diese festlegen, welche Aussagen des zugehörigen Diskurses wahr und falsch sind, ist die Wahrheit hier ‚substanziellrealistisch’.

1

Zur Rede von den ‚Sachverhalten’: Ich werde hier so sprechen, dass Tatsachen immer existieren – sie sind Entitäten, haben Existenz –, und ich werde auf die Rede von Sachverhalten einfach verzichten.

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Die ontologische Charakterisierung des robusten Wahrheitsbegriffs könnte wie folgt formuliert werden: (F) Ein robuster Wahrheitsbegriff gehört zu einem faktiven Diskursbereich, d.h. einem Diskursbereich, der von Tatsachen handelt. Hierzu noch einige Erläuterungen. Die Rede von den Tatsachen ist hier weit zu verstehen. Es geht nicht um die in der Ontologie umstrittene These, dass es eine bestimmte ontologische Kategorie von Entitäten gibt – die Tatsachen im engeren Sinne –, die eine Art Verbindung von Eigenschaft und Einzelding darstellen. Diese Idee der Tatsachen im engeren Sinne, die von Wittgenstein und Russell vorgebracht wurde, ist für die gegenwärtigen Zwecke nicht nötig. Es geht hier lediglich um Tatsachen im weiten Sinne, d.h. im Sinne von irgendwelchen Entitäten, gleich welcher Kategorie, die als Wahrmacher für die wahren Aussagen des betreffenden Diskursbereiches fungieren. Ob diese Wahrmacher Einzeldinge oder Eigenschaften, Ereignisse oder Tatsachen im engeren Sinne usw. sind, kann offengelassen werden. Im Folgenden sind also mit ‚Tatsachen’ einfach Wahrmacher gemeint, keine Tatsachen im engeren Sinne. Die Wahrmacher-Idee ist vielleicht noch etwas zu erläutern. Hierbei geht es um die Vorstellung, dass die Wahrheit einer Aussage einen ‚Grund’ in der Realität besitzt, d.h. etwas Existierendes, das es ausmacht, dass die Aussage wahr ist. Die Wahrmacher-Konzeption fügt sich der korrespondenztheoretischen Vorstellung von Wahrheit. Allerdings wird innerhalb der Wahrmachertheorie die Annahme einer eins-zu-eins-Isomorphie zwischen existierenden Entitäten und wahren Aussagen aufgegeben. Das Wahrmacher-Verhältnis ist ein viele-zu-viele-Verhältnis. Eine Entität kann Wahrmacher für viele wahre Aussagen sein, und eine wahre Aussage kann viele Wahrmacher haben. Wie die Wahrmacher-Beziehung genauer zu verstehen ist, ist Gegenstand einer ausführlichen Debatte, die uns hier nicht im Detail zu interessieren braucht. Viele sehen als Kern des Wahrmachens eine Beziehung der Erzwingung an: ein Wahrmacher ist eine Entität, die die Wahrheit der Aussage erzwingt. Dies ist eine modale Vorstellung. Erzwingung bedeutet, dass die Aussage wahr sein muss, wenn der Wahrmacher

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existiert. Tatsachen wären also Entitäten, die die Wahrheit bestimmter Aussagen erzwingen.2 Der bislang geschilderten Vorstellung von robuster Wahrheit im Sinne einer Wahrmachertheorie kann jedoch noch nicht befriedigen. Leider ist die bisherige Charakterisierung nicht hinreichend. Um einen robusten Wahrheitsbegriff auszuzeichnen, ist mehr erforderlich, als was bislang gesagt wurde. Es klingt zwar alles ‚robust’ und ‚realistisch’, aber unter der rhetorischen Oberfläche könnte sich noch ein Antirealismus verstecken. Dies lässt sich einsehen, wenn man folgenden Einwand betrachtet: „Das ist ja alles schön und gut, aber letztlich bloße Rhetorik. Es wird hier gesagt, dass es Tatsachen gibt, aber was heißt das schon? Diese Tatsachen existieren genau dann, wenn entsprechende Aussagen wahr sind. Und die Objektivität dieser Tatsachen ist vollständig auf die Objektivität der Wahrheit dieser Aussagen zurückführbar. Aber was macht deren ‚Objektivität’ aus?“ Um diesen Einwand noch besser zu formulieren, können wir auf einige Ergebnisse zurückgreifen, die Crispin Wright erarbeitet hat. Nach seinen Ausführungen ist ein minimaler Wahrheitsbegriff relativ leicht zu definieren. Sobald ein Diskursbereich gewisse minimale Standards der Behauptbarkeit und eine deklarative Oberflächengrammatik aufweist, lässt sich ein Wahrheitsbegriff definieren, der die minimalen Kernaussagen (oder ‚Platitüden’, wie Wright sagt) über Wahrheit erfüllt. Zu diesen Kernaussagen gehört das Disquotationsschema (DS) „p“ ist wahr genau dann, wenn p. 3 und das Schema (N) für die Negation (N) Wenn „p“ DS erfüllt, dann erfüllt auch „non-p“ DS.4 Außerdem stellt die Korrespondenz-Intuition (K) eine weitere Kernaussage dar:

2

Eine genauere und ausführliche Darstellung der Wahrmachertheorie und eine Kritik an der Erzwingungs-Konzeption findet sich in Hofmann (2008), Kap. 2. 3 Vgl. Wright (1992), S. 14. 4 So stellt es Brueckner (1998) ganz treffend dar.

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(K) „p“ ist wahr genau dann, wenn „p“ den Tatsachen korrespondiert.5 Die Frage ist allerdings, ob diese Korrespondenz-Intuition weiterhilft. Ein nicht-robuster Wahrheitsbegriff könnte sie nämlich auch erfüllen. Dass Wahrheit und Tatsachen einander korrespondieren, könnte auch für einen minimalen Wahrheitsbegriff zutreffen. Solange keine weitere Aussage über die Tatsachen getroffen wird, könnten sie ja lediglich als ‚Projektionen der Wahrheit’ angesehen werden. So würde ein antirealistischer Wahrheitsbegriff aussehen: Die Wahrheit wird letztlich durch unsere Belege und Standards festgelegt, d.h. Wahrheit ist so etwas wie unanfechtbare Belegbarkeit (oder Super-Behauptbarkeit, wie bei Wright, oder etwas Ähnliches). Und wenn eine Aussage wahr ist, dann sprechen wir davon, dass ihr eine Tatsache korrespondiert. (K) trifft also zu. Aber (K) impliziert nicht, dass ein substanziell-realistischer Wahrheitsbegriff vorliegt, sondern ist mit einem antirealistischen Wahrheitsbegriff voll verträglich. Es sieht also zunächst etwas ‚frustrierend’ für den Realisten aus. Er muss einräumen, dass viele seiner Kernaussagen über Wahrheit auch vom Antirealisten konsistenterweise akzeptiert werden können. Sie reichen nicht aus, seinem Realismus angemessenen Ausdruck zu verleihen. Der Einwand ist also zunächst berechtigt.

3. Evidenz-Transzendenz Es gibt nun eine Strategie, diesem Einwand zu entgegnen, die häufig eingeschlagen wurde und die auch naheliegend ist: die Strategie der EvidenzTranszendenz der Wahrheit. Diese Strategie können wir kurz betrachten. Leider führt sie aber nicht zu dem gewünschten Resultat. Dies hat Crispin Wright meines Erachtens durchaus überzeugend herausgearbeitet. Aber es lohnt sich durchaus, die Strategie wenigstens kurz anzuführen und zu diskutieren. Die Strategie der Evidenz-Transzendenz sieht folgendermaßen aus. Ein robuster Wahrheitsbegriff ist einer, der grundsätzlich unsere Resourcen an Belegen – an ‚Evidenzen’ – überschreitet. Die robuste Wahrheit ist ‚nichtepistemisch’, wie man auch sagen könnte. Es ist also möglich, dass eine Aussage wahr ist, wir aber grundsätzlich keine Belege für ihre Wahr5

Vgl. Wright (1992), S. 82.

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heit besitzen können, sie also für uns nicht erkennbar ist. Anders ist es bei einem nichtrobusten Wahrheitsbegriff. Da ist Wahrheit grundsätzlich erkennbar. Sie transzendiert unsere Belegmöglichkeiten nicht. Leider ist diese Strategie nicht erfolgreich, wie Überlegungen von Crispin Wright zeigen.6 Es ist nämlich nicht ausgemacht, dass ein robuster Wahrheitsbegriff unsere Belegmöglichkeiten überschreiten muss. Es könnte durchaus sein, dass alle Wahrheiten (in einem bestimmten Bereich) grundsätzlich für uns erkennbar sind und dass dies kein bloßer Zufall, sondern kraft der Natur dieses Bereichs so ist. Dies allein macht die Wahrheit nicht nicht-robust. Wenn wir nach einer ganz allgemeinen Charakterisierung eines robusten Wahrheitsbegriffs suchen, können wir uns daher nicht auf die Evidenz-Transzendenz stützen. Mit anderen Worten: Ob in einem bestimmten Diskursbereich die Wahrheit robust ist oder nicht, kann man nicht allein daran festmachen, ob in diesem Bereich unsere Erkenntnisresourcen ungünstig oder günstig sind. Das ist optional. Ein robuster Wahrheitsbegriff schließt nicht aus, dass die Wahrheit grundsätzlich für uns erkennbar ist. Dies zeigt, dass unser Verständnis von der Robustheit eines substanziell-realistischen Wahrheitsbegriffs nicht in der Annahme der Evidenz-Transzendenz besteht. Wir müssen ein anderes, allgemeineres Verständnis der Robustheit haben (wenn wir überhaupt ein kohärentes Verständnis davon haben). Dies scheint mir jedenfalls ein Ergebnis zu sein, das die Überlegungen von Crispin Wright etabliert haben. Glücklicherweise gibt es andere Möglichkeiten, den substanziellrealistischen Wahrheitsbegriff zu charakterisieren. Der Realismus ist noch nicht am Ende seiner Resourcen angelangt. Wright selbst hat die Idee der Kognitiven Nötigung (KN) vorgeschlagen. Diese könnte aushelfen, um – selbst unter Bedingungen der Evidenz-Immanenz – die Robustheit zu charakterisieren. Betrachten wir also diese alternative Idee der Kognitiven Nötigung. (Wright hat außerdem noch als zweites Kriterium die ‚weite kosmologische Rolle’ vorgeschlagen, die eine bestimmte Art der Erklärungskraft betrifft. Dies kann ich hier nicht weiter thematisieren.)7

6

Vgl. Wright (1992), Kap. 3. Vgl. Wright (1992), Kap. 5. Eine interessante Kritik an Wrights Diskussion der weiten kosmologischen Rolle findet sich in Brueckner (1998).

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4. Kognitive Nötigung Die Grundidee der Kognitiven Nötigung besagt: Ein Meinungs-Dissens muss im Falle eines substanziell-realistischen Bereichs als ein kognitives Defizit mindestens einer der beteiligten Parteien interpretiert werden, da die Tatsachen eine kognitive Reaktion als die richtige auszeichnen – die Tatsachen erzwingen oder ‚nötigen’ eine bestimmte Meinung (von Vagheit abgesehen). Wir betrachten also den Fall zweier Personen, die in dem betreffenden Bereich zu einer Meinung gelangen, und wir nehmen an, dass sie zu einander widersprechenden Aussagen der Form ‚P’ und ‚non-P’ gelangen.8 Nun gibt es nach Wright die folgende Aufteilung der relevanten Faktoren: Erstens gibt es die Umstände, unter denen die Person kognitiv aktiv ist. Zweitens gibt es die Inputs, über die sie verfügt. Und drittens ist da die kognitive Verarbeitung der Inputs, die die Person vornimmt. Diese drei Faktoren hängen nun auf die folgende Weise zusammen: Wenn zwei Personen unter denselben Umständen und auf dieselben Inputs hin zu einander widersprechenden Meinungen gelangen, dann muss mindestens eine von ihnen ein Defizit bei der kognitiven Verarbeitung aufweisen. Wright drückt dies folgendermaßen aus: Cognitive Command: A discourse exhibits Cognitive Command if and only if it is a priori that differences of opinion arising within it can be satisfactorily explained only in terms of ‚divergent input’, that is, the disputants’ working on the basis of different information (and hence guilty of ignorance or error, depending on the status of that information), or ‘unsuitable conditions’ (resulting in inattention or distraction and so in inferential error, or oversight of data and so on), or ‘malfunction’ (for example, prejudicial assessment of data, upwards or downwards, or dogma, or failings in other categories already listed).9

Hier liefert Wright auch gleich die entsprechenden Erläuterungen dazu, was typischerweise zu den drei verschiedenen Faktoren gehört. Außerdem verstärkt er die Aussage dadurch, dass er es zu einer Apriori8

Ich springe hier gelegentlich zwischen Meinungen und den sie ausdrückenden Aussagen hin und her. Das sollte weiter keine Rolle spielen. 9 Wright (1992), S. 92-93. Eine etwas andere Formulierung findet sich in Wright (1992), S. 144. Ich gehe davon aus, dass kein substanzieller Unterschied vorliegt, sondern lediglich stilistische Variation.

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Angelegenheit macht, dass der betreffende Zusammenhang besteht. Die Begründung liegt darin, dass es nicht nur ein Zufall sein darf, dass jeder Dissens auf diese Weise zu erklären ist. Es muss eher in der Natur der Gehalte von Aussagen in dem betreffenden Bereich wurzeln, dass dieser Zusammenhang besteht.10 Ob man dies durch den Status der Apriorizität einfangen muss, ist mir nicht ganz klar. Vielleicht genügt es hier, den Status der Notwendigkeit anzunehmen – unabhängig von der epistemischen Frage, ob diese apriori oder aposteriori ist. Ich würde dies bevorzugen, da die Annahme eines (interessanten) Apriori eher heikel und problematisch ist, wie vor allem Timothy Williamson neuerdings gezeigt hat.11 Um diesem Bedenken gerecht zu werden, können wir uns im Folgenden ‚apriori’ durch ‚apriori und/oder notwendig’ ersetzt denken. Entscheidend ist eben, dass die Natur des betreffenden Diskursbereichs es ausmacht, dass der geschilderte Zusammenhang zwischen den drei Faktoren besteht. Das zeichnet einen Bereich mit KN aus – das zeichnet einen robusten Wahrheitsbegriff aus. So lautet jedenfalls der Vorschlag zunächst.12 Wright formuliert die KN an anderer Stelle auch auf andere Weise. Er spricht von kognitiver Verpflichtung, d.h. davon, dass es bei einem Diskursbereich mit KN der Fall ist, dass eine bestimmte Meinung diejenige ist, die man haben soll. In seinen Worten: The formulation [of cognitive command, F.H.] offered is an attempt to begin to crystallise a very basic idea we have about objectivity: that where we deal in a purely cognitive way with objective matters, the opinions which we form are in no sense optional or variable as a function of permissible idiosyncrasy, but are commanded of us – that there will be a robust sense in which a particular point of view ought to be held, and a failure to hold which can be understood only as a rational/cognitive failure.13

Die Idee der kognitiven Verpflichtung, die Wright hier artikuliert, interpretiere ich als eine zusätzliche Dimension oder Erläuterung der KN. Sie er10

Vgl. Wright (1992), p. 94. Vgl. z.B. Williamson (1996) und Williamson (2007). 12 Die KN fällt insgesamt nach Wright in den Zweig der Diskussion, die er als ‚zweite Strategie’ bezeichnet: eine Anreicherung der Charakterisierung des Wahrheitsbegriffs mittels weiterer Annahmen oder ‚Platitüden’. Die ‚erste Strategie’ betrifft die Diskussion um das Verhältnis von Wahrheit und Super-Behauptbarkeit. Vergleiche die Darstellung der beiden Strategien in Wright (1992), Kap. 3, z.B. S. 85-86. 13 Wright (1992), S. 146, Hervorh. i.O. 11

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gänzt die KN, und man könnte sie entfallen lassen, ohne die Idee der KN aufgeben zu müssen. Die KN betrifft in ihrer Essenz zunächst nur das kognitive Defizit. Ob man dieses kognitive Defizit als ein Nichterfüllen einer kognitiven Verpflichtung verstehen muss, was eine deontologische Vorstellung ist, ist eine weitere Frage. Mir scheint, dass dies nicht notwendig ist. Ein kognitives Defizit lässt sich wohl auch als ein kognitives Schlechtsein verstehen, ohne die – deontologische – Idee einer Verpflichtung vorauszusetzen. In der Tat scheinen mir einige Überlegungen in der Erkenntnistheorie dafür zu sprechen, die epistemischen Qualitäten eher teleologisch als deontologisch zu verstehen.14 Wir sind jedenfalls auf der sicheren Seite, wenn wir die KN als bloße Aussage über das kognitive Defizit deuten und nicht schon mit der deontologischen Idee der Verpflichtung verknüpfen.15 So werde ich die KN im Folgenden verstehen. Das Kriterium der KN ist außerdem mit einem Zusatz zu versehen, der die Einklammerung von Vagheit betrifft. 16 Innerhalb der Grenzen der Vagheit gilt der geschilderte Zusammenhang. In Grenzfällen, die auf Vagheit zurückgehen, ist natürlich ein Dissens auch ohne kognitives Defizit einer der beiden beteiligten Parteien möglich. Vagheit ist gewissermaßen der vierte Faktor. Der Einfachheit halber sei dieser Zusatz im Folgenden immer unausgesprochen hinzugedacht. Eine genaue Diskussion der Feinheiten, die die drei Faktoren jeweils umfassen, können wir uns ersparen. Da gibt es sicherlich einigen Spielraum. Ob das Übersehen von Information zu den Umständen gerechnet wird, wie Wright meint, oder vielleicht eher zur kognitiven Verarbeitung, ist nicht so ganz klar. Aber wie auch immer man hier entscheidet, es ergibt sich doch eine Dreiteilung. Dies scheint mir plausibel, und daran möchte ich festhalten. In diesem Punkt will ich Wrights Vorschlag jedenfalls nicht kritisieren. Das eigentliche Problem liegt anderswo. Es sieht nun so aus, als ob wir unser Ziel erreicht hätten. Ein echt realistischer Diskursbereich ist dadurch ausgezeichnet, dass Dissens nur über

14

Vgl. z.B. Alston (1989). Ich bin mir dessen bewusst, dass Wright für eine deontologische Konzeption votiert hat. Aber in diesem Punkt möchte ich ihm hier nicht folgen, ohne das im Einzelnen ausführen zu können. 16 Dies macht Wright an anderer Stelle klar. Vgl. Wright (1992), S. 144f. 15

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ein kognitives Defizit erklärbar ist. Aber leider genügt diese Auskunft noch nicht.17

5. Ein Problem für die Bedingung der Kognitiven Nötigung und die Euthyphron-Priorität Die Schwierigkeit mit der Bedingung der KN wird sichtbar, wenn wir die Frage stellen, warum denn der geschilderte Zusammenhang besteht, wie er in der Bedingung der KN angegeben wird. Wie kommt es, dass der Dissens nur über ein kognitives Defizit zu erklären ist? Hier gibt es verschiedene Sichtweisen, die zur Verfügung stehen, eine antirealistische und eine realistische. Man kann es so oder so sehen, und je nach dem, kommt man zu einem Realismus oder zu einem Antirealismus. Erst wenn man eine weitere Annahme macht (eine Prioritäts-Annahme), resultiert ein Realismus. Hier ist ein Rückgriff auf die Euthyphron-Kontrast-Thematik, die Wright an anderer Stelle aufgebracht hat, erforderlich, wie ich vorschlagen möchte. Beide Stränge in Wrights Überlegungen lassen sich hier zusammenführen. Beide Ideen zusammen – die Idee der KN und die Idee einer Euthyphron-Priorität – erlauben dann eine erfolgreiche Charakterisierung des Realismus. Aber ich greife vor. Werfen wir zunächst die Frage auf, warum der geschilderte Zusammenhang besteht. Dazu gibt es die antirealistische Sichtweise und die realistische. Beide können den Zusammenhang verständlich machen – auf unterschiedliche Weise natürlich. Schauen wir uns dies genauer an. Man könnte folgende – antirealistische – Sichtweise vertreten. Der Antirealist erklärt den Zusammenhang so: Dass ein Dissens nur über ein kognitives Defizit zu erklären ist, liegt einfach an den Standards für die richtige kognitive Verarbeitung der Inputs. Repräsentationale Systeme (Personen) verarbeiten ihre Inputs entweder gemäß diesen Standards oder sie verletzen diese Standards. Es kann aber durchaus sein, dass die Stan17

Crispin Wright selbst äußert Skepsis daran, dass die KN allein ausreicht, um einen robusten Realismus zu etablieren: „However, I do not think that if a discourse exerts Cognitive Command, that immediately takus us all the way to a vindication of an intuitive realism.” (Wright (1992), S. 147-8) Er erklärt an dieser Stelle jedoch nicht richtig, warum. Und er hält die KN wenigstens tentativ für eine notwendige Bedingung für einen robusten Realismus (ebd., S. 148).

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dards so beschaffen sind, dass – einmal Vagheit außen vor gelassen – in jeder Situation und für jedes Input nur eine bestimmte Meinung diejenige ist, die den Standards entspricht und dementsprechend die kognitiv richtige ist. Die Standards legen die richtige Verarbeitung fest. Wenn also zwei Personen über dieselben Inputs verfügen und sich in derselben Situation befinden, aber dennoch einander widersprechen, dann muss mindestens eine von ihnen die Standards verletzt haben. So kommt es zu dem geschilderten Zusammenhang der drei Faktoren. Der Grund oder die ‚Quelle’ für diesen Zusammenhang sind einfach die Standards.18 Aber natürlich gibt es eine alternative – realistische – Sichtweise. Der realistischen Sichtweise zufolge sieht es anders und umgekehrt aus. Nach ihr sind es die Tatsachen in dem betreffenden Diskursbereich, die festlegen, was als Beleg und als Standard für die richtige kognitive Verarbeitung gelten kann. Weil es eben ‚objektive’ Tatsachen gibt, liegt fest, welches Input ein Beleg wofür ist und wie ein Input auf die richtige Weise kognitiv zu verarbeiten ist. Die Tatsachen bestimmen die Standards, und nicht umgekehrt. Das ist das, was man mit dem Attribut ‚objektiv’ meinen könnte. Hier gilt es noch, eine weitere Beobachtung zu machen. Man könnte denken, dass eine grundlegende Annahme über den Zusammenhang zwischen Tatsachen, Belegen und Wahrheit einen entscheidenden Fortschritt liefert. Belege sind immer Belege für die Wahrheit einer Aussage und damit für die Existenz der betreffenden Tatsache. Dieser Zusammenhang kann aber auch von beiden Parteien akzeptiert werden. Er kann bestehen, egal welche Priorität vorliegt und ob überhaupt eine Priorität vorliegt. Eine Entscheidung zwischen realistischer und antirealistischer Sichtweise kann so nicht getroffen werden.19 Der Realist kann also nicht einfach ‚nur’ sagen: „Was die Belege und Standards sind, ist objektiv, weil Belege immer Belege für die Wahrheit und damit für die Existenz von Tatsachen sind.“ Dies reicht nicht aus. Es muss noch eine Prioritäts-Aussage hinzugefügt werden. Nicht weil Belege immer Belege für die Wahrheit und die Existenz von Tatsachen sind, sind 18

Vielleicht könnten bestimmte mathematische Theorien wie die Arithmetik ein Beispiel hierfür sein. 19 Der Zusammenhang lässt sich vielleicht sogar ableiten, und zwar ungefähr wie folgt: Belege sind immer Belege für die Wahrheit einer Aussage; eine Aussage ist wahr genau dann, wenn sie einer Tatsache entspricht; ergo sind Belege immer Belege für die Existenz einer entsprechenden Tatsache.

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sie objektiv, sondern weil die Tatsachen Priorität haben – weil die Tatsachen die Belege und Standards festlegen und nicht umgekehrt. Erst die Prioriäts-Annahme – die Tatsachen bestimmen die Standards und nicht umgekehrt – liefert meines Erachtens den entscheidenden Zusatz, um aus der Bedingung der KN ein hinreichendes Kriterium für einen robusten Wahrheitsbegriff zu machen. Wir müssen KN ergänzen. Allein aus sich heraus, wie oben formuliert, reicht es nicht aus. Denn es kann eben auch antirealistisch interpretiert werden. Die realistische Dimension muss noch hinzugefügt werden. Aber sie kann auch hinzugefügt werden – eben in Form einer Prioritäts-Aussage.20 Damit werden zwei Gedankenstränge in Crispin Wrights Überlegungen miteinander in Verbindung gebracht: die Überlegung zum EuthyphronKontrast und die Idee der Kognitiven Nötigung.21 Die Überlegung zum Euthyphron-Kontrast betrifft die Möglichkeit einer RealismusAntirealismus-Debatte. Wenn Wahrheit und ideale Behauptbarkeit (oder ein anderer geeigneter epistemischer Maßstab) zusammenfallen, dann kann immer noch ein Streit darüber aufkommen, welches welches erklärt. Wahrheit muss nicht extensional von idealer Behauptbarkeit abweichen, um substanziell-realistisch zu sein; sie muss nicht evidenz-transzendent sein. Dies ist optional. Hier hat Wright eine wichtige Einsicht herausgearbeitet.22 Der Realismus hängt nicht unbedingt an der Idee der EvidenzTranszendenz. Es kommt darauf an, was man als ‚Quelle’ ansieht. Wright spricht auch von einer ‚konstitutiven Unabhängigkeit’: 20

Es eröffnet sich hier eine Möglichkeit für einen Kantischen Antirealismus. Nach Kant ist Wahrheit durchaus Korrespondenz mit Tatsachen (vgl. KrV, B 82). Aber dennoch vertritt Kant – für den Bereich der empirischen raumzeitlichen Objekte – einen Antirealismus, weil nämlich die Priorität von den Standards zu den Tatsachen geht und nicht umgekehrt. Kant vertritt eine Zusatzthese zum Ursprung der Standards: Die Standards werden durch die im Subjekt liegenden Kategorien festgelegt, die ‚Regeln’ des reinen Verstandes. Im Grunde, könnte man sagen, sind Kants Kategorien nichts anderes als die idealen Standards. Sie legen fest, welche Urteile wahr sind und welche entsprechenden Tatsachen existieren. Im Sinne dieser Prioritäts-Aussage lässt sich auch das bekannte Diktum der Kopernikanischen Wende deuten, dass ‚die Gegenstände sich nach unserem Erkenntnis richten müssen’ und nicht umgekehrt (vgl. KrV, B XVI). 21 Zum Euthyphron-Kontrast vergleiche vor allem Wright (1992), Kap. 3. 22 Ein Streit um die Koextensionalität lässt sich als Dummettsche Realismus/Antirealismus-Debatte interpretieren, wie Wright ausführt. Aber es gibt eben auch andere, nicht-Dummettsche Möglichkeiten für Realismus/Antirealismus-Debatten.

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[...] constitutive independence is what is wanted for the realist basic thought – the idea that the sources of truth in the discourse in question somehow distance themselves from the matter of what meets our most refined standards of acceptability.23

Und genauso lässt sich eine Unterscheidung zwischen Realismus und Antirealismus bei der Deutung der Kognitiven Nötigung treffen. Das wäre jedenfalls der Vorschlag, den ich hier unterbreiten möchte. Die Bedingung der KN erlaubt aus sich heraus noch keine Entscheidung. Aber wenn sie mit einer Prioritäts-Annahme verknüpft wird, gelingt es. Der Realist betrachtet die Tatsachen als bestimmend, als dasjenige, was den Maßstab für die Belege und Standards vorgibt. Die Tatsachen sind ‚konstitutiv unabhängig’ von den Belegen und Standards – selbst wenn die Wahrheit nicht evidenz-transzendent ist. Der Antirealist sieht es umgekehrt. Dementsprechend fällt die Erklärungsrichtung für den Zusammenhang der drei Faktoren, wie er in der Bedingung der KN formuliert ist, unterschiedlich aus. Den Zusammenhang selbst können beide Parteien akzeptieren. Nur wie er zustandekommt, das sehen sie unterschiedlich.

6. Schluss Wir waren auf der Suche nach einem robusten, ‚echt’ realistischen Wahrheitsbegriff. Ein robuster Wahrheitsbegriff lässt sich nicht allein durch Evidenz-Transzendenz charakterisieren. Robuste Wahrheit muss unsere Evidenzen nicht grundsätzlich überschreiten. Für einen robusten Wahrheitsbegriff gilt aber die Bedingung der Kognitiven Nötigung: ein Dissens muss über ein kognitives Defizit erklärt werden. Dies ist eine notwendige Bedingung, die aber nicht ausreicht. Hinzukommen muss eine Annahme über die Priorität. Die Tatsachen haben Priorität, sie sind ‚objektiv’. Die ‚Objektivität’ der Tatsachen, die der Realist meint, ist zu verstehen im Sinne einer Euthyphron-Priorität. Wir können sagen, dass in einem realistischen Bereich die Tatsachen objektiv sind, wenn wir damit meinen, dass die Tatsachen festlegen, was als Beleg und Standard zählt, und nicht umgekehrt. Die Vorstellung von Wahrheit, wie sie einer Wahrmachertheorie zugrundeliegt, 23

Wright (1992), S. 81.

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Frank Hofmann

kann in dieser Weise ergänzt werden. So kann man zur Charakterisierung eines robusten, substanziell-realistischen Wahrheitsbegriffs gelangen. Die Tatsachen zeichnen die richtige kognitive Reaktion aus oder ‚erzwingen’ sie.

Literatur Alston, W.: „The Deontological Conception of Epistemic Justification”. In: Ders.: Epistemic Justification: Essays in the Theory of Knowledge. Ithaca/London 1989, S. 115-152. Brueckner, A.: „Realism, Best Explanation, and Cognitive Command“. In: Philosophical Papers 27 (1998), S. 69-78. Hofmann, F.: Die Metaphysik der Tatsachen. Paderborn 2008. Williamson, T.: The Philosophy of Philosophy. Oxford 2007. Williamson, T.: „Unreflective Realism“. In: Phenomenological Research 56 (1996), S. 905-909.

Philosophy

Wright, C.: Truth and Objectivity. Cambridge/Mass 1992.

and

HALBGLATZEN STATT HALBWAHRHEITEN. ÜBER VAGHEIT, WAHRHEITS- UND AUFLÖSUNGSGRADE GEERT KEIL

1. Semantische Vagheit Ein vages Prädikat, so heißt es, zieht keine scharfe Grenze zwischen den Dingen, auf die es zutrifft und denen, auf die es nicht zutrifft. Es lässt Grenzfälle zu. Wie viele Sandkörner braucht es für einen „Haufen“, wie viele Resthaare darf jemand haben und wo, um als „glatzköpfig“ zu gelten, wo geht „rot“ in „orange“ über, wo verläuft die Grenze zwischen „gesund“ und „krank“, wann ist jemand „groß“, wann ist der Betrieb einer technischen Anlage „sicher“, wo beginnt „Folter“? Aus der Perspektive des Sprechers äußert sich semantische Vagheit in der Unsicherheit, in welchen Fällen das Prädikat anzuwenden ist und in welchen nicht. Als definierendes Merkmal von Vagheit gilt weiterhin, dass diese Unsicherheit nicht durch Kenntnis empirischer Tatsachen beseitigt werden kann. Dies drückt die vielzitierte Arbeitsdefinition von Grice aus: To say that an expression is vague […] is presumably, roughly speaking, to say that there are cases (actual or possible) in which one just does not know whether to apply the expression or to withhold it, and one’s not knowing is not due to 1 ignorance of the facts.

Unter „Vagheit“ verstehe ich in diesem Beitrag die Randbereichsunschärfe von Prädikaten, also diejenige semantische Unbestimmtheit, die das Sorites-Paradox erzeugt, indem sie die schrittweise Ausdehnung des Anwendungsbereichs eines Prädikats von unkontroversen Fällen über kontroverse bis hin zur Absurdität zu erlauben scheint. Neben der Randbereichsunschärfe gibt es noch andere Arten von Vagheit und semantischer Unbe1

Grice (1989), 177.

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stimmtheit.2 Auf die Randbereichsunschärfe beschränke ich mich, weil es in diesem Beitrag um die Frage geht, ob Vagheit die Annahme von Wahrheits- oder Zutreffensgraden erfordert oder rechtfertigt.

2. Bivalenz und Wahrheitsgrade Theorien der Vagheit werden häufig in zwei Klassen eingeteilt: in solche, die das Bivalenzprinzip und die klassische Logik beibehalten und solche, die das nicht tun. Das Bivalenzprinzip besagt, dass alle Aussagen entweder wahr oder falsch sind. Es verbietet Wahrheitswertlücken. Für Urteile in Grenzfällen der Anwendung eines vagen Prädikats erscheinen indes Wahrheitsgrade hilfreicher als Wahrheitwertlücken. Eine Aussage annähernd wahr, halb wahr oder zu einem bestimmten Grad wahr zu nennen ist ebenfalls ein Verstoß gegen das Bivalenzprinzip, denn dieses lässt als Wahrheitswerte nur „wahr“ und „falsch“ zu. Gleichwohl erscheint es ratsam, dem Prinzip, dass Wahrsein keine Abstufungen zulässt, einen eigenen Namen zu geben. Nennen wir es das Prinzip vom nichtabstufbaren Charakter der Wahrheit oder das Nichtgradierbarkeitsprinzip: Wahrsein ist eine Entweder-oder-Sache. Angeblich Halbwahres oder annähernd Wahres ist unwahr. Mit Frege: „Die Wahrheit verträgt kein Mehr oder Minder.“3 Nun könnte, wer eine Aussage „annähernd wahr“ nennen, sich aber nicht mit Frege anlegen möchte, argumentieren, er habe nicht den zusätzlichen Wahrheitswert „annähernd wahr“ zugeschrieben, sondern den gewöhnlichen Wert „wahr“ nur mit Abstrichen zugeschrieben. Das Weitere wäre dann jenseits der Wahrheitstheorie in einer Logik des Zuschreibens oder Zutreffens zu klären. Zwischen dem Zutreffen von Prädikaten und dem Wahrsein von Aussagen gibt es aber zu enge Verbindungen, als dass mit diesem Zug ein wesentlicher Gewinn erzielt würde (dazu unten). Da das Bivalenzprinzip neben „wahr“ und „falsch“ keine weiteren Wahrheitswerte zulässt, schließt es das Nichtabstufbarkeitsprinzip als Spezialfall ein. Deshalb sind alle Argumente für Wahrheitsgrade zugleich solVon der „degree vagueness” unterscheidet Alston die „combinatory vagueness”, die darin besteht, dass ein Wort „may have a number of logically independent conditions of application. A significant example is the word ‘religion’”. Alston (1967), S. 219. Vgl. auch Hyde (2008), S. 16-19. 3 Frege (1918), S. 32. 2

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che gegen Bivalenz, während nicht alles, was gegen Bivalenz spricht, auch für Wahrheitsgrade spricht. Ich werde den Unterschied zwischen beiden Prinzipien immer dort vernachlässigen, wo er für meine Argumentation keine Rolle spielt. Ein Standardargument für das Nichtgradierbarkeitsprinzip besagt, dass man früher oder später doch ein nichtgraduelles Wahrheitsprädikat braucht. Wenn es annähernd wahr sein soll, dass etwas sich so und so verhält, kann man zurückfragen, ob dies nun wenigstens wahr ist, dass es annähernd wahr ist, oder ob auch dies wieder nur annähernd wahr ist. Führt man in der Objektsprache Wahrheitsgrade oder -approximationen ein, so braucht man in der Metasprache ein sprachliches Mittel, um deren Bestehen zu behaupten.4 Früher oder später, so scheint es, brauchen wir ein Wahrsein simpliciter, eben einen nichtgradualen Wahrheitsbegriff – eher früher als später, denn die natürliche Sprache zeichnet sich ja dadurch aus, dass sie ihre eigene Metasprache enthält. Aristoteles verteidigt mit einem solchen Regressargument den Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Als einen Grund dafür, dass es „das Mittlere zwischen den beiden Gliedern des Widerspruchs“ nicht geben kann, führt er an, dass man dann ja das Mittlere selbst wieder bejahen oder verneinen können müsste, und das müsste „ins Unendliche fortgehen“, so dass man am Ende „nicht nur das Anderthalbfache der seienden Dinge erhalten würde [sc. neben dem Wahren und dem Falschen noch das Mittlere], sondern noch mehr“.5 Leider verschwinden durch dieses bestechend einfache Argument die Phänomene nicht, denen die Annahme von Wahrheitsgraden Rechnung tragen soll. Das einschlägigste dieser Phänomene ist das der semantischen Vagheit. Vagheit ist dasjenige unter den Sorgenkindern für das Bivalenzprinzip, für das ein graduales Wahrheitsprädikat am ehesten Abhilfe verspricht.6 Wenn man gezeigt hätte, dass nicht einmal das Phänomen der Vagheit Wahrheitsgrade erfordert, hätte man etwas Interessantes gezeigt. Wenn „ist wahr“ selbst schon ein metasprachliches Prädikat ist, ist „Objektsprache“ durch „Metasprache“ zu ersetzen und „Metasprache“ durch „zweite Metasprache“. 5 Aristoteles, Metaphysik IV, 7, 1011b 29-30 und 1012a 9-15. 6 Nicholas Smith argumentiert, dass die unplausible Annahme eines definiten Umschlagspunkts im Zutreffen eines Prädikats in einer Sorites-Reihe nur durch die Akzeptanz von Wahrheitsgraden vermieden werden kann. Sein Hauptargument ist das Prinzip „Closeness: If a and b are very close in F-relevant respects, then ‘Fa’ and ‘Fb’ are very close in respect of truth”. Smith (2008), S. 146. 4

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3. Zutreffen und Wahrsein Die Passage in „Der Gedanke“, in der Frege bestreitet, das die Wahrheit ein Mehr oder Minder vertrage, beginnt mit der Aussagenwahrheit und endet beim Zutreffen definierender Ausdrücke auf einen Gegenstand. Dies wirft die Frage auf, wie sich Wahrsein und Zutreffen zueinander verhalten. Es ist verführerisch, beides zu parallelisieren und das Zutreffen eines Prädikats selbst als Wahrsein von etwas aufzufassen. Die Zuweisung eines Prädikats zu einem Gegenstand lässt sich mit wenig Aufwand in eine wahrheitsfähige Aussage überführen, indem man sie als assertorisches Urteil formuliert: „a ist F“. Auch Frege parallelisiert Zutreffen und Wahrsein: Wenn ein Gegenstand unter einen bestimmten Begriff fällt, kann „das Prädikat mit Wahrheit von ihm ausgesagt werden“.7 In „Über Sinn und Bedeutung“ hält Frege allerdings fest, „daß das Verhältnis des Gedankens zum Wahren doch mit dem des Subjekts zum Prädikate nicht verglichen werden darf“. Der Grund dafür ist Freges Unterscheidung zwischen Denken und Urteilen. Subjekt und Prädikat sind in Freges Terminologie „Gedankenteile“, deren Zusammenfügung einen Gedanken ergibt, doch zum „Fortschreiten von einem Gedanken zu seinem Wahrheitswerte“ ist in jedem Falle ein Urteil erforderlich.8 Das bloße Denken eines Gedankens muss von einem mit behauptender Kraft gefälltem Urteil unterschieden werden. Gedanken haben Wahrheitswerte, aber der Wahrheitswert ist nicht Teil des Gedankens. Wenn ein Gegenstand die Eigenschaft F hat, fällt er unter den entsprechenden Begriff. Dieses Fallen unter einen Begriff lässt sich in einem Urteil mit Anspruch auf Wahrheit behaupten. Nicht nur Gegenstände, sondern auch Begriffe haben nach Frege Eigenschaften. Wer aussagt, dass Wale Fische sind, verpflichtet sich nicht auf die Existenz von Walen, aber er hat einen wahrheitsfähigen Gedanken gefasst, in diesem Falle einen falschen. Weiter müssen wir die Frage nach dem Verhältnis von Zutreffen und Wahrsein nicht verfolgen, denn das von Aristoteles und Frege aufgeworfene Regressproblem lässt sich mit „Zutreffen“ ebensogut formulieren wie mit „Wahrsein“. Ich möchte den Einwand gegen die Abstufung des Zutreffens und des Wahrseins noch einmal auf eigene Rechnung paraphrasieren: 7

8

Frege (1903), S. 69 (§ 56). Gottlob Frege (1892), 49 f.

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Wenn auch nur die Fragen sinnvoll bleiben sollen, ob eine Aussage wahr ist oder ob ein Prädikat auf einen Gegenstand zutrifft, dann darf man nicht zugleich die Begriffe des Wahrseins und des Zutreffens selbst gradieren. Man darf die Intension von „Wahrsein“ und „Zutreffen“ nicht „fälschen“ (Frege), um im Einzelfall deren Extension problematisieren zu können, d. h. um die Frage, ob ein vages Prädikat auf einen gegebenen Fall zutrifft oder nicht, sinnvoll stellen zu können.9 Leugnet oder trivialisiert man das Vagheitsproblem, wenn man solche Reden führt? Nein. Es ist wichtig zu bemerken, dass Frege in der betreffenden Passage die Nichtgradierbarkeit ausschließlich für das Wahrheitsprädikat behauptet und nicht für die übrigen Prädikate einer Sprache. Und in der Tat kann man das nichtgraduale Wahrheitsprädikat und das Bivalenzprinzip verteidigen, ohne zu leugnen, dass es allgemein gute Gründe für die Gradierung von Prädikaten geben mag. Die Unsicherheit, ob „Sieben Sandkörner bilden einen Haufen“ wahr ist, können wir entweder dem Begriff des Haufens anlasten oder dem der Wahrheit. Vernünftigerweise wird man ersteres tun, aber jedenfalls nicht beides zugleich. Es wäre geradezu widersinnig, das Problem der semantischen Vagheit10 an beiden Fronten zugleich anzugehen, also durch eine Semantik, die unscharfe oder gradierte Prädikatausdrücke zulässt und durch die Rede von „annähernd“, „ein bisschen“ oder „ziemlich“ wahren Aussagen. Es scheint hier nachgerade ein inverser Zusammenhang zu bestehen: Je mehr Abstufungen oder semantische Unschärfe wir in den restlichen Prädikaten einer Sprache zulassen, desto weniger sind wir genötigt, am Wahrheitsprädikat zu manipulieren. Das ist ein Vorteil, denn früher oder später brauchen wir einen kategorischen Begriff des Wahrseins oder des Zutreffens auf etwas.

Es verhält sich hier so ähnlich wie mit der erkenntnistheoretischen Skepsis: Der Skeptiker akzeptiert ja den Begriff des Wissens als wahrer, gerechtfertigter Meinung, um in Zweifel ziehen zu können, dass wir über Wissen verfügen. 10 Das Vagheitsproblem gibt es natürlich nicht. Wenn ich im Folgenden im Singular vom Vagheitsproblem spreche, meine ich die Herausforderung, die sich aus dem Phänomen der semantischen Vagheit für das Bivalenz- und/oder das Nichtgradierbarkeitsprinzip ergibt. 9

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4. Mehrwertigkeit und andere Holzwege Vertreter mehrwertiger Logiken sehen es anders, denn sie nehmen Zutreffens- oder Wahrheitsgrade an. Mehrwertige Logiken und Semantiken sind ein naheliegender Vorschlag zum Umgang mit dem Vagheitsproblem. Nun liegt es auf der Hand, dass die bloße Einführung eines dritten Wahrheitswerts für das Vagheitsproblem nur einen bescheidenen Fortschritt darstellt. Weist man Grenzfällen den Wahrheitswert „unbestimmt“, „halbwahr“ o. ä. zu, so entsteht das Problem der höherstufigen Vagheit. In loser Anknüpfung an Aristoteles lässt sich festhalten, dass schon die vortheoretische Rede von Grenzfällen und Grau- oder Übergangszonen das Vagheitsproblem eher ver- als entschärft. Führt man zwischen den Prädikaten „rot“ und „gelb“ eine Übergangszone ein, so stellt sich die Frage, wo genau sie beginnt und endet. Auch die Extensionen der Prädikate „Grenzfall“ und „Grauzone“ scheinen unscharf begrenzt zu sein. Das bedeutet aber, dass das ursprüngliche Problem vervielfacht wird, denn mit der Frage, wo die Grauzone beginnt und wo sie endet, sind zwei Abgrenzungsprobleme entstanden, wo zuvor nur eines war. Sainsbury kommentiert den Zug des Einführens von Grenzfällen bissig: „You do not improve a bad idea by iterating it.“11 Es wird, so Pinkal, der „kontinuierliche Übergang vom Positiv- zum Negativbereich bei vagen Prädikaten durch ein dreiwertiges System nicht dargestellt“.12 Besser geeignet erscheinen mehrwertige Logiken, die nicht drei, sondern unbegrenzt viele Wahrheitswerte annehmen. Das bekannteste Beispiel ist die von Zadeh 1965 vorgeschlagene „fuzzy logic“, die die beiden Wahrheitswerte „wahr“ und „falsch“ durch ein Spektrum von Graden des Zutreffens von Prädikaten ersetzt.13 Motivieren lassen sich mehrwertige Logiken durch den Umstand, dass es zwischen Rot und Orange oder zwischen schütterem und vollem Haar kontinuierliche Übergänge gibt. Auf den zweiten Blick hat die Modellierung kontinuierlicher Übergänge durch fein abgestufte Wahrheitswerte große Nachteile. Was rechtSainsbury (1996), S. 255. Pinkal (1991), S. 257. So war für Łukasiewicz auch nicht semantische Vagheit, sondern das Problem der Contingentia futura („Ist es wahr, dass morgen eine Seeschlacht stattfindet?“) der Grund für die Annahme eines dritten Wahrheitswerts, den er „unbestimmt“ nannte. 13 Zadeh (1965) und Zadeh (1975). 11 12

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fertigt es, einer Aussage wie „Peter hat volles Haar“ einen Wahrheitswert von beispielsweise 0,43 zuzuschreiben? Ein einschlägiger Einwand besagt, dass solche Wahrheitswertzuweisungen eine Scheingenauigkeit erzeugen, die über alle verfügbaren Belege und Sprecherüberzeugungen hinausgeht. Pinkal nennt dies das „Problem der intuitiv unhaltbaren Überpräzisierung“: „Wie soll man entscheiden, ob ein bestimmter – einfacher oder komplexer – Satz 0.72 oder 0.73 oder auch 0.82 ‚wahr’ ist?“14 Kein Sprecher kann für typische Fälle vager Prädikationen die genauen Zutreffens- oder Wahrheitsgrade angeben. Tut er es trotzdem, haben die Zuweisungen etwas Beliebiges. Mit Blick auf dieses Problem hat Ulrich Blau sein „Vagheitsdilemma“ formuliert: „Wollen wir die klassische Logik anwenden, so sind wir zu einem unsinnig scharfen Schnitt gezwungen“; führen wir hingegen zwischen wahr und falsch weitere Wahrheitswerte ein, so wird die Klassifikation immer schärfer und am Ende „zu scharf, also wieder willkürlich“.15 Pinkal bilanziert: „Kontinuität läßt sich modellieren, Unschärfe nicht. Sobald ein Modell spezifiziert wird, ist es überspezifisch.“16 Unsere Unkenntnis des in unendlichwertigen Logiken postulierten genauen Zutreffensgrades von Prädikaten ist kein Problem der mangelnden Erkennbarkeit von Grenzen, die an sich völlig scharf wären. Die epistemische Konzeption der Vagheit behauptet allerdings eben dies: Vage Prädikate zögen durchaus scharfe Grenzen, nur wüssten wir nicht genau, wo sie liegen. Nach Timothy Williamson ist Vagheit eine Form von Unwissenheit; wir seien nicht in der Lage, die scharfen Extensionsgrenzen der fraglichen Prädikate zu identifizieren.17 Summarische Urteile über die verschiedenen Reaktionen auf das Vagheitsproblem – Epistemizismus, mehrwertige Logiken, Kontextualismus, Pinkal (1985), S. 133 und S. 132. Blau (1978), S. 28. 16 Pinkal (1985), S. 136. Es ist argumentiert worden, dass unendlichwertige Logiken genaugenommen nicht einmal Kontinuität modellieren, denn es bleibt ja dabei, dass das erste und das letzte Glied einer Sorites-Reihe die Wahrheitswerte „1“ und „0“ erhalten. Es wird also angenommen, „dass es zwischen dem letzten Konditional, das den Wert 1 erhält, und dem ersten Konditional, das einen anderen Wert als 1 erhält, eine scharfe Grenze gibt, und das ist ganz einfach unplausibel.“ Tye (2005), S. 29. 17 Vgl. Williamson (1994). Wittgenstein fand die epistemische Auffassung abwegig: Wir können beispielsweise „nicht genau sagen, was ein Spiel ist [...]. Aber das ist nicht Unwissenheit. Wir kennen die Grenzen nicht, weil keine gezogen sind.“ Wittgenstein (1953), § 68. 14 15

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Supervaluationismus – verbieten sich hier. Unstrittig ist, dass Sprecher einer natürlichen Sprache über mannigfache Mittel verfügen, Prädikate wie „Haufen“, „Glatze“ oder „rot“ abzustufen. Wir können den Grad des Haarverlustes einer Person so genau charakterisieren, wie es jeweils nötig ist. Manchmal führen wir ein neues Prädikat ein, zum Beispiel „Halbglatze“. Wenn die verfügbaren Prädikate nicht ausreichen und es zu aufwendig erscheint, ad hoc neue einzuführen, gibt es eine weitere Methode der Wahl, nämlich das Bilden komparativer Prädikate wie „größer als“ oder „mehr als“. Zwei Sandhaufen oder Haaransammlungen lassen sich nach dem Mehr oder Weniger ordnen, und diese Ordnung ist eine bestimmte, eindeutige, selbst wenn die Ansammlungen sich nur um ein einziges Element unterscheiden. Wir können als ultima ratio beide Ansammlungen zählen, und es ist dann wahr simpliciter und nicht cum grano salis, dass die eine Ansammlung, sei sie ein Haufen oder nicht, größer ist als die andere. Zumindest in einigen Fällen scheint es also gerade die Möglichkeit des expliziten, gegebenenfalls numerischen oder metrischen Gradierens von Prädikaten zu sein, die ein nichtgraduales Wahrheitsprädikat zu bewahren und die Rede von approximativ wahren Aussagen zu vermeiden hilft.18 In nuce: Da es Halbglatzen gibt, muss es keine Halbwahrheiten geben. Etwas länger: Damit ein halbgebildeter Halbverhungerter im Halbdunkel einen halbgaren Kuchen essen kann, muss es keine Halbwahrheiten geben.

5. Wahrheit und Genauigkeit: Einige Beispiele Ob die Wahrheit ein Mehr oder Minder verträgt, ist umstritten, doch unstrittig kann man einen Gegenstand oder einen Sachverhalt mehr oder weniger genau beschreiben, mehr oder weniger vollständig, mehr oder weniger facetten- und implikationsreich. Man wird die Nichtgradierbarkeit des Wahrheitsbegriffs nur dann überzeugend verteidigen können, wenn man auch den legitimen Ort der gradualistischen Redeweisen bezeichnet – auf dass das Wahrheitsprädikat nicht mit Problemen belastet werde, die andernorts gelöst werden müssen. Meine zu entwickelnde These ist die folgende: Semantische Vagheit betrifft den Parameter der Genauigkeit einer Darstellung, nicht ihre Wahrheit. Dieser unabhängige Parameter wird von den Freunden der Wahrheits18

Ähnlich argumentiert Keefe (1998). Kritisch dazu Smith (2008), S. 213-220.

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grade übersehen.19 Unten werde ich erläutern, was hier mit „Genauigkeit“ gemeint ist, dann wird deutlich werden, dass und warum Genauigkeit und Wahrheit unabhängig voneinander variieren können. Zunächst führe ich zur Illustration vier Beispiele ein: (a) Wie lang ist die Küste der Insel Rügen? Wenn man auf einer Karte im Maßstab von 1:1 Million die mäandernde Küstenlinie nachmisst und umrechnet, kommt man auf eine Länge von 401 km. Wenn man auf einer Karte im Maßstab 1: 50.000 misst und rechnet, kommt man auf eine Länge von 511 km. Wenn man mit einem Maßband am Ufer entlanggeht, wird sie noch länger, und wenn man die Außenkanten der Steine und der Sandkörner ausmessen will, weiß man nicht, welche man messen soll. Wenn man die fraktale Geometrie berücksichtigt, wird die Küstenlinie sogar unendlich lang. (Das könnte allerdings auch gegen die fraktale Geometrie sprechen oder jedenfalls gegen ihre empirische Anwendbarkeit.) Die Frage scheint nicht illegitim, wie lang die Küstenlinie denn wirklich ist. Doch ohne weitere Qualifikation lässt sie sich nicht beantworten. Die Küste von Rügen kann indes nicht zugleich 401 km und 511 km lang sein. Leider sieht man diesen beiden Längenangaben nicht an, wie sie zustandegekommen sind. Beide Angaben benutzen die gleiche Maßeinheit, nämlich Kilometer. Es kann aber nicht sein, dass dasselbe demselben in derselben Hinsicht zugleich zukommt und nicht zukommt. Nichts in der Welt kann zugleich 401 km lang und nicht 401 km lang sein. Also haben wir ein Problem. (b) Eine Person steigt auf eine Waage und liest ab, dass sie 75 Kilogramm wiegt. Dann steigt sie auf eine genauere Digitalwaage, welche 75,235 kg anzeigt. Es liegt auf der Hand, dass das tatsächliche Körpergewicht einer Person nicht zugleich 75 kg und 75,235 kg betragen kann. Jemand könnte die Sache so ausdrücken, dass die zweite Angabe „näher an der Wahrheit“ ist. Das ist genau die Konsequenz, die wir nicht ohne Not akzeptieren sollten. – Nun handelt es sich in beiden Beispielen um Maßangaben, also um quantitative, metrische Prädikate. Man könnte argumentieren, dass die Beispiele insofern Sonderfälle sind, aus denen man für das Vagheitsproblem in natürlichen Sprachen nur wenig lernen kann. Sehen wir also weiter, ob wir Beispiele allgemeinerer Art finden. (c) Während einer Operation gibt der Chirurg das Skalpell mit den Worten „Es ist nicht scharf“ an seinen Assistenten zurück. Der Assistent Die These ist nicht originell – vgl. z. B. Putnam (1981), S. 55; Smith (1998), S. 119128 sowie Künne (2003), S. 421. 19

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reicht das Messer an die OP-Schwester weiter und sagt „Vorsicht, scharf!“20 Beide Sprecher mögen Recht haben. Wie kann das sein? (d) Der Grundschullehrer sagt zu seinen Schülern: „Frankreich ist sechseckig“. Hat er etwas Wahres oder etwas Falsches gesagt? Strenggenommen, wenn „sechseckig“ ein geometrisches Prädikat sein soll, hat Frankreich nicht die Form eines Sechsecks. Aber ist es dadurch gleich falsch, was der Lehrer gesagt hat? Nach Austin sollten wir das Gesagte nicht auf das Prokrustesbett der Bivalenz zwingen: „Es wäre witzlos, auf der Wahrheit oder Falschheit des Satzes zu bestehen“.21 Man könnte argumentieren, dass die mit dem Satz „Frankreich ist sechseckig“ gemachte Aussage zu vage ist, um eindeutig wahr oder falsch zu sein. Wer oder was, so wäre dann zu fragen, legt fest, wie ähnlich eine Kontur einem geometrischen Sechseck sein muss, um korrekt als „Sechseck“ bezeichnet werden zu können?

6. Die Platon-Herberger-Kontroverse Wer die Behauptung des Grundschullehrers für falsch erklärt, hat seinerseits ein Problem. Er wendet ja ein, dass das geometrische Prädikat „sechseckig“ auf die tatsächliche Form des französischen Staatsgebiets nicht zutreffe. Für diesen Einwand im Geiste Platons muss er allerdings nicht erst in den Atlas sehen oder Satellitenbilder heranziehen. Denn nach diesem strengstmöglichen, geometrischen Standard trifft das Prädikat „sechseckig“ niemals auf etwas Empirisches zu. Manche Prädikate scheinen so zu funktionieren, dass sich durch Erhöhung des Genauigkeitsstandards jede empirische Aussage falsch machen lässt. Selbst eine legendäre Binsenweisheit wie die Behauptung Sepp Herbergers, der Ball sei rund, wäre für den Platoniker falsch: Ein Fußball ist alles andere als rund, denn kein physischer Gegenstand ist so kugelrund wie die ideale Kugel. Der Ball erfüllt einfach die Definition von „Kugel“ nicht.22 Das ist die Platon-Herberger-

Das Beispiel stammt von Wright (2006), S. 53. Bei Wright stehen die konträren Adjektive „blunt“ und „sharp“, ich habe kontradiktorische eingesetzt. 21 Vgl. Austin (1979), S. 162. 22 Herberger irrte noch in einem weiteren Punkt: Auch dass jedes Spiel 90 Minuten dauert, ist unwahr. 20

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Kontroverse: „Der Ball ist rund“ – für Herberger wahr, für den Platoniker falsch. Wie schlichtet man diesen Streit? Es ließe sich einwenden, dass Austins und Herbergers Beispiele weitere Sonderfälle darstellen, da sie mit geometrischen Prädikaten operieren. Prädikate wie „sechseckig“, „rund“, „flach“ oder „gerade“ sind sinnvollerweise als systematisch mehrdeutig zwischen einem geometrischen und einem empirischen Sinn anzusehen. Derjenige Sinn von „rund“, der in Herbergers Binsenweisheit aktualisiert ist, ist offenbar nicht der geometrische. Anders wäre nicht zu erklären, warum wir Herbergers Aussage als wörtlich wahr ansehen. Es ist vorgeschlagen worden, dass „Frankreich ist sechseckig“ im Munde des Grundschullehrers wahr sei, falsch hingegen im Munde des Kartographen. Aber es kann schlecht ein und dieselbe Aussage oder Proposition sein, die zugleich wahr und falsch ist. Holen wir also etwas Versäumtes nach und beziehen die Frage der Wahrheitswertträger ein. Zu unterscheiden ist zwischen Sätzen und dem, was mit ihnen in einem bestimmten Äußerungskontext jeweils ausgesagt wird. Wenn man, wie es ohnehin angezeigt ist, nicht Sätze, sondern das mit ihnen jeweils Ausgesagte als Wahrheitswertträger ansieht, erscheint es nicht weiter rätselhaft, dass ein und derselbe Satz benutzt werden kann, um je nach Kontext eine wahre oder eine falsche Aussage zu machen. Offenbar ändert die zugrunde gelegte Interpretation des Prädikats „sechseckig“ etwas daran, welche Aussage überhaupt mit diesem Satz gemacht wird. Entsprechend verhält es sich in den anderen Beispielen.23 In erster Annäherung könnte man also sagen, dass wir es jeweils mit zwei Aussagen zu tun haben, die durch homophone Sätze ausgedrückt werden. Dieses Phänomen kennen wir von Sätzen, die indexikalische Ausdrücke enthalten, welche mit dem Kontext (Sprecher, Zeit, Ort) ihren Bezug wechseln. Nun ist aber „sechseckig“ kein indexikalischer Ausdruck. Fasst man ihn, dem obigen Vorschlag folgend, als systematisch mehrdeutig zwischen einen geometrischen und einen empirischen Sinn auf, so könnte 23

Unter Nichtfregeanern hat sich ein anderer Sprachgebrauch eingebürgert: Viele Sätze seien „kontextsensitiv“, ihr Wahrheitswert variiere mit verschiedenen Elementen des Äußerungs- und/oder des Auswertungskontextes. Diese kontextualistische Relativierung der Wahrheitswertzuweisung wird nur dadurch nötig, dass weiterhin Sätze statt der in einem Äußerungskontext jeweils ausgedrückten Proposition als Wahrheitswertträger angesehen werden.

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man vortheoretisch sagen, dass wir es mit zwei gleichlautenden Sätzen zu tun haben, die zwei verschiedenen Sprachen angehören, der des Lehrers und der des Kartographen. Und es liegt auf der Hand, dass, bevor man sich nicht für die Sprache entschieden hat, der ein Satz angehört, auch die Wahrheit des Gesagten nicht beurteilt werden kann.24 Die Rede von zwei verschiedenen Sprachen erscheint allerdings etwas übertrieben, wenn man unter „Sprache“ eine natürliche Sprache versteht. Beide Sprecher des Beispielsatzes befleißigen sich schließlich des Deutschen. Die fragliche Unterscheidung sollte also unterhalb der Ebene vollständiger natürlicher Sprachen eingeführt werden.

7. Der Parameter der Auflösung „Auflösung“ ist ein Begriff aus der Optik. Das Auflösungsvermögen eines optischen Gerätes, und auch die des Auges, ist als Maß für die Fähigkeit definiert, zwei nahe beieinander liegende Objektpunkte als unterscheidbare Bildpunkte abzubilden. So löst eine Digitalkamera eine bestimmte Anzahl von Bildpunkten auf, beispielsweise zwölf Millionen, feinere Strukturen im Objektbereich kann sie nicht abbilden. Damit der Begriff der Auflösung auch auf die Darstellungsleistung der Sprache anwendbar ist, bedarf er der Verallgemeinerung. Das Auflösungsvermögen kann man als eine Eigenschaft eines Darstellungsmittels ansehen, beispielsweise eines Prädikates. Je höher das Auflösungsvermögen eines Prädikats ist, desto mehr Details eines Gegenstandes können mit seiner Hilfe wiedergegeben, desto mehr Unterschiede im Gegenstandsbereich ausgedrückt werden. Damit entspricht das Auflösungsvermögen der Fähigkeit, einen Gegenstand von eng benachbarten zu unterscheiden, nur dass „eng benachbart“ hier nicht räumlich zu verstehen ist wie beim optischen Begriff der Auflösung, sondern soviel heißt wie „sehr ähnlich“. Je höher aufgelöst eine sprachliche Darstellung, desto eher kann sie – bzw. ein Sprecher mit ihrer Hilfe – einen Gegenstand von einem anderen, sehr ähnlichen Gegenstand unterscheiden. Eine andere technische Analogie ist die der Trennschärfe, also der Fähigkeit eines funktechnischen EmpfangsSo haben der englische Satz „Empedocles leaped“ und der deutsche Satz „Empedokles liebt“, die nach Davidson homophon sind, verschiedene Wahrheitsbedingungen. (Mit der Aussprache darf man es hier nicht so genau nehmen.) 24

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geräts, benachbarte Sender in einem Frequenzband voneinander zu trennen. In der analytischen Ontologie hat sich die Rede von Körnigkeit durchgesetzt: Entitäten könnten entweder feinkörnig oder grobkörnig individuiert werden. Der Begriff der Körnigkeit hat aber den Nachteil, dass er sowohl auf Darstellungen als auch auf nichtrepräsentierende Gegenstände selbst angewandt werden kann. Beispielsweise wird Schleifpapier in unterschiedlichen Körnungsgraden hergestellt. Also bleiben wir bei „Auflösung“. Im Unterschied zum Auflösungsvermögen eines Darstellungsmittels ist die tatsächliche Auflösung eine Eigenschaft der Verwendung eines Darstellungsmittels. Ich werde diese Subtilität im Folgenden gelegentlich vernachlässigen. Im Falle von „Frankreich ist sechseckig“ sind es die Details der äußeren Kontur, die in der sprachlichen Repräsentation niedrig oder hoch aufgelöst sein können. Es können aber auch mereologische Bestandteile eines Gegenstandes sein oder Anhaftungen, die je nach Auflösungsgrad einer Beschreibung mitgemeint sind oder nicht. Für den Durstigen drückt „Das Glas ist leer“ eine bittere Wahrheit aus, für den Lebensmittelhygieniker, der dasselbe Glas unter dem Mikroskop auf Rückstände untersucht, ist es alles andere als leer. Der Begriff der Auflösung hat auch Anwendung auf zeitliche Verhältnisse. Der menschliche Sehapparat hat bekanntlich ein begrenztes zeitliches Auflösungsvermögen. Ein Film muss mit mindestens zwanzig Bildern pro Sekunde aufgenommen und wiedergegeben werden, damit es nicht mehr merklich ruckelt. Ein aus Einzelbildern zusammengesetzter Film gibt nicht das kontinuierliche Geschehen getreulich wieder, sondern nur ausgewählte Stationen. Nimmt man beispielsweise den Angriff einer Giftschlange auf einen Film auf, der mit 1000 Bildern pro Sekunde belichtet wird, so ist auf jedem dieser Einzelbilder etwas anderes zu sehen. Zenon würde fragen, wie die Schlange von einem Zustand zum nächsten gelangt. Glücklicherweise besteht die Wirklichkeit nicht aus Standbildern, sondern aus sich selbst. Zenon hat ein Problem, das die Schlange nicht hat. Ist ein Film zeitlich zu grob aufgelöst, ruckelt es. Löst eine Kamera räumlich zu grob auf, erhält man gerasterte („verpixelte“) Bilder. Fangfrage: Wie hoch ist die Wirklichkeit selbst aufgelöst? Es liegt nahe zu sagen, dass sie einen unendlich hohen Auflösungsgrad hat. Das zu sagen oder es unter Hinweis auf die Quantentheorie zu bestreiten wäre aber schief, denn die Auflösung betrifft ein Verhältnis zwischen einer Darstellung und

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dem Dargestellten. Die Wirklichkeit selbst ist überhaupt nicht aufgelöst, weder grob noch fein.25 Sprachliche Darstellungen führen hingegen typischerweise einen bestimmten Auflösungsgrad mit sich. Wenn der jeweilige Auflösungsgrad einer Darstellung unterschiedlich eingeschätzt wird, kann auch der Wahrheitswert des Gesagten unterschiedlich eingeschätzt werden, wie in meinen Beispielen. Wenn die Konturen von Ländern mit einfachen geometrischen Figuren bezeichnet werden sollen, ist Frankreich sechseckig; wenn nicht, dann nicht. Wenn die Konturen von Ländern nach mittelgroßen trockenen Gütern benannt werden sollen, ist Italien ein Stiefel, sonst nicht. Wenn das fragliche Skalpell für chirurgische Zwecke eingesetzt werden soll, ist es stumpf, sonst nicht.

8. Auflösungsgrade statt Wahrheitsgrade Man sieht nun, inwiefern die Berücksichtigung des Parameters der Auflösung einer sprachlichen Darstellung zur Verteidigung eines nichtgradualen Wahrheitsprädikats beitragen kann. Das Zutreffen einer Beschreibung und die Wahrheit einer Aussage, so der Vorschlag, werden stets anhand eines bestimmten Auflösungsgrades der enthaltenen Prädikate beurteilt. Der Grundschullehrer dürfte einen niedrigen Auflösungsgrad des Prädikats „sechseckig“ zugrunde legen, wenn er Austins Satz im Unterricht äußert. Bei gleichem Wortlaut sind verschiedene Auflösungsgrade möglich, wobei der Auflösungsgrad den Standard festlegt, anhand dessen die Wahrheit des Gesagten zu beurteilen ist. Akzeptiert ein Hörer das mit „Frankreich ist sechseckig“ oder mit „Das Skalpell ist nicht scharf“ Gesagte als wahr, so gibt er damit zu erkennen, dass er den vom Sprecher angebotenen Auflösungsgrad akzeptiert.26 Dies schließt nicht aus, dass in einem anderen Gesprächskontext ein höherer Auflösungsgrad gewählt wird, an dem gemesIch sage statt dessen, dass die Welt des Konkreten deskriptiv unerschöpflich ist – in dem Sinne, dass es an jedem Gegenstand oder Geschehen potentiell unendlich viel zu beschreiben gibt. Einzeldinge haben stets mehr tatsächliche Eigenschaften, als in einer gegebenen Beschreibung oder Kennzeichnung genannt werden. Vgl. dazu Keil (2005). 26 Auf folgende Komplikation hat Andreas Kemmerling mich aufmerksam gemacht: Der Hörer könnte das Gesagte auch dann akzeptieren, wenn er zwar den unterstellten Auflösungsgrad nicht akzeptiert, aber im Rahmen seines alternativen Auflösungsgrades einen Fehler macht. 25

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sen das Gesagte dann falsch wäre. Aber dann wäre eine andere Aussage gemacht worden, wenn auch mithilfe eines gleichlautenden Satzes. Die Relativierung der jeweils gemachten Aussage auf einen Auflösungsgrad der verwendeten Prädikate funktioniert wie ein zusätzlicher, verborgener Index. Die Interpretation gemäß dem Index erzeugt aus Sätzen das jeweils Ausgesagte.27 Der Wahrheitswert des Gesagten wird erst beurteilt, nachdem die vagen Prädikate gemäß dem intendierten oder unterstellten Auflösungsgrad interpretiert sind. Ohne diesen Schritt bliebe unbestimmt, welche Aussage mit dem Satz überhaupt gemacht wurde. Gibt es für diesen Interpretationsschritt keine Grundlage oder führt er zu keinem Ergebnis, so hat man es mit nicht behebbarer Vagheit zu tun, die der Sprecher zu verantworten hat. Genauer: Der Sprecher hat nicht die semantische Vagheit des verwendeten Prädikats zu verantworten, sondern die Verwendung des Prädikats in einem Kontext, der dem Interpreten keine Möglichkeit bietet, etwas Wahrheitsfähiges zu erkennen. Wenn der Sprecher weder einen Auflösungsgrad mitliefert noch sich auf einen kontextuell etablierten stützen kann, ist der Satz im betreffenden Kontext nicht zum Ausdruck einer wahrheitsfähigen Aussage geeignet. Wie es Sprecher und Hörern gelingt, sich stillschweigend auf einen Auflösungsgrad der verwendeten Prädikate zu verständigen, ist noch weitgehend unerforscht. Der Sprecher, seine Äußerung und der Äußerungskontext scheinen dem Hörer auf irgendeine Weise den Auflösungsgrad zu erkennen zu geben, anhand dessen die Wahrheit des Gesagten beurteilt werden soll. Austins Beispielsatz lässt vermuten, das Gricesche Konversationsimplikaturen, in diesem Falle die Wahrheitsunterstellung, dabei eine wichtige Rolle spielen. Die Grundschüler verfügen nicht vorab über einen bestimmten Standard, mithilfe dessen sie die Mitteilung des Lehrers dekodieren, sondern sie erkennen den intendierten Auflösungsgrad, weil sie erwarten, dass der Lehrer ihnen wie üblich etwas Wahres mitteilen will. Sie wählen eine Interpretation, unter der das Gesagte wahr ist. Aber auch der Sprecher muss seinen Teil beitragen. Er kann seine Worte nicht Beliebiges bedeuten lassen. Und da er nicht nur die Absicht hat, etwas Bestimmtes mit seinen Worten zu meinen, sondern im Regelfall die zusätzliche Absicht, gemäß seiner Äußerungsabsicht interpretiert zu werden, muss er davon Eine entsprechende Erweiterung der zweidimensionalen Semantik, in deren Rahmen man sich die Berücksichtigung des Parameters der Auflösung am ehesten vorstellen könnte, steckt noch in den Kinderschuhen. Vgl. unten, Abschnitt 10.

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ausgehen dürfen, dass die Hörer im Besitz der Fähigkeiten und Mittel sind, das jeweils Gemeinte zu ermitteln.28 Neben den Sprecherintentionen und dem Hörerwissen wird oft der Äußerungskontext eine Rolle spielen. In manchen Fällen legt der Kontext schon unabhängig von den Intentionen des Sprechers einen bestimmten Auflösungsgrad nahe. Kommen wir dazu auf das Beispiel (b) zurück: Von demselben Körpergewicht kann sowohl wahrheitsgemäß gesagt werden, dass es 75 kg beträgt, als auch, dass es 75,235 kg beträgt. Beides kann aber nicht im gleichen Kontext gesagt werden. Die genauere Angabe, die beispielsweise beim Kontrollwiegen vor einem Boxkampf gemacht werden könnte, schließt aus, dass die Person zugleich 75,124 kg wiegt, die ungenaue Angabe „75 kg“ schließt das nicht aus, weil sie von vornherein nicht grammgenau auflöst. Damit ist vereinbar, dass „75 Kilogramm“ in manchen Kontexten tatsächlich gleichbedeutend mit „75.000 Gramm“ oder gar mit „75 Millionen Milligramm“ ist. Dem Prädikat „75 Kilogramm“ sieht man das freilich nicht an. Des zusätzlichen Parameters des Auflösungsgrades bedarf es ja nur, weil der intendierte oder im Kontext aktualisierte Auflösungsgrad nicht schon zum lexikalischem Sinn des Prädikats gehört. Für das Körpergewicht einer Person wäre eine Gewichtsangabe in Milligramm schon deshalb absurd, weil das Messresultat durch Atmung und Transpiration zu sehr schwanken würde. Es ist eben nicht sinnvoll, jeden Satz anhand eines möglichst hohen Auflösungsgrades zu beurteilen. Darum wird es in den meisten Kontexten auch nicht als falsch oder irreführend angesehen, sein Körpergewicht in ganzen Kilogramm anzugeben. Man kann hier ein fernes Echo der Auffassung des Aristoteles vernehmen, dass man jeweils nur den Grad von Genauigkeit verlangen sollte, den die Natur der Sache zulässt. Ein Fehler im Sinne des Verstoßes gegen eine Konversationsmaxime ist es auch, eine größere Genauigkeit zu suggerieren als jeweils gegeben ist. Das geschieht zum Beispiel, wenn Presseagenturen Maßangaben oder Geldbeträge aus einer Einheit in eine andere umrechnen. Aus einem geschätzten Schaden von 10.000 Dollar wird so einer von 7843 Euro. Das ist schlechter Journalismus. Ein ähnliches Beispiel bietet das amerikanische Hinweisschild auf dem Weg zu einem Aussichtspunkt: „Eagle Pass 7 miles – 11,265 km“.29 28 29

Dieses Zusammenspiel hat Davidson erhellend beschrieben; vgl. Davidson (1986). Dieses Beispiel findet sich bei Krifka (2002), S. 440.

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Die Einzelheiten des in erfolgreicher Kommunikation angewandten Interpretationsverfahrens sind weitgehend ungeklärt. Dass sich der intendierte oder unterstellte Auflösungsgrad von offensichtlichen Kontextfaktoren ablesen lässt, seien es solche des Äußerungs- oder Auswertungskontextes, ist für manche Beispiele plausibel, für andere nicht. Unplausibel ist auch, dass der Auflösungsparameter, wie in der Literatur beispielsweise von Kölbel und MacFarlane behauptet wird, ausschließlich zum Auswertungs-, nicht aber zum Äußerungskontext gehört. Zu untersuchen ist ferner die Dynamik des Auflösungsparameters: Man kann einen Auflösungsgrad im Laufe eines Gesprächs erhöhen, wenn es nötig wird. (In Supervaluationstheorien der Vagheit spricht man von „sharpening“ oder „precisification“). Interessanterweise scheint es ungleich schwieriger zu sein, einen einmal im Gespräch erreichten Auflösungsgrad wieder zu verringern.30 Fassen wir zusammen: Semantische Vagheit ist primär eine Eigenschaft von Prädikaten und davon abgeleitet eine Eigenschaft einiger Sätze, die solche Prädikate enthalten. Der jeweilige Auflösungsgrad ist eine Eigenschaft31 von in einem bestimmten Kontext mit einer bestimmten Sprecherintention verwendeten Prädikaten und Sätzen. Dagegen betreffen das Bivalenzprinzip und das Nichtgradierbarkeitsprinzip der Wahrheit nicht Sätze, sondern Wahrheitswertträger, also Propositionen. Auf Sätze können die beiden Prinzipien nicht umstandslos angewandt werden. Selbst kontradiktorische Sätze („Frankreich ist sechseckig“/„nicht sechseckig“, „Das Messer ist scharf“/„nicht scharf“) drücken nicht notwendigerweise Widersprüchliches aus, da der Auflösungsgrad der verwendeten Prädikate wie ein zusätzlicher verborgener Index funktioniert. Wird bei unverändertem Wortlaut der Auflösungsgrad erhöht oder verringert, so ändert, um es zu wiederholen, nichts Ausgesagtes seinen Wahrheitswert, sondern es drückt dann ein homophoner Satz eine andere Proposition aus. Es ist deshalb schief zu sagen, der Wahrheitswert einer Proposition sei relativ zu einem gewählten Auflösungsgrad. Vielmehr variiert die ausgedrückte Proposition selbst mit dem zugrunde gelegten Auflösungsgrad des Satzes, und nach der Wahrheit kann erst gefragt werden, wenn ein beurteilbarer Wahrheitswertträger vorliegt. – Natürlich lässt diese Darstellung noch viele FraVgl. dazu Lewis (1979), bes. S. 244-6. Den Ausdruck „Eigenschaft“ verwende ich hier unterminologisch. Bei Kaplan ist die Bedeutung („character“) eines indexikalischen Ausdrucks eine Funktion, die Elemente des Äußerungskontextes auf die Extension des Ausdrucks abbildet. 30 31

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gen offen. Auf konkurrierende kontextualistische und wahrheitsrelativistische Auffassungen gehe ich unten ein. Treten wir einen Schritt zurück und rufen uns einen wahrheitstheoretischen Gemeinplatz in Erinnerung: Wahrheit hängt stets von zweierlei ab32, nämlich davon, wie die Welt beschaffen ist und davon, was die verwendeten Wörter bedeuten: „The statement ‚Brutus killed Caesar’ would be false if the world had been different in certain ways, but it would also be false if the word ‚killed’ happened rather to have the sense of ‚begat’.“33 Seit Kaplan und andere das Phänomen der indexikalischen Ausdrücke ernster nahmen als Quine es tat, gilt die Standardauffassung, dass Wahrheit von dreierlei abhängig ist: von Wortbedeutungen, der Beschaffenheit der Welt und den Kontextparametern Sprecher, Zeit und Ort. In jüngster Zeit wird diskutiert, ob noch weitere Kontextparameter zu berücksichtigen sind. Für die Verteidigung eines nichtrelativen und nichtgraduellen Wahrheitsbegriffs ist wichtig, dass Wahrheit von den genannten Faktoren in verschiedener Weise abhängt. Wird nach der Wahrheit einer Aussage gefragt, so behandelt man Wortbedeutungen, Kontextparameter und den jeweiligen Auflösungsgrad als gegeben, wiewohl man sie in anderen Zusammenhängen problematisieren kann.34 Es ist verführerisch zu sagen, dass die präzise Gewichtsangabe „75,235 kg“ in unserem Beispiel „näher an der Wahrheit“ ist als die Angabe „75 kg“, doch dieser Versuchung sollte man widerstehen. Wenn der Auflösungsgrad den Standard festlegt, an dem die Wahrheit des Gesagten zu beurteilen ist, kann die Beurteilung des Wahrheitswertes erst erfolgen, wenn der Auflösungsgrad feststeht. Vorher liegt keine beurteilbare Proposition vor. Im geeigneten Kontext ist es wahr simpliciter und nicht bloß cum grano salis, dass eine Person 75 kg wiegt. Was ein Mehr oder Minder takes two to make a truth.” Austin (1950), S. 124. Quine (1951), S. 36. Quine selbst kennt keine Propositionen und sieht „eternal sentences“ als Wahrheitswertträger an, also solche, in denen alle Namen durch Prädikate ersetzt worden sind, alle indexikalischen Orts- und Zeitangaben durch objektive Koordinaten und die Tempusformen der Verben durch ein zeitloses Präsens. 34 Darum spricht, beiseite bemerkt, der Umstand, dass Wortbedeutungen sich verändern können, auch nicht dagegen, dass es analytische Sätze gibt. „Junggeselle“ hat im Deutschen nicht immer „unverheirateter Mann“ bedeutet, was aber nichts an der Analytizität des Satzes „Alle Junggesellen sind unverheiratet“ im Gegenwartsdeutsch ändert. Analytizität erfordert nicht Nichtrevidierbarkeit; der frühe Quine hat das noch nicht klar erkannt. 32 33

„It

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verträgt, ist nicht die Wahrheit einer Aussage, sondern die Detailliertheit oder Genauigkeit einer Darstellung.

9. Ein der Annahme von Wahrheitsgraden komplementärer Fehler Durch die Gradierung des Wahrheitsprädikats werden die durch semantische Vagheit und Schwankungen des Auflösungsgrades entstehenden Probleme auf das falsche Konto gesetzt. Man kann aber hinsichtlich des Verhältnisses von Wahrheit und Auflösung auch einen komplementären Fehler begehen. Dieser besteht darin, neben der Wahrheit auch die Auflösung in das Prokrustesbett der Zweiwertigkeit zu zwingen. Ein Beispiel für diesen Fehler ist Wittgensteins Version des logischen Atomismus. Wittgenstein behauptet im Tractatus: „Die Wirklichkeit muß durch den Satz auf ja oder nein fixiert sein. Dazu muß sie durch ihn vollständig beschrieben werden“.35 Dieses vollständige Beschriebenwerden erläutert er so: „Ein Bild zur Erklärung des Wahrheitsbegriffes: Schwarzer Fleck auf weißem Papier; die Form des Fleckes kann man beschreiben, indem man für jeden Punkt der Fläche angibt, ob er weiß oder schwarz ist“.36 Mit dieser Analogie ignoriert Wittgenstein das Problem des Auflösungsgrades. Wie genau die Wirklichkeit auf ja oder nein fixiert wird, hängt ja von der Größe der Punkte ab, also von der jeweiligen Rasterung. Die Punkte sind in jedem Falle Farbflecken, denn mit geometrischen, ausdehnungslosen Punkten lässt sich kein Papier schwärzen. Damit Flecken einer gewissen Größe als Punkte gelten können, muss man sich für eine bestimmte Auflösung entscheiden. Bei aus Pixeln bestehenden Texten, Grafiken und Fotos tun wir das implizit, indem wir sie aus einem bestimmten Abstand betrachten. Ist die Auflösung für den gewählten Betrachtungsabstand zu gering, erscheint die Darstellung als verpixelt. Wittgenstein nimmt demgegenüber an, dass es bestimmte kleinste Punkte gibt, die atomaren Tatsachen entsprechen.37 Die atomaren TatsaWittgenstein (1922), Satz 4.023. Ebd., Satz 4.063. 37 Vgl. ebd. Später scheint Wittgenstein auf den Auflösungsparameter aufmerksam geworden zu sein. Hinsichtlich des Ziehens einer Grenze, etwa des „Abgrenzen[s] eines Bezirks durch einen Kreidestrich“, bemerkt er: „Da fällt uns gleich ein, daß der Strich eine Breite hat“ (Wittgenstein (1953), § 88). 35 36

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chen werden durch Elementarsätze wiedergegeben, und die „Angabe aller wahren Elementarsätze beschreibt die Welt vollständig“.38 Für den logischen Atomisten fügen sich die kleinsten Einheiten, die logischen oder semantischen Atome, zu einer maximal genauen und vollständigen Beschreibung der Welt. Woran sich das Ideal einer vollständigen Beschreibung der Welt bemessen könnte, wann also Vollständigkeit erreicht wäre, ist äußerst schwierig zu sagen. Wittgenstein nimmt dazu nicht Stellung.39 Zurück zur Diagnose der beiden komplementären Fehler. Während die Verfechter eines gradierten Wahrheitsbegriffs etwas abstufen, was nicht abgestuft werden kann, verweigert der logische Atomist einem klarerweise gradierbaren Phänomen diesen Status. In beiden Fällen besteht der Fehler darin, dass die beiden Faktoren Wahrheit und Genauigkeit miteinander kurzgeschlossen werden.

10.

Wahrheitsrelativismus, Kontextualismus, Supervaluationismus

Der Streit darüber, ob die Wahrheit ein Mehr oder Minder verträgt, weist Parallelen und Überschneidungen mit der jüngeren Debatte über einen „relativen“ Wahrheitsbegriff auf. In dieser von Oxford University Press als „the hottest topic in philosophy“ beworbenen Debatte40 geht es darum, ob Wahrheit noch von anderen Faktoren abhängt als von Bedeutung, Beschaffenheit der Welt und den Kontextparametern Sprecher, Zeit und Ort. Am ehesten plausibel erscheint die Relativierung auf weitere Faktoren für moralische und ästhetische Urteile, sofern sie mit Anspruch auf Wahrheit gefällt werden. In der Debatte um den moralischen Relativismus hat man als „indexikalischen Relativismus“ die Auffassung bezeichnet, dass moralische Sätze einen verborgenen Index besitzen, zu dem die jeweils ausgedrückte Proposition relativ sei, meist die moralischen Standards des Sprechers oder der Sprechergemeinschaft.41 Davon unterschieden wird ein „wahrer“ oder „echter“ Relativismus (Kölbel, Wright, MacFarlane), welcher eine Relativität auf der Ebene der Propositionen selbst behauptet: Wittgenstein (1922), Satz 4.26. Vgl. dazu Keil (2005), S. 103-111. 40 So die Verlagswerbung zum von Manuel García-Carpintero und Max Kölbel herausgegebenen Sammelband Relative Truth. Siehe García-Carpintero/Kölbel (Hg.) (2008). 41 Diese Auffassung vertritt zum Beispiel Harman (1975). 38 39

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Indexical relativists claim that the implicit indexicality of certain sentences is the only source of relativity. Genuine relativists, by contrast, claim that there is 42 relativity not just at the level of sentences, but also at the propositional level. When I say that apples are delicious and you deny this, you are denying the very same proposition that I am asserting. We genuinely disagree. Yet this 43 proposition may be true for you and false for me.

Das Signum des Wahrheitsrelativismus ist die Formel vom „faultless disagreement“ (Kölbel). Echte Wahrheitsrelativisten behaupten, dass zwei Personen in derselben Situation über den Wahrheitswert des Gesagten uneins sein können, ohne dass einer von beiden Unrecht hätte. Im SkalpellBeispiel scheint dieser Fall vorzuliegen, doch auf den zweiten Blick verschwindet dieser Anschein. Tatsächlich hat binnen Sekunden eine Kontextverschiebung stattgefunden. Ein Instrument, das nicht scharf genug zum Operieren ist, kann immer noch scharf genug sein, um sich daran zu verletzen. Es handelt sich also um eine scheinbare, leicht auszuräumende Uneinigkeit.44 Bei der fingierten Platon-Herberger-Kontroverse besteht die Kontextverschiebung darin, dass der eine Sprecher vermutlich eine Binsenweisheit über die Unabsehbarkeit der sportlichen Geschicke zum Besten geben will (der Ball ist rund genug, damit niemand vorab weiß, wohin er rollt), der andere hingegen eine philosophische Betrachtung über die Unzulänglichkeit der Sinnen- gegenüber der Ideenwelt anstellt. Der entscheidende Unterschied zwischen der hier vorgetragenen Auffassung und dem Wahrheitselativismus besteht darin, dass der Parameter der Auflösung in meiner Skizze zur Individuierung der jeweils ausgedrückten Proposition beiträgt, während Kölbel, MacFarlane und Wright ein und derselben Proposition je nach Kontext, zugrunde gelegtem Standard, eingenommener Perspektive o. ä. verschiedene Wahrheitswerte zuschreiben.45

Kölbel (2004), S. 297. Vgl. Wright (2006), S. 54, Fn. 20. MacFarlane (2007), S. 21; vgl. MacFarlane (2005). 44 Die Uneinigkeit „leicht auszuräumen“ zu nennen ist noch eine Untertreibung. Tatsächlich dürften der Chirurg und der Assistenzarzt nicht einmal auf die Idee kommen, dass sie einander widersprochen hätten. 45 Meine Auffassung ist erkennbar Frege verpflichtet. Für eine eingehender begründete fregeanische Kritik am Wahrheitsrelativismus vgl. Stepanians (2009) sowie Cappelen/ Hawthorne (2009). 42 43

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Es ist nicht leicht zu sehen, was für die letztere Auffassung spricht. Gegen sie spricht, dass sie ein idiosynkratisches Verständnis von „Proposition“ erfordert.46 Damit wird aber auch die Rede vom „faultless disagreement“ fragwürdig, in der vorausgesetzt ist, dass es etwas gibt, worüber die Sprecher uneins sind. Und dieser Streitgegenstand ist nach herkömmlicher Auffassung die Frage, ob das im Kontext jeweils Gesagte wahr ist. Wenn es diese Wahrheitswertträger simpliciter nicht schon gäbe, hätte man sie erfinden müssen. Ob man sie „Propositionen“, „das Ausgesagte“, „Gedanken“ oder noch anders nennt, ist eine nachrangige Frage. Die hier skizzierte Auffassung zur Rolle des Auflösungsparameters ist kontextualistischen Lösungen des Vagheitsproblems verwandt. Kontextualisten wie Kamp, Raffman, Soames und Graff sehen vage Prädikate als kontextabhängig und damit als im weiteren Sinne indexikalisch an.47 Eine vollständige Liste der Kontextparameter, deren Berücksichtigung zur Individuierung der mithilfe eines Satzes jeweils ausgedrückten Proposition erforderlich sein kann, hat bisher niemand vorgelegt. Einigkeit besteht darüber, dass die Standardliste – Zeit, Ort, Sprecher – zu kurz sein dürfte. Wer neue Einträge hinzuzufügen hat, möge hervortreten. Die zweidimensionale Semantik wird durch die Berücksichtigung von Auflösungsgraden und anderen Nichtstandardparametern erheblich komplizierter, aber eine vernünftige Alternative dazu ist nicht in Sicht. Schließlich wollen wir in der Philosophie diejenigen Begriffe des Gesagten und der Aussagenwahrheit verstehen und analysieren, die wir tatsächlich implizit verwenden, nicht irgendwelche stipulierten. Entsprechend hat Frege mit deutlichen Worten erklärt, dass der Wahrheitsrelativismus mit dem Sinn des Wahrheitsprädikats unvereinbar sei.48 Für einen echten, nichtindexikalischen Wahrheitsrelativismus bedürfte es einer aufwendigeren Argumentation als den bisher vorliegenden. Die bloße Einsicht, dass einige der durch klassische Bedeutungstheorien erzwungenen Wahrheitswertzuweisungen gewisse Feinheiten unserer tatSo auch García-Carpintero (2008), S. 135, Fn. 10. „To say that vague predicates are context sensitive is to say that they are indexical. While the semantic content of an indexical varies from one context of utterance to another, its meaning does not.” Soames (2002), S. 445. 48 „Kann man ärger den Sinn des Wortes ‚wahr’ fälschen“, fragt Frege rhetorisch, „als wenn man eine Beziehung auf den Urteilenden“ sowie auf „Bestimmungen des Orts, der Zeit u.s.w.“ einschließen will? Frege (1893), S. xvi f. 46

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sächlichen Urteilspraxis nicht erklären, reicht nicht aus. Da der Relativist auf den Wahrheitsbegriff nicht überhaupt verzichtet, hat er zu erklären, wie sich relative Wahrheit zur Wahrheit verhält, von der sie eine Spezies zu sein scheint.49 Klärungsbedürftig ist weiterhin das Verhältnis der hier entwickelten Auffassung zu supervaluationistischen Lösungen des Vagheitsproblems. Der Supervaluationismus schlägt vor, die Wahrheit einer Aussage mehrfach zu bewerten, nämlich in ihrer ursprünglichen Form und in einer präzisierten Interpretation. Der Supervaluationismus quantifiziert dann über alle zulässigen Präzisierungen und bezeichnet eine Aussage genau dann als wahr (auch: „super-wahr“), wenn sie unter allen diesen Präzisierungen wahr ist.50 Seien die Altersgrenzen für die Anwendung des Prädikates „Kind“ unscharf, so werde doch mit dem Satz „Caroline Kennedy war noch ein Kind, als ihr Vater ermordet wurde“ in jedem Falle etwas Wahres gesagt, da das Gesagte unter jeder zulässigen Präzisierung von „Kind“ wahr ist. Auf diese Weise kann der Supervaluationismus die Tatsache erklären, dass semantische Vagheit die Wahrheitsfähigkeit vieler Sätze, in denen vage Prädikate vorkommen, nicht gefährdet.51 Von den Problemen, die der Supervaluationismus aufwirft, sind für unseren Zusammenhang folgende einschlägig: (a) Dem Supervaluationismus wird entgegengehalten, dass für den Wahrheitswert der ursprünglich gemachte Aussage schwerlich relevant ist, was der Fall wäre, wenn man sie präzisieren würde. Warum, so fragen Sanford, Dummett und Blau, sollte die abschließende Wahrheitswertzuweisung auch für die ursprüngliche, nichtpräzisierte Aussage gelten?52 Die „Der Wahrheitsrelativist muss einräumen, wie mir scheint, dass Wahrheit (Falschheit) relativ zu verschiedenen Standards S eine Spezies von Wahrheit (Falschheit) ist, wenn er erklären will, worin ein Irrtum besteht. Der Wahrheitsrelativist und der AntiRelativist stimmen darin überein, dass ein Urteil genau dann irrtümlich ist, wenn es nicht wahr ist. Der Unterschied zwischen ihnen ist, dass der Wahrheitsrelativist verschiedene Spezies relativer Wahrheit anerkennt, sein Opponent hingegen nur Wahrheit simpliciter.“ Stepanians (2009), S. 177. 50 Vgl. zum Beispiel Keefe (2005), S. 68. In der linguistischen Vagheitsdebatte weist Pinkals „Präzisierungssemantik“ Parallelen zum Supervaluationismus auf. Vgl. Pinkal (1985), S. 160-206. 51 Dieser Umstand ist schon Quine aufgefallen: „Vagueness does not perturb the truth values of the usual sentences in which vague words occur.” Quine (1960), S. 128. 52 Vgl. Sanford (1976), S. 206 und Keefe (2005), S. 90. 49

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Frage ist berechtigt und zeigt eine charakteristische Unentschiedenheit des Supervaluationismus hinsichtlich der Frage des Wahrheitswertträgers an. Was genau wird präzisiert, was wird auf seine Wahrheit hin beurteilt, erst recht auf seine Wahrheit unter allen Präzisierungen? In vielen Formulierungen des Supervaluationismus wird suggeriert, es werde dasselbe Gebilde zweimal auf seine Wahrheit hin überprüft, einmal vor und einmal nach der Präzisierung. Nimmt man aber Propositionen als Wahrheitswertträger ernst, so ist die Rede von unter bestimmten Präzisierungen wahren Aussagen schief und kritikbedürftig. Die Operation der Schärfung ist, anders als die Schärfung eines Messers, keine akzidentelle Veränderung an einem beharrenden Substrat, sondern die Ersetzung einer Proposition durch eine andere. Auch den berechtigten Kern der Frage, warum die nach der Präzisierung vorgenommene Wahrheitswertzuweisung auch für die nichtpräzisierte Aussage gelten sollte, reformuliert man besser, indem man in Abrede stellt, dass überhaupt ein auf seine Wahrheit hin beurteilbares Gebilde vorliegt, bevor nicht nach irgendeinem Auflösungsgrad interpretiert wird, beispielsweise nach dem intendierten oder dem stillschweigend unterstellten.53 (b) Ein zweites Problem des Supervaluationismus ist, dass er eine bestimmte Menge von zulässigen Präzisierungen postuliert. Hier stellt sich die Frage, welche Elemente diese Menge enthält: Welche Präzisierungen sind gerade noch zulässig, welche nicht mehr? Der Supervaluationismus ist also vom Problem der höherstufigen Vagheit betroffen. Zweifellos gibt es einen Kernbereich zulässiger Präzisierungen, aber diese Einsicht ist kein großer Fortschritt. (c) Versucht der Supervaluationismus hingegen, den Bereich der zulässigen Präzisierungen exakt abzugrenzen, so ist er für den oben gegen die mehrwertigen Logiken erhobenen Einwand der intuitiv unhaltbaren Überpräzisierung anfällig. Bedeutungs- und Wahrheitswertzuweisungen, die über alle verfügbaren semantischen Daten, Sprecherabsichten und -dispositionen hinausgehen, erzeugen eine Scheingenauigkeit und sind von zweifelhaftem Wert.

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Ähnlich antwortet Pinkal auf Blaus Einwand, dass die Wahrheit eines Satzes [!] in präzisierten Kontexten K' nichts über dessen Wahrheit im Ursprungskontext K besage: „Ich bezweifle schon, daß es den Gegensatz, den [der Einwand, G. K.] voraussetzt, überhaupt gibt. Jedenfalls wird es schwerfallen, irgend etwas außer den K' zu finden, das über die Wahrheitswerte in K eine Aussage erlaubt.“ Pinkal (1985), S. 123.

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Noch einmal: Wahrheit und Vagheit

Die Behauptung, dass sich durch die Berücksichtigung des Auflösungsparameters das Problem der semantischen Vagheit entschärfen lasse, ist schon deshalb großspurig, weil es das Vagheitsproblem nicht gibt, sondern eine ganze Reihe davon. Wenn mit „dem Vagheitsproblem“ die Frage gemeint ist, an welcher Stelle einer Sorites-Schlusskette wir unser Urteil ändern und warum, hilft die Berücksichtigung des Auflösungsparameters nicht. Sie hilft auch nicht bei dem Problem, dass sich auch für einen präzisierten Ausdruck stets wieder Grenzfälle finden lassen, also Gegenstände am Rand der Extension, auf die der Ausdruck weder eindeutig zutrifft noch eindeutig nicht zutrifft. Wer den Kern des Vagheitsproblems in diesen Fragen erblickt, wird in der hier skizzierten Auffassung keinen Fortschritt sehen. Die Berücksichtigung des Auflösungsparameters hilft aber, wenn es zu erklären gilt, warum die Vagheit von Prädikaten die Wahrheitsfähigkeit vieler Aussagen, die mithilfe dieser Prädikate gemacht werden, nicht gefährdet. So vage der generelle Term „scharf“ auch immer sein mag, die jeweiligen Adressaten sind durchaus in der Lage, die beiden Wahrheiten zu erkennen, die der Chirurg ihnen mit dem Satz „Das Messer ist nicht scharf“ und der Assistent mit dem Satz „Das Messer ist scharf“ mitgeteilt haben. Demgegenüber ist die Frage, an welcher Stelle in einer Sorites-Reihe Wahrheit in Falschheit übergeht, ohnehin keine gute Frage. Sie leistet dem semantizistischen Mythos Vorschub, Prädikate hätten für ihre eigene Anwendung zu sorgen. Schon die übliche Definition von Vagheit befördert den Semantizismus: Vage Prädikate seien solche, die keine scharfe Grenze zwischen den Gegenständen ziehen, auf die sie zutreffen, und solchen, auf die sie nicht zutreffen. Angemessener ist es, von vornherein die Sprecher und ihre Fähigkeiten ins Spiel zu bringen. Die Prädikate ziehen keine scharfe Grenze? Das Grenzenziehen ist eine Leistung von Sprechern, und das gegebenenfalls erforderliche Präzisieren ebenfalls. Wir benutzen sprachliche Mittel, um bestimmte Unterscheidungen zu treffen, um auf Gegenstände Bezug zu nehmen oder sie allererst zu individuieren, um etwas von ihnen auszusagen und unsere Hörer das jeweils Ausgesagte erkennen zu lassen. Wie viele Sandkörner ein Haufen hat, wird durch das Prädikat „Haufen“ in der Tat nicht festgelegt. Dass der generelle Term „Haufen“ eine unscharf begrenzte Extension hat, hat zur Folge, dass er

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sprachrichtig zur Bezeichnung von Ansammlungen verschiedener Größe verwendet werden kann. Die erreichbare Genauigkeit einer Beschreibung wird aber durch den Umstand, dass die verwendete Sprache vage Prädikate enthält, nicht vermindert. Wenn es darauf ankommt, können Sprecher zwei Ansammlungen, die nur um ein einziges Korn differieren, voneinander unterscheiden. Körner lassen sich schließlich zählen. Aber meistens kommt es nicht darauf an, und darum bleibt der Ausdruck „Haufen“ brauchbar. Bei all dem kann das Wahrheitsprädikat zweiwertig bleiben, feiner abgestuft oder höher aufgelöst werden im Bedarfsfall allein die restlichen Prädikate. Es ist nichts gegen die Rede einzuwenden, dass eine sprachliche Darstellung, die ihren Gegenstand höher auflöst als eine andere, uns mehr von der Welt erkennen lässt oder eine Welt größeren Detailreichtums erschließt. Wahrer werden unsere Aussagen dadurch nicht.54

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Geert Keil

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WAHRHEIT UND ERKLÄRUNG – EINE TRÜGERISCHE INTUITION TOBIAS KLAUK 1. Intuitionen sind überaus hartnäckig. Manchmal hält sich eine philosophische Intuition, obwohl man längst weiß, dass es gute Gründe gibt, um sie nicht weiter zu beachten. Man kann nun zwar die Intuition bewusst ignorieren, doch beruhigt ist man eigentlich erst, wenn man sich erklärt hat, warum die Intuition so nachdrücklich immer wieder ins Bewusstsein drängt, anstatt langsam zu verblassen. Eine solche Erklärung möchte ich in diesem Aufsatz für eine Intuition geben, welche die Existenz von Wahrmachern nahe legt. Ich werde also ein wenig Psychologie der Philosophie betreiben. Ob andere an denselben Symptomen leiden, müssen sie für sich selbst entscheiden.

2. Meine stärkste Intuition bezüglich Wahrmachern war eng verbunden mit Sätzen der Form: (1) ist wahr, weil der 12er Schlüssel im Werkzeugkasten liegt. 1 Dass ich geneigt war, (1) für wahr zu halten, schien mir Ausdruck der Intuition zu sein, dass man angeben kann, warum wahr ist, oder gar an welchem Teil der Welt es liegt, dass wahr ist. Es liegt nicht an der Form des australischen Kontinents, nicht an der Tatsache, dass 2+2=4, nicht daran, wer gerade Königin von England ist. Es liegt am 12er Schlüssel (der im Werkzeugkasten liegt) oder am Werkzeugkasten (in dem ein 12er Schlüssel liegt) oder an der Tatsache, dass der 12er Schlüssel im Werkzeugkasten liegt oder am Ereignis, dass im Werkzeugkasten ein 12er Schlüssel liegt oder am ImWerkzeugkastenLiegen des 12er Schlüssels. Und das schien mir ein guter Grund zu sein, an Wahrmacher zu glauben. Eine Wahrmachertheorie schien nur noch die Frage beantworten zu müssen, welche der Kandidaten man als Wahrmacher ansehen möchte. Viele Leute vor mir haben dieselbe Faszination entwickelt. Man betrachte die folgenden Passagen von Vertretern von Wahrmachertheorien beziehungsweise von starken Korrespondenztheorien der Wahrheit: When a statement is true, there is, of course, a state of affairs which makes it true and which is toto mundo distinct from the true statement about it2 When I speak of a fact [...] I mean the kind of thing that makes a proposition true or false.3 The idea of a truthmaker for a particular truth, then, is just some existent, some portion of reality, in virtue of which that truth is true.4 For the root of the idea of truthmakers is the very plausible and compelling idea that the truth of a proposition is a function of, or is determined by, reality. Thus suppose that the proposition that the rose is red, which makes reference to a particular rose, is true. Then the truth of this proposition is a function of reality in the sense that the truth of the proposition is determined by reality or a portion of it. Indeed, it is a relevant portion of reality, namely the rose, or perhaps that the rose is red, that determines the truth of the proposition.5

2

Austin (1970), S. 123. Russell (1956), S. 182. 4 Armstrong (2004), S. 5. 5 Rodriguez-Pereyra (2005), S. 20f. (meine Hervorhebung). 3

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Hier haben wir die zentrale Intuition der Wahrmachertheoretiker: Wenn eine Proposition wahr ist, dann gibt es einen ganz bestimmten Teil der Realität, der Welt oder wie immer man hier reden will, der der Proposition entspricht, der sie wahr macht, der für ihre Wahrheit verantwortlich ist. Doch die Idee, dass man auf das Korrelat der Proposition gewissermaßen zeigen kann, hat schon Gegner einer Korrespondenztheorie der Wahrheit befremdet: That (person, thing, etc.) to which the referring part of the statement refers, and which the describing part of the statement fits or fails to fit, is that which the statement is about. It is evident that there is nothing else in the world for the statement itself to be related to either in some further way of its own or in the different ways in which these different parts of the statement are related to what the statement is about. And it is evident that the demand that there should be such a relatum is logically absurd: a logically fundamental type-mistake. But the demand for something in the world which makes the statement true (Mr Austin’s phrase), or to which the statement corresponds when it is true, is just this demand.6

Strawson nennt das Kind beim Namen. Austin möchte als Selbstverständlichkeit hinstellen, es müsse genau einen Teil der Welt geben, der einer Proposition entspreche – dabei ist es egal, ob man diese Entsprechung dann als Relation des Wahrmachens oder wie Austin als Korrespondenzrelation auffasst. Aber die Angelegenheit ist nicht selbstverständlich. Strawson hat meines Erachtens völlig Recht, dass die Forderung einer solchen Relation zwischen Proposition und ausgezeichnetem Teil der Welt ein Fehler ist. Wozu noch eine extra Relation annehmen, wenn doch aller Weltbezug einer Proposition schon durch Referenz des referierenden Teils der Proposition und das Zutreffen des beschreibenden Teils der Proposition geleistet wird? Wahrmachertheoretiker könnten versucht sein, hier Wittgensteins berühmtes Diktum aus dem Tractatus zu bemühen, dass die Welt die Gesamtheit der Tatsachen ist, nicht der Dinge. Sicherlich, wenn man der Bildtheorie der Wahrheit des Tractatus anhängen möchte, dann bekommt man 6

Strawson (2004), S. 150.

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Wahrmacher geschenkt. Doch wer möchte das schon? Man kann Wittgensteins Einsicht, dass die Welt alles ist, was der Fall ist verstehen, ohne sich ontologisch festzulegen, wie Dodd sehr gut erklärt: When Wittgenstein says that the world is everything that is he case he does indeed gesture at an important insight: that the world is not simply a heap of things, but consists in those things being arranged in determinate ways. But this is not an ontological insight: it is not that Wittgenstein has shown us that the world is a constellation of states of affairs. For we can accept that the world consists in things arranged in certain ways without letting arrangements into our ontology.7

Die Wahrmacherintuition ist also alles andere als selbstverständlich. Und es ist Aufgabe der Wahrmachertheoretiker, uns Gründe zu präsentieren, warum wir die Wahrmacherintuition für wahr halten sollten. In Abschnitt 4 liste ich Gründe auf, eine Wahrmachertheorie zu vertreten. Es ist bemerkenswert, dass Wahrmachertheorie, so plausibel oder unplausibel man sie finden mag, mit einem grundlegenden Motivationsproblem konfrontiert ist. Im kleinen Kreis der allesamt nicht besonders guten Gründe, ein Wahrmacherprinzip zu vertreten, nimmt die oben eingeführte Intuition eine besondere Stelle ein, weil sie scheinbar direkt die Grundidee von Wahrmachertheorien ausdrückt: Angeben zu können, was eine Proposition wahr macht. Nur ist die Intuition, wie wir gesehen haben, ebenso begründungsbedürftig wie die verschiedenen Wahrmacherprinzipien, die im Laufe der Zeit vorgeschlagen wurden. Ich unterscheide in Abschnitt 3 auf sehr engem Raum verschiedene Versionen von Wahrmachertheorien. Am Ende lassen sich keine guten Begründungen für die Wahrmacherintuition finden. Ich habe mich also geirrt. Zwar gibt es einen Sinn, in dem in (1) tatsächlich angegeben wird, warum wahr ist, er hat jedoch nichts mit Wahrmachern zu tun. Sätze der Form (1), so werde ich in Abschnitt 5 behaupten, haben mich länger als nötig auf Wahrmacher neugierig gemacht, weil ich unter anderem ganz alltägliche Fälle nicht von philosophisch aufgeladenen unterschieden habe. Wir geben häufig auf ganz harmlose Weise an, warum eine 7

Dodd (2002), S. 82.

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bestimmte Proposition wahr ist, oder warum es sich so-und-so verhält. Diese Fälle aber taugen nicht als Begründung einer Wahrmachertheorie. Sätze wie (1) können also korrekte Intuitionen ausdrücken, man muss nur erkennen, wie wenig sie mit Wahrmachern im Sinne einer Wahrmachertheorie zu tun haben.

3. Bevor wir uns Gründe für eine Wahrmachertheorie in Abschnitt 4 ansehen, sollten wir zur Kenntnis nehmen, dass Wahrmacherthesen nur für eine bestimmte Klasse von Propositionen gedacht sein können. Schließlich ist etwa für mathematische Wahrheiten, quantifizierte Sätze oder Modalsätze nicht direkt zu sehen, wie entsprechende Wahrmacher aussehen sollen. Was etwa macht wahr? Sind es negative Tatsachen? Ist es die Gesamtheit aller positiven Tatsachen? Wer vor solchen Fragen nicht zurückschreckt, kann die radikalste These in Hinsicht auf die Geltungsweite des Wahrmacherprinzips vertreten, den Wahrmachermaximalismus, der fordert, dass für jede wahre Proposition ein Wahrmacher existiert. Für die hier angestellten Überlegungen genügen als Gegner allerdings bereits Wahrmachertheoretiker, die für eine beliebige Klasse von Propositionen ein Wahrmacherprinzip fordern. Eine zweite Unterscheidung verdient Beachtung. Wahrmacherprinzipien gibt es in verschiedener Stärke. Starke Wahrmacherprinzipien fordern für wahre Propositionen ein α, dessen Existenz notwendig dafür sorgt, dass die Proposition wahr ist. In der einfachsten Version soll gelten, dass α

wahr macht, genau dann, wenn

oder

strikt impliziert. In der englischsprachigen Literatur wird meist davon gesprochen, dass „α necessitates, that p“, auch hier ist wohl strikte Implikation gemeint. Es sei dahingestellt, ob man damit mehr als eine notwendige Bedingung gefunden hat. Zu solch starken Prinzipien existiert eine Reihe von Abschwächungen. Eine dieser Abschwächungen sind Supervenienztheorien von Wahrmachern. So schlägt etwa Bigelow vor, folgendes Prinzip anzuerkennen:

92

Tobias Klauk If something is true, then it would not be possible for it to be false unless either certain things were to exist which don’t, or else certain things had not existed which do. 8

Bigelows Wahrmacherprinzip (BW) besitzt leider einen entscheidenden Mangel, es fängt nämlich die eingangs erwähnte Intuition nicht ein. (BW) legt einen gerade nicht darauf fest, dass man einen bestimmten Teil der Welt angeben kann, der für die Wahrheit einer Proposition verantwortlich ist. Das mag man attraktiv finden, aber es führt uns zu weit fort von der zentralen Intuition. Lassen wir also Supervenienzprinzipien auf sich beruhen und wenden uns anderen Abschwächungen von Wahrmacherprinzipien zu! Eine zweite Art Abschwächung versucht, die Idee der strikten Implikation durch die Idee der Erklärung zu ersetzen. Ian McFetridge z.B. möchte folgendes Prinzip vertreten: (E) For every sentence which is true there must be some explanation of why it is true. 9

Er selbst möchte Erklärung allerdings als eine Beziehung zwischen Tatsachen verstehen. Die Tatsache, dass der 12er Schlüssel im Werkzeugkasten liegt, soll (partiell) die Tatsache erklären, dass die Proposition wahr ist. Tatsachen kommen für ihn ins Spiel, nicht weil die Rede von Wahrheit dies erforderte, sondern weil unsere Rede von Erklärung es fordert.10 Das Problem von Erklärungsansätzen wie (E) ist, dass sich an ihnen nicht direkt ablesen lässt, um welche Art von Erklärung es eigentlich gehen

8

Bigelow (1988), S. 133. McFetridge (1990), S. 42. 10 McFetridge gibt allerdings selbst zu, dass er zwar ein Freund von Tatsachen ist, dass die Rede von Tatsachen sich aber zumindest in seinen Beispielen eliminieren läßt. McFetridge (1990), S. 39. Die ganze Rede von Tatsachen kommt für ihn zudem überhaupt nur auf, weil „Eine Tatsache“ eine mögliche Antwort auf die Frage ist „Was macht diese Proposition wahr?“. Und niemand zwingt uns, genau diese Antwort zu geben. 9

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soll. McFetridges Erklärung ist z.B. keine Begriffserklärung. Er versteht sie vielmehr explizit als dieselbe Art Erklärung wie sie in (2) vorkommt:11 (2) Die Tatsache, dass Salz löslich in Wasser ist wird erklärt durch die Tatsache, dass Salz diese chemische Struktur hat. Doch dieser Vergleich ist nicht besonders plausibel. Die Erklärung in (2) macht das Verhalten von Salz aufgrund seiner molekularen Struktur verständlich. Doch dass der 12er Schlüssel im Werkzeugkasten liegt, macht nicht in derselben Weise verständlich, dass wahr ist. Wie also den einschlägigen Begriff von Erklärung dann verstehen? Man sieht hier schon, dass sich (E) durchaus so verstehen lässt, dass es gar keine Wahrmachertheorie mehr ausdrückt! Schließlich ist in (E) nicht die Rede davon, dass es eine Entität α geben muss, die (oder deren Existenz) die Wahrheit von

erklärt. Wenn in (E) tatsächlich von einer Erklärung, wie in (2) die Rede sein soll, dann geht es nicht um Wahrmachertheorie, sondern darum, dass es für alles eine Erklärung gibt. Das ist zwar aufgrund des Allquantors wahrscheinlich falsch, aber eine ontologisch harmlose These.

4. Dieser knappe Überblick über Wahrmacherprinzipien muss genügen, um nun Rechtfertigungen solcher Prinzipien würdigen zu können. Welche Gründe lassen sich anführen, um Wahrmachertheorie zu betreiben? Eine beliebte Taktik besteht darin, für jeden Typ von Proposition Wahrmacher anzugeben, in der Hoffnung, so die Gegner zu überzeugen. Sicherlich lassen sich, wenn man erst einmal an Wahrmacher glaubt, für jeden Typ Proposition Wahrmacher angeben. Man muss nur bereit sein, gegebenenfalls den ontologischen Preis zu zahlen. Doch dass dies möglich ist, stand nicht zur Diskussion. Vielmehr ist die Frage, welche Gründe wir

11

McFetridge (1990), S. 40.

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überhaupt haben, Wahrmacher anzunehmen. Dass sich, hat man einmal solche Gründe, Wahrmacher angeben lassen, liefert selbst keinen Grund. Die gesuchten Gründe teilen sich vor allem in zwei Gruppen. Zum einen soll ein Wahrmacherprinzip benötigt werden, um gegen bestimmte unliebsame philosophische Thesen argumentieren zu können oder um bestimmte philosophische Probleme zu lösen. Zum anderen soll ein Wahrmacherprinzip bestimmte philosophische Intuitionen erklären. Unter den Theorien, gegen die ein Wahrmacherprinzip etwas ausrichten soll, wird immer wieder der Phänomenalismus genannt. Ein Problem, gegen das die Wahrmacheridee etwas ausrichten soll, ist z.B. das Universalienproblem: Wie können zwei Gegenstände dieselbe Eigenschaft teilen? Es lässt sich meines Erachtens zeigen, dass ein Wahrmacherprinzip die erwünschten Leistungen nicht erbringen kann.12 Doch nehmen wir an, ein Wahrmacherprinzip könne in diesen Hinsichten philosophische Arbeit verrichten. Warum sollte dieser Umstand für die Annahme des Wahrmacherprinzips sprechen und nicht lediglich für die These, dass es angenehm wäre, das Wahrmacherprinzip anzunehmen? Nur dann, wenn das Wahrmacherprinzip die einzige überzeugende Erklärung für das entsprechende Problem wäre. Doch dass dem so ist, hat niemand gezeigt. Darüber hinaus, muss man etwa den Universalienstreit überhaupt für ein relevantes Problem halten? Wer hier von vornherein misstrauisch wäre, den könnte auch die erklärende Kraft eines Wahrmacherprinzips nicht überzeugen. Sehen wir uns also die zweite Gruppe von Gründen an. In einem Schluss auf die beste Erklärung sollen z.B. Realismusintuitionen durch ein Wahrmacherprinzip erklärt werden. Der erste Nachteil einer solchen Motivation des Wahrmacherprinzips ist es wiederum, dass sie, falls erfolgreich, solche Philosophen nicht mit ins Boot holt, die entweder ausgesprochene Idealisten sind oder aber den Streit zwischen Realisten und Idealisten von vornherein für ganz leer halten. Der zweite und entscheidende Nachteil ist allerdings, dass die Idee, dass es etwas gibt, das verantwortlich ist für die Wahrheit einer Proposition von der Idee logisch unabhängig ist, dass die Welt (in großen Teilen) unabhängig von unseren propositionalen Einstellungen so ist wie sie ist. Daly bringt es auf den Punkt: 12

Daly argumentiert überzeugend, dass die Leistung nicht erbracht wird. Siehe Daly (2005).

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The principle is compatible with idealism. An idealist might consistently claim that every truth has a truthmaker, where a truthmaker is an (actual or possible) experience or collection of experiences.13

Neben Gründen für Wahrmacher, die sich auf die Realismusintuition stützen, findet sich in der Literatur zu Wahrmachern vor allem die Intuition, die ich in Abschnitt 2 umrissen habe. Man betrachte etwa RodriguezPereyras Wahrmacherprinzip: (TM) Necessarily, if

is true, then there is some entity in virtue of which it is true.14

Rodriguez-Pereyra versucht, möglichst präzise zu sagen, wie er „in virtue of“ verstanden wissen will: although in virtue of is not reducible to entailment, there are connections between the two notions. In particular, if

is true in virtue of entity e, then entails

. If so, e necessitates

in the sense that there is no possible world where e exists but in which

is not true. Thus, according to (TM), necessarily, if a proposition is true, there is some entity that necessitates it.15

Trotz dieses Aufwandes scheint (TM) fast ununterscheidbar von der in Abschnitt 2 skizzierten Intuition zu sein, dass es etwas gibt, das für die Wahrheit einer Proposition verantwortlich ist. Dementsprechend überraschend ist es, dass diese Intuition nun (TM) begründen soll: For the root of the idea of truthmakers is the very plausible and compelling idea that the truth of a proposition is a function of, or is determined by, reality. Thus suppose that the proposition that the rose is red, which makes reference to a particular rose, is true. Then the truth of this proposition is a function of reality in the sense that the truth of the proposition is determined by reality or a portion of it. Indeed, it is a relevant portion of reality, namely the rose, or perhaps that the rose is red, that determines the truth of the proposition.16 13

Ebd., S. 95. Rodriguez-Pereyra (2005), S. 18. 15 Ebd., S. 18. 16 Ebd., S. 20f. (meine Hervorhebung) 14

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(TM), so Rodriguez-Pereyra, sei die beste Erklärung für diese Intuition. Nur haben wir ja schon in Abschnitt 3 festgestellt, dass die Intuition leider gar nicht so selbstverständlich ist, wie sie zunächst erscheint, und vielmehr selbst der Begründung bedarf. Das wird besonders deutlich in RodriguezPereyras Formulierung, in der von vornherein von einer Funktion und von determinieren die Rede ist. Das beinhaltet schon, dass man es mit einer Relation zu tun hat, deren eines Relatum wahre Propositionen sind, und deren anderes Relatum nun gefunden werden muss. Aber die Frage war ja gerade, warum man eine solche Relation annehmen sollte! Es ist misslich, dass Rodriguez-Pereyra nicht unterscheidet zwischen der Intuition und der Trivialität, dass, ob eine Proposition wahr oder falsch ist, nicht alleine durch die Proposition bestimmt ist, sondern dadurch wie es sich in der Welt verhält. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind Propositionen nicht selbstreferentiell. Wir reden über die Welt und an der Welt liegt es, ob unsere Propositionen wahr oder falsch sind. Sogar Quine und Horwich halten diese Idee für wahr: [...] he is right that truth should hinge on reality and it does. No sentence is true but reality makes it so. The sentence ‚Snow is white’ is true, as Tarski has taught us, if and only if real snow is really white.17 It is indeed undeniable that whenever a proposition or an utterance is true, it is true because something in the world is a certain way – something typically external to the proposition or utterance.18

Es versteht sich, dass diese Idee gar nichts mit Wahrmachern zu tun hat. Wann immer es nötig ist, verweist Rodriguez-Pereyra aber auf diese ungefährliche Lesart (indem er etwa Quines Zustimmung erwähnt). 5.

17

Quine (1970), S. 10. Quine redet hier natürlich über Sätze, nicht über Propositionen, die er ablehnt. Das Zitat entstammt auch noch ausgerechnet einer Passage, in der Quine gegen Propositionen als Wahrheitsträger argumentiert. Der Streit um die richtige Art Wahrheitsträger soll uns hier, wie gesagt, nicht behelligen. 18 Horwich (1998), S. 105.

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Warum aber kommt jemand auf die Idee, dass die Intuition eine Wahrmacherthese begründen könnte? Sätze der Form (1), mit denen man die Intuition einfangen möchte, sind vielfältig interpretierbar. Man kann sich meines Erachtens am besten von der problematischen Intuition befreien, wenn man sich ansieht, wie ganz ungefährliche Intuitionen aussehen, die wir genauso bezeichnen: Dass wir (in manchen Fällen) angeben können, was für die Wahrheit einer Proposition verantwortlich ist. Die falsche Intuition ist so beliebt, weil andere, korrekte Intuitionen mit denselben Worten ausgedrückt werden. Das zeigt sich zum Beispiel, wenn wir ein letztes argumentatives Manöver von Rodriguez-Pereyra blocken, das Asymmetrie-Argument. Rodriguez-Pereyra erklärt zunächst, die nötige Intuition lasse sich auch mit Hilfe des Wortes „weil“ ausdrücken: (W)

ist wahr, weil p. Dies ist nun genau die Form von Sätzen wie (1). Sätze der Form (W) sollen, Rodriguez-Pereyra zufolge, helfen, z.B. Quines Berufung auf TarskiSätze, wie sie in obigem Zitat zum Ausdruck kommt, zu diskreditieren. Denn das Schema (T) sei symmetrisch, (W) aber drücke eine asymmetrische Relation aus.19 Das Problem hier ist nicht, eine Formulierung zu finden, welche die Wahrmacheridee einfängt. Das Problem ist, ob das gefundene Wahrmacherprinzip überhaupt plausibel ist. Dazu genügt es nicht, wie Rodriguez-Pereyra an manchen Stellen auch klingt, Quine zu unterstellen, dass er habe die Asymmetrie nicht bemerkt. Rodriguez-Pereyra glaubt so argumentieren zu können, weil er glaubt, bereits etabliert zu haben, dass auch Quine die Intuition unterschreibe und die Intuition bereits die Asymmetrie mit sich führt. Aber wie wir oben gesehen haben, ist das ein Irrtum.20 19

Rodriguez-Pereyra (2005), S. 27f. Was Horwich betrifft, so ist die Sache komplizierter, da seine Ansichten von der ersten zur zweiten Auflage von Truth wechseln. (W) ist Horwichs Korrespondenzplatitüde. Er behauptet, dass (W) äquivalent ist mit 20

(TM*)

is made true by the fact that p (Horwich (1990), S. 111)

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Was man eigentlich braucht, ist der Nachweis, dass die ganz offenbare Asymmetrie der „weil“-Sätze genau die Asymmetrie ist, welche auch der Wahrmachertheoretiker erfassen will. Wie die anderen Formulierungen, die bemüht werden, die Intuition und die Wahrmacheridee einzufangen, ist aber auch das „weil“ verschieden interpretierbar. Eine überzeugende Lesart des „weil“, welche den Unterschied zwischen (1) ist wahr, weil der 12er Schlüssel im Werkzeugkasten liegt. und (3)

Der 12er Schlüssel liegt im Werkzeugkasten, weil wahr ist.

gut einfängt, ohne Wahrmacher nahe zu legen, stammt von Künne. Er möchte das „weil“ in (1) verstehen wie das „weil“ in (4):21 (4)

Er ist dein Cousin ersten Grades weil er ein Kind eines Geschwister deiner Eltern ist.22

Das „weil“ ist in diesem Fall, wie Künne ausführt, das „weil“ begrifflicher Erklärung: And we can understand (1) along the same lines as (4), Why is it correct to say of him that he is your first cousin? The second clause of (4) gives the answer.23 Dementsprechend glaubt er, dass ein Minimalist alles zugeben kann, was ein Korrespondenztheoretiker über Wahrheit sagen möchte. In der zweiten Auflage erkennt Horwich aber, das (TM*) am besten verstanden wird als (TM+)

is true because there exists the fact that p (Horwich (1998), 105-6)

(TM+) legt einen ontologisch fest, dementsprechend sollte man nicht sagen, dass (W) und (TM*) äquivalent sind. Vgl. Dodd (2002), S. 76. 21 Künne schreibt die Idee freundlicherweise Aristoteles zu. 22 Das Beispiel stammt von Künne. Siehe Künne (2003), S. 155.

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Analog kann man sagen, dass in (1) eine partielle Erklärung des Ausdrucks „wahr“ angegeben wird. Warum ist es korrekt zu sagen, dass wahr ist? Weil der 12er Schlüssel im Werkzeugkasten liegt. Und so fort für alle Propositionen. Diese Begriffserklärungslesart von (1) fängt die Asymmetrie gut ein. Denn während in (1) eine Teilerklärung des Ausdrucks „wahr“ gegeben wird, gibt es in (3) im Vordersatz nichts entsprechendes, das zu erklären wäre. Allerdings hat diese Lesart keine ontologischen Auswirkungen. Wir erklären die Verwendung des Wortes „wahr“ bezüglich einer Proposition mit genau dieser Proposition, mehr nicht. Sie taugt daher auch nicht, um die eingangs erwähnte Intuition einzufangen.24 Wenn dem so ist, dann lässt sich eben nicht von der Asymmetrie der „weil“-Sätze aus für Wahrmacher argumentieren. Schließlich haben wir die Asymmetrie gerade befriedigend erklärt bekommen. Die Begründung der begründungsbedürftigen Intuition lässt sich nicht mit Rückgriff auf die Asymmetrie unserer Beispielsätze erledigen. Tatsächlich ist keine befriedigende Begründung auf dem philosophischen Markt erhältlich. Die Intuition, die sich in (1) ausdrücken soll, bleibt problematisch. Es gibt eine zweite philosophisch ungefährliche Verwendung von „ist verantwortlich für die Wahrheit von“, „wahr machen“, „angeben, warum

wahr ist“ und dergleichen. Sehen wir uns also Fälle an, in denen man nicht nur aus wahrmacher- oder wahrheitstheoretischem Interesse heraus sagen möchte, woran es liegt, dass eine bestimmte Proposition wahr ist! Mein Lieblingsbeispiel entstammt Gettiers berühmten Aufsatz „Is justified true belief knowledge?“. Man erinnere sich an Gettiers erstes Beispiel. Smith und Jones bewerben sich beide auf eine Stelle. Smith erfährt, dass Jones zehn Münzen in der Tasche hat, außerdem wird ihm anvertraut, dass Jones wohl den Job bekommen wird. Daraufhin bildet Smith die Meinung (5) aus:

23

Künne (2003), S. 155. Vgl. Fußnote 20. (W) dient Horwich, um die Korrespondenzplatitüde auszudrücken, doch es legt einen gerade nicht auf Wahrmacher fest. 24

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(5) Derjenige, der den Job bekommen wird, hat zehn Münzen in der Tasche. Tatsächlich bekommt aber entgegen der Ankündigung Smith den Job, der, ohne es zu wissen, selbst zehn Münzen in der Tasche hat. Smith ist der Meinung, dass (5), er hat gute Gründe, zu glauben dass (5) und (5) ist auch tatsächlich wahr. Aber Smith weiß nicht, dass (5), was Gettier so begründet: But it is equally clear that Smith does not know that (5) is true; for (5) is true in virtue of the number of coins in Smith’s pocket, while Smith does not know how many coins are in Smith’s pocket.25

Nicht die Münzen in Jones Tasche sind für die Wahrheit von (5) verantwortlich, sondern die Münzen in Smiths Tasche. Gettier benutzt denselben Ausdruck („in virtue of“), den auch Rodriguez-Pereyra benutzt, aber er meint etwas ganz anderes damit. Denn aus Gettiers Begründung, warum Smith nicht weiß, dass (5), folgt überhaupt nichts darüber, dass es etwas Bestimmtes in der Welt geben muss, das der wahren Proposition entspricht und für ihre Wahrheit verantwortlich ist. Rein logisch gesehen wird lediglich eine Instanz der Existenzbehauptung (5) gegeben. So trivial das ist, in solchen Fällen kann man ohne Probleme davon sprechen, dass eine Proposition wahr gemacht wird – und wie man an Gettiers Beispiel sieht, geschieht dies auch. Was macht die Proposition wahr, dass jemand hier Appetit auf Erdbeereis hat? Zum Beispiel, die wahre Proposition, dass Charlotte Appetit auf Erdbeereis hat. Dieser Sinn der Frage woran es liegt, dass eine bestimmte Proposition wahr ist, beschränkt sich nicht auf solche Propositionen, die durch quantifizierte Sätze ausgedrückt werden. Alle Sätze, die komplexe aussagenlogische Formalisierungen zulassen, erlauben die Frage. Man darf nur nicht versuchen, die Frage an aussagenlogisch primitive Sätze zu richten. Es gibt eben im selben Sinne nichts, das für die Wahrheit der Proposition verantwortlich wäre. 25

Gettier (1963), S. 122. Ich habe mir die Freiheit genommen, meine Numerierung der Sätze in das Zitat zu übernehmen.

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Ich behaupte selbstverständlich nicht, damit die wahre Motivation aller Wahrmachertheoretiker und Anhänger einer Korrespondenztheorie der Wahrheit gefunden zu haben. Ich behaupte, dass die Formulierungen, die Wahrmachertheoretiker benutzen, ihren ungefährlichen Klang und ihre scheinbare Trivialität nur in ganz bestimmten Anwendungen haben. Und ich hoffe, dass es auch anderen geht wie mir: Dass die Intuition ihre Kraft verliert, wenn man begreift, dass sie ihre Kraft eigentlich aus den Formulierungen zieht, die sie einfangen sollen. Es ist sehr natürlich, anzugeben, woran es liegt, dass eine bestimmte Proposition wahr ist. Wie es geht, lernt man schon im traditionellen Kinderspiel: ‚Ich sehe was, das du nicht siehst’. Der ganze Witz des Spieles besteht darin, herauszufinden, welcher Teil der Welt für die Wahrheit der Proposition verantwortlich ist. Hier sieht man meines Erachtens sehr gut, wie es zur falschen Intuition kommt und wie man sie wieder loswird: Wir können das Spiel vollständig erklären durch den Übergang von ∃x (Fx ∧ Gx) zu Fa ∧ Ga. Trotzdem ist alles im Spiel, das die falsche Intuition auszumachen schien: Man kann angeben, was für die Wahrheit von ∃x (Fx ∧ Gx) verantwortlich ist. Man kann sogar (etwa mit dem Satz Fa ∧ Ga) darauf zeigen! Eine Wahrmachertheorie kommt erst ins Spiel, wenn man nun versucht, dieselbe Frage an Fa zu richten. Die korrekte Antwort sollte lauten: In diesem Sinne gibt es nichts, das Fa wahr macht.26 Aber es ist eben verführerisch zu antworten: Es ist die Tatsache, dass... Es gibt weitere Sinne, in denen man manchmal angeben kann, was für die Wahrheit einer Proposition verantwortlich ist. Um diese in den Blick zu bekommen, ist es nun höchste Zeit, eine weitere Qualifikation anzugeben, die ich bislang verschwiegen habe, um die Diskussion nicht unnötig zu verkomplizieren. Weder bei Wahrmacherprinzipien, noch bei der Intuition geht es eigentlich um Wahrheit. Per Disquotation lässt sich das Wort „wahr“ aus Wahrmacherprinzipien eliminieren. Auch Gettier könnte (5) benutzen ohne das Wort „wahr“ zu benutzen: Smith weiß nicht, dass (5), schließlich liegt es an den Münzen in seiner eigenen Tasche, dass (5). Und 26

Abgesehen von essentieller Prädikation. Hier kann man ernsthaft davon reden, dass die Proposition durch das Objekt, dem eine essentielle Eigenschaft zugeschrieben wird, wahr gemacht wird.

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schließlich lässt sich auch die vieldeutige Formulierung „woran es liegt, dass

wahr ist“ abkürzen: Manchmal können wir angeben, woran es liegt, dass p. Worin bestände eine solche Angabe? Z.B. darin, dass man in der einen oder anderen Weise eine Erklärung für p bekäme. Welche Art von Erklärung gemeint ist, lässt die Formulierung „woran es liegt“ gerade offen. Der Punkt ist, dass sich die meisten Erklärungen, ob sie nun kausal, begrifflich oder anders geartet sind, als Antwort auf die Frage „Woran liegt es, dass...“ gegeben werden können. Es ist wohl nicht so, dass man diese Lesart in gleicher Weise verwechseln kann wie man von Einsetzungen in quantifizierte Sätze in die Wahrmacherdebatte rutschen kann. Aber es ist doch bemerkenswert, dass die Lieblingsausdrücke der Wahrmachertheoretiker auf mehr als eine Art so verstanden werden können, dass mit ihnen ganz triviale Ideen ausgedrückt werden. Überzeugte Wahrmachertheoretiker werden sich von solchen Überlegungen zur Psychologie der Philosophie nicht abschrecken lassen, sondern darauf pochen, dass es in der Welt Entitäten geben muss, deren Existenz die Wahrheit von Propositionen notwendig garantieren. Was fehlt, sind gute Gründe, eine solche Wahrmacherrelation anzunehmen. Ich habe versucht, eine Hilfestellung zu geben, aus diesem Projekt auszusteigen, indem man eine zentrale Motivation verliert. Es genügt oft nicht, zu erkennen, dass nach wie vor Gründe fehlen, um an einer Intuition festzuhalten. Man möchte auch verstehen, warum die Intuition einen derart fesseln konnte. Dafür habe ich eine Erklärung gegeben: Die zentrale Intuition der Wahrmachertheoretiker bezieht ihre ganze Kraft aus in gleicher Weise beschreibbaren, aber ganz trivialen Intuitionen.

Wahrheit und Erklärung – Eine trügerische Intuition

103

Literatur Armstrong, D.M.: Truth and Truthmakers. Cambridge 2004 Austin, J.L. „Truth”. In: Ders.: Philosophical Papers. 2. Aufl. Oxford 1970, S. 117-133. Beebee, H. und Dodd, J. (Hrsg.): Truthmakers. The Contemporary Debate. Oxford 2005. Bigelow, J.: The Reality of Numbers: A Physicalist’s Philosophy of Mathematics. Oxford 1988. Daly, C.: „So Where’s the Explanation?”. In: Beebee, H. und Dodd, J. (Hrsg.): Truthmakers. The Contemporary Debate. Oxford 2005, S. 85-104. Dodd, J.: „Is Truth supervenient on Being?”. In: Proceedings of the Aristotelian Society 102 (2002), S. 69-85. Gettier, E.L.: „Is justified true belief knowledge”. In: Analysis 23 (1963), S. 121 –123. Horwich, P.: Truth. Oxford 1990. Ders.: Truth. 2. Auflage. Oxford 1998. Künne, W. : Conceptions of Truth. Oxford 2003. McFetridge, I.: „Truth, Correspondence, Explanation and Knowledge”. In: Ders.: Logical Necessity and other Essays. London 1990, S. 29-52. Quine, W.v.O.: Philosophy of Logic. Englewood Cliffs (N.J.) 1970. Rodriguez-Pereyra, G.: „Why Truthmakers”. In: Beebee, H. und Dodd, J. (Hrsg.): Truthmakers. The Contemporary Debate. Oxford 2005, S. 17-32.

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Tobias Klauk

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2. BEDEUTUNG UND NORMATIVITÄT

THE ARGUMENT FROM QUEERNESS AND THE NORMATIVITY OF MEANING ALEXANDER MILLER

1. Introduction In his book Wittgenstein on Rules and Private Language (Kripke 1982), Saul Kripke develops a famous argument that purports to show that there are no facts about what we mean by the expressions of our language: ascriptions of meaning, such as “Jones means addition by ‘+’” or “Smith means green by ‘green’”, are according to Kripke’s Wittgenstein neither true nor false. Kripke’s Wittgenstein thus argues for a form of non-factualism about ascriptions of meaning: ascriptions of meaning do not purport to state facts.1 Define semantic realism to be the view that ascriptions of meaning are apt to be assessed in terms of truth and falsity, and are, at least in some instances, true. Semantic realism, thus defined, is a form of cognitivism about semantic judgement, according to which judgements ascribing meaning express beliefs, states apt for assessment in terms of truth and falsity. Kripke’s Wittgenstein thus argues against semantic realism, and in favour of a form of semantic non-cognitivism. However, another form of opposition to semantic realism accepts that semantic judgements express beliefs but asserts that those beliefs are systematically and uniformly false.2 This cognitivist form of opposition to semantic realism is similar to the error-theoretic form of opposition to moral realism mooted by J.L. 1

Note that some commentators – such as Wilson (Wilson (1994)) – have argued against this “non-factualist” reading of Kripke’s Wittgenstein. For a defence of the non-factualist interpretation, see Miller (2007), chapter 5. 2 More precisely, the error theorist’s contention would be that all positive atomic semantic judgements are false.

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Alexander Miller

Mackie in the first chapter of his Ethics: Inventing Right and Wrong (Mackie (1977)). In this paper I will investigate whether there is a plausible analogue of Mackie’s “argument from queerness” that can be used to make a case for an error-theory of semantic judgement. In §2 I set out what I take to be Mackie’s argument from queerness against moral realism. In §3 I argue that there is no straightforward and plausible analogue of that argument that would justify an error theory about ascriptions of meaning. In §4 and §5 I defend the argument of §3 against an objection developed in a recent paper by Daniel Whiting.

2. Mackie’s Argument From Queerness Define moral realism to be the view that moral judgements are apt to be assessed in terms of truth and falsity, and are, at least in some instances, true. Moral realism, thus characterised, is opposed by ethical non-cognitivism, which denies that moral judgements are truth-apt (Ayer (1946), Blackburn (1993), Gibbard (1990)), and by error theories, which deny that moral judgements are true.3 In chapter 1 of his Ethics: Inventing Right and Wrong, J.L. Mackie outlines an “argument from queerness” in favour of an error theory of moral judgement. That argument can be set out as follows: (i) (ii)

Moral judgements are judgements ascribing reasons for action. If moral judgements are judgements ascribing reasons for action then moral judgements are judgements ascribing categorical reasons for action.

Premise (i) expresses a commitment to a strong form of internalism about moral judgement, a form that Michael Smith terms “moral rationalism” (Smith (1994)). Although moral rationalism has been opposed by a number of prominent metaethicists (e.g. Railton (1986), Brink (1989)) for our present purposes we shall let premise 3

Again, the moral error theorist’s contention is that all positive atomic moral judgements are false.

The Argument from Queerness

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(i) stand. Premise (ii) is based on the familiar observation (see Kant (1785)) that if there are moral reasons, they are not reasons capable of lapsing simply because of a change in the contingent desires of the agents to which they apply. Suppose that moral facts – facts about what, morally, one ought to do - are facts about reasons for action. One can release oneself from the scope of the “ought” in “You ought to catch the 10am bus to Birmingham” simply by pointing out that you have no desire to get to Birmingham by 11am. But one cannot release oneself from the scope of a moral “ought” by citing some contingent fact about one’s actual desires: you cannot free yourself from the obligation to help the child lying hurt in the street by citing the fact that you have no desire to help or that you have a more powerful desire to get to the pub before it closes. The argument continues: (iii) Moral judgements are judgements ascribing categorical reasons for action. (iv) If moral judgements are judgements ascribing categorical reasons for action and there are no categorical reasons for action, then moral judgements are systematically and uniformly false. (v) There are no categorical reasons for action. (iii) follows straightforwardly from premises (i) and (ii), and (iv) is obvious. The essence of the “argument from queerness” is the argument in favour of (v). Mackie’s objections to categorical reasons for action are metaphysical and epistemological. On the metaphysical score, Mackie says that Plato’s Forms (and Moore’s non-natural qualities) provide a “dramatic picture” of what categorical reasons (“objective values”) would be, if there were any: The Form of the Good is such that knowledge of it provides the knower with both a direction and an overriding motive; something’s being good both tells the person who knows this to pursue it and makes him pursue it. An objective good would be sought by anyone who was acquainted with it, not because of any contingent fact that this person, or every person, is so constituted that he desires this end, but just because the end

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Alexander Miller has to-be-pursuedness somehow built into it. Similarly, if there were objective principles of right and wrong, any wrong (possible) course of action would have not-to-be-doneness somehow built into it. Or we should have something like Clarke’s necessary relations of fitness between situations and actions, so that a situation would have a demand for suchand-such an action somehow built into it.4

On the epistemological score, our ordinary conceptions of how we might come into cognitive contact with states of affairs, and thereby acquire knowledge of them, cannot cope with the idea that the states of affairs are categorical reasons for action. So we are forced to expand that ordinary conception to include forms of moral perception and intuition: If we were aware [of categorical reasons for action], it would have to be by some special faculty of moral perception or intuition, utterly different from our ways of knowing everything else. These points were recognised by Moore when he spoke of non-natural qualities, and by the intuitionists in their talk about a “faculty of moral intuition”. Intuitionism has long been out of favour, and it is indeed easy to point out its implausibilities. What is not so often stressed, but is more important, is that the central thesis of intuitionism is one to which any objectivist view of values is in the end committed: intuitionism merely makes unpalatably plain what other forms of objectivism wrap up.5

Given that categorical reasons for action would be metaphysically outlandish and in need of a far-fetched epistemology, the argument then concludes that (vi) Moral judgements are systematically and uniformly false.

3. An Argument from Queerness against Semantic Realism? Is there a plausible analogue of the argument outlined above to the conclusion that ascriptions of meaning are systematically and 4 5

Mackie (1977), p. 40. Ibib., p. 70.

The Argument from Queerness

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uniformly false? Various philosophers have attempted to block the key premise (v) (see e.g. McDowell (1994)), but for our present purposes the crucial premise is (ii). The analogue of this in the case of ascriptions of meaning would be: (ii*) If semantic judgements are judgements ascribing reasons for action then semantic judgements are judgements ascribing categorical reasons for action. This, it seems to me, has no plausibility whatsoever. As I put it in a previous paper: It would be utterly implausible to claim that if facts about the meaning of “magpie” are facts about reasons for action, then they must be facts about categorical reasons for action. The most that can be said is that if Neil means magpie by “magpie” then given that he has a desire to communicate, or perhaps a desire to think the truth, or a desire to conform to his prior semantic intentions, he has a reason to apply “magpie” to an object if and only if it is a magpie. Semantic reasons are at most only hypothetical reasons for action.6

And Boghossian makes essentially the same point: Is it really true that, if I mean addition by “+”, then, if I am asked what the sum of 58 and 67 is, I should answer “125”? What if I feel like lying or misleading my audience? Is it still true then that I should answer “125”? If I want to mislead, it looks as though I should not say “125” but rather some other number.7

Indeed the point that semantic reasons and obligations, if such there be, are at most hypothetical, is implicit in Kripke’s well-known expression of the claim that meaning is normative:

6 7

Miller (2006), p. 109. Boghossian (2005), p. 207.

112

Alexander Miller The point is not that, if I meant addition by "+", I will answer "125", but rather that, if I intend to accord with my past meaning of "+", I should answer "125".8

So, Mackie’s route to the error-theoretic rejection of moral realism is simply not available for an argument against realism in the case of meaning.

4. Whiting and Hattiangadi on the Normativity of Meaning - I Daniel Whiting (Whiting 2007) develops an objection to the argument of the previous section in the context of a debate with Anandi Hattiangadi about the normativity of meaning (Hattiangadi 2006, 2007). In this section and the next I defend Hattiangadi against Whiting’s attack, thereby defending also my claim that there is no straightforward analogue of Mackie’s argument against moral realism available in the semantic case. In general, a normative statement is a statement implying something about what we ought (ought not) to do or may (may not) do. Consider: (1)

Most people in Cornwall accept that murder is wrong.

(2)

The starting position of a rook is a corner square.

(1) is not a normative statement despite the fact that it contains an evaluative term (“wrong”), and (2) is a normative statement despite the fact that it contains no evaluative terms, since it implies that at the beginning of a game of chess the rooks ought to be placed on the corner squares of the chess board. So,

8

Kripke (1982), p. 37, emphasis in bold added. Note that Boghossian (Boghossian (2005), p. 206) quotes this passage with the phrase emphasised in bold deleted, and then goes on (Ibid., p. 212) to take Kripke to task for not noticing that the “should” in question is merely hypothetical!

The Argument from Queerness

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[T]o say that meaning is a normative notion is to say that a statement of what an expression means is, or immediately implies, a statement about what we ought (not) to or may (not) do with that expression.9

Hattiangadi raises the question whether meaning might be normative (in a sense capable of imposing substantive constraints on theories of meaning) in virtue of the holding of the following principle: (P**)

w means F → ∀x (w ought to be applied to x → x is f)

where w is a word, F gives its meaning and f is the feature in virtue of which w applies.10 In fact, Hattiangadi argues that (P**) is actually false: Under some circumstances, I might be obligated to tell a lie, which does not imply that I mean something non-standard by my expressions.11

In reply, Whiting argues that Hattiangadi’s comments are nevertheless consistent with the truth of (P**): It is certainly the case that one can imagine circumstances in which one is required to use an expression in a way that fails to accord with its standard meaning, without it following that the expression has a nonstandard meaning. But to say that meaning is normative is only to say that expressions are governed by distinctively semantic proprieties. One can hold this while acknowledging that such norms might be trumped by other normative considerations, say ethical, epistemic, or prudential. That, all things considered, I am obliged to use an expression in a way that does not accord with its meaning is perfectly compatible with the fact that there is a semantic norm that speaks in favour (or against) a particular use of an expression, and in virtue of which that expression means what it does. Another way to put this point is to say that the norms of meaning generate prima facie obligations.12 9

Whiting (2007), p. 134. Thus, for “red” we might have: ∀x (“red” ought to be applied to x → x is disposed to look red to normal perceivers in standard conditions), while for “water” we might have: ∀x (“water” ought to be applied to x → x is H20). 11 Hattiangadi (2006), p. 227. 12 Whiting (2007), p. 137-8. 10

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Alexander Miller

Hypothetical imperatives can be overridden by facts about the desires of those they apply to, whereas genuine prima facie obligations can only be overridden by other obligations, and Whiting’s claim – directly at odds with the argument of §3 above – is that norms of meaning generate prima facie obligations rather than mere hypothetical imperatives: [A] proponent of the normativity thesis would deny that the relevant semantic obligation can be overridden by desires alone. True, I might not follow the norm for the use of an expression simply because I do not feel like doing so. But that alone does not show that there is no norm in force; my use of the expression should still be judged incorrect. Of course, the violation is not very serious (the mistake is semantic, not ethical) but that does not establish that it lacks a normative status altogether. This can be appreciated by comparing a putative semantic obligation with a paradigmatic hypothetical obligation. That I ought to go outside only if it is not raining is contingent upon my desire to stay dry. If that desire changes, I will not have done anything incorrect or failed to do as I should by going outside in the rain. Were I to do so, it would be unwarranted and make little sense to insist that, desire notwithstanding, my act was wrong. In contrast, given what “rich” means, that I ought to apply the term to a person only if she is rich does not seem contingent upon (say) my desire to speak truthfully. If that desire changes, and I apply the term to a poor person, it remains the case that I am not applying it as it should be applied, but rather incorrectly. Here, it seems one is properly entitled and it makes full sense to judge that, desire notwithstanding, I am using the expression wrongly. (Of course, I could excuse my behaviour by citing the relevant desire, but that is not the same as overriding the norm.) So, unlike the case where an ethical obligation overrides the semantic obligation to employ an expression in a given way, it does not appear that a mere desire can do so. Hence, it has yet to be shown that any requirement to employ a word only if certain conditions obtain is contingent upon a speaker’s desires. We have not yet been given reason to doubt that (P**) holds.13

13

Ibid., p. 139.

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The argument deployed by Whiting in this passage assumes that from the fact that an application of “rich” to a poor person is incorrect it follows that it is an application that one should not or ought not to make. In effect, Whiting is here taking for granted the idea that “correct” expresses a normative concept; or, in other words, he is taking it for granted that the fact that meaningful expressions have correctness conditions implies that meaning is a normative notion. But we can question whether he is justified in doing so. In fact, in the next section I will defend Hattiangadi’s argument that the mere fact that meaningful expressions have correctness conditions gives Whiting no good reason to hold that meaning is intrinsically normative.14

5. Whiting and Hattiangadi on the Normativity of Meaning - II Hattiangadi argues (i) that it is platitudinous that meaningful expressions have correctness conditions and (ii) that this does not entail that meaning is a normative notion. Whiting is happy to grant (i), but wants to reject (ii): in other words, Whiting argues that it does follow from the fact that meaningful expressions have correctness conditions that meaning is a normative notion. Consider:

14

In correspondence, Whiting has suggested that he can make the point he wants to make without helping himself to the question-begging assumption that “correct” expresses a normative concept: “Given what the English word ‘rich’ means, I ought to apply it to a person only if she is rich. Supposing I don’t desire to speak the truth, it still follows that I’m not applying the term as I ought to. It makes perfect sense to say that, desire notwithstanding, I am using the expression wrongly or in a way that I should not”. But this straightforwardly assumes that (P**) is true, so that at best all we have here is a standoff between Hattiangadi and Whiting, with the result – as predicted in the text – turning on the considerations about to be discussed in §5. In addition, Whiting would have to find some way of dealing with Hattiangadi’s positive reasons for rejecting the suggestion that facts about meaning generate prima facie obligations: see (Hattiangadi (2007) p. 188-90).

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(C)

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w means F → ∀x (w applies correctly to x ↔ x is f)

where as before, w is a word, F gives its meaning and f is the feature in virtue of which w applies.15 According to Hattiangadi, although (C) is platitudinously true it does not imply that meaning is normative: Sometimes to say that something is right [i.e. correct] does not imply a prescription; rather, it is say that it meets a certain standard… To say that some use of a term is “correct” is thus merely to describe it in a certain way – in light of the norm or standard set by the meaning of the term.16 [T]hink of theme park rides where there is a minimum height requirement for some of the more dangerous rides. This is a standard children must meet if they are to go on the ride. But however happy [a child] may be to meet the standard, whether or not she does is a straightforwardly nonnormative, natural fact.17

So, to say that something meets a particular standard isn’t by itself to endorse (or condemn) that standard: what is said is purely descriptive or value-neutral. Whiting disagrees, and argues that although whether something counts as correct (in virtue of meeting a given standard) is a purely descriptive question, depending on what properties it actually possesses, that a given thing does meet the given standard “is clearly a normative or evaluative matter”18. Whiting elaborates: It is true that, in order to meet the standard and so for her going on the ride to satisfy the conditions of correctness, certain descriptions must be true of a child, namely that she is sufficiently tall. That is, certain “straightforwardly non-normative, natural facts” must hold, and can be derived from the statement that she satisfies the relevant norm. 15

So, for “red” we might have: ∀x (“red” applies correctly to x ↔ x is disposed to look red to normal perceivers in standard conditions), while for “water” we might have: ∀x (“water” applies correctly to x ↔ x is H20). 16 Hattiangadi (2006), p. 223–25. 17 Ibid., p. 224. 18 Whiting (2007), p.136.

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Nevertheless, given that the standard is in force, that the child does as a matter of fact meet it (or fails to) certainly has implications for whether or not she may (or should not) go on the ride. If she were to do so incorrectly, with the norm in place, sanctions or criticism of one form or another would be appropriate. Hence, the norm is action-guiding, and to say that there are correctness-conditions for a child’s going on a ride is to say that going on that ride is a normative matter.19

In similar fashion: [I]f a statement about the meaning of an expression does indeed imply that there are conditions for its correct application, as Hattiangadi accepts, then it equally has implications for whether it may or should be used in certain ways. I shall not argue for the antecedent of this conditional here, but if it really is platitudinous, then it is platitudinous that meaning is normative. Hattiangadi is wrong to claim that one can accept a principle such as (C) without thereby accepting the normativity thesis.20

Suppose that the “correct” height for going on the fairground ride is 4 feet or above. Then we have: (N) ∀x (x is the correct height to go on a fairground ride ↔ x is at least 4 feet tall) Suppose that Rosa is 4.5 feet tall and Annabelle is 3 feet tall. Then, according to Whiting, it follows from (N) that Rosa may go on the ride, but that Annabelle should not go on the ride. So, being the correct height to go on a fairground ride is a normative notion. Likewise, suppose that the correctness condition for “green” is: (G) “green” correctly applies to x ↔ x is green Then, according to Whiting, parallel to the fairground example, it follows from the fact that emeralds are green that “green” may be applied to them, while it follows from the fact that Glasgow Rangers 19 20

Ibid., p. 136. Ibid., p. 136.

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football shirts are not green that “green” should not be applied to them. Thus, Whiting argues, the fact that meaningful expressions have correctness conditions implies that meaning is a normative notion. I will now develop an argument to the effect that contrary to what Whiting claims in the passage above, it does not follow from the mere fact that (N) is “in force” that Rosa may go on the ride and that Annabelle should not go on the ride, where “may” and “should” are read normatively: i.e. that it does not follow from the mere fact that (N) is “in force” that Annabelle ought not to go on a ride or that it is not the case that Rosa ought not to go on a ride. In order to get these, we would need something with the additional force of the condition that (N) expresses a norm that we ought to subscribe to.21 We can bring this out by thinking of a bizarre fairground in which children are allowed to go on the rides so long as they have eaten cornflakes for breakfast on at least one Tuesday in the preceding year. So at the bizarre fairground we have: (N*) ∀x (x is the correct height to go on a fairground ride ↔ x has eaten cornflakes for breakfast on a Tuesday sometime in the past year) Suppose that Annabelle has eaten cornflakes on a Tuesday in the past year but that Rosa has not. Does it follow that Rosa ought not to go on a ride and that Annabelle may go on a ride? Clearly not: it would be crazy to ban Rosa from the rides simply on the grounds that she has not had cornflakes for breakfast on some Tuesday in the past year and equally crazy to allow Annabelle on the rides simply because she has had cornflakes for breakfast on some such Tuesday. The reason why it does not follow is that it is not enough that (N*) is “in force”. We also require some additional consideration 21

Note that I am not here putting forward a positive proposal about what this additional force consists in. The point made against Whiting in the text turns merely on there being a gap between (N)’s being “in force” and there being truths about what one may or ought (not) do, not on any particular account of what might be required for that gap to be filled.

The Argument from Queerness

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which implies that (N*) expresses a norm that we ought to subscribe to: a requirement that in this case is plainly not satisfied. So, what follows from the mere fact that (N*) is in force is not that if Rosa were to go on a ride, even with the norm in place, sanctions or criticism of Rosa (or her parents) would be appropriate; but rather that sanctions or criticism would be deemed appropriate by those who subscribe to (N*). Likewise, what follows from the fact that (N*) is in force is not that, if Annabelle were to go on a ride, even with the norm in place, sanctions or criticism of Annabelle (or her parents) would be inappropriate; but rather that such sanctions or criticism would be deemed inappropriate by those who hold that we ought to subscribe to (N* ). Clearly, these latter statements about what is deemed appropriate by those who subscribe to the norms are plainly not normative statements even if we concede that “appropriate” is an evaluative term (compare them with the statement that most people in Cornwall accept that murder is wrong, which Whiting himself designates as non-normative despite the presence of the evaluate term “wrong”).22 To return to the case of meaning: does it follow from (C) that (I)

If something is green, you may apply “green” to it

and (II)

22

If something is not green, you ought not to apply “green” to it?

In correspondence, Whiting argues that the suggestion that (N*) has immediate implications for what Rosa ought (not) to do is not as implausible as it initially seems: in asserting (N*) “one is only saying that by the standards imposed by the norm she should or ought (not) to act in certain ways”(Whiting’s emphasis). However, this makes it even clearer that (N*) is more akin to something like “By the lights of the standards accepted by those in Cornwall, one ought not to murder”, a very near relative of which – “Most people in Cornwall accept that murder is wrong” – Whiting himself is happy to classify as non-normative. See also the remarks in fn 23 below.

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Here, in parallel with the fairground example, normative claims about the applicability or otherwise of “green” to emeralds and Glasgow Rangers football shirts only follow if we assume something that implies that (C) formulates a principle that one ought to subscribe to. But to assume something that implies that statements of correctness conditions constitute norms that we ought to subscribe to is to assume that meaning is a normative notion. In the current context, this is at best question-begging, since Whiting is supposed to be defending the claim that “correct” is normative against Hattiangadi’s argument that it isn’t. So Whiting’s defence of the claim that meaning is a normative notion is at best question-begging, and hence unsuccessful. Another way to approach this point is to note that the “correctness condition” for getting on a fairground ride can be relativised to a fairground. So Rosa’s getting on a ride is “correct-infairground-1” but not “correct-in-fairground-2” (where getting on a ride in fairground 1 is determined in part by height, getting on a ride in fairground 2 is determined in part by previous cornflake consumption). So we can say something like (III) X’s getting on a ride is “correct-in-fairground-1” if and only if X is at least 4 feet tall. (IV) X’s getting on a ride is “correct-in-fairground-2” if and only if X has had cornflakes for breakfast on some Tuesday in the past year. Clearly, nothing normative is implied in the absence of considerations concerning whether we ought to subscribe to (III) or (IV). The same thing holds in the linguistic case, where e.g. it is “correct-in-English” to apply “dog” to Fido, but not “correct-inFrench” to do so. Even when we have accepted (C) “green” correctly-applies-in-English to x if and only if x is green

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nothing follows about whether we may or ought not to apply “green” to an emerald unless we make some further assumption that implies that we ought to apply “green” only in ways that are “correct-inEnglish”. So, Hattiangadi’s claim – that the mere fact that meaningful expressions possess correctness conditions does not entail that meaning is a normative notion – is left untouched by Whiting’s argument.23 23

Whiting’s claim is thus that e.g. (N) implies that if you are 4ft tall you may go on a fairground ride and that if you are not 4ft tall you ought not to go on a fairground ride. Hattiangadi and I claim in opposition to this that (N) implies only that according to the rules of the fairground in question, you may go on a ride if and only if you are at least 4ft tall. Being the correct height to go on a fairground ride is thus what Hattiangadi terms a norm-relative notion (Hattiangadi (2007), p. 56). However, norm-relative notions are not necessarily normative in the sense we have been working with. Claims involving normrelative notions do not in themselves entail anything about what you may or ought (not) do. Consider (T) According to the Ten Commandments, you ought not to lie. Clearly, I can sincerely utter this (and indeed tell the truth in doing so) without expressing acceptance of the Ten Commandments or expressing a con-attitude towards lying. (If I couldn’t, social anthropology could not be a descriptive scientific exercise). Those familiar with Allan Gibbard’s work will be reminded of his claim that: We can characterise any system N of norms by a family of basic predicates “N-forbidden”, “N-optional”, and “N-required”. Here “Nforbidden” simply means “forbidden by system of norms N”, and likewise for its siblings … These predicates are descriptive rather than normative: whether a thing say, is N-permitted will be a matter of fact. It might be N-permitted without being rational, for the system N might have little to recommend it. People who agree on the facts will agree on what is N-permitted and what is not, even if they disagree normatively even if, for instance, one accepts N and the other does not (Gibbard (1990), p. 87).

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6. Conclusion How, then, do matters stand for the prospects of a Mackie-style error-theoretic argument against realism about ascriptions of meaning? I argued in §3 that such an argument would have no plausibility because of the hypothetical nature of semantic obligations and semantic reasons. In §4 we saw that this claim was threatened by Whiting’s contention that semantic obligations are prima facie rather than hypothetical. This further contention of Whiting’s, however, turned on his defence of the idea that the fact that meaningful expressions have correctness conditions implies that meaning is an intrinsically normative notion. We saw in §5 that this defence failed to deflect Hattiangadi’s argument to the contrary. Thus in the absence of any other reason for rejecting Hattiangadi’s argument, we have no cause to reject the idea that semantic obligations are hypothetical, and so no cause to think that a Mackiestyle argument from queerness can undermine semantic realism.24

References Ayer, A.: Language, Truth, and Logic. London 1946. Blackburn, S.: Essays in Quasi-Realism. Oxford 1993.

The claim of Hattiangadi’s that I have been defending is that meaning is a norm-relative, but not normative, notion. 24 For comments and discussion I am grateful to Alan Weir and Daniel Whiting, and to seminar audiences at Oxford, Friburg, Manchester, Nottingham, Stirling, Edinburgh, Glasgow, Reading, Dresden, The Open University and Turku, where I presented a longer paper of which the present paper forms a part. The argument from queerness is only one “normativity” argument that might be invoked to threaten semantic realism. For discussion of a distinct “normativity” argument against semantic realism, see Miller (forthcoming).

The Argument from Queerness

123

Boghossian, P.: “Is Meaning Normative?”. In: Beckermann, A. and Nimtz, C. (ed.): Philosophy – Science – Scientific Philosophy. Paderborn: Mentis 2005, pp. 205-218. Brink, D.: Moral Realism and the Foundations of Ethics. Cambridge 1989. Gibbard, A.: Wise Choices, Apt Feelings. Cambridge (Mass.) 1990. Hattiangadi, A.: “Is Meaning Normative?”. In: Mind and Language 21 (2006), pp. 220-40. Hattiangadi, A.: Oughts and Thoughts: Scepticism and the Normativity of Content. Oxford 2007. Kant, I.: Groundwork of the Metaphysics of Morals. Trans. J.J. Paton. New York [1785] 1964. Kripke, S.: Wittgenstein on Rules and Private Language. Oxford 1982. McDowell, J.: Mind and World. Cambridge (Mass.) 1994. Mackie, J.L.: Ethics: Inventing Right and Wrong. Harmondsworth 1977. Miller, A.: “Meaning scepticism”. In: Devitt, M. and Hanley, R. (ed.): The Blackwell Guide to the Philosophy of Language. Oxford 2006. Miller, A.: Philosophy of Language. 2nd edition. London 2007. Miller, A. (forthcoming): “Semantic Realism and the Argument from Motivational Internalism”. To appear in R. Schantz (ed) What is Meaning? Berlin/New York.

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Alexander Miller

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KRIPKES WITTGENSTEINS SKEPTISCHE LÖSUNG UND DIE METAPHYSIK DES MEINENS TIM KRAFT

Selten hat ein Text der Gattung Sekundärliteratur eine so weit verzweigte Debatte ausgelöst wie Saul Kripkes Wittgenstein on Rules and Private Language (1982).1 In diesem Buch schreibt Kripke Wittgenstein die Entdeckung sowohl eines neuen skeptischen Paradoxes als auch einer skeptischen Lösung dieses Paradoxes zu: Ausgehend von einem intuitiven Verständnis des Meinens folge, dass niemals jemand mit einem Wort etwas meint. Dabei handele es sich um ein Paradox, da dieses Ergebnis inakzeptabel, sogar selbstwiderlegend sei (vgl. Kap. 2 „The Wittgensteinian Paradox“). Wittgenstein belasse es jedoch nicht bei diesem Paradox, sondern bemühe sich auch um einen Ausweg, eine von Kripke so genannte „skeptische“ Lösung (vgl. Kap. 3 „The Solution and the ‘Private Language’ Argument“). Im Mittelpunkt der durch Kripkes Buch ausgelösten Debatte steht das Paradoxon. Viele Autoren versuchen, das skeptische Argument zu Fall zu bringen oder eine direkte Antwort auf die skeptische Herausforderung zu verteidigen. Die skeptische Herausforderung wird in der gegenwärtigen sprachphilosophischen Debatte ernst genommen. Der skeptischen Lösung ist es anders ergangen. Sie scheint im Allgemeinen als haltlos zu gelten.2 Neben einer generellen Abneigung gegenüber dem Adjektiv „skeptisch“ werden insbesondere drei Einwände vorgebracht. Die beiden ersten Einwände be1

Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich auf dieses Buch. An dieser Stelle ist auch eine Bemerkung zu den dramatis personae am Platz: Ich folge der Gepflogenheit, zwischen Wittgenstein, Kripke und Kripkes Wittgenstein zu unterscheiden (vgl. Kripke (1982), S. viii, S. 5). 2 Noch nicht einmal Kripke hält die skeptische Lösung für wahr (vgl. Kripke (1982), S. ix, S. 146 n. 87). Ausnahmen sind Bloor (1997) und Kusch (2006) sowie (vielleicht) Wilson (1994), (1998), (2003) und Davies (1998).

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stehen dabei darin, dass auf (angebliche) Teilthesen der skeptischen Lösung hingewiesen wird, um anschließend ihre (angebliche) Absurdität aufzudecken. Bei den Teilthesen der skeptischen Lösung handelt es sich um die folgenden beiden: Non-Faktualismus und Non-Deskriptivismus: Laut skeptischer Lösung gibt es keine Meinenstatsachen (Non-Faktualismus) und bei Meinenszuschreibungen wie „Meier meint mit ‚plus‘ plus“ handelt es sich nicht um wahrheitswertfähige Aussagen (Non-Deskriptivismus).3 Rolle der Übereinstimmung: Gemäß der skeptischen Lösung kann eine sprachliche Äußerung nicht falsch sein, wenn ihr alle Mitglieder der Sprachgemeinschaft zustimmen. Der dritte Einwand ist anderer Art. Er beruht auf der Frage, ob es der skeptischen Lösung tatsächlich gelinge, die skeptische Herausforderung zu beantworten: Rückkehr der skeptischen Herausforderung: Das Problem, das die skeptische Lösung lösen soll, lässt sich für die skeptische Lösung wiederholen. Diese Einwände, so das Argumentationsziel dieses Aufsatzes, sind nicht haltbar. Die ersten beiden Einwände beruhen auf Fehlinterpretationen der skeptischen Lösung. Die Thesen, die Kripkes Wittgenstein vorgeworfen werden, werden von ihm gar nicht vertreten. Dies führt auch zu einer Neubewertung des dritten Einwandes: Die skeptische Herausforderung lässt sich in keiner problematischen Weise für die skeptische Lösung wiederholen. Hinter diesen Missverständnissen steht, so meine Diagnose, die Tendenz, der skeptischen Lösung metaphysische Thesen anzudichten, die sie in Wirklichkeit gar 3

Boghossian und Wright argumentieren außerdem, dass aus einem lokalen Non-Faktualismus (der nur Meinenszuschreibungen betrifft) zwingend der globale Non-Faktualismus folge (Boghossian (1989), S. 522-527, Wright (1984), S. 100-106; vgl. Kusch (2006), S. 151-158).

Kripkes Wittgensteins skeptische Lösung

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nicht vertritt. Das Problem ist, kurz gefasst, dass Kripkes unübersichtliche Auskünfte zur Natur einer skeptischen Lösung zu Fehlinterpretationen der metaphysischen Thesen einer solchen Lösung geführt haben. Das tatsächliche Potential von Kripkes Wittgensteins skeptischer Lösung kann nur erfasst werden, wenn diese Fehlinterpretationen zurecht gerückt werden. Ich werde dazu in einem kurzen ersten Abschnitt eine Skizze des skeptischen Arguments geben, um im anschließenden zweiten Abschnitt der Frage nachzugehen, was überhaupt eine skeptische Lösung ist. Im dritten bis fünften Abschnitt diskutiere ich die drei eben genannten Einwände. Im sechsten Abschnitt fasse ich meine Ergebnisse zusammen.

1. Das skeptische Paradox Obwohl das skeptische Paradox nicht Gegenstand dieses Aufsatz ist, ist es hilfreich, zumindest kurz auf den Aufbau des skeptischen Arguments einzugehen. Ich werde es dazu in fünf Schritte gliedern. Das skeptische Argument ist ein Argument für die Konklusion, niemand könne etwas mit einem sprachlichen Ausdruck meinen.4 Wer ein Argument für die Konklusion vorbringt, dass es etwas nicht geben könne, sollte sagen können, wovon behauptet wird, dass es dies nicht geben könne. Wer zum Beispiel behauptet, es könne keine absolute Letztbegründung geben, hat solange keine diskussionswürdige Behauptung aufgestellt, bis er antwortet, was denn eine absolute Letztbegründung wäre. Das ist hier nicht anders. Das skeptische Ar4

Obwohl Kripke zu Beginn schreibt, das skeptische Argument „applies to all meaningful uses of language“ (Kripke (1982), S. 7), behandelt er im Folgenden fast ausschließlich das Meinen. Ich folge ihm darin. Obwohl es systematisch sinnvoll wäre, die Abhängigkeiten zwischen Meinen, sprachlicher Bedeutung, Verstehen und begrifflichem Gehalt (den nicht nur sprachliche Ausdrücke, sondern auch mentale Zustände haben können) zu klären, wäre dies doch exegetisch irreführend, da Kripke diese Unterscheidungen nicht thematisiert. In der Literatur ist umstritten, wie weit das skeptische Argument reicht und ob es auf alle Formen begrifflichen Gehalts anwendbar ist. McGinn (1984), S. 144149 bestreitet und Boghossian (1989), S. 509-517 verteidigt dies.

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gument lässt sich nur dann sinnvoll diskutieren, wenn wir wissen, wovon die Existenz bestritten wird. Der erste Schritt des skeptischen Arguments besteht daher darin, eine Ausgangskonzeption des Meinens vorzustellen. Ich spreche hier von einer Ausgangskonzeption, um den Status dieser „Konzeption“ offen zu lassen, d. h. ob es sich dabei um eine ausgewachsene Theorie, eine Proto-Theorie, eine Sammlung von Plattitüden oder nur ein Bild handelt. Da Kripke nicht explizit eine Ausgangskonzeption vorstellt, ist der Inhalt dieser Ausgangskonzeption des Meinens in der Literatur umstritten. Manche Autoren gehen davon aus, dass Kripke dem skeptischen Argument einen möglichst weiten Anwendungsbereich geben wolle und er deshalb als Ausgangskonzeption des Meinens eine minimale, konsensfähige Charakterisierung des Meinens gewählt habe. Sie sollte das am Meinen benennen, was jeder als notwendig fürs Meinen ansieht. Andere Autoren dagegen gehen davon aus, dass das skeptische Argument vor allem gegen philosophische (Fehl-)Konzeptionen oder übertriebene reduktionistische Ambitionen gerichtet sei. Im Allgemeinen nennt man jedoch nicht jede Widerlegung eines philosophischen Fehlers ein skeptisches Argument. Das skeptische Argument verdient diesen Namen nur, wenn es gegen eine Konzeption des Meinens gerichtet ist, die zumindest weit verbreitet ist. Ich kann die Frage, von welcher Konzeption des Meinens Kripkes Wittgenstein ausgeht, an dieser Stelle nicht abschließend beantworten. Zentral sind wenigstens zwei Gedanken, nämlich dass Meinen und Regelfolgen verwandt sind und dass das Verhältnis von Regel zur Anwendung ein normatives ist. Erstens verhält sich das Etwas-mit-einem-Wort-Meinen zum Verwenden dieses Wortes wie das Erfassen einer Regel zum Befolgen dieser Regel. Für das skeptische Argument genügt es, dass es sich hierbei um verwandte Phänomene handelt: In beiden Fällen gibt es etwas Allgemeines (das Meinen, die Regel), das in einer konkreten Situation zur Anwendung kommt. Mit dieser Analogiethese werden weiterreichende Thesen – das Bestehen von Regeln erkläre, wie Wörter eine Bedeutung bekommen; die Bedeutung eines Wortes bestehe in seinen Verwendungsregeln – weder impliziert noch ausgeschlossen. Zweitens betont Kripke eine Eigenschaft der Anwendungsbeziehung, nämlich

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Normativität: Wann immer jemand etwas mit einem Wort meint, kann dieses Wort richtig oder falsch angewendet werden und ob eine bestimmte Verwendung richtig oder falsch ist, hängt nicht von Wünschen, Absichten o. ä. des Sprechers oder irgendwelchen dem Meinen äußerlicher Normen (zum Beispiel der Norm, die Wahrheit zu sagen) ab. Kripke beschreibt diese normative Relation auch so, dass das Meinen (bzw. das Erfassen der Regel) die Anwendung anleiten muss („justify“, „guide“, Kripke (1982), S. 11 u. ö.). In einem zweiten Schritt wird die eigentliche skeptische Herausforderung gestellt. An dieser Stelle kommen Beispiele, die sich am besten aus erstpersonaler Perspektive durchspielen lassen: Sicherlich meine ich mit „plus“ etwas, nämlich die Addition. Angenommen ich frage mich nun, was die Antwort auf „Was ergibt 68 plus 57?“ ist. Wie komme ich von meinem Mit-„plus“-die-Addition-Meinen zur Antwort auf diese Additionsfrage? Warum ist „125“ die richtige Antwort und nicht etwa „5“? Wie bestimmt mein Meinen, welche Antwort richtig ist? Dies sind alles Variationen einer einzigen Frage, der skeptischen Herausforderung. Sie besteht darin, eine von mehreren konkurrierenden Anwendungen auszuwählen bzw. eine der Anwendungen als richtig und alle anderen als falsch zu erweisen. Dieses Verständnis der skeptischen Herausforderung ist nicht konkurrenzlos. Oft wird sie so eingeführt, als gehe es darum, zwischen mehreren Meinenshypothesen zu entscheiden, z. B. ob ich mit „plus“ plus oder quus meine.5 Die skeptische Herausforderung ist aber nicht die Frage, ob ich mit „plus“ plus oder quus meine. Denn erstens ist es triviales disquotationales Wissen, dass ich in der Sprache, die ich jetzt gerade spreche, mit „plus“ plus meine. Nichts – auch kein Argument der Art „die Leiter muss weggeworfen werden“ – wird mich davon abbringen können. Zweitens hülfe eine Antwort auf diese Frage nicht bei der Entscheidung, ob „5“ oder „125“ die richtige Antwort ist. Beim Regelfolgenproblem wird der Übergang von der Regel (oder dem Meinen) zur Anwendung thematisch. Die Frage, ob ich mit „plus“ vielleicht quus meine, ist nur ein Requisit

5

Die Quaddition ist hier die Funktion, die sich von der Addition nur darin unterscheidet, dass sie 68 und 57 auf 5 abbildet.

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bei der Einführung der skeptischen Herausforderung und nicht selber schon die skeptische Herausforderung.6 In einem dritten Schritt will Kripkes Wittgenstein zeigen, dass sich die skeptische Herausforderung nicht beantworten lässt, d. h. er will zeigen, dass keine These der Art (L) „125“ ist die richtige Antwort auf „68 plus 57=?“, weil … richtig ist. Dies geschieht in Form einer Diskussion von sieben (je nach Zählung auch mehr oder weniger) Antwortmöglichkeiten: dem Fortsetzungsmodell (Kripke (1982), S. 8–11), dem Instruktionsmodell (ebd., S. 15–18), dem Dispositionalismus und dem Maschinenmodell (Ebd., 22–37), dem Einfachheitsmodell (ebd., 37–39), dem Qualiamodell (ebd., 40–51), dem Primitivismus (ebd., 51–53) und dem Platonismus (ebd., 53–54). Darauf, welche Einwände Kripkes Wittgenstein gegen diese Antworten vorbringt, gehe ich hier nicht weiter ein. In einem vierten Schritt wird aus dem Scheitern der Versuche die skeptische Konklusion gezogen: (SK) Es ist unmöglich, dass jemand etwas mit einem Wort meint.7 6

Nur wenn die skeptische Herausforderung genau formuliert wird, lässt sie sich das Regelfolgenproblem von anderen, oberflächlich verwandten Problemen abgrenzen. So unterscheidet sich das Regelfolgenproblem von altbekannten Problemen mit Intentionalität oder von Quines Bedeutungsskeptizismus dadurch, dass es weder darum geht, wie sich ein Wort auf einen Gegenstand beziehen kann, noch darum, ob und wie zwischen den Hypothesen, „gavagai“ bedeute Kaninchen und „gavagai“ bedeute unabgetrennte Kaninchenteile, entschieden werden kann. Leider ist auch Kripke in diesem Punkt nicht gerade genau. 7 Bei Kripke heißt es: „There can be no such thing as meaning anything by any word.“ (Kripke (1982), S. 55). Viele Autoren formulieren die skeptische Konklusion anders, nämlich als eine These über Tatsachen, etwa: (SKT) Es gibt keine Meinenstatsachen. Dies folgt zwar aus (SK), aber das Umgekehrte wird – so meine These – von Kripkes Wittgenstein bestritten (siehe Abs. 3).

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Wenn keine der Antwortmöglichkeiten die skeptische Herausforderung beantworten kann und keine weitere Antwortmöglichkeit in Sicht ist, bleibt nur die Konklusion, dass die skeptische Herausforderung nicht beantwortet werden kann.8 Nun stellt die skeptische Konklusion jedoch offenkundig ein Problem dar: Sie ist verrückt, schlimmer noch, sie ist (performativ) selbstwiderlegend (vgl. Kripke (1982), S. 22, S. 60, S. 71): Wenn sie wahr ist, kann man mit einer Äußerung von „Niemand meint jemals etwas“ nichts meinen. Wenn es gelingt, mit der skeptischen Konklusion etwas zu meinen, ist sie falsch. Damit haben wir alle Materialien für ein Paradox beisammen: Ein zumindest nicht offensichtlich mit logischen Fehlern behaftetes Argument mit zumindest einigermaßen plausiblen Prämissen führt zu einer inakzeptablen Konklusion. Deshalb muss in einem fünften Schritt ein Weg gefunden werden, mit dieser Konklusion umzugehen. Während die meisten Kommentatoren das Paradox zurückweisen, indem sie entweder auf eine weitere, von Kripke angeblich übersehene Antwort auf die skeptische Herausforderung hinweisen oder eine der von Kripke attackierten Bedeutungstheorien gegen seine Einwände zu retten versuchen, wählt Kripkes Wittgenstein einen anderen Weg: Im Unterschied zu solchen direkten Lösungen entwickelt er eine skeptische Lösung. Dabei soll es sich um einen Typ von Lösung handeln, der in irgendeinem noch zu klärenden Sinn der skeptischen Konklusion zustimmt. Der Frage, was es mit dieser skeptischen Lösung auf sich hat, werde ich im Folgenden nachgehen.

8

Es ist jedoch keineswegs offensichtlich, wie nach Kripke die skeptische Konklusion aus dem dritten Schritt folgen soll. Denn wie kann aus dem Scheitern einiger Versuche auf eine negative Existenzaussage geschlossen werden? Insbesondere Hattiangadi baut ihre Rekonstruktion des skeptischen Arguments auf diese Frage auf, vgl. Hattiangadi (2007).

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2. Die skeptische Lösung Die Schwierigkeiten, vor die uns Kripkes Wittgensteins skeptische Lösung stellt, beruhen insbesondere darauf, dass unter den Interpreten noch nicht einmal Konsens besteht, was überhaupt eine skeptische Lösung ausmacht. Kripke wendet viele Seiten dafür auf, diese Frage zu beantworten (Kripke (1982), S. 60-86), doch bei genauerer Lektüre zeigt sich – so meine These –, dass Kripke der Sache nach zwei bis drei verschiedene Antworten gibt: Er gibt einerseits eine allgemeine Charakterisierung (Kripke (1982), S. 66 f.), andererseits zwei inhaltlich divergierende Ausgestaltungen, nämlich erstens eine, die Wittgenstein mit Hume und Berkeley vergleicht (Kripke (1982), S. 62-69), und zweitens eine, die auf der Unterscheidung zwischen wahrheitskonditionalen und berechtigungskonditionalen Bedeutungstheorien beruht (Kripke (1982), S. 71-86). Jede Rekonstruktion der skeptischen Lösung muss erklären können, wie die beiden Momente – einerseits der Vergleich mit Hume und Berkeley, andererseits die Neuorientierung der Semantik in Richtung Berechtigungsbedingungen – zusammenhängen. Schlüssel zu meiner Interpretation wird dabei sein, dass der Vergleich der skeptischen Lösung mit denjenigen von Hume und Berkeley lediglich der Vorbereitung und Motivation dient. Wir erfahren erst dann, was den Kern der skeptischen Lösung ausmacht, wenn Kripke die Frage beantwortet, wie Wittgenstein der „self-defeating conclusion“ (Kripke (1982), S. 71) – auf die er festgelegt wäre, wenn er es bei einem Hume-Berkeley-Manöver belassen würde – entgehen kann, dass alle Sprache sinnlos ist.

2.1. Kripkes allgemeine Charakterisierung Im Rahmen der Darstellung von Humes skeptischer Lösung des Kausalitätsproblem und Berkeleys Theorie der Materie gibt Kripke auch eine allgemeine Charakterisierung des Unterschieds zwischen direkten und skeptischen Lösungen (vgl. Kripke (1982), S. 66 f.): Eine direkte Lösung, so Kripke, beantwortet die skeptische Herausforderung. Im Fall des Regelfolgenproblem beantwortet sie also die

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Frage, warum „125“ und nicht etwa „5“ die richtige Antwort auf „68 plus 57=?“ ist, und hält dabei an der Ausgangskonzeption des Meinens fest. Eine skeptische Lösung dagegen „begins on the contrary by conceding that the sceptic’s negative assertions are unanswerable“ (Kripke (1982), S. 66, vgl. S. 68). Irgendetwas wird dem skeptischen Argument zugestanden, allerdings nur eine negative These. Trotzdem soll es sich irgendwie auch um eine Lösung handeln. Wie dies alles möglich sein soll, bedarf freilich einer Erklärung: Nevertheless our ordinary practice or belief is justified because – contrary appearances notwithstanding – it need not require the justification the sceptic has shown to be untenable. And much of the value of the sceptical argument consists precisely in the fact that he has shown that an ordinary practice, if it is to be defended at all, cannot be defended in a certain way. A sceptical solution may also involve […] a sceptical analysis or account of ordinary beliefs to rebut their prima facie reference to a metaphysical absurdity.9

Obwohl hier einige wichtige Eigenschaften einer skeptischen Lösung genannt werden, wirft diese Erläuterung auch eine Reihe von Fragen auf: Erstens schwankt Kripke in seinen Auskünften, was der Gegenstand der Diskussion ist. Obwohl die skeptische Herausforderung nicht unsere „ordinary practice“ oder unsere „ordinary beliefs“ betrifft, sind gerade diese der Gegenstand einer skeptischen Lösung. Direkte und skeptische Lösungen haben daher nicht den gleichen Gegenstand: Während das skeptische Argument ein Phänomen wie das Meinen, Kausalität o. ä. betrifft, behandelt die skeptische Lösung vorrangig oder ausschließlich unser Reden und Denken über dieses Phänomen (Meinenszuschreibungen, Kausalitätsurteile o. ä.). Dieser Wechsel des Gegenstands bedarf einer Erklärung. Kripke sieht zweitens den Wert des skeptischen Arguments darin, auf die Notwendigkeit einer anderen Weise der Verteidigung hinzuweisen. Worin diese andere Weise der Verteidigung bestehen soll, benennt er hier jedoch nicht. Es handelt sich hierbei um einen Platzhalter, der von unterschiedlichen inhaltlichen Konkretisierungen unterschiedlich zu fül9

Kripke (1982), S. 67, m. H.; vgl. S. 77.

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len ist. Drittens weist Kripke darauf hin, dass die skeptische Lösung möglicherweise eine skeptische Analyse beinhaltet, d. h. von einem anderen Verständnis von z. B. dem Meinen ausgeht als das skeptische Argument. Dabei handelt es sich jedoch dem Anschein nach um einen optionalen Teil einer skeptischen Lösung („may also“). Viertens lässt das Zitat offen, was denn die negativen Thesen der Skeptikerin besagen, denen eine skeptische Lösung beipflichtet. Es kann kaum gemeint sein, dass der skeptischen Konklusion rundheraus zugestimmt wird, da dann eine skeptische Lösung gar keine Lösung wäre. Offenkundig erlaubt es die allgemeine Charakterisierung alleine nicht, diese Fragen zu beantworten. Schauen wir uns daher die beiden inhaltlichen Konkretisierungen des Unternehmens einer skeptischen Lösung an!

2.2. Der Vergleich mit Hume und Berkeley Kripkes Vergleich von Wittgenstein mit Hume und Berkeley ist gleich aus mehreren Gründen nicht leicht zu entschlüsseln. Ein erster Grund ist, dass Kripke zufolge die Gemeinsamkeiten zwischen Hume und Wittgenstein „obvious“ sind (Kripke (1982), S. 63) und er es deshalb an einigen Passagen bei unerläuterten Gemeinplätzen belässt. Ein zweiter Grund ist, dass Kripke den Terminus „skeptische Lösung“ von Hume übernimmt, aber Berkeley „who did not regard his own views as sceptical“ für „an even better analogy“ hält (Kripke (1982), S. 64). Ein dritter Grund ist, dass Humes skeptische Antwort auf seine Kausalitätszweifel genauso interpretationsbedürtig ist wie Kripkes Wittgensteins skeptische Lösung. Trotz dieser Schwierigkeiten will ich versuchen, Kripkes Verständnis von Hume und Berkeley auf den Punkt zu bringen: Hume selber nennt seine Lösung des Kausalitätsproblems eine „skeptische“ Lösung. Kripke gibt deren Hauptaussagen wie folgt wieder (vgl. Kripke (1982), S. 62-64, S. 67 f.): Hume stimmt dem skeptischen Argument bezüglich Kausalität zu: Das skeptische Argument zeige erfolgreich, dass es keine notwendige Verbindung

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zwischen Ereignissen gibt. Aber auch wenn es Kausalität-alsnotwendige-Verbindung nicht gibt, müssten wir auf Kausalaussagen nicht verzichten. Wir können Kausalität auch – das ist die skeptische Analyse – im Sinne einer Kausalität-als-Regularität verstehen.10 Der Wechsel im Kausalitätsverständnis ist jedoch nicht ohne Kosten; akzeptiert man das Verständnis von Kausalität als Regularität muss man auch der These zustimmen, dass singuläre Kausalität unmöglich ist. Ein ähnliches Argumentmuster erkennt Kripke in Berkeleys Thesen über Materie wieder (Kripke (1982), S. 64 f.). Auch hier liege der Schlüssel zur skeptischen Lösung in einer skeptischen Analyse. Berkeley bezweifelt, dass es Materie als etwas unabhängig von unseren Wahrnehmungen Bestehendes gibt, aber er bezweifelt auch, dass unsere gewöhnlichen Meinungen uns überhaupt auf die Existenz von Materie in diesem Sinn festlegen. Berkeley weise also im Kern eine philosophische Fehlinterpretation des common sense oder der Alltagssprache zurück. Hieraus ergibt sich folgendes Bild einer skeptischen Lösung: Ein skeptisches Argument bezüglich A beginnt mit einer Analyse von A, d. h. mit einer These der Form, es gebe kein A (z. B. Kausalität) ohne X (z. B. notwendige Verbindung). Nun findet sich aber kein X. Um der Konklusion zu entgehen, A sei unmöglich, wird das Argument als reductio ad absurdum verstanden. Die Analyse, von der das skeptische Argument ausgeht, müsse zurückgewiesen und durch eine skeptische Analyse ersetzt werden. Es könne sehr wohl A ohne X geben; Y genüge für A. Diese skeptische Interpretation von A bringt jedoch Kosten mit sich. Manche Fälle von A sind gemäß der neuen, skeptischen Analyse nicht möglich (z. B. singuläre Kausalität). Die skeptische Lösung impliziert daher, dass etwas, das zunächst für möglich gehalten wurde, in Wirklichkeit unmöglich ist; 10

Humes Regularitätsanalyse von Kausalität kann auf (mind.) zwei verschiedene Weisen verstanden werden: Ist seine Regularitätsanalyse ein Ersatz für einen Alltagsbegriff, der sich als untauglich erweist? Oder behauptet Hume, dass wir insgeheim nie etwas anderes als Regularität mit „verursachen“ gemeint haben? Kripke tendiert zu der zweiten Lesart: „To say of a particular event a that it caused another event b is […]“ (Kripke (1982), S. 67, m. H.).

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deshalb ist sie eine skeptische Lösung. Sie ist dennoch eine Lösung, weil sie eine Analyse des Phänomens anbietet, nach der es dieses Phänomen sehr wohl gibt. Es ist reizvoll, Kripkes Wittgensteins skeptische Lösung nach diesem Muster zu verstehen. Da das skeptische Argument ein Paradox ist, d. h. ein Argument, das zu einer inakzeptablen Konklusion führt, liegt es nahe, das skeptische Argument als reductio zu lesen. Gemäß dieser Lesart besteht es im Kern in der Zurückweisung eines falschen Verständnisses des Meinens (vgl. Stegmüller (1989), S. 5-9; Wilson (1994), (1998), (2003); Kusch (2006) Kap. 1). Diese Lesart weist einige Vorteile auf: So kann sie die Frage beantworten, was die negativen Behauptungen sind, die der Skeptikerin zugestanden werden. Der Skeptikerin wird zugestanden, dass es Meinen-imSinne-der-Ausgangskonzeption nicht gibt. Dies ist aber ein bloß negatives Zugeständnis, da daraus gerade nicht folgt, dass es kein Meinen gibt. Skeptisch-analysiertes-Meinen gebe es sehr wohl.

2.3. Gegen die Lesart als reductio Dennoch kann diese Lesart der skeptischen Lösung aus systematischen und exegetischen Gründen nicht überzeugen. Gemäß der reductio-Lesart beruht die skeptische Lösung auf einem Wechsel des Themas. Es wird nicht das Meinen auf andere, skeptische Weise verteidigt; es wird etwas anderes verteidigt. Aber wenn die skeptische Lösung in einem Wechsel des Themas bestünde, dann würde es sich nicht um eine wirklich skeptische Position handeln und der Wechsel von Wahrheits- zu Berechtigungsbedingungen wäre überflüssig und unmotiviert. Denn wenn der Witz der skeptischen Lösung in einer Revision unseres Verständnisses des Meinens zu sehen wäre, dann müsste die skeptische Frage erneut gestellt werden – eben unter Berücksichtigung der revidierten Konzeption des Meinen. Kripke müsste zeigen, dass die direkten Lösungsversuche, die er im zweiten Kapitel zurückweist, auch als Theorien des skeptisch analysierten Meinens zurückzuweisen sind. Nur weil der Dispositionalismus der ursprünglichen Konzeption des Meinens nicht gerecht wird, muss er

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nicht auch als Theorie des Meinens im revidierten Verständnis versagen. Dass es in Kripkes Text nicht ansatzweise den Versuch gibt, dies zu zeigen, ist ein gutes Indiz dafür, dass die skeptische Lösung nicht die Ausgangskonzeption des Meinens durch eine andere Analyse des Meinen ersetzt.11 Wie kommt es dann zu dem Wechsel von Wahrheits- zu Berechtigungsbedingungen? Warum setzt Kripke nach „we merely wish to deny the existence of the ‘superlative fact’ that philosophers misleadingly attach to [meaning ascriptions, T. K.]“ (Kripke (1982), S. 69) nicht einfach damit fort, dass er das philosophische Missverständnis explizit macht und es ein für alle Mal in den Giftschrank verbannt? Kripke ist zum einen grundsätzlich kritisch eingestellt gegen diese Art philosophischen Argumentierens,12 zum anderen weist er darauf hin, dass Wittgenstein große Schwierigkeiten habe zu sagen, welchen Teil der Ausgangskonzeption des Meinens er denn zurückweist. Gemäß der reductio-Lesart ist dies jedoch der zentrale Bestandteil der skeptischen Lösung: Man deckt eine Annahme übers Meinen auf, die von dem skeptischen Argument als unhaltbar erwiesen wird. Gerade dies gelingt Wittgenstein jedoch nicht: Whenever our opponent insists on the perfect propriety of an ordinary form of expression (e.g. that ‘the steps are determined by the formula’, ‘the future application is already present’), we can insist that if these expressions are properly understood, we agree. The danger comes when we try to give a precise formulation of exactly what it is that we are denying – what ‘erroneous interpretation’ our opponent is placing on ordinary means of expression.13

Wenn man aber nicht sagen kann, was man zurückweist, dann weist man nichts zurück. Wenn Kripke nicht sagen kann, welche Annahme 11

Ein weiteres Indiz ist folgendes Zitat: „Wittgenstein makes a Berkeleyan claim of this kind. For – as we shall see – his solution to his own sceptical problem begins by agreeing with the sceptics that there is no ‘superlative fact’ […].“ (Kripke (1982), S. 65, m. H.). Wenn die skeptische Lösung mit einem Berkeley-Manöver beginnt, kann sie sich nicht auf ein solches beschränken. 12 Er schreibt: „Personally I think such philosophical claims are almost invariably suspect.“ (Kripke (1982), S. 65, m. H.; vgl. S. 66). 13 Kripke (1982), S. 70.

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übers Meinen Wittgenstein zurückweist, dann gibt es keine Annahme, die von Kripkes Wittgenstein zurückgewiesen wird. An dieser Stelle regt sich leicht ein Einwand: Die Unterscheidung zwischen einem wahrheitskonditionalen und einem berechtigungskonditionalen Verständnis des Meinens könne doch diese Rolle übernehmen. Was Kripkes Wittgenstein als falsche Annahme zurückweise, sei die These, die Bedeutung eines Satzes bestünde in seinen Wahrheitsbedingungen. Doch weder wird dies dem Kontext der Passage gerecht – die Unterscheidung wird als Antwort auf das Problem des drohenden Selbstwiderspruchs eingeführt –, noch ist es der Sache nach plausibel, in dieser Unterscheidung das Missverständnis zu sehen. Der bloße Wechsel von Wahrheits- zu Berechtigungsbedingungen hilft aus zwei Gründen nicht, die skeptische Herausforderung zu beantworten. Zum einen sollte dann, wie bereits angemerkt, eine direkte Antwort auf die Frage möglich sein, welche Tatsache dafür sorgt, dass z. B. Meier mit „plus“ plus meint. So könnte Übereinstimmung mit anderen Sprecher Berechtigung konstituieren und somit die Tatsache sein, die dafür sorgt, dass Meier mit „plus“ plus meint. Zum anderen würde die Frage nur verschoben werden. Wenn das, was man meint, in den Wahrheitsbedingungen besteht, läuft die Frage, was ich mit „plus“ meine (oder: warum die Antwort „125“ richtig ist), auf die Frage hinaus, welche Wahrheitsbedingungen meine „plus“-Äußerungen haben (oder: warum die Antwort „125“ wahr ist). Wenn das, was man meint, in den Berechtigungsbedingungen besteht, läuft die Frage, was ich mit „plus“-Äußerungen meine (oder: warum meine Antwort „125“ richtig ist), auf die Frage hinaus, welche Berechtigungsbedingungen meine „plus“-Äußerungen haben (oder: warum meine Antwort „125“ berechtigt ist). Mit dem Regelfolgenproblem im Hintergrund ist nicht zu sehen, warum die zweite Frage leichter zu beantworten sein sollte als die erste. Aus diesen Gründen plädiere ich dafür, die skeptische Lösung nicht als eine reductio ad absurdum der Ausgangskonzeption zu lesen. Die Unterscheidung zwischen wahrheitskonditionalen und berechtigungskonditionalen Konzeptionen des Meinens muss daher eine andere Rolle einnehmen. Direkte und skeptische Lösungen unterscheiden sich nicht darin, dass sie jeweils eine andere Frage be-

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antworten, sondern darin, dass sie die skeptische Herausforderung auf unterschiedliche Weise beantworten. Kripkes Wittgenstein setzt nicht bei inhaltlichen Thesen übers Meinen an, sondern an der philosophischen Methode, mit der das Meinen üblicherweise untersucht wird.

2.4. Eine andere Art der Verteidigung Auf den folgenden Seiten unternimmt Kripke daher einen neuen Anlauf, die wesentlichen Merkmale einer skeptischen Lösung kenntlich zu machen (Kripke (1982), S. 70-86). Nachdem Kripke zu dem Ergebnis gekommen ist, dass Wittgenstein nicht sagen kann, welche Annahme übers Meinen er ablehnt, setzt Kripke mit einem Absatz fort, der zu den am häufigsten zitierten, aber auch umstrittensten in der Literatur zu Kripkes Wittgenstein gehört: So Wittgenstein, perhaps cagily, might well disapprove of the straightforward formulation given here. Nevertheless I choose to be so bold as to say: Wittgenstein holds, with the sceptic, that there is no fact as to whether I mean plus or quus. But if this is to be conceded to the sceptic, […] has not the incredible and self-defeating conclusion, that all language is meaningless, already been drawn?14

Obwohl Wittgenstein unbestreitbar oft zu Hume-Berkeley-Manövern tendiert – d. h. philosophische Missverständnisse aufzudecken versucht –, kann dies nach Kripke nicht der Kern der skeptischen Lösung sein. Sofern er das skeptische Problem überhaupt löst, muss Wittgenstein etwas anderes oder mehr behaupten – auch wenn er das nie zugegeben hätte. Dieses Mehr ist nicht die Entlarvung einer weiteren, besonders tiefgreifenden Annahme übers Meinen. Es genügt nicht zu konzedieren, dass es kein Meinen gibt, wenn Meinen im Sinne der Ausgangskonzeption verstanden wird, sondern es muss der Skeptikerin wirklich zugestanden werden, dass es keine Meinenstatsachen gibt. Dies ist ein neues Thema: Im Rahmen des Vergleichs mit Hume und Berkeley war an keiner Stelle die Rede davon, dass es 14

Kripke (1982), S. 70 f.

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keine Meinenstatsachen gebe. Ganz im Gegenteil, man müsse nur den Begriff des Meinens von philosophischen Missverständnissen befreien, um die wahre Natur von Meinenstatsachen zu erkennen. Die These, „that there is no fact as to whether I mean plus or quus“, kann jedoch nur einen ersten Anlauf darstellen, die skeptische Lösung zu charakterisieren. Denn dieser Satz kann nicht ohne Erläuterung stehen bleiben, worauf Kripke mit der Frage hinweist, ob Wittgenstein mit dieser These nicht auf die Konklusion festgelegt sei, dass alle Sprache bedeutungslos ist. Wenn diese Folgerungsbeziehung tatsächlich besteht, dann folgt aus der These, dass es keine Meinenstatsachen gibt, die selbstwiderlegende skeptische Konklusion, dass niemals jemand etwas meint. Auf den folgenden Seiten (Kripke (1982), S. 71-78) erläutert Kripke, wie die Keine-TatsacheThese verstanden werden kann, ohne damit auf die skeptische Konklusion festgelegt zu sein. Er sieht den Schlüssel zum Verständnis von Wittgensteins skeptischer Lösung in dessen Wende von einem wahrheitskonditionalen Bild der Sprache (im Tractatus) zu einem Bild der Sprache, das sich auf Berechtigungsbedingungen stützt (in den Philosophischen Untersuchungen): Der Tractatus behandelt alle Indikative gleich. Ihre Funktion ist es, die Wirklichkeit zu beschreiben, sie sogar „abzubilden“. Ausgehend von dieser Funktion lässt sich die Bedeutung von Behauptungssätzen erklären. Man erklärt ihre Bedeutung, indem man ausfindig macht, was der Fall sein muss, damit sie wahr sind (vgl. Kripke (1982), S. 71 f.). Die Philosophischen Untersuchungen dagegen sehen weder Behauptungssätze als primär an, noch akzeptieren sie, dass alle Behauptungssätze die gleiche Funktion hätten und diese Funktion im Konstatieren von Tatsachen bestünde. Daher lässt sich ihre Bedeutung auch nicht ausgehend von dieser Funktion erklären (vgl. 73 f.). Es geht also um die Frage, worin die Bedeutung eines (Behauptungs-)Satzes besteht und wie sie erklärt werden kann. Wenn die Bedeutung eines Satzes nicht in seinen Wahrheitsbedingungen besteht, worin besteht sie dann? Wittgenstein replaces the question, “What must be the case for this sentence to be true?” by two others: first, “Under what conditions may this form of words be appropriately asserted (or denied)?”; second, given an answer to the first question, “What is the role, and the utility, in our

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lives of our practice of asserting (or denying) the form of words under these conditions?”15

Eine eindeutige Antwort auf die Frage, was die Bedeutung eines Satzes ist, erhalten wir hier nicht. Statt die Frage zu beantworten, ersetzt Kripkes Wittgenstein die Frage durch zwei andere Fragen. Obwohl Kripke die erste Frage auch die Frage nach den Behauptbarkeitsbedingungen nennt, sollten diese Bedingungen nicht voreilig mit Behauptbarkeitsbedingungen im Sinne des Verifikationismus der Logischen Empiristen oder des Dummettschen Antirealismus identifiziert werden. Um offen zu lassen, ob es sich bei Kripkes Wittgensteins und Dummetts „assertability conditions“ um das Gleiche handelt, verwende ich den Terminus „Berechtigungsbedingungen“ und nicht „Behauptbarkeitsbedingungen“. Kripkes Wittgenstein fragt in der Tat nach den Bedingungen, unter denen die Äußerung eines Behauptungssatzes berechtigt ist, aber damit ist noch nicht entschieden, ob diese Sätze zusätzlich auch Wahrheitsbedingungen haben und ob eine berechtigte Äußerung falsch sein kann. Mit der zweiten Frage spricht Kripke Rolle, Funktion und Nutzen eines Sprachspiels an. Ich spreche im Folgenden abkürzend von „Rolle“.

2.5. Zwischenfazit Es hat sich gezeigt, dass sich bei Kripke zwei gegenläufige Charakterisierungen einer skeptischen Lösung finden. Versteht man eine skeptische Lösung nach dem Muster von Hume und Berkeley, so lässt sich das Folgende festhalten: Die skeptische Lösung stimmt mit dem skeptischen Argument darin überein, dass im Sinne der Ausgangskonzeption niemals jemand etwas meint. Sobald jedoch die Ausgangskonzeption des Meinens gegen eine skeptische Konzeption des Meinens ersetzt wird, lässt sich das Meinen gegen das skeptische Argument verteidigen. So lässt sich u. a. eine substantielle Antwort auf die Frage geben, welche Tatsachen dafür sorgen, dass jemand etwas meint (z. B. die Tatsache, dass eine Sprachgemeinschaft über15

Kripke (1982), S. 73; vgl. S. 86, S. 108 und S. 134.

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einstimmende Äußerungen akzeptiert). Versteht man dagegen die skeptische Lösung ausgehend von der Abkehr von Wahrheitsbedingungen, wird die Ausgangskonzeption des Meinens nicht angetastet. Das Besondere an solch einer Lösung besteht darin, der Frage nach Meinenstatsachen auszuweichen und stattdessen eine andere Frage zu beantworten, nämlich die Frage, unter welchen Umständen Meinenszuschreibungen berechtigt sind. Die negative These, der die skeptische Lösung zustimmt, ist die These, dass sich keine Meinenstatsachen finden lassen. Die positive These, mit der die skeptische Lösung von einem vollblütigen Skeptizismus abweicht, ist die These, dass Meinenszuschreibungen, obwohl es keine Meinenstatsachen gibt, dennoch oft berechtigt sind.

3. Meinenstatsachen Mit dieser Zusammenfassung von Kripkes Wittgensteins Projekt einer skeptischen Lösung ist eine der im vorherigen Abschnitt aufgeworfenen Fragen jedoch noch nicht beantwortet: Kripke schreibt Wittgenstein die These zu, es gebe keine Meinenstatsachen: „there is no fact as to whether I mean plus or quus“ (Kripke (1982), S. 71).16 16

Dies ist nicht die einzige Stelle, an der Kripke Wittgenstein die KeineTatsache-These zuschreibt (vgl. die Listen in Davies (1998), S. 122 f.; Kremer (2000), S. 573 f. und Kusch (2006), S. 149-151): Recall Wittgenstein’s sceptical conclusion: no facts, no truth conditions correspond to statements such as “Jones means addition by ‘+’.” (Kripke (1982), S. 77) Wittgenstein’s sceptical solution concedes to the sceptic that no ‘truth conditions’ or ‘corresponding facts’ in the world exist that make a statement like “Jones, like many of us, means addition by ‘+’” true. (Kripke (1982), S. 86) The paradox can be resolved only by means of a ‘sceptical solution of these doubts’ […]. This means that we must give up the attempt to find any fact about me in virtue of which I mean ‘plus’ rather than ‘quus’. (Kripke (1982), S. 108).

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Doch wie kann Kripkes Wittgenstein damit nicht auf die selbstwiderlegende skeptische Konklusion festgelegt sein, dass niemand jemals etwas mit einem Wort meint? Ausgehend von der eben zitierten Stelle (Kripke (1982), S. 70 f.) gehen die meisten Interpreten davon aus, dass die skeptische Lösung auf einem Non-Faktualismus übers Meinen aufbaut. Gemäß dieser Standardinterpretation kann Kripkes Wittgenstein behaupten, dass es keine Meinenstatsachen gibt, weil ihm zufolge Meinenszuschreibungen gar keine wahrheitswertfähigen Äußerungen sind. Da die skeptische Konklusion gar keine wahrheitswertfähige Aussage ist, kann sie weder wahr noch falsch sein. Obwohl die eben zitierte Stelle prima facie kaum Raum für Diskussion lässt, wird die Frage, ob Kripkes Wittgenstein wirklich einen Non-Faktualismus vertritt, in der neueren Literatur zur skeptischen Lösung kontrovers diskutiert.17 Dafür ist vor allem eine Stelle verantwortlich, nämlich der Absatz, in dem Kripke Wittgenstein eine Redundanztheorie der Wahrheit und eine Redundanztheorie von Tatsachen zuschreibt:18

17

Der Terminus „Non-Faktualismus“ wurde von Boghossian eingeführt, vgl. Boghossian (1989), S. 517. Für eine faktualistische Lesart werben Wilson (1994), (1998), (2003), Byrne (1996), Davies (1998) und Kusch (2006), Kap. 5. Explizite Verteidigungen des non-faktualistischen Lesart angesichts der Argumente für eine faktualistische Lesart gibt es wenige, vgl. jedoch Kremer (2000), Khlentzos (2004), S. 296-320, Hattiangadi (2007), Kap. 4, Miller (2007), S. 191-201. . Man beachte, dass ich unter dem Non-Faktualismus die These verstehe, dass es keine Tatsachen eines bestimmten Typs gibt, und nicht (wie oft in der Literatur) die These, dass Sätze eines bestimmten Typs nicht wahrheitswertfähig ist. Die zweite These ist nur eine von verschiedenen Formen, die der Non-Faktualismus annehmen kann (siehe unten). 18 Vgl. Byrne (1996), S. 341 f., Davies (1998), S. 130, Soames (1998) S. 319322, Kusch (2006), S. 169. Eine weitere oft für die faktualistische Lesart herangezogene Stelle befindet sich im zweiten Kapitel (vgl. Byrne (1996), S. 342, Kusch (2006), S.159): Kripke diskutiert dort den Vorschlag, Meinen sei ein mentaler Zustand sui generis: „Such a move may in a sense be irrefutable, and if it is taken in an appropriate way Wittgenstein may even accept it.“ (Kripke (1982), S. 51). Wenn Kripkes Wittgenstein jedoch die Existenz eines primitiven mentalen Zustand des Meinens zugesteht, dann sollte er, so Byrne und Kusch, auch zugestehen, dass es Meinenstatsachen gibt.

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Tim Kraft Wittgenstein accepts the ‘redundancy’ theory of truth: to affirm that a statement is true (or presumably, to precede it with ‘It is a fact that …’) is simply to affirm the statement itself.19

Nicht nur vertritt Kripkes Wittgenstein eine Redundanztheorie der Wahrheit und von Tatsachen. Er vertritt auch eine minimalistische Auffassung von Wahrheitswertfähigkeit: We call something a proposition, and hence true or false, when in our language we apply the calculus of truth functions to it. That is, it is just a primitive part of our language game, not susceptible of deeper explanation, that truth functions are applied to certain sentences.20

Nimmt man diese beiden Zitate zusammen, scheint Kripkes Wittgenstein sich hier selbst zu widersprechen: Laut S. 70 f. meinen wir manchmal etwas mit einem Wort, obwohl es keine Meinenstatsachen gibt. Einen anderen Eindruck vermittelt S. 86: Aus dem zweiten Zitat ergibt sich, dass Meinenszuschreibungen wahrheitswertfähig sind, schließlich nennen wir sie wahr und falsch. Gemäß dem ersten Zitat ist „es ist eine Tatsache, dass p“ synonym oder wenigstens notwendig äquivalent mit „p“. Dann ist es aber, wenn Meier mit „plus“ plus meint, auch eine Tatsache, dass Meier mit „plus“ plus meint. Sofern überhaupt jemals jemand etwas mit einem Wort meint, ist es also auch eine Tatsache, dass dies so ist. Und wenn es eine Tatsache ist, dass z. B. Meier mit „plus“ plus meint, dann gibt es auch die Tatsache, dass Meier mit „plus“ plus meint. Damit ist der

19

Kripke (1982), S. 86. Da Kripke „redundancy“ in Anführungszeichen setzt, werde ich das Label „Redundanztheorie“ nicht wörtlich nehmen. Da zum Zeitpunkt des Erscheinens von Kripkes Wittgensteinbuch weder der Terminus „deflationär“ gebräuchlich war, noch die verschiedenen Formen deflationärer Wahrheitstheorien unterschieden wurden, ist es wahrscheinlich, dass Kripke Wittgenstein mit dem Terminus „Redundanztheorie“ eine, wie wir heute sagen würden, deflationäre Auffassung zuschreiben möchte, ohne ihm auch die darüber hinausgehende These zuschreiben zu wollen, das Wort „wahr“ sei redundant, d. h. trage zur Bedeutung von Sätzen, in denen es vorkommt, nichts bei. (Zu Geschichte und Bedeutung von „deflationär“ siehe Rami (2009), S. 15-50.) 20 Kripke (1982), S. 86.

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Widerspruch offen gelegt: Es gibt Meinenstatsachen (laut Kripke (1982), S. 86) und es gibt sie nicht (laut Kripke (1982), S. 70 f.). Jede Interpretation der skeptischen Lösung muss daher zwei miteinander zusammenhängende Fragen beantworten: Erstens, wie kann Kripkes Wittgenstein verhindern, mit der These, es gebe keine Meinenstatsachen, zur Akzeptanz der skeptischen Konklusion gezwungen zu sein? Zweitens, wie lässt sich die These, es gebe keine Meinenstatsachen, mit einer Redundanztheorie von Tatsachen vereinbaren?

3.1.Optionen Da sich nahezu alle Interpretationsschwierigkeiten mit Kripkes Wittgenstein auf diese Fragen zurückführen lassen, ist eine Übersicht über die Optionen hilfreich. Eine erste Einteilung kann anhand der Frage, ob Kripkes Wittgenstein wirklich vertritt, dass es keine Meinenstatsachen gibt, vorgenommen werden. Wer diese Frage bejaht, schreibt Kripkes Wittgenstein einen Non-Faktualismus zu; wer sie verneint, dagegen einen Faktualismus.21 Die non-faktualistische Lesart fächert sich in einige Unteroptionen auf. Man kann diese durch die Antworten auf die Frage, warum es ihnen zufolge keine Meinenstatsachen gibt, einteilen. Eine erste Antwort gibt die Irrtumstheorie: Weil alle Meinenszuschreibungen falsch sind. Falschen Sätzen entspricht keine Tatsache, also gibt es keine Meinenstatsachen. Auf die Irrtumstheorie gehe ich jedoch nicht weiter ein, da die Irrtumstheorie offenkundig nicht zu den Intentionen von Kripkes Wittgenstein passt.22 Eine zweite Antwort gibt der Non-Deskriptivismus: Weil Meinenszuschreibungen nicht 21

In der Literatur wird die Bezeichnung „Non-Faktualismus“ oft für die Position reserviert, die ich unten „Non-Deskriptivismus“ nenne. Das ist unglücklich, weil dadurch andere Formen des Non-Faktualismus übergangen werden. 22 Die Irrtumstheorie führt unmittelbar in die skeptische Konklusion: Wenn alle Meinenszuschreibungen falsch sind, dann meint niemand etwas mit einem Wort. Doch diese Konklusion ist Kripke zufolge inakzeptabel: Wittgenstein „does not wish to leave us with his problem, but to solve it“ (Kripke (1982), S. 60).

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wahrheitswertfähig sind.23 Sätzen, die nicht wahr oder falsch sein können, entspricht keine Tatsache, also gibt es keine Meinenstatsachen. Eine dritte Antwort möchte ich neu in die Debatte einführen. Sie geht von der Redundanztheorie von Tatsachen aus: Weil „es ist eine Tatsache, dass …“ redundant ist. Redundante Teilausdrücke eines Satzes generieren keine ontologischen Verpflichtungen. Daraus, dass es eine Tatsache ist, dass p, folgt nicht, dass es eine Tatsache, dass p, gibt. Gemäß der faktualistischen Lesart erkennt Kripkes Wittgenstein die Existenz von Meinenstatsachen an. Eine radikale faktualistische Lesart erreicht dieses Ergebnis, indem sie die Stellen (hauptsächlich Kripke (1982), S. 70 f.), an denen Kripke Wittgenstein einen NonFaktualismus zuschreibt, wegerklärt. Eine moderate faktualistische Lesart unterscheidet zwei Bedeutungen von „es ist eine Tatsache, dass …“. Wenn Kripke schreibt, es gebe keine Meinenstatsachen, dann verwendet er „Tatsache“ in einem robusten Sinn, wenn er die Redundanztheorie von Tatsachen einführt, dann wechsele er zu einer anderen, deflationären Bedeutung von „Tatsache“.

23

Felix Mühlhölzer hat mich darauf hingewiesen, dass die Gleichsetzung von wahrheitswertfähig und deskriptiv im Kontext einer an Wittgenstein anschließenden Diskussion unglücklich ist, da Wittgenstein zwischen den Fragen, ob ein Satz wahr/falsch ist und ob er deskriptiv ist, unterscheidet. Mathematische Sätze z. B. sind ihm zufolge wahr/falsch, aber nicht deskriptiv. Ich bleibe bei der eingebürgerten Terminologie, um keine unnötige terminologische Verwirrung anzurichten.

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3.2. Faktualismus? Vertreter der faktualistischen Lesart schließen aus der Redundanztheorie von Tatsachen, dass Kripkes Wittgenstein die Existenz von Meinenstatsachen sehr wohl anerkennt. Das eröffnet eine einfache Antwort auf die erste Frage: Kripkes Wittgenstein vermeidet die skeptische Konklusion, weil ihm zufolge Meier mit „plus“ plus meint, es wahr ist, dass Meier dies meint, und dies auch eine Tatsache ist. Aber wie geht die faktualistische Lesart mit der Stelle um, in der Kripke Wittgenstein explizit die These zuschreibt, es gebe keine Meinenstatsachen?

3.2.1. Radikaler Faktualismus Auf Byrne geht der einflussreiche Vorschlag zurück, diese Stelle mittels einer Unterscheidung verschiedener Sprechrollen wegzuerklären (vgl. Byrne (1996)). Im Text spricht Kripke meistens in seiner Rolle als Interpret Wittgensteins, aber an einigen Stellen scheint er diese Rolle zu verlassen und in eigener Person zu sprechen. Daran anschließend behauptet Byrne: That is why Kripke (misleadingly) says that “Wittgenstein holds with the sceptic […]”. More carefully, this is a thesis that Kripke believes that Wittgenstein (given the soundness of the sceptical argument) ought to hold.24

Es ist jedoch sehr unplausibel, dass Kripke hier erstens überhaupt seine Rolle als Interpret aufgibt und zweitens auch noch versäumt, diesen Bruch sprachlich deutlich zu machen. Drittens vermag diese Deutung den Kontext des Zitats nicht zu erhellen. Wenn es sich um eine These handelt, die Wittgenstein vertreten sollte, aber de facto gar nicht vertritt, dann müsste Kripke nicht darauf eingehen, wie Wittgenstein die skeptische Konklusion vermeiden kann. Auch der

24

Byrne (1996), S. 342.

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Wechsel von Wahrheits- zu Berechtigungsbedingungen bliebe gänzlich unmotiviert.

3.2.2. Moderater Faktualismus Plausibler wird die faktualistische Lesart, wenn sie auf einer Unterscheidung zweier Bedeutungen von „es ist eine Tatsache, dass …“ aufbaut. Um diese Lesart zu etablieren, müssen zunächst die zwei Bedeutungen von „Tatsache“ eingeführt werden, die sich angeblich Kripkes Text entnehmen lassen. Zu diesem Zweck wird meist zwischen einem deflationären und einem robusten (oder: realistischen) Tatsachenbegriff unterschieden. In der deflationären Bedeutung von „Tatsache“ entspricht jeder wahren Proposition eine Tatsache. Nur wahren Propositionen, die zusätzliche Bedingungen erfüllen, entsprechen dagegen Tatsachen im robusten Sinn. Viele Definitionen dieses Begriffs sind möglich. So kann man definieren, dass einer Proposition dann eine Tatsache entspricht, wenn sie wahr ist, geistunabhängig, einen Wahrmacher hat usw. (vgl. Kusch (2006), S. 168171). Mit dieser Unterscheidung kann nun Kripkes Wittgenstein so verstanden werden, dass er behauptet, es gebe zwar Meinenstatsachen im deflationären Sinn, aber keine Meinenstatsachen im robusten Sinn. Diese Lesart kann aus zwei Gründen nicht überzeugen: Erstens läuft die These, es gebe keinen Meinenstatsachen, nun darauf hinaus, dass es keine Meinenstatsachen im robusten Sinne gibt, d. h. das Meinenszuschreibungen nicht reduzierbar sind oder antirealistisch verstanden werden müssen. Weder der Antireduktionismus noch der Antirealismus bezüglich dem Meinen sind jedoch Positionen, die es verdienen „skeptisch“ genannt zu werden. Außerdem, wenn Kripke Wittgenstein als Antireduktionisten oder Antirealisten hätte präsentieren wollen, hätte er es wohl kaum versäumt, diese derartig gewichtige Einschränkung der skeptischen Lösung deutlich zur Sprache zu bringen. Auch sachlich passt diese Deutung nicht gut in den Kontext der Passage, in der es weder um Fragen der Reduzierbarkeit noch um Fragen der Geistunabhängigkeit des Meinens geht.

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Gewichtiger ist jedoch der zweite Einwand: Diese Lesart passt nicht zu den Bedingungen, die Kripke an eine direkte Antwort auf die skeptische Herausforderung stellt. Der moderate Faktualist muss das skeptische Argument so verstehen, dass es nicht nur darum geht, ob sich (L) „125“ ist die richtige Antwort auf „68 plus 57=?“, weil … vervollständigen lässt, sondern ob das, was an die Stelle der Pünktchen tritt, robust bzw. realistisch ist. Laut Kripke ist jedoch jede Angabe von notwendigen und zusammen hinreichenden Bedingungen eine direkte Lösung (vgl. Kripke (1982), S. 87, S. 111). Wenn Kripke danach fragt, welche Tatsache das Meinen konstituiere, dann setzt er nicht implizit eine philosophische Konzeption von Tatsachen voraus, sondern fragt vor dem Hintergrund eines alltäglichen, nicht philosophisch vorgeprägten Verständnisses von Tatsachen danach, warum „125“ die richtige Antwort auf „68 plus 57=?“ ist. Es mag philosophisch umstritten sein, ob es eine Tatsache ist, dass es heute hätte Schneien können, 68 plus 57 125 ergibt, Tomaten rot sind usw. Im alltäglichen Sinn von Tatsache, an den Kripke sich im zweiten Kapitel hält, sind dies jedoch alles unproblematische Beispiele für Tatsachen. Deshalb dürfen auch bei dem Versuch, die skeptische Herausforderung zu beantworten, beliebige Tatsachen angeführt werden, darunter u. a. behavioristische, intentionale, dispositionale, modale und abstrakte Tatsachen. Sollte sich im Zuge der Beantwortung der skeptischen Herausforderung herausstellen, dass bei der Antwort auf intentionale Tatsachen zurückgegriffen wird oder das Meinen eine Art sekundäre Qualität ist, dann schmälert dies nicht den Wert der Antwort. Sofern es irgendeine Tatsache gäbe, „that distinguishes between my meaning plus and my meaning quus“ (Kripke (1982), S. 21), wäre die skeptische Herausforderung auf direkte Weise beantwortet.25 25

Deshalb unterscheiden sich Kripkes Wittgensteins Berechtigungsbedingungen von Behauptbarkeitsbedingungen des Antirealismus. Ein Antirealist bezüglich des Meinens, würde erstens Bedingungen dafür angeben, dass eine Meinenszuschreibung behauptbar ist, und zweitens darauf insistieren, dass Wahr-

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3.3. Non-Faktualismus! Als erstes Ergebnis kann ich daher festhalten: Kripkes Wittgenstein behauptet wirklich, dass es keine Meinenstatsachen gibt. Doch das wirft uns zurück zu den beiden Ausgangsfragen: Wie vermeidet er dann die skeptische Konklusion? Wie ist die Redundanztheorie von Tatsachen zu verstehen?

3.3.1. Non-Deskriptivismus Die Standardinterpretation der skeptischen Lösung ist die nondeskriptivistische Lesart (vgl. Boghossian (1989), S. 522 f., Kusch (2006), S. 148, Miller (2007), S. 178): Meinenszuschreibungen wie „Meier meint mit ‚plus‘ plus“ sind nicht wahrheitswertfähig. Wenn ein Satz nicht wahrheitswertfähig ist, so entspricht ihm auch keine Tatsache. Gleichzeitig muss die skeptische Konklusion nicht akzeptiert werden; so wie es Berechtigungsbedingungen für einzelne Meinenszuschreibungen gibt, gibt es auch Berechtigungsbedingungen für die skeptische Konklusion. Diese sind (vermutlich) nicht erfüllt und so ist Kripkes Wittgenstein nicht auf diese Aussage festgelegt.26 Entscheidend ist daher die Frage, wie die non-deskriptivistische Lesart Kripkes Wittgensteins Bekenntnis zu einer Redundanztheorie der Wahrheit integrieren kann. Leider finden sich kaum Verteidigungen heit (in diesem Diskurs) mit Behauptbarkeit zusammenfällt. Dann lässt sich jedoch die skeptische Herausforderung beantworten: Eine Antwort ist richtig, wenn die Behauptbarkeitsbedingung erfüllt sind. Deshalb ist zum Beispiel Wrights Antwort auf die skeptische Herausforderung obwohl eine antirealistische, dennoch eine direkte Antwort. (Wright fasst das Meinen als responsedependent auf, d. h. als eine Art sekundäre Qualität, vgl. die Aufsätze in Wright (2001), Teil III.) 26 Der Non-Deskriptivismus übers Meinen ist somit mit einer Reihe von metaethischen Projekten vergleichbar, die unter den Namen „Expressivismus“, „Projektivismus“, „Non-Deskriptivismus“, „Non-Kognitivismus“, „QuasiRealismus“ geläufig sind. Diesen metaethischen Positionen ist gemeinsam, dass ihnen zufolge die Nichtexistenz moralischer Tatsachen kein Problem für den Moraldiskurs darstellt, da in diesem gar nicht beansprucht werde, wahrheitswertfähige Äußerungen zu machen (vgl. Kusch (2006), S. 148 f.).

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der non-deskriptivistischen Lesart, die zur Deutung dieser Passage Stellung beziehen (vgl. jedoch Khlentzos (2004), S. 302 f.). Es ist unbestritten, dass wir vor Meinenszuschreibungen „es ist wahr, dass“ und „es ist eine Tatsache, dass“ vorschalten können. Um der Folgerung zu entgehen, dass damit die Frage nach der Wahrheitswertfähigkeit von Meinenszuschreibungen bereits entschieden ist, kann eine Vertreterin der non-deskriptivistischen Lesart darauf verweisen, dass Kripke in der Passage, in der er Wittgenstein die Redundanztheorie zuschreibt, „call“ betont sehen will: We call something a proposition, and hence true or false, when in our language we apply the calculus of truth functions to it.27

Man kann diesen Satz so deuten, dass Kripkes Wittgenstein zwischen „was wir eine Proposition nennen“ und „was eine Proposition ist“ unterscheiden will. Aus dem Ersten folgt nicht das Zweite. Der non-deskriptivistischen Lesart zufolge sagt Kripkes Wittgenstein: Wir nennen zwar Meinenszuschreibungen wahr, aber daraus folgt nicht, dass sie wahrheitswertfähig sind. In Wirklichkeit sind sie dies nämlich nicht. Wir tun so, als ob sie deskriptiv wären. Dieses Sotun-als-ob ist, obwohl eigentlich verkehrt, in Ordnung, sofern daraus keine philosophischen Konsequenzen gezogen werden (z. B. dass es Meinenstatsachen gäbe). Für sich genommen lässt der Satz diese Deutung in der Tat zu. Doch Kripke fügt noch einen weiteren Satz hinzu, der nicht zu dieser Deutung passt: That is, it is just a primitive part of our language game, not susceptible of deeper explanation, that truth functions are applied to certain sentences.28

In der non-deskriptivistischen Lesart bedeutet „not susceptible of deeper explanation“, dass keine (nicht bloß auf unsere sprachlichen 27 Kripke (1982), S. 86. Diesen Satz übernimmt Kripke fast wörtlich von Wittgenstein. In Wittgenstein (1953), § 134 heißt es, jedoch ohne Hervorhebungen: „Einen Satz nennen wir das, worauf wir in unserer Sprache den Kalkül der Wahrheitsfunktionen anwenden.“ 28 Kripke (1982), S. 86.

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Gepflogenheiten verweisende) Erklärung der Wahrheitswertfähigkeit von Meinenszuschreibungen gegeben werden kann und deshalb Meinenszuschreibungen nicht wahrheitswertfähig sind. Wenn es aber keine Erklärung unserer Anwendung von Wahrheitsfunktionen auf einen Satz geben kann, dann ist schleierhaft, wie eine Kritik oder philosophische Entlarvung, wie sie Kripkes Wittgenstein der nondeskriptivistischen Lesart zufolge im Sinn hat, möglich sein sollte. Träfe diese Lesart zu, sollte Kripkes Wittgenstein eine Erklärung dieses Teils unseres Sprachspiels sehr wohl für möglich halten: Es würde sich um einen entschuldbaren Irrtum oder eine nützliche Fiktion handeln. Daher ist meines Erachtens die Stoßrichtung von Kripkes Wittgenstein eine andere: Die Frage, ob diese oder jene Sätze wirklich Propositionen ausdrücken oder wahrheitswertfähig sind, ist in einer Version leicht zu beantworten, in einer anderen Version sinnlos oder ungereimt. Diese Frage ist leicht zu beantworten, wenn sie die Zulässigkeit oder Wohlgeformtheit bestimmter Sätze betrifft. So ist z. B. nicht nur „Ich habe Schmerzen“, sondern auch „Es ist wahr, dass ich Schmerzen habe“ ein sinnvoller Satz; also ist „Ich habe Schmerzen“ wahrheitswertfähig und drückt eine Proposition aus. Die Frage ist problematisch, wenn sie auf einer Unterscheidung zwischen Genanntwerden und Sein beruht. Denn der Rede von „wirklich eine Proposition sein“ könne kein Sinn gegeben werden. In dieser Lesart bedeutet „not susceptible of deeper explanation“, dass der Suche nach einer (nicht bloß auf unsere sprachlichen Gepflogenheiten verweisende) Erklärung der Wahrheitswertfähigkeit von Meinenszuschreibungen kein guter Sinn gegeben werden kann und deshalb Meinenszuschreibungen genauso wahrheitswertfähig sind wie viele alle andere Sätze auch.

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3.3.2. Ontologische Verpflichtungen der Redundanztheorie Irrtumstheorie und Non-Deskriptivismus sind jedoch nicht die einzigen Möglichkeiten, den Non-Faktualismus zu verstehen. Ich möchte eine neue Möglichkeit vorschlagen: Was sind eigentlich die ontologischen Konsequenzen der These, „es ist eine Tatsache, dass …“ sei redundant? Nehmen wir an, „Es ist eine Tatsache, dass P“ und „P“ seien (für alle P) synonym. Das heißt, „es ist eine Tatsache, dass …“ trägt zum semantischen Wert des Gesamtsatzes nichts bei. Wer diese Phrase einem Satz vorstellt, mag damit seine Behauptung bekräftigen, die Bedeutung des Satzes ändert sich dadurch aber nicht im Geringsten. Die Redundanzthese hat somit ontologische Konsequenzen: Daraus, dass es eine Tatsache ist, dass P, folgt genauso wenig, dass es etwas gibt, das die Tatsache, dass P, ist, wie daraus, dass die Durchschnittsfamilie 1,4 Kinder hat, folgt, dass es etwas gibt, das die Durchschnittsfamilie ist und 1,4 Kinder hat. Mit „es ist eine Tatsache, dass …“ werden, wenn diese Phrase redundant ist, keinerlei ontologische Verpflichtungen generiert. Man muss daher zwischen „es ist eine Tatsache, dass P“ und „es gibt eine Tatsache, dass P“ unterscheiden. Ersteres ist wahr, wenn es wahr ist, dass P, letzteres ist dagegen stets falsch. Dieser Non-Faktualismus, der aus der Redundanztheorie von Tatsachen folgt, ist ein globaler: Es gibt nicht nur keine Meinenstatsachen, sondern überhaupt keine Tatsachen. Mit „es ist eine Tatsache, dass noch Milch im Kühlschrank ist“ legt man sich ebenso wenig auf die Existenz einer Tatsache fest wie mit „es ist eine Tatsache, dass Meier mit ‚plus‘ plus meint“.29 29

Für die Frage nach den ontologischen Verpflichtungen, die mit der Rede von Tatsachen eingegangen werden, ist es nicht ganz unerheblich, ob Kripkes Wittgenstein eine Redundanztheorie oder eine andere deflationäre Auffassung von Tatsachen vertritt; die ontologischen Verpflichtungen notwendig äquivalenter Sätze können divergieren (vgl. „Das Element der Einermenge bestehend aus Anna schläft“ und „Anna schläft“). Auch kommt das Wort „Tatsache“ nicht nur in der Phrase „Es ist eine Tatsache, dass …“ vor. Dennoch gilt, dass die notwendige Äquivalenz von „Es ist eine Tatsache, dass P“ und „P“ ein starkes Indiz dafür ist, dass zumindest „Es ist eine Tatsache, dass …“ alleine noch keine ontologischen Verpflichtungen generiert. Außerdem bedeutet „keine ontologischen Verpflichtungen“ nicht, dass die Redundanztheorie mit der Existenz

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Was spricht für diese Interpretation? Mit ihr lässt sich nun verstehen, warum Kripke „call“ betont: Wir sagen, dass es eine Tatsache ist, dass z. B. noch Milch im Kühlschrank ist, aber damit sagen wir nicht, dass es Tatsachen gibt. Ebenso sagen wir, dass die Durchschnittsfamilie bestimmte Eigenschaften hat, ohne damit zu behaupten, dass es die Durchschnittsfamilie gibt. Aus dieser Form des Non-Faktualismus ergeben sich neue Antworten auf die Ausgangsfragen. Die Redundanztheorie steht nicht im Widerspruch zur These, es gebe keine Meinenstatsachen. Im Gegenteil, aus der Redundanztheorie folgt diese These. Auch kann mittels dieser Form des Non-Faktualismus erklärt werden, warum aus der These, es gebe keine Meinenstatsachen, nicht die skeptische Konklusion folgt. Wenn die Redundanztheorie (und das neue Sprachbild, mit dem sie verwoben ist) zutrifft, dann muss es keine Tatsache geben, damit ein Behauptungssatz wahr sein kann. Wer wie die Mehrheit der Interpreten von der non-faktualistischen These auf den NonDeskriptivismus schließt, übersieht daher, dass laut Kripkes Wittgensteins Wahrheitswertfähigkeit nicht darin besteht, dass eine Relation zwischen Sätzen und Tatsachen besteht. Deshalb ist es für unsere Berechtigung zu Meinenszuschreibungen unerheblich, ob es Meinenstatsachen gibt. Diese Lesart erlaubt es, an zwei Grundfesten der skeptischen Lösung festzuhalten. Kripkes Wittgensteins skeptische Lösung ist sowohl non-revisionistisch als auch metaphysikkritisch. Sie ist nonrevisionistisch, insofern sie die Ausgangskonzeption des Meinens unangetastet lässt. Zu diesen Selbstverständlichkeiten gehört auch, dass es manchmal wahr und eine Tatsache ist, dass jemand etwas meint. Sie ist metaphysiskkritisch, insofern sie die Ausgangskonzeption des Meinens auf radikal andere Weise verteidigt. Dass manchmal jemand etwas meint, wird nicht dadurch verteidigt, dass auf Tatsachen, die Meinenszuschreibungen entsprechen, verwiesen wird. In der skeptischen Lösung spielen Meinenstatsachen, das Meinen als mentaler Zustand usw. keine Rolle. Nun ist die Ablehnung der Exisvon Tatsachen unvereinbar ist. Die Redundanztheorie ist neutral hinsichtlich der Existenz von Tatsachen. Kripkes Wittgenstein lehnt die Existenz von Tatsachen ab, aber es nicht die Redundanztheorie als solche, die ihn dazu bringt.

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tenz von Tatsachen freilich nur ein kleiner Mosaikstein der skeptischen Lösung: Bis hier habe ich nur geschildert, warum aus der (wahren) These, dass es keine Tatsache gibt, die plus-Meinen und quus-Meinen unterscheidet, nicht die (falsche) These, dass niemand jemals etwas meint, folgt.

4. Berechtigung, Wahrheit und die Rolle der Gemeinschaft Nachdem ich bisher auf die Natur und die groben Umrisse der skeptischen Lösung des Regelfolgenproblems eingegangen bin, ist es an der Zeit, auf die konkrete Durchführung der skeptischen Lösung einzugehen. Kripke sieht den Schlüssel zur skeptischen Lösung in dem Bild der Sprache, das der späte Wittgenstein gezeichnet hat. Will man dieses Bild auf das Regelfolgenproblem anwenden, ist laut Kripke zweierlei zu tun: Erstens sind die Bedingungen anzugeben, unter denen Meinenszuschreibungen berechtigt sind, und zweitens ist die Rolle von Meinenszuschreibungen zu bestimmen. Die Antworten fallen im Vergleich zu der Ausführlichkeit, mit der Kripke die Frage beantwortet, was überhaupt eine skeptische Lösung ist, erstaunlich knapp aus: Auf gerade einmal vier Seiten nennt Kripke zunächst „gemeinschaftliche“ Berechtigungsbedingungen (Kripke (1982), S. 89-91) und bestimmt anschließend die Rolle von Meinenszuschreibungen (Kripke (1982), S. 91-93). Ich werde zunächst Kripkes Wittgensteins Antworten vorstellen (4.1 und 4.2), um dann auf das Verhältnis zwischen Berechtigung und Wahrheit (4.3) und die Rolle der Gemeinschaft (4.4) einzugehen. Es wird sich zeigen, dass der zweite Einwand aus der Einleitung – zur Erinnerung: die skeptische Lösung setze Berechtigung und Wahrheit gleich – unberechtigt ist.

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4.1. Die erste Frage: Das Neigungs- und Korrekturmodell Ich möchte eine weit verbreitete Fehldeutung der Antwort auf die Frage nach den Berechtigungsbedingungen zurückweisen. Kripke fasst seine Antwort zum Beispiel so zusammen: We say of someone else that he follows a certain rule when his responses agree with our own and deny it when they do not.30

Solche Zitate legen, so meine These, eine falsche Spur. Kripkes Wittgenstein hat eine erstaunlich komplexe Theorie der Berechtigungsbedingungen, die sich nicht adäquat mit der Gleichung „berechtigt ist eine Äußerung genau dann, wenn ihr alle zustimmen“ wiedergeben lässt. Die Komplexität ergibt sich insbesondere daraus, dass die skeptische Lösung Berechtigungsbedingungen nicht nur für Sätze à la „Meier meint mit ‚plus‘ plus“, sondern auch für „Diese Antwort ist richtig“, „Ich verstehe ‚plus‘“ u. v. m. angibt. Ich bezeichne im Folgenden Aussagen der Form „Meier meint mit ‚plus‘ plus“ und „Ich meine etwas mit ‚plus‘“ als Meinenszuschreibungen und Aussagen der Form „Auf ‚68 plus 57=?‘ ist ‚125‘ die richtige Antwort“ als Richtigkeitsaussagen. Kripkes Wittgensteins Berechtigungsbedingungen, so meine These, können nur dann richtig verstanden werden, wenn man das Wechselspiel dieser Aussagen beachtet. Das Modell, das Kripkes Wittgenstein vorschlägt, werde ich das Neigungs- und Korrekturmodell nennen.

4.1.1. Selbstzuschreibung Bei den Meinenszuschreibungen unterscheidet Kripke zwischen Selbst- und Fremdzuschreibungen (vgl. Kripke (1982), S. 90 f.). Er beginnt damit, die Berechtigung zu Selbstzuschreibungen zu analysieren:

30

Kripke (1982), S. 92.

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Jones is entitled, subject to correction by others, provisionally to say, “I mean addition by ‘plus’,” whenever he has the feeling of confidence – “now I can go on!” – that he can give ‘correct’ responses in new cases; and he is entitled, again provisionally and subject to correction by others, to judge a new response to be ‘correct’ simply because it is the response he is inclined to give. These inclinations (both Jones’s general inclination that he has ‘got it’ and his particular inclination to give particular answers in particular addition problems) are to be regarded as primitive.31

In diesem Zitat weist Kripke einigen Urteilen einen besonderen epistemischen Status zu: Sie sind berechtigt, sofern sie einer Neigung oder einem Gefühl der Sicherheit entspringen; Gründe muss man nicht anführen können. Es handelt sich jedoch – das wird in den beiden kursiv gesetzten Passagen betont – um einen Status, der verloren gehen kann, nämlich dann, wenn andere korrigierend eingreifen. Zwei Arten von Meinungen bzw. Behauptungen genießen diesen besonderen epistemischen Status: zum einen Richtigkeitsaussagen wie „Die richtige Antwort ist ‚125‘“, zum anderen Selbstzuschreibungen des Meinens wie „Ich meine etwas mit ‚plus‘“ (oder „Ich verstehe ‚plus‘“, „Ich kann die Reihe fortsetzen“ usw.). Diese Behauptungen entspringen verschiedenen Arten von Neigungen. Selbstzuschreibungen des Meinens entspringen einer „general inclination“, deren Phänomenologie Kripke im Anschluss an Wittgenstein mit Wendungen wie „mit einem Schlag erfassen“ (Wittgenstein (1953), § 139, § 197) beschreibt. Richtigkeitsaussagen entspringen einer „particular inclination“, deren Phänomenologie Kripke im Anschluss an Wittgenstein mit Wendungen wie „ich folge der Regel blind“ (ebd., § 219) beschreibt. Beide Arten von Neigungen sind primitiv. Damit kann nicht gemeint sein, dass sie explanatorisch primitiv sind, denn kausal sind sie unter Umständen erklärbar. So erwägt Kripke die Möglichkeit, jemandes Neigung zu einem bestimmten verbalen Verhalten durch den Konsum von LSD zu erklären (vgl. Kripke (1982), S. 9f., S. 13). Daher muss gemeint sein, dass sie epistemisch primitiv sind; d. h. sie generieren Berechtigung, ohne ihrerseits auf etwas, das ihnen Berechtigung verschafft, angewiesen zu sein. 31

Kripke (1982), S. 90 f., m. H.

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Meinenszuschreibungen und Richtigkeitsaussagen unterliegen somit einer Neigungs- und Korrekturstruktur oder, wie sich in Anlehnung an das gegenwärtig diskutierte Modell epistemischer Rechtfertigung auch sagen lässt, einer Voreinstellungs- und Herausforderungsstruktur.32 Das Voreinstellungs- und Herausforderungsmodell besagt grob gesagt dies: Wenn einer eine Meinung hat, für die er nichts anführen kann, gegen die aber auch nichts vorliegt, dann ist die Meinung gerechtfertigt. So wie vor Gericht im Zweifel für den Angeklagten zu entscheiden ist, so ist, wenn weder Gründe noch Einwände vorliegen, der epistemische Status einer Meinung positiv. Dieser positive epistemische Status wird nicht dadurch beeinträchtigt, dass der Glaubende seine Meinung nicht begründen kann. Wenn aber etwas gegen die Meinung vorliegt, eine sogenannte Herausforderung, dann muss der Glaubende auf die Herausforderung antworten können. Kurz, per Voreinstellung ist eine Meinung gerechtfertigt, aber dieser positive epistemische Status kann verloren gehen. Der Sache nach vertritt Kripkes Wittgenstein eben dieses Modell für den speziellen Bereich der Richtigkeitsaussagen und Meinenszuschreibungen: Wenn eine Äußerung einer Neigung entspringt, dann ist der Äußerer zu dem Glauben berechtigt, dass sie richtig ist – jedoch nur, wenn es keinen Korrekturversuch gibt. Ist der Korrekturversuch erfolgreich, so ist der Glauben an die Richtigkeit unberechtigt. Am Beispiel illustriert: Meine Antwort „125“ auf die Frage „68 plus 57=?“ entspringt einer partikularen Neigung. Deshalb bin ich provisorisch oder vorläufig zu der Überzeugung berechtigt, dass „125“ die richtige Antwort auf „68 plus 57=?“ ist. Da ich nicht von anderen Sprechern korrigiert werde, muss ich meine Antwort nicht verteidigen. Außerdem bin ich, da ich eine allgemeine Neigung, ein Gefühl der Sicherheit mitbringe, zu dem Glauben berechtigt, dass ich mit „plus“ überhaupt etwas meine (nämlich plus). Diese Beschreibung ist freilich nur eine Skizze, die im Detail noch anzureichern ist. Insbesondere bedarf die Rede von Neigungen und Korrekturen näherer Erläuterung. Selbstverständlich beruhen 32

Vertreter des default and challenge-Modells der epistemischen Rechtfertigung sind Brandom (1994), S. 176-178; Williams (1999), (2001); Willaschek (2007).

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viele Äußerungen nicht einfach auf einer Neigung. So wird kaum jemand ohne Kopfrechnen eine Antwort auf „68 plus 57=?“ geben können. Das ist jedoch kein Einwand gegen Kripkes Wittgensteins Analyse der Berechtigungsbedingungen. Denn wer das Ergebnis ausrechnet, wird zum Beispiel nicht rechnen, was 8 plus 7 ergibt; hier wird man eine neigungsgemäße, impulsive Antwort geben. (Kinder werden vielleicht auch hier rechnen oder abzählen müssen. Aber auch dann gibt es eine Stelle, an der aus Neigung gehandelt wird, etwa wenn beim Zählen nach „14“ „15“ aufgesagt wird.) Kripkes Wittgensteins These sollte also sein, dass jede Äußerung letztlich auf Neigungen beruht. Eine zweite Klärung betrifft das Verständnis von Neigungen. Man kann die Rolle der Neigungen in Äußerungen aus Neigung auf zwei verschiedene Weisen bestimmen: Man kann zum einen Neigungen als Ursachen verstehen. Eine neigungsgemäße Äußerung ist eine, die durch eine Neigung verursacht wird. Doch dann ließe sich skeptische Einwänden kaum entgehen: Was garantiert, dass ich die richtige Äußerung gebe und die Kausalkette nicht gestört ist? Man kann jedoch „aus Neigung S äußern“ auch auf eine zweite Weise verstehen: „aus Neigung“ bezeichnet nicht Verursachung durch einen unabhängig von der Äußerung bestehenden mentalen Zustand, sondern ist adverbial zu verstehen. Äußerungen aus Neigung sind eine Untergruppe der Äußerungen, nämlich solche, die selbstverständlich, mit Sicherheit usw. gegeben werden. Diese zweite Lesart wird Kripkes Wittgenstein besser gerecht. Auch der zweite Bestandteil des Neigungs- und Korrekturmodells ist erläuterungsbedürftig. In der eben zitierten Passage schreibt Kripke „correction“, erläutert dies jedoch nicht. Einen Punkt, der von Kripke nicht angesprochen wird, möchte ich betonen: Wer einen anderen korrigiert, tut dies aufgrund einer eigenen Neigung. Wenn einer auf „8 plus 7=?“ mit „13“ antwortet, dann wird ein Zuhörer dies korrigieren, weil er selber eine andere Neigung hat. Wer einfach nur widerspricht, ohne dies aufgrund einer eigenen Neigung zu tun, unternimmt noch keinen Korrekturversuch. Wenn jedoch tatsächlich ein Korrekturversuch vorliegt, sollten beide ihre Antworten zurückziehen und könnten durch Nachzählen von Fingern, Strichen o. ä. zu

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einer übereinstimmend akzeptierten Antwort gelangen. Dies ist freilich nur ein Verfahren, mit dem auf Korrekturversuche reagiert werden kann: Man versucht hinter den divergierenden Neigungen einen Bereich übereinstimmender Neigungen zu finden. Viele Wege, mit Korrekturversuchen und widerstreitenden Neigungen umzugehen, sind denkbar. Da eine Katalogisierung solcher Wege für das Verständnis der skeptischen Lösung unerheblich ist, kann Kripke sie gefahrlos unterlassen.

4.1.2. Fremdzuschreibung Meine Rekonstruktion deckt bis jetzt nur Richtigkeitsaussagen und Selbstzuschreibungen des Meinens ab. Der Fall der Fremdzuschreibung muss anders verstanden werden. Auch hier soll zunächst Kripke zu Wort kommen: Smith will judge Jones to mean addition by ‘plus’ only if he judges that Jones’s answers to particular problems agree with those he is inclined to give, or, if they occasionally disagree, he can interpret Jones as at least following the proper procedure. […] In all this, Smith’s inclinations are to be regarded as just as primitive as Jones’s. In no way does Smith test directly whether Jones may have in his head some rule agreeing with the one in Smith’s head.33

Aus den Berechtigungsbedingungen für Richtigkeitsaussagen ergeben sich also unmittelbar die Berechtigungsbedingungen für Meinenszuschreibungen. Wenn die Antworten, die ein anderer gibt, mit meinen (berechtigten) Richtigkeitsaussagen übereinstimmen, dann bin ich berechtigt zu dem Urteil, er meine mit dem Wort das, was ich damit meine. Auch hier kommt also den Neigungen eine besondere Rolle zu. Ihnen kommt – per Voreinstellung – ein positiver Status zu: Sie sind berechtigt und geben den Maßstab ab, um die Antworten des anderen abzugleichen. Der Fremdzuschreibung selber kommt

33

Kripke (1982), S. 91, m. H.

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kein voreingestellter Status zu, da sie sich aus etwas Grundlegenderem ergibt.34

4.1.3. Die Unmöglichkeit einer Privatsprache Laut Kripkes Wittgenstein folgt aus den Berechtigungsbedingungen für Meinenszuschreibungen, dass eine Privatsprache unmöglich ist. Das Neigungs- und Korrekturmodell ist daher nur dann eine gute Rekonstruktion, wenn es diese Folgerung verständlich machen kann. Unter einer Privatsprache verstehe ich hier mit Kripke nicht eine Empfindungssprache, die kein anderer verstehen kann, sondern eine Sprache eines isolierten Individuums (d. h. eine Solitärsprache). Die Unmöglichkeit einer Privatsprache folgt aus dem Neigungs- und Korrekturmodell auf einfache Weise. Sie folgt nämlich aus der These, dass ein voreingestellter Status nur dann vorliegen kann, wenn man verständlich machen kann, wie dieser Status verloren gehen kann. Im Fall einer Privatsprache kann man sich das gerade nicht verständlich machen. Wenn eine Privatsprache möglich wäre, dann gäbe es neigungsgemäße Verwendungen eines Wortes, die per Voreinstellung berechtigt wären, ohne dass dieser Status verloren gehen könnte.35 Aber ist diese Lesart des Privatsprachenarguments wirklich durch den Wortlaut von Kripkes Buch gedeckt? Kripkes Terminologie ist definitiv eine andere. Aber der Sache nach scheint Kripkes Wittgenstein das Gleiche im Sinn zu haben. An zwei Stellen (Kripke (1982), S. 87f., S. 108) hebt Kripke hervor, dass selbstverständlich auch ein Individuum „considered in isolation“ Neigungen hat und seine Wortverwendungen von einem Gefühl der Sicherheit begleitet 34

Das stimmt nicht ganz. Um die Fremdzuschreibung vornehmen zu dürfen, muss Schmidt nicht alle Antworten Meiers kennen. Übereinstimmung in einem einzigen Fall genügt sehr oft. Wir sind anscheinend laut Kripkes Wittgenstein auch per Voreinstellung berechtigt zu extrapolieren. 35 Warum kann ein Sprecher sich nicht selber korrigieren? Kripke behandelt dies Frage nur sehr knapp: Weil er dafür einander widersprechende Neigungen haben müsste. Die Entscheidung, der einen oder anderen zu folgen, wäre willkürlich (vgl. Kripke (1982), S. 112 Fn. 88).

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werden; dies sei jedoch nicht genug: „der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen“ (Wittgenstein (1953), § 202; vgl. Kripke (1982), S. 89). Kripke schreibt zum Beispiel: As long as we consider a single individual in isolation, all we can say is this: An individual often does have the experience of being confident that he has ‘got’ a certain rule.36

Bei einem isolierten Sprecher gibt es also Neigungen, aber die Möglichkeit der Korrektur besteht nicht. Und deshalb sind seine Äußerungen bedeutungslos. Das Neigungs- und Korrekturmodell kommt zu den gleichen Ergebnissen und erfüllt daher die Adäquatheitsbedingung, Kripkes Wittgensteins Privatsprachenargument nachvollziehbar zu machen.

4.2. Die zweite Frage: Meinenszuschreibungen als Erwartungen Die zweite Frage wird von Kripke, obwohl er ihre Wichtigkeit für Wittgensteins spätes Bild der Sprache betont, nur im Vorbeigehen beantwortet (vgl. Kripke (1982), S. 91–93). Das könnte daran liegen, dass Kripke die Antwort für offensichtlich hält: „the utility is evident“ (Kripke (1982), S. 92). Ich halte das für irreführend. Explizite Meinenszuschreibungen werden vergleichsweise selten vorgenommen, weshalb die tatsächliche Rolle von Meinenszuschreibungen nicht leicht zu bestimmen ist. Überhaupt fällt auf, dass Kripke nur auf die Rolle von Äußerungen der Form „Meier meint mit ‚plus‘ plus“ eingeht. Kripke behandelt weder die Rolle von Selbstzuschreibungen noch von Richtigkeitsaussagen. Wie dem auch sei, Kripke macht zwei Anläufe, die Frage zu beantworten. Er schreibt zunächst: „An individual who passes such tests is admitted into the community as an adder.“ (Kripke (1982), S. 92, vgl. S. 95). Welche Frage beantwortet Kripke hier? Beantwortet er die Frage nach der Rolle von Übereinstimmung oder die Frage nach der Rolle von Meinenszuschreibungen? Der Text lässt beide Lesarten zu. Sachlich spricht viel 36

Kripke (1982), S. 108.

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für die erste Lesart. Denn die Äußerung einer Meinenszuschreibung ist nicht notwendig für die Partizipation an einer Gemeinschaft: Zugehörigkeit kommt durch Übereinstimmung zustande, unabhängig davon, ob sie jemals mittels einer Meinenszuschreibung explizit gemacht wird. Dass Meinenszuschreibungen geäußert werden, ist weder notwendig noch hinreichend für Partizipation „in the life of the community and in communication“ (Kripke (1982), S. 92). In den beiden anschließenden Absätzen gibt Kripke allerdings eine zweite Antwort, die eindeutig die Rolle von Meinenszuschreibungen (und nicht die Rolle von Übereinstimmung) betrifft. Hier diskutiert Kripke Kommunikation mit einem Verkäufer. Der zentrale Begriff ist hier der der Erwartung. Wer eine Meinenszuschreibung vornimmt, erwartet von dem anderen in der Zukunft ein bestimmtes Verhalten. Es bildet sich eine Erwartung sowohl im deskriptiven (dass die Person so und so handeln wird) als auch im normativen Sinn (dass die Person verantwortlich gemacht werden kann für ihre Äußerungen) aus. Die Rolle von Meinenszuschreibungen ist daher ein Spezialfall der Rolle der Artikulation von Erwartungen. Nun ist freilich auch die Rolle der Artikulation von Erwartungen nicht offensichtlich. Da sich jedoch bei Kripke wenig Klärendes findet, werde ich es hier bei diesen Andeutungen belassen.

4.3. Berechtigung und Wahrheit Das Neigungs- und Korrekturmodell ist in einer Hinsicht neutral: Es allein beantwortet nicht die Frage, ob Berechtigung und Wahrheit zusammenfallen.37 Es lohnt daher, genauer auf das Verhältnis von Berechtigung und Wahrheit einzugehen. Ist es wahr, dass P, wenn man berechtigt ist zu behaupten, dass P? Das Problem lässt sich auch so verstehen, dass der Zusammenhang zwischen den folgenden Sätzen geklärt werden soll:

37

Dass wir im Kontext von Richtigkeitsaussagen und Meinenszuschreibungen überhaupt von Wahrheit sprechen können, folgt aus Kripkes Wittgensteins Minimalismus bezüglich Wahrheitswertfähigkeit (siehe oben, Abs. 3).

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(1) Meier hat auf „68 plus 57=?“ die Antwort gegeben, zu der er neigt und die kein anderer (erfolgreich) korrigiert, nämlich „125“. (2) Meier meint mit „plus“ plus. (3) „68 plus 57=125“ ist (in der Sprache, die wir sprechen) wahr. (4) 68 plus 57=125. Kripkes Wittgenstein zufolge sind die Meinenszuschreibung (2) und auch die Richtigkeitsaussage (3) berechtigt, weil (1) der Fall ist. (4) dagegen erscheint hier nur zum Zweck der Abgrenzung: Wie Kripke mehrfach betont, geht es weder bei der skeptischen Herausforderung noch bei der skeptischen Lösung um Arithmetik: Es geht ihm darum, warum „125“ die richtige Antwort auf „68 plus 57=?“ ist, nicht darum, ob 68 plus 57 125 ergibt (vgl. Kripke (1982), S. 8, 12 f., 54 f.).38 Nun könnte man meinen, dass aus (3) (4) folgt, wenn man eine geeignete Instanz des T-Schemas hinzunimmt: (T) „68 plus 57=125“ ist wahr genau dann, wenn 68 plus 57=125. Es handelt sich jedoch nur dann tatsächlich um eine Instanz des TSchemas, wenn auf der rechten Seite eine metasprachliche Übersetzung des objektsprachlichen Satzes auf der linken Seite erscheint. Doch diese semantische Annahme ist in unserem Kontext problematisch. Stellen wir uns eine Sprachgemeinschaft vor, die unserer stark ähnelt, aber auf „68 plus 57=?“ übereinstimmend „5“ antwortet. Gemäß der skeptischen Lösung ist in deren Sprache „68 plus 57=5“ (vermutlich) ein wahrer Satz. Aber daraus folgt natürlich nicht, dass 68 plus 57 5 ergibt. In der imaginierten Sprache bedeutet „plus“ nicht das, was es in unserer Sprache bedeutet. An diesem Resultat 38

Daraus folgt nebenbei, dass Kripkes Wittgenstein keine Redundanztheorie der Wahrheit vertreten sollte. Genauer: Er sollte nicht behaupten, dass „ist wahr“ angewendet auf Sätze redundant ist. Denn dann wären (3) und (4) synonym, was hier jedoch gerade bestritten wird. (Kripke „ist wahr“ sowohl auf Sätze als auch auf „statements“ an; vgl. Kripke (1982), S. 86)

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ändert sich nichts, wenn wir uns vorstellen, dass wir übereinstimmend „5“ antworten. Bloße Änderungen in der Sprache ändern nicht die Welt. Dies wird mit Hilfe einer Scherzfrage noch deutlicher: Wenn wir auch Schwänze „Beine“ nennen würden, wie viele Beine hätte dann ein Hund? Weiterhin vier. Selbstverständlich ändert sich die Anzahl der Beine eines Hundes nicht, wenn wir unsere Sprache ändern. Wie viele Beine ein Hund hat, hängt nicht davon ab, wie wir Schwänze nennen. Ganz analog sollten wir mit der entsprechenden Frage über „plus“ umgehen: Wenn wir mit „plus“ quus meinten, was ergäbe dann 68 plus 57? Auch hier gilt: Was 68 plus 57 ergibt, hängt nicht davon ab, welche Funktion irgendjemand mit „plus“ meint. (4) sollten wir daher in Übereinstimmung mit Kripkes wiederholtem Verdikt, es ginge nicht um Arithmetik, im Folgenden keine weitere Beachtung schenken. Damit ist der Zusammenhang von (1) auf der einen und (2) und (3) auf der anderen Seite aber noch nicht geklärt. Beginnen wir mit (1) und (2). Ist es möglich, dass die Aussage „Meier meint mit ‚plus‘ plus“ berechtigt ist, aber nicht wahr? Eine mögliche Weise, auf die beides auseinander fallen kann, ist diese: Meinenszuschreibungen (im Fall der Fremdzuschreibung) stützen sich immer nur auf einen begrenzten Ausschnitt an Verhalten. Es kann sich daher im Nachhinein immer zeigen, dass ein anderer doch nicht plus mit „plus“ meint, nämlich dann, wenn er in Zukunft abweichendes Verhalten zeigt. Deshalb ist (2) nicht zwingend wahr, wenn (1) wahr ist. (1) ist nur eine Berechtigungsbedingung, keine Wahrheitsbedingung für (2). Wie steht es mit (1) und (3)? Ist es möglich, dass man zu einer Äußerung berechtigt ist, sie aber nicht wahr ist? Kripke schreibt einleitend zu seiner Darstellung der skeptischen Lösung: It is important to realize that we are not looking for necessary and sufficient conditions (truth conditions) for following a rule, or an analysis of what such rule-following ‘consists in’.39

39

Kripke (1982), S. 87, vgl. S. 111.

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Laut Kripkes Wittgenstein handelt es sich also bei (1) gerade nicht um eine notwendige und hinreichende Bedingung für (3). Das heißt, dass Kripkes Wittgenstein dies nicht behauptet: (W*) Meiers Äußerung „68 plus 57=125“ ist genau dann wahr, wenn sie seinen Neigungen entspringt und er nicht erfolgreich korrigiert wird. Was Kripkes Wittgenstein akzeptiert, sind die folgenden Thesen: (B) Meier ist berechtigt zu seiner Äußerung „68 plus 57=125“ genau dann, wenn sie seinen Neigungen entspringt und er nicht erfolgreich korrigiert wird. (W) Meiers Äußerung „68 plus 57=125“ ist wahr genau dann, wenn 68 plus 57=125. Denn (W*) verstößt gegen die im obigen Zitat erhobene Forderung, keine Wahrheitsbedingungen für (3) aufzustellen. (W) dagegen ist zwar eine Wahrheitsbedingung, ergibt sich aber alleine aus der Redundanztheorie der Wahrheit. (W) ist zwar als Antwort auf die skeptische Herausforderungen fruchtlos, falsch ist es deshalb nicht.

4.4. Die Rolle der Gemeinschaft Kripkes Wittgenstein zufolge folgt die Berechtigung zu Richtigkeitsaussagen und Meinenszuschreibungen einem, wie ich es genannt habe, Neigungs- und Korrekturmodell. In diesem Modell spielt die Übereinstimmung zwischen Sprechern eine prominente Rolle. Die anderen Sprecher geben einen Vergleichspunkt ab, an dem die Neigungen eines Sprechers sich reiben können. Bei einem isolierten Sprecher fehlt ein solcher Vergleichspunkt. Deshalb kann bei seinen Äußerungen der Unterschied zwischen richtig und falsch nicht gezogen werden; eine Privatsprache ist unmöglich. An dieser Stelle entzündet sich ein Einwand (vgl. McDowell (1984), S. 225):

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Lässt sich das Argument gegen die Möglichkeit einer Privatsprache nicht auf die Gemeinschaft als Ganze übertragen? Wenn eine Gemeinschaft übereinstimmend eine Antwort gibt, wie kann dann hier der Unterschied zwischen Richtig und Falsch verständlich gemacht werden? Warum ist nicht jede Antwort, die die Gemeinschaft übereinstimmend für richtig hält, richtig? Die anderen Sprecher und ihre Reaktionen sind deshalb wichtig, weil sich ohne sie keine Neigungs- und Korrekturstruktur verständlich machen lässt. Ohne die anderen als potentielle Korrektoren sind die Neigungen nichts als Neigungen. Diese Feststellung lässt noch verschiedene Ausdeutungen der Rolle der Gemeinschaft zu. An dieser Stelle lohnt es sich, drei Thesen über die Rolle der Übereinstimmung zu unterscheiden: (Ü1) Wenn die Übereinstimmung zusammenbräche, wären unsere Äußerungen bedeutungslos. (Ü2) Wenn alle Sprecher einer Gemeinschaft in einem Satz übereinstimmen, dann ist er wahr. (Ü3) Wenn alle Sprecher einer Gemeinschaft in einem Satz übereinstimmen, dann sind sie dazu berechtigt, ihn zu äußern. Ich versuche zu zeigen, dass Kripkes Wittgenstein (Ü1) zustimmt und (Ü3) zumindest in einer Lesart akzeptieren kann, jedoch (Ü2) bestreitet. Beginnen wir mit (Ü1). In der Passage, in der Kripke explizit auf Übereinstimmung zu sprechen kommt (Kripke (1982), S. 96, vgl. S. 91), stellt er sich vor, die Sprecher einer Gemeinschaft stimmten in ihren Antworten auf „68 plus 57=?“ nicht überein: Einer antwortet „5“, ein anderer „13“ und ein dritter „125“. Stellen wir uns weiterhin vor, dass alle Versuche der Sprecher, die jeweils anderen zu überzeugen, sie hätten einen Fehler gemacht, erfolglos bleiben. Es handelt sich daher um einen unauflösbaren Dissens. Was würde „68 plus 57=?“ in dieser Gemeinschaft bedeuten? Die Antwort, in einer solchen Situation meine jeder mit „plus“ eine andere Funktion, kann nicht überzeugen: Es ist nicht zu sehen, wie es dann eine fal-

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sche Antwort geben könnte. Was auch immer einem richtig zu sein scheint, wäre richtig (vgl. Kripke (1982), S. 88). In einer solchen Gemeinschaft würde daher „68 plus 57=?“ nichts bedeuten. Es handelt sich um eine Gemeinschaft, in der zwar jeder neigungsgemäß antwortet, aber dennoch keiner etwas mit „plus“ meint. In Kripkes Worten, „agreement is essential for our game of ascribing rules and concepts to each other“ (Kripke (1982), S. 96). Aus dieser Überlegung folgt jedoch nur die negative These (Ü1): Gäbe es keine Übereinstimmung, gäbe es keine bedeutungsvollen Äußerungen. Aus der Überlegung zum Zusammenbruch von Bedeutung bei fehlender Übereinstimmung folgt noch nicht, was die Konsequenzen bestehender Übereinstimmung sind. Insbesondere folgt nicht (Ü2), d. h. dass die Gemeinschaft als Ganze nicht falsch liegen kann. Kripke selber bestreitet den Vorwurf, er würde Wittgenstein auf (Ü2) festlegen: Wittgenstein’s theory should not be confused with a theory that, for any m and n, the value of the function we mean by ‘plus’, is (by definition) the value that (nearly) all the linguistic community would give as the answer. Such a theory would be a theory of truth conditions […].40

Kripke führt dafür einen exegetischen und einen systematischen Grund an. Exegetisch verweist er auf Stellen aus Wittgensteins Œuvre, in denen er eine solche Definition ablehnt.41 Systematisch führt er aus, dass eine solche Definition eine Wahrheitsbedingung für „‚o‘ ist die richtige Antwort auf ‚m plus n=?‘“ angibt. Abgesehen davon, dass Wittgenstein den Versuch, Wahrheitsbedingungen anzugeben, grundsätzlich ablehnt, führt dieser spezifische Vorschlag in die Probleme des Dispositionalismus, wie sie bereits im zweiten Kapitel diskutiert wurden. Diese Kritik lässt sich auf zwei Weisen verstehen: Will Kripke nur sagen, dass „68 plus 57=125“ und „alle stimmen überein in ‚68 plus 57=125‘“ nicht synonym sind? Oder will er darauf hinaus, dass die beiden Sätze verschiedene Wahrheitswerte haben können? Aufgrund des Textes kann diese Frage 40

Kripke (1982), S. 111. Wittgenstein (1956), VII § 40 und Wittgenstein (1953), S. 572 f. Eine weitere, von Kripke nicht genannte Stelle ist Wittgenstein (1967), §§ 428-431.

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nicht entschieden werden. Wir können uns jedoch fragen, was Kripke antworten sollte. Das hängt davon ab, was genau wir unter „Übereinstimmung“ hier verstehen wollen. Wenn gemeint ist, dass die Gemeinschaft übereinstimmt und diese Übereinstimmung bestehen bliebe, wenn sich ihr Wissen erweitern würde und/oder Korrekturversuche aufträten, dann sollte Kripke Übereinstimmung und Wahrheit für notwendig koextensional halten.42 Wenn jedoch nur gemeint ist, dass die Gemeinschaft de facto übereinstimmt, dann kann und sollte Kripkes Wittgenstein es für möglich halten, dass die Gemeinschaft in einem falschen Satz übereinstimmt. Es ist in diesem Fall nicht schwer zu verstehen, dass die Gemeinschaft einen Fehler macht. Dass sie einen Fehler macht, zeigt sich darin, dass die Übereinstimmung zusammenbräche, wenn sich ihr Wissen erweitern würde und/oder Korrekturversuche aufträten. Damit komme ich zu (Ü3). Ich möchte zwei Lesarten von (Ü3) unterscheiden, die auf der Unterscheidung zwischen einer rechtfertigenden und einer ermöglichenden Rolle beruhen. Ein Beispiel: Dass mein Gedächtnis einwandfrei funktioniert, ist eine Voraussetzung dafür, dass ich längeren mathematischen Beweisen folgen kann. Dass mein Gedächtnis funktioniert, ist jedoch kein Grund dafür, die Konklusion des Beweises zu glauben. Dieser Umstand nimmt nur eine ermöglichende Rolle ein; er ermöglicht es, dass ich für mathematische Gründe sensitiv bin. Eine rechtfertigende Rolle kommt nur den mathematischen Überlegungen, die den Beweis ausmachen, 42

Diesen Fall scheint Kripke in der „Note added in proof“ im Blick zu haben: „if the community all agrees on an answer and persists in its view, no one can correct it“ (Kripke (1982), S. 146 Fn. 87, m. H.). Kripke formuliert die Frage im Folgenden anders als ich. Während ich aus drittpersonaler Perspektive frage, ob eine übereinstimmende Gemeinschaft falsch liegen kann, fragt Kripke, ob ein Mitglied der Gemeinschaft zweifeln kann: „Does it make any sense to doubt whether a response we all agree upon is ‘correct’?“ (Kripke (1982), S. 146 Fn. 87). Ob der Zweifel verständlich ist, hängt von den Umständen des konkreten Falls ab. Es ist jedoch schwer zu sehen, warum es hier ein generelles Problem geben sollte. Das sieht auch Kripke: „that I can legitimately calculate the result for myself, even given [the agreement], is part of our ‘language game’“ (Kripke (1982), S. 146 Fn. 87). Interessanter ist jedoch die Frage aus drittpersonaler Perspektive.

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zu.43 Mit dieser Unterscheidung kann (Ü3) nun so verstanden werden, dass Übereinstimmung eine rechtfertigende (oder: Berechtigung stiftende) Rolle einnimmt, aber auch so, dass Übereinstimmung nur eine ermöglichende Rolle einnimmt. Letzteres behauptet Kripkes Wittgenstein, ersteres nicht. Dies wird an zwei Stellen deutlich: [Wittgenstein] simply points out that each of us automatically calculates new addition problems (without feeling the need to check with the community whether our procedure is proper); that the community feels entitled to correct a deviant calculation; that in practice such deviation is rare, and so on. […] What follows from these assertability conditions is not that the answer everyone gives to an addition problem is, by definition, the correct one, but rather the platitude that, if everyone agrees upon a certain answer, then no one will feel justified in calling the answer wrong.44

In der zugehörigen Fußnote heißt es: I do not consult others when I add.45

An diesen Zitaten ist vor allem eines bemerkenswert: Kripke schreibt, dass eine arithmetische Behauptung nicht der Übereinstimmung mit anderen entspringt, sondern unter normalen Umständen einer Rechnung. Was uns dazu bringt zu behaupten, „125“ sei die richtige Antwort auf „68 plus 57=?“, ist also gerade nicht, dass dies die Antwort ist, die die anderen geben. Weil es eine grundlegende Übereinstimmung in Fragen des Rechnens gibt, kann jeder von uns so rechnen, wie er geneigt ist und abgerichtet wurde. Die Übereinstimmung ermöglicht also Berechtigung, generiert sie aber nicht. Was Kripkes Wittgenstein behauptet, ist daher: Ohne Übereinstimmung kein Meinen. Aber weder fällt Übereinstimmung mit 43

Die Unterscheidung zwischen einer evidential und einer enabling role geht der Sache nach auf Kants Unterscheidung zwischen Genese und Geltung zurück. Prominent verwendet wird sie gegenwärtig vor allem in der Debatte um Apriorität (vgl. z. B. Burge (1993), (1998); kritisch Williamson (2007), S. 165) und in der um praktische Gründe (vgl. z. B. Dancy (2004), Kap. 3). 44 Kripke (1982), S. 111 f. 45 Kripke (1982), S. 146 n. 87

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Wahrheit zusammen, noch sind wir in Äußerungen berechtigt, weil wir in ihnen übereinstimmen.

5. Löst die skeptische Lösung das skeptische Problem? Zu Beginn habe ich drei Einwände gegen die skeptische Lösung vorgestellt. Der erste Einwand – die skeptische Lösung laufe auf eine inakzeptable Form des Non-Faktualismus, den NonDeskriptivismus, hinaus – und der zweite Einwand – die skeptische Lösung identifiziere Wahrheit mit Übereinstimmung – greifen nicht, da sie auf Missverständnissen der skeptischen Lösung beruhen. Der dritte Einwand dagegen beruht nicht auf einer Fehlinterpretation der skeptischen Lösung. Er fragt, ob es der skeptischen Lösung überhaupt gelingt, die skeptische Herausforderung zu beantworten. Kripkes Wittgenstein kann auf drei Weisen auf die Skeptikerin, die diese Herausforderung stellt, reagieren: Er kann erstens vorrechnen, wie man auf „125“ kommt. Dabei vertraut man darauf, dass es auf einer grundlegenderen Ebene genügend übereinstimmende Neigungen bei der Skeptikerin gibt. Er kann zweitens die Herausforderung als nicht ernstzunehmende zurückweisen. Eine Herausforderung ist nur dann ernst zu nehmen, wenn sie einer Neigung entspringt. Doch die Skeptikerin ist in Wirklichkeit gar nicht geneigt, „5“ zu antworten; sie bringt diese Möglichkeit „nur so“ ins Spiel. Er kann drittens die Skeptikerin außerhalb der Sprachgemeinschaft stellen. Solange es genug Sprecher gibt, mit denen sich das Neigungsund Korrekturmodell realisieren lässt, ist es nicht notwendig, jedes potentielle Mitglied als Mitglied zu betrachten. Doch, so der Einwand, ist damit wirklich die skeptische Herausforderung beantwortet, d. h. ist dies in irgendeiner Form eine Antwort auf die Frage, warum „125“ und nicht „5“ die richtige Antwort ist? Dieser Einwand kann verschiedene Formen annehmen. Ich möchte in zwei voneinander zu unterscheidenden Varianten des Einwandes besprechen.46 46

Eine lange Liste von Vertretern des Einwands findet sich bei Kusch, vgl. Kusch (2006), S. 266.

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5.1. Uminterpretation Die erste Version des Einwands versucht das Uminterpretationsargument auf die skeptische Lösung anzuwenden: Erste Version: Unterscheiden wir zwischen Neigung und Quneigung! Es gelte per definitionem: Man quneigt dazu, auf „68 plus 57=?“ „5“ zu antworten; in allen anderen Fällen stimmt die Quneigung mit der Neigung überein. Vielleicht sind, wenn die Berechtigungsbedingungen von Meinenszuschreibungen angegeben werden, Quneigungen und nicht Neigungen gemeint! Auf diesen Einwand geht Kripke in einer „Note added in proof“ explizit ein: Necessarily he [=Wittgenstein] must give this description in our own language. […] This cannot be an objection to Wittgenstein’s solution unless he is to be prohibited from any use of language at all.47

Kripkes Wittgenstein gesteht also zu, dass man sich einer Sprache bedient, wenn man eine Antwort auf die skeptische Herausforderung zu geben versucht. Dieses Zugeständnis betrifft nicht nur die skeptische Lösung. Auch allen Theorien, die im zweiten Kapitel besprochen werden, wird zugestanden, dass sie in unserer Sprache formuliert werden – wie sollte man sie sonst überhaupt diskutieren können? Würde dieses Zugeständnis nicht gemacht werden, könnte man z. B. gegen den Dispositionalismus einwenden, dass die Dispositionalistin vielleicht mit „Disposition“ gar nicht Disposition, sondern Quisposition meint. Daher sollte man den Einwand nicht als einen bezüglich der Formulierbarkeit der skeptischen Lösung stellen. Vertreter der skeptischen Lösung wie Vertreter einer direkten Lösung dürfen alle ihre Position formulieren.

47

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5.2. Warum gerade diese Berechtigungsbedingungen? Die zweite Version des Einwands geht von einem bestimmten Verständnis des Verhältnisses von Wahrheits- zu Berechtigungsbedingungen aus: Zweite Version: Angenommen wir folgen Kripkes Wittgenstein darin, nicht mehr nach Wahrheitsbedingungen, sondern nur noch nach Berechtigungsbedingungen zu fragen. Wie lässt sich daraus eine Antwort auf die skeptische Herausforderung gewinnen? Die Skeptikerin muss doch nur ihre Frage, warum „125“ die wahre Antwort ist, zu der Frage abändern, warum die Antwort „125“ die berechtigte Antwort ist. In der Tat, in gewisser Weise ist der Wechsel von Wahrheits- zu Berechtigungsbedingungen für den Umgang mit der skeptischen Herausforderung irrelevant. Antwortet man der Skeptikerin lediglich, „125“ sei eben die Antwort, zu der man neige, kann sie entgegnen, dass ihr das durchaus bekannt sei. Ihre Frage sei nicht, wie man de facto auf „125“ komme. Ihre Frage sei, warum man der Meinung sei, dies genüge für Berechtigung. Sind wir wirklich berechtigt, auf „68 plus 57=?“ „125“ zu antworten? Nur weil wir aufhören, von Wahrheitsbedingungen zu sprechen, sind wir nicht der Pflicht enthoben, unsere Berechtigungsbedingungen gegen alternative Berechtigungsbedingungen zu verteidigen. Dies ist meines Erachtens der schärfste Einwand und ich vermute, dass es Überlegungen dieser Art waren, die Kripke dazu brachten, am Ende der „Note added in proof“ zu bekennen: I feel some uneasiness may remain regarding these questions. Considerations of time and space, as well as the fact that I might have to abandon the role of advocate and expositor in favor of that of critic, have led me not to carry out a more extensive discussion.48

48

Kripke (1982), S. 146 n. 87.

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Um den Einwand entkräften zu können, muss man zugeben, dass der Wechsel von Wahrheits- zu Berechtigungsbedingungen höchstens die halbe Miete ist. Die skeptische Lösung ist nur dann überhaupt eine Antwort auf die skeptische Herausforderung, wenn sie um die These von der „Autonomie der Grammatik“ ergänzt wird. Diese These besagt ungefähr: Grammatische Regeln lassen sich weder rechtfertigen noch kritisieren.49 Die Skeptikerin meint dagegen, es sei sinnvoll, die Berechtigungsbedingungen zu hinterfragen. Sind wir wirklich berechtigt, z. B. auf „8 plus 7=?“ „15“ zu antworten, nur weil wir dazu geneigt sind (und keiner korrigierend eingreift)? Nur wenn die skeptische Lösung diese Frage als sinnlos aussortieren kann, kann sie die Rückkehr der skeptischen Herausforderung verhindern. Genau dies leistet die Autonomiethese. Die Frage ist solange sinnlos, bis geklärt ist, was es heißen soll, eine grammatische Regel zu rechtfertigen. Dass eine grammatische Regel nicht gerechtfertigt werden kann, ist ein Korollar des skeptischen Paradoxes. An irgendeiner Stelle können wir nur unser Verhalten als Sprecher – oder, wie Wittgenstein sagen würde: das Sprachspiel – nur noch beschreiben.

6. Die skeptische Lösung und die Metaphysik des Meinens Die drei zu Beginn vorgestellten Einwände haben sich als haltlos erwiesen. Aber was lässt sich positiv über die skeptische Lösung sagen? Ich möchte abschließend meine Interpretation von Kripkes Wittgensteins skeptischer Lösung mittels fünf Thesen zusammenfassen: (1) Die Idee einer skeptischen Lösung. Eine skeptische Lösung besteht nicht in einer neuen Analyse des Meinens; sie beruht auf einer anderen Art der Verteidigung des Meinens.

49

Ich kann hier weder auf die Diskussion um den Begriff der „Grammatik“ noch auf die Diskussion um die Autonomiethese selber genauer eingehen, vgl. dazu Glock (1996), S. 45-50 und Forster (2004).

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(2) Non-Faktualismus. Meinenszuschreibungen und Richtigkeitsaussagen sind wahrheitswertfähig (und oft wahr), aber dennoch gibt es keine Meinenstatsachen. Damit stimmt die skeptische Lösung der Skeptikerin darin zu, dass es keine Meinenstatsachen gibt und es daher auch nichts gibt, das eine Äußerung richtig macht. Selbstverständlich stimmt Kripkes Wittgenstein der Skeptikerin nicht zu „that the entire idea of meaning vanishes into thin air“ (Kripke (1982), S. 22). (3) Berechtigungs- statt Wahrheitsbedingungen. Die Berechtigung zu Meinenszuschreibungen und Richtigkeitsaussagen folgt dem Neigungs- und Korrekturmodell. Berechtigung ist dabei nicht koextensional mit Wahrheit. (4) Unmöglichkeit einer Privatsprache. Es kann keine Privatsprache geben, da bei einer Privatsprache dieses Modell nicht greifen kann: Es gäbe nur Neigungen, aber keine Korrekturen. (5) Autonomie der Grammatik. Dass wir diesen Berechtigungsbedingungen und nicht etwa anderen folgen, lässt sich weder rechtfertigen noch kritisieren. Welches metaphysische Bild vom Meinen wird mit diesen Thesen gezeichnet? Oberflächlich weist die skeptische Lösung eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Primitivismus bezüglich des Meinens auf.50 Schließlich behaupten beide, dass sich ein bestimmtes Erklärungsprojekt nicht durchführen lässt. Dennoch gehen beide mit der Frage, was dafür sorge, dass „125“ die richtige Antwort auf „68 plus 57=?“ sei, ganz anders um. Der Primitivist hält diese Frage für beantwortbar und verweist in seiner Antwort auf eine metaphysisch primitive Tatsache des Meinens. Kripkes Wittgensteins dagegen hält die Frage 50

Den Primitivismus als eine direkte Antwort auf die skeptische Herausforderung verteidigen u. a. McDowell (1984), (1992), Pettit (1990) und Stroud (1996). Kusch dagegen liest die skeptische Lösung als eine Form des Primitivismus. Kusch zufolge handelt es sich beim Primitivismus daher nicht um eine Alternative zur skeptischen Lösung (vgl. Kusch (2006), Kap. 7).

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nicht für beantwortbar und ersetzt sie durch die Frage, ob wir zu der Behauptung, dass „125“ die richtige Antwort ist, berechtigt sind. Zwei Unterschiede zwischen einem Primitivismus und der skeptischen Lösung möchte ich also hervorheben: Erstens lassen sich gemäß der skeptischen Lösung Meinenszuschreibungen deshalb nicht unter Verweis auf Tatsachen verteidigen, weil es keine Tatsachen gibt. Wenn es keine Tatsachen gibt, dann gibt es auch keine primitiven Tatsachen. Der Primitivismus dagegen behauptet gerade die Existenz solcher Tatsachen. Zweitens handelt es sich bei der skeptischen Lösung nicht um eine Form des Quietismus.51 Sie ist keine leere Bekräftigung des immer schon Geglaubten, sondern erhebt durchaus einen gehaltvollen Erklärungsanspruch. Dieser betrifft jedoch nicht die Frage, was das Meinen ist, sondern die Frage nach der Berechtigung von Meinenszuschreibungen. Die These, Behauptungen eines Diskurses seien metaphysisch primitiv, ist solange leeres Gerede, bis erklärt wird, unter welchen Umständen diese Behauptungen berechtigt sind und unter welchen nicht. Ohne eine solche Erklärung bliebe es mysteriös, wie wir einen Unterschied zwischen korrekt und vermeintlich korrekt ziehen könnten. Treffender ist es daher, in der skeptischen Lösung eine Kombination von AntiMetaphysik mit Philosophie-Philie zu sehen: Jeder Versuch, etwas über die Metaphysik des Meinens zu sagen – d. h. unter anderem eine direkte Antwort auf die skeptische Herausforderung zu geben – ist zum Scheitern verurteilt. Doch damit sind mitnichten substantielle philosophische Debatten übers Meinen ausgeschlossen.52 51

Unter Quietismus verstehe ich hier die Position, dass das fragliche Phänomen weder erklärt werden kann, noch einer Erklärung bedarf. Wright fasst den Quietismus etwas enger als „the view that significant metaphysical debate is impossible“ (Wright (1992), S. 202, m. H.). Da der positive Kern der skeptischen Lösung nicht in einer substantiellen metaphysischen These besteht, ist es denkbar, sie als quietistisch in Wrights Sinne zu verstehen. Der Unterschied zwischen Quietismus und skeptischer Lösung, den ich betonen möchte, ist, dass die skeptische Lösung sich nicht dem Slogan „Alle Erklärung muss fort!“ verschreibt. 52 Für hilfreiche Diskussionen danke ich Christian Beyer, Wolfgang Carl, Felix Mühlhölzer, Gordon N. Rößler und Martin Weichold. Ganz besonders danken möchte ich Dolf Rami, ohne dessen drängendes Nachfragen ich nicht auf die

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IDIOLEKTE, SOZIALER GEHALT UND GEMEINSCHAFTSSPRACHEN CHRISTIAN WIRRWITZ

Seit Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen ist die Frage, ob wir alle dieselbe Sprache sprechen, eine komplizierte Frage geworden. Nicht nur sind sich die Exegeten Wittgensteins uneinig, welche Position Wittgenstein bezieht;1 auch von Wittgenstein lose inspirierte Diskussionen wie die um Kripkes Lesart des Regelfolgenparadox2 oder oberflächlich unabhängige Diskussionen wie die um den sozialen Externalismus3 haben diese Frage überaus vielfältig zu beantworten versucht. Ich kann diese Frage hier nicht beantworten, aber ich will für folgende vorsichtige These plädieren: Wenn der soziale Gehalt (also die Bedeutung von Ausdrücken, die durch die Sprachgemeinschaft bestimmt ist) abhängig vom individuellen Gehalt der Ausdrücke in der Verwendung einzelnen Sprecher ist, dann kann man auf den sozialen Gehalt – und damit auch auf die Idee der Gemeinschaftssprache – verzichten. Die These ist so vorsichtig, weil nicht alle Autoren den sozialen Gehalt am individuellen Gehalt festmachen würden.4 Meine Überlegung basiert auf zwei weiteren Annahmen: Ich betrachte Sprache als etwas, dessen wesentliche Merkmale damit zu tun haben, daß es für bestimmte Zwecke nützlich ist. Und ich halte Entitäten für irrelevant, die nichts zu einer Erklärung beitragen. Daraus ergibt sich, daß ein Bild der Sprache vor allem das enthalten 1

Vgl. für einen recht aktuellen Überblick Blume (2002). Vgl. Kripke (1982); Miller & Wright (2002). 3 Vgl. v.a. Putnam (1975) und Burge (1979). 4 Vgl. v.a. McDowell (1984) und meine Diskussion McDowells in Wirrwitz (2010). 2

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sollte, was ihre Nützlichkeit erklärt.5 Ich argumentiere auf den folgenden Seiten dafür, daß dieser Gedanke gegen Gemeinschaftssprachen spricht. Sprache hat viele Funktionen, und es sprengt den Rahmen, nach Erklärungen aller oder vieler dieser Funktionen zu suchen. Ich werde mich auf drei Aspekte von Sprache beschränken, die deshalb interessant sind, weil es naheliegend erscheint, sie mit Hilfe des sozialen Gehalts von Ausdrücken zu erklären: In 2. versuche ich zu zeigen, daß der soziale Gehalt nicht hinreichend ist, um erfolgreiche Kommunikation zu erklären. In 3. argumentiere ich dafür, daß man mit seiner Hilfe sprachliche Korrektheit nicht erklären kann. Und in 4. diskutiere ich die sprachliche Arbeitsteilung bei Expertenbegriffen, für deren Erklärung man nicht auf den sozialen Gehalt zurückgreifen muß – er ist hinreichend, aber nicht notwendig für eine Erklärung. In 5. geht es schließlich um die Frage, welchen Erklärungswert der soziale Gehalt und die Idee der Gemeinschaftssprache insgesamt betrachtet haben. Zuerst werde ich jedoch einige Unterscheidungen einführen, die für meine Überlegung nötig sind – insbesondere die Unterscheidung zwischen individuellem und sozialem Gehalt, und die zwischen Idiolekten und Gemeinschaftssprachen.

5

Wie wittgensteinianisch sind meine beiden Annahmen? Wittgenstein bezeichnet in den Philosophischen Untersuchungen die Sprache nicht als Werkzeug, aber als Instrument, und er spricht oft von den Werkzeugen und Instrumenten der Sprache (vgl. Wittgenstein (1953), §569 sowie §§16, 23, 50, 53, 57, 291, 360 und 421). Er behauptet auch nicht, daß der Gebrauch alles ist, was man an der Sprache berücksichtigen muß, aber er gesteht ihm eine wichtige Rolle zu (§43). Zudem sagt Wittgenstein sagt nicht explizit, daß der Erklärungswert einer Annahme das ist, was sie erwähnenswert macht, aber er legt nahe, durch Faktoren zu kürzen, deren An- oder Abwesenheit keinen Unterschied macht (§§270f., 293). Ich widerstehe darüber hinaus der Versuchung, meine Position als die Wittgensteins auszugeben – nicht aus Bescheidenheit, sondern schuldbewußt: Neben der bereits genannten Annahme, daß der soziale Gehalt vom individuellen abhängig ist, vertrete ich im folgenden mindestens zwei weitere Thesen, die Wittgenstein vermutlich ablehnen würde. Vgl. Fn. 15, den Einwand am Ende von Abschnitt 3. sowie Wirrwitz (2010).

Idiolekte, sozialer Gehalt und Gemeinschaftssprachen

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1. Gemeinschaftssprachen und sozialer Gehalt Ein Streit um die Gemeinschaftlichkeit von Sprache ist immer ein Streit darüber, wie und in welcher Hinsicht Sprache sozial ist, und nicht, ob sie es ist. Ich möchte in diesem Abschnitt einige Ideen diskutieren, mit deren Hilfe man verschiedene Stufen der Gemeinschaftlichkeit unterscheiden kann. Mit Hilfe dieser Stufen werde ich am Ende des Abschnitts die Thesen der nächsten Abschnitte genauer formulieren können. Privatsprachen, Solitärsprachen, Idiolekte und Gemeinschaftssprachen. Eine Sprache kann in unterschiedlichem Ausmaß öffentlich sein. Privatsprachen sind solche Sprachen, die aus Ausdrücken bestehen, die sich auf private – d.h. von außen nicht zugängliche – Episoden beziehen.6 Solitärsprachen sind Sprachen, die ein einzelner Sprecher sprechen könnte, ohne jemals mit anderen Sprechern in Berührung gekommen zu sein. Idiolekte sind dagegen Varianten von gemeinschaftlichen Sprachen, die sich von Sprecher zu Sprecher nur in bestimmten Aspekten unterscheiden. Und Gemeinschaftssprachen sind schließlich solche, die von mehr als einem Sprecher gesprochen werden, wobei die Entscheidung, ob eine Verwendungsweise eines Ausdrucks korrekt ist oder nicht, in den Händen der Gemeinschaft liegt.7 Bei diesen einfachen Charakterisierungen treten zwei Aspekte hervor: Eine deskriptive Komponente, die die Frage betrifft, welcher Gehalt von den Sprechern de facto mit den Ausdrücken verbunden wird. Und eine normative Komponente, die sowohl die Frage betrifft, welcher Gehalt mit den Ausdrücken verbunden werden sollte, als auch, wer das Sagen hat – wessen Gebrauch der Ausdrücke verbindlich ist. 6

Vgl. Wittgenstein (1953), §243. Das ist zweideutig formuliert: Damit soll weder impliziert noch ausgeschlossen sein, ob die Gemeinschaft bewußt oder absichtlich darüber bestimmen darf, was ein Ausdruck bedeutet. Ist Bedeutung urteilsabhängig, spricht vieles für einen Antirealismus – das soll mit dieser Charakterisierung von Gemeinschaftssprachen noch nicht entschieden sein. Vgl. McDowell (1984), Wright (1989) und Hale (1997). 7

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Es wird in diesem Aufsatz nicht um Privatsprachen, nur wenig um Solitärsprachen und vor allem um Idiolekte und Gemeinschaftssprachen gehen. Ich möchte diese Ausdrücke auf die normative Komponente des Sprachgebrauchs beziehen. Anders gewendet: I. Ob eine Sprache eine Gemeinschaftssprache ist, hängt davon ab, wer die Autorität über die korrekte Verwendung der Ausdrücke hat.

Daraus folgen zwei Dinge. Zum einen liegt eine Gemeinschaftssprache nicht schon dann vor, wenn zwei Sprecher denselben Gehalt mit ihren Ausdrücken verbinden: Es geht darum, daß die Autorität über die korrekte Verwendungsweise von Ausdrücken nicht in der Hand jedes einzelnen Sprechers liegt, sondern eben in den Händen der Gemeinschaft. Zum anderen liegen Idiolekte nicht schon dann vor, wenn zwei Sprecher unterschiedliches Vokabular benutzen. Wiederum ist entscheidend, ob die korrekte Verwendungsweise der Ausdrücke vom Sprecher selbst bestimmt werden kann oder nicht. Es handelt sich erst dann um einen Idiolekt, wenn die Autorität beim einzelnen Sprecher liegt. Zwei Sprecher können demzufolge Idiolekte sprechen, obwohl sie exakt dieselbe Sprache sprechen, sofern es in ihrer Hand liegt, wie sie die Ausdrücke gebrauchen. Ein letztes Detail zu Gemeinschaftssprachen: Von manchen Ausdrücken kann man annehmen, daß ihre korrekte Verwendungsweise durch einen Großteil der Sprecher der Sprache bestimmt ist, weil sie zu einem Bereich der Sprache gehören, der den meisten vertraut ist. So ist es bei Farbprädikaten. Andere Ausdrücke werden durch Experten bestimmt: So ist es etwa bei technischen Begriffen aus den Wissenschaften oder bei Begriffen aus der Sportwelt. Wenn ich im folgenden von Gemeinschaftssprachen rede, beziehe ich mich, sofern nicht genauer bestimmt, auf beide Ideen. Sozialer vs. individueller Gehalt von Ausdrücken. Prinzipiell können Sprecher zwei Arten von semantischen Fehlern machen, sofern sie Gemeinschaftssprachen sprechen: Sie können gemessen an ihrem eigenen semantischen Wissen Fehler machen, und sie können gemessen an der Gemeinschaftssprache Fehler machen. Die erste Art von Fehlern werde ich kurz in 3. diskutieren; ansonsten werde ich davon

Idiolekte, sozialer Gehalt und Gemeinschaftssprachen

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ausgehen, daß die betrachteten Sprecher so reden, wie sie es für richtig halten. Eine in diesem Sinne korrekte Verwendungsweise spiegelt den individuellen Gehalt der Ausdrücke wider. Macht ein Sprecher keine Fehler der zweiten Art, stimmt der individuelle Gehalt mit dem sozialen Gehalt überein. Damit kann man zwei Ideen unterscheiden: den individuellen Gehalt der Ausdrücke eines Sprechers, wie er sie de facto und nach eigenem Ermessen korrekt verwendet, und den sozialen Gehalt der Ausdrücke, der dadurch bestimmt ist, wie er die Ausdrücke gemessen an den Verwendungen durch die Gemeinschaft verwenden sollte. Wenn eine Sprache ein Idiolekt ist, ist der individuelle Gehalt der korrekte Gehalt; man mag dann immer noch vom sozialen Gehalt reden (wie bspw. die Mehrheit einen Ausdruck verwendet), aber dieser soziale Gehalt hat keine normative Kraft; d.h. man kann ihn nicht heranziehen, um die Korrektheit einer Verwendung zu beurteilen. Wenn eine Sprache dagegen eine Gemeinschaftssprache ist, dann hat der soziale Gehalt die normative Kraft, und der individuelle Gehalt läßt sich beschreiben, aber nicht zur Beurteilung der Verwendung von Ausdrücken heranziehen. Entsprechend können wir in Anlehnung an die obige These I. festhalten: II. Ob ein Ausdruck einen individuellen oder einen sozialen Gehalt hat, hängt davon ab, ob der Sprecher selbst oder (auch) andere Sprecher die Autorität über die korrekte Verwendung des Ausdrucks haben.8

Eingangs habe ich eine weitere Annahme genannt, auf der meine Überlegung aufbaut, und die ich hier nicht verteidigen werde.9 Sie lautet: III. Die Idee des sozialen Gehalts ist abhängig von der Idee des individuellen Gehalts, denn der soziale Gehalt ist der individuelle Gehalt der Ausdrücke anderer Sprecher, der für den einzelnen Sprecher verbindlich ist. 8

Das „auch“ kommt ins Spiel, weil für den Fall, daß die korrekte Verwendung des Ausdrucks in den Händen aller Sprecher liegt, der Sprecher selbst – zusammen mit allen anderen Sprechern – einen Teil der Autorität hat. 9 Vgl. Wirrwitz (2010).

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Wird der soziale Gehalt durch den Gebrauch aller Sprecher bestimmt, ist der individuelle Gehalt, den alle Sprecher mit dem fraglichen Ausdruck verbinden, die Quelle für den sozialen Gehalt. Geht es um Expertenbegriffe, ist der individuelle Gehalt, den die Experten mit dem Ausdruck verbinden, entscheidend. Mit den genannten Unterscheidungen kann man fünf Stufen der Gemeinschaftlichkeit von Sprache unterscheiden: I.

II.

III.

IV.

V.

Der Sprecher bezieht sich mit seinen Ausdrücken auf innere Episoden, die von außen prinzipiell unzugänglich sind. (Privatsprache) Der Sprecher bezieht sich mit seinen Ausdrücken auf zugängliche Dinge, ignoriert aber andere Sprecher vollständig. (Solitärsprache) Der Sprecher orientiert sich in seiner Verwendung der Ausdrücke an anderen Sprechern, ohne daß deren Gebrauch der Ausdrücke verbindlich ist. (Idiolekt ohne Ausdrücke mit sozialem Gehalt) Der Gebrauch mancher Ausdrücke durch andere Sprecher hat normative Kraft: Sozialer Gehalt ist nicht nur theoretisch bestimmbar, sondern bei manchen Ausdrücken verbindlich. (Idiolekt mit Ausdrücken mit sozialem Gehalt) Für alle Sprecher der Sprachgemeinschaft ist derselbe Gebrauch aller Ausdrücke verbindlich. (Gemeinschaftssprache)

Meine Überlegung betrifft Stufen III bis V; Stufe IV beinhaltet die Idee des sozialen Gehalts, aber die Sprachen sind, solange nicht alle Ausdrücke einen sozialen Gehalt haben, Idiolekte. Ausblick. Mit diesen Stufen läßt sich genauer fassen, wofür ich argumentieren will. In 2. will ich zeigen, daß der soziale Gehalt für den Erfolg von Kommunikation irrelevant ist, weil es hochgradig unwahrscheinlich ist, daß wir de facto denselben Gehalt mit Ausdrücken verbinden, diese Tatsache aber nichts daran ändert, daß wir erfolgreich kommunizieren. Unter der Voraussetzung, daß wir auf theoretische Größen verzichten sollten, wenn sie keinen Erklärungswert haben, können wir die Stufen IV und V ausschließen: Stufe III reicht zur Erklärung erfolgreicher Kommunikation. 3. widmet sich der Frage, wie sprachliche Korrektheit erklärt werden kann. Die Rolle der Gemeinschaft bei dieser Erklärung er-

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schöpft sich vollständig in Stufe III – weder der soziale Gehalt, noch die Gemeinschaftssprache wären hinreichend, geschweige denn notwendig, sprachliche Korrektheit erklären zu können. 4. ist differenzierter: Hier geht es um Expertenbegriffe und die damit verbundene sprachliche Arbeitsteilung. Solange man nicht alle Ausdrücke als Expertenbegriffe bezeichnen möchte, plädieren diese Überlegungen von vornherein nur für Stufe IV. Ich möchte zeigen, daß Expertenbegriffe auch mit Stufe III erklärbar sind.

2. Erfolgreiche Kommunikation Der erste Aspekt, der mit dem sozialen Gehalt erklärt werden soll, ist das Gelingen der Kommunikation, das darauf zurückgeführt wird, daß der Zuhörer erfaßt, welchen Gehalt der Sprecher mit den geäußerten Ausdrücken verbindet. Ich will in diesem Abschnitt zwei Dinge zeigen: 1.

2.

Die Idee der Gemeinschaftssprache hat in diesem Kontext nur dann Erklärungswert, wenn sie sicherstellt, daß die Sprecher einer Sprache im großen und ganzen denselben Gehalt mit den Ausdrücken verbinden. Das ist mit hoher Wahrscheinlichkeit falsch. Durch die Tatsache, daß der individuelle Gehalt potentiell verschieden von Sprecher zu Sprecher ist, kann gelingende Kommunikation nur erklärt werden, wenn der individuelle Gehalt zugänglich ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob der individuelle Gehalt gemessen an externen Faktoren korrekt ist. In diesem Sinne ist sozialer Gehalt irrelevant.

Der zweite Punkt ist der entscheidende, aber er baut auf dem ersten auf – deshalb zunächst zu der Frage, wie groß die Einigkeit zwischen den Sprechern einer Sprachgemeinschaft ist. Dispositionen und Meinungen. Dem Gehalt von Ausdrücken wurde nachgesagt, von Absichten, Vorstellungen, Meinungen, Dispositionen, oder schlicht dem Gebrauch einzelner, besonderer oder aller

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Sprecher abzuhängen.10 Wer unter den Sprechern tonangebend ist, steht im Fokus dieser Arbeit. Welche Faktoren im Verhalten oder in der Innenwelt der Sprecher bedeutungsrelevant sind, soll hier nicht entschieden werden. Um aber die Diskussion übersichtlich zu halten, werde ich mich auf Dispositionen und Meinungen konzentrieren. Wenn wir uns fragen, von welchen Faktoren der Gehalt eines Ausdrucks abhängt, dann kann man diese Frage in die folgende ummünzen: Wonach schauen wir, wenn wir sichergehen wollen, daß ein anderer Sprecher mit einem Ausdruck dieselbe Bedeutung verbindet wie wir? Nehmen wir zwei einfache Beispiele: Bei „rot“ werden wir danach schauen, auf welche Dinge der Sprecher mit dem Ausdruck reagiert; bei „Junggeselle“ sind nicht die bezeichneten Dinge, sondern die Meinungen des Sprechers interessant – warum bezeichnet er einen Mann als Junggesellen, und einen anderen nicht? Nicht alle Reaktionen des Sprechers verraten etwas über seine Dispositionen, einen Ausdruck anzuwenden – wie wir in 3. sehen werden, geht es um die Reaktionen unter irrtumsfreien Umständen. Auch mögen nicht alle Meinungen für den Gehalt relevant sein, sondern nur die definierenden Meinungen, die mit dem Ausdruck verbunden sind.11 Und schließlich mag es Theorien geben, in denen auch der Gehalt von „rot“ von Meinungen abhängt oder der Gehalt von „Junggeselle“ an den Dispositionen zur Verwendung des Ausdrucks. Dennoch: Die Richtungen dieser Ideen sind klar, und wir müssen nicht zwischen ihnen entscheiden, um mit ihnen im folgenden zu arbeiten.12 10

Ich blende die Abhängigkeit von den Strukturen der Wirklichkeit aus, die im physischen bzw. kausalen Externalismus eine Rolle spielt. Diese Position kann hier aus Platzgründen nicht diskutiert werden. (Vgl. Wirrwitz (2009), §§ 1.6 & 2.5.) Aus denselben Gründen sollen begriffliche Rollen und inferentielle Beziehungen als bedeutungsrelevante Faktoren keine Rolle spielen. 11 Ob alle Meinungen über einen Gegenstand einen Einfluß auf den Gehalt des Ausdrucks haben, der den Gegenstand bezeichnet, hängt u.a. davon ab, ob die Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Sätzen greift: Mit dieser Unterscheidung haben allein definierende Meinungen und andere analytische Sätze einen Einfluß auf den Gehalt. 12 Um es zu betonen: Dies sind nur zwei Möglichkeiten, den Gehalt an der Innenwelt oder am Verhalten des Sprechers festzumachen. Aus Platzgründen

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Es gibt viel darüber zu sagen, wie umfangreich die Einigkeit verschiedener Sprecher bezogen auf die Dispositionen und Meinungen zur Verwendung von Ausdrücken ist. Ich will nur an folgende vier Beobachtungen erinnern, um den Leser zu ermahnen, nicht auf die Einigkeit zu vertrauen: Erstens. Wir alle haben unterschiedliche Lerngeschichten – und selbst wenn sie identisch wären, führten sie nicht automatisch zu identischen Dispositionen und Meinungen. Die genaue Form der Dispositionen zur Verwendung von Ausdrücken unter irrtumsfreien Umständen hängt davon ab, an welchen Gegenständen der Ausdruck erlernt wurde. Das ist dann relevant, wenn ein Lernen an den Gegenständen nicht später durch definierende Meinungen ergänzt wird (wie es bei „Auto“ so sein mag). Wir haben alle an unterschiedlichen Gegenständen die Ausdrücke „Baum“ oder „Blume“ gelernt, deshalb ist die Wahrscheinlichkeit gering, daß sich unsere Dispositionen gleichen. Selbst wenn wir aber an denselben Gegenständen einen Ausdruck erlernt hätten, müßten wir noch nicht dieselben Dispositionen und Meinungen ausgebildet haben, weil Dispositionen und Meinungen durch die Lernobjekte unterbestimmt sind. Emil hat z.B. in jungen Jahren den Ausdruck „Tisch“ anhand dieser Gegenstände erlernt: - der große Wohnzimmertisch: oval, 4 Beine, für ca. 8 Personen, ausziehbar; Holz - der kleine Wohnzimmertisch: quadratisch, flach, steht auf einer Rohrkonstruktion, nicht geeignet, um daran zu essen; Holz und Metall - der Küchentisch: quadratisch, 4 Beine, für max. 4 Personen; Holz - der Gartentisch: rund, 1 Bein, für ca. 6 Personen; Plastik - 3 gemalte Tische in Kinderbüchern, alle viereckig, zwei davon mit 4, der dritte mit 3 Beinen

muß ich die Übertragung meiner Argumente auf andere Möglichkeiten dem Leser überlassen. Vgl. Wirrwitz (2009), §4.8 für einige gute Gründe, warum mit anderen Bedeutungskonzeptionen keine anderen Ergebnisse zu erwarten sind.

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Sagen wir, daß das Emils Bezugsgegenstände für „Tisch“ sind. Wenn nun Emil einen Zwillingsbruder namens Paul hat, dann könnte es sein, daß Paul anhand derselben Gegenstände den Ausdruck „Tisch“ erworben hat. Aber das heißt nicht, daß Emil und Paul den Ausdruck fortan gleich verwenden und entsprechend identische Dispositionen haben: Um den Ausdruck auf andere Gegenstände als die Bezugsgegenstände anzuwenden, muß von vielen Merkmalen der Bezugsgegenstände abstrahiert werden. Solche Abstraktionsleistungen sind nicht vollständig durch die Bezugsgegenstände bestimmt. Sofern Merkmale der Bezugsgegenstände im Lernprozeß von beiden unterschiedlich gewichtet werden, wird sich auch eine spätere Anwendung auf neue Gegenstände potentiell unterscheiden. Zweitens. Wir haben es nicht im Gespür, wie andere auf ungewöhnliche Verwendungsweisen von Ausdrücken reagieren würden. Es ist klar, daß wir innerhalb gewohnter Umgebungen vertraute Ausdrücke nahezu identisch verwenden, sofern es um die gewohnten Verwendungsweisen geht. Aber wir wissen weder, wie es in ungewohnten Umgebungen aussieht, noch, wie andere Sprecher auf ungewohnte Verwendungsweisen reagieren.13 Hier ist eine Liste von Beispielen: -

13

Ist eine Straßenbahn oder eine S-Bahn ein Zug? Sind Schachfiguren Spielzeug? Ist die Arbeitsplatte in der Küche ein Tisch? Wäre eine massive Holzplatte in 70cm Höhe, an der Stühle stehen, die aber über eine Treppe begangen werden kann, ein Tisch? Wäre eine 20m hohe Pflanze mit Blüte an der Spitze ein Baum? Wäre ein Cello mit Bünden und sechs Saiten, die wie bei einer Gitarre gestimmt sind, eine Gitarre? Ist ein Sandsack, der zum Schlafen unter den Kopf gelegt wird, ein Kopfkissen? Wenn jemand die Wahrheit ironisch ausspricht, um andere zu verwirren – ist das eine Lüge?

Vgl. Wittgenstein (1953), §80 und Waismann (1951). Waismann beschreibt solche Fälle als potentielle Vagheit von Ausdrücken; ich plädiere gleich dafür, dies nicht als ein Problem von Vagheit abzutun.

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Ich möchte zwei Dinge betonen: Es geht nicht um vage Ausdrücke, sondern um die Unsicherheit darüber, wie andere Sprecher reagieren. Vagheit ist weder hinreichend, noch notwendig für diese Unsicherheit: Würden alle Sprecher in ihrer Unsicherheit über die Verwendung vager Ausdrücke (z.B. ob 200 Haare schon eine Glatze sind) übereinstimmen, stünde einer Gemeinschaftssprache nichts im Wege. Man kann sich andererseits auch bei Ausdrücken, deren Extensionsgrenzen einem völlig klar sind, unsicher sein, wie die Extensionsgrenzen der Ausdrücke verlaufen, wenn sie von anderen Sprechern verwendet werden. Der zweite wichtige Punkt ist: Das sind willkürlich gewählte Beispiele, die in keiner Weise auf bestimmte Ausdrucksarten beschränkt sind. Es mag sein, daß manche Beispiele weniger einleuchten als andere, und es mag sein, daß es Ausdrücke in bestimmten Bereichen gibt, die so klar definiert sind, daß man sich gar nicht vorstellen kann, daß ein anderer Sprecher diese Definition nicht anerkennen könnte. Zu solchen Ausdrücken komme ich gleich; für alle anderen gilt: Selbst wenn wir unsere eigenen Verwendungsweisen der Ausdrücke gut überblicken, wissen wir bei den meisten Ausdrücken nicht, wie die anderen Sprecher sie in ungewöhnlichen Fällen anwenden würden. Deshalb haben wir auch keinen guten Grund für die Annahme, daß die anderen Sprecher die Ausdrücke so verwenden wie wir. Drittens. Gleichlautende Meinungen bedeuten nicht zwangsweise dasselbe. Der Gehalt mancher Begriffe ist, so wollen wir nun annehmen, durch die definierenden Meinungen des Sprechers oder mehrerer Sprecher bestimmt. Der Gehalt der definierenden Meinungen hängt dabei entweder von den Anwendungsbedingungen des ganzen Satzes ab, dann spielen die Dispositionen der Sprecher, diese Sätze zu verwenden, eine Rolle – und wir können aus den oben genannten Gründen nicht sicher sein, daß sich die Sprecher in diesen Dispositionen einig sind. Oder der Gehalt der Sätze hängt von den Ausdrücken ab, aus denen sie gebildet sind. Wenn der Gehalt dieser Ausdrücke wiederum von Dispositionen abhängt, greifen obige Überlegungen. Sind es primitive Begriffe, können wir nicht recht sa-

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gen, ob sie aus dem Mund verschiedener Sprecher denselben Gehalt haben. Ist der Gehalt der Wörter aber ebenfalls von definierenden Meinungen abhängig, entsteht ein Bedeutungsholismus, der beinhaltet, daß sich kein Begriff ändern kann, ohne daß sich alle anderen, durch die definierenden Meinungen vernetzten Begriffe auch ändern. Kleine Bedeutungsunterschiede sind entsprechend weitreichend: Zwei Begriffssysteme, die aus Ausdrücken bestehen, deren Gehalt von definierenden Meinungen abhängt, können sich nicht in nur einem oder wenigen Begriffen unterscheiden – vielmehr unterscheiden sie sich vollständig. Diese Überlegung ist interessant, weil sie die wenigen Ausdrücke betrifft, für die viele Sprecher klare Definitionen angeben können – Ausdrücke aus der Mathematik (Primzahl, Quadrat, Viereck), Ausdrücke über Verwandtschaftsbeziehungen (Mutter, Schwager, Junggeselle) und populäre wissenschaftliche Ausdrücke (Arthritis). Sofern diese Ausdrücke ihren Gehalt anderen Ausdrücken verdanken, müssen die Ausdrücke zweier Sprecher auf dieselbe Art vernetzt sein, oder auf Ausdrücke zurückzuführen sein, die – als primitive oder von Dispositionen abhängige Ausdrücke – denselben Gehalt haben. Das ist theoretisch möglich, aber extrem unwahrscheinlich. Wenn zwei Sprecher einen Ausdruck durch dieselben Sätze definieren, besteht keine Garantie dafür, daß die Ausdrücke denselben Gehalt haben. Viertens. Wir haben nur für wenige Ausdrücke klare definierende Meinungen. Sieht man von den eben genannten Beispielen ab, ist es nicht sehr leicht, Ausdrücke gut zu definieren. Das hat zwei Gründe: Zum einen hat man oft keine Idee, was zu den wesentlichen Merkmalen der Dinge gehört, auf die sich ein Ausdruck bezieht. Diese Ideenlosigkeit kann man umgehen, wenn man die Definierbarkeit eines Ausdrucks an der Fähigkeit des Sprechers festmacht, aus vorgegebenen definierenden Meinungen in einem Test zu wählen: Er braucht nur die Sätze anzukreuzen, die er zu den Bedingungen der Anwendung des Ausdrucks zählt. Übrig bleibt der zweite Grund, der das Definieren schwierig macht: Man ist sich nicht sicher, ob ein bestimmtes Merkmal notwendig ist.

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Man kann natürlich einwenden, daß die meisten Sprecher dennoch ein implizites Wissen von den Definitionen haben14 – aber ich habe den Verdacht, daß dies ein Rückzugsgefecht ist. Wir haben nur wenige Anhaltspunkte, welche von zwei Definitionen ein anderer Sprecher akzeptiert, sofern wir seine geäußerten Meinungen ignorieren. Wenn er in seinen Äußerungen darüber, ob ein Merkmal notwendig für die Anwendung des Begriffs ist, unschlüssig ist, und seine Verwendung des Ausdrucks diese Unschlüssigkeit widerspiegelt (d.h. er zögert bei Exemplaren, die das Merkmal nicht haben), dann haben wir kein Kriterium für das implizite Wissen, das über sein Verhalten und sein explizites Wissen hinaus geht. Wenn aber gar nicht klar ist, wie wir oder andere Sprecher einen Ausdruck definieren, wie können wir dann noch davon ausgehen, daß wir alle die Ausdrücke auf dieselbe Art definieren würden? Wiederum wird deutlich, wie vermessen die Annahme ist, daß eine große Einigkeit bzgl. des Gehalts der Ausdrücke innerhalb einer Sprechergemeinschaft herrscht. Zugänglichkeit des sozialen Gehalts. Auf den letzten Seiten ging es darum, wie unwahrscheinlich eine Einigkeit zwischen den Sprechern ist: Es gibt, soweit ich sehe, keine vollständig geteilte Sprache innerhalb einer Sprachgemeinschaft. Das ist aber nur der erste Schritt meiner Überlegung, denn ich hatte mir mehr vorgenommen: Ich wollte zeigen, daß man für die Erklärung der alltäglichen Kommunikation weder eine Gemeinschaftssprache, noch die Verbindlichkeit des sozialen Gehalts unterstellen muß. Dafür ist nun der zweite Schritt nötig: Wenn es de facto keine einheitliche Sprache gibt, und der Gehalt von Ausdrücken dennoch eine Rolle bei der Erklärung geglückter Kommunikation spielen soll, dann muß man sich auf die Zugänglichkeit konzentrieren. Aber der soziale Gehalt ist, so zeige ich gleich, nicht zugänglich. 14

Die Idee der definierenden Meinungen impliziert für sich genommen keine Aussage darüber, wie zugänglich dem Sprecher die eigenen Meinungen sind; daß der Gehalt eines Ausdrucks von den Meinungen des Sprechers abhängt, besagt also nicht, daß der Sprecher in der Lage ist, eine explizite Definition für den Ausdruck anzugeben.

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Der individuelle Gehalt ist, so hatte ich vereinfachend angenommen, zugänglich, wenn man die relevanten Meinungen und Dispositionen des Sprechers kennt; der soziale Gehalt ist dagegen zugänglich, wenn man die Meinungen und Dispositionen derjenigen kennt, die das Sagen haben – seien es die Experten oder abstrakte Durchschnittspersonen wie Otto Normalverbraucher. Um nun den sozialen Gehalt der Ausdrücke eines Sprechers zu erfassen, muß man vier Dinge wissen:15 i. ii. iii.

iv.

Zu welcher Sprachgemeinschaft gehört er? Wer hat in dieser Sprachgemeinschaft (bezogen auf die einzelnen Ausdrücke) das Sagen? Wer sind die Sprachfürsten? Welche Meinungen und Dispositionen (oder Regeln, Absichten, Vorstellungen, inferentiellen Muster, begrifflichen Rollen) verbinden die Sprachfürsten mit den Ausdrücken? Wie setzt sich der soziale Gehalt eines Ausdrucks zusammen, wenn er von den Dispositionen oder Meinungen mehrerer Sprecher abhängig ist?

Ob i. schwierig zu beantworten ist, hängt davon ab, was man als Sprachgemeinschaft gelten läßt. Das soll hier keine Rolle spielen. Frage iii. halte ich aus folgendem Grund für gefährlich: Im Alltag wird es schwierig sein, die Dispositionen und Meinungen (oder die anderen Faktoren) eines Sprechers so genau zu bestimmen, daß man den individuellen Gehalt seiner Ausdrücke erfassen kann. Dieses Problem vererbt sich auch auf den sozialen Gehalt, ist aber zu komplex, als daß ich es hier diskutieren möchte.16 Im folgenden werde ich mich auf ii. und iv. konzentrieren und zeigen, daß man diese Fragen im Alltag nicht beantworten kann, und daß deshalb der sozia15

Ich habe mit iii. und iv. eine weitere Voraussetzung im Spiel, die bspw. McDowell und vermutlich auch Wittgenstein selbst ablehnen würde: nämlich daß das Erfassen des sozialen Gehalts davon abhängt, daß man (je nach Ausdruck) entweder weiß, auf welche Dinge sich der Ausdruck bezieht, oder weiß, wie er begrifflich charakterisiert wird. Inwieweit das mit Wittgensteins Ablehnung von Deutungen (vgl. Wittgenstein (1953), §201 und McDowell (1984), §§4ff.) verträglich ist, untersuche ich in Wirrwitz (2010). 16 Das habe ich in §§2.2-2.5 von Kernbedeutung und Verstehen (Wirrwitz (2009)) getan.

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le Gehalt nicht zugänglich ist. Aus dieser Unzugänglichkeit werde ich anschließend seine explanatorische Irrelevanz ableiten. Die Unzugänglichkeit des sozialen Gehalts. Ich will nun kurz daran erinnern, daß wir weder wissen, wer die Sprachfürsten sind, noch wie wir deren Dispositionen und Meinungen zu Informationen über den sozialen Gehalt verarbeiten können. Wir betrachten einen Ausdruck und fragen uns, welchen sozialen Gehalt er hat. Zuallererst ist fraglich, ob der Gehalt des Ausdrucks in den Händen von Experten liegt, oder ob alle Mitglieder der Sprachgemeinschaft gleichermaßen das Sagen haben. Allein diese Frage ist in vielen Fällen schwer zu beantworten, aber sehen wir davon ab. Wenn der Gehalt in den Händen der Experten liegt, weiß man nicht, welche Experten es sind. „Kraft“ und „Energie“ werden im Alltag bspw. ganz anders gebraucht, als in der Physik oder in spirituellen Kontexten. Würde man sich für die Physik entscheiden, würde man auf Formeln stoßen, die die Begriffe mit anderen Begriffen in Beziehung setzen – folgt man dann den definitorischen Pfaden, käme man irgendwann zu Begriffen, die nicht mehr in kanonischen Lehrbüchern definiert werden. Und an dieser Stelle wird es noch schwieriger. Man kann nun beginnen, Physiker zu befragen. Aber wen fragt man? Und vor allem: Was macht man, wenn sich die Physiker widersprechen? Wer hat die Autorität? Man kann diese Fragen nicht nur nicht selbst beantworten – man wüßte noch nicht einmal, wen man fragen könnte, um sich mit der Antwort helfen zu lassen. Ähnlich ist es mit nichtwissenschaftlichen Expertenbegriffen wie „passives Abseits“ oder „Foul“. Auch hier könnte man zunächst auf Regelwerke zurückgreifen; das Definiens eines solchen Begriffs wird freilich Vokabular enthalten, das nicht in Regelwerken erklärt wird. Und wiederum wird man die Wahl haben zwischen sich widersprechenden Expertenmeinungen – und wiederum wird die Wahl schwer fallen. Wenn der Gehalt dagegen in den Händen der gesamten Sprachgemeinschaft liegt, dann weiß man zunächst nicht, nach welchen Prinzipien der Durchschnitt aller Verwendungen gebildet wird.

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Reicht eine einfache Mehrheit bei den definierenden Meinungen? Ist mehr nötig? Wie verfährt man bei völliger Meinungsverschiedenheit angesichts der Frage, ob ein Gegenstand zur Extension eines Ausdrucks gehört oder nicht? Aber selbst wenn dieses Problem geklärt wäre, hätte man immer noch nicht die fraglichen Daten zur Verfügung. Es gibt diese Daten nicht – es gibt keine Aktenordner in Meinungsforschungsinstituten, die uns über die gemeinschaftliche Verwendung von Ausdrücken wie „Tisch“ oder „Linie“ aufklären könnten. Mache ich zuviel aus dem Punkt, daß wir dies alles de facto nicht wissen? Man könnte schließlich einwenden, daß es dennoch richtig wäre, sich am sozialen Gehalt zu orientieren und die Meinungsforschungsinstitute und Schulen zu beauftragen, dem Volk die richtigen Verwendungsweisen kund zu tun. Die Frage wäre freilich, was das bezwecken sollte: Es könnte nur zum Ziel haben, die Kommunikation erfolgreicher zu machen – aber das hieße zu leugnen, daß unsere Gespräche in ausreichendem Maße erfolgreich sind.17 Unzugänglichkeit und Irrelevanz. Der Stand der Dinge ist: Wir wissen im Alltag nicht, was der soziale Gehalt eines Ausdrucks ist, und entsprechend wissen wir nicht, wann unsere Verwendungen der Ausdrücke korrekt gemessen an den Verwendungen der Sprachfürsten sind. Welche Rolle kann der soziale Gehalt bzw. die soziale Korrektheit in einer Erklärung erfolgreicher Kommunikation dann noch spielen? Die Antwort ist: keine – aus der Unzugänglichkeit folgt die kausale Irrelevanz, und aus der kausalen folgt die explanatorische Irrelevanz.18

17

Es ist übrigens keine ausgemachte Sache, daß eine solche Sprachreform mehr als eine vorrübergehende Kalibrierung des individuellen Gehalts der Ausdrücke der einzelnen Sprecher wäre. 18 Ein anderer vertrauter Zug betont nicht die explanatorische Irrelevanz, sondern die absurden Konsequenzen eines unzugänglichen Gehalts: Wenn ich nicht weiß, was meine eigenen Ausdrücke bedeuten, dann verstehe ich mich selbst nicht – ich habe keine Ahnung, was ich denke, glaube, beabsichtige etc. Vgl. für Argumente und Gegenargumente auf diesen Pfaden die Textsammlungen in Wright et al. (1998) und Ludlow et al. (1998).

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Schauen wir uns diesen zweiten Punkt zuerst an: Man kann mit Sprache viele Dinge machen, die allgemein als Kommunikation bezeichnet werden. Wenn man Sprache so betrachtet, dann sind Äußerungen Handlungen und die Dinge, die man durch diese Handlungen verursacht, zu allererst Ereignisse.19 Wir wollen Emotionen oder Meinungsveränderungen in unseren Gesprächspartnern erreichen; daß sie uns Informationen oder Küsse geben; daß sie Dinge überdenken oder den Geschirrspüler leerräumen. Kommunikation ist erfolgreich, wenn man die Dinge, die man mit ihr beabsichtigt, erreicht. Und man beabsichtigt in jedem Fall, Ereignisse herbeizuführen – deshalb betrachte ich Kommunikation als kausalen Vorgang. Und nun ist es so: Alles, was keine kausale Rolle innerhalb der Kommunikation spielt, kann auch in der Erklärung des Erfolgs der Kommunikation weggelassen werden. Wenn jemand gefragt würde, warum sein Auto so zuverlässig fährt, und er verweist auf den Fuchsschwanz an der Antenne, dann testen wir seine Aussage, indem wir den Fuchsschwanz abnehmen und schauen, ob das Auto dennoch zuverlässig fährt. Die Erklärungskraft des sozialen Gehalts hängt also an seiner kausalen Rolle innerhalb der Kommunikation. Innerhalb der Kommunikation heißt dabei, daß er eine Rolle in den Absichten und Meinungen der Sprecher spielen muß, und das tut er offensichtlich nicht:20 Paul erzählt Emil von seinem neuen Tisch – eine Platte, die an Ketten von der Decke hängt und sich gut für größere Essen eignet. Emil weiß von Paul, daß er diese Konstruktion geplant hat, und er weiß, daß Paul von dieser Konstruktion als von seinem neuen Tisch geredet hat. Nun gibt es zwei Möglichkeiten, was die soziale Korrektheit anbelangt: Es könnte sein, daß die Konstruktion von der Gemeinschaft – aufgrund ihrer Dispositionen oder Meinungen – zu den Tischen gerechnet werden würde, aber es könnte auch sein, daß 19

Dahinter steckt keine reduktionistische Sicht auf mentale Prozesse, sondern nur die These, daß mentale Ereignisse in das kausale Geschehen eingebunden sind. Wenn diese These nur mit einem reduktionistischen Programm zu sichern wäre, spräche das nicht gegen die kausale Eingebundenheit mentaler Ereignisse, sondern für das reduktionistische Programm. 20 Vgl. zum Verstehen ohne soziale Korrektheit Davidson (1986), S. 90, 96 & 106f.

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das nicht so ist. Für das, was in der Situation zwischen Paul und Emil passiert, hat das keine Relevanz: Ihre inneren und äußeren Erlebnisse wären in beiden Fällen dieselben. Man könnte einwenden, daß man sich darin irren kann, ob die eigenen Gespräche erfolgreich sind. Das stimmt in Situationen der folgenden Art: Man glaubt fälschlicherweise, jemanden überzeugt zu haben; daß der andere einen Witz verstanden hat, statt nur zu lächeln; daß man dem anderen mit den Ratschlägen dauerhaft geholfen hat.

Wenn man sich jedoch darin irrt, daß die eigenen Gespräche erfolgreich sind, weil die verwendeten Ausdrücke nicht den gemeinschaftlichen Verwendungsweisen entsprechen, dann ist diese Art von Erfolg oder Erfolglosigkeit völlig losgelöst von den Wahrnehmungen und Erkenntnissen der Sprecher – es ist dann ein systematischer Irrtum möglich, der beinhaltet, daß Kommunikation nie erfolgreich ist. Auf diesem Wege kann man offensichtlich nicht das erklären, was wir als erfolgreiche Kommunikation bezeichnen: Wir wollen schließlich wissen, warum Kommunikation so oft erfolgreich ist. Der soziale Gehalt bietet so betrachtet nur eine Erklärung, die das Explanandum leugnet. Sieht man von Gedankenexperimenten ab, in denen sich zwei erfolgreich unterhalten, obwohl sie ihre Ausdrücke eigenartig verwenden, bleibt folgende Überlegung zur Stützung meiner These: Solange der soziale Gehalt unzugänglich ist, haben wir keine oder keine gerechtfertigten Meinungen über die soziale Korrektheit unserer Äußerungen und der Äußerungen unserer Gesprächspartner. Wir haben vielleicht Meinungen über die soziale Korrektheit, aber diese Meinungen haben keine Verbindung zur tatsächlichen Korrektheit oder Inkorrektheit. Das ist der Grund, warum die Gedankenexperimente funktionieren: Es gibt keine Verbindung zwischen dem sozialen Rahmen (den Dispositionen oder Meinungen von Otto Normalverbraucher oder unbekannten Experten) und den Verwendungen der Ausdrücke durch die einzelnen Sprecher. Was in diesem Sinne unzugänglich ist, kann keine Rolle für die Vorgänge innerhalb der Situation spielen.

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Damit sind wir am Ziel dieses Abschnitts angelangt: Weil die An- oder Abwesenheit der sozialen Korrektheit (d.h. die Verbindlichkeit des sozialen Gehalts) keinen Unterschied macht, kann sie weder hinreichend, noch notwendig für den Erfolg der Kommunikation sein. Fazit & Ausblick. Der Gedankengang dieses Abschnitts verlief so: Ich habe zuerst vier Gründe dafür genannt, warum wir nicht darauf bauen sollten, daß wir de facto denselben Gehalt mit unseren Ausdrücken verbinden. Die genannten Beobachtungen legen die Wichtigkeit der Zugänglichkeit des Gehalts – im Kontrast zur Einigkeit im Gehalt – nahe: Gespräche funktionieren wie sie funktionieren, weil wir Zugang zum Gehalt der Ausdrücke des Gesprächspartners haben, nicht weil wir von vornherein denselben Gehalt mit den Ausdrücken verbinden. Weil es um Zugänglichkeit, nicht um Einigkeit geht, war die nächste Frage, ob wir Zugang zum sozialen Gehalt haben – zum individuellen Gehalt der Ausdrücke jener Sprecher, die das Sagen haben. Dieser Zugang scheitert daran, daß wir nicht wissen, wer die Sprachfürsten sind, wie man aus den Informationen über den individuellen Gehalt der Ausdrücke mehrerer Sprecher den sozialen Gehalt ableiten könnte, und daß wir die besagten Informationen nicht besitzen. Der letzte Schritt zog aus dieser Unzugänglichkeit des sozialen Gehalts die Konsequenz, daß der soziale Gehalt kein Faktor ist, den man bei der Erklärung erfolgreicher Kommunikation berücksichtigen kann – er ist kausal irrelevant. Darum ist sozialer Gehalt weder notwendig, noch hinreichend für erfolgreiche Kommunikation. Wenn damit feststeht, daß der soziale Gehalt keinen Erklärungswert hat, wenn es um den Erfolg von Kommunikation geht, bleibt die Frage, ob es anderes mit seiner Hilfe zu erklären gibt. Ich sehe noch zwei nennenswerte Punkte, die in den nächsten beiden Abschnitten diskutiert werden sollen: Zum einen gibt es eine theoretische Aufgabe, für die er oft herangezogen wird, nämlich die Erklärung, was sprachliche Korrektheit ist; zum anderen gibt es das Phä-

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nomen der sprachlichen Arbeitsteilung, das oberflächlich betrachtet einen sozialen Gehalt verlangt.

3. Sprachliche Korrektheit Wie kann man erklären, was sprachliche Korrektheit ist? Es ist nicht leicht, diese Frage zu beantworten, und nicht wenige Autoren glauben, für die Antwort auf eine Sprachgemeinschaft und den sozialen Gehalt zurückgreifen zu müssen. Die Debatte zu diesem Thema ist über alle Ufer getreten; ich werde dennoch versuchen, auf wenigen Seiten darzulegen, warum ich nicht glaube, daß man den sozialen Gehalt zur Erklärung sprachlicher Korrektheit heranziehen kann. Das Problem sprachlicher Korrektheit. Nehmen wir an, der Gehalt eines Ausdrucks hängt von den Dispositionen ab, die mit seiner Verwendung verbunden sind:21 Was er bedeutet, hängt davon ab, worauf er angewendet wird. Nun ist sprachliches Verhalten grundsätzlich anfällig für Fehler: Sprache ist normativ, und das beinhaltet, daß manche Verwendungen von Ausdrücken korrekt und andere inkorrekt sind. Der Gehalt eines Ausdrucks kann nur von den korrekten Verwendungen abhängen – in diesem Sinne ist die Frage nach dem Gehalt des Ausdrucks die Frage danach, wann der Ausdruck korrekt verwendet wird. Aber worin besteht die Korrektheit? Anders gefragt: Woran erkennt man, ob die Verwendung eines Ausdrucks durch einen Sprecher korrekt ist? Nehmen wir an, wir beobachten einen Sprecher, der den Ausdruck „Rasuttel“ verwendet, und wir wollen herausfinden, was dieser Ausdruck bedeutet. Dazu müssen wir herausfinden, auf welche Gegenstände oder Ereignisse der Sprecher den Ausdruck korrekterweise anwendet. Wenn man uns nun sagt, daß er den Ausdruck dann 21

Damit beziehe ich mich auf die obige Unterscheidung zwischen Ausdrücken, deren Gehalt von ihrer Anwendung auf Gegenstände oder Ereignisse abhängt, und solchen, deren Gehalt von unseren Meinungen abhängt. Wie im folgenden deutlich wird, soll das nicht implizieren, daß die Dispositionen, die den Gehalt bestimmen, rein naturalistisch beschrieben werden können.

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korrekt verwendet, wenn das Zeug, das er Rasuttel nennt, tatsächlich Rasuttel ist, dann ist das genauso wenig hilfreich, wie wenn man uns sagt, daß er den Ausdruck dann korrekt verwendet, wenn er keinem Irrtum unterliegt, oder wenn er die Wahrheit sagt. Eine Erklärung sprachlicher Korrektheit muß sich zwischen beiden Fallen hindurchschlängeln – sie darf nicht zu konkret beantwortet werden, weil es den Gehalt des fraglichen Ausdrucks voraussetzen würde, und sie darf nicht zu allgemein beantwortet werden, weil es einen Begriff voraussetzen würde, der dem Begriff sprachlicher Korrektheit zu nahe ist.22 Es gibt viele Spielarten dieses Problems; ich werde nur drei diskutieren. Man kann es als Problem der Sprachbildung fassen. Dazu betrachtet man einen Sprecher und fragt sich, wie er, ohne bereits Fragmente einer Sprache zu beherrschen, einen Ausdruck korrekt oder inkorrekt verwenden kann. Der Sprecher äußert bspw. ein Geräusch angesichts eines bestimmten Steins – woher wissen wir, daß es eine korrekte Verwendung eines Ausdrucks ist? Die zweite Variante faßt das Problem als eines, das vom Ausschluß von Irrtümern handelt: Wie kann man ausschließen, daß der Sprecher, wenn er den Ausdruck verwendet, nicht Sinnestäuschungen oder Denkfehlern unterliegt oder auf Attrappen reinfällt? Bei dieser Variante ist nicht wichtig, ob der Sprecher über diesen Ausdruck hinaus andere Ausdrücke beherrscht – um die beiden Varianten klar zu trennen, bietet es sich an, ihm eine ansonsten vollständige und komplexe Sprache zu unterstellen. Die dritte Variante betrifft die Klassifikation des Gegenstandes: Es mag sein, daß der Sprecher seinen Sinnen zu Recht traut, und den Gegenstand als das wahrnimmt, was er ist, daß er aber den Gegenstand nicht zu klassifizieren weiß. Ein naheliegender Grund dafür ist eine Schwäche seiner Erinnerung: Hatte er ihn den Rasutteln oder den Suratteln zugerechnet? Wiederum bietet es sich an, das Problem der Sprachbildung durch die Annahme auszuschließen, daß der 22

Das zweite Problem ist m.E. hartnäckiger: Wie noch deutlich wird, glaube ich nicht, daß wir die Bedingungen, unter denen unsere Dispositionen korrekt sind, ohne intentionales, semantisches oder normatives Vokabular beschreiben können.

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Sprecher eine vollständige Sprache besitzt, und das Problem der Irrtümer auszuschließen, indem man die genannten Arten von Irrtümern aus dem Szenario ausschließt. Dann bleibt die Frage: Woran kann man festmachen, ob der Sprecher den Gegenstand korrekt klassifiziert? Um es zu betonen: Ich will nicht behaupten, daß diese drei Fragestellungen auf dieselbe Art mit dem Thema der sprachlichen Korrektheit verbunden sind, oder daß sie das Thema erschöpfen. Mir scheinen es lediglich sehr typische Probleme zu sein, die aufgeworfen werden, um die Wichtigkeit der sprachlichen Gemeinschaft innerhalb dieses Themenfeldes zu diskutieren. Ich möchte im folgenden zeigen, daß die Annahme einer Gemeinschaftssprache oder der Verbindlichkeit des sozialen Gehalts in keiner Variante des Themas etwas Wesentliches ausrichtet. Die Rolle der Gemeinschaft bei der Sprachbildung. Es gibt einen einfachen Grund, warum die Gemeinschaft bei der Sprachbildung wichtig ist: Sprache ist ein soziales Werkzeug; der Aufwand lohnte nicht für Selbstgespräche. Man kann sich fragen, ob es nicht einsame Sprecher einer speziellen Sprache geben könnte, die de facto nur von einem Sprecher gesprochen wird, und die – im Gegensatz zu Privatsprachen – prinzipiell von außen zugänglich ist, aber ich will mich nicht gegen die Notwendigkeit der Gemeinschaft bei der Sprachbildung richten, weil ich glaube, daß aus dieser Notwendigkeit noch lange keine Notwendigkeit einer Gemeinschaftssprache folgt. Der Punkt ist einfach: Sozialer Gehalt ist abhängig von individuellem Gehalt. Deshalb kann sich sozialer Gehalt nicht vor dem individuellen Gehalt gebildet haben, und er kann auch nicht notwendig für die Bildung des individuellen Gehalts gewesen sein. Man hat natürlich den Impuls zu denken, daß doch gerade am Anfang, als erst wenige Wörter und wenige Sprecher im Spiel waren, die Einigkeit besonders hoch gewesen sein muß. Aber wiederum muß man sehr genau hinschauen, worin diese Einigkeit bestand: Die Sprecher orientierten sich stark daran, wie die anderen Sprecher die Laute verwendeten und auf die Laute reagierten – alles andere wäre unnützes Verhalten gewesen. Sobald aber ein Ausdruck etabliert

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war, war prinzipiell jeder Sprecher auch im Stande, den Ausdruck auf neue Gegenstände anzuwenden. Und während gelb-schwarzgestreifte Tiger einhellig und einstimmig bezeichnet wurden, mag es bei Albinotigern die ersten Unstimmigkeiten gegeben haben, ohne daß die einen oder die anderen Sprecher den Ausdruck inkorrekt gemessen an ihrem bisherigen Gebrauch verwendet hätten. Daß sich dann die einen Sprecher den anderen anpaßten, ist keineswegs ein Zeichen dafür, daß der soziale Gehalt grundlegender war: Die Übereinstimmung des individuellen Gehalts in den wesentlichen Kontexten war wichtig, nicht die Übereinstimmung des individuellen Gehalts in allen Kontexten.23 De facto mögen die Unstimmigkeiten geringer ausgefallen sein, als zu heutigen Zeiten, aber wichtig war zu jeder Zeit der individuelle Gehalt. Was würde es denn bedeuten, daß der soziale Gehalt wichtiger gewesen sein könnte? Die Übereinstimmung mit der Gemeinschaft (oder ihren sprachlichen Anführern) müßte notwendig für sprachlichen Gehalt sein. Was kann das heißen? Wenn jemand von Tigern berichtet, wo andere Löwenweibchen gesehen hätten, dann wird seine Auskunft zunächst nicht zu anderen Handlungen führen, als eine korrekte Auskunft, oder ein anderer, nichtsprachlicher Irrtum (weil er sich bspw. verguckt hat), oder eine Lüge: Und wenn er trotz Sanktionen den Ausdruck Tiger weiterhin auf Löwenweibchen anwendet, wird man ihn seufzend uminterpretieren, statt gar nichts zu verstehen oder gar nicht zu reagieren. Kurz: Auch im Frühstadium einer Sprache ist es unplausibel anzunehmen, daß Ausdrücke, die gemessen an der Gemeinschaft inkorrekt verwendet werden, gehaltlos und damit unbrauchbar für die Kommunikation sind. Deshalb muß ich schließen: Natürlich ist Sprache eine Sache der Gemeinschaft, und die Gemeinschaft ist wichtig beim Entstehen

23

Das ist ein wichtiger Punkt, auf den ich in Abschnitt 4. zurückkomme. Er besagt m.a.W., daß semantische Anpassung (d.h. die Orientierung an der Verwendung der Ausdrücke durch andere Sprecher) nicht für die Verbindlichkeit des sozialen Gehalts spricht, weil sie nie soweit geht, daß eine Übereinstimmung der Verwendungsweisen außerhalb von gewöhnlichen Kontexten gesichert wäre.

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einer Sprache. Aber für die Erklärung des Entstehens der Sprache ist der soziale Gehalt unbedeutend. Die Rolle der Gemeinschaft beim Ausschluß von Irrtümern. Wenden wir uns der zweiten Variante des Problems zu: Wir betrachten einen Sprecher (inzwischen mit gereifter Sprache), der den Ausdruck „Rasuttel“ anwendet. Seine korrekten Verwendungen, so die Idee, geben Aufschluß über den Gehalt von „Rasuttel“, und es geht nun darum zu sagen, wann die Verwendungen korrekt sind. Wenn man solche Überlegungen als Gründe für die Idee der Gemeinschaftssprache anführt, klingt das oft so:24 Woran soll man denn festmachen, ob eine Verwendung des Ausdrucks korrekt ist oder nicht, wenn nicht daran, wie die anderen Sprecher den Ausdruck verwenden? Ich werde diese Frage nicht umfassend beantworten, aber ich werde zeigen, daß der Verweis auf den sozialen Gehalt nicht weiterhilft. Der einfache Fall, wie eine Verwendung eines Ausdrucks inkorrekt sein kann, ist der, daß der Gegenstand nicht zur Extension des Ausdrucks gehört. Dafür kann es unterschiedliche Ursachen geben: (i.) Der Sprecher kann sich in irgendeiner Form in dem täuschen, was er wahrnimmt, oder (ii.) er rechnet den Gegenstand der falschen Extension zu. Zuerst zu (i.), (ii.) diskutiere ich im nächsten Abschnitt. Wenn sich ein Sprecher in der Wahrnehmung eines Gegenstandes täuscht, dann spielen Fehler in seinem Sinnesapparat, das Hereinfallen auf Attrappen, und Fehler, die er beim Denken macht, die entscheidende Rolle.25 Wenn es zu dunkel ist, vermag er vielleicht nicht zuverlässig unterscheiden, was Rasuttel ist und was nicht. Ähnlich ist es, wenn er unter Drogen steht oder Fieber hat. Dies sind Faktoren, die den Sinnesapparat betreffen. Attrappen kommen ins Spiel, wenn es um Ausdrücke für Gegenstände (im Gegensatz bspw.

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Vgl. z.B. Rosenberg (1976), S. 179ff. Reden wir nicht von Versprechern – wenn er Rapunzel sagen will, aber aus Versehen Rasuttel sagt, dann bemerken wir, so setze ich hier voraus, den Irrtum. 25

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zu Ausdrücken für Farben) geht.26 Etwas könnte ein Rasuttelimitat sein, und dann würde sich der Sprecher in einer bestimmten Situation darüber täuschen, ob der Gegenstand Rasuttel ist, obwohl keine Sinnestäuschung vorliegt. Und schließlich könnte es in der Tat Rasuttel sein, aber der Sprecher mißtraut dem Frieden und vermutet zu Unrecht eine Täuschung – und wendet den Ausdruck nicht an. Diese drei Quellen für Irrtümer – Sinnestäuschungen, Attrappen und Denkfehler – muß man ausschließen können, um herauszufinden, ob die Verwendung des Ausdrucks „Rasuttel“ durch den Sprecher korrekt war. Wie kann dabei der Verweis auf die Gemeinschaft helfen? Bestenfalls kann man (1) durch den Vergleich mit anderen Sprechern unterscheiden, was eine Sinnestäuschung und was ein Merkmal der Sinne der Spezies ist; bestenfalls entlarven (2) mehrere Augenpaare die Attrappe eher als ein einzelnes; bestenfalls kann man (3) falsche Vorsicht und andere Denkfehler durch Absprache mit den anderen minimieren. Schauen wir uns das genauer an: 1. Der Vergleich der Sinnesapparate ist ein biologischer Vergleich, in dem Reizschwellen und Reaktionen auf unterschiedliche Bedingungen gemessen werden; es geht z.B. darum, welchen Kontrast Linien haben müssen, um unterscheidbar zu sein. Dieser Vergleich handelt jedoch nicht davon, wie andere Sprecher Ausdrücke verwenden. 2. Andere Sprecher mögen behilflich sein, eine Attrappe zu entlarven. Aber der Verweis auf die Gemeinschaft ist hier eher praktischer Natur: Man könnte genausogut sagen, daß etwas eine Attrappe ist, wenn es wahre Informationen über den Gegenstand gibt, die den Sprecher zu einer Revision seiner Anwendung des Ausdrucks bringen würden.27 Dabei ist es offensichtlich nicht wichtig, daß die Informationen mehr als einem Sprecher zugänglich sind.28 26

Ich verwende den Ausdruck „Attrappe“ sehr weit, ohne damit nur Dinge bezeichnen zu wollen, die mit der Absicht der Täuschung hergestellt sind. 27 Das ist sehr lax formuliert: Man müßte klären, welcher Art die Informationen sind (sinnlich oder propositional, semantisch oder nur vom Gegenstand handelnd), und ob er den Informationen traut (dazu gleich mehr). Nichts davon ändert etwas an dem Punkt, um den es mir im Haupttext geht. 28 Eine andere Betrachtung der Situation beinhaltet, daß ein einzelner Sprecher gar nicht weiß, was als Attrappe zählt: Er hätte dann alle Informationen über

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3. Wenn dem Sprecher alle Informationen über den Gegenstand zugänglich sind, kann es sein, daß er ihnen mißtraut und zu Unrecht denkt, daß seine Sinne ihn täuschen, oder daß der Gegenstand eine Attrappe ist. Hier gilt jedoch, was auch bei Sinnestäuschungen und Attrappen gilt: Die Gemeinschaft kann ebenso Fehler machen. Wo die Gemeinschaft im Vorteil ist, weil sie mehr Perspektiven bietet, kann man auch den einzelnen Sprecher in mehr Perspektiven versetzen. Ich weiß nicht, wie man Denkfehler ausschließen kann, ohne Bedingungen wie die folgende einzuführen, die Begriffe verwenden, die dem Begriff der Korrektheit zu nahe kommen:29 Der Sprecher glaubt, daß die zugänglichen Informationen verläßlich sind.

Aber diese Schwierigkeit gilt genauso für mehrere Sprecher. Die Punkte (2) und (3) kann man auch so fassen: Irrtümer der beschriebenen Art lassen sich nicht prinzipiell daran erkennen, daß man das Verhalten des einzelnen Sprechers mit dem der Gemeinschaft vergleicht, weil die Gemeinschaft auch gemeinschaftlich falsch liegen kann.30 Werden Irrtümer aufgedeckt, dann immer, weil zu einem anderen Zeitpunkt, an einem anderen Ort, in einer anderen Situation mehr oder schlicht andere Informationen über den bezeichneten Gegenstand zur Verfügung stehen. Aber diese zusätzlichen Informationen kann man prinzipiell auch einem einzelnen Sprecher zugänglich machen – dafür braucht man keine Gemeinschaft. Die Klassifikation von Gegenständen. Kommen wir zum letzten Ansatzpunkt für die Argumente für eine Gemeinschaftssprache: Die Sprechergemeinschaft könnte notwendig für die Entscheidung sein, ob ein Gegenstand korrekterweise zu einer bestimmten Extension gezählt wird. Wiederum wollen wir einen Sprecher betrachten, der den Gegenstand, nur nicht, ob es ein echter oder unechter Wasauchimmer ist. Diesen Fall diskutiere ich im nächsten Abschnitt, wo es um Unsicherheiten bei der Klassifikation von Gegenständen geht. 29 Vgl. Boghossian (1989), §26. 30 Vgl. Blackburn (1984), §3.

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einen Ausdruck auf einen Gegenstand anwendet. Diesmal hat er alle Informationen über den Gegenstand selbst zur Verfügung (zumindest solche, die die nichtrelationalen Eigenschaften des Gegenstandes betreffen31), d.h. wir wollen Sinnestäuschungen, Attrappen und Denkfehler der beschriebenen Art ausschließen. Dennoch sind Fehler möglich: Der Ausdruck könnte nicht auf den Gegenstand zutreffen, weil der Sprecher die falschen Bedingungen für die Anwendung des Ausdrucks im Kopf hat. Nennen wir die bislang mit dem Ausdruck bezeichneten Gegenstände die Bezugsmenge. Dann gibt es beim Bezeichnen eines Gegenstandes folgende Zutaten: den Gegenstand; den Ausdruck; die wirkliche Bezugsmenge (die Gegenstände, auf die der Sprecher den Ausdruck bereits angewendet hat); und die Bezugsmenge, die der Sprecher beim Bezeichnen mit dem Ausdruck verbindet (d.h. die Gegenstände, von denen der Sprecher glaubt, daß er auf sie bereits den Ausdruck angewendet hat). Zwei Quellen für Fehler interessieren uns nun: Zum einen, ob der Sprecher die richtige Bezugsmenge mit dem Ausdruck verbindet; zum anderen, ob der Gegenstand der Bezugsmenge, die der Sprecher beim Bezeichnen mit dem Ausdruck verbindet, ähnlich genug ist. Die Rolle der Gemeinschaft bei der Verbindung von Bezugsmenge und Ausdruck. Malen wir uns einen Fehler bei der Verbindung von Bezugsmenge und Ausdruck aus. Der Sprecher verwendet den Ausdruck „Rasuttel“ in dem Glauben, ihn bislang auf weiße Kristalle angewendet zu haben. In Wirklichkeit hat er ihn aber auf Steine mit dem Aussehen von Jade angewendet. Er erinnert sich falsch. Wenn er nun einen weißen Kristall als Rasuttel bezeichnet, dann täuscht ihn nicht seine Wahrnehmung oder seine Einschätzung, keine Attrappe vor sich zu haben, sondern seine Erinnerung über die Verwendung des Ausdrucks. Welche Rolle spielt die Gemeinschaft bzgl. der Frage, ob sich der Sprecher richtig oder falsch erinnert? Zunächst gilt, was bei allen 31

Die Informationen sollen nicht die Zugehörigkeit des Gegenstandes zur Extension des Ausdrucks betreffen – daher die Beschränkung auf nichtrelationale Eigenschaften.

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Täuschungen und Irrtümern gilt: Auch die Gemeinschaft kann sich irren, wenngleich man zugeben muß, daß sie im großen und ganzen die eigenen Erinnerungen zuverlässig korrigieren mag. Aber so zu denken, führt in die falsche Richtung: Zum einen kann man auch ohne die Gemeinschaft klären, was eine richtige Erinnerung im Gegensatz zu einer falschen ist, weil wir auf kontrafaktische Annahmen zurückgreifen können – z.B. ist eine falsche Erinnerung dann im Spiel, wenn es Videoaufnahmen gibt, in denen der Sprecher den Ausdruck auf andere Gegenstände angewendet hat. (Zu sagen, daß der Sprecher sich nicht von dem Video korrigieren lassen braucht, ist genauso wahr, wie zu sagen, daß er nicht auf seine Mitsprecher hören muß.) Zum anderen ist der Abgleich mit den anderen Sprechern eben nicht so zu verstehen, daß man sich der vollständigen Einigkeit über die Extension des Ausdrucks versichert (so wie es das Modell der Gemeinschaftssprache nahelegt): Aus den in 2. genannten Gründen kann ein solcher Abgleich nur auf bestimmte Gegenstände in vertrauten Umgebungen bezogen sein. Nur weil ein anderer Sprecher einen daran erinnert, daß man „Rasuttel“ auf die grünen, nicht auf die weißen Steine angewendet hat, heißt das noch nicht, daß er „Rasuttel“ auf dieselben grünen Steine anwenden würde. Die Rolle der Gemeinschaft bei der Zuordnung des Gegenstandes zu einer Bezugsmenge. Die zweite Situation, um die es hier geht, hat einen anderen Schwerpunkt: Der Sprecher verbindet de facto eine bestimmte Bezugsmenge mit dem Ausdruck, den er auf einen Gegenstand anwendet (und wir fragen jetzt nicht mehr, ob es die richtige Bezugsmenge ist). Damit diese Verwendung des Ausdrucks korrekt ist, muß der Gegenstand in ausreichendem Maße und in der richtigen Weise den Gegenständen der Bezugsmenge ähneln bzw. gleichen. Und es scheint so, daß sich der Sprecher darin irren kann. Wenn er „Rasuttel“ auf einen Gegenstand bezieht, der – so nehmen wir an – kein Element der Bezugsmenge ist (d.h. er wurde bislang noch nicht von ihm mit dem Ausdruck bezeichnet), dann müssen wir uns nun fragen, woran wir festmachen können, ob dies eine korrekte oder inkorrekte Verwendung ist.

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Die Frage scheint zunächst Biß zu haben, denn es ist nicht klar, wie man von außen entscheiden kann, ob der neue Gegenstand den alten ausreichend ähnelt. Genau betrachtet ist sie jedoch völlig zahnlos. Wenn wir alle anderen Irrtümer ausschließen können, die ich bislang besprochen habe, dann ist nun kein Raum mehr für einen Fehler. Wenn der Sprecher seinen Sinnen trauen darf, der Gegenstand keine Attrappe ist, der Sprecher auch nicht vom Gegenteil überzeugt ist und sich korrekt an die Bezugsmenge des Ausdrucks erinnert, dann liegt es zu hundert Prozent in seiner Hand, den Gegenstand zur Extension zu zählen oder nicht, solange man nicht von vornherein von einer Gemeinschaftssprache ausgeht. Hier ist es hilfreich, sich an die dialektische Lage zu erinnern: Es geht um die Frage, ob der soziale Gehalt eine wichtige Rolle bei der Erklärung sprachlicher Korrektheit spielt. Solange er das nicht tut, hat er – in diesem Kontext – keinen Erklärungswert, also fehlt die Grundlage für die Annahme, daß der soziale Gehalt verbindlich ist. An dieser Stelle von einer Gemeinschaftssprache auszugehen, hieße vorauszusetzen, was erst gezeigt werden soll. Einwand. Auch wenn hier nicht der Platz ist, dem folgenden Einwand ganz gerecht zu werden, will ich ihn dennoch nicht ungenannt lassen: Wittgenstein schreibt an einer berühmten Stelle: Und der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen. Und darum kann man nicht der Regel ›privatim‹ folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen.32

Sofern Ausdrücke korrekte und inkorrekte Anwendungen haben, kann man sagen, daß ihrer Verwendung Regeln zugrunde liegen, die man befolgt oder verletzt. Auf meine obige Überlegung angewendet könnte man im Lichte dieses Zitats sagen: Zu glauben, daß man einen Ausdruck korrekt verwendet, ist nicht dasselbe, wie den Ausdruck korrekt verwenden. Und meine Überlegung mißachtet scheinbar diesen Gedanken: Liegen ideale Umstände vor, dann ist scheinbar zu glauben, daß man den Ausdruck korrekt verwendet, dasselbe, wie den Ausdruck korrekt verwenden. 32

Wittgenstein (1953), §202.

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Auch wenn das eine äußerst knappe Entgegnung ist, halte ich folgenden Gedanken für richtig: Was Wittgenstein verlangt, ist nicht, daß wir in keiner Situation, in der wir glauben, der Regel zu folgen, tatsächlich der Regel folgen. Dann dürften wir entweder nie die Überzeugung haben, daß wir richtig liegen, oder wir dürften nie richtig liegen, oder wir dürften zumindest dann nicht die Überzeugung haben, wenn wir richtig liegen. Das ist absurd. Was Wittgensteins Gedanken m.E. stark macht, ist keine These darüber, ob wir mit unseren Überzeugungen über die Korrektheit unserer Sprachhandlungen richtig liegen, sondern die Bedingung, die ausschließt, daß wir völlig willkürlich handeln und richtig liegen, egal wie wir handeln. Kurz gesagt ist es nicht die Irrtumsfreiheit, die bedrohlich ist, sondern die Willkürlichkeit: Die Bedrohung kommt nicht daher, daß wir unter idealen Umständen keine Fehler machen können, sondern daher, daß wir dann Narrenfreiheit genießen. Nicht jede korrekte Verwendung eines Ausdrucks erfolgt unter idealen Umständen, und nicht jedes Vorliegen von idealen Umständen ist dem Sprecher bewußt. (Es kann durchaus sein, daß der Sprecher den Ausdruck unter idealen Umständen verwendet, ohne die Umstände für ideal zu halten.) Unabhängig davon, ob dem Sprecher bewußt ist, daß ideale Umstände vorliegen, können wir zwei Möglichkeiten unterscheiden: I. II.

Der Sprecher ist dispositioniert, den Ausdruck zu verwenden bzw. nicht zu verwenden. Der Sprecher ist unentschieden, den Ausdruck zu verwenden.

Vermutlich gehört es zur Charakterisierung von idealen Umständen, daß der Sprecher gemäß seinen Dispositionen handelt. Das ist erwähnenswert, weil man den Begriff der Disposition nicht so eng fassen muß, daß wir von Dispositionen überwältigt werden. Wir haben mitunter die Möglichkeit, unsere Dispositionen zu ignorieren. Sofern die korrekte Verwendung eines Ausdrucks beinhaltet, unter idealen Umständen gemäß seinen Dispositionen zu handeln, ist im ersten Fall die drohende Willkür ausgeschlossen. Entweder liegen ideale Umstände nur vor, wenn man gemäß seinen Dispositionen handelt – dann gibt es keine Narrenfreiheit, weil diese voraussetzt, etwas fern-

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ab unserer bisherigen Verwendungen zu tun. Oder die Charakterisierung der idealen Umstände umfaßt nicht das Handeln gemäß den Dispositionen – dann gibt es auch unter idealen Umständen die Möglichkeit, Fehler zu machen (nämlich nicht gemäß der Disposition zu handeln). Schauen wir uns den zweiten Fall an: Die Dispositionen des Sprechers reichen nicht hin, für oder gegen die Anwendung des Ausdrucks zu sprechen. Auf den ersten Blick herrscht hier Narrenfreiheit: Egal, wie der Sprecher sich entscheidet, er liegt richtig. Und wenn ihm das bewußt ist, dann glaubt er, richtig zu liegen, und liegt richtig. So weit ich sehe, klingt das bedrohlicher, als es ist. Wenn man glaubt, daß der Sprecher unter idealen Umständen Narrenfreiheit genießt, dann denkt man an einen Humpty Dumpty, der Wörter beliebig neu und anders verwendet. Aber von dieser Art ist der zweite Situationstyp nicht: Eine Situation ist ideal immer nur bezogen auf einen Ausdruck. D.h. es geht allein um die Frage, ob dieser Ausdruck auf einen Gegenstand angewendet werden soll oder nicht, oder ob eine begriffliche Charakterisierung des Ausdrucks angemessen ist oder nicht. Ausdrücke haben typische Verwendungen, und im Bereich des Untypischen gibt es Situationen, in denen scheinbar nicht geklärt ist, wie der Ausdruck funktioniert – ob man ihn anwenden soll.33 Man muß in diesen Situationen festlegen, ob diese Art von Anwendung korrekt sein soll. Das ist nicht gefährliche Narrenfreiheit, sondern eine Verfeinerung oder Erweiterung unserer Sprache (in dem unproblematischen Sinn, daß der Sprecher de facto unentschieden ist und fortan nicht mehr unentschieden sein wird). Angesichts einer Holzplatte, die an Ketten von der Decke hängt, darf man bspw. entscheiden, ob dies ein Tisch ist, sofern man unentschieden ist und die Situation ideal ist.34 33

Vgl. Wittgenstein (1953), §80. Wem selbst dieser Spielraum (einen Begriff verfeinern oder erweitern zu dürfen) zu groß ist, der könnte ohne weiteres sagen, daß Situationen des zweiten Typs keine Sprachhandlungen erlauben, die wir als korrekt oder inkorrekt bezeichnen dürfen: Es mögen Situationen sein, in denen Bedeutung konstituiert wird, aber eben keine, in denen wir den Ausdruck verwenden. (Dann behandelt man Situationen des zweiten Typs wie Taufsituationen, in denen es – zumin-

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Was folgt daraus? Unter idealen Umständen haben wir entweder Dispositionen zur Verwendung des Ausdrucks oder nicht. In beiden Fällen ist die Willkürlichkeit ausgeschlossen, die die Bedrohung hinter PU §202 ausmacht. Fazit & Ausblick. Unter der Überschrift der sprachlichen Korrektheit habe ich drei Szenarien diskutiert, in denen der Verweis auf die Sprachgemeinschaft wichtig erscheint. Zunächst ging es um das Entstehen einer Sprache, das, so habe ich befürwortet, erklärbar ist, wenn man sich auf die Orientierung an anderen Sprechern bezieht. Bei dieser Erklärung spielt aber der soziale Gehalt von Ausdrücken keine Rolle. So ist es auch bei der Frage, wie man Irrtümer ausschließen kann, die auf Sinnestäuschungen, Attrappen oder Denkfehlern beruhen. Andere Sprecher können hilfreich bei der Korrektur irregeleiteter Urteile sein, aber weder kann die Orientierung an der Gemeinschaft solche Irrtümer ausschließen, noch führte diese Orientierung dazu, daß der soziale Gehalt der Ausdrücke verbindlich ist. Und schließlich ging es um Fehler bei der Klassifikation von Gegenständen. Auch hier spielt die Gemeinschaft kaum eine Rolle – geschweige denn die Verbindlichkeit des sozialen Gehalts. Damit bleibt nur noch ein Kontext, in dem der soziale Gehalt eine wichtige Rolle spielen könnte: die sprachliche Arbeitsteilung beim Definieren von Ausdrücken.

4. Sprachliche Arbeitsteilung Viele Ausdrücke scheinen durch Experten geprägt zu werden. Wir Nichtexperten haben nur ein ungenaues Verständnis von diesen Ausdrücken – unsere Verwendung dieser Ausdrücke kann nicht sicherstellen, daß sie den Gehalt haben, den sie haben. Also muß ihr Gehalt durch andere Sprecher bestimmt und damit sozial sein. Dieser Gedanke ist verlockend und falsch: Sozialer Gehalt mag für die

dest ist das eine Sicht der Dinge – keinen Sinn macht, von korrekter Verwendung zu reden. Vgl. Wittgenstein (1953), §50.)

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Erklärung sprachlicher Arbeitsteilung hinreichend sein (was ich im folgenden ungeprüft voraussetze), aber er ist nicht notwendig. Die Idee der sprachlichen Arbeitsteilung. Die Idee der sprachlichen Arbeitsteilung geht auf Hilary Putnams ’The Meaning of ’Meaning’’ zurück und wurde später v.a. von Tyler Burge zum sozialen Externalismus ausgeweitet.35 Die beiden klassischen Beispiele sind die Ausdrücke „Buche“ und „Arthritis“: Putnam nannte „Buche“ als Beispiel dafür, daß wir Ausdrücke kennen und verwenden, ohne ihren Gehalt genau benennen oder den Ausdruck genau anwenden zu können (weil wir wissen, daß Buchen Bäume sind, aber vielleicht nicht genau wissen, welche Bäume es sind, oder sie nicht von ähnlichen Bäumen unterscheiden können). Burge nannte „Arthritis“ als Beispiel dafür, daß wir manche Ausdrücke falsch gebrauchen – wenn Emil „Arthritis“ zu den Schmerzen im Oberschenkel sagt, dann gebraucht er den Ausdruck falsch, weil Arthritis eine Entzündung der Gelenke und zwischen Knie und Hüftgelenk kein Gelenk ist. Und daß wir Ausdrücke nicht genau genug oder eben falsch gebrauchen, heißt, daß sie ihre Bedeutung nicht aus unserer Verwendung gewinnen können. Wenn das richtig ist, dann folgt nicht, daß die gesamte Sprache eine Gemeinschaftssprache ist. Aber es scheint zu folgen, daß zumindest Expertenbegriffe einen sozialen Gehalt haben, und daß unser Umgang mit solchen Begriffen nicht ohne die Idee des sozialen Gehalts erklärbar ist – der Verweis auf die sprachliche Arbeitsteilung dient der Argumentation für die vierte Stufe der Gemeinschaftlichkeit.36 Ich möchte im folgenden beide Ideen getrennt diskutieren – zuerst die Idee, daß wir manche Expertenbegriffe falsch verwenden;

35

Vgl. Putnam (1975) und Burge (1979). Dieser Punkt ist unabhängig davon, wieviele Begriffe man für Expertenbegriffe hält, aber man könnte sich durchaus die Extremposition vorstellen, daß alle Ausdrücke Expertenbegriffe sind, auch wenn dann die Zusatzannahme nötig sein wird, daß jeder Sprecher zumindest bei einigen Ausdrücken zu den Experten gehört.

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dann die Idee, daß unsere amateurhafte Verwendung von Expertenbegriffen zu ungenau ist, um ihren Gehalt zu bestimmen. Arthritis im Oberschenkel. Wir verwenden mitunter Fremdwörter und andere technische Termini falsch, und „falsch“ heißt hier: anders, als von den Experten empfohlen. Die Gedankenexperimente legen zweierlei nahe: Zum einen, daß wir andere Sprecher in ihrem Gebrauch der Wörter mit Hinweis auf Experten kritisieren, und zum anderen, daß wir selbst bemüht sind, uns an den Experten zu orientieren.37 Die Frage ist: Ist der soziale Gehalt notwendig, um dieses Phänomen zu erklären? Nein, so möchte ich zeigen, der individuelle Gehalt reicht völlig aus. Die Erklärung ist recht einfach und keineswegs auf Expertenbegriffe beschränkt: Die Anpassung an andere Sprecher, die sich in der Korrektur fremder und eigener Verwendungsweisen spiegelt, hat eine andere Motivation als die, sozial korrekt zu sprechen. Sie ist durch Nützlichkeit bestimmt – wir passen uns der Redeweise eines anderen an, wo wir es als nützlich empfinden, und bleiben bei unserem abweichenden Gebrauch, wenn wir diesen als nützlicher einschätzen. Ein Nutzen der Anpassung betrifft die Verständlichkeit: Auch wenn die soziale Korrektheit – wie in Abschnitt 2. gesagt – keine notwendige oder gar hinreichende Bedingung für die Verständlichkeit ist, mag die Übereinstimmung in vertrauten Kontexten dem Verstehen dienlich sein. Bei Expertenbegriffen ist das v.a. dann relevant, wenn wir mit Experten reden – das sind im Arthritis-Beispiel natürlich die Ärzte. Ein anderer nützlicher Aspekt von Expertenbegriffen ist ihre meist immense Genauigkeit; beschäftigen wir uns mit 37

Beides gilt nur eingeschränkt: Es gibt viele Expertenbegriffe, die wir recht geübt benutzen, und die in unseren Händen ein Eigenleben entwickelt haben, das unabhängig ist von den Regeln, die ihre einstigen Herren aufgestellt haben. So reden wir munter von Libido, Gravitation, Migräne, Depression, Paradigma und Zynismus, ohne uns sonderlich darum zu bemühen, diese Ausdrücke gemäß genauer und wissenschaftlich verankerter Definitionen zu benutzen. Aber sehen wir davon ab: Es mag immer noch genügend Expertenbegriffe geben, mit denen wir weniger vorlaut umgehen – Arthritis halte ich diesbezüglich für ein gutes Beispiel.

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einem bestimmten Thema und empfinden wir die Genauigkeit der dort verwendeten Ausdrücke als nützlich, werden wir die Verwendung der Ausdrücke zumindest ein Stück weit übernehmen. Allgemein kann man also sagen: Die Entschlossenheit, mit der man sich Expertenverwendungen anpaßt, hängt davon ab, wie wichtig die Genauigkeit ist, und wie sehr man damit rechnet, daß die Gesprächspartner den Begriff den Experten folgend benutzen. In gleichem Maße korrigiert man andere Sprecher oder läßt sie bei ihrer uninformierten Redeweise, je nachdem, ob die Fehler – aus unserer Sicht – in diesem Kontext oder in zu erwartenden Kontexten relevant sind.38 Besonders deutlich wird das, wenn man sich mit einer Gruppe von Sprechern unterhält, die – wieder aus unserer Sicht – einen Ausdruck nicht gemäß der Expertendefinition verwenden. Sie denken bspw., daß „Bratsche“ ein anderes Wort für „Geige“ ist, und unterhalten sich eifrig über Streichquartette. Wenn wir gerne mitreden wollen, können wir sie natürlich belehren. Aber ihr Fehler läuft leer mit; wir können die Korrektur genauso gut unterlassen, und nichts an ihrem Gespräch wäre in irgend einer Hinsicht schiefgegangen. Interessanterweise spielt es nicht mal eine Rolle, daß wir, die wir den Fehler bemerken, den richtigen Gehalt von „Bratsche“ kennen.39 Die Grenzen der Anpassung. Es mag sein, daß es für einzelne Sprecher im allgemeinen nützlich ist, ihre Verwendung von Ausdrücken 38

Am Rande will ich zugestehen, daß dies nicht die einzige Motivation für die Korrektur anderer Sprecher ist: Als Kinder haben wir keine Vorstellung davon, daß verschiedene Sprecher Wörter unterschiedlich gebrauchen. Wir werden ständig von unseren Eltern oder anderen Bezugspersonen korrigiert, und diese Erfahrung führt zu zwei Meinungen: Was die Eltern über die Verwendung der Wörter sagen, ist richtig. Und: Es ist wichtig, andere zu korrigieren, wenn sie die Wörter anders verwenden. Die Reste dieser Erfahrung spielen zweifelsohne eine Rolle, wenn wir mitunter reflexartig andere Sprecher korrigieren – und zwar unabhängig davon, wie nützlich die Korrektur ist. Diese psychologischen Faktoren werde ich im folgenden ignorieren, weil sie nichts darüber aussagen, ob der soziale Gehalt verbindlich ist. 39 Mitunter kann es sogar geboten sein, Ausdrücke entgegen der Expertenverwendung zu benutzen – und zwar dann, wenn das notwendig ist, um verstanden zu werden.

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der Verwendung durch andere Sprecher anzupassen. Das heißt aber nicht, daß die Nützlichkeit dasselbe Ausmaß von Anpassung erfordert, wie es für die sozial korrekte Verwendung nötig wäre. Solange die Anpassung nützlich sein soll, hat sie dort ihre Grenzen, wo sie zu viele Nachteile mit sich bringt. Schauen wir uns das im Detail an: Ausreichend für die Erleichterung der Kommunikation ist, daß wir uns mit unseren Ausdrücken unter normalen Umständen auf dieselben Exemplare der Ausdrücke beziehen; dagegen ist es in den meisten Fällen irrelevant, wo wir genau die Extensionsgrenze verlaufen lassen.40 Aus diesem Grund einigen wir uns auf die wichtigen Fälle, aber nicht auf Grenzfälle. Solange wir uns aber nicht um die Grenzfälle scheren, können wir nicht davon ausgehen, die Ausdrücke sozial korrekt – gemessen an den Experten oder der gesamten Sprachgemeinschaft – zu verwenden. Damit verbunden ist die Überlegung, daß wir uns in der Verwendung der Wörter nicht den Experten anpassen, wenn der Aufwand nicht lohnt. Das betrifft ganz generell jeden Ausdruck, der von Experten feiner verwendet wird als von Laien. Wir werden nur in ganz bestimmten Kontexten auf die phantasievollen Namen von speziellen Farbmischungen zurückgreifen, die in standardisierten Farbkarteien verzeichnet sind – nämlich vor allem dann, wenn wir eine Wohnung einrichten. Wir werden nur als Weinliebhaber Weine mit dem Expertenvokabular beschreiben – ansonsten ist ein Wein mehr oder weniger trocken, sauer, korkig und vielleicht fruchtig. Wir werden im Restaurant nur selten über den Unterschied zwischen einem Caffé latte und einem Latte macchiato reden, wir werden normalerweise niemanden auf Unterschiede zwischen wahr und real hinweisen. Wir sind, solange wir nicht Gründe für eine feinere Verwendung der Ausdrücke haben, schlicht und ergreifend Ignoranten, weil 40

Genauer: In den besagten normalen Umständen ist relevant, welche typischen Exemplare (Prototypen) und welche Stereotypen wir mit unseren Ausdrücken verbinden. In Kernbedeutung und Verstehen (Wirrwitz (2009)) versuche ich zu zeigen, daß die Bezugnahme auf Prototypen und Stereotypen bessere Erklärungen in Bezug auf das Verstehen alltäglicher Äußerungen liefert, als Bedeutungskonzeptionen, die von exakten Extensionsgrenzen oder Definitionen ausgehen. (Zu Prototypen siehe Rosch (1978), zu Stereotypen Putnam (1975).)

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die Verfeinerung unserer Verwendungsweisen einen unnötigen Aufwand mit sich brächte. Ein anderer Nachteil der Anpassung – neben dem immensen Aufwand – liegt dann vor, wenn mir ein bestimmter Aspekt des Gebrauchs des Ausdrucks durch die Anpassung verloren ginge. Bspw. halte ich meine Redeweise von der Autorität über die Verwendung von Ausdrücken für sehr nützlich; sollte ich herausfinden, daß dieser Gebrauch des Ausdrucks inkorrekt ist (gemessen an der Verwendung des Ausdrucks durch andere), so kann ich durchaus bei meiner Verwendung bleiben und in Kauf nehmen, daß sie vielleicht in bestimmten Kontexten zu Mißverständnissen führt.41 Das ist nicht anders bei Ausdrücken für Gegenstände: Bspw. benutze ich zum Schäumen von Milch einen Behälter mit einem Metallsieb, das man herunterdrücken kann. Dieser Behälter ist eigentlich eine Kaffeemaschine (in der das Pulver durch das Sieb heruntergedrückt wird). Nichtsdestoweniger ist das mein Milchschäumer, und ich störe mich nicht im geringsten daran, daß meine Verwendung des Wortes „falsch“ sein mag. Kurz: Ich halte es für offensichtlich, daß wir beim Abwägen der Vor- und Nachteile der Anpassung einen Spielraum haben. Wir können entscheiden, wie wir die Ausdrücke verwenden wollen. Die Anpassung ist optional – und das heißt, daß die Autorität beim einzelnen Sprecher liegt. Wenden wir uns damit von den Fehlern im Umgang mit Expertenbegriffen ab und der Unsicherheit in ihrer Verwendung zu. Diese ist, so werden wir gleich sehen, schwieriger zu erklären. Ungenauigkeiten und lethargische Wörter. Putnams berühmtes Beispiel für die sprachliche Arbeitsteilung ist unsere laienhafte Verwendung von „Buche“ und „Ulme“: Wir wissen, daß beide Ausdrü41

Es ist keine ausgemachte Sache, daß der idiosynkratische Gebrauch eher zu Mißverständnissen führt als der konforme. Insbesondere glaube ich, daß die Übertragung von Ausdrücken auf neue Anwendungsfälle ein normaler Vorgang ist, dem wir gut folgen können. Die Erklärung dieses Phänomens ist – am Rande bemerkt – einer der großen Vorteile kontextualistischer Positionen. (Vgl. zu diesem Punkt Travis (1997), S. 92f. und Recanati (2004), S. 134.)

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cke Bäume bezeichnen, und daß es unterschiedliche Bäume sind, aber wir könnten Buchen nicht von Ulmen unterscheiden. Das Beispiel enthält keinen Fehler, solange wir die Ausdrücke nicht – über unsere Unsicherheit hinweg – anwenden. Die Unsicherheit ist freilich interessant für Vertreter des sozialen Gehalts, weil wir einerseits sagen wollen, daß die Ausdrücke Gehalt haben, und weil wir andererseits zugeben müssen, daß unser semantisches Wissen (unsere Dispositionen und Meinungen) nicht ausreicht, den Gehalt der Ausdrücke in allen ihren Aspekten zu bestimmen. Es scheint etwas Externes einen Einfluß auf den Gehalt haben zu müssen. Machen wir uns klar, daß „Ulme“ und „Buche“ keine Ausnahme sind, der wir zuviel Aufmerksamkeit schenken: Solche vernachlässigten Ausdrücke – nennen wir sie lethargische Wörter – sind sehr vertraut. Informell lassen sie sich so charakterisieren: - Wir benutzen sie selten: Sie spielen keine zentralen Rollen in den Sätzen, in denen sie vorkommen; meist dienen sie als Beispiele, wo Details irrelevant sind. - Es sind ungepflegte Begriffe: Wir haben sie irgendwo aufgeschnappt, hören sie mitunter, brauchen sie aber nicht. Deshalb kümmern wir uns nicht um ihren genauen Gehalt. - Vielleicht wußten wir – z.B. zu Schulzeiten – mehr über ihren Gehalt zu sagen, aber wir haben die Details vergessen, wie wir auch die Bedeutungen einer vernachlässigten Fremdsprache vergessen, obwohl wir noch grammatisch einwandfreie Sätze mit den Vokabeln bilden könnten. - Wir wissen, daß andere Sprecher mehr über diese Ausdrücke wissen; meist haben wir eine gute Intuition, wen wir anrufen könnten, um näheres zu erfahren. - Wir kennen Oberbegriffe oder andere Begriffe auf derselben Ebene: Wir wissen, daß Buchen Bäume sind, und wir kennen daneben auch Eichen, Kastanien, Birken und Tannen, die wir alle recht gut unterscheiden können. - Es kann prinzipiell in allen Ausdrucksarten lethargische Wörter geben – auch Eigennamen und Abkürzungen gehören dazu.

Wir kennen viele solche Ausdrücke – sie sind aus der Schulzeit, aus abgebrochenen Hobbies, aus Urlauben oder aus Gesprächen mit Sprechern aus anderen Regionen übriggeblieben. Welche Ausdrücke

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das sind, variiert natürlich von Sprecher zu Sprecher; die folgenden Beispiele mögen als Inspiration dienen: Blausäure, Brotzeit, Chlorophyll, Dederon, Gruppenratsvorsitzender, Kyffhäuser, Kyrie Eleison, Mach, Mandola, Marimba, Meskalin, Milonga, Mollkadenz, Muckefuck, Mullwindeln, Rorschachtest, Salsa, Samba, Schalmei, Staphylokokken, Weichheitszeichen.

Lethargische Wörter sind interessant, weil der Sprecher wahre Sätze mit ihnen bilden kann, ohne daß sein semantisches Wissen ausreicht, um sie vollständig zu gebrauchen – um sie also bspw. in dem Satz „Das ist ein …“ souverän zu verwenden. Der Sprecher hat mehr Wissen von ihnen, als von Wörtern einer Fremdsprache, die er buchstabieren, aber nicht übersetzen kann, aber er hat weniger Wissen von ihnen, als von Fremdwörtern, die er ständig gebraucht, selbst wenn diese genauso Kandidaten für Expertenbegriffe sind. Die Idee des unspezifischen Gehalts. Jemand weiß, daß Buchen und Ulmen unterschiedliche Bäume sind, aber weder kann er sie von Angesicht zu Angesicht unterscheiden, noch kann er Merkmale benennen, die sie unterscheiden. Er ist also der Meinung, daß beide Ausdrücke einen unterschiedlichen Gehalt haben, aber er kann diesen Unterschied nicht festmachen. Ich möchte im folgenden von drei Graden von Gehalt ausgehen: dem spezifischen Gehalt, dem unspezifischen Gehalt und der Gehaltlosigkeit. In unserem Beispiel handelt es sich um Ausdrücke, die, wenn sie einen spezifischen Gehalt hätten, eine genaue Bestimmung der Extension erlauben würden. Das heißt nicht, daß es keinen Gegenstand gibt, von dem der Sprecher nicht sagen könnte, ob er ein Element der Extension ist, sondern nur, daß er von den meisten Gegenständen oder unter normalen Umständen sagen können muß, ob ein Gegenstand zur Extension gehört oder nicht. Die Ausdrücke „Buche“ und „Ulme“ haben in unserem Beispiel keinen spezifischen Gehalt: Unser Sprecher kann zwar von manchen Gegenständen sagen, daß sie nicht zur Extension gehören, aber er kann von keinem Gegenstand sagen, daß dies eine Buche bzw. Ulme ist.

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Folgt nicht daraus, daß die Ausdrücke keinen spezifischen Gehalt haben, daß sie gehaltlos sind? Nehmen wir an, daß Synonymie die Austauschbarkeit salva veritate beinhaltet – daß also die Gleichheit im Gehalt zweier Ausdrücke impliziert, daß man diese Ausdrücke unter Wahrung des Wahrheitswertes zumindest in einfachen Sätzen austauschen kann. Wenn der Ausdruck Buche so gehaltlos wäre wie der Ausdruck Schrumpump, dann wären sie synonym – und entsprechend müßte folgen, daß diese Sätze dieselben Wahrheitswerte haben: Buchen sind Laubbäume. Schrumpumps sind Laubbäume.

Wir würden jedoch sagen, daß der erste Satz wahr ist, während wir das vom zweiten nicht wissen. Ebenso würde aus der Gehaltlosigkeit von „Buche“ und „Ulme“ folgen, daß man „Buche“ durch „Ulme“ auch in diesem Satz ersetzen kann: (i)

Buchen sind nicht Ulmen.

Der resultierende Satz (ii)

Ulmen sind nicht Ulmen.

ist aber falsch; entsprechend können die beiden Ausdrücke nicht gehaltlos sein. Da die Ausdrücke – und mit ihnen vermutlich alle anderen lethargischen Wörter auch – für den einzelnen Sprecher weder einen spezifischen Gehalt haben, noch gehaltlos sind, werde ich im folgenden davon reden, daß sie einen unspezifischen Gehalt besitzen. Wie kann das semantische Wissen des Sprechers ausreichen, um einen Unterschied im unspezifischen Gehalt von „Ulme“ und „Buche“ machen zu können? Sofern wir davon ausgehen, daß der Sprecher Buchen und Ulmen nicht erkennt, können seine Dispositionen zur Verwendung dieser Wörter in Sätzen wie Das ist eine... oder Das sind... keinen Einfluß auf den Gehalt der Ausdrücke haben. Wir könnten natürlich annehmen, daß die Ausdrücke einen minimalen Gehalt dadurch haben, daß ihre Extension durch den Sprecher negativ bestimmt werden kann, weil er zumindest von einigen Dingen

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sagen kann, daß sie keine Buchen oder Ulmen sind. Auf diese Weise könnte man vermutlich sicherstellen, daß die Ausdrücke nicht gehaltlos sind – aber man könnte noch nicht erklären, inwieweit „Buchen“ einen anderen Gehalt hat als „Ulmen“. Sofern der Gehalt entweder von den Dispositionen oder von den Meinungen des Sprechers abhängt, und die Dispositionen für diesen Unterschied nicht ausreichen, müssen wir also annehmen, daß es definierende Meinungen gibt, die den Unterschied erklären. Stellen wir uns vor, unser Sprecher hat genau diese Meinungen über Buchen: (i) (iii) (iv)

Buchen sind nicht Ulmen. Buchen sind Laubbäume. Buchen haben eine durchweg dunkle Rinde.

(Seine Meinungen über Ulmen sind identisch, nur daß „Ulmen“ und „Buchen“ vertauscht wird.) Sind diese Meinungen definierende Meinungen? Es ist offensichtlich, daß zumindest die Meinung (i) eine definierende Meinung des Sprechers sein muß: Nur dann läßt sich ein Unterschied im Gehalt von „Buchen“ und „Ulmen“ festmachen – und davon wollen wir ausgehen, weil wir sonst in dem wahren Satz (i) „Buchen“ durch „Ulmen“ ersetzen könnten, und der falsche Satz (ii) entstehen würde.42 Kurz: Der unspezifische Gehalt ist einerseits durch Dispositionen, den Ausdruck auf bestimmte Gegenstände nicht anzuwenden, und andererseits durch definierende Meinungen bestimmt. Und er ist kein spezifischer Gehalt, weil die Dispositionen fehlen, den Ausdruck auf bestimmte Gegenstände anzuwenden. Die entscheidende Frage. Wir haben damit ein Bild davon, worin das semantische Wissen des Sprechers bezogen auf lethargische Wörter besteht – nämlich im Kennen des unspezifischen, individuellen Gehalts der Wörter. Kommen wir damit zu dieser Frage:

42

Wieder setze ich voraus, daß Synonymie Austauschbarkeit salva veritate impliziert.

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Christian Wirrwitz Hat der Sprecher Meinungen (die diese lethargischen Wörter enthalten), die ein semantisches Wissen voraussetzen, das er selbst nicht hat?

Mit der Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Sätzen kann man sagen, daß die analytischen Meinungen, die der Sprecher hat, allein aus seinem semantischen Wissen gespeist werden.43 Sofern wir die obigen Beispielsätze (i), (iii) und (iv) als definierende Meinungen anerkennen wollen und der Sprecher nur diese Meinungen über Buchen hat, hat er – da definierende Meinungen analytische Meinungen sind – entsprechend keine Meinungen, die ein semantisches Wissen voraussetzen, das er selbst nicht hat. Allgemeiner formuliert: Wenn die Meinungen, die Gebrauch von den lethargischen Wörtern machen, analytisch sind, können wir die obige Frage verneinen. Es mag Sprecher geben, die nur analytische Meinungen mit lethargischen Wörtern verbinden, aber natürlich ist es denkbar, daß ein Sprecher auch synthetische Meinungen über Buchen hat. Ich könnte z.B. den folgenden Satz glauben, ohne Buchen und Ulmen auseinanderhalten zu können: (v) Buchen eignen sich besser zur Herstellung von Möbeln als Ulmen.

Diese Meinung folgt ganz sicher nicht aus dem, was ich über den Begriff „Buche“ glaube. Sie ist vielmehr so entstanden: Ich weiß, daß viele Möbel aus Buche gemacht werden, und daß dieses Holz vergleichsweise günstig ist. Ich habe aber noch nie ein Bett aus Ulmenholz gesehen – daraus schließe ich, daß entweder das Holz ganz andere Eigenschaften hat, oder daß es zumindest teurer ist, und sich in diesem Sinne nicht so gut für die Herstellung von Möbeln eignet. Nennen wir das Wissen, daß man zum Klassifizieren von Gegenständen braucht, das Klassifizierungswissen. Bei Ausdrücken, 43

Dagegen sprechen höchstens Überlegungen aus dem physischen bzw. kausalen Externalismus, die ich hier vernachlässigen muß. Vgl. zur Rehabilitierung des Zusammenhangs von Analytizität und Apriorität vor einem externalistischen Hintergrund Jackson (1998) und Chalmers (2004).

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deren Gehalt von den Dispositionen des Sprechers abhängt, ist Klassifizierungswissen immer auch semantisches Wissen: Einen Gegenstand mit einem Ausdruck zu bezeichnen, impliziert bei solchen Ausdrücken das Kennen der Extension. Bei lethargischen Wörtern wie Buche fehlt dieses Wissen, deshalb hatten wir gesagt, daß sie für den Laiensprecher nur einen unspezifischen Gehalt haben. Mir fehlt dieses Klassifizierungswissen für Buche: Wenn ich also in einem Möbelhaus der Meinung bin, daß dieses Bett aus Buche ist, oder daß viele Tische aus Buche sind, oder daß man Buchenholz sehr vielfältig beizen kann, dann sind das alles Meinungen, die ein Klassifizierungswissen voraussetzen, das ich nicht besitze.44 In dem Moment, in dem ich davon ausgehe, daß die Verkäufer in dem Geschäft mit „Buche“ dasselbe bezeichnen wie ich, setze ich etwas voraus, was ich nicht einmal mit unbegrenztem Aufwand überprüfen könnte: In diesem Sinne muß ich sagen, daß meine synthetischen Meinungen über Buchen und Buchenholz mein semantisches Wissen übersteigen. Wir können demnach die obige Frage bejahen: Der Sprecher hat Meinungen (die diese lethargischen Wörter enthalten), die ein semantisches Wissen voraussetzen, das er selbst nicht hat.

War das schon die entscheidende Frage? Ist jetzt schon ausgemacht, daß die fraglichen Ausdrücke einen sozialen Gehalt haben müssen? Ich glaube nicht. Wie ich nun zeigen will, läßt sich das bisher gesagte auch ohne den sozialen Gehalt erklären. Semantische Unterwerfung. Was sage ich, wenn ich behaupte, daß sich Buchen besser als Ulmen zur Herstellung von Möbeln eignen? Ich sage:45 Die Bäume, die von Experten als Buchen bezeichnet werden, eignen sich besser für die Herstellung von Möbeln, als die Bäume, die von Experten als Ulmen bezeichnet werden. 44

Soweit ich sehe, können wir ganz allgemein festhalten: Synthetische Meinungen setzen immer Klassifizierungswissen voraus. An dieser Annahme soll aber im folgenden nichts hängen. 45 Vgl. Zemach (1976), S. 68.

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Ich muß in der Tat auf andere Sprecher (nämlich auf Experten) bezug nehmen, solange mein Klassifizierungswissen nicht ausreicht, um die fragliche Behauptung zu machen. Ich benutze mit solchen Meinungen ein semantisches Halbwissen, das das Wissen anderer, von denen ich einige Prämissen meiner Meinung ungeprüft übernehme, voraussetzt.46 Und warum ist das kein sozialer Gehalt? Weil die Autorität immer noch beim Sprecher liegt. Ich mache zwar Gebrauch vom Wissen anderer Sprecher und unterwerfe meine Ausdrücke ihrer Verwendung der gleichen Ausdrücke, aber das ist keine Voraussetzung dafür, daß ich den Ausdruck korrekt gebrauche, solange man nicht schon annimmt, daß der Ausdruck einen sozialen Gehalt hat und die Verwendungsweise anderer die Meßlatte dafür ist, ob meine Verwendung korrekt ist oder nicht. Um eine Bezeichnung für diese Idee zu haben, will ich von semantischer Unterwerfung sprechen: Man unterwirft dabei die eigenen Ausdrücke der Verwendungsweise durch andere Sprecher, ohne dadurch die Autorität über die Ausdrücke zu verlieren. Es macht Sinn, die semantische Unterwerfung von der Anpassung zu unterscheiden, von der ich in 3. gesprochen hatte: Letztere besteht darin, den individuellen Gehalt des Ausdrucks so zu formen, daß er der Verwendungsweise des gleichen Ausdrucks durch andere Sprecher in gewöhnlichen Kontexten weitestgehend entspricht; erstere setzt die Verwendungsweise anderer Sprecher voraus, ohne notwendigerweise den individuellen Gehalt des Ausdrucks zu verändern. Die Motivation der semantischen Unterwerfung. Es liegt nahe zu fragen, was die besagte Anpassung und die semantische Unterwerfung motivieren soll, wenn nicht der einfache Wunsch, korrekt zu sprechen. Für die semantische Anpassung habe ich diese Frage oben 46

Der Unterschied zum Arthritis-Fall ist also dieser: Im Arthritis-Fall hat der Sprecher das nötige Klassifizierungswissen, um für seine synthetischen Meinungen ohne Bezugnahme auf das Wissen anderer auszukommen; aber das Klassifizierungswissen bzw. seine definierenden Meinungen sind – gemessen am Expertenwissen – falsch. Im Buchen-Fall ist es andersrum: Die definierenden Meinungen mögen richtig (gemessen am Expertenwissen) sein, aber das Klassifizierungswissen ist unvollständig.

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schon beantwortet: Einer der genannten Gründe war, daß es in vielen Fällen das Verstehen erleichtert, wenn wir unser Sprachverhalten in vertrauten Kontexten an unsere Mitsprecher anpassen. Diese Antwort greift nicht unmittelbar für die semantische Unterwerfung, weil nicht klar ist, in welchem Sinne ich die Ausdrücke in der „geborgten“ Expertenverwendung selbst verstehe. Aber es gibt andere Motive für die semantische Unterwerfung, die nicht auf die Korrektheit abzielen: Zum einen ist da der Wunsch, etwas über die Welt zu lernen. So ist es interessant für mich, herauszufinden, daß viele Möbel aus Buchen sind. Dieses Wissen bleibt mir verwehrt, wenn ich nicht die Verwendung des Ausdrucks „Buche“ durch die anderen Sprecher akzeptiere. Auch merke ich mir allerhand Halbwissen über die Globalisierung, ohne mir darüber im klaren zu sein, was dieser Begriff genau beinhaltet – aber ich hebe das Halbwissen auf, weil es sich oft mit neuen Informationen zu einem vollständigeren Wissen vereint. Und ich will mitreden können – das ist das zweite Motiv. Dabei kommt es mir in den entsprechenden Situationen nicht darauf an, viel über die Ausdrücke, die ich da verwende, herauszufinden. Ich hoffe nur, daß mein Gebrauch dieser Ausdrücke nicht offensichtlich falsch ist, um mein Halbwissen nicht als solches zu entlarven. Diese Beobachtung ist der Tatsache geschuldet, daß wir mitunter Konversation betreiben, ohne die Informationen austauschen zu wollen, die den propositionalen Gehalt der Äußerungen bilden. Auf der einen Party mag ich aufschnappen, daß sich der West Coast Swing aus dem Lindy Hop entwickelt hat, auf der nächsten mag ich mit dieser Aussage glänzen, weil ich merke, daß auch hier ein großes Interesse an diesen Tänzen herrscht. Wenn ich mich hier in meinem Gebrauch der Wörter anpassen sollte, dann nicht, um korrekt zu sprechen, sondern um unauffällig im flüssigen Austausch von Nebensächlichkeiten mitzuspielen. Keines der beiden Motive spricht dafür, daß wir mit der semantischen Unterwerfung auf die soziale Korrektheit unserer Verwendungen von Ausdrücken aus sind. Und hier können wir hinzufügen, was wir schon über die Anpassung gesagt haben: Die Grenzen der Anpassung und der Unterwerfung sind durch unsere Ziele bei der

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Verwendung der Ausdrücke bestimmt, und diese Ziele können wir erreichen, ohne auf die soziale Korrektheit abzuzielen. Würde die soziale Korrektheit eine größere Rolle spielen, dann wären wir entweder bemüht, unsere Verwendung der lethargischen Wörter zu verfeinern, oder wir würden sie gar nicht mehr verwenden. Aber so ist es nicht. Und das zeigt zumindest, daß wir uns so verhalten, als hätten wir die Autorität. Was folgt daraus? Nun kann man dennoch den Eindruck haben, daß meine Darstellung der semantischen Unterwerfung zu nah an dem ist, was die Vertreter des sozialen Gehalts sagen: Jene behaupten genauso wie ich, daß in manchen Verwendungen lethargischer Wörter das semantische Wissen anderer Sprecher eine Rolle spielt, und wahrscheinlich würden sie auch die These der semantischen Unterwerfung unterschreiben: Nämlich daß wir entsprechende Verwendungen eines Ausdrucks (der, so wollen wir vereinfachend annehmen, für bestimmte Gegenstände steht) so interpretieren sollen, daß sich der Ausdruck auf die Gegenstände bezieht, die ein Experte mit dem gleichen Ausdruck bezeichnen würde. Ist es jetzt nicht witzlos, darauf zu beharren, daß bei der semantischen Unterwerfung kein sozialer Gehalt im Spiel ist? Hier darf man zwei Dinge nicht vergessen: Zum einen hängt die Frage nach der Gemeinschaftlichkeit von Sprache daran, wer die Autorität hat – erinnern wir uns: I. Ob eine Sprache eine Gemeinschaftssprache ist, hängt davon ab, wer die Autorität über die korrekte Verwendung der Ausdrücke hat. II. Ob ein Ausdruck einen individuellen oder einen sozialen Gehalt hat, hängt davon ab, ob der Sprecher selbst oder (auch) andere Sprecher die Autorität über die korrekte Verwendung des Ausdrucks haben.

Die semantische Unterwerfung ist verträglich damit, daß der Sprecher die Autorität über den Ausdruck behält. Deshalb folgt aus ihr nicht die Verbindlichkeit des sozialen Gehalts. Zum anderen darf man nicht aus den Augen verlieren, was ich zeigen muß: Die dialektische Lage verlangt von mir, eine Erklärung lethargischer Wörter zu liefern, die nicht darauf hinausläuft, daß die

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Ausdrücke sozialen Gehalt haben. Ich will nicht behaupten, daß meine Erklärung besser ist als die durch den sozialen Gehalt, und ich muß auch nicht behaupten, daß sich empirische Belege für meine Interpretation finden lassen, die über die obigen Indizien hinausgehen. Solange beide Interpretationen unseres Sprachverhaltens mindestens gleich attraktiv sind, habe ich gezeigt, was ich mir für diesen Abschnitt vorgenommen habe: Man kann unseren Umgang mit Expertenbegriffen auch ohne Verweis auf den sozialen Gehalt erklären. Fazit & Ausblick. Expertenbegriffe sind solche Begriffe, deren Gehalt scheinbar nicht ausreichend vom Gebrauch der Sprecher bestimmt ist. Es sieht so aus, als bräuchte man für ihre Erklärung einen verbindlichen sozialen Gehalt. Ich habe mich gegen diese Annahme gewandt: Welchen Gehalt wir mit einem Ausdruck verbinden, ist davon abhängig, wofür wir diesen Ausdruck verwenden wollen. Die Übereinstimmung mit der Verwendung durch Experten ist nur in speziellen Kontexten nützlich, deshalb ignorieren wir größtenteils die Expertenmeinungen und verwenden Ausdrücke anders oder mit einem unspezifischen Gehalt, der nur einen eingeschränkten Gebrauch ermöglicht. Wenn wir uns an den Experten orientieren, haben wir immer einen Grund, der nicht darin besteht, fortan korrekt (gemessen am Expertengebrauch des Ausdrucks) zu reden, sondern bestimmte Redeweisen zur Vereinfachung der Kommunikation mit Experten (Ärzten, Weinkennern, Fußballkommentatoren) zu übernehmen, oder sich genauere Aspekte des Gebrauchs für spezielle Zwecke (Wohnungssanierung, Musikstudium, Babysitting) anzueignen. Ob ein Begriff zu ungenau oder falsch ist, hängt nicht daran, ob es Sprecher gibt, die einen genaueren oder anderen Begriff haben, sondern ob er das erlaubt, was man mit seinem Gebrauch bezweckt. Das ist meine Erklärung der Tatsache, daß wir uns bei manchen Ausdrücken an Experten orientieren. Ich habe eingeräumt, daß man dieselbe Tatsache auch unter Bezug auf den sozialen Gehalt von Ausdrücken erklären kann. In diesem Sinne lautet das Fazit dieses Abschnitts, daß der soziale Gehalt nicht notwendig für die Erklärung von Expertenbegriffen ist. Im verbleibenden Resümee möchte ich kurz die Ergebnisse der letzten drei Abschnitte zusammenfassen und

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die Frage beantworten, wie es angesichts meiner Überlegungen um die Idee des sozialen Gehalts und der Gemeinschaftssprache steht.

5. Resümee Es ging mir um die Frage, ob die Idee, daß der Gehalt mancher oder aller Ausdrücke durch andere Sprecher bestimmt ist, damit verträglich ist, in unser Bild von Sprache vor allem das aufzunehmen, was ihre Nützlichkeit erklärt. Zur Beantwortung dieser Frage habe ich drei Kontexte diskutiert, in denen oft für die Gemeinschaftlichkeit von Sprache argumentiert wird. Die Annahmen, gegen die ich mich dabei gewandt habe, lauteten: 1. Erfolgreiche Kommunikation basiert darauf, daß Sprecher denselben Gehalt mit den geäußerten Ausdrücken verbinden. 2. Man kann sprachliche Korrektheit nur erklären, wenn man den Gebrauch von Ausdrücken durch die Sprachgemeinschaft als verbindlich betrachtet. 3. Die Idee sprachlicher Arbeitsteilung verlangt, daß der Gehalt, den die Experten mit den fraglichen Ausdrücken verbinden, für alle Sprecher verbindlich ist.

Ich habe diesen Annahmen folgende Thesen entgegengesetzt: 1. Einigkeit im Gebrauch von Ausdrücken ist so unwahrscheinlich, daß es plausibler ist, erfolgreiche Kommunikation durch die Zugänglichkeit des Gehalts der Ausdrücke zu erklären. Sozialer Gehalt ist nicht zugänglich, also kann er keine Rolle bei dieser Erklärung spielen. (Abschnitt 2.) 2. Die Rolle, die der Verweis auf die Sprachgemeinschaft bei der Erklärung sprachlicher Korrektheit spielen kann, ist darauf beschränkt, daß es oftmals nützlich ist, sich an den anderen Sprechern zu orientieren. Das beinhaltet aber nicht, daß der soziale Gehalt von Ausdrücken verbindlich ist. (Abschnitt 3.) 3. Die sprachliche Arbeitsteilung läßt sich prima facie durch den sozialen Gehalt erklären, ist aber auch allein mit Bezug auf den individuellen Gehalt erklärbar. Sozialer Gehalt ist für die Erklärung bestenfalls hinreichend, aber nicht notwendig. (Abschnitt 4.)

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Ich hatte im ersten Abschnitt drei Stufen von Gemeinschaftlichkeit genannt, die hier eine Rolle spielten: Die Orientierung an anderen Sprechern ohne Verbindlichkeit ihrer Verwendungen der Ausdrücke, die Verbindlichkeit der Verwendungen mancher Ausdrücke (d.i. die Idee des sozialen Gehalts) und die Verbindlichkeit der Verwendungen aller Ausdrücke durch andere Sprecher (d.i. die Idee der Gemeinschaftssprache). Die Idee einer Gemeinschaftssprache hatte in keinem der drei Kontexte einen Erklärungswert – man kann durch sie kürzen, wenn man erklären will, wie und warum Sprache zum Erreichen verschiedener Ziele verwendet werden kann. Allein der soziale Gehalt von Expertenbegriffen hat überhaupt Erklärungswert. Und nun gibt es einen einfachen Grund, auch hier auf den sozialen Gehalt zu verzichten und von der dritten Stufe der Gemeinschaftlichkeit auszugehen: III. Die Idee des sozialen Gehalts ist abhängig von der Idee des individuellen Gehalts, denn der soziale Gehalt ist der individuelle Gehalt der Ausdrücke anderer Sprecher, der für den einzelnen Sprecher verbindlich ist.

Wenn meine Annahme richtig ist, daß die Idee des sozialen Gehalts die Idee des individuellen Gehalts voraussetzt, weil sozialer Gehalt der individuelle Gehalt ist, den die Sprachfürsten (Experten und Durchschnittssprecher) mit den Ausdrücken verbinden, und wenn wir mit dem individuellen Gehalt unser Sprachverhalten mindestens so gut erklären können, wie mit dem sozialen Gehalt, dann können wir durch den „sozialen Gehalt kürzen.47

Literatur Blackburn, S.: „The Individual Strikes Back”. In: Miller, A. und Wright, C. (Hrsg.): Meaning and Rule-Following. Chesham [1984] 2003, S. 28-44. 47

Die Ideen dieses Textes habe ich in mehreren Kolloquiumsvorträgen in Berlin und Leipzig testen können – Dank an Olaf Müller, Georg Meggle, Andrea Kern, Pirmin Stekeler-Weithofer und Nikos Psarros für Rücken- und Gegenwind.

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Blume, T.: Wittgensteins Schmerzen. Paderborn 2002. Boghossian, P.: „The Rule-Following Considerations”. In: Miller, A. und Wright, C. (Hrsg.): Meaning and Rule-Following. Chesham [1989] 2003, S. 141-187. Burge, T.: „Individualism and the Mental”. In: Ludlow, P. und Martin, N. (Hrsg.): Externalism and Self-Knowledge. Stanford [1979] 1998, S. 21-83. Chalmers, D.J.: „The Foundations of Two-Dimensional Semantics”. In: Garcia-Carpintero, M. und Macia, J. (Hrsg.): Two-Dimensional Semantics: Foundations and Applications, Oxford: 2004. Davidson, D.: „A Nice Derangement of Epitaphs“. In: Ders.: Truth, Language, and History. Oxford [1986] 2005, S. 89-107. Hale, B.: „Rule-Following, Objectivity and Meaning“. In: Hale, B. und Wright, C. (Hrsg.): A Companion to the Philosophy of Language. Oxford 1997, S. 369-396. Jackson, F.: From Metaphysics To Ethics. Oxford 1998. Kripke, S.: Wittgenstein on Rules and Private Language. Oxford 1982. McDowell, J.: „Wittgenstein on following a rule“. In: Synthese 58 (1984), S. 325-363. Putnam, H.: „The Meaning of ‘Meaning’“. In: Ders.: Mind, Language and Reality. Philosophical Papers. Cambridge 1975, S. 215-271. Recanati, F.: Literal Meaning. Cambridge 2004.

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3. EXISTENZ, ZEIT UND DIE GRENZEN DER VERNUNFT

EXISTENZ, MÖGLICHKEIT, WIRKLICHKEIT ALEX BURRI

Meine Hauptthese ist denkbar einfach: Um dem Begriff der Möglichkeit gerecht werden zu können, müssen wir unsere gängige Auffassung von Existenz revidieren. Wenn wir genauer untersuchen, was es mit dem Möglichkeitsbegriff auf sich hat, sehen wir uns mit anderen Worten dazu gezwungen, den Begriff der Existenz anders zu fassen, als wir das gemeinhin tun. Diese These ist aus zwei Gründen problematisch. Zum einen scheint sie nahezulegen, dass sich die zentralen philosophischen Begriffe, zu denen zweifellos auch diejenigen der Möglichkeit und der Existenz zählen, in einer erhellenden Weise analysieren lassen – in einer Weise also, die es uns letztlich gestatten sollte, verbindliche und substantielle Aussagen über ihre wesentlichen oder definitorischen Merkmale zu machen. Angesichts der zahllosen Rückschläge und Misserfolge, die die zeitgenössische Philosophie auf dem Gebiet der Begriffsanalyse zu verzeichnen hatte, wäre eine derartige Annahme jedoch kaum aufrechtzuerhalten. Und zum anderen suggeriert jene These, der Begriff der Möglichkeit sei fundamentaler als derjenige der Existenz – was unserer Intuition offensichtlich widerspricht. Bevor ich mich der eigentlichen Begründung meiner Hauptthese zuwende, möchte ich deshalb einige kurze Bemerkungen vorausschicken, um allfälligen Missverständnissen vorzubeugen, die mit den beiden eben erwähnten, durchaus berechtigten Einwänden einhergehen könnten. Der Philosophie ist es in der Tat nie wirklich gelungen, ihre zentralen Begriffe wie etwa denjenigen des Guten oder denjenigen des Wissens vermittels notwendiger und zusammen hinreichender Bedingungen zu definieren.1 Es ist deshalb sicherlich ratsam, sie als undefinierbare Grundbegriffe zu betrachten. Würde meine Hauptthese 1

Für eine entsprechende Kritik am klassischen philosophischen Ideal der Begriffsanalyse siehe zum Beispiel Stich (1992), insbesondere S. 247-250.

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die Durchführbarkeit klassischer Begriffsanalysen also effektiv voraussetzen, wäre sie ohne Zweifel unhaltbar. Indessen setzt sie lediglich etwas Schwächeres voraus, nämlich die Annahme, dass auch zwischen ganz allgemeinen philosophischen Grundbegriffen wie denjenigen der Möglichkeit und der Existenz so etwas wie Abhängigkeiten oder Zusammenhänge bestehen. Und das ist alles andere als unplausibel. So hat Timothy Williamson zu Recht aufs Folgende hingewiesen: Obwohl das Farbigsein eine notwendige Bedingung des Rotseins ist (sprich: der Begriff FARBIG ein Merkmal des Begriffs ROT ist), folgt daraus weder, dass sich ROT mit Hilfe des Oberbegriffs FARBIG (und einer entsprechenden differentia specifica) definieren lässt, noch kann man daraus ableiten, dass das Farbigsein gegenüber dem Rotsein begrifflich vorrangig oder primär ist (tatsächlich trifft eher das Gegenteil zu). Etwas Vergleichbares gilt laut Williamson auch für einen philosophischen Begriff wie denjenigen des Wissens: Obwohl „S weiß, dass p“ sowohl „S glaubt, dass p“ als auch „‚p‘ ist wahr“ impliziert (sprich: das Geglaubtwerden und das Wahrsein je notwendige Bedingungen des Gewussten sind), braucht WISSEN deswegen nicht mit Hilfe von GLAUBEN und WAHRHEIT definierbar zu sein.2 Und seines Erachtens ist das Glauben gegenüber dem Wissen begrifflich nicht nur nicht vorrangig, sondern sogar nachgeordnet. Letzteres braucht man indessen nicht gutzuheißen, um die Quintessenz von Williamsons Punkt zu retten: Erstens können begriffliche Verbindungen auch zwischen unanalysierbaren bzw. undefinierbaren Ausdrücken wie „Wissen“ und „Wahrheit“ oder „Möglichkeit“ und „Existenz“ bestehen;3 zweitens sagen begriffliche Verbindungen nichts darüber aus, welcher der involvierten Ausdrücke respektive Begriffe, falls überhaupt, grundlegender ist.4 Dementsprechend setzt 2

Siehe Williamson (2000), S. 2 f. und 32. „[T]he existence of conceptual connections is a bad reason to postulate an analysis of a concept to explain them“ (ebd., S. 33). 4 Von den drei Ausdrücken „Hund“ „Rottweiler“ und „Säugetier“ erlernen wir „Hund“ bestimmt als ersten; in dem Sinne ist „Hund“ gegenüber den anderen beiden begrifflich vorrangig; nichtsdestotrotz ist HUND der Oberbegriff von ROTTWEILER und SÄUGETIER der Oberbegriff von HUND. Vgl. dazu Fodor (2003), S. 69f. und 76-79. 3

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Existenz, Möglichkeit, Wirklichkeit

meine eingangs erwähnte Hauptthese auch keine dubiose Annahme hinsichtlich der Analysierbarkeit philosophisch zentraler Begriffe voraus. Darüber hinaus impliziert sie auch nicht, dass der Begriff der Möglichkeit grundlegender ist als derjenige der Existenz oder dass letzterer auf ersteren reduziert zu werden vermag. Aller Voraussicht nach lassen sich die grundlegenden Termini der Philosophie semantisch also nicht nach dem Muster von „Junggeselle“ oder „Tante“ zerlegen bzw. analysieren. Deswegen anzunehmen, die Philosophie vermöge a priori nichts Erhellendes oder Substantielles über ihren begrifflichen Gehalt zu sagen, wäre indes voreilig.5 Ohne auf die umfangreiche Debatte über die Natur der Begriffe eintreten zu wollen, sei hier lediglich erwähnt, dass sie wohl in vielen Fällen durch so etwas wie implizite Theorien (tacit theories6) bestimmt wird. Diese lassen sich mit reflexiven Mitteln jedoch durchaus rational rekonstruieren, explizit machen und gegebenenfalls auch revidieren. Als beispielsweise Guiseppe Peano gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts seine fünf Axiome formulierte, brachte er erstmals die Theorie zum Ausdruck, die während vieler Jahrhunderte den Begriff der natürlichen Zahl implizit bestimmt hatte. Seine Axiome haben weder als einzelne noch zusammengenommen die Form einer klassischen Definition per genus proximum et differentiam specificam. Vielmehr charakterisieren sie die Bedeutung des Ausdrucks „natürliche Zahl“ im Verbund mit den beiden anderen Grundausdrücken der Theorie („Nachfolger“ und „Null“) auf indirekte, relationale Weise. Da sich die Bedeutung von „natürliche Zahl“ jedoch in diesen axiomatisch formulierten Relationen erschöpft, es hinsichtlich des Begriffs der natürlichen Zahl darüber hinaus also nichts Tiefgreifenderes zu sagen oder zu entdecken gibt,7 ist es durchaus angemessen, hier von 5

So hält Williamson fest: „The working hypothesis should be that the concept knows cannot be analysed into more basic concepts. But to say that is not to say that no reflective understanding of it is possible“ (Williamson (2000), S. 33). 6 Stich (1992), S. 250. 7 Natürlich lassen sich aus den Peano-Axiomen unzählige zahlentheoretische Theoreme deduzieren, die uns Aufschluss über endlos viele weitere Eigenschaften der natürlichen Zahlen geben. Diese Eigenschaften sind für den Begriff der natürlichen Zahl jedoch nicht konstitutiv. Vgl. dazu Horwichs Unterscheidung

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einer substantiellen, apriorischen Charakterisierung zu sprechen. Ähnliches kann man sich auch von philosophischen Grundbegriffen erhoffen.

1. Möglichkeit: ratio cognoscendi Beginnen wir mit der Frage, wie wir überhaupt auf die Idee kommen, von Möglichkeiten (im metaphysischen Sinne des Wortes) zu sprechen, also von Sachverhalten oder Konstellationen, die der Fall hätten sein können, aber de facto nicht der Fall sind. Welche Phänomene veranlassen uns zu der Annahme, dass die Welt auch anders hätte sein können als sie tatsächlich ist? Das ist die Frage nach der ratio cognoscendi, nach dem Erkenntnisgrund dessen, was wir (nicht verwirklichte) Möglichkeiten nennen. Sie zu stellen, ist deshalb wichtig, weil ihre Beantwortung darüber Auskunft zu geben vermag, wie robust bzw. wie unverzichtbar der Begriff der Möglichkeit eigentlich ist. Hätte er keine solide Daseinsberechtigung, käme die Rede von unverwirklichten Möglichkeiten mit anderen Worten einer philosophischen Marotte oder einer unfundierten Spekulation gleich, so würde sich ein nicht unerheblicher Teil der zeitgenössischen Metaphysik als eines ernsthaften Unterfangens wohl einfach erübrigen – und mit ihm die Frage nach dem Verhältnis von Existenz, Möglichkeit und Wirklichkeit. Was uns so etwas wie einen epistemischen Zugang zu unverwirklichten Möglichkeiten verschafft und uns folglich überhaupt erst dazu bringt, den entsprechenden Begriff auszubilden, ist letztlich auf einen simplen Umstand zurückzuführen: Wir sind Wesen, die die Welt als so und so beschaffen repräsentieren, sei es mental, sei es sprachlich. Unsere mentalen Repräsentationen (allen voran: unsere Gedanken und Überzeugungen) und unsere sprachlichen Darstellungen der Welt – sie reichen von einzelnen Sätzen über zusammenhängende Berichte bis zu ganzen Theorien – haben nämlich die essentielle Eigenheit, wahr oder falsch zu sein. Etwas, das nicht falsch sein kann, mag zwischen den „explanatorisch grundlegenden Gebrauchsmustern“ eines Ausdrucks und denjenigen seiner Verwendungsweisen, „die bloße Konsequenzen dieser Muster sind“ (Horwich (1998), S. 151).

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zwar Information über etwas anderes enthalten, ist jedoch keine Repräsentation dessen, worüber es Information enthält: Die Zahl der Baumringe enthält Information über das Alter des betreffenden Baumes, repräsentiert dieses Alter aber nicht.8 Nur Dinge, die grundsätzlich auch falsch sein können, vermögen die komplementäre Eigenschaft, wahr zu sein, überhaupt aufzuweisen und uns mithin als Repräsentationen zu dienen. Nun ist es ein unbestreitbares Faktum, dass wir die Welt nicht immer so repräsentieren, wie sie ist. Denn unsere Überzeugungen erweisen sich öfter als falsch. Im Lichte neuer Erfahrungen sehen wir uns mit anderen Worten öfter dazu gezwungen, unsere vorgängigen Meinungen zu revidieren: Ich glaubte, es sei noch Bier im Kühlschrank, werde dann aber eines Besseren (bzw. Schlechteren) belehrt. Es sind Erfahrungen dieses Typs, die Anlass geben zur Idee, dass die Welt auch anders hätte sein können, als sie ist. Die Einsicht in die Falschheit einer zuvor für wahr gehaltenen Proposition ist daher das als ratio cognoscendi fungierende Phänomen, das uns einen Bereich unverwirklichter Möglichkeit erschließt. Und als solches ist es ausgesprochen robust: Die Eigenschaft, wahr oder falsch zu sein, ist eine transzendentale Bedingung für das Vorliegen mentaler oder sprachlicher Repräsentationen, während unsere repräsentationale Fehleranfälligkeit auf den vielleicht bedauerlichen, aber sicherlich unbehebbaren Umstand zurückzuführen ist, dass wir, um mit Nagel zu sprechen, „kleine Kreaturen in einer großen Welt“ sind,9 eine Welt, welche unseren jeweiligen Erkenntnishorizont zu übersteigen pflegt. Betrachten wir die Revision einer Überzeugung etwas genauer. Um die Dinge nicht unnötig zu komplizieren, beschränke ich mich dabei auf den logisch einfachsten Fall, nämlich auf eine Überzeugung, wonach dem Gegenstand a die Eigenschaft F zukommt. Ein Subjekt S glaubt also zunächst, a sei F, und stellt später fest, dass dem nicht so ist. Letzteres kann auf zwei sehr unterschiedliche Arten geschehen: Entweder erweist sich die Überzeugung als falsch, weil dem Gegenstand a die Eigenschaft F nicht zukommt, d. h. S’ ursprüngliche Attri8

Vgl. dazu Dretske (1980), insbesondere S. 356 f. und 359 f., sowie Grice (1957), insbesondere S. 213 ff. 9 Nagel (1986), S. 5.

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buierung unzutreffend war, oder sie stellt sich als falsch heraus, weil der Gegenstand a gar nicht existiert, also die Präsupposition von S’ Überzeugung nicht erfüllt war (S glaubt beispielsweise, der Planet Vulkan sei für die Periheldrehung von Merkur verantwortlich, um dann später zur Einsicht zu gelangen, dass es innerhalb der Merkurbahn keinen weiteren Planeten gibt). Den beiden Fehlerquellen – falsche Attribuierung und falsche Präsupposition – entsprechen zwei unterschiedliche Arten von Möglichkeiten, nämlich einerseits eine attributive und andererseits eine existentielle. Wenn wir die (potentielle) Revision einer Meinung prospektiv betrachten, wenn wir also davon ausgehen, dass S seine momentane Überzeugung, a sei F, wegen neuer Befunde in Zukunft vielleicht ändern wird, liefert uns das im ersten Fall die attributive Möglichkeit ¬Fa, im zweiten Fall hingegen die existentielle Möglichkeit ¬∃x.x = a. Betrachten wir die (bereits erfolgte) Revision einer Überzeugung hingegen retrospektiv, erhalten wir statt dessen die attributive Möglichkeit Fa und die existentielle Möglichkeit ∃x.x = a. Auf das obige Beispiel bezogen hieße letzteres: Es gibt eine mögliche Welt, in welcher der Planet Vulkan existiert (und dort für die Periheldrehung von Merkur verantwortlich ist). Solche Möglichkeiten unterliegen gewissen Einschränkungen. Falls F eine wesentliche Eigenschaft von a ist, also eine Eigenschaft,

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ohne die er nicht zu existieren vermöchte, wird die Behauptung „¬Fa“ („Möglicherweise ist a nicht F“ bzw. „Es gibt eine mögliche Welt, in der a nicht F ist“) falsch und fällt die entsprechende attributive Möglichkeit folglich weg. Und falls es so etwas wie notwendigerweise existierende Entitäten geben sollte – halbwegs plausible Kandidaten sind mathematische Objekte wie beispielsweise die leere Menge oder die Zahl 2 –, sind die entsprechenden existentiellen Modalaussagen „¬∃x.x = ∅“ und „¬∃x.x = 2“ ebenfalls inkorrekt. Von solchen Ausnahmen einmal abgesehen, liefert uns das Phänomen der Überzeugungsrevision jedoch einen robusten Erkenntnisgrund zur Annahme, dass ein Gegenstand erstens auch andere Eigenschaften haben könnte, als ihm effektiv zukommen, und dass es zweitens Gegenstände geben könnte, die de facto nicht existieren, bzw. Gegenstände gibt, die tatsächlich existieren, aber im Inventar der Welt auch fehlen könnten. Die ratio cognoscendi unverwirklichter Möglichkeiten darf nicht mit dem verwechselt werden, was man gemeinhin als epistemische Möglichkeit bezeichnet. Für ein Subjekt S ist eine epistemische Möglichkeit ein Sachverhalt, der mit dem, was S weiß, verträglich ist. Wenn ich beispielsweise weiß, dass Donald sich jetzt nicht in seinem Büro aufhält, hinsichtlich seines gegenwärtigen Aufenthaltsortes ansonsten aber ignorant bin, ist es für mich epistemisch möglich, dass Donald jetzt in der Straßenbahn oder zu Hause oder im Kino ist. Diese Möglichkeiten haben indessen nichts mit der Revision meiner Überzeugungen zu tun. Da ich keine Ahnung habe, wo (außerhalb seines Büros) Donald sich jetzt aufhält, glaube ich weder, er sei zu Hause, noch, er sei in der Straßenbahn oder im Kino. Erreicht mich dann die Kunde, er unterhalte sich gerade mit Kollegen in der Cafeteria, wird mich diese neue Information dementsprechend auch nicht dazu veranlassen, eine meiner früheren Überzeugungen zu korrigieren. Die Kunde von seinem momentanen Aufenthaltsort eliminiert zwar die epistemischen Möglichkeiten, die zuvor noch bestanden, erschließt mir wegen der dabei nicht eingetretenen Überzeugungsrevision jedoch keine unverwirklichten Möglichkeiten. Letztere sind metaphysischer, nicht epistemischer Natur.

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2. Möglichkeit: ratio essendi Worin liegt nun die ratio essendi, der Seinsgrund, unverwirklichter metaphysischer Möglichkeiten? Da ihr Erkenntnisgrund unter anderem mit einer Eigenheit mentaler und sprachlicher Repräsentationen zusammenhängt – nämlich mit der Eigenheit, wahr oder falsch sein zu können –, liegt es nahe, die ratio essendi in einem Mechanismus zu vermuten, der auf der ontologischen Ebene nach dem gleichen Muster operiert wie der Mechanismus, der auf der repräsentationalen Ebene für das Zustandekommen wahrer oder falscher Repräsentationen verantwortlich zeichnet. Schließlich hat sich die Metaphysik seit jeher an der logisch-semantischen Struktur unserer Gedanken und unserer sprachlichen Repräsentationen orientiert. Wodurch kommen wahre oder falsche Repräsentationen also überhaupt zustande? Kraft welches Umstandes weist eine Repräsentation die Eigenheit auf, wahr oder falsch sein zu können? Jede derartige Repräsentation, so müssen wir uns in Erinnerung rufen, ist eine Kombination mindestens zweier Elemente. Das gilt nicht nur für elementare Sätze wie „Donald schläft“, sondern auch für einfache Signale – denken wir etwa an das grüne Licht neben den Bahngleisen, das den Sachverhalt repräsentiert, dass der nächste Abschnitt der Strecke frei ist – und Einwortsätze wie „Gavagai“ oder „Hunger“. Zwar haben Einwortsätze und einfache Signale keine syntaktische Struktur und scheinen oberflächlich betrachtet deshalb nur aus einem einzigen Zeichen zu bestehen, doch weisen sie bei Lichte besehen versteckte, jeweils vom Kontext abhängige indexikalische Komponenten auf: Das grüne Licht repräsentiert, dass dieser (auf das Signal folgende) Streckenabschnitt jetzt frei ist; die Äußerung des Einwortsatzes „Gavagai“ repräsentiert, dass sich dort (in der Blickrichtung des Sprechers) jetzt ein Hase befindet usw. Sie sind mit anderen Worten elliptisch, enthalten also nicht alle repräsentationalen Komponenten, aus denen sie tatsächlich bestehen, in expliziter Form.10 10

Frege bemerkt: „Wenn mit dem Praesens eine Zeitangabe gemacht werden soll, muss man wissen, wann der Satz ausgesprochen worden ist, um den Gedanken richtig zu fassen. Dann ist also die Zeit des Sprechens Teil des Gedankenausdrucks [d. h. Teil der Repräsentation; A. B.]“ (Frege (1918), S. 37 f.).

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Weil Repräsentationen, die einen Wahrheitswert besitzen, aus mindestens zwei Elementen zusammengesetzt sind, haben Fehler des ersten Typs, also falsche Attribuierungen, ihren Ursprung offenbar in einer Kombination inadäquater repräsentationaler Elemente: Ein Satz der Form „a ist F“, der die Elemente bzw. Ausdrücke „a“ und „F“ (prädikativ) miteinander kombiniert, ist auf die erste der beiden von mir unterschiedenen Arten falsch, wenn dem Gegenstand a in Tat und Wahrheit eine mit F unverträgliche Eigenschaft G zukommt. Statt die den Tatsachen angemessenen Ausdrücke „a“ und „G“ kombiniert zu haben, hat der Sprecher seine Prädikation also irrtümlich aus „a“ und „F“ zusammengesetzt. Das legt erstens den folgenden Schluss nahe: Die durch Sätze der Form „a ist F“ repräsentierten Sachverhalte – diese mögen bestehen oder nicht bestehen – setzen sich ihrerseits aus einer Kombination von Elementen zusammen, nämlich aus dem Gegenstand a und der Eigenschaft F.11 Und zweitens sprechen diese Überlegungen für eine Rekombinationstheorie unverwirklichter Möglichkeiten: Bestehende Sachverhalte (Tatsachen) setzen sich aus ontologischen Bausteinen zusammen, die auch anders miteinander hätten kombiniert sein können. Diese potentiellen Rekombinationen der vorhandenen ontologischen Bausteine sind nichts anderes als die unverwirklichten Möglichkeiten. Den Kombinationsvarianten der repräsentationalen Elemente entsprechen also die Kompositionsvarianten der ontologischen Bausteine. Sind die Bausteine „gegeben, so sind damit auch alle möglichen Sachverhalte gegeben“.12,13 Nun sind die durch eine Überzeugungsrevision beseitigten Fehler jedoch nicht immer vom ersten Typ. Manchmal, so habe ich festgehalten, stellt sich nämlich nicht die gemachte Attribuierung als unzutreffend heraus, sondern die mit der betreffenden Überzeugung (o11

Wittgenstein, auf den diese Überlegungen zurückgehen, bezeichnet sämtliche ontologische Bausteine eines Sachverhaltes als „Gegenstände“: „Der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen“ (Wittgenstein (1922), § 2.01). Und er hält fest: „Der Konfiguration der einfachen Zeichen im Satzzeichen entspricht die Konfiguration der Gegenstände in der Sachlage“ (ebd., § 3.21). 12 Ebd., § 2.0124 (seine Hervorhebung). 13 Für eine ausführlichere Darstellung von Wittgensteins Ontologie siehe Burri (2004), S. 293-299.

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der Behauptung) einhergehende Präsupposition. Dementsprechend muss die gesuchte ratio essendi dergestalt sein, dass sie auch das abzudecken vermag, was ich als „existentielle Möglichkeiten“ bezeichnet habe. Sie muss also außerdem mit Gegenständen zurechtkommen, die es hätte geben können, aber die de facto nicht existieren, sowie mit Gegenständen, die nur kontingenterweise existieren, die es also auch nicht hätte geben können. Hinsichtlich der existentiellen Möglichkeiten erleidet die Rekombinationstheorie jedoch Schiffbruch, weil sie mögliche Welten, die im Vergleich zur wirklichen Welt ontologisch verarmt oder ontologisch angereichert sind, prinzipiell ausschließt. Laut der Rekombinationstheorie fallen die nicht realisierten Möglichkeiten mit den Kombinationsvarianten der in der wirklichen Welt vorhandenen ontologischen Bausteine zusammen. Daher ist es ihr zufolge ausgeschlossen, dass die Welt zusätzlich zu allen in ihr tatsächlich vorhandenen Objekten noch einige weitere Objekte enthalten könnte. Denn für die Konstruktion bzw. Erschaffung dieser überzähligen Objekte fehlen die Bausteine. Damit durch Rekombination beispielsweise Einhörner entstehen können – das schließt die Theorie per se natürlich nicht aus –, müssen wenigstens ein paar der tatsächlich bzw. ursprünglich vorhandenen Objekte in ihre Komponenten zerlegt, und eben dadurch zum Verschwinden gebracht werden. Ontologisch genuin angereicherte Welten kann es mithin nicht geben. Umgekehrt ist es der Rekombinationstheorie zufolge aber auch ausgeschlossen, dass ein tatsächlich vorhandenes Objekt ersatzlos aus dem Inventar der Welt gestrichen werden könnte. Denn in diesem Fall müssten mit dem betreffenden Objekt auch die Bausteine verschwinden, aus denen es zusammengesetzt ist. Das Verschwinden von Bausteinen ist indessen keine Möglichkeit, die sich durch die Rekombination der Bausteine erklären ließe. Folglich kann es auch keine ontologisch genuin verarmten Welten geben. Gemäß der Rekombinationstheorie muss die Gesamtzahl der Bausteine in allen möglichen Welten (in allen vollständigen Kombinationsvarianten) stets dieselbe sein. Und eben dies schließt eine Vielzahl existentieller Möglichkeiten grundsätzlich aus. Die Rekombinationstheorie hat für diejenigen unverwirklichten Möglichkeiten, die sie zu erfassen vermag, den großen Vorteil, eine

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echte ratio essendi zu benennen, handelt es sich bei der Kombinierbarkeit bzw. Rekombinierbarkeit doch um eine dispositionale Eigenschaft der ontologischen Elemente und mithin um einen Mechanismus, der das Vorliegen (einiger) Möglichkeiten in einem substantiellen Sinne des Wortes erklären kann. Allerdings ist aus prinzipiellen Gründen kein Mechanismus in der Lage, massive Nichtexistenz – ihr Grenzfall ist die Möglichkeit, dass es statt der uns bekannten Welt auch hätte nichts geben können – zu erklären. Denn Mechanismen sind stets an die Existenz von etwas gebunden. Deshalb müssen zumindest einige der unverwirklichten existentiellen Möglichkeiten sui generis sein. Und wenn das Vorliegen zumindest einiger Möglichkeiten ein schieres, irreduzibles, nicht weiter erklärbares Faktum ist, gebietet es das Prinzip der Einfachheit bzw. der Homogenität unserer Annahmen, sämtliche Möglichkeiten als sui generis zu betrachten. Ein Postulat, wonach es zwei grundsätzlich verschiedene Arten von Möglichkeiten gebe – nämlich solche, die sui generis sind, und solche, die sich durch einen wie auch immer gearteten Mechanismus erklären lassen –, wäre mit anderen Worten methodologisch kaum vertretbar. Die Auffassung, dass es sich beim Vorliegen einer metaphysischen Möglichkeit stets um ein schieres, nicht weiter erklärbares Faktum handelt, geht Hand in Hand mit einer Deutung, wonach der modale Operator „Es ist möglich, dass …“ („“) ein Existenzquantor ist, dessen Variablen über mögliche Welten laufen. Zu sagen, Tomaten könnten violett sein, d. h. es sei möglich, dass Tomaten violett sind, bedeutet demnach, es existiere eine mögliche Welt, in der Tomaten violett sind. Logische Quantifikation setzt immer einen Wertebereich der Variablen voraus, über den in der betreffenden Sprache (im betreffenden logischen Kalkül) nichts weiter gesagt werden kann, sondern der einfach als gegeben betrachtet werden muss. Dieses Gegebensein des Wertebereichs ist aber nichts anderes als die schiere Faktizität dessen, worüber die entsprechenden Variablen laufen. Interpretiert man, wie das gängige Praxis ist, den Möglichkeitsoperator als Quantor, müssen mögliche Welten (und mit ihnen die unverwirklichten Möglichkeiten) einfach gegeben sein. Ihr Vorhandensein ist ein schieres Faktum. Die ratio essendi unverwirklichter Möglichkeiten entpuppt sich mithin als nichtkonstruktives, akausales je ne

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sais quoi. Diese Antwort entspricht sicherlich nicht dem ursprünglich Erhofften, doch ist sie letztlich unumgänglich.

3. Das Paradox der Existenz Existenz scheint ein Paradebeispiel für Kontingenz zu sein: Dass Sulfide Schwefel enthalten, mag analytisch und mithin notwendig sein, dass es Sulfide gibt, ist es aber sicherlich nicht. Betrachten wir die Sache genauer, kommt unsere Intuition indessen ins Wanken. Denn was heißt es für ein Einzelding wie Bill Clinton, für eine natürliche Art wie die Tiger oder für eine Klasse von chemischen Substanzen wie die Sulfide, kontingenterweise zu existieren? Eine Sache existiert genau dann kontingenterweise, wenn sie auch hätte nicht existieren können, d. h. wenn sie erstens in der wirklichen Welt vorhanden ist und es zweitens mindestens eine mögliche Welt gibt, in der sie nicht existiert. Die kontingente Existenz einer Sache setzt die Existenz möglicher, anders gearteter Welten also voraus. Ohne über mögliche Welten zu quantifizieren, lässt sich mit anderen Worten gar nicht behaupten, etwas existiere kontingenterweise.14 Nun kann die Existenz möglicher Welten jedoch ihrerseits nicht kontingent sein. Die gegenteilige Annahme würde nämlich zu einem infiniten Regress führen: Die möglichen Welten bilden zusammengenommen eine Totalität; würde eine in dieser Totalität vorhandene mögliche Welt Wm kontingenterweise existieren, müsste es gemäß der obigen Analyse des Ausdrucks „kontingent“ folglich eine andere Totalität möglicher Welten geben, in der Wm nicht existiert (sprich: relativ zu der Wm unmöglich ist – was an sich schon einer Ungereimtheit gleichkommt); und dann würde sich die These aufdrängen, dass die jeweils unterschiedlichen Totalitäten möglicher Welten wiederum kontingenterweise existieren usw. usf.15 Die Totalität aller möglichen 14

Die folgenden Überlegungen lehnen sich an meine Ausführungen in Burri (2007), S. 166 ff., an. 15 Lewis bemerkt in diesem Zusammenhang: „We think of the totality of all possible worlds as if it were one grand world, and that starts us thinking that there are other ways the grand world might have been. […] But this is thoroughly misguided. If I am right, the many worlds already provide for contingency, and

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Welten und mit ihr die möglichen Welten selbst müssen folglich einen anderen modalen Status besitzen als gewöhnliche Objekte wie Bill Clinton, die Tiger oder die Sulfide. Ansonsten vermöchten sie auch gar nicht den Rahmen zu bilden, innerhalb dessen sich das Sprechen über Möglichkeiten sinnvoll interpretieren lässt. Betrachten wir als nächstes die möglichen Welten selbst. Eine mögliche Welt wie Wm kann keine anderen Objekte enthalten als diejenigen, die sie enthält. Denn sonst wäre sie eine andere mögliche Welt. Das Verhältnis einer möglichen Welt zu den Objekten, die sie enthält, entspricht mit anderen Worten dem Verhältnis einer Menge zu ihren Elementen: Die Menge {1, 2, 3} kann keine anderen Elemente enthalten als die Zahlen 1, 2 und 3, denn ansonsten wäre sie eine andere Menge.16 Für eine mögliche Welt ist es ebenso wie für eine Menge infolgedessen wesentlich, genau diejenigen Objekte zu enthalten, die in ihr vorkommen. Wenn die Existenz möglicher Welten nicht kontingent ist und wenn mögliche Welten ihre jeweiligen Objekte wesentlich enthalten, dann existieren letztere jedoch notwendigerweise. Das heißt: Alles – und eingedenk der vorhandenen existentiellen Möglichkeiten schließt „alles“ neben den Sulfiden und Tigern beispielsweise auch die Einhörner und Kentauren mit ein – existiert notwendigerweise. Die intuitive Annahme, von der wir ausgegangen sind, erweist sich im Sinne einer reductio ad absurdum mithin als falsch. Existenz ist niemals kontingent. Eben dies meinte ich mit der eingangs erwähnten Hauptthese: Die Untersuchung des Möglichkeitsbegriffs zwingt uns letztlich dazu, den Begriff der Existenz anders zu fassen, als wir das gemeinhin tun.

there is no sense in providing for it all over again. […] There is but one totality of worlds; it is not a world; it could not have been different“ (Lewis (1986), S. 80). 16 „It is essential to the identity of a set that it have the members that it does“ (Fine (1981), S. 179).

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4. Wirklichkeit und notwendige Existenz Ein solches Resultat scheint allerdings zwei zentrale metaphysische Unterscheidungen zu verwischen oder gar vollständig aufzuheben, auf die wir schwerlich verzichten können. Von einer dieser beiden Unterscheidungen habe ich sogar selber Gebrauch gemacht, als ich davon sprach, die attributiven und existentiellen Möglichkeiten unterlägen gewissen Einschränkungen. Falls es, so hatte ich geltend gemacht, notwendigerweise existierende Objekte wie etwa die leere Menge oder die Zahl 2 gebe – ein historisch weit einflussreicherer Kandidat ist der Gott des ontologischen Gottesbeweises –, so seien die entsprechenden existentiellen Modalaussagen „¬∃x.x = ∅“ und „¬∃x.x = 2“ falsch. Doch war dabei keineswegs davon die Rede, dass Modalaussagen wie „¬∃x.x = Bill Clinton“ oder „¬∃x.x ist ein Tiger“ falsch sind. Sie sind es definitiv nicht. Doch wie verträgt sich das mit der Behauptung, alles existiere notwendigerweise? Oder anders gefragt: Worin liegt der Unterschied zwischen der leeren Menge oder dem Gott des ontologischen Gottesbeweises einerseits und Bill Clinton andererseits? Die Antwort lautet: Was wir gemeinhin als „notwendige Existenz“ bezeichnen und Entitäten wie der leeren Menge (vielleicht) zuzuschreiben gewillt sind, ist nichts anderes als Omnipräsenz, sprich: Allgegenwärtigkeit in sämtlichen möglichen Welten. Die meisten Objekte sind nur in einigen möglichen Welten vorhanden – um mit David Lewis und damit genauer zu sprechen: die meisten Objekte haben nur in einigen möglichen Welten ein Gegenstück –, obwohl sie im Sinne der vorangehenden Überlegungen notwendigerweise existieren. Demgegenüber besitzen (vielleicht) einige besondere Objekte so etwas wie eine maximale modale Verbreitung: Sie bzw. ihre Gegenstücke sind in allen möglichen Welten anzutreffen. Die ursprüngliche Unterscheidung zwischen kontingenten und notwendigen Gegenständen bleibt uns in Form der Unterscheidung zwischen modaler Teilpräsenz und modaler Omnipräsenz also erhalten. Die zweite Unterscheidung ist sicher die wichtigere. Während man berechtigte Zweifel an der Omnipräsenz von Objekten hegen kann – schließlich ist der mathematische Platonismus nicht zwingend und der ontologische Gottesbeweis alles andere als überzeugend –,

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wird niemand bestreiten wollen, es gebe einen relevanten Unterschied zwischen Mallorca und Atlantis oder zwischen Zebras und Einhörnern: Auf Mallorca kann ich Ferien machen, auf der Insel Atlantis hingegen nicht; im hiesigen Tierpark kann ich mir Zebras anschauen, während ich selbst im bestbestückten Zoo dieser Welt keine Einhörner zu Gesicht bekommen werde. Was macht also die unstrittige Differenz zwischen dem Eiffelturm und dem Schwert Excalibur aus – wenn nicht die Inexistenz des letzteren? Die Antwort lautet: Was man gemeinhin als „Existenz“ bezeichnet, ist nichts anderes als Aktualität, d. h. Wirklichkeit. Der Eiffelturm ist wirklich, Excalibur nicht. Der relevante Unterscheid zwischen den beiden Objekten betrifft nicht ihre Existenz oder Inexistenz, sondern ihre jeweilige Lage, ihren modalen Ort: Die Zebras, Mallorca und der Eiffelturm gehören zu derselben möglichen Welt, der auch wir selbst angehören, nämlich zu dieser Welt. Und eben deshalb nennen wir sie wirklich. Die Einhörner, Atlantis und Excalibur gehören hingegen anderen möglichen Welten an; sie befinden sich anderswo. Darum nennen wir sie unwirklich. „Aktual“ bzw. „wirklich“ ist mit anderen Worten ein indexikalischer Ausdruck wie „hier“ oder „jetzt“: Er bezieht sich auf das, was meinem bzw. unserem Bewusstsein gegenwärtig (oder mit ihm in irgendeiner Weise kausal verbunden) ist. Aktualität ist keine Eigenschaft der Objekte, sondern eine Relation, nämlich eine Beziehung zwischen mir (uns) und den in meiner (unserer) Welt vorhandenen Objekten. Wirklichkeit ist eine Form der Kopräsenz, sprich: der gemeinsamen Existenz respektive der Zugehörigkeit zu derselben möglichen Welt – und damit in irreduzibler Weise de se.17 Was die wirkliche Welt gegenüber allen anderen möglichen Welten auszeichnet, ist einzig und allein der Umstand, dass sie unsere Welt ist. Bevor ich mich der Frage zuwende, ob mit der Neubestimmung der landläufig so genannten „notwendigen Existenz“ als Omnipräsenz und der landläufig so genannten „Existenz“ als Kopräsenz lediglich ein terminologischer, inhaltlich belangloser Etikettentausch vorge17

„Likewise for the fact of which world is ours. It is an egocentric fact, on a par with the fact of which person is me—in fact, the latter subsumes the former “ (Lewis (1986), S. 130).

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nommen worden ist, möchte ich noch kurz auf einen bisher unberücksichtigen metaphysischen Streitpunkt zu sprechen kommen. Unverwirklichte Möglichkeiten, so habe ich geltend gemacht, existieren genauso wie die bestehenden, wie die wirklichen Sachverhalte. Erstere gehören bloß anderen möglichen Welten an, befinden sich also an anderen Orten des „logischen Raums“, wie Wittgenstein die Totalität der möglichen Welten nennt.18 Damit ist per se jedoch noch nichts über die Natur unverwirklichter Möglichkeiten und nicht aktualer Objekte gesagt. Insbesondere legt die Ablehnung der Rekombinationstheorie für sich genommen noch nicht fest, ob die sui generis existierenden unverwirklichten Möglichkeiten und nicht aktualen Objekte abstrakt oder konkret sind. So ist Plantinga der Meinung, man könne in einer liberalen, über die Ressourcen der Rekombinationstheorie hinausgehenden Weise über unverwirklichte Möglichkeiten und nicht aktuale Objekte wie Pegasus oder Excalibur sprechen, ohne sich dadurch auf die Annahme festzulegen, dass Excalibur auf dieselbe Art existiert wie etwa der Eiffelturm. Denn er identifiziert mögliche Welten im Wesentlichen mit maximalen, konsistenten Propositionen, also mit Entitäten, die ebenso wie die Eigenschaften und Relationen den Status von Universalien besitzen und darum als abstrakt zu gelten haben. Dementsprechend setzt er nicht aktuale Objekte mit so genannten Individualessenzen bzw. Individualbegriffen gleich, die höchstens von einem einzigen Objekt exemplifiziert werden können, in der wirklichen Welt de facto jedoch nicht exemplifiziert sind.19 Eine derartige Position ist zweifelsohne ingeniös und kohärent, hat gegenüber einem modalen Realismus, wonach es sich bei nicht aktualen Objekten wie Sherlock Holmes oder Pegasus um konkrete Einzeldinge handelt, aber gravierende Nachteile. Erstens ist das herausragende Merkmal konkreter Gegenstände ihre kausale Wirksamkeit: Was konkret ist, wird durch andere konkrete Gegenstände beeinflusst und wirkt auf andere konkrete Gegenstände ein. Prima facie trifft dies auf ein Objekt wie Sherlock Holmes zu: Er verletzt sich mit dem Küchenmesser und überzeugt Dr. Watson von seinem Verdacht. 18 19

Siehe Wittgenstein (1922), §§ 1.13, 2.202, 3.4 und 4.463. Siehe Plantinga (1976).

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Was, wenn nicht ein Mensch aus Fleisch und Blut, ist Sherlock Holmes? Zweitens leugnet niemand die Existenz von konkreten Einzeldingen wie etwa diejenige Bill Clintons oder Mallorcas, während die Existenz von Universalien umstritten ist. Gerade wenn man nicht aktuale Einzeldinge in die Ontologie des Konkreten aufnimmt, lassen sich die umstrittenen und damit problematischen Universalien zwanglos auf mereologische Summen (oder allenfalls Mengen) konkreter Einzeldinge reduzieren.20 Der Einfachheit und der Sparsamkeit halber scheint es deshalb eindeutig ratsamer, sich in ontologischer Hinsicht auf die Klasse der konkreten Einzeldinge, die man ohnehin benötigt, zu beschränken. Drittens sind Plantingas Individualessenzen bzw. Individualbegriffe sonderbare Entitäten. Sie werden per definitionem von höchstens einem Gegenstand exemplifiziert, doch weiß niemand, wie sie diese Bedingung sollten erfüllen können. Man kann etwa die Axiome Peanos ohne weiteres als implizite Definitionen der in ihnen enthaltenen Grundausdrücke betrachten. Doch sind die Axiome weder für sich genommen noch im Verbund mit allen zusätzlichen, expliziten Definitionen wie „Eins ist der Nachfolger von Null“ dazu in der Lage, den Gegenstandsbereich der Arithmetik der natürlichen Zahlen eindeutig festzulegen: Es gibt (wegen des Satzes von Löwenheim und Skolem) sogar unendlich viele verschiedene Modelle (Gegenstandsbereiche), die diese Axiome und expliziten Definitionen erfüllen. Analog vermag keine auch noch so lange Spezifikation dessen, was mit dem Eigennamen „Pegasus“ gemeint ist, das Erfülltsein der obigen Bedingung zu gewährleisten. Und einfach zu postulieren, dass der Individualbegriff PEGASUS auf höchstens ein Objekt zutrifft, löst das Problem ebenso wenig wie etwa das Postulat, Gott besitze alle Vollkommenheiten (und mithin Existenz), die Frage beantwortet, ob es überhaupt etwas gibt, das alle Vollkommenheiten besitzt.

20

Siehe Lewis (1986), S. 50-53.

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5. Ein Etikettenschwindel? Die von mir vorgebrachten Thesen wären letztlich substanz- und damit witzlos, wenn sie einfach darauf hinausliefen, die altbekannten metaphysischen Begriffe und Unterscheidungen mit neuen Bezeichnungen zu versehen. Dann bliebe bis auf die eingeführte Terminologie („Omnipräsenz“, „Kopräsenz“ etc.) nämlich alles beim Alten. Und zweifelsohne bringt eine neue Benennung überlieferter Begriffe und Unterscheidungen keinen philosophischen Mehrwert. Es bleibt deshalb zu prüfen, ob das Herkömmliche bloß neu etikettiert worden ist oder ob mit den gemachten Überlegungen vielmehr eine substantielle Revision der metaphysischen Landkarte einhergeht. Falls ich die hergebrachten Begriffe und Unterscheidungen lediglich neu benannt hätte, müsste es eine eineindeutige Zuordnung geben, welche die alte Terminologie auf die neue abbildet. Das Vorhandensein einer solchen Zuordnung würde belegen, dass in inhaltlicher Hinsicht alles beim Alten geblieben ist. Wir stehen also im Wesentlichen vor der Aufgabe, zwei begriffliche Klassifikationssysteme miteinander zu vergleichen und zu erwägen, ob sie cum grano salis äquivalent sind oder nicht. Zu diesem Zweck ist es sicherlich am sinnvollsten, meinen an Lewis orientierten Vorschlag einer Position wie derjenigen Plantingas gegenüberzustellen. Denn letztere ist bezüglich der Frage, was alles als möglich zu gelten hat, weit liberaler und damit näher an ersterem als die Rekombinationstheorie. Dabei ist zunächst einmal folgendes festzuhalten: Einige metaphysisch relevante Ausdrücke haben in beiden Klassifikationssystemen dieselbe Bedeutung. Zu diesen Ausdrücken gehören insbesondere „abstrakte Entität“, „konkrete Entität“ und „kausal wirksame Entität“. Zwar gehört Pegasus für Plantinga nicht zur Extension des Ausdrucks „konkrete Entität“, doch liegt das nicht etwa daran, dass er mit „konkrete Entität“ etwas anderes meint als Lewis, sondern nur daran, dass er Pegasus mit einem Individualbegriff, d. h. mit einer Universalie gleichsetzt. Die betreffende Meinungsverschiedenheit betrifft also nicht die Bedeutung von „abstrakt“ bzw. „abstrakte Entität“, sondern die Natur von Pegasus selbst. Analoges gilt auch für „konkret“ und „kausal wirksam“.

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Mit Hilfe der drei relativ zum Disput neutralen Ausdrücke „abstrakt“, „konkret“ und „kausal wirksam“ lässt sich nun die folgende Gegenüberstellung machen: 1.Sowohl gemäß der alten Klassifikation (à la Plantinga) als auch gemäß der neuen Klassifikation (à la Lewis) haben die Ausdrücke „konkrete Entität“ und „kausal wirksame Entität“ dieselbe Extension (auch wenn diese Extension nach dem alten System weniger umfangreich ist als nach dem neuen). 2. Gemäß der alten Klassifikation hat der Ausdruck „mögliche Entität“ dieselbe Extension wie „abstrakte Entität“,21 während er gemäß der neuen Klassifikation dieselbe Extension besitzt wie „konkrete Entität“. 3.Gemäß der alten Klassifikation hat der Ausdruck „existierende Entität“ dieselbe Extension wie „abstrakte oder konkrete Entität“,22 während er gemäß der neuen Klassifikation dieselbe Extension besitzt wie „konkrete Entität“. Wären dies die einzigen Unterschiede zwischen den Klassifikationen, so wären sie hinsichtlich der uns letztlich interessierenden Begriffe im Wesentlichen äquivalent: „Existierend“ würde in beiden Fällen genau denselben Bereich abdecken,23 während sich „möglich“ nur hinsicht21

Diese zunächst überraschende Behauptung erklärt sich durch den aus formalen Gründen erzwungenen Umstand, dass modale Antirealisten wie Plantinga die aktuale Welt (als eine der möglichen Welten) ebenfalls mit einer maximalen, konsistenten Proposition gleichsetzen müssen, welche qua abstrakte Entität von der wirklichen, konkreten Welt, welche diese Proposition exemplifiziert, zu unterscheiden sind. Im technischen Sinne ist erstere möglich, letztere hingegen nicht. 22 Dem ist deshalb so, weil neben den Universalien natürlich auch die konkreten Einzeldinge wie Bill Clinton existieren. 23 Freileich enthält die Menge des Existierenden im alten System Abstraktes und Konkretes, im neuen System hingegen nur Konkretes. Das ändert aber nichts am Umstand, dass Excalibur in beiden Fällen ebenso existiert wie der Eiffelturm und dass in beiden Fällen die Eigenschaft, rot zu sein, existiert – nämlich einmal als

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lich des in der Fußnote 21 genannten, aus rein formalen Gründen bestehenden und mithin vernachlässigbaren Sonderfalls unterschiede. Ihre Differenz beschränkte sich also letztlich auf die jeweils unterschiedliche Beantwortung der Frage, welche Entitäten nun eigentlich konkret und welche abstrakt sind. Allerdings muss im Hinblick auf meine Hauptthese betont werden, dass auch Plantinga dem Ausdruck „existierend“ eine weit umfassendere Extension zuschreibt als der Commonsense oder die Denker, die ohne einen substantiellen Begriff der Möglichkeit auszukommen glauben. Diese gewichtige Abweichung von der Tradition wird durch die gegenwärtigen Überlegungen nicht tangiert und weist wohl schon für sich genommen auf eine echte Revision der metaphysischen Landkarte hin. Während sowohl bezüglich der Extension als auch bezüglich der Bedeutung von „existierend“ und „möglich“ keine relevanten Unterschiede zwischen der alten und neuen Klassifikation auszumachen sind, weichen sie hinsichtlich des Begriffs der Wirklichkeit jedoch entscheidend voneinander ab. Denn es gilt: 4. Gemäß der alten Klassifikation hat der Ausdruck „wirkliche Entität“ dieselbe Bedeutung wie „kausal wirksame Entität“, während er gemäß der neuen Klassifikation dieselbe Bedeutung hat wie „zu dieser Welt gehörige Entität“. Zwar hat „kausal wirksame Entität“ im modalen Antirealismus dieselbe Extension wie „zu dieser Welt gehörige Entität“ im modalen Realismus, doch kann ihre Bedeutung keinesfalls dieselbe sein. Denn der erste Ausdruck ist im Unterschied zum zweiten nicht indexikalisch, also nicht kontextrelativ oder sprecherbezogen. Zu dieser Welt zu gehören, ist mit anderen Worten keine (metaphysische) Eigenschaft wie die kausale Wirksamkeit, sondern eine (epistemische) Relation. Der Begriff der Wirklichkeit ist in beiden Klassifikationen also toto coelo verschieden. Von einer bloßen Neuetikettierung althergebrachter Beg-

abstrakte Universalie, einmal als konkrete mereologische Summe aller (aktualen und bloß möglichen) roten Einzeldinge.

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riffe und Unterscheidungen kann mithin nicht die Rede sein. Der modale Realismus ist kein alter Wein in neuen Schläuchen.

Literatur Burri, A.: „A Priori Existence“. In: Grazer Philosophische Studien 74 (2007), S. 163-175. Ders.: „Facts and Fiction. Reflections on the Tractatus“. In: Gibson, J. und Huemer, W. (Hrsg.): The Literary Wittgenstein. London: 2004, S. 291-304. Dretske, F.: „The Intentionality of Cognitive States“. In: Rosenthal, D. (Hrsg.): The Nature of Mind. New York [1980] 1991, S. 354-362. Fine, K.: „First-Order Modal Theories I – Sets“. In: Noûs 15 (1981), S. 177-205. Fodor, J.: Hume Variations. Oxford: 2003. Frege, G. „Der Gedanke. Eine logische Untersuchung“. In: Ders.: Logische Untersuchungen. Göttingen [1918] 1986, S. 30-53. Grice, P.: „Meaning“. In: Ders.: Studies in the Way of Words. Cambridge (Mass.) [1957] 1989. Horwich, P.: Meaning. Oxford 1998. Lewis, D.: On the Plurality of Worlds. Malden 1986. Nagel, T.: The View from Nowhere. New York 1986. Plantinga, A.: „Actualism and Possible Worlds“. In: Crane, T. und Farkas, K. (Hrsg.): Metaphysics. A Guide and Anthology. Oxford [1976] 2004, S. 334-349.

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Stich, S.: „What Is a Theory of Mental Representation?“. In: Mind 101 (1992), S. 243-261. Williamson, T.: Knowledge and its Limits. Oxford 2000. Wittgenstein, L.: Tractatus logico-philosophicus. In: Ders.: Schriften Bd. 1. Frankfurt am Main [1922] 1960.

PRÄSENTISMUS, ZEITSPANNEN UND DAS ARGUMENT DER MEHRDEUTIGKEIT DES TENSE-OPERATORS PEDRO SCHMECHTIG

1. Das Ausgangsproblem Mit der Annahme, dass Existenz ein zeitabhängiger Begriff ist, sind zwei konkurrierende Erklärungsansätze verbunden. Während sog. Äternalisten eine tenseless Auffassung vertreten – welche besagt, dass vergangene und zukünftige Zeitpunkte genauso real sind wie die Gegenwart1 –, favorisieren Präsentisten eine tensed Sichtweise. Demnach existieren Dinge ausschließlich in der Gegenwart, weshalb zur Erklärung der zeit-logischen Form tempushaltiger Existenzaussagen ein primitiver, nicht weiter analysierbarer Tense-Operator eingeführt werden muss.2 Entsprechend sind Sätze wie (1) und (2) in Form von (3) bzw. (4) wiederzugeben: (1) Cicero hat existiert. (2) Cicero wird existieren. (3) < Es war der Fall, dass > (∃x) (x = Cicero); (4) < Es wird der Fall sein, dass > (∃x) (x = Cicero).3 1

Demnach ist die zeitlogische Form gewöhnlicher Existenzaussagen mit Hilfe objektsprachlicher Quantoren in der Art zu analysieren, dass man über substantielle Zeitpunkte quantifiziert. Ein Satz wie „Cicero hat existiert“ hat beispielsweise die Form „∃t (t < t* & Cicero existiert (t))“, wobei t* für den Zeitpunkt der Äußerung steht und die spitze Klammer „ (es gibt drei deutsche Könige mit Namen „Otto“). Denn (6) würde besagen, dass es drei deutsche Könige mit Namen „Otto“ zur selben Zeit gegeben hat, was gemessen an den historischen Fakten natürlich Unsinn ist. Und ebenso wenig ist (7) ein akzeptabler Vorschlag: (7) < Es war der Fall, dass > (es gibt einen deutschen König mit Namen „Otto“) & < es war der Fall, dass > (es gibt einen anderen deutschen König mit Namen „Otto“) & < es war der Fall, dass > (es gibt einen weiteren deutschen König mit Namen „Otto“, der sich von den beiden vorangehenden Königen unterscheidet).

ich es dabei, die Verwendung des jeweiligen Zeitoperators durch das Anführen der spitzen Klammern zu kennzeichnen. 4 Der Vertreter eines strikten Präsentismus geht bekanntermaßen davon aus, dass notwendigerweise nur gegenwärtige Dinge existieren, d.h. es wird angenommen, dass der größtmögliche Bereich der Quantors ausschließlich die aktual existierenden Objekte umfasst.

Präsentismus, Zeitspannen und das Argument der Mehrdeutigkeit

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Denn die numerische Quantifikation in (5) kann nicht durch eine Aneinanderreihung mehrerer singulärer Verwendungen des Tense-Operators ersetzt werden. Die Ausdrücke ‚es gibt einen anderen’ und ‚es gibt einen weiteren’ in Satz (7) machen vielmehr deutlich, dass der Bereich des Quantors im zweiten und dritten Vorkommnis jeweils verschieden ist. Aus diesem Grund ist unklar, was an diesen Stellen mit der betreffende QuantorenPhrase gemeint ist. Doch möglicherweise lässt sich (7) in Form einer zusätzlichen adverbialen Modifizierung der Verbphrase so ineinander verschachteln, dass alle Vorkommnisse des Existenzquantors im Skopus desselben TenseOperators stehen: (7*) < Es war der Fall, dass > (es gibt einen deutschen König mit Namen „Otto“ & [< es war der Fall, dass > (es gibt einen weiteren deutschen König mit Namen „Otto“ & [< es war der Fall, dass > (es gibt einen dritten deutschen König mit Namen „Otto“, der sich von den beiden vorangehenden Königen unterscheidet)])]). Nichtsdestotrotz ist (7*) genauso wenig überzeugend:5 Erstens, könnte es durchaus sein, dass die Anzahl der verschachtelten Instanzen nicht endlich ist. In diesem Fall bräuchte der Präsentist einen Tense-Operator, der so konstruiert ist, dass er über alle Verschachtlungen ad infinitum läuft. Zweitens, gibt es eine Vielzahl pluraler Quantoren, deren Anzahl nur vage oder gar nicht spezifiziert ist – wie z.B. „Es hat einige deutsche Fürsten mit Namen Heinrich gegeben“. Und selbst wenn es gelingen würde solche Fälle mit Hilfe eines Tense-Operators zu analysieren, wäre diese Analyse so komplex, dass damit einer der entscheidenden Vorteile der präsentistischen Standardstrategie – nämlich die Einfachheit der betreffenden Erklärung – verloren ginge.6 Ob die zuletzt genannten Einwände vollends überzeugend sind, mag an dieser Stelle dahin gestellt bleiben. Unbestreitbar ist jedoch, dass eine 5

Vgl. Lewis (2004), S. 6f. Dieser Einwand ist vor dem Hintergrund zu lesen, dass ein wesentlicher Vorteil der präsentistischen Position gerade darin bestehen soll, ein einfaches Verständnis von zeitabhängiger Existenz zu liefern, das keine abstrakten Konstruktionen oder ontologisch aufwendige Theorien in Anspruch nimmt und somit der gewöhnlichen Sichtweise nahe steht.

6

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bloße tensed Übersetzung pluraler Quantoren nur wenig Aussicht auf Erfolg hat. Im Rahmen der präsentistischen Erklärungsstrategie wäre es daher wünschenswert, könnte man auf die Idee einer ‚brute force’ Übersetzung verzichten, indem man einen anderen Weg findet, wie sich die betreffenden Quantoren behandeln lassen. Im Folgenden werde ich eine Alternative diskutieren, die Lewis gegen Ende seines Aufsatzes – abermals in kritischer Hinsicht – in Erwägung gezogen hat. In diesem Zusammenhang wird sich zeigen, dass sich die Einführung eines primitiven ZeitspannenOperators gegenüber einem bestimmten Einwand durchaus rechtfertigen lässt; letztlich aber doch nicht dazu taugt, das grundlegende Problem – welches aus der Verwendung pluraler Quantoren für die präsentistische Standarderklärung erwächst – zu lösen.

2. Primitiver ‚Span’-Operator und ein neues Argument gegen den Präsentismus Das Misslingen einer ‚brute force’ Übersetzung wirft natürlich die Frage auf, welche Alternativen bestehen, anhand derer die Verwendung pluraler Quantoren im Rahmen des präsentistischen Modells erklärt werden kann. Auf den ersten Blick kommen dabei zwei Möglichkeiten in Betracht: Einerseits könnte man auf die Idee kommen, dass alle Gegenstände – unabhängig davon, ob sie existieren oder nicht – ein sog. Meinong’sches Außersein besitzen.7 Demnach sind vergangen oder zukünftige Objekte trotz der Tatsache, dass sie gegenwärtig nicht existieren, zumindest in Gestalt ihres Außerseins aktual gegeben, so dass man, ohne einen Tense-Operator in Anspruch zu nehmen, über die betreffenden Objekte quantifizieren kann. Lehnt man die metaphysischen Konsequenzen dieses Vorschlags ab, bestünde eine zweite Alternative darin, irgendwelche Ersatz-Entitäten einzuführen. Diese müsste so konstruiert sein, dass sie – obwohl sie nicht wie konkrete Einzeldinge existieren – die Rolle der gegenwärtig nichtexistierenden Objekte übernehmen. Über derartige Existenz-Surrogate ließe sich insofern ungehindert quantifizieren, als nun nicht mehr behauptet werden muss, dass sie in ontologischer Hinsicht robust sind.8 7 8

Vgl. Meinong (1904). Vgl. zu anderen Alternativen: Keller (2004).

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Wie auch immer solche Erklärungsvorschläge im Einzelnen aussehen mögen, fest steht, dass in beiden Fällen der Versuch unternommen wird, das Problem der pluralen tensed Quantifikation auf Kosten eines revisionistischen Verständnisses der Existenz von Einzeldingen zu umgehen. Demgegenüber hat Lewis eine dritte Alternative ins Spiel gebracht. Seiner Ansicht nach ist eine Quantifikation über nicht-existierende Objekte ganz gleich welcher Art abzulehnen.9 Stattdessen sollte ein primitives Verständnis des Tense-Operators unterstellt werden. Dies setzt jedoch – was unser Ausgangsproblem anbetrifft – eine weitreichende Modifikation voraus. Anstatt wie bisher von einem Slice-Operator zu sprechen, der sich stets auf einzelne Zeitpunkte bezieht, sollte der Präsentist besser behaupten, das der von ihm eingeführte Operator auf ganze Zeitspannen Bezug nimmt. Auf den ersten Blick mag dies ungewöhnlich erscheinen. Doch wenn man bedenkt, dass gewöhnliche Gegenstände innerhalb einer ganz bestimmten Zeitspanne existieren, warum sollte es dann nicht möglich sein, die Funktion entsprechender Propositionen mit Hilfe geeigneter Operatoren zu spezifizieren. Während der Slice-Operator verdeutlicht, was es heißt, dass eine tensed Proposition zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit oder Zukunft wahr bzw. falsch ist, ist die Bedeutung des Span-Operators mit der Tatsache verbunden, dass etwas in Bezug auf ein vergangenes oder zukünftiges zeitliches Intervall existiert hat. Liest man Satz (5) in diesem Sinne, ergibt sich die nachstehende Paraphrase: (5-Span) > (es gibt drei deutsche Könige mit Namen „Otto“).10 Gemäß dieser Span-Lesart ist ein Satz wie (5) im Rahmen der äternalistischen Sichtweise so zu verstehen, dass für ein bestimmtes zeitliches Intervall in der Vergangenheit gilt, es ist wahr, dass es drei deutsche Könige mit Namen ‚Otto’ gibt. Zwar entspricht diese Art der Erklärung nicht der präsentistischen Sichtweise, doch wie Lewis zu Recht betont, kann ein Präsentist – sofern er auf ein primitives Verständnis des Span-Operators verweist

9

Vgl. hierzu Lewis (2004). Die spitze Doppelklammer zeigt an, dass der verwendete Operator über zeitliche Intervalle läuft. Wenn stattdessen von den üblichen Zeitpunkten im Sinne des SliceOperator die Rede ist, wird weiterhin die einfache Klammer verwendet.

10

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– der Übersetzung in Form von (5-Span) zustimmen. Damit scheint das Problem der pluralen Quantoren vom Tisch zu sein. Nichtsdestotrotz scheint auch die Einführung eines modifizierten Tense-Operators nicht ohne Schwierigkeiten zu sein. Obwohl Lewis nicht ausschließen will, dass es nicht-begrenzte Satz-Modifikatoren tatsächlich gibt, ist er skeptisch, was die Verwendung eines primitiven Span-Operatoren anbetrifft. Der Hauptgrund seiner Bedenken ist, dass der vorgeschlagene Span-Operator offenkundig mehrdeutig ist. Ein Satz wie „Es hat einmal zwei Päpste gegeben“ lässt sich beispielweise in Form von (8-Span) paraphrasieren: (8-Span) > (es gibt zwei Päpste); wobei diese Paraphrase zwei ganz unterschiedliche Lesarten besitzt: (8a-Span): Es gibt eine Zeitspanne γ für die gilt: γ ist vergangen & überall in γ gibt es zwei Päpste). (8b-Span): Es gibt eine Zeitspanne γ für die gilt: γ ist vergangen & γ enthält zwei aufeinanderfolgende nicht-überlappende Sub-Intervalle mit jeweils einem Papst). Beide Verwendungen sind historisch gesehen relevant. Im Zeitraum von 1423 bis 1429 hat es beispielsweise zwei Päpste gegeben, weshalb (8aSpan) keineswegs so abwegig ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Aber damit noch nicht genug. Über die Mehrdeutigkeit des SpanOperators ließe sich vielleicht hinwegsehen, würde nicht noch der folgende Aspekt hinzukommen: Ganz offenkundig ist (8b-Span) genau diejenige Lesart, die der Präsentist benötigt, um das Problem der pluralen Quantoren zu lösen. Denn gemäß der zweiten Lesart würde (5-Span) besagen: (5b-Span) Es gibt eine Zeitspanne γ für die gilt: γ ist vergangen & γ enthält drei aufeinanderfolgende nicht-überlappende Sub-Intervalle mit jeweils einem deutschen König mit Namen „Otto“). Unter dieser Lesart bereitet die numerische Verwendung des darin enthaltenen Quantors keine Schwierigkeiten. Man könnte daher die Ansicht ver-

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treten, dass (5-Span) vorzugsweise in der Form von (5b-Span) zu verstehen ist. Dagegen spricht jedoch, dass es eine Vielzahl von Behauptungen gibt, in denen ausschließlich die erste Lesart eine angemessene Übersetzung liefert. So zum Beispiel im folgenden Fall: (9) > (die Sonne scheint und deshalb regnet es nicht) Würde man hier die zweite Lesart zugrunde legen, bliebe der ursprüngliche Sinn von (9) verborgen. Denn sobald es zwei nicht-überlappende SubIntervalle (Sonnenschein- und Regen-Intervall) gibt, stehen diese Bestandteile – als Konstituenten des Gesamt-Intervalls – in einer „Früher-alsRelation“ bzw. „Später-als-Relation“ zueinander. Entsprechend ist nicht mehr klar, warum der Sachverhalt, dass die Sonne scheint, ein Grund dafür sein soll, dass es – bezogen auf das zeitliche Gesamt-Intervall, über das der Span-Operator läuft – nicht regnet. Durch das Scheinen der Sonne im ersten Sub-Intervall wäre nicht mehr ausgeschlossen, dass es an irgendeiner späteren Stelle im Gesamt-Intervall regnet. Mehr noch, geht man von der zweiten Lesart von (9) aus, gibt es augenscheinlich ein späteres SubIntervall, für das seinerseits gilt: Es regnet innerhalb dieses Intervalls und deshalb scheint die Sonne nicht. Nimmt man also allein die spätere Phase des Gesamt-Intervalls in Augenschein, würde im Gegensatz zu dem, was ursprünglich mit (9) intendiert war, ein umgekehrter Begründungszusammenhang behauptet werden. So gesehen wäre es möglich, dass ein Schema wie (9) bezogen auf ein und dasselbe Zeitintervall völlig verschiedene Bedeutungsinhalte generiert. Und das ist sicherlich nicht zu akzeptieren. Ein ähnliches Problem tritt in Situationen auf, bei denen die Anwendung der zweiten Lesart dazu führt, dass aus vermeintlich widersprüchlichen Annahmen sinnvoll Behauptungen werden. Dies trifft beispielsweise auf Aussagen zu, die das folgende Schema erfüllen: (10) > (a ist F & a ist ¬F) Eine widersprüchliche Annahme in Form von (10), die unter der ersten Lesart eindeutig falsch ist, würde unter der zweiten Lesart einen soliden Sinn ergeben. Aber auch in diesem Fall ist es unmöglich, die zweite, desambiguierende Lesart von (10) als die grundlegendere Verwendung des

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Span-Operators auszuzeichnen. Denn für gewöhnlich geht man davon aus, dass in Situationen, in denen eine Instanz von (10) nicht mehr den Anschein eines offenen Widerspruchs erzeugt, eine intrinsische Eigenschaftsveränderung desjenigen Objekts stattgefunden hat, dem als Träger der Eigenschaft das betreffende Prädikat zukommt. Im Rahmen des präsentistischen Persistenz-Modells werden derartige Veränderungen mit Blick auf sog. endurantistische Objekte erklärt. Endurantistische Objekte sind aber zu jedem Zeitpunkt, zu dem sie existieren, völlig gegenwärtig. Aus diesem Grund gehören zeitliche Relationen, die ein Endurer zu früheren oder späteren Stadien seiner Existenz unterhält, nicht zu den Konstituenten der betreffenden Eigenschaftsveränderung. Eine Verallgemeinerung der zweiten Lesart würde hingegen besagen, dass zusätzlich zur Bestimmung der gegenwärtigen Existenz des persistierenden Objekts eine relationale Perspektive eingeführt werden muss. Gemäß der zweiten Lesart beinhaltet eine Instanz von (10) immer eine Früher-als-Relation zwischen zwei nichtüberlappenden zeitlich aufeinanderfolgenden Sub-Intervallen. Doch sobald man eine „Cross-Time“-Relation zwischen zeitlichen Sub-Intervallen (der Existenz eines endurantistischen Objekts) zulässt, ist nicht mehr einsehbar, wie ein strikter Präsentismus – der erklärtermaßen ohne eine solche relationale Bezugnahme auf nicht-gegenwärtig existierende Entitäten auszukommen versucht – zu rechtfertigen ist.11 Fasst man nun die verschiedenen Stränge der Lewis’ Skepsis zusammen, so lässt sich gegenüber der präsentistischen Standarderklärung – zusätzlich zu den bereits bestehenden Kritikpunkten12 – der folgende neuartige Einwand erheben:

11

Damit ist freilich nicht gesagt, dass der Endurantismus gescheitert ist. Verwirft man die sog. ‚Linkage’-These – welche besagt, dass das endurantistische Persistenzmodell notwendigerweise mit einer strikten präsentistischen Zeitkonzeption verkoppelt ist, während die perdurantistische Erklärung eine äternalistische Auffassung verlangt – ist das endurantistische Persistenzmodell mit der Annahme von zeitlichen Relationen (zwischen den bestehenden Phasen eines persistierenden Dings) durchaus vereinbar. Wie ich jedoch an anderer Stelle argumentiert habe, bedarf es dazu einer zweidimensionalen dynamischen Zeitkonzeption. Vgl. hierzu: Schmechtig (2006). 12 Vgl. zu einer ausführlichen Diskussion der Standardeinwände: Rea (2003), Markosian (2004).

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Das Argument der Mehrdeutigkeit des Span-Operators: (P1) Das Scheitern einer rohen tensed Übersetzung pluraler Quantoren erfordert entweder ein revisionäres Verständnis der Existenz von Einzeldingen, oder es bedarf einer Modifizierung des Tense-Operators. (P2) Ein revisionäres Verständnis von Einzeldingen ist abzulehnen, so dass eine adäquate Erklärung pluraler Quantoren (im Rahmen der präsentistischen Sichtweise) nur auf dem Weg der Verwendung eines primitiven Span-Operators zu erzielen ist. (P3) Der betreffende Span-Operator ist jedoch mehrdeutig; er lässt wenigstens zwei unterschiedliche Lesarten zu. (P4) Eine Verallgemeinerung der ersten Lesart würde zwar Widersprüche, die durch die zweite Lesart entstehen, vermeiden, liefert aber keine adäquate Erklärung pluraler Quantoren im Sinne von (P2). (P5) Eine Verallgemeinerung der zweiten Lesart liefert eine adäquate Erklärung im Sinne von (P2), führt jedoch in Situationen, in denen offenbar nur die erste Lesart korrekt ist, zu Widersprüchen. Aufgrund von (P3) – (P5) gilt: (P6) Die Verwendung pluraler Quantoren kann im Rahmen der präsentistischen Sichtweise nicht mit Hilfe eines primitiven Span-Operators erklärt werden. Aufgrund von (P1), (P2) und (P6) gilt: (K) Die präsentistische Standarderklärung ist inadäquat, da sie mit der Verwendung pluraler Quantoren nicht vereinbar ist. Geht dieses Argument durch, lassen sich die Mängel einer ‚brute force’ Übersetzung (pluraler Quantoren) auch dann nicht beheben, wenn man den betreffenden Tense-Operator modifiziert. Damit hätte ein Vertreter der tensless Sichtweise einen weiteren sehr triftigen Grund, die präsentistische

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Zeitkonzeption in Zweifel zu ziehen. Denn im Vergleich zur strikten tensed Auffassung, verfügt der äternalistische Ansatz sehr wohl über die notwendigen Ressourcen, erklären zu können, warum Sätze, die ein Schema wie (9) erfüllen – und solange nicht widersprüchlich erscheinen, wie man zeitliche Relationen zwischen Sub-Intervallen zulässt – trotzdem wahr sein können. Mit anderen Worten, plurale Quantoren stellen für das präsentistische Erklärungsmodell nicht nur ein latentes Problem dar; vielmehr erweist sich derjenige Lösungsvorschlag, welcher der präsentistischen Position scheinbar am Weitesten entgegenkommt, als einer, der letztlich eher für eine äternalistische Zeitkonzeption spricht. Falls nämlich die Verwendung eines primitive Span-Operators nur innerhalb der relationalen Lesart (5bSpan) eine Erklärung für die Verwendung pluraler Quantoren liefert, zugleich aber die Inanspruchnahme zeitlicher Relationen ein Indiz für die Notwendigkeit einer äternalistischen Auffassung ist, dann ist unschwer zu erkennen, dass die präsentistische Position aufgrund des angeführten Arguments ins Hintertreffen gerät.

3. Brogaards Verteidigung des Span-Operators Gegen das obige Argument könnte eingewandt werden, dass es fraglich erscheint, ob die beiden zuerst genannten Prämissen gerechtfertigt sind. Doch nehmen wir einmal an, es wäre so. Auch in diesem Fall scheint es ernstzunehmende Zweifel zu geben, ob das betreffende Argument überzeugend ist. So hat Berit Brogaard (2007) kürzlich dafür argumentiert, dass die mit Prämisse (P3) unterstellte Mehrdeutigkeit des Span-Operators kein hinreichender Grund ist, zu behaupten, dass (P6) wahr ist. Ihrer Ansicht nach ist Lewis’ Schlussfolgerung viel zu überstürzt. Selbst wenn Prämisse (P3) berechtigt ist, folgt daraus nicht, dass der Span-Operator für einen präsentistischen Erklärungsansatz (in Bezug auf plurale Quantoren) unbrauchbar ist. Wohlgemerkt, Brogaard bestreitet nicht, dass der SpanOperator verschiedene Lesarten hat. Es geht ihr lediglich darum, zu zeigen, dass der Span-Operator trotz dieser Mehrdeutigkeit ein geeignetes Mittel zur Erklärung der präsentistischen Verwendung pluraler Quantoren ist. Um dies zu zeigen, stützt sie sich auf folgende Überlegung:

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There is no reasons why the presentist could not help herself to both primitive tensed slice operators, and primitive span operators. She would then have another device available to eliminate ambiguities and ‘to explain why sentences with embedded contradictions may nevertheless be true’. The truth of ‘it HAS been that (it is raining and it is not raining)’, for example, can be explained as follows: ‘it HAS been that (it is raining and it is not raining), but it was not the case that (it is raining and it is not raining). Or, as the eternalist would put it, there is some past interval with a rainy sub-interval and a non-rainy sub-interval, but there is no past time t such that at t it is raining and it is not raining.13

Warum sollte es unmöglich sein, beide Arten der Verwendung zeitlicher Operatoren gleichermaßen in Anspruch zu nehmen? Lewis Ablehnung des Slice-Operators war schließlich nur von partieller Natur; sie betraf nur solche Fälle, in denen es aufgrund der zweiten, relationalen Lesart zu Ungereimtheiten kommt. Der Sache nach ist es daher denkbar, derartige Fälle auszuschalten, indem man den Span-Operator so mit einem negierten Slice-Operator kombiniert, dass die im Ausgangsargument angeführte Prämisse (P3) entfällt. Nach Brogaard lässt sich ein Problemfall wie (10) einfach dadurch ausklammern, dass man das oben angeführte Schema durch etwas wie (11) ersetzt: (11) > (a ist F & a ist ¬F) & ¬ < Es war der Fall, dass > (zu irgendeinem Zeitpunkt t in γ gilt: a ist F zu t & a ist ¬F zu t). Schema (11) kombiniert beide Verwendungsarten so miteinander, dass durch die Anführung des Slice-Operators im zweiten Konjunkt genau diejenige Lesart des Span-Operators ausgeschlossen wird, die uns dazu veranlasst, Behauptungen in Form von (10) als widersprüchlich zu betrachten. Überträgt man diese Überlegung auf das Argument der Mehrdeutigkeit ergibt sich folgendes Problem: Sobald man (10) durch (11) ersetzt, ist Prämisse (P3) nicht mehr gerechtfertigt, da (P5) hinfällig ist; denn die Menge der Fälle, auf welche die zweite, relationale Lesart des Span-Operators anwendbar ist, wird mit Hilfe des zweiten Konjunkts auf genau solche Situationen eingegrenzt, in denen keine Widersprüche auftreten. Und mit dieser Eingrenzung (der zweiten Lesart des Span-Operators) wird ein Schluss auf Prämisse (P6) blockiert. 13

Brogaard (2007), S. 74.

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Ist dieser Rettungsversuch überzeugend? Lässt sich auf der Grundlage von Schema (11) das angeführte Mehrdeutigkeits-Argument widerlegen? Ich denke, dass Brogaards Argumentation unter einem bestimmten Blickwinkel möglicherweise berechtigt erscheint. Dennoch glaube ich, dass ihr Einwand letztlich nicht dazu taugt, das präsentistische Erklärungsmodell – jedenfalls so wie es im Rahmen der Standardauffassung vertreten wird – zu rehabilitieren. Zum Zweck der Rechtfertigung meiner Behauptung werde ich zunächst einmal deutlich machen, wogegen sich Brogaards Vorschlag eigentlich richtet. Im Anschluss daran versuche ich in einem zweiten Schritt zu erklären, warum sich trotz einer teilweise verständlichen Kritik daraus kein Gewinn in Bezug auf eine Widerlegung des angeführten Mehrdeutigkeits-Arguments erzielen lässt.

3. 1 Der Verdacht der Inkohärenz des Span-Operators In der Begründung ihres Vorschlags nimmt Brogaard auf einen Einwand Bezug, der das Ziel verfolgt, zu zeigen, dass die Verwendung eines SpanOperator im Rahmen der präsentistischen Erklärungsstrategie völlig inkohärent ist.14 Ausgangspunkt ist die folgende Beobachtung: Gemäß der präsentistischen Sichtweise ist es nicht nur zum aktualen Zeitpunkt so, dass ausschließlich gegenwärtige Objekte existieren; vielmehr ist es notwendigerweise immer so, dass nur gegenwärtige Objekte existieren. Da ein strikter Präsentismus keine Ausnahme von dieser Grundannahme zulässt, ist es unklar, wie der Gebrauch des Span-Operators mit Behauptungen vereinbar ist, die beispielsweise die folgende Form besitzen: (12) > ∃x ∃y (x = Cicero & y = Napoleon). Damit (12) wahr sein kann, muss die nach dem Span-Operator folgende Satzkomponente in Bezug auf mindestens eine Zeitspanne in der Vergangenheit erfüllt sein. Solange jedoch die präsentistische Grundannahme in Kraft ist – so der betreffende Einwand – gibt es keine derartige Instanziierung einer vergangenen Zeitspanne. Dies wäre nur dann der Fall, wenn Cicero und Napoleon zu irgendeiner Zeit gemeinsam existiert hätten. Vor 14

Vgl. zu diesem Argument Sider (2001), S. 27.

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dem Hintergrund der präsentistischen Standarderklärung ist es einfach inkohärent eine Behauptung für wahr zu halten, die das Schema (12) erfüllt. Demgegenüber hat Brogaard zu Bedenken gegeben, dass eigentlich gar nicht klar ist, was dieser Einwand besagt. Die dabei zugrunde gelegte Behauptung (13): (13) (nur gegenwärtige Objekte existieren), ist nämlich mit (12) durchaus kompatibel. Denn während in (13) ein SliceOperator Verwendung findet, wird bei (12) ein Span-Operator in Anschlag gebracht. Zwar ist es richtig, dass man aufgrund der Verwendung des Span-Operators in (12) auf die folgende Annahme festgelegt ist: (14) ¬ > (nur gegenwärtige Objekte existieren); dies bedeutete aber nicht, dass der in (12) verwendete Span-Operator eine Behauptung in Form von (15) impliziert: (15) ¬ < Es war der Fall, dass > (nur gegenwärtige Objekte existieren). Aus der Tatsache, dass eine Behauptung von (14) innerhalb des präsentistischen Erklärungsansatzes problematisch ist, lässt sich nicht ableiten, dass die präsentistische Grundannahme – so wie sie in (13) zugrunde gelegt wird – durch die Verwendung des Span-Operators verletzt wird. Eine Verletzung von (13) wäre nur dann gegeben, wenn die Verwendung des SpanOperators eine Behauptung in Form von (15) impliziert. Da aber (15) – aufgrund des dort in Anschlag gebrachten Slice-Operators – nicht aus einer Behauptung wie (14) abgeleitet werden kann, ist es unzulässig, zu behaupten, dass der Gebrauch des Span-Operators – so wie er in (12) zugrunde gelegt wird – mit der präsentistischen Erklärungsstrategie unvereinbar ist. Nach Brogaard liegt der Fehler des obigen Arguments darin, dass Vertreter einer tenseless Sichtweise offenbar dazu neigen, Probleme die im Zusammenhang mit (13) entstehen – und im Wesentlichen die Frage betreffen, wie es möglich ist, dass zeitliche Relationen zwischen Objekten bestehen, die nicht zum selben Zeitpunkt gegenwärtig existieren –, grund-

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los auf (12) zu übertragen.15 Eine solche Übertragung ist jedoch unzulässig; sie basiert vielmehr auf dem folgenden Trick: Die ursprüngliche Prämisse des Arguments besagt, dass die nach dem Span-Operator folgende Satzkomponente in (12) wahr sein muss, weil eine Verletzung der präsentistischen Grundannahme (13) anderenfalls unvermeidlich wäre. Begründet wird dieser Schritt aber damit, dass der Klammerausdruck nur dann eine Instanz der vergangenen Zeitspanne sein kann, wenn dieser Ausdruck so verstanden wird, dass es einen vergangenen Zeitpunkt gegeben hat, an dem sowohl Cicero als auch Napoleon gemeinsam existiert haben. Geht man von dieser Prämisse aus, ist es natürlich klar, dass eine Verletzung der präsentistischen Grundannahme auch im Fall von (12) vorliegen muss. Aber dies liegt lediglich daran, dass hier dem Vertreter der präsentistischen Sichtweise etwas unterstellt wird – nämlich die Bezugnahme auf einen gemeinsamen Zeitpunkt, statt auf eine Zeitspanne – was dieser mit keiner Silbe erwähnt hat. Behält man hingegen die ursprüngliche Prämisse bei, lassen sich Probleme die im Zusammenhang mit (13) entstehen nicht auf (12) übertragen. Ich denke, dass diese Überlegung nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Es sollte unstrittig sein, dass der Einwand der Inkohärenz in der beschriebenen Form nicht funktioniert – zumindest dann nicht, wenn man die unterschiedlichen Verwendungsarten des Zeitoperators akzeptiert. Doch was folgt aus dieser Feststellung hinsichtlich der Frage, ob das oben angeführte Argument der Mehrdeutigkeit gerechtfertigt ist oder nicht? Brogaard glaubt, dass der Einwand des Äternalisten nur dann eine gewisse Berechtigung hätte, wenn es für ein Verständnis von (12) zwingend wäre, dass der Bereich der in (12) enthaltenen Quantoren als unbegrenzt zu interpretieren ist. Eine solche Annahme setzt aber bereits voraus, dass der Äternalismus wahr ist. Und das würde bedeuten, der Einwand des Äternalisten ist nur insoweit berechtigt, wie die eigene Position zutreffend ist, so dass sich damit natürlich kein unabhängiges Argument gegen eine präsentistische Auffassung des Span-Operators entwickeln lässt.16 Andererseits trifft ein ähnlicher Vorwurf auf Brogaards Erwiderung gleichermaßen zu. Auch der Äternalist könnte auf seinem Standpunkt beharren, indem er die grundlegende Annahme bezweifelt, wonach es eine primitive Verwendung des Span-Operators gibt, die sich von der eines Sli15 16

Brogaard (2007), S. 76. Ebd., S. 77.

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ce-Operators in signifikanter Wiese unterscheidet. Broogard scheint in ihrer Widerlegung des Inkohärenz-Einwandes ebenfalls die eigene Position vorauszusetzen, für die sie keine unabhängige Rechtfertigung erbracht hat. Die von ihr lediglich postulierte Verschiedenartigkeit von Span- und SliceOperator sagt nichts darüber aus, wieso es im Fall von (12) möglich sein soll, dass es – gemäß der Grundannahme eines strikten Präsentismus – niemals eine Instanz gibt, wonach zwei Dinge zur selben Zeit gegenwärtig sind. Ein strikter Äternalist, der an dieser Grundhaltung festhält, könnte bestreiten, dass es Satz-Operatoren gibt, mit denen man sich unabhängig vom jeweiligen Zeitpunkt auf ganze Zeitspannen bezieht. Der Grund dafür ist einfach: Zeitspannen beinhalten zeitliche Relationen zwischen Objekten, die, wenn die strikte Auffassung berechtigt ist, niemals zum selben Zeitpunkt gegenwärtig sind. Demnach hätte Brogaard also erst dann ein unabhängiges Argument gegen den Einwand der Inkohärenz geliefert, wenn es ihr gelungen wäre, die Unterscheidung zwischen Span und SliceOperator so einzuführen, dass dabei nicht schon die eigene Position – nämlich die Tatsache, dass zeitliche Relationen mit der Annahme von (13) vereinbar sind – vorausgesetzt werden muss. Damit scheint die bisherige Diskussion in einer Sackgasse zu stecken. Ich denke jedoch, dass sich unter Zuhilfenahme des MehrdeutigkeitsArguments eine Entscheidung herbeiführen lässt, ohne dabei den üblichen Verdacht ausgesetzt zu sein, es würde sich hier um ein fehlerhaftes Argument im Sinne einer petitio principii handeln. Meine These ist einfach die, dass die Mehrdeutigkeit bezüglich der Verwendung eines primitiven SpanOperators ein handfestes Problem darstellt, dessen man sich unabhängig von einer bestimmten Zeitkonzeption gewahr werden kann. Andersherum ist es ein Trugschluss zu glauben, dass sich das betreffende Argument innerhalb eines strikten Präsentismus in der von Broogard vorgeführten Weise entkräften lässt. Aus diesem Grund bleibt es bei einer pessimistischen Einschätzung der Ausgangssituation, wonach der Gebrauch pluraler Quantoren nicht über den Umweg der Einführung eines Span-Operators erklärt werden kann.

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4. Mehrdeutigkeit und Non-Standard-Präsentismus Im Gegensatz zum eben diskutierten Einwand der Inkohärenz beinhaltet das angeführte Mehrdeutigkeits-Argument keine Prämisse, die besagt, dass die strikte präsentistische Sichtweise mit der Verwendung eines SpanOperators unvereinbar sei. Die Tatsache, dass der Span-Operator verschiedene Lesarten besitzt, lässt nicht den Schluss zu, dass ein Satz wie (12) mit (13) imkompatibel ist. Es wird lediglich angenommen, dass (12) im Sinne der folgenden Unterscheidung mehrdeutig ist: (12a) Es gibt eine Zeitspanne γ für die gilt: γ ist vergangen & zu jedem Zeitpunkt t in γ (Cicero existiert zu t & Napoleon existiert zu t). (12b) Es gibt ein Zeitspanne γ für die gilt: γ ist vergangen & γ enthält zwei aufeinanderfolgende nicht-überlappende Sub-Intervalle sγ1 bzw. sγ2, so dass zu jedem Zeitpunkt t in sγ1 (Cicero existiert t) & und zu jedem Zeitpunkt t* in sγ2 (Napoleon existiert zu t*) & t < t*. Eine derartige Trennung leuchtet meines Erachtens intuitiv ein; sie ist zumindest unabhängig von einer bestimmten Sichtweise, da sie für sich genommen keine Festlegung im Hinblick auf eine spezifische Zeitkonzeption beinhaltet. Insbesondere ist darauf zu achten, dass mit (12b) klarerweise keine Verletzung der präsentistischen Standardauffassung vorliegt – weder in Form von (15), noch in irgendeiner anderen Art und Weise. Allen Anschein nach bleibt das Mehrdeutigkeits-Argument vom Vorwurf der heimlichen Vorwegnahme einer bestimmten Position unberührt; als Kern des Arguments ist vielmehr das interne Dilemma anzusehen, dass sich aufgrund von unterschiedlichen Defiziten ergibt, die beide Lesarten unter bestimmten Umständen besitzen. Während die erste Lesart auch in Situationen, wie sie unter (9) und (10) beschrieben wurden, angemessen ist – aber dafür keine präsentistische Erklärung für die Verwendung pluraler Quantoren bereitstellt – liefert die zweite Lesart zwar eine solche Erklärung, führt aber in den genannten Fällen (9) und (10) zu erheblichen Schwierigkeiten. Aus diesem Grund scheint es unmöglich zu sein, im Rahmen der präsentistischen Standardauffassung zu einer einheitlichen Verwendung des Span-Operators zu gelangen. Entsprechend ist es kaum von Interesse, welche Zeitkonzeption der Verfechter des Mehrdeutigkeits-

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Arguments vertritt, die entscheidende Frage ist hingegen, ob sich die Unverträglichkeit beider Lesarten – und damit verbunden die Behauptung, dass es sich dabei um ein wirkliches Dilemma handelt – in der von Broogard vorgeschlagenen Form umgehen lässt. Bei der Prüfung dieser Frage sollte allerdings folgender Punkt berücksichtigt werden. Schon der Fairness halber ist zu berücksichtigen, dass eine Widerlegung des Mehrdeutigkeits-Arguments nur insoweit plausibel ist, wie seinerseits gezeigt werden kann, dass eine Verträglichkeit beider Lesarten unabhängig davon besteht, welche Zeitkonzeption man zugrunde legt. Ebenso stellt es eine Minimalbedingung für eine erfolgreiche Verteidigung dar, dass die Art der Widerlegung des Mehrdeutigkeits-Arguments mit der präsentistischen Standardauffassung vereinbar ist. Erfüllt Brogaards Gegenvorschlag diese Anforderung? Die Antwort muss, so denke ich, klarerweise „nein“ lauten. Ihr Vorschlag geht davon aus, dass eine Kombination aus Span- und Slice-Operator völlig unbedenklich ist. Diese Annahme ist jedoch in mehrerer Hinsicht irreführend: Erstens ist daran zu erinnern, dass das Mehrdeutigkeits-Argument dazu bestimmt war, zu zeigen, dass ein primitives Verständnis des Span-Operators nicht ausreichend ist, um das Problem der pluralen Quantoren abzuwehren. Dem stellt Brogaard eine komplexe Verwendung von Slice- plus SpanOperator gegenüber. Allein damit ist aber noch nicht gezeigt – selbst dann, wenn ihr Argument erfolgreich wäre –, dass ein primitives Verständnis des Span-Operators hinreichend ist. Brogaard hat lediglich deutlich machen können, dass Probleme, die sich aufgrund der primitiven Auffassung des Span-Operators ergeben, bei einer komplexen Verwendung von Span- plus Slice-Operator nicht in derselben Form stellen. Dies scheint aber irgendwie trivial zu sein. Denn wenn man unter Hinzunahme des Slice-Operators genau diejenigen Fälle ausklammert, die den primitiven Gebrauch des SpanOperators unerklärlich machen, wundert es kaum, dass man Prämisse (P3) des Mehrdeutigkeits-Arguments zurückweisen kann. Für die ursprüngliche Frage – was es genaugenommen bedeutet, ein primitives Verständnis des Span-Operator als ein Mittel der präsentistischen Erklärung pluraler Quantoren heranzuziehen – ist damit freilich nur sehr wenig gewonnen. Brogaard erklärt nicht, auf welcher Grundlage eine primitive Verwendung gerechtfertigt ist. Zweitens unterläuft ihr Vorschlag die im Zusammenhang mit dem Inkohärenz-Einwand selbst vorgebrachte Forderung, wonach etwaige Gegen-

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argumente nur insoweit zulässig sind, wie sie unabhängig von der jeweils zugrunde gelegten Zeitkonzeption vorgebracht werden können. Zu Recht hat Brogaard eingeklagt, dass der Einwand der Inkohärenz nur dann überzeugend wäre, wenn man – bezogen auf den Bereich des verwendeten Quantors – eine äternalistische Auffassung annimmt. Aus diesem Grund konnte an der Unabhängigkeit des dortigen Einwands glaubwürdig gezweifelt werden. In eben derselben Form lässt sich jetzt aber auch die Unabhängigkeit von Broogards Gegenvorschlag in Frage stellen. Denn ihre Erwiderung scheint nur solange überzeugend zu sein, wie man – bezogen auf den Bereich des hinzugenommenen Slice-Operators – eine äternalistische Zeitkonzeption für zulässig erklärt. Drittens ergibt sich aus der Verletzung der Unabhängigkeitsforderung das folgende Dilemma: Sofern man ernsthaft versucht an der präsentistischen Standardauffassung festzuhalten, erweist sich Brogaards Ansatz entweder als schlichtweg falsch – da er droht, in einem bösartigen Regress zu enden. Oder aber man versucht einen solchen Regress von Anfang an zu vermeiden, ist dann aber konsequenterweise gezwungen, eine Zeitkonzeption zu vertreten, die sich mit den Annahmen eines strikten Präsentismus nicht mehr verträgt. Ein Regress würde sich ergeben, wenn man dazu neigt, trotz des hinzugenommenen Slice-Operators die strikte präsentistische Position aufrechtzuerhalten. Wie ist so etwas denkbar? Nun, man könnte beispielsweise behaupten, dass der in (11) eingeführte Slice-Operator nur in negierter Form verwendet wird, wobei diese Art der Verwendung des Operators (ontologisch gesehen) nicht dazu verpflichtet, die damit verbundene äternalistische Sichtweise zu übernehmen. Ein Satz wie (11) müsste demnach so gelesen werden, dass der im zweiten Konjunkt verwendete Slice-Operator bezüglich einer äternalistischen Interpretation neutral bleibt. Eine Voraussetzung dafür ist, dass die Verwendung des negierten Slice-Operators in (11) mit der Einführung eines ganz speziellen Span-Operators identisch ist. Die besondere Funktion dieses Operators bestünde dann nicht mehr darin, gemäß der äternalistischen Sichtweise einen konkreten Zeitpunkt herauszugreifen, sondern lediglich auszuschließen, dass der zuvor eingeführte Span-Operator mehrdeutig ist, d.h. die Aufgabe des zweiten Operators würde sich darauf beschränken, zu negieren, dass der an erster Stelle eingeführte Span-Operator in Form der nicht-relationalen Lesart (8a-Span) aufgefasst wird. Demnach wäre (11) in Form von (11*) zu paraphrasieren:

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(11*) > (a ist F & a ist ¬F) & ¬ > (γ ist vergangen & zu jedem Zeitpunkt t in γ gilt: a ist F zu t & a ist ¬F zu t). Mit (11*) wird nicht mehr die Existenz eines Zeitpunkts negiert; vielmehr besagt die Negation des Span-Operators im zweiten Konjunkt, dass es keine vergangene Zeitspanne gibt, die an irgendeiner Stelle ein Individuum beinhaltet, das widersprüchliche Eigenschaften besitzt. Setzt man die negierende Funktion des Slice-Operators mit einem derart eingeschränkten Gebrauch des Span-Operators gleich würde ein Satz wie (11) – in der Paraphrase von (11*) – mit der präsentistischen Standarderklärung im Einklang stehen. Eine solche Modifizierung von Brogaards Vorschlag hat jedoch einen entscheidenden Haken. Zu behaupten, dass der Gebrauch des SliceOperators in (11) identisch mit der Negation einer bestimmten Lesart des Span-Operators ist, würde darauf hinauslaufen, dass der betreffende SliceOperator selbst mehrdeutig ist. Neben der gewohnten äternalistischen Verwendung – die aufgrund der Annahme einer Existenz simpliciter eine Quantifikation über Dinge zu vergangenen oder zukünftigen Zeitpunkten erlaubt und deshalb nicht mit einer strikten Auffassung des Präsentismus vereinbar ist – käme zusätzlich eine spezielle Span-Lesart hinzu. Um nun aber sicherstellen zu können, dass bei der Verwendung von (11) nicht die übliche äternalistische Lesart des Slice-Operators zur Anwendung kommt, wäre es wiederum erforderlich, einen weiteren Operator einzuführen, der diese erneute Mehrdeutigkeit ausschließt. Für diesen Operator würde dann dasselbe gelten wie im vorangegangenen Fall, so dass völlig unklar ist, wie ein unendlicher Regress zu stoppen ist. Die einzige Möglichkeit, die ich sehe, um dieses Problem zu beheben, besteht darin, dass man an einer strikten äternalistischen Lesart des Slice-Operators festhält. Dies würde allerdings bedeuten, dass man beide Arten der Verwendung des Zeit-Operators als gleichberechtigt anerkennt. Damit gelangt man jedoch zur anderen Seite des Dilemmas: Brogaards Vorschlag wäre dem Vorwurf ausgesetzt, gegen die Minimalforderung zu verstoßen, demzufolge ein erfolgreicher Einwand gegenüber dem Mehrdeutigkeits-Argument nur dann seinen Zweck erfüllt, wenn er mit derjenigen Position vereinbar ist, gegen die dieses Argument gerichtet ist. Es mag

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Pedro Schmechtig

sein, dass das Mehrdeutigkeits-Argument vom Standpunkt einer zweidimensionalen Zeitkonzeption – bei der eine parallele Verwendung von Slice- und Span-Operator keine Schwierigkeiten bereitet, da eine relationale Beziehung zwischen zwei existierenden Zeitpunkten nicht ausgeschlossen wird – nicht überzeugend ist; aber wie Prämisse (6) deutlich macht, ist eine solche Auffassung vom obigen Argument auch gar nicht betroffen. Ein Vertreter des Mehrdeutigkeits-Argument wäre daher schlecht beraten, zu bestreiten, dass es andere Spielarten der Verteidigung einer nicht strikten präsentistischen Zeitkonzeption gibt, die von diesem Argument ausgenommen sind. Doch auf die präsentistische Standardstrategie trifft das natürlich nicht zu. Denn der Standardstrategie zufolge ist eine strikte präsentistische Sichtweise mit der Annahme einer relationalen Lesart des ZeitOperators unverträglich.

5. Fazit In Anbetracht der angeführten Einwände bin ich insgesamt pessimistisch, was Brogaards Versuch einer Rehabilitierung der präsentistischen Standardsichtweise angeht. Letztendlich bleibt es dabei, dass die Einführung eines primitiven Span-Operators kein probates Mittel ist, mit dem sich das Problem der pluralen Quantoren im Rahmen einer solchen Zeitkonzeption lösen lässt. Auch wenn es keinen Grund zur Annahme gibt, dass ein primitiver Span-Operator mit einer strikten präsentistischen Position völlig unvereinbar ist, lässt sich daraus kein Gewinn ziehen, der zu einer Widerlegung des angeführten Mehrdeutigkeits-Arguments führt. Zwar ist die Ablehnung eines primitiven Span-Operators nur partieller Natur – sie betraf nur solche Fälle, bei denen es aufgrund der relationalen Lesart des SpanOperators zu Ungereimtheiten kommt –, aber das entscheidende Dilemma ergibt sich gerade dadurch, dass es genau die relationale Lesart ist, welche die Verwendung eines primitiven Span-Operators für die Lösung des Problems der pluralen Quantoren attraktiv erscheinen lässt. Eine solche relationale Lesart kann jedoch weder eliminiert werden, noch steht sie mit der Behauptung eines strikten Präsentismus im Einklang. Brogaards Vorschlag wäre folglich nur insoweit konsistent, wie man eine Zeitkonzeption unterstellt, die beide Aspekte der verschiedenen Lesarten des Span-Operators integriert, ohne dabei auf eine parallele Verwendung des Slice-Operators

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zurückgreifen zu müssen. Für eine zweidimensionale Konzeption dieser Art – die vom obigen Argument tatsächlich ausgenommen wäre – ist es allerdings völlig unnötig, die zusätzliche Einführung eines primitiven Span-Operators zu fordern.

Literatur Brogaard, B.: „Span Operators”. In: Analysis 67 (2007), S. 72-79. Crisp, T. M.: „Presentism and ‘Cross-Time’ Relations”. In: American Philosophical Quarterly 42 (2005), S. 5-17. Keller, S.: „Presentism and Truthmaking”. In: Zimmerman, D. (Hrsg.): Oxford Studies in Metaphysics. Oxford 2004, S. 83-104. Lewis, D.: „Tensed Quantifiers”. In: Zimmerman, D. (Hrsg.): Oxford Studies in Metaphysics. Oxford 2004, 3-14. Markosian, N.: „A Defence of Presentism”. In: Zimmerman, D. (Hrsg.): Oxford Studies in Metaphysics. Oxford 2004, 47-82. Meinong, A.: Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie. Leipzig 1904. Prior, A.: „Change in Events and Change in Things”. In: Ders.: Papers on Time an Tense – New Edition. Oxford 2003, S. 7-21. Rea, M.: „Four-Dimensionalism”. In: Loux, M. und Zimmerman, D. (Hrsg.): The Oxford Handbook of Metaphysics. Oxford 2003, S. 246-280. Schmechtig, P.: „Zeit und Persistenz“. In: Metaphysica 7 (2006), S. 87121. Sider, T.: Four-Dimensionalism – An Ontology of Persistence and Time. Oxford 2001.

GOTT, FREIHEIT UND UNSTERBLICHKEIT – DREI POSTULATE DER UNVERNUNFT? OLAF MÜLLER

1. Zum Auftakt ein Test Hier ist ein kleiner Intelligenztest fürs philosophische Publikum. Betrachten Sie die ersten drei Begriffe aus der Überschrift, und setzen Sie die Reihe fort. – Welcher Begriff wäre nach Unsterblichkeit an der Reihe? Natürlich braucht es keine eindeutige Lösung für den Test zu geben. Kenner der Philosophiegeschichte werden andere Lösungen gelten lassen als eingefleischte Systematiker. Ich verfolge hier keine philosophiegeschichtlichen Ambitionen und möchte jetzt kurz erläutern, warum der kleine Test unter systematischen Gesichtspunkten so schwer ist. Es ist alles andere als klar, was die drei Begriffe Gott, Freiheit, Unsterblichkeit miteinander verklammert. Ginge es nur um Gott und Unsterblichkeit, so wäre die Affäre einfacher: Beide Begriffe gehören zur Religion. (Oder doch zur christlichen Religion, denn es gibt Religionen ohne Glauben an einen Gott und Religionen ohne Glauben ans Weiterleben nach dem Tod. Auf die Unterschiede zwischen den Religionen werde ich hier nicht weiter eingehen, das würde uns zu weit abführen). Auf den ersten Blick also tanzt genau Freiheit aus der religiösen Reihe: Gott, –, Unsterblichkeit. Nur unter ganz bestimmten theologischen Voraussetzungen wird man Freiheit unter den Mantel der Religion subsumieren können – etwa indem man sagt, Gott habe den Menschen als freies Geschöpf geschaffen, als Sein Ebenbild, das gleichfalls wie ein unbewegter Beweger, ex nihilo, neue Kausalketten ingang bringen könne.1 Doch selbst wer sich solchen theologischen Überlegungen anschließt, wird nicht

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Tugendhat erörtert einen ähnlichen Zusammenhang und weist ihn als absurd zurück, siehe Tugendhat (2007c), S. 66.

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leugnen, dass Freiheit auch außerhalb der Religion ihr Unwesen treibt – anders als Gott und Unsterblichkeit. Versierte Philosophen schütteln sicher längst ungeduldig ihr Haupt und sagen: Ob alle drei oder nur zwei der Begriffe in die Religion gehören oder nicht, ist gleichgültig; sie gehören jedenfalls allesamt in die Metaphysik, immerhin hat Kant sie in ein und demselben metaphysischen Atemzug genannt.2 – Ich weiß. Aber ich frage mich: Was ist Metaphysik? Diese Frage ist verzwickter als die Parallelfrage: Was ist Religion? Zwar ist es nicht einfach, die ehrwürdigen Themen und Lehren der verschiedenen Religionen unter eine einheitliche theoretische Formel zu bringen. Doch abgesehen von ihrem Lehrgehalt haben alle Religionen eine konkrete und eminent praktische Seite. Religionen machen sich sozusagen im Strom des Lebens bemerkbar, durch ihre Feste, ihre heiligen Bücher, ihr geistliches Personal, ihre sakrale Kunst etc. Wer alles das in Augenschein nimmt, weiß ungefähr, was Religion ist – selbst wenn er’s nicht abstrakt definieren kann. Im Fall der Metaphysik geht es nicht so leicht; da fehlt es an konkreten Zutaten. Zwar gibt es auch in der Metaphysik Bücher und Personal, doch wer sie in Augenschein nimmt, weiß noch lange nicht, was Metaphysik ist. Es war genau dieses Problem, das ich mithilfe des Intelligenztests aufwerfen wollte.

2. Wichtiges postulieren Ich wage jetzt eine tentative Antwort auf die Frage: Was ist Metaphysik? In der Metaphysik kommen Sachverhalte zur Sprache, die uns wichtig sind oder doch wichtig sein sollten, und zwar solche Sachverhalte, für deren Bestehen nicht der geringste vernünftige Grund vorliegt. Kurz, es sind Postulate der Unvernunft. (Das klingt abwertender, als ich es meine, und ich werde diesen Eindruck dadurch zurechtrücken, dass ich mich gegen den Allmachtswahn der Vernunft ausspreche). Bevor ich das Schlagwort von den Postulaten aus Unvernunft einzeln auf Gott, Freiheit und Unsterblichkeit anwende, muss ich eine terminologische Zwischenbemerkung einschalten. Wodurch unterscheidet sich Ver2

Kant (1787 B), S. 7, ders. (1788), S. 122-134, insbes. S. 132.

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nunft von Unvernunft? Für die Zwecke dieses Aufsatzes werde ich Begriffe wie Vernunft und Rationalität so weit fassen wie sinnvollerweise überhaupt möglich. Es ist vielleicht am einfachsten, diese Begriffe negativ zu charakterisieren; sie stehen dann für diejenigen Teile unseres geistigen Lebens, die nicht von Emotionen, Intuitionen usw. bestimmt werden. Was heißt das positiv? Einen Paradefall bieten die Kriterien der naturwissenschaftlichen Meinungsbildung, des allervernünftigsten Unterfangens, das uns bekannt ist und erstaunlich gut gelingt. Aber auch außerhalb der Naturwissenschaften folgen wir vernünftigen Kriterien: dem, was man oft als theoretische Rationalität bezeichnet. Für die Zwecke dieses Aufsatzes soll Rationalität nicht im Gegensatz zu Empirie stehen. Vielmehr soll sie alles umfassen, was Rationalisten und Empiristen zur Erkenntnislehre beizusteuern wussten. Wie rational ein System von Überzeugungen ist, hängt demzufolge davon ab, ob es gut und auf möglichst einfache Weise zu den empirischen Befunden passt, ob es klar, konsistent und kohärent ist, ob seine nicht-empirischen Teile schlüssig und unvoreingenommen begründet sind usw. (Die praktische Rationalität aus Ökonomik und Entscheidungstheorie wird im folgenden keine Rolle spielen; sie bereitet meinen Überlegungen keine wesentlichen Schwierigkeiten, doch ihre Berücksichtigung würde zuviel Raum verschlingen). Jetzt zurück zu den drei Hauptfiguren meines Stücks. Gäbe es Gott, so wäre das wichtig, aber kein vernünftiger Grund spricht für Gottes Existenz, Er ist allenfalls ein Postulat der Unvernunft. Weder haben die Astronomen Gott irgendwo im Universum gefunden, noch brauchen wir die Gotteshypothese zur Erklärung natürlicher Phänomene, und die apriorischen Gottesbeweise der Philosophen funktionieren erst recht nicht. (Diese drei Behauptungen, die ich im folgenden voraussetze, will ich nicht so verstanden wissen, als erübrige sich die Auseinandersetzung mit den Gegenpositionen. Für heute räume ich dies wichtige Thema nur deshalb beiseite, weil ich den Blick auf etwas anderes freibekommen möchte). Bei der Unsterblichkeit sieht es nicht viel anders aus als bei Gott: Wären unsere Seelen unsterblich, so wäre das wichtig, aber nicht der geringste vernünftige Grund spricht für diese Hoffnung, und so ist Unsterblichkeit ein Postulat der Unvernunft. Genauso neuerdings bei der Freiheit. Wären wir in unseren Entscheidungen frei, so wäre das wichtig, aber mehr und mehr naturwissenschaftli-

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che Evidenz spricht dagegen, und so gerät auch die Freiheit in den Ruf, nichts Besseres zu sein als ein Postulat der Unvernunft.

3. Das Gewand der Freiheit nach kompatibilistischem Zuschnitt Bevor ich mich gleich daranmache zu fragen, was so schlimm dabei wäre, unvernünftigerweise etwas Wichtiges zu postulieren, muss ich einen Einwand abfangen, dem ich aus Platzgründen keine Gerechtigkeit widerfahren lassen kann. Er entspringt ganzen Bibliotheken, die von den Philosophen zum Thema Freiheit zusammengeschrieben worden sind. Der Einwand hört auf den Namen Kompatibilismus und geht so: Wenn man Freiheit erst richtig durchschaut, so sieht man, dass weder der naturwissenschaftliche Determinismus im allgemeinen noch die neurophysiologische Durchleuchtung unseres Gehirns im besonderen in Widerspruch geraten kann zu unserem Selbstverständnis als freie Akteure, Entscheider, Denker. Selbst wer in den engen Rahmen einer durch und durch kausal organisierten Wirklichkeit eingezwängt ist, kann immer noch Freiheit genießen. Kurz, neurophysiologischer Determinismus des Gehirns und Freiheit (recht verstanden) sind miteinander kompatibel. Selbstredend hängt hier alles von den Details ab: Nach welchem schrillen Muster und aus welchem extremen Material schneiden sich die Kompatibilisten das Gewand namens Freiheit zurecht, bis es der Maschine namens Gehirn gut steht und nicht etwa von dessen Zahnrädern zerfetzt wird? Die Kompatibilisten haben viele verschiedene Schnittmuster vorgeschlagen. Es würde unseren Rahmen sprengen, sie der Reihe nach durchzugehen; daher beschränke ich mich auf zwei der kursierenden kompatibilistischen Schnittmuster.3 Laut dem ersten Schnittmuster ist Freiheit in naturwissenschaftlichen Begriffen zu definieren (etwa als hochgradige kausale Selbstdetermination komplexer informationsverarbeitender Maschinen). Das verträgt sich natürlich mit durchgängiger kausaler Determination der 3

Das erste Schnittmuster findet sich in Reinform (und weit ausgefeilter, als ich hier darstellen kann) bei Dennett (2003); das zweite (ebenfalls weit ausgefeilter als hier) bei Bieri (2005). Irgendwo in der Mitte zwischen beiden bewegt sich Tugendhat (2007c); Tugendhat geht von allen drei Autoren am offensten auf die berechtigten Intuitionen ein, die dem Inkompatibilismus zugrundeliegen, siehe z.B. ebd., S. 64-66, 69, 71.

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Gehirnmaschine, ja es ist nahezu gleichbedeutend damit. Aber wer wirklich frei sein möchte, wird sich betrogen fühlen und kein Kleid dieses Schnittmusters tragen wollen – selbst wenn pro forma der Markenname der Freiheit daraufsteht. Laut dem anderen kompatibilistischen Schnittmuster soll Freiheit nicht aus dem Stoff naturwissenschaftlicher Begriffe gewebt werden; vielmehr ist Freiheit die Selbstdetermination durch Gründe, und die Rede von Gründen gehört einem anderen Sprachspiel an als die kausale Rede der Naturwissenschaften. Damit haben wir einen Sprachspielpluralismus: Ein und dasselbe Ereignis (das Ja-Wort am Traualtar etwa) lässt sich einerseits durchgängig kausal, andererseits als freie und vernünftige Entscheidung charakterisieren. Hätte die Braut etwas anderes sagen können? Ja und nein. In naturwissenschaftlicher Redeweise lautet die Antwort Nein, denn Anfangsbedingungen und Naturgesetze bestimmen das Geschehen durch und durch. Und in der grundgestützten Redeweise lautet die Antwort Ja, denn wenn die Braut andere Gründe wichtig gefunden hätte, so hätte sie am Traualtar auch etwas anderes verlauten lassen. Aber fragen wir weiter: Hätte die Braut andere Gründe wichtig finden können? Abermals ja und nein. Naturwissenschaftlich betrachtet, haben alle Wichtigkeitsurteile ein Korrelat im Gehirn, sind also durch Anfangsbedingungen und Naturgesetze eindeutig bestimmt – andererseits hätte die Braut andere Gründe wichtig finden können, wenn ihr die und die Argumente durch den Kopf gegangen wären. Ich muss gestehen, dass mich dies Hin und Her verwirrt. Doch statt meiner Verwirrung nachzugehen, will ich im folgenden voraussetzen, was anderswo zu zeigen wäre: dass die sprachspielpluralistischen Kompatibilisten die Spannung, die zwischen Freiheit und Determination des Gehirns besteht, zum Verschwinden zu bringen trachten, ohne dass zu sehen wäre, wo diese Spannung verschwindet. Was die Freiheitskompatibilisten bei Freiheit sagen, lässt sich genauso leicht und genauso leichtfertig bei Unsterblichkeit und Gott sagen. Unsterblichkeitskompatibilisten könnten sagen: Zwar basiert unser Leben und Erleben auf Vorgängen im Gehirn, und wenn das Gehirn stirbt, ist es aus damit – doch wir leben im Andenken unserer Freunde, Verwandten und Bekannten weiter. Und Göttlichkeitskompatibilisten könnten sagen: Zwar haben die Astronomen keinen Platz gefunden, wo der Herr des Uni-

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versums residiert – doch, recht verstanden, ist Gott das gesamte Universum oder die Summe der Naturkräfte.4 Lassen wir das. Wer wichtige Begriffe wie Gott, Freiheit, Unsterblichkeit nur den Naturwissenschaften zuliebe zurechtschneidert, der soll sich nicht wundern, wenn er das bekommt, wofür sich niemand weiter interessiert: einen müden Abklatsch dessen, was wichtig wäre.

4. Vernunft ist nicht alles Bis jetzt stehen wir offenbar vor einem Dilemma: Alles sieht danach aus, als müssten wir uns zwischen Gott, Freiheit, Unsterblichkeit einerseits und der Vernunft andererseits entscheiden: zwischen Sachverhalten von höchster Wichtigkeit auf der einen Seite und unseren mächtigsten Erkenntnismitteln auf der anderen Seite. Nach welchen Regeln sollen wir uns in so einem Dilemma richten? Ich antworte: Nicht immer nur nach den Regeln der Vernunft. Das jedenfalls ist die wichtigste Botschaft aus diesem Essay: Es ist zuweilen zulässig, seine Überzeugungen auf vernunftfremde Gesichtspunkte zu stützen. Ich sage nicht, dass das immer zulässig wäre; wann es zulässig ist, wird von vielerlei abhängen. Ich sage nur, dass es zulässigerweise vorkommen kann, sich im Widerstreit der Meinungen für diejenige zu entscheiden, die nicht die Vernunft auf ihrer Seite hat. Das ist eine schwache Behauptung, aber sie ist mehr als nichts. Denn sobald nur ein einziger berechtigter Fall vernunftfremder Meinungsbildung aufgewiesen ist, muss die Vernunft vom 4

Oben habe ich (bei den Themen Gott und Unsterblichkeit) nur die kompatibilistischen Varianten behandelt, in denen die fraglichen Ausdrücke umdefiniert werden; also nur analog zum ersten Schnittmuster (beim Thema Freiheit). Wie steht es mit den sprachspielpluralistischen Varianten (die das zweite Schnittmuster beim Thema Freiheit darstellten)? Auch bei den Fragen nach Gott und Unsterblichkeit, ja sogar bei der Frage nach der Jungfräulichkeit Mariae könnte man einen sprachspielpluralistischen Kompatibilismus vertreten, etwa so: Hier gelten die Spielregeln der naturwissenschaftlichen Rede – dort die der religiösen Rede. Hier gilt, dass keine Frau schwanger werden kann ohne sexuellen Kontakt zu einem Mann – dort gilt, dass jedenfalls Maria einmal schwanger wurde ohne sexuellen Kontakt zu einem Mann. Gegen solche Positionen, die schwer zu verstehen sind, gebe ich zu Protokoll: Es geht nicht nur darum, was wir so zu reden pflegen, sondern auch darum, wie es ist. Etwas mehr dazu in Fußnote 7.

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Herrscherthron über unseren Lebens- und Meinungswandel abtreten; sie muss sich dann die Macht teilen mit anderen – weicheren, z.B. emotionaleren – Kräften, die um unsere Achtung nachsuchen.5 Kurzum, ich plädiere für mehr und für weichere Kriterien der Meinungsbildung. Dies Plädoyer gilt es im folgenden durch Argumente abzustützen: durch vernünftige Argumente, denn ich will auch die Anhänger der Vernunft überzeugen, nicht nur diejenigen, die immer schon gesagt haben, dass Vernunft nicht alles ist. Dass Vernunft nicht alles ist, lässt sich am besten für eine Situation einsehen, wo sich (i) vernünftige Gründe und Gegengründe genau die Waage halten, wo (ii) trotzdem eine Entscheidung für das eine oder das andere Überzeugungssystem getroffen werden muss und wo es (iii) verrückt wäre, einfach auszulosen, für welches der zwei konkurrierenden Überzeugungssysteme man sich entscheidet.6 Ein Beispiel für so eine Pattsituation werde ich im übernächsten Abschnitt vorführen. Im nächsten Abschnitt werde ich das Beispiel vorbereiten. Doch zum Abschluss des augenblicklichen Abschnitts muss ich kurz erklären, warum ich eben von Überzeugungssystemen, nicht von Einzelüberzeugungen geredet habe. Dieser holistischen Redeweise befleißige ich mich deshalb, weil es bei Themen wie Gott, Freiheit und Unsterblichkeit nicht um die Entscheidung für oder gegen eine Einzelüberzeugung geht, sondern um die Entscheidung für oder gegen etwas Umfassenderes: um die Entscheidung für oder gegen eine Ansammlung von Überzeugungen, die systematisch miteinander zusammenhängen.

5

Insofern ich dafür plädiere, in Quines holistisches Gesamtbild zusätzlich Gefühle zu integrieren, verfolge ich ähnliche Ziele wie Morton White in der Metaethik, siehe White (1981). Ich habe anderswo dargelegt, an welchen Stellen meiner Ansicht nach Whites Sicht der Dinge abgeändert werden sollte, siehe Müller (2008), Kapitel VI und VII. 6 Dass ich meinem erkenntnistheoretischen Ziel geschickterweise als erstes durch Betrachtung solcher Pattsituationen näherkommen kann, habe ich aus einem Gespräch mit Sven Rosenkranz gelernt.

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5. Gott außerhalb der Natur Beginnen wir mit Gott. Wer den vorhin von mir skizzierten Kompatibilismus schlecht findet, könnte sich immer noch dagegen sperren, zwischen Gott und den Naturwissenschaften wählen zu müssen. Er könnte sagen, dass die Naturwissenschaft einen Bereich der Wirklichkeit abdeckt und die Rede über Gott einen anderen Bereich der Wirklichkeit. Dass die Naturwissenschaftler Gott nicht gefunden haben, hieße dann nur, dass es Gott nicht im Einzugsbereich der Naturwissenschaften gibt, nicht in unserem Weltall. Er könnte immer noch woanders schalten und walten, in höheren Sphären als im Raumzeit-Kontinuum. Wohlgemerkt, ich meine das ontologisch, d.h. als Behauptung über die Wirklichkeit und darüber, was es in ihr gibt. Die Rede von höheren Sphären ist zwar nur eine Metapher. Doch wer nicht in den Kompatibilismus, den ich vorhin verworfen habe, zurückfallen will, muss die Metapher ontologisch verstehen, nicht als bloße Redeweise im Rahmen irgendwelcher Sprachspiele. Sonst lässt sich Gottes Existenz nicht ernstnehmen. (Wenn es Ihn gibt, dann existiert Er ja nicht im abstrakten Sinn – nicht so wie die Zahl π). Damit zeichnet sich mit Bezug auf Gott ein neuer interessanterer Kompatibilismus ab als der, mit dem wir vorhin zu tun hatten. Dass die Naturwissenschaften in ihrem Einzugsbereich (im physischen RaumzeitKontinuum) recht haben, verträgt sich mit der Annahme der Existenz Gottes auf anderen Wirklichkeitsebenen, jenseits der Physik, transzendent, metaphysisch. Man könnte das als metaphysischen Kompatibilismus (mit Bezug auf Gott) bezeichnen – oder auch als rahmensprengenden Kompatibilismus. Denn anders als der vorhin zurückgewiesene Kompatibilismus ermöglicht der metaphysische Kompatibilismus Gott nicht etwa im engen Rahmen der Naturwissenschaft (was nur um den Preis der Verwässerung des Gottesbegriffs möglich ist), sondern er lässt etwas Kühnes außerhalb des ontologischen Rahmens und der erkenntnistheoretischen Reichweite der Naturwissenschaft zu: ein höheres Wesen. Ich plädiere also für einen freigiebigen Kompatibilismus; im Gegensatz dazu bescheidet sich der naturalistische Kompatibilismus, den ich zurückweise, in hoher Sparsamkeit.7 7

Wie steht es in dieser Hinsicht mit den sprachspielpluralistischen Kompatibilisten, die ich in Fußnote 4 erwähnt habe? Sie pflegen die ontologischen Kosten ihrer Positi-

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Falls es gelingt, die Rede von handfesten Wirklichkeitsbereichen jenseits des Raumzeit-Kontinuums verständlich zu machen, sprechen alle guten Gründe für diesen Kompatibilismus.8 Setzen wir ihn also fürs weitere voraus. Lassen Sie sich von dieser Voraussetzung nicht beunruhigen. Wer voraussetzt, dass sich Gottes übernatürliche, metaphysische, transzendente Existenz logisch mit allen empirischen Ergebnissen der Naturwissenschaft verträgt, hat damit noch nicht zugunsten der Existenz Gottes entschieden. Er hat lediglich den Weg für diese Entscheidung freigeräumt. Dass der rationale Streit über Gott damit immer noch unentschieden ausgeht, werden wir im nächsten Abschnitt sehen.

6. Das rationale Patt im Streit über Gott Im letzten Abschnitt ging es um die Frage, ob sich Gottes übernatürliche Existenz mit den Ergebnissen der Naturwissenschaft vereinbaren lässt. Anhänger des metaphysischen Kompatibilismus beantworten die Frage mit Ja, und das erscheint vernünftig. Jetzt müssen wir uns einer Frage stellen, die weiter geht: Gibt es Gott? Patt! Denn mit vernünftigen Gründen lässt sich das nicht entscheiden. Das eine Überzeugungssystem sagt:

on nicht immer klar im Blick zu haben. Die sprachliche und semantische Vielfalt, für die sie plädieren, zieht eine Vielfalt der Existenzbegriffe nach sich und eine Vielfalt von Regeln, über Existierendes zu reden. Für Sorgen über die ontologische Ebene, darüber, was denn nun wirklich existiert, besteht in dieser Sicht kein Anlass, seltsam. 8 Anderswo habe ich versucht vorzuführen, wie sich die Rede von handfesten Wirklichkeitsbereichen jenseits des Raumzeit-Kontinuums verständlich machen lässt; hier nur die Grundidee: Das Problem lässt sich am besten aus der Außenperspektive bearbeiten, indem wir uns fragen, welche außerwissenschaftlichen Sprachressourcen ein Gehirn im Tank einsetzen müsste, wenn es von der Wirklichkeit außerhalb des Simulationscomputers sprechen möchte, an den es seit jeher angeschlossen ist und in dem alles das abgespeichert ist, was es „mein materielles Weltall“ nennt. Der eingetankte Sprecher, der z.B. vom Programmierer des Simulationscomputers sprechen will, sieht sich vor denselben Problemen, vor denen wir stehen, wenn wir von Gott sprechen wollen; in beiden Fällen muss und kann man Zuflucht zu Analogien suchen. Siehe Müller (2003), Kapitel VI und VII.

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Die Sätze der Naturwissenschaften sind (im großen und ganzen) wahr, und es gibt nur das, was die Naturwissenschaften sagen, keinen transzendenten Gott. Anhänger des metaphysischen Kompatibilismus können diesem Satz sehr wohl zustimmen. Bei aller Kompatibilität zwischen Gottes Existenz und den Naturwissenschaften mag es sich so treffen, dass es Gott nicht gibt – ein negatives factum brutum gleichsam. (Genauso könnte die Weiterfahrt des Mörders im Orientexpress einerseits mit der gesamten verfügbaren kriminologischen Evidenz kompatibel sein, weil nach Lage der Indizien alle jetzt noch Mitreisenden als Täter infrage kommen; und doch könnte es sich andererseits so treffen, dass der Mörder längst nicht mehr an Bord ist; auch dies ein negatives factum brutum). Aber als Anhänger des metaphysischen Kompatibilismus können wir uns ebensogut dem entgegengesetzten Überzeugungssystem anschließen: Die Sätze der Naturwissenschaften sind (im großen und ganzen) wahr, und abgesehen von den Naturdingen gibt es woanders auch noch Gott. Man macht sich erstens leicht klar, dass die beiden Überzeugungssysteme empirisch gleichwertig sind. Zweitens sind beide gleichermaßen einfach. Zwar ist, drittens, die Ontologie des einen Überzeugungssystems sparsamer als die des anderen, aber ein Teil des Streits zwischen den beiden Überzeugungssystemen dreht sich um die Frage, ob ontologische Sparsamkeit nur in der Naturwissenschaft erwünscht ist – oder in allen unseren Überzeugungssystemen. (Die vernünftige Antwort darauf liegt natürlich irgendwo in der Mitte zwischen den beiden Extremen. In der Kunstgeschichte wird ontologische Sparsamkeit weniger wichtig sein als in der Ökonomik, und zwischen beiden Disziplinen liegt ein ganzes Kontinuum). Wir stecken, wie gesagt, im Patt. Beim Pro und Contra um Gott können wir das rationale Patt nicht einfach auf sich beruhen lassen und sagen: Wir wissen es nicht und halten unser Urteil zurück. Die vornehme Zwischenposition des Agnostikers ist eine Entscheidung gegen die Entscheidung für Gott; also eine Entscheidung gegen Gott. (Ich werde diese logi-

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schen Verhältnisse später anhand zweier anderer Beispiele noch einmal demonstrieren, siehe Abschnitte 16 und 19). Kurz, wir müssen uns für oder gegen Gott entscheiden, aber die Vernunft hilft uns bei der Entscheidung nicht weiter. Da Auslosen in dieser Angelegenheit nicht infrage kommt, müssen weitere Kriterien her. Die Kriterien der Vernunft sind ausgeschöpft, mithin brauchen wir vernunftfremde Kriterien. Was könnte das sein?

7. Verzweiflung, Hoffnung, Misstrauen Betrachten wir zwei Personen, deren Gedankenwelten weit voneinander abweichen. Die erste Person könnte voller Hoffnung sein und optimistisch, sie könnte angesichts des Leids, das sie auf der Erde sieht, den Gedanken nicht aushalten, dass diese irdische Wirklichkeit alles sein soll, was es gibt. Sie wird sich, wenn sie kann, mit ihrer ganzen Persönlichkeit (also nicht nur mit deren vernünftigem Teil) der Hoffnung auf Gott verschreiben. Im Patt der rationalen Argumente für und wider Gott entscheidet bei ihr etwas Weicheres: Hoffnung im Verein mit Verzweiflung über das Leid in der Welt. (Das ist eine ganz bestimmte Mischung aus Optimismus und Pessimismus, gepaart mit ganz bestimmter emotionaler Begleitmusik; es ist die Hochzeit aus diesseitigem Pessimismus mit jenseitigem Optimismus). Aber das ist nicht die einzige Möglichkeit. Von der zweiten Person wird das Patt der rationalen Argumente über Gottes Existenz anders aufgelöst. Da haben wir eine Person, die zwar den innigen Wunsch verspürt, dass das Leid in der Welt metaphysisch aufgehoben wird, die diesem innigen Wunsch aber misstraut und die in ihren Überzeugungen keinesfalls vom Wunschdenken auf Abwege geführt werden will, alles, nur das nicht.9 Sie sagt: Wenn ich im Patt mit rationalen Argumenten nicht weiterkomme, dann entscheide ich mich lieber gegen die Überzeugungen, zu denen mich 9

Siehe Tugendhat (2007b), S. 112. Ähnlich schon Russell, hier der berühmte Auftakt seiner Sceptical essays: „I wish to propose a doctrine which may, I fear, appear wildly paradoxical and subversive. The doctrine in question is this: that it is undesirable to believe a proposition when there is no ground whatever for supposing it true” (Russell (1928), S. 12); Russell wendet diese Doktrin auf das Christentum an in den Aufsätzen seiner Sammlung Why I am not a Christian (Russell (1957)), besonders in dem Aufsatz, der dieser Sammlung den Titel gibt.

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meine Hoffnung hinzieht, denn nichts ist so schlimm wie enttäuschte Hoffnung. Hoffen und Harren macht mich nicht zum Narren. Das klingt rational. Achten Sie aber darauf, dass es im Patt der rationalen Argumente zur Gottesfrage keine vernünftigen Gründe dagegen gibt, der Hoffnung nachzugeben. Gegen das Gefühl der Hoffnung spricht hier nicht die Vernunft, sondern ein anderes Gefühl: Misstrauen oder Angst vor Enttäuschung. Dagegen ist nichts einzuwenden; aber wer im Lichte dieser Gefühle gegen Gott votiert, soll nicht sagen, er täte es nur um der Vernunft willen. Ich finde beide Haltungen respektabel: die des optimistischen Pessimisten und die dessen, der seinen Hoffnungen nicht traut. Beide Entscheidungen – die für und die gegen Gott – können tadellos sein. Ob sie es sind, hängt von der Gesamtpersönlichkeit des Urteilenden ab; es hängt davon ab, ob Gottes Existenz oder Gottes Nichtexistenz besser in das Kräftefeld integriert werden kann, in dem Vernunft, Gefühl, Intuition, Charakterdisposition und moralische Haltung desjenigen zusammenwirken, dessen Persönlichkeit von all diesen Faktoren konstituiert wird. Diese Faktoren sind nicht statisch; sie wirken tausendfach aufeinander ein, und es geht darum, sie in eine harmonische Balance zu bringen. Beim einen wird diese Balance Gottvertrauen umfassen, beim anderen nicht. Bevor ich weitergehe, muss ich zweierlei klarstellen. Erste Klarstellung: Einerseits klingen meine Empfehlungen für unseren Meinungswandel so, als stünde es immer in unserer Macht, uns für diese oder jene Überzeugung zu entscheiden – andererseits habe ich gesagt, dass eine solche Entscheidung von persönlichkeitskonstitutiven Faktoren abhängt, und die können nicht so ohne weiteres von uns bestimmt oder gewählt werden. Sind wir nun Herr im Haus unserer Überzeugungen oder nicht?10 Um diese Frage zu beantworten, stelle ich klar, dass wir uns anstrengen müssen, um Herr im Haus unserer Überzeugungen zu werden. Weder sollten wir uns den Überzeugungen, die wir in uns vorfinden, ausliefern – noch den anderen persönlichkeitskonstitutiven Faktoren, von denen ich gesprochen habe. Wir können und sollten an unseren Empfindungen arbeiten, wenn wir davon überzeugt sind, dass das not tut; und wir können und sollten an unseren Überzeugungen arbeiten, wenn wir empfinden, dass das not tut. Weder Überzeugungen noch Empfindungen lassen sich mühelos und beliebig 10

Die Frage hat mir Sven Rosenkranz gestellt.

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schnell an- oder ausknipsen; es kostet Zeit und Mühe. Genauso bei Charakterdispositionen, moralischen Haltungen und Gewissensfragen. Kurzum, ich plädiere bei allen Elementen unserer Gesamthaltung für einen anspruchsvollen Voluntarismus. (Um zu illustrieren, wie ernst ich das meine, möchte ich im Vorübergehen mein Unvermögen gestehen, an mehr als ein Drittel der Postulate aus Unvernunft zu glauben, die diesem Aufsatz überschrieben sind. Trotz aller Anstrengungen, die ich seit Jahren auf das Thema verwende, kann ich bis auf weiteres nicht an Gott und Unsterblichkeit glauben; ich empfinde das als Schwäche). Zweite Klarstellung: Wenn ich sage, dass beide Haltungen zur Gottesfrage (die gläubige und die atheistische) respektabel sind, so soll das nicht heißen, der eine hätte recht und der andere auch. Ob es Gott gibt oder nicht, ist keine subjektive oder relative Frage; es hängt nicht von der Persönlichkeit dessen ab, der mit dieser Frage ringt. Es hängt von etwas ab, was dem Zugriff des Ringenden noch radikaler entzogen ist als den Paläontologen irgendwelche fehlenden fossilen Knochen. Wenn überhaupt etwas eine objektive Frage ist, dann ist es die Frage, ob es Gott gibt. Ich habe also keiner Relativität oder Subjektivität der Wahrheit über Gott das Wort reden wollen; ich habe nur gesagt, dass die Entscheidung für Gott genauso wie die gegen Gott respektabel sein kann, selbst wenn nicht die Vernunft, sondern etwas Weicheres dabei das letzte Wort hat.

8. Wohlausgewogene Gesamthaltungen, einfügsame Überzeugungen Um meine Formulierungen abzukürzen, möchte ich etwas Terminologie verabreden. Ich nenne die Gesamthaltung einer Person wohlausgewogen, wenn in ihr die verschiedenen persönlichkeitskonstitutiven Faktoren (Wahrnehmung, Überzeugung, Erfahrung, Erinnerung, Emotion, Intuition, Wertung, moralische Haltung, Gewissen) auf harmonische Weise zusammenwirken. Wenn diese Faktoren einander widerstreiten, will ich die Gesamthaltung unausgewogen nennen. Und eine Überzeugung (oder ein Gefühl oder eine Intuition oder eine Erinnerung oder eine Ahnung oder eine Wertung oder eine moralische Haltung) soll einfügsam heißen, wenn sie sich gut in eine wohlausgewogene Gesamthaltung der Person einfügen lässt; andernfalls heißt die Überzeugung (oder das Gefühl oder die Intuiti-

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on oder die Erinnerung oder die moralische Haltung oder die Ahnung) unfügsam. Streng genommen, sind Wohlausgewogenheit und Einfügsamkeit keine Fragen von Schwarz oder Weiß; vielmehr lassen sie Abstufungen zu. Im Lichte dieser Komplikation müsste ich eine Überzeugung umso einfügsamer nennen, je weniger die Wohlausgewogenheit der Gesamthaltung sinkt, wenn man ihr diese Überzeugung einverleibt. Genauso für Gefühle, Intuitionen, Erinnerungen, moralische Haltungen usw. Was soll man sich unter der Wohlausgewogenheit von Gesamthaltungen genau vorstellen? Abstrakt definieren kann ich dieses Ideal nicht. Doch wir wissen alle, was es heißt, wenn jemand von dem Ideal weit entfernt ist – wir sprechen dann von einer zerrissenen Person. Weltliteratur und Wirklichkeit sind voller Beispiele. Führen wir uns vor Augen, was einer der größten deutschen Philosophen unserer Zeit (dessen Werk ich bewundere) über Religion gesagt hat: Ernst Tugendhat. Unter rationalen Gesichtspunkten hält Tugendhat Gottes Existenz für abwegig, es sei nicht einmal klar, was es überhaupt heißen solle, dass ein transzendenter Gott konkret existiert.11 Doch damit ist die Sache für Tugendhat nicht zuende, denn er spürt ein Bedürfnis zu danken, umfassend zu danken – für das Dasein eines geliebten Menschen etwa. Und der Adressat dieses Danks müsste eine Person sein, aber nicht diese oder jene Person (nicht die Mutter des geliebten Menschen), sondern eine viel mächtigere Person: eine übernatürliche Person.12 Bei Tugendhat lässt sich der Konflikt zwischen Emotion und Vernunft mit Händen greifen, seine Gesamthaltung ist unausgewogen, ihre Elemente widerstreiten einander.13 11

Siehe Tugendhat (2007a), S. 112. Siehe Tugendhat (2007b), S. 195-197 et passim. 13 Mit zwei Mitteln mildert Tugendhat den Widerstreit innerhalb seiner Gesamthaltung, ohne ihn ganz zum Verschwinden bringen zu können oder zu wollen. Einerseits plädiert er für ein extrem rationalistisches Prinzip der Erkenntnislehre, dem zufolge emotionale Bedürfnisse als Evidenzen in die entgegengesetzte Richtung gelten. (Wer dem Prinzip folgt, verhält sich gegenüber seinen emotionalen Bedürfnissen wie ein Gymnasiallehrer der Alten Schule, der zufällig die eigenen geliebten Kinder unterrichten soll und sie besonders streng behandelt). Andererseits entwickelt Tugendhat Hochschätzung für die innere Zerrissenheit, in der er sich findet, und stellt fest, dass es sich die Anhänger konkurrierender Haltungen zur Religion zu einfach machen (er diagnostiziert deren „innere Unangefochtenheit“ (Tugendhat (2007b), S. 192/3)). Hier12

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Was ich bislang zu begründen versucht habe, hört sich in der neuen Terminologie so an: Verschiedene Personen müssen nicht bei ein und derselben wohlausgewogenen Gesamthaltung ankommen; zwei konkurrierende wohlausgewogene Gesamthaltungen können unter rationalen Gesichtspunkten gleich vernünftig sein, und dann wird es von respektablen und vernunftfremden Faktoren abhängen, welche der Gesamthaltungen jemand annimmt oder annehmen sollte. Und: Der Gottesglaube kann für den einen eine unfügsame Überzeugung sein, für den anderen eine einfügsame. Sollte das stimmen, wäre es verfehlt, einer der Streitparteien einen erkenntnistheoretischen Vorwurf zu machen – und das, obwohl nur eine der beiden Parteien recht haben kann. Man mag fragen, wozu der ganze Aufwand gut sein soll, wenn wir am Ende doch wieder beim Patt landen – nicht (wie vorhin) beim Patt der vernünftigen Gründe, sondern beim allumfassenden Patt: beim Patt derjenigen Faktoren, die ein Wort mitzureden haben hinsichtlich der Frage, ob eine Gesamthaltung wohlausgewogen ist oder nicht und ob z.B. Gottvertrauen eine einfügsame Haltung ist oder eine unfügsame. Meine Antwort lautet, dass sich im Lichte der von mir vorgeschlagenen, umfassenderen Erkenntnislehre manche Streitigkeiten anders ausnehmen als im Lichte rationalistischer Erkenntnislehren. Sie könnten in diesem neuen bunten Licht sogar anders ausgehen. Das will ich in den nächsten Abschnitten anhand von Freiheit vorführen. Mit diesem neuen Schritt möchte ich meine Überlegung noch einmal radikalisieren. Ich möchte zeigen, wie und warum wir beim Streit um die Freiheit über das rationale Patt hinauskommen können, in das wir angesichts der freiheitsfeindlichen Gegengründe aus den Naturwissenschaften geraten sind. Mehr noch, der metaphysische Ausweg, den ich der Freiheit zuliebe empfehle, dürfte sich zu Gott und Unsterblichkeit hin verlängern lassen. Hätte ich damit recht, so wäre Freiheit das Einfallstor in die religiöseren Gefilde der Metaphysik. Doch bevor ich zugunsten von Freiheit fortfahre, muss ich mich zwei verwirrenden Fragen stellen, auf die ich keine rechte Antwort habe.14 Die Fragen lauten: Wie lässt sich begründen, dass man besser nach einfügsamen Überzeugungen, Werten, Emotionen usw. streben sollte und nach durch gewinnt seine Gesamthaltung einen attraktiven Zug, ja: Schönheit. (Mehr darüber anderswo, siehe Müller (2009)). 14 Die erste Frage hat mir Thomas Schmidt gestellt, die zweite Jochen Briesen.

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wohlausgewogenen Gesamthaltungen? Und was spricht dafür, dass man im Falle einfügsamer Überzeugungen eine gute Chance hat, auf die Wahrheit zu stoßen? Die Fragen machen mich ratlos, denn sie klingen so, als gäbe es einen neutralen Grund außerhalb unserer jeweiligen Gesamthaltung, auf dem man stehen könnte, um sie zu beantworten. Doch in den Gesamthaltungen, von denen ich spreche, sind bereits alle Ressourcen zur Beantwortung von Fragen enthalten – mehr als das haben wir nicht. Reicht diese Erwiderung? Ich bin nicht sicher. Besonders bei der zweiten Frage muss ich offenbar mehr sagen, als ich im Moment kann. Um mit dieser Frage weiterzukommen, müsste ich zuallererst besser verstehen, wie plausible Antworten auf solche Fragen aussehen sollen. So haben wir uns in der Wissenschaftsphilosophie des Zwanzigsten Jahrhunderts (nach langem Widerstand) darauf eingelassen, dass gute naturwissenschaftliche Theorien nicht nur zu den Beobachtungen passen müssen, sondern auch einfach, sparsam, ja sogar schön sein sollen. Da stellt sich ebenfalls die Frage: Was spricht dafür, dass man im Falle einfacher, sparsamer und schöner Überzeugungssysteme eine gute Chance hat, auf die Wahrheit zu stoßen? Mir ist keine schlagende Antwort auf diese Fragen bekannt, besonders beim Thema Schönheit tappen wir vollends im Dunkeln: Warum sollte die tiefe Struktur der Wirklichkeit ausgerechnet zu unseren Schönheitsempfindungen passen?15 Und ich finde, solange es sich die Naturwissenschaftler erlauben können, auch ohne Antwort auf solche Fragen weiterzumachen, solange schadet es vielleicht nicht viel, dass ich für dieselbe Art von Frage gleichfalls keine Antwort habe. Vielleicht genügt es, wenn ich die meiner Ansicht nach plausiblen Regeln für die Erkenntnislehre benenne und ohne eigenes Argument darauf hoffe, dass sie auf Beifall stoßen. Das zumindest will ich jetzt ausprobieren.

9. Metaphysischer Kompatibilismus bei Gott, Freiheit und Unsterblichkeit Zunächst möchte ich an eine Annahme erinnern, die ich für meinen Gedankengang voraussetzen muss, die ich hier nicht, wohl aber woanders be15

Mehr zu diesem Rätsel in Müller (2010).

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gründen werde und die ich meine Leser und Leserinnen zumindest zum Zweck des Arguments mitzumachen bitte. Sie lautet: Der sparsame, naturalistische Kompatibilismus verwässert unseren Freiheitsbegriff, und der sprachspielpluralistische Kompatibilismus bringt das Problem zum Verschwinden, ohne zu sagen, wo.16 Ich habe den Freiheitsbegriff dieser Kompatibilisten als müden Abklatsch von Freiheit bezeichnet und festgehalten: Wer der naturalistischen Ansicht ist, dass unser Denken, Fühlen und Entscheiden ausschließlich von mechanischen Vorgängen in unserem Gehirn abhängt, der kann nicht im selben Atemzug sagen, dass wir in unserem Denken, Fühlen und Entscheiden frei seien. Das wäre, behaupte ich (ohne es hier begründet zu haben), so unplausibel wie der parallele Kompatibilismus mit Bezug auf Gott („Gott ist die Summe der Naturgesetze“) oder wie der mit Bezug aufs Weiterleben nach dem Tod („Wir leben in der Erinnerung der Geliebten weiter“). Nun haben wir im Fall von Gott einen interessanteren (und freigiebigeren) Kompatibilismus als den der Naturalisten kennengelernt. Ich nannte das metaphysischen Kompatibilismus: Wenn die Naturwissenschaftler Gott nicht im physischen Weltall finden, so verträgt sich das immer noch mit der Annahme, dass Gott außerhalb des physischen Weltalls schaltet und waltet. Kein naturwissenschaftliches Ergebnis kann diese metaphysische Annahme widerlegen oder erschüttern. Hier derselbe Schachzug bei Unsterblichkeit: Wenn die Naturwissenschaften in unserem Gehirn keine Seele entdecken, kein Gespenst in der Maschine, nichts, was flugs ins Himmelsgewölk entwiche, sobald das zugehörige Gehirn stirbt, so verträgt sich all das mit der Annahme, dass unser seelisches Leben außerhalb der Grenzen unseres Weltalls stattfindet – dass unser geistiges Leben auch ohne Gehirn weitergehen könnte, im Jenseits.17 Damit habe ich das formuliert, was man metaphysischen Kompatibilismus mit Bezug auf Unsterblichkeit nennen könnte. Und in der Tat, wer die Seele und ihr Weiterleben metaphysisch auffasst, dem wird kein ratio16

Siehe oben Abschnitt 3. Ich sage mehr zugunsten dieser Behauptung in Müller (2007a), S. 337-343. 17 Was das heißen könnte, habe ich anderswo zu erklären versucht, siehe Müller (2007b). Die Grundidee umreiße ich oben in Fußnote 8. – Der Ausdruck „Gespenst in der Maschine“ geht auf eine Polemik von Gilbert Ryle zurück, siehe Ryle (1949), S. 15/6.

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nales Argument aus den Naturwissenschaften widersprechen können: erneut Patt.18 (Und je nach Konstitution der Persönlichkeit, die mit der Frage nach Unsterblichkeit ringt, wird Unsterblichkeit eine einfügsame oder eine unfügsame Überzeugung sein, Patt auch hier). Genauso bei der Freiheit. Oder? Bis zum rationalen Patt kommt es beim Streit um Freiheit allemal. Was auch immer die Naturwissenschaften über die Mechanismen unseres Gehirns herausfinden – wer den Sitz unserer Seele außerhalb der Naturordnung lokalisiert, der braucht sich davon nicht beeindrucken zu lassen und kann an der eigenen Entscheidungs-, Fühl- und Denkfreiheit festhalten, ohne dass seine Gesamthaltung unausgewogen werden würde. Ich möchte diese Position als metaphysischen Kompatibilismus (mit Bezug auf Freiheit) bezeichnen – gegen diese Form von Kompatibilismus habe ich natürlich keine Einwände. Meiner Ansicht nach ist dies der einzige Kompatibilismus, den man beim Thema Freiheit bekommen kann – billiger geht’s nicht.19

18

Den Weg in dieses Patt habe ich anderswo genauer durchmessen, siehe Müller (2007c). 19 Siehe Müller (2007a), S. 358-363. Bettina Walde legt dar, wie leicht man in dualistische und metaphysische Gefilde gerät, wenn man sich für Akteurskausalität ausspricht und den sparsamen Kompatibilismus ablehnt (so wie ich es vorschlage); siehe Walde (2006), S. 50ff, 55, 64; sie findet das nicht attraktiv, siehe ebd., S. 85-87. Tugendhat scheint die von mir verfochtene Kombination aus metaphysischem Kompatibilismus und Verneinung des sparsamen Kompatibilismus nicht als ernsthafte Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Er behauptet, „daß das einzige, was man sich in der objektiven Welt als Alternative zum Kausalzusammenhang vorstellen kann, der Zufall ist. Was den Inkompatibilismus so uneinsichtig macht, ist, daß er innerhalb der objektiven Welt etwas postuliert, was außerhalb dieser Alternative – entweder Kausalzusammenhang oder Zufall – steht“ (Tugendhat (2007c), S. 72). Wenn man sich unter der „objektiven Welt“ nur die natürliche Welt unseres physischen Universums vorstellen könnte, so müsste ich Tugendhat zustimmen; sobald man auch eine übernatürliche Welt (in die unser Universum nur eingebettet ist) in Betracht zieht, verlieren Tugendhats Überlegungen viel von ihrer Überzeugungskraft. Siehe Fußnote 8.

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10. Das empirische Patt im Streit über Freiheit Betrachten wir nun eine Person, die sich gegen den naturalistischen Kompatibilismus und für den metaphysischen Kompatibilismus ausspricht. Ihrer Ansicht nach kann es im naturalistischen Rahmen keine Freiheit geben, falls sich das Gehirn als durch und durch kausale Maschine herausstellt; und in diesem Fall hält sie Freiheit nur außerhalb der Naturordnung für möglich. Nehmen wir weiter an, sie stimme den Naturwissenschaftlern zu, dass die empirischen Befunde klar dafür sprechen, dass unsere Gehirne deterministische Maschinen sind. In dieser Konstellation stehen der Denkerin zwei Möglichkeiten offen, die unter rein rationalen Gesichtspunkten gleich gut dastehen. Erste Möglichkeit. Sie schreibt sich keine Denk-, Gefühls- und Entscheidungsfreiheit zu, bleibt Naturalistin und sagt: Es gibt nur das, was im raumzeitlichen Rahmen der Naturwissenschaften Platz hat. Zweite Möglichkeit. Sie wird zur Dualistin. Sie beharrt darauf, dass sie in ihrem Denken, Fühlen und Tun frei ist und postuliert deshalb, dass nicht alles Reale im raumzeitlichen Rahmen der Naturwissenschaften Platz hat. Sie postuliert eine übernatürliche Wirklichkeit, in deren Sphären sie einen Teil ihrer Persönlichkeit situiert sieht – ihre Seele. In jenen höheren Sphären gelten andere Gesetze als in der Natur (vielleicht sind es Gesetze voller Gründe oder Zwecke statt voller Ursachen und Wirkungen, aber das ist nur eine der massenhaften Ideen, die sich aufdrängen). Rational betrachtet, besteht ein Patt zwischen beiden Möglichkeiten. Mit naturwissenschaftlichen Evidenzen kann man der Dualistin nicht kommen, denn sie redet ja ausdrücklich von einem Bereich jenseits des Einzugsbereichs der Naturwissenschaften. Und sie ist stolz darauf, keinem einzigen Satz der Naturwissenschaften zu widersprechen und keine empirische Evidenz der Naturwissenschaften in den Wind zu schlagen. Der einzige Satz, dem sie widerspricht, gehört nicht zu den Naturwissenschaften selbst, sondern in den Naturalismus (in eine bestimmte metaphysische Interpretation der Naturwissenschaft) – es ist der Satz: (N) Abgesehen von den Dingen, von denen unsere (oder doch die ideale) Naturwissenschaft redet, gibt es nichts.

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Über diesen Satz kann man empirisch keine Entscheidung herbeiführen, soviel steht fest. Heißt das allein schon, dass es rein rational zum Patt kommt beim Streit über den Satz (N)? Im nächsten Abschnitt möchte ich dartun, dass die Angelegenheit zwar ein bisschen verwickelter ist, aber trotzdem beim rationalen Patt stehenbleibt.

11. Einfachheit und Sparsamkeit Empirische Angemessenheit ist nicht das einzige rationale Kriterium, das wir bei der naturwissenschaftlichen Theorienwahl befolgen. Zwei andere solche Kriterien (wenn auch nicht die einzigen) sind Einfachheit und ontologische Sparsamkeit.20 Gehen wir diese zwei Kriterien exemplarisch durch. Einfachheit ist der erste Kandidat für ein Kriterium, das den Streit rational zu entscheiden beansprucht. Fragen der Einfachheit sind vielschichtig. Hier dazu nur vier Feststellungen, die meiner Ansicht nach unstrittig sind und sich darauf stützen, dass Überzeugungssysteme mit weniger Sätzen ceteris paribus einfacher sind als Überzeugungssysteme mit mehr Sätzen. (i) Wer als Naturalist einerseits von den Naturwissenschaften und andererseits von Satz (N) überzeugt ist, dessen Überzeugungssystem ist genauso einfach wie das Überzeugungssystem des Dualisten, der von den Naturwissenschaften überzeugt ist und von der Negation des Satzes (N). (ii) Der Vergleich geht dagegen anders aus, sobald sich der Dualist weiter aus dem Fenster lehnt, sich nicht mit der Ablehnung des Satzes (N) begnügt, sondern auch noch genauer sagt, welche nichtnaturwissenschaftlichen Sachen es gibt (Seelen, Gründe, Zwecke usw.); viel einfacher als das ist die naturalistische Kombination aus Naturwissenschaft plus Satz (N).

20

Siehe z.B. Quine / Ullian (1970), S. 66-82. Ähnlich schon Duhem (1906), S. 290293.

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(iii) Jedoch: Es ist meines Ermessens völlig offen, wie der Vergleich unter (ii) ausgeht, wenn man auf naturalistischer Seite auch noch die kompatibilistischen Gedankengänge in die Wagschale wirft, die der Freiheit zuliebe nötig sind; die Kombination aus Naturwissenschaften plus Naturalismus (N) plus naturalistischem Kompatibilismus kann schnell weit komplizierter werden als Naturwissenschaften plus Negation des Satzes (N) plus dualistische Freiheitsontologie. (iv) Vergleichsweise klar ist schließlich: Noch einfacher als die naturalistische Kombination aus Naturwissenschaften plus Satz (N) werden alle diese Überzeugungssysteme, wenn man (N) ersatzlos streicht. Keine Aussage über (N) ist einfacher als eine Aussage über (N) – einerlei, in welche Richtung, einerlei, ob naturalistisch oder antinaturalistisch.21 Aus diesen vier Feststellungen ziehe ich tentativ den Schluss, dass es unter Gesichtspunkten der Einfachheit am besten wäre, ins Überzeugungssystem keine Stellungnahme zum Naturalismus aufzunehmen. Und das bedeutet – wieder Patt.22 Ontologische Sparsamkeit ist das zweite Kriterium, das wir von Entscheidungsfragen zwischen naturwissenschaftlichen Theorien kennen und daher auf den Streit zwischen Dualisten und Naturalisten anzuwenden trachten sollten. Hier ist die Sache eindeutig. Der Streit dreht sich um die Frage, ob die naturwissenschaftliche Ontologie zu erweitern ist – wer diesen Streit mit Griff zu Ockhams Rasiermesser beenden will, setzt voraus,

21

Auch hier drohen allerlei Komplikationen. So hat Sven Rosenkranz (in abstrakterem Zusammenhang) herausgearbeitet, dass die Urteilsenthaltung der Agnostiker erkenntnistheoretisch nicht ohne Kosten ist; auch sie muss sozusagen verdient werden, genauso wie das Urteil für oder gegen die Behauptung, um die es geht. Siehe Rosenkranz (2003). 22 Ich habe den Verweis auf die Einfachheit kursiv hervorgehoben, um Raum für die Möglichkeit freizulassen, dass wir es uns unabhängig von Einfachheitsüberlegungen nicht leisten können, unser Urteil zurückzuhalten (siehe Abschnitt 16). Und da man über Einfachheit viel mehr sagen müsste, als mir hier möglich ist, halte ich das Patt in Sachen Einfachheit oben nur tentativ fest. Ohne das Thema abschließend geklärt zu haben, habe ich woanders mehr darüber gesagt, siehe Müller (2007c), S. 165/6 sowie Müller (2008), Abschnitt XX.7.

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was zu zeigen ist. Er setzt voraus, dass wir in unserer Ontologie so sparsam sein sollen wie nur möglich. Halten wir fest: Beim Thema Freiheit lässt sich der Streit zwischen Naturalisten und Dualisten nicht dadurch entscheiden, dass man auf rationale Kriterien zurückgreift, auf Kriterien wie empirische Angemessenheit, Einfachheit oder Sparsamkeit. Keines dieser Kriterien, an die wir uns bei der naturwissenschaftlichen Theorienwahl gewöhnt haben, hilft uns weiter. Rational stecken wir im Patt.

12. Weichere Kriterien der Erkenntnislehre Jetzt müssen wir fragen: Was passiert, wenn wir die weicheren Kriterien der Erkenntnislehre hinzuziehen, von denen ich vorhin gesprochen habe und für die ich hier plädieren möchte? Wie geht der Streit aus, wenn wir Gefühl, Intuition, Moral usw. einbeziehen und uns fragen, ob beim Thema Freiheit eher der Dualismus oder eher der Naturalismus zu einer wohlausgewogenen Gesamthaltung beiträgt? Anders gefragt: Ist (beim Thema Freiheit) der Naturalismus oder der Dualismus eine einfügsame Überzeugung? Ich werde für die Einfügsamkeit des Dualismus plädieren. Genauer gesagt, möchte ich dafür plädieren, dass sich der Dualismus besser als der Naturalismus in die Gesamthaltung der allermeisten Zeitgenossen einfügen lässt. Wenn ich hier von den allermeisten Zeitgenossen rede, dann natürlich nicht deshalb, weil ich der Meinung wäre, die Frage nach Freiheit und nach unserer Seele solle demokratisch entschieden werden, durch Mehrheitsbeschluss. Nein, ich rede deshalb von den allermeisten Zeitgenossen, weil nicht zu leugnen ist, dass sich manche naturalistische Extremisten in ihrer Gesamthaltung bereits sehr weit von uns andern entfernt haben: so weit, dass ich nicht der Illusion anhänge, ihre Gesamthaltung ließe sich mit den von mir propagierten Mitteln der Erkenntnislehre noch verändern.23 Diese Extremisten halten sich außerhalb des Geltungsbereichs meiner Überlegung auf; im Moment versuchen sie, die allermeisten Zeitgenossen (die noch zaudern) auf ihre Seite zu bringen. Das versuche ich zu verhindern, wobei ich mich auf Elemente aus der Gesamthaltung dieser allermeisten 23

Ich denke zum Beispiel an Wolf Singer, siehe Fußnote 27.

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Zeitgenossen stützen möchte, auf Elemente, die – im Moment noch – wirksam sind. Ich brauche nichts darüber zu sagen, welche der aufzuzählenden Elemente bei meinen extremistischen Gegnern nicht mehr wirken. Die Elemente, auf die ich mich in den nächsten Abschnitten stützen möchte, gehören im weitesten Sinne zur Moral.

13. Moralische Kriterien in der Erkenntnislehre Ich werde jetzt gleich einige moralische Überzeugungen aufzählen, die den meisten von uns so wichtig sind, dass sie den Streit zwischen Freiheitsfreunden und -feinden zugunsten der Freiheit entscheiden helfen. Wenn das gelingt, dann habe ich den kühlen Rationalismus in der Erkenntnislehre ein weites Stück zurückgedrängt und vernunftfremden Erkenntnismitteln größeren Einfluss verschafft. Ich behaupte: Der Moral zuliebe empfiehlt es sich zuweilen, ein anderes Urteil zu fällen, als die Vernunft nahelegt. Wer entgegen einer verbreiteten Meinung auch in der Moral nichts anderes gelten lassen will als die Vernunft, müsste mein Ergebnis freilich anders beschreiben.24 Ich kann diesen Strang der Überlegung hier aus Platzgründen nicht weiterverfolgen, genausowenig wie den parallelen Strang bei der Frage nach Gott. So habe ich eingangs ohne Erörterung vorausgesetzt, dass die rationalen Gottesbeweise nicht funktionieren; jetzt setze ich voraus, dass die rationalen Moralbeweise nicht funktionieren.25 24

Zwar habe ich anderswo unter naturalistischen Voraussetzungen dafür plädiert, dass sich die rationalen Erkenntnismittel der Naturwissenschaft erstaunlich gut in die Moral übertragen lassen (siehe Müller (2008)). Aber das spricht nicht gegen die These, dass in der Moral zusätzlich noch weichere Erkenntnismittel wirken (siehe ebd., Abschnitte I.9, VII.4, VII.16, XX.10/1). Jetzt gehe ich noch einen Schritt weiter und behaupte, dass sich diese weicheren Erkenntnismittel von der Moral in die Metaphysik und sogar in die Naturwissenschaft übertragen lassen. Metaphysik und Naturwissenschaften sind unvernünftiger, als viele meinen; und die Moral ist vernünftiger, als viele meinen. 25 Das ist der Grund dafür, dass mein Schluss von der Moral auf die Freiheit weniger rationalistisch anmutet als derselbe Schluss bei Kant (siehe Kant (1785), 3. Abschnitt). Und wieder gebe ich zu, dass die rationalen Moralbeweise à la Kant mehr Aufmerksamkeit verdienen, als ich ihnen hier schenken kann. Dasselbe gilt – am entgegengesetzten Ende der Skala metaethischer Positionen – für bestimmte nonkognitivistische Lesarten der Moral, die auch nicht zu meinem Gedankengang passen; jedenfalls dann nicht, wenn sie den oben gleich aufzuzählenden Sätzen keine Wahrheitswertfähigkeit

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Wie angekündigt, werde ich jetzt die moralischen Überzeugungen aufzählen, die den Streit über Freiheit meiner Ansicht nach entscheiden. (a) Wir Menschen stehen immer wieder (und oft in besonders wichtigen Momenten unseres Lebens) vor der Entscheidung zwischen gut und böse; zwischen richtig und falsch; zwischen geboten, verboten, erlaubt. (b) Es kommt darauf an, bei solchen Entscheidungen das Richtige zu treffen; oder doch darauf, das Falsche zu vermeiden. (c) Um bei so einer Entscheidung das Richtige zu treffen oder das Falsche zu vermeiden, pflegen wir uns die verschiedenen Optionen bewusst zu machen, sie zu durchdenken und ihre Vor- gegen ihre Nachteile abzuwägen. (d) Für welche Option wir uns in solchen Fällen entscheiden, hängt oft ausschließlich von unserer souveränen Abwägung der Vor- und Nachteile ab, und von Kriterien, denen wir uns im Moment der Entscheidung bewusst unterwerfen. (e) Durch bewusstes Nachdenken und Abwägen können wir unsere Entscheidungen beeinflussen. (f) Durch gründliches Nachdenken und Abwägen können wir bessere Entscheidungen treffen, als wir treffen würden, wenn wir nicht nachdenken würden – oder nicht gründlich nachdenken würden. (g) Wir können uns nach dem Abwägen ebensogut für schlechtere Optionen entscheiden – etwa für Optionen, die schlechter sind als das, was wir ohne Überlegen und Abwägen getan hätten, oder für Optionen, die wir schlechter finden als ebenfalls durchdachte Alternativen. zuerkennen. Meiner Ansicht nach lässt sich zeigen, dass Kants metaethische Position zu optimistisch ist und dass die nonkognitivistische Position zu pessimistisch ist. Dass die Wahrheit in der Mitte zwischen beiden liegt, habe ich anderswo zu begründen versucht, siehe die Verweise in der vorigen Fußnote.

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(h) Abwägen ist eine Sache, oft ist aber die bewusste Entscheidung für eine Option eine andere Sache: Sie ist ein souveräner Akt, der nur vom augenblicklichen Bewusstsein abhängt und abgesehen davon wie eine Schöpfung aus dem Nichts zustande kommt. 26 (i) Wenn wir jemanden für seine Entscheidungen loben oder tadeln, belohnen oder strafen, dann setzen wir voraus, dass er sich anders hätte entscheiden können. Wer sich für lobenswerte Handlungen entscheidet, verdient Lob nur, wenn er sich genausogut anders hätte entscheiden können; und wer sich für die tadelswerte Handlung entscheidet, verdient Tadel nur, wenn er sich genausogut für die lobenswerte Handlung hätte entscheiden können. (j) Ohne Lob und Tadel wäre unsere Moral nicht möglich.

14. Mit Moral für die Freiheit Manche Neurophysiologen sagen, sie hätten empirische Erkenntnisse über das menschliche Gehirn gewonnen, die dagegen sprechen, dass unsere Entscheidungen frei sind. Sie nehmen an, dass diese Erkenntnisse ebenfalls gegen die Annahmen (a) bis (j) sprechen, die ich im letzten Abschnitt aufgezählt habe. Sie behaupten: Wir haben entdeckt, dass unsere moralische Praxis deshalb geändert werden muss, weil diese Praxis auf der empirisch widerlegten Annahme beruht, wir seien in unseren Entscheidungen frei.27

26

Das drittletzte Wort ist reichlich gewagt, wie Tugendhat mit Recht moniert (Tugendhat (2007c), S. 57). Hier eine intuitive Erläuterung: „Aus dem Nichts“ heißt soviel wie: aus etwas Nichtmateriellem oder Immateriellen, zum Beispiel aus der Seele (dualistisch aufgefasst). 27 Wolf Singer z.B. nennt unsere Erfahrung, frei zu sein, eine Illusion und plädiert dafür, unsere Rechtspraxis zu überprüfen (Singer (2004), S. 50, 63/4). Libet war der erste, der mit neurophysiologischen Experimenten unser Denken über Freiheit zu revolutionieren suchte, siehe Libet et al. (1983) und Libet (1985). Dennoch blieb Libet in seinen Schlussfolgerungen weitaus vorsichtiger als Singer, siehe Libet et al. (1983), S. 641 und Libet (1985), S. 529, 536-539.

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Dieser Schluss funktioniert natürlich nur, wenn seine versteckte Voraussetzung zutrifft: die Voraussetzung, dass unsere Entscheidungen dort fallen, wo die Neurophysiologie empirisch forscht – im Gehirn. Nehmen wir aber einmal probehalber an, dass das Gehirn nur eine Art Radioempfänger unserer Entscheidungen wäre, dass sie woanders fallen und von dort ins Gehirn übertragen werden.28 Dann könnte keine neurophysiologische Untersuchung des Gehirns etwas gegen Entscheidungsfreiheit oder gegen unsere moralische Alltagspraxis ausrichten. Und damit sind wir an einen Punkt gelangt, wo ich den Spieß umdrehen kann. Denn der vollständige Schluss der freiheitsfeindlichen Neurophysiologen: (+) Ergebnisse der Neurophysiologie plus Naturalismus implizieren die Unangemessenheit unserer moralischen Alltagspraxis, hat genausoviel Logik auf seiner Seite wie folgender Umkehrschluss: (–)

Unsere moralische Alltagspraxis impliziert, dass entweder die empirischen Ergebnisse der Neurophysiologie ungültig sind – oder dass der Naturalismus falsch ist.

An den Ergebnissen der Neurophysiologie möchte ich nicht rütteln – unsere besten Vernunftstandards sprechen für die empirische Methode, mit der sie gewonnen worden sind. Doch wie wir uns vorhin klargemacht haben, steht es unter rationalen Gesichtspunkten Patt im Streit zwischen Naturalismus und Dualismus. Jetzt ist der Augenblick gekommen, in dem sich das Patt auflösen lässt – und zwar zugunsten des Dualismus. Denn für Dualismus und gegen Naturalismus spricht, dass nur der Naturalismus (zusammen mit empirischen Ergebnissen der Neurophysiologie), nicht aber der Dualismus unsere moralische Alltagspraxis untergräbt. Ich behaupte also: Im rationalen Patt zwischen zwei Überzeugungssystemen ist es zulässig, eine Entscheidung durch außerrationale Kriterien herbeizuführen – in diesem Fall durch Rückgriff auf unsere Moral. Wem unsere moralische Praxis am Herzen liegt, der ist gut beraten, die Existenz 28

Eine ähnliche Überlegung spielt McGinn unter der Überschrift „Hyperdualismus“ durch, siehe McGinn (1993).

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einer freien Seele zu postulieren: Freiheit ist, wenn man so will, wirklich ein Postulat der Unvernunft; aber sie ist ein gutes Postulat der Unvernunft. (Übrigens wird dies Postulat der Unvernunft umso besser, je schlimmer, erschütternder und freiheitsfeindlicher die Experimente der Neurophysiologen ausgehen. Ironischerweise unterminiert allzu großer neurophysiologischer Fortschritt denjenigen Naturalismus, um dessentwillen dieser Fortschritt angestrebt wird. Es bleibt abzuwarten, wieviele solche Pyrrhussiege noch kommen müssen).

15. Der Zweikampf zwischen Moral und Metaphysik Lassen Sie mich das Ergebnis des letzten Abschnittes in der Terminologie ausdrücken, die ich vorhin eingeführt habe. Ein Gesamtsystem aus (a) (b) (c)

neurophysiologischer Empirie Respekt vor der moralischen Alltagspraxis Dualismus,

ist wohlausgewogener als eines aus (A) (B) (C)

neurophysiologischer Empirie Verwerfung unserer moralischen Alltagspraxis Naturalismus.

Denn wer unsere moralische Alltagspraxis theoretisch verwirft, wie in (B) anvisiert, der dürfte sich einen erheblichen Konflikt zwischen dieser theoretischen Entscheidung und vielen seiner wohlvertrauten Emotionen einhandeln. Und das bedeutet, dass der Dualismus eine einfügsame und der Naturalismus eine unfügsame Überzeugung bildet – für die meisten von uns. Naturalistische Extremisten werden sich von meinem Argument nicht beeindrucken lassen; für sie ist der Naturalismus wichtiger als die Alltagsmoral. Sie haben nichts dagegen, unser alltägliches moralisches Denken radikal umzukrempeln – vielleicht sind ihnen die neurophysiologischen Ergebnisse sogar ein willkommener Anlass dafür.

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Doch genau besehen, können sie sich dabei auf Neurophysiologie allein nicht berufen; nur im Verein mit Metaphysik, nur im Verein mit dem metaphysischen Naturalismus können neurophysiologische Ergebnisse etwas gegen die Alltagsmoral ausrichten. Und Hand aufs Herz: Würden Sie allen Ernstes Ihre Alltagsmoral leichtfertig über Bord gehen lassen, nur weil sie nicht zu Ihren metaphysischen Grundansichten passt? Den meisten von uns, darauf vertraue ich, ist die Alltagsmoral wichtiger als Metaphysik; dass das nicht bei allen so ist, schadet meinem Argument kein Stück.29 Ich empfehle der Mehrheit meiner Zeitgenossen, sich dem zu widersetzen, was eine handvoll Radikaler mit unserer Moral anstellen will. Dass diese Empfehlung zu einer dualistischen Metaphysik führt, die viele verdächtig finden, ist mir bewusst. Nach einem ganzen Jahrhundert exzellenter Argumente gegen den Dualismus brauchen wir uns über antidualistischen Gegenwind nicht zu wundern.30 Doch abermals Hand aufs Herz: Würden Sie lieber unsere moralische Praxis über Bord werfen, als eine metaphysische Position an Bord zu nehmen, mit der zur Zeit fast niemand etwas zu tun haben will? Bedenken Sie: Erstens sind metaphysische Moden nichts Stabiles, sie kommen und gehn. Zweitens hat sich der antidualistische Konsens in uns so sehr verhärtet, das keiner mehr so genau sagen kann, worauf er beruht. Sollte uns das nicht misstrauisch machen?31

16. Dualisten leben länger Wenn meine Überlegungen triftig waren, sind wir zumindest gut beraten, dem Dualismus eine zweite Chance zu geben. Seit uns die Neurophysiologie mit ihren Entdeckungen schockiert, sind wir im Namen der Moral aufgerufen, eine außernatürliche Seele als Trägerin unserer freien Entscheidungen zu postulieren und genau zu untersuchen, wie dies Postulat 29

Dass wir unseren moralischen Intuitionen stärker trauen sollten als unseren metaphysischen, habe ich anderswo genauer dargelegt, siehe Müller (2008), Abschnitt II.7. 30 Pars pro toto verweise ich auf das brillante Buch The concept of mind von Gilbert Ryle (1949). 31 Eine ähnliche Haltung vertritt Colin McGinn. Angesichts festgefahrener Debatten (wie z.B. beim Leib/Seele-Problem) empfiehlt er das, was er methodologischen Radikalismus nennt. Siehe das Vorwort von McGinn (2004), S. 2-4.

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am besten zu fassen ist. Im Rahmen einer solchen Untersuchung, die ich hier nicht in Angriff nehmen kann, müsste man den Einwänden eines ganzen antidualistischen Jahrhunderts gerecht zu werden versuchen: eine große Aufgabe, aber meiner Ansicht nach keine unlösbare. Aber selbst bevor diese Aufgabe erledigt ist, steht das dualistische Postulat einer Seele gut da. Denn Urteilsenthaltung können wir uns bei diesem Thema nicht erlauben (genausowenig wie vorhin bei der Frage nach Gott). Wer zugibt, dass sich gewisse Ergebnisse der Neurophysiologie unter naturalistischen Voraussetzungen nicht mit unserer Alltagsmoral vertragen, der kann sich des Urteils über jene naturalistischen Voraussetzungen nicht einfach enthalten. Tut er’s doch, so muss er sich auch der Urteile aus dem moralischen Alltag enthalten – und das bedeutet, die Moral (so wie wir sie kennen) preiszugeben. Man kann beim Loben und Tadeln nicht mit ganzem Herzen bei der Sache sein, wenn man sich vornehm des Urteils darüber enthält, ob die notwendigen Voraussetzungen für Lob und Tadel erfüllt sind; es wäre schizzophren. Zugegeben, der dualistische Preis fürs Loben und Tadeln erscheint hoch. Nur: Auf Loben und Tadeln zu verzichten, ist noch teurer.

17. Vorläufiges amtliches Endergebnis und radikale Erweiterungen Sollten die Überlegungen des letzten Abschnitts stimmen, dann ist bislang folgendes herausgekommen. Wenn wir unter rein rationalen Gesichtspunkten bei zwei konkurrierenden Hypothesen ins Patt geraten, wenn wir uns aber in der Streitfrage keine vornehme Urteilsenthaltung leisten wollen, dann können außerrationale Gesichtspunkte das Patt überwinden helfen – z.B. der Verweis auf die moralische Alltagspraxis, die für uns und unseren Gefühlshaushalt wichtig ist. Damit ist der Existenznachweis komplett, den ich vorhin angekündigt habe. Manchmal zählen nicht allein die harten Kriterien der Rationalität. Bei der Entscheidung darüber, ob wir diese oder jene Überzeugung in unsere Gesamthaltung integrieren sollten, zählt manchmal etwas anderes als Vernunft allein. Auf doppelte Weise lässt sich mein Ergebnis radikalisieren. Erstens wirkt sich der Dualismus, den ich im Streit zwischen freiheitlicher All-

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tagsmoral und naturalistischer Neurophysiologie erreicht habe, auch auf den Streit um Gott und Unsterblichkeit aus. Wer der Freiheit und Moral zuliebe immaterielle Seelen postuliert, für den ist es kein weiter Weg zu der Annahme, dass die postulierten Seelen den physischen Tod ihrer Gehirne überleben könnten, ja dass sie unsterblich sind. Und von dieser Annahme ist es auch nicht mehr weit zu Gott. Statt diese Andeutungen auszuarbeiten, will ich lieber auf die zweite Hinsicht zu sprechen kommen, in der sich meine Ergebnisse radikalisieren lassen. Sollte ich mit meinem Existenznachweis außerrationaler Erkenntniskriterien und mit meinem Plädoyer für deren Respektabilität recht haben, so spricht das dafür, dass die außerrationalen Erkenntniskriterien nicht nur in rationalen Pattsituationen eigenes Gewicht haben, sondern immer. Das bedeutet: Es kann vorkommen, dass die rationalen Erkenntniskriterien berechtigterweise von den außerrationalen Erkenntniskriterien überstimmt werden. Wenn die rationalen Erkenntniskriterien für eine Überzeugung sprechen und die außerrationalen Erkenntniskriterien gegen sie, dann kann es richtig sein, sich gegen die rational gerechtfertigte Überzeugung auszusprechen. Diese schöne Möglichkeit möchte ich zum Abschluss an einem gewagten Beispiel demonstrieren.

18. Ein liebender Blick auf Gewaltverbrecher? Im Indizienprozess um einen grauenhaften Mord wird eine Angeklagte für schuldig erklärt und zu lebenslanger Haft verurteilt. Ihr Mann, der sie seit Jahr und Tag kennt, mit ihr durch dick und dünn gegangen ist, mit ihr Pferde gestohlen hat und sie liebhat, tritt ihr beim ersten Besuch im Gefängnis fassungslos entgegen und fragt in einem unbewachten Moment, ob sie den Mord begangen hat. Sie schwört ihm ihre Unschuld. Zwar kennt er sie gut; er weiß, wann sie lügt; jedenfalls hat er es bislang immer gewusst. Aber unter rein rationalen Aspekten ist der Indizienbeweis der Anklage stärker; Fingerabdrücke und DNS-Analyse sprechen (rational betrachtet) eine mächtigere Sprache als die langjährige Menschenkenntnis eines Liebenden. Jetzt kommt eine neue, weniger kühle Erkenntnisquelle ins Spiel: Ein Blick in ihr Gesicht, und er spürt, dass er sie immer noch liebt. Im Lichte dieser Liebe glaubt er ihr – so wie sie jetzt zu ihm spricht, mit fle-

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henden Augen, die sagen, dass wenigstens ein Mensch auf der Erde ihr glauben soll, weil sie sonst verzweifelt. Ist es verrückt, wenn er ihr glaubt? Das kommt darauf an. Liebe macht blind; manchmal. Wäre er rasend und einseitig in die Verurteilte verliebt und hätte er in seiner Verliebtheit bereits tausend Dummheiten angestellt, dann vielleicht wäre er verrückt, wenn er ihr zuliebe schon wieder zu allem bereit ist. – Aber in diesem Fall wäre er sowieso verrückt, nicht erst, weil er ihr diesmal glaubt. Auch ein anderer Fall (an den mich Sven Rosenkranz erinnert hat) kommt vor und führt nicht zu dem Ratschlag, dass der Liebende an die Unschuld der geliebten Person glauben soll. (Doch wie wir sehen werden, verspricht die Liebe auch hier noch erkenntnistheoretische Gewinne – nur eben nicht bei der Frage danach, wer der Täter war). Es kommt vor, dass einer jemanden liebt und weiß oder ahnt oder befürchtet, dass der Geliebte ein schlechter Mensch ist. In diesem Fall bietet die Liebe natürlich keinen guten Grund dafür, an die Schuldfreiheit des angeklagten Geliebten zu glauben. Nichtsdestoweniger hilft uns selbst die Liebe gegenüber dem Gewaltverbrecher, etwas Wichtiges zu sehen. So hat der Dokumentarfilmer Andreas Veiel in einem Theaterstück namens Der Kick (das auch als Film herausgekommen ist) vorgeführt, wie man sich sogar die brutale Ermordung eines deutschen Jugendlichen durch rechtsextreme Täter (die ihn als Juden bezeichneten) verständlich zu machen versuchen kann – und zwar ohne den Mord zu entschuldigen. Veiel hat Freunde, Verwandte und Bekannte des Opfers befragt, er hat die Täter befragt sowie deren Freunde, Verwandte, Bekannte; und die Geliebte des Haupttäters. Indem er alle diese Aussagen – künstlerisch verdichtet – zu einem Theaterstück verschmelzen lässt, tastet er sich immer näher an das Innere des Haupttäters heran. Den Abscheu vor der Mordtat schlägt er uns dabei nicht aus der Hand; aber er unterläuft all unsere vorgefertigten Gefühle und Urteile gegenüber dem Gewaltverbrecher. Wie das? Unter anderem durch Wiedergabe einer schockierenden Liebeserklärung aus dem Mund der Geliebten: Wenn’s mir schlecht ging, er hat das gesehen. Ich weiß nich, warum. Und er kam dann auch immer an, hat mich in den Arm genommen, und das hat mich doch angesprochen. Er hat es einem auch entgegengebracht, was er fühlt. Wenn wir uns mal gestritten haben aus irgendwelchen Lappalien, und ich gesagt hab, dass mir das alles zu viel is, dann war es schon sehr oft so, dass er geweint hat und is

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Olaf Müller dann losgelaufen und kam wieder an mit Blumen und alles. Marco hat ... er hat weiche Hände [...] Marco is schon die Liebe meines Lebens. Egal, was war, auch nach der Geschichte da im Stall [dem Tatort des Mordes – O.M.], trotzdem habe ich nie gesagt, dass ich ihn nicht mehr liebe (Veiel (2007), S. 54, 57, vergl. S. 188/9).

Veiel lädt uns ein, mit dem Blick der Liebe auf einen Mann zu schauen, der wegen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung in vier Fällen zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt wurde.32 Er lädt uns zu einem aberwitzigen Wagnis ein. Das Ziel dieser waghalsigen Einladung passt (wenn ich es recht verstehe) gut zu meinem Gedankengang; wer die Einladung annimmt, gewinnt dabei die Chance, etwas zu erkennen, für das die Abgebrühten blind sind. Durch Veiels Einladung bekommen wir die Chance, das Liebenswerte zu sehen – sogar im Gewaltverbrecher. Dies ist zwar erkenntnistheoretisch wichtig, denn es zeigt, dass selbst die ohne jeden Zweifel Bösen unter dem Blickwinkel der Liebe jäh anders aussehen könnten, als wir’s gewohnt sind zuzulassen; Jesus war einer der ersten, die uns dafür die Augen geöffnet haben. Doch führt dieser Strang der Überlegung zu weit ab vom Hauptthema des Abschnitts, denn hier war es mir darum zu tun zu untersuchen, in welchen Fällen die Liebe detektivisch mehr wiegt als starke Indizienbeweise. Dazu taugt das zuletzt entfaltete Beispiel nicht, denn der Gewaltverbrecher hat seine Schuld selber zugegeben, und zwar völlig glaubwürdig.

19. Wahrheit und wahre Liebe Betrachten wir wieder die ursprüngliche Geschichte der Angeklagten, deren Schuld (anders als im letzten Beispiel) aus Sicht ihres Mannes noch nicht feststeht. Er liebt sie nicht trotz ihrer Schuld, sondern hält sie für unschuldig, weil er sie liebt. Das kann angemessen sein, etwa in folgendem Fall. Die Liebe der beiden ist in der Balance; bislang bewog ihn diese Liebe kein einziges Mal zu dem Versuch, mit dem Kopf durch die Wand zu

32

Veiel (2007), S. 186.

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gehen; bislang war es eine gute Liebe: innig, ehrlich und rückhaltlos.33 Er verehrt und bewundert diese Frau, aber nicht so unmäßig, dass er sie für eine Heilige hielte, die sie nicht ist. Wer so liebt, sage ich, für den wäre der Glaube an den Indizienbeweis der Anklage, an Fingerabdrücke und DNSAnalysen eine Verrücktheit. In die Gesamthaltung des Liebenden fügt sich der Indizienbeweis nicht ein. Würde sich der Liebende nur auf rationale Gesichtspunkte stützen, so könnte er dem Indizienbeweis nichts entgegensetzen als die unbestreitbare Tatsache, dass er die Angeklagte besonders gut und besonders lange kennt.34 Angesichts der rational überwältigenden Gegenevidenz reicht das nicht. Aber seine Liebe verleiht ihm andere Erkenntniskräfte; zumindest kann sie das.35 Wohlgemerkt, sie vermag das nicht schon, wenn sie ihn wie ein isoliertes Gefühl durchflutet. Aber so habe ich die Geschichte nicht angelegt; 33

Und wenn es (wie ich behaupten möchte, ohne das hier ausführen zu können) keinen guten Hass geben kann, dann lässt sich keine parallele Geschichte ersinnen, in der jemand durch Hass gegenüber einem andern berechtigterweise zu Überzeugungen gelangt, die unter vernünftigen Gesichtspunkten allein inakzeptabel wären. Ohne das weiter ausführen zu können, stimme ich also Martin Walsers Romanfigur Klaff zu: „Keiner ist weiter von der Wahrheit als einer, der haßt“ (Walser (1957), S. 259). 34 Vielleicht ist es künstlich, die Menschenkenntnis als ausschließlich rationale Ressource hinzustellen; vielleicht sollte man besser sagen, dass schon in der Menschenkenntnis rationale und emotionale Faktoren unentwirrbar zusammenwirken. Rationalisten müssten in diesem Fall einen rationalen Teil der Menschenkenntnis extrahieren, den allein sie bei der Überzeugungsbildung gelten lassen würden. Damit handeln sich meine Gegner zahllose Probleme ein, die ich ihnen oben ersparen wollte. Soviel zur Entschuldigung für meine rationalistischen Übertreibungen beim Thema Menschenkenntnis. 35 Man mag mir entgegenhalten, dass Erkenntnis aus Liebe vielleicht hie und da am Platze wäre, dass sie aber nie und nimmer DNS-Beweise übertrumpfen könne. Darf denn der Liebende alle naturwissenschaftliche Evidenz über den Haufen werfen, nur aus Liebe? Müsste er nicht eine Theorie vorbringen, die erklärt, wie es zu den DNSSpuren hat kommen können? – Nein. Als ich die erste Version dieses Aufsatzes schrieb und im Jahr 2007 beim Herausgeber einreichte, hätte ich mich nur darauf berufen, dass naturwissenschaftliche Erkenntnisse fallibel sind, also immer nur bis auf weiteres gelten. Eben diese Fallibilität hat sich im darauffolgenden Jahr genau beim Thema der DNS-Spuren exemplarisch bestätigt. Solche Spuren stammen nicht immer vom Täter – sie können auch bei der Verpackung der Wattestäbchen entstehen, die bei der Beweissicherung eingesetzt werden (siehe Soldt et al. (2009)). Ähnliche Fehler können immer wieder auftreten. Und schon bevor sie enthüllt werden, darf man sich mit gutem Recht auf die Möglichkeit solcher Fehler berufen.

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es war keine Geschichte, in der jemand einen andern Menschen plötzlich heiß begehrt und ihm solange alles abnimmt. Das kommt vor und ist nicht unbedingt zu empfehlen, zumindest nicht, wenn das Objekt der Begierde wegen Mordes verurteilt ist. In der Geschichte, die ich erzählt habe, überkommt den Liebenden die Liebe zur Verurteilten nicht plötzlich aus dem Nichts; vielmehr ist diese Liebe gewachsen, sie hatte sich bewährt. Dann, sage ich, ist sie mitunter stärker als ein vernünftiger Indizienbeweis – stärker als das schwächste Glied eines solchen Beweises. Und dann wäre es verrückt, der Stärke dieser Liebe zu misstrauen. Die Liebe führt dann zum berechtigten Postulat der Unschuld der Verurteilten. Der Glaube an ihre Unschuld fügt sich in die Gesamthaltung des Liebenden ein; der Glaube an den Indizienbeweis wäre unfügsam – er wäre Unfug. (Und damit will ich nicht sagen, dass die Liebe nur für den Mann der Verurteilten erkenntnistheoretisches Gewicht hätte; das würde der subjektiven Willkür Tür und Tor öffnen. Nein, das Urteil des Liebenden fällt auch für uns Außenstehende ins Gewicht, wenn auch weniger stark. Wir könnten und sollten z.B. sagen: Jemand liebt sie und glaubt ihr darum, und diese Liebe ist keine dumme Grille, daher spricht der liebende Glaube an ihre Unschuld prima facie für die Verurteilte). Unfug wäre in der geschilderten Situation übrigens auch die Urteilsenthaltung. Wer seiner Geliebten angesichts einer Mordanklage, die sie zurückweist und die sie ihn zurückzuweisen anfleht, mit dem Weiß-Nicht der Urteilsenthaltung kommt, der verhält sich nicht neutral; er verrät seine Liebe. Nicht nur in dieser Hinsicht ähnelt die Liebe den drei legitimen Postulaten aus Unvernunft, die ich betrachtet habe. Und daher lautet eine Lösung für den eingangs gestellten Intelligenztest: Gott, Freiheit, Unsterblichkeit und Liebe.36 36

Felix Mühlhölzer hat mich durch ein gottesähnliches Habilitationsfestgeschenk dazu provoziert, die Überlegungen anzustellen, die diesem Aufsatz zugrundeliegen. Dafür (und für den Hinweis auf Tugendhats neuere Texte) danke ich ihm. Dank auch an Jürgen Müller, Sven Rosenkranz, Christoph Schamberger, Thomas Schmidt und an die Mitglieder meines wissenschaftsphilosophischen Kolloquiums für Kritik an früheren Fassungen dieses Wagnisses. Ich danke Anna-Katharina Welpinghus für stil- und sprachsichere Korrekturvorschläge sowie Astrid Schomäcker und Matthias Herder für Adleraugen bei Korrektur der Fahnen.

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