Zeit und Frieden 9783495827390, 9783495487396


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Table of contents :
Inhalt
Christina Schües, Pascal Delhom: Einleitung: Zeitphilosophische Herausforderungen eines Denkens des Friedens
Pluraler Frieden
Plurale Zeit
Zwischen Vergangenheit und Zukunft
Friedensforschung als Zukunftsforschung
Rückbezug auf die Gegenwart und auf die Bewältigung der Vergangenheit
Literatur
Sektion 1: Zeitlichkeit in der Geschichte des Friedensdenkens
Gertrud Brücher: Gegenwärtigkeit
1. Widersprüche im Denken von Zeit und Frieden
2. Vergleichende Perspektiven vormoderner, moderner und postmoderner Temporalisierungen
3. Vormoderne Temporalisierungen
4. Moderne Temporalisierungen
5. Postmoderne Temporalisierungen
6. Wissenschaftstheoretischer Ausblick
Literatur
Alfred Hirsch: Jean-Jacques Rousseau: Friedenszeiten
1. Einleitung
2. Die Zeitlosigkeit des natürlichen Friedenszustandes
3. Der Unfrieden und die strukturierte Zeit
4. Der neue Frieden als fortdauernder, ewiger Zustand
5. Das Völkerrecht als Konzept einer unendlichen Endlichkeit
Literatur
Sektion 2: Zeit und Friedenspraktiken
Werner Distler: Die fragmentierte Zeit im Peacebuilding. Die Zeitdimensionen der Praxis des Friedenschaffens
1. Einleitung
2. Strategische Perspektive auf Zeit im Peacebuilding
3. Zeitdimensionen der Peacebuilder
3.1. Die kollektive Zeit der Intervenierenden
3.2. Die subjektive Zeit des Intervenierenden
4. Zeitdimensionen der Gesellschaft
4.1. Die kollektive Zeit der Intervenierten
4.2. Subjektive Zeit der Bürgerinnen und Bürger
5. Zusammenfassung: Das komplementäre Verhältnis von fragmentierter zu fusionierter Zeit in der Intervention
Literatur
Julia Viebach: Über Diskontinuitäten und Kontinuitäten: Verschiedene Formen von Zeitlichkeit in Transitional-Justice-Prozessen am Beispiel Rwanda
Einleitung
1. Ein zeitlicher Bruch: Diskontinuitäten und die ambivalente Abwesenheit der Toten
2. Kommemoration und Gedenkstätten in Rwanda
3. Über Zeitlichkeit in Transitional Justice
3.1. Zeitpraktik: Zeitumkehrung
3.2. Zeitdimensionen: Zeitbewahrung und Zeithomogenisierung
3.3. Zeiterfahrung: In der Zeitlosigkeit – Körper und Zeit
Fazit: Diskontinuitäten, Kontinuitäten? Ambivalente Formen von Zeitlichkeit in Transitional Justice
Literatur
Sektion 3: Friedensauffassungen und ihre Zeitlichkeit
Pascal Delhom: Die Zeitlichkeit des Friedens als gemeinsame Aufgabe
1. Der Frieden als gemeinsame Aufgabe
2. Die gemeinsame Aufgabe als Aufgabe des Friedens
3. Praktische Forderung und praktische Einsicht
4. Die Aufgabe des Handelns
5. Die Zeitlichkeit des Friedens
Literatur
Petar Bojanić: Gerechte Institution
Literaturverzeichnis
Simon Koschut: Vom ewigen Frieden und begrenzter Zeit.
1. Einleitung
2. Das Konzept der Sicherheitsgemeinschaft
3. Der Faktor Zeit in einer Sicherheitsgemeinschaft
4. Hin zu einem prozessorientierten Ansatz für die Einbeziehung des Faktors Zeit in einer Sicherheitsgemeinschaft
Fazit
Literatur
Sektion 4: Zeitauffassungen und ihre Relevanz für den Frieden
Pierre-Frédéric Weber: Zeitkonflikte – Versöhnung – Normalisierung
1. Chronotopoi. Zur temporalen Dimension internationaler Konflikte
2. »Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«. Zum Unterschied zwischen Polychronie und Allochronie
3. Chronotopische Asynchronien als Konfliktquelle. Versuch einer Typologie
3.1. Trans-temporal
3.1.1. Zwischen vergangener Gegenwart und gegenwärtiger Vergangenheit
3.1.2. Zwischen vergangener Zukunft und gegenwärtiger Zukunft
3.2. Intra-temporal
3.2.1. Zwischen gegenwärtiger Vergangenheit und gegenwärtiger Zukunft
3.2.2. Zwischen »Zeitschichten« innerhalb eines Chronotopos
3.3. Inter-temporal
3.3.1. Zwischen in Konflikt stehenden Chronotopoi
3.3.1.1. Homochronisch
3.3.1.2. Heterochronisch
3.3.2. Zwischen dem Chronotopos des Konflikts und dem des internationalen Systems
4. Synchronisation und Aufhebung von Konflikten
5. ›Versöhnung‹ und ›Normalisierung‹&ga;: eine Umdeutung aus temporaler Perspektive
6. Ausblick: Peacemaking als »pacemaking« im 21. Jahrhundert?
Literatur
Christina Schües: Friedenswege in zeitlicher Diskontinuität
1. Friedenskonzeptionen in der Philosophiegeschichte
Der Frieden ist zeitlos
Teleologische Auffassung des Friedens
Logik der teleologischen Selbsterhöhung
2. Legitimation durch die Zukunft – Prognosen und Prävention
3. Die Zukunft im Krieg: Der Tod
4. Frieden jenseits der Totalität
5. Anfang und Diskontinuität
Dimensionierte Zeit und Kontinuität
Diskontinuität. Der Einbruch des Anderen und die Beziehung mit Anderen
6. Schlussfolgerungen: Wagnisse
Literatur
Autorinnen und Autoren
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Zeit und Frieden
 9783495827390, 9783495487396

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Friedenstheorien

2

Christina Schües / Pascal Delhom (Hg.)

Zeit und Frieden

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495827390

.

B

Christina Schües / Pascal Delhom (Hg.) Zeit und Frieden

ALBER FRIEDENSTHEORIEN

A

https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

In welchen wechselseitigen Implikationsverhältnissen stehen Zeitauffassungen und -gestaltungen zu unterschiedlichen Friedenskonzeptionen und -prozessen? Inwieweit beeinflusst und strukturiert das zumeist unausgewiesene Verhältnis zwischen Zeitauffassungen und -erfahrungen sowie den Vorstellungen von dem, was als Frieden bezeichnet werden könnte, die praktischen und theoretischen Bemühungen um Friedensprozesse und ordnet gesellschaftliche Transformationen? Diese Leitfragen kommen in Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen theoretischen wie empirischen Ansätzen zur Sprache.

https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Christina Schües / Pascal Delhom (Hg.)

Zeit und Frieden

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Alber-Reihe Friedenstheorien Band 2

Herausgegeben von: Pascal Delhom, Alfred Hirsch, Christina Schües Wissenschaftlicher Beirat: Robert Bernasconi, Claudia von Braunmühl, Gertrud Brücher, Hauke Brunkhorst, Monique Castillo, Hajo Schmidt, Eva Senghaas, Christoph Weller

© VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch)978-3-495-48739-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82739-0

https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Inhalt

Christina Schües und Pascal Delhom Einleitung: Zeitphilosophische Herausforderungen eines Denkens des Friedens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Sektion 1: Zeitlichkeit in der Geschichte des Friedensdenkens Gertrud Brücher Gegenwärtigkeit. Friedensethische Temporalisierungen . . . . .

31

Alfred Hirsch Jean-Jacques Rousseau: Friedenszeiten . . . . . . . . . . . . .

64

Sektion 2: Zeit und Friedenspraktiken Werner Distler Die fragmentierte Zeit im Peacebuilding. Die Zeitdimensionen der Praxis des Friedenschaffens

. . . . .

85

Julia Viebach Über Diskontinuitäten und Kontinuitäten: Verschiedene Formen von Zeitlichkeit in Transitional-Justice-Prozessen am Beispiel Rwanda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

103

5 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Inhalt

Sektion 3: Friedensauffassungen und ihre Zeitlichkeit Pascal Delhom Die Zeitlichkeit des Friedens als gemeinsame Aufgabe . . . . .

131

Petar Bojanić Gerechte Institution. Wie (und wann) sind Kriege zu beenden? Die Rolle des Pazifismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

156

Simon Koschut Vom ewigen Frieden und begrenzter Zeit. Zur Problematik der temporalen Dimension in einer Sicherheitsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

179

Sektion 4: Zeitauffassungen und ihre Relevanz für den Frieden Pierre-Frédéric Weber Zeitkonflikte – Versöhnung – Normalisierung. Wie die Interaktionen von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont internationale Friedensprozesse bestimmen . . . . . . Christina Schües Friedenswege in zeitlicher Diskontinuität Autorinnen und Autoren

197

. . . . . . . . . . . 224

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

6 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Christina Schües, Pascal Delhom

Einleitung: Zeitphilosophische Herausforderungen eines Denkens des Friedens

In welchen wechselseitigen Implikationsverhältnissen stehen Zeitauffassungen und -gestaltungen zu Friedenskonzeptionen und -prozessen? Mit dieser Leitfrage beanspruchen die vorliegenden Beiträge in intensiven Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen theoretischen wie empirischen Ansätzen das Verhältnis zwischen verschiedenen Friedenskonzeptionen, den ihnen wesentlichen Begriffen und den ihnen zugrunde liegenden Zeitauffassungen, -erfahrungen und -strukturen zu klären und zu diskutieren. Dieser Band zielt somit auf die Klärung des Zusammenhangs der Zeit des Friedens und des Friedens der Zeit in Bezug auf ihre historischen und konzeptionellen Grundvoraussetzungen, ihre theoretischen Implikationen, auf gesellschaftliche Transformationsprozesse sowie politische und ethische Ansprüche. Dieser Zusammenhang wirft in seinem doppelten genitivischen Bezug äußerst komplexe, aber auch evidente Fragen auf, allerdings solche, deren Bearbeitung in den unterschiedlichen Friedenstheorien und -forschungen weitgehend von einer systematischen philosophischen und sozialtheoretischen Entfaltung ausgeschlossen wurde. Diese Fragen nach der Zeit beeinflussen und strukturieren aber wesentlich die praktischen und theoretischen Bemühungen um Friedensprozesse und ordnen gesellschaftliche Transformationen. Deshalb ist ihre Klärung und Verortung eine dringliche Aufgabe für theoretische Überlegungen, empirische sozialwissenschaftliche Forschungen und praktische Friedenspolitik. Die Komplexität und Vielschichtigkeit dieser Fragestellung kann unmöglich in einem Band vollständig ausgeleuchtet werden, denn sie betrifft nicht nur die zeitliche Ausgestaltung eines theoretischen Konzeptes von Frieden, sondern auch etwa die zeitliche Gestaltung und die Zeitabhängigkeit der Forschungen über diese Friedenskonzepte. Dennoch halten wir die Aufgabe, zumindest einige wichtige Aspekte dieser Fragestellung anzusprechen, für umso dringlicher, als Missverständnisse um Zeitordnungen und -abläufe, sowohl im Alltag 7 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Christina Schües, Pascal Delhom

wie im politischen Bereich und eben auch in friedenspraktischen oder kulturellen Bereichen, überhaupt keine Seltenheit sind. Bis jetzt sind allerdings die Ansätze, die versuchen, die Relevanz dieses Zusammenhangs in Bezug auf klassische Themen der Friedenstheorie, die jeweils eine zeitliche Struktur aufweisen, wie etwa Verantwortung, Gerechtigkeit, Vertrauen, Schuld oder Machtverhältnisse, singulär geblieben. Wer die Zeit im Verhältnis zu Frieden thematisiert, dem wird auch die Zeitlichkeit von Friedenstheorie und -forschung, die eine lange Tradition haben, sehr bald deutlich. Sowohl Zeittheorien als auch Friedenstheorien haben eine bis in die Antike zurückreichende und ineinander verschränkte Tradition, die allerdings auf unterschiedlichen ontologischen und metaphysischen Vorstellungen beruhte. Antike kosmologische Ordnungsvorstellungen des Zusammenspiels zwischen zirkulärer und linearer Zeit und die harmonische Ordnung der Welt, Augustinus’ theologische Vorstellung des Friedens als Ruhe der Ordnung (1979, 475) und der Möglichkeit der Annäherung an Gott, säkulare Motive der Gestaltung der Gesellschaft und ihrer Prozesse – sie alle setzen Perspektiven voraus, die sich explizit oder implizit auf bestimmte Zeitvorstellungen beziehen. Der innere Zusammenhang von Zeit und Frieden wird auch politisch deutlich, sobald an unterschiedliche Friedensentwürfe erinnert wird, wie etwa an die Hobbessche Konzeption eines durch den »Leviathan« gesicherten stabilen Systems und an die folgenden Entwürfe einer Vertragstheorie, an das Projekt des Abbé de Saint-Pierre, um den Frieden in Europa immerwährend werden zu lassen (1986), an Rousseaus oder an Kants jeweilige Entwürfe »Zum ewigen Frieden« (Rousseau 2009; Kant 1977; dazu Alfred Hirsch in diesem Band). Diese Autoren der abendländischen Philosophiegeschichte bilden den Hintergrund und eine wichtige Ressource für friedenstheoretische Modelle des 20. und 21. Jahrhunderts. Die gewichtige und zentrale Bedeutung des inneren Zusammenhangs von Zeit und Frieden lässt sich auch mit wenigen Hinweisen auf die Literatur und wichtige Ereignisse des 20./21. Jahrhunderts aufzeigen. Exemplarisch zu nennen wären hier die Studien von Günter Anders über Endzeit und Zeitende atomarer Bedrohungen (1972), Feierlichkeiten zu Friedensabkommen oder Friedensverträge oder die road maps, die Werner Distler in seinem Beitrag diskutiert, für die Befriedung von Konflikten. Im 20. Jahrhundert gibt es philosophiehistorische Anlehnungen daran, die allerdings nicht notwendig zeitliche Komponenten mit8 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Einleitung: Zeitphilosophische Herausforderungen eines Denkens des Friedens

berücksichtigen. Wenn etwa Dieter Senghaas mit seinem »zivilisatorischen Hexagon« (vgl. u. a. Senghaas 1997) an Hobbes anknüpft und in diesem Modell das zivilisierungstheoretische Friedensverständnis aufbewahrt, dann zeugt diese Übernahme von einer dem friedenstheoretischen Denken zugrunde liegenden Entwicklung, die von einer Art ›Friedensmaschine‹ ausgeht. Sie wäre ein mechanistisches Konstrukt, ähnlich eines kybernetischen Systems, dessen Rückkopplungsmechanismen zu einem Gleichgewichtssystem austangiert werden sollen. Mit dem Augenmerk auf einen nachhaltigen Frieden als einen, bei dem im Kantschen Sinne die »Rückfälligkeit in Gewalt« oder in Krieg nicht mehr besteht, bei dem man also von einem »stabilen Frieden« sprechen kann (2012, 225), thematisiert Senghaas nicht zum ersten Mal verschiedene Bedingungen, die eine »zivilisierte, d. h. nachhaltige gewaltfreie Bearbeitung von unvermeidlichen Konflikten« und somit einen Frieden ermöglichen und bewahren könnten (2012, 229). Diese Forderung ist eine zeitliche, nämlich nach Nachhaltigkeit und Stabilität, wobei die »hexagonalen Anforderungen« prinzipieller Natur sind, wie das legitime Monopol staatlicher Gewalt, rechtsstattliche Kontrolle, Affektkontrolle, demokratische Teilhabe, Bemühungen um soziale Gerechtigkeit und eine Kultur konstruktiver Konfliktbearbeitung (Siehe 2012, 228–232). Das Dynamische einer Zeitlichkeit des Friedens wird allerdings in dieser Konzeption der Prinzipienverankerung seiner Bedingungen in eine Stabilität gebracht, die irreführend ist. Je besser die Selbstreferenz gelingt, desto stabiler das System, aber auch desto unklarer ist die Position des Anderen und der Inferiorität, und damit, wie Gertrud Brücher in ihrem Text zeigt, die Paradoxität, die diesem Friedenskonstrukt unterliegt. Wenn an Kants Friedensschrift mit einem breit ausgeführten Diskurs vertragstheoretischer Modelle angeknüpft wird, dann besteht die Gefahr, dass die konkreten Erfahrungsdimensionen und ihre zeitliche Ausgestaltung überspielt werden, Veränderungen und Entwicklungen damit unberücksichtigt bleiben oder sogar zur bedrohlichen Negativfolie im Hintergrund werden.

Pluraler Frieden Dennoch wird meistens, wenn heute in Friedenstheorien und -diskursen von Frieden gesprochen wird – etwa im Unterschied zum Waffenstillstand oder als Leitbild eines politischen Prozesses –, genauso wie 9 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Christina Schües, Pascal Delhom

bei Senghaas ein solcher »nachhaltiger Frieden« gemeint ist, der davor geschützt ist, in einen Krieg oder in Gewalt zurückzufallen. Der stabile Frieden, mindestens in Regionen, die politisch oder wirtschaftlich wichtig sind, ist heute das erstrebenswerte Ziel; die Europäische Gemeinschaft hatte sich dieses immer auf ihre Fahne geschrieben und (mehr oder weniger angemessen oder erfolgreich) umgesetzt. Das hinter diesem Ziel stehende »Bild« ist eines des Friedens im Singular: Der Frieden. Wie der ›Frieden‹ in diesem Sinne meistens im Singular erhofft wird, so wird an ›Kriege‹ meistens nur im Plural gedacht. In einer Tradition, in der der Frieden zeitlich als Ruhe der Ordnung oder als angestrebter ewiger Zustand gesehen wird, scheint die Sprache Recht zu haben, die für den Frieden keine Pluralform vorsieht. Doch vielleicht sitzt eben diese Sprache einem Irrtum auf, wenn sie damit impliziert, dass die Kriege nur Unterbrechungen des einen Friedens seien. Günter Anders vertritt dagegen die These, dass sich seit den Balkankriegen in den Jahren 1912 und 1913 das Verhältnis von Krieg und Frieden umgekehrt habe. Denn seitdem, so befindet er, bricht die Kette von Kriegen niemals ab (1972, 67). Könnte der Krieg also mit dem Singular vereinbar sein? Und müsste dann der Frieden im Plural gedacht werden? Es gibt mindestens drei Gründe, warum auch der Begriff des Friedens eigentlich ein Plural ist: 1. Der erste Grund mag mit der eben genannten Beobachtung von Günter Anders über die Einheit des Krieges zu verbinden sein. Allerdings wäre hier zum einen zu konstatieren, dass ein weltweiter Blick, der die Verbreitung der Kriege auf globaler Ebene betrachtet, erst seit dem 19. Jahrhundert zentral das politische Verständnis in Europa prägte. Die Kette der Kriege gab es vielleicht schon vorher, aber der zusammenzählende Blick hierfür fehlte. Erasmus von Rotterdam konzentrierte sich in seiner Kritik des Krieges am Anfang des sechzehnten Jahrhunderts noch auf das europäische Christentum und dessen Grenzen (1968), die verschiedenen Projekte über den Frieden in Europa seit William Penns Essay von 1693 (2011) bezogen sich eben auf Europa. Erst Kant fügte 1795 explizit eine kosmopolitische Dimension hinzu (1977). Aber auch dann bleibt zum anderen die Frage zumindest offen, ob der Krieg als kontinuierliche Kette und der Frieden im Plural als Unterbrechungen dieser Kette gesehen werden können und müssen. Eine starke Gegenthese in Bezug auf die Entwicklung der Gewalt vertrat zum Beispiel Steven Pinker vor we10 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Einleitung: Zeitphilosophische Herausforderungen eines Denkens des Friedens

nigen Jahren (2011), nach dem die Gewalt im Laufe des Zivilisationsprozesses abnimmt. 2. Der zweite Grund, warum der Frieden eigentlich plural ist, ist konzeptioneller Art und überzeugender: Erst der Umstand, dass der Frieden als Prozess und als Aufgabe, wie Pascal Delhom in seinem Text diskutiert, gesehen wird, pluralisiert den vereinheitlichenden Begriff eines Friedens als Ruhe der Ordnung oder eines Friedenszustandes, nach dem gestrebt werden kann. Im Gegenzug zu den Positionen, die den Frieden als Zustand definieren, wie etwa die Tradition von Platon bis Kant und noch heute Johan Galtung (siehe 1975, 118), hat u. a. Ernst-Otto Czempiel in den 1970er Jahren auf den Prozesscharakter des Friedens aufmerksam gemacht. Frieden ist »ein Prozeßmuster des internationalen Systems, dass gekennzeichnet ist durch abnehmende Gewalt und zunehmende Verteilungsgerechtigkeit« (1998, 59). Vorgestellt wird hier ein Begriff des Friedens als Prozess der wechselseitigen Bedingtheit eines Abbaus von Ungerechtigkeit, deren Erhalt immer der repressiven Gewalt bedarf (vgl. Brock 1990, 79), und der gleichzeitigen Entstehung von Freiheitsrechten und Sicherheit. Im vorliegenden Band vertritt auch Simon Koschut die Position, dass der Frieden konzeptionell als Prozess und empirisch als zeitlich begrenztes Phänomen zu sehen ist. Es gäbe demnach eine Pluralität von Prozessen und von Zeiteinstellungen, die auf unterschiedliche Weise zur Friedensbildung beitragen, die aber auch durchaus in einem Konfliktverhältnis zueinander stehen können. Denn die Auffassung des Friedens als Prozess bedeutet in keiner Weise, dass dieser kontinuierlich fortschreitet, das heißt, dass die in einer Friedensgestaltung involvierte Zeitauffassung nur eine der Kontinuität sein kann. Die Annahme einer Diskontinuität der Zeiterfahrung wird im Gegenteil besonders in den Beiträgen von Werner Distler, Christina Schües, Julia Viebach und Pierre-Frédéric Weber ausgearbeitet. Eine Berücksichtigung der Pluralität solcher Prozesse muss durch eine kritische Reflexion gefördert werden. 3. Diese Annahme einer Diskontinuität der Zeiterfahrung stellt nun den dritten Grund für eine Auffassung des Friedens im Plural dar. Sie ermöglicht es nämlich, Anfänge und Brüche zu markieren, die Vergangenheit ›neu‹ zu interpretieren, aber auch Prozesse der Versöhnung einzuleiten oder Versprechungen zu machen. Die zeitliche Diskontinuität ist zentral für viele unterschiedliche Entwürfe friedenstheoretischer Konzepte. Das bedeutet allerdings weder, dass der Anspruch an eine Kontinuität im Frieden aufgegeben werden sollte, 11 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Christina Schües, Pascal Delhom

noch dass die Diskontinuität ausschließlich ein Merkmal des Friedens wäre. Vermutlich ist gerade der Krieg von der Herrschaft des diskontinuierlichen Momentanen und dem eklatanten Mangel von Kontinuität gekennzeichnet. Doch ein Denken der Zeitlichkeit des Friedens sollte auch dessen Diskontinuitäten nicht unberücksichtigt lassen. Dies gilt umso mehr, als die Zeit selbst mannigfaltig erfahren wird, in sehr verschiedenen Zeitverständnissen erfasst wurde und kaum auf einen einheitlichen Grund zurückgeführt werden kann.

Plurale Zeit Es gibt zwar eine Strömung der aktuellen Zeitphilosophien (siehe Sandbothe 1997), die versucht, unter Einfluss von »Selbstorganisationstheorien« und Naturwissenschaften, wie etwa Physik und Biologie, ein globales vereinheitlichendes Zeitverständnis zu entwickeln, das Handlungsabläufe mathematisch zu operationalisieren vermag. Dieses Verständnis ist von einem Modell der physikalischen Zeit her zu denken, das seit Aristoteles in einem engen Zusammenhang mit der Bewegung von Gegenständen und deren Bemessung (1967, Buch IV, Kap. 10–14) verstanden wird. Zeit besteht demnach nicht nur als Dimension der menschlichen Erfahrung; sie ist so real wie der Raum. Die Uhrzeit verweist auf diese Konzeption der Zeit, die eine kontinuierliche Serie von zählbaren Jetztpunkten annimmt. Wissenschaftliche und vereinheitlichende Zeitauffassungen knüpfen nicht selten daran an. Doch dieser Tendenz der Vereinheitlichung der Zeit steht eine Auffassung der Aufspaltung der Zeit in eine Vielfalt nicht miteinander vermittelbarer heterogener Zeitkonzepte gegenüber, die etwa von Paul Ricœur vertreten wird (1991). Mit der Diagnose der Pluralisierungstendenz wird in dieser zweiten Auffassung von Zeit der Bruch zwischen phänomenologischer, astronomischer, biologischer, physikalischer, aber auch gesellschaftlicher und kultureller Zeit als unüberwindbar gesehen. Dieser Ansatz der Pluralisierung von Zeit wird von Richard Rorty noch verschärft (1989, 180), der die Narrativität von Romanen als Zugang in das Gewebe mitmenschlicher Kontingenzen favorisiert. Diese dritte Variante – eine Form der Historisierung und Relativierung – sieht vor, gar nicht mehr von »der« Zeit zu sprechen, sondern nur noch von konkreten Zeitverhältnissen, die zurückgebunden sind an unterschiedliche Lebens- und Erfahrungsbereiche, 12 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Einleitung: Zeitphilosophische Herausforderungen eines Denkens des Friedens

Gesellschaftsstrukturen, kulturelle Verständnisse, ökonomische Vorgaben oder politische Grundverständnisse. Zwischen Vereinheitlichung und radikaler Pluralisierung der Zeitauffassungen bewegt sich zumeist das Denken der Zeit in einem Spielraum von Differenzierungen und Dimensionalisierungen, die berücksichtigt werden müssen. Diese Vielfalt unterschiedlicher Zeitkonzepte basiert unter anderem auf der Einsicht, dass Menschen ein besonderes Zeitbewusstsein haben, das ihre Erfahrungen und ihre Verhältnisse miteinander, zur Welt und zur Natur wesentlich prägt. Dieses Zeitbewusstsein widersetzt sich dem objektivierenden Blick, sodass es nicht von einer Zeit im Sinne eines linearen Prozesses oder einer immerwährenden Kreisbewegung erfasst werden kann. Das Zeitbewusstsein ordnet und unterteilt die Zeit, ausgehend von einer beweglichen Gegenwart, in Vergangenheit und Zukunft. Deshalb kann dieses Konzept einer dimensionierten Zeit mit dem Vokabular von »vergangen«, »gegenwärtig« und »zukünftig« ausgedrückt werden. Diese Idee der dreifachen Dimensionierung von Zeit setzt einen subjektiven Standort in der Welt voraus. Somit ist die Zeit kein objektives Maß, sondern die Bewegtheit, die Lebendigkeit und das Leben eines intentionalen Bewusstseins. Als solche prägt sie alle Erfahrungen und wird in diesen Erfahrungen durchlebt und (zum Teil) erlebt. Wir kennen die unterschiedlichen Zeiterfahrungen einer langweiligen oder schnelllebigen, einer aufregenden und kurzweiligen oder einer ruhigen Zeit. Sie scheint manchmal stillzustehen, etwa für eine Person, die geschockt oder traumatisiert ist, oder, ganz anders, die selbstversunken in sich ruht. Bisweilen bemerken wir die Zeit nicht einmal, so absorbiert sind wir von einer Sache oder einer Tätigkeit. Dann werden wir (nur) durch die Uhrzeit an ihre Existenz und an ihr nie erfahrenes, gleichmäßiges Voranschreiten erinnert. Mit den Zeitphänomenologien Edmund Husserls (1966) und seiner Nachfolger, etwa Heidegger (1989), Merleau-Ponty (1966) und Levinas (2003), wurde verdeutlicht, dass nicht nur unsere Erfahrung in ihrer Dimensionierung von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem, sondern auch unsere Existenz im Allgemeinen zeitlich ist. Fortan untersuchte die Phänomenologie des 20. Jahrhunderts die Zeit als subjektives Phänomen des Lebens und der Existenz, das zur eigenen Zeitlichkeit ein vielfaches Verhältnis hat: von der Generativität der Herkunft bis zur Angst und zur Sorge vor dem Zukünftigen, von der Uneinholbarkeit des Vergangenen bis zur unendlichen Zukunft einer prospektiven Verantwortung. 13 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Christina Schües, Pascal Delhom

Nun gibt es seit den Anfängen des Denkens Versuche, diese subjektive Zeit zu verobjektivieren und wissenschaftlich oder technisch zu erfassen. Diese Versuche nehmen sehr unterschiedliche Formen an, etwa der Erhaltung des Vergangenen durch Gedächtnistechniken oder mediale Speicherungen; des Zugangs zum Vergangenen in Praktiken der Erzählung oder in Fächern wie Geschichte, Genealogie und Archäologie; des entgegen gerichteten Versuchs von Prognosen und Vorhersagen über die Zukunft, die etwa auf Erfahrung oder auf Berechnungen beruhen; letztlich des Anhaltens der Zeit durch Praktiken der Stabilisierung von Erinnerungen und Zukunftserwartungen. Doch diese Versuche heben den grundsätzlichen Unterschied zwischen gelebter und gemessener Zeit nie vollständig auf. Sie führen eher zu einer gesellschaftlichen Gestaltung der Zeit, die noch weitere Formen annehmen kann. Denn die Zeit ist auch eine wesentliche Dimension sozialer Ordnungen, die sich in Praktiken niederschlägt, die aber auch institutionalisiert und ritualisiert werden kann. Man denke etwa an die Dreiteilung der menschlichen Tätigkeiten nach Hannah Arendt, nach der jede Tätigkeit mit einer entsprechenden Zeitlichkeit verbunden ist: die kreisförmige Zeit der Arbeit, die Linearität des Planens und Herstellens, die Anfänglichkeit des Handelns (1981). Man denke an die Verbindlichkeit des Versprechens, des Vertrags oder des Kredits, die konstitutiv durch die Zeit hindurch wirkt, an die Reproduktion von Abläufen und sozialen Strukturen, die eine Gesellschaft erhält. Man denke aber auch an zeitliche Umstände, die zum Beispiel ausmachen, dass Entscheidungen in einem günstigen oder ungünstigen Augenblick getroffen werden, wie Gadamer im Rückgriff auf Aristoteles beobachtet (2002). Solche Unterscheidungen zwischen Zeitdimensionen, -auffassungen und -erfahrungen sind unablässig, um die Frage nach der Zeitlichkeit des Friedens differenziert stellen zu können. Sie lösen aber nicht das Rätsel der Zeit selbst, das bereits auf Augustinus und auf seine Entdeckung einer philosophischen Verlegenheit zurückgeht, nämlich der, dass wir scheinbar immer schon in aller Selbstverständlichkeit wüssten, was Zeit sei, solange uns niemand danach fragt, dass aber die Beschreibung eines Zeitverlaufs, das Phänomen der nachträglichen Umschreibung der Vergangenheit oder der Zugang zur Zukunft uns eigenwillig entzogen bleiben (1980, Buch XI, 14). Für eine Theorie und für eine Praxis des Friedens, die ein Denken über dessen Zeitlichkeit einbeziehen, heißt das, dass beide nicht von 14 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Einleitung: Zeitphilosophische Herausforderungen eines Denkens des Friedens

einer eindimensionalen Zeitauffassung ausgehen können. Sie müssen, schlägt Christina Schües vor, etwa zwischen quantifizierenden Angaben wie Daten, Fristen und Zeitspannen und qualifizierenden Zeitkonzepten wie linearer, zirkulärer und dimensionaler Zeit unterscheiden sowie konkret etwa auch unterschiedliche »Chronotopoi«, wie Pierre-Frédéric Weber es nennt, wie Gleichzeitigkeiten und Ungleichzeitigkeiten, Erwartungs- und Erinnerungshorizonte aufweisen; auch sind »strukturbezogene« Zeitdimensionen, wie etwa Arbeitsrhythmen oder Formen der Zeitrechnung, zu berücksichtigen. Theorie und Praxis werden – meistens unausgewiesen – in Bezug auf normative Elemente etwa ökonomischer oder politischer, oder auch friedensstrategischer Zeitvorgaben entworfen. Deshalb müssen Selbstverständlichkeiten in Bezug auf Zeitverständnisse oder -vorgaben, seien diese subjektiv oder intersubjektiv, gesellschaftlich oder kulturell verankert, hinterfragt werden. Die Relevanz all dieser Dimensionen der Zeit für die Friedensforschung und einen Frieden selbst ist nicht bloß theoretischer Art, denn es zeigt sich, dass – besonders in unterschiedlichen kulturellen Kontexten, aber nicht nur – Missverständnisse und Konflikte sich oft um Zeitvorstellungen und -vorgaben drehen.

Zwischen Vergangenheit und Zukunft Ein besonders wichtiger zeitlicher Aspekt des Friedens als vielschichtiger und mehrdimensionaler Prozess ist hierbei die Spannung zwischen Vergangenheit und Zukunft. Diese Spannung ist konstitutiv für jede Zeiterfahrung, sie strukturiert aber auch Praktiken, Institutionen und Diskurse jenseits vom Zeitbewusstsein und trägt somit zur Orientierung gesellschaftlicher Entwicklungen bei. Wie bereits Aristoteles nahelegte und Gadamer betonte, haben die Menschen einen Sinn für Zeit (aisthesis chronou), (Aristoteles 1995, 433 b 7; Gadamer 1987, 139) weil sie Erwartungen haben, das heißt eine Voraussicht über etwas, was noch nicht anwesend und dennoch nicht gänzlich abwesend ist. Aufgrund der Kontingenz von Handlungen und Ereignissen sind Erkenntnisse über die Zukunft nicht in der Art möglich, wie sie in Bezug auf die Gegenwart oder die Vergangenheit möglich sind. Nur auf der Basis von vergangenen Erfahrungen und mit Hilfe von Vergleichen, Ableitungen und Berechnungen können wir vorhersehen, woraus die Zukunft bestehen 15 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Christina Schües, Pascal Delhom

und was wahrscheinlich geschehen wird. Daraus entstehen Erwartungen, die unser Verhältnis zur Zukunft prägen, und wir sind entsprechend überrascht, wenn sich diese nicht erfüllen. Ohne solche Erwartungen wären Überraschungen nicht möglich. Dennoch bleibt die Zukunft immer zu einem gewissen Grad offen und unsicher. Wer diese Unsicherheit in Bezug auf zukünftige Ereignisse reduzieren möchte, kann sich nur nach Wahrscheinlichkeiten und Berechnungen richten; wer die Offenheit zukünftiger Handlungen begrenzen möchte, muss versprechen (Arendt 1981, § 34) und/oder vertrauen (vgl. Luhmann 2000, 27 ff.). Dadurch entstehen wiederum neue und andersartige Erwartungen: Sie sind nicht mehr nur deskriptiv, sondern wirken normativ und ihre Nicht-Erfüllung überrascht nicht nur, sondern sie enttäuscht durchaus in einem moralischen Sinne. Doch auch trotz solchen normativen Erwartungen bleibt die Zukunft von einer Offenheit und Unsicherheit geprägt, die einerseits mit Projekten, Hoffnungen und Visionen gefüllt, andererseits aber auch von Angst und Sorgen besetzt werden kann. Jede Handlungsphilosophie und jedes politische Denken, vielleicht besonders ein Denken des Friedens, muss sich mit dieser Offenheit befassen und einen Weg finden, mit ihr umzugehen. Neben dieser Zukunftsorientierung ist unser Sinn für Zeit auch durch ein Verhältnis zu vergangenen Ereignissen und Erlebnissen bestimmt, die wir vergessen und an die wir uns deswegen auch erinnern können. Ohne das Vergessen, wodurch für uns das Vergangene nicht mehr anwesend ist, wäre kein Erinnern möglich, in dem wir es uns wieder vergegenwärtigen. Das Vergessen bewirkt auch das Vergehen der Zeit als Zeitbewusstsein. Bliebe uns alles gegenwärtig, würde für uns die Zeit nicht vergehen. Das ist unter anderem das, was passiert, wenn wir uns von einem Ereignis, das uns besonders affiziert, nicht distanzieren können und wenn es uns immer gegenwärtig bleibt: Es ist die Zeitstruktur des Traumas als unvergängliche Präsenz von Gräueltaten und Elend, Gewalt und Missbrauch. Es ist aber auch die Zeitlichkeit der Schuld, die nicht vergeht, auch wenn die schuldige Tat schon längst der Vergangenheit angehört. Wer aber derart in der Gegenwart gefangen bleibt, sei es bewusst oder nicht, 1 verliert nicht Ein Trauma kann umso wirksamer sein, als es verdrängt wird und nicht mehr an die Oberfläche des Bewusstseins herankommt; auch die eigene Schuld kann vergessen werden und dennoch sozial präsent und für die Beziehungswelt der schuldigen Person sehr prägend sein.

1

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Einleitung: Zeitphilosophische Herausforderungen eines Denkens des Friedens

nur die Fähigkeit zu vergessen und somit auch sich zu erinnern, sondern erfährt auch dadurch eine maßgebliche Einschränkung seiner Zukunft. Sein Lebensraum ist durch das, was nicht vergeht, besetzt und besessen. Es gibt keinen Platz mehr für neue Objekte seiner Aufmerksamkeit – denn man wendet sich Neuem zu, indem man sich von Altem abwendet – oder für neue Handlungen. Das Nicht-Vergehen der Zeit lässt keine Zukunft zu. Dazu kommt, dass das, was nicht erinnert werden kann, auch nicht als Erfahrung zur Einschätzung und Vorbereitung der Zukunft dienen kann. Wer die Gegenwart von der Last dessen befreien will, was nicht vergehen kann, und sich somit eine gewisse Zukunft eröffnen will, muss also das Erlittene verarbeiten und die Schuldfrage bereinigen können. In beiden Fällen liegen allerdings oft die Ressourcen für diese Überwindung nicht primär in den betroffenen Personen selbst, sondern bei anderen, die sie unterstützen, ihnen in bestimmten Fällen vergeben, sich mit ihnen in zum Teil schwierigen und langwierigen Prozessen versöhnen. Weitere Ressourcen liegen auch bei Institutionen, die im einen Fall Therapien oder finanzielle und rechtliche Unterstützung gewähren können, im anderen Fall durch Bestrafung oder Wiedergutmachung eine Bereinigung der Schuld bewirken können. In vielfacher Hinsicht hängt also unser Verhältnis zur Zukunft von unserem Verhältnis zur Vergangenheit ab, von unserem Vermögen, uns einerseits von ihr zu befreien, wenn sie für uns eine Last ist, und andererseits von ihr zu profitieren, wenn der Reichtum unserer Erfahrungen unsere Wahrnehmung der Zukunft prägt und unser Handeln ermöglicht. Dies spielt eine entscheidende Rolle für die Frage, wie Kriege beendet, singuläre und kollektive Verletzungen überwunden und Frieden eingeleitet und befestigt werden können. Hierbei ist es auch wichtig zu berücksichtigen, dass die Zeiterfahrungen und Zeiteindrücke von den jeweiligen Kontexten und Zusammenhängen abhängen, in denen sie erlebt werden. Krieg oder Frieden haben jeweils ihre eigenen Zeithorizonte. Die Zeit vor dem Frieden ist eine andere als die Zeit nach dem Frieden; auch die Zeit vor dem Krieg ist nicht wie die eines Friedens und anders als die Zeit nach dem Krieg, die vielleicht eine Friedenszeit ist oder auch nur eine Zeit vor dem nächsten Krieg. Petar Bojanić macht in seinem Beitrag deutlich, dass Krieg und Frieden nicht einfach Gegensatzpole sind. Sie folgen auch nicht linear aufeinander. Sie verhalten sich vielmehr zueinander wie ein zeitlicher Horizont, von dem sie sich entfernen oder 17 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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zu dem sie sich hinbewegen, zu dem sie auch überschreiten können, ohne dass dann ein Zurück immer möglich ist.

Friedensforschung als Zukunftsforschung Das, was für Zeiterfahrungen und -erlebnisse in Bezug auf Frieden gilt, gilt auch auf einer anderen Ebene für Friedenskonzeptionen in ihrem Bezug zur Zeit. Auch sie reagieren auf Erfahrungen der Vergangenheit und der Gegenwart, auch sie sind eingebettet in argumentative Diskurse und in Konstellationen von Positionen und werden (wenn sie nicht einfach der akademischen Positionierung dienen sollen) für die Klärung der Verhältnisse in Vergangenheit und Gegenwart und für die Zukunft geschrieben. Es ist zu beobachten, dass die Friedensforschung in ihren Entwicklungen eine jeweils der Zeit entsprechende Konzeption aufweist. Zeitliche Kontroversen, politische oder gesellschaftliche Szenarien oder Geschichte gewordene Momente formen den besonderen Kontext, aus dem heraus Friedenkonzepte jeweils geschrieben und vorgestellt wurden. Ein Blick zurück auf die unterschiedlichen Phasen der Friedensforschung zeigt ihre Verbundenheit mit bestimmten »Zeitumständen« (vgl. Senghaas 2010). »Jede Untersuchung, jedes Ergebnis, jede Idee hat ›ihre‹ Zeit«, wie Ulrike Wasmuht in ihrer Geschichte der deutschen Friedensforschung formuliert (1998, 9). In diesem Band kommt es uns weniger auf die Analyse der Geschichtsschreibung an, sondern vor allem auf die theoretische Erfassung unterschiedlicher Zeitauffassungen und Vergangenheits- sowie Zukunftsorientierungen. Trotzdem sollte diese kurz angesprochen werden. Ein Blick zurück auf die unterschiedlichen Phasen der Friedensforschung wird ihre Verbundenheit mit bestimmten Zeitumständen feststellen können. Zwischen den 1950er und 1970er Jahren war die Friedensforschung ein normatives und interdisziplinäres Feld, das sich auch als Zukunftsforschung verstand. Umgekehrt verstand sich allerdings die Zukunftsforschung nicht notwendig als Friedenstheorie: Sie war bereits Ende der 1940er Jahre in Amerika entstanden, vor allem in Think Tanks wie etwa die Rand Corporation, wo sie Wissenschaft, Wirtschaft, Militär und Politik verzahnte. Im Laufe der Zeit untersuchte sie unter anderem, welche »futuribles« es geben könne, welche eine gewollte und gestaltbare Zukunft sei und mit welchen wissenschaftlichen Kenntnissen, technischen Mitteln und politischer 18 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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Expertise diese realisierbar sei (de Jouvenel 2000, 55; Jungk 1969; dazu Kreibich 2006; Seefried 2015a). 2 Sie entsprach hierbei ihrer Zeit: Technischer und wissenschaftlicher Fortschritt sowie eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Beschleunigung prägten die 50er, 60er bis Anfang der 70er Jahre und die in ihnen herrschenden Diskurse, die aber immer noch in die Gegenwart hineinreichen (vgl. Seefried 2015). In den 1970er Jahren und in einem ganz anderen Kontext haben einige Autoren den Zusammenhang von Friedensentwürfen und Zukunft thematisiert: Unter dem Dreiklang von Prognose, Utopie und Planung hat Georg Picht (1967; vgl. auch 1992) die Grundformen thematisiert, mit denen sich die Zukunft vergegenwärtigen lässt, ähnlich auch Wolfgang Huber mit der Trias Voraussage, Entwurf und Planung (1978). Die Versuche beider Autoren, die Friedensforschung für die Zukunft zu öffnen, bleiben genauso aktuell wie die kurz darauf formulierte Forderung von Hans Jonas, in Anbetracht der rasant gesteigerten Durchschlagskraft neuer Technologien Verantwortung auch für zukünftige Generationen zu tragen. In seinem 1979 erschienenen Buch Das Prinzip Verantwortung zeichnet er deutlich nach, inwiefern die Atomkraft oder auch die Gentechnologie unbegrenzbare Technologien sind, die unumkehrbare Effekte haben (vgl. auch Schües 2015); deshalb muss Verantwortung nicht nur die Gegenwart, sondern vor allem auch die Zukunft einbeziehen. Noch spezifischer fragte Bernhard Moltmann (2003) in einem singulär gebliebenen, aber unverzichtbaren Beitrag: »Was weiß die Friedensforschung von der Zukunft, und was sollte sie wissen?« 3 Er stellt heraus, dass Friedensforschung auch wieder Zukunftsforschung ist oder sein sollte, denn ihre Forschungsgegenstände haben einen zeitlichen Horizont, die als normative Vorgaben für die Zukunft reflektiert werden müssen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen hat Moltmann die Zukunft als »soziales Konstrukt« (vgl. Becker 1997), und nicht als »natürliche Gegebenheit« oder als »subjektive Bewusstseinsstruktur« (vgl. Husserl 1966) verstanden. Eine wichtige Rolle für die Friedensforschung spielte auch die Tatsache, dass der Blick in die Zukunft seit dem Ende des zweiten Weltkrieges maßgeblich von dem Zerstörungspotential von AtomBertrand de Jouvenel gründete 1960 in Paris die Organisation »futuribles – l’anticiation au service de L’action«, die von seinem Sohn Hugues de Jouvenel weitergeführt wird. https://www.futuribles.com/en/qui-sommes-nous/ 3 Siehe dazu auch den erhellenden Kommentar von Gertrud Brücher (2003). 2

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waffen geprägt wurde. Das Atomzeitalter, das 1945 mit dem Abwurf der Bomben von Hiroshima und Nagasaki einsetzte, führte nach Günter Anders zu einem »atomaren Totalitarismus« in »totaler Ohnmacht« in jeglichen Hinsichten, seien sie politischer, moralischer oder zeitlicher Art (1972, 17). Paradoxerweise war und ist diese Ohnmacht zugleich mit einer gewissen Allmacht verbunden: Wir leben in einem Zeitalter, in dem die Waffenkraft – und nicht einfach die Quantität der Waffen – zu einer ins Infinite gesteigerten schrankenlosen Macht geworden ist. Mit dem Atomwaffenbesitz sind auch kleine Staaten in eine allmächtige Position gekommen, die sich aber gleichzeitig und absurderweise in ihrer Omnipotenz auch selbst auszulöschen vermögen. Jede »atomare Macht ist Großmacht« (ebd., 15), denn jede kann mit einem Schlag alles auslöschen. Das allmächtige Drohpotential liegt hierbei im futuristischen Konjunktiv. Die Erpressung ist auch ein Verweis auf die Zukunft, in der der Erpresser auch sich selbst der Auslöschung unterwerfen würde. Allerdings war in Bezug auf die Atomwaffe nicht nur Omnipotenz mit Ohnmacht gepaart, auch die Zeit wurde eine andere, denn von nun an lebten wir nach Anders als »Gerade-noch-nicht-nichtseiende«. »Werden wir noch leben?« fragten wir von nun an als Apokalyptiker (Ebd., 93.). Die Atomdrohung betrifft den Umschlag von der Endzeit (und die Hoffnung, sie möge endlos werden) in ein Zeitende, das selbst die Möglichkeit der Zeit vernichtet – als ein Nichts, das nicht zu denken ist. Jeder Atomtest, jede Atomexplosion affiziert nicht nur räumliche Nachbarn, sondern die nächsten Generationen. Diese sind längst »angekommen«, da sie bereits von uns abhängen und in unseren Verfügungs- und Verantwortungsbereich geraten sind (vgl. ebd., 95; Jonas 1979). Mit Anbruch des atomaren Zeitalters geht es entsprechend nicht mehr um Waffen, Verhandlungen oder Friedensveranstaltungen in einer bestimmten politischen Situation, sondern politische Aktionen und philosophisches Denken finden umgekehrt innerhalb der atomaren Situation statt. Wenn sich aber jeder Beitrag, jeder Gedanke strikt an die Bewusstmachung hielte, dass wir in der atomaren Situation, also unter dem Verdikt des Gerade-nochnicht-nichtseiend stehen, dann würde die Erfahrung der eigenen Sterblichkeit immer derjenigen gleichen, die im Krieg vorherrscht. Doch scheinen Menschen noch immer zwischen Noch-Nicht-Tot im Krieg und Schon-Jetzt-Sterben im Frieden zu hängen, wie Schües in ihrem Beitrag anmerkt. Die Aufarbeitung der zeitlichen Perspektiven unter nuclear con20 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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dition(s) 4 ist ein von Günter Anders, Hans Jonas und Dieter Henrich (1990) eröffnetes Forschungsfeld, das weiterhin vertieft werden muss. Ein wesentlicher Aspekt dieser Perspektive lag bereits während des kalten Krieges in der paradoxen Verschiebung der Bedrohung durch ihre Erhöhung. Da es in einem von der Kernwaffentechnik beherrschten Zukunftsszenario keine Aussicht gab und gibt, einen Atomkrieg zu überleben, wie 1955 federführend Bertrand Russell in der bekannten Russell-Einstein-Erklärung formulierte und damit den Grundstein für die Pugwash-Konferenz legte, galt es, ihn lieber zu verhindern (Russell, Einstein 1955; dazu Neuneck, Schaaf 2007). Die Friedensforschung konzentrierte sich weitgehend auf reaktive Muster einer Abschreckungsdoktrin. Als 1945 die Siegermächte die Vereinten Nationen gründeten, geschah dies unter dem Slogan »Nie wieder Krieg unter den Völkern!«. Seitdem setzten Politiker und Wissenschaftler auf Frieden durch Abschreckung oder »Aufrüstung bei gleichzeitiger Rüstungskontrolle«, seitdem hat die Welt viele kriegerische Auseinandersetzungen und Kriege erlebt und der Frieden wurde zugleich utopisches und praktisches Zukunftsprojekt. Auf grausame und verstörende Weise reproduzieren Terrorakte und besonders Selbstmordanschläge, die jederzeit und an jedem Ort passieren können und von Menschen ausgeübt werden, die selber Opfer der eigenen Gewalt sind und vor dieser Selbstauslöschung nicht zurückschrecken, die Struktur der atomaren Bedrohung. Ihre Zerstörungskraft ist zwar mit dieser nicht vergleichbar, aber die Zeitstruktur einer unmittelbaren Bedrohung, die ausmacht, dass jeder und jede – trotz der fast nichtigen Wahrscheinlichkeit, dass dies wirklich geschieht – in einem Zustand des Noch-Nicht-Opferseins versetzt, ist ihr ähnlich. Auch das Spannungsverhältnis zwischen Ohnmacht und Allmacht bezeichnet sowohl die Haltung der Terroristen selber, wie auch ihre Beziehung zu denjenigen, die sie mit sich in den Tod reißen. Die Friedensforschung wird auch hierauf reagieren müssen; ihr Problem ist oder könnte sein, dass sie zum Reagieren verdammt ist und dass sie das subjekthafte Agieren und die Gestaltungskraft womöglich bereits abgegeben hat. Ähnliches gilt für den absolut

In diesem Zusammenhang wurde eine Arbeitsgruppe nuclear condition(s), im Rahmen des Vereins Janus an der Technischen Universität Darmstadt gegründet. Der Blog unter dem Titel »nuclear philosophy«, initiiert von Anne Harrington, Matthias Engler und John Downer, bringt kritische Analysen und Diskussionen zusammen. http:// blog.nuclearphilo sophy.org/

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asymmetrischen Terror von Drohnen, die überall und aus dem Nichts zuschlagen können und bei denen das Gefühl der Allmacht nur kurzfristig und illusorisch auf der einen Seite herrschen kann. 5

Rückbezug auf die Gegenwart und auf die Bewältigung der Vergangenheit Gerade in Bezug auf solche Erfahrungen, wenn auch nicht nur, bedürfen Zukunftsentwürfe im Sinne von Prognosen, Utopien und Planungen des Rückbezugs auf die Gegenwart und auf die Sicht der Vergangenheit. Diese verdienen eine tiefere Analyse. Nicht nur Reinhart Koselleck (1979, 29 f.) beobachtete, dass der Glaube an eine Prognose oft auch heißt, die Gegenwartssituation zu verändern. Insofern ist die Prognose bereits ein Machtinstrument, das die Formulierung von Verträgen oder Handlungsabsichten übersteigen vermag. Auch unter dem Vorzeichen einer Betonung der Gegenwart und der Vergangenheit wurde in den 70er Jahren eine eher kritische Friedensforschung etabliert und die Verbindung mit der Zukunftsforschung brüchig. 6 Die Kritik war, dass der Krieg nur als Störung verstanden wurde, die aufgehoben werden sollte, aber dass der status quo und die gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen dabei unangetastet blieben. Deshalb wurde die Forderung erhoben, die Vergangenheits- und Gegenwartsstrukturen mit einzubeziehen. Johan Galtung veröffentlichte sein einflussreiches Buch Strukturelle Gewalt (1975), feministische Autorinnen wie Maria Mies und Vendana Shiva beklagten ausbeuterische patriarchale Wirtschaftsstrukturen (1993), Ansätze eines emanzipatorischen, sich zivilgesellschaftlich entwickelnden Friedensmodells wurden zum Beispiel von Robert Jungk (1970) entworfen, aber auch von Johan Galtung, der bereits erwähnt wurde. Ihre Vertreter hatten Verfolgungserfahrung, eine »linke« Sozialisation und waren Teil einer Protestkultur. Unter dem Stichwort »Ökologisierung« wurde Wachstumskritik geäußert und post-materialistische Leitbilder verkündet. Spätestens Ende der 70er Jahre geriet das Legitimierungs- und FortschrittsZu einer »Ethik im Drohnenzeitalter« siehe Brücher (im Druck). Für die Zukunftsforschung diskutierte Bart von Steenburgen 1970 ein Auseinanderbrechen von kritischer und etablierter Zukunftsplanung (Angemerkt in Seefried 2015, 223).

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modell einer Friedensforschung als Zukunftsforschung in eine Krise. 7 Die Friedensforschung wurde komplexer: Vergangenheit, Konfliktforschung, Wirtschaft, Gerechtigkeit, Menschenrechte und all ihre Variationen wurden als konzeptionelle Konfliktfelder in eine sich als interdisziplinär, empirisch und auch theoretisch verstehende Friedensforschung einbezogen. Friedensethische Ansätze der Verantwortung, rechts- und vertragstheoretische Konzepte und friedensphilosophische Überlegungen konkurrieren seitdem mit technischwissenschaftlichen und planerisch-strategischen Ansätzen, etwa auf der Basis von kybernetischen Steuerungsmodellen, wie sie der Friedensforscher Karl Wolfgang Deutsch vorführte, auf den sich auch Simon Koschut in seinen Ausführungen über die Sicherheitsgemeinschaft bezieht. Zivile Konfliktbearbeitung als Forschungs- und Praxisfeld der Friedensforschung zu Beginn der 1990er Jahre kann »als Ausdruck einer gemeinsamen Suchbewegung nach angemessenen Antworten auf die weltweite Zunahme innerstaatlicher Konflikte nach dem Ende des Ost-West-Konflikts« verstanden werden (Debiel, Niemann, Schrader 2011, 315). Diese unterschiedlichen Antworten wiederum hatten intensive Debatten über die Legitimität von militärischen Interventionen zu Friedenszwecken zur Folge (Schlotter, Wisotzki 2011, 23 f.). War die Diskussion zur »Vergangenheit« und »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland eher auf die traumatischen Ereignisse des Ersten und besonders des Zweiten Weltkrieges gerichtet, so haben sie eine Aufarbeitung der Vergangenheit und ihre dazugehörigen Diskussionen hin zu vielfältigen Themen und Institutionalisierungen gedrängt, die friedenspolitisch von unschätzbarer Wichtigkeit sind. Ein Beispiel ist hier die wichtige Rolle, die besonders seit dem Einsatz von Wahrheitskommissionen zur Überwindung des Apartheidregimes in Südafrika ab 1990 die Frage der Vergangenheitsbewältigung als Bedingung des Friedens spielt. Als Alternative sowohl zu einer allgemeinen Amnestie, die den Übergang zu einer neuen Zeit ohne Zusammenbruch des ganzen Systems ermöglichen soll, wie auch zu einer strafrechtlichen Verfolgung, die entweder sehr selektiv vorgeht oder eben einen solchen Zusammenbruch zu bewirken droht Die vom Club of Rom initiierte und von der Volkwagen-Stiftung finanzierte Studie »Die Grenzen des Wachstums« gilt als Ur-Studie der Nachhaltigkeitsentwicklung (Meadows et al. 1972, 2016; siehe auch https://www.nachhaltigkeit.info/artikel/ meadows_u_a_die_grenzen_des_wachstums_1972_1373.htm)

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– und darüber hinaus hauptsächlich täterzentriert bleibt – werden unterschiedliche Formen der »transitional justice« praktiziert und analysiert. Sie sollen eine »Zeitumkehrung«, wie es Julia Viebach in diesem Band nennt, der Vergangenheit und somit eine Vergangenheitsbewältigung als Voraussetzung für einen zukünftigen Frieden ermöglichen. Damit verliert die Friedensforschung nicht ihren Zukunftsbezug. Sie verbindet ihn aber mit einer stärkeren Einbindung der Vergangenheit, die aufgearbeitet werden soll, in der aber auch Ressourcen für diese Ausarbeitung gefunden werden können, sowie mit der Gegenwart als dem Moment, in dem der Übergang von Kriegen und bewaffneten Konflikten, Terror und vielfältigen kollektiven Verletzungen hin zu einem Prozess der Friedensbildung gestaltet werden kann und muss. Darin findet die Zeitlichkeit des Friedens ihre ganze Entfaltung. Sie gilt es noch zu untersuchen, weit über die Beiträge des vorliegenden Bandes hinaus, die nur einen Impuls dazu geben können. Einige Beiträge und Vorüberlegungen zu diesem Band Zeit und Frieden wurden während des Kolloquiums »Alles hat seine Zeit – auch der Friede? Friedenstheorien und ihre Zeit- und Zukunftskonzeptionen« diskutiert, das vom Sprecher*innen-Team des Arbeitskreises Theorie der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung (AFK) Julika Bake, Andreas Bock und Christina Schües konzipiert und organisiert worden war. Die Tagung fand zwischen dem 8. und 10. 11. 2012 in Augsburg statt. Wir danken der Deutschen Stiftung Friedensforschung (DSF) für die finanzielle Unterstützung dieser Tagung. In den Diskussionen wurde sehr eindrücklich deutlich, wie schwierig, aber auch wie wichtig die Diskussionen um das Verhältnis von Zeit und Frieden sind. Deshalb war uns sehr daran gelegen, dieses Thema weiterzuverfolgen und nun einige Ergebnisse in die Öffentlichkeit zu bringen. Wir danken besonders Andreas Bock für seine Impulse und Anregungen, um diesen Band auf den Weg zu bringen. Für den genauen Blick des Korrekturlesens danken wir Marie Claes, für die redaktionelle Unterstützung und umsichtige, auch geduldige Betreuung, Lukas Trabert und den Mitarbeiter*innen vom Verlag Alber. Wir freuen uns sehr, mit diesem Band die Reihe Friedenstheorien fortzusetzen.

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Sektion 1: Zeitlichkeit in der Geschichte des Friedensdenkens

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Gertrud Brücher

Gegenwärtigkeit Friedensethische Temporalisierungen

1.

Widersprüche im Denken von Zeit und Frieden

Die Bedeutung von Zeitkonzeptionen für Begriff und Wirklichkeit des Friedens in einer vernetzten Welt herauszuarbeiten, wird heute durch die Phänomene der Beschleunigung, der Gleichzeitigkeit und Synchronisierung nahe gelegt. Diese Entwicklung wird überwiegend als Verlust von Übersichtlichkeit und Gestaltungsfreiheit, wenn nicht gar von Zukunftsfähigkeit kritisiert. Für Friedenstheorie und Friedensethik liegen in dieser Entwicklung jedoch auch ungeahnte Chancen der Auflösung eines Widerspruchs, der friedenswissenschaftlichen Expertisen immer wieder ihre Plausibilität und somit ihre gesellschaftlichen Einflussmöglichkeiten nimmt. In Widerspruch stehen unverzichtbare ethiktheoretische Axiome auf der einen Seite und unvermeidliche moralische Konsequenzen der modernen Temporalstruktur auf der anderen Seite: Axiomatische Bedeutung haben das Instrumentalisierungsverbot und Immunitätsgebot zu, insofern ein menschenrechtsgestützter Begriff des Friedens den Primat nichtgewaltsamen Konfliktaustrags beibehalten will. Zugleich sehen sich mit der Friedensproblematik befasste Wissenschaft und Forschung gezwungen, am moralisch verstandenen modernen Temporalschema festzuhalten. Und dies bedeutet: Die normativen Potenziale liegen bei der zukunftsmächtigen Gestaltbarkeit der Weltgesellschaft. Das Gute und Bessere ist immer auf Seiten der Zukunft zu finden; der Friede wird zum Zukunftsprojekt. Und die Gegenwart, die einzige Operationsbasis für Peace-Building-Projekte, schrumpft auf einen Punkt zusammen, auf einen Schnitt zwischen (schlechter) Vergangenheit und (guter) Zukunft. Als bloße Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft besitzt die Gegenwart keinen Eigenwert. Sie bezieht Sinn und Bedeutung aus den Operationen der Abgrenzung von der Vergangenheit 31 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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und aus den Operationen der Zukunftsprojektion. Gegenwart ist folglich Tat, Zäsur, Bruch, Revolution (Luhmann 1997, 997 f.). Damit wird der Friede zum Projektionsraum, zum Idealtypus einer zu schaffenden guten Gesellschaft. Er ist die Trias von Prognose, Utopie und Planung (Picht 1966, 1980), von Voraussage, Entwurf und Planung (Huber 1973), von Diagnose, Prognose und Therapie (Galtung 1998). Innerhalb der Friedens- und Konfliktforschung werden theoriebezogene Fragen nach Zeit und Frieden deshalb vornehmlich mit der Bestimmung des Verhältnisses von faktischem und potenziellem Wissen über die Zukunft beantwortet. Erst dieser Fokus ist nach dem Urteil Moltmanns (2003, 107) über die einschlägige Literatur in der Lage, den Stellenwert der Zukunft als für diese Forschungsrichtung konstitutive Bedingung angemessen zu reflektieren. Es geht um den methodischen Status der jeweiligen Antizipationen von Zukunft (Huber 1973, 12). 1 Der Mensch aber begegnet als konkret Einzelner nur in der Gegenwart. Eine entwertete Gegenwart entwertet den konkreten Menschen. Dieser wird im Lichte jener Funktionen wahrgenommen, die temporale Perspektiven der Vergangenheitsbewältigung oder der Zukunftsgestaltung zu erfüllen haben: Die Vergangenheit dient der Externalisierung alles dessen, was abgelehnt wird. Der Mensch wird zum Exponent einer moralisch-zivilisatorisch zurückgebliebenen Zeit. Und im Rahmen der Zeitperspektive gegenwärtiger Zukunft wird er zum Instrument für Zwecke der Zukunftsgestaltung, zum Teil eines Projekts, zum Menschenmaterial. 2 Ein am Zukunftsprojekt idealen friedlichen Zusammenlebens ausgerichtetes Denken ist konstitutiv auf die Instrumentalisierung des konkreten Menschen für die guten Zwecke globalen Friedens angewiesen. Das Ideal aber wird von seinem materialethischen Kern her ausgehöhlt, wenn der friedensethische Imperativ Kants (1968, 429), den Menschen nicht zum bloßen Mittel eines Zwecks machen zu dürfen, über Bord geworfen werden muss. Die zentrale Frage lautet folglich: Wie müsste eine Friedensethik aussehen, die den einzelnen Menschen ernst nimmt und nicht auf ein Sinnkonstrukt reduziert? Angesichts dieser Herausforderung lohnt die Beschäftigung mit Siehe zu den historischen Einwänden gegen prognostische Methoden angesichts einer unbekannten Zukunft vor allem Koselleck (1984/85). Kritisch zum kategorialen Rang der Zukunft im Friedensverständnis Brücher (2003, 117 f.). 2 Zur Konsequenz für den Gedanken der Menschenwürde siehe Brücher (2004). 1

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einer friedenswissenschaftlich wenig beachteten interdisziplinären Forschungsrichtung, die veränderte Temporalstrukturen beschreibt. Was sich hier abzeichnet, betrifft nichts Geringeres als die Fundamente, auf denen das zeitgenössische Friedensdenken ruht. Diese werden erschüttert, wo der Akzent vom Disponieren über die Zukunft zum Disponieren über die Gegenwart wechselt. Ein antizipatorisches zukunftsorientiertes Friedensverständnis sieht sich in der globalisierten Welt nämlich mit dem Problem konfrontiert, dass kulturell und religiös unterschiedlich orientierte Akteure mit ihren Entscheidungen in Simultaneität ganz unterschiedliche Vorstellungen eines friedensförmigen Idealzustandes antizipieren. Ausgehend von der Beschleunigungsthese müssen Sinn und Bedeutung von Koexistenz noch einmal in einer neuen Weise diskutiert werden. Inwieweit dieses Phänomen der Zeitbeschleunigung für den Frieden relevant ist, lässt sich allerdings erst in der Gegenüberstellung mit bisherigen Bestimmungen des Verhältnisses von Zeit und Frieden erkennen. ›Bisherig‹ bedeutet dabei nicht vergangen und inaktuell. Davon zeugen zivilisierungstheoretische Ansätze, die Anschlussmöglichkeiten an den ontologischen Friedensbegriff von Augustinus suchen. Sie machen mehr noch als die ungebrochene Kontinuität des kantischen Rechtspazifismus deutlich, wie Altes im Neuen fortlebt. Auch eschatologisches und apokalyptisches Denken, die in ihrer Friedensrelevanz kaum in Zweifel stehen, setzen sich in immer wieder neuen Modellen und Semantiken fort. Zeit wird gewöhnlich in den mit der Friedensproblematik befassten Disziplinen als Veränderlichkeit und Wandel verstanden, wobei letztere mit dem Vorzugswert Frieden zusammenzufallen scheinen. Konstanz und Wandel, Statik und Dynamik, Prozess und Struktur bilden den selbstverständlichen kategorialen Rahmen friedenswissenschaftlicher Expertisen. Dieses implizit mitgeführte Wissen, dass Zeit Veränderlichkeit ist und infolgedessen ein zeitgemäßer Friede in der Offenheit für Prozesse sozialen Wandels bestehe, ist zu kurz gegriffen. In Geschichts- und Sozialwissenschaften ist heute die Rede von sozialer Zeit. Zeitvorstellungen korrelieren mit der Gesellschaftsstruktur. 3 Betrachtet man die einschlägigen Analysen des Zeitphänomens, dann fällt die Neuorientierung in der Fragestellung auf. Das Interesse gilt weniger der Zeit als ein qua Veränderlichkeit und Wandel hin3

Als Klassiker gelten Koselleck (1979); Luhmann (1981).

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reichend bekanntes, mit sich identisches Phänomen. Zunehmend verlagert sich der Fokus auf die Frage nach den Unterscheidungen, mit denen Zeit konstituiert wird. Erst jetzt können die verschiedenen Friedensbegriffe als Spiegel unterschiedlichen Zeitempfindens bewusst werden. Um in dieser Richtung weiterzudenken, müsste der historische Vergleich um eine systematisch-philosophische Analyse ergänzt werden, die dem Spezifischen von vormoderner, moderner und postmoderner Temporalisierung im Blick auf daraus erwachsende Friedensvorstellungen auf den Grund gehen will. Über eine rein ideengeschichtlich-philosophische Studie hätte eine so entfaltete Perspektive darin hinauszugehen, dass die umfangreichen soziologischen Analysen zum Zusammenhang von Zeitsemantik und Gesellschaftsstruktur mit berücksichtigt werden. Es geht um verschiedene Arten der Verhältnisbestimmung von Vergangenheit und Zukunft, deren Bedeutung für den Friedensgedanken bislang unterschätzt wird. Ein solches Problembewusstsein distanziert sich von einem ontologischen Zeitbegriff und wendet sich einem operativen und differenztheoretischen Begriff zu, der Zeitdimensionen thematisiert. 4 Zeit erscheint jetzt als Arrangier- und Disponierraum, der verschiedene Möglichkeiten der Verfügung über Zeithorizonte enthält. 5 Hinter diesen perspektivisch gebrochenen Zeitbegriff kann nicht mehr zurückgegangen werden. Wenn nicht länger von der Zeit, sondern vom Verfügen über Zeithorizonte gesprochen wird, dann treten die Unterschiede im Denken und Machen des Friedens zu Tage. Das Disponieren über Zeit wird als Friedenskriterium, als Kriterium der Einflussnahme auf Krieg und Frieden sichtbar. So steuert das antike Axiom der Ewigen Wiederkehr des Gleichen auf einen Fatalismus zu, der den Wechsel von Krieg und Frieden als Teil der kosmologischen Bewegung von Werden und Vergehen hinnimmt. 6 Demgegenüber bildet das Mittelalter seit Augustinus ein Temporalbewusstsein heraus, das im Bereuen von Verfehlungen in gewisser Weise über Vergangenes verfügen lässt und damit Möglichkeiten des Lernens aus der Geschichte bereitZur soziologischen Literatur siehe Rosa (2005); Nassehi (2008). Interessant sind besonders die philosophischen Implikationen dieses Verfügens. Siehe dazu Gehring (2005, 2007), bezüglich der Gewaltproblematik Gehring (1999). 6 Zu Krieg und Frieden bei Plato und Aristoteles siehe Ricken (1995). Mit der Zeitkonzeption verbunden ist das Problem der Contingentia futuris, des Umgangs mit konkretem Nichtwissen über künftige Ereignisse angesichts eines Wissens um prädestinierte Zeit. Siehe zu Aristoteles’ Text de Interpretatione Frede (1970). 4 5

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stellt. 7 Die Moderne knüpft hier an, indem sie diesem Könnensbewusstsein neue Potentiale des Disponierens über die Zukunft hinzufügt. Historisches Wissen dient nunmehr der Rekonstruktion von ursächlichen Bedingungen einer ungerechten und unfriedlichen Gegenwart, die zu überwinden Ziel der Zukunftsgestaltung wird. Über die Möglichkeit des Lernens aus der Geschichte hinaus werden friedensprogrammatische Anstrengungen denkbar, die ein »Machen« des Friedens (Senghaas 1997) in Aussicht stellen. Diese an Zukunftsgestaltung ausgerichtete Zeitkonzeption bleibt an aufklärerisches und geschichtsphilosophisches Fortschrittsdenken gebunden. Sie tendiert zu einem Denken der Synchronisierung, das wider alle kolonialen Erfahrungen am Axiom der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen festhalten lässt (Bloch 1977). Angestrebt wird die nachholende Entwicklung zivilisatorisch zurückgebliebener Kulturen, die Angleichung an das Niveau der sozio-ökonomisch fortgeschrittenen Industrienationen. Seit dem Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wird ein verändertes Temporalbewusstsein konstatiert und mit Begriffen wie Spätoder Postmoderne umschrieben. Es sind Prozesse beschleunigten Strukturwandels (Rosa 2005, 333 f.; Geißler 1999; Baier 2000), die zur Formulierung eines temporalen Neologismus drängen. Dabei wird Beschleunigung als Problem, aber durchaus auch als Problemlösung eines verlorenen Fortschrittsglaubens und misslingender Projekte der Synchronisation verstanden (Nassehi 1994; 2008, 21 f.). In evolutionstheoretischer Sprache ausgedrückt, dienen Strukturen immer weniger der Selektion von Wahlmöglichkeiten, mithin der gemeinsamen Orientierung. Sie werden vielmehr zum Gegenstand permanenter Veränderung und fungieren somit als Variationsmechanismus (Luhmann 1997, 413 f.). Eine Weltgesellschaft, die sich mittels Strukturänderung stabilisiert, erhöht wechselseitige Erwartungsunsicherheit. In einem sozialen Feld mit extrem hoher Vernetzungsdichte können Vergangenheit und Zukunft schließlich nicht mehr als Differenz wahrgenommen werden. Sie beginnen ineinander überzugehen und hinterlassen das Empfinden kontinuierlicher Permanenz, einer änderungsresistenten Gegenwart. Jetzt gerät das Disponieren über die Gegenwart ins Zentrum wissenschaftlicher Aufmerksamkeit. Was bedeutet diese Entwicklung für philosophisches und wis7

Die Frage der Zeit behandelt Augustinus im XI. Buch der Confessiones.

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senschaftliches Bestreben, die Bedingungen des Friedens in einer zur Weltgesellschaft zusammenwachsenden Bevölkerung ausfindig zu machen? Bislang werden Beschleunigung, Komplexität und Gleichzeitigkeit mehr als Probleme betrachtet, die mit den theoretisch-praktischen Mitteln der klassischen Moderne zu lösen sind. Gegen Entdifferenzierungsprozesse, die Vergangenheit und Zukunft in der Rasanz einer zunehmend beschleunigten Praxis verschmelzen lassen, werden Maßnahmen der Entschleunigung empfohlen. 8 Die intakte Differenz zwischen einer abzulehnenden Vergangenheit und einer zu erstrebenden Zukunft gilt geradezu als Friedensbedingung. Folglich wird angenommen, dass erst die Wiedervergewisserung von temporalen Orientierungsräumen der Abgrenzung und der Wertschöpfung verlorene Gestaltungschancen zurückzuerobern vermag. Im Ergebnis heißt dies nichts anderes, als der strukturellen Verunmöglichung von Planung durch mehr Planung entgegenzuwirken. Solche Vorschläge münden in einen friedenstheoretischen und -praktischen Fatalismus, wenn Erfolge ausbleiben. Das Illusionäre einer kybernetischen Modelllogik, die Gesellschaft mit einer Systemtheorie trivialer Maschinen beizukommen sucht, macht sich in einer Steuerungsresistenz hochkomplexer weltgesellschaftlicher Strukturen bemerkbar. Dazu zählen in erster Linie politisch ambitionierte zivil-militärische Projekte der Intervention in gewachsene kulturelle und gesellschaftsstrukturelle Formationen, die bislang weniger zu rechtsstaatlichen und demokratischen Verhältnissen und mehr zu einer innerhalb internationaler Organisationen und Konferenzen gepflegten politisch korrekten Rhetorik geführt haben. 9 Demgegenüber setzen Modelle, die im Anschluss an die Luhmannsche Theorie autopoietischer Systeme 10 Eigendynamiken betonen, völlig andere friedenswissenschaftliche Akzente. 11 Beschleunigung ist mitnichten bloß falsches, den Frieden gefährdendes Handeln, das durch ein anderes, eben entschleunigendes, Handeln aufzuhalten ist. Sie gleicht vielmehr einer beliebig zurechenbaren Operation, die erst dann als HanSiehe zu diesen Ansätzen den Beitrag von P.-F. Weber in diesem Band. Zur Dialektik von Be- und Entschleunigung siehe ausführlich Rosa (2005). 9 Bonacker (2010, 215) spricht sogar von »Entkoppelung zwischen symbolischer Normbestätigung und realer Praxis«. 10 Grundlegend Luhmann (1984; 1997). 11 Das gilt für die Konzeptionalisierung von Präferenzcodes (Frieden, Gerechtigkeit, Gewaltfreiheit, positiver Konflikt), siehe dazu Brücher (2002). Es gilt auch für Reflexionscodes (Gewalt, Eskalation, negativer Konflikt), siehe Brücher (2012). 8

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deln in Erscheinung tritt, wenn ein für ungünstige Entwicklungen haftbar zu machender Adressat ausfindig gemacht werden kann. Genau dies ist aber in hochkomplexen Systemen erschwert, weil sich das Delegieren von Verantwortung zum strategischen Prinzip entwickelt hat. Die Zurechnung von Handlungen auf einen bestimmten Akteur bekommt unter diesen Bedingungen die Qualität der willkürlichen Kausalattribution, schlimmstenfalls der Konstruktion von Sündenböcken. 12 Der innerkybernetische Paradigmenwechsel von Steuerung zur Steuerungsresistenz lässt die temporale Reflexion nicht im Appell kulminieren, verlorene Kompetenzen der Gegenwartsdiagnostik durch eine bessere Bestimmung des Verhältnisses von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont 13 zurückzugewinnen. Um sich aus dem »lähmenden Widerspruch zwischen apokalyptischen Szenarien und Fortschrittsoptimismus« (Moltmann 2003, 106) zu befreien, bedürfte es eines Verständnisses von Gegenwart, das mehr impliziert als Kompetenzen der Vermittlung von Erfahrung und Erwartung. Denn die friedenswissenschaftliche Akzentuierung der zukunftsbezogenen Zeitdimension und damit ein Ausblenden der friedensethischen Axiome verdankt sich auch Vorverständigungen, die das Neue der modernen säkularen Semantik überbewerten lassen. So gelten die beiden klassischen Varianten der Zukunftsprojektion, die Eschatologie und die Apokalyptik allenfalls als sozialpsychologisch bedenkliche Befindlichkeiten übersteigerter Erwartungen und Befürchtungen. Da heilsgeschichtliche und endzeitbezogene Orientierungen seit der Aufklärung als Brutstätten für Kreuzzugsideen gelten, bedürfte es einer eingehenden Beschäftigung mit Studien, die ein Fortleben in heutigen politisch-gesellschaftlichen Semantiken meinen nachweisen zu können (Bolz/Reijen 1998; Schipper/Plasger 2007). 14 Vor diesem Hintergrund sind Vertrauen und Verantwortung als Friedenskonditionen ganz neu zu begründen. Siehe dazu Delhom (2007); Hirsch (2007); Brücher (2015). 13 Die Begrifflichkeit geht auf Kosellek (1979, 349 f.) zurück. Auf der Suche nach einer teleologischen Qualität friedensförmiger Fernorientierung verweist Moltmann (2003, 97) auf Rinderspacher (1997) und Elias (1988). 14 Friedensrelevant sind alle Formen moderner Heilserwartungen: Esoterik, Vergangenheits- und Schuldkultur, Cyberspace und apokalyptische Befürchtungen im Kontext der virtuellen Welten von Computerspielen. Siehe dazu die Beiträge in Bolz/van Rajen (1998). Apokalyptische Visionen leben auch im Urteil über die Aufstandsbewegungen in den arabischen Ländern fort (Abdel-Samad 2011). 12

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2.

Vergleichende Perspektiven vormoderner, moderner und postmoderner Temporalisierungen

Globalisierungsbedingte Phänomene einer beschleunigten Praxis stellen vor methodische Schwierigkeiten, wenn im Ununterscheidbaren noch unterschieden werden soll. Das gilt besonders für Forschung, die auf empirische Analysen und somit auf die Rekonstruktion von Ursache/Wirkungs-Verhältnissen angewiesen ist, um Politik und Öffentlichkeit über nachhaltige Strategien der Konfliktlösung, der Prävention und Friedenskonsolidierung informieren zu können. Deshalb erscheint die Zukunft als Produkt von Entscheidungen, und diese als Ursache zu bewirkender Wirkungen. Allein dies setzt die Annahme einer absoluten Zeit voraus, die heute durch die Relativitätstheorie in den Hintergrund getreten ist. 15 Zukunft ist nicht ein Zukunftsraum, in den hinein gehandelt wird und den es zu gestalten gilt. Sie wird vielmehr zur doppelten Sinndimension: Es gibt nicht länger die Zukunft, sondern nur eine gegenwärtige Zukunft oder eine zukünftige Gegenwart. Friedensprogrammatiken müssen in der Lage sein, die Komplexität von Zeitperspektiven zu berücksichtigen. Um friedensrelevante Temporalstrukturen der Handlungssysteme einbeziehen zu können, bietet sich eine Herangehensweise an, die ausgehend von der mathematisch-logischen Theorie der Form George Spencer Browns (1979) die Beobachtung von Beobachtungsweisen zur Grundlage komparatistischer Analysen macht. Ein Vergleich handlungsleitender temporaler Beobachtungsmodi scheint auf dieser Grundlage sehr wohl möglich, ohne die weitergehende Frage Jean Clams (2000, 312 f.) beantwortet zu haben, inwieweit die Axiome des Logikkalküls in den Kultur- und Gesellschaftswissenschaften fraglos übernommen werden können. 16 An die Stelle der kaum einhellig zu beantwortenden Frage, was Friede, Gerechtigkeit, Gewalt usw. sind, tritt die Frage, welche Unterscheidungen bestimmten BeNassehi (2008, 111–138) demonstriert die Koinzidenz natur-, kultur-, geistes- und sozialwissenschaftlicher Entdeckung der Relativität der Zeit insbesondere an Einstein, Mead und Whitehead. 16 Zu Diskussion und Rezeption siehe die beiden Bände von D. Baecker (1993, 1993a) »Logik der Form« und »Probleme der Form«. Das von Clam angesprochene ungeklärte Verhältnis von transzendentaler und protologischer Ermöglichungsbedingtheit bedarf der philosophischen Klärung insbesondere, wenn es um ethische Fragestellungen geht. Dazu Brücher »Ethik im Drohnenzeitalter. Zum Instrumentalisierungsverbot bei Luhmann und Kant«, i. V. 15

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zeichnungen von Frieden, Gerechtigkeit usw. zugrunde liegen. Diese differenztheoretische Art der Herangehensweise kann in heterogenen Streit auslösenden Friedensentwürfen gemeinsame Logiken erkennen lassen. Da es sich hierbei um Logik und nicht um Moral handelt, wird der Versuchung bloß deklaratorischer Neufassung des Weltethos (Küng 1996) widerstanden. Für weltgesellschaftliche Konfliktzonen wie den westlich-säkularen und den moslemischen Kulturkreis, aber auch für innerislamisch sunnitisch-schiitische bzw. islamisch-säkulare Konflikte liegt hierin zweifellos ein Gewinn. Religiöse und säkulare Formen der Vergegenwärtigung des Verhältnisses von Zeit und Frieden weisen nämlich sehr viel geringere Unterschiede auf, wenn man streng auf die Logik der Form, und das bedeutet auf die Logik des unterscheidenden Bezeichnens achtet. Der scharfe Gegensatz, den ein Vergleich von komplexen kulturellen Semantiken – insbesondere Koranexegese vs. Aufklärungstext – nur allzu rasch meint erkennen zu lassen, sieht sich in einer Darstellung abgeschwächt, die identitätsstiftende Formeln und starke Thesen auf die zugrunde liegende Logik hin untersucht. Eine solche Konzentration auf die Logik erinnert zudem an Gemeinsamkeiten der christlichen und islamischen Kultur im Aristotelismus (Larmore 1988). Noch immer wird für friedensgefährdende Konflikte eine Konstellation der Ungleichzeitigkeit verantwortlich gemacht. Um jedoch Akteure identifizieren zu können, die in verschiedenen Zeithorizonten siedeln, bedürfte es einer Beobachterposition jenseits sozialer Zeit. Erst aus der Warte einer objektiven Zeit ließen sich Akteure der »gegenwärtigen Vergangenheit« erkennen, die archaischen Traditionen und/oder Kampftechniken verpflichtet sind und ein Denken vertreten, das den »Wert der Ungleichheit« (Jäger 2010, 294) hochhält. Und nur aus der Warte einer objektiven Zeit gibt es Akteure der »gegenwärtigen Zukunft«, die politisch moderne Ziele im Sinne einer freiheitlich-demokratischen Kultur verfolgen. Die idealtypische Koinzidenz von technischem und moralischem Fortschritt lässt positive und negative Entwicklungen wiederum nur idealtypisch, als gelungene und noch nicht gelungene Zivilisierung, verstehen. Modernisierungs- und zivilisationstheoretische Deutungsmuster, die Zeitlichkeit mit Fortschritt in Richtung globaler säkular-westlicher Denk- und Lebensstile gleichsetzen, sehen sich durch überraschende Wahlsiege islamistischer Parteien in den arabischen Transformationsgesellschaften erneut Zweifeln ausgesetzt. Nicht nur das 39 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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Säkular/Religiös-Schema, auch die innersäkulare Unterscheidung evolutionärer und revolutionärer Arten gesellschaftlichen Wandels bleiben auf die Plausibilität von Großtheorien angewiesen. Neodarwinismus und Metaphysikkritik haben jedoch Evolutionstheorie und Geschichtsphilosophie so weit modifiziert, dass eine historische Richtung kaum noch erkennbar ist (Luhmann 1997, 413 f.). So stellt sich die Frage, was überhaupt verglichen werden kann, wenn der übergeordnete Deutungsrahmen wegbricht. Erst aus dem Blickwinkel universalistischer Theorien ließen sich komplexe kulturelle Strukturen auf abgrenzbare Idealtypen reduzieren. Was sich heute allein noch anbietet, ist ein Vergleich von Codes, von temporalen Unterscheidungen. Einander gegenüberzustellen sind aber nicht nur vormoderne (Zeit/Ewigkeit) und moderne (Vergangenheit/Zukunft) Schemata. Ein Vergleich, der die Logik der Form beachtet, wird innerhalb der vormodernen und der modernen Temporalstrukturen wiederum friedensrelevante Differenzierungen ausfindig machen. Es ist die Art und Weise, in der eine Unterscheidung gehandhabt wird, die handlungsrelevante Haltungen gegenüber Krieg und Frieden widerspiegelt. Nach Spencer-Brown (1971, 61 f.) ist die Handhabung von Codes entscheidend durch das re-entry bestimmt. Mit diesem Begriff ist eine Operation des Wiedereintretens der Unterscheidung in sich selbst und zwar auf einer der beiden Seiten der Unterscheidung gemeint: Nicht nur Sinn und Bedeutung einer Aussage, auch implizite Handlungsempfehlungen verändern sich je nachdem, auf welcher Seite einer temporalen Unterscheidung mit Bestimmungen angeschlossen wird, auf Seiten der Zeit oder der Ewigkeit, der Vergangenheit oder der Zukunft, der gegenwärtigen Zukunft oder der zukünftigen Gegenwart, der gegenwärtigen Vergangenheit oder der vergangenen Gegenwart. Von dieser methodologischen Plattform aus lässt sich erst verständlich machen, warum eine und dieselbe Zeitstruktur eine Gewalt delegitimierende und eine Gewalt legitimierende Variante ausgebildet haben. Da die verschiedenen Temporalstrukturen nicht nur nacheinander, sondern auch nebeneinander koexistieren, hat die Unterscheidung von vormoderner, moderner und postmoderner Codestruktur auch eine systematische Bedeutung. Der Vorteil eines Vergleichs von beobachtungsleitenden Codes liegt entgegen einem Vergleich von idealtypischen Strukturen, Kulturen, Ideologien oder Religionen auf der Hand, wenn es um die Gewaltfrage geht. Denn die Neigung zur Pauschalverurteilung kollektiver Identitäten beginnt unter weltgesellschaftlichen Bedingungen, zu 40 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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einer erhöhten Gefahr für den Frieden zu werden. Die Objektivität sozialwissenschaftlicher Erkenntnis wird seit Max Weber (1988, 190 f.) in Gedankenmodellen gesucht, die qua Wertideen objektive Vergleichsgesichtspunkte liefern sollen. Die stigmatisierende Vereinfachung ist also gleichsam Programm. Damit sehen sich gesellschaftliche Semantiken, die aus autochthonen machtaffektiven Gründen zum Pauschalurteil neigen, wissenschaftlich gestützt. Bei näherem Hinsehen verfehlt eine solcherart pragmatische Perspektivität bereits jene scheinbar eindeutig zur Gewalt neigende Lehre wie den historischen Anarchismus. Dieser wird zumeist mit gewaltaffirmativen Charakteren identifiziert, insbesondere mit Bakunin und Kropotkin. 17 Vertreter gewaltkritischer Varianten, wie der anarchistische Theoretiker und Praktiker Landauer, sind weniger bekannt; die Popularität Tolstois beschränkt sich auf dessen literarische Werke. 18 Die Frage, wo die Weichen für gewaltkritische und gewaltaffirmative Grundpositionen gestellt werden, gilt es heute für den durchaus vielschichtigen und kulturell uneindeutigen Islam neu zu beantworten. Die kommunikationsstrukturelle Vernetzungsdichte der heutigen Welt lässt es angesichts einer wachsenden Gefahr eskalierender Konflikte ratsam erscheinen, jeden zum differenzierten Urteil befähigenden Ansatz aufzugreifen und weiterzuentwickeln.

3.

Vormoderne Temporalisierungen

Der Augustinische ontologische Friedensbegriff wird gewöhnlich mit einem Ordnungsverständnis in Verbindung gebracht, das im Dauerhaften, Bleibenden, Verlässlichen die entscheidenden Bestimmungsmerkmale sehen lässt. Das Zeitschema tempus/aeternitas wird als Wertbeziehung interpretiert und mit dem Schema Veränderlichkeit/ Unveränderlichkeit auf eine Weise gekoppelt, die die zeitbedingten Präferenzen sichtbar macht. 19 Setzte die Vormoderne ihre ganze Hoffnung in etwas, das jenseits und unabhängig von den WechselfälZum Verhältnis von Ideen und Taten bei Bakunin, Kropotkin, Malatesta, Stirner, Proudhon, Tucker und Grave siehe Zokkoli (1976). 18 Landauers Schrift Die Revolution (2003) von 1907 geht auf Anregung Martin Bubers zurück. 19 Ordo ist bei Augustinus (1997, 553) als Gesetz einer Präferenzordnung verstanden, die auch den ungerechten Frieden noch als Frieden gelten lässt, denn: »Wie es also zwar ein Leben ohne Schmerz geben kann, aber keinen Schmerz ohne Leben, so gibt 17

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len des Lebens Bestand hat, so glaubt sich die aufgeklärte Moderne im Bewusstsein überlegen, dass erst die Bereitschaft zum Wandel einem sozialen Gefüge Frieden und Beständigkeit verleihe. 20 Achtet man hingegen auf den zeittheoretischen Anschlusswert, der für friedensdienliches Handeln gewählt wird, dann tritt die Unterscheidung von Beharrung und Wandel als epochemachende Differenz in den Hintergrund. Das Gebot, Frieden zu halten und friedlich zu sein, scheint sehr viel eher innerhalb des vormodernen kosmologischen Weltbildes abhängig vom re-entry auf der Seite des tempus, der Zeitlichkeit: Weil alles seine Zeit hat und damit ein von Zeit unabhängiges Sein nicht fassbar ist, gilt Augustinus auch der unvollkommene Friede als Frieden. Infolgedessen konkretisiert sich die »Ruhe der Ordnung« im Maßhalten, im Ausgleich und im Vermeiden von Extremen. Der Friede wird zur paradoxen Einheit von justitia, securitas, tranquilitas und caritas. 21 Er stellt den Handelnden vor die schwer zu lösende Aufgabe, zugleich gerecht, schützend, gewaltlos, gnädig und wohlwollend zu sein. Die hier zugemutete Überforderung findet ihren Ausdruck in der Paradoxie von Tötungsverbot und Gewissen als letzter Entscheidungsinstanz, aus der die praktische Lösung des bellum iustum entspringt. 22 Ausgehend vom selben Zeitschema stützt ein Beobachtungsmodus, der auf Seiten der aeternitas anschließt, ein Friedensverständnis, das den unvollkommenen, ungerechten Frieden nicht als Frieden anzuerkennen erlaubt. Denn Ewigkeit wird nun zum innerweltlichen Maßstab anwesender Idealität, von der im realen Leben auf unerträgliche Weise abgewichen wird. Die Form des re-entry fördert einen militanten Millenarismus, der zur Politisierung der Apokalypse drängt und zum bewaffneten Kampf aufrufen lässt. Apokalyptische Prophetie und soziale Protestbewegungen für Gerechtigkeit es auch einen Frieden ohne allen Krieg, niemals aber einen Krieg ohne irgendeinen Frieden […]« 20 In diesem Sinne sieht Henkel (2003, 143 f.) im zivilisierungstheoretischen Friedensmodell vorschnell, wie wir meinen, eine Weiterentwicklung der Civitas dei. 21 Janssen (1995, 229 f.) weist auf Elemente germanischer Tradition des mittelalterlichen Friedensbegriffs hin, interpretiert den paradoxen Charakter aber bloß als »Mangel an Eindeutigkeit« (Ebd., 231). Dagegen siehe Brücher (2002, 135 f.). 22 Augustinus richtet sich damit gegen das antike kriegerische Kulturideal der »pax romana« (Siehe Janssen 1995, 232). Anlass für die Ausarbeitung der Lehre ist die Eroberung Roms durch die Westgoten (401), die das Transitorische irdischer Reiche und die Notwendigkeit der situationsbedingten Relativierung des christlichen Gewaltverbots vor Augen führt (s. Siehe Stobbe 2010, 194 f.).

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und Güterverteilung begleiten die millenaristische Bewegung bereits um 1000. Im Rahmen dieser Endzeitstimmung findet der Aufruf Papstes Urban II, die Ungläubigen zu vernichten, Resonanz. Es geht um die letzte Schlacht der Guten gegen das Böse. 23 Im Gegensatz zum Gerechten Krieg, der als Entparadoxierung von Tötungsverbot und letztinstanzlichem Gewissen verstanden ist, beansprucht der vollends verzeitlichte Begriff der pax aeterna die Herbeiführung des »Reiches Christi« mit allen Mitteln. Erwartung des realzeitlichen Friedens und Angst vor dem Auftauchen des Antichristen distanzieren von der Friedensnorm des Maßhaltens und des Ausgleichs. Das vormoderne Zeitschema verliert seine sozialen Vorzüge, nachdem die Religionskriege gezeigt hatten, dass weder die paradoxe noch die politisierte Handhabung des Zeitschemas den Frieden zu sichern in der Lage gewesen waren. Alle Friedenshoffnungen richten sich jetzt auf die Säkularisierung.

4.

Moderne Temporalisierungen

Wenn in der Moderne die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft die Führung übernimmt, so tritt an die Stelle der providentiellen Geschichte der homo faber, der homo inventor. Mit Hilfe dieses neuen Menschenbildes werden Urteilsfähigkeit und Verfügungsgewalt auf die Zukunft ausgedehnt. Damit fällt die Moderne jedoch hinter die temporale Logik des Augustinus zurück und urteilt wieder über die Zeit. Sie tut dies aber nicht im Sinne des antiken Zeitbewusstseins. Dieses wird vielmehr ins Gegenteil verkehrt: Aus der absoluten Unverfügbarkeit und dem daraus resultierenden Fatalismus wird das moderne Postulat absoluter Verfügbarkeit und daraus folgenden Fortschrittsglaubens. Aufgrund dieser doppelten Verfügung über Vergangenheit (durch Vergangenheitsbewältigung) und Zukunft (durch Planung) kennt die Moderne nur den Typus politischer Apokalypse. Das bedeutet, es gibt keine in der temporalen Logik gründende gewaltkritische Haltung. Gewaltkritik muss ihre Gründe anderswoher beziehen, nicht aus der Zeit-, sondern aus der SachSiehe zur Kontinuität apokalyptischer Visionen durch die Jahrhunderte bis hin zum modernen Terrorismus Walther (1996; 1998). Zur Kontinuität in der islamischen Welt siehe Gerigk (2012). Zur apokalyptischen Schriftauslegung christlicher Fundamentalisten siehe Stobbe (2007).

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dimension von Sinn. Ihre Plausibilität bleibt abhängig von der Validität philosophisch-wissenschaftlicher Positionen. Die temporale Umorientierung vom Schema Zeit/Ewigkeit zum Schema Vergangenheit/Zukunft dient als Medium zukunftsbezogener Friedensaussichten allein deshalb, weil das Vergangene zum Inbegriff alles Unwahren, zum Ort von Vorurteilen und Irrtümern hatte werden können. Tradierte Kultur fungiert folglich als Rejektionswert, zu rekonstruierende Natürlichkeit als Akzeptionswert. Aufgrund des Axioms absoluter Verfügbarkeit tangiert das jeweilige zeittheoretische Arrangement den Friedensgedanken nur bedingt. Denn auf welcher Seite man auch immer mit Bestimmungen anschließen mag, es gibt keine der temporalen Logik geschuldete Präferenz für den nichtgewaltsamen Konfliktaustrag. Das gilt prinzipiell auch für den zentralen Gegensatz von dialektischer am Revolutionsgedanken orientierter Wandlungstheorie und einem Funktionalismus, der evolutionäre Prozesse sozialen Wandels betont. 24 Aber theoretisch gestützte Einstellungen gegenüber gewaltsamen und nichtgewaltsamen Formen der Enttraditionalisierung und der Konstruktion des Neuen spiegeln sich in der Art und Weise, in der über Zeithorizonte disponiert wird. Das re-entry auf Seiten der Vergangenheit lässt aus dem lernen, wovon sich die Gesellschaft abgrenzen will. Die Entdeckung von Rudimenten des überkommenen Schlechten führt zu Skandalisierungen als Mittel der Einleitung diskontinuierlicher Entwicklungen, aber auch von Gewaltbereitschaft. Der Friede wird nun zu einem Synonym für Macht. Er zeigt sich folglich nicht länger als paradoxe, sondern sehr viel eher als additive Relation. Es geht um die tatkräftige Herstellung aller Ermöglichungsbedingungen des Friedens, der Gerechtigkeit, Sicherheit, Gewaltlosigkeit, Gleichheit und Freiheit. Da der Akzent auf der Durchsetzungskraft und nicht auf der Vermittlung von Unvermittelbarem liegt, richten sich Friedensmotive in erster Linie auf politische Partizipation, die derjenigen Partei zum Sieg verhelfen soll, der die Lösung zentraler gesellschaftlicher Probleme zugetraut wird. Wir erkennen hier eine durchgehenZur Zeit des kapitalistisch-sozialistischen Systemantagonismus wurde dieser Polarität der Dritte Weg afrikanischer und asiatischer Gesellschaftsmodelle gegenübergestellt, die den Gegensatz von Bruch und Kontinuität ablehnten und damit die Grundlage für postmoderne Geistesströmungen legten. Siehe zur Diskussion über Evolution und Revolution der 60er Jahre Bühl (1970). Die militärisch gestützten liberalistisch legitimierten Just-Peace-Programmatiken kondensieren heute mit dem dialektischen Legitimationsdenken.

24

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Gegenwärtigkeit Gewaltaffirmatives re-entry re-entry auf Seiten von aeternitas

tempus

/

aeternitas

nur der vollkommene Friede ist Friede

Friede

Gewaltkritisches re-entry re-entry auf Seiten des tempus

tempus

/

aeternitas

auch der unvollkommene Friede ist Friede

Maßhalten

– Frieden im Kontext der politisierten Religionsmoral

– Frieden im Kontext der Religionsmoral

– Militanter Milleniarismus – Politisierung der Apokalypse

– Vermeiden von Extremen – Augustinus: Frieden als paradoxe Einheit von justicia, securitas, tranquilitas, caritas

– Letzte Schlacht der Guten gegen die Bösen

– Paradoxie von Tötungsverbot und Gewissen als letzte Entscheidungsinstanz

– Verzeitlichung der pax aeterna: Berechnung des Zeitpunktes, zu dem das »Reich Christi« kommt – Angst vor dem Auftauchen des Antichristen

– Entparadoxierung: Gerechter Krieg

de Linie, die sich auf dialektische, sozialdarwinistische oder zivilisationstheoretische Begründungsmuster stützt. Wenn das re-entry auf Seiten der Vergangenheit offensichtlich die politisierte Apokalypse beerbt und somit Gewalt legitimiert, so liegt der Gedanke nahe, dass ein re-entry auf Seiten der Zukunft in die Funktionsstelle der gewaltkritischen Version tritt. Diese Kontinuität ist intendiert, wenn sich nunmehr Lerninhalte auf den zu gestaltenden Aspekt vorgefundener Institutionen beziehen, die reformiert, aber nicht beseitigt werden müssen. 25 Kontinuität und evoluDiese friedenstheoretische Position findet sich programmatisch als »Si vis pacem para pacem« (Senghaas 1996) und im »Frieden mit friedlichen Mitteln« (Galtung

25

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Gertrud Brücher

tionärer Wandel reduzieren den Frieden auf Verfahrensmodalitäten, folglich mehr auf eine methodische Relation denn eine additive: Es geht um die Herstellung jener Bedingungen, die Verfahren der Normbegründung und -durchsetzung (Gerechtigkeit, Sicherheit, Gewaltfreiheit, Selbstverwirklichung) möglich machen. Die ganze Friedensmotivation aber richtet sich nach wie vor auf politische Partizipation, die wiederum die Funktion hat, die Macht derjenigen Partei zu stärken, der die Lösung der drängenden gesellschaftlichen Probleme zugetraut wird. Dabei liegt der Akzent auf dem Vertrauen in die Effizienz bestimmter Verfahrensweisen und insofern mittelbar auf der Durchsetzungskraft. Was die futuristischen Anschlussoperationen aber mit den dialektischen verbindet, ist die Leugnung der Paradoxie von Frieden (»friedlich sein«) und Gerechtigkeit (»Frieden machen«). 26 Diese sind in einer empirisch-analytischen, einer strukturfunktionalen oder kybernetischen Theorie vorab versöhnt, das heißt in eine Form gebracht, die erklärtermaßen dem Frieden zugutekommt. Das universalisierbare Sollen prozessualisiert sich in Reformen, im Marsch durch die Institutionen, in sozialen Bewegungen und den Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen. Dieses modernitätsspezifische Zeitschema verliert heute, wie ehedem das kosmologische Schema an der Schwelle zur Neuzeit, seine Vorzüge. Denn es wird zunehmend deutlich, dass weder die dialektische noch die futuristische Art der Verfügung über Zeitlichkeit den Frieden zu sichern vermögen. Mehr noch gelten die alternativen Formen des re-entry auf Seiten der Vergangenheit oder auf Seiten der Zukunft als überholt, nachdem das Ende von Systemantagonismus und atomarem Patt den ideologieträchtigen Gegensatz von evolutionären und revolutionären Methoden der gesellschaftlichen Umgestaltung nivelliert hat. 27 Recht besehen schwinden damit alle Hoffnungen, die seit der Aufklärungsepoche in das säkulare Problemlösungsdenken gesetzt worden waren. Zunehmend irrelevant werden Vergangenheit und Zukunft, Evolution und Revolution, Kontinuität und Diskontinuität als hand1998). Die gewaltkritische Einstellung ist jedoch situationsabhängig, weil nicht ethiktheoretisch, sondern empirisch-analytisch fundiert. Zum Pazifismus-Diskurs siehe Brücher (2008). 26 Dies ist in den Beiträgen des gleichnamigen Sammelbandes (Senghaas 2000) vornehmlich verstanden als ein auf die Mittelwahl nicht festgelegtes Herstellen gerechter Verhältnisse als Bedingung des Friedens. 27 Zur These vom Ende der Ideologien siehe Lütjen (2012).

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Gegenwärtigkeit

lungsleitende Gegensatzpaare und zurück bleibt zeitlich unvermittelte, gleichsam zeitlose Sozialtechnik. Als Wert geht der Friede nunmehr ganz in einer Just-Peace-Programmatik auf, die der globalen Durchsetzung evolutionärer Errungenschaften auf dem Wege der Revolution von Oben (»Peace-Building«, »Nation-Building«, Aufstandsbekämpfung) oder der Revolution von Unten (Unterstützung der Arabellion, Demokratieförderung durch Unterstützung von regionalen Aufständen) dient. Frieden fungiert nun als entdifferenzierte Relation und das heißt als ein Beziehungstypus, der seine Legitimation aus der Nivellierung jener Unterscheidungen bezieht, mit denen sich die Moderne einst gegen die Vormoderne abgegrenzt hatte. 28 Diese Tendenz wird durch eine Entwicklung vorangetrieben, die Luhmann als vollständige Umstellung der Gesellschaft von hierarchischer auf funktionale Differenzierung beschrieben hat. Da das absolutistische Prinzip nunmehr alle Funktionssysteme beherrscht, fehlt das widerständige Prinzip, das Totalitarismen etwas entgegensetzen könnte. Es sind Funktionscodes Macht/Ohnmacht, Haben/ Nichthaben, Recht/Unrecht, Gesundheit/Krankheit, Wissen/Nichtwissen, Bildung/Unbildung, die gesellschaftlich relevante Entscheidungen leiten. Keineswegs handelt es sich um moralische, gesamtgesellschaftlich geteilte Bewertungsstandards, insbesondere der Gerechtigkeit. 29

5.

Postmoderne Temporalisierungen

Zeitbeschleunigung, Unübersichtlichkeit, verlorener Fortschrittsglaube und die Verdrängung des verantwortlichen Subjekts durch Sachzwänge lassen Vergangenheit und Zukunft im aktuellen flüchtigen Ereignis verschmelzen. Jetzt wird die Verfügung über die Gegenwart zum temporalen Fokus ersten Ranges. Der Diskurs der Postmoderne konzentriert sich jedoch ganz auf die Rückgewinnung des verlorenen Zukunftsvertrauens der klassischen Moderne. Er setzt folglich auf Kompetenzen, auf neue Zukunftsfähigkeit, auf die Wiedergewinnung von Zeitsouveränität, auf rationales Zeitmanagement. Zu den Entdifferenzierungen siehe Brücher (2004; 2004a). Siehe dazu Teubner (2007, 315), der in Zusammenhang mit dem falschen Heilsversprechen einer als Vergerechtlichung interpretierten Verrechtlichung den Begriff des Totalitären gebraucht.

28 29

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Damit reproduziert der postmoderne Diskurs ein Problem modernitätsspezifischer Widersprüchlichkeit zwischen dem Denken der Zeit und dem Denken des Friedens. Die projektive Perspektive lässt Kompetenzen an die Stelle des konkreten verletzlichen Menschen treten. In der Friedens- und Konfliktforschung werden auf diese Weise die Chancen des postmodernen Diskurses nicht ausgeschöpft. Denn es ist allein die Temporalperspektive der zukünftigen und der vergangenen Gegenwart, die Tötungs- und Instrumentalisierungsverbot als ethischen Kern der Menschenrechte und somit als Bedingung sinnvoller Just-Peace-Konzeptionen aufbewahrt. In welcher Weise wird nun jedoch die Gegenwart zu einem neuen Thema? Die Antwort auf diese Frage ist zentral, weil sich nur ein im Gegenwärtigen verankertes Handeln für dessen Nahfolgen verantwortlich weiß und somit ein Imperativ des Frieden-Haltens und des friedlich Seins einen zeittheoretischen Rückhalt braucht. Als Theoriestelle für friedensethische Axiome taugt die Gegenwart nur als doppelte, so im Rahmen der vormodernen politisch-gesellschaftlichen Semantik als Differenz von Zeit und Ewigkeit. Der erste Begriff steht für aktuelles Sinnverstehen, das die Wiederholung einer schlechten Vergangenheit befürchten oder einer guten Vergangenheit nachtrauern lässt. Und er steht gleichermaßen für Ängste und Hoffnungen, die mit dem Unbekannten der Zukunft verknüpft sind. Der zweite Begriff meint jenen Aspekt der Gegenwart, der sich jeder Schematisierung entzieht, nämlich den als zeitlos erlebten Augenblick. Erst dessen Aufwertung zwingt dazu, auch dem noch einen Wert zuzugestehen, das in Sinnkonstrukten nicht restlos aufgeht. Luhmann sucht dieses Sinn-Jenseitige in Mensch und Natur. Um Gegenwart als doppelte zu konzipieren, als Sinn und Sinn-Jenseitiges, bedarf es keiner Religion. Es reicht der sinnfunktionale Blick, der die andere Seite eines nicht mehr sinnhaft Zugänglichen hervorbringt. 30 Der temporale Ort des Sinnkonstituierten liegt in der Konstruktion von Dauer, des Sinn-Jenseitigen in der Sequenz von Ereignissen (Luhmann 1980, 236). Um die Fallstricke der phänomenologischen Sprache zu umgehen, die dieses SinnJenseitige im Sinnlosen suchen lässt, benutzt Luhmann in den späteren Werken die formalistische Sprache Spencer-Browns, der Sinn mit dem Markierten und Sinn-Jenseitiges mit dem Unmarkierten umschreibt. Die temporalisierten Elemente, aus denen Sinnsysteme bestehen, sind folglich nicht als Transzendentalisierung der Common-sense-Erfahrung fließender Zeit zu verstehen, wie Brandt (1992, 162 f.) das Luhmannsche Hauptwerk »Soziale Systeme« interpretiert. 30

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Gegenwärtigkeit Gewaltaffirmatives re-entry re-entry auf Seiten der Vergangenheit

Vergangenheit

Gewaltkritisches re-entry re-entry auf Seiten der Zukunft

/

Zukunft

aus der Vergangenheit lernen

Skandalisierung Revolution Krieg

Vergangenheit

/

Zukunft

aus der Zukunft lernen

Reformen Evolution Kontinuität

– Frieden als Wert = Macht = additive Relation

– Frieden als Wert = Verfahren = methodische Relation

– Gerechtigkeit + Sicherheit – Gewaltfreiheit + Freiheit mit allen Mitteln

– Herstellen der Bedingungen für Frieden und Gerechtigkeit

Es wäre zu prüfen, inwieweit diese Reformulierung der Differenz von Zeit und Ewigkeit analoge friedensethische Schlussfolgerungen impliziert, wie wir sie bei Augustinus vorfinden. Auf den ersten Blick scheint die Präferenzstruktur des Codes der vormodernen Gewichtung geradezu entgegengesetzt. Denn Dauer wird jetzt der Zeit und die Sequenz von Ereignissen der Ewigkeit zugeordnet. Tatsächlich wird aber nur der Versuchung widerstanden, Ewigkeit als einen besonders stabilen, erwartungssicheren Modus von Zeit zu denken und damit das temporale Schema zu beseitigen. Dauer steht nicht für etwas, das unabhängig vom Sinnkonstrukt Bestand hat. Nicht bloß intendiertes oder imaginiertes, sondern wahrhaft Beharrendes findet sich nur im Ereignis, im Augenblick. Dies ist der einzige Ort, an dem auch im vormodernen Temporalbewusstsein dem Menschen Ewigkeit begegnet. Erste Hinweise auf ein gewaltkritisches re-entry, das im Schema Dauer/Sequenz von Ereignissen ein Äquivalent für die Unterscheidung von Zeit und Ewigkeit anbieten wird, finden sich im reflexiven Verständnis der temporalen Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft. Mit der komplexen temporalen Figur verschmolzener Zeithorizonte des Vergangenen und Zukünftigen offeriert die Luhmann49 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Gertrud Brücher

sche Systemtheorie eine für den Friedensgedanken interessante Alternative zum Mainstream. Das Schema wird jetzt viergliedrig; es unterteilt sich in gegenwärtige Zukunft/zukünftige Gegenwart sowie gegenwärtige Vergangenheit/vergangene Gegenwart. Dennoch bleiben das einfache Zeitschema von Vergangenheit und Zukunft und die in ihm petrifizierten Wertzuschreibungen enthalten. Die Zeitperspektiven der gegenwärtigen Zukunft und der gegenwärtigen Vergangenheit zielen auf Programmatiken, mit deren Hilfe gewünschte Zustände verwirklicht und gefürchtete vermieden werden. Sie zielen auf Dauer, auf Struktur, auf Reversibilität. Demgegenüber heben zukünftige Gegenwart und vergangene Gegenwart die Sequenz von Ereignissen als das Irreversible des historischen Prozesses hervor. Einander gegenüber stehen mithin zwei verschiedene Umgangsweisen mit dem Zeitschema. Das Neue und zwar durchaus im kantischen Sinne einer Revolution der Denkungsart liegt in der Grundhaltung, die dem aufgewerteten Augenblick entspringt. Im Gegensatz zum modernen kennt das postmoderne Zeitschema wieder ein der Verfügung entzogenes Äquivalent der Ewigkeit. Um dies sichtbar zu machen, gilt es analog der beiden vorangegangenen Kapitel Modalitäten einer postmodernen Friedensbegrifflichkeit am re-entry der zeittheoretischen Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene abzulesen. Ebenso wie im Falle der klassischen Moderne (im Sinne einer nur rudimentär verwirklichten funktionalen Differenzierung) findet sich bislang auch in der Postmoderne (im Sinne vollendeter funktionaler Differenzierung) primär die politisierte und somit gewaltaffirmative Form der Apokalypse. Der Bezug zu Endzeittheorien mag auf den ersten Blick überraschen, sofern der postmoderne gerade ein Diskurs ohne Zukunft sein soll (vgl. Luhmann 1992, 13). Damit sind allerdings nur die Themen angesprochen. Wenn an die Stelle von Utopien Katastrophenszenarien treten und damit das Ende von Zukunft, so bedeutet dies nicht, dass der protentive, vorgreifende Zeithorizont im Gegenwartsentwurf unberücksichtigt bleiben könnte. 31 Im Gegenteil macht er sich aufgrund der weltgesellschaftlichen Vernetzungsdichte und daraus erwachsender Komplexität besonders heftig bemerkbar. Unter den sog. »neuen Philosophen« Frankreichs, die das Phänomen des Ideologischen in immer neuen Ideologismen zu bekämpfen suchen, geraten auch die Wachstumskritiker in den Verdacht apokalyptischen Denkens. Für Pascal Bruckner (2011) sind ökologische Katastrophenszenarien eine aktuelle Form der Apokalypse.

31

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Gegenwärtigkeit

Die protentive Perspektive konnte in der Postmoderne deshalb als eine doppelte Gegenwart – als gegenwärtige Zukunft und als zukünftige Gegenwart – bewusst werden, weil sich die Ereignisse in einer kommunikationsstrukturell verkoppelten Welt überschlagen. Nicht nur die Informationsbeschaffung, auch die Informationsverarbeitung darf nicht hinter die Echtzeit zurückfallen, sodass die technische Perfektionierung von Kommunikation zeitbeschleunigend wirkt. Dies führt zur Involution von Diagnose, Prognose und Praxen/Therapie und damit zum Außerkraftsetzen der expliziten oder der implizit mitlaufenden friedenswissenschaftlichen Leitunterscheidung. Involution aber bedeutet Ununterscheidbarkeit und folglich Steuerungsresistenz. Gleichzeitigkeit und forcierte Synchronisierung, die ein Verarbeiten überkomplexer Nachrichtenströme erforderlich machen, marginalisieren quantitative Methoden der Datengewinnung und -verwertung. Denn Statistiken informieren nur im Kontext der programmatischen Vergegenwärtigung der Zukunft, aber sie sind bezüglich der zukünftigen Gegenwart belanglos. Mit der Semantisierung dieses Faktums wird die Augustinische Form wiederhergestellt: »Diese zeitlose ›Gesamtzeitlichkeit‹ der Gegenwart tritt im modernen Denken an die Stelle der Ewigkeit.« (Luhmann 1997, 1074) Nur in der Gegenwart, in der Begegnung konkreter Menschen ist nach Augustinus Ewigkeit in der Zeit, nämlich im Augenblick, präsent. Friedensethik bedarf folglich einer Theoriestelle für den Augenblick, wenn der Friede nicht als Modus der Instrumentalisierung des Menschen für die guten Zwecke anderer missverstanden werden soll. Damit ist gerade nicht das »Unentrinnbare der konkreten ereignishaften Praxisgewalt« und somit die im Gegenwartsbegriff wieder gewonnene Einheit gemeint, wie Nassehi (2008, 18) den gegenwartsbezogenen Fokus von Bourdieu kritisiert. Als Theoriestelle für friedensethische Axiome taugt die Gegenwart nur unter der Voraussetzung, dass sie als Differenz von Dauer und Sequenz von Ereignissen (Luhmann 1980, 236) konzipiert ist. Erst die Reformulierung der Differenz von Zeit und Ewigkeit impliziert analoge friedensethische Schlussfolgerungen, wie sie sich bei Augustinus finden lassen. Am Gegenbegriff erkennt man, welche der jeweiligen Zukunftsperspektiven in der friedenspolitisch bedeutsamen Semantik des Risikos vergegenwärtigt wird. 32 Geht es um Sicherheit, dann tritt der 32

Zur Risikoproblematik siehe Luhmann (1990; 1991).

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Gertrud Brücher

strukturelle Gegenwartsaspekt in den Vordergrund, der Gewalt zum Zwecke der Versicherheitlichung rechtfertigt. Wir haben in diesem Fall ein gewaltaffirmatives re-entry vor uns. Diese Form legitimiert die Instrumentalisierung des Menschen für die guten Zwecke der Sicherheitsvorsorge. Ebenso verhält es sich beim re-entry auf Seiten der vergegenwärtigten Vergangenheit, bei der so genannten Vergangenheitsbewältigung und einem massenmedialen Kult des Erinnerns. Auch hier haben wir es mit mächtigen gesellschaftlichen Diskursen zu tun, die jedwede bio- und sicherheitspolitische Intervention legitimieren. Der Tendenz nach gewaltkritisch ist erst eine Vergegenwärtigung der Vergangenheit als unwiderruflich vergangene Gegenwart. In dieser Perspektive hat die Einsicht Platz, dass ein bloß abgrenzender Bezug zur Vergangenheit aus einer politisch motivierten Verstehensverweigerung heraus gerade jenes Nie wieder untergräbt, um dessentwillen der ganze Aufwand betrieben wird. Nicht Ignoranz, sondern die Anerkennung von ›tragic choices‹ versetzt in die Lage, die Banalität des Bösen als Folge rechtsimmanenter Paradoxien in Rechnung zu stellen, 33 wenn es darum geht, historische Ereignisse unwiederholbar zu machen. Zur unrechtmäßigen Anwendung des Rechtscodes zählt Luhmann (2008, 246) die nachträgliche Verurteilung von »Verbrechen, die zur Zeit ihrer Begehung durch positives Recht (aber nicht durch angeblich ›überpositives‹ Recht) gedeckt waren«. Ein Mainstream lässt sich nicht einfach kritisieren. Dies gilt für etablierte Formen der Vergangenheitsbewältigung ebenso wie der Zukunftsprojektion. Die Verdrängung des Friedensideals durch die Zielformel ›Vermeiden von Risiken‹ hat Programmatiken vollends unangreifbar gemacht. Denn der Begriff des Risikos verdeckt und verschleiert die Differenz von positivem Frieden (Anwesenheit von Gerechtigkeit) und negativem Frieden (Abwesenheit von Gewalt). Dabei handelt es sich um eine Sinnverschiebung mit offensichtlich konfliktverschärfenden Konsequenzen. Denn Frieden (Risikoproblematik) und Gerechtigkeit (Knappheitsproblematik) sind als spezifische Zukunftsperspektiven dadurch gekennzeichnet, dass der Andere konstitutiv ausgeblendet wird. 34 Dies begünstigt eine Form, Luhmanns Hinweis (2008, 229) auf die Tragik von Entscheidungskonflikten, in denen die Rechtmäßigkeit der Anwendung des Rechtcodes in Zweifel steht, zielt auf die von H. Arendt im Eichmann-Prozess problematisierten Dilemmata. 34 Zu dieser These siehe Luhmann (2008b, 263): Knappheit und Risiko gelten als 33

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Gegenwärtigkeit

die dem Begriff des Risikos den Begriff der Sicherheit als Resultat rationalen Entscheidens gegenüberstellt. 35 Der hohe Rang des Wertes lässt wieder jedes Mittel rechtfertigen. Luhmann sensibilisiert demgegenüber für eine Form, die Entscheidungen aufspaltet in ein Risiko für mich und eine Gefahr für den anderen. Denn der Universalitätsanspruch, der den Wert der Risikovermeidung mit der Annahme reziproker Risikokalküle verknüpft, verdeckt die Asymmetrie der Perspektiven. Nicht das immer bessere Kalkül sichert den Frieden, sondern nur das Beachten der Perspektivendifferenz und mithin ein Ernstnehmen des Einspruchs von all denjenigen, die nicht für die riskanten Entscheidungen anderer instrumentalisiert werden wollen. Ein solcher Einspruch scheint erst in einer Gegenwart von Belang, in der der Mensch nicht auf ein Sinnkonstrukt reduziert ist, sondern als konkret Einzelner begegnet. Ein solcher Blick fällt auf den Menschen in den Perspektiven einer zukünftigen und einer vergangenen Gegenwart. Gegenwärtiges Handeln ist ein Akt der Entparadoxierung, der Entscheidung zwischen Zeithorizonten, weil »Vergangenheit und Zukunft immer gleichzeitig gegeben sind, nämlich als Horizonte der Gegenwart.« (Luhmann 1997, 1074) Wenn es folglich die Gegenwart im Singular nicht gibt und damit offene oder verdeckte Sachzwanglogiken gegenstandslos werden, dann wird die Suche nach Formen der friedensdienlichen Entparadoxierung zur globalen Herausforderung. Die bisher angebotenen Formen der dialektischen und der futuristischen Perspektive konnten zwar Kriegs- und Friedensursachenforschung, aber keine einheitliche, die politische Praxis informierende Lehre hervorbringen. Aus diesem Grund treten dialektische und futuristische Herangehensweisen in unterschiedlichen Mischformen auf. Die Pluralisierung von friedenstheoretischen Ansätzen scheint sich als Ausweg anzubieten, ist aber recht besehen eine Verlegenheitslösung. Sie infiltriert nur jene Spielart von Postmodernismus in die Friedenswissenschaften, die in Pluralismus und anything goes fälschlicherweise eine Steigerung des aufklärerischen Toleranzgebots sehen lassen. Dieses Modelldenken zeigt seine friedensgefährdenden

komplementäre Zeitperspektiven. »Im einen Falle will man trotz Knappheit soviel Zukunftssicherheit wie gegenwärtig erreichbar – auf Kosten anderer. Im anderen Fall will man Rationalitätschancen ausschöpfen, die in der Inkaufnahme von Unsicherheit liegen – und wieder auf Kosten anderer.« 35 Siehe beispielhaft die Risikoethik von Nida-Rümelin/Rath/Schulenburg (2012).

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Gertrud Brücher

Seiten, wo immer kontingenten Werten eine absolut geltende globale Verbindlichkeit attestiert wird. Zivil-militärische Interventionsprogrammatiken übernehmen zwar die Funktion der Entparadoxierung und dies scheinbar immer besser, da die Legitimationsbedürftigkeit der gewählten temporalen Perspektive – Revolution von oben (Peace-building, nation-building) 36 bzw. Revolution von unten (Unterstützen von Aufständischen) – allgemeiner Akzeptanz weicht. Was bisher jedoch fehlt, ist eine Sichtweise, die nicht nur Entparadoxierung betreibt, sondern die sich als solche reflektiert. 37 Erst auf der Ebene einer solchen Reflexion kann die Frage aufgeworfen werden, welche Art der Temporalisierung den Frieden befördert oder unterminiert. Der Friede sieht sich erst in einer »Semantik des Risikos« (Markowitz 1992) befördert, die nicht in der egozentrischen Perspektive verharrt und das bedeutet, nicht auf Kosten anderer Menschen Rationalitätschancen auszuschöpfen empfiehlt. Während die utopischen oder katastrophischen Visionen, die in der gegenwärtigen Zukunft auftauchen, den Standpunkt des Ego akzentuieren, tritt im Bewusstsein, dass Leben immer Leben in der Gegenwart ist, der Alter in den Vordergrund. Die temporale wird folglich durch die soziale Unterscheidung von Ego und Alter überlagert. Das riskante Verhalten Egos ist für Alter eine Gefahr und wird für Ego zur Gefahr, weil beide einander wechselseitig zum alter Ego werden. Rational ist folglich nicht eine Zukunftsperspektive, die auf Kosten anderer Chancen und Sicherheit maximiert. Diese Einsicht bedarf weniger der Rückenstütze durch eine Sollensethik, die von ihren Verfechtern wenn nötig mit robusten Methoden global durchgesetzt wird. Sie bedarf sehr viel eher einer gesellschaftlichen Semantik, die Zukunft nicht nur als programmatische Projektion, sondern als stets gegenwärtige Aktualität mitführt. Da sich der andere jetzt nicht mehr auf ein Sinnkonstrukt reduzieren lässt und mithin auf Bewusstsein (Subjekt), auf Kommunikation Siehe den Beitrag von Distler in diesem Band. Eine solche Sichtweise muss nicht erfunden, sondern in ihren formalen Grundzügen immer wieder von neuem restituiert werden. Gegen die These Nassehis (2008, 80), die philosophischen Entwürfe, insbes. aristotelisch-ontologische (Sein/Nichtsein), augustinisch-theologische (unbewegte Beweger) und kantianisch-epistemologische (transzendental/empirisch) Zeitschemata wären als »Paradoxievermeidungstechniken« zu verstehen, spricht der selbstimplikative Charakter der jeweiligen Einheitsformeln der »zählenden Seele«, des »Schöpfergottes« und des »Subjekts«.

36 37

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Gegenwärtigkeit

(Kompetenz) oder auf Leben (biopolitische Relevanz), sondern in seiner undurchdringbaren Komplexität begegnet, sind Argumente für dessen Instrumentalisierung prinzipiell nicht mehr wohl begründet. Die ethische Reflexion einer solchen Einbeziehung des anderen ist bei Luhmann im Symmetriegebot der moralischen Kommunikation zum Ausdruck gebracht: Wer moralisch kommuniziert, kann nicht verhindern, dass sein eigenes Handeln nach den Maßstäben beurteilt wird, die er an das Verhalten anderer anlegt. 38 Damit ist die Orientierung am Regel/Ausnahme-Schema wieder ganz im Sinne Kants durch eine Orientierung am kategorischen Imperativ ersetzt. Eine Legitimitätssemantik, die sich auf einen polykontextualen Beobachter/Entscheider einstellt, wird den Frieden als selbstimplikatives paradoxes Handlungskonzept entwickeln, und sie wird konkretes friedensförmiges Handeln als bloße Entparadoxierung zu erkennen geben. Das gilt nicht nur für moralische Kommunikation und mithin den Moralcode; es gilt für jede codegesteuerte Kommunikation: Ebenso wie man nie sicher sein kann, dass ein Unterscheiden von gut und schlecht gut ist und zwar für einen selbst und für andere, so bleibt zweifelhaft, ob ein Unterscheiden von Macht und Macht-Unterwerfung legitim im Sinne von allgemein akzeptiert ist. Dieselben Probleme der Selbstimplikation, der Paradoxie der Selbstanwendung des Codes 39 – wiederholen sich bei Fragen der Rentabilität, der Wahrheit, der Bildung, des Rechts oder des Glaubens. Formal gesehen handelt es sich stets um ein Wiedereintreten der Unterscheidung in sich selbst. Dies lässt nicht nur die Vorteile des kantischen, sondern auch des kosmologischen Reflexionsniveaus zurückgewinnen. Als tätige und sich selbst reflektierende Entparadoxierung markiert die Form Frieden den Versuch, in allen Operationen zugleich gerecht, schützend, gewaltlos, nachsichtig und wohlwollend zu sein.

6.

Wissenschaftstheoretischer Ausblick

Eine intensive Auseinandersetzung mit dem Faktor Zeit als »sozialer Zeit« lässt nicht nur den Erkenntnisgegenstand einer auf die ProbleDies ist ein logisches Faktum, das den kategorischen Imperativ ins Empirische wenden lässt: »jede moralische Kommunikation ist symmetrische Kommunikation. Das, was sie als Moral postuliert, gilt für beide Seiten.« (Luhmann 2008, 277) 39 Zur »Paradoxie der Form« siehe Luhmann (1993, 197–212). 38

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Gertrud Brücher Gewaltaffirmatives re-entry re-entry auf Seiten der Zukunft

gegenwärtige Zukunft

/

zukünftige Gegenwart

Gewaltkritisches re-entry re-entry auf Seiten der Gegenwart

gegenwärtige Zukunft

/

zukünftige Gegenwart

Rücksicht auf Gefahrenperspektive des Alter Ego

Sicherheitsvorsorge

Risikoparadox

Symmetriegebot

– Frieden als Wert = Sicherheit

– Frieden als Wert = Form – friedlicher Umgang mit friedensrelevanten Unterscheidungen

– trotz unsicherer Zukunft Ausschöpfen aller Rationalitätschancen auf Kosten anderer

– »Paradoxie der Selbstanwendung des Codes« – Relativierung von Sinnkonstrukten führt zur Aufwertung des konkret Einzelnen

– Unterscheidung: Risiko / Sicherheit

– Unterscheidung: Risiko / Gefahr

me von Frieden und Gerechtigkeit fokussierten Philosophie, Wissenschaft und Forschung in einem neuen Licht erscheinen und prägt auf diese Weise, wie jede Grundlagenforschung, das Gesamtunternehmen. Das Thema Zeit ist darüber hinaus noch in einer weiteren Hinsicht von wesentlicher Bedeutung. Mit einer theoretischen und nach und nach durch empirische Untersuchungen ergänzten Ausarbeitung verschiedener Zeitregimes könnte sich eine solche Disziplin im Kanon der Einzeldisziplinen auf eine ganz neue Weise etablieren. Den Grund für diesen Aufstieg von einer eher randständigen zu einer wirklich großen Fachdisziplin liefert die soziologische Zuordnung der drei Sinndimensionen zu Gegenstandsbereichen, auf die Arnim Nassehi (2008, 18 f.) hinweist: »Die frühmoderne »Erfindung« der Gesellschaft als einer in sozialen Termini gesprochenen Arena von Sprechern, in sachlichen Termini gesprochen differenzierten Einheit mit funktionaler Spezifizierung und Emanzipationsprozessen von Wissenschaft, Recht, Kunst, auch von Ökonomie und sogar Religion, 56 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Gegenwärtigkeit Gewaltaffirmatives re-entry re-entry auf Seiten der Vergangenheit

gegenwärtige Vergangenheit

/

Gewaltkritisches re-entry re-entry auf Seiten der Gegenwart

vergangene Gegenwart

Abgrenzung

gegenwärtige Vergangenheit

/

vergangene Gegenwart

Anerkennung von ›tragic choices‹

Skandalisierung Revolution Krieg

Wissen um die Nichtidentität von Gedenken und Erinnern

– Frieden als Wert = Gedenk-Kult

– Frieden im Kontext einer Ethik als Reflexionstheorie der Moral

– Distanzierung von der Semantik/ Ideologie der schlechten Vergangenheit + operative Reproduktion: Krieg dem Krieg – Menschenrechtsverletzungen gegen Menschenrechtsverletzer

– Vermeiden der Sündenbockproduktion durch Differenzierung von Operation (Tun) und Beobachtung (Semantik/Ideologie) innerhalb der retentiven Perspektive

und in zeitlichen Termini gesprochen tatsächlich projekthaften Idee einer gestaltbaren, besseren Zukunft ist in der Tat eine normative Folge gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse.« Diese Zuordnung spiegelt die Zuständigkeit der einzelnen Fachrichtungen. Diskurstheoretische und -ethische Fragen befassen die Philosophie in einem die Kulturwissenschaften einbeziehenden Sinne. Gesellschaftliche Differenzierung, mithin alle Fragen, die im Zusammenhang mit gesellschaftsstrukturellen und -funktionalen Themen auftauchen, sind Gegenstand der Soziologie im engeren und der Gesellschaftswissenschaften im weiteren Sinne. Probleme der Zukunftsgestaltung aber fallen ins ureigenste Gebiet der sich selbst als Friedenswissenschaften oder Friedens- und Konfliktforschung bezeichnenden Richtungen, sei es in ihrem an Kritischer Theorie und Funktionalismus ausgerichteten Erkenntnisinteresse des Abbaus von personeller, struktureller und kultureller Gewalt, oder einer an Begleitstudien zu Peace-Building-Projekten ausgerichteten theoreti57 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Gertrud Brücher

schen und empirischen Forschung. Während die Geschichtswissenschaft sich ganz auf die gegenwärtige Vergangenheit konzentriert, sind für die Friedenswissenschaften alle drei Sinndimensionen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft in einem tiefer greifenden Sinne deshalb relevant, weil die moderne Gesellschaft in ihrem Selbstverständnis ganz auf die zeitliche Sinndimension ausgerichtet ist. Diese Konzentration auf die temporale Struktur aller Operationen dient dem Anliegen, reale Chancen der Zukunftsgestaltung auszuloten und neue hinzuzugewinnen. Weil dies eine Frage normativ ausgerichteter Projekte ist, die immer das Ganze der Weltgesellschaft in ihrer konfliktiven Verfasstheit betrifft, ist hier eine eigene Disziplin gefragt, die sich auf die zeitliche Sinndimension in einer besonderen Weise konzentriert und zwar mit allen ihr zur Verfügung stehenden Methoden. Die Ausdifferenzierung der Friedens- und Konfliktforschung als eigener Fachrichtung ist deshalb nicht weniger als der Reflex auf eine zeitgeschichtlich neue Lage, die das Projekt der Moderne im Stadium ihrer Globalisierung zu einem neuen Reflexionsgegenstand macht. Wenn auch bis heute gegolten haben mag, dass die Philosophie ihre traditionellen Themen des Friedens und der Gerechtigkeit seit den Errungenschaften des Rechts- und des Sozialstaates an diese reflektierenden Fachdisziplinen abgetreten habe, so scheinen heute die Bedingungen für einen solchen Rückzug nicht mehr gegeben zu sein. Denn neue waffentechnologische Entwicklungen unterminieren die friedensstiftende Funktion des staatlichen Gewaltmonopols und die Globalisierung des ausdifferenzierten Wirtschaftssystems bedroht das sozial- und wohlfahrtsstaatliche Profil. Damit verliert das Projekt der Zukunftsgestaltung seinen Status einer apriorischen Vorannahme, die zu thematisieren und zu kritisieren unter Ideologieverdacht gerät. Ins Ideologische driftet die Reflexion des programmatischen Charakters der Zukunftsgestaltung jedoch nur dort, wo die Wirklichkeit mit dem Common Sense einer idealen Moderne bloß konfrontiert wird. Erst eine eingehende friedensphilosophische, -ethische und -wissenschaftliche Beschäftigung mit den Temporalstrukturen einer entdifferenzierenden und beschleunigenden Praxis lässt in der Art und Weise, in der Gegenwart konzeptualisiert wird, nicht nur Defizite, sondern auch Potenziale erkennen. Aus dem Gesagten geht hervor, dass eine eingehende Beschäftigung mit dem Verhältnis von Zeit und Frieden noch in einem weiteren Sinne von praktischer Relevanz ist. Wenn es heute nämlich 58 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Gegenwärtigkeit

auch zutreffen mag, dass die Philosophie ihre klassischen Themen des Friedens und der Gerechtigkeit nicht länger an Politik und Wirtschaft delegieren kann, so verweist dies nur auf den Plausibilitätsverlust von Großtheorien. Es marginalisiert nicht die Bedeutung all jener Disziplinen, die sich bislang empirisch-analytisch mit den Problemen von Konflikt und Frieden befasst haben. Aber der wenig geklärte interdisziplinäre Anspruch der Friedens- und Konfliktforschung hat zu einer Glaubwürdigkeitslücke geführt, die es zu schließen gilt. Davon betroffen ist das ungeklärte Verhältnis von empirisch-analytischem und normativem Interesse, das sich mitunter in der Aufgliederung in eine »wissenschaftliche« Friedens- und Konfliktforschung und eine »normativ-politische« Friedenswissenschaft niederschlägt. Diese Aufspaltung in eine Verantwortungs- und eine Gesinnungsdisziplin schmälert die gesellschaftliche Relevanz, d. h. den praktischen Beitrag für sinnvolle Just-Peace-Projekte. Denn die Zurechnung ideologischer Erkenntnisinteressen trifft notwendig die gesamte Disziplin. Gleichwohl ist die Unterteilung nicht willkürlich; sie verdankt sich ungeklärten friedensethischen Fragen, die auf die grundbegriffliche Struktur der gesamten Disziplin durchschlagen. Aus diesem Grund bedarf es einer stärkeren Aufmerksamkeit für erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Fragen, die aufs Engste mit ethischen Fragen in Zusammenhang stehen. Im Vordergrund steht dabei der Widerspruch zwischen den moralischen Implikationen des modernen Temporalschemas, die zu einer Entwertung der Gegenwart und damit des konkreten Menschen führen und dem Festhalten an Instrumentalisierungsverbot und Immunitätsgebot als Axiom jeder Ethik und Friedensethik. Die neue Gewichtung der Gegenwart könnte einen Ansatz für die Überwindung dieses Widerspruchs liefern.

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Alfred Hirsch

Jean-Jacques Rousseau: Friedenszeiten

1.

Einleitung

Einem allzu naiven Denken historischen Fortschritts, wie es einige Denker der Aufklärung vertraten, setzte Rousseau ein neues und manche Leser irritierendes Denken der Zeit entgegen. Der Vorstellung einer linearen und sukzessiven Entwicklung der geschichtlichen Zeit stellte er die Annahme einer zyklischen und diskontinuierlichen Zeitentfaltung gegenüber. Diese Kritik eines gerade erst erlangten neuen Selbstverständnisses des Menschen in der Aufklärung durch Rousseau ist eng verknüpft mit seiner Kritik des Wissens und der Zivilisation im Allgemeinen. Revolutionär war seine Behauptung, dass das Wissen und die sich in stetigem Fortschritt wähnende Kultur nicht zur Befriedung der menschlichen Verhältnisse beiträgt, sondern ganz im Gegenteil, Verfall und Friedlosigkeit forcieren. Die Dekadenz durch Wissen und Kultur sieht er im Wesentlichen darin begründet, dass durch die Erfindung der Zeichen und Symbole, durch die abstrakte Aufteilung der Zeit und des Raumes, die echte und natürliche Erfahrung des Lebens durch den Einzelnen nicht mehr möglich ist. Mit dem kulturellen Leben befindet sich das Individuum in einer Welt der Repräsentation, des Scheins und der Mittelbarkeit. Diese gegliederte und strukturierte Welt geht einher mit einer falschen Vergesellschaftung, die die Einzelnen zu selbstsüchtigen und allein ihren Vorteil suchenden Menschen macht. Sie werden getrieben von einer aus den Fugen geratenen Konkurrenzgesellschaft. Durch Arbeitsteilung und die ungerechte Verteilung des Eigentums werden nicht nur die Beherrschten sondern auch die Herrschenden unfrei. Rousseau entwirft dementgegen eine ›Zeit‹ vor der Zivilisation, eine ›Zeit‹, die noch nicht strukturiert und noch nicht in das lineare Projekt eines Fortschritts eingezwängt ist. Diese Zeitkonzeption vor der Zeit verlegt er in einen ›Naturzustand‹ – oder er findet ihn auch in 64 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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›wilden Gesellschaften‹ außerhalb Europas. In der Zeit des natürlichen oder wilden Menschen (›bon sauvage‹) gibt es keine Abstraktion und kein rationales Begreifen der Zeit. Der Mensch des Naturzustandes lebt vor sich hin, genießt seine leiblichen Begierden und labt sich an der Muße des Nichtstuns. Dieser Zustand ist nach Rousseau ein weitgehend befriedeter Zustand. Der hypothetische Naturzustand ist eine Zeit des Friedens – da es keinerlei Sachwerte und Dinge gibt, um die gestritten werden könnte. Rousseaus Entwurf eines ›dauerhaften Friedens‹ innerhalb der Gesellschaft und zwischen den Gesellschaften des 18. Jahrhunderts orientiert sich an dieser ›zeitlosen‹ Zeit des Naturzustandes. Zwar gibt es keine Möglichkeit, zum Frieden dieses Naturzustandes zurückzukehren. Aber es gibt die Möglichkeit, durch einen Vertrag innerhalb der Gesellschaft und zwischen den Gesellschaften zumindest eine neue gerechtere Freiheit der einzelnen Glieder zu gewährleisten. Indem durch den Vertrag die Beziehungen der Menschen untereinander symmetrisch und unverstellt reziprok werden, vermag auch die Erfahrung der Zeit sich von ihrer gewaltsamen Prägung zu befreien. Der Entwurf eines ›ewigen Friedens‹ als eines scheinbar noch undenkbaren Fortdauerns gewaltfreier menschlicher Beziehungen in der Zeit impliziert zugleich ein neues Zeitverständnis. Selbst eine dauerhafte Befriedung der internationalen Beziehungen wäre möglich, wenn die gewinnsüchtige und repressive Aufteilung von Raum und Zeit in einem Austausch gleichberechtigter und freier Staaten im Rahmen eines gemeinsamen Rechtsrahmens verwirklicht würde. 1

2.

Die Zeitlosigkeit des natürlichen Friedenszustandes

Nun ist gerade Rousseau bekannt für seine innige – auch das eigene Leben prägende – Auseinandersetzung mit der christlichen Religion. Es ist daher sicher kein Zufall, wenn seine Erzählung der Geschichte der Menschheit einige Ähnlichkeiten mit den biblischen Darstellungen aufweist. 2 Die guten Menschen eines reinen und unverdorbenen Naturzustandes finden ihr biblisches Pendant in Adam und Eva und deren Leben im paradiesischen Zeitalter. Sie leben dort in Einklang Vgl. zu der hier entfalteten Skizze meine ausführlicheren und differenzierten Überlegungen in Hirsch (2012). 2 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Studie von Jean Starobinski (1993, 429 ff.) 1

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und Unmittelbarkeit mit der Natur des Garten Edens. Es gibt keine moralische Distanz zwischen Mensch und Tier sowie zwischen den Geschlechtern. Alles ist gut, wie Gott es geschaffen hat. Erst die verbotene Frucht, die vom Baum der Erkenntnis genommen wird, vermittelt dem Menschen das Wissen des Guten und des Bösen, schiebt zwischen ihn und seine unmittelbare Erfahrung der Welt das die gelebte Einheit zerschneidende Urteil. Das Wissen um Gut und Böse ist die eigentliche Folge des menschlichen Sündenfalls. Das unglückliche Bewusstsein kämpft fortan mit dem Zwiespalt einer Existenz, deren Leidenschaften und Bedürfnisse immer dem Verdacht der ›Unreinheit‹ und ›Verdorbenheit‹ unterliegen. Der um das Gute und das Böse wissende Mensch steht immer schon mit einem Bein in der Hemisphäre des Verfalls und der Schlechtigkeit. Denn allein das Wissen um das, was Böse und Unrecht ist, macht ihn zu einem gefallenen Wesen. Er hat seine paradiesische Unschuld, die ihm einen kindlichen, zeitverlorenen und unmittelbaren Zugang zu seiner Welt eröffnete, unumkehrbar verloren. Bei Rousseau stoßen wir auf eine säkularisierte Darstellung dieser Elemente der Genesis, in der die Verschuldung des Menschen ebenfalls mit der erkennenden und vorstellenden abstrakt zeitlichen Gliederung der Welt einsetzt. Bereits in seiner gewürdigten Preisschrift »Abhandlung über die von der Akademie zu Dijon gestellte Frage, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und der Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen habe« von 1750 schreibt Rousseau: »Man kann nicht über die Sitten nachdenken, ohne dass man sich zugleich der Einfalt der ältesten Zeiten erinnerte. Es ist ein schönes Ufer, allein von den Händen der Natur geschmückt, zu dem der Blick unaufhörlich zurückkehrt und welches man mit Bedauern verlässt. Als noch die unschuldigen und tugendhaften Menschen die Götter gern zu Zeugen ihrer Handlungen machten, so wohnten sie zusammen in denselben; als sie bald darauf böse geworden waren, wurden sie dieser beschwerlichen Zuschauer überdrüssig und verwiesen sie in kostbare Tempel.« (Rousseau 1989, 26) Die von Rousseau gezeichnete paradiesische Szenerie bleibt Anziehungspunkt der Blicke auch desjenigen, der das ferne Ufer der Natur längst verlassen hat und niemals mehr zu ihm zurückzukehren vermag. Gerade in der Einfachheit und Begrenztheit der Bedürfnisse des natürlichen Menschen sieht Rousseau auch seine Stärke. Denn Stärke oder Schwäche des menschlichen Individuums ist nach Rousseau 66 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Jean-Jacques Rousseau: Friedenszeiten

keine Frage der Körperkraft oder Geschicklichkeit, vielmehr besteht sie gerade in der Bedürfnisfreiheit. Entsprechend erklärt sich hieran anschließend, dass der zivilisierte Mensch ein schwaches Wesen sein muss, da er von allerlei Dingen, Menschen, Anerkennungen und Hilfeleistungen abhängig ist. All dieses hat der ›homme naturel‹ nicht nötig. Er ist stark, weil seine psycho-physische Bedürfnisökonomie in einem stabilen Gleichgewicht ist. Sein Verhältnis zu den anderen Menschen, denen er manchmal in den ausgedehnten Wäldern und Steppen begegnet, ist weitgehend friedfertig. Rousseau unterstreicht dies in verschiedenen Kontexten und differenziert in mehrfacher Hinsicht. Ohne an dieser Stelle allzu weit vorzugreifen, sollte noch darauf hingewiesen werden, dass neben der bedürfnisökonomischen Ausgeglichenheit des Menschen im Naturzustand besonders die natürliche Hemmnis, einen anderen Menschen leiden zu sehen, zu einer allgemeinen Befriedung des ›état naturel‹ beiträgt. Das ›Mitleid‹ wird von Rousseau als die bestimmende Ethik des Naturzustandes bezeichnet. Sie gilt ihm in ihrer natürlichen Reinform als sehr viel zuverlässigeres moralisches Fundament als alles Rechtsbewusstsein und alle Sittsamkeit im Zustand der menschlichen Zivilisation. Dieser hier zunächst nur in seinen entscheidenden Eckpunkten beschriebene Rousseausche Naturzustand lässt sich allerdings in zwei Epochen unterteilen. In der älteren ersten Epoche des Naturzustandes sind die Menschen Jäger und Sammler. Sie ziehen herum, folgen dem Wild und nutzen sein Fleisch als Nahrung und seine Felle als Kleidung. In der zweiten Epoche des Naturzustandes sind die Menschen zu Hirten geworden. Rousseau nennt die Hirten Barbaren. Sie sind die ersten Menschen, die sich eine Hütte bauen und an einem Ort verweilen, auch ihr soziales Miteinander verändert sich ein wenig gegenüber dem ›homme naturel‹ als Jäger und Sammler. Das Zeitalter der Barbaren hat nach Ansicht Rousseaus eine besondere Qualität: »Diese Zeiten der Barbarei waren das goldene Zeitalter, nicht, weil die Menschen vereint waren, sondern weil sie voneinander getrennt lebten. Jeder, so sagt man, wähnt sich Herr über alles. Das ist durchaus möglich, doch kannte und begehrte ein jeder nur, was er in Händen hielt: ihre Bedürfnisse brachten sie nicht nur einander nicht näher, sondern entfernten sie voneinander. Die Menschen, wenn man so will, griffen einander an, wenn sie sich begegneten, doch trafen sie nur selten aufeinander. Überall herrschte Kriegszustand, und auf der ganzen Erde war Frieden.« (1989b, 187) 67 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Alfred Hirsch

Diese Ausführungen Rousseaus aus dem »Essai sur l’origine des langues« (»Versuch über den Ursprung der Sprachen«) sind in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zum einen erprobt hier Rousseau eine erste Umwertung der Werte der sozialtheoretischen Aufklärung. Die Barbarei als das ›goldene Zeitalter‹ zu bezeichnen, ist nur konsequent, wenn man alles Leid und alle Drangsale der Menschheit durch Eigentum, Wissen, Sprache und Urteilskraft als Insignien der Zivilisation heraufziehen sieht. Zum anderen erhalten die Bedürfnisse eine ausgewiesen zentrale Rolle für die Erfülltheit des Zeitalters, nicht weil sie eine Beziehung unter den Menschen stiften, sondern – ganz im Gegenteil – weil sie die Menschen voneinander trennen. Der autarke Mensch gilt als sich selbst genügender und ist daher als Solitär mit einem besonderen Glück begabt. Und zuletzt folgert Rousseau hieraus, dass die Menschen einander vielleicht sogar attackiert haben, wenn sie einander begegneten, aber da dies nur selten geschah, lässt sich hieraus kein wirklicher Unfrieden ableiten. Vielmehr ist die Erde von einem Friedenszustand erfüllt, weil es wenig Anlässe zu Konflikten gibt. Die Barbaren haben kein Bedürfnis, andere Menschen zu treffen, und finden ihr befriedigendes Auskommen durch die ihnen von den gehüteten Tieren zur Verfügung gestellten Produkte. Diese Einschätzung Rousseaus ist weit entfernt von der philosophischen Tradition abendländischer Denker, die im Menschen ein von Beginn an und in seinen zentralen Merkmalen soziales Wesen oder ein ›zoon politicon‹ sehen. Nach Rousseau hingegen ist es die Gesellschaft, die die Menschen erst in eine ursprünglich nicht vorhandene Abhängigkeit voneinander bringt – und es ist diese Abhängigkeit des einen vom anderen Menschen, die sämtliche Laster erzeugt (vgl. Fetscher 1968, 15 f.). Warum setzt Rousseau nun aber den ›Barbaren‹ als ›homme naturel‹ der Hirtengesellschaft von dem ›Wilden‹ als ›homme naturel‹ der Jägergesellschaft ab? Und worin besteht die geringere Vollkommenheit der Epoche der Wilden gegenüber der der Barbaren? Rousseau führt wenige Gründe für die evolutionäre Bevorzugung des ›barbare‹ gegenüber dem ›sauvage‹ an, aber gemäß den ausdrücklichen Beschreibungen der Vorzüge der Epoche der Barbaren ergeben sich auch deutliche Hinweise auf die geringere Qualität der Zeit der ›sauvages‹. Im Vordergrund steht die von Rousseau an vielen Stellen hervorgehobene Charakterisierung des ›homme naturel‹ als träge und das Leben in Muße genießenden Zeitgenossen. Diese Wesensausstattung kam nun dem Leben des Wilden als Jäger weniger entgegen. Da 68 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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dieser ständig die jagbaren Tiere verfolgen, das Jagdgebiet oft wechseln musste und nicht immer etwas zu essen hatte und mithin seine Bedürfnisse befriedigen konnte, hatte die Naturzustandsepoche der ›sauvages‹ auch Nachteile. Etwas besser passte sich das Hirtenleben den von der menschlichen Natur vorgegebenen Eigenschaften an: »Die Kunst des Hirtenlebens, Mutter der Ruhe und der müßigen Leidenschaft, ist die, die sich am meisten selbst genügt. Sie sorgt fast mühelos für den Lebensunterhalt und die Kleidung des Menschen, sie verschafft ihm sogar seine Bleibe: die Zelte der ersten Hirten waren aus den Fellen der Tiere gemacht; […]« (Rousseau 1989b, 190 f.) Es ist die fast arkadisch anmutende Szenerie des beschaulichen Hirtenlebens, die die Bequemlichkeit und Selbstgenügsamkeit des ›homme naturel‹ mit den notwendigen Grundlagen ausstattet. Die Sicherheit der Versorgung auch über den Augenblick hinaus machte den Hirten vermutlich milder und im Umgang mit seinesgleichen nachsichtiger. Zugleich bestanden aber noch keine Abhängigkeiten der Menschen voneinander, die über die Leidenschaften und die Bedürfnisse des einzelnen hinausgegangen wären. Alles, was den zivilisierten Menschen ausweisen sollte, hatte im Zeitalter der Hirtenbarbaren noch keinen Bestand. Als ›homme naturel‹ gilt aber auch für die Barbaren, dass sie in Wesen und Eigenschaften vieles mit dem ›Wilden‹ gemeinsam haben. Sie heben sich nur in einigen wenigen die Lebenswelt betreffenden Hinsichten voneinander ab. In seiner ›Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit‹ (Rousseau 1989ab) unterscheidet Rousseau nicht einmal zwischen dem ›Wilden‹ (sauvage) und dem ›Barbaren‹. Dort sind ihm die Wesensmerkmale und Lebensgewohnheiten des in der Natur lebenden Menschen noch einerlei. Daher gelten nahezu alle Charakteristika, die Rousseau für den Wilden, den gegenwärtigen und vergangenen Naturmenschen (›homme naturel‹), erkundet hat, auch für den ›Barbaren‹. Beide sind nahezu ausschließlich mit Instinkten begabt, d. h. ohne jede Vernunft und Vorstellungskraft. Wie die Tiere riechen, schmecken und sehen sie besser als der zivilisierte Mensch. Sie laufen schneller und sind körperlich geschickter als dieser. Außer der Wahrnehmung und der Empfindung gibt es nichts, das den Wilden zu seiner Umwelt und den anderen Wilden in Beziehung setzt. Es gibt keinerlei Differenzierung in der Zeit, ein vorher und nachher gibt es allein hinsichtlich seiner Bedürfnisse. Er lebt in den dumpfen und zugleich extrem sinnlichen Verhältnissen seiner Instinkte. Man kann nicht einmal sagen, dass er sich für 69 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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dieses oder jenes entscheidet oder nicht entscheidet. Wenn er etwas will oder begehrt, rührt dies nicht von einer bewussten oder irgendwie gedanklich begleiteten Entscheidung her: Er will oder er will nicht, er begehrt oder er begehrt nicht. Dies gilt für Nahrungsmittel, für Handlungen und für andere Wilde, d. h. für Dinge und Menschen, gleichermaßen. Seine Beziehung zur äußeren Welt gleicht einem langen Strom sinnlicher Eindrücke und Wahrnehmungen, in dem es kein Halten oder Unterscheiden gibt. Er wird von Trieben geleitet, die sich auf seine Grundausstattung und Temperamente stützen. Als träges, faules und manchmal hungriges Geschöpf, das ab und an ein ›Weibchen‹ begehrt, haben auch seine Begierden und Instinkte eine überschaubare Reichweite. Da er auch Schmerz empfinden kann, fürchtet er diesen und versucht, alles, was ihn verursachen könnte, zu meiden. Rousseau ist sich im Klaren darüber, dass ein lebendiges Wesen, zu dessen Grundausstattung auch das Vermögen der Vervollkommnung und der Freiheit gehört, in einem sehr lange währenden und mit vielen Hindernissen versehenen Prozess zu gedanklichen Vorstellungen und Vernunft kommen wird und kommen muss. Besonders bemerkenswert ist Rousseaus Annahme, dass die menschliche Verstandestätigkeit – wenn sie einmal im Menschen beginnend einsetzt – sinnliche Eigenschaften im Verlaufe des naturgeschichtlichen Prozesses weiterentwickelt. Schon der natürliche Mensch will erkennen, weil er begehrt. Dies bedeutet auch, dass er durch sein Begehren sich auf die Differenzierung in zeitlich unterschiedene Einheiten, d. h. auf die Entfaltung von Zeitlichkeit überhaupt zubewegt. Der Mensch wird in seinem Prozess der Vervollkommnung angetrieben durch seine Bedürfnisse und Leidenschaften. Aber dies ist bereits das Stadium einer kognitiven Evolution, die weit entfernt ist von jenem Zustand, in dem der natürliche Mensch dem Tier noch sehr ähnlich ist: »Seine Einbildungskraft bietet ihm keine Bilder dar, sein Herz fordert nichts von ihm. Seinen mäßigen Bedürfnissen kann er leicht Genüge tun; und er ist von dem Grade an Kenntnis, ohne welchen man niemals nach größeren Bedürfnissen strebt, so weit entfernt, dass er weder etwas vorhersehen noch neugierig sein kann.« (Ebd. 73) Etwas vorhersehen zu können, d. h. eine zeitliche Distanz zwischen dem Hier und Jetzt und einem Später annehmen zu können, sich etwas Zukünftiges vorstellen und erträumen zu können, entspricht bereits einem weit in die kognitive Kultivierung des Menschen hineinreichenden Schritt. 70 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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Nicht einmal sein eigenes Ende kann er sich vergegenwärtigen. Er kann sich seinen eigenen Tod nicht vorstellen, d. h. es gibt für ihn noch kein ›Sein zum Tode‹ im Sinne Heideggers. Gleiches gilt auch für die Einbildungskraft, die im naturverhafteten Anfangsstadium nicht existiert. Der Naturzustandswilde kann sich keine Bilder machen oder Sachen vorstellen. Weil er kein Bild imaginieren kann, kann er auch nichts Bestimmtes, was abwesend ist, begehren. Was ihn treibt, ist ein dumpfes Begehren, das erst dann aktualisiert wird, wenn ihm das Objekt seiner Begierde begegnet. Daher ist es letztlich auch einerlei, wer oder was ihm begegnet. Wenn es mit seinen Trieben und Begierden korrespondiert und diese zu sättigen verspricht, wird es von ihm genossen. Er kann sich noch nicht etwas vorstellen, es in Gedanken behalten und später wiedererinnern. Dies und die darin essentiell wirkende Struktur der Zeit sind dem Wilden des Naturzustandes fremd. In dieser Hinsicht gleicht der Wilde in den Projektionen Rousseaus durchaus den Tieren – allein das latent in ihm schlummernde Potential einer Verstandesentwicklung unterscheidet ihn von diesen.

3.

Der Unfrieden und die strukturierte Zeit

Die letzte Phase des Zeitalters des Naturzustandes wurde nach Rousseau im Verlaufe der Sesshaftwerdung durch den Beginn des Ackerbaus beendet und damit in den Zustand der Zivilisation übergeleitet. Im 2. Discours – in dem er die Differenz zwischen ›sauvage‹ und ›barbare‹, d. h. zwischen der Zeit der vagabundierenden ›Wilden‹ und der bereits sesshaften, Tiere haltenden Barbaren, bestenfalls andeutet – unterstreicht Rousseau, dass neben dem Ackerbau auch die Erfindung der Metallverarbeitung für die entscheidende zivilisatorische Umwälzung grundlegend war. Ackerbau und Metallverarbeitung ergänzen sich in ihrer Entwicklung, da die Menschen für die Bestellung des Bodens Geräte und Werkzeuge benötigten, die sich durch entsprechend bearbeitete Metalle nachhaltig verbessern ließen. Umgekehrt konnten durch den Ackerbau dauerhaft die Nahrungsmittel geliefert werden für die Menschen, die sich anderen Tätigkeiten als der Kultivierung des Bodens und der Aufzucht von Tieren widmeten. Zugleich begünstigte dieser Umstand, wie Rousseau resümiert, dass viel mehr Menschen ernährt werden konnten und so die Bevölkerungszahlen stiegen – was 71 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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wiederum zu einem Zuwachs an Arbeitskräften für den Ackerbau und die Herstellung von Arbeitsgeräten führte. Mit dem Ackerbau ergab sich auch – und dies ist sicherlich ein sehr entscheidender Punkt für alle weiteren menschheitsgeschichtlichen Entwicklungen – die Notwendigkeit der Parzellierung und Abgrenzung der Erde für die Menschen. »Aus dem Ackerbau entsprang notwendig die Aufteilung des Bodens; und das einmal anerkannte Eigentum führte zu den ersten Regeln von Recht und Unrecht: Denn um jedem das Seinige zu geben, muss erst jeder etwas besitzen können. Überdies begannen die Menschen ihre Blicke in die Zukunft zu richten, und da sie alle etwas zu verlieren hatten, so gab es keinen, der nicht selbst die Vergeltung für das Unrecht zu fürchten hatte, das er einem anderen zufügen konnte.« (Ebd., 102 f.) Aber noch eine weitere wichtige Entwicklungsvoraussetzung begleitete diesen Prozess, denn mit dem Aufkommen von Ackerbau und Metallverarbeitung hielt auch die Arbeitsteilung Einzug. Viele Arbeiten konnten nur noch gemeinsam bewerkstelligt werden und machten den Menschen damit abhängig von den anderen. Das Glück der Unabhängigkeit und Selbständigkeit des Einzelnen, der zuvor im Naturzustand nur seinen eigenen zeitnahen Bedürfnissen tätig nachging, war nunmehr verloren. Die den Kulturzustand wesentlich prägenden Phänomene des Eigentums und der Arbeitsteilung stehen auch am Anfang der Ungleichheit, der Trennung der Menschen in Herren und Sklaven, Gut und Böse sowie allen weiteren sozialen und ökonomischen Entgegensetzungen. Bemerkenswert ist die Vorgehensweise Rousseaus, wenn er diese drei großen epochalen Abschnitte der Menschheitsgeschichte und die jeweiligen Wendepunkte zwischen ihnen beschreibt und analysiert. So dominiert keineswegs die so oft bei Rousseau vermutete Moralisierung der Sozialgeschichte. Zweifelsfrei schafft sich Rousseau einen kritisch urteilenden Zugriff auf die historische Entwicklung der Menschheit, indem er ihr hypothetisch einen idealen Naturzustand gegenüberstellt. Letztlich entscheidend für den methodischen Zugriff Rousseaus ist jedoch, dass er sich an ein streng analytisches Vorgehen hält. Er zeichnet materielle und strukturelle Veränderung – vor dem Hintergrund einer kontingenten Voraussetzung – nach und zeigt auf, welche notwendigen Entwicklungen sich aus den neuen, symbolische und materielle Differenz gewordenen Ordnungen ergeben. Dabei sticht besonders die Einschneidung in Grund und Boden als radikale Markierung von Dein und Mein, Recht und Unrecht, diesseits und 72 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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jenseits des Gesetzes hervor. Mit der Grenzziehung auf der Erde und im Raum entsteht somit zugleich auch jede andere Form der materiellen wie symbolischen Grenze – sowie ihrer vielfältigen Distinktionen. Denn mit der Differenzierung im Raum geht auch die Differenzierung in der Zeit – und ihren von der faktischen Erfahrung losgelösten Einheiten – einher. Dies gilt sogar noch für die im Menschen des Naturzustandes zwar angelegten aber zunächst noch nicht ausgeprägten geistigen Phänomene der Urteilskraft und des Vorstellungsvermögens. Auch sie entstehen erst mit den Grenzziehungen und Landschaftsmarkierungen, die eine neue Grundlage für die individuelle und soziale Existenz konturieren. Auch ist die Grenzziehung im Raum der Beginn und die Grundlegung der sozialen Ungleichheit und damit nach Rousseau die ursprüngliche Wendung hin zu einer Gesellschaft, die einen beinahe allumfassenden Friedenszustand hinter sich lässt und in einen quasirechtlichen aber zugleich kriegerischen Kulturzustand eintaucht. Der berühmte Satz Rousseaus, der den ›Zweiten Teil‹ des 2. Discours einleitet, ist es wert, noch einmal als paradigmatischer Tropus analysiert zu werden: »Der erste, welcher ein Stück Landes umzäunte, es sich in den Sinn kommen ließ zu sagen: Dies ist mein, und einfältige Leute fand, die es ihm glaubten, der war der wahre Stifter der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Elend und Greuel hätte der dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen, den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ›Glaubt diesem Betrüger nicht; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören, der Boden aber niemandem!‹« (Ebd. 93) Die Kernaussage dieses Satzes weist der ›bürgerlichen Gesellschaft‹ die Charakteristika ›Verbrechen‹, ›Krieg‹, ›Mord‹, ›Elend‹, ›Greul‹ zu. Sie gehen zurück auf die Entstehung des Eigentums durch eine Landnahme, die selbst wenig gewaltsam gewesen zu sein schien. Mit der ungerechten Einteilung der Erde und des Raumes geht eine den Menschen von der natürlichen und unmittelbaren Erfahrung der Zeit ablösende Entwicklung einher. Wie der Raum wird auch die parzellierte Zeit zu einer umstrittenen Ressource. Mit ihrer durch die lineare Strukturierung möglich gewordenen Ungleichverteilung geht ein stets schwelendes gewaltsames Ringen um ihren Genuss einher. Die differenzierte und abstrakte Zeit erfasst dabei alle von Menschen vollzogenen Handlungen, Gedanken und Gefühle. Diese Gliederung und Stückelung der Zeit kennt keine Standes- oder Eigen73 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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tumsgrenzen. Sie macht alle Menschen gleichermaßen unfrei, indem sie sie an das Joch der Zeit kettet. Machen wir nun einen Sprung zu Rousseaus Projekt einer sozialen Befriedung, die die ungerechte Verteilung des Raumes und die alles dominierende Gliederung der abstrakt linearen Zeit zu überwinden versucht. Deutlich wird, dass Rousseau bereits von der für die Aufklärung selbstverständlichen ordnungsmäßigen Befriedung der Gesellschaften durch die Staats- und Rechtsentwicklung ausgeht. Der Friedensund Kriegsbegriff bezog sich noch hundert Jahre zuvor in erster Linie auf einen gesamtgesellschaftlich herzustellenden Frieden, der insbesondere in der Epoche des europäischen Bürgerkriegs Mitte des 17. Jahrhunderts noch weit entfernt war. Mit der Stabilisierung der Staatlichkeit im 18. Jahrhundert ist dann auch eine zunehmende Verlagerung des Friedens- und Kriegsbegriffes auf die zwischenstaatliche Ebene zu verzeichnen (vgl. Janssen 1995, 227–275). Rousseaus Texte sprechen implizit von dieser Neuorientierung und Neuausrichtung des Friedensparadigmas. Darüber hinaus aber fügen sie der theoretischen Forschung nach den Ursachen sozialer und politischer Gewalt einige bemerkenswerte Aspekte hinzu. Mit Blick auf den für das Friedensdenken so wichtigen Zeitbegriff unterscheidet sich Rousseau allerding auffällig, trotz aller Nähe, von einem seiner friedenstheoretischen Vorgänger. Augustinus, der Urheber der christlichen Friedenstheorie, unterscheidet einen ›vollkommenen‹ ewigen Frieden (pax aeterna) von einem irdischen Frieden, der nur ein unvollkommenes Abbild von jenem darstellt (pax temporalis) (vgl. Augustinus, Buch XIX). Der vollkommene jenseitige Frieden fällt zusammen mit vollkommener Gerechtigkeit. Dies ist aber nach Augustinus nur im ›ewigen‹ jenseitigen Frieden möglich. Der irdische Frieden kann daher nur ein schwaches Abbild oder gar Zerrbild des ewigen Friedens sein. Den Rousseauschen Überlegungen sehr nahe kommt die Einsicht Augustinus, dass wahrer Frieden nur mit echter Gerechtigkeit zusammen bestehen kann. Der irdische, unvollkommene Frieden ist eher als ein Frieden auf Zeit oder ein zeitlicher Frieden, als pax temporalis, zu sehen. Auch Thomas von Aquin stellt diese Beziehung her, wenn er vom zeitlichen Frieden (pax temporalis) als pax imperfecta (dem unvollkommenen Frieden) spricht (vgl. Thomas von Aquin 1959, IIa-IIae, q. 29 a. 2 ad 4). Irdischer und zeitlicher Frieden stellen die realistische Seite in der antiken und frühmittelalterlichen christlichen Friedenstheorie dar. Hingegen ent74 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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spricht die Idee eines vollkommenen ewigen Friedens der stillschweigenden Herzensübereinkunft gleicher und freier moralischer Wesen bei Rousseau, die im ›Gemeinwillen‹ (›volonté générale‹) miteinander verschmelzen. Eine Gesellschaft, die sich im falschen Schein vom Ringen um Anerkennung und materiellen Reichtum verfangen hat, wäre kaum zu retten, wenn es nicht im Herzen des einzelnen Menschen noch jenen Rest von Gewissen und moralischer Aufrichtigkeit gäbe, die wesentliche Bestandteile seiner menschlichen Natur sind. Die Auffassung dieser menschlichen Natur ist bei Rousseau deutlich christlich geprägt – und nur sie eröffnet die Möglichkeit eines zumindest im Staate zu verwirklichenden ›ewigen Friedens‹. Misstrauen, Hass und Verrat der ›alten‹ Gesellschaft können nur überwunden werden, weil das Band der menschlichen Herzen ein zukünftiges Vertrauen, das zentraler Bestandteil menschlicher Gemeinschaft ist, nahelegt. Allerdings ist Rousseau nicht der Ansicht, dass dieser vollkommene Frieden nur in einer jenseitigen, himmlischen Welt imaginierbar ist. Ein irdischer Frieden, der zwar einen weitgehend gewaltfreien Zustand einer staatlichen Rechtsgemeinschaft, aber erhebliche Ungleichheiten unter den Bürgern sowie geringe Freiheitsrechte der einzelnen bedeuten würde, gälte ihm als ungenügend.

4.

Der neue Frieden als fortdauernder, ewiger Zustand

Es ist bekannt, dass Hobbes Zeitgenosse einer weit verbreiteten absolutistischen Staatsauffassung ist, die in zwischenstaatlicher Hinsicht im 17. Jahrhundert von einer Theorie des europäischen Gleichgewichtes begleitet wird (vgl. Hobbes 1994). Zwar gibt es auch im 17. Jahrhundert Vereinbarungen zwischen den Staaten, die zu Friedensverträgen führen, aber diese sind zumeist nur als bilaterale Abkommen und ›Waffenstillstandsvereinbarungen‹ mit eher vorläufigem Charakter versehen gewesen. Das absolutistische Staatsverständnis bringt eine nahezu ›natürliche‹ Konkurrenz und eine beständige Rivalität der Staaten mit sich. Diese Auffassung einer permanenten Feindschaft zwischen den Staaten verlangte zugleich aber nach einer Reflexion der Chancen einer stabilen zwischenstaatlichen Ordnung. Die damals weit verbreitete Theorie des Gleichgewichts zielte darauf, eine Situation zwischen den europäischen Staaten zu vermeiden, in der eine der führenden ›präponderierenden‹ Mächte 75 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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zu einer echten Vormachtstellung gelangt. Die zentrale Aufgabe einer internationalen Ordnung war es, das Hegemonialstreben einzelner Staaten dadurch einzudämmen, dass ein Gleichgewicht der Großmächte hergestellt wird. Auch kleinere Staaten galt es an diesem Prozess zu beteiligen, der ein eher instabiles internationales Gefüge in ein relativ stabiles Grundgerüst transformieren sollte. Die Realität des 17. Jahrhunderts zeigte allerdings, dass die Theorie des Gleichgewichts nur wenig Frieden und sehr oft geeignete Legitimationen für außenpolitische Aggressionen hergab. Denn zur Herstellung eines Gleichgewichts unter den Staaten scheint ein Krieg besonders dann angeraten, wenn ein anderer, möglicherweise zur ›Präponderation‹ tendierender Staat in seine Schranken gewiesen werden muss. Dass dies nicht selten Scheinlegitimationen mit dem Ziel der eigenen Machtausdehnung waren, zeigte sich z. B. in den Kriegen gegen Spanien unter der Regentschaft Philipps II. oder gegen Frankreich mit seinem Oberhaupt dem Sonnenkönig Ludwig XIV. Die theoretischen Bemühungen um das vermeintlich friedenstiftende Konzept einer Gleichgewichtsetablierung hielten sich teilweise bis weit ins 19. Jahrhundert als Ambitionen einer ›balance of power‹, wie sie etwa von englischer Seite für eine europäische Politik favorisiert wurden. Im Kontext der Maxime eines internationalen Gleichgewichts und der immer wieder aufflammenden Waffengänge steht auch die spezielle Textgattung des Friedensvertrages. Die auch auf die zeitgenössischen Erfordernisse zugeschnittenen Rechtstexte sahen zunächst vor, das jeweilige Kriegsende zu besiegeln. Dabei ging es aber vor allem darum, Vereinbarungen zu treffen, die präzise und pedantisch festlegten, was keinen Interpretationsspielraum mehr lassen sollte. Denn die Erfahrung hatte gezeigt, dass Auslegungsspielräume in den Rechtstexten der Friedensverträge schnell neuen Kriegsplänen Vorschub leisten konnten. Daher bemühte man sich um juristisch eindeutige und exakte Formulierungen. Die Textform des verpflichtenden Vertrages war so eng mit der Idee eines zwischenstaatlichen Friedens verknüpft, dass auch nahezu alle theoretischen Einlassungen zur Friedensproblematik auf die Verschriftlichung von Vertragselementen zurückgriffen. Dies gilt sowohl für die Darstellungen der Überlegungen des Abbé de Saint Pierre durch Rousseau als auch für den berühmten Text ›Zum ewigen Frieden‹ Kants. So wurde etwa während der Friedensverhandlungen sehr genau zwischen vorläufigen und endgültigen vertraglichen Vereinbarungen unterschieden, was sich im Vertragstext in den Präliminar76 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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und Definitivartikeln niederschlug. Eine solche normative Differenzierung findet sich beispielsweise auch im Text von Kant. Anders als bei diesem galten die Friedensverträge, die in der Realität zwischen den absolutistischen Staaten geschlossen wurden, allerdings nicht dem Zweck eines dauerhaften – d. h. echten, nämlich zeitlich unbefristeten – Friedens. Vielmehr ging es hier nicht selten darum, den Krieg nur formalvertraglich zu beenden, um ihn bei nächster geeigneter Gelegenheit zum eigenen Vorteil wieder zu beginnen. Diese Friedensverträge waren mehr als vorläufig, da sie schlicht nur dazu dienten, die aktuell vorliegenden Interessenkonflikte vorerst ad acta zu legen. Dies geschah zumeist mit der stillen Intention, den entstandenen Waffenstillstand als Frieden auf Zeit oder als ein vorübergehendes außenpolitisches Arrangement zu verstehen. Aus diesem Grunde lässt sich gut nachvollziehen, warum Kant den ersten ›Präliminarartikel‹ seiner Friedensschrift von 1795 mit folgendem Wortlaut versieht: »Es soll kein Friedensschluss für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffes zu einem künftigen Kriege gemacht worden.« (Kant 1983, 196) Kant reagiert mit diesem Vertragsgrundsatz, der exponiert gleich zu Beginn der friedensvertragsähnlichen Strukturierung seines Textes auftaucht, deutlich auf die historischen Erfahrungen des 17. und 18. Jahrhunderts. Und auch Rousseau hatte bereits in dem ›Entwurf eines fortdauernden Friedens‹ von 1761 geschrieben: »Kommen wir also zu dem Ergebnis, dass das Verhältnis zwischen den europäischen Mächten eigentlich ein Kriegszustand ist, und dass alle partiellen Verträge zwischen einigen dieser Mächte eher vorübergehende Waffenstillstände als wirkliche Friedensschlüsse sind, […].« (Rousseau 2009, 27) Rousseaus und Kants Beurteilung der Fragilität und Vorläufigkeit der Friedensschlüsse zwischen den absolutistischen Fürsten des 18. Jahrhunderts decken sich in bemerkenswerter Weise. Allerdings bilden zunächst Rousseau und Jahrzehnte später Kant die friedenstheoretische Avantgarde des Jahrhunderts. Denn ganz anders als in den irenischen Überlegungen Rousseaus und Kants ist man in dieser Epoche noch weit entfernt von einem Friedensverständnis, das eine unbeschränkte zeitliche Dauer und eine alle Staaten umfassende Geltung impliziert. Und in der Tat war es kein einfaches rechtstheoretisches Problem, das sich aus dem Verständnis einer Vielzahl von souveränen Staaten und dem Bemühen um ihre friedliche Koexistenz ergab. Es 77 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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liegt nahe, dass sich selbständig wähnende politische Einheiten, die innerstaatlich durchaus eine Befriedung haben erreichen können, nach außen ihre jeweils eigenen und spezifischen Interessen verfolgen. Nur ergibt ein solcher Zustand, dass sich diese getrennten souveränen Einheiten nur widerstrebend einer anderen ihnen übergeordneten Rechtsinstanz unterwerfen, die wie auch immer entstandene Konflikte unter ihnen durch einen Richterspruch beilegen könnte. Das Verständnis der Souveränität der Staaten, das die politische Neuzeit wesentlich begleitet, zeigte gerade an dieser Stelle eine grundsätzliche Schwierigkeit. Es schien prinzipiell – und auch theoretisch – unmöglich, eine verlässliche und dauerhafte Friedensordnung zwischen den unabhängigen Souveränen zu etablieren. Wie könnte oder sollte ein Recht zwischen den Staaten aussehen, das sich dieser grundlegenden Problematik stellt? Ist überhaupt ein Recht denk- und vorstellbar, das nicht durch eine zentrale und übergeordnete Instanz gesprochen wird, die selbst wiederum über eine unabhängige Macht und Stärke verfügt?

5.

Das Völkerrecht als Konzept einer unendlichen Endlichkeit

Nur ein Jahr nach dem Diskurs über die Ungleichheit (1756) und einige Jahre vor der Fertigstellung des Contrat Social macht Rousseau Anstalten, in der Systematik der von ihm entworfenen politischen Institutionen sich zunächst mit dem Konzept eines Friedensbundes zwischen den Staaten auseinander zu setzen. Vertragstheoretisch wirft eine solche, die Gesellschaften in einem Bund vereinigende, Bestrebung zwar ähnliche Probleme auf wie die innergesellschaftliche Einheit. Allerdings ist schnell evident, dass zwischen den Staaten die Voraussetzung des Vertrauens in das vertragliche Versprechen der Partner an weniger enge und alle umfassende Gesetze gebunden sein wird. Zugleich ergibt sich das Problem eines kollektiven Vertrauens und eines kollektiven Versprechens, das vertraglich auf gemeinschaftliche Pflichten und Rechte zulaufen müsste. Die Friedensschriften Rousseaus spiegeln diese veränderte vertragliche Problemlage und Konstellation wider. Die erste von zwei Schriften, »Extrait du Projet de Paix Perpétuelle de Monsieur L’Abbé de Saint-Pierre« (»Auszug aus dem Entwurf eines fortdauernden Friedens des Herrn Abbé de Saint-Pierre«) will eine Art ›Auszug‹ oder kurze Darstellung 78 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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eines größeren Werkes oder Konzeptes, welches es in der Tat gegeben hat, des Abbé de Saint-Pierre präsentieren. Der Abbé hob nachdrücklich hervor, dass das Projekt über den ›ewigen Frieden‹ sein Hauptanliegen wiedergebe und daher als sein chef-d’œuvre zu betrachten sei. Das Werk erschien in drei umfangreichen Bänden und hatte wohl vom Tag des Erscheinens an gewisse Schwierigkeiten, interessierte und zahlreiche Leser zu finden. Auch de Saint-Pierre versuchte sich – vermutlich aus diesem Grunde – an kürzeren abrissartigen Fassungen (1729 und 1738), die eine Rezeption der umfangreicheren und sperrigen Schrift befördern sollten. Wenn auch de Saint-Pierre als Denker nie eine solche Aufmerksamkeit erlangte wie einige andere französische Autoren der Aufklärung, so fand seine Idee eines ›Paix Perpétuelle‹ – vermutlich auch durch die bereits interpretierende Vermittlung Rousseaus – eine erstaunliche Rezeption. Zunächst fand diese in Frankreich statt und schwappte Ende des 18. Jahrhunderts nach Deutschland über und entfaltete dort ihre ganze Wucht unter dem Titel des ›Ewigen Friedens‹, durch den der Begriff gewordene Ausdruck ›Paix Perpétuelle‹ ins Deutsche übertragen wurde. 3 In Frankreich jedoch legte Rousseau selbst, wie auch bereits der Herausgeber des Extrait (Auszug aus dem Projekt …) Jean-Francois Bastide im Jahre 1761, Wert auf die Feststellung, dass es sich bei dem Text Rousseaus um mehr als nur eine Darstellung und Analyse der Schrift des Abbé handelt. Rousseau schreibt gar in den Confessions, dass »sehr bedeutende Wahrheiten unter dem Mantel des Abbé de Saint-Pierre noch glücklicher als unter dem meinigen durchgingen« (Rousseau 2009, XI). Nun legt diese Metapher nahe, dass der Mantel hier noch zudeckt und im Text versteckt, was es erst mit dem Wurf einer Entblößung freizulegen gilt. In derselben Zeit aber – und ganz ohne Mantel – verfasst Rousseau eine zweite Friedensschrift. Diese trägt den Titel: »Jugement sur la Paix Perpétuelle« (»Beurteilung des Friedensentwurfes«) und wurde postum im Jahre 1782 veröffentlicht (Rousseau 2009, 82–108). Wenngleich es in beiden Schriften unterschiedliche Positionsnahmen und Argumente gibt, so scheinen sich diese doch im Rahmen einer dialogartigen Erörterung des Problemfeldes abzuspielen. Die rechtsphilosophischen Entfaltungen einer universalen Frie3 Es liegt nahe, wie in neueren Übersetzungen geschehen, den Ausdruck ›paix perpétuelle‹ mit ›fortdauernder‹ oder ›andauernder Frieden‹ zu übersetzen.

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densidee im Extrait (Auszug) tragen die Züge Rousseauscher Überlegungen und stehen in direktem Zusammenhang mit seinen späteren Ausführungen zum Konzept des Gesellschaftsvertrages. Und auch Anknüpfungen an den Diskurs über die Ungleichheit und dessen Naturzustandsbeschreibung scheinen sich im Extrait (Auszug) wiederzufinden. So heißt es gleich zu Beginn des Auszugs: »Wenn es überhaupt ein Mittel zur Behebung dieser gefährlichen Widersprüche gibt« – gemeint ist die Verstrickung von innerem und äußerem Kriegszustand der Staaten – »so kann dies nur eine Form von bündischer Verfassung sein, welche die Völker durch ähnliche Bande vereinigt, wie sie die Individuen einen, und jene dadurch wie diese gleichermaßen der Autorität der Gesetze unterordnet.« (Rousseau 2009, 16) Auf der Ebene eines zwischenstaatlichen Bundes die ›Autorität des Gesetzes‹ zu fordern bedeutet, dass Staaten ihre Souveränität und Eigenständigkeit abgeben müssten. Sie müssten einen Vertrag mit der gegenseitigen Übergabe ihrer Rechte an eine dritte Macht schließen. Aber an eine staatsähnliche Ordnung, der sich die Souveräne unterwerfen, ist wohl nicht gedacht. Sie sollen ein dauerhaftes und unwiderrufbares Bündnis schließen, das einen konkreten Ort mit entsprechenden Bündnisversammlungen hat. Zwar ist an eine ›zwingende Kraft‹ gedacht, die die Mitglieder des Staatenbundes widerspruchsfrei organisiert, aber dies soll letztlich durch gegenseitige Verpflichtungen geschehen, durch die es zu einem dauerhaften Bestand der Organisation kommt. Dies setzt voraus, dass es ein gegenseitiges Vertrauen in die Erfüllungen der Pflichten der Mitglieder des Bundes gibt. Doch auch hier zeigt sich der schon bei der Hobbesschen Beschreibung des Naturzustandes auftretende Widerspruch zwischen der Vertrauenserfordernis und -generierung des Vertragszustandes einerseits und der Situation des vorangehenden Naturzustandes – hier derjenige unter den Staaten – als tiefes Misstrauensverhältnis. Rousseau und der Abbé konstatieren, dass der gegenwärtige Kriegszustand Europas aus dem ›mangelnden Vertrauen‹ untereinander und der Furcht voreinander resultiere. Niemand kann vor dem anderen sicher sein und daher versucht jeder Staat die Schwächen der anderen unmittelbar auszunutzen. Erst im Bund wird diese gegenseitige Übervorteilung aus Furcht vor dem anderen Staat aufgegeben und es entsteht eine wechselseitige Bindung. Das Argument der gegenseitigen Integration, die einen Prozess in Gang setzt und Bindekräfte entfaltet, taucht im Auszug immer 80 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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wieder auf. Dabei genügt es nicht, auf bilaterale Verträge zu bauen. Diese bleiben ›partielle Verträge‹ und sind keine echten ›Friedensschlüsse‹. Sie sind eben nur ›vorübergehende Waffenstillstände‹, weil die einzigen Garanten die vertragsschließenden Parteien selbst sind. Erst die Substitution unter eine Bündnismacht kann einen dauerhaften oder ›Ewigen Frieden‹ schaffen. Dieser ist jedoch auf eine besondere Beziehungsbildung seiner Mitglieder angewiesen. Der Bund muss die Abhängigkeit seiner Mitglieder befördern und damit ihre Verflechtungen unumkehrbar machen. Neben einer ganzen Reihe von Vertragselementen, die eine solche dauerhaft starke Integration betreiben könnten, nennen Rousseau und der Abbé, dass der Bund unwiderruflich gelten muss und dass die territorialen Grenzen zwischen den Mitgliedsstaaten mit Vertrags- und Bundesschluss ein für alle Mal Bestand haben. Spätestens durch einen gemeinsamen Rechtsrahmen, der durch einen gemeinsamen Gerichtshof überwacht und exekutiert wird, ist die Beziehung zwischen den Staaten so intensiv, dass eine Lockerung der Verbindung kaum mehr möglich scheint. Das vielleicht stärkste Argument für eine dauerhafte Integration aber ist, dass der Europäische Friedensbund – denn zunächst wird der ›Ewige Frieden‹ in der Perspektive Europas gedacht – nur allzu gut die egoistischen wirtschaftlichen Interessen der Mitgliedsstaaten zufrieden stellen würde. Denn wenn die Staaten keine Kriege mehr führen müssten, die viel Geld kosten, könnten sie den freien Handel stärken und die erhofften Profite vergrößern. Daher würde der Friedensbund die wahren Interessen der Staaten vertreten, während hingegen die fortgesetzten Gewaltsamkeiten und Eroberungen nur scheinbar kurzfristige Erfolge und Gewinne bringen. In seiner ›Beurteilung‹ (Jugement) unterstreicht Rousseau diesen Aspekt und betont, dass die wahren Interessen überdies an eine ›Herrschaft der Gesetze‹ gebunden sind. Aber die Bedenken Rousseaus angesichts der eigenen Darstellungen und hinsichtlich der Überlegungen des Abbé sollen nicht ganz verschwinden. Dies wird besonders dann deutlich, wenn er den schnell einsehbaren Vorteilen des Friedensbundes dem zugegeben ebenfalls hohen Nutzen durch Übel und Missbräuche gegenüberstellt. Die Realisierbarkeit des Friedensbundes ist zudem schwierig und erinnert ein wenig an das innergesellschaftliche Befriedungsbemühen im »Diskurs über die Ungleichheit« und den dort skizzierten Prozess, der zum ›Betrugsvertrag‹ führt. Wo das gegenseitige Misstrauen und der Verrat alltäglich sind, kann das, was der Allgemeinheit dient »fast nur 81 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Alfred Hirsch

mit Gewalt eingeführt werden«. Die Vorbehalte gegenüber einem friedfertigen und auf gegenseitigem Vertrauen beruhenden Vertragsschluss scheinen letztlich doch so groß, dass nur Mittel, die der »Menschlichkeit auf furchtbare Weise« (Rousseau 2009, 107) widersprechen – wie Rousseau schreibt – diesen ›schönen Plan‹ umsetzen könnten. Von wem auch immer diese grausame Gewaltsamkeit herrühren sollte, wenn es doch noch keine gemeinsame höchste Rechtsmacht gibt, lässt er allerdings offen. So taucht doch auch hier schemenhaft die Chimäre eines machtvollen Leviathan, der zur letzten Gewalt greift, auf.

Literatur Augustinus: De civitate Dei. Fetscher, I. (1968): Rousseaus Politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs, Neuwied am Rhein/Berlin: Luchterhand. Hirsch, A. (2012): Rousseaus Traum vom ewigen Frieden, München: Fink. Hobbes, T. (1994): Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. v. I. Fetscher, aus dem Englischen v. W. Euchner, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Janssen, W. (1995): »Friede. Zur Geschichte einer Idee in Europa«, in: D. Senghaas (Hg.): Den Frieden denken, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 227–275. Kant, I. (1983): »Zum Ewigen Frieden«, in: Werke in zehn Bänden, hg. v. W. Weischedel, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Rousseau, J.-J. (1989): »Abhandlung über die von der Akademie zu Dijon gestellte Frage, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen habe«, in: ders.: Sozialphilosophische und Politische Schriften, aus dem Französischen v. E. Koch u. a., Zürich: Ex Libris, 5–35 (1. Discours). Rousseau, J. J. (1989a): »Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen«, in: ders.: Sozialphilosophische und Politische Schriften, aus dem Französischen v. E. Koch u. a., Zürich: Ex Libris, 37–161. Rousseau, J.-J. (1989b): »Versuch über den Ursprung der Sprachen, in dem von der Melodie und der musikalischen Nachahmung die Rede ist«, in: ders: Sozialphilosophische und Politische Schriften, aus dem Französischen v. E. Koch u. a., Zürich: Ex Libris, 163–221. Rousseau, J.-J. (2009): »Beurteilung des Entwurfs eines fortdauernden Friedens«, in: ders.: Friedensschriften, aus dem Französischen v. M. Köhler, Hamburg: Meiner, 82–108. Starobinski, J. (1993): Rousseau. Eine Welt von Widerständen, aus dem Französischen v. U. Raulff, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

82 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Sektion 2: Zeit und Friedenspraktiken

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Werner Distler

Die fragmentierte Zeit im Peacebuilding. Die Zeitdimensionen der Praxis des Friedenschaffens 1.

Einleitung

Nach einem Konflikt im Rahmen einer Intervention aktiv Frieden schaffen – diese Absicht wird in der internationalen Politik und den Sozialwissenschaften seit der »Agenda for Peace« des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Boutros Boutros-Ghali als Peacebuilding bezeichnet (Report of the Secretary General 1992), eine allgemeine (und allgemein akzeptierte) Definition des Begriffes fehlt jedoch. Peacebuilding lässt sich nicht auf wenige und klar definierte Aktivitäten beschränken: »Like any policy-crafted notion, ›peacebuilding‹ takes on several meanings according to the context in which it is used.« (Goetze u. Guzina 2008, 319) Am sinnvollsten erscheint daher noch eine breite Definition, wie sie Chestermann vorschlägt. Für ihn ist Peacebuilding extended international involvement (primarily, but not exclusively, through the United Nations) that goes beyond traditional peacekeeping and peacebuilding mandates, and is directed at constructing or reconstructing institutions of governance capable of providing citizens with physical and economical safety. (Chesterman 2004, 5)

Diese weite Definition verweist auf die enge Verbindung zwischen Peacebuilding und anderen Begriffen des »new interventionism« (Doyle und Sambanis 2006), der seit den 1990er Jahren die internationalen Beziehungen prägt: Peacebuilding ist oftmals gleichzeitig auch Statebuilding oder Nationbuilding (Hippler 2004; Schneckener 2005; Talentino 2004). So umfangreich wir Peacebuilding als Konzept begreifen müssen, so weit ist damit auch das Feld der empirischen Fälle: Es reicht von der Transformation Namibias vom Apartheidsstaat zur Demokratie am Beginn der 1990er Jahre und der ersten umfangreichen Internationalen Administration in Kambodscha im Jahre 1992 über die vielen Peacebuilding-Operationen im ehemaligen Jugo85 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Werner Distler

slawien (in Ost-Slavonien, in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo, in Mazedonien) bis hin zu den großen Interventionen unserer Zeit, mit insgesamt fast 60.000 militärischen und zivilen Intervenierenden in Haiti, im Kongo, in Darfur (Sudan) und dem Süd-Sudan (Zentrum für Internationale Friedenseinsätze 2013). Dieser Beitrag über die Bedeutung von Zeit im Friedensinterventionismus will sich der Diskussion der verschiedenen Formen und Manifestationen des Peacebuilding, der völkerrechtlichen und politischen Bewertung von Interventionen und gar der ethischen Berechtigung von Interventionen enthalten. Stattdessen sollen die alltäglichen Erfahrungen der Akteure und die Praxis des Friedenschaffens erkundet werden (vgl. auch Pouligny 2006; Hughes 2009; Autesserre 2014). Erst seit kurzem wird in der hauptsächlich politikwissenschaftlichen Literatur die ganze Breite der durch Interventionen verursachten gesellschaftlichen Veränderungsprozesse diskutiert – weshalb Brast zu Recht fragt, ob ein »sociological turn« (2013) in der Debatte zu beobachten ist. In diesem Zusammenhang ist auch die Absicht von Daxner et al. zu verstehen, eine »Soziologie von Interventionsgesellschaften« zu erfassen: Diese Gesellschaften setzen sich aus intervenierenden und intervenierten Elementen zusammen, die zur Interventionsgesellschaft integriert werden und sich nicht nur additiv auf- oder nebeneinander schichten. In Interventionsgesellschaften finden sich kulturelle Mischungen und Abgrenzungen, die mit den ursprünglichen Strukturen kaum vermittelt sind: Traditionen, informelle Konfliktregelungen und andere lebensweltliche Handlungsfelder werden verschoben, während neue, unbekannte Formen entstehen. Durch die Intervention ändern sich die sozialen Positionen in der ›neuen‹ Gesellschaft, weil im Vergleich zum Zeitpunkt vor der Intervention viele soziale Ressourcen und Fähigkeiten anders bewertet werden. (Daxner et al 2010, 10) 1

Wie der letzte Satz des Zitats zeigt, bleibt Zeit als Faktor in der Literatur über Interventionen nicht unerwähnt. Noch wird sie jedoch, wie später gezeigt wird, nur unter sehr begrenzten, hauptsächlich strategischen Gesichtspunkten problematisiert. Eigenständige und tiefergehende Betrachtungen fehlen. Nimmt man diese Leerstelle als Ausgangspunkt, dann soll dieser Beitrag ein Einstieg in die Auseinandersetzung mit Zeit in der Friedenspraxis sein, der von seinem Er1

Zur Soziologie der Intervention vgl. auch Bliesemann de Guevara (2012a).

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Die fragmentierte Zeit im Peacebuilding

kenntnisinteresse her zunächst in die Breite strebt, also Typen und Charakteristika von Zeitdimensionen erfassen will. Damit soll zunächst erreicht werden, dass wir Zeit nicht als homogenen, sondern als heterogenen, komplexen Begriff in die Debatte des Peacebuilding einführen und nutzbar machen können. 2 Die Betrachtung der unterschiedlichen Dimensionen von Zeit wird zunächst auf der internationalen, dann auf der innergesellschaftlichen Ebene stattfinden. Auf beiden Ebenen werden kollektive und subjektive Zeit diskutiert. 3 Die Differenzierung ermöglicht dann abschließend Thesen über den allgemeinen Charakter von Zeit im Peacebuilding: Zunächst erkennen wir, dass es sich bei Zeit im Peacebuilding immer um eine fragmentierte Zeit handelt, die gekennzeichnet ist von Brüchen und Diskontinuitäten. Die politischen Versuche, eine einheitliche Zeit von Intervenierenden und Intervenierten herzustellen und die Brüche und Diskontinuitäten zu überwinden, sind deshalb erfolglos, weil sich Akteure nicht außerhalb ihrer Zeitwahrnehmungen manifestieren können. Die fragmentierte Zeit ist stattdessen integraler Bestandteil von Friedensinterventionen und definiert deren Möglichkeiten und Grenzen mit. Darüber hinaus kommt es im Alltag der Intervention jedoch immer auch zu begrenzten Überschneidungen und Momenten, in denen die unterschiedlichen Zeitdimensionen der Akteure sich zu einem Gemeinsamen fusionieren: Deshalb muss Zeit im Peacebuilding immer im komplementären Verhältnis zwischen fragmentierter und fusionierter Zeit verstanden werden.

2.

Strategische Perspektive auf Zeit im Peacebuilding

Frieden schaffen benötigt Zeit. Diese Erkenntnis wird in der Literatur über Friedensinterventionen betont. Darüber hinaus herrscht Unsicherheit: Wie viel Zeit darf Peacebuilding in Anspruch nehmen – und welche Folgen haben kurze oder lange Friedensinterventionen? Paris und Sisk haben die temporalen Dilemmata anhaltender StateVgl. für einen heterogenen Zeitbegriff Assmann (1988). Empirisch beruht der Beitrag auf der Arbeit an meiner Dissertation über Intervention als soziale Praxis und in dem DFG-Forschungsprojekt »Deutungsmacht in Postkonfliktgesellschaften« (2010–2013) am Zentrum für Konfliktforschung, Marburg. Für beide Forschungsarbeiten habe ich das Kosovo zwischen 2007 und 2012 mehrfach und länger besuchen können. Viele der Thesen in diesem Beitrag gehen auf Erfahrungen und Beobachtungen während meiner Besuche dort zurück.

2 3

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Werner Distler

building-Interventionen, die ebenso im Peacebuilding gelten, beschrieben: On the one hand, statebuilding is necessarily a long-term enterprise. Elections can be held quickly, but the political institutions to which public officials are elected take much longer to consolidate. […] On the other hand, while statebuilding is a lengthy process, there are countervailing pressures against a prolonged or open-ended international presence. First, over time, important segments of the local population tend to grow increasingly disillusioned – or even hostile – towards the continued presence of powerful outside actors, […]. Second, lengthy or open-ended missions can produce quite a different problem: passivity within the local population, including a lack of interest in taking on the responsibilities of selfgovernment […] In addition, the international resources for statebuilding operations are often limited, both in scale and duration. Few donor countries or international organizations are willing to »sign up« for more than a few years of statebuilding in any given country. Nevertheless, the objectives articulated by these donors and organizations necessarily entail lengthy commitments. (Paris u. Sisk 2007, 5)

Talentino hat in ihrer Studie über Wahrnehmungen des Peacebuilding (perceptions of peacebuilding) in den intervenierten Gesellschaften ebenfalls auf die Gefahr der langen Dauer von Interventionen hingewiesen. Gerade in polarisierten und instabilen Nachkriegsgesellschaften können durch unbegrenzte Operationen Dynamiken entstehen, die zur Gefährdung des bis dahin Erreichten werden können: »A sense of imposition or broken promises can result and spark a local backlash that undermines the legitimacy of reforms and may even result in violence.« (Talentino 2007, 1) Es verwundert daher nicht, dass im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit Zeit in der Literatur und Praxis des Peacebuilding (United Nations Security Council 2001) der so genannte Exit, also das Verlassen der intervenierten Gesellschaft bzw. »the transition of political authority from international to legitimate local institutions« (Zaum 2009, 193), steht: The final suggestion may be controversial but seems important strictly from the perspective of perception, and that is to establish a specific timeframe for the cessation of international efforts. That does not refer to an exit date as such, but a cap on how long an intervention will last, say five years, or a decade at most. There are many critics who will say that this reflects the international community’s lack of commitment […] But we have now seen over 15 years of aggressive efforts at peace and nation building and the gap between aspiration and outcome needs to be faced. (Talentino 2007, 168)

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Die fragmentierte Zeit im Peacebuilding

Die Autorin verweist auf eine empirische Tatsache: Interventionen, wenn einmal begonnen, tendieren aus institutionellen und politische Gründen dazu, sich selbst zu erhalten, wenn auch in immer wieder neuen Varianten und Nachfolgemissionen (Caplan 2006). Friedensinterventionen können über die Zeit hinweg selbst zu einem integralen Teil des »political marketplace« (De Waal 2009) in einer Region werden, wie De Waal am Beispiel afrikanischer Intervention zeigt: The normative demands of international peace engagement […] oblige peace agreements to include far-reaching commitments to political transformation, with ambitiously mandated peacekeeping operations tasked with overseeing these transformations. The international community makes these huge demands because it can do so without challenge, and because diplomats are genuinely hopeful that they can achieve these outcomes. The warring parties accept them because they are weak, or because it is advantageous to pretend that they are genuinely committed to them. But in many cases these goals cannot be realized, and as international peacekeeping operations try to implement them, they find themselves so deeply drawn into their host country’s patrimonial marketplace that they cannot leave without danger of further violent conflict. (De Waal 2009, 112)

Der Exit entzieht sich technischer und strategischer Planung: Trotz aller Versuche, den richtigen Moment zu erkennen, zeigen die aktuellen Interventionen in Afghanistan oder im Kosovo, dass der Abzug nur bedingt mit einem neuen Frieden in der intervenierten Gesellschaft in Bezug steht, sondern durch eine Vielzahl von Faktoren mitbestimmt wird und damit ein willkürliches Moment behält: Es gilt also noch immer Roses Feststellung der »Exit Strategy Delusion« (Rose 1998; vgl. Bojanic in diesem Band). Zeit als Strategie betrifft jedoch nur einen Aspekt der Praxis des Peacebuilding: Um die Zeitdimensionen des Peacebuilding zu verstehen, muss die strategische Ebene der sozialwissenschaftlichen Literatur zu Gunsten einer alternativen Perspektive und neuer theoretischer Konzeptionen von Zeit verlassen werden. In den folgenden Kapiteln folgt dafür eine Dekonstruktion des Peacebuilding in verschiedene Zeitdimensionen.

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Werner Distler

3.

Zeitdimensionen der Peacebuilder

3.1. Die kollektive Zeit der Intervenierenden Bereits der Begriff Peacebuilding offenbart die spezielle Verbindung zwischen Frieden und Zeit in der Mission: Das grammatikalische ›present progressive‹ bzw. ›present continuous‹ konzipiert den Charakter der Operation: Die Intervenierenden schaffen, in diesem Moment und gleichzeitig auf die Zukunft bezogen, anhaltend Frieden. So entsteht ein Imperativ des Handelns mit starkem Gegenwartsbezug. So begründen die externen Akteure auch ihre Präsenz: Wir sind genau in diesem Moment hier, um Frieden zu schaffen. Diese Konzeption lässt den Eindruck entstehen, es handele sich beim Peacebuilding lediglich um eine Art techne, einer Kunstfertigkeit, die auf Basis von wohlbekannten Rezepten den Frieden baut, umsetzt, erarbeitet. Wer den Anspruch formuliert, Frieden zu schaffen, dem gesteht man zu, dass er weiß, was er tut. So sehr die kritische Literatur auch versucht, diese Vorstellung aufzulösen (Hughes 2009; MacGinty 2008; Paris u. Sisk 2009; Richmond 2006; 2010), die internationalen Institutionen in Friedensinterventionen halten an dieser Logik fest: Wir schaffen Frieden in jedem Moment unserer Anwesenheit. Ihr Sein in der intervenierten Gesellschaft ist damit völlig zweckgebunden und erhält nur Gültigkeit und Sinn durch den Bezug auf das Ziel, den Frieden, der im building der Gegenwart bereits angelegt ist. In anhaltenden Interventionen ist der Frieden weniger eine Norm als eine Tätigkeit. Was genau Frieden ist oder sein kann, spielt in der Praxis des Friedensschaffens keine herausgehobene Rolle. Er ist wie ein Code, ein deutungsoffener Signifikant, auf den sich die »arbeitenden« Akteure mit all ihren verschiedenen Vorstellungen einigen können. Er ist eine Referenz für eine Zukunft, die keiner weiteren Definition bedarf. Paris und Sisk (2007) haben darauf hingewiesen, wie schwierig es ist, normative Kohärenz in multinationalen Interventionen herzustellen: Die Frage, von welchem Frieden wir eigentlich sprechen, tritt im Alltag der Intervention in den Hintergrund. Ausgangspunkt der Tätigkeit des Friedensschaffens ist dabei der Zeitpunkt des Beginns der Mission, die »Stunde Null«. Dieser Moment erhält seine besondere Bedeutung als Schöpfungsakt der externen Friedensinterventionen in einem internationalen Mandat: Der 10. Juni 1999 (Tag der Verabschiedung der Resolution 1244 (1999) 90 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Die fragmentierte Zeit im Peacebuilding

im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und die Grundlage für den Beginn der United Nations Mission in Kosovo, UNMIK), der 28. Februar 1992 (Tag der Verabschiedung der Resolution 745 (1992) im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und die Grundlage für den Beginn der United Nations Transitional Authority in Cambodia, UNTAC) oder auch die Petersberg-Konferenz über Afghanistan in Bonn im November 2001. Diese Momente der Genesis etablieren die erste Bruchstelle der Intervention mit dem Zeithorizont der sie umgebenen Gesellschaft: Die Intervenierenden können ihre Geschichte nur bis zu diesem Punkt zurückverfolgen, sie können ihre eigene Erinnerungskultur nur von diesem Moment aus entwickeln. Vorher waren sie nicht Teil der Prozesse der Gesellschaft – sie existierten schlicht nicht, weshalb sie auch keine eigenen Erinnerungen an die Zeit vor dem Beginn des Mandats haben können. Diese Vergangenheit vor ihrer Ankunft existiert für sie nur in der Form von etablierten Narrativen, die wiederum vor allem die Notwendigkeit der eigenen Anwesenheit in der Gegenwart erklären. Kritische und abwertende Narrative über den Konflikt und den Charakter der intervenierten Gesellschaft werden in der Mission aufrechterhalten: Autesserre nennt sie die »dangerous tales« (2012), Hughes und Pupavac erkennen darin eine Pathologisierung der intervenierten Gesellschaft (2005). Die Gegenwart der Mission ist nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch durch einen Zeitpunkt in der Zukunft begrenzt: Dem bereits diskutierten Exit. Im Gegensatz zur Geburtsstunde der Mission ist der Zeitpunkt des Exit jedoch unbekannt, er existiert nur als Möglichkeit. Selten bekommen die Internationalen die Chance, den tatsächlichen Zeitpunkt strategisch vorzubereiten. Häufig wird er durch Unvorhersehbares und Plötzliches beschleunigt oder verzögert. Der Abzug der US-Truppen aus Somalia im März 1994 nach den Verlusten bei Gefechten in Mogadischu im Oktober 1993 (UNOSOM II – United Nations Operations in Somalia II), die Debatte über den Abzug aus Afghanistan nach gewalttätigen Reaktionen auf Koranverbrennungen oder der Konsens im westlichen Balkan, auch zwei Jahrzehnte nach den Konflikten andauernde Präsenz zu zeigen, sind Beispiele für die Unvorhersehbarkeit des Exits. In der Ankündigung des physischen Exits und schließlich auch in seinem (schrittweisen) Vollzug formiert sich die zweite temporale Bruchstelle mit den Zeithorizonten der intervenierten Gesellschaft. Der Diskurs über den Abzug der Internationalen (also nichts anderes 91 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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als das »Ende ihrer Zeit«), konstituiert eine Art permanente Zukunftslosigkeit der Intervenierenden: Jenseits ihrer Hinterlassenschaften und der Erinnerung werden sie doch irgendwann selbst nicht mehr physisch präsent sein. Diese Zukunftslosigkeit ist, ebenso wie die Vergangenheitslosigkeit der Internationalen, in jedem Moment des Friedenschaffens präsent. Welche Zeitdimensionen kollektiver Akteure im Peacebuilding sind zu erkennen? Hier muss auf zwei Ebenen gedacht werden: 1). Die kollektive Zeit der Gesamtmission, die wiederum selbst von einem Mandat abhängt, welches in meist regelmäßigen Abständen erneuert werden muss. Diese Zeit der Gesamtmission besteht aus der Vielzahl unterschiedlicher Zeiten der teilnehmenden Akteure: 2.) Friedensinterventionen werden durch eine Vielzahl von kollektiven Akteuren durchgeführt: die Vereinten Nationen (militärisch wie zivil) und die ganze Schar ihrer Sub-und Sonderorganisationen, die Europäische Union in ihrer Heterogenität, die Afrikanische Union, die NATO, bilaterale Entwicklungsorganisationen sowie internationale und nationale Nichtregierungsinstitutionen. Sie alle beginnen ihre Tätigkeit basierend auf eigenen Mandaten oder politischen Entscheidungen, ihre dann folgende Arbeit findet innerhalb von Projekt- und Budgetplänen statt. Die Zeitdimensionen haben Auswirkungen auf die Planungen der Organisationen: Zunächst zählt der Frieden nur innerhalb des eigenen Zeitmanagements – denn das Budget und das Mandat bestimmen die Realität des Peacebuilding. Hier erfährt die Operationalisierung von Frieden ihren Höhepunkt: Frieden ist weniger eine Norm als ein abzuarbeitender Projekt(plan). Hier wird Friedenschaffen zum Projektmanagement. Die Zeit der Gesamtmission und die verschiedenen Zeiten der teilnehmenden Organisationen müssen keineswegs aufeinander abgestimmt sein: Wie lange das United Nations Development Programme (UNDP) Finanzierungen und Personal für Projekte im Kosovo aufrechterhält, ist nicht abhängig von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) oder einer Polizeimission der Europäischen Union. Wichtigste zeitliche Dynamik innerhalb der kollektiven Zeit der Intervention zwischen Genesis und Exit ist die Wiederholung: Administrative Handlungen, die Vorbereitung des Mandats und des Projektplans, die Aufstellung des Budgets, die Personalplanung, all dies sind sich ständig wiederholende Prozesse, die (abstrakt) mit dem 92 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Die fragmentierte Zeit im Peacebuilding

Ziel der Mission, dem versprochenen Frieden in der Zukunft als Tätigkeit in der Gegenwart, in Verbindung gebracht werden.

3.2. Die subjektive Zeit des Intervenierenden Ein klar umrissener Zeitraum ist die Friedensintervention nur für die individuellen Intervenierenden. Sie begeben sich für einen begrenzten Zeitraum in die Mission. Die Aufenthaltsdauer variiert stark: Manche zivilen Entwicklungsorganisationen entsenden ihre Mitarbeiter für einige Jahre, am kürzesten sind die Standzeiten von Polizistinnen und Polizisten (bei deutscher Polizei in der Regel zwölf Monate) oder dem militärischen Personal (manchmal nur einige Monate). Selten findet man in Missionen Personen, die mehr als fünf oder sechs Jahre in einem Land sind. Das »international self« (Bliesemann de Guevara 2012b) in der Intervention rückt erst seit einigen Jahren stärker in den Fokus der Literatur. Das Verhältnis von Zeit zu Akteuren ist noch nicht erkundet. Theoretisch kann man sich diesem Verhältnis, genauer von Zeit und human agency, mit Emirbayer und Mische nähern: (…) human agency as a temporally embedded process of social engagement, informed by the past (in its habitual aspect), but also oriented toward the future (as a capacity to imagine alternative possibilities) and toward the present (as a capacity to contextualize past habits and future projects within the contingencies of the moment). The agentic dimension of social action can only be captured in its full complexity, we argue, if it is analytically situated within the flow of time. More radically, we also argue that the structural contexts of action are themselves temporal as well as relational fields – multiple, overlapping ways of ordering time toward which social actors can assume different simultaneous agentic orientations. Since social actors are embedded within many such temporalities at once, they can be said to be oriented toward the past, the future, and the present at any given moment, although they may be primarily oriented toward one or another of these within any one emergent situation. (Emirbayer u. Mische 1998, 963– 964)

Ausgehend von dieser Definition lässt sich in Äußerungen von Interventionsakteuren, im Folgenden in Interviews mit deutschen Polizisten im Kosovo, die subjektive Zeit des Peacebuilding aufzeigen. Es wird über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft reflektiert und 93 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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der Bezug zum strukturellen Kontext, also der Intervention selbst, hergestellt: Ich glaube jeder, da sehe ich eine unglaubliche Parallele, jeder erlebt in seiner Mission genau das Gleiche, was die große Mission auch ausmacht. Nämlich, es gibt eine Aufbauphase, da kommt man hin, da lernt man, das ist vielleicht bei einem Aufenthalt von einem Jahr, sind das zwei Monate, […]. Dann kommt eine Arbeitsphase, da ist man motiviert und ist gut drauf, das kriege ich hin, und dann kommt so eine Abspannphase, eine Abwicklungsphase, wo die Motivation, wo die Power nicht mehr reicht, wo man einfach sagt, hier, dass kriege ich jetzt noch zu Ende, und dann Check Out, mentally check out schon vorher, berühmter Spruch. Ich glaube, dass das so jeder für sich erlebt. Wichtig für die eigene Motivation ist es, möglichst schnell in den Job rein zu finden, und dass sich diese Arbeitsphase möglichst lang erstreckt. Dass man auch mal das eine oder andere Erfolgserlebnis hat, dass man das eine oder andere rausholt und sich selbst ein bisschen motivieren kann. Man kann in dem Apparat auch verloren sein und untergehen. (Interview A, 26. 11. 2007)

Ein weiterer Faktor bestimmt die subjektive Zeit der Intervention: Die ständige Rotation, die nicht an einem bestimmten Zeitpunkt für alle Akteure stattfindet, sondern über die individuellen Einsätze hinweg versetzt. Rotation bedeutet ständige Veränderung und neue Interaktionen. Bei den Akteuren führt die ständige Rotation, also die Notwendigkeit, sich selbst in der Gesamtzeit der Mission wiederholt sinnhaft zu verordnen, zum Entstehen einer eigenen Zeit, mit ganz spezifischen signifikanten Ereignissen (eigene Ankunft, herausragende Erlebnisse im Alltag / in der Arbeit, Heimaturlaub, die Ausreise), die sich stark von den Zeithorizonten der einheimischen Akteure, mit denen man den Frieden errichten soll, unterscheidet. Deshalb gibt es keine homogene Wahrnehmung von Zeit in der Mission. Während manche Intervenierende durch die Arbeitsbelastung und Beschleunigung der Mission erschöpft werden, erleben andere Intervenierende die Zeit als zähflüssig – selbst innerhalb weniger Monate kann Langeweile und Unterbeschäftigung auftreten bzw. die eigene Arbeit als nicht mehr sinnvoll wahrgenommen werden: Ich bin auch selbst noch am Anfang der zweiten Mission, das ist ein Thema für mich, man hat so eigene Verdrängungsmechanismen für sich selbst entwickelt, wie die im Endeffekt aussehen, weiß ich noch nicht. Mach das mal, was Dir zuerst gesagt wird, mach das mal, egal ob es Sinn macht. Ich kann nicht auf der Arbeit eine Arbeitsverweigerungshaltung einnehmen, auch wenn ich weiß, das, was ich mache, ist wenig sinnhaft (…) es ist wenig

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Die fragmentierte Zeit im Peacebuilding

sinnvoll, aber es ist nun mal Teil des Jobs, […] ohne die das Ganze hier nicht funktioniert, wenn man nicht sagt, ok, ich halte hier die Strukturen aufrecht, um nicht ganz unter die Räder zu geraten. Ich versuche halt meinen Dienst zu machen und nicht unbedingt an die Sinnhaftigkeit zu denken. (Interview B, 27. 11. 2007)

Frieden schaffen als Tätigkeit muss also keineswegs nützlich oder sinnvoll erscheinen. Es kann auch eine Routine sein, die losgelöst von ethischen oder politischen Zielen läuft. Die Entfremdung der Peacebuilder vom Peacebuilding ist keine Besonderheit. Wir wissen, dass Interventionen Anpassungsdruck auf die Akteure erzeugen. Nicht selten werden Selbstbild und Rollenverständnis herausgefordert. Empirisch wurde dies am Beispiel von Bundeswehrangehörigen bereits ausführlich gezeigt: Die Interventionen im Kosovo und vor allem in Afghanistan haben schwierige Rekonstruktionen von Rollenbild und Selbstbild von Soldatinnen und Soldaten zur Folge (Dörfler-Dierken u. Kümmel 2010). Auch hier müssen zeitliche Dimensionen mitgedacht werden: Gerade die lange Dauer der Wahrnehmung dieser Herausforderungen vertieft die Ablösung von tradierten Rollen.

4.

Zeitdimensionen der Gesellschaft

4.1. Die kollektive Zeit der Intervenierten Die Zeit und deren Wahrnehmung in der intervenierten Gesellschaft unterscheiden sich fundamental von den Zeitdimensionen und Wahrnehmungen der externen Akteure. Dies betrifft zum ersten den Gegenstand der Friedensintervention: Wenn die Intervenierenden sich auf eine Stunde Null berufen können, in der sie in den Konflikt eintreten, so schaffen sie sich damit einen Zeitpunkt, der für sie das Ende oder zumindest die Transformation des Konflikts bedeutet. Die Konfliktgeschichte tritt dann nur als Narrativ, als Zeitalter vor dem Wandel und als Daseinsbegründung auf. Die Gesellschaft musste diesen Konflikt jedoch durchleben, er hat sich im kollektiven Gedächtnis (Assmann 1988) und damit in den Identitäten verstetigt, es gibt Erinnerungsorte des Leidens oder des Sieges. Die Gesellschaft kann sich von diesen Erfahrungen nicht distanzieren oder sich dieser Erinnerungen entziehen. Zudem über95 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Werner Distler

spannen die Konflikte, wenn sie überhaupt zeitlich konkret eingegrenzt werden können, in der Regel einen längeren Zeitraum, in dem die Intervention nur einen kleinen Teil einnimmt (beispielsweise in Ost-Timor seit Mitte der 70er Jahre, ebenso in Afghanistan, im Kongo seit Mitte des 20. Jahrhunderts, im Kosovo die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts). Der Konflikt, der zur Friedensintervention führte, ist in der Gegenwart der Gesellschaft eben nicht nur als sich ständig wiederholendes und abstraktes Argument für Peacebuilding vorhanden, er transformiert sich in die Gegenwart hinein, basierend auf der Art, wie er politisch erinnert wird. Welche Identitäten sich in diesem Diskurs etablieren, ist nur über die Zeit hinweg nachvollziehbar und steht keineswegs fest. Für die albanische Erinnerung und Identitätskonstruktion im Kosovo wurde beispielsweise herausgearbeitet, welche unterschiedlichen Konstruktionen des »albanischen Kosovo« von ganz verschiedenen Akteuren zu etablieren versucht wurden – und wie sehr diese Angebote sich auch über die Zeit veränderten (Ingimundarson 2007; Schwandner-Sievers 2013). Der Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für die Gesellschaft lässt sich auch mit Hilfe der Untersuchung von Prozessen der Autoritätsgenese zeigen: In ihrem Streben, sich als deutungsmächtige Autoritäten der Zukunft ihrer Gesellschaft zu etablieren, integrieren die politischen Akteure Motive und Symbole der Einheit in ihre »autoritative Kommunikation« (Friedman 1990), die der Bevölkerung durch Erfahrungen in der Vergangenheit bekannt sind, um Zustimmung für politische Entscheidungen zu finden (solche Motive sind z. B. im Kosovo der gewaltfreie und gewalttätige Widerstand gegen »serbische Unterdrückung«, in Afghanistan der symbolische Rückgriff auf traditionelle Autoritäten wie die Loya Jirga, vgl. Buchholz 2013). Die Interpretationen der Motive und Einheitssymbole können durchaus umstritten sein – trotzdem nehmen sie eine wichtige Rolle bei der Erschaffung der gemeinsamen Zukunft ein, indem sie diese Zukunft als Konsequenz und damit Kontinuität der Vergangenheit konstruieren. Hier wird der Unterschied zur Zeitdimension der internationalen Akteure noch einmal deutlich: Während diese sich auf einen abstrakten Frieden als Ziel in der Zukunft (im Projekt der Gegenwart) beziehen, Bezugnahmen zu nationalen Symbolen vermeiden können und die Vergangenheit, in der sie selber noch nicht existierten, eher zu überwinden gedenken, müssen die gesellschaftlichen Akteure not-

96 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Die fragmentierte Zeit im Peacebuilding

wendigerweise Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft integrieren. Für sie gibt es keine Stunde Null und auch keinen Exit.

4.2. Subjektive Zeit der Bürgerinnen und Bürger Wir wissen wenig über das individuelle Erleben und Erfahren des Peacebuilding in intervenierten Gesellschaften. Umfassende soziologische und anthropologische Langzeitstudien über den Alltag der Bürgerinnen und Bürger fehlen, auch wenn es eine Reihe repräsentative Umfragen in Interventionsgesellschaften gibt, um anhand einzelner Fragen das Meinungsbild der Bevölkerungen einzufangen. Beispielhaft seien hier die regelmäßigen Umfragen des UNDP im Kosovo genannt, oder die Umfragen der Konrad-Adenauer-Stiftung in Afghanistan. 4 Fragen wir nach der subjektiven Zeit, gibt es einen fundamentalen Unterschied zwischen den Intervenierenden und den Intervenierten zu beachten: Für die verschiedenen Fälle muss zunächst überhaupt bestimmt werden, wer über einen längeren Zeitraum in welcher Beziehung zur Intervention steht (Distler 2010). Im Kosovo, wo die Intervention oft bis in kleinere Ortschaften vordrang, gab es viele von diesen Interventionen direkt berührte Personen. In Fällen wie Afghanistan oder Kongo gibt es eine viel höhere Anzahl von Menschen, die über die Dauer der Intervention hinweg kaum oder gar keinen direkten Kontakt zum Peacebuilding hatten. Deren Zeitwahrnehmung muss also gar nicht in einem direkten Zusammenhang mit der eigenen Erfahrung des Peacebuilding stehen. Für alle Akteure gilt trotzdem dieselbe Herausforderung, wie für die Gesellschaft als Ganzes. Sie müssen (auch jenseits der Friedensintervention) ihre eigene Vergangenheit (im Konflikt), die Gegenwart und Zukunft integrieren. Exil, Flucht, Beteiligung an Kämpfen, aber natürlich auch positive Erinnerungen bleiben für die einzelnen Bürgerinnen und Bürger als persönliche Erfahrung in der Gegenwart präsent, gerade im privaten Raum und in der Alltagskommunikation. Seit 2002 veröffentlichte das UNDP die Early Warning Reports im Kosovo. Die Reihe wurde als Public Pulse fortgesetzt: http://www.ks.undp.org/content/kosovo/ en/home/library/democratic_governance/; (28. November 2013). Die Konrad-Adenauer-Stiftung führt ihre Untersuchungen mit dem Kooperationspartner National Centre for Policy Research der Universität Kabul durch: https://www.kas.de/afgha nistan/de/publications/serials/7/; (28. November 2013).

4

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Werner Distler

Diejenigen aber, die über längere Zeiträume hinweg direkt mit den Intervenierenden interagieren (die so genannten »lokalen« Mitarbeiter in Organisationen und in den neuen Administrationen, die durch die Intervenierenden überwacht und betreut werden, ebenso Vermieter und Dienstleister jeder Art), müssen ihre subjektive Zeit mit den Zeitdimensionen der Intervenierenden synchronisieren. Sie erleben über einen längeren Zeitraum hinweg das ständige Kommen und Gehen von externen Akteuren und müssen sich privat und auch hinsichtlich des Arbeitsalltags auf diese Rotationen einstellen. Dabei erleben sie wiederholt die unterschiedlichen Phasen der subjektiven Zeit der externen Akteure und müssen über die Zeitzonen hinweg Verständigung und Austausch ermöglichen, eine aufgrund der fehlenden Erfahrungen und Vergangenheitslosigkeit der Internationalen oft schwierige Interaktion. Die Routine des ständigen Erklärens, des Einführens und Rechtfertigens kann zu sozialer »Ermüdung« führen.

5.

Zusammenfassung: Das komplementäre Verhältnis von fragmentierter zu fusionierter Zeit in der Intervention

Um ein Verständnis über die Bedeutung von Zeit im Frieden als Praxis jenseits strategischer Überlegungen zu gewinnen, wurden die unterschiedlichen kollektiven und subjektiven Zeitdimensionen des Peacebuilding erkundet. Für die Intervenierenden gilt dabei, dass sich in dem Zeitraum zwischen der gesetzten Stunde Null und dem unausweichlichen Exit Friedensinterventionen als Operation ohne Gedächtnis und gleichzeitig ohne langfristige Planungsfähigkeit konstituieren. Die internationale Mission arbeitet auf Basis des Friedens als Projekt und Projektmanagement in der Gegenwart. Die Intervention und ihre Mitglieder funktionieren stark gegenwartsbezogen, Frieden ist vor allem ein professionalisiertes Handwerk. Das Ziel Frieden, einerseits als historische Entwicklung und andererseits als Norm, entrückt dabei den Intervenierenden selbst. Die betroffene Gesellschaft setzt ihre zeitlichen Bezugspunkte anders, kollektiv wie subjektiv steht mehr die Integration von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Vordergrund. Frieden ist hier kein Projektplan, sondern der Versuch der Einbettung des Konflikts und seiner Überwindung in die eigene Geschichte und das kollektive Gedächtnis, um sich der Zukunft zuzuwenden. Wie setzt sich aus den verschiedenen Zeitdimensionen nun die 98 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Die fragmentierte Zeit im Peacebuilding

Gesamtzeit der Interventionsgesellschaft zusammen? Stellt man die kollektive und die subjektive Zeitdimensionen der Intervenierenden und Intervenierten nebeneinander, entsteht zunächst das Bild einer fragmentierten Zeit, fragmentiert in Projekt- und Mandatszeiträume auf den Ebenen der Institutionen bzw. fragmentiert durch verschiedene Erinnerungskulturen der Gesellschaft und fragmentiert durch die Heterogenität der subjektiven Zeit. Zunächst erscheinen die Zeitdimensionen inkompatibel und unvereinbar. Im Alltag entstehen jedoch vielfältige Interaktionen zwischen den Akteuren und deren Zeiten. Durch die vielfältigen Interaktionen und Abhängigkeiten kann sich beispielsweise die subjektive Zeit der intervenierten Akteure vorübergehend mit der kollektiven und subjektiven Zeitkonzeptionen der Intervention synchronisieren, es entstehen gemeinsame Erinnerungen und Erfahrungswelten. Wie können wir diese Gleichzeitigkeit und das Gemeinsame erfassen und benennen – und zwar auf individueller wie auf struktureller Ebene? Roger MacGinty arbeitet mit dem Konzept der Hybridität, um das »Dritte« in Friedensinterventionen zu verstehen und die Dichotomie zwischen International und Lokal zu überwinden: This article seeks to […] examine hybridization, or hybridity as a process. Specifically, it is interested in the processes whereby hybrid peace comes about. It seeks to conceptualize the ›variable geometry‹ of peace whereby different actors coalesce and conflict to different extents on different issues to produce a fusion peace. In the context of a peace implementation environment, for example, we might see how local mores hold sway on issues of reconciliation, while international norms and practices prevail in relation to the structure of the economy. The result is a hybridized peace that is in constant flux, as different actors and processes cooperate and compete on different issue agendas. (MacGinty 2010, 396 f.)

Das Konzept von Hybridität kann das neue Gemeinsame als Prozess erfassen, verweist aber gleichzeitig noch immer auf die dem Hybriden vorausgehende oder sogar in ihm verbleibende Dichotomie von zwei Dingen. Hinter den Begriffspaaren »Mission« und »Gesellschaft«, sowie »Intervenierenden« und »Intervenierten« verbirgt sich aber eine viel größere Vielfalt von kollektiven und subjektiven Zeitdimensionen. Daher schlage ich weniger den Begriff der Hybridität, sondern den ebenfalls von MacGinty in dem Zitat angeführten Begriff der Fusion vor. Die fragmentierte Zeit im Peacebuilding ist also für die Interventionsgesellschaft auch in bestimmten Momenten eine fusionierte Zeit, die aber nicht durch Linearität und Homogenität, 99 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Werner Distler

sondern eben durch Brüche und Heterogenität charakterisiert ist: Die Fusion ergibt sich durch die Gleichzeitigkeit von Räumen, Akteuren und Praktiken im Alltag der Intervention. Hier werden die so unterschiedlichen Zeitdimensionen der Intervenierenden und Intervenierten in bestimmten Momenten verschränkt. Der Begriff der fusionierten Zeit ist also komplementär zum Begriff der fragmentierten Zeit zu verstehen. So kann nicht nur das Trennende, sondern auch das Gemeinsame begriffen werden, ohne auf Heterogenität der Zeitdimensionen zu verzichten. Für zukünftige empirische Forschung lassen sich so konkrete Fragen entwickeln: Wie können Akteure, die miteinander in einer fragmentierten Zeit existieren und nur Momente des Gemeinsamen erleben, einen homogenen und allgemein gültigen Frieden in der Zukunft denken oder erschaffen? Welche Folgen haben die unterschiedlichen Erinnerungen an den Konflikt in den Zeitdimensionen, die ganz unterschiedliche Erinnerungskulturen hervorbringen, für die Praxis des Friedenschaffens in der Gegenwart und Zukunft? Wie könnte die Zukunftslosigkeit der internationalen Akteure überwunden werden? Die unübersichtliche und komplexe Praxis des Peacebuilding fordert die Konzepte und Vorstellungen der Sozialwissenschaften und besonders der Friedens- und Konfliktforschung heraus, wie in diesem Beitrag am Beispiel von Zeit gezeigt wurde. Neue theoretische Überlegungen, in denen vorhandene Vorstellungen oder strategische Konzeptionen in der Literatur und Praxis in Frage gestellt werden, sind nötig, um der empirischen Komplexität des Peacebuilding gerecht zu werden.

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Über Diskontinuitäten und Kontinuitäten: Verschiedene Formen von Zeitlichkeit in Transitional-Justice-Prozessen am Beispiel Rwanda This is how one pictures the angel of history. His face is turned towards the past. Where we perceive a chain of events, he sees one single catastrophe which keeps piling wreckage upon wreckage and hurls it in front of his feet. The angel would like to stay, awaken the dead, and make whole what has been smashed (…) (Walter Benjamin 1949, 257 f.)

Einleitung Transitional Justice hat sich seit den 90er Jahren zu einem dominanten Skript in der Befriedung und Transformation nach massiven Menschenrechtsverletzungen und Massengewalt entwickelt. Als ein Bereich der Friedenskonsolidierung hat sich Transitional Justice das Ziel gesetzt, durch u. a. Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, durch internationale sowie hybride Strafgerichtshöfe, Reparationszahlungen, Lustration und Memorialisierung – als Teil symbolischer Wiedergutmachung – zu Frieden, Gerechtigkeit, Versöhnung und Heilung von Gesellschaften beizutragen. Wenngleich Transitional Justice sowohl in Forschung als auch Praxis ein umstrittenes Feld bleibt (Fletcher/Van de Merwe 2013, 4), ist den genannten Maßnahmen doch der Gedanke des »closure« gemein. Das heißt, durch die Implementierung von Transitional-Justice-Maßnahmen soll idealerweise letztlich ein »Ende« der gewaltsamen Geschichte der betroffenen Länder erreicht werden. Dieser Beitrag setzt an diesem Gedanken an und will diese Zielforderung von Transitional Justice kritisch hinterfragen. Dies soll in Hinblick auf zeitliche Aspekte in der Transformation geschehen. Bislang wird in der originären Forschung zu Transitional Justice Zeitlichkeit nicht systematisch untersucht, obgleich es offensichtlich scheint, dass Zeit eine bedeutende Rolle in der Auf103 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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arbeitung einer gewaltsamen Vergangenheit spielt. Dies wird umso deutlicher, wenn Memorialisierung in den Vordergrund der Betrachtung rückt. Unter Memorialisierung werden gemeinhin vor allem Gedenkstätten und jährliche Kommemorationsfeiern begriffen, die in die Vergangenheit zurück-blicken, um von der Gegenwart aus eine bessere Zukunft zu gestalten. Wie nun lassen sich verschiedene Zeitdimensionen in Transformationsprozessen greifen, welche Zeiterfahrungen und welche zeitlichen Praktiken herrschen vor? Dieser Beitrag will diesen Fragen begegnen und exemplarisch anhand der Gedenkstätten und der jährlichen Kommemorationsfeiern in Rwanda aufzeigen, welche verschiedenen endogenen Formen von Zeitlichkeit 1 konstruiert werden. 2 Damit lässt sich ein tiefergehender Blick auf vorherrschende Zeitkonzepte in Transitional-Justice-Prozessen zeichnen, welcher erlaubt, das oben genannte dominante Skript des »Endes« von Transformationsprozessen zu hinterfragen. Dieser Beitrag will argumentieren, dass verschiedene Formen von Zeitlichkeit in Transitional-Justice-Prozessen vorherrschen, die durch Ambivalenzen geprägt sind, aber ausschließlich auf einen zeitlichen Bruch, der durch Diskontinuitäten und die ambivalente Abwesenheit der Toten charakterisiert ist, zurückzuführen sind. Um dieses Argument zu illustrieren, wird zunächst unter Rückgriff auf zeitsoziologische und anthropologische Arbeiten der zeitliche Bruch herausgearbeitet, bevor diese Überlegungen in einem nächsten Schritt mit Gedenkstätten und Gedenkfeiern in Verbindung gebracht werden. Nachdem kurz die wesentlichen Charakteristika der rwandischen Gedenkstätten und Kommemoration nachgezeichnet werden, werden Interviewausschnitte mit Überlebenden des rwandischen Genozids von 1994 herangezogen, um aufzuzeigen, welche Zeitdimensionen und welche Zeiterfahrungen vorherrschen, sowie um Zeitpraktiken zu beleuchten. Da sich dieser Beitrag in empirischer Hinsicht ausUnter Zeitlichkeit fasse ich Zeitdimensionen, Zeitpraktiken sowie Zeiterfahrung. Der empirische Beitrag beruht auf intensive Feldforschung in Rwanda zwischen 2011 und 2014. Es wurden rund 50 Interviews mit Überlebenden, die an Gedenkstätten arbeiten oder in der Nähe leben, sowie Interviews mit Mitarbeitern der Commission for the Fight Against Genocide geführt. Weiterhin wurde eine Fokusgruppendiskussion mit weiblichen Überlebenden durchgeführt sowie im Jahr 2014 weitere »oralhistory« Interviews mit Überlebenden verschiedenen Alters geführt. Ich möchte der Marburger Research Academy danken für die Finanzierung eines Aufenthaltes im April 2012 sowie der Juristischen Fakultät der Universität Oxford, die meine Feldforschung 2014 ermöglichte.

1 2

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Über Diskontinuitäten und Kontinuitäten

schließlich auf eine Perspektive von Überlebenden des rwandischen Genozids von 1994 bezieht, sind die Ergebnisse als tentativ zu betrachten und sind als Anstoß für weiterführende Überlegungen zu Zeitlichkeit in anderen Transitional-Justice-Prozessen zu verstehen.

1.

Ein zeitlicher Bruch: Diskontinuitäten und die ambivalente Abwesenheit der Toten What has been lost is the continuity of the past. What you then are left with is still the past, but a fragmented past, which has lost its certainty of evaluation (Arendt 1971, 211).

Ich möchte im Folgenden den zeitlichen Bruch eingehender betrachten und dabei zwei wesentliche Definitionsmerkmale dieses Bruchs theoretisch beleuchten: Zum einen die durch das Gewaltereignis evozierte Diskontinuität, die die chronologische Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bricht. Zum anderen die ambivalente Abwesenheit der Toten, die insbesondere in Praktiken der Zeitumkehrung resultiert. Damit kann zunächst aufgezeigt werden, dass die Realität von Gesellschaften mit Massengewalterfahrung von Diskontinuität geprägt ist, die durch das Gewaltereignis in der Vergangenheit evoziert wurde. Zugleich wird in Bezug auf Transitional-Justice-Prozesse aufgezeigt werden, dass jenen durch die Forderung der Aufarbeitung der Vergangenheit in der Gegenwart für eine bessere Zukunft Zeit immanent ist und diesen der zeitliche Bruch zugrunde liegt. In Bezug auf Zeit kann zunächst allgemein konstatiert werden, dass Zeit normalerweise linear gedacht und erfahren wird; diese lineare bzw. chronologische Zeit wird durch einen Anfang und durch ein Ende, sprich Geburt und Tod fixiert (Koselleck 2002; Sorokin/ Merton 1937; Greenhouse 1989). Diese Linearität von Zeit wurde über einen langen Prozess hinweg, insbesondere durch das Christenund Judentum, geprägt und in der Idee der Schöpfung und des Jüngsten Gerichts festgeschrieben (Greenhouse 1989, 1634). Neben dieser Linearität von Zeit, die durch Geburt und Sterben fixiert, aber ebenso durch die Uhr-Zeit bestimmt wird, drückt sich die Linearität von Zeit in ihrem Fluss aus, worauf beispielsweise der Ausspruch »Im Fluss der Zeit« verweist. Zeit ist damit etwas, was in eine Richtung fließt 105 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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und aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besteht, die chronologisch aufeinander folgen. Damit Zeit als Kontinuum erfahren wird, müssen Marker gesetzt werden (Sorokin/Merton 1937, 623), die naturgegeben oder aber sozial produziert sein können. Für unseren Sachverhalt ist insbesondere die soziale Konstruktion eines zeitlichen Kontinuums von Relevanz. Sofern Zeit sozial konstruiert wird, kann von einer »sozialen Zeit« ausgegangen werden, die Pitirim A. Sorokin und Robert K. Merton wie folgt konzipieren: [S]ocial time expresses the change or movement of social phenomena in terms of other social phenomena taken as points of reference (…) Moreover, such references [reference to an event] express much more than the nominally equivalent astronomical or calendrical referents, for they usually establish an added significant relation between the event and the temporal frame of reference. (Sorokin/Merton 1937, 618)

Massengewalt kann vor diesem Hintergrund als das Ereignis betrachtet werden, das als »frame of reference« konstruiert wird. In diesem Zusammenhang weist Reinhart Koselleck darauf hin, dass solch ein einschneidendes Ereignis durch eine »Vorher-Nachher-Relation« rekonstruiert und in Beziehung zur Gegenwart gesetzt wird (2002, 106), denn nur durch ein Vorher und Nachher können Ereignisse aus der Vergangenheit interpretiert und im Sinne von Sorokin und Merton eine Beziehung zwischen Ereignis und Referenzrahmen hergestellt werden. Zu diesem Sacherverhalt führt Koselleck weiter aus: »No general statement can get past the fact of an unalterable before and after of events that are actually past. What happened once cannot be undone, it can only be forgotten.« (2002, 107) Das Ereignis aus der Vergangenheit spielt also eine herausragende Rolle in der Gegenwart. In Bezug auf die zeitsoziologischen Ausführungen können wir das Ereignis der Massengewalt im Sinne von Sorokin und Merton als »frame of reference« begreifen, der nachfolgende Ereignisse und soziale Handlungen in Beziehung zu dem Ereignis in der Vergangenheit setzt und dieses damit als historische Zäsur markiert. Zeit setzt damit das Ereignis aus der Vergangenheit in Beziehung zu einer erlebten Gegenwart und spiegelt zugleich den Versuch der Verarbeitung dieser Beziehung wider (Elias 1984, xvii). Die von Reinhard Koselleck konstatierte Vorher-Nachher-Relation können wir dahingehend auch in Gesellschaften mit Massengewalterfahrung als Versuch der Verarbeitung der Beziehung zwischen den Zeitformen (Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft) u. a. in Tran106 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Über Diskontinuitäten und Kontinuitäten

sitional-Justice-Mechanismen verstehen. Folglich erhält Transitional Justice aus dieser Perspektive eine zeitliche Dimension. Das Ereignis der Massengewalt, als Marker des zeitlichen Rahmens, bringt die Etablierung von Transitional-Justice-Mechanismen wie beispielsweise Wahrheitskommissionen, Strafprozesse, Reparationen und Memorialisierung hervor. Wir können demnach feststellen, dass diese Mechanismen zugleich Ausdruck sozialer Zeit als auch ihre Reproduktion und Fixierung darstellen. Besonders evident wird dieser Versuch der Verarbeitung im Akt des Erinnerns selbst, den wir unter zeitlichen Gesichtspunkten als eine Form der Zeitbewahrung verstehen können. Diese Thematik werde ich an späterer Stelle weiter ausführen. Da das Ereignis der Massengewalt, wie ich bereits dargelegt habe, als einschneidendes Ereignis konstruiert und als Zäsur in der Geschichte einer Gesellschaft wahrgenommen wird (Vorher-NachherRelation), kann davon ausgegangen werden, dass das Ereignis in zeitlicher Hinsicht einen Bruch darstellt, also eine Diskontinuität evoziert. Dieses Argument wird verständlich, wenn wir noch einmal auf die Linearität von Zeit zurückkommen, also auf die Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese Linearität und Abfolge von Zeit scheint in Gesellschaften mit Massengewalterfahrung gebrochen, das heißt, einer Zäsur unterworfen zu sein, die in einer Dialektik der Zeit resultiert: Zwischen Vergangenheit und Zukunft liegt eine scheinbar unüberwindbare Kluft, eine Leere. Reinhardt Koselleck führt dazu weiter aus: »The compulsion to coordinate past and future so as to be able to live at all is inherent in any human beings.« (2002, 111) Aber dieser Drang, Vergangenheit und Zukunft zu versöhnen, erscheint nach Massengewalt und Genozid als eine schier unmögliche Aufgabe. Carolyn Nordstrom hat in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass »between the world as it was, the world as it should be, and the now of a world destroyed lies an abyss, a discontinuity, a need to define the one by the other, and the impossibility of doing so« (1997, 190). Damit stehen Gegenwart und Zukunft nicht mehr in einem chronologischen Verhältnis zueinander. Die Linearität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist durch Diskontinuität, eine Leere oder Lücke zwischen diesen Zeitformen gekennzeichnet. Wir können vor diesem Hintergrund ein Bestreben ausmachen, nach Gewaltereignissen diese Diskontinuität in Kontinuitäten zu überführen. Wie schon oben angedeutet, soll das Erinnern als soziale Praktik dem Vergessen des vergangenen Gewaltereignisses wider107 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Julia Viebach

stehen, sodass dieses nicht ver-gangen bleibt, sondern bestenfalls noch in einer wie auch immer gearteten Zukunft Bestand und Bedeutung hat (Booth 2006,75–77). Daher wird das Ereignis aus der Vergangenheit immer wieder von Neuem in sozialen Praktiken wiederholt und erinnert und damit zurück-geholt. In Bezug auf Zeit können wir also konstatieren, dass in solchen Gesellschaften vorwiegend versucht wird, die Gesetzmäßigkeit des Flusses der Zeit wieder-herzustellen, was sich unter anderem in Präfixen wie »re« (engl.) bzw. »wieder« oder »zurück« (»back«) ausdrückt. Ich werde später empirisch aufzeigen, dass Massengewalt als Diskontinuität erfahren wird und in Hinblick auf Zeitpraktiken die Versuche nachzeichnen, diese in Kontinuität zu überführen. Zunächst jedoch möchte ich auf einen weiteren Aspekt des zeitlichen Bruchs zurückkommen, welcher mit der Erfahrung von Tod zusammenhängt und was ich als die ambivalente Abwesenheit der Toten (Viebach 2013) bezeichnen werde. In Gesellschaften, die durch die Erfahrung von Massengewalt geprägt sind, ist Tod eine Realität und die Abwesenheit der Toten omnipräsent. Zugleich jedoch wird oftmals versucht, diese Abwesenheit der Toten in eine (symbolische) Anwesenheit zu transformieren. Die Abwesenheit der Toten ist sowohl eine räumliche als auch eine zeitliche Abwesenheit, die durch Erinnerung als bewahrende Praktik transformiert werden soll. Anthropologische Arbeiten liefern einen geeigneten konzeptionellen Ausgangpunkt, um diesen Sachverhalt näher zu beleuchten. Abwesenheit als soziales Phänomen, so argumentieren Mikkel Bille et al., ist konstitutiv für soziale Beziehungen und soziale Praktiken (2010, 5). Kevin Hetherington führt zu diesem Gesichtspunkt weiter aus, dass soziale Beziehungen nicht nur durch das Anwesende, sondern ebenso durch das Abwesende strukturiert werden (2004, 159). Abwesenheit von Dingen, Orten oder Menschen sind im Alltagsleben und alltäglichen Handlungen integriert (Bille et al. 2010, 7). Dabei stoßen wir hier, wie Patrick Füry erklärt, auf ein dialektisches Verhältnis, »something is absent because it is not present, but the significant detail is that the absent something is figured as potentially present« (Füry 1995, 1, zit. n. Bille et al. 2010, 1). Diese potenzielle Präsenz des Abwesenden wird besonders in mnemonischen Praktiken ersichtlich, wie beispielsweise in kulturellen Objektivationen wie u. a. Gedenkstätten. Wir können hier also nach Massengewalt und Genozid Anstrengungen beobachten, die Ab108 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Über Diskontinuitäten und Kontinuitäten

wesenden in mnemonischen Praktiken zu vergegenwärtigen (Becker/ Knudson 2003; Booth 2006; Bille et al. 2010). An dieser Stelle können wir dann auch die Ambivalenz der An- und Abwesenheit verorten: Wo die Toten und ihre Körper abwesend sind, wird jedoch von den Lebenden versucht, diese beispielsweise in Gedenkstätten, Kommemoration und ganz individuellen Versuchen wie Imagination oder weiteren Praktiken 3 wieder anwesend zu machen. 4 Wir können hier also keine totale Abwesenheit (dazu auch Füry 1995) beobachten, sondern vielmehr, was William Booth unter Rückgriff auf altgriechische Etymologie als »eik[o]n« (2006, 89) beschrieben hat, welches auf »the presence of the absence« verweist. In dieser Lesart wird die Abwesenheit durch Spuren transzendiert. So sind es genau jene Kleidungsstücke, Fotos oder auch Ruinen, die wir in Gedenkstätten finden, die das Abwesende im Anwesenden markieren (Young 1993; Booth 2006; Trigg 2009). Durch die Leere, die die Abwesenheit der Toten in der Gegenwart hinterlassen, bleiben sie dennoch präsent. Erinnerung erhält in diesem Zusammenhang eine vielschichtige Bedeutung: Wenn wir von dem englischen re-member ausgehen, wird deutlich, dass Erinnerung hier direkt mit der Abwesenheit der Toten verbunden ist. Erinnerung bedeutet hier, etwas oder jemanden zurückzuholen, »to reattach the limbs of the body« (Becker/Knudson 2003, 694), was implizieren soll, dass Vergessen mit der Gewalt an den Toten gleichzusetzen ist. Daher dient die Erinnerung schließlich dazu, den Toten ihren Platz (membership, daher auch re-member) in der Gemeinschaft der Lebenden zu bewahren (Ebd. 694; Booth 2006, 31 f.). Erinnerung verweist damit zugleich in Bezug auf Abwesenheit auf eine Vulnerabilität, die in der Möglichkeit besteht, das, was abwesend ist, für immer zu verlieren (Booth 2006, 73).

Dies werde ich am Beispiel der Totenfürsorge in den rwandischen Gedenkstätten ausführlich an späterer Stelle aufführen. 4 Zum Aspekt der Imagination vgl. insbesondere Becker/Knudson 2003; Scarry 1985; Sartre 2005 [1943]; Young 1993; Booth 2006. 3

109 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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2.

Kommemoration und Gedenkstätten in Rwanda When I remember, I get troubled. And then they laugh at me that I am foolish (I have lost my mind). If I manage to discover where they were thrown, I get cynic insults that I always spend my time with bones (Kommemorationslied: Evening of April, 3. Strophe)

Bevor ich näher auf die verschiedenen Formen von Zeitlichkeit an den rwandischen Gedenkstätten und der Kommemoration eingehe, werde ich zunächst die wesentlichen Charakteristika der rwandischen Gedenkstätten und der Kommemoration nachzeichnen, um die zeitlichen Aspekte in den rwandischen Kontext einordnen zu können. In Rwanda gibt es rund 300 5 Gedenkstätten, die mit Ausnahme des Kigali Genocide Memorial Centre 6 alle authentische Orte der Massaker, die während des Genozids von 1994 stattfanden, repräsentieren. Mit der Einsetzung der Kommission für den Kampf gegen Genozid (Commission for the Fight against Genocide, CNLG) im Jahr 2008 wurden von diesen rund 300 Gedächtnisorten sieben Gedächtnisorte als nationale erklärt. Nach dem Gesetz Nr. 56 zur Gedenkstättenpolitik aus dem Jahr 2008 müssen Orte, um zu einer nationalen Gedenkstätte zu werden, besondere Charakteristika aufweisen, wie u. a. eine besonders grausame Geschichte, eine überaus hohe Anzahl von Opfern oder aber eine besonders lang zurückreichende Gewaltgeschichte. So sind mittlerweile Murambi, Ntarama, Nyatarama, Rebero, Nyanze, Kigali Genocide Memorial Centre, Bisesero sowie Nyarabuye zu nationalen Gedenkstätten erklärt worden. Charakteristisch für die rwandischen Gedenkstätten ist das Präservieren toter Es wird mitunter auch von 200 Gedenkstätten gesprochen. Die angegebene Zahl beruht auf Interviews mit der Dachorganisation der Überlebenden, Ibuka, sowie der nationalen Commission for the Fight against Genocide (CNLG). Letztere leitet und organisiert zentral alle Gedenkpraktiken in Rwanda; die Überlebendenverbände werden jedoch in Planung und Umsetzung von Politiken miteinbezogen und können diese auch mitgestalten. Die CNLG wurde in der Verfassung von 2003 vorgesehen und schließlich im Jahr 2008 eingesetzt. Vormals wurden die Gedenkstätten dezentral verwaltet, wobei auf nationaler Ebene das Ministerium für Erziehung und Bildung verantwortlich für Gedenkpraktiken war. Für eine fotografische Dokumentation rwandischer Gedenkstätten vgl. Meierhenrich 2010, einsehbar unter: http://genocide memorials.cga.harvard.edu/home.html. 6 Ich werde mitunter Gisozi als Synonym verwenden. In Rwanda wird zumeist dieser Begriff verwendet, wenn von dem Memorial gesprochen wird. Gisozi ist die Bezeichnung des Hügels, auf dem sich die Gedenkstätte befindet. 5

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Über Diskontinuitäten und Kontinuitäten

Körper 7 und/oder menschlicher Knochen und Schädel. 8 Zugleich zeigt sich auch in Rwanda eine zunehmend globalisierte Form von Gedenken an materiellen Gedächtnisorten mit einer stark pädagogischen Ausrichtung durch Text, Bild und Video. Dahingehend können Murambi und Gisozi als »memorial museums« (Williams 2007) bezeichnet werden, die mit allen drei Elementen arbeiten. 9 Weiterhin charakteristisch für die rwandischen Gedenkstätten ist, dass alle 300 Stätten gleichzeitig Massengräber sind. In der Tat ist eine Gedenkstätte in Rwanda nur eine solche, wenn sie die letzte Ruhestätte von im Genozid ermordeten Menschen ist. 10 Im Gegensatz zu Bosnien-Herzegowina war es in Rwanda aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen nicht möglich, durch DNA-Untersuchungen die Identität der Opfer festzustellen. Deshalb existieren keine personifizierten Gräber (wie beispielsweise in Potocari); die gefundenen Überreste werden nach einzelnen Körperteilen sortiert (also je ein Sarg beispielsweise für Ober-/Unterarmknochen oder für Schädel) in Särgen begraben und diese entweder in (meist unversiegelten) Massengräber gesenkt oder aber auf Regalen angeordnet in zugänglichen Grabkammern aufbewahrt. Es ist den Angehörigen von Genozidopfern laut Gesetz gestattet, selbst darüber zu entscheiden, ob eine Bestattung an Gedenkstätten stattfinden soll; allerdings ist es entgegen traditioIch wähle hier den Begriff der toten Körper, da aus Überlebenden-Perspektive die Bezeichnung Leiche oder Überreste unwürdig erscheint. Ibuka hat sich dahingehend 2012 dafür eingesetzt, dass das oben angesprochene Gesetz Nr. 56 sprachlich überarbeitet wird und Wörter, wie bspw. »corpse« durch »dead bodies« ersetzt werden. Weiterhin verweist der Begriff der toten Körper auf den Aspekt der Sinnzuschreibung, den ich an späterer Stelle in diesem Kapitel näher beleuchten werde. 8 Laut Gesetz Nr. 56 sollen nur auf nationaler Ebene tote Körper und menschliche Überreste ausgestellt werden. Allerdings werden tote Körper auch auf Zellebene beispielsweise in Cyahinda, Kibeho und Kanduha ausgestellt. Auf nationaler Ebene wird dies nur in Murambi getan. Alle anderen nationalen Gedenkstätten arbeiten mit Knochen und Schädeln als Artefakte. 9 Gisozi hat ein weitgreifendes pädagogisches Programm mit Sekundarschulen zur Prävention von Genozid/Gewalt sowie ein digitales Archiv von Überlebenden-Berichten, Täteraussagen und Zeugnissen von Menschen, die im Genozid Tutsi gerettet haben. Dies ist einsehbar unter: http://www.genocidearchiverwanda.org.rw/index.php/ Welcome_to_Genocide_Archive_Rwanda. In Murambi existiert eine Ausstellung seit März 2011, die erst so spät veröffentlicht wurde aufgrund von Unstimmigkeiten über den Text bzw. die Darstellung in der Ausstellung. Diese erklärt die Hintergründe des Genozids mit besonderem Fokus auf die Ereignisse und Verantwortlichen in der Provinz bzw. dem Distrikt. 10 Interview Ibuka, 28. 01. 2012. 7

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neller Beerdigungsriten nicht mehr erlaubt, Tote auf dem eigenen Grundstück beizusetzen. 11 Es werden immer noch menschliche Knochen gefunden, teils durch Bebauung brachliegender Flächen, aber in der jüngeren Vergangenheit auch durch gezielte Suche nach Aussagen Beschuldigter vor den Gacaca-Gerichten. 12 Gewöhnlich finden die äußerst stark ritualisierten Beisetzungen der Knochen während der jährlichen Gedenkfeiern in den Monaten April bis Juli statt. Ein weiteres Merkmal rwandischer Gedenkstätten hängt mit den Menschen zusammen, die an den Gedenkstätten arbeiten, da diese eine spezifische Biografie mit dem Ort verbindet: An den Stätten arbeiten ausschließlich Menschen, die den Genozid entweder selbst überlebt oder aber Angehörige im Genozid verloren haben. Durch die Ausstellung der toten Körper und menschlicher Knochen sind weiterhin einige von diesen Mitarbeiter_innen mit der Pflege und dem Erhalt dieser beauftragt. Diese Menschen werden hier als mnemonische Wächter 13 bzw. »care-taker« (Viebach 2014) bezeichnet und die Pflege der toten Körper und menschlichen Knochen als Totenfürsorge (Viebach 2013). Die Totenfürsorge sowie die besonderen Biografien der mnemonischen Wächter, sind zentral für ein Verständnis von Zeitlichkeit an den Gedenkstätten in Rwanda und werden dahingehend Ausgangspunkt meiner weiteren Überlegungen zu zeitlichen Praktiken und Erfahrungen an diesen Orten darstellen. Die Kommemorationsfeiern in Rwanda finden jährlich von April bis Juli statt, wobei der 7. April den Auftakt und der 15. Juli als »liberation day« das Ende der Feiern bilden. Ausgangspunkt der Gedenkzeit waren Initiativen von Überlebendenverbänden, insbesondere der Dachorganisation Ibuka. 14 Direkt nach dem Genozid waren es vornehmlich kleinere, selbst organisierte Initiativen von Überlebenden, die sich in der genannten Zeit dem Totengedenken widmeten. Erst seit etwa 1998 gibt es in Rwanda eine nationale Trauerperiode mit entsprechenden Veranstaltungen. Die nationale Gedenkzeit findet vom 7. April bis zum 13. April statt. 15 In der Nacht vom 6. auf den 7. April 1994 wurde die Präsidentenmaschine mit dem damaligen Gesetz Nr. 56; Interview Ibuka, 28. 01. 2012. Die Gacaca-Gerichte wurden im Juni 2012 endgültig eingestellt. 13 Ich werde im Folgenden u. a. die Kurzform »Wächter« verwenden. 14 Ibuka bedeutet übersetzt »Erinnern«. 15 Seit 2008 findet die Trauerperiode jedes Jahr unter einem neuen Themenkomplex statt. Im Jahr 2012 war das Thema: We learn from our history for a better tomorrow. Im Jahr 2013 lautete der Titel der Kommemoration »Striving for Self-Reliance«. Der 11 12

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Über Diskontinuitäten und Kontinuitäten

Präsidenten Juvenal Habyarimana an Bord abgeschossen, was den Beginn des Genozids markiert, der infolgedessen unmittelbar einsetzte. Dahingehend spielen die Daten während der Trauerperiode eine bedeutende Rolle; die Gedenkveranstaltungen finden weitestgehend an den authentischen Gedächtnisorten zu dem jeweiligen Tag der Massaker statt. Auf nationaler Ebene jedoch bilden die Auftakt- und Abschlussveranstaltung eine Ausnahme. Traditionell wird die Trauerperiode mit dem Anzünden der »ewigen Flamme« 16 durch den Staatspräsidenten und dessen Gattin am Kigali Genocide Memorial Centre eingeleitet. Direkt im Anschluss daran findet die offizielle und größte Trauerveranstaltung des Landes in Kigalis Amahoro-Stadion statt. Auch diesen Ort verbindet eine Geschichte mit dem Genozid: Das Amahoro-Stadion wurde während des Genozids von den verbleibenden Truppenkontingenten der UN als »safe haven« und als Stützpunkt genutzt, ist aber kein materieller Gedächtnisort in dem Sinne, in dem diese oben beschrieben wurden. Während dieser Gedenkveranstaltung halten Präsident Kagame und weitere führende Politiker Reden, die insbesondere die (Mit-)Schuld der Internationalen Gemeinschaft am Genozid hervorheben sowie die nationalen Fortschritte in ökonomischer Entwicklung, Versöhnung und Vergangenheitsaufarbeitung herausstellen, die bislang erzielt wurden. 17 Die Abschlussveranstaltung der nationalen Trauerwoche findet an der Gedenkstätte Rebero 18 in Kigali statt und ist nur für hochrangige Personen aus Politik und Gesellschaft zugänglich. 19 Auch bei dieser Zeremonie halten insbesondere Politiker Reden, in denen sie die heroischen Züge der im Jahr 1994 Ermordeten als Vorbild für Zivil-

20. und der 21. Jahrestag des Genozids (2014, 2015) fanden beide unter dem Thema »Kwibuka20 (21) – Remember, Unite, Renew« statt. 16 Diese Flamme brennt durchgehend bis zum Ende der Trauerperiode; brennt aber den Rest des Jahres nicht. Eine ähnliche Flamme, die »Flame of Hope«, wird auch während der Gedenkfeiern an der Nyanza-Gedenkstätte, die am Sitz von Ibuka 2012 errichtet wurde, angezündet. 17 Teilnahme am 7. April 2012, Reden von Paul Kagame aus den Jahren 2008, 2009, 2010, 2011, 2012, einsehbar unter http://www.presidency.gov.rw/speeches. 18 Dort sind Politiker begraben, die während des Genozids ermordet worden sind; insbesondere zu Beginn des Genozids wurden rund 200.000 moderate Politiker, Journalisten und weitere Führungspersönlichkeiten umgebracht, die sich im Vorfeld gegen das Regime gestellt hatten. 19 Es ist eigens eine Einladung vonnöten, um an der Zeremonie teilnehmen zu können.

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courage und einer Zukunft gegen Gewalt herausstellen. 20 Weitere Gedenkveranstaltungen an den verschiedenen Orten der Massaker im Lande finden während dieser nationalen Trauerwoche statt, aber größtenteils werden Zeremonien bis in den Juli hinein abgehalten, je nach kalendarischem Datum für den Jahrestag der Massaker. Neben den politischen Reden sind die Gedenkfeiern in Rwanda höchst rituell, performativ und symbolisch verdichtet, wobei die Testimonies von Überlebenden der Massaker sowie die symbolischen Beisetzungen einen zentralen Moment im Ritus der Kommemorationsfeiern bilden. Weiterhin ist Trauma ein charakteristisches Merkmal der rwandischen Kommemoration. Alleine bei der Eröffnungszeremonie im Amahoro-Stadion gab es im Jahr 2012 377 Traumafälle; insgesamt traten bei den Feierlichkeiten im Amahoro-Stadion, in Nyamirambo, Nyanza, Rebero und Gisozi im selbigen Jahr 613 Traumafälle auf, im Jahr 2005 waren es 627 Fälle (Gishoma/Brackelaire, zit. n. Ibreck 2012, 112). 21 Diese Zahlen sollen nur einen groben Eindruck von der Quantität der Traumavorkommnisse geben. Ich möchte diese Traumavorkommnisse als die Traumatisierung der Körper (Viebach 2013) konzipieren, die u. a. durch die verbale Reaktivierung der Vergangenheit durch die Testimonies hervorgebracht wird. 22

3.

Über Zeitlichkeit in Transitional Justice

Ich möchte nun im Folgenden auf Zeitlichkeit, also Zeitpraktik, Zeitdimensionen und Zeiterfahrung in Transitional Justice am Beispiel der rwandischen Gedenkstätten und den jährlichen Gedenkfeiern eingehen. Diesen verschiedenen Formen von Zeitlichkeit liegt der zeitliche Bruch, sprich die Diskontinuität sowie die ambivalente Abwesenheit der Toten zugrunde, wie ich detailliert aufzeigen werde.

Feldforschungsnotizen Gedenkveranstaltung Rebero am 13. 04. 2012. Freddy Muhanga, 04. 12. 2012 GIZ-ZFD regionale Fachkonferenz, Kibuye basierend auf Daten des rwandischen Gesundheitsministeriums. 22 Was in der Psychoanalyse als Flashback bezeichnet wird, ist eine Reaktivierung der Vergangenheit bzw. des Gewaltereignisses in der Gegenwart, was durch so genannte Trigger geschieht. Die Traumatisierung des Körpers ist dahingehend im sozialen Kontext eingebettet und erfolgt durch spezifische Auslöser. 20 21

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Über Diskontinuitäten und Kontinuitäten

3.1. Zeitpraktik: Zeitumkehrung Der Begriff der Zeitumkehrung wurde von dem Holocaustüberlebenden Jean Améry eingeführt, der in Bezug auf das Ressentiment die Widersprüchlichkeit dessen als zum Scheitern verurteilter Versuch der Zeitumkehrung beschreibt: Es [das Ressentiment] nagelt jeden von uns fest ans Kreuz seiner zerstörten Vergangenheit. Absurd fordert es, das Irreversible solle umgekehrt werden. Das Ressentiment blockiert den Ausgang in die eigentlich menschliche Dimension, die Zukunft. Ich weiß, das Zeitgefühl des im Ressentiment Gefangenen ist verdreht, ver-rückt, wenn man will, denn es verlangt nach dem zweifach Unmöglichen, dem Rückgang ins Abgelebte und der Aufhebung dessen, was geschah. (Améry 1977, 11)

Die »Aufhebung dessen, was geschah«, das »Irreversible«, was umgekehrt werden soll, finden wir auch an den Gedenkstätten wieder: Die Totenfürsorge, also die Pflege und das Präservieren der toten Körper dient der Wieder-Herstellung der zerstörten Welt und ebenso einer Wieder-Herstellung der Würde der Toten. Diese beiden Sachverhalte können wir im Sinne von Jean Améry als Zeitumkehrung verstehen. Durch die Totenfürsorge soll die Vergangenheit in der Gegenwart buchstäblich rück-gängig gemacht werden: Der Wächter an der Cyahinda-Gedenkstätte in der südlichen Provinz Rwandas erklärte mir beispielsweise: I am the person in charge of cleaning the bodies. What it means to me? Cleaning bodies means that they are given back dignity, because they were not supposed to die. [Hervorhebung durch Autorin] 23

Der Wächter an der Bisesero-Gedenkstätte im Westen des Landes verwies auf die Totenfürsorge mit folgenden Worten: I clean with grief, but I do it because there was loss. I have a bad feeling, but I am patient enough not to resign. I cannot make them come back. I work here because I could have died also. I asked to work here because I feel responsible for my family who died here. The owner of dead bodies does not fear to touch anywhere on the body. [Hervorhebungen durch Autorin] 24 Interview Cyahinda, 06. 09. 2011. Interview Bisesero, 20. 01. 2012. Der letzte Satz ist ein rwandisches Sprichwort. Es verweist darauf, dass eine Person alles menschenmögliche tun würde, um die eigene Familie zu retten bzw. vor Bösem zu bewahren. Der »Care-Taker« bezieht sich hierauf, da er seine Familie nicht vor dem Tod retten konnte. Die einzige Möglichkeit, seine Anverwandten in der Gegenwart »zu retten«, besteht in der Reinigung ihrer

23 24

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Auf symbolische Weise kann der Wächter den Toten ihre Würde wieder-geben und damit ihre Ent-Würdigung umkehren; also in den Worten von Améry, das aufheben, was geschah. In ähnlicher Weise konstatierte eine ältere Dame, die ihren Sohn im Genozid verloren hat: [I]t is to give them back their value, to give them back their dignity [Hervorhebung durch Autorin]. Traditionally the bodies of the dead were cleaned before the burial. Now we only have bones, this is why the bones and dead bodies are cleaned instead. People were found in latrines or were partly eaten by animals. The purity of death is missing; the dignity was taken from them. This traditional culture of burial and cleaning has changed, because of what has happened was very inhuman. That is why it is much about bones. 25

In Bezug auf die anfangs vorgestellten zeitsoziologischen Ausführungen können wir anhand der Zeitumkehrung verstehen, wie Diskontinuität durch die Totenfürsorge in eine Kontinuität überführt werden soll. Zugleich bewirkt die Totenfürsorge ebenso eine Imagination der Anwesenheit der Toten. Der bereits oben zitierte Wächter an der Cyahinda-Gedenkstätte konstatierte dazu beispielsweise: »I can imagine how they looked like; when I am here [in der Krypt], they are with me all the time«. 26 Eine Überlebende des Massakers an der Ntarama-Kirche, die ihren Mann und ihr Kind verloren hat, berichtete: I don’t see skulls and bones as such, but I see them as real people. When praying [in the Ntarama church], I think of them making noise and playing. I also see how badly they were killed. 27

Damit vollzieht sich in der Imagination als Transformation von Abwesenheit in Anwesenheit auch eine Zeitumkehrung, wenngleich diese nur in der Vorstellung stattfindet. Die Versuche der Zeitumkehrung können wir ebenso bei den Kommemorationsfeiern wiederfinden: Der hoch symbolische Akt der Beisetzungen während der Kommemoration dient ähnlich wie die Totenfürsorge an den Gedenkstätten dazu, die erfahrene Ent-Würdigung der Toten umzukehren. In sprachlicher Hinsicht können wir das anKnochen, um ihnen die im Tode verlorene Würde durch diese Arbeit symbolisch wiederzugeben. 25 Interview Kigali, 15. 09. 2011. 26 Interview Cyahinda, 06. 09. 2011. 27 Interview Ntarama, 08. 09. 2011.

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hand der Benutzung der Affixe »zurück« bzw. »back« beobachten, wie die unten anstehenden Interviewausschnitte von Überlebenden in Bezug auf die Beisetzungen illustrieren: Exhumations and burials is a kind of healing because it brings back the dignity and respect to the dead. 28 With the dead of the family, the family has been devaluated. They [burials] give dignity and value back to people that died. 29 Even if it is not the whole body, bones serve the same purpose of giving back dignity. 30 People were killed without respect and dignity; so, burying them is about to give them back dignity in burial. 31

Der ständige Verweis auf die verlorene Würde der Toten geht zurück auf das Gewaltereignis, welches als Zäsur in der Geschichte konstruiert wird, wie ich in Bezug auf die zeitsoziologischen Aspekte dargelegt habe. Das Ereignis bildet eine Zäsur, da es als einschneidend und nicht als »normal« erlebt wurde. Die Linearität von Zeit im natürlichen Fluss von Geburt, Leben und Tod wurde durch die Art und Weise des Gewaltereignisses durchbrochen, wie beispielsweise dieser Interviewausschnitt illustriert: 32 Death is normal, because it is normal to die. But this was an extreme death that was more than a normal death, because nobody cared like one would take care of sick people. Death was animalic. 33

Die entwürdigende Art des Todes und nicht zuletzt der gewaltsam herbeigeführte Tod markiert die Diskontinuität, die durch die Bestattungen und die Totenfürsorge umgekehrt werden soll. Wie sich anhand des Versuchs der Zeitumkehrung ablesen lässt, soll nicht nur versucht werden, das Irreversible umzukehren, sondern ebenso die Toten zurück-zuholen und diesen einen Platz in der Gemeinschaft (re-member) der Lebenden zu geben. Durch das Zurück-Holen soll ihre Persistenz, ihre Anwesenheit »in the passage of time« gesichert

Interview Murambi, 02. 09. 2011. Fokusgruppendiskussion Kigali, 14. 09. 2011. 30 Interview Kigali, 15. 09. 2011. 31 Interview, 08. 09. 2011. 32 In der Tat bezogen sich alle interviewten Überlebenden auf die grausame Art des Todes. 33 Interview Ntarama, 08. 09. 2011. 28 29

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und somit die zeitliche Diskontinuität in Kontinuität transformiert werden.

3.2. Zeitdimensionen: Zeitbewahrung und Zeithomogenisierung Ich möchte zunächst den Versuch der Zeitbewahrung an den Gedenkstätten nachzeichnen und dies in generelle Überlegungen zu Gedenkstätten einbetten, bevor ich im nächsten Schritt auf die Zeithomogenisierung sowohl an den Gedenkstätten als auch in der Kommemoration eingehen werde. Sowohl Maurice Halbwachs als auch Aleida Assmann betonen in ihrer Forschung die herausragende Bedeutung von (topografischen) Orten für die Kontinuität und die Bewahrung von Erinnerung (Halbwachs 1992; Assmann 2006). Auch Hannah Arendt hebt hervor, dass Erinnerung nur durch die »Handgreiflichkeit des Dinglichen« möglich wird. Sie führt weiter aus: »Ohne Erinnerung und die Verdinglichung, die aus ihr selbst entspringt, weil die Erinnerung für ihre eigene Erinnerung der Verdinglichung bedarf (…) würde das gesprochene Wort, der gedachte Gedanke spurlos verschwinden.« (Arendt 1960, 87 f.) Die vielfältige Bedeutung von Gedenkstätten können wir am besten anhand von Pierre Nora verstehen, denn if we accept the most fundamental purpose of the lieux de mémoire is to stop time, to block the work of forgetting, to establish a state of things, to immortalize death, to materialize the immaterial […] all of this to capture a maximum of meaning in the fewest of signs (Nora 1989, 19).

Gedenkstätten sind materielle, aber auch zeitliche Marker der Spuren aus der Vergangenheit in der Gegenwart. William Booth führt dazu weiter aus: [F]inally, a trace can be the willed effort to induce remembrance: memorials, museums, the preservation of battle sites, the Somme or Antietam, or the killing camps of Europe. These are the traces that set out to evoke memory and to tell the story of the place or person. (Booth 2006, 83)

Der Ort wird also zu einem »point of connection«, um die Spuren der Vergangenheit in Erinnerungsformen zu verwirklichen, Zeit zu stoppen und dem Vergessen vorzubeugen. Damit werden die Spuren der Vergangenheit, die durch den Ort evoziert werden, in der Gegenwart bewahrt, um sie nicht ver-gangen zu machen (Booth 2006; Assmann 2007). Wir können in dieser Hinsicht also von einer Zeitbewahrung 118 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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sprechen. Die toten Körper und menschlichen Knochen an den rwandischen Gedenkstätten stellen solche Spuren der Vergangenheit da. Durch die toten Körper soll das Gewaltereignis in der Gegenwart bewahrt und der Ort und seine Geschichte sowie seine »Opfer« im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft (sowohl national als auch global) eingeschrieben werden. So betonte beispielsweise ein Mitarbeiter der CNLG, »the sites are used to keep memory« 34 und auch die jungen Frauen der Fokusgruppendiskussion resümierten: The memory and its preservation is important because it protects and preserves the testimonies […] The memorial sites will still be in existence when survivors have died. 35

Eine weitere Zeitdimension, die wir an Gedenkstätten vorfinden, ist die Zeithomogenisierung, was Pierre Nora als »to stop time« beschrieben hat. Im Falle Rwandas ist die Zeithomogenisierung wiederum eng mit der Ausstellung der toten Körper und den menschlichen Knochen verbunden. Dies lässt sich zunächst an einem Interviewausschnitt illustrieren: Memorials are traumatizing. When you reach site, you find yourself immediately as if genocide is happening. 36

Mit der Anschauung/Betrachtung der toten Körper – wie das Zitat aufzeigt – findet eine Homogenisierung von Zeit statt: Vergangenheit und Gegenwart verdichten sich in einem einzigen Moment der Anschauung (Assmann 2007). Die »antäische Magie« 37 (Ebd., 223 f.) vermittelt in diesem verdichteten Moment der Anschauung (der toten Körper) einen traumatischen Sinnzusammenhang, der in der Homogenisierung der Zeit begründet liegt. Der Betrachter der toten Körper findet sich im Moment der Anschauung in der Vergangenheit wieder; somit verschmelzen in diesem einzigen Moment die Zeitformen von Vergangenheit und Zukunft. Zeithomogenisierung finden wir ebenso in der Kommemoration vor; hier allerdings bezieht sich diese nicht auf traumatische SinnInterview Kigali, 13. 09. 2011. Fokusgruppendiskussion Kigali, 14. 09. 2011. 36 Interview Kigali, 28. 01. 2012. 37 Der Begriff »antäische Magie«, so schreibt Assmann, geht auf den Kulturwissenschaftler Aby Warburg zurück, der diesen auf den Kontakt mit historischen Relikten angewandt hat, von denen eine »mnemische Energie« ausgehe (Assmann 2007, 296). 34 35

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zusammenhänge, sondern ist in der ritualisierten Handlung der Kommemoration selbst verankert. In der Kommemoration koexistieren zwei verschiedene zeitliche Ordnungen: zum einen der Tag, an dem das Ereignis (in der Vergangenheit) stattgefunden hat, und zum anderen der kalendarische Tag, an dem das Erinnern an das Ereignis stattfindet (Connerton 1989, 65). Zugleich findet aber auch eine Homogenisierung von Zeit statt, da Zeit(-abschnitte) qualitativ gleichgesetzt wird (werden), also eine Vergegenwärtigung der Vergangenheit stattfindet (Connerton 1989; Assmann 2007); dies findet beispielsweise durch Testimonies von Überlebenden statt. Zugleich bezieht sich die Homogenisierung der Zeit auch auf ihre Wiederholbarkeit, denn chronologische Similaritäten erlauben exakt dieselbe Wiederholung der rituellen Praktiken. So folgte beispielsweise auch die Kommemoration in Rwanda seit ca. 1997 bis 2013 dem gleichen Muster der rituellen Praktiken, an deren Anfang die Entzündung der »ewigen Flamme« in Gisozi steht und deren Ende die Feierlichkeiten an der Rebero-Gedenkstätte bilden. Durch den immer wiederkehrenden semantischen Imperativ von »never again« und der performativen Handlung »We will always remember you. It will never happen again!« wird in der Kommemoration ein mystisches Moment kreiert, welches die Passage von einer dunklen Vergangenheit in eine helle Zukunft markiert und durch die Homogenisierung erlaubt, dass diese symbolische Markierung immer wieder auf ein Neues im periodischen Zyklus der Erinnerung reaktiviert und platziert wird. Diese Markierung drückt sich in Gedenkfeiern dadurch aus, dass die dunkle Vergangenheit erinnert werden muss, um diese in eine bessere Zukunft zu überführen (Bickford/Sodaro 2010). In Bezug auf die Bedeutung der Gedenkfeiern für eine »bessere« Zukunft wurde in der Fokusgruppendiskussion mit den jungen Frauen und Überlebenden des Genozids auf meine Frage nach der Zukunft wie folgt Bezug genommen: [Commemoration] is time to build hope, because people can understand how to build a better future through memory […] It is an eternal bridge to the dead that reflects our everlasting love for them. 38

Wie insbesondere dieses letzte Zitat verdeutlicht, ist die Zeithomogenisierung wiederum eng mit der ambivalenten Abwesenheit der Toten und dem zeitlichen Bruch verbunden. Durch die Zeithomogeni38

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sierung soll eine »eternal bridge« zu den Toten gebildet werden, welche erlaubt diesen einen Platz in der Gemeinschaft im Moment der Kommemoration einzuräumen. Weiterhin werden die Kommemorationsriten gerade deshalb abgehalten, weil das Gewaltereignis als einschneidend konstruiert wird. In diesem Zusammenhang hat Victor Turner darauf verwiesen, dass gesellschaftliche Rituale nur dann abgehalten werden, wenn Gesellschaften nach einschneidenden Ereignissen, was er als »soziales Drama« beschreibt, eine Transformation durchlaufen und daher konstitutive Rituale abhalten (Turner 1989, 39 f.). Mit der Zeithomogenisierung durch die Riten in der Kommemoration ist weiterhin eine zeitliche Erfahrung verbunden, die in engen Zusammenhang mit dem Körper zu betrachten ist, die Zeitlosigkeit, auf die ich im Folgenden eingehen möchte.

3.3. Zeiterfahrung: In der Zeitlosigkeit – Körper und Zeit It is a dream. It means a person, who goes back and finds himself in the bad situation again. He or she is faced during the past. This situation can be compared to a river that is moving. When you watch that river, inside there is mud which is stable, but when you step inside the water there is a mixture; it becomes dirty, unclear. Everything mixes up; you drown in the muddy water, because it becomes all the same, past and present. You can’t see and you drown. (Trauma-Analogie, Emmanuel, Überlebender, 02. 09. 2011)

Um den Zusammenhang zwischen Zeit und Körper und damit die Zeiterfahrung während der Kommemoration erfassen zu können, ist es notwendig, einen Schritt zurück zu gehen und uns den Überlebenden noch einmal zu widmen. Überlebende von Massengewalt waren im Gewaltakt selbst positioniert, was eine grundlegende menschliche Erfahrung bildet, die die Art und Weise des Daseins in der Welt verändert, welches als individuelles Trauma konzipiert werden kann (Améry 1977; Scarry 1985; Caruth 1996). Dahingehend erscheint es sinnvoll, die Körper von Überlebenden in Verbindung mit Zeit zu betrachten, da angenommen werden kann, dass das Gewaltereignis auch Auswirkungen auf die Bedeutung und Erfahrung von Zeit hat. Die Verbindung von Körper und Zeit ist aus drei Gründen von Bedeutung: Erstens kann damit aufgezeigt werden, dass zwei Zeiten, nämlich eine chronologische und eine »durational time« (Langer 121 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Julia Viebach

1997), nebeneinander im Körper von Überlebenden existieren. Zweitens können wir durch die Verbindung von Körper und Zeit ein besseres Verständnis des Zusammenhangs zwischen (individuellem) Trauma und Zeit entwickeln, welches ein wesentliches Merkmal der Kommemoration in Rwanda darstellt. Drittens verhilft das Zusammendenken von Körper und Zeit, die Diskontinuität in der chronologischen Zeit, also dem natürlichen Fluss von Geburt, Leben und Tod zu illustrieren, welches ich als zentrales Element des zeitlichen Bruchs herausgearbeitet habe. Ich möchte zunächst auf die oben genannte »durational time« eingehen, da uns dieses von Lawrence L. Langer entwickelte Konzept Aufschluss über den Zusammenhang zwischen Körper und Zeit geben kann. Langer benutzt den Begriff der »durational time« in Abgrenzung zur chronologischen Zeit(-vorstellung). Testimonies von Gewalttaten während Kommemorationsfeiern erscheinen für den Außenstehenden unnormal bzw. traumatisch, weil wir diesen mit unserer natürlichen Vorstellung einer chronologischen Zeit begegnen. »Durational time« jedoch bleibt im Körper verhaftet und definiert laut Langer das Selbst der Überlebenden (1997, 57 f.). Jean Améry hat dieses Phänomen mit den Worten beschrieben: »Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Dass der Mitmensch als Gegenmensch erfahren wurde, bleibt als gestauter Schrecken […] liegen.« (1977, 111) Dieser »gestaute Schrecken« ist Teil der »durational time« und ist weder unvergessen noch vergessbar, dieser bleibt im Körper des Überlebenden liegen: »it is not part of […] historical past, but of [the] durational present« (Langer 1997, 59). Langer illustriert dies anhand des Zeitzeugenberichtes von Bessi, einer Überlebenden der deutschen Konzentrationslager: I had a baby boy […] They took us to the buses, they brought us to a big airfield. And nearby were the trains, the cattle trains. And … I look back: I think for a while I was in a daze; I didn’t know what was happening actually. I saw they [were] taking away the men separate, the children separate, and the women separate. So I had the baby, and I took the coat what I had, the bundle, and I wrapped it around the baby […] I went through with the baby. But the baby […] started to cry, so the German called me back […] I didn’t know what to do, because everything was so fast and everything happened so suddenly. I wasn’t prepared for it. To look back, the experience was – I think I was numb, or something happened to me, I don’t know. But I wasn’t there. And he stretched out his arms I should hand him over the bundle; and I hand him over the bundle. And this is the last time I had the bundle. But as

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Über Diskontinuitäten und Kontinuitäten

I look back, I don’t think that I had anybody with me. I was alone within myself. And since this that time I think all my life I been alone […] For me I was dead. I died, and I didn’t want to hear nothing, and I didn’t want to know nothing. (ebd., 56 f.)

Dieses Zitat veranschaulicht in Bezug auf Zeit sehr gut, dass Bessi hier als Überlebende in einer »out of time« (ebd., 55) existiert. Zunächst erscheint ihr Testimony chrononologisch, aber spätestens mit den Worten »as I look back, I don’t think I had anybody with me […] I died«, wird ersichtlich, dass unsere chronologische Zeit hier nicht mehr existiert. Der gestaute Schrecken bleibt also im Innen des Körpers und so bleibt auch diese Zeit, also die Vergangenheit liegen. Langer führt dazu weiter aus, dass [F]or the witness time is durational as well as chronological, and that durational time is experienced continuously, not sequentially as a memory from which one can be liberated. The notion that a Holocaust survivor – I suspect one might say this for any survivor of atrocity – can generalize his or her personal suffering and move beyond the role of victim derives from an unfamiliarity with how durational time assails the memory of a witness. (ebd., 58)

Mit dem Ausgangspunkt einer »durational time« und einer chronologischen Zeit, die im Körper der Überlebenden nebeneinander existieren, wird in Bezug auf Zeit nun auch verständlicher, wie es zu einer Traumatisierung von Körpern während der Kommemoration kommen kann. Durch die Performanz der Gedenkrituale wird die »durational time« re-aktiviert. Die Vergangenheit wird im Moment der Gedenkrituale zurück-geholt, damit homogenisiert und körperlich erfahrbar gemacht. Dies habe ich weiter oben in Bezug auf Rwanda als Traumatisierung der Körper beschrieben. Trauma kann dahingehend als körperliches Zurück-holen der Vergangenheit betrachtet werden und stellt somit zugleich eine Homogenisierung von Zeit dar, die jedoch eine andere Qualität aufweist, da die Vergangenheit nicht nur vergegenwärtigt, sondern körperlich erfahren wird, da sie entgegen der chronologischen Zeit immer schon (also nach dem Gewaltakt) im Körper existiert hat. Die sogenannten Flashbacks liegen aus psychologischer Sicht darin begründet, dass in dem Moment des Flashbacks die Gegenwart als Vergangenheit erlebt wird und eine Zukunft aus dem zeitlichen Vorstellungsrahmen herausbricht. Robert D. Stolorow schreibt dazu:

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Julia Viebach

Experiences of emotional trauma become freeze-framed into an eternal present in which we remain forever trapped, or to which we are condemned to be perpetually returned through the portkeys supplied by life’s slings and arrows. In the region of trauma, all duration or stretching-along collapses, past becomes present and future loses all meaning other than endless repetition. Trauma, in other words, is timeless. (Stolorow 2011) 39

In Bezug auf Zeit bedeutet dies also, dass Trauma die Linearität von Zeit durchbricht, es gibt in diesem Sinne weder eine Vergangenheit noch eine Zukunft, sondern nur noch eine Zeitlosigkeit.

Fazit: Diskontinuitäten, Kontinuitäten? Ambivalente Formen von Zeitlichkeit in Transitional Justice Dieses Kapitel hatte sich zum Ziel gesetzt, verschiedene Formen von Zeitlichkeit in Transitional-Justice-Prozessen am Beispiel von Memorialisierung in Rwanda zu beleuchten. Dabei wurde herausgearbeitet, dass Gesellschaften nach Massengewalterfahrung von einem zeitlichen Bruch geprägt sind, der sich in Diskontinuität und der ambivalenten Abwesenheit der Toten ausdrückt. Dieser zeitliche Bruch ist rekursiv in die Versuche der Vergangenheitsaufarbeitung eingelagert und bestimmt Zeitlichkeit in Transitional-Justice-Prozessen. In Bezug auf Zeitlichkeit konnte nachgezeichnet werden, dass verschiedene Zeitdimensionen, Zeitpraktiken und Zeiterfahrungen an den Gedenkstätten und in der Kommemoration in Rwanda vorherrschen. Als wesentliche Zeitpraktik an den Gedenkstätten und in der Kommemoration wurde die Zeitumkehrung herausgearbeitet: durch die Totenfürsorge sowie durch die Bestattungen soll das Irreversible wieder-hergestellt werden, die Würde der Opfer wieder-hergestellt und vor allem die Abwesenheit der Toten in eine Anwesenheit transformiert werden. Diese Zeitpraktik kann als grundlegendes Moment des Versuchs der Transformation von Diskontinuität in Kontinuität verstanden werden, der allerdings nur auf symbolische Weise vonstattengehen kann. Im Widerspruch dazu stehen die Zeitdimensionen der Zeitbewahrung und der Zeithomogenisierung an den Gedenkstätten und in der Kommemoration, die die Diskontinuität, insbesondere an den Gedenkstätten, durch die Be-wahrung der Vergangenheit in der Trauma and the Hourglass of Time, http://www.huffingtonpost.com/robert-dstolorow/coping-with-trauma_b_826995.html, eingesehen am 09. 04. 2013.

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Über Diskontinuitäten und Kontinuitäten

Gegenwart aufrechterhält. Vor allem durch die Zeithomogenisierung, hier evoziert durch die Anschauung der toten Körper sowie durch die Re-aktivierung der Vergangenheit in der Kommemoration, wird der zeitliche Bruch fixiert. Es ist gerade Ziel der Kommemoration, aber auch der Gedenkstätten, durch die Re-aktivierung der Vergangenheit eine Homogenisierung von Zeit, also eine Vergegenwärtigung der Vergangenheit für eine bessere Zukunft hervorzurufen und in der Gegenwart zu manifestieren. Ähnliches ließ sich für die Zeiterfahrung beobachten, die hier in Zusammenhang mit der Traumatisierung der Körper betrachtet wurde. Die identifizierte Zeitlosigkeit konnte ebenso verdeutlichen, dass Kontinuität, also eine Transformation des zeitlichen Bruchs schier unmöglich erscheint, da in den Worten von Améry das Gewaltereignis als »gestauter Schrecken liegen bleibt«. In Bezug auf Transitional Justice konnte damit aufgezeigt werden, dass verschiedene und durchaus ambivalente Formen von Zeitlichkeit in Transformationsprozessen vorherrschen. Insgesamt deutet die Analyse der verschiedenen Formen von Zeitlichkeit darauf hin, dass ein »closure«, das Schließen der Akten, das Zuklappen der Geschichtsbücher nicht den zeitlichen »Wirklichkeiten« entspricht: Re-member bleibt ein Akt in der Gegenwart für die Zukunft: es kennt kein »Ende«.

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Sektion 3: Friedensauffassungen und ihre Zeitlichkeit

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Pascal Delhom

Die Zeitlichkeit des Friedens als gemeinsame Aufgabe

In der philosophischen Tradition Europas ist Frieden sehr unterschiedlich aufgefasst worden. Lange galt die Definition von Augustinus als ausschlaggebend, der ihn als Ruhe der Ordnung in einem kosmologischen Sinne verstand (vgl. Augustinus 1955, 556). Doch spätestens seit dem siebzehnten Jahrhundert geht der europäische Geist nicht mehr von einer solchen Ordnung aus, sondern entweder von deren Verlust, weil wir uns von ihrem Schöpfer abgewandt hätten (vgl. Pascal 1994, 193), oder umgekehrt von der Annahme, dass der Naturzustand der Menschheit ein Kriegszustand sei (vgl. Hobbes 1966, 96) und dass der Frieden entsprechend gestiftet werden müsse (vgl. Kant 1977, 203). In diesem Sinne betont Kant, dass der Frieden, wenn er möglich ist, für uns Menschen eine Aufgabe darstellt. Europa lebt seitdem in diesem Geist.

1.

Der Frieden als gemeinsame Aufgabe

Doch auch diese Bestimmung des Friedens als Aufgabe kann unterschiedlich verstanden werden. Sie kann von der Idee ausgehen, dass der Frieden ein Zustand ist (vgl. Hobbes 1966, 96), den wir Menschen – in welchem Rahmen und in welchem Umfang auch immer – für erstrebenswert halten. Entsprechend bestehe für uns die Aufgabe, diesen Zustand zu verwirklichen. Der so verstandene Frieden ist dann nicht die Aufgabe selbst, wie die Formulierung »Frieden als Aufgabe« nahe legen könnte, sondern ihr Ziel und ihr Zweck. Und die Aufgabe selbst besteht im Erreichen dieses Zieles und hört mit seiner Erfüllung auf. Dies ist die Art, wie Kant die Aufgabe des Friedens verstand, auch wenn er zu zweifeln schien, ob sie jemals erfüllt werden kann, und deswegen von einer »ins Unendliche fortschreitenden Annäherung« sprach (Kant 1977, 251). Die Bestimmung des Friedens als Aufgabe kann aber auch be131 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Pascal Delhom

deuten, und in diesem Sinne möchte ich sie verstehen, dass der Frieden in der gemeinsamen Aufgabe selbst liegt und kein Ziel ist, das auch unabhängig von ihr bestehen könnte. Wie das tugendhafte Handeln keine vom Handeln unabhängige Tugend, sondern die Kultivierung des tugendhaften Handelns selbst zum Zweck hat, so zielt die Aufgabe des Friedens auf nichts Anderes als auf die Kultivierung der Aufgabe des Friedens selbst ab. Es gibt demnach keinen Übergang von einem noch zu erreichenden Frieden hin zu einem Zustand des verwirklichten Friedens, in dem dieser erfüllt wäre und deswegen nicht mehr als Aufgabe bestehen müsste. Im Gegenteil ist die Aufgabe des Friedens gerade in dem Sinn unendlich, dass dieser nie als Zustand bestehen kann. Die unendliche Aufgabe des Friedens ist keine unendliche Annäherung an ein Ideal, sondern eine unendliche Verwirklichung des Friedens in der nie endenden gemeinsamen Praxis, die er für die Menschen bedeutet. Es stimmt zwar, dass in Zeiten des Krieges die Aufgabe des Friedens in der Beendigung desselben besteht. Doch mit einem Friedensschluss ist kein Zustand erreicht, der im Gegensatz zum Krieg Frieden genannt werden könnte und in dem die Menschen von der Aufgabe des Friedens befreit wären. Denn wenn der Frieden mehr als nur ein Waffenstillstand sein soll, dann besteht für die Beteiligten auch nach dem Friedensschluss weiterhin die Aufgabe, diesen Frieden zu verwirklichen. Auf die Aufgabe des Friedens in Zeiten des Krieges folgt kein von dieser Aufgabe befreiter Friedenszustand, sondern eine Aufgabe des Friedens in Zeiten des Friedens. Dies wird leider allzu oft vergessen oder ignoriert. Ein konstitutives Merkmal dieser Aufgabe ist, dass sie als eine gemeinsame angesehen werden muss. Kein Mensch und kein Akteur des sozialen und des politischen Lebens kann Frieden ohne die anderen oder gegen sie verwirklichen. Im Friedensschluss schließt jede Partei den Frieden nicht gegen und auch nicht ohne, sondern eben mit dem Feind (vgl. Waldenfels 2007, 245), gegen den sie bis dahin noch gekämpft hatte. Im selben Sinne ist auch die Aufgabe des Friedens in Zeiten des Friedens eine solche, die Menschen nur miteinander erfüllen können. Diese Auffassung des Friedens als gemeinsame Aufgabe hat zuerst eine rein formelle Bedeutung. Sie stellt den Frieden als etwas dar, was Menschen gemeinsam verwirklichen sollen, ohne inhaltlich festzulegen, was genau verwirklicht werden soll und wie dies getan werden kann. Denn die Bestimmung der Art und Weise, wie Menschen 132 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Die Zeitlichkeit des Friedens als gemeinsame Aufgabe

zusammen leben und handeln wollen, das heißt die Entscheidung darüber, welche Formen das gemeinsame Leben und Handeln annehmen kann und soll, gehört bereits zur Aufgabe des Friedens selbst und kann ihr nicht vorangestellt werden. Dennoch ist die Auffassung des Friedens als gemeinsame Aufgabe nicht ohne Relevanz für eine inhaltliche Bestimmung dessen, was der Frieden ist und was ihn ausmacht. Diese Auffassung des Friedens betont erstens die konstitutive Pluralität derjenigen, die an der gemeinsamen Aufgabe des Friedens beteiligt sind. Es handelt sich hierbei nicht um eine bloß numerische Pluralität von Akteuren, die zwar dadurch effizienter werden, dass sie etwas zusammen tun, allerdings das Gleiche auch allein tun könnten. Es handelt sich um die notwendige Pluralität der Beteiligten an einer Aufgabe, die niemand allein ausführen könnte und für die jeder auf die Beteiligung der anderen angewiesen ist. Sie ist keine Pluralität der Zahl, sondern eine Pluralität der Beteiligten an Beziehungen. Eine ähnliche Pluralität wird zwar von allen Beziehungen als solchen vorausgesetzt, von der Liebe und der Freundschaft bis hin zur Konkurrenz und zum Kampf. Sie ist auch eine notwendige Bedingung des politischen Handelns nach dem Verständnis von Hannah Arendt (vgl. Arendt 1981, 164 ff.). Aber sie wird für unterschiedliche Beziehungen unterschiedlich bestimmt. Im Fall des Friedens kann diese Bestimmung so ausgedrückt werden, dass er aus der Perspektive der Beteiligten nur als Frieden mit den anderen und aus der Perspektive eines Beobachters nur zwischen Menschen oder Akteuren des sozialen oder politischen Lebens erfolgen kann. Der Frieden ähnelt in diesem Sinne der Liebe oder der Freundschaft, die auch nur mit und zwischen Menschen stattfinden können. Er kann nicht dadurch verwirklicht werden, dass die Differenzen zwischen den Beteiligten getilgt und in die Einheit einer gemeinsamen Ordnung überführt werden. Der Frieden als Aufgabe muss im Gegenteil die Pluralität der Menschen und der sozialen und politischen Akteure behaupten und wahren, ohne die eine Beziehung oder ein Geflecht von Beziehungen nicht möglich wäre. Die Auffassung des Friedens als gemeinsame Aufgabe bedeutet zweitens, dass die Beziehungen, die ihn ausmachen, gestiftet und gepflegt werden müssen. Sie sind weder vorbestimmt und formell unveränderlich wie Verwandtschaftsverhältnisse, noch das Produkt des Zufalls oder einer günstigen Fügung, auch wenn eine solche hilfreich sein kann. Sie entstehen nur durch eine gemeinsame friedfertige und 133 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Pascal Delhom

friedensstiftende Praxis der Beteiligten, sei es durch vorbereitende Initiativen und Handlungen in Zeiten des Krieges, die zu einem Friedensschluss führen sollen, sei es durch die Entwicklung und die Ausübung friedlicher und friedensstiftender Formen des Zusammenlebens, des Zusammenhandelns und der Konfliktregelung in Friedenszeiten. Anders als im Fall der Liebe und der Freundschaft entsteht diese gemeinsame Praxis nicht primär durch eine gegenseitige Anziehung der Beteiligten oder durch gemeinsame Interessen und Präferenzen, außer freilich der Präferenz für den Frieden selbst (vgl. Brücher 2007, 105 f.). Denn der Frieden muss auch und gerade zwischen Menschen und Akteuren gestiftet und gepflegt werden, die mit- oder nebeneinander leben müssen, ohne weitere Beziehungen zu haben als die Konflikte, in denen sie sich entgegenstehen, und ohne andere Gemeinsamkeiten als der Raum, den sie teilen und in gewisser Hinsicht teilen müssen. Friedensbeziehungen tragen dazu bei, zwischen den Beteiligten weitere Gemeinsamkeiten zu schaffen. Sie können sie nicht voraussetzen, auch wenn sie von ihnen gefestigt werden können. Der Lebensraum, in dem Frieden entstehen und gepflegt werden soll, ist derjenige einer Wohn- oder einer Lebensgemeinschaft, deren Ausdehnung von der begrenzten Fläche einer Wohnung oder dem kollektiven Raum einer Nachbarschaft bis hin zum Lebensraum der ganzen Menschheit auf unserem Planeten geht und bei dem niemand seine Mitbewohner_innen und seine Nachbar_innen wirklich wählen kann. In diesem Raum sind die Beziehungsformen vielfältig und die Möglichkeiten gering, beziehungslos leben zu können, auch wenn dies manchem als wünschenswert erscheinen könnte. Entsprechend zahlreich sind zwischen Menschen und Akteuren des sozialen und politischen Lebens die Konfliktmöglichkeiten, die weder ignoriert noch von vornherein durch die Kräfte der Freundschaft oder der Liebe überwunden werden können. Dies gilt auch für alte und neuere mediale Kommunikationsräume, auch wenn in diesen die Verhältnisse zwischen Nähe und Distanz, Anonymität und Bekanntschaft, Sichtbarkeit und Rückzugsmöglichkeiten andere sind als in materiellen, leiblich erlebten und gefüllten Räumen. Für beide Arten von Räumen gilt gleichermaßen, dass die gemeinsame Aufgabe des Friedens in der Gestaltung dieser Lebensräume liegt, die wir auf unterschiedliche Weise mit anderen teilen. Die Teilung eines gemeinsamen oder mehrerer an einander 134 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Die Zeitlichkeit des Friedens als gemeinsame Aufgabe

grenzender und miteinander verbundener Lebensräume ist der Grund dafür, dass die Aufgabe des Friedens eine langwierige und eine nie vollendete ist. Denn sie bezieht sich nicht primär auf vorübergehende Beziehungen wie eine Urlaubsbekanntschaft oder sporadische Begegnungen. Die Aufgabe des Friedens besteht im Gegenteil – innerhalb und aufgrund der räumlichen Verhältnisse, in denen wir immer leben – in der gemeinsamen Gestaltung dieser Lebensräume. Sie bezieht sich auf die dauerhaften Beziehungen des Zusammenlebens und der Nachbarschaft, denen wir uns nie gänzlich entziehen können und die unser ganzes Leben prägen. Viele Menschen wechseln zwar im Laufe ihres Lebens ihren Lebensraum, sie ändern ihren Arbeitsort oder ihre Wohnstätte. Doch damit verlassen sie nur einen Wohn- und Lebensraum für einen anderen, sie tauschen eine Nachbarschaft gegen eine neue. Die Anforderungen des Zusammenlebens und die Regelung möglicher Konflikte bestehen dennoch weiterhin, hier wie dort. Ein Umzug ist kein Ersatz für die Aufgabe des Friedens, auch wenn er eine Flucht vor deren Schwierigkeiten sein kann. Umso mehr gilt dies für kollektive soziale und politische Akteure, die nicht umziehen können. Die Aufgabe des Friedens ist also deswegen langwierig und nie abgeschlossen, weil sie in unserer Abhängigkeit von den mehr oder weniger dauerhaften Beziehungen gründet, die in unserem Lebensraum entstehen und bestehen. Sie ist auch deswegen endlos und nie endgültig erfüllt, weil wir uns im Laufe unseres Lebens immer wieder verändern und mit uns auch die Beziehungen, in die wir verwickelt sind. Dies verändert die Bedingungen unseres Zusammenlebens im gemeinsamen Lebensraum. Einige Menschen verlassen diesen Lebensraum und neue treten in ihn ein. Vielerlei Ereignisse beeinflussen die räumliche Ordnung unseres Lebens von innen und von außen. Immer wieder stellt sich somit die Gestaltung unseres Zusammenlebens und Zusammenhandelns in diesem Lebensraum als erneute Aufgabe. Nie ist eine Lösung so umfassend und dauerhaft, dass sie trotz allen Veränderungen Bestand haben könnte. Sie wäre nichts Anderes als die Ruhe eines Friedhofs, auf die Kant am Anfang seines Entwurfs ironisch hinweist (vgl. Kant 1977, 195).

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Pascal Delhom

2.

Die gemeinsame Aufgabe als Aufgabe des Friedens

Der Frieden muss also als eine Aufgabe des Zusammenlebens von Menschen unter sich verändernden Bedingungen verstanden werden. Allerdings ist es überhaupt nicht selbstverständlich, dass die angedeuteten Herausforderungen des Zusammenlebens unter sich verändernden Bedingungen als eine Aufgabe des Friedens verstanden werden müssen. Viele Menschen scheinen in Theorie und Praxis andere Lösungen zu bevorzugen, etwa die gewaltsame Durchsetzung von eigenen Interessen und von Herrschaftsverhältnissen, das Kämpfen um Anerkennung und die ständige Konkurrenz des Handelns, des Eigentums und der sozialen Positionen, die gegenseitige Androhung von Gewalt und die entsprechende Aufrüstung. Andere wiederum unternehmen den Versuch einer zunehmenden Isolierung von allen anderen Individuen und Gruppen im Namen einer gewissen Auffassung der Freiheit oder der Sicherheit. Dass die Herausforderungen des Zusammenlebens als Aufgabe des Friedens verstanden werden, ist also keine bloße Beschreibung einer Praxis unter bestimmten Bedingungen. Es ist eine Forderung, nach der eine bestimmte Form des Umgangs mit diesen Bedingungen den anderen vorgezogen werden soll. Hobbes spricht etwa in diesem Zusammenhang von einem Naturgesetz im Sinne einer »Vorschrift oder allgemeine[n] Regel der Vernunft« (Hobbes 1966, 99), Kant vom ewigen Frieden als einer Aufgabe, insofern die Verwirklichung einer Rechtsordnung, worauf dieser folgt, Pflicht und Gegenstand begründeter Hoffnung ist (vgl. Kant 1977, 251). In beiden Fällen und in vielen anderen wird eine Normativität des Friedens behauptet, der erstrebt werden soll, insofern er nicht unmöglich ist und von uns abhängt, das heißt insofern er im Bereich des menschlichen Handelns liegt. Die Auffassung des Friedens als gemeinsame Aufgabe geht von dieser Normativität aus. Sie trägt nicht nur zur Bestimmung dessen bei, was der Frieden ist, sondern fordert darüber hinaus, dass der Frieden sei. Anders gesagt, sie definiert den Frieden selbst als etwas, was sein soll. Diese normative Dimension macht aus, dass der Frieden nicht nur als das Gegenteil von Krieg oder Gewalt aufgefasst wird, sondern als das, was durch Beendigung von Kriegen erreicht und durch Vermeidung von Gewalt bzw. durch friedfertige Regelung von Konflikten gepflegt werden soll. Umgekehrt werden Krieg und Gewalt nicht nur als das Gegenteil von Frieden aufgefasst, sondern als 136 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Die Zeitlichkeit des Friedens als gemeinsame Aufgabe

Formen eines Friedensbruchs oder einer Verletzung des Friedens in dem doppelten Sinne, dass sie erstens das friedensorientierte Zusammenleben von Menschen stören und zerstören und dass sie zweitens die Normativität dieses Friedens verletzen, wie auch Gesetze oder Verbote verletzt werden können. Das Verhältnis zwischen Frieden und Krieg oder Gewalt ist normativ asymmetrisch. Nun ist die Normativität des Friedens als gemeinsame Aufgabe nicht diejenige eines Wunsches, dessen Verwirklichung nicht konstitutiv von uns abhängt und dessen Gegenstand auch jenseits des Bereichs menschlichen Handelns sein könnte. Sie ist auch nicht diejenige eines Werturteils, nach dem etwas für gut oder schlecht, wünschenswert oder verwerflich gehalten wird. Denn ein solches Urteil hat für uns nicht notwendig eine praktische Relevanz: Wir urteilen auch über Dinge und Ereignisse, die keinen Bezug zu unserem möglichen Handeln haben, und unsere Werturteile spielen wiederum nur teilweise eine Rolle für die Bestimmung unseres Handelns. Die Normativität des Friedens ist auch nicht diejenige eines Gesetzes, das für alle gleichermaßen gilt, aber niemandem im Besonderen eine bestimmte Aufgabe zuweist. Sie ist diejenige einer unmittelbaren praktischen Forderung. »Jedermann hat sich um Frieden zu bemühen« heißt diese Forderung etwa bei Hobbes. »Du darfst nicht töten« heißt sie bei Levinas (1986, 66; vgl. auch 1987, 285), für den dieses Wort im Antlitz des Anderen jeweils mich anspricht und meine Freiheit als Verantwortung für den Frieden einsetzt. Und bei Kant heißt sie: »Trachtet allererst nach dem Reiche der reinen praktischen Vernunft und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch euer Zweck (die Wohltat des ewigen Friedens) von selbst zufallen.« (Ebd., 240) Es ist hier nicht der Ort, zwischen solchen und noch weiteren Formulierungen einer praktischen Forderung des Friedens und zwischen den verschiedenen Quellen ihrer Normativität in den eigenen Leidenschaften (Hobbes), im eigenen Willen (Kant) oder im Wort des Anderen (Levinas) zu wählen. Es mag sogar für den Frieden erforderlich und förderlich sein, sie alle zuzulassen, solange sie als praktische Forderung nach Frieden erfasst und als verpflichtend empfunden werden. Wichtig ist ihr normativer Charakter für diejenigen, an die sie adressiert werden. Und darin besteht, trotz aller Unterschiede zwischen ihnen, die entscheidende Gemeinsamkeit der meisten dieser und ähnlicher Formulierungen: Sie werden in der zweiten Person ausgesprochen und richten sich jeweils an die Handelnden. Das, was 137 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Pascal Delhom

an ihnen verpflichtet, ist nicht primär und sogar nicht notwendig ihre allgemeine Gültigkeit, die in der dritten Person ausgedrückt werden könnte, sondern die Tatsache, dass sie adressiert werden. Denn dieser Adresse können sich ihre jeweiligen Adressaten nicht entziehen. Sie können zwar anders handeln, als ihnen in solchen praktischen Forderungen geboten wird. Sie können sich auch des Handelns verweigern. Doch in Anbetracht der an sie adressierten Forderung wären ein solches Handeln oder Nicht-Handeln bereits eine Verfehlung und nicht einfach ein mögliches Verhalten unter anderen. So ist etwa das Schweigen eines Menschen, der angesprochen worden ist, keine bloße Abwesenheit von Kommunikation, sondern bereits die kommunizierte Weigerung zu antworten und somit ein aktiver Bruch der Kommunikation. Genauso ist die Abweisung einer adressierten Forderung zu handeln eine normativ relevante Verletzung dieser Forderung. Dass eine adressierte Forderung verpflichtet, heißt also nicht, dass der Handelnde nicht anders handeln kann, sondern dass sich sein Handeln von der Forderung nicht entledigen kann und dass er sich an ihr messen lassen muss. Für die Adressaten dieser wie auch immer formulierten Forderung heißt dies, dass ihr Handeln zwar von ihnen als dessen Urheber ausgeht, dass aber die normative Quelle dieses Handelns nicht in ihnen selbst, in ihrer individuellen Spontaneität liegt, sondern in einer praktischen Forderung, die sie von außen anspricht oder von der sie sich zumindest so angesprochen fühlen, als wäre sie von außen an sie adressiert. Ihr Handeln ist und bleibt also ihr eigenes und auch sie sind und bleiben dessen Urheber. Insofern tragen sie und niemand anderes Verantwortung für dieses Handeln. Aber ihr Handeln wird nicht erst im Nachhinein am Maß sozialer oder moralischer Forderungen gemessen und beurteilt. Es ist bereits eine Antwort auf solche adressierten Forderungen, die mit Bernhard Waldenfels Ansprüche genannt werden können (Ebd., 238 ff.). Allerdings ist dieses Handeln auch nicht bloß die Ausführung eines Befehls, der es ausschließlich von außen bestimmen würde. Denn es gilt für die Normativität des Friedens, was auch für jede Form der moralischen Normativität gilt: Sie ist keine bloß äußere Bestimmung des Handelns, sondern immer auch zugleich eine inhärente Bestimmung der Handelnden, insofern sie freiwillig und von sich aus handeln. Sie fordert also keinen bloßen Gehorsam. Zwar wäre ein Frieden aus Gehorsam besser als ein Krieg. Er würde aber ausschließlich von einer befehlenden Instanz abhängen, die ihn nicht 138 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Die Zeitlichkeit des Friedens als gemeinsame Aufgabe

mit den Beteiligten, sondern gegen sie, zur Not mit Gewalt und immer mit Androhung derselben durchsetzen müsste. Er wäre keine Form des Zusammenlebens und Zusammenhandelns, sondern eine Art der Unterwerfung aller Beteiligten, die zwar Ruhe genannt werden könnte, jedoch nicht Frieden im erwähnten normativen Sinne. Die Forderung des Friedens als gemeinsame Aufgabe wird also an die Handelnden adressiert, insofern sie nicht gehorchen, sondern freiwillig handeln. Sie ist eine normative Bestimmung ihres Willens und nicht nur ihres Tuns. Paradox formuliert, fordert sie von ihnen, dass sie von sich aus im Sinne des Friedens handeln. Doch dieses Paradox löst sich, sobald das Handeln aufgrund einer praktischen Einsicht (vgl. Schües 2004) der Beteiligten erfolgt. Denn dann antworten die Handelnden auf die Forderung des Friedens nicht wie auf einen externen Zwang, einen Befehl oder ein Gesetz, sondern von sich aus, weil sie einsehen, dass der Frieden etwas ist, was sein soll, dass er von ihrem Handeln abhängt und dass sie entsprechend handeln sollen.

3.

Praktische Forderung und praktische Einsicht

Diese praktische Einsicht ist allerdings keine Antwort auf eine Forderung des Friedens, die ihr vorausgehen würde. Sie ist die Art und Weise, wie die Forderung des Friedens von den Handelnden als verpflichtend erfahren wird: Sie fühlen sich gefordert, im Sinne des Friedens zu handeln, weil und indem sie die praktische Notwendigkeit ihres Handelns im Sinne des Friedens einsehen. Die praktische Forderung in der zweiten Person ist also das Korrelat einer praktischen Einsicht in der ersten Person. Und umgekehrt nimmt die praktische Einsicht in der ersten Person, insofern sie als Verpflichtung erfahren wird, die Form einer Forderung in der zweiten Person an. Das Subjekt einer Verpflichtung wird also nicht nur durch sein Verhältnis zu etwas definiert, was es tun soll, sondern immer auch durch das Verhältnis zu einer Forderung in der zweiten Person, durch die es als Subjekt der Verpflichtung konstituiert wird. Dies ist der Fall in Bezug auf alle möglichen Quellen einer solchen Verpflichtung: das Wort des Anderen (Levinas), die Stimme des Gewissens (Sokrates), die reine praktische Vernunft (Kant) oder ein durch die Vernunft ausgedrücktes Naturgesetz (Hobbes). Die praktische Einsicht ist also eine Erfahrung des Verpflichtetseins in der ersten Person als Korrelat einer Forderung in der zweiten 139 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Pascal Delhom

Person. Sie ist das, was einen Handelnden zum freiwilligen Handeln verpflichtet. Nun wird die praktische Forderung, deren Korrelat sie ist, meistens von Philosophen in einem einzigen Satz ausgedrückt, der bestimmen soll, was zu tun ist: »Handle so, dass …« oder »Du wirst nicht töten«. Doch solche Sätze bestimmen nicht nur, was getan werden soll oder nicht getan werden darf, sondern auch, dass etwas getan werden soll und dass es von denjenigen getan werden soll, an die sie adressiert sind. Entsprechend ist auch die Einsicht als Korrelat dieser vielfachen Forderung vielschichtig. Sie besteht erstens darin, dass Menschen in einer gegebenen Situation einsehen, dass etwas getan werden muss. Dies kann so erfolgen, dass ihnen eine bestimmte Handlung als etwas erscheint, was zu tun ist. Wie Waldenfels ausführt, tritt diese Handlung dann weder als Tatsache noch als Tat auf, sondern als Aufforderung zur Tat, als ZuSagendes (1994, 241) oder als Zu-Tuendes (2006, 28), was durch die lateinische Form des Gerundivs (dicendum oder faciendum) am besten ausgedrückt wird. Es ist aber auch möglich, dass sich die Forderung auf keine bestimmte Handlung bezieht, sondern bloß besagt, dass überhaupt etwas getan werden muss, dass es also in einer gegebenen Situation nicht zulässig ist, nichts zu tun. Etwas muss getan werden, sodass eine Situation des Unrechts nicht weiter besteht oder eine gewaltsame Handlung nicht ausgeübt wird. Dann erscheint nicht etwas als Zu-Tuendes, sondern eine Situation oder ein Geschehen als Zu-Veränderndes, ohne dass bereits die Art und die Wege dieser Veränderung vorgegeben wären. In solchen Fällen besteht die praktische Einsicht erst in einem zweiten Schritt oder auf einer zweiten Ebene in der Bestimmung dessen, was getan werden soll, das heißt in der Beantwortung der Frage, die in vielen Texten als Ausgangsfrage der Moral dargestellt wird: »Was soll ich tun?« Diese Bestimmung erfordert Kriterien der Handlung, die wiederum von der Quelle der in der Einsicht erfahrenen praktischen Forderung und ihrer Normativität abhängen. So geht nach Hobbes die Forderung des Friedens von unserer Vernunft im Dienst unserer lebensbejahenden Leidenschaften aus. Entsprechend ist für ihn das Kriterium des Handelns dessen Fähigkeit, uns vor dem Tod, vor dem wir Angst haben, zu schützen und ein gutes Leben, das wir erstreben und nach dem wir hoffen, zu ermöglichen. Nach Kant hingegen ist das Kriterium, das sich die reine praktische Vernunft unabhängig von jeder anderen Bestimmung des Willens im kategorischen Imperativ 140 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Die Zeitlichkeit des Friedens als gemeinsame Aufgabe

gibt, die Universalisierbarkeit der Maxime des Handelns. Und für Levinas ist dieses Kriterium das im Wort des Anderen vor jedem Inhalt der Sprache ausgedrückte Tötungsverbot. Darüber hinaus und angesichts der Pluralität der Menschen ist nach Levinas die erste Frage, die sich der Handelnde zu stellen hat, eine Frage der Gerechtigkeit: »Was habe ich gerechterweise zu tun?« (1992, 343) Solche Kriterien bestimmen allerdings nie eindeutig die singuläre Handlung, die ausgeführt werden soll. Zum Teil bestimmen sie eher das, was nicht getan werden darf, wie etwa das Tötungsverbot im Wort des Anderen bei Levinas, viele Formulierungen des kategorischen Imperativs bei Kant oder bereits der daimon des Sokrates (vgl. Platon 1973, 41 f.). Meistens öffnen sie auch einen Spielraum, innerhalb dessen nach vorgegebenen Kriterien gehandelt werden soll. Im Fall der Forderung nach Frieden als gemeinsame Aufgabe sind diese Kriterien diejenigen eines Handelns mit anderen im Sinne eines friedensstiftenden und friedfertigen Zusammenlebens. Neben der Forderung, dass, und der Bestimmung dessen, was getan werden soll, besteht die Einsicht drittens darin, dass das geforderte Handeln von den Beteiligten in einer gegebenen Situation als etwas erfahren wird, was von ihnen abhängt. Wie bereits ausgeführt heißt das, dass sie die praktische Forderung als an sie adressiert erfahren. Das Gerundivum dessen, was in der praktischen Einsicht als Zu-Tuendes erscheint, muss also von einem Pronomen im Dativ begleitet werden, wie Waldenfels schreibt (1994, 241): etwas erscheint als »mihi faciendum«, als durch mich oder durch uns Zu-Tuendes. Die Zusammenführung dieser drei Ebenen ermöglicht nun eine Bestimmung dessen, was die praktische Einsicht ausmacht: Sie ist ein Moment unseres Lebens, in dem wir uns in einer gegebenen Situation zum Handeln verpflichtet fühlen, das heißt, in dem wir einsehen, dass etwas getan werden muss und dass wir es sind, die es tun müssen, in dem wir also eine Aufforderung zum Handeln als an uns adressiert erfahren. In Bezug auf die Aufgabe des Friedens bedeutet dieser Moment der praktischen Einsicht in Zeiten des Krieges eine große Herausforderung. Denn er fordert, dass die Kämpfenden nicht nur die theoretische Möglichkeit des Friedens annehmen, die im Abstrakten durchaus wünschenswert scheinen mag, sondern dass sie in der konkreten Situation, in der sie sich befinden, den Frieden als ihre Aufgabe auffassen und, da diese Aufgabe nur mit dem anderen erfüllt werden kann, dass sie ihren Feind als denjenigen anerkennen und akzeptie141 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Pascal Delhom

ren, mit dem der Frieden verwirklicht werden muss. Sie müssen also zulassen, dass sie in der Erfüllung der Aufgabe des Friedens von diesem Feind abhängen. Diese praktische Einsicht verlangt eine schwierig durchzuführende Überwindung der eigenen Einstellung zu diesem Feind. Sie ist aber die Bedingung und der erste Schritt dafür, dass der Frieden mit ihm mit ihm erreicht werden kann. Denn genau in diesem doppelten »mit ihm« besteht die Aufgabe des Friedens: Der Frieden mit dem Anderen muss mit dem Anderen angestrebt und erreicht werden. In Zeiten des Friedens ist die praktische Forderung mit einer anderen Herausforderung konfrontiert, nämlich mit dem möglichen und verhängnisvollen Verschwinden der Einsicht, dass etwas getan werden müsse und dass dies für uns eine Aufgabe sei, mit dem Verschwinden also der Bedingung, unter der die praktische Forderung des Friedens als solche erfahren wird. Denn wenn die Waffen schweigen und die Angst vor kollektiver Gewalt schwindet, besteht die Gefahr, dass die Menschen die Aufgabe des Friedens als friedensstiftende Gestaltung des Zusammenlebens, als friedfertige Regelung von Konflikten und als Prävention ihrer möglichen Eskalation nicht mehr einsehen. Gerade die Normalität eines friedlichen Zusammenlebens kann dazu führen, dass der Frieden nicht als Aufgabe angesehen wird. Es droht der Verlust einer praktischen Einsicht als Wachsamkeit aller Beteiligten für die Aufgabe des Friedens in Zeiten des Friedens, dank der die Praktiken des friedlichen Zusammenlebens und Zusammenhandelns kultiviert werden und die Versuchung des Krieges und die Diskurse seiner Rechtfertigung nicht unbemerkt zwischen Menschen und Ländern wieder Einzug erhalten. Dies ist vielleicht in der jetzigen Zeit Europas besondere Herausforderung nach mehreren Jahrzehnten des Friedens.

4.

Die Aufgabe des Handelns

Die praktische Einsicht ist allerdings nur der erste Moment einer gemeinsamen Aufgabe des Friedens. Sie muss zu einem Moment des Handelns führen, ohne den sie nutzlos wäre. Denn weder das schlechte Gewissen derjenigen, die trotz besseren Wissens nicht – oder nicht im Sinne des Friedens – handeln, noch die Entschuldigungen und Rechtfertigungen, mit denen sie sich selbst und andere zu überzeugen versuchen, dass ein bestimmtes Handeln unmöglich ist oder un142 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Die Zeitlichkeit des Friedens als gemeinsame Aufgabe

angebracht wäre, weder der Verweis auf die eigene Ohnmacht noch auf die Verantwortung der anderen, denen es eigentlich zukäme zu handeln, tragen zur Erfüllung der Aufgabe des Friedens bei. Nun ist auch das Handeln, zu der die Einsicht führt, für die Handelnden eine Herausforderung. In Zeiten des Krieges besteht es in den tatsächlichen Bemühungen, trotz des herrschenden Misstrauens, das Gegeneinander des Kampfes mit seinen Verwerfungen und Verletzungen in das Miteinander der Friedensbemühungen zu transformieren. Darüber hinaus besteht es auch für jede Partei in dem Versuch, die andere Seite dazu zu bewegen, das Gleiche zu tun, allerdings ohne von ihr zu verlangen, dass sie es zuerst tut, und ohne dies als Bedingung des eigenen Tuns zu präsentieren. In Zeiten des Friedens besteht die Friedensaufgabe in der Entwicklung und in der Festigung von friedlichen Praktiken des Zusammenlebens, des gemeinsamen Handelns und der Regelung von Konflikten, die zusammengenommen und habitualisiert eine Kultur des friedlichen Zusammenlebens bilden können. Sie fordert auch die Bildung von Strukturen des sozialen und politischen Raumes, die solche Praktiken ermöglichen und fördern. Es sind Strukturen der Kommunikation und der Kooperation, der Öffentlichkeit politischen Handelns, der Transparenz von sozialen Strukturen und von Entscheidungsprozessen, aber auch der Rückzugsmöglichkeit in Sphären des Privaten. Solche Praktiken und Strukturen kosten allerdings Zeit, Energie und Geld, auch wenn sie finanziell viel günstiger und menschlich unvergleichbar befriedigender sind als ein Krieg. Das heißt, dass die Ausgabe des Friedens in Friedenszeiten keine Ruhe der Ordnung ist, sondern nur durch eine anhaltende soziale und politische Praxis erfüllt werden kann. In diesem Sinne kann die Erfüllung der Aufgabe des Friedens als Praxis des friedlichen Zusammenlebens und Zusammenhandelns als eine soziale Tugend aufgefasst werden (vgl. Delhom 2015). Als Tugend findet sie wie jede Tugend in sich selbst sowohl ihren Zweck wie auch den Grund und die Kraft ihrer Festigung: Das tugendhafte Handeln erfüllt von sich aus das Streben nach Tugend und ihre Wiederholung trägt zu ihrer praktischen Selbstverständlichkeit bei. Als soziale Tugend, die nie von einem Individuum allein praktiziert werden kann, sondern konstitutiv die Zusammenwirkung mehrerer Akteure fordert, erfüllt die friedfertige Praxis die Aufgabe des Friedens als gemeinsamer Aufgabe. Aber wie jede Tugend bedarf sie auch dieser wiederholten ge143 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Pascal Delhom

meinsamen Praxis, um sich zu festigen. Deshalb müssen sowohl die Einsicht, dass der Frieden für uns eine gemeinsame Aufgabe ist, wie auch die Praxis, die sich nach ihr richtet, immer wieder erfolgen, wenn die soziale Tugend des friedlichen Zusammenlebens und des friedfertigen Zusammenhandelns nicht verkümmern soll. Hierbei kann die Einsicht durch die gelingende Praxis erhärtet werden. Allerdings besteht auch die Gefahr, dass die durch Habitualisierung entstehende Selbstverständlichkeit der Praxis dazu führt, dass die Einsicht in die Notwendigkeit der Aufgabe vergessen wird und dass entsprechend ihre Normativität nicht mehr eingesehen wird. Dann droht bald der Sirenen-Gesang von schnelleren und einmaligen Lösungen von Konflikten durch Gewalt, nach innen wie nach außen, laut zu werden. Er ist für die Kultivierung einer sozialen Tugend des Friedens tödlich.

5.

Die Zeitlichkeit des Friedens

Nun ergibt sich aus dieser Auffassung des Friedens als gemeinsame Aufgabe eine besondere Zeitlichkeit des Friedens, die weder mit der Dauerhaftigkeit eines Zustandes noch mit der Zweckmäßigkeit eines Herstellungsprozesses gleichgesetzt werden, aber auch nicht als unendliche Annäherung verstanden werden kann. Sie besteht erstens in der Zeitlichkeit der praktischen Forderung und der entsprechenden Einsicht, dass es in gegebenen Situationen des Zusammenlebens unsere Aufgabe ist, im Sinne des Friedens zu handeln. Die Normativität dieser Forderung, der wir uns in unserer Einsicht nicht entziehen können, wird zeitlich als Dringlichkeit des Handelns erfahren. Dies heißt nicht notwendigerweise, dass wir sofort handeln sollen. Im Gegenteil können Geduld (vgl. Delhom 2005) und Besonnenheit durchaus die richtige Einstellung der Handelnden sein, besonders wenn mehrere Akteure miteinander handeln und wenn das Handeln der einen von demjenigen der anderen abhängt. Doch die in der praktischen Einsicht erfahrene Dringlichkeit des Handelns bedeutet, dass die Forderung des Friedens nicht im Abstrakten und nicht in Bezug auf eine unbestimmte Zukunft, sondern in der gegenwärtigen Situation gilt, dass sie uns jetzt verpflichtet, auch wenn die Handlung nicht sofort erfolgen kann oder soll. Dieser Dringlichkeit des geforderten Handelns entspricht eine Unruhe der Einsicht, sowohl in Bezug auf die Bestimmung dessen, was getan 144 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Die Zeitlichkeit des Friedens als gemeinsame Aufgabe

werden soll, wie auch in Bezug auf das Handeln selbst. Hierbei ist die Dringlichkeit der Forderung das Korrelat der empfundenen Unruhe der Einsicht, genauso wie die Forderung selbst das Korrelat der Einsicht ist. Sie wird als Unruhe der Einsicht empfunden und als Dringlichkeit des Handelns aufgefasst. Beide bilden zusammen den ersten zeitlichen Moment der gemeinsamen Aufgabe des Friedens. Der zweite Moment ist derjenige des Handelns, zu dem die Einsicht führen soll. Seine Zeitstruktur ist insofern komplex, als diejenigen, die im Sinne des Friedens handeln, dies nie alleine, sondern nur mit den anderen tun können. Sie müssen also ihr Handeln mit demjenigen der anderen inhaltlich und zeitlich verbinden. Es geht allerdings hierbei nicht um die Komplexität einer rationalen Wahl, in der wir die (möglichen) Handlungen anderer als Variablen in der Berechnung der zu erwartenden Ergebnisse des eigenen Handelns berücksichtigen würden. Denn ein solches Kalkül geht zwar davon aus, dass mehrere Menschen handeln oder zumindest handeln könnten. Es dient aber nur der Bestimmung des eigenen Handelns am Maßstab der eigenen Interessen, und dies unabhängig davon, ob wir mit den anderen oder gegen sie handeln. Das Handeln im Sinne der gemeinsamen Aufgabe des Friedens berücksichtigt nicht nur das Handeln der anderen, es bezieht dieses notwendig ein. Durch diese Einbeziehung wird das Handeln nicht schwieriger oder komplexer als ohne sie, sondern es wird erst zu dem gemeinsamen Handeln, das es ist und sein soll. Wie ein Gespräch etwa nicht dadurch komplexer wird, dass der Gesprächspartner auch spricht, sondern gerade dadurch ermöglicht wird, so ist das gemeinsame Handeln im Sinne des Friedens für beide Seiten erst durch das Mit-Handeln der anderen möglich. Nur die Zeitlichkeit dieses Handelns ist komplexer als diejenige von Handlungen, die nur ein Subjekt haben. Hannah Arendt vertritt in ihrer Philosophie des tätigen Lebens eine Auffassung des Handelns und Sprechens als politische Tätigkeiten, die von der Pluralität der Menschen ausgehen und im Gegensatz zum Arbeiten und zum Herstellen nie allein vollzogen werden können. Das Handeln ist für sie eine Tätigkeit, die »sich in dem Bezugsgewebe zwischen den Menschen« vollzieht (Arendt 1981, 180). Sie unterscheidet hierbei zwischen zwei Teilen oder Stadien des Handelns, für die es im Griechischen wie im Lateinischen verschiedene Wörter gab: das Initiieren oder Anfangen (archein, agere) und das Vollenden (prattein, gerere) der Handlung. Etwas »wird begonnen 145 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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oder in Bewegung gesetzt von einem Einzelnen, der anführt, woraufhin ihm viele gleichsam zu Hilfe eilen, um das Begonnene weiter zu betreiben und zu vollenden« (Ebd., 181). Im Laufe der Geschichte hätte sich der Sinn dieser Wörter allerdings verschoben und die zeitliche Unterscheidung wäre zunehmend als eine hierarchische verstanden worden: befehlen und vollstrecken. Arendt möchte aber die zeitliche Relevanz der Unterscheidung betonen. Denn Handeln im Raum der vielen ist nur möglich, weil wir Menschen in der Welt der Beziehungen, die uns verbinden, Anfänge setzen können. Durch unser Handeln und Sprechen initiieren wir etwas Neues, was zwar von den anderen aufgenommen und vollzogen werden muss, um die Mitwelt zu verändern, was aber ohne diesen Anfang nie geschehen wäre. Das Gleiche gilt für das gemeinsame Handeln im Sinne des Friedens. Der erste Moment dieses Handelns, durch das Frieden in Zeiten des Krieges entstehen und in Zeiten des Friedens gestaltet werden soll, ist eine Initiative. Sie entsteht aus der Dringlichkeit der Einsicht und setzt einen Anfang in der Welt der zwischenmenschlichen Beziehungen. Diese Initiative hat zwar keinen Bestand, wenn sie nicht von anderen aufgenommen und vollzogen wird. Aus einer einseitigen Handlung entsteht noch kein Frieden. Aber ohne Initiative kann kein gemeinsames Handeln im Sinne des Friedens entstehen. Denn es gäbe dann nichts, was aufgenommen und vollzogen werden könnte. Der zweite Moment des Handelns ist sein Vollzug durch Menschen, die auf die Initiative eingehen, sie aufnehmen und fortführen. Dass sie es tun können und sollen, ist bereits ein Abschied von der Gewalt einer Handlung, die keine Antwort hervorruft, sondern nur sich selbst gegen die anderen zu behaupten versucht. Es ist sogar der erste Abschied vom gewaltsamen Handeln überhaupt, wenn dieses mit Levinas als ein solches verstanden wird, das alle anderen als – mögliche – Subjekte ausschließt: »Gewaltsam«, schreibt Levinas, »ist jede Handlung, bei der man handelt, als würde man allein handeln: als wäre der Rest des Universums nur dazu da, die Handlung in Empfang zu nehmen; gewaltsam ist folglich auch jede Handlung, die wir erleiden, ohne dass wir an allen Punkten an ihr mitwirken.« (Levinas 1996, 15; leicht veränderte Übersetzung) Umgekehrt kann also die notwendige Beteiligung der anderen an der Handlung als erste Überwindung ihrer Gewaltsamkeit verstanden werden. Dass allerdings eine Initiative nicht nur erfolgt, sondern von anderen aufgenommen und vollzogen wird, ist besonders in Zeiten des 146 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Die Zeitlichkeit des Friedens als gemeinsame Aufgabe

Krieges und als Regelung von Konflikten in Zeiten des Friedens nicht selbstverständlich. Die Initiative muss die Bedingungen aufstellen, unter denen sie von anderen als solche ernst genommen und angenommen werden kann. Sie muss sich selbst als glaubwürdig präsentieren, sowohl als Antwort auf eine Dringlichkeit des Handelns wie auch als offen für die Art und Weise, wie sie von anderen aufgenommen wird. Sie muss dadurch, dass sie einen Anfang setzt, einen Spielraum für dessen Vollzug eröffnen, ohne bereits vorgeben und restlos kontrollieren zu können, worin dieser Vollzug bestehen soll und wohin er führt. Durch diese Offenheit enthält jede Initiative für diejenigen, die sie ergreifen, ein unvermeidbares Risiko. Denn durch sie legen sie das, was sie als dringlich gefordert empfinden und was sie bereits auf den Weg gebracht haben, in die Hände der anderen Beteiligten, ohne sicher sein zu können, dass diese es aufnehmen und im Sinne einer gemeinsamen Aufgabe fortführen werden. Sie setzen sich dadurch der Gefahr aus, dass der Sinn und die Richtung ihrer Initiative verraten werden und dass sie Folgen herbeiführt, die ihrer ersten Intention entgegengesetzt ist. Jede Initiative ist also ein Wagnis. Besonders in Zeiten des Krieges ist allerdings dieses Wagnis einerseits der erste notwendige Schritt in die Richtung eines Zusammenlebens in Frieden, in dem die gegenseitige Abhängigkeit der Menschen nicht als Problem, sondern als die Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung angesehen werden kann. Es bedeutet aber zugleich und unvermeidbar für die Initiatoren eines gemeinsamen Handelns die Steigerung der eigenen Verletzlichkeit. Deswegen besteht für sie die Notwendigkeit, die »Unabsehbarkeit des Zukünftigen« (Arendt 1981, 239) durch Kräfte zu mindern, die die menschliche Freiheit als Voraussetzung des Handelns nicht einschränkt, sondern als solche anerkennt und zugleich bindet. In Zeiten des Friedens ist auf besondere Weise das Vertrauen eine solche bindende Kraft, die uns mit den anderen Mitgliedern der Gesellschaft verbindet und uns in den Situationen, in denen wir von ihrem Handeln abhängig sind, erwarten lässt, dass sie nicht gegen uns, sondern in unserem Sinne handeln werden, auch wenn wir nicht genau wissen – und nicht genau zu wissen brauchen –, worin ihr Handeln bestehen wird. Vertrauen ermöglicht, so Niklas Luhmann, eine Reduktion der besonderen Komplexität, die für unser Handeln die Freiheit der anderen darstellt (vgl. Luhmann 2000, 27 ff.). Doch auch das Vertrauen ist immer mit einem gewissen Risiko behaftet. Denn diejenigen, denen wir es schenken, können es auch 147 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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verraten und uns dadurch mehr schädigen, als wenn wir ihnen nicht vertraut hätten. Vertrauen kann und sollte also nur unter Bedingungen geschenkt werden, welche die Integrität der Schenkenden nicht allzu sehr zu gefährden, und somit auch die Möglichkeit des Vertrauens überhaupt als »eine der wichtigsten synthetischen Kräfte innerhalb der Gesellschaft« (Simmel 1992, 393) zu zerstören drohen. Solche Bedingungen sind etwa die Einbettung des Vertrauens in eine vertraute Umwelt (vgl. Luhmann 2000, 20 ff.), in der sich die Menschen kennen und auf bekannte Weise verhalten, aber auch der Rahmen funktionierender Systeme, die bestimmte Rollen und Verhaltensmuster vorschreiben, sowie ein gewisses Vertrauensklima (vgl. Baier 2001, 42, 60) oder Vertrauensethos (vgl. Röttgers 2004) innerhalb von Gesellschaften, nach denen die normative Erwartung, dass unser Vertrauen nicht missbraucht wird, durchaus als gerechtfertigt angesehen werden kann. Solche Bedingungen tragen nicht dazu bei, dass Vertrauen in einem logischen Sinne begründet sei. Sie sind aber ein Grund oder ein Boden, auf den es sich stützen und auf dem es erfolgen kann. Sie verleihen ihm darüber hinaus auch eine indirekte Begründung, indem sie mögliche Gründe des Misstrauens entkräften. Hierbei ist das Misstrauen nicht das Gegenteil des Vertrauens, sondern seine notwendige Ergänzung. Denn im Gegenteil zum Vertrauen kann es begründet werden und dadurch die Fälle bestimmen, bei denen es nicht angesagt ist zu vertrauen. Indem sie solche Gründe des Misstrauens entkräften, tragen also bestimmte Bedingungen dazu bei, dass das Vertrauen durchaus als berechtigt angesehen werden kann. Dazu kommt, dass das geschenkte Vertrauen selbst eine bindende Kraft besitzt, die nicht von geltenden Normen herrührt, nach denen Vertrauen einerseits geschenkt und andererseits nicht enttäuscht werden sollte, sondern solche Normen erst entstehen lässt. So lassen sich nach Niklas Luhmann Vertrauensbeziehungen »nicht durch Forderungen anbahnen, sondern nur durch Vorleistungen dadurch, dass der Initiator selbst Vertrauen schenkt oder eine zufällig sich bietende Gelegenheit benutzt, sich als vertrauenswürdig darzustellen (indem er zum Beispiel eine Fundsache abliefert). Für den Vertrauenden ist seine Verwundbarkeit das Instrument, mit dem er eine Vertrauensbeziehung in Gang bringt. Erst aus seinem eigenen Vertrauen ergibt sich für ihn die Möglichkeit, als eine Norm zu formulieren, dass sein Vertrauen nicht enttäuscht werde, und den anderen dadurch in seinen Bann zu ziehen.« (Luhmann 2000, 55) 148 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Die Zeitlichkeit des Friedens als gemeinsame Aufgabe

Wenn also das gemeinsame Handeln immer durch eine Initiative oder eine Vorleistung eingeleitet werden muss, deren Erfolg von ihrer Aufnahme und Fortführung durch andere abhängt, dann ist das Vertrauen eine bindende Kraft, die das damit einhergehende Risiko des Handelns zwar nicht beseitigt, aber begegnet, indem sie es gewissermaßen einsetzt, um dessen mögliche negative Folgen normativ zu verwerfen. Das gemeinsame Handeln findet im Vertrauen, sofern es gerechtfertigt erscheint, eine wichtige Quelle seiner eigenen Normativität. Doch in Zeiten des Krieges und des Streits sind die sozialen Bedingungen des Vertrauens kaum gegeben und die bindende Kraft des Schenkens von Vertrauen reicht nicht aus, um die begründete Unsicherheit in Bezug auf die Handlung der anderen aufzuheben. Dies bedeutet nicht, dass das Vertrauen keine Rolle mehr spielt. Dies wusste auch Kant, dessen sechster Präliminarartikel zum ewigen Frieden besagt: »Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem anderen solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen.« (1977, 200) Aber die verbindliche Kraft des Vertrauens reicht nicht aus, um alleine als Friedenskraft in Zeiten des Krieges zu fungieren. Sie wird in der politischen Philosophie Europas seit dem 17. Jahrhundert durch die bindende Kraft des gegebenen Wortes im Versprechen und im Vertrag ergänzt und gestärkt. 1 Auch hier geht es um die zeitliche Verschiebung zwischen einer Vorleistung und der entsprechenden Gegenleistung, die jedem Friedensvertrag innewohnt (vgl. Waldenfels 2007, 248). Auch hier ist diese Vorleistung mit einem Risiko verbunden, das erst dann aufgehoben wird, wenn die Gegenleistung erfolgt. Allerdings entsteht durch die Verbindung zweier Arten der Verpflichtung, einerseits durch die Vorleistung, die eine Gegenleistung beansprucht, andererseits durch das gegebene Wort, die normative Erwartung, dass der Vertrag eingehalten wird. Doch auch hier gibt es für diejenigen, die den Vertrag schließen, keine andere Garantie als das durch das gegebene und erhaltene Wort unterstützte Vertrauen, dass die andere Seite auch ihren Teil des Vertrags erfüllt. Ein Vertrag ändert also nicht die Art der Beziehung der Handelnden zum Handeln der anderen, von dem die Erfüllung des eigeVgl. dazu die langen Erläuterungen von Thomas Hobbes über die verpflichtende Kraft des gegebenen Wortes und ihre Bedingungen im 14. Kapitel des Leviathans (1966, 100 ff.).

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149 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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nen Handelns abhängt. Er verstärkt nur die Verbindlichkeit dieser Beziehung, indem er die Gegenleistung der anderen zu einem gewissen Grad vorbestimmt und die Verbindlichkeit der durch eine Vorleistung entstandenen Erwartung durch das gegebene Wort unterstützt. Deshalb scheint auch diese erhöhte Form der Verbindlichkeit in Zeiten des Krieges und zum Teil auch in Zeiten des Friedens bei geringerem Vertrauensethos unzureichend, um das Risiko einer Initiative zu begrenzen, die uns vom Handeln der anderen abhängig macht. »Wird ein Vertrag abgeschlossen, bei dem keine der Parteien sofort erfüllt, sondern nur im gegenseitigen Vertrauen, so ist er im reinen Naturzustand – im Zustand des Krieges eines jeden gegen jeden – bei jedem vernünftigen Verdacht unwirksam« (1966, 104 f.), schreibt Hobbes, und es liegt nahe, dass ein solcher Verdacht im Kriegszustand durchaus begründet ist. Das gegebene Wort allein würde dann keine verbindliche Kraft besitzen. Die Lösung, die Hobbes bekanntlich deswegen vorschlägt, ist die Einsetzung einer Macht, die mit legitimer Gewalt das Einhalten der Verträge durchzusetzen vermag. Doch gerade eine solche Macht ist das, was in Zeiten des Krieges fehlt. Dazu kommt, dass die Staaten, die nach Hobbes als Garanten des Friedens zwischen den Bürgern fungieren sollten, einerseits die Hauptakteure vieler Kriege sind, die sie entsprechend nicht als äußere Instanz zu lösen beitragen, andererseits ihr Monopol legitimer Gewalt allzu oft nicht zum Zwecke des inneren Friedens, sondern der Durchsetzung und Stärkung der eigenen Macht anwenden. Dies ist in prägnanter Weise die Erfahrung des zwanzigsten Jahrhunderts, das von zwei Weltkriegen und vielen Formen von Totalitarismus geprägt wurde. Auch wenn also die Wichtigkeit von Institutionen und allen voran vom Recht als Garantie des Friedens betont werden muss, können sie doch den Prozess der Friedensfindung nicht ersetzen. Hobbes hat hier gegen Kant recht: Der Frieden folgt nicht quasi notwendig aus einer rechtlichen Ordnung, die sich die Menschen selbst geben würden, sondern er entsteht durch die gegenseitigen Verpflichtungen, die Menschen durch ihr Handeln und Sprechen eingehen, und kann von Institutionen nur garantiert werden. Diese Institutionen wiederum müssen immer wieder, ausgehend von Friedenskräften innerhalb der Gesellschaft, auf ihre Friedfertigkeit und Friedenstauglichkeit geprüft und notfalls verbessert werden. Dies heißt nicht, dass politische Institutionen und geltendes Recht keine Relevanz für den Frieden hätten. Sie sind aber nicht als 150 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Die Zeitlichkeit des Friedens als gemeinsame Aufgabe

Akteure des Friedens, sondern als stabiler Rahmen wichtig, innerhalb dessen ein gemeinsames Handeln im Sinne des Friedens stattfinden kann. Und in der Tat ist die Stabilität eines solchen institutionellen Rahmens wertvoll, damit die zeitliche Verschiebung zwischen Initiative und Vollendung eines gemeinsamen Handelns, zwischen verträglich geregelter Leistung und Gegenleistung, nicht nur durch die bindende Kraft des Vertrauens und des gegebenen Wortes überbrückt werden muss, sondern auf der Kontinuität eines Rahmens fußen kann, in dem sie stattfinden und der deren Einhalten zu garantieren vermag. Doch der Nachteil einer solchen Garantie der Verlässlichkeit gemeinsamen Handelns liegt darin, dass sie dem Handeln selbst äußerlich ist. Anders als die bindende Kraft des Vertrauens und des gegebenen Wortes kann sie das Handeln nur von außen lenken und muss auf Mittel der Durchsetzung zurückgreifen, die nicht diejenigen des gemeinsamen Handelns sind, sondern dieses von außen durch Anreize, Begünstigungen und Strafe bestimmen. Der Frieden des gemeinsamen Handelns, der dadurch garantiert werden soll, wird hierbei nicht durch gemeinsames Handeln garantiert. Deswegen muss das gemeinsame Handeln im Sinne des Friedens, neben der institutionellen und rechtlichen Garantie eines stabilen Rahmens, einen weiteren Faktor der Stabilisierung in der eigenen Habitualisierung finden und fördern. Eine solche Habitualisierung erfolgt durch die Wiederholung gemeinsamer Handlungen, in denen die einen eine Initiative ergreifen oder eine Vorleistung gewähren und die anderen die damit verbundenen Erwartungen nicht enttäuschen, sondern das Initiierte aufnehmen und vollziehen. Eine solche Habitualisierung betrifft nicht die Initiative als solche, die definitionsgemäß Neues einbringt und nicht habitualisiert werden kann. Sie betrifft aber einerseits die Tatsache, dass in bestimmten sozialen und politischen Kontexten Initiativen im Sinne des Friedens stattfinden und immer wieder ein gemeinsames Handeln einleiten und hervorrufen. Sie betrifft andererseits das Einhalten des gegebenen Wortes und das Gefühl der Verpflichtung, die durch das erhaltene Vertrauen entsteht. Sie erhöht somit erstens die Vertrauenswürdigkeit der Akteure, zweitens die Vertrauensatmosphäre innerhalb einer Gesellschaft und drittens entsprechend die Bereitschaft der gesellschaftlichen Akteure, sich dem Risiko eines Handelns mit den anderen auszusetzen. Gewiss, auch der Prozess der Habitualisierung ist nicht ohne 151 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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Risiko, denn wenige Brüche des gegebenen Wortes, wenige Verletzungen des geschenkten Vertrauens können für ihn zerstörerischer sein als eine lange Reihe nicht enttäuschter Erwartungen befestigend wirkt. Allerdings entsteht durch die Habitualisierung des gemeinsamen Handelns eine Art Verbindlichkeit, die weder mit der Dringlichkeit einer Forderung noch mit der bindenden Kraft des geschenkten Vertrauens oder des gegebenen Wortes gleichgesetzt werden kann, aber auch nicht die objektive und äußerliche Normativität des positiven Rechts ist. Es handelt sich um die besondere Verbindlichkeit von geteilten Erwartungen, die in einer Gesellschaft gelten, ohne ausdrücklich formuliert werden zu müssen, deren Verletzung aber als Unrecht empfunden werden und reaktive Haltungen der Empörung oder der Missbilligung hervorrufen (vgl. Strawson 1978). Diese Normativität ergänzt diejenige der Institutionen und des Rechts als dauerhafte Stütze eines gemeinsamen Handelns im Sinne des Friedens. Letztere bietet dem Handeln einen positiven Rahmen, erstere einen Horizont, innerhalb dessen es praktiziert werden kann. Beide stärken sich gegenseitig und wirken zusammen, um das Risiko des gemeinsamen Handelns im Sinne des Friedens zu verringern und dieses als soziale Tugend zu etablieren. Beide bilden zusammen die Bedingungen dessen, was durchaus eine Kultur des gemeinsamen Handelns genannt werden kann. Die bis jetzt beschriebene Zeitlichkeit des Friedens als gemeinsame Aufgabe ist also eine zukunftsorientierte Zeitlichkeit. Als Aufgabe findet der Frieden erstens seine Quelle in der immer erneuerten und immer gegenwärtigen Dringlichkeit der Forderung und in der entsprechenden Unruhe der Einsicht, dass er von uns gestiftet werden soll. Er findet zweitens seine Verwirklichung in einem gemeinsamen Handeln, das durch die Initiative einzelner Akteure entsteht und dadurch vollzogen wird, dass es von anderen aufgenommen und fortgeführt wird. Seine zeitliche Struktur ist diejenige einer Verschiebung zwischen Vorleistungen und Gegenleistungen, zwischen dem gegebenen Wort und dessen Erfüllung, zwischen dem geschenkten Vertrauen und seiner Belohnung. Der so verstandene Frieden findet drittens seine Garantie einerseits in der Habitualisierung eines solchen Prozesses, andererseits durch die Stabilität eines institutionellen und rechtlichen Rahmens. Die Aufgabe des Friedens kann allerdings auch nicht unabhängig von der Vergangenheit gedacht werden, insofern diese sowohl die Gegenwart der Einsicht wie auch die Zukunftsorientierung des Han152 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Die Zeitlichkeit des Friedens als gemeinsame Aufgabe

delns maßgeblich prägt. Denn die Einsicht, dass gehandelt werden und dass etwas Bestimmtes getan werden soll, hängt in vielerlei Weise von den positiven und negativen Erfahrungen der Vergangenheit sowie von unserer Haltung zu dieser Vergangenheit als das ab, was bestätigt und gestärkt oder verurteilt und erneuert werden soll. Darüber hinaus hängt das Handeln im Sinne des Friedens von Fähigkeiten und Dispositionen ab, die wir in der Vergangenheit erworben und kultiviert haben oder von denen wir Abstand nehmen müssen. Es gilt für die Aufgabe des Friedens, der immer wieder initiiert werden muss, was Hannah Arendt allgemeiner über das Handeln schreibt: Es kann nur dann etwas Neues in die Welt gesetzt werden, wenn die Handelnden nicht von der Last der Vergangenheit erdrückt werden, die eine Zukunftsorientierung unmöglich macht (vgl. Arendt 1981, 232). Dies gilt besonders in Bezug auf ausgeübtes und erlittenes Unrecht, das nach Zeiten des Krieges und kollektiver Gewalt einen neuen Anfang zwischenmenschlicher Beziehungen und die neue Gestaltung einer gesellschaftlichen Ordnung des Zusammenlebens verhindert. Nach Arendt vermag die Macht der Vergebung, von einer solchen Last zu befreien. Die Ermöglichung eines zukunftsorientierten Handelns durch die Verarbeitung der Vergangenheit ist aber auch eine der wichtigen Funktionen der Justiz sowie anderer Formen der Verurteilung und der Verarbeitung des vergangenen Unrechts. Sie sind die Bedingungen jedes neuen Anfangs, das heißt jeder Initiative im Sinne des Friedens. Dies bedeutet, gegen die Tradition des Friedensvertrags als Überwindung eines hypothetischen Naturzustands des Krieges eines jeden gegen jeden, dass die gemeinsame Aufgabe des Friedens von der realen Vergangenheit der Beteiligten ausgehen muss, insofern diese die Gegenwart ihres Handelns prägt und in ihr wirksam ist. In Zeiten des Krieges und der Gewalt gehört es also zur Aufgabe des Friedens, die Vergangenheit zu beurteilen sowie gemeinsame Wege ihrer Überwindung zu finden und zu beschreiten. In Zeiten des Friedens hingegen kann die positive Einbeziehung der Vergangenheit zum Prozess der Habitualisierung des gemeinsamen Handelns, zur Bildung einer entsprechenden sozialen Tugend und, unterstützt durch die Garantie von Institutionen und vom Recht, zur Entwicklung einer Kultur des Friedens beitragen. Als gemeinsames Handeln, das von der Einsicht der Dringlichkeit einer Forderung nach friedlicher Regelung von Konflikten ausgeht, das notwendig die Vergangenheit einbezieht und eine Zukunft 153 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Pascal Delhom

des Zusammenlebens und des Zusammenhandelns sowohl eröffnet wie auch normativ im Sinne einer sozialen Tugend bestimmt, ist der Frieden weder ein Zustand noch ein Zweck, sondern eine nie endende Aufgabe in der Gegenwart.

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Petar Bojanić

Gerechte Institution Wie (und wann) sind Kriege zu beenden? Die Rolle des Pazifismus

Frieden oder die Mindestvoraussetzung des Friedens oder die Mindestvoraussetzung einer gerechten Institution zur rechten Zeit beginnt dann und nur dann, wenn wir den Krieg oder den stattfindenden extremen Konflikt beenden. Dies ist eine Frage kollektiver Intentionalität, der koordinierte und kooperative Akt einer Gruppe von Menschen, den eine Person vollkommen alleine (eine einzelne Entität oder Instanz) nicht stoppen kann, weil Krieg extreme Gewalt (ein Ausdruck, der meines Erachtens als erstes von Jean Bodin benutzt wurde) ist. Der Untertitel dieses Textes beinhaltet das Dilemma, »wie (und wann) Krieg(e) zu beenden ist/sind«. Dies ist die Frage nach der Möglichkeit und Zeit der Beendigung von Kriegen. Diese Beendigung würde die gerechte Institution implizieren oder würde ihre Existenzbedingung sein. In diesem Sinne könnte Frieden wirklich seine eigene Zeit »haben«, genau wie alles andere, was es gibt (»Alles hat seine Zeit.« (Dt. im Org.).). Ich bin also ausschließlich am Beenden und am Ende von Krieg (natürlich an der Rolle des Pazifismus für dieses Beenden) interessiert. Und ich möchte auch darauf insistieren (nicht allein, natürlich 1), dass diese Kriegsbeendigung vom Krieg als solchem oder von dem Fortbestehen des Krieges differenziert werden sollte. Um anzufangen: Die Beendigung von Krieg gehört nicht zur Zeitspanne nach dem Krieg, oder sie gehört sonst nur partiell zum jus post bellum, weil mit der Beendigung eine neue Zeitspanne beginnt. Jus terminatio trennt und verbindet gleichzeitig die Kriegsdauer und die Zeit nach dem Krieg, so wie es sich auch auf den Beginn oder auf die Ursache des Krieges zurück bezieht. 2 Wenn es Im August 2012 gab es ein von ELAC (Oxford Institute for Ethics, Law and Armed Conflict) in Oxford organisiertes Kolloquium, das der Kriegsbeendigung oder dem jus ex bello gewidmet war. Einige Texte, die sich mit dem Thema beschäftigen: Rodin 2008; Rodin 2011; Mollendorf 2008; Lazar 2010. 2 »Terminatio law stands in the same relationship to jus post bellum as jus ad bellum stands to jus in bello. Whereas jus post bellum is most naturally interpreted as gover1

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wirklich einen Zeitaspekt oder eine Zeitspanne gibt, in der die Beendigung von Kriegen beschlossen wird, wenn es bestimmte Schwierigkeiten und Verfahren (da wir von einem Prozess der begrenzten Dauer sprechen und nicht von einem Moment), und wenn es möglicherweise bestimmte Normen gibt, auf deren Grundlage die Möglichkeit besteht, jeden Krieg zu beenden, und wenn schließlich diese Beendigung des Krieges direkt den Beginn des Friedens impliziert, dann wäre es möglich, diese Dimension der Kriegsbeendung oder die Zeitspanne, in der der Krieg ausgesetzt wird (jus terminatio oder jus ex bello), zu benennen und theoretisch zu rekonstruieren. 3 Mein Ausgangspunkt ist somit, dass wir im Krieg sind und dass es eine Beendigung des Krieges gibt, oder genauer, dass »jus ex bello and jus in bello are not separated by an arbitrary timeline, but by the practices that they regulate.« (Lazar 2010, 13) Außerdem habe ich beschlossen, nicht über Frieden und Zeit nachzudenken, sondern über Krieg, der durch die Zeit segmentiert ist. Das ist ein Krieg, der durch verschiedene Praktiken (die während verschiedener Zeitspannen seines Fortbestehens eingeleitet werden) in einer bestimmten Weise reguliert und auch befriedet wird. Die Tatsache nämlich, dass Krieg zeitlich als ein solcher rekonstruiert wird, der Zeitspannen vor dem Krieg oder vor dem Angriff hat (präemptiver Krieg, Krieg vor der Zeit), einen Anfang, eine Dauer, eine Beendigung und ein Ende oder

ning the rights and obligations of actors once they have transitioned from a state of war into a state of peace, terminatio law governs the transition itself.« (Rodin 2008, 54) 3 Es liegen zwei Bezeichnungen dieser Redensart vor, die von zwei zeitgleich 2008 veröffentlichten Texten kommen: »I call jus ex bello the set of considerations that govern whether a war, once begun, should be brought to an end if so how. For those who believe that war is just if and only if it satisfies certain conditions, matters of jus ex bello are of central importance.« (Mollendorf 2008, 123) »Whereas jus post bellum is most naturally interpreted as governing the rights and obligations of actors once they have transitioned from a state of war into a state of peace, termination law governs the transition itself.« (Rodin 2008, 54) Jus ad terminationem belli oder bellum terminatio bezeichnet nach Rodin, »victory, defeat, stalemate, or intervention by a third party.« Wenn wir einer Unterscheidung von Brian Orend folgen, ist die Doktrin der jus ex bello die der mittleren Phase. »Conceptually, war has three phases: beginning, middle and end. So if we want a complete just war theory – or comprehensive international law – we simply must discuss justice during the termination phase of the war. After all, there is no guarantee that if you fought justly, for the sake of a just cause, that you will automatically impose a just set of peace terms upon your vanquished enemy.« (Orend 2006, 160)

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die Zeitspanne nach dem Krieg (jus ad, in, post) – dies zeigt einen Versuch über die Jahrhunderte hindurch (ein nach wie vor ungenügend erfolgreicher), den Krieg nicht nur zu regulieren und ihn weniger grausam und gerechter zu machen, sondern ihn letztendlich zu verhindern und abzuschaffen. Wenn Kriegsakte erkannt und von einander getrennt werden, und hierbei reguliert (und ethisch bedingt; die Wendung jus »zivilisiert« den Krieg) und in einer bestimmten Zeitordnung anerkannt werden, dann wird es substanziell geänderte Gründe zu kämpfen geben, die »help to justify the standards governing how we initiate and prosecute wars« (Lazar 2010, 21). Der eigentliche Grund, wieso ich mich dafür entschieden habe, über Kriegsbeendigung oder Zeitspannen, in denen sich eine Partei aus dem Krieg zurückzieht, nachzudenken – über die erste Zeitspanne des Übergangs von Krieg zu Frieden, nicht die Zeitspanne nach dem Krieg, nicht jus post bellum 4 – hängt auch mit meinem persönlichen Interesse an der Geburt der Institution zusammen. Das bedeutet vor allem die Geburt einer Institution, die aus Gewalt und Krieg hervorgeht. Denn eine Kriegsbeendigung (eine Beendigung im Sinne, dass nicht mehr »zu den Waffen gegriffen« wird) bedeutet, dass eine Gruppe von Menschen oder ganz verschiedene Gruppen von Menschen das Töten stoppen und in der einen oder anderen Weise beginnen, miteinander zu kooperieren, also den Frieden zu institutionalisieren. Den Frieden zu institutionalisieren bedeutet, fähig zu sein (oder zu versuchen), miteinander zu leben, Seite an Seite zu leben oder noch spezifischer, miteinander zu arbeiten. Die Institutionalisierung des Friedens bedeutet die Selbst-Institutionalisierung einer Gruppe oder verschiedener Gruppen. Kants Idee, dass der Krieg gegeben ist (bestehend, präsent, drohend) und dass es umgekehrt der Frieden ist, der Bemühungen erfordert, der Stiftung und Institutionalisierung erfordert (Kant gebraucht Worte, die vom Verb »stiften« In seinen fünf Büchern, die in den letzten Jahren von der Cambridge University Press veröffentlicht wurden – das letzte, von diesem Jahr, ist After War Ends – diskutiert Larry May detailliert all jene Probleme, die die Phase nach Kriegsende betreffen. Ganz am Anfang des Buches erwähnt May bellum terminatio, sie geht dann aber nicht näher auf das Problem ein. Natürlich erwähnt Michael Walzer nicht das jus terminatio im Klassiker von 1977 Just and Unjust Wars. Im Kapitel »Jus post bellum« schreibt Walzer: »Look, justice after war consists in achieving the just cause which justified the start of the war to begin with. For example, if the just cause was selfdefense from aggression, jus post bellum consists in defeating and repulsing the aggressor, successfully defending one’s community.« (1977, 315 f.)

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abgeleitet sind), weist auf ein kollektives Bemühen, eine gemeinsame Arbeit und in gewisser Weise auf eine gemeinsame Zeit hin. An diesem Punkt oder in diesem Moment können wir uns eine Absichtsänderung einer Gruppe von Menschen vorstellen, die nicht mehr töten, sondern sich organisieren und sich vorbereiten, mit friedlichen Mitteln in die Realität einzugreifen, und dabei die Kriegsaktivitäten zurücklassen. Ich möchte drei vorausgehende Schwierigkeiten nennen. Erstens: Da wir in einem Zeitalter der Besatzungskriege leben, deren Ende schwer herbeizuführen ist, wage ich es zu allererst darauf zu bestehen, dass es unmöglich ist, sich einen Krieg vorzustellen, der nicht beendet werden kann und ewig weitergeht; paradoxerweise jedoch ist es auch möglich, sich einen Krieg vorzustellen, der, obwohl er beendet wurde, keinen Frieden bringt. Lasst uns annehmen, dass die in Afghanistan und im Irak geführten Kriege, neben einigen anstehenden Kriegen, Kriege für Demokratie und Frieden sind, und dass sie weitergehen sollten. Je mehr Krieg, desto größer und stabiler die Zukunft der Sicherheit und des Friedens. Zweitens wird der Horizont des Friedens, der Zukunftsfrieden, der »seine Zeit hat«, befleckt mit Gewalt und Zwang. (Ich bin mir nicht sicher, ob wir so etwas wie Kants Text über Frieden lesen sollten, um uns mit Achtlosigkeit gegenüber Texten von Benjamin, Hume, Lévinas oder sogar Kants verschiedenen Vorträgen zu diesem Thema zu betäuben.) Die gerechte Institution ist durch Reste nichtbeendeter Gewalt oder durch Gewalt, die nicht in die neue Gerechtigkeit, das neue Recht oder die neuen Gesetze transformiert wurde, verseucht. Ebenso wird die Gemeinschaft durch ein unegalitäres Modell beherrscht, in dem die Sieger jene neuen Besiegten oder die neue Minderheit systematisch in Schrecken versetzen. Die Kosovointervention ist ein ausgezeichnetes Beispiel für eine erfolgreiche Beendigung von Gewalt, welche die Mehrheit und Minderheit in einer oppositionellen Haltung und Frieden am Horizont zurück gelassen hat. Ist dies ein unfertiger Frieden oder ein Frieden zum falschen Zeitpunkt oder ist dies der einzig mögliche Frieden? Und die dritte vorläufige Schwierigkeit betrifft unseren gemeinsamen, unerschütterlichen Glauben an Gewalt – ungeachtet deren Geschichte von Verbrechen, Problemen und verschiedenen Schwierigkeiten – das heißt unseren perfekten Glauben, dass Gewalt dazu fähig ist, eine bestimme nicht zu rechtfertigende schlechte Lage zu beenden, und dann dass diese gleiche Gewalt zur Selbst-Beendigung fähig ist und dazu, den Frieden seinen Gang gehen zu lassen. 159 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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Wann und wie ist Krieg zu beenden und wie ist der richtige Moment zu erkennen, um eine Zeitspanne des Wiederaufbaus der Institutionen zu beginnen? Wann ist die Zeit für Frieden gekommen und welche sind die ersten Hindernisse für eine Beendigung eines jeden möglichen Krieges? Ich möchte versuchen, Pazifismus in seinem Engagement und konzeptionell als eine notwendige Voraussetzung von Krieg und militärischer Aktion zu bestimmen, indem ich hier einer Formulierung folge, die vor mehr als hundert Jahren von Franz Rosenzweig benutzt wurde, der von Frieden als »notwendiges Zubehör des Krieges« sprach (1979, 327). Ich bin an der Rolle der Zeit im Krieg interessiert (Hat Krieg seine Zeit? Analog: »Hat« Frieden, so wie alles andere, seine Zeit?). Ich würde gerne den »Aufruf zum Frieden« oder »das Eintreten für den Frieden« (diese Formulierungen sind zum Teil synonym mit dem Begriff »Pazifismus«) untersuchen und sie in die Zeit gerade vor dem Beginn des Krieges und ganz am Ende des Krieges verorten. Der Beginn des Krieges, seine Dauer und die Zeitspanne, die dem Krieg folgt, sind mit unterschiedlichen Regeln und Normen (»ius« ad bellum, in bello, post bellum) wesentlich »befriedet« und jede dieser verschiedenen Zeitspannen des Konflikts besitzt ihre normative Gestaltung und Forderung, dass ihre Regeln angewendet werden, sich ändern, aufeinander folgen. Daraus folgt, dass die Zeitspanne vor einem Kriegsanfang (ius praeventio) und die Zeitspanne des Kriegsendes, der Rückzug (ius ex bello), durch die direkte ›Begegnung‹ von Frieden und Krieg (Krieg und Frieden) gekennzeichnet sind. Während der Zeit des Kriegseintritts (Beenden des Friedens) und der Zeit des Friedenseintritts (Beenden des Krieges), wirkt es so, als wären verschiedene Formen des Pazifismus (»Aufrufe zum Frieden«), im weiten Sinne des Wortes, dramatisch bestimmend für das Wesen des Krieges (Bellizismus, Kriegstreiberei). Wenn ich sage, dass Pazifismus ein »notwendiges Zubehör des Krieges« ist, und ich ihn in diesen zwei Entwicklungsperioden des Krieges verorte, dann nehme ich an, dass die drei folgenden Elemente zugleich zum Frieden aufrufen und zum Krieg hinführen (und vice versa): Das Zusammentreffen mit dem Feind (dem Anderen), das individuelle oder kollektive Bild des Feindes und die Entscheidung des Feindes, anzugreifen oder sich zurückzuziehen. »Pazifismus« als Teil oder Zubehör eines Krieges bezieht sich vor allem auf die Verortung des Beginns und Endes des Krieges. Es ist außerdem entscheidend, die Wichtigkeit des Wortes »notwendiges« Zubehör zu erklären. Wessen Entscheidung ist 160 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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Krieg? Ist es der Feind (der Andere), der entscheidet (und wenn so, wie entscheidet er) über den Beginn und das Ende des Krieges? Ich möchte hier die Wichtigkeit des Pazifismus als Bestandteil des Krieges verteidigen. (Als Kriegsausrüstung soll Pazifismus die Zeit des Krieges verkürzen und die Zerstörung abschwächen.) Damit setze ich dieses Konzept des Pazifismus erstens dem anfänglichen Versuch Jan Narvesons in 1965 entgegen, Pazifismus als eine Position zu konstituieren, die er dann als ›unhaltbar und unvernünftig‹ bezeichnete; und darüber hinaus seinem neusten Versuch, im Pazifismus die Ursache für (weitere) Gewalt und sogar grausamere Kriege zu finden. 5 (Es scheint mir, dass Narveson hier unwissentlich Schmitts Kritik an Kants Begriff des präventiven Krieges und ungerechten Feindes wiederholt.) 6 Außerdem möchte ich genauer erklären, wie der »Aufruf zum Frieden« vor dem drohenden Beginn des Krieges (ius praeventio) funktioniert. Zwei oder drei Fragmente, Auszüge aus so genannten marginalen Pseudotexten (Archive, Korrespondenzen, Interviews, etc.), die ich zitieren werde, sollen vor allem zeigen, dass Frieden (das Beginnen oder Beenden von Krieg) immer vom Anderen (dem Gegenspieler oder Feind) entschieden wird. Die Schwierigkeit mit Frieden und Pazifismus, tatsächlich mit dem Beginnen oder Beenden von Krieg, hat immer mit der Fiktion des ultimativen Feindes und unserer totalen Zerstörung in seinen Händen zu tun. 7 Im Jahr 1965 verteidigt Julien Freund, Student, Freund und Übersetzer von Carl Schmitt, seiIch werde willkürlich drei von Narvesons Texten auswählen: Narveson 1965; 1968; 2012. Auf der letzten Seite des Manuskripts des Vortrags »Is Pacifism Reasonable?«, den er am 21. Juni 2012 in Belgrad, am Institut für Philosophie und Gesellschaftstheorie, gehalten hat, schreibt Narveson: »That is why pacifism is fundamentally unreasonable, despite – or rather, because of – the eminently reasonable preference of peace to war. It is unreasonable because, given the way people generally are, it ordains the very asymmetries that invite and cause wars.« (Narveson 2012, 18) Narveson stellt hier eigentlich einen obskuren Beitrag von Machiavelli erneut dar (der aber auch woanders gefunden werden kann), der den Pazifisten dahingehend tadelt, dass seine Weigerung, präventiv auf Gewalt zu reagieren, einen sehr viel größeren Schaden produziere und auch die Unmöglichkeit, weiter zu reagieren. »Pacifism should be morally condemned because in refusing to use force to prevent the ruin of some, it allows the ruin of all.« (Mapel 1996, 57) 6 Carl Schmitt analysiert unter dem Titel »Kant’s gerechter Feind« einige Fragmente von Kant über Krieg, hauptsächlich § 60 des Buchs Metaphysik der Sitten (Schmitt 1950, 140–143). 7 »Feindschaft [ist] die totale Negation des anderen Seins in allen seinen Lebensbetätigungen.« (Husserl 2014, 510). 5

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ne Doktorarbeit »L’Essence du politique« (Die Essenz des Politischen) vor einer Kommission mit Ramond Aron, seinem Mentor, sowie Raymond Polin, Paul Ricoeur und Jean Hyppolite. Freund schreibt 1991 über die Debatte mit Hyppolite in seinem Buch der Interviews: So kommt der Moment von Hypolites Einwand. Er hat meine Arbeit anerkannt, indem er Arons Waffen übernommen hat; Er fand mich zu hart gegen Kelsen, hat sich dann aber für unsere grundsätzlichen Unterschiede, die Quelle seiner Ablehnung, entschieden: »Es bleibt die für die Politik bestimmende Kategorie des Freund-Feindes. Wenn Sie wirklich richtig liegen, sagte er, bleibt für mich nichts anderes übrig, als meinen Garten zu kultivieren.« 8 Woraufhin ich sagte: »Hören Sie, Mr. Hyppolite, Sie haben vor kurzem zwei oder drei Mal gesagt, dass sie falsch lagen mit Kelsen. Ich glaube, dass Sie dabei sind, einen weiteren Fehler zu machen, weil Sie wie alle Pazifisten denken, es läge bei Ihnen, den Feind zu bestimmen. 9 In dem Moment, in dem wir uns keine Feinde wünschen, werden wir keine haben, so überlegen Sie. 10 Nun ist es aber der Feind, der Sie als solchen bezeichnet. 11 Und wenn er will, dass Sie sein Feind sind, können Sie ihn so freundlich wie Sie es mögen behandeln. Von dem Moment an, von dem er Sie als Feind wünscht, sind Sie es in der Tat. Und er wird Sie sogar davon abhalten, Ihren Garten zu kultivieren.« 12 Gleichermaßen tragisch (Tragique même), weil Hyppolite erwiderte: »Ergebnis: Es bleibt mir nichts anderes übrig als Selbstmord zu begehen. 13 (Freund 1991, 45)

Franz Rosenzweigs Originalbeitrag zu Geschichten von Krieg und Pazifismus bzw. zur Empfehlung für die Lösung des ›pazifistischen Dilemmas‹ kann am Ende des Briefes an seine Eltern vom 6. Januar 1917 gefunden werden. Kurz nach dem offiziellen Friedensangebot von Wilhelm II. (am 12. Dezember 1916) schreibt Rosenzweig, dass es erst dann für ihn deutlich wurde, was Pazifismus sei: … Der Pazifismus ist eigentlich – das ist mir in diesen Tagen seit dem 12. klar geworden – ein notwendiges Zubehör des Krieges. Man führt doch Krieg nicht um den Gegner zu zwingen – das wäre auf die Dauer ja unmög»Reste la catégorie de l’ami-ennemi définissant la politique. Si vous avez vraiment raison, a-t-il affirmé, il ne me reste plus qu’à cultiver mon jardin.« 9 (car vous pensez que c’est vous qui désignez l’ennemi, comme tous les pacifistes) 10 (Du moment que nous ne voulons pas d’ennemis, nous n’en aurons pas, raisonnezvous) 11 (Or c’est l’ennemi qui vous désigne) 12 (Et s’il veut que vous soyez son ennemi, vous pouvez lui faire les plus belles protestations d’amitié. Du moment qu’il veut que vous soyez l’ennemi, vous l’êtes. Et il vous empêchera même de cultiver votre jardin). 13 (»Résultat : il ne me reste plus qu’à me suicider«). 8

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lich –, sondern um ihn zu unterwerfen, ihm den eigenen Willen aufzuzwingen, also seinen Willen durch meinen Willen zu ersetzen. Der Sieger will aus dem Besiegten nicht sein Werkzeug machen (weil er das auf die Dauer nicht kann), sondern seinen Sklaven. Das Ziel des Siegers ist nicht Vernichtung des Feindes, sondern Gründung eines neuen Vertrags. Das setzt aber voraus, daß im Gegner ein Stück ›Friedenssehnsucht‹ schläft, das zu erwecken eben Aufgabe des Krieges ist. Wenn dieser Wille zum ›Frieden um jeden Preis‹ stärker geworden ist als die Leidensfähigkeit (der Heroismus), dann ist die Stunde für den Frieden da. Das alles gilt natürlich genau so gut bei zwei Siegern wie bei einem. Deshalb ist der Pazifismus ›so alt wie‹ der Krieg (nämlich der menschliche, auf Versklavung gerichtete Krieg; die Tiere, die nur den Vernichtungskrieg kennen, haben auch keinen Pazifismus). (Rosenzweig 1979, 327 f.) 14

Im Grunde gibt es weder einen neuen Inhalt noch eine neue rhetorische Strategie in diesen unendlich interessanten Fragmenten. Hyppolite ist nicht originell, aber seine Position führt auf die eine oder andere Weise auf die Beendigung von Gewalt oder Krieg dadurch, dass ihre Möglichkeit abgeschafft wird. (Es gibt keine Konfrontation mit dem Anderen, demjenigen, der mich als seinen Feind bestimmt; es ist absolut unklar, warum eine pazifistische Position Selbstmord beinhalten würde, das heißt, Gewalt gegen sich selbst). 15 Ebenso mit Rosenzweig: Sein Argument – dass Krieg (oder Gewalt) die »Friedenssehnsucht« im Gegner erzwingen oder erwecken solle, damit eine neue Waffenruhe (einen Vertrag; neues Recht) durchgesetzt wird, um alle Seiten im Krieg von diesem Moment an als Sieger dastehen zu lassen – repräsentiert keine besondere Entdeckung in den Geschichten von Gewalt und Verhandlungen. Was meines Erachtens wertvoll an Schmitt und Rosenzweig ist (jeder von ihnen ist AntiPazifist auf seine eigene Art, wie auch Narveson), ist ihre präzise Identifikation des entscheidenden Zeitpunktes (»des Höhepunktes des Krieges«), an dem das Problem des Friedens oder des Beginns des Krieges oder des Endes des Konflikts gelöst ist. Paradoxerweise ist der Ort des Beginns und Endes (oder Beendens) des Krieges im Feind zu finden oder in unseren erfundenen Strategien des feindlichen Elements, so oder so markieren beide unser westliches ZeitDer Verweis richtet sich auf den 12. 12. 1916, an dem Wilhelm II sein Friedensangebot machte. 15 Das Argument, dass eine mögliche pazifistische Position das Leben als absoluten Wert voraussetzt, ist inadäquat, denn der Wert ist umso mehr implizit in der Position, die die Erwiderung auf Gewalt und Verteidigung (dieses Lebens) von gewaltvollem Angriff verlangt. 14

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konzept. Obschon Schmitt (oder Freund) mit Kant von einem unfairen Feind ausgehen, mit dem verhandeln nicht möglich ist, der Krieg anfängt, indem er uns als Feinde bezeichnet, so schreibt doch Rosenzweig auf der anderen Seite von der Dauer des Krieges, bei der die selbe Unfairness und Unangemessenheit des Feindes immer noch besteht und es immer noch unmöglich ist, mit ihm zu einer Einigung zu kommen. Wenn der Feind am Ende »zum Frieden aufruft« oder ihm zustimmt, wenn er tatsächlich äußert, was ich ständig wiederhole (und »sein Wille wird durch meinen ersetzt«), 16 wenn er auf die eine oder andere Weise ein »Pazifist« wird – das ist der Punkt dieser ganzen Auslegung – dann sind alle Seiten siegreich und der Übergang von Krieg zu Frieden ist gewährleistet. Die List, die in der Widerlegung des Pazifismus eingebettet ist, besteht von Kant über Schmitt, zu beiden, dem frühen Narveson von 1965 und dem späteren von 2012, in der Zurechnung der Aggression und Bosheit im Feind, oder genauer, dem Feind X, der aus dem Nichts, plötzlich und normalerweise mit keinerlei Grund angreift (was eine Standardkonzeption des Prinzips des Bösen ist – oder nicht?). 17 Es gibt eine erschreckende kollektive Fantasie, die in den letzten zehn Jahren aktiv und weitverbreitet ist, und zwar ähnlich wie damals als Narveson erstmalig seine Theorie formulierte, nach der wir uns, jeder einzelne und alle in einem latenten Krieg gegen einen gnadenlosen, angreifenden Feind befinden (einen Feind, der nicht in Rosenzweig’scher Manier in einen Freund verwandelt werden kann). 18 DieMit diesem Schritt stellt Rosenzweig das Konzept des Heroismus wieder auf, eine wohl bekannte Zeile von Avot de Rabbi Natan 23: »Who is a hero among heroes? He who controls his urge, and he who makes of his enemy his friend.« (Kimelman 1968, 320) 17 Die mögliche Ungeheuerlichkeit der Namensliste, die Mischung von Konservatismus, quasi Nationalsozialismus und Liberalismus, ist mir auch nicht entgangen. Narvesons Werk von 2012, der den Text von 1965 weiterentwickelt, sortiert und schwächt bestimmte Sätze und Komplikationen. Der Narveson von 1965 setzt sich mit der populären, aber auch radikalen, widersprüchlichen und inkohärenten Natur des Pazifismus auseinander (»confusion is probably what accounts for such popularity as pacifism has had« [259]), wobei er versucht aufzuzeigen, wie prinzipienlos und unhaltbar er als eine moralische Position ist (»the pacifist’s central position is untenable« [271]). In diesem Jahr aber, komplett indirekt und beliebig, geht Narveson durch seinen alten Text, und editiert ihn, um ihn mit Abschnitten und Lesbarkeit zu verbessern. In dieser Zeit aber ist er an der Verantwortung des Pazifismus für die Ausdehnung der Gewalt in der Welt interessiert. 18 1758 bezeichnet Vattel diese Feinde als »die Unruhestifter des Friedens« (des perturbateurs de la paix), die grausamen Feinde der Menschheit (les cruels ennemis du 16

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se Fantasie sollte die Position von jemandem bewirken und implizieren, der sich standfest weigert, sich dieser aggressiven und extremen Gewalt entgegenzusetzen. (Es ist wichtig zu vermerken, dass jeder einzelne und alle gleichzeitig der Bedrohung ausgesetzt sind, während der Tod nur individuell und zu verschiedenen Zeiten trifft). Und damit wir nicht vergessen, 1965 ist ein Jahr der Unruhe, Einberufungsbescheide treffen ein, amerikanische Militäreinsätze werden in Vietnam immer üblicher und dauern fast 20 Jahre an. 19 In dieser Theorie folgen zwei weitere Schritte: Völlig unberechtigterweise bekommt diese passive Position den Namen »Pazifist,« 20 und zur gleichen Zeit wird diese als bedeutungslos und irrational erachtet, weil Widerstandslosigkeit gegen das Schreckensgespenst des Kommunismus oder Terrorismus von vornherein eine Kapitulation ist, die nur größeren Schaden in der Zukunft, und damit mehr Gewalt und Zerstörung anrichtet. Mit anderen Worten, »das Übel« physischer Gewalt, die ein Pazifist (oder Pazifisten) begehen würde, also das »substantielle Übel«, das von seinem individuellen Gebrauch von Gewalt herrühren könnte, ist vernachlässigbar im Verhältnis zu der Größe des Übels, dem wir, jeder einzelne und alle zusammen, uns entgegenzusetzen gefordert sind. Hier sind unmittelbar zwei Erklärungen: (a) Jeder von uns sollte sich individuell fragen, wann und ob man jemals auf solch extreme Art und Weise angegriffen wurde? Außerdem, wieso sollte Passivität, Geduld oder eine Reaktion das paradigmatische Problem sein, das von diesem potentiellen Angriff herrührt? Und ist dies die wichtigste Frage, um aus Gewalt und Krieg herauszukommen? Warum sollte die Frage (und Antwort) unserer Reaktion auf Gewalt (heute sehr selten, immer hypothetisch und genre humain), denen man sich entgegensetzen muss und die zu zerstören sind (Vattel 1835, Buch IV, § 1). In seinen Vorlesungen über Moralphilosophie von 1784 behauptet Kant, dass ein gerechter Krieg gegen einen solchen Feind niemals terminiert ist (Jus belli contra hostem injustum est infinitum) (Kant 1979, 1372). 19 Um den armen Pazifisten zu ängstigen, stellt Narveson 1965 Nazis, oder vielmehr ›einige der SS Männer‹ vor, die angeblich mit Opfern experimentierten, um den Moment herauszufinden, in dem ausgehaltene Gewalt in Widerstand übergeht (Narveson 1965, 263). 20 »Nobody thinks that we have a right to inflict pain wantonly on other people. The pacifist goes a very long step further. His belief is not only that violence is evil but that it is morally wrong to use force to resist, punish, or prevent violence.« (Narveson 1965, 259)

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imaginär) das sein, was uns bestimmt und uns dann potentiell als Pazifisten definiert? Ist analog dazu die Position vom Bellizisten oder »Kriegstreibern« durch eine Kraft definiert, die unverhältnismäßig stärker Vergeltung übt als die anfänglich eingesetzte Gewalt? In anderen Worten, warum sollten wir, auf der Suche nach den philosophischsten Momenten innerhalb der »Dunkelheit der Irrationalität« des Pazifismus, beispielsweise die Aktivität von Pazifisten in Prozessen der Konfliktprävention und -reduktion innerhalb von Institutionen auflösen? Ist es wirklich der Fall, dass unter den Doktrinen, die als ›Pazifismus‹ bekannt sind, »only the doctrine that everyone ought not to resist violence with force is of philosophical interest«? (Narveson 1965, 260) Und überhaupt, was ist der Ursprung dieser Verkürzung des Pazifismus, so wie sie Narveson einsetzt (und von anderen betrieben wird)? 21 Man erinnere, dass sich Narveson in seinem Text von 1965 an mehreren Stellen all die verschiedenen Antworten und Erklärungen vorstellt, die der Pazifist abgeben muss. Er erzwingt, nur um diese sofort als haltlos zu erachten, eine Position, die bestenfalls zu christlichen Fantasten zu Beginn des 19. Jahrhunderts passen würde, die die Unvereinbarkeit eines Krieg mit »der Religion von Jesus Christus« behaupten, oder zu Tolstoy 22 oder zu Doktrinen der ersten »Non-Resistance Societies« in England oder den USA. 23 Argumente gegen eine solche karikaturhafte oder theatralische Vereinfachung der »pazifistischen Position« sollten nicht nur die stärkeren oder bes»Some people believe that it is never morally permissible to use force against another person. This position is usually described as pacifism. A committed pacifist will think that even when one’s own life is threatened by a murderous attacker, morality does not permit one to use (it?) to prevent that attack. Nor can one use force to defend other people’s life. More people are not pacifists.« (Frowe 2011, 9) 22 »The next kind of war to be considered is the war of self-defense. This kind of war is almost universally admitted to be justifiable, and is condemned only by Christ and Tolstoy.« (Russel 1915, 138) 23 Es ist relativ einfach aufzuzeigen, dass Narvesons Konstruktion der Hauptcharakteristika des Pazifisten oder der pazifistischen Position wenig mit Bertrand Russels (Narveson erwähnt ihn am Ende seines 2012 erschienenen Textes und unterstreicht den Wandel seiner Position im Zweiten Weltkrieg) oder Gandhis Gedanken über Gewaltlosigkeit zu tun hat. Dass wir es nicht vergessen: Auch Gandhi empfahl, in den Krieg zu gehen und das Britische Empire zu verteidigen: »The theory of non-violence is a complex theory: we are mortal, fragile (defenseless) beings, inducted into violence (himsa). The saying ›life lives life‹ is laden with meaning, as man can live not a single moment and not, consciously or unconsciously, commit violence. The very fact that he is alive – that he eats, drinks, moves – necessarily implies himsa […].« (Losurdo 2010, 33) 21

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seren Charakteristika des Pazifismus hervorheben, 24 sondern auch bestimmte Tatsachen, die, wie wir wissen, Narveson nicht interessierten und interessieren. Wenn es maßgeblich weniger Angriffe auf Individuen oder Gruppen als vor 47 oder 200 Jahren gibt, was mit Sicherheit eine Konsequenz der generellen Pazifizierung der Welt und vieler vorbeugender Tätigkeiten derjenigen ist, die nicht Militaristen genannt werden können, dann ist die Frage, die von philosophischem Interesse ist, nicht, ob der Pazifist (oder die pazifistische Position) in der Antwort, die jemand auf einen Angriff gibt, entdeckt werden kann, oder in der Behandlung, die jemand gegenüber demjenigen, der einen Mordversuch unternimmt, ausübt. Die Frage ist eher, ob es einen (oder warum es keinen?) Nutzen gibt, anzugreifen oder Gewalt auszuüben? In anderen Worten, welche Form muss Gewalt annehmen, damit die Konsequenz deutlich von öffentlichem Nutzen ist? (Zum Beispiel: Gewalt verhindern, die neuer Gewalt vorausgeht – damit nenne ich das minimale Ziel, das immer wertvoll für diejenigen ist, die Gewalt ablehnen und sie durch einen letzten Krieg oder letzten gewaltvollen präventiven Schlag für immer abgeschafft sehen wollen.) 25 Sofern ich den messianischen Moment von dieser letzten Frage entferne (mit Sicherheit ist diese maximale Forderung regulativ und kann nicht nur bei Rosenzweig, sondern auch bei Narveson selbst gefunden werden), kann ich nicht anders, als darauf hinzuweisen, dass die Aktivität und Position des Pazifisten besser mit dem Verdacht erklärt werden, ob Gewalt oder Krieg tatsächlich (nicht nur moralisch) gerechtfertigt (sondern praktisch annehmbar – die Verwendung von Gewalt führt gewöhnlich nicht zu einem vorgegebenen Ziel) sein kann, oder ob beide bedeutende Ergebnisse erzielen können. Bevor er den Pazifist zum Angreifer macht, um zu sehen, ob er eher leiden als Widerstand leisten würde, scheint es mir, als hätte Narveson nach der Bedeutung des Angriffs als solchen und der Bedeutung des Gebrauchs von Gewalt im Allgemeinen fragen sollen. Ich betrachte es nicht als philosophisch unbedeutsam, die Perspektive einzunehmen, in der der Pazifist, bevor er auf die Gewalt reagiert, die ihm oder jemandem, der ihm nahe steht (oder jemand Unschuldigem

Diese Charakteristika sind weniger interessant für Philosophen, die eine Technik des Kreuzverhörs verwenden, um alles, was sie selbst konstruierten, zu widerlegen. 25 Narveson wird sicher irgendwo folgenden Satz aus seinem Text von 2012 näher erklären müssen, der nicht wirklich überzeugend erscheint: »We can benefit from violence, unfortunately, where that violence is unilateral.« (Narveson 2012a, 18) 24

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und Hilflosem) widerfahren ist, überrascht bleibt ob der bloßen Existenz der Gewalt als solchen (zu welchem Ende?) und sich dann für eben diese Gewalt verantwortlich fühlt, nicht genug getan zu haben, um ihr vorzubeugen oder sie abzuschaffen. Auch glaube ich nicht, dass es beweist, dass ich ein Pazifist bin, wenn ich es ablehne zuzugeben, ob ich mich einem gewissen Adam Lanza, der das Feuer auf Kinder, Lehrer und Eltern in einer Schule in Newton, Connecticut (14. Dezember 2012) eröffnet hatte, in den Weg stellen oder ihn erschießen würde. Mein Problem ist, dass ich für diese furchtbare Gewalt verantwortlich bin, nicht zuletzt weil seine Mutter, die unter seinen Opfern war, keine Skrupel hatte, eine Waffenkollektion zu besitzen, etc. Es wäre interessant zu zeigen, dass sogar diejenigen, die nicht wissen, dass diese Schießerei passiert ist, oder nichts von dem zweiten Zusatzartikel, 26 Dostoyevsky, Emmanuel Lévinas gehört haben, oder eben die, welche nichts verstehen noch sich in die Opfer einfühlen können – sogar sie sind noch immer a priori verantwortlich. Die Existenz von Gewalt oder Krieg verdeutlicht das fortwährend problematische Konzept der Kollektiv- oder Gruppenverantwortung, wohingegen eine pazifistische Aktion notwendigerweise ein gemeinsames Engagement gegen Gewalt oder Krieg impliziert, und nicht exklusiv individuell ist, so wie Naverson es haben wollen würde. (b) Selbstverständlich glaube ich nicht, dass die kleinere Anzahl von Angriffen und Aggressionen, ›Gewaltereignissen‹ generell, besonders in den letzten Jahrzehnten und nur in gewissen Teilen der Welt (nicht allen, natürlich), insgesamt eine Konsequenz pazifistischer Aktionen und Engagements ist, noch würde ich Pazifismus mit Taktiken (Narveson 1965, 263) oder idealem Aktivismus gleichsetzen, der letztendlich in einem absoluten Referendum aller für eine »Bevorzugung von Frieden« manifestiert werden sollte. Ganz am Ende seines Textes »Is Pacifism Reasonable?« schreibt Narveson: We must, alas, be able to make war if we can’t have peace. When everybody shares the preference for peace, then we can scale down and hopefully eventually eliminate war-making capability. Until then, however, pacifism is a non-option in the near run. (Narveson 2012, 17)

Anm. CS: Der zweite Zusatzartikel (Amendment II) der Verfassung der Vereinigten Staaten verbietet der Regierung, das Recht auf Besitz und Tragen von Waffen einzuschränken. Dieses Recht geht zurück auf die Bill of Rights von 1791.

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Ich denke nicht, dass wir eine besondere Art des Wartens und der Zukunftsorientierung brauchen, noch ist diese pathetische und unangebrachte Übertreibung notwendig – diese Idee, wir müssten alle zusammen, en bloc, über Frieden ›entscheiden‹ und die kollektive Absicht teilen, nie irgendetwas Gewalttätiges zu tun. Es reicht, die Wörter »Frieden«, »Bevorzugung des Friedens« und »Pazifismus« vorsichtig auf unsere Fähigkeit, Krieg zu führen, die Naveson sehr genau definiert, anzuwenden. Die Idee, dass Kriege auf verschiedene Weise geführt werden können, dass es gerechte und ungerechte Kriege gibt, zwangsweise erforderliche (mandatory) Kriege, erlaubte, willkürliche Kriege, 27 wie auch verbotene Kriege, und dass Aggressionskriege nicht gerechtfertigt sind (zum Teil auch, weil sie nur eine geringe Chance haben, erfolgreich zu sein) – all diese Möglichkeiten zeigen, dass die pazifistische Position (oder das pazifistische Engagement) eine lange Geschichte hat, die bereits in unserem Verständnis und unserer Theorie des Krieges eingelassen ist. 28 Besonders die Rechtfertigung des (begleitenden, aber immer auffallenden) Ortes des Pazifismus in der Kriegsmaschine, so scheint es mir, könnte die Aktivität und den Aktivismus der pazifistischen Position sichern. In Beiseite lassen möchte ich zwei komplizierte Argumente, die den Unterschied zwischen zwangsweise erforderlichen Kriegen (solchen, die befohlen sind, der Verpflichtung entsprechen) (milhemet mitzvah or milhemet hovah) und willkürlichen Kriegen (milhemet reshut) betreffen, und zwar in Beziehung zum Status eines Präventivkrieges und zum »Platz«, den Frieden oder Pazifismus in ihnen einnimmt. (Zum Beispiel: Implizieren alle Arten von Krieg, dass man zuerst Frieden anbieten solle (»offering peace first«)? (Vgl. Walzer 1996; Bleich 1983) 28 In dem Buch Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg (1914) führt Max Scheler eine der ersten detaillierten Thematisierungen der Differenz zwischen gerechtem und ungerechtem Krieg (1982, 100–105) ein. Dieses Fragment beinhaltet auch eins der ersten detaillierten Argumente über die Ungerechtigkeit von Präventivkriegen seit Grotius. Ich erwähne dieses Buch an dieser Stelle nur wegen einer Vorlesung im Januar 1927 (und einem kurzen Buch, das darauf folgte), die im Reichswehrministerium gegeben wurde und als Die Idee des Friedens und der Pazifismus posthum 1931 in Berlin veröffentlicht wurde. In Kapitel 4 zeigt Scheler (1990), dass es nicht nur einen Pazifismus gibt, sondern eher mehrere, und dass es ihm möglich war, acht unterschiedliche Typen des Pazifismus zu identifizieren: den heroisch-individualistischen Pazifismus, den christlichen Pazifismus, den ökonomisch-liberalen Pazifismus, den juristischen oder Rechtspazifismus, den Halbpazifismus des marxistischen Kommunismus und Sozialismus, den imperialistischen Weltreichspazifismus, den internationalen Klassenpazifismus der kapitalistischen großen Bourgeoisie, den kulturellen Pazifismus (Kosmopolitismus). Der Pazifismus, den er als Position ablehnt, dient Scheler dazu, den romantischen Militarismus aus der Zeit des Ersten Weltkrieges einzuschränken. 27

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jedem Fall ist dies die Position, die in der ganzen Geschichte des Krieges für den Pazifismus angenommen wurde; eine Position, die ein entscheidendes Element in der Abnahme der Geschwindigkeit von Kriegsaktivitäten war. Aber wie verorten wir nun genau Pazifismus innerhalb von Militarismus und Krieg? Würde er der klare und durchschlagende Ruf nach Frieden eines bewaffneten und alarmierten Mannes (gewiss bereit zu töten, zu verteidigen, anzugreifen) sein? Wie bestehen wir auf Rosenzweigs Idee des Pazifismus als Zubehör und Ausrüstung des Krieges (oder Kriegers), als eine Alternative zu Narvesons oder Schelers Schwierigkeiten, eine spezifische pazifistische Position zu thematisieren? Was würde es bedeuten, den Krieg in sein Halfter (Frieden) zu stecken, dem Krieg etwas Minimales hinzuzufügen (einen Ruf nach Frieden, der ihn gleichzeitig negiert und bejaht), den Krieg technisch auszustatten und ihn einzugrenzen (Zubehör kann ein schützender, aber auch ein hindernder, vorbeugender Rahmen sein), und zur gleichen Zeit eben jene Voraussetzungen und Perspektiven des Friedens zu erhalten und nicht aufzugeben? Um die Fiktion des großartigen Unruhestifters des Friedens in einem gewissen Sinn zu beruhigen und befrieden, würde ich eine Konstruktion vorschlagen, in der die grundlegende Funktion des Pazifismus als Ausrüstung des Krieges (a) vor einem Krieg und einer Gewalttat entdeckt wird – im Raum des präventiven Rechts und präventiver Gewalt (Aggressionen und ungerechtfertigte präemptive Angriffe und präventiver Krieg würden somit potentiell abgeschwächt werden), und (b) ganz am Ende des Krieges, wenn ein aktiver Zwang, aber auch der beständige Ruf nach Frieden, die Sehnsucht nach Frieden im Feind weckt. Ich werde kurz die »Position« des Pazifisten in der Zeitspanne vor einem Kriegsbeginn umreißen, dabei einige wenige vorläufige Bestandteile einführen und außerdem versuchen, Rosenzweigs Vorschlag bezüglich der Nähe von Krieg und Pazifismus zu erläutern. Erstens kann Rosenzweigs Wort »Zubehör« mit »equipment« und »accessory« übersetzt werden. Um anzufangen, würde ich das erste Wort als einen Teil bezeichnen, ohne das etwas nicht funktionieren kann. Das letztere bezeichnet einen Zusatz, der die Funktion von etwas verbessert oder leicht verändert, aber es nicht bestimmt, noch sein integraler Teil ist (Ein iPad braucht keine externe Festplatte oder eine Abdeckung, wie ein Verbrechen nicht unbedingt einen Komplizen haben muss). Meine Annahme ist, dass sich die »Präsenz« 170 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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des Friedens (oder die Forderung nach Frieden) innerhalb der variierenden Kriegsphasen wandelt und verändert. Pazifismus ist deshalb manchmal Ausrüstung und manchmal Zubehör. Allerdings ist diese selbe »Präsenz« (oder das Beharren auf Frieden) am präsentesten vor Kriegsbeginn, das heißt in der Erwartung des Krieges, und dann wieder zum Kriegsende, wenn der Frieden am Horizont ist. Es ist in diesen zwei Zeitspannen, dass der Pazifismus das »notwendige Zubehör des Krieges« ist. Da zweitens die pazifistische Stimme am stärksten zu Beginn und zum Ende des Krieges ist, wird mein Verständnis von Frieden notwendigerweise die Hauptcharakteristika des Pazifismus bestimmen. Das korrespondiert mit meiner etwas trivialen Beschreibung, dass Krieg vor seinem Beginn und vor seinem Ende den größten Frieden ›beinhaltet‹. – Wir sind hier im Bereich der Handlungen, die Krieg auslösen, wie auch Krieg beenden oder Frieden einleiten. Die Konstruktion und das Verständnis von Frieden impliziert das grundlegende Charakteristikum der pazifistischen Position, nämlich den Weg, wie »der Ruf nach Frieden« am Kriegsbeginn und zum Kriegsende funktioniert. Hier möchte ich einen Textausschnitt von Hans Kelsen über Frieden und Recht zitieren: Peace is condition in which there is no use of force. In this sense of word, the law provides only relative peace, in that it deprives the individual of the right to employ force but reserves it to the community. The peace of the law is not a state of absolute absence of force, a state of anarchy, but rather is a state of a monopoly of force, a monopoly of force by the community. (Kelsen 1942, 12)

Kelsens, so könnten wir eher ungenau sagen, kontingente Bestimmung des Friedens, der de facto ständig von der potentiellen oder präventiven und aktuellen Gewalt des Staates oder der Staaten getrübt wird, könnte einen korrespondierenden kontingenten Pazifismus besitzen. 29 Drittens gründet das Charakteristikum dieser pazifistischen Position nicht auf einer unpräzisen Differenzierung von Gewalt und Krieg, 30 sondern eher auf dem Vertrauen in einen gewissen, so genannten professionellen Gebrauch von Gewalt. Das bedeu-

Der Staat lehnt unterschiedliche gelegentliche Einsätze von Gewalt und Zwang ab, die Kelsen als »Anarchismus« bezeichnet. 30 Es ist eine Differenzierung, bei der Krieg nie gerechtfertigt werden kann, wohingegen die Bestrafung von einem Verbrechen oder Selbstverteidigung es in bestimmten Fällen kann. 29

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tet, dass es eine bestimmte Art der Gewalt gibt, die reguliert und gerechtfertigt werden kann, weil sie dazu fähig ist, irgendeine zukünftige Gewalt zu beenden oder zu reduzieren. Diese Gewalt würde nicht nur professionell sein, weil sie präventiv oder post festum Gewalt effizient beenden würde, sondern auch weil sie zur gleichen Zeit ihre eigene Aktivität und Kraft abschaffen und damit jede Art des Nutzens von Gewalt beseitigen würde. Der einzige »Nutzen« von Gewalt, den wir haben könnten, ist, dass es entweder keine Gewalt gibt oder dass sie schnell beendet wird. Das vierte vorläufige Element, das perfekt in jede Position, die als pazifistische charakterisiert werden könnte, hineingebaut wird, bezieht sich auf den epistemologischen Wert von Gewalt und Krieg. Die Funktion des Pazifismus als ein notwendiges Zubehör des Krieges ist nicht nur die Beendigung oder Verzögerung von präventiven Schritten, die den Reaktionen auf Gewalt vorbeugen oder vielleicht eine Gewalt beschleunigen und erzwingen, die irgendeine andere Gewalt schneller beenden könnte. Die Funktion des Pazifismus kann auch und vor allem darin bestehen, Fakten, Ursachen und Auswirkungen von verschiedenen Arten der Gewalt zu vergleichen. Wir wissen nicht, ob es einen Angriff geben wird, noch ob unsere präventive Handlung tatsächlich einen geplanten Angriff verhindern wird, noch ob eine Erwiderung auf Gewalt eine bestimmte zukünftige Gewalt reduzieren wird. Wenn wir nicht wissen, wenn der Status der Berichte über die Zukunft völlig unsicher ist, 31 dann repräsentiert jede Beschleunigung (die grundlegende Charakteristik der Kriegsmaschine) Aggression, Sittenlosigkeit 32 und vor allem Dummheit. Diese (gewollte) Unwissenheit oder Unmöglichkeit des Wissens, ob die »Bösen Dinge« (org. »Bad Things«) wirklich in Kürze gescheDie Äußerungen über die Zukunft sind wirklich nur über die Gegenwart. »[…] we have pointed out from the beginning that our definition of meaning does not imply such absurd consequences, and when someone asked, ›But how can you verify a proposition about a future event?‹, we replied, ßblockakß›ßblockakßWhy for instance, by waiting for it to happen! »Waiting« is a perfectly legitimate method of verification.« Diese Worte von Moritz Schlick von 1934 wurden von D. Haldcroft zitiert (1983, 58). 32 »If we don’t know, then what we are doing is immoral« (Putnam 2012, 318). Hier ist Putnams Darstellung des Arguments seines Kollegen Roderick Firth: »Both of Firth’s principles employ the notion of ›knowledge‹. According to the principles, justification of war requires that we know that the Bad Things will not happen if we resort to war (resort to maiming and killing) and that we know that the Bad Things will not continue (or be replaced by even worse Bad Things) if we do resort to war.« (Putnam 2012, 319) 31

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hen werden, die Unsicherheit der Notwendigkeit eines präemptiven Angriffs (eine »Erwiderung« auf immanente Angriffe) oder eines präventiven Krieges (»guerre de précaution«), um diesen »Bösen Dingen« vorzubeugen, wurden alle geschickt in den Hintergrund geschoben, durch alle Geschichten der Rechtfertigung von Gewalt hindurch. Die stärkste mögliche Konstruktion, von der angenommen wird, dass sie Tatsachen und das Warten als »rechtmäßige Methode der Bestätigung« beseitigt und die präventive Intervention rechtfertigt, ist zur gleichen Zeit paradoxerweise das beste Argument gegen Pazifismus. Wer nämlich denkt, präventive Maßnahmen seien ungerechtfertigt (das heißt aggressiv und daher verboten), ist ein Pazifist. Wie ich bereits erwähnt habe, besteht Narvesons Schlüsselargument gegen Pazifismus, vom ersten bis zum letzten Text, in der Rechtfertigung vom Nutzen präventiver Gewalt als Erwiderung auf ein kleineres Übel, um damit ein größeres Übel zu vermeiden. (Es gibt dann immer Dinge, die noch schlimmer als böse sind). 33 Dadurch, dass die Pazifistin oder der Pazifist ablehnt, auf Gewalt mit Gewalt zu antworten, ist sie oder er indirekt (hier ist Narvesons Formulierung stärker – ›moralisch verdammt‹) für die anhaltende Existenz von Gewalt und immer bösartigeren Kriegen verantwortlich. Wir können die Ursache der Phrase »mehr Gewalt« 34 oder »größere Gewalt« in einer Definition sehen, die brillant Narvesons Intention erhellt: »In prevention, violence is simply considered as a means for reducing greater violence.« (Babic 1995, 267, transl. PB) Woher kommt die Idee der »größeren Gewalt« oder des »größeren Bösen« im Kontext einer Handlung, die ihre Absicht im Beenden einer Bedrohung oder Gefahr in absehbarer Zeit hat? Ohne Zweifel haben wir es mit einer von medizinischen Strategien in die Sprache moderner Politik übertragenen Metapher zu tun, die in verschiedenen Konstruktionen für und gegen präventive Handlungen, von Gentili und Grotius zu Kant gefunden

»I tried to insist that the justification of the use of preventive force if necessary was built into the very concept of a right itself.« (Narveson 1968, 149) »It seems to me logically true, on any moral theory whatever, that the lesser evil must be preferred to the greater. If the use of physical force by me, now, is necessary to avoid the use of more physical force (by others, perhaps) later, then to say that physical force is the supreme (kind of) evil is precisely to say that under these circumstances I am committed to the use of physical force.« (Ebd., 148) 34 Gegen Beginn seines Manuskripts von 2012, Artikel 4, fängt Narveson seinen Satz so an: »If using violence at all it would prevent more violence […].« 33

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werden kann, in denen diese Option nur einmal in einem anderen Kontext genannt wird. Allerdings soll insbesondere dieser Moment zeigen, dass diese Annahme eines größeren Übels und der präventiven Handlung, die dieses indirekt unterbricht oder unendlich verzögert, zu dem pazifistischen Register einer Einführung eines gerechten Krieges gehört. Vor Friedrich dem Großen von Preußen, der diese Strategie explizit nennt, und auch bei Kant (1979), der sie in seinen Vorlesungen über Moralphilosophie und in § 56 und § 60 der Metaphysik der Sitten erwähnt (wenn über die exzessive Aufrüstung eines Staates und jus praeventionis gesprochen wird), ist präventiver Krieg oder ein präventiver Akt: a) eine Handlung, ein Angriff, der eine Verteidigung ist und keine Vergeltung oder Erwiderung auf Gewalt; b) eine symmetrische Handlung – Gentili und Grotius benutzen die Metapher des Gladiatoren, eine Entweder-Oder-Situation (entweder töten oder getötet werden, somit besser verhindern als verhindert zu werden); 35 c) außerdem, Angst vor dem Angriff oder »gerechte Angst« (»just fear is defined as the fear of a greater evil (timor maioris malitatis)«) ist eine genügende Rechtfertigung für einen präventiven Angriff (in diesem Kontext zitiert Gentili Philos (Judaeus): »[…] [an] excellent saying, that we kill a snake as soon as we see one, even though it has not injured us and will perhaps not harm us. For those we protect ourselves before it attacks us.« (Gentili 1933 [1612], 61–62)); 36 d) »Gerechte Angst« wird bei Francis Bacon zu »legaler Angst« (»legal fear«); (2011, 474) Angst transformiert einen präventiven in einen defensiven Krieg; e) präventiver Krieg dient dazu, Zerstörung zuvorzukommen (Montesquieu, Machiavelli); f) ein Zuvorkommen des kommenden Übels (future mali) (Hobbes, Pufendorf); g) um schneller zu sein und als erstes dabei zu sein (Hobbes), etc. Die Neuheit bei Friedrich dem Großen besteht darin, dass er zwischen verschiedenen Kriegsarten differenziert und präventive Kriege (les guerres de précaution) rechtfertigt, »wie sie Fürsten wohlweislich […] unternehmen«: Auch Angriffskriege gibt es, die ihre Rechtfertigung in sich tragen, ebenso wie die eben besprochenen: es sind das die vorbeugenden Kriege, wie sie »… ihm [dem Fürsten] bleibt nichts Besseres, als seine Kräfte zu gebrauchen, bevor ihm die feindlichen Maßnahmen die Hände binden und ihm die Freiheit zu handeln nehmen.« (Friedrich der Große 2006 [1912], 112) 36 Gentili kündigt an, von einem »größeren Übel« an einem anderen Ort sprechen zu wollen, aber macht es nicht (Gentili 1933 [1612], 63). 35

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Fürsten wohlweislich dann unternehmen, wenn die Riesenmacht der größten europäischen Staaten alle Schranken zu durchbrechen und die Welt zu verschlingen droht. Man sieht ein Unwetter sich zusammenziehen, allein vermag man es nicht zu beschwören, da vereinigt Man sich mit allen den Mächten, die gemeinsame Gefahr zu Schicksalsgefährten macht. Hätten sich gegen die Römermacht alle übrigen Völker zusammengetan, niemals hätte jene so viele große Reiche zu stürzen vermocht; eine mit Weisheit entworfene Bundesgenossenschaft und ein Krieg, mit frischem Mut unternommen, hätten all jenen Plänen des Machthungers, deren Durchführung die Welt in Ketten schlug, vor der Zeit ein Ende bereitet. Klugheit empfiehlt immer die Wahl des kleineren Übels und ein Handeln, solange man seines Handelns Herr ist. Besser also, zum Angriffskriege schreiten, solange man noch zwischen Ölzweig und Lorbeer zu wählen hat, als bis zu dem Zeitpunkt warten, wo alles so verzweifelt steht, daß eine Kriegserklärung nur noch einen kurzen Aufschub der völligen Knechtung und des Unterganges um Augenblicke bedeutet. (Friedrich der Große 2006 [1912], 112)

Die Fantasie »des großen Übels« (»the great evel«) unterstellt also, neben der Tatsache, dass man keine Zeit für Entscheidungen und die Handlung hat, die es ad hoc produziert, offensichtlich die dringende Vereinigung aller, um der Konstitution des großen »Bösen Dinges« zuvorzukommen. Der mögliche Widerstand und Schutz vor einem zukünftigen »großen Übel« oder einer »größeren Gewalt« impliziert das Engagement mannigfaltiger Akteure oder das allgemeine Engagement aller für die Beseitigung des momentan dringlichen Problems. Natürlich ist es ungenügend, Naversons Besessenheit (und die von anderen) in Bezug auf die »unilateralen« Gewalthandlungen (und ihre Vergeltung) systematisch zu korrigieren und den singulären »Pazifist« in den Plural, die »Pazifisten« zu verwandeln. Auch ist es nicht genug, andauernd aufzuzeigen, dass sich der Gewalt nicht zu widersetzen, auch eine Art kollektiven Engagements impliziert, das in einigen Fällen sehr erfolgreich darin sein kann, Gewalt zu isolieren und zu verhindern, dass sie ›groß‹ wird. Außerdem meine ich, es sei unnötig zu erklären, dass wenn ich Adam Lanza in den Rücken schieße, nachdem er seine ersten wenigen Opfer in einer Schule von Newton, Conneticut, erschossen hat und verweigert hat, seine Waffe niederzulegen, dies überhaupt nicht bedeutet, dass ich kein Pazifist bin, da ich ein »Vorsorgender« (»preventor«) geworden bin, der zukünftiges Übel und noch mehr mögliche Opfer verhindert. Prävention ist an diesem Ort nicht zu finden, so wie eine mögliche präventive Handlung des Staates Connecticut gegen Individuen, die 175 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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bewaffnet sind und sich wie wahnsinnig selbst bewaffnen, 37 keinen anderen Frieden als den von Kelsen beschriebenen bringen wird. Ich würde dennoch nahelegen, dass mein anfänglicher Ruf nach Frieden und das Niederlegen der Waffen bei Adam Lansa ein grundlegendes Beispiel für Rosenzweigs Vorschlag ist, dass Pazifismus ein »notwendiges Zubehör des Krieges« ist. 38 Das Timing dieses Rufs, die Zeitbegrenzung, die Dauer des Intervalls, das Warten und Zögern der Akteure sowie letztlich die Bereitschaft für die Durchführung von Gewalt in einer professionellen Art und Weise wird natürlich darüber entscheiden, ob Pazifismus Ausrüstung oder Zubehör des Krieges (oder der Gewalt) ist, aber auch darüber, ob Gewalt fortgeführt werden soll. Übersetzt aus dem Englischen von Christina Schües

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Waffenkäufe haben seit dem erschreckenden Verbrechen an der Schule dramatisch zugenommen. 38 Das Paradigma und der Schlüssel zu der Idee Rosenzweigs kann mit Sicherheit im Deuteronomium 20:10–11 gefunden werden. Hier gibt es ein Fragment von Luzzattos Kommentar, zitiert von Michael Walzer: »But it seems to me that in the beginning of this section (20:1), in saying »When thou goest forth to battle against thine enemy,« Scripture is determining that we may make war only against our enemies. The term »enemy« refers only to one who wrongs us; hence Scripture is speaking only of one invader who enters our domain in order to take our land and despoil us. Then we are to wage war against him – offering peace first.« (Walzer 1996, 101) Rivon Kygier (2004, 67–70) schreibt über die Uneinigkeit bezüglich der Interpretation dieses Absatzes und über die Kritik von Nachmanides über Rachis Interpretation. 37

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Simon Koschut

Vom ewigen Frieden und begrenzter Zeit. Zur Problematik der temporalen Dimension in einer Sicherheitsgemeinschaft

1.

Einleitung

In welcher Beziehung stehen »Frieden« und »Zeit« in theoretischen Überlegungen zueinander? Wie viel Zeit muss vergehen, damit man von einem stabilen Frieden sprechen kann? Der vorliegende Beitrag stellt die temporale Dimension als Indikator für friedlichen Wandel im Sinne einer pluralistischen Sicherheitsgemeinschaft (Deutsch et al. 1957) ins Zentrum einer theoretischen Analyse. Eine Sicherheitsgemeinschaft wird definiert als: »a group which has become integrated, where integration is defined as the attainment of a sense of community, accompanied by formal or informal institutions or practices, sufficiently strong and widespread to assure peaceful change among members of a group with ›reasonable‹ certainty over a ›long‹ period of time.« (Hervorhebung im Original, Deutsch 1954, 33) Friedlicher Wandel wird definiert als »the resolution of social problems (…) without resort to large-scale physical force«. Friedlicher Wandel im Sinne Karl W. Deutschs beschreibt demnach eine hochentwickelte Form stabilen Friedens zwischen staatlich organisierten Gesellschaften (Buzan/Wæver 2003, 54). Bei der theoretischen und empirischen Analyse pluralistischer Sicherheitsgemeinschaften wird der Faktor Zeit häufig implizit mitgedacht bzw. stillschweigend vorausgesetzt. In der Literatur wird sich jedoch nur am Rande mit der Frage beschäftigt, was genau dies für die Existenz und Entwicklung pluralistischer Sicherheitsgemeinschaften bedeutet. Mitunter wird die Entstehung einer Sicherheitsgemeinschaft als ein linearer Frieden verstanden, der – wenn überhaupt – allenfalls durch externe Extremereignisse im zeitlichen Raum revidiert werden kann: »With respect to its endogenous dynamic, the argument suggests that the history of international politics will be unidirectional: if there are any structural changes, they will be historically progressive. Thus, even if there is no guarantee that the 179 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Simon Koschut

future of the international system will be better than its past, at least there is reason to think it will not be worse.« (Wendt 1999, 312) Damit käme das Konzept der Sicherheitsgemeinschaft dem Kant’schen Ideal vom »ewigen Frieden« schon sehr nah. Gleichzeitig besteht jedoch weitgehend Konsens in der Literatur, dass ein mögliches Scheitern oder Auseinanderbrechen von Sicherheitsgemeinschaften dabei immer mitgedacht werden muss (Adler/Barnett 1998b; Risse 1996). So gesehen bleibt der Frieden in einer Sicherheitsgemeinschaft letztlich doch ein Frieden auf (begrenzte) Zeit. Diese Gegenüberstellung verdeutlicht bereits exemplarisch, dass die temporale Dimension einer Sicherheitsgemeinschaft noch weitgehend unterbelichtet und zum Teil sogar widersprüchlich ist. Der Faktor Zeit ist zwar ein wichtiger Hinweis auf das Vorhandensein und das Fortbestehen einer Sicherheitsgemeinschaft, dieser wird jedoch kaum hinreichend spezifiziert. Dementsprechend bleiben theoretische Ansätze, die eine temporale Dimension in den Entwicklungsprozess pluralistischer Sicherheitsgemeinschaften zu integrieren versuchen, unterentwickelt. Eines der Hauptprobleme dabei ist, dass Frieden in der Zeitdimension nicht zugleich Zustand und Prozess beschreiben kann (Müller 2003, 217). Der vorliegende Beitrag erhebt an dieser Stelle keineswegs den Anspruch, dieses Problem abschließend zu lösen. Vielmehr soll gezeigt werden, dass eine reine Zustandsbeschreibung friedlicher Entwicklung in einer Sicherheitsgemeinschaft erhebliche Fragen aufwirft. Auf dieser Grundlage wird argumentiert, dass ein prozessorientiertes Zeitverständnis von Frieden in einer Sicherheitsgemeinschaft möglicherweise besser für deren Analyse geeignet ist. Der Beitrag ist in vier Teile gegliedert. In einem ersten Teil wird das Konzept der Sicherheitsgemeinschaft in der gebotenen knappen Form vorgestellt. In einem zweiten Teil wird anhand der Literatur die Problematik der Zeitdimension als Zustandsbeschreibung in einer Sicherheitsgemeinschaft herausgearbeitet. In einem dritten Teil stellt der Beitrag eigene Ansatzpunkte zur Bestimmung einer prozessorientierten Zeitdimension vor. Abschließend folgt ein kurzes Fazit.

2.

Das Konzept der Sicherheitsgemeinschaft

Ursprünglich eingebracht durch Richard Van Wagenen in den frühen 1950er Jahren, erfuhr der Begriff der Sicherheitsgemeinschaft seine 180 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Vom ewigen Frieden und begrenzter Zeit

theoretische und empirische Ausarbeitung in der 1957 veröffentlichten Studie Political Community and the North Atlantic Area, die von einer Forschungsgruppe unter der Leitung von Karl W. Deutsch am Center for Research on World Political Institutions der Princeton Universität erarbeitet worden war (Deutsch et al. 1957, 6). In der Literatur ist dieser Forschungsstrang in jüngster Zeit von zahlreichen Autor_innen wieder aufgenommen worden, wobei hier nur auf einige wenige eingegangenen werden kann. In einem wegweisenden Sammelband verknüpfen etwa Emanuel Adler und Michael Barnett (1998a) das Konzept der Sicherheitsgemeinschaft mit konstruktivistischen Theorieansätzen und untersuchen Gemeinschaftsbildung in unterschiedlichen regionalen und historischen Kontexten. Emanuel Adler und Vincent Pouliot (2011) haben diesen Ansatz weiterentwickelt und sie verknüpfen das Konzept der Sicherheitsgemeinschaft nun mit einem praxeologischen Theorieansatz, der diese als »communities of practice« deklariert. Ted Hopf (2010) stellt geteilte Gewohnheiten und Gebräuche (habits) ins Zentrum seiner Analyse von Sicherheitsgemeinschaften. Janice Bially Mattern (2005) betont deren diskursive Machtstrukturen. Simon Koschut (2014) wiederum zeigt, dass Sicherheitsgemeinschaften auch durch sozioemotionale Bindungen und Emotionsnormen konstituiert werden. Das Konzept der Sicherheitsgemeinschaft findet auch über den akademischen Diskurs hinaus Anwendung im Bereich der praktischen Politik. So definiert sich die Nordatlantikpaktorganisation (NATO) als »transatlantische Sicherheitsgemeinschaft« (Rasmussen 2010). Im Oktober 2003 haben die Mitgliedstaaten der Association of Southeast Asian Nations (ASEAN) ihre Absicht angekündigt, eine »ASEAN Security Community« zu gründen: »ASEAN shall have, by the year 2020, established a peaceful and stable Southeast Asia where each nation is at peace with itself and where the causes for conflict have been eliminated, through abiding respect for justice and the rule of law and through the strengthening of national and regional resilience.« (ASEAN 2004, 6) Schließlich hat auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) den »Aufbau einer Sicherheitsgemeinschaft« als ihr Ziel formuliert (Zannier 2012, Übersetzung SK). Eine Sicherheitsgemeinschaft wird definiert als die Integration von Gesellschaften, zwischen denen eine echte und glaubhafte Zusicherung besteht, dass die Mitglieder dieser Gemeinschaft sich nicht gegenseitig bekriegen oder physische Gewalt 181 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Simon Koschut

ausüben sondern ihre Konflikte auf friedlichem Wege austragen (Deutsch et al. 1957, 5). Aus einem konstruktivistischen Theorieverständnis heraus sind Sicherheitsgemeinschaften transnationale kognitive Friedenszonen, die durch gemeinsames Handeln und den gemeinsamen Diskurs gegenseitiges Vertrauen und Verlässlichkeit sowie schließlich geteilte Normen und eine kollektive Identität 1 entwickeln (Adler/Barnett 1998b). Kollektive Identität verbindet über den Weg der gegenseitigen Identifikation nationale Identitäten und dehnt die Grenzen der eigenen Identität auf andere aus. Dabei entsteht ein sogenanntes »Wir-Gefühl« (we-feeling). Das Andere wird als Selbst wahrgenommen. In der Folge richtet sich einzelstaatliches Handeln primär am gemeinschaftlichen Wohlergehen aus, wobei dieser Zustand meist auf bestimmte Sachthemen, Bedrohungen oder Politikbereiche beschränkt bleibt und die Verfolgung egoistischer Handlungsmotive keineswegs ausschließt (Wendt 1999, 229; ferner auch: Adler 2008). Sicherheitsgemeinschaften sprengen damit den Rahmen ihrer ursprünglichen vertragsrechtlichen Grundlagen, die häufig auf das Prinzip kollektiver Verteidigung beschränkt sind. Die Gemeinschaft ist aufgrund eines kollektiven Lernprozesses sozial konstruiert, d. h. Sicherheit basiert nicht allein auf materiellen Machtinstrumenten und Fähigkeiten, sondern wird ebenso durch interaktive Kommunikations- und Handlungsprozesse in einem bestimmten kulturellen und zeitlichen Kontext erreicht (Bühl 1978; Tönnies 1887). Deutsch stellt dem traditionell hohen Einfluss materieller Machtfaktoren in den Internationalen Beziehungen (IB) wie Bevölkerungszahl, Rohstoffe oder Militärpotential (power) die Bedeutung immaterieller Macht wie kollektives Wissen, Ideen, Kommunikation sowie Normen und Werte (responsiveness) gegenüber. Bei der Entstehung von Sicherheitsgemeinschaften bedingen zwar beide Machtformen einander, aber responsiveness ist letztlich entscheidend (Deutsch et al. 1957, 40). Die konkrete Ausdifferenzierung einer Sicherheitsgemeinschaft basiert auf dem Grad der Integration zwischen den einzelnen Mitgliedern. Auf der einen Seite steht die formale Vereinigung mehrerer Identität bezeichnet »das Zusammengehörigkeitsgefühl einer imaginären Gemeinschaft in einem konkreten territorialen Raum (…), das beschreibt, was diese Gemeinschaft auszeichnet und was sie von anderen Gruppen unterscheidet und abgrenzt«. (Risse 2007, 52)

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zuvor unabhängiger politischer Systeme zu einer einzigen, amalgamierten Einheit mit einer Form des gemeinsamen Regierens. Auf der anderen Seite steht die formale Vereinigung mehrerer politischer Systeme zu einer pluralistischen Gemeinschaft, bei der die Mitglieder ihre völkerrechtliche Unabhängigkeit und Souveränität beibehalten (Deutsch et al. 1957, 5 f.). Deutsch beschreibt damit nichts Geringeres als die Möglichkeit eines friedlichen Wandels (peaceful change) im regionalen Kontext. Obgleich das Konzept der pluralistischen Sicherheitsgemeinschaft nichtdemokratische Staaten keineswegs ausschließt, so ist die Bildung einer solchen Gemeinschaft basierend auf gegenseitigem Vertrauen unter demokratischen Staaten dennoch weitaus wahrscheinlicher (Doyle 1986; Risse-Kappen 1996). Aus Sicht der Theorien der Internationalen Beziehungen deckt sich der liberale Ansatz (insb. die Theorie des Demokratischen Friedens) in diesem Punkt mit der konstruktivistischen Annahme, dass sicherheitspolitische Kooperation zwischen ähnlichen politischen Systemen die Bildung von Sicherheitsgemeinschaften mit ähnlichen Erfahrungshintergründen und kulturellen Werten erleichtert (Müller 2002, 385; Russett 1993, 42). Allerdings ist die Möglichkeit der Entstehung von Sicherheitsgemeinschaften in primär nicht-demokratischen Regionen wie dem Nahen Osten bisher kaum eingehend erforscht worden. 2 Eine Sicherheitsgemeinschaft unter autokratisch regierten Staaten erscheint daher zumindest prinzipiell möglich (Koschut 2012). Sicherheitsgemeinschaften entwickeln sich schließlich meist um ein Kraftzentrum (cores of strength) von Staaten herum, um deren überlegene materielle und immaterielle Ressourcen sich weitere Staaten und Regionen wie Schalen anlegen (Adler 2001, 147). In der Entstehungsphase der transatlantischen Sicherheitsgemeinschaft befand sich dieses Kraftzentrum etwa zwischen Großbritannien und den USA, wie Walter Lippmann bereits 1943 prophezeit hatte: »Es gibt eine große Gemeinschaft auf dieser Welt, deren Mitglieder weder ausgestoßen werden können, noch aus eigener Bewegung austreten können. Das geographische Zentrum dieser Gemeinschaft ist der Atlantik. Die Sicherheit dieser Gemeinschaft liegt in dem Verhältnis der beiden größten Mächte, nämlich Großbritannien und der USA, zuSo kommen Michael Barnett und F. Gregory Gause III (1998) zu dem Schluss, dass es sich beim Gulf Cooperation Council (GCC) nicht um eine Sicherheitsgemeinschaft handelt.

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einander begründet (…). Ihr Bündnis ist das Kraftzentrum, von dem aus das Sicherheitsbündnis für die gesamte Region organisiert werden muss, an dem, wenn sich dieses Bündnis als stark genug erweist, die anderen Mitglieder der Gemeinschaft in ihrem eigenen Interesse und aus freien Stücken festhalten werden« (Lippmann 1943, 98, Übersetzung SK). Das Konzept der Sicherheitsgemeinschaft beinhaltet jedoch auch zentrale Widersprüche. Erstens ist einerseits Krieg als Mittel der Politik zwischen diesen Staaten zwar praktisch undenkbar geworden (Czempiel 2002, 106). Andererseits hat sich jedoch seit dem Ende des Ost-West-Konflikts die Zahl der Kriege etwa zwischen den Mitgliedern der transatlantischen Sicherheitsgemeinschaft und Nichtmitgliedern erhöht. Zweitens sind einerseits Sicherheitsgemeinschaften zwar transnationale kognitive Friedenszonen, die das Sicherheitsdilemma unter den beteiligten Staaten durch gegenseitiges Vertrauen außer Kraft setzen. Andererseits bilden diese aber auch Konfliktzonen, innerhalb derer die Anzahl der (gewaltlosen) Konflikte im Zuge verstärkter Integration sogar zunehmen kann. Die Sicherheitsgemeinschaft ist also keineswegs mit einer Harmoniegemeinschaft zu verwechseln, in der es nicht auch zu internen Interessenskonflikten, emotionaler Stigmatisierung (Koschut 2014) und diskursiver Machtausübung kommen kann (Bially Mattern 2005). Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass diese Konflikte ohne Androhung physischer Gewalt ausgetragen werden.

3.

Der Faktor Zeit in einer Sicherheitsgemeinschaft

In der Literatur wird die Existenz einer Sicherheitsgemeinschaft in der Regel anhand einer Momentaufnahme festgemacht: Entweder sie existiert oder sie existiert nicht. Der Faktor Zeit beschreibt demnach nur einen Zustand aber nicht einen Prozess. Kaum Beachtung wird jedoch der Notwendigkeit einer temporalen Dimension geschenkt, die den Blick auf die Prozesse innerhalb einer Sicherheitsgemeinschaft richtet. Dieser Aspekt soll im Folgenden Abschnitt näher erläutert werden. In diesem Abschnitt soll zunächst anhand der Literatur die Problematik der Zeitdimension als Zustandsbeschreibung in einer Sicherheitsgemeinschaft herausgearbeitet werden. Insgesamt scheint der Faktor Zeit maßgeblichen Einfluss auf die Stabilität von Frieden zu nehmen. Deutschs (1954, 33) Definition 184 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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einer Sicherheitsgemeinschaft als »peaceful change among members of a group with ›reasonable‹ certainty over a ›long‹ period of time« legt diesen Schluss zumindest nahe. Zudem argumentieren Deutsch et al. (1957, 6), dass »once integration has been reached, the length of time over which it persists may contribute to its consolidation«. Basierend auf diesen Aussagen argumentieren einige Autor_innen, dass der Prozess der Bildung einer pluralistischen Sicherheitsgemeinschaft letztlich einen Zeitraum von Jahrzehnten (oder gar noch länger) beinhalten muss (Tilly 1998, 410; Kupchan 2010, 9). Tatsächlich erscheint es sowohl empirisch als auch methodisch durchaus problematisch, eine Sicherheitsgemeinschaft nachzuweisen, die innerhalb einer wesentlich kürzeren Zeitspanne (z. B. wenige Jahre) kommt und geht, da eine solche Gemeinschaft nur schwer von einem Ad-hoc-Bündnis oder einer Allianz (und damit von einem negativen Frieden) zu unterscheiden wäre (Koschut 2012, 45). Gleichzeitig erscheint es aber genauso fragwürdig, eine letztlich willkürliche zeitliche Schwelle zu wählen, um eine Gruppe von staatlich organisierten Gesellschaften als Sicherheitsgemeinschaft zu kategorisieren. Deutsch et al. (1957, 6) weisen selbst auf dieses Problem hin: »Integration is a matter of fact, not time. If people on both sides do not fear war and do not prepare for it, it matters little how long it took them to reach this stage.« Der Blick auf den Forschungsstand liefert demnach widersprüchliche Ergebnisse und auch Karl W. Deutsch selbst bleibt in seinen Aussagen letztlich nebulös. Am Ende resignieren auch Emanuel Adler und Michael Barnett vor der Frage einer temporalen Dimension in einer Sicherheitsgemeinschaft und weichen dem eigentlichen Problem damit aus: »We can do no better than Deutsch other than to note that evidence of a security community should be sought not only in behavior that suggests the renunciation of military violence but also in the existence of deeply entrenched habits of the peaceful resolution of conflict.« (1998b, 35) Demnach lässt sich das Zustandekommen einer Sicherheitsgemeinschaft irgendwo in der Grauzone zwischen negativem und positivem Frieden verorten. Als Maßstab eines wissenschaftlich überprüfbaren Kriteriums kann dieser Erklärungsansatz offensichtlich nicht dienen, da hier die Zeitdimension in der Analyse letztlich nur ausgeblendet wird. Diese ist jedoch zwingend notwendig, will man nicht nur das Vorhandensein einer Sicherheitsgemeinschaft zeigen sondern darüber hinaus auch Erklärungen für deren Stabilität und 185 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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Überlebensfähigkeit finden. Die Stabilität bzw. Beständigkeit einer Sicherheitsgemeinschaft zeigt sich erst in der erfolgreichen Bewältigung innerer und äußerer Krisen und dieser Prozess braucht nun einmal (zwangsläufig) ›Zeit‹ (Elgström/Jerneck 2000, 285). Das Beispiel der transatlantischen Sicherheitsgemeinschaft weist etwa eine Reihe von zeitlich eingrenzbaren und chronologisch aufeinanderfolgenden Krisen auf, angefangen bei der Suezkrise 1956 bis hin zum Irakkrieg 2003, deren Auftreten nicht zum Zusammenbruch der Sicherheitsgemeinschaft geführt haben und somit das Vorhandensein einer Sicherheitsgemeinschaft durchaus plausibel machen. Doch auch dieser Ansatz beinhaltet Schwächen. Zum einen kann sich eine Krise zur Dauerkrise entwickeln und wird damit von den Beteiligten zunehmend als Normalzustand wahrgenommen. Sofern eine Krise also keinen erkennbaren Start- und Endpunkt und damit auch keine zeitliche Eingrenzung aufweist, ist sie als temporales Kriterium einer Sicherheitsgemeinschaft nicht zu gebrauchen. Zum anderen existieren auch Beispiele von Sicherheitsgemeinschaften wie die US-kanadischen Beziehungen oder die skandinavischen Länder, die zwar in der Literatur übereinstimmend als Sicherheitsgemeinschaften bezeichnet werden (Adler/Barnett 1998c; Deutsch et al. 1957), aber kaum ernsthafte Krisen seit ihrer Entstehung durchlebt haben. Nach Emanuel Adler und Michael Barnett wird eine Sicherheitsgemeinschaft zum Selbstläufer und das temporale Element als Indikator für Konsolidierung und Stabilität damit obsolet: Ist die dritte Ebene (third tier) gegenseitigen Vertrauens und Identifikation erst einmal erreicht und von den beteiligten Akteuren internalisiert, stärken sich die damit verbundenen Lernprozesse von selbst. Adler und Barnett gehen jedoch gleichzeitig davon aus, dass eine Sicherheitsgemeinschaft degenerieren und auseinanderbrechen kann, und zwar weitgehend aufgrund derselben Faktoren wie bei deren Entstehung: »Therefore many of the same social processes that encourage and serve to reproduce the security community are also associated with its decline.« (1998b, 58) Diese Aussagen passen in gewisser Hinsicht nicht mit den obigen zusammen, denn die Ausklammerung des Faktors Zeit führt dazu, dass sowohl die Entstehung als auch die Desintegration einer Sicherheitsgemeinschaft letztlich auf denselben Faktoren beruhen sollen. Dieselben Faktoren lösen demnach unterschiedliche Phänomene aus, was deren hinreichende Bestimmtheit fragwürdig erscheinen lässt. Ohne die Einbeziehung einer verifizier186 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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baren temporalen Dimension sind diese Annahmen kaum nachvollziehbar. Ein weiterer Aspekt ist die Frage der konkreten »Geburtsstunde« einer Sicherheitsgemeinschaft. Deutsch und seine Co-Autoren (1957) verweisen hier auf einen sogenannten »take-off point«, ein konkretes Ereignis auf einer Zeitachse also, an dem das Zusammenspiel mehrerer Faktoren (die hier nicht weiter ausgeführt werden sollen) das »Abheben« der Beziehungen zwischen mehreren Akteuren vom negativen bzw. fragilen zum positiven bzw. stabilen Frieden bewirkt. Wie aber bereits Harald Müller an anderer Stelle überzeugend dargestellt hat, ist die Hervorhebung eines konkreten Ereignisses, an dem sich quasi die Schalter in den Köpfen der beteiligten Akteure von ›Krieg‹ auf ›Frieden‹ umschalten, mehr als fragwürdig, denn damit würde sich der von Karl W. Deutsch beschriebene friedliche Wandel von kriegerischen Beziehungen zwischen einzelnen Staaten hin zu einem Zustand, in dem Krieg nicht einmal mehr als politisches Mittel erwogen wird, mitunter auf den Bruchteil einer Sekunde beschränken (Müller 2003, 217). Sämtliche genannten Aspekte – die Entstehung wie auch die Konsolidierung und die Desintegration einer Sicherheitsgemeinschaft – können demnach mit einer reinen Zustandsbeschreibung von stabilem Frieden nicht erklärt werden. Die Einführung einer temporalen Dimension als Zustandsbeschreibung allein hilft an dieser Stelle also nicht weiter, denn sie sagt wenig über die qualitative Beschaffenheit friedlicher Integration aus. Vielmehr können sich Vertrauensbildung und Prozesse der Integration und Desintegration schnell oder langsam entwickeln und von langer oder kurzer Dauer sein (Bengtsson 2000, 104). Als entscheidend erscheint daher eher der zeitliche Grad von Integration sowie deren Mechanismen als Friedensprozess und weniger die lineare zeitliche Dimension im Sinne von Friedenszustand. Nichtsdestotrotz verwendet der Großteil der Sozialwissenschaften den Faktor ›Zeit‹ nach wie vor in erster Linie als historische Dimension (Barbalet 2001, 92). Überspitzt könnte man sagen, dass friedlicher Wandel in einer Sicherheitsgemeinschaft in diesem Sinne letztendlich ›zeitlos‹ ist, da dieser einen sozialen Prozess darstellt, der wie Karl W. Deutsch oben feststellt, zumindest in quantitativer Hinsicht fast unabhängig vom Faktor Zeit entsteht und existiert. Gleichwohl sind aber natürlich auch soziale Prozesse zeitlich begrenzt, was die Frage aufwirft, wie diese für das Verständnis und die Analyse von 187 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Simon Koschut

der Entwicklung pluralistischer Sicherheitsgemeinschaften erfassbar gemacht werden können.

4.

Hin zu einem prozessorientierten Ansatz für die Einbeziehung des Faktors Zeit in einer Sicherheitsgemeinschaft

Wie aber kann der Faktor Zeit – verstanden als Prozess und nicht als Zustand – den Grad friedlichen Wandels in einer pluralistischen Sicherheitsgemeinschaft analytisch besser erfassbar machen? Einen möglichen Ausweg bietet hier der Blick auf Lernprozesse innerhalb einer Sicherheitsgemeinschaft. Dies setzt allerdings – wie zu Beginn gesagt – ein prozessuales Verständnis von ›Zeit‹ voraus, in dem die temporale Dimension einer Sicherheitsgemeinschaft nicht anhand einer historisch-chronologischen Zeitachse bestimmt wird, sondern sich der Blick auf die Distribution und Verwendung von Zeit innerhalb einer Sicherheitsgemeinschaft und damit auf die einzelnen Akteure und ihre konkreten Handlungsprozesse, Normen und Identitäten richtet. Dieser Ansatz orientiert sich in Teilen an Deutschs ursprünglichen Ansatz eines Transaktionalismus, den er als wichtige Voraussetzung für die Entstehung und Aufrechterhaltung einer Sicherheitsgemeinschaft sieht. Darüber hinaus knüpft der hier vorgeschlagene Ansatz an den soziologischen Ansatz von »Prozesszeit« an, welcher Zeit als charakteristisch für kontinuierlichen sozialen Wandel ansieht (Elias 1984). Norbert Elias (1988, 114) definiert Zeit dabei nicht als naturzentrierte Abfolge chronologischer Ereignisse, sondern als »ein Symbol für eine Beziehung, die eine Menschengruppe (…) zwischen zwei oder mehreren Geschehensabläufen herstellt, von denen sie einen als Bezugsrahmen oder Maßstab für den oder die anderen standardisiert«. Doch richten wir den Blick zunächst noch einmal zurück auf die Lernprozesse, die innerhalb einer Sicherheitsgemeinschaft stattfinden. Das Argument lautet hier, dass bei der Bestimmung friedlichen Wandels in einer Sicherheitsgemeinschaft ein prozessorientierter Ansatz von Zeit eine zustandsorientierte Analyse zumindest in Teilen überflüssig machen kann. Soziales Lernen ist die Grundvoraussetzung für die Entstehung und Konsolidierung einer Sicherheitsgemeinschaft (Deutsch et al. 1957; Adler/Barnett 1998b), indem sich durch die Vertiefung und 188 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Vom ewigen Frieden und begrenzter Zeit

Verstärkung von Transaktionen, Kommunikation, Institutionalisierung und sozialem Lernen gegenseitiges Vertrauen und eine kollektive Identität immer wieder aufs Neue bilden und somit der Sicherheitsgemeinschaft Stabilität verleihen. Für Karl W. Deutsch stellt die Kommunikation als Zementierung sozialer Gruppen im Allgemeinen sowie politischer Gemeinschaften im Besonderen daher das Herzstück jeglicher kollektiven Identität dar: »Kommunikation allein ermöglicht es einer Gruppe gemeinsam zu sehen, gemeinsam zu denken und gemeinsam zu handeln.« (Deutsch 1966, 77) Entscheidend ist dabei nicht die bloße Information aller Mitglieder über bevorstehende Handlungen durch eines der Mitglieder sondern vielmehr der Austausch von Wertvorstellungen, Interessen, Bedrohungsanalysen und Handlungsempfehlungen, welcher die Notwendigkeit für eigenmächtiges Handeln schließlich entkräften soll. Das Handlungsziel ist nicht die Durchsetzung bestimmter Präferenzen oder die unkritische Implementierung von kollektiven Normen, sondern vielmehr das Erreichen eines vernünftigen Konsens. Die Akteure können so die dem Sicherheitsdilemma inhärente Selbsthilfe in einem anarchischen System überwinden und durch kollektive Hilfe in einem kooperativen Sicherheitssystem Wege für ein friedlicheres Miteinander finden (Risse 2000, 7). Diese Kommunikationsgemeinschaft basiert auf der Prämisse, dass die Akteure die Bereitschaft einbringen, sich überzeugen zu lassen, anstatt auf ihren Interessen zu beharren und diese durch Überreden durchzusetzen. Dies funktioniert nur, solange ein Grundkonsens an geteilten Werten und Normen für die Kanalisierung des Verständigungsdiskurses vorliegt. Ein möglichst hohes Ausmaß an Transaktion, Institutionalisierung und Kommunikation bietet demnach ein ebenso hohes Ausmaß an verlässlichen Erwartungen an den friedlichen Wandel innerhalb einer Sicherheitsgemeinschaft und damit an Stabilität. Umgekehrt würde eine Vernachlässigung derselben sozialen Prozesse unweigerlich zum »Verlernen« oder »Vergessen« des bereits etablierten Friedenszustands führen und somit die Instabilität einer Sicherheitsgemeinschaft befördern. Maßgeblich wird damit aus temporaler Sicht weniger die Frage, wie viel Zeit eine Sicherheitsgemeinschaft insgesamt überdauert, sondern vielmehr die Frage, wie viel Zeit ihre Mitglieder in die Aufrechterhaltung der dafür notwendigen Prozesse investieren. In Anlehnung an das berühmte Sprichwort ›Zeit ist Geld‹ könnte man hier sagen ›Zeit ist Frieden‹ : Je mehr Zeit die Mitglieder einer Sicherheitsgemeinschaft in die Aufrechterhaltung ihrer Ge189 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Simon Koschut

meinschaft investieren, und damit letztlich auch ihre Wertschätzung für die anderen Mitglieder ausdrücken, desto stabiler ist die Gemeinschaft. Diese theoretische Annahme ließe sich auch empirisch quantifizieren, beispielsweise anhand der Anzahl relevanter intergouvernementaler und transnationaler Interaktionen, wirtschaftlicher und kultureller Transaktionen oder der zeitlichen Dichte von Normenverstößen und Regelbrüchen. Dieser abgewandelte Transaktionalismus führt, wie gesagt, zurück zum ursprünglichen Konzept von Karl W. Deutsch und muss sich daher leider auch ähnlicher Kritik stellen. Der Mitbegründer der sogenannten Englischen Schule der Internationalen Beziehungen, Hedley Bull, kritisiert etwa Deutsch für dessen »fetish for measurement (and) indiscriminate collection of data about international politics« (Bull 1972, 42). In der Tat kann ein (wenn auch abgewandelter) transaktionalistischer Ansatz nicht das alleinige temporale Bewertungskriterium für das Vorhandensein und die Konsolidierung einer Sicherheitsgemeinschaft sein. Hierfür sind noch weitere Faktoren wie das geteilte Wissen, Diskurs und Identität entscheidend. Nichtsdestotrotz würde dieser Ansatz die Einbeziehung einer zeitlichen Dimension in das Konzept der Sicherheitsgemeinschaft ermöglichen, der nicht Zustand und Prozess miteinander vereinbaren, also letztlich die Quadratur des Kreises unternehmen müsste, und dennoch verlässliche und überprüfbare temporale Aussagen zur Stabilität und Entwicklung einer Sicherheitsgemeinschaft liefern könnte.

Fazit Der vorliegende Beitrag hat die temporale Dimension als Indikator für friedlichen Wandel im Sinne einer pluralistischen Sicherheitsgemeinschaft ins Zentrum der Analyse gestellt. Dabei spricht sich der Beitrag für die Einbeziehung einer Zeitdimension als Prozessbeschreibung sozialer Beziehungen bei der Analyse von Sicherheitsgemeinschaften aus. Mit einem solch prozessorientierten Ansatz, der hier natürlich nur in Ansätzen skizziert werden konnte, kann das eigentliche Problem der doppelten Zeitbestimmung von Frieden als Zustand und Prozess zwar nicht gänzlich aufgelöst aber doch spürbar entschärft werden. Allerdings beinhaltet auch der prozessuale Zeitansatz von Frieden in einer Sicherheitsgemeinschaft analytische Fallstricke. Da die 190 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Vom ewigen Frieden und begrenzter Zeit

meisten Autor_innen weiterhin von einem eher progressiv-linearen temporalen Verständnis von der Entstehung friedlichen Wandels innerhalb einer Sicherheitsgemeinschaft ausgehen, welches implizit auf einen Endzustand friedlichen Zusammenlebens ausgerichtet ist, bleibt auch ein prozessorientierter Ansatz zunächst auf das Entstehen friedlichen Wandels beschränkt. Was davon naturgemäß nicht erfasst werden kann, sind mögliche Rückschläge bis hin zu einer zeitweise dysfunktionalen oder endgültig degenerierten Sicherheitsgemeinschaft, die auf ein zyklisches Friedensverständnis verweisen würden. Ein zyklisches Verständnis müsste also auch solche Perioden und Momente erfassen, in denen Krieg und Gewalt von den Mitgliedern einer Sicherheitsgemeinschaft zumindest zeitweilig erwogen wird, ohne dass dies gleich das irreparable Ende der Gemeinschaft bedeuten würde. Ungeachtet dieser Fallstricke könnte ein prozessorientierter Ansatz demnach Antworten auf eine Reihe von Fragen geben, die eine reine Zustandsbeschreibung von Frieden in einer Sicherheitsgemeinschaft zu einem überwiegenden Teil nicht beantworten kann, da sich hierdurch etwa Fragen der Stabilität und Entwicklung von Sicherheitsgemeinschaft mithilfe von internen Prozessabläufen beantworten lassen könnten. Insbesondere könnte sich ein prozessorientiertes Zeitverständnis bei Untersuchungen über das Zustandekommen, die Konsolidierung, aber auch über die Desintegration pluralistischer Sicherheitsgemeinschaften als hilfreich erweisen. Über diesen spezifischen Kontext einer Sicherheitsgemeinschaft (dessen Auftreten in der internationalen Politik leider immer noch eher die Ausnahme darstellt) hinaus lassen sich möglicherweise auch generelle Aussagen über die Herausbildung von stabilem Frieden in den Internationalen Beziehungen ableiten. So könnte etwa der Zeitrahmen, den Konfliktparteien in die Konfliktbearbeitung investieren von großer Bedeutung für die Lösung zahlreicher Konflikte auf internationaler Ebene sein. Auch zur Stabilität internationaler Organisationen und Regime, die auf globaler oder regionaler Ebene zur Schaffung von stabilem Frieden beitragen sollen, könnte dieser Ansatz einen ähnlich hilfreichen Beitrag leisten. Am Ende bleibt dennoch ein Widerspruch offen, der sich wohl kaum ausräumen lässt: Eine pluralistische Sicherheitsgemeinschaft strebt zwar das Ideal vom »ewigen Frieden« an, ist letztendlich jedoch gemessen an der politischen Praxis ein zeitlich begrenztes Phänomen. 191 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Simon Koschut

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194 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Sektion 4: Zeitauffassungen und ihre Relevanz für den Frieden

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Zeitkonflikte – Versöhnung – Normalisierung Wie die Interaktionen von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont internationale Friedensprozesse bestimmen Was there such a thing as Stettininity? […] »The town isn’t interesting, except for a clock that rolls its eyes, and the view of the Oder, which truly is something special.« (Edward Morgan Forster, Howards End, 1910, Kap. IX) Howards End, Oniton, the Purbeck Downs, the Oderberge, were all survivals, and the melting-pot was being prepared for them. Logically, they had no right to be alive. One’s hope was in the weakness of logic. Were they possibly the earth beating time? […] »Because a thing is going strong now, it need not go strong forever,« she said. »This craze for motion has only set in during the last hundred years. It may be followed by a civilisation that won’t be a movement, because it will rest on the earth. All the signs are against it now, but I can’t help hoping, and very early in the morning in the garden I feel that our house is the future as well as the past.« (Ebd., Kap. XLIV)

Abgesehen von Sir Winston Churchills berühmtem Satz, der Stettin und Triest vorläufig zu den beiden Endpunkten des so genannten Eisernen Vorhangs machte, gehören die obigen Zitate zu den spärlichen Erwähnungen Stettins in der Weltliteratur. In der Forschung lokaler und globaler Konflikte sollte man dieser Stadt und ihrer Region, dem Gebiet zwischen Oderhaff und Oderbergen, jedoch mit mehr Interesse begegnen, um ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, denn wie nur wenige Orte in Europa spiegeln sie die internationalen Zeit-Raum-Normkonflikte des 20. Jahrhunderts wider, die den Kern dieses Beitrags bilden 1. Der hier entwickelte theoretische Ansatz entstand in Szczecin (Stettin), das heißt für viele: mitten im Nirgendwo. Auch im vorliegenden Text bleibt die Stadt unsichtbar. 1

Zu den Umbrüchen in der Zeitgeschichte Stettins siehe z. B. Musekamp (2010).

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Pierre-Frédéric Weber

Umso mehr möge sie dieses Incipit mit E. M. Forsters Worten würdigen. Dieser Beitrag stellt den Versuch dar, die zeitlichen Dimensionen von Konflikten und von deren Überwindung herauszuarbeiten, d. h. auf ihren temporalen Inhalt zu prüfen. Dabei wird Konflikt als Auseinandersetzung zwischen entgegengesetzten bzw. auseinandergehenden Interessen oder Erwartungen (ob definierte Ziele oder diffuse Vorstellungen) definiert, aus der die jeweiligen Konfliktparteien Gewinne und Verluste erwarten (Glasl 1997, 14 f.; Pfetsch 2005, 1 f.).Obwohl sich letztere erst zu einem späteren Zeitpunkt realisieren (oder auch unrealisiert bleiben), betreffen sie nicht ausschließlich die Zukunft, sondern können sich umgekehrt sehr wohl auch auf die Vergangenheit (Erfahrung) beziehen. Die zwei entsprechenden möglichen Projektionsflächen für wahrgenommene Interessen im Konflikt, nämlich Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, bilden als grundlegende Dimensionen von Zeitkonflikten den theoretischen Analyserahmen der nachstehenden Überlegungen. Obwohl hier eine konstruktivistische Herangehensweise privilegiert wird, bedienen sich die folgenden Erwägungen eines eher nicht radikal konstruktivistischen Ansatzes und gehen von einer staatszentrierten Perspektive der internationalen Beziehungen aus, die methodisch mit Alexander Wendts sozialer Theorie der internationalen Politik verwandt ist (Wendt 1999). Dadurch wird zwar über die beobachtbare Tendenz einer zunehmenden Transnationalisierung der internationalen Beziehungen nicht hinweg gesehen; nicht-staatliche sowie überstaatliche Akteure werden nicht ausgeblendet, doch in Hinblick auf ihre geringere oder normativ schwächer strukturierte Zeitsouveränität jeweils als Teilsysteme bzw. kollektive Akteure betrachtet, die gerade in Konfliktkonstellationen weitgehend auf das Durchsetzungspotenzial staatlicher Akteure angewiesen sind. Der Komplexität dieser Akteure wird Rechnung getragen, indem diese als Systeme angesehen werden, deren Souveränität in drei miteinander zusammenwirkenden Bereichen zum Ausdruck kommt, nämlich dem Raum, der Norm und der Zeit. Diese dreifache Souveränität kann anhand einer inhaltlichen Ergänzung des noch zu erläuternden Begriffes Chronotopos zu einer aufschlussreichen Analysekategorie zwecks Etablierung einer Typologie der Zeitkonflikte zusammengefügt werden. Die vorgeschlagene Aufgliederung orientiert sich an den ver198 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Zeitkonflikte – Versöhnung – Normalisierung

schiedenen herausgearbeiteten Zeitbezügen einer chronotopisch informierten Analyse von Zeitkonflikten. Da auch solche Konflikte einerseits innerhalb eines Akteurs entstehen können (jedoch meistens sozial ausgetragen werden – mit potenziellen Folgen für das internationale Verhalten), andererseits aber aufgrund der umstrittenen Interessen bzw. Erwartungen im internationalen System oft eher zwischen zwei oder mehreren Akteuren stattfinden, werden die beim Durchbuchstabieren der Konfliktoptionen je nach chronotopischem Spannungsverhältnis verschiedene Ebenen angesprochen: von der substaatlichen (interpersonellen bzw. innergesellschaftlichen) über die zwischenstaatliche bis hin zur suprastaatlich kollektiven.

1.

Chronotopoi. Zur temporalen Dimension internationaler Konflikte

Soziale Konflikte drehen sich hauptsächlich um Fragen politischer Dimension. Im zwischenstaatlichen Umgang betreffen sie zumeist Teilbereiche der Souveränität aus dem Feld der »hard powers«: je nachdem territoriale, militärische, wirtschaftliche, aber auch zunehmend ökologische Angelegenheiten. Elemente des »soft power« (Nye 2004) spielen jedoch als Konfliktgegenstände – oft auch auf substaatlicher, gesellschaftlicher Ebene – eine ebenso große Rolle, wenn es etwa um ideologische bzw. religiöse Deutungshoheit oder um kulturelle (z. B. sprachliche) Identität geht. In den Versuchen, entsprechende Konfliktsituationen zu beschreiben, zu erklären oder gar zu lösen, bleibt allerdings deren zeitliche Dimension meistens unterbelichtet, wenn nicht überhaupt ausgeblendet. Nur in den besonders seit dem Ende des Kalten Krieges in (Ostmittel-)Europa stärker präsenten und manchmal mit Heftigkeit ausgetragenen Konflikten um die so genannte Geschichtspolitik bzw. Erinnerungsökonomie wird das Problem der Zeitlichkeit sichtbarer, doch auch da begnügen sich selbst stichhaltige Analysen oft damit, die Zeit mehr als Rahmen denn als sozial konstruiertes (Streit-)Objekt und konstituierenden Faktor zu betrachten. Eine herausragende Ausnahme bilden in dieser Hinsicht die Studien Aleida Assmanns insbesondere zu Problemen des kollektiven und kulturellen Gedächtnisses, in denen der Zeitproblematik näher nachgegangen wird (2006, 51–54, 205–210, 226–234). Bei eingehender Betrachtung scheint der Faktor Zeit in Konflikten allerdings sehr wohl eine Rolle zu spielen. Konfliktparteien strei199 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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ten zwar um Landstriche, Rohstoffvorkommnisse oder auch Einflussgebiete, wobei jede Seite ihre eigenen Interessen vertritt. Die sozialkonstruktivistische Herangehensweise in der Theoretisierung der internationalen Beziehungen zeigt aber, dass Interessen und Identitäten miteinander in einem konstitutiven Verhältnis stehen: »Identities refer to who or what actors are. They designate social kinds or states of being. Interests refer to what actors want. They designate motivations that help explain behavior. […] Without interests identities have no motivational force, without identities interests have no direction.« (Wendt 1999, 231, Hervorh. i. O.) Die Identität der Akteure wiederum basiert auf einer bestimmten internationalen, gesellschaftlich und historisch 2 entstandenen Normdistribution, die sich in einem gewissen System von Raum-Zeitkoordinaten entfaltet und im soziologischen Sinn als »Kultur« (»socially shared knowledge« (Wendt 1999, 141)) bezeichnet werden kann. Zur Bezeichnung der Zusammenballung von Zeit, Raum und Norm bietet sich der von der Literaturwissenschaft (Bachtin 2008) in die Geschichts- und Sozialwissenschaften übernommene Begriff des Chronotopos (Koenen 2005, 17; Schlögel 2008, 23). Ursprünglich als Zeit- und Raumkonzentration in der Erzählung verstanden, lässt sich der Chronotopos soziologisch anreichern, indem man ihm die Dimension der Norm hinzufügt. Insofern gestaltet sich jeder Akteur als ein besonderes Zeit-Raum-Normsystem, wobei die räumliche Komponente nicht unbedingt streng topografisch genommen werden muss, zumal in Konflikten durchaus auch transnationale Momente eine Rolle spielen (können). Daraus wird auch klar, dass jeder so geartete Chronotopos seine eigene Zeitlichkeit oder Temporalität besitzt, mit entsprechenden Rhythmen, Phasen, Verlangsamungen und Beschleunigungen. Verschiedene Akteure mögen mitunter eine ähnliche chronotopische Struktur aufweisen, doch man könnte ebenso behaupten, dass es so viele Chronotopoi gibt, wie Akteure vorhanden sind. Der Begriff ›Chronotopos‹ ist darüber hinaus auf Konflikte selbst anwendbar, denn auch sie stellen als Beziehungskomplex zwischen Akteuren eine Form von Zeit-Raum-Normsystem dar. Daher lässt sich – gerade aus der Perspektive einer auf Wendts Soziologie der internationalen Beziehungen basierenden theoretischen Auslegung des internationalen Systems – auch das jeweils dominierende Deshalb sollte jede sozialwissenschaftliche Analyse der internationalen Beziehungen stets eine historische Soziologie sein. (Siehe Hobden u. Hobson 2002)

2

200 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Zeitkonflikte – Versöhnung – Normalisierung

und strukturierende Zeit-Raum-Norm-Verhältnis in den internationalen Beziehungen im erweiterten Sinne als Chronotopos bezeichnen. Als normgestütztes System verfügt der Chronotopos über Stabilität und ist bis zum Eingriff durchsetzungsfähiger »norm-entrepreneurs« (Finnemore u. Sikkink 1998) diachronisch grundsätzlich reproduzierbar. Die Interaktionen innerhalb eines Chronotopos, sei es in der Diachronie (siehe unten, Abs. 3.1) oder in der Synchronie (Abs. 3.2), bzw. zwischen verschiedenen Chronotopoi (Abs. 3.3) können Konfliktsituationen jedoch ebenso stabilisieren, wie auch einen Wandel fördern. Das hat nicht zuletzt mit der grundsätzlich zweifachen Struktur der Zeit (Reversibilität und Irreversibilität) zu tun (Kaempfer 1991, 51 f.). Dabei ist noch auf die chronotopische Dichte hinzuweisen: Diese ist auf das Bestehen zahlreicher »Zeitschichten« zurückzuführen (Koselleck 2003, 22 f.), die sogar in einem gegebenen Chronotopos selten synchron sind: Politische, wirtschaftliche, soziale, mentalitätshistorische und noch weitere Zeitlichkeiten pulsieren jeweils anders. Chronotopisch betrachtet kann Zeit – als Rhythmus, Duktus, Schichtung oder auch Wahrnehmung – durchaus mehrdimensional im und auf den Konflikt Einfluss nehmen. Anhand zeithistorischer und zeitgenössischer Beispiele sowohl von Konflikt als auch von Friedensprozessen aus dem Bereich der internationalen Beziehungen möchten wir den Versuch anstellen, das eben skizzierte theoretische Konzept auszubauen und der Frage nachzugehen, inwiefern Konflikte und deren Lösung vom Faktor Zeit abhängen.

2.

»Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«. Zum Unterschied zwischen Polychronie und Allochronie

Bevor eine Typologie möglicher zeit(lichkeits)bedingter Konflikte bzw. konfliktfördernder Asynchronien vorgeschlagen werden soll, muss eine methodische Hürde beseitigt, in diesem Fall ein mögliches Missverständnis aus dem Weg geschafft werden. Es geht hier um eine wichtige Erläuterung der aufgrund des Bestehens verschiedener Chronotopoi hervortretenden »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« (Koselleck 2003; Luhmann 1993, 95–130). In seiner Studie Time and the Other wies der niederländische Anthropologe Johannes Fabian Anfang der achtziger Jahre mit Recht 201 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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darauf hin, dass der moderne anthropologische Diskurs grundsätzlich eine zeitliche Distanz zwischen dem Wissenschaftler und dem Objekt seiner Betrachtung voraussetze (Fabian 2002). Somit gleiche der Blick auf eine räumlich entfernte Kultur einem Rückblick in eine vergangene Zeit, wofür der Autor die kritische Bezeichnung der »Verweigerung der Gleichzeitigkeit« (»denial of coevalness«) prägte. Dies sei ein Manko der Anthropologie als westlicher Wissenschaft, denn dadurch werde die Zeit des Westens auf eine prinzipiell höhere »Entwicklungsstufe« gestellt, die »primitiven« Kulturen dafür aber sozusagen als vergangene Gegenwart betrachtet. Indem ihnen die Gleichzeitigkeit abgesprochen werde, entstehe ein Verhältnis der »Allochronie« (»allochronism«), das durch den anthropologischen Diskurs untermauert werde (Ebd., 32). Welche Anwendung findet diese Kritik nun auf unser chronotopisch angelegtes internationales System? Tatsächlich könnte der Begriff des Chronotopos dazu verleiten, die postulierte Pluralität der Chronotopoi als Versuch(ung) der Allochronie zu interpretieren. Das Konfliktpotenzial des Faktors Zeit läge darin, dass gewisse Akteure im Verhältnis zu anderen »rückständig« wären und demnach mit der Temporalität des international dominierenden und implizit normsetzenden kollektiven Zeitsouveräns (sprich des Westens) nicht schritthalten könnten. Zwar wird durch den Begriff »Westen« die Idee einer monolithischen Kohärenz und Geschlossenheit der westlichen Akteure vehikuliert, die es als solche nicht gibt; doch in der Wahrnehmung der nicht-westlichen, dem Druck der Verwestlichung (»Westernization«) ausgesetzten und sich selbst meistens als Peripherie perzipierenden Welt treten die betreffenden Akteure (allen voran die Vereinigten Staaten und ihre Partner) als ein wenn auch diffuser so doch immerhin effizienter kollektiver Akteur auf, der in wesentlichen Bereichen seinen Rhythmus durchzusetzen vermag. »Ideas matter« (Wendt 1999, 135): Die hier zwar nicht direkt kausale, sondern eher konstitutive Rolle der Repräsentation des Westens als Zeitsouverän – in einem »okzidentalisierenden« Diskurs, der an eine umgekehrte Form des Saidschen »Orientalismus« erinnert (Said 1978; Carrier 1995; Bonnett 2004) – bleibt nicht wirkungslos, zumal der Diskurs der »Verwestlichung« seit dem Ende des Kalten Kriegs bis heute auch im Westen durchaus aktiv ist (vgl. etwa Ferguson 2011). Dieser Diskurs ist tatsächlich dann anzutreffen, wenn beispielsweise westliche Kommentatoren behaupten, radikale Islamisten steckten »noch tief im Mittelalter« – eine angesichts bestimmter, beispiels202 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Zeitkonflikte – Versöhnung – Normalisierung

weise für Europäer anstößiger Verhaltensmuster zwar recht verständliche Reaktion, die jedoch prinzipiell ethnozentrisch belastet bleibt und der Spezifizität der islamischen Welt nicht genügend Rechnung trägt. Dabei ist die Grenze zwischen Relativität und (Kultur-) Relativismus in Hinblick auf die Frage nach der maßgebenden Norm (Freiheit? Menschenrechte?) wahrhaftig durchlässig. Allerdings stimmt es, dass ein durch die historische Soziologie geschärfter Blick auf die internationalen Beziehungen ein Element der Pluralität und, was die Zeitproblematik anbelangt, der Polychronie einführt: »To use a scientific analogy, historical sociology seeks to replace traditional international relations’ ›Newtonian‹ conception of (international) space with Einstein’s conception of relativity.« (Hobden u. Hobson 2002, 280) Dasselbe gilt für die Zeit. Polychronie, also das Neben-, Mit- und Gegeneinander verschiedener, jeweils spezifisch genormter tempora loci, bedeutet jedoch keinesfalls, dass das Element der Gleichzeitigkeit verloren geht: »What are opposed, in conflict, in fact, locked in antagonistic struggle, are not the same societies at different stages of development, but different societies facing each other at the same Time.« (Fabian 2002, 155) Damit hat Fabian den Kern seiner Kritik zusammengefasst und bei Gelegenheit jegliche Teleologie zurückgewiesen. Dieses Urteil müsste dennoch etwas differenzierter ausfallen. Der Chronotopos wird uns helfen, den im Zitat aufgestellten Gegensatz zu überbrücken.

3.

Chronotopische Asynchronien als Konfliktquelle. Versuch einer Typologie

3.1. Trans-temporal Die erste hier angeführte Kategorie betrifft Zeit-Raum-Normverschiebungen, die sich diachronisch innerhalb eines gegebenen Chronotopos vollziehen. Die Verschiebungen betreffen je nachdem entweder einen Wandel im »Erfahrungsraum« oder im »Erwartungshorizont«. 3 Siehe dazu Koselleck: »Die Kategorien sind geeignet, geschichtliche Zeit auch im Bereich empirischer Forschung aufzuspüren«, denn sie lassen sich »inhaltlich anreicher[n].« (1989, 353) Vgl. bei Husserl (1985) die Begriffe der »Retention« und »Protention«.

3

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3.1.1. Zwischen vergangener Gegenwart und gegenwärtiger Vergangenheit Die generationenübergreifende Übermittlung von Erfahrungen stellt für Individuen nicht selten eine Herausforderung dar. Was der Vater erlebt, wie er es seinem Sohn erzählt, wie dieser es rezipiert, seinen Kindern weitergibt, wie schließlich nach ein paar Generationen an das Erlebnis des Ahnen noch erinnert wird – das alles veranschaulicht das Problem der auftretenden Diskrepanz zwischen Erlebtem und Erzähltem auf der interpersonellen Ebene. Die Erinnerungsproblematik tritt allerdings auch in breiteren gesellschaftlichen Rahmen auf, wenn es darum geht, das kollektive Gedächtnis zu vermitteln und dieses schließlich im kulturellen Gedächtnis aufgehen zu lassen. Die gegenwärtige Verarbeitung und Perzeption vergangener Erlebnisse stehen mitunter in großem Unterschied zur damaligen Gegenwart, wodurch innerhalb eines Chronotopos Konflikte entstehen können. Diese Situation lässt sich anhand der Zeitzeugenproblematik veranschaulichen (Sabrow u. Frei 2012). 4 Ob man damit einverstanden ist oder nicht, das gern zitierte geflügelte Wort vom Zeitzeugen als gefährlichsten Feind des Zeithistorikers 5 weist auf die Spannung zwischen erlebter Zeit und erzählter Zeit. Aus der eigenen Perspektive blickt ein im gegenwärtigen Chronotopos verankerter Wissenschaftler auf einen früheren Stand des Chronotopos. In diesem Fall stellt sich die Frage der Gleichzeitigkeit anders: Der Zeitzeuge trägt das Gestern sowie das Heute in sich; er steht mit dem Historiker in einem Verhältnis, das sich sowohl durch Gleichzeitigkeit, als auch durch Ungleichzeitigkeit auszeichnet. Dadurch wird mitunter Asynchronie erzeugt, indem der Historiker auf der Seite der Rekonstruktion der vergangenen Gegenwart steht, um diese als Erzählung zu fixieren, während es beim Zeitzeugen nicht selten vorkommt, dass er – bewusst oder nicht – das Erlebte umdeutet oder gar ändert (Assmann 2006, 169–182), in der Hoffnung, »dass gestern besser sein wird«. 6 Mit anderen Worten lässt sich bezogen auf die oben erwähnte zweifache Struktur der Zeit sagen, dass zwischen dem Zeitzeugen Siehe insbesondere das einführende Kapitel von Sabrow, »Der Zeitzeuge als Wanderer zwischen zwei Welten«. 5 Der Urheber dieses Satzes wird meistens nicht erwähnt, besonders deshalb, weil sich seine Identität kaum rekonstruieren lässt. Trotzdem findet sich die Formel in zahlreichen Publikationen und Titeln wieder wie z. B. bei Kraushaar (1999). 6 In Anknüpfung an das Gemälde des amerikanischen »Fluxus«-Künstlers George 4

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und dem Historiker manchmal das Kollidieren zwischen Reversibilität (Uminterpretierung) und Irreversibilität (Festsetzung) deutlich wird; dabei sind die Rollen zwar nicht absolut festgelegt, doch selbst wenn nicht alle Historiker gegen Geschichtsfälschung gefeit sind, so sorgen doch die wissenschaftlich-ethischen Grundsätze ihrer ›Zunft‹ dafür, dass das Risiko abgesehen von politischen Einflüssen eingedämmt wird. Immerhin kann diese Form trans-temporaler Asynchronie innerhalb eines Chronotopos für die Identität des betreffenden Akteurs im internationalen Umfeld (System) destabilisierende Folgen haben. Wenn es um Staaten geht, so können Nachbarn meinen, die Zeitsouveränität sei dem von Asynchronie befallenen Akteur abhandengekommen. Das Beispiel der deutsch-polnischen Geschichts- und Erinnerungsdebatte der vergangenen zehn Jahre zeigt, dass sich die internen deutschen Streitigkeiten um das öffentliche Erinnern an die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa auch konfliktfördernd auf die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen ausgewirkt haben. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Deutschland dadurch nicht mehr so berechenbar erschien (Schuldgefühl, Verschweigen der eigenen Opfer, u. dergl.). Doch dies führt uns bereits zur zweiten Form trans-temporaler Asynchronie. 3.1.2. Zwischen vergangener Zukunft und gegenwärtiger Zukunft Ähnlich wie der Erfahrungsraum kann auch der Erwartungshorizont in der Diachronie ein Konfliktpotential bergen. Bedingung dafür ist ein zu erwartender konfliktstiftender Verlust, der als untragbar wahrgenommen wird und der aus einer Asynchronie zwischen einstigen und aktuellen Repräsentationen der zukünftigen Gegenwart (gemeinhin »Zukunft« genannt) hervorgeht. Als Beispiel bietet sich eine stabile zwischenstaatliche Beziehung wie das westdeutsch-französische Tandem in den frühen achtziger Jahren, insbesondere in Bezug auf die so genannte »Deutschlandfrage«. Damals waren französische und westdeutsche Chronotopoi diesbezüglich eher synchron 7, da beide Staaten sich über den zu erBrecht (1926–2008) mit dem Titel »Yesterday will be better« (1963), der hier übersetzt wurde. 7 Zu den inter-temporalen Asynchronien zwischen verschiedenen Chronotopoi siehe Abs. 3.3.1.

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wartenden Rhythmus einer eventuellen Wiedervereinigung einig waren (nämlich schrittweise, langfristig). Als sich die Ereignisabfolge ab Sommer 1989 jedoch drastisch beschleunigte, änderten sich auch die Erwartungen entsprechend schlagartig, wodurch die bisher erlangte Vertrautheit brüchig wurde. Vertrautheit bedeutet allerdings nicht automatisch Vertrauen: »Vertrautheit […] ermöglicht relativ sicheres Erwarten und […] ist Voraussetzung für Vertrauen wie für Mißtrauen, das heißt für jede Art des Sichengagierens in einer bestimmten Einstellung zur Zukunft« (Luhmann 2000, 22 f., Hervorh. PFW). Aus dem unerwarteten Wandel der Zukunftsperspektive entsprangen im gewählten Beispiel gewisse Ängste (die wiederum zum Teil auf Erfahrungen gründeten). Frankreich: Wie würde sich ein wiedervereinigtes Deutschland in Europa verhalten? Expansiv oder gar aggressiv? (West-)Deutschland: Wie würden die Nachbarstaaten und vor allem die für die »Deutschlandfrage« verantwortlichen Alliierten auf die neue Situation reagieren? Noch stärker war dies im (west)deutsch-polnischen Verhältnis spürbar (Weber 2010). Angsterscheinungen lösten unlängst auch die Weltfinanzkrise aus, und zwar als in vielen Ländern die Wachstumsperspektiven und sozialen Hoffnungen zunichte gemacht wurden. »Non c’è più il futuro di una volta« – Die Zukunft von einst, sie ist vorbei. So lautete der vielsagende Titel eines Online-Beitrags der italienischen Linkspartei Sinistra-Ecologia-Libertà im Oktober 2011 bezüglich der italienischen Sozialpolitik angesichts der Krise. 8 Konfliktstiftend bzw. -fördernd ist ein solcher chronotopischer Wandel in der Diachronie nur dann, wenn der Akteur an der einstigen, nicht mehr aktuellen oder gar mangelhaft gewordenen Zukunftsvorstellung festhält, also einen Defizit an Fehlertoleranz aufweist, und/oder wenn er sich dagegen sträubt bzw. sich außer Stande erweist, die neue Perspektive anzunehmen oder auch Alternativen zu schaffen; Letzteres ist dann mit der Kapazität zur Risikonahme verbunden (Luhmann 2003, 51; Sofsky 2005, 27). Im eben angeführten Beispiel bezüglich der Lösung der ›Deutschlandfrage‹ etwa fungierte die Assoziierung eines wiedervereinigten Deutschlands mit potenziellem Risiko als einschlägige zunächst wandlungsresistente und deshalb vorübergehend auch konfliktfördernde Zukunftsvorstellung.

http://www.sinistraecologialiberta.it/articoli/non-ce-piu-il-futuro-di-una-volta/ (letzter Abruf: 17. 8. 2013).

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3.2. Intra-temporal Es mag auf Anhieb paradox klingen, doch Asynchronien können auch in der Synchronie auftreten. Dabei gilt es natürlich, »Asynchronie« eher als Unstimmigkeit oder Diskrepanz zwischen Zeitlichkeiten bzw. Zeitperzeptionen zu verstehen; mit ›Synchronie‹ meinen wir hier wiederum einen gewissen Zeitpunkt (womit dieser Begriff mit dem vorhin verwendeten Begriff der Diachronie ein Begriffspaar bildet.) (Koselleck 2006) Zur Aufschlüsselung der innerhalb eines Chronotopos an einem gegebenen Zeitpunkt auftretenden Zeitspannungen kann man sich der traditionellen räumlichen Repräsentation der Zeit bedienen: Horizontal, insofern es um die Projizierung in Vergangenheit bzw. Zukunft geht; vertikal in Bezug auf die chronotopische Schichtung der verschiedenen Zeitebenen. 3.2.1. Zwischen gegenwärtiger Vergangenheit und gegenwärtiger Zukunft In der Horizontalität betreffen Asynchronien auseinandergehende Vergangenheits- und Zukunftsperzeptionen bzw. -diskurse. Es besteht ein temporaler Unterschied, manchmal sogar ein Gegensatz zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont. Eine kurze literarische Einflechtung soll hier der Veranschaulichung dienen. Im zweiten Zitat aus E. M. Forsters Howards End, das wir diesem Beitrag vorangestellt haben, werden die mit der Modernisierung in England einhergehende Beschleunigung 9, die Urbanisierung und Industrialisierung ganzer Landflächen sowie die damit verbundenen Verlustängste traditionsgebundener Gesellschaftsschichten thematisiert: »All the signs are against it now, but I can’t help hoping, and very early in the morning in the garden I feel that our house is the future as well as the past.« (Forster 1910, Hervorh. PFW) Was bleibt, ist die Hoffnung auf Kontinuität und Beständigkeit, auf Wahrung der eigenen Identität. Überträgt man den Kern dieser literarisch formulierten Erkenntnis auf das Feld der internationalen Politik, so bedeutet dies beispielsFür eine soziologische Behandlung siehe u. a. bezüglich des Verhältnisses zwischen technischer Beschleunigung, Verschrumpfung des Raums und Veränderung der Weltbezüge bei Rosa. (2005, 161–175; sehr anschaulich sind die Abbildungen jeweils auf S. 165 und 171)

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weise, dass ein bislang durch einen langsamen Rhythmus charakterisierter Chronotopos aufgrund interner oder externer Faktoren einen für seine Identität radikalen Wandel in seiner Zeitstruktur zu erwarten hat. Exemplarisch ist der Fall der Sowjetunion im Herbst 1989, nämlich als ihr ostmitteleuropäisches Imperium immer schneller zu bröckeln anfing und damit sowohl die militärische und wirtschaftliche Zusammenarbeit (Warschauer Pakt, Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) als auch den Kommunismus selbst ins Schwanken brachte. Der Beschleunigungseffekt ließ die sowjetischen Planer ahnen, dass der bisherige Fünfjahresplan-Rhythmus nicht mehr funktionsfähig sein würde; abgesehen vom Risiko eines Zusammenbruchs war eine tiefe Umstrukturierung und damit eine Infragestellung des Systems selbst zu erwarten. Die bisherige Erfahrung würde sich dann als unbrauchbar erweisen. Die Zukunft stand somit nicht mehr unter dem Zeichen der staatlichen Steuerung und der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Stabilität (zumindest in der sowjetischen Selbstwahrnehmung). 10 Diese Destabilisierungserwartungen schürten Konflikte, die auch auf internationaler Ebene innerhalb der Sowjetunion für Spannungen und nach deren Kollaps im zwischenstaatlichen Umgang (z. B. im Kaukasus im Umgang Russlands mit Tschetschenien) sogar für Kriege sorgten. Halten wir fest: Die eben beschriebene horizontale, intra-temporale Asynchronie innerhalb eines Chronotopos wirkt sich konfliktfördernd aus. Das muss jedoch nicht immer der Fall sein und hängt vor allem von den vom Akteur zu befürchtenden Verlusten bzw. zu erhoffenden Gewinnen ab, die aus der Asynchronie zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont entstehen. Chinas gegenwärtig erstarkende (Zeit-)Souveränität in den durch die Weltfinanzkrise belasteten internationalen Beziehungen eröffnet für das 21. Jahrhundert einen Erwartungshorizont, der gegen den LangzeiterfahrungsDie revolutionäre Zeitstruktur hatte sich seit 1917 ohnehin schon verändert. Die nie realisierte kommunistische Gesellschaft als Ziel der Weltrevolution und Rechtfertigung für eine dynamische Temporalität wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einem statischen Langzeiterwartungshorizont. Kurz- und mittelfristige Perspektiven mussten allerdings Veränderungen unterliegen, vor allem in der Wirtschaftspolitik, wodurch jedoch konfliktstiftende, trans-temporale Asynchronien auftauchten; das Fortschrittsdenken des Marxismus-Leninismus bewirkt für das betreffende System tatsächlich hohe Risikobereitschaft und geringe Fehlertoleranz (vgl. Abs. 3.1.2.). Gesellschaftlicher Protest aufgrund wirtschaftspolitischer Enttäuschungen (z. B. in der DDR 1953 oder in der Volksrepublik Polen 1970 und 1980) waren ein klarer Ausdruck davon.

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raum der vergangenen drei Jahrhunderte westlicher Einflussnahmen stark absticht. Hier scheint die Hoffnung stärker ausgeprägt zu sein als die Angst (Moïsi 2009). Selbst wenn das chinesische Zeitverständnis schon seit der Einführung des Buddhismus vor rund zweitausend Jahren ein starkes zyklisches Moment aufweist (Appoldt 1992, 47 f.; Leutner 1990, 67 f.), Angst und Hoffnung demnach einen anderen Wert haben als in den westlichen Gesellschaften, so behalten die Kategorien ›Erfahrung‹ und ›Erwartung‹ doch ihre theoretische Relevanz. Beiläufig sei hier auf den schon oben zum Vorschein gekommenen Nexus Zeit/Emotionen hingewiesen, dessen genauere Analyse im Bereich der internationalen Beziehungen noch ein Desiderat der Forschung bleibt (Koselleck 1989, 354 f.; siehe z. B. Weber 2015, 191–223). 3.2.2. Zwischen »Zeitschichten« innerhalb eines Chronotopos Chronotopoi zeichnen sich durch eine gewisse Dichte aus, sie sind von mehreren Zeitschichten gebildet, die aufgrund jeweils verschiedener Rhythmen vertikale Asynchronien in der intra-temporalen Struktur stiften. Das Bestehen bestimmter Rhythmen mit kürzeren und längeren Zyklen, wie sie in der Wirtschaftsgeschichte z. B. von Nikolai Kondratjev in Erfahrung gebracht wurden, lässt sich auch u. a. im Politischen und Sozialen feststellen. Die Zeitlichkeit des Politischen wird beispielsweise im demokratischen Staat vom Takt der Wahlen strukturiert (Rosa 2005, 391–396). Kulturwissenschaftler wiederum haben beobachtet, wie traumatische Ereignisse nach rund zwei Generationen über das kollektive ins kulturelle Gedächtnis gelangen (können) (Assmann 2006). Verlangsamungen und Beschleunigungen sind nicht in allen Zeitschichten genauso stark ausgeprägt: Ein Gesetz kann innerhalb von nur wenigen Monaten entworfen, besprochen, verabschiedet und in Kraft gesetzt werden; das bedeutet jedoch noch lange nicht, dass die im Gesetz festgelegte Norm sogleich entsprechend aufgenommen wird. Ein gutes Beispiel für diese Form von konfliktgeladenen Asynchronien liefert wieder die Geschichtspolitik. Die vergangenen zehn bis fünfzehn Jahre könnten in Ostmitteleuropa als das Jahrzehnt der Erinnerungsschlachten bezeichnet werden (Flierl 2010; Leggewie 2011). Nachdem das kommunistische System fast ein halbes Jahrhundert aufgrund von Instrumentalisierungen und Geschichtsklitte209 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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rung die Aufarbeitung der für das »Zeitalter der Extreme« (E. Hobsbawm) ausschlaggebenden Jahre zwischen 1914 und 1945 gebremst bzw. eingefroren hatte, taute die Erinnerung wieder auf. Das Gedächtnis der Opfer wurde wieder wach und es kam zu einer Art Konkurrenz zwischen Opfererzählungen. In Polen z. B. (das hier als Chronotopos genommen wird) standen polnisch-nationaler und jüdischer Opferdiskurs neben- und nicht selten gegeneinander. Die Politik leitete sich in ihrer eigenen Temporalität (Zeitschicht) nach dem westeuropäischen Standard der klaren staatlichen Anerkennung von (Mit-)Verantwortung (meistens nicht ohne Verzögerung, wie im Falle Frankreichs bezüglich der Kollaboration des Vichy-Regimes mit Hitler): So erklärte sich der polnische Staat dazu bereit, die negative Rolle von Teilen der nicht-jüdischen, polnischen Bevölkerung im Holocaust anzuerkennen, was in der Gesellschaft jedoch heftige Debatten und Reaktionen auslöste. Mit anderen Worten: Der vom Politischen vorgegebene Takt bedeutete für die viel langsamer pulsierende mentalitätshistorische Zeitschicht eine (zu?) starke Beschleunigung, die für Asynchronie sorgte und konfliktstiftend wirkte. Auch andere gesellschaftliche Konflikte, die meistens als »Modernisierungskrisen« bezeichnet werden, leiten sich nicht zuletzt von solcherart Asynchronien ab: Die im laufenden Prozess der Verstädterung ganzer Landbevölkerungen in den Entwicklungsländern bzw. Schwellenländern (allen voran: Indien, China, Nigeria; siehe UN Report 2012) auftretenden Anpassungsprobleme, die durch die Umstellung auf das städtische Leben verursacht werden, sind auch auf eine Tempoumstellung (Beschleunigung) zurückzuführen; die am meisten anzutreffende Empfindung der Neuankömmlinge ist wohl das Zeitgefühl: »Da ticken die Uhren anders …«

3.3. Inter-temporal Trans- und intra-temporale Asynchronien spielen vor allem bei Konflikten innerhalb eines Chronotopos eine konstitutive Rolle; es können dadurch aber auch außerhalb bestehende Konflikte geschürt bzw. neue gestiftet werden. In der dritten hier angeführten Kategorie wird nun versucht, die konfliktfördernde Wirkung von Asynchronien zwischen verschiedenen Chronotopoi zu analysieren. Dies sollte uns gerade in Hinblick auf die Zeitbedingtheit von Konflikten in den internationalen Beziehungen weiterführen. 210 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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3.3.1. Zwischen in Konflikt stehenden Chronotopoi Interchronotopische Asynchronien lassen sich in zwei Unterkategorien aufgliedern: einerseits zwischen Chronotopoi mit ähnlicher Zeitstruktur bzw. ähnlichem Zeitverständnis (homochronisch), andererseits zwischen Chronotopoi, deren Zeitstrukturen sich voneinander unterscheiden (heterochronisch). 3.3.1.1. Homochronisch Zwei Chronotopoi können zeitlich in Konflikt stehen, selbst wenn sie sich in ihrem Zeitverständnis grundsätzlich nicht unterscheiden. Der Kalte Krieg war eine solche Situation. Dass Modernität nicht nur ein westliches Konzept darstellt, d. h. nicht einfach mit (west-)europäischen bzw. ›atlantischen‹ Modernisierungsprozessen gleichzusetzen sei, hat die Forschung anhand von kulturwissenschaftlichen Fallstudien, u. a. zum Thema des Kommunismus, bereits nachweisen können (Arnason 2002). Der Wandel im Zeitverständnis, der Prozess der Selbstwerdung und die damit einhergehenden Veränderungen in der politischen Ordnung, um hier nur die am meisten zitierten Grundzüge des westlichen Modernisierungsprozesses anzuführen, haben sich im östlichen Europa zwar nicht genau in derselben Form vollzogen, doch auch der Marxismus entsprang dem Fortschrittsdenken des 19. Jahrhunderts, das dem modernen Kapitalismus zugrunde liegt. »[M]odernity is a set of promissory notes, i. e., a set of hopes and expectations that entail some minimal conditions of adequacy that may be demanded of macrosocietal institutions no matter how much these institutions may differ in other respects.« (Wittrock 2002, 55) Inhaltlich war der kommunistische Erwartungshorizont ein anderer als der kapitalistische, doch in ihrem Zeitverständnis waren beide Ideologien zukunftsorientiert. Asynchronien entstanden in dem Fall aufgrund konkurrierender Zeitsouveränitäten. Der Kalte Krieg war nicht nur eine ideologische, militärische, wirtschaftliche und kulturelle Konfrontation zwischen ›Ost‹ und ›West‹, sondern er besaß ebenfalls eine temporale Dimension, indem jedes Lager das andere auf seinen Rhythmus festzulegen versuchte. Außerdem hatte die Polychronie zwischen Kapitalismus und Kommunismus durchaus allochronische Züge (siehe Abs. 2), da sich diese Ideologien als verfeindet betrachteten, der Kommunismus jedoch als später entstandene Alternative zum Kapitalismus letzteren weiterhin als Anhaltspunkt nahm, und sei es selbst, um ihn – mit der 211 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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von Walter Ulbricht geschaffenen Formel ausgedrückt – zu »überholen, ohne [ihn] einzuholen«. Vor allem wirtschaftlich und wirtschaftspolitisch entwickelte sich zwischen beiden ein regelrechtes ›Zeitfahren‹, in dem der Kommunismus letztlich zu starken Beschleunigungseffekten unterlag. Das rührte auch daher, dass sich dieser aufgrund eines gewissen Rückstands im Vergleich zum kapitalistischen System in seinem Nachholbedarf nach Mustern orientierte, die im Kapitalismus bereits obsolet geworden waren. 11 Chronotopisch ausgedrückt: »Auch hierbei handelt es sich um eine Bestimmung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die ein großes Konfliktpotential in sich birgt. […] Die Erfahrung der einen ist die Erwartung der anderen.« (Koselleck 2003, 175; Hervorh. PFW) Die Asynchronie betraf also nicht die chronotopische Zeitstruktur, sondern vielmehr deren normativen Inhalt. ›Ost‹ und ›West‹ waren im Kalten Krieg zwar (qualitativ) homochronisch, aber nicht isochronisch. 3.3.1.2. Heterochronisch Mit Asynchronien zwischen Chronotopoi, die sich in ihrer Zeitstruktur prinzipiell unterscheiden, hat es seine eigene Bewandtnis. Solche Chronotopoi sind jeweils in verschiedenen kulturellen Räumen verankert und können keine Homochronie aufweisen. Ihre Heterochronie beruht auf einem Unterschied bzw. Gegensatz im Zeitverständnis. In seinem Werk über den westlichen Prozess der Säkularisierung unterstreicht der kanadische Philosoph Charles Taylor mehrmals die Bedeutung, die der Wandel der Zeitstruktur und der Wahrnehmung davon auf dem Weg ins säkuläre Zeitalter innehatte: »When Hamlet says that ›the times are out of joint‹, we could take this remark literally […]. We now find it very hard even to understand what Hamlet may have been getting at. That is because […] we tend to see our lives exclusively within the horizontal flow of secular time. […] [T]he imbrication of secular in higher times (d. h. sakrale Zeit, PFW) is no longer for many people today a matter of common, ›naïve‹ experience, something not yet a candidate for belief or disbelief because it is just obviously there; as it was for pilgrims at Compostela or Can-

Vgl. Arnason: »This was not simply a matter of historical inertia or passive traditionalization of the early stages of industrial growth; rather, the industrializing strategy was embedded in an ideological projection of past developmental patterns (the Bolshevik appropriation of Taylorism exemplifies a more general attitude).« (2002, 66 f.)

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terbury in the fourteenth century. (And as it may be today for many at Częstochowa and Guadalupe; our secular age has geographical and social as well as temporal boundaries).« (2007, 58 f.) Die »Zeitgrenzen« (»temporal boundaries«), die im Zitat von Taylor erwähnt werden, lassen sich noch eher im Verhältnis zwischen westlicher Zeit und nicht-säkularisierter islamischer Zeit nachvollziehen. Das Verhältnis zwischen Religion und Politik ist in der islamischen Welt, ganz abgesehen von jeglicher terroristischen Erscheinung, ein qualitativ anderes als dasjenige, das in den westlichen Demokratien vorherrscht (wobei u. a. zwischen den Säkularisierungsprozessen in Europa und in den Vereinigten Staaten unterschieden werden müsste) (Lehmann 2007, 126–143). Wo das ewige Gesetz Gottes im Jenseits und die menschliche Staats- und Gesellschaftsordnung im Diesseits nicht auseinander gehalten werden, sondern wie in den vom Islam geprägten Chronotopoi verschachtelt (»imbricated«) sind, stößt der Säkularisierungsdrang der westlich geprägten Globalisierung bzw. Westernisierung weitgehend auf Abwehr (Eickelman 2002, 119–122; Hunt 2013). 3.3.2. Zwischen dem Chronotopos des Konflikts und dem des internationalen Systems Der Begriff des Chronotopos lässt sich wie anfangs angedeutet nicht nur auf Akteure der internationalen Beziehungen (insbesondere Staaten), sondern auch auf Konflikte selbst anwenden, denn diese lassen sich ebenfalls nach den Kategorien Zeit, Raum und Norm ablesen. Im Gegensatz zu Akteuren verfügt ein Konflikt als Chronotopos allerdings über keine Zeitsouveränität, sondern er unterliegt nur dem in Niklas Luhmanns Systemtheorie als »Autopoiesis« bezeichneten Prozess, d. h. er reproduziert sich von selbst, solange keine internen oder externen Faktoren eine Änderung im System bewirken (Luhmann 1984, 60 f.). Es können Asynchronien dann entstehen, wenn die Zeitlichkeit eines solchen Chronotopos nicht (oder nicht mehr) mit der dominierenden Zeitlichkeit des ihm übergeordneten internationalen SystemChronotopos übereinstimmt. Alexander Wendt hat in seinem sozialkonstruktivistischen Modell der internationalen Beziehungen drei idealtypische Kulturen der Anarchie ausgemacht, benannt nach drei für ihre jeweils ausschlaggebenden Kernpostulate relevanten Philosophen (Wendt 1999, 257, in Anlehnung an Wight 1991): »Hobbesian 213 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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anarchy« nach der »kill or be killed«-Logik, in welcher Krieg und Feindschaft dominieren; »Lockean anarchy« – geleitet durch den Grundsatz der freien Konkurrenz nach dem Motto »live and let live«; »Kantian anarchy« als System ausgebauter internationaler Kooperation und kollektiver Sicherheit nach dem Prinzip »live together« (Wendt 1999, 247 f.). Man kann davon ausgehen, dass die internationalen Beziehungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts zumindest im Umgang zwischen den entwickelten Industriestaaten des Westens oder, besser, des so genannten »Nordens«, weitgehend der Logik der »Lockean anarchy« und innerhalb von lokalen Staatenbunden der »Kantian anarchy« folgen. Ein militärischer bzw. diplomatischer Konflikt, der im Sinne der »Hobbesian anarchy« ausgetragen würde, stünde in einem Verhältnis (normativer) Asynchronie. Das passiert beispielsweise im anhaltenden Spannungssystem zwischen Nordund Südkorea: Während Seul u. a. im Rahmen der Vereinten Nationen zu entschärfenden Kooperationsschritten bereit ist, drängt Pyongyang regelmäßig zur Konfrontation und erscheint damit laut internationalem Standard als »Kalter Krieger«. 12 Während Verschärfungsmanöver ständig aktualisiert und maximiert werden müssen, um ihre Wirkung zu erreichen, nämlich den Erwartungshorizont des Gegners mit Angst zu sättigen, verlangen Entschärfungsschritte einen langsameren Rhythmus (wie es zur Zeit der deutsch-deutschen Teilung der von Egon Bahr geprägte »Wandel durch Annäherung« und seine »Politik der kleinen Schritte« veranschaulichten). 13 Das eben angesprochene Problem des Rhythmus führt uns zum nächsten Punkt: Wie kommt der Faktor Zeit in Friedensprozessen zur Geltung?

Der Ausdruck hat selbstverständlich allochronische Züge: Nordkorea reagiert so, wie es während des Kalten Kriegs üblich war, wodurch die nordkoreanische Haltung weltpolitisch disqualifiziert wird. 13 Angesichts dessen erscheint uns das insbesondere in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren in der Auslandspropaganda des Ostblocks übliche Schlagwort des »Kampfs um den Frieden« in seiner stalinistischen Akzeptanz aus zeittheoretischer Perspektive als ein Widerspruch, der nur durch den ständig erforderlichen Mobilisierungszustand der Gesellschaft im totalitären Staat zu erklären ist. Taylor spricht diesbezüglich von »Age of Mobilization«. (Vgl. Taylor 2007, 627 f.) 12

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4.

Synchronisation und Aufhebung von Konflikten

Definiert man ›Chronotopoi‹ als Zeit-Raum-Normsysteme, die sowohl in der Diachronie als auch in der Synchronie asynchronische Momente aufweisen, sowie untereinander in asynchronischem Verhältnis stehen können; stellt man des Weiteren fest, dass diese Asynchronien in der Entwicklung und Weiterführung von Konflikten eine wesentliche Rolle spielen, so erscheint a priori die Angleichung der Zeitlichkeiten, also die Synchronisation, als ein Prozess, durch den zur Aufhebung von Konflikten beigetragen werden kann. Dies wiederum soll nicht heißen, dass eine Asynchronie in jedem Fall gegen den Frieden wirken muss; manchmal wird eben zum Zwecke der Friedensstiftung versucht, Momente der Asynchronie zu schaffen, beispielsweise in der pazifistischen Bewegung der siebziger und achtziger Jahre in Europa: Als Versuch der Verlangsamung bewirkte die gesellschaftliche Opposition gegen nukleare Aufrüstung eine vorläufige Desynchronisierung, die darauf abzielte, die Temporalität der Friedensbewegung als normstiftend durchzusetzen. Umgekehrt ist Synchronie keine Garantie für Frieden als gewolltes Miteinander: Der Herrschaftsfrieden eines Hegemons etwa hebt zwar die Möglichkeit von Konflikten im hegemonialen Einflussbereich auf, doch die damit verbundene chronotopische Gleichschaltung kann sehr wohl für das Aufkommen von Spannungen sorgen. Wo z. B. Zeitsouveränität so stark ausgeprägt ist, dass sie zur umfassenden Aufhebung von Zeitdifferenzen führt, birgt letztere im Endeffekt das Risiko, sich gegen den Hegemon zu richten: Durch die radikal ungleiche Distribution von Zeitsouveränität – als Ressource mit kompetitiven Werten im internationalem System – droht letzlich der Stillstand. 14 Solche Angleichungsprozesse setzen zunächst Zeitsouveränität voraus, d. h. eine Instanz, die für die Zeitdefinition Verantwortung trägt. In einem Staat liegt die Zuständigkeit bei den Entscheidungsträgern, was nicht ausschließt, dass andere interne oder externe Faktoren bzw. Instanzen auf den chronotopischen Zeitsouverän Einfluss nehmen. Die Mitgliedstaaten der Eurozone können sich darauf einigen, den aus dem Takt geratenen Rhythmus der griechischen Wirtschaft wieder an den der Eurozone anzupassen, doch die SynchroniDiese Erkenntnis erinnert an Wallersteins Welt-System-Analyse, in der er auf die schwierige Suche nach kompetitiver Stabilität zur Reproduktion des Systems weist. (Wallerstein 2004, 98)

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sation hängt auch noch von den griechischen Behörden, der griechischen Gesellschaft, den außereuropäischen Staaten, transnationalen Akteuren der Finanzwelt usw. ab. Die Synchronisation kann grundsätzlich jede Variable betreffen; sie erfolgt durch Raumverschiebung, Normwandel und/oder Zeitschub. Nicht jede Form von chronotopischer Angleichung bewirkt jedoch Konfliktregelung; meistens agiert Synchronisation mit mehr als nur einer Variable. Die EUOsterweiterung z. B. bedeutete nicht bloß die geografische Ausdehnung der Europäischen Union nach Osten, sondern die Annahme der EU-Normen in den betreffenden Staaten Ostmitteleuropas, sowie die zeitliche Angleichung der Wirtschafts-, Gesellschafts- und weiteren Rhythmen an den westeuropäischen bzw. westlichen Takt. Dieser Prozess wiederum blieb nicht ohne Auswirkungen auf den sich ausdehnenden Chronotopos der EU. Im wesentlichen besteht die Schwierigkeit für den einschlägigen Zeitsouverän, den richtigen Zeitpunkt zu finden, um Synchronisationsversuche zu unternehmen. Da diese Versuche politische Entscheidungen voraussetzen, erfolgt die Angleichung zuerst in der Zeitlichkeit des Politischen, während andere Zeitschichten zunächst nicht gleich reagieren. Eine zu große intra-temporale chronotopische Diskrepanz zwischen den Zeitschichten kann solche Synchronisationspläne vereiteln. Der Zeitsouverän muss imstande sein, das Angleichungstempo entsprechend zu dämpfen oder zu erhöhen, wobei es meistens schwierig ist, den idealen, gleichsam ›kairotischen‹ Punkt auszumachen, wo intra-temporale und/oder inter-temporale normative Isochronie herrscht. Ende 1989 sorgte der Vorschlag des damaligen französischen Staatsoberhaupts François Mitterrand, eine Europäische Konföderation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den post-kommunistischen Staaten Ostmitteleuropas zu schaffen, für Missverständnisse. Indem diese Konföderation von ihm als dreißig bis fünfzig Jahre währende Etappe vor der europäischen Integration konzipiert wurde, erschien sie manchen Menschen letztendlich als eine Art politische Notbremse, die von den Westeuropäern gezogen wurde, um das bisherige westeuropäische Integrationswerk nicht durch das Ankoppeln neuer Mitglieder zu gefährden. 15 Die Idee wurde bald aufgegeben; nach nur fünfzehn Jahren (2004) traten acht ostVgl. Kamm: »Czechoslovak officials are said to have come away with a feeling that France was offering Mr. Mitterrand’s ›confederation‹ to Prague as a temporizing substitute for a more rapid and profitable European association.« (1991; Hervorh. PFW)

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mitteleuropäische Demokratien der EU bei. Heute kann man es zwar als eine politische, institutionelle und zum Teil wirtschaftliche success story betrachten, doch in vieler Hinsicht bleiben zwischen Alt- und Neumitgliedern konfliktfördernde Asynchronien bestehen: in der politischen Kultur, den Mentalitäten usw. So lobenswert die bisherigen politischen Synchronisationsanstrengungen, und so vielversprechend die Perspektiven zumindest in einigen Ländern (z. B. Polen) auch sind bzw. waren, die zum Teil von der Finanzkrise aufgedeckten chronotopischen Differenzen wirken stark zentrifugal (siehe Ungarn). Im Nachhinein betrachtet hatte Mitterrands Idee wohl politisch keine Chance, doch mit einer Konföderation als Raum für kontrollierte Beschleunigung wäre Ostmitteleuropa (und Westeuropa) im Integrationsprozess vielleicht besser gedient gewesen. Nach den Kriegen, Völkermorden, Zwangsmigrationen und Teilungen des ›Zeitalters der Extreme‹ war der Wunsch der Europäer nach friedlichem Zusammenleben allzu verständlich. Doch auch der Frieden braucht seine Zeit.

5.

›Versöhnung‹ und ›Normalisierung‹ : eine Umdeutung aus temporaler Perspektive

Bevor wir abschließend auf die aktuellen Grenzen friedensstiftender Synchronisationen hinweisen, möchten wir versuchen, konfliktabbauende Annäherungsprozesse, wie sie in den internationalen Beziehungen üblich sind, aus der Perspektive des Faktors Zeit zu definieren. Im post-konfliktuellen Wiederaufbau bilateraler zwischenstaatlicher Kontakte bedienen sich sowohl zeitgenössische Akteure als auch verschiedene spätere Kommentatoren in ihrem jeweiligen Diskurs der Begriffe ›Versöhnung‹ und ›Normalisierung‹. ›Versöhnung‹ ist der christlichen Lehre entnommen und eng mit der Vergebung der Sünden verbunden (Celermajer 2009, 52, 140 f.). In den außenpolitischen Diskurs gelangte das Wort erst wirklich nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Einfluss christdemokratischer europäischer Politiker wie u. a. Robert Schuman oder Konrad Adenauer. Besonders im Kontext der deutsch-französischen Annäherung (1958–1963) wurde das Wort oft verwendet (›Versöhnung‹/›réconciliation‹); General Charles De Gaulle und Konrad Adenauer legten viel Wert darauf, den religiösen Aspekt zu unterstreichen (so z. B. durch die Versöhnungsmesse vom 8. Juli 1962 in Reims). Auch wenn 217 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Pierre-Frédéric Weber

in den offiziellen Aussagen stets das Verlangen nach besseren Beziehungen in der Zukunft deutlich wird, blickt Versöhnung doch grundsätzlich in die Vergangenheit und lässt sich anhand der oben aufgestellten Typologie als inter-temporale Synchronisation der Erfahrungsräume, also Angleichung der gegenwärtigen Vergangenheit verschiedener Chronotopoi interpretieren. Ähnlich verhält es sich, wenn bilaterale Schulbuchkommissionen versuchen, die Geschichtsschreibung didaktisch zu harmonisieren. 16 ›Normalisierung‹ dagegen ist ein politisch stark besetzter Terminus aus dem Kalten Krieg. Er stammt zuerst aus dem sowjetischen Sprachgebrauch (Valenta 1984, 128). Zwecks Schaffung des homo sovieticus sollte die Gesellschaft nach marxistisch-leninistischen Vorgaben normalisiert werden (wofür insbesondere in der stalinistischen Zeit nicht vor Massendeportationen und -exekutionen zurückgeschreckt wurde). Abgesehen von jeglicher moralischen Deutung lässt sich also feststellen, dass der Begriff von Anfang an mit Zukunftsperspektiven zu tun hatte. Später wurde er im Rahmen der Détente zwischen Ost und West auf die internationalen Beziehungen angewendet und vom Westen übernommen, der ihn inhaltlich-normativ allerdings ganz anders auffüllte und auf diese Weise zur Mehrdeutigkeit beitrug; noch komplexer wurde der Sachverhalt, als sich die Sowjetunion ab August 1968 eben dieses Wortes bediente, um die Niederschlagung des Prager Frühlings zu bezeichnen. Ob im Ost-West-Dialog 17 oder innerhalb des Ostblocks, ›Normalisierung‹ blieb auf jeden Fall mit Erwartungen verbunden. Normalisierung ist damit ein Versuch inter-temporaler Synchronisation von Erwartungshorizonten.

Das Projekt eines deutsch-französischen Geschichtsbuches für die gymnasiale Oberstufe ist diesbezüglich ein einleuchtender Fall. Deutsche und französische Historiker sind in ihren Veröffentlichungen interessanterweise »archeologisch« vorgegangen, d. h. immer tiefer in die Vergangenheit gedrungen. (Le Quintrec u. Bernlochner 2007; Henri, Le Quintrec u. Geiss 2008; Bendick 2011) 17 Das Abkommen von Dezember 1970 zwischen Bonn und Warschau hieß »Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen«. Außer Art. 1 bezüglich der Oder-Neiße-Linie betreffen die weiteren Dispositionen Pläne für die zukünftige Gestaltung des westdeutsch-polnischen Verhältnisses. (Auswärtiges Amt 1979) 16

218 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

Zeitkonflikte – Versöhnung – Normalisierung

6.

Ausblick: Peacemaking als »pacemaking« im 21. Jahrhundert?

Aus den bisherigen Erwägungen folgt, dass Asynchronien und deren Aufhebung zwecks Friedensstiftung bzw. Konfliktbewältigung das Bestehen von Zeitsouveränität(en) voraussetzen und auf den Umgang damit zurückzuführen sind. Selbst angesichts der Unterscheidungen in eine trans-, intra- oder inter-temporale Perspektive, bestimmt doch die Zeit im jeweiligen chronotopischen Zeit-RaumNormsystem diejenige Variable, die sich politisch am schwersten steuern lässt. Dies wird heutzutage umso deutlicher wahrnehmbar, als dem Politischen die Zeitsouveränität immer schneller entgleitet. Der wirtschaftliche und technologische Globalisierungsprozess drängt die politischen Entscheidungsträger, denn die dominierende Zeitlichkeit der Wirtschaft 18 wirkt sich auch auf die gesellschaftliche Zeit aus, indem sie den Erwartungshorizont der Bürger verkürzt und ihre politische Fehlertoleranz senkt. Somit unterliegt die Politik ebenso der Beschleunigung: Sie muss schnell handeln, d. h. meistens nur noch reagieren; die Legitimität des Politikers basiert immer öfter auf dem Tempo seiner Politik. Die überbeschleunigte, globalisierte Medienwelt setzt auch die internationalen Beziehungen unter Druck: Kriege müssen kurz sein, Friedensprozesse rasch sichtbare Folgen haben. Die Beschleunigung zerdrückt geradezu Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, so dass gegenwärtige Zukunft fast augenblicklich zur gegenwärtigen Vergangenheit mutiert. Politische Ankündigungen werden schon als Leistungen gelobt, bevor sie überhaupt realisiert werden und so genügt es, dass US-Präsident Barack Obama im Juni 2009 in Kairo eine vermeintlich wegweisende Rede über den Frieden in Nahost hält, damit ihn das norwegische Nobelpreiskomitee bereits vier Monate später a priori mit dem Friedensnobelpreis ehrt. »Weil […] die Eigenzeit des Politischen weitgehend beschleunigungsresistent bzw. -unfähig ist, hat die Politik […] gegen Ende des An den Börsen gerät die Zeit ins Rasen, seitdem immer schnellere Rechner Transaktionen innerhalb von Sekunden und sogar Bruchteilen von Sekunden abwickeln. Bezüglich dieses High-Frequence Trading (HFT) siehe Rettberg (2010). Die so genannten »HFT Algo Machines«, die diesen automatisierten Handel ermöglichen, werden seit 2007 immer häufiger verwendet, sodass man sagen kann, dass sich selbst der Zuwachs im Gebrauch dieser Beschleunigungstechnologie beschleunigt. Siehe folgende Animation The Rise of the HFT Machines, http://www.nanex.net/aqck/2804. HTML.

18

219 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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20. Jahrhunderts ihre in der klassischen Moderne unangefochtene Stellung des sozialen Schrittmachers […] verloren« (Rosa 2005, 407; vgl. Bußhoff 2003, 156–171). Damit stellt der deutsche Soziologe Hartmut Rosa klar, dass Politik – auch oder gerade Friedenspolitik – Zeit verlangt. Dies weist außerdem auf das Problem der Zuschreibung von Zeitsouveränität, vor allem jedoch auf das Entgleiten derselben hin; der Staat als bislang dominierender Akteur der internationalen Beziehungen macht immer öfter die Erfahrung von der Erschöpfbarkeit der Zeitsouveränität als Ressource (abgesehen vom Risiko ihres Verlusts als qualitativer Teil des staatlichen souveränen Status). In diesem Zusammenhang gewinnen die Worte Helen Schlegels, jener durchaus visionären Romanfigur aus E. M. Forsters Howards End, besondere Resonanz: This craze for motion has only set in during the last hundred years. It may be followed by a civilisation that won’t be a movement, because it will rest on the earth.

Hundert Jahre später ist der politische Bedarf der (Post-)Moderne nach Entschleunigung größer denn je.

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Christina Schües

Friedenswege in zeitlicher Diskontinuität

»Friede in den Gedanken. Das ist das ersehnte Ziel dessen, der philosophiert«, schreibt Ludwig Wittgenstein kurz nach dem Zweiten Weltkrieg (1994, 511). Philosophieren ist ein Zeitwort. Mit seiner Verwendung plädierte er dafür, die Gedanken zu befrieden, sich Zeit für das Lesen zu nehmen, Langsamkeit zu pflegen, auch »den Geist über bedeutungslose Fragen zu beruhigen«. 1 Diese Bemerkungen von Wittgenstein scheinen sich somit mehr auf die eigene Selbstzufriedenheit zu richten als auf einen Frieden in der Welt. Aber wer so argumentiert, verdeckt die Aufgabe, die Wittgenstein der Philosophie unterstellt (vgl. Vossenkuhl 1995, 318). »Beim Philosophieren muss man in’s alte Chaos hinabsteigen und sich dort wohlfühlen.« (Wittgenstein 1994, 542) Wittgenstein spricht mit Humor über die Dummheit und Verrücktheit der Philosophie; ja er fordert sie sogar, denn »wenn Menschen nicht manchmal Dummheiten machen, geschähe überhaupt nichts Gescheites.« (1994, 521) Diese Zitate sprechen für eine intensive Langsamkeit, die Mut hat zu Anläufen, zum (scheinbar) Dummen, zur Einsicht darin, »was vor den Augen liegt« (1994, 539). Wittgenstein geht es nicht um inhaltlich von der Welt entrückte Gedanken oder um die Selbstzufriedenheit der Philosophen. Schon gar nicht würde er einen Dualismus zwischen den Gedanken und der Welt vertreten. Vielmehr sind die Gedanken verschränkt mit der Welt, in der die Philosophen leben, deren Aufgabe und Bemühungen auf den Frieden gerichtet sind. Frieden ist ein Ziel, das der Philosophierende hat, weil ihm das festgefahrene Denken, die wissenschaftlichen Vorurteile und das schnelle Schließen zuwider sind. Zufriedenheit im Philosophieren kann es mit Wittgenstein kaum geben, denn Philosophie ist darauf ausgerichtet, nicht nur die Sprache, ihre SelbstUnd wer bedeutungslose Fragen nicht kennt, braucht die Philosophie nicht, so fährt Wittgenstein (1997) in Denkbewegungen fort, 39 f.

1

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Friedenswege in zeitlicher Diskontinuität

verständlichkeiten und die Regelhaftigkeit des Deutens zu untersuchen, sondern auch die Bezugsverhältnisse der Menschen zu sich selbst, zu Anderen und zur Welt. Somit bleibt dieses Ziel, nämlich die Philosophie auf einen Frieden auszurichten, stets lebendig. Widersacher des philosophischen Denkens ist die Angst vor Widersprüchen, Dummheit oder Passivität. Denn sie treibt Denken in die Nähe der Totalität und unterwirft es dem Selbstzwang des Deduzierens (vgl. Arendt 1986, 711). 2 Die Tatsache, dass die Philosophie traditionell durchaus der Totalität und der Einheit verpflichtet war und ihre Gedanken auch auf den Krieg ausgerichtet hat, entbindet sie nicht von den Vorbehalten, die einige Autorinnen und Autoren des 20. Jahrhunderts gegen diese Richtungen geäußert haben. Wittgensteins Vorbehalt wäre, dass Philosophen der abendländischen Metaphysik gerade nicht ins Chaos herabgestiegen sind, nicht Neuanfänge gewagt haben. Stattdessen ließen sie sich, wie etwa auch Martin Heidegger und Emmanuel Levinas kritisieren, durch ein Festhalten an Linearitäts-, Einheits- oder Jenseitsvorstellungen lediglich »beruhigen« (Heidegger 1979, 437; vgl. Levinas 1986, 70 f.; 2014). 3 Aber das hieße, sich in eine Logik des Krieges einsperren zu lassen und an der Aufgabe des Philosophierens vorbeizugehen. Das Ziel des Philosophierens im Frieden zu sehen, bedeutet auch, dass Frieden gedacht werden muss, um ihn zu erreichen. Er fällt nicht einfach vom Himmel, er ist ein Ziel in der Zukunft. Aber nicht jede Vorstellung von Zukunft ist diesem Ziel dienlich. Die Frage nach der Zeit des Friedens muss gestellt werden, um eine Konzeption der Zukunft, in der Frieden möglich ist, zu denken. Philosophie als Friedenstheorie hat ein Ziel. Daraus könnte die Forderung nach einem instrumentellen Denken abgeleitet werden. Ein Mittel-Zweck-Denken aber würde die einem Frieden zugrunde liegende Zeitstruktur verkennen. Deshalb wird in diesem Beitrag ein instrumentelles konsequenzialistisches Denken von einem reflektierenden Denken unterschieden. Arendts Bemerkungen über den Selbstzwang des Deduzierens sowie über das instrumentelle Handeln bedeuten nicht, dass diese prinzipiell schlecht oder unerwünscht seien. Sie sollten lediglich reserviert bleiben für den Bereich des Herstellens, in dem z. B. Dinge gebaut oder Regelsysteme, die vorbestimmten Parametern folgen, entwickelt werden. 3 Eine ähnliche Sorge formulierte Levinas auch in Bezug auf den Glauben: »Die Fragen in Bezug auf Gott lassen sich nicht durch Antworten lösen, in denen das Fragen nicht mehr widerhallt, in denen es vollständig zur Ruhe kommt.« (Levinas 1985, 14) 2

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Christina Schües

Das reflektierende Denken bricht aus einer linearen Zeitstruktur, die dem konsequenzialistischen Denken wesentlich ist, aus. Somit wird – besonders in Zeiten der Krise – das Denken zu einer politischen Kategorie. 4 Gleichermaßen ist es das Vermögen der politischen Tätigkeiten des Handelns und Sprechens, die Hannah Arendt (1987) als konstituierend für den politischen Raum entfaltet, die Kontinuität von Routine und Reaktionsfolgen zu unterbrechen. Denn Handeln und Sprechen setzen Neuanfänge dort, wo Menschen nicht einfach reagieren, sondern von sich aus anfangen und damit in die Prozesshaftigkeit der notwendigen Folge – wer A sagt, muss auch B sagen – eingreifen (Arendt 1986, 723). Anfänge würden wiederum ins Leere laufen, wenn nicht Andere anknüpfen; gleichermaßen wäre ein Handeln ohne ein Sprechen unverständlich und ein Sprechen ohne Handeln wirr (Arendt 1987, 173, 180 f., 168–170). Eine Friedenstheorie braucht das reflektierende Denken und das anfangende und weiterführende Denken, wie im letzten Teil dieses Beitrages gezeigt werden soll. Wenn Frieden nicht gedacht werden kann, wird auch ein friedensstiftendes Handeln und Sprechen zweifelhaft. Die Frage nach der Zeit des Friedens richtet sich auf die Zeit im Frieden, also auf Zeiterfahrungen und -strukturen in Zeiten des Friedens. Und sie richtet sich auf den Weg hin zum Frieden, der selbst bereits ein Friedensweg ist. Es kann nicht so getan werden, als gäbe es einen deutlichen Beginn des Friedens. Ein Friedensweg kann gedacht, aber vielleicht noch nicht verortet werden; er kann angefangen, aber noch nicht gegangen worden sein, er dauert als endloses Bemühen an. 5 Frieden setzt eine andere Zeitstruktur voraus als etwa der Krieg, Terror oder die Waffenruhe. 6 Hier stimme ich Heideggers Versuch, Philosophie und Denken von einander zu trennen, (Heidegger 1988, 62) nicht zu, sondern bleibe bei der prinzipiellen Denkfähigkeit der Menschen und bei Arendts Verdikt: Das Kerngeschäft der Philosophie ist, über etwas nachzudenken, so wie das Kerngeschäft des Politischen ohne das »gefährliche Denken« eigentlich nicht denkbar sein sollte (Arendt 1989, 176). Denken ist gefährlich, da keine Dogmen vor ihm ›sicher‹ sind und es erbarmungslos ihre Voraussetzungen als Illusionen enthüllt – damit ›gefährdet‹ es strategisches Gehabe. 5 Friedenswege werden etwa im Band Denkwege des Friedens. Aporien und Perspektiven (hg. v. Alfred Hirsch und Pascal Delhom, 2007) besprochen. 6 Wer nach den Pariser Attentaten des 13. 11. 2015, bei denen 130 Menschen starben und viele verletzt wurden, wie der französische Präsident Hollande den Terroristen den Krieg erklärt, der wertet nicht nur den IS als Staat auf, er verhindert auch, dass Kriminelle wie Kriminelle behandelt werden. Die Vokabel »Krieg« bedeutet, dass wir die Gefangenen in ein Kriegsgefangenenlager verbringen müssen und im Anschluss 4

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Friedenswege in zeitlicher Diskontinuität

Zeit als Erfahrungsstruktur zu verstehen, setzt voraus, dass der subjektive Standort und die Perspektive einer Person oder einer Gruppe mitgedacht werden, um dann zu fragen, wie ihr Denken und Handeln zeitlich strukturiert, rhythmisiert sind und wie die Menschen »ticken« (vgl. Schües et al. 2011). Kleben sie zum Beispiel an der Vergangenheit? Wie schnell werden Dinge erledigt und in welcher zeitlichen Logik? Wollen sie eine andere Zukunft? Welche Zukunft wird von wem und warum angestrebt? Wie sind Zeitrhythmen etabliert? Welcher Zeitlogik ist ein militärisches Kalkül verhaftet? Menschen sind zeitsensibel, verletzbar und höchst beeinflussbar. Sie sind nicht nur körperlich verwundbar und seelisch empfindsam, sondern auch durch Zeitvorgaben und Routinen. Die Forderung, Dinge gleichzeitig zu erledigen, versetzt sie in Stress; die Vorgabe der permanenten Wiederholung von gleichen Handgriffen lähmt und stumpft sie ab. Warten, Verabredungen, Zeitvorgaben, Vorstellungen von Zeit sind kulturell sehr unterschiedlich verankert und werden unterschiedlich wahrgenommen. Diese Zeitsensibilität ist bei den unterschiedlichsten Aktionen von peace building, Friedensabkommen oder -forderungen mit zu bedenken. 7 In diesem Beitrag geht es also um ein Verhältnisdenken und um Denkverhältnisse, die dem Frieden gemäß sind und die Erfahrungen im Frieden ermöglichen. Es geht auch darum, wie eine Zukunft des Friedens als Friedensweg gedacht werden kann. Wie kann sich eine Friedensphilosophie auf ein Ziel hin ausrichten, ohne einem totalitädes »Konfliktes« wieder freilassen. Terroristen aber können strafrechtlich verfolgt und wie Kriminelle behandelt werden (Brzoska 2015). Brzoska warnt davor, angesichts der Terroranschläge von Krieg zu sprechen. Zu einer ganz anderen Gegenreaktion rief Salman Rushdie auf: »Die beste Rache ist Frieden.« Sein Aufruf ist, sich nicht von einem freiheitlichen Lebensstil abbringen zu lassen. »Leben Sie Ihr Leben! Nehmen Sie die U-Bahn, essen Sie in Restaurants, besuchen Sie Konzerte.« (Rushdie 2015) Rache bedeutet für ihn gerade nicht, der Logik des Gegners zu folgen. Die jeweiligen Zeiterfahrungen von Terror und Krieg sind sehr unterschiedlich. Für diejenigen, die Terror ausgesetzt sind, kommt er wie aus einem Nichts oder – falls es Warnungen gab – aus einer diffusen Stimmung des Unvorbereitetseins. Erst nachträglich wird ein Terrorakt als solcher bestimmt. Für Terroristen gilt es, vor dem terroristischen Akt im Geheimen zu agieren. Krieg wird vorbereitet und verkündet. Das heißt nicht notwendig, dass sich die betroffene Bevölkerung gut vorbereiten kann. »Kriege werden gemacht«, sie haben ihre spezifische Zeitspanne vor ihrem Beginn (Schmidt/Schües 1997, 175; vgl. auch Bojanić in diesem Band). 7 Siehe den Beitrag von Distler in diesem Band.

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Christina Schües

ren Denken zu verfallen? Eine erste Antwort ist bereits durch die bisherigen Bemerkungen vorbereitet. Frieden als Ziel bestimmt den Friedensweg. Frieden kann kein Ziel oder kein Weg außerhalb des menschlichen Denkens und Handelns sein. Gleichwohl ist ein Friedensweg nur innerhalb eines Denkens und Handelns zu finden, die mitmenschliche Beziehungen in Pluralität als ihre Grundlage akzeptieren. Mitmenschliche Beziehungen sind nicht ohne Pluralität zu denken, denn erstens sind alle Menschen grundsätzlich verschieden von denen, die gelebt haben, derzeitig leben oder leben werden, und zweitens ist Pluralität eine Voraussetzung von den Tätigkeiten, wie etwa Handeln und Sprechen, in denen Beziehungen angefangen und weitergeführt werden. Wird die einzelne Person in die Masse von Gleichen einsortiert, dann wird genau dieses Auf-einander-zugehen als Unterschiedliche mit dem Ziel der politischen Gleichheit unmöglich. 8 Wer den Frieden als Ziel setzt, wird versuchen, ihm gedanklich Sinn in der Zukunft zu verleihen und zwar so, dass die Distanz zur scheinbar äußerlichen Gestalt des Friedens als Ziel in der Ferne im Denken und Handeln aufgehoben wird. Zeittheorie und Friedenssinn gehören zusammen. Dieses Zusammendenken ist dann ein Denken für die Zukunft. Diese These setzt allerdings die Klärung der Frage voraus, nach welchem Zeitmodell die Zukunft konstituiert wird. Unterschiedliche zeitliche Konzeptionen des Friedens bestimmen, wie er aufgefasst, wie er erfahren wird und ob er erreicht oder gestaltet werden kann. Der Frieden als Erfahrung, als Ruhe und Dauer oder die teleologische Vorstellung des Friedens sind metaphysische Auffassungen, die den historischen Hintergrund, aber auch Abgrenzungsbewegungen heutiger Friedensauffassungen bilden. Diese Überlegungen werden im ersten Teil dieses Beitrages vorgestellt. Im zweiten Abschnitt diskutiere ich Rechtfertigungsstrategien von präventiven Eingriffen in die Gegenwart, die die Prognose als Zugang zur Zukunft nutzen. Hierbei zeigt sich, dass die Prävention zeitlich unterschiedlich gedacht werden kann. Besonders deutlich wird der unterschiedliche Status der Zukunft im Krieg bzw. im Frieden angesichts des Todes. Nach diesem dritten Teil möchte ich schließlich den Frieden jenseits der Totalität thematisieren. Dass hier der Autor Emmanuel Levinas und die Autorin Hannah Arendt Paten sind, wird nicht überraschen. 8

Diese Einschätzung ist natürlich Hannah Arendt (1987) geschuldet.

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Friedenswege in zeitlicher Diskontinuität

Insgesamt hat die Philosophie im Sinne einer Friedenstheorie die Aufgabe, unterschiedliche Bedingungen, wie Frieden vom (imaginierten) Frieden her zu denken ist, aufzuzeigen. Im Zusammenhang einer Zeitphilosophie kann sie klärend zeigen, dass ein Modell der Diskontinuität, das den Augenblick und die Umkehrung zu berücksichtigen vermag, für die Initiative einer Friedensstiftung passend ist. Das heißt wahrlich nicht, dass die Kontinuität im Sinne der Anknüpfung an den Gedanken und Handlungen anderer falsch wäre.

1.

Friedenskonzeptionen in der Philosophiegeschichte

Die abendländische Philosophiegeschichte hat unterschiedliche Friedensverständnisse hervorgebracht. Nicht die Lebendigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen, sondern eher die Ruhe und die Stabilität, standen in der Philosophiegeschichte für den Frieden. Die folgenden drei metaphysischen Zeitmodelle führen zu Friedensentwürfen, die den Frieden außerhalb des Aufgabenbereichs der Menschen verorten.

Der Frieden ist zeitlos Vorstellungen von Frieden reichen Jahrtausende zurück. In der griechischen Antike wurde der Frieden entsprechend einer kosmologischen harmonischen Ordnung verstanden. Als Vertreter der römischen Antike propagierte Augustinus die theologische Vorstellung des Friedens als Ruhe der Ordnung. In der Neuzeit präsentierte etwa Thomas Hobbes die Vorstellung eines stabilen Staates, der in der Figur des Leviathan metaphorisiert wurde. Jean-Jacques Rousseau regte mit dem heuristischen Entwurf eines durch Zeitlosigkeit geprägten sogenannten Naturzustands zur Kritik an der modernen Zivilisation an. 9 Und Immanuel Kant thematisierte einen »Ewigen Frieden« als besondere Aufgabe der Menschen. Erst mit dieser Forderung wurde die Herstellung eines Friedens in die Hände der Menschen gelegt. Bis in das 18. Jahrhundert hinein privilegierte die abendländische Philosophie die Vorstellung des Friedens im Sinne einer zeitlichen Ordnung, der Ruhe, Dauer und Stabilität wesentlich ist.

9

Siehe den Beitrag von Hirsch in diesem Band.

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Christina Schües

Teleologische Auffassung des Friedens Auffassungen, die einen Frieden zum Ziel haben, sind sehr verschieden. Je nachdem, wie die Teleologie im Verhältnis zu den Menschen, der Geschichte und der Zeit verstanden wird, werden Denk- und Handlungsweisen unterschiedlich legitimiert. Als Immanuel Kant im 18. Jahrhundert nach der Ewigkeit fragte, nach diesem ewigen, wahren Frieden, unterschied er ihn von vorübergehenden Friedenszeiten, in denen er bloß einen Waffenstillstand, und damit eine Fortdauer des kriegerischen Naturzustands sah. Kant hat als einer der ersten Philosophen Frieden nicht als Natur oder Gott gegebenen Zustand verstanden, sondern als Aufgabe. 10 Es ist eine Aufgabe, die den »ewigen Frieden« zum Ziel hat. In der Logik der Teleologie, die einhergeht mit der Idee einer Fortschrittsgeschichte, wird der Frieden nicht einfach durch die Übereinkunft von Menschen oder Staaten herbeigeführt. Vielmehr wird er als Höhepunkt der menschlichen Geschichte, den es zu erreichen gilt, gesehen.

Logik der teleologischen Selbsterhöhung Der Einfluss von Kants Vorstellung, dass der Friede auch als ein angestrebter Höhepunkt der Geschichte verstanden werden kann, hat in unterschiedlichen politischen und außenpolitischen Handlungsweisen gewirkt. Interessant ist hier, dass ein teleologisches Handeln eine bestimmte Logik der Selbsterhöhung voraussetzt. Die Logik einer teleologischen Erhöhung schreibt vor, dass diejenigen, die sich einem Streben nach der Erhöhung der menschlichen Geschichte unterwerfen, sich gleichzeitig als Repräsentanten der Zukunft und als Vorhut des Friedens von morgen verstehen. Der Mensch oder der Staat, der von dieser Logik getragen wird, muss Feinde erfinden, wo keine sind, und muss sich entsprechend als Repräsentant der Zukunft in der Gegenwart sehen, die folglich jetzt das Recht gibt zu tun, was erst morgen retrospektiv gerechtfertigt werden kann. Wer in dieser Weise an die Kant’sche Fortschrittsgeschichte glaubt, behauptet für sich, nicht nur die Zukunft zu sehen, sondern auch die Zukunft zu sein. Diese ontologische Figur legitimiert, fordert sogar auf, Präventivkriege zu Siehe den Beitrag von Delhom in diesem Band. Er diskutiert allerdings andere Kriterien und geht von einem Paradigmenwechsel bereits bei Hobbes aus.

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führen, bevor Andere den vorgezeichneten Gang unterbrechen und die Zukunft auf ihre Weise gestalten. 11 Von daher hat Kants metaphysische Friedenstheorie Ähnlichkeiten mit einigen nach-metaphysischen Auffassungen, die Präventivkriege mit der gleichen »zukunftsweisenden« Logik, die die Möglichkeit retrospektiver Legitimation voraussetzt, befürworten. Tote sind in dieser Logik lediglich nicht »betrauerbare Leben« (Butler 2010); es sind Kollateralschäden (die nicht gezählt werden müssen) auf dem vorgezeichneten Weg in die Zukunft. Ein Präventivkrieg erscheint für eine mächtige Nation als rechtmäßig, weil sie sich selbst als maßgeblicher Akteur der Geschichte versteht. In ihrer Vorstellung ergibt sich somit die Rechtfertigung für andere erst nachträglich – oder vielleicht auch gar nicht. Wie diese Art der Logik, der »weitsichtigen Logik«, die Krieg aus der Perspektive des anzustrebenden Höhepunktes der Geschichte rechtfertigt, real funktioniert, zeigt die Aussage von Madeleine Albright, damalige Außenministerin zur Amtszeit des Präsidenten Bill Clinton. In einer Ansprache im Februar 1998, während einer – nachträglich betrachtet – scheinbar eher ruhigen Periode amerikanischer Außenpolitik, rechtfertigte sie einen Raketenangriff auf den Irak mit Kant schreibt zum Präventivkrieg: »Im natürlichen Zustande der Staaten ist das Recht zum Kriege (zu Hostilitäten) die erlaubte Art, wodurch ein Staat sein Recht gegen einen anderen Staat verfolgt, nämlich, wenn er von diesem sich lädiert glaubt, […] Hierzu (zur Bedrohung) gehört entweder eine zuerst vorgenommene Zurüstung, worauf sich das Recht des Zuvorkommens (ius praeventionis) gründet, oder auch bloß die fürchterlich (durch Ländererwerbung) anwachsende Macht (potentia tremenda) eines anderen Staates (1977a, § 56). Einige Abschnitte später erklärt Kant, dass »der Sieger die Bedingungen [macht], über die mit dem Besiegten übereinzukommen und zum Friedensschluß zu gelangen ist« (ebd., § 58). Hier geht es um die nicht einzufordernde Erstattung der Kriegskosten und die Auswechselung der Gefangenen. Die Frage der Legitimation stellt sich im Zusammenhang der Ungerechtigkeit, die den Naturzustand prägt (§ 60). Weil »das Recht eines Staats gegen einen ungerechten Feind keine Grenzen [hat], [… darf sich der Staat] zwar nicht aller Mittel, aber doch der an sich zulässigen in dem Maße bedienen, um das Seine zu behaupten.« Wie ist nun ein ungerechter Feind auszumachen? Entsprechend den Prämissen der Vernunft kann Kant auch das Völkerrecht nur so ausrichten: »Was ist aber nun nach Begriffen des Völkerrechts, in welchem […] ein jeder Staat in seiner eigenen Sache Richter ist, ein ungerechter Feind? Es ist derjenige, dessen öffentlich (sei es wörtlich oder tätlich) geäußerter Wille eine Maxime verrät, nach welcher, wenn sie zur allgemeinen Regel gemacht würde, kein Friedenszustand unter Völkern möglich, sondern der Naturzustand verewigt werden müßte.« (Ebd., § 60) Somit leitet sich bei Kant die Legitimation zum Krieg nicht direkt vom Zweck des Friedens ab, so wie es eher Augustinus vertreten hat, sondern von der Setzung eines ungerechten Feindes, der als Bedrohung auftritt.

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folgenden Worten: »If we have to use force, it is because we are America! We are the indispensable nation. We stand tall, and we see further into the future.« 12 Die Vereinigten Staaten von Amerika besetzen hier den Platz, den Kant damals Europa gab. Durch Kants Schrift Zum ewigen Frieden waren die unbewussten Motive, die die Geschichte antreiben, bewusst geworden. Nun trat gleichermaßen diese Nation, die sich selbst schon seit ihrer Gründung als das Land der Zukunft versteht, als die Zukunft der Menschheit auf. Ihre Handlungen, so die oft explizit gemachte Forderung, sind deshalb nicht von anderen Nationen zu beurteilen. Und die Anderen sind nicht in der Lage, vorher zu urteilen, denn ein Urteil kommt aus der imaginierten ewigen Zukunft, die eine Nation bzw. Europa bereits in sich trägt. 13 Aber wenn Friedensforschung ihre Rechtfertigung aus einer imaginierten Zukunft holt, einem Jenseits des Gegenwärtigen und dessen, was vergegenwärtigt werden kann, und wenn sie die Ewigkeit, als das »Andere der Zeitlichkeit«, als ihren Leitgedanken pflegt, dann wären wohl friedenswissenschaftliche Perspektiven, wie auch gesellschafts-, sozial-, kulturwissenschaftliche Perspektiven, völlig überfordert, wenn sie mehr als einen kurzfristigen Frieden entwerfen wollten. Kant hat selbst in der Metaphysik der Sitten konstatiert, dass der ewige Frieden, »freilich eine unausführbare Idee« sei (Kant 1977a, § 61). Außerdem würde der Frieden auf Jenseitsvorstellungen und einer Inszenierung maßloser Selbsterhöhung basieren, die wahrlich eher zu kriegstreiberischen Selbstlegitimierungen führen als zu »Friedensgesellschaften« (Hirsch/Delhom 2015). Folglich muss die Aufgabe des Friedens auf den innerzeitigen Frieden beschränkt werden. 14 Nun könnte aber eingewendet werden, dass nicht ontologisch, Mitschnitt der NBC’s Today Show. 19. 02. 1998. Zitiert von Paul Street (2005). Vgl. zu dieser Argumentation einen Beitrag von Bernasconi (2007). Zur Gegenposition: Levinas (2007) hat die Argumentation umgedreht: Frieden und Gerechtigkeit liegen am Ursprung, nicht am Ende der Geschichte, womit die Konzeption des Anderen der Zeit gebrochen wäre, und Zeit die Beziehung zum anderen begründet; mehr noch: sie ist diese Beziehung (vgl. Levinas 2003, 17 ff.). Eine aus der Zukunft her entwickelte Rechtfertigungsstrategie wäre unmöglich, Präventionskonzeptionen auch. 14 Und wenn an Kants Entwurf einer Friedensschrift mit einem breit ausgeführten Diskurs vertragstheoretischer Modelle angeknüpft wird, dann werden allerdings meistens die empirisch konkreten Dimensionen und ihre zeitlichen Ausgestaltungen überspielt. Diese Herangehensweise ist nicht nur theoretisch verkürzt, sondern auch um Dimensionen verkürzt, die sich gerade im Miteinander ergeben, das nicht notwendig und ausschließlich vertraglich fixiert ist (vgl. Delhom 2015). 12 13

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sondern erkenntnistheoretisch die Zukunft prognostizierbar sein kann. Eine Prognose legitimierte dann eine präventive Maßnahme in der Gegenwart, ohne die Selbsterhöhung des eigenen Seins vorauszusetzen.

2.

Legitimation durch die Zukunft – Prognosen und Prävention

Wie Zeit erfahren wird, hängt von vielen Umständen ab. Wie die Gegenwart in Bezug auf die Zukunft erfahren wird, hängt von den äußeren Umständen der Gefährdungen, aber auch von der Logik des Denkens ab. Ein Sicherheitsdenken ist darauf ausgerichtet, Gefahren und Risiken zu entdecken und zu vermeiden. 15 Ihre Entdeckung durch Prognosen oder andere mehr oder weniger glaubwürdige Mittel der Vorhersage, Erfahrung oder Wissen aus der Vergangenheit, beruht auf einer Zeitkonzeption der Linearität. Die lineare Zeitkonzeption, die u. a. Immanuel Kant in der »Transzendentalen Ästhetik« der Kritik der reinen Vernunft als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrungen beschreibt, wird im Rekurs auf die endliche Grundverfassung menschlicher Erkenntnis im Sinne der konsekutiven Anordnung von Wahrnehmungsgegenständen konstituiert. Sie wird im Vokabular »früher«, »gleichzeitig« und »später« dargestellt und versteht Zeit in sukzessiven Abschnitten und Phasen, in denen die Wirklichkeit in der Gegenwart als Folge aus der Vergangenheit entfaltet wird. Gesellschaftspolitisch thematisierten, etwa in den 1970er Jahren, einige Autoren den Zusammenhang von Friedensentwürfen und Zukunftserwartung in einer technischen Welt: Der Bildungs- und Friedenstheoretiker Georg Picht benannte die Prognose, Utopie und Planung als Grundformen, mit denen sich die Zukunft vergegenwärtigen lässt (Picht 1966; 1968). Bereits Reinhart Koselleck hatte 1979 einsichtig bemerkt, dass eine Prognose stellen oft auch heißt, die GeKaufmann (1995, 72) nennt Risiken »domestizierte Gefährdungen.« Allerdings: Die behaupteten Risiken der Atomkraft, der Gentechnologie oder der Umweltbelastung sind in diesem Sinne gerade keine Risiken, sondern Gefahren, denn das Bedrohliche an ihnen besteht ja gerade in der Nichtkontrollierbarkeit ihrer Folgen. Sie als Risiken zu bezeichnen, wie der vorherrschende Sprachgebrauch suggeriert, bedeutet eine Verharmlosung und gleichzeitig eine Verschleierung der Ernsthaftigkeit der Probleme.« (77)

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genwartssituation zu verändern (29 f.). Die Diskussionen der 1970er und 1980er-Jahre belegen immer wieder, inwiefern die Prognose bereits ein Machtinstrument ist, das die Bindungskraft von Verträgen, Versprechen oder Handlungsabsichten zu sprengen vermag. Beispiele für Eingriffe in die gegenwärtige Wirklichkeit sind Prognosen über Gefahren und die deshalb installierten Überwachungskameras und Sicherheitskontrollen. Auch die militärische Grenzsicherung oder die Stationierung von Waffen sind Maßnahmen, die zur Prävention vor Gefährdungen der eigenen Sicherheit eingesetzt werden. Prognosen sind oft verknüpft mit Präventivmaßnahmen, die aufgrund eines in die Zukunft vorausgesehenen Ereignisses in die Gegenwartshandlungen eingreifen. Politisch betrachtet wird unsere Gesellschaft in der Zukunft immer mehr zu einer Präventionsgesellschaft, wie bereits auch in einigen Medien bemerkt wurde. 16 Die Etablierung des Gewichts von Prognosen und die hieraus abgeleiteten Präventionsmaßnahmen betreffen und transformieren, so scheint es, alle Bereiche des Lebens, so etwa auch die medizinische Praxis. Sah die medizinische Therapie bislang die Diagnose von Symptomen nach dem Ausbruch einer Krankheit als ihren Einsatz vor, so verschiebt sich nun die Pflicht hin zum medizinischen Eingriff als verantwortungsvolle Zukunftsfürsorge bei prädikativ diagnostizierter Krankheitsdisposition. Prävention beruht auf prognostischen Untersuchungen, die ihrerseits bestimmten Daten und Kriterien unterliegen, etwa bei der Gendiagnostik, die statistische Wahrscheinlichkeiten in die Zukunft hochrechnet. Dieser Beitrag gilt nicht der Sichtbarmachung einer medizinischen Praxis, die auf Prognose und Prävention beruht. Allerdings sehe ich die derzeitigen Tendenzen in der medizinischen Praxis ebenso als Vorlage für militärische Strategien. Basierend auf einem linearen Zeitmodell geht es bei der Technikfolgenbewertung 17 um eine Chancen-Risiken-Analyse mit der Funktion, Entscheidungshilfen für die Gegenwart bereitzustellen. Unter zeittheoretischer (auch raumtheoretischer) Perspektive der Kontinuität von Zeit als Kausalität wird die raum-zeitliche Trennung von Ursache in der Gegenwart und Wirkung (Gewinn oder Schaden) in der

»Lernen, mit Risiken umzugehen« titelte die taz das Interview mit dem Theologen und Ethiker Peter Dabrock (2015). Er behauptet, dass wir auf dem Weg zur Präventionsgesellschaft seien und aus der Chance eine Pflicht zur Prophylaxe werde. 17 Technikfolgenabschätzung (TA) wird unterschieden in Technikfolgenforschung und Technikfolgenbewertung (z. B. Mobilfunk und die Frage der Strahlung). 16

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Zukunft angenommen. 18 Aufgrund dieser heute häufig extremen Weitung von Ursache- und Wirkungszusammenhang, nicht nur bei der Atomkraft, auch schon bei militärischen Einsätzen, besteht das Risiko, durch unerwartete und unerwünschte Effekte in der Zukunft überrascht zu werden. Die immer konfliktreicheren militärischen Einsätze und ihre unvorhergesehenen zeitlichen Verlängerungen, etwa in Afghanistan, stützen diese Beobachtung. Die Präventionspraxis basiert auf der Vorstellung eines abgeleiteten Zukunftsszenarios, auf dessen Boden Orientierungsangebote für heute gefunden werden können. Armin Grunwald nennt diesen Weg über die Zukunft eine »Umwegargumentation« (2007, 953). Der Rekurs auf die Zukunft setzt die Unterscheidung voraus, ob die Zukunft als gestaltbar oder als nicht gestaltbar gedacht wird. Wird die Zukunft als gestaltbar eingeschätzt, eine Überzeugung derjenigen, die nach dem »gelingenden Leben« oder »guten Leben« streben, dann werden die Zukunftsvorstellungen, egal ob sie auf Prognosen, Zielvorstellungen oder Visionen beruhen, Entscheidungshilfen und Handlungsaufforderungen für die Gegenwart enthalten. Der Glaube an die Prognose zur Legitimation einer Präventionshandlung basiert auf einem konsequenzialistischen Ansatz des Zeitdenkens. Die Beziehung zur Zukunft wird über Prognosen, Planungen, auch Zielvorstellungen in der Gegenwart gefunden. Die Zukunft als berechnete, geplante, imaginierte ist näher gebracht und wirkt über Rückbezüge, wie Präventionsmaßnahmen, auf das Handeln in der Gegenwart. Die Verstrickung von Prognose und Prävention wirft für die Frage des Friedens verschiedene Probleme auf, die unterschiedlich zu bewerten sind: Einerseits gibt es die Gruppe der Probleme, die im Zusammenhang einer Logik des Krieges zu finden sind. Andererseits scheinen Probleme auf, die mit dem Ausbruch aus dieser Logik und der Neufindung eines Weges für und mit Anderen zu tun hat. Zuerst gehe ich auf die erste Problemgruppe ein, dann auf die zweite. Genannt wurden bereits die möglicherweise illegitimen Eingriffe in die Gegenwart. Auch die Kriterien, die eine Prognose stützen, und die Argumente, die eine Prävention fordern, können bezweifelt werden. Aber noch schwerer wiegt, dass eine Friedenstheorie, die in der Logik des Krieges bleibt und die Vermeidung des Krieges und des Todes vor Augen hat, nicht weiß, wie sie den Frieden gestalten könnFranz-Xaver Kaufmann spricht hier von Risikoerzeugung (1995, 72). Risiko: griech. »risa«: Wurzel, lat. risco: zurückführen, Umschiffen einer Klippe.

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te. Der Krieg erzeugt seine eigene Logik, die letztendlich nicht darauf abzielt, einen Konflikt zu lösen. Eher richten sich die in dieser Logik wirkenden Handlungszwänge und Prozesse rückwärts gewandt auf die Beseitigung der Ursachen, die (vermeintlich) zum Krieg geführt haben, und auf die Vernichtung des Feindes selbst. Allerdings gehört es gleichermaßen zur Eigentümlichkeit der Logik des Krieges, dass die Feinde, also diejenigen, die als Feinde ›gesehen‹ werden, nicht nur bekämpft werden. Vielmehr werden die als feindlich gegenüberstehenden Seiten durch die Befeuerung des Kampfes jeweils einander noch mehr als Feinde hervorbringen. Auch dadurch werden noch mehr Menschen getötet oder verletzt. Eine Logik des Krieges darf (im Sinne ihrer inhärenten Norm) keine Zweifel über ihre eigenen Gesetzlichkeiten, ihre Sach- und Handlungszwänge haben. Ihre Zeitlichkeit ist linear, von daher, dass sie sich reaktiv innerhalb ihres Prozesses und Handelns pragmatisch und nicht politisch orientiert. Eine politische Orientierung würde ein Innehalten, die Suche nach Ursachen, einen Einbezug von Alternativen und vor allem die Beziehung und Kommunikation nahelegen. Somit bedeutet eine Kriegslogik immer auch eine Entpolitisierung, die auf Gewinn, Kontrolle, Sicherheit und Souveränität aus ist und Tod, Abhängigkeit, Verlust oder Unsicherheit zu vermeiden sucht. Die Vokabel der Freiheit bleibt in der Rhetorik des Krieges ein Lippenbekenntnis (vgl. Schües 2007). In dieser Logik gedeiht auch das 2010 zum Unwort des Jahres gekürte Adjektiv »alternativlos«. Der Politikwissenschaftler und Kriegsursachenforscher Herbert Münkler verwies 2009 auf die Wichtigkeit der Deliberation und kritisiert, was mit dem Begriff der Alternativlosigkeit Menschen aufgedrängt werden soll. »Das ist das Vortragen von Sachzwang und Zeitdruck, indem einem im Prinzip nichts anderes übrig bleibe, als so zu agieren, wie man agiere. Das widerspricht aber eigentlich den Grundprinzipien von Politik und Demokratie, nämlich zu deliberieren, um auf der Grundlage des Nachdenkens, des Reflektierens, des Erwägens von Alternativen dann eine Entscheidung zu treffen. Wenn alles alternativlos ist, dann schnellt man sozusagen zurück auf die Position eines Unternehmensmanagers oder eines Verwaltungsbeamten. Politik wäre aber eigentlich ein Drittes und davon zu unterscheiden.« (Münkler 2009) Somit verweist eine zweite Problemgruppe auf einen Weg innerhalb der Politik. Diese zweite Problemgruppe hat mit der Frage zu tun, wie aus einer Logik des Krieges, in der eine Spirale der Gewalt eingebettet ist, 236 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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ausgebrochen werden kann. Zu dieser Frage kommt es, weil die Prognose getroffen wurde, dass – wenn man den gleichen Weg fortsetzen würde – dieser dann weiterhin Gewalt oder Krieg befördere. Somit würde die Einsicht, dass die Präventionsschritte den Weg der Kontinuität verlassen müssen, eine Bedingung für die Frage nach Alternativen sein. Dazu gehört auch die Frage, wie Mitglieder einer Gesellschaft der Anziehungskraft der Gewalt widerstehen und einen alternativen Weg für sich finden können. Auch diese Seite gehört zur Prävention; nämlich die Prävention von weiterer Gewalt, aber nicht durch Einsperren, Kontrolle oder Gegengewalt, sondern durch das Aufzeigen alternativer Wege. Eine Alternative, das Aufzeigen anderer Möglichkeiten, ist letztendlich die Grundlage persönlicher Entscheidungen und politischer Handlungsfähigkeit innerhalb von Demokratien. Ganz klassisch können pädagogische aufklärerische Versuche im Sinne »Wir müssen reden!« erfolgen. Aber ob das Projekt der Aufklärung des »Redens« wirkungsmächtig ist, wird nie wirklich zu entscheiden sein.

3.

Die Zukunft im Krieg: Der Tod

Die unterschiedlichen Zeitverständnisse im Krieg und Frieden werden besonders deutlich in ihrem Verhältnis zum Tod. Krieg bedeutet Zerstörung und Tod. Die Zeit des Krieges interpretiert Emmanuel Levinas als die Tatsache des »Noch-Nicht«; das Noch-Nicht ist eine Weise, gegen den »Tod zu sein, ein Rückzug vom Tod inmitten seines unerbitterlichen Kommens« (2014, 325). Folglich erkennt man im Krieg die »harte Wirklichkeit« (ebd., 19), die »Realität der Zeit«, die das noch »Seiende vom Tod trennt«. Im Krieg, der einem stets den Tod vor Augen führt, tritt das Noch-Nicht als Beweis einer Zeit, die einem möglicherweise noch verbleibt, deutlich hervor. Krieg ist der Ausgangspunkt von Levinas’ Werk Totalität und Unendlichkeit und das biblische Tötungsverbot ist ein Motiv dieses Buches. Er sucht die Abkehr vom abendländischen Logos, der an einer Ontologie festhält, die das ethische Verhältnis zum Anderen vergisst. Ihm geht es aber nicht nur um ein Vergessen; es geht um ein Vergessen der Moral, und noch schlimmer: »der Krieg […] macht die Moral lächerlich« (ebd., 19). Die Lächerlichkeit setzt ein, weil der Kriegszustand die Institutionen und ewigen Pflichten der Moral außer Kraft zu setzen vermag und ihnen damit ihre Ewigkeit und ihre 237 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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unbedingten Imperative nimmt (vgl. auch Strasser 2003, 222). Levinas verfolgt das Anliegen, den abendländischen Logos, der aufgrund seiner »Idee der Totalität« im Krieg kulminiert, widerständig von innen her aufzusprengen (2014, 31). Diese Aufsprengung ist sowohl notwendig als auch friedensstiftend, denn »das Gesicht des Seins, das sich im Krieg zeigt, konkretisiert sich im Begriff der Totalität« (Ebd., 20). Die Totalität verdeckt die »Exteriorität und das Andere als anders«, also die metaphysische Dimension, auf die sich die Ethik der Beziehung zum Anderen als »erste Philosophie« bezieht (Ebd., 20, 442). Zusätzlich wird der Krieg jede Gegenwart unter das Diktat des »objektiven Sinns« stellen, um so ihre »Einzigartigkeit der Zukunft« zu opfern (Ebd., 20). Somit zeigt sich im Krieg nicht nur die harte Wirklichkeit, sondern auch ein Verständnis von Zeit, die in ihrer Vorläufigkeit im Noch-Nicht verharrt und die Zukunft nur auf der Bedingtheit der objektivierten Gegenwart, die ihre Regeln aus der Ontologie des Krieges bezieht, abstrakt setzt. Denn vorausschauend gibt es ein Noch-Nicht-Tot, aber kein morgen. Es ist die ganze Zeit Krieg. Denn dieser liegt »nicht in den tatsächlichen Kampfhandlungen, sondern in der bekannten Bereitschaft dazu während der ganzen Zeit, in der man sich des Gegenteils nicht sicher sein kann« (Hobbes 1966, 96). Und – so möchte ich hinzufügen – es ist nicht nur die Bereitschaft zum Krieg im Sinne der Bedeutung, dass Menschen bereit sind für etwas, weil sie es wollen, sondern es gibt auch die räumlichen und zeitlichen Aspekte, die Kriegszeiten mit sich bringen, wie etwa, dass der Warenverkehr gestört ist, Felder brach liegen, die Forschung, Künste und Literatur vernachlässigt werden. Die Waffenruhe, dieser Zustand zwischen zwei Kriegen, klammert sich an das Noch-Nicht fest, so als sei es die sichernde Bastion ihrer eigenen Unsterblichkeit. Die Waffenruhe vermittelt, es sei noch nicht Krieg, noch drohe der Tod nicht wie im Krieg. Und noch ist kein Frieden, also doch Krieg, wie Hobbes sagen würde? 19 Im trügerischen Schein dieser fragenden Annahme wird vergessen, dass die Drohung, die Bastion zersplittere unter der Macht des Feindes, lediglich in der Zeit weitergetragen wird. Thomas Hobbes bezeichnet die Waffenruhe richtigerweise noch als Kriegszustand. Auch der antike Kriegsschreiber Thukydides sah die Waffenruhe nur als einen Zeitraum der Übergangszeit an, die mit gegeneinander gerichteten indirekten Militäraktionen gefüllt sei. Deshalb bezeichnete er sie mit dem Begriff der »argwöhnischen Waffenruhe«, die keine Bedingung für die Beendigung eines Krieges ist (Thukydides 5, 25 f., zitiert in Latacz 2003, 333).

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Wenn das Noch-Nicht des Todes doch in den sterblichen Überresten in schaler Erinnerung in den Herzen der Überlebenden weiterleben darf, so werden sie dieses Joch der Waffenruhe ohnmächtig ertragen müssen, solange sie im Vergeltungsmodus, auf Gewalt mit Gewalt zu reagieren, verharren. Das Noch-Nicht des Todes von außen übermittelt eine Ohnmacht, die in einer Weise am Selbstbewusstsein des Willens nagt, das dem schicksalsergebenen Dahinsiechen eines Lebensflusses ganz unähnlich ist. Wenngleich das Leben so ungerecht ist – wie Thomas Macho (2010) ausruft – und seinen Todesengel schickt, wie es ihm und damit fast nie dem Lebenden passt, so ist doch dieses als von außen kommend empfundene Sterben ein Unglück (das manchmal ungerecht erscheint), das aber nicht von Menschenhand und Waffen, einer Gewalt, die die Haut zerfetzt und das Herz bricht, verursacht wurde. Der Tod dagegen, der von Menschengewalt verursacht wurde, verletzt die Menschen und zerstört die Beziehungen. Wenn er von Menschen verursacht wird und deshalb aufzuhalten scheint, ist er umso grausamer und gefährlicher als ein Unglücksfall. 20 Es sind die Menschen, die das Leben gefährden (Butler 2010, 20 ff.). Die Gefährdung des Lebens hängt von anderen Menschen ab. Der Tod beendet es nur. Aber die Gefährdung, gesteigert ins Unermessliche im Krieg, scheint in der Waffenruhe besänftigt, wenngleich stets vor Augen. Damit wird deutlich, dass die Logik des Krieges auf einem zeitlichen Maß des Noch-Nicht tot, noch nicht zerbrochen, basiert. Es ist ein zeitliches Maß, das Unsicherheit schürt, Menschen nach vorne blicken lässt, ohne dass sie etwas sehen, obgleich sie die drohende Gefährdung aus der Zukunft spüren. Die Prävention verspricht die Verlängerung des Noch-Nicht. Sie hält die Drohung auf; aber sie vermag in der Variante der Kontinuität nicht, die Struktur der Gesellschaft oder die Bedingtheit des gegenwärtigen Zustandes selbst zu ändern. So wie in der Medizin eine Antwort auf eine Disposition für Brustkrebs die Brustamputation ist, so wird in einer Kriegsgesellschaft die Aufrüstung des Militärs die Sicherung der Zukunft bedeuten. Beide Präventionsstrategien versprechen als Sicherheit die Verlängerung des Noch-Nicht. Doch Frieden bedeutet nicht einfach Waffenruhe, er ist nicht einfach in der Konzeption des ›Noch-Nicht-Krieg‹ oder ›NochNicht-Tot‹ zu denken. Gesellschaftspolitisch mag zu streiten sein, ob 20

Zum Unterschied von Unglück und Ungerechtigkeit vgl. Shklar (1997).

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eine Friedensgesellschaft überhaupt eine Militärindustrie beherbergen dürfte, aber unstrittig scheint mir die Überzeugung, dass Frieden mehr ist als Noch-Nicht-Krieg und mehr ist als eine Verzögerung von Gewalt und Leid. Auch im Frieden wird gestorben. Manchmal stirbt jemand – etwa tragisch bedingt durch einen Unfall – sogar vor seiner Zeit. Der Tod bleibt ein individuelles Schicksal, lässt die Nächsten trauern, und Nicht-Betroffene bleiben eher unberührt. Es ist deutlich: Das Leben geht weiter. 21 Das Leben, dieses allgemeine Leben, das unerbittlich weitergeht, ist das, was im Krieg auch vom NochNicht-Tot gleichsam selbst auf Abruf und zur Disposition gestellt wird. Wenn eine Person stirbt, wird man sagen, sie sei sehr alt geworden oder er musste schon sterben. Im Frieden muss jemand schon jetzt sterben. Das allgemeine Leben bleibt offen, verspricht ein Bald, bald geht es weiter, neue Kinder werden geboren, Neues bricht heran, kann wahrgenommen werden. Das Leben pulsiert. Der Friede ist am Puls des Lebens. Der Puls, der wie das Herz schlägt, der wie die flirrende Abendsonne vibriert, der zukunftsheischend ohne Unterlass das Leben fordert, ist eine Metapher dafür, dass der Frieden nicht einfach Stagnation bedeutet.

4.

Frieden jenseits der Totalität

Levinas verfolgt nicht nur das Anliegen, den abendländischen Logos, der aufgrund seiner »Idee der Totalität« im Krieg kulminiert, widerständig von innen her aufzusprengen, er bestimmt auch einen Gegenbegriff zur Totalität des Abendlandes, nämlich den »messianischen Frieden«, der in der »Eschatologie« Einsichten findet, die uns jenseits eines einheitlichen Denkens und einer Totalität führen. Die Eschatologie, so wie sie Levinas in diesem friedensstiftenden Kontext versteht, setzt uns in Beziehung mit dem Jenseits der Totalität und der Geschichte. Dieses »Jenseits spiegelt sich wieder innerhalb der Totalität und Geschichte, innerhalb der Erfahrung« (Levinas 2014, 22). Doch das Unendliche überschreitet das Denken, das es denkt; deshalb ist es nicht einfach in Erfahrung auszudrücken (Ebd., Der Tod als Gewaltverbrechen, verursacht etwa durch Mord oder Totschlag, ist noch einmal ganz anders als ein Unglück oder Versterben durch Krankheit. Die mitmenschlichen Beziehungen und die sozialen Verhältnisse sind in einer Weise betroffen, die die Trauer über den Tod eines einzelnen Individuums deutlich übersteigt.

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26). Der Friede bleibt in einem Subjektivismus, der aus der eschatologischen Perspektive hervorgegangen ist, verhaftet. Er ist dem Objektivismus des Krieges entgegengesetzt, kann aber durch dessen Gewalt zerstört werden. Somit haben Frieden und Krieg eine unterschiedliche Zeitlichkeit, weil der Frieden mit der Idee des Unendlichen verbunden ist und der Krieg mit der Idee der Totalität. So wie sich das Unendliche in der Beziehung des Selben zum Anderen ereignet und immer persönlich und besonders bleibt, so ist die Totalität stets bezogen auf einen Objektivismus, der das Subjektive vom Sein abtrennt und in eine Ohnmacht verbannt. Die äußerste Gewalt im Krieg ist die Gipfelung an Leid, aber auch einer Zeitstagnation, die im Noch-Nicht und in einer imaginierten Zukunftsnotwendigkeit verharrt. Frieden, sicherlich auch Ethik haben nur ihren Ort, wenn die Menschen von sich aus (und nicht von einem Geschichtsverlauf oder einer vereinheitlichenden Totalität) mit anderen in Beziehung sind und wenn sie selbst und persönlich das Wort ergreifen (und nicht ihre »Zunge dem anonymen Wort der Geschichte« leihen oder gehorsam sich jedem Modediktat in Meinung und Gesinnung unterwerfen). Es sind unter anderem diese ethischen Bedingungen eines sozialen Pluralismus, die Levinas zum folgenden Satz führen: »Der Friede ereignet sich als diese Fähigkeit zum Wort« (2014, 23). Es ist das Wort des Anfangens, das gehört und auf das geantwortet werden kann. Es muss also im Folgenden darum gehen, den Frieden als Ziel zu sehen, dem ein Anfang inne ist und der nicht einseitig nur auf ein instrumentelles Mittel-Zweck-Denken hin ausgelegt ist. Der Frieden, verstanden als Weg und als Ziel, braucht die mitmenschlichen Beziehungen, in denen Neuanfänge und Reflexion möglich sind, in denen Menschen gehört, ein Handeln und Sprechen verwirklicht werden können. Denn nur auf der Grundlage dieser Tätigkeiten und im Rahmen der gelebten Beziehungsstrukturen wäre ein Anfangen möglich; es wäre ein Anfangen, das den Weg des Friedens denkt und eröffnet. Diese Möglichkeit des Anfangens unterbricht die Kontinuität der Zeit.

5.

Anfang und Diskontinuität

Ein Zeitmodell der Diskontinuität basiert auf dem Konzept einer dimensionierten Zeit. Denn nur die dreifache Dimensionierung von Zeit setzt einen subjektiven Standort in der Welt voraus, von dem aus die Unterbrechung der linearen Kontinuität geleistet werden 241 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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könnte. Edmund Husserl hat die Zeit anhand eines Ablaufschemas deutlich gemacht, Martin Heidegger entfaltet einen ganzheitlichen Begriff von der Zeitlichkeit des Daseins. Maurice Merleau-Ponty versuchte einen Weg zwischen den beiden Entwürfen. Die dimensionierte Zeit ist eine Voraussetzung von Diskontinuität, doch trotzdem blieben die drei Autoren im Denken der Kontinuität. Dennoch sind ihre Entwürfe wichtige Schritte hin zu einem Aufbruch der Diskontinuität. Deshalb werde ich im Folgenden zeitphänomenologische Ansätze vorstellen, um dann mit Hilfe dieser Ausführungen auf die Zeitdiskontinuität im Zusammenhang eines Denkens des Friedens zurückzukommen.

Dimensionierte Zeit und Kontinuität Es war Husserls Verdienst, die Zeitmodi der Intentionalität als dimensionierte Gegenwart vorzustellen. Intentionalität bedeutet das Gerichtetsein des Bewusstseins auf einen Gegenstand oder Sachverhalt in seiner Besonderheit und in seinen Zeitmodi von Gegenwärtigem, Vergangenem oder Zukünftigem. Eine dimensionierte Gegenwart umfasst die Retention, also das gerade eben thematisierte, und die Protention, das noch nicht thematisierte Vor-erwartete. 22 Deshalb kann die Gegenwart nie als rein und pur präsent sein. Dieser zeitliche Sachverhalt der Ent-Gegenwärtigung hat seine Analogie in der Entfremdung des Wahrnehmenden. So kommt bezogen auf ›mein‹ Selbst »in mir ein ›anderes‹ Ich zur Seinsgeltung« (Husserl 1954, 189). Merleau-Ponty führt Husserls Gedanken fort mit der These, dass es die Retentionen und Protentionen sind, die mich in meiner weltlichen und zeitlichen Umgebung verankern. Somit ist Zeit transzendent, weil dank der Intentionalität meine Gegenwart sich selbst auf eine nächste Vergangenheit und Zukunft hin übersteigt und »als gewesende-gegenwärtigende-Zukunft« zeitigt (Merleau-Ponty 1966, 478; Heidegger 1979, 350). Das Vergangene als in der Vergangenheit seiend und das Zukünftige als in der Zukunft seiend sind in die Bewusstseinsgegenwart hineingeholt. Merleau-Ponty insistiert mit Einfluss von Heideggers Sein und Zeit auf die Transzendenz der Zeit Der Zeitmodus der Vorerwartung (Protention) ist zu unterscheiden von einer Erwartung, die ihrerseits auch eine triadische Struktur aufweist. Somit hat auch die Erwartung, wie eine Wahrnehmung, eine triadische Verweisungsstruktur.

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und vor allem auch auf die »Transzendenz der Welt« (Heidegger 1979, 359). »Die Welt ist untrennbar vom Subjekt, von einem Subjekt jedoch, das selbst nichts anderes ist als ein Entwurf der Welt, und das Subjekt ist untrennbar von der Welt, doch von einer Welt, die es selbst entwirft. Das Subjekt ist Zur Welt-sein und die Welt bleibt ›subjektiv‹, da ihre Textur und ihre Artikulation sich vorzeichnet in der Transzendenzbewegung des Subjekts.« (Merleau-Ponty 1966, 489) 23 Somit liegt die Bedingtheit und Verfasstheit der Welt – die conditio mundana –, also das, was der Welt zugehörig ist, in den Händen der Menschen. Sie beeinflusst, wie Menschen ihr Leben erfahren, ihre Umgebung und andere Menschen wahrnehmen und ihre sozialen, kulturellen und politischen Verhältnisse gestalten. Somit geht es nicht einfach um die Zeiterfahrung der Menschen, sondern um die Sinnkonstitution von Welt in ihrer Zeit. Gleichwohl betont Merleau-Ponty den Subjektcharakter der Zeit. »Wir müssen die Zeit als Subjekt, das Subjekt als Zeit begreifen.« (1966, 480) Er meint damit, dass es keinen Ort der Zeit gibt, dass der Verlauf der Zeit nicht in der Zeit läuft, sondern die Zeit selbst ist, Zeit bringt sich immer erneut im »Nacheinander« hervor (siehe ebd., 481). 24 Somit ist Zeit nur für mich da, weil ich mich in ihr engagiert finde, weil meine Erfahrung zeitlich ist, weil ihr Sinn auch zeitlich ist, weil ich Gegenwart habe und bei der Welt gegenwärtig bin (vgl. ebd., 482). Es gehört wesenhaft zur Zukunft, »Zukunft einer bestimmten Gegenwart zu sein« (ebd., 490). Einen deutlichen Zukunftsbezug des Daseins hat Martin Heidegger in seinen Schriften, etwa wie Sein und Zeit oder dem Begriff der Zeit herausgearbeitet. Die Zeitlichkeit ist ein Existential des Daseins. Das Dasein existiert nicht »in der Zeit«, sondern es ist zeitlich. Dies bedeutet: Das Dasein wird nicht primär durch eine ihm externe Zeit bestimmt, sondern es bringt die Zeitlichkeit als etwas ihm Zugehöriges gleichsam mit. Es ist zeitlich. Für Heidegger bedeutet die Zeitlichkeit somit die Bedingung der Möglichkeit, ganz zu sein. Die Ganzheit des Daseins findet es nur, wenn

Zum »Subjektiven« fragt Heidegger (1979, 366): »Nicht wie kommt Subjekt zum Objekt … Zu fragen ist: was ermöglicht es ontologisch, dass Seiendes innerweltlich begegnen und als begegnendes objektiviert werden kann? Der Rückgang auf die ekstatisch-horizontal fundierte Transzendenz der Welt gibt die Antwort.« 24 Erneuerung könnte hier weitergedacht werden, als etwas, was mich affiziert, was mir in der Welt auffällt – und vielleicht bislang unthematisiert blieb. 23

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es sich in das Verhältnis zu seiner Endlichkeit setzt. 25 Setzt sich das Dasein nicht in ein Verhältnis zu seiner Endlichkeit, seinem Sein zum Tode, seiner Sterblichkeit, dann verfällt es an die vulgäre Alltagzeit, die der Uhr unterliegt und deshalb keine Zeit mehr hat. 26 Heidegger gibt den Zeitachsen der Zukunft und Gewesenheit eine gewichtige Bedeutung für das eigentliche Selbst-sein-können. Diese Betonung aber führt zu einer problematischen Nivellierung der Gegenwart. Die Ausdifferenzierungen der Zukunft durch Existenz, Entwurf, Vorlaufen zum Tod sowie Entschlossenheit und die der Gewesenheit durch Faktizität, Geworfenheit, Schuld sowie Wiederholung bleiben in einer merkwürdigen Gegenüberstellung zur Gegenwart, die in ihrer Bestimmung leer bleibt. Die Gegenwart wird somit gleichsam »verschlungen« von der »gewesenen Zukunft«. Die Privilegierung der Zukunft aufgrund der Endlichkeit des Daseins verwandelt die Beziehung mit der Zukunft in ein Können des (vereinsamten) Subjektes, das Emmanuel Levinas in Totalität und Unendlichkeit kritisiert und das Hannah Arendt zu einem Gegenentwurf der Natalität motiviert. 27 ›Können‹ im Heideggerschen Zusammenhang bedeutet Ohnmacht und somit wird »diese Ohnmacht im Verhältnis zu dem Können beschrieben« (Levinas 2014, 403). Dagegen bedeutet »[ins] unendliche sein […], grenzenlos existieren, folglich existieren in der Gestalt eines Ursprungs, eines Anfangs, und das heißt schließlich existieren als ein Seiendes« (ebd., 410). In diesem Zitat nicht einfach zu verstehen, sind die Begriffe der Unendlichkeit und des Existierens. Deshalb erkläre ich diese kurz im Folgenden: Den In späteren Schriften z. B. Zeit und Sein, hat Heidegger (1979) das Zusammengehören von Zeit und Sein als Ereignis bestimmt, es gibt Zeit und sie entzieht sich der Bestimmung. In Grundprobleme der Phänomenologie bestimmt Heidegger (2010) die Zeitlichkeit des Seins nur im Modus der Präsenz, bei Ausblendung von Präteritum und Futur. 26 Die messbare Zeit ist für Heidegger eine nachträglich veräußerlichte und verdinglichte Form der ursprünglichen Zeitlichkeit des Daseins. Eine Uhr zeigt die Zeit, sie misst sie als eine Dauer, auf die man wieder zurückkommen kann. »Gerade das Dasein, das mit der Zeit rechnet, mit der Uhr in der Hand lebt, dieses mit der Zeit rechnende Dasein sagt ständig: ich habe keine Zeit. […] die Zeit verlieren und sich dazu die Uhr anschaffen!« (Heidegger 1989, 20 f.) 27 Heideggers Begriff des Möglichen bedeutet ein Sich-selbst-voraus-sein, ein Sichin-die-Zukunft entwerfen, um so als Zukünftiges zu sein. Heideggers Annahme eines »Sein zum Tode« und einer »Öffnung auf die Zukunft« hin sind Wege, eine Existenz auszudrücken, die sowohl in der Erkenntnis als auch durch die Existenz das Sein des Seienden transzendiert. 25

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Begriff der Unendlichkeit interpretiert Levinas nicht in der Gefolgschaft von Descartes, Kant oder Hegel, die ihn jeweils mit der Vernunft oder mit Gott verknüpften, sondern in einer ihm eigenen Bedeutungsrichtung, die nicht ein Sein als ein unendliches Sein umgreift, sondern eher als eine Weise des Seins, die in seiner Tätigkeit liegt. Es geht Levinas um einen Moment der Überschreitung des Objektiven, Gesetzten und Totalen und um eine Beziehung mit dem Unendlichen, die nicht in Termini der Erfahrung ausgedrückt werden kann, weil das Unendliche immer das Denken, das es denkt, überschreitet (vgl. Levinas 2014, 26). Mit dieser Idee des Unendlichen, so ungreifbar und nicht objektivierbar, befreit Levinas die Subjektivität von objektiven Urteilen und vom Gesetz eines Krieges und verteidigt sie als vorrangig und sich ereignend in der Beziehung zum Anderen. Das Existierende, das die Gestalt eines Ursprungs und eines Anfangs annimmt, versinnbildlicht Levinas in der Gestalt des Kindes, da dieses für die nächste Generation und für Neuanfänge steht. Levinas versucht ein Zeitmodell vorzustellen, das sowohl die Unendlichkeit als auch die Diskontinuität des Verlaufs zu berücksichtigen weiß. Einen Rückgriff auf Generativität versucht auch Arendt, um die Möglichkeit zeitlicher Diskontinuität und Anfänglichkeit aufzuzeigen. Sie setzt die Gebürtlichkeit der Menschen – die Tatsache nämlich, dass alle Menschen, die auf der Welt leben, geboren wurden – als einen Ermöglichungsgrund des anthropologischen und politischen Handelns im Sinne eines Anfangens.

Diskontinuität. Der Einbruch des Anderen und die Beziehung mit Anderen Levinas wendet sich einerseits Bergsons und Heideggers Auffassung der Zeit zu, andererseits aber grenzt er sich von ihnen ab. Beide Autoren haben Levinas’ Anliegen, eine »diskontinuierliche Zeit« zu konstituieren, wesentlich beeinflusst (2014, 412). Wenngleich Levinas Heideggers Vorschlag einer Öffnung der Zukunft und eines Seins, das sich zeitlich ereignet, lobend erwähnt, so sieht er doch kritisch die hieraus erwachsene Konzeption der Endlichkeit des Seins zum Tode, die angeblich das Wesen der Zeit ausmache. Diese Konzeption ist für Levinas nicht überzeugend, denn sie steht entweder für die Totalität des Krieges, in der der Tod im Modus des Noch-Nicht droht, oder sie übersieht, dass der Tod nicht als ein 245 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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Ende dem Sein bevorsteht, sondern sich lediglich wie ein Unbekannter, deren Negativität unbekannt bleibt, nähert. Der Tod ist: »Aufbruch, Hinscheiden, Negativität, deren Bestimmung unbekannt ist.« (Levinas 2013, 23) Die Zeit aber, »in der sich das Sein ins Unendliche ereignet, geht über das Mögliche hinaus« (Levinas 2014, 411, kursiv i. O.). Somit ist Zeit diskontinuierlich zu denken und wesentlich unendlich. »Es ist nicht die Endlichkeit des Seins, die das Wesen der Zeit ausmacht, wie Heidegger glaubt, sondern seine Unendlichkeit.« (Ebd., 415) Levinas’ Begriff der »toten Zeit« deutet auf Momente, Intervalle oder Augenblicke, die Brüche und Zerstreuung in die Zeit einfügen und somit auf eine Zeitkonzeption der Diskontinuität verweisen (ebd., 75). Diskontinuität bedeutet aber auch, eine Metaphysik, in die das Ich Anfänge zu setzen versteht und Sein hervorgebracht werden kann, ohne einen strengen Begriff von Kausalität vorauszusetzen (vgl. ebd., 409). 28 Diese Idee des Neuanfangs als ein In-Beziehung-Setzen kann mit Hilfe der generativen Beziehung von Eltern zu Kindern erklärt werden. Ein Kind wird nicht einfach von Eltern verursacht. Sein Sein kann nicht nur auf eine Ursache zurückverfolgt werden. Diesen Sachverhalt nutzt Levinas, um auf die Ausgangsposition eines Kindes zu verweisen, die als »bedingungslos, nicht-reziprok und irreduzibel« angesehen werden kann (Schües 2008, 305; vgl. auch Gürtler 1998, 362). Diese Bedingungslosigkeit, Nicht-Reziprozität und Irreduzibilität ist zentral für intergenerative Beziehungen. Sie sind der generativen Beziehung wesentlich. Diese Ausgangsposition ist Garant für eine Zukunft und die Bedingung der Ermöglichung einer politischen Gleichheit unter verschiedenen Menschen. Das heißt, Menschen sind in allem unterschieden, außer der Tatsache, dass sie in eine Beziehung hinein geboren wurden, die natürlich auch sofort abgebrochen werden konnte. Levinas sieht in der generativen Beziehung ein Element der Güte, die steigerbar aber nicht verrechenbar ist. Diese Güte verleiht dem Leben, dieser Welt die »unendliche Zeit des Triumphes« und die Vollendung der Zeit als messianische Zeit (2014, 409). Der Begriff des Triumphes verwundert, dient aber der Kennzeichnung einer Zeit, Levinas verknüpft ein Verständnis der diskontinuierlichen Zeit mit einer erinnernden Beziehungsaufnahme mit der Vergangenheit. Die erinnernde Beziehungsaufnahme ermöglicht eine nachträgliche Kontinuität, die allerdings ohne die Diskontinuität, die sie überwindet, nicht als Zeit denkbar wäre.

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die aus der sozialen Beziehung zur Andersheit herrührt. Diese Zeit feiert die Aufwertung des Seins, das in der Tradition durch die Totalisierung des Einen erniedrigt war. Im Zusammenhang des Anderen als Anderen und einer Verantwortung, die in der Beziehung mit dem Anderen bereits verortet ist, kann die messianische Zeit als das Ereignis (production) des Friedens verstanden werden (ebd., 21, 308, vgl. auch 23). Diese von Levinas eingeführte messianische Zeit kommt einer Subjektivität zu, in der die Vorstellung der Unendlichkeit empfangen wird. Die unendliche Zeit, und hier zieht Levinas auch eine theologische Dimension mit ein, ist notwendig, damit aus der sozialen Beziehung heraus das Ich zur Vergebung frei und zur Güte berufen ist. Die einzelne Vergebung ermöglicht Güte und öffnet die Zukunft. Levinas wie auch Hannah Arendt zeigen, wie die Vergebung als eine Handlungsmöglichkeit fundamental am Zeitverlauf und an der Ermöglichung einer neuen Beziehungsdimension rührt. Die Autorin und der Autor beschreiben drei zeitphilosophisch wichtige Momente, die die Fähigkeit des Vergebens auch für eine Friedenstheorie interessant machen. Levinas hebt besonders den Aspekt der diskontinuierlichen Zeit hervor; Arendt betont den des Neuanfangs einer Beziehung, indem sie die Vergebung als »Heilmittel gegen die Unwiderruflichkeit […] des Handelns« versteht (Arendt 1987, 231). Vergebung richtet sich immer auf einen verflossenen Augenblick. Sie entbindet eine Person von einer Handlung in der Vergangenheit, die eine andere geschädigt hat. Bezogen auf die Zeit wird so getan, als sei der Augenblick nicht verflossen; der Person, die jemandem geschadet hat, wird vergeben, wenngleich die Handlung selbst nicht rückgängig zu machen ist, so Arendt. Wird einer Person vergeben, dann ist sie erneut frei für die Handlungsbeziehung mit anderen Menschen. Es ist nicht so, als sei die schädigende Handlung vergessen. Ein Vergessen könnte zwar, wenngleich es passiv ist, auf die Zukunft eröffnend wirken, würde aber die Vergangenheit nicht berühren, weil es den Bezug zu ihr abbricht. Die Vergebung ist aktiver und einflussreicher als das Vergessen. Sie beeinflusst alle drei Zeitdimensionen – die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie hat die Macht, die Vergangenheit zu bereinigen und damit in der Gegenwart einen Neuanfang zu ermöglichen, der in die Zukunft wirkt. Wenn Arendt von Heilung im Sinne der Freisetzung für einen Neuanfang spricht, dann kann dieser Akt auch im Sinne einer Friedensinitiative verstanden werden. Das Paradox der Vergebung vermag ein Zeitkontinuum zu 247 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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unterbrechen und einen Neuanfang in der diskontinuierlichen Zeit zu ermöglichen, in der die Augenblicke sich vom Anderen her, der vergeben hat, zu dem Anderen hin entfalten. Das Verzeihen wie auch die Versöhnung, die sehr deutlich im Begriff bereits die beidseitige Anerkennung einer Beziehung implizieren, bilden somit einen Gegensatz zur Rache, die im Verlauf eines reagierenden Tuns die Kettenreaktion linear in die Zukunft treibt, in der die beteiligten Personen als Reagierende »gleichsam an die Kette einer einzigen Tat gelegt sind« (Arendt 1987, 235). Die Rache steht dem Anfangen, einer Friedensinitiative, diametral gegenüber. Die Öffnung der Zukunft und das Anfangen eines Friedensweges setzen gleichwohl auch die Sorge um die Vergangenheit voraus. Hierbei geht es nicht einfach um die Befreiung von der Vergangenheit, sondern um die Möglichkeit, trotz und angesichts von Krieg und Gewalt, Leid und Verletzung, erneut Beziehungen für die Zukunft zu knüpfen, ohne aber einfach die Täter straffrei entkommen zu lassen. Dieses ist auch ein allgemeines Anliegen von Ansätzen der »transitional justice«, die ihrerseits Vergebung und Versöhnung als einen Aspekt der Heilung der Beziehungen als gesellschaftliche Praxis sehen (vgl. Clark 2011; Viebach in diesem Band). Eine weitere Möglichkeit des Neuanfangens sieht Arendt in der Einbildungskraft. Sie löst festgefahrene Perspektiven einer erstarrten Wirklichkeit und erlaubt Perspektiven zu wechseln, etwas »in eine gewisse Distanz zu rücken, so daß wir es ohne vorgefaßte Meinung und Vorurteil sehen und verstehen können.« (Arendt. 1994, 127) Die Einbildungskraft, die auch bedeuten kann, sich in die Perspektive anderer hineinzuversetzen, ist das, was auch Kant als das erweiterte Denken bezeichnete. Auch ein Perspektivenwechsel, der als Denkoder Gefühlsangebot in die Öffentlichkeit oder in die täglichen Beziehungen getragen wird, bedarf der Anderen, die sich angesprochen fühlen, die ein Wort aufnehmen und sich affizieren lassen. Die Konstitution des Neuanfangens für zukünftige Friedensgesellschaften basiert somit auf einem Bruch mit einem kontinuierlichen Zeitfluss. Diese Sinndimension des Anfangens macht aber für das Handeln und Sprechen nur Sinn, wenn von einem Miteinander der Menschen ausgegangen wird, wenn also das Anfangen in die Tätigkeiten des Erhaltens und Weiterführens übertragen wird. Somit unterliegt der Neuanfang einer doppelten Bedingtheit: der Unterbrechung durch die Anderen als Andere (und politisch als gleich Anerkannte) und der Fortführung von Handlungen mit Anderen in Be248 https://doi.org/10.5771/9783495827390 .

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ziehungen. 29 In Bezug auf die Stiftung von Beziehungen steht der Einbruch in eine Kontinuität durch Gewalt diametral dem Einbruch durch ein Anfangen miteinander gegenüber. Gewalt bedeutet Beziehungsabbruch oder -gefährdung, Anfangen bedeutet Anknüpfen an andere und eine Chance auf friedliche Beziehungen (ohne Garantie). Das Primat der Beziehung und die Betonung der anderen Menschen findet Arendt, ähnlich wie auch Levinas, in einer Umkehr der Heideggerischen Philosophie des Daseins. Auf Heideggers Philosophie des Vorlaufens an das Ende antwortet Arendt mit einer Philosophie des Vorlaufens vom Anfang her, vom Anfangen, das in der Tatsache der Natalität, des Geborenseins begründet liegt. Diese Umkehrung des Denkens führt sie zur Idee, dass das Miteinander, die Beziehung zwischen den Menschen und die Pluralität konstitutiv für den politischen Raum des Handelns und Sprechens zwischen den Menschen seien. Der Anfang auf der Welt und der Anfang einer Handlung müssen als Beziehung verstanden werden, denn sonst wären tatsächlich die Anfänglichkeit und das Anfangenkönnen der Menschen nur als das Können einer Person postuliert. Die Geburt im Sinne einer Beziehung bedeutet, dass ich bereits angefangen worden bin und deshalb als Anfangende auf die Beziehungen, in die ich hineingeboren wurde, antworte und damit die Beziehungen in der Welt erneuere. Handlungsanfänge werden somit durch Beziehungen und Ansprüche der Anderen provoziert und in Gang gesetzt. Und ihrerseits knüpfen sie neue Beziehungen, festigen oder lösen alte Beziehungen und bestätigen bereits bestehende. Das Verständnis der Geburt als Anfang auf der Welt eröffnet eine diskursive Spannung zwischen einer strukturellen Allgemeinheit und einer konkreten Ausgestaltung der Pluralität und mitmenschlichen Beziehungen in ihrer jeweiligen Kontingenz. Der Begriff ›kontingent‹ bedeutet hier nicht einfach nicht-notwendig oder zufällig. Kontingenz im Sinne der Ermöglichung eines Anfangens bedeutet, dass nur wenn die Geburt als angefangenes Anfangen in Doch, so könnte argumentiert werden, auch der Tod ist ein Einbruch in das Leben. Und oft sogar scheint der Einbruch des Todes noch viel eindrücklicher und erschütternder als eine Geburt. »Der Tod ist Aufbruch, Hinscheiden, Negativität, deren Bestimmung unbekannt ist. […] Tod als Aufbruch ohne Wiederkehr, Frage ohne Gegebenes, reines Fragezeichen.« (Levinas 2013, 23) Tod ist Vernichtung, die das Dasein prägt und die Beziehung vernichtet. Allerdings lässt sich auch beobachten, dass bisweilen nach dem Ableben einer Person die Beziehungen der Hinterbliebenen neu sortiert und gestaltet werden.

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einer Beziehungsstruktur anerkannt wird und sie im politischen Handeln Widerhall findet, sie als gesellschaftlicher Neuanfang, im Sinne einer Friedensinitiative, verstanden werden kann. Anfangen, als Handeln, ist also nicht nur ein Akt der Spontaneität im Sinne Kants, sondern beruht darauf, bereits in einer Beziehungskonstellation angefangen worden zu sein. Das heißt, Anfangen ist nur in Beziehungen möglich und Anfangen begründet Beziehungen. Deshalb ist die Geburt niemals ein Allheilmittel gegen Krieg und Gewalt, denn faktisch kann sie jederzeit von Menschen, die mit einer Logik des Krieges auf andere blicken, als Beziehungsanfang ignoriert werden. Denn der Erhalt der Welt wird durch die Schaffung der Kontingenz des immer wieder Neuen, das mit jedem Geborenen das Prinzip des Anfangens mindestens potentiell in die Welt hineinkommt, ermöglicht. Dieses Neue, personifiziert in jedem Geborenen, ist eine Störung der Kontinuität und eine Ermöglichung der Erneuerung der conditio humana. So führt die Ankunft eines/r Neugeborenen stets für diejenigen, die sich um ihn/sie kümmern, zu einer Zeit der Umstellung (wie auch immer diese konkret gestaltet wird). Es ist eine Zeit, die aufgrund ihres neuen Verlaufs – der sogar oft als Chaos empfunden wird – mit der Zeit vorher verglichen werden kann. In der Natalität liegt die Tatsache begründet, »daß wir alle durch Geburt in die Welt gekommen sind und daß diese Welt sich ständig durch Geburt erneuert« (Arendt 1994, 276). Strukturell ist die Natalität unsere Möglichkeit des Anfangens, weil wir angefangen wurden; aber konkret kann sie komplett vernachlässigt und missachtet werden. Natalität gibt der Welt ihre Weltlichkeit im Sinne der Möglichkeit der sich immer wieder neu konstituierenden Beziehungen; umgekehrt ermöglicht die Welt der Natalität ihre Verwirklichung. 30 Vom Standpunkt der Welt betrachtet ist die Geburt – das Erzeugen immer neuer Menschen – notwendig für ihren Erhalt. Somit äußert sich die Beziehung zwischen Natalität und Welt in der wechselseitigen Seinsversicherung, die auch in Arendts Imperativ amor mundi ausgedrückt wird.

Diese Überlegung bedeutet nicht, dass eine Verwirklichung des Anfangens immer und notwendig gepflegt wird und geschieht. Es gibt und gab auch Zeiten und Situationen, in denen Neuankömmlinge weitgehend missachtet wurden; damit ist die Chance auf den Einfluss einer strukturellen Neugestaltung der konkreten Umwelt verpasst.

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Schlussfolgerungen: Wagnisse

Frieden bedeutet keine Ordnung, die den Verhältnissen zwischen den Menschen gleichsam übergestülpt werden kann. Er ist eine Ordnung, die die Verhältnisse zwischen den Menschen ausmacht. Frieden ist zwischen den Menschen ebenso wie der Krieg zwischen den Menschen ist. Diese Verortung ist beiden gleich, aber ihre Bedingung, Zeiten und Räume, die Weise, wie sie zwischen den Menschen sind, sind anders. So ist etwa ein instrumentelles Denken oder das präventive Handeln an ein Zeitmodell der Kontinuität gebunden, was aber nicht heißt, dass diese Anbindung per se schlecht oder abzulehnen ist. Es geht darum, entscheiden zu können, wann zu reagieren oder wann zu agieren, zu handeln ist. Wie diese Frage entschieden wird, hat Konsequenzen. Die eine Tätigkeit ist strukturell betrachtet nicht notwendig besser oder schlechter, sinnvoller oder sinnloser als die andere. Gleichwohl bleibt die Reaktion, über die entschieden oder womöglich noch nicht einmal wirklich entschieden werden konnte, in der Logik des Weiter-So. Das stumpfe Reagieren, das Innehalten eines reflektierenden Denkens stützt die Besinnungslosigkeit des herrschenden Systems. Eine Friedensgesellschaft, die den Fokus auf gute mitmenschliche Beziehungen legt, braucht die Besinnung und das Denken, die Versöhnung, die Freundschaft – also Beziehungen, in denen Zeit gegeben und Zeit neu gestaltet werden kann. Ein Denken des Friedens, dem trotz des Singulars des Begriffs eine mitmenschliche Pluralität zugrunde liegt, weil es notwendig immer mehr als einen Standort einbezieht, wird sich nicht beruhigen können, weil es ständig totalisierenden Vereinnahmungen, Passivität und unausgewiesenen Vorannahmen begegnen wird. Deshalb muss ein Denken des Friedens reflektierend und lebendig bleiben und als Prolegomena immer wieder neu initiiert werden. 31 So ist es eine Aufgabe des Philosophierens, dass sich das Denken nicht beruhigen möge, um sich »außerhalb der Ordnung« aufzuhalten. Der denkerische Aufenthalt unterbricht den Prozess der Tätigkeiten und schafft einen Raum zwischen Vergangenheit und Zukunft (Arendt 1994; 1989). Wenn also ein Wechsel aus einer Logik des konsequenzialistischen Denkens versucht wird oder wenn Menschen, die die Welt bedenken und besprechen wollen, mitSiehe dazu auch meine »Vorbemerkungen« zur Friedenslogik in Schües (2007, 289).

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einander handeln, dann muss auch die zeitliche Diskontinuität in den Modi des Wiederanfangens, der Anknüpfung an Andere, des Aufbruchs und Einbruchs ihre Zeit haben. Der Friede als ersehntes Ziel derjenigen, die philosophieren, stützt den Prozess des Friedens, den Weg des Friedens, der von Unterbrechungen und Anknüpfungen getragen wird. Nach dem Frieden scheinen Menschen zu streben; doch ihn zu gestalten, ist eine besondere Aufgabe, die nicht nur Sache der Politik, der Verhandlung oder des pragmatischen Handelns, und schon gar nicht der Gewaltdrohung sein kann. Eine Friedensinitiative hat ihre Zeit im Ausgang der mitmenschlichen Beziehungen; eine Logik des Friedens hat ihre Zeit im Wagnis von Phantasie, Vergebung und Pluralität.

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Autorinnen und Autoren

Petar Bojanić, Prof. Dr., ist Direktor des Instituts für Philosophie und Gesellschaftstheorie, Universität Belgrad (Serbien), und Direktor des Centre for Advanced Studies, Universität Rijeka (Kroatien). hhttp://instifdt.bg.ac.rs/researcher/petar-bojanic/?lang=eni Brücher, Gertrud, PD. Dr., lehrt Philosophie an der Universität Marburg. hhttps://www.uni-marburg.de/fb03/philosophie/institut/ privatdozenten/bruecheri Pascal Delhom, Dr., ist akademischer Rat am Philosophischen Seminar der Europa-Universität Flensburg. hhttp://www.uni-flensburg. de/philosophie/wer-wir-sind/personen/dr-pascal-delhom/i Werner Distler, Dr., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg und dem Sonderforschungsbereich/Transregio 138 »Dynamik der Sicherheit«. hhttp://www.uni-marburg.de/konfliktforschung/personal/distler/ index_htmli Alfred Hirsch, Prof. Dr., lehrt an der Universität Witten/Herdecke. hwww.uni-wh.dei Simon Koschut, Prof. Dr., ist Gastprofessor am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. hhttp://www. polsoz.fu-berlin.de/polwiss/forschung/international/atasp/team/ gastwissenschaftler/koschut_sw/index.htmli Christina Schües, Prof. Dr., arbeitet am Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung, Universität zu Lübeck, und ist apl. Prof. am Institut für Philosophie und Kunstwissenschaften an

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Autorinnen und Autoren

der Leuphana Universität Lüneburg. hhttp://www.imgwf.uni-luebeck. de/schuees.htmli Julia Viebach, Dr., ist Leverhulme Trust Early Career Fellow am Centre for Criminology der juristischen Fakultät der Universität Oxford. hhttps://www.law.ox.ac.uk/people/julia-viebachi Pierre-Frédéric Weber, Dr., ist Assistant Professor am Institut für Geschichte und Internationale Beziehungen der Universität zu Szczecin (Polen). hweberpierre.doodlekit.comi

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