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German Pages 236 Year 2020
Barbara Schönig, Lisa Vollmer (Hg.) Wohnungsfragen ohne Ende?!
Interdisziplinäre Wohnungsforschung | Band 1
Editorial Die Schriftenreihe Interdisziplinäre Wohnungsforschung versammelt Beiträge aus Architektur, Geographie, Geschichtswissenschaft, Ökonomie, Planungswissenschaften, Politikwissenschaft und Soziologie, die sich in interdisziplinärer Weise mit der Wohnraumversorgung auseinandersetzen. Im Zentrum steht hierbei das widersprüchliche Verhältnis von Wohnraum als Grundbedürfnis und als Ware, dem ein komplexes Wechselspiel aus gesellschaftlicher Steuerung und Regulierung, sozialen Praktiken, räumlichen Materialisierungen und gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen zugrunde liegt. Ziel der Reihe ist die Zusammenführung fächerübergreifender Untersuchungen, die sich einerseits mit den theoretischen und konzeptionellen Fragestellungen und andererseits mit den historischen und aktuellen Transformationsprozessen der Wohnraumversorgung auseinandersetzen. Die Integration der Wohnungsforschung wird durch das interdisziplinäre Herausgebergremium der Reihe vorangetrieben. Herausgegeben wird die Reihe von Uwe Altrock, Ingrid Breckner, Laura Calbet i Elias, Björn Egner, Stephan Lessenich, Sebastian Schipper, Barbara Schönig, Lisa Vollmer und Daniela Zupan. Ansprechpartnerinnen bei Interesse an der Publikation in dieser Reihe sind Barbara Schönig und Lisa Vollmer.
Barbara Schönig (Prof. Dr.) ist Professorin für Stadtplanung am Institut für Europäische Urbanistik der Bauhaus-Universität Weimar. In der Wohnungsforschung erforscht sie die Wechselwirkung von Stadtentwicklung und Wohnungspolitik sowie (sozial-)räumliche Aspekte der Wohnraumversorgung. Lisa Vollmer (Dr.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Urbanisitik an der Bauhaus-Universität Weimar. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Wohnungsforschung und soziale Bewegungsforschung. Sie ist Redaktionsmitglied der sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung.
Barbara Schönig, Lisa Vollmer (Hg.)
Wohnungsfragen ohne Ende?! Ressourcen für eine soziale Wohnraumversorgung
Die Publikation dieses Bandes und die Tagung, auf der er beruht, wurden durch die Hans-Böckler-Stiftung im Rahmen der Nachwuchsforscherinnengruppe 011 »Soziale Wohnraumversorgung in wachsenden Stadregionen: Stadtplanerische und rechtliche Perspektiven« gefördert.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat und Satz: Tabea Latocha Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4508-8 PDF-ISBN 978-3-8394-4508-2 https://doi.org/10.14361/9783839445082 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Wohnungsfrage(n) ohne Ende und überall?! Sechs Thesen für eine interdisziplinäre Wohnungsforschung Barbara Schönig und Lisa Vollmer.............................................................................. 7
Wohnungsfrage(n) und Bodenpolitik Recht am Boden und Recht auf Wohnen im bürgerlichen Sozialstaat Florian Rödl ..........................................................................................................37
Die Wohnungsfrage ist eine Bodenfrage Bodenpolitische Instrumente zur Sicherstellung des preisgünstigen Wohnraums im Bestand in Schweizer Städten Gabriela Debrunner, Andreas Hengstermann und Jean-David Gerber................................49
Das Erbbaurecht als Beitrag zu mehr bezahlbarem Wohnraum Learning from Amsterdam? Cilia Lichtenberg ...................................................................................................69
Wohnungsfrage(n) und Rollen der Wohnungswirtschaft Die Privatisierung kommunaler Wohnungsbestände als Herausforderung für die europäische Stadt Sebastian Klus ..................................................................................................... 83
Handlungslogiken wohnungswirtschaftlicher Akteure als Schlüssel zur Sicherung sozialer Wohnraumversorgung Eine soziologische Perspektive Antonia Josefa Krahl.............................................................................................. 97
Beiträge der Wohnungswirtschaft zur Stadterneuerung: Möglichkeiten und Grenzen Arvid Krüger ........................................................................................................ 113
Wohnungsbau für das Gesellschaftsminimum Über ein prozesshaftes Architekturverständnis Anne Kockelkorn ..................................................................................................125
Wohnungsfrage(n) und die Rekommunalisierung von Wohnraum Wohnraum als soziale Infrastruktur Ansätze zur (Re-)Kommunalisierung von Wohnraum betrachtet am Beispiel Berlin Inga Jensen ........................................................................................................ 147
Strategien der »Communalisierung« der Wohnraumversorgung in Friedrichshain-Kreuzberg Interview von Inga Jensen mit Florian Schmidt, Bezirksstadtrat Friedrichshain-Kreuzberg, Berlin ................................................................................................................ 163
Öffentliche Hand und alles gut? Mieter*innen für die Demokratisierung der öffentlichen Wohnraumversorgung Bündnis »kommunal & selbstverwaltet Wohnen« ........................................................ 177
Wohnungsfrage(n) jenseits (groß-)städtischen Wachstums Wohnen auf dem Land: Infrastrukturen für »gleichwertige Lebensverhältnisse« Maike Simmank ................................................................................................... 193
Unter dem Radar Wohnungsfragen abseits der Wachstumsräume in Thüringer Klein- und Mittelstädten Barbara Schönig.................................................................................................. 207
Autorinnen und Autoren ............................................................................... 231
Wohnungsfrage(n) ohne Ende und überall?! Sechs Thesen für eine interdisziplinäre Wohnungsforschung Barbara Schönig und Lisa Vollmer
Städte und Regionen in Deutschland sind mit einer Vielzahl an Wohnungsfragen konfrontiert: In wachsenden Metropolregionen und Mittelstädten steigen die Mieten und Bodenpreise stetig an. Andernorts fehlt es vor allem an bedarfsgerechtem Wohnraum – und das nicht selten trotz erheblichen Leerstands. So wird es für weite Teile der Bevölkerung von einkommensschwachen Haushalten bis zur Mittelschicht, für Studierende oder Senior/-innen immer schwieriger, bezahlbaren und angemessenen Wohnraum zu finden. Dabei ständen durchaus geeignete Politiken und Instrumente für eine sozial gerechte Wohnraumversorgung zur Verfügung, die derzeit als »Ressourcen für ein Recht auf Wohnen« in Wissenschaft und Praxis, in Politik, sozialen Bewegungen und der Wohnungswirtschaft und in ganz unterschiedlichen Disziplinen und Professionen diskutiert werden. Die »Wohnungsfrage« im ureigentlichen Sinne – verstanden als unter kapitalistischen Bedingungen unauflösbarer Konflikt zwischen Wohnraum als Grundbedürfnis und als Ware (Holm 2011) – genoss ebenso wie konkrete Ansätze und Ressourcen, die im hier und heute zu einer sozial gerechteren Wohnraumversorgung beitragen können, in den letzten Jahren (nicht nur) in Deutschland große Aufmerksamkeit. Seit Beginn des jüngsten Zyklus an Wohnungspolitik (vgl. Rink et al. 2015) zeigt sich aber wieder einmal, dass allein die akut problembezogene gesellschaftliche und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Erfordernissen sozialer Wohnraumversorgung nicht ausreicht: Beschäftigt sich die Wohnungsforschung nur aus je aktuellem Anlass mit Fragen der Wohnraumversorgung, kann sie nur kurzfristig lösungsorientiert denken, ohne langfristige Strukturen zu erkennen und zu ändern. Oder sie bleibt darauf beschränkt – wieder einmal – grundsätzliche Widersprüche zu identifizieren, ohne in der Lage zu sein aus dieser Erkenntnis auch wirksame und konkret umsetzbare Alternativen zu formulieren. Eine zyklische Forschungstätigkeit zur Wohnungsfrage ist also weder gut für eine grundlagenorientierte Ausrichtung der Wohnungsforschung noch für anwendungsbezogene Fragestellungen, die mehr leisten
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wollen als kurzfristige Scheinlösungen. Die gesellschaftliche und wissenschaftliche Aufmerksamkeit für die Wohnungsfrage scheint – jedenfalls in Deutschland – mit der Beseitigung des drängendsten Mangels an Wohnraum stets zu versiegen. Und mit ihr die Chance, die komplexen Strukturen und Logiken des Wohnens und der Wohnraumversorgung mit eben jener feld- und disziplinübergreifenden Perspektive forschend zu entschlüsseln, deren Notwendigkeit sich gerade angesichts von »Wohnungskrisen« immer besonders dringlich zeigt. In sechs knappen Thesen möchten wir argumentieren, wie eine interdisziplinäre Wohnungsforschung eine solche Perspektive dauerhaft etablieren könnte.1
1.
Die Wohnungsfrage ist paradox: Sie ist universal und zugleich überall besonders, sie ist komplex und basiert zugleich auf einem schlichten Widerspruch.
Die »Wohnungsfrage« als solche ist nicht neu – im Gegenteil: Seitdem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zuge der Industrialisierung zunächst die Städte Westeuropas und Nordamerikas und ab Mitte des 20. Jahrhundert auch global rasant zu wachsen begannen, ist sie eine stetige Begleiterscheinung von Urbanisierung und städtischer Verdichtung. Gerade dort, wo Wohnraum besonders nachgefragt wurde, also in den wachsenden Städten und Regionen, war er stets auch besonders knapp und wurde vor allem für untere Einkommensschichten nicht zu bezahlbaren Preisen und in angemessener Qualität durch den Markt bereitgestellt. Dies liegt nicht zuletzt an den Besonderheiten des Guts Wohnen: notwendig gebunden an die begrenzte Ressource Boden, nur mit hohem Aufwand und langfristig bereitstellbar. Gleichzeitig ist Wohnraum ein individuelles Grundbedürfnis, dessen Bereitstellung eine wesentliche Voraussetzung für die Funktionalität von Städten, aber auch kapitalistischer Gesellschaften darstellt. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts reagierte folgerichtig staatliche Politik der sich etablierenden (westlichen) Wohlfahrtsstaaten auf nationaler und kommunaler Ebene auf diesen Widerspruch mit unterschiedlichen Strategien der Intervention und Regulierung des Wohnungsmarkts bzw. der Bereitstellung von Wohnraum – ohne ihn letztlich aufzulösen. In den Wohlfahrtsstaaten, die grundsätzlich danach streben, gesellschaftliche Strategien zur Verhandlung und kompromisshaften Lösung der Konflikte zwischen kapitalistischer Wirtschaftsform und demokratischer Legitimation zu finden (Lessenich 2016), blieb Wohnraum ein dem Markt nur ansatzweise
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Diese Thesen beruhen auf einem Antrag auf Einrichtung eines DFG-Schwerpunktprogramms, der gemeinsam mit Uwe Altrock, Ingrid Breckner, Björn Egner und Stephan Lessenich im Herbst 2019 eingereicht wurde. Die genannten Autor/-innen zählen auch zum Kreis der Herausgeber/-innen der mit diesem Band neu begründeten Reihe der »Interdisziplinären Wohnungsforschung«.
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entzogenes Gut. So wurde in der Geschichte der deutschen Wohnungspolitik (mit Ausnahme der DDR) seit dem 19. Jahrhundert bis heute im Einklang mit dem Prinzip der sozialen Marktwirtschaft direkte staatliche Intervention in den Wohnungsmarkt, z. B. durch sozialen Wohnungsbau, stets nur als ein temporärer Eingriff in einen an sich als funktional betrachteten, aber kurzfristig krisenhaften Wohnungsmarkt gedacht (Schönig/Vollmer 2018). Zugleich aber haben sich die Bedingungen, unter denen Wohnraum bereitgestellt wird, also produziert, gestaltet und nachgefragt wird, in den letzten 150 Jahren stetig gewandelt. Durch die letzte Transformation der Wohnraumversorgung seit den 1970er Jahren, verschiedentlich als post-fordistische, neoliberale oder finanzmarktdominierte Phase bezeichnet, stellt sich die Wohnungsfrage in wachsenden Städten und Regionen heute wieder verstärkt als Frage der Bezahlbarkeit für untere Einkommensschichten. Beigetragen hierzu hat neben dem sukzessiven Rückzug des Bundes aus der Wohnungspolitik und lokalen unternehmerischen Stadtpolitiken auch die Finanzialisierung der Wohnraumversorgung im Kontext der hohen Dynamik globaler liberalisierter Finanzmärkte, die Wohnraum noch stärker zu einem Gut werden ließ, das trotz seiner konkreten räumlich lokalen Materialität als abstrakter, quasi ortloser Geldwert gehandelt wird. Gleichzeitig haben die gesellschaftliche Spreizung zwischen verschiedenen Schichten in Bezug auf Erwerbseinkommen und Vermögen, aber auch die Diversifizierung von Wohn- und Lebensmodellen die Bandbreite an Wohnoptionen und -wünschen mit Blick auf Lage, Gestaltung und Preise erheblich ausgeweitet. Wie bei kaum einem anderen Gut, ist der Markt für Wohnraum heute intransparent und seine zukünftige Entwicklung unübersichtlich. Dazu trägt auch bei, dass die Bedingungen der Produktion, Gestaltung und Nutzung von Wohnraum im Vergleich zwischen Stadt und Land, zwischen schrumpfenden und wachsenden Regionen, zwischen Industrieländern und Ländern des sogenannten globalen Südens erheblich divergieren. Folgerichtig scheint es also nicht nur eine, sondern eine Vielzahl von Wohnungsfragen zu geben, deren gemeinsame Wurzel jedoch das grundsätzlich konflikthafte Verhältnis des Wohnens als Ware und Grundbedürfnis zugleich ist. Angesichts dieser Komplexitäten, der gesellschaftlichen Bedeutung und auch globalen Dimension der »Wohnungsfrage(n)« erscheint es geradezu zwingend, die gesellschaftlichen Strukturen und Bedingungen der Wohnraumversorgung zum Gegenstand von Forschung und wissenschaftlichem Diskurs werden zu lassen. Und zwar nicht nur dann, wenn Wohnraumversorgung aufgrund akuten Mangels an bezahlbarem Wohnraum ohnedies gesellschaftliche, politische und mediale Aufmerksamkeit genießt wie in den letzten Jahren in Deutschland.
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2.
Die Wohnungsforschung muss die vier Dimensionen der Wohnraumversorgung Regulierung und Steuerung, soziale Praktiken, räumliche Materialisierung und Aushandlungsprozesse und deren wechselseitige Bezüge in den Blick nehmen.
Will man nun Wohnungsfrage(n) in diesem Sinne zum Gegenstand der Forschung werden lassen, so wird schnell deutlich, dass dieses Unterfangen schon aufgrund der Bestimmbarkeit des Gegenstands, der in den Fokus zu nehmen ist, eine Herausforderung darstellt: Je nachdem, ob von dem Wohnen, der Wohnung, der Wohnraumversorgung, dem Wohnungsbau oder dem Wohnungsmarkt die Rede ist, werden Vertreter/-innen unterschiedlicher Disziplinen (und auch derselben) ganz unterschiedliche Vorstellungen haben, welche Aspekte und Fragestellungen im Mittelpunkt von Forschung stehen (sollten). Architektonisch-gestalterische Aspekte mögen den einen mehr interessieren, während für die andere Fragen des mit dem Wohnen verbundenen Lebensstils stärker im Mittelpunkt stehen. Fragen der Einbettung der Wohnung in die Nachbarschaft sind für die eine von Interesse, Fragen der Zugänglichkeit von einkommensarmen Gruppen zur Wohnraumversorgung für den anderen. Gemeinsam ist jedoch allen, dass in der Forschungspraxis, zumal, wenn sie sich vor gesellschaftlichen, anwendungsbezogenen Fragestellungen nicht verschließt, schnell auffällt, dass einzelne Aspekte kaum ohne ihre Wechselwirkung mit den anderen gedacht werden können. So lässt sich der Lebensstil im Wohnen kaum unabhängig von seiner Verortung in bestimmten Räumen oder in einem konkreten Haus denken. Nur ein Beispiel sei hierfür genannt: Die wohnungspolitische Frage nach der Zugänglichkeit sozialen Wohnungsbaus zieht unweigerlich die Frage nach sich, ob dieser in gentrifizierten Quartieren einen Platz finden kann. Um all diesen Aspekten gerecht zu werden, wird Wohnraumversorgung als ein komplexes Gefüge und Wechselspiel von vier unterschiedlichen Dimensionen konzeptualisiert: 1. Gesellschaftliche Regulierung und politische Steuerung bestimmen das Verhältnis von Staat und Markt bei der Bereitstellung und Verteilung von Wohnraum wesentlich mit. Wenngleich Wohnraumversorgung in kapitalistischen Gesellschaften grundsätzlich marktförmig organisiert ist, unterscheiden sich die Normen und Strukturen von Regulierung und Steuerung im nationalen aber auch lokalen Vergleich, da sie in Abhängigkeit von historischen und gesellschaftlich spezifischen Bedingungen entstehen. 2. Soziale Praktiken des Wohnens werden geprägt von gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen, Werten und Normen und strukturieren ihrerseits die Nutzung von und Nachfrage nach Wohnraum. Praktiken des Wohnens sind eng mit dem Wandel von Lebensverhältnissen, Geschlechterverhältnissen, meist
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bürgerlich geprägten Familienidealen, und dem Verständnis von Öffentlichkeit und Privatheit verknüpft. Unter den sozialen Praktiken des Wohnens lassen sich ebenso Umgangsformen mit prekarisierten Wohn- oder Unterbringungsformen bis hin zu Formen des Nicht-Wohnens fassen. 3. Wohnraum materialisiert sich notwendigerweise in baulicher und (sozial-)räumlicher Form, die zukünftige Entwicklungen als materielle Struktur mitbestimmt und als räumliche Materialisierung gefasst werden kann. Folgerichtig ist dem Wohnen nicht nur stets eine baulich-räumliche Form eigen, es zieht auch unweigerlich die Frage nach der gesellschaftlichen Verteilung begrenzt vorhandener räumlicher Ressourcen nach sich. In der baulich-räumlichen Form und (stadt-)räumlichen Organisation des Wohnens spiegeln sich daher gesellschaftliche (soziale, ökonomische, politische und kulturelle) Strukturbedingungen. Umgekehrt aber strukturiert die räumliche Materialisierung der Wohnraumversorgung Alltagspraktiken und soziale Interaktionen, indem sie beispielsweise Mobilität, gleichberechtigte geschlechtliche Arbeitsteilung, Kontakt zwischen sozialen Schichten usw. ermöglicht oder verhindert. Aufgrund ihrer spezifischen Merkmale (z. B. hohe Produktionskosten, lange Lebensdauer oder institutionelle Komplexität) sind die räumlichen Strukturen der Wohnraumversorgung zudem von relativer Persistenz und schaffen Pfadabhängigkeiten für zukünftige Entwicklungen. Das Wechselspiel dieser Dimensionen wird in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen stetig neu verhandelt. Aushandlungsprozesse um Wohnraumversorgung verlaufen notwendigerweise konflikthaft, weil sie unter kapitalistischen Produktionsbedingungen vom Spannungsverhältnis zwischen dem Grundbedürfnis Wohnen, also dem Wohnen als Zuhause, und der Wohnung als Ware, das heißt als renditeträchtige Immobilie, geprägt sind (Harloe 1995; Holm 2011; Madden/Marcuse 2016). Dabei versuchen jene Akteure, die Wohnraum anbieten oder nachfragen, gleichermaßen Einfluss auf die Regulierung der Wohnraumversorgung zu nehmen, stehen miteinander in Konflikt und organisieren sich in unterschiedlichen Interessensvertretungen, abhängig von gesellschaftlichen Kontextbedingungen. Diese vier aufeinander bezogenen Dimensionen der Wohnraumversorgung gilt es, möglichst integriert in ihren Wechselwirkungen zu betrachten (vgl. Abb. 1). Dabei ergibt sich schon aus dem Fokus der jeweiligen Dimensionen einerseits und ihrer bereits erwähnten wechselseitigen Bezüge andererseits die Notwendigkeit einer interdisziplinären Perspektive. Gespeist wird diese aus ganz unterschiedlichen Disziplinen, zum Beispiel aus Architektur, Geographie, Geschichtswissenschaft, Ökonomie, Planungswissenschaften, Politikwissenschaft oder Soziologie, die jeweils ihre eigenen Perspektiven auf den Gegenstand der Wohnraumversorgung, ih-
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Abbildung 1: Die vier Dimensionen von Wohnraumversorgung Quelle: Eigene Darstellung.
re theoretischen Konzeptualisierungen und methodischen Werkzeuge mitbringen. Unterschiedliche Fächerkulturen, wissenschaftliche Diskurse und auch Erkenntnisinteressen machen einen Austausch gewiss nicht immer leicht. Er ist aus unserer Sicht aber unumgänglich, wenn die Wohnraumversorgung in ihrer Komplexität erfasst werden soll. Denn nur so lassen sich die bisher fragmentierten Forschungserkenntnisse zur Wohnraumversorgung und ihrem Wandel als Entwicklungen mit gemeinsamen Ursachen und gegenseitigen Wechselwirkungen verstehen.
3.
Der Wandel der Wohnraumversorgung führt zur Herausbildung historisch und lokal spezifischer Wohnraumregime.
In allen vier Dimensionen der Wohnraumversorgung (Regulierung, soziale Praktiken, räumliche Materialisierung und Aushandlungsprozesse) lässt sich seit den 1970er Jahren ein Wandlungsprozess feststellen, der eng mit Transformationsprozessen unter den Bedingungen des globalisierten flexiblen Kapitalismus (Lessenich
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2008) seit der »Krise des Fordismus« und den damit verbundenen Prozessen gesellschaftlicher Pluralisierung und Individualisierung zusammenhängt (u. a. Ball et al. 1988; Kemeny 1995; van der Heijden 2013). International lässt sich mit Blick auf Regulierung und Steuerung von Wohnraumversorgung seit den 1970er Jahren insbesondere ein Wandel nationaler Systeme der Wohnraumversorgung beobachten, im Zuge derer Wohnraumversorgung einerseits sukzessive vermarktlicht (u.a. Harloe 1995; Kleinman 1996; Arbaci 2007; Aalbers 2016; Jacobs 2019) und andererseits von der nationalen Ebene »nach unten« delegiert (also »reskaliert«) wurde, und zwar insbesondere auf die lokale Ebene (Schönig et al. 2017). In Deutschland zeigen sich diese Bewegungen unter anderem in der Ausweitung subjekt- d.h. nachfrageorientierter Strategien der Wohnraumversorgung (z. B. Wohngeld) gegenüber objekt- bzw. angebotsorientierten Strategien, wie z. B. sozialem Wohnungsbau. Nachdem jahrelang Wohnungspolitik wenig Aufmerksamkeit in Politik und Stadtentwicklung genoss und lokale Steuerungsmacht beispielsweise durch den Verkauf von Liegenschaften und kommunalen Wohnungsbeständen eingebüßt wurde, haben demgegenüber Kommunen und Länder angesichts dieser Situation in den letzten Jahren vielerorts begonnen, lokale Strategien zur Sicherung sozialer Wohnraumversorgung zu entwickeln. Allerdings werden diese Gegenstrategien (z. B. Einheimischenmodell, kommunale Wohnungsunternehmen) durch supranationale Regulierungen wie EU-Antidiskriminierungs- und Wettbewerbsrichtlinien erschwert (Kleinman et al. 1998; Czischke 2014). Seit den 1980er Jahren zeichnen sich nach wohnsoziologischen Befunden (Häußermann/Siebel 1996) auch grundlegende Veränderungen der sozialen Praktiken des Wohnens ab. Die Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen, die Entgrenzung von Arbeit und Freizeit, der kulturelle Wandel von Geschlechterrollen, politische Liberalisierung und globale ökonomische Vernetzung führen zu einer Pluralisierung von Lebensstilen und Familienformen, auch mit Auswirkungen auf alltägliche Wohnpraktiken, -ideale und -formen (Spiegel 1986; Breckner 2019). Im Zuge dieser Entwicklungen wurde das fordistische Konzept des Wohnens, wie es sich in der BRD nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte, zunehmend abgelöst. Dieses basierte auf der Trennung von Lebensbereichen (Arbeit/Wohnen/Freizeit), gesellschaftlichen Feldern (Privatheit/Öffentlichkeit) und familiären, meist geschlechtlich und generationell (Mann/Frau/Kind) konnotierten Räumen mit hohen, meist am Automobil orientierten Mobilitätsanforderungen. Gleichzeitig hat die Vermarktlichung der Wohnungspolitik das Wohnen in zunehmende strukturelle Abhängigkeit von Einkommensverhältnissen gebracht. Dies ebenso wie soziale Polarisierung der Gesellschaft in Gänze haben sozialräumliche Segregation nach Einkommen und sozialen Milieus und die Herausbildung spezifischer habitueller Praktiken in den polarisierten Räumen verstärkt (Dangschat/Blasius 1994; Münch 2010; Keller 2013; Bürkner 2014; Frank 2014; Menzl 2007).
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Dieser Wandel der Wohnpraktiken findet ebenso wie auch der Wandel der Regulierung und Steuerung seinen Niederschlag in der räumlichen Materialisierung der Wohnraumversorgung und ging mit einem baukulturellen und Leitbildwandel im Wohnungs- und Städtebau einher (Aue et al. 2015; Urban 2012; Zupan 2018). Dies zeigt sich nicht nur daran, dass sozialer Wohnungsbau heute kaum mehr nach dem Leitbild der städtebaulichen Moderne, sondern stets in sozial und funktional gemischten Quartieren entsteht (Schönig 2018). Es zeigt sich auch an der Zunahme urbaner Dichte (Wüstenrot-Stiftung 2007; Müller 2015; Heide/von Beckerath 2016), von flexiblen Grundrissen (Hugentobler et al. 2016; Praeger/Richter 2016), Gemeinschaftsflächen (Kries et al. 2017; ARCH+ 2018), barrierefreiem und generationenübergreifendem Bauen (Schittich 2007) oder möblierten Mikroapartments (Gregorius/Niemeyer 2017). All dies lässt sich einerseits als Adaption an veränderte Wohnpraktiken verstehen, aber eben auch mit steigenden Bodenpreisen und Wohnkosten in Folge des Wandels von Regulierung und Steuerung der Wohnraumversorgung in Verbindung bringen. Vielfach wurde auch auf die (sozial-)räumlich polarisierenden Effekte von Vermarktlichung und Reskalierung von Wohnraumversorgung sowie ihre Verbindung mit aufwertungsorientierten Strategien der Stadtentwicklungs- und Bodenpolitik hingewiesen (Belina et al. 2011; Fields/Uffer 2016; Helbig/Jähnen 2018), die sich vor allem in innerstädtischen Quartieren von Großstädten als Gentrifizierungsprozesse zeigen (Holm 2013a; Altrock 2014; Helbrecht 2016; Mösgen/Schipper 2017). Gleichzeitig haben sich auch in strukturschwachen Regionen trotz bzw. zum Teil gerade aufgrund schrumpfender Wohnungsnachfrage die Bedingungen für die Bereitstellung angemessener Wohnraumqualität verschlechtert, beispielsweise weil private Investitionen in Wohnraum ausbleiben, knappe öffentliche Kassen, Leerstand von Immobilien und der Abbau von Wohnfolgeeinrichtungen gerade auch die Wohnumfeldqualität beeinträchtigen (Kühn/Liebmann 2009; Schiffers 2009; Bernt et al. 2017; Schönig in diesem Band; Vogel 2017). Dort, wie in den wachsenden Städten und Regionen, stellt sich der Grad der staatlichen Intervention in Wohnraumversorgung als ein umkämpftes Feld gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse dar. In die Regulierung der Wohnraumversorgung waren, gerade im korporatistisch verfassten Wohlfahrtsstaat der BRD, schon immer eine Reihe marktwirtschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure eingebunden. Die Anzahl und Erscheinungsformen der beteiligten Akteure nahmen in der Folge neuer Governance-Muster (Demirović/Walk 2011) durch die Neujustierung des Verhältnisses von Staat, marktwirtschaftlichen Akteuren und Bürger/-innen ab den 1980er Jahren gleichwohl zu (Borchard 2011; Alisch/Dölker 2011; Altrock/Bertram 2012), unter anderem durch öffentlich-private Partnerschaften (Silomon-Pflug et al. 2013; Engartner 2016) und gestiegene Ansprüche an Partizipationsverfahren (Selle 2013). Vergleichbar zu anderen hat auch dieses Politikfeld an Unübersichtlichkeit gewonnen, was wiederum die Komplexität
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gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse erhöht (vgl. Heinelt/Egner 2006: 213f.). Dies lässt sich gegenwärtig bei einer Vielzahl von lokalen Aushandlungsprozessen beobachten, in denen Ausmaß, Form und zum Teil auch Ort staatlicher Intervention in lokale Wohnungsmärkte kontrovers verhandelt werden, vor allem durch mietenpolitische Bewegungen (Vogelpohl et al. 2017; Rinn 2016; Vollmer 2019; Rink/Vollmer 2019). Dabei gerät die Legitimation finanzialisierter Akteure des Wohnungsmarkts ebenso in den Blick wie die Erschließung neuer Flächen für (sozialen) Wohnungsbau von Anwohner/-innen laut in Frage gestellt wird oder die Unternehmenspolitik kommunaler Wohnungsunternehmen unter Druck gerät. Im Lichte dieser Aushandlungsprozesse wiederum zeigt sich, wie sich durch die Kommunalisierung der Wohnungspolitik auch lokale Strategien der Regulierung und Steuerung von Wohnraumversorgung verändert haben (Vogelpohl/Buchholz 2017; Vollmer/Kadi 2018; Rinn 2018) und sich weiterhin divergent entwickeln könnten. Dieser hier allenfalls in Ansätzen skizzierte Wandel der Wohnraumversorgung in ihren vier Dimensionen zeigt, wie stark diese Prozesse aufeinander bezogen sind. Regulierung und Steuerung der Wohnraumversorgung wurden vermarktlicht und erfolgen unter den Bedingungen verstärkter lokaler beziehungsweise regionaler Verantwortung einerseits und globaler Marktdynamiken andererseits. Mit der Pluralisierung und Differenzierung von Lebensformen und -stilen geht die Vervielfältigung von Wohnformen und -praktiken einher. Räumliche Zentralisierungsund Peripherisierungs- sowie Segregationstendenzen spiegeln die Trends gesellschaftlicher Polarisierung, während sich zugleich die (städte-)baulichen Formen des Wohnens diversifizieren. All diese Entwicklungen haben die Konflikthaftigkeit von Aushandlungsprozessen um die Wohnraumversorgung deutlich ansteigen lassen, ebenso wie die Zahl der an Produktion und Governance beteiligten Akteure. In dieser integrierten Perspektive wird deutlich: Die Wohnraumversorgung in ihren vier Dimensionen ist das Ergebnis historisch, national, aber auch lokal geprägter Bedingungen. Dieses räumlich und zeitlich spezifische Arrangement von Institutionen und Regelungen, sozialen und kulturellen Normen sowie baulichräumlicher Materialität der Wohnraumversorgung fassen wir unter dem Begriff »Wohnraumregime«. Dieser Begriff ist angelehnt an die Begriffe »Wohlfahrtsregime« und »housing system« bzw. »housing regime« (siehe These 4, vgl. u.a. Kemeny 2001; Matznetter/Mundt 2012; Dewilde 2017). Als Wohnraumregime können also spezifische Ausprägungen der Wohnraumversorgung identifiziert und deren Wandel betrachtet werden. Dafür ist es notwendig, auf gesellschaftswissenschaftlich informierte Forschungsansätze zurückzugreifen.
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Abbildung 2: Wohnraumregime: Entwicklungstrends und Wechselwirkung der vier Dimensionen der Wohnraumversorgung in Deutschland seit den 1970er Jahren Quelle: Eigene Darstellung.
4.
Um Wandel und Ausprägung der Wohnraumversorgung zu erklären, bedarf es eines interdisziplinären, gesellschaftstheoretisch informierten und vergleichend angelegten Forschungsansatzes.
Um das Wechselspiel der vier Dimensionen und die räumlich und zeitlich spezifische Ausprägung von Wohnraumregimen zu konzeptualisieren, schlagen wir eine gesellschaftswissenschaftlich rückgebundene Wohnungsforschung vor, die theoretische Konzepte und Erklärungsansätze erstens aus den auf Wohlfahrtsregimeforschung orientierten internationalen Housing Studies, zweitens aus der vergleichenden Stadtforschung und drittens aus der sozio-technischen Infrastrukturforschung bezieht. In den internationalen Housing Studies, die im Vergleich zum deutschen Kontext deutlich stärker institutionalisiert sind, wird die gegenseitige Bedingtheit von
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Wohnraumversorgung und gesellschaftlichen Strukturen (Kemeny 1992; Housing, Theory and Society 2018) seit den 1990er Jahren vor allem durch Ansätze aus der Wohlfahrtsregimeforschung (Esping-Andersen 1990, 1999; Lessenich/Ostner 1998; Allen 2006) gesellschaftstheoretisch gefasst (Matznetter/Mundt 2012). Dass die Wohnraumversorgung umgekehrt in der Wohlfahrtsregimeforschung äußerst selten betrachtet wird (ebd.: 276), lässt sich mit ihrer besonderen Stellung erklären. Im Gegensatz zu anderen Bereichen der wohlfahrtstaatlichen Versorgung (wie z. B. Gesundheit) ist sie deutlich marktnäher organisiert, da das Eigentum an Boden einen zentralen Grundpfeiler kapitalistischer Wirtschaftssysteme darstellt (Harloe 1995). Dennoch ist die Wohnraumversorgung eine tragende, wenn auch »wackelige« Säule von Wohlfahrtsregimen (Torgersen 1987). In Anlehnung an die Wohlfahrtsregimeforschung hat die internationale vergleichende Wohnungsforschung verschiedene Erklärungsansätze für die unterschiedlichen Ausprägungen von Wohnraumregimen hervorgebracht (Kemeny/Lowe 1998; Donnison/Ungerson 1982; Ball et al. 1988; Ball/Harloe 1990; Kemeny 1992; Harloe 1995; Kemeny 1995; Balchin 1996; Kemeny et al. 2005; Arbaci 2007; Hoekstra 2010; Hoekstra 2013; van der Heijden 2013; Kohl 2016). Allerdings weist die internationale Wohnungsforschung zwei Defizite auf: Erstens argumentiert sie vornehmlich national vergleichend und kann den aktuellen Trend zu einer Pluralisierung von Wohnungspolitik auf subnationaler Ebene nur unzureichend erfassen. Zweitens nimmt sie die materielle und räumliche Struktur des Wohnens kaum in den Blick. Um die Effekte der Dezentralisierung nationaler Wohnraumversorgung und die Relevanz lokaler Bedingungen und Akteure zu erfassen, bieten sich Zugänge der vergleichenden Stadtforschung an. Denn in der Stadtforschung ist dieser Reskalierungsprozess ausführlich konzeptualisiert worden (Mayer 1990; Brenner/Theodore 2002; Brenner 2004; Seller 2002), wobei betont wurde, dass die lokale Variation zunimmt (Theodore et al. 2011; Jessop 2004). Seit den 2000er Jahren wird in der Stadtforschung eine intensive Debatte zum vergleichenden Vorgehen geführt, ausgelöst von gesellschaftlicher Globalisierung und der Globalisierung der Stadtforschung selbst. Diese Entwicklungen öffneten den Blick sowohl auf konvergente Prozesse als auch auf lokale Partikularitäten (Nijman 2015: 183). Dabei sollte die städtische Ebene nicht als starre, überall einheitlich strukturierte und unwandelbare Entität verstanden werden, sondern angesichts der Reskalierungsprozesse und der zunehmenden Interkonnektivität unterschiedlicher Kontexte selbst als relational (Ward 2010). Unterschiedliche räumlich-strukturelle Merkmale beeinflussen einerseits die Ausprägung von Städten, andererseits sind sie aber nicht als gesetzte Bedingungen zu verstehen, sondern selbst als produziert (Hoerning 2014). Perspektiven der vergleichenden Stadtforschung, die insbesondere auch die Dimensionen des Wandels von Stadtentwicklungspolitik, lokale Macht- und Akteurskonstellationen und ihre räumlichen Effekte in den Blick nehmen, ermögli-
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chen es, Erklärungsansätze für die Ausdifferenzierung lokaler Wohnraumregime zu erarbeiten. Auch in der vergleichenden Stadtforschung findet allerdings die räumliche Materialisierung der Wohnraumversorgung kaum Beachtung. Diesem Defizit zu begegnen, kann gelingen, indem Wohnraumversorgung als Infrastruktur von Wohlfahrtsregimen betrachtet wird und Ansätze aus der (raumbezogenen) sozio-technischen Infrastrukturforschung in die Forschungsperspektive integriert werden.2 In der Infrastrukturforschung wird die Wohnraumversorgung nur selten als eine Infrastruktur aufgezählt,3 obwohl sie viele ihrer technischen und institutionellen Merkmale aufweist: lange Lebensdauer, räumliche Immobilität, Höhe der Investition und einen gewissen Zwang zur zentralen Planung (vgl. Jochimsen 1966). Es ist zu vermuten, dass sich der (häufige) Ausschluss der Wohnraumversorgung aus dem Spektrum der Infrastrukturen weniger aus einer kategorisierenden Schärfe als aus der empirischen Realität ihrer marktnahen Organisation ergibt. Dabei bietet gerade die sozio-technische Infrastrukturforschung (u. a. Mayntz/Hughes 1988; Tarr/Dupuy 1988; Summerton 1994, Coutard 1999) interessante Anknüpfungspunkte für die Wohnungsforschung. Sie betrachtet die materiellen Formen und räumlichen Ausprägungen von (meist technischen und oft netzgebundenen) Infrastrukturen als Produkt gesellschaftlicher und institutioneller Rahmenbedingungen, die sie umgekehrt beeinflussen. Infrastrukturen entfalten, wie die Wohnraumversorgung, notwendigerweise auf lokaler Ebene Raumwirksamkeit und sind für räumliche Disparitäten und Ungleichheitseffekte verantwortlich (Schmidt/Monstadt 2018: 977), wie sie auch die Stadtforschung zu Infrastrukturen beobachtet (u. a. IJURR 2000; Monstadt 2007; McFarlane/Rutherford 2008; Flitner et al. 2017). Mit Ansätzen der Infrastrukturforschung ist es möglich, die durch institutionelle und materielle Strukturen gesetzten Pfadabhängigkeiten einmal geschaffener Infrastrukturen (van Laak 2006) und räumliche und soziale Effekte ihrer Verortung, ihrer institutionellen Organisation und Verteilung (Monstadt/Naumann 2005) zu konzeptualisieren. So ist ein allgemeiner Wandel in der Bereitstellung und Governance von Infrastruktur festgestellt worden
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Dabei grenzen wir uns von dem eher normativ-praktischen Diskurs in Deutschland und den internationalen Housing Studies ab, der Wohnraumversorgung aus politisch-strategischen Gründen in den Rang einer sozialen Infrastruktur erheben will, dies jedoch nur auf die wohlfahrtsstaatliche Versorgung unterer Einkommensgruppen bezieht und damit nur die soziale Wohnraumversorgung, nicht aber die gesamte Wohnraumversorgung als Infrastruktur denkt (vgl. Holm 2013b; Lawson et al. 2019). Sie wird teils explizit ausgeschlossen, weil sie das Ausschlussprinzip erfüllt: Um die Nutzung einer einzelnen Wohnung gibt es, anders als zum Beispiel um die Nutzung des Abwassersystems, Konkurrenz. Eine Wohnung wird ausschließlich durch einen Haushalt genutzt. Betrachtet man einzelne Wohnungen über ihre gesamte Nutzungsdauer und die Wohnraumversorgung als Ganzes, trifft dieses Argument weniger zu.
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(Graham/Marvin 2001; Guy et al. 2011; O’Neill 2019), welcher deutliche Parallelen zu dem oben beschriebenen Wandel der Wohnraumversorgung aufweist. Die sozio-technische Infrastrukturforschung bietet also Anknüpfungspunkte für eine interdisziplinäre Wohnungsforschung, weil mit ihr die Verknüpfung materieller Strukturen und gesellschaftlicher Prozesse betrachtet und erklärt werden kann. In Kombination dieser Perspektiven verstehen wir Wohnraumversorgung als Infrastruktur von Wohlfahrtsregimen, die geprägt durch das Wechselspiel der vier Dimensionen Regulierung, soziale Praktiken, räumliche Materialisierung und Aushandlungsprozesse als historisch sowie national und lokal spezifische Wohnraumregime erscheinen.
5.
Die interdisziplinäre Wohnungsforschung muss die Wohnungsfrage(n) räumlich differenziert betrachten.
Wie aus dem oben skizzierten Wandel der Wohnraumversorgung bereits deutlich geworden ist, differenziert sich die Wohnungsfrage seit den 1970er Jahren räumlich aus. Gesellschaftliche Aufmerksamkeit erfährt in Deutschland derzeit vor allem die Mietpreisexplosion in den Metropolen, vielleicht noch in der ein oder anderen Großstadt. Aber die Wohnungsfrage stellt sich überall: in Mittel- und Kleinstädten und dem ländlichen Raum genauso wie in den Großstädten. Und sie stellt sich überall auf unterschiedliche Weise: Während in den wachsenden Groß- und Mittelstädten, Stadtregionen und auch in wachsenden ländlichen Räumen vor allem der Mangel an bezahlbarem Wohnraum im Mittelpunkt steht (vgl. Bodenschatz/Harlander 2019: 307), sind es in schrumpfenden Regionen in Stadt oder Land der Umgang mit Leerstand, der Mangel an angemessenem, zum Beispiel barrierefreiem, Wohnraum und der Abbau der Infrastruktur der Daseinsvorsorge. Eine weitere Differenzierung sollte zwischen strukturstarken und -schwachen Räumen vorgenommen werden: Nicht jeder ländliche Raum schrumpft oder ist ökonomisch peripherisiert. Vor allem in Süddeutschland finden sich auch äußert strukturstarke und trotzdem eher ländlich geprägte Räume, deren wohnungspolitische Herausforderungen, wie z. B. Mietsteigerungen, jenen von Großstädten ähneln, ihr institutioneller Kontext aber dem anderer ländlicher Räume. Nicht nur die räumlichen Bedingungen, die diese Fragen beeinflussen, sondern auch die institutionellen Voraussetzungen, auf diese Fragen zu reagieren, sind in den unterschiedlichen Räumen sehr verschieden. All diese Parameter gilt es, in einer räumlich differenzierten Betrachtung der Wohnungsfrage(n) einzubeziehen. Trotz dieser Ausdifferenzierung der Wohnungsfrage(n) und dem konstatierten Forschungsbedarf zu deren Unterschiedlichkeit, lassen sich, wenn man die gesellschaftswissenschaftlich informierte Perspektive der Wohnungsforschung anwendet, doch gemeinsame strukturelle Ursachen der vielfältigen Probleme erkennen. So lässt sich durchaus ein Zusammenhang zwischen dem Abbau der Daseinsvor-
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sorge in großen Teilen des ländlichen Raums und der zunehmenden Zuwanderung in Städte und Stadtregionen herstellen, wo dieses Wachstum den Bedarf an Wohnraum erhöht. Aber auch jenseits dieser direkten Verbindung, lassen sich gemeinsame Ursachen der diversen Wohnungsfrage(n) finden. Exemplarisch sollen hier die fehlenden Steuerungsressourcen der öffentlichen Hand, das Vordringen finanzmarktorientierter Wohnungsmarktakteure und die Frage von Flächenverbrauch als gemeinsame Ursachen für Wohnungsfragen kurz erläutert werden, die sich sowohl in wachsenden, städtischen Regionen als auch in schrumpfenden, ländlichen stellen So liegt eine gemeinsame Ursache für städtische und ländliche Wohnungsfragen gleichermaßen im Verlust bzw. Verzicht der öffentlichen Hand auf Steuerungsressourcen der Wohnraumversorgung, sei es durch den Verkauf kommunaler Wohnungsunternehmen, den Verzicht auf aktive Bodenpolitik oder den Abbau von Fachpersonal in der Verwaltung. Grundsätzlich wird der Wohnungsmarkt in Deutschland heute nur noch zu einem geringen Anteil durch Akteure beeinflusst, die per Satzung (z. B. bei kommunalen Unternehmen) oder Organisationsform (etliche Genossenschaften, Mietshäusersyndikate u. a.) darauf verpflichtet sind, bezahlbaren Wohnraum bereitzustellen oder nicht-profitorientiert zu bewirtschaften. Weiterhin zeigen sich überall die Folgen der Finanzialisierung der Wohnraumversorgung, und zwar nicht nur durch die Präsenz finanzmarktorientierter Wohnungsunternehmen im Mietwohnungssektor, sondern beispielsweise auch in der zunehmenden Nutzung von Wohneigentum als Kapitalanlage und Altersvorsorge privater Kleinanleger/-innen. Die Verwertungsstrategien insbesondere der großen institutionellen finanzmarktorientierten Akteure mögen unterschiedlich sein: Sie reichen von der schlichten Extraktion von staatlich bezahlten und daher gesicherten Kosten-der-Unterkunft-Mieten aus preiswerten Beständen in peripherisierten Quartieren, dem sogenannten »Modell Hartz IV« (Bernt et al. 2017), bis zur gezielten aufwertungsorientierten Investition in hippe innerstädtische Großstadtquartiere. Jeweils aber gilt, dass sich das Interesse der Eigentümer/-innen nicht auf die Interessen der Bewohner/-innen der betreffenden Häuser oder Nachbarschaften richtet, was sich je nach Lage, Wohnungsbestand und sozialräumlichen Bedingungen in wahlweise mangelnder Instandhaltung und Quartiersentwicklung oder Mietpreissteigerungen und Verdrängung niederschlägt. Sie wirken damit letztlich auch auf die Diversifizierung bzw. Polarisierung der Praktiken des Wohnens in diesen spezifischen Quartieren bzw. für die jeweiligen sozialen Gruppen zurück. Als weiteres Beispiel lassen sich die negativen ökologischen und sozialen Konsequenzen des Idealbilds vom Wohnen im Einfamilienhaus und der auf Einfamilienhausförderung bezogenen Politiken unterschiedlicher Ebenen anführen, die sich sowohl im ländlichen als auch im städtischen Raum zeigen. So weisen Städte und Gemeinden nicht nur in wachsenden Regionen, wo vor allem tendenziell höher
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verdichteter, bezahlbarer Wohnraum für untere Einkommensgruppen gebraucht wird, sondern auch in schrumpfenden Regionen neue Einfamilienhausgebiete aus, obwohl aufgrund des Bevölkerungsrückgangs bereits kurzfristig mit Leerstand in bestehenden Einfamilienhaussiedlungen zu rechnen ist. In beiden Fällen kommen die Kommunen damit vor allem aus, um den Wohnwünschen wohneigentumsfähiger Mittelschichten nach, um diese aus fiskalischen Gründen vor Ort anzusiedeln oder zu halten. Der mit diesen Politiken verbundene Flächenverbrauch zeigt die Relevanz ökologischer Aspekte der Wohnungsfragen.
6.
Eine institutionalisierte Wohnungsforschung muss die Strukturen und Logiken der Wohnraumversorgung und ihres Wandels auch jenseits wohnungspolitischer Zyklen im Blick behalten.
Im Unterschied zur Situation in anderen Ländern ist es in Deutschland bisher nicht gelungen, die Wohnungsforschung als eigenständiges Forschungsfeld zu etablieren und zu institutionalisieren. Stattdessen unterliegt die wissenschaftliche Aufmerksamkeit für das Thema denselben Zyklen wie die gesellschaftliche (Krätke 1988; Schipper/Schönig 2020). Dies hat Konsequenzen: Neben einem immer wieder unterbrochenen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn, ist die Wissenschaft auch nicht bereit, mit angemessener Dauerhaftigkeit die gesellschaftlichen Fragestellungen der Wohnraumversorgung zu begleiten. Eine interdisziplinäre Wohnungsforschung muss deshalb auf ihre eigene Institutionalisierung hinarbeiten und auch und gerade antizyklisch zur gesellschaftlichen Aufmerksamkeit forschen – genauso wie sie außerdem in den (peripherisierten) Räumen forschen sollte, die weniger gesellschaftliche Aufmerksamkeit erhalten. Es gilt, eine Wohnungsforschung zu etablieren, die durch Interdisziplinarität der Komplexität des Wohnens und der Wohnraumversorgung gerecht werden kann. Eine Wohnungsforschung, die die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingungen und Möglichkeiten der Sicherung von Wohnraumversorgung ins Zentrum ihres Interesses stellt und diese im Kontext sich wandelnder lokal, regional und national divergierender Kontexte zu reflektieren versteht.
Aufbau und Beiträge des Sammelbandes Eine interdisziplinäre Wohnungsforschung, wie sie hier in ihren Grundzügen skizziert worden ist, zielt darauf, die Bedingungen für die Erweiterung und Nutzung von »Ressourcen für ein Recht auf Wohnen« im Kontext historisch und räumlich spezifisch ausgeprägter Wohnraumregime zu verstehen. Angesichts des stetigen Wandels und der Komplexität der Wohnraumversorgung in ihren vier aufeinander bezogenen Dimensionen (Steuerung, soziale Praktiken, räumliche Materialisie-
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rung und Aushandlungsprozesse) ist hierfür die Integration von Perspektiven unterschiedlicher Disziplinen, Professionen und gesellschaftlicher Felder zwingend. Nur so kann ein inter- und transdisziplinärer Dialog gelingen, der ebenso methodische und theoretische Fragen zur Betrachtung der Wohnraumversorgung wie die Auseinandersetzung mit konkreten Ansätzen und Ressourcen ermöglicht, die im hier und heute zu einer sozial gerechteren Wohnraumversorgung beitragen können. Dieser Sammelband leistet einen kleinen Beitrag zur systematischen Integration der hier konzeptualisierten interdisziplinären Wohnungsforschung. Diskutiert werden die »Ressourcen für ein Recht auf Wohnen« vor dem Hintergrund von Planungswissenschaften, Soziologie, Rechtswissenschaft, Geographie und Architektur ebenso wie der kommunalen und aktivistischen Praxis. Der Band versammelt damit Autor/-innen eines breiten Spektrums an Disziplinen und Feldern. Dabei kompiliert der Band Beiträge aus der Tagung »Boden.Wirtschaft.Gesellschaft. Ressourcen für ein Recht auf Wohnen«, die am »Institut für Europäische Urbanistik« an der Bauhaus-Universität Weimar im Mai 2019 durchgeführt und von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert wurde. Eingebettet war diese Tagung in einen mehrjährigen Diskurs- und Austauschprozess von Wohnungsforscher/-innen unterschiedlicher Disziplinen, der sich nicht zuletzt im Kontext der gleichfalls von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Nachwuchsforscherinnengruppe »Soziale Wohnraumversorgung in wachsenden Metropolregionen« entsponnen hatte.4 Ebenso wie das Spektrum der Autor/-innen sich über Felder und Disziplinen erstreckt, richtete sich die Tagung und richtet sich auch das Buch auch an Leser/-innen aus Wissenschaft, kommunaler Praxis, jene, die Wohnungsbau entwerfen, bauen, planen oder Wohnraum bewirtschaften und an Aktivist/-innen wohnungspolitischer Initiativen. Angelehnt an die Struktur der Tagung werden hier »Ressourcen für ein Recht auf Wohnen« unter vier Überthemen diskutiert: Im Buch blicken wir auf Bedeutung und Möglichkeiten der Bodenpolitik (1), die Rollen der Wohnungswirtschaft (2), das Potential der Rekommunalisierung von Wohnraum (3) und auf die Ausprägung von Wohnungsfrage(n) jenseits (groß)städtischen Wachstums.
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Der Hans-Böckler-Stiftung möchten wir an dieser Stelle für die Förderung des gesamten Prozesses und der Tagung sowie für die finanzielle Ermöglichung der Erarbeitung dieses Sammelbandes danken. Zudem danken wir Sebastian Schipper für die hilfreiche Kommentierung dieser Einleitung, Tabea Latocha für die Unterstützung bei Lektorat und Satz des Bandes und Jonathan Stimpfle für die Erstellung der Abbildungen 1 und 2.
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Teil 1: Wohnungsfrage(n) und Bodenpolitik Bodenpolitik ist im wahrsten Sinne des Wortes die Grundlage einer sozialen Wohnungsversorgung. Der Handel und die Spekulation mit dem knappen Gut und der endlichen Ressource Boden als Ware sind wesentliche Triebkräfte steigender Bodenpreise, die schlussendlich Mieten und Immobilienpreise anwachsen lassen. Welche Grenzen aber sind dem Recht auf Privateigentum an Boden gesetzt, wenn es darum geht, ein Recht auf Wohnen für alle zu realisieren? Welche Strategien können Kommunen nutzen, um aktive Bodenpolitik zu betreiben und diese für wohnungspolitische Ziele zu nutzen? Mit diesen Fragen beschäftigen sich die Beiträge in Teil 1. Florian Rödl geht in seinem Beitrag »Recht am Boden und Recht auf Wohnen im bürgerlichen Sozialstaat« aus rechtswissenschaftlicher Sicht der Frage auf den Grund, welche verfassungsrechtlichen Grenzen dem Eigentum am Boden gesetzt sind und welche rechtlichen und gesetzlichen Möglichkeiten staatlichen Handelns im Sinne eines Rechts auf soziale Wohnraumversorgung in der jetzigen Verfassung der Bundesrepublik bestehen. Gabriela Debrunner, Andreas Hengstermann und Jean-David Gerber blicken in ihrem Beitrag »Die Wohnungsfrage ist eine Bodenfrage: Bodenpolitische Instrumente zur Sicherstellung des preisgünstigen Wohnraums im Bestand in Schweizer Städten« dagegen auf Möglichkeiten einer aktiven Bodenpolitik in der Schweiz, insbesondere unter den favorisierten Rahmenbedingungen der innerstädtischen Verdichtung. Dazu kategorisieren sie die möglichen Instrumente und schätzen ihre Wirksamkeit und ihre Kosten ein, ebenso wie sie sozio-politische Herausforderungen bei ihrer Einführung und Umsetzung benennen. Cilia Lichtenberg greift sich eines dieser bodenpolitischen Instrumente in ihrem Beitrag »Das Erbbaurecht als Beitrag zu mehr bezahlbarem Wohnraum. Learning from Amsterdam?« heraus. Im Vergleich zwischen Deutschland und den Niederlanden zeigt sie, wie unterschiedlich die Anwendung, die politische Intention und die Wirksamkeit eines solchen Instrumentes ausgestaltet sein kann.
Teil 2: Wohnungsfrage(n) und Rollen der Wohnungswirtschaft Institutionelle Anbieter der Wohnungswirtschaft sind wesentliche Träger der sozialen Wohnraumversorgung und wichtiger Stadtentwicklungsprozesse. Gerade dieser Teil der Wohnungswirtschaft war in den letzten 30 Jahren von erheblichen Restrukturierungsprozessen geprägt: In Folge der Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit wurden vielerorts vormals gemeinnützige Wohnungsbestände profitabel restrukturiert und öffentliche Wohnungsbestände privatisiert. In Ostdeutschland wurden die staatlichen Wohnungsbestände der DDR privatisiert, die verbleibenden kommunalen Bestände waren mit hohen Schulden belastet. Nicht zuletzt entstanden durch die Verwertungslogiken finanzmarktorientierter
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Akteure zusätzlicher Druck auf dem Wohnungsmarkt und neue Fragen an die Rolle und Verantwortung großer institutioneller Anbieter für Stadtentwicklung und Wohnraumversorgung. Welche Wechselwirkungen ergeben sich zwischen Wohnungspolitik und der strukturellen Veränderung der Wohnungswirtschaft durch Privatisierung und Finanzialisierung? Mit welchen Strategien der Stadtentwicklung gehen diese Veränderungen einher? Welche Rolle können private Wohnungsunternehmen bei der Bereitstellung von bezahlbarem Wohnraum und der Gestaltung von Stadtentwicklung einnehmen? Und welche architektonischen und städtebaulichen Merkmale sind prägend für den Wohnungsbau unterschiedlicher Akteure? Einen Ausschnitt dieser Fragen bearbeiten die Beiträge in Teil 2. Sebastian Klus zeichnet in seinem Beitrag »Die Privatisierung kommunaler Wohnungsbestände als Herausforderung für die europäische Stadt« nach, inwiefern die Privatisierung kommunaler Wohnungsbestände in Deutschland grundsätzliche Ideale der europäischen Stadt untergräbt, die vielerorts dennoch weiterhin als Leitbild der Stadtentwicklung hochgehalten werden. Antonia Josefa Krahl präsentiert in ihrem Beitrag »Handlungslogiken wohnungswirtschaftlicher Akteure als Schlüssel zur Sicherung sozialer Wohnraumversorgung« eine soziologische Forschungsperspektive, mit der es gelingen kann, die Handlungslogiken institutioneller Akteure am Wohnungsmarkt aufzuklären, ohne diese auf das Streben nach Profit zu reduzieren. Ziel dieser Perspektive ist es, Stellschrauben zu identifizieren, mit denen Akteure der Wohnungswirtschaft motiviert werden können, sich für die Bereitstellung bezahlbaren Wohnraums zu engagieren. Auch Arvid Krüger nimmt das Handeln von Akteuren der Wohnungswirtschaft in den Blick. Er differenziert in seinem Text »Beiträge der Wohnungswirtschaft zur Stadterneuerung: Möglichkeiten und Grenzen« zwischen verschiedenen institutionellen Anbietern von Wohnraum in Großwohnsiedlungen (kommunalen Unternehmen, Genossenschaften und kommerzielle Unternehmen). Über die Frage nach der Bereitstellung von Wohnraum hinausgehend, fragt er danach, welchen Beitrag die solchermaßen klassifizierten Akteure zur Stadtteilentwicklung leisten, inwieweit sie dabei über die engen Grenzen der Bewirtschaftung ihres eigenen Wohnungsbestandes hinausgehen bzw. inwiefern ein solches Handeln ggf. in proaktive Prozesse der Stadt(teil)entwicklung seitens kommunaler Akteure eingebettet und durch diese gesteuert werden kann. Anne Kockelkorn kontrastiert in ihrem Beitrag »Wohnungsbau für das Gesellschaftsminimum. Über ein prozesshaftes Architekturverständnis« aus architekturwissenschaftlicher Sicht Merkmale finanzialisierten Wohnungsbaus mit Wohnungsbau von Trägern, die Aspekte gemeinschaftlichen und solidarischen Zusammenlebens und den Zugang zu Ressourcen innerhalb einer Wohnung, einer Nachbarschaft und der Stadt in den Vordergrund stellen. Dabei plädiert sie für ein pro-
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zesshaftes Verständnis von Architektur, das auch deren Produktionsprozess, ihre Repräsentation und ihre Nutzung mit einbezieht.
Teil 3: Wohnungsfrage(n) und die Rekommunalisierung von Wohnraum Angesicht der Krise der Bezahlbarkeit des Wohnens in zahlreichen Städten haben sich manche Kommunen dazu entschieden, vom Weg der Privatisierung von Wohnraum abzuweichen und im Gegenteil den öffentlichen Bestand wieder auszubauen. Kommunale Wohnungsunternehmen sind eine wichtige Ressource der sozialen Wohnraumversorgung. Wie kann kommunale Wohnungspolitik nach dem Ende der Gemeinnützigkeit gedacht und wie kommunaler Wohnungsbau als Infrastruktur gefasst werden? Welche planerischen und politischen Instrumente stehen dabei zur Verfügung? Und welche Hindernisse auch innerhalb neoliberal umstrukturierter und Verwaltungsreformen unterzogener kommunaler Unternehmen gilt es zu überkommen? Die Beiträge in Teil 3 widmen sich diesen Fragen anhand des Beispiels Berlin. Inga Jensen nimmt in »Wohnraum als soziale Infrastruktur – Ansätze zur (Re-) Kommunalisierung von Wohnraum betrachtet am Beispiel Berlin« die derzeitigen Berliner Bemühungen um die Rekommunalisierung von Wohnraum in den Blick. Vor dem Hintergrund der jüngeren Ansätze zur Rekommunalisierung von Infrastrukturen der Ver- und Entsorgung ordnet sie diese ein und entwickelt eine Systematik, um sie hinsichtlich ihrer Wirkung und Potentiale für die Bereitstellung bezahlbaren Wohnraums zu untersuchen. Im Beitrag »Strategien der ›Communalisierung‹ der Wohnraumversorgung in Friedrichshain-Kreuzberg« interviewt Inga Jensen anschließend an die eigene wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Rekommunalisierung den Baustadtrat des Berliner Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg, Florian Schmidt, zur Anwendung verschiedener kommunaler Instrumente, mit denen ein Marktanteil »communaler« Akteure von 50% erreicht werden soll – gemeint sind in Anlehnung an die Debatte um Commons öffentliche und kollektive gemeinnützige Akteure. Im Beitrag »Öffentliche Hand und alles gut? Mieter*innen für die Demokratisierung der öffentlichen Wohnraumversorgung« stellt das Berliner Bündnis »kommunal & selbstverwaltet Wohnen« die Erfahrungen von Mieter/-innen der landeseigenen Wohnungsunternehmen der Stadt vor und begründet daraus die Notwendigkeit, die Strukturen der Mitbestimmung innerhalb der Unternehmen und die Möglichkeiten zur Selbstverwaltung in den Häusern und Siedlungen auszubauen.
Teil 4: Wohnungsfrage(n) jenseits (groß-)städtischen Wachstums Wohnungsfrage(n) stellen sich nicht nur in Metropolen, ihrem Umland und in wachsenden Mittel- oder Kleinstädten. Bevölkerungswanderung, räumliche Polari-
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sierung und infrastrukturelle Unterversorgung lassen Kommunen in schrumpfenden Regionen mit wenig Steuerungsmöglichkeiten in der Wohnraumversorgung zurück. Die Beiträge in Teil 4 nehmen Wohnungsfragen jenseits der Wachstumsräume in den Blick und diskutieren Bedingungen und Möglichkeiten lokaler Politik und Planung sowie Zivilgesellschaft und (Wohnungs-)Wirtschaft für die Sicherung qualitätsvollen bezahlbaren Wohnens. Der Beitrag von Maike Simmank »Wohnen auf dem Land: Infrastrukturen für ›gleichwertige Lebensverhältnisse‹« erörtert die Transformation der Daseinsvorsorge im ländlichen Raum als wesentliche Bedingung zur Sicherung angemessener Wohnumfeldqualität einerseits, und der Attraktivität des ländlichen Raums als Wohnstandort andererseits. Er diskutiert exemplarisch Möglichkeiten zur Sicherung und Verbesserung von Wohnraumqualität und die Rollen unterschiedlicher Akteure bei deren Umsetzung. Barbara Schönig plädiert in ihrem Beitrag »Unter dem Radar. Wohnungsfragen abseits der Wachstumsräume in Thüringer Kleinund Mittelstädten« dafür, die Wohnungsfragen kleinerer Städte im strukturschwachen Raum in den Blick zu nehmen. Dafür gewährt sie Einblicke in die drängenden Fragen der Wohnraumversorgung Thüringer Klein- und Mittelstädte, in denen eine Krise der Versorgung mit angemessenem, qualitätsvollem und teils auch bezahlbarem Wohnraum herrscht, obwohl kein quantitativer Mangel an Wohnraum besteht.
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Wohnungsfrage(n) und Bodenpolitik
Recht am Boden und Recht auf Wohnen im bürgerlichen Sozialstaat Florian Rödl
Vorbemerkung Wann immer Planer und Städtebauer Probleme des Wohnens und der Entwicklung städtischen Wohnraums grundlegend diskutieren, stoßen sie auf das Verfassungsrecht. Genauer: Sie werden aus Politik oder Verwaltung gemahnt, die verfassungsrechtlichen Grenzen der Eigentumsgewährleistung zu achten. Nun ist die Behauptung bestimmter verfassungsrechtlicher Grenzen selbst ein politisches Kampfinstrument. Mit einer solchen Behauptung lassen sich politische Projekte schnell aus dem Feld schlagen. Man kann dann sagen: Wir müssen die Idee inhaltlich gar nicht diskutieren, sie verstößt – leider – gegen die Eigentumsgewähr unseres Grundgesetzes. Dagegen kann man natürlich halten, dass einem die Reichweite der Eigentumsgewährleistung dann eben zu weit gehe oder man sogar insgesamt etwas gegen das Privateigentum habe. Doch die grundgesetzliche Eigentumsgewährleistung zu ändern oder gar das Privateigentum zu überwinden, ist ein fernes Ziel. Um bescheidenere Pläne als die Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft durchzusetzen, sollte man lieber aufdecken, dass die rechtlichen Grenzen oft gar nicht so weit reichen, wie es von interessierter oder ideologisch formierter Seite behauptet wird. Darum ist der folgende Beitrag über Recht am Boden und Recht auf Wohnen nicht aus einer Perspektive verfasst, die darüber die Grundproblematik der bürgerlichen Gesellschaft demonstriert – das war der Ansatz von Engels »Zur Wohnungsfrage« (Engels 1970 [1872]). Vielmehr soll erläutert werden, wie sich das Verhältnis von Recht am Boden und Recht auf Wohnen aus der Innenperspektive der bürgerlichen Rechtsordnung darstellt. Wie sich zeigen wird, bilden aus jener Innenperspektive Recht am Boden und Recht auf Wohnen keinen Antagonismus. Das mag gesellschaftstheoretisch falsch sein. Gleichwohl lassen sich auf dieser Basis wertvolle Räume für progressive Politiken in Städtebau und Planung erschließen.
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Florian Rödl
Ein soziales Grundrecht auf Wohnen? Es ist heute gängig geworden, politische Forderungen in das Vokabular von Grundoder Menschenrechten zu gießen.1 Deswegen liest man auf Transparenten und in Programmen häufig von einem »Recht auf Wohnen«2 . Jüngst hat sich auch ein bundesweites Bündnis gegründet unter dem Titel »Wohnen ist Menschenrecht«3 . Wenn man allerdings unser Grundgesetz aufschlägt, dann ist davon nichts zu lesen. Im Vokabular von Grundrechten werden in unserer Verfassung nur die liberalen und die demokratischen Grundrechtspositionen ausgedrückt: Eigentumsfreiheit, Berufsfreiheit einerseits, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit etc. andererseits. Doch daneben findet sich an der Spitze der Grundrechte in Artikel 1 Absatz 1 Satz 2 GG die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt auf den Schutz der Menschenwürde. Lässt sich daraus nicht ein Recht auf Wohnen ableiten? Für sich genommen noch nicht. Entscheidend ist erst die Festlegung der Staatsform in Artikel 20 Absatz 1 GG: Die Bundesrepublik Deutschland ist ein sozialer Staat. Erst diese Vorschrift, das Sozialstaatsprinzip, gibt der Verpflichtung zum Schutz der Menschenwürde das entscheidende Moment: Zum Schutz der Menschenwürde muss der Sozialstaat dem Einzelnen ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleisten. Genau so hat es auch das Bundesverfassungsgericht erläutert, ausführlich zuletzt in seiner Entscheidung zu den SGB II-Regelsätzen aus dem Jahr 2010.4 Warum ist erst das Sozialstaatsprinzip entscheidend? Die bürgerliche Rechtsordnung verlangt im ersten logischen Schritt nach einem Staat, der die privaten Rechte aus Eigentum und Vertrag etc. schützt und durchsetzt. Das ist der Rechtsstaat, bisweilen auch als »Nachtwächterstaat« angesprochen. Seine spezifische Staatsaufgabe ist allein die Wahrung der öffentlichen Sicherheit. Doch der Mensch ist mehr und anderes, als ihn das bürgerliche Recht repräsentiert. Er ist nicht nur Individuum, das sich selbst beliebige Zwecke setzt, sondern er ist auch Gemeinschafts- und Kulturwesen. Das kann eine bürgerliche Rechtsordnung mit einem Nachtwächterstaat nicht einholen, und so tritt im zweiten logischen Schritt 1 2
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Zum historischen Hintergrund aus globaler Perspektive: Moyn, Samuel (2010): The Last Utopia, Cambridge/London: Harvard University Press. Diese Formel kann man alternativ als Anlehnung an den von Henri Lefebvre geprägten Begriff eines »Rechts auf Stadt« (Le Droit à la Ville, 1968) deuten, der sicherlich kein subjektives Recht bezeichnen soll. Ob es sinnvoll ist, in der politischen Kommunikation für den eigenen zentralen Begriff einen Ausdruck zu verwenden, der nach allgemeinem Verständnis für einen anderen Begriff steht, eben den des subjektiven Rechts, und der in anderen Kontexten seinerseits von großer politischer Bedeutung ist (z. B. Recht auf freie Meinungsäußerung, auf friedliche Versammlung unter freiem Himmel etc.), sei hier nicht weiter vertieft. Siehe Website des Bündnisses www.menschenrecht-wohnen.org BVerfG, in: BVerfGE 125, 175; jüngst bestätigt im Urteil zu den SGB II-Sanktionen, BVerfG, Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16.
Recht am Boden und Recht auf Wohnen im bürgerlichen Sozialstaat
der Staat als Republik auf den Plan und mit der Republik Idee und Begriff eines Gemeinwohls. Damit ist zugleich ein Konflikt zwischen privaten Rechten und Gemeinwohlbelangen programmiert. Die liberalen und demokratischen Grundrechte haben ihren Ort in dieser Konfliktlage. Sie besagen im Wesentlichen, dass der Staat für Zwecke des Gemeinwohls in individuelle Freiheit durchaus eingreifen darf, aber nur unter Wahrung des Verhältnismäßigen. Gegenstände des Gemeinwohls sind solche, die die im bürgerlichen Staat verfasste Gesellschaft als Ganze und als solche betreffen. Verteidigung nach außen etwa, Kultur, Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, auch wirtschaftliches Wachstum. Die Sicherung des Existenzminimums betrifft demgegenüber nicht die verfasste Gesellschaft als Ganze und als solche. Sie betrifft das existentielle Bedürfnis Einzelner, die Pech haben. Die Sicherung des Existenzminimums ist darum keine Frage des Gemeinwohls. Ein bürgerlicher Staat, der nur Republik wäre, kennte kein Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum (Rödl 2015: 363 ff.). Dieses Recht ergibt sich erst aus der Bestimmung, dass die Bundesrepublik auch sozialer Staat ist. Erst daraus folgt, dass der Einzelne vom Staat auch etwas beanspruchen kann, jedenfalls dann, wenn er in der bürgerlichen Gesellschaft aus eigener Kraft wegen fehlender Mittel kein menschenwürdiges Leben zu führen vermag. Und das schließt natürlich ein Dach über dem Kopf ein, und entsprechend enthält unser Grundgesetz durchaus ein soziales Grundrecht auf Wohnen.5
Funktion des Sozialstaatsprinzips (Artikel 20 Absatz 1 GG) Allerdings betrifft das zunächst nur das Verhältnis zwischen dem Bedürftigen und dem Staat: Der Bedürftige hat einen Anspruch, den der Staat zu erfüllen hat. Die entscheidende Frage ist nun, welche Mittel dem Staat zur Verfügung stehen, um seine Verpflichtung einzulösen. Ist er darauf beschränkt, wie ein Privater am Markt aufzutreten? Ist er in diesem Sinn darauf beschränkt, aus Steuermitteln die Kosten angemessener Unterkunft oder Wohngeld zu zahlen, und daneben eigenes Bauland möglichst zu verschenken, in der Hoffnung, dass darauf vielleicht bezahlbare Wohnungen entstehen? Der Immobilienwirtschaft wäre das natürlich am liebsten. Aber darauf ist der Staat eben nicht beschränkt. Und auch dies ist gerade erst eine Leistung des Sozialstaatsprinzips. Indem die Bundesrepublik in Artikel 20 Absatz 1 GG als sozialer Staat vorgestellt wird, ist zugleich bestimmt, dass das Soziale 5
Das bedeutet allerdings nur, dass der Staat auf der Basis eines bestehenden Mietvertrags die Aufwendungen für eine angemessene Unterkunft übernimmt (z. B. §§ 19, 22 SGB II). Es bedeutet nicht, dass der unfreiwillig Obdachlose einen klagbaren Anspruch auf einen Mietvertrag über eine kommunale oder staatliche Wohnung hätte. Hier liegen noch konzeptionelle Probleme. Unmittelbar schuldet der Staat dem Obdachlosen nur ordnungsrechtlich begründete Unterbringung.
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und das Gemeinwohl strukturell auf gleicher Stufe stehen. Damit haben beide, das Soziale und das Gemeinwohl, auch und vor allem mit Blick auf die privaten Rechte dieselbe Rolle. Das bedeutet: Nicht nur zu Zwecken des Gemeinwohls, auch zur Erfüllung der sozialstaatlichen Verpflichtung kann der Staat in die privaten Rechte eingreifen, solange er dabei das Maß der Verhältnismäßigkeit wahrt. Das Sozialstaatsprinzip ist mit anderen Worten nicht nur Verpflichtung des Staates gegenüber dem Bedürftigen. Es ist auch ein Eingriffstitel (vgl. Abendroth 1972: 109 ff.), ein Eingriffstitel in private Rechte, und damit natürlich allem voran auch in die privaten Rechte der Bodeneigentümer. Dabei ist der Staat – wohlgemerkt – nicht darauf beschränkt, ein Recht auf Wohnen irgendwo in der Peripherie einzulösen. Er kann seine soziale Verpflichtung auch mit Gemeinwohlzwecken kombinieren. Wenn man das Recht auf Wohnen kombiniert etwa mit dem Zweck, städtische Segregation zu hindern und den Zugang zu öffentlichen Infrastrukturen nicht vom Geld abhängig zu machen, dann resultiert die sozialstaatlich-republikanische Staatsaufgabe darin, bezahlbaren Wohnraum in der Metropolregion zu schaffen.
»Eigentum verpflichtet«? (Artikel 14 Absatz 2 GG) Welche verfassungsrechtliche Grenze ergibt sich nun aus der Eigentumsgewährleistung in Artikel 14 GG? Es heißt dort in Absatz 1 Satz 1: »Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet«. Hier muss man sich gleich vor Augen führen: Eigentum steht stellvertretend für sämtliche private Vermögensrechte (vgl. Papier/Shirvani 2019: Rn. 11 ff.). Das sind neben dem Eigentum die vertraglichen Rechte an fremden Leistungen zudem Ausschließlichkeitsrechte, wie Urheber- und Patentrechte, ebenso Rechte aus Beteiligungen an Kapitalgesellschaften. Man kann die Regelung also auch folgendermaßen lesen: Gewährleistet wird nicht nur das Eigentum, sondern die bürgerliche Rechtsordnung, die kennzeichnet, dass sich die Selbstbestimmung des Einzelnen über die eigene Person hinaus auf verschiedenste materielle und immaterielle Gegenstände erstrecken kann. In augenfälligem Kontrast zur verfassungsrechtlichen Gewährleistung bürgerlicher Freiheit ist jedoch in Artikel 14 Absatz 2 GG zu lesen: »Eigentum verpflichtet«. Es gibt wahrscheinlich keine Vorschrift des Grundgesetzes, die in der sozialpolitischen Auseinandersetzung häufiger zitiert wird. Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht verblüffend zu erfahren: Verfassungsrechtlich bedeutet diese Regelung überhaupt nichts. Es ist immer wieder neu versucht worden, ihr einen rechtlichen Gehalt zu geben. Aber die Versuche sind vergeblich geblieben (vgl. Papier/Shirvani 2019: Rn. 416). Hintergrund der Regelung, die ihren Vorläufer in der Weimarer Reichsverfassung hatte, war ein schlichtes Unbehagen an der bürgerlichen Gesell-
Recht am Boden und Recht auf Wohnen im bürgerlichen Sozialstaat
schaft.6 Das hat sich eben genau so artikuliert, als bloßes Unbehagen. Deswegen geht es an dieser Stelle nicht um eine rechtliche Begrenzung privater Freiheit, sondern um eine moralische Anrufung, die rechtlich gewährte Freiheit in moralischer Verantwortung wahrzunehmen. Dem Eigentümer werden damit keine Grenzen seiner Freiheit gesetzt, sondern er wird aufgefordert, seine Freiheit moralisch zu nutzen. Hat man die Unterscheidung vor Augen, findet man sie auch im Text wieder: »Sein Gebrauch [der Gebrauch der Sache durch den Eigentümer!] soll …«, heißt es. Das ist eben ein moralischer Appell und daran ändert sich nichts dadurch, dass er in der Verfassung steht.
Gesetzliche Beschränkungen des Eigentums (Artikel 14 Absatz 1 S. 2 GG) Aber das muss gar nicht bekümmern. Denn es gibt eine andere Vorschrift, in der es um rechtliche Grenzen des Eigentums geht. Sie steht gleich hinter der Gewährleistung in Artikel 14 Absatz 1 Satz 2: »Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt«. Neben dem Satz 1, der Gewährleistung des Eigentums, wirkt das erst einmal kurios, wie ein logischer Fehler. Die Verfassung garantiert etwas, das der Gesetzgeber erst bestimmt? Dieser Anschein hat tatsächlich einige progressive Verfassungslehrer dazu motiviert, die Eigentumsgewährleistung in Artikel 14 Absatz 1 Satz 1 GG ihrerseits für rechtlich nahezu bedeutungslos zu erklären (vgl. Wieland 2013: Rn. 27 ff.). Aber diese Interpretation hat sich jedenfalls beim Bundesverfassungsgericht nicht durchgesetzt. Heute gilt: Beim Eigentum ist es so wie bei der durch Artikel 2 Absatz 1 GG geschützten allgemeinen Handlungsfreiheit der Person. Auch deren Garantie hat Bedeutung, aber der Staat darf in sie eingreifen, und zwar auf gesetzlicher Grundlage und unter Wahrung des Verhältnismäßigen. Zu welchen Zwecken der Staat eingreifen kann, das ist oben schon geklärt. Es sind die Zwecke der öffentlichen Sicherheit, Zwecke des Gemeinwohls und Zwecke der Erfüllung seiner sozialstaatlichen Verpflichtungen, etwa um soziale Wohnraumversorgung zu verbessern. Und so ist die aus Artikel 14 Absatz 1 Satz 2 GG und Artikel 20 Absatz 1 GG folgende Befugnis zur sozialstaatlichen Beschränkung der Verfügungsgewalt der Bodeneigentümer der verfassungsrechtliche Schlüssel zur Verwirklichung eines Rechts auf Wohnen. Wie gesagt, solche gesetzlichen Schranken müssen sich im Rahmen des Verhältnismäßigen halten. Aber das ist keine hohe Hürde. Juristen gliedern die Prüfung dieses Rahmens auf in Aspekte von Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit. Dabei bilden Eignung und Erforderlichkeit letztlich einen Rationalitäts6
Diese Einsicht verdanke ich meinem studentischen Mitarbeiter Florian Paetow.
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test. Der Gesetzgeber kann sich nicht auf die genannten Zwecke berufen, wenn das, was er da vorhat, überhaupt nichts bringt oder wenn er sein ganz konkretes Ziel auch auf andere Weise erreichen könnte. Aber genau das, Eignung und Erforderlichkeit einer Regelung, ist natürlich auch Gegenstand des politischen Streits. In den steigt das Verfassungsgericht nicht einfach ein. Es verfährt ganz zurückhaltend. Nur evident ungeeignete oder überflüssige Regelungen werden kassiert. Diese verfassungsrechtliche Zurückhaltung gegenüber dem demokratischen Gesetz wird von juristischen Lobbyisten der Immobilienwirtschaft immer wieder ignoriert und leider sind sich auch die Verwaltungsjuristen darüber meist nicht im Klaren. Darum werden – auch wenn es nicht um eine politische Stellungnahme etwa zur Mietpreisbremse geht, sondern um ihre verfassungsrechtliche Beurteilung – seitenweise Ausführungen dazu gemacht, warum diese vielleicht nichts bringt oder andere Instrumente besser wären (siehe exemplarisch Blankenagel et al. 2015: 1 ff.). Das ist in der Regel sehr weit weg von einer Beurteilung als evident ungeeignet oder überflüssig. Aber es macht in Politik und Ministerialverwaltung leider immer wieder Eindruck. Völlig zu Unrecht wird dann in vorauseilendem Gehorsam auf eigentlich mögliche Regulierungen verzichtet. Der dritte Aspekt der Verhältnismäßigkeit ist die Angemessenheit. Angemessenheit verlangt, dass das mit einer Regelung konkret erreichbare Ziel und die einhergehende konkrete Beschränkung privater Freiheit nicht außer Verhältnis zueinanderstehen sollen. Es fällt gar nicht so leicht, im Bereich der Wohnungspolitik ein Beispiel zu bilden, bei dem eine Maßnahme tatsächlich unangemessen wäre. Vielleicht dies: Wenn die Mietpreise überhaupt nicht relevant steigen würden, wäre es unverhältnismäßig, zur vorsorglichen Kontrolle der weiteren Entwicklung alle Eigentümer von Wohnimmobilien mit einem Verbot zu belegen, ihre Häuser ohne staatliche Genehmigung zu veräußern. Es fällt deswegen nicht leicht, im Bereich der Wohnungspolitik ein Beispiel für eine unangemessene Regelung zu finden, weil seit der Entscheidung des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 1978 zur Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat von Großunternehmen (BVerfGE 50, 290) gilt: Je bedeutsamer die soziale Funktion des Gegenstands und damit der privaten Berechtigung an diesem, desto weitreichender darf die gesetzliche Beschränkung ausfallen. Das Bodeneigentum hat nun einmal eine höchst bedeutsame soziale Funktion, weil es für die Verfügbarkeit von bezahlbarem Wohnraum maßgeblich ist. Darum ist im Bereich der Politik sozialer Wohnraumversorgung selbst der Aspekt der Angemessenheit regelmäßig keine relevante Hürde für den Gesetzgeber: Aufgrund der sozialen Funktion des Bodens fallen die privaten Interessen des Grundeigentümers vergleichsweise wenig ins Gewicht. Damit eröffnet sich demokratischer Politik ein weites Feld. Viele Maßnahmen, die derzeit diskutiert werden, haben keine verfassungsrechtlichen Hindernisse aus der Eigentumsgewährleistung zu gewärtigen. Das galt schon für die Mietpreis-
Recht am Boden und Recht auf Wohnen im bürgerlichen Sozialstaat
bremse.7 Hier war die entsprechende juristische Polemik dagegen besonders absurd, weil der Gesetzgeber nichts anderes gemacht hat, als die Vorschrift des Wucherverbots aus § 138 Absatz 2 BGB gegen eine allzu vermieterfreundliche Linie der Rechtsprechung etwas zu konkretisieren. Ebenso wäre es verfassungsrechtlich unbedenklich, bauförderungsrechtliche Belegungsbindungen unbefristet aufzuerlegen. Zwar war kürzlich von einer Entscheidung zu lesen, in der der Bundesgerichtshof angeblich das Gegenteil entschieden haben soll (vgl. BGH, NJW 2019, 2016). »Sozialer Wohnungsbau nicht für die Ewigkeit« lautete im Nachgang eine repräsentative Zeitungsüberschrift. Aber das stimmt nicht: Aus dem Urteil lässt sich nur – und das völlig berechtigt – entnehmen, dass eine Ewigkeitsbindung eine gesetzliche Grundlage braucht, und die ist tatsächlich noch nicht vorhanden. Auch wenn Baugenehmigungen nur erteilt würden, wenn ein bestimmter Anteil der Bebauung als bezahlbarer Wohnraum angeboten wird, ebenfalls mit Ewigkeitsbindung, stünden dem keine verfassungsrechtlichen Hindernisse im Weg. Der Gesetzgeber muss dafür nur eine klare gesetzliche Grundlage schaffen.
Im Kontrast: Enteignung (Artikel 14 Absatz 3 GG) Immer wenn es um Regelungen geht, die der Immobilienwirtschaft überhaupt nicht gefallen, dann werden diese gerne als »Enteignung« skandalisiert. Nun lässt das Verfassungsrecht rhetorische Strategien im politischen Raum unberührt. Aber es sei hier herausgestrichen, warum diese Rhetorik mit der verfassungsrechtlichen Lage überhaupt nichts zu tun hat. Tatsächlich gab es eine Phase, in der das anders war. Wenn in jener Phase gesetzliche Eigentumsschranken mit gravierenden Wertverlusten einhergingen, konnten die Eigentümer tatsächlich diesen Wertverlust als eine Enteignung vor den Zivilgerichten geltend machen, um eine Entschädigung zu erreichen. Damit trug jede Eigentumsbeschränkung durch den Gesetzgeber das Risiko in sich, dass sie zwar verfassungsrechtlich hielt, aber dafür leider sehr teuer wurde. Diese Phase hat das Bundesverfassungsgericht glücklicherweise im Jahr 1982 beendet (BVerfGE 58, 300). Im Kern heißt es seitdem: Schrankenbestimmungen, auch wenn sie den Marktwert eines Grundstücks reduzieren, haben mit Enteignungen nichts zu tun. Enteignungen sind nämlich Zwangskäufe. Es geht um die
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BVerfG, Beschl. v. 18.07.2019 – 1 BvL 1/18. In dieser Entscheidung wird am Ende überlegt, dass die Grenze der Angemessenheit überschritten wäre, wenn ein Vermieter dauerhaft Verluste erlitte. Diese Überlegung geht völlig fehl, weil Artikel 14 Absatz 1 Satz 1 GG das private Recht an sich schützt und gerade nicht den Tauschwert eines Rechts. Das Gericht wird sie im Verfahren um den Berliner Mietendeckel hoffentlich fallenlassen.
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Situation, in der der Staat zur Erfüllung seiner Aufgaben (in Artikel 14 Absatz 3 GG steht das »Allgemeinwohl« stellvertretend für alle hier unterschiedenen Staatsaufgaben) bestimmte Grundstücke benötigt, die sich in privater und veräußerungsunwilliger Hand befinden. Genau wie sonst, wenn sich der Staat Gegenstände zur Erfüllung seiner Aufgaben beschafft – Uniformen oder Papier – , muss er an sich auch bereit sein, den Marktpreis zu bezahlen. Der Bodeneigentümer weigert sich nur, zum Marktwert oder überhaupt zu verkaufen. Genau dann wird enteignet. Darum ist Enteignung nach Artikel 14 Absatz 3 GG Zwangskauf zum Marktpreis und hat mit Eigentumsschranken nach Artikel 14 Absatz 1 Satz 2 GG nichts zu tun. Allerdings muss auch die Enteignung dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen. Und die ist anders strukturiert als die einer Inhalts- und Schrankenbestimmung. Die Kontrolle der Erforderlichkeit ist nach der Rechtsprechung weit weniger zurückhaltend, es kommen auch politische Alternativen zur Sprache. Auch das Maß der Angemessenheit ist deutlich strenger, nicht zuletzt, weil der Eigentumstitel verloren geht.
Sozialisierung (Artikel 15 GG) Nun wurde oben betont, dass zu den Aufgaben des bürgerlichen Sozialstaates eben auch gehört, seine sozialstaatlichen Verpflichtungen zu erfüllen. So könnte sich hier die Frage anschließen, ob man zur Erfüllung dieser Aufgabe nicht auch nach Artikel 14 Absatz 3 GG enteignen könnte. Das kann man grundsätzlich bejahen. Aber interessanter ist die Frage nach Artikel 15 GG. Der bekannte Kampfruf für ein Berliner Volksbegehren lautet »Deutsche Wohnen & Co enteignen«8 . Aber worum es eigentlich geht, ist die Überführung des Grundeigentums der großen privaten Wohnungsimmobilieneigner in öffentliches Eigentum. Verfassungsrechtlich ist das grundsätzlich erlaubt. Es steht in Artikel 15 GG: Grund und Boden können zum Zweck der Vergesellschaftung in Gemeineigentum überführt werden. Die Gemeinsamkeit von Enteignung und Sozialisierung liegt darin, dass beide die privaten Eigentümer um ihre Eigentumstitel bringen. Aber im Übrigen sind es zwei ganz verschiedene Institute (vgl. Ridder 1951: 124 ff.). Gegenwärtig versucht allerdings eine ganze Armada von interessierten Verfassungsrechtlern, diesen Unterschied zu nivellieren. Dies geschah früher mit der Behauptung, Artikel 15 GG sei nur eine Spezialregelung zu Artikel 14 Absatz 3 GG; er stelle eigentlich nur klar, dass nicht nur einzelne Grundstücke, sondern Boden auch in einem breiteren Umfang enteignet werden könne (vgl. Dietlein 2006: 2305). Das behauptet heute fast
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Siehe Website der Kampagne www.dwenteignen.de
Recht am Boden und Recht auf Wohnen im bürgerlichen Sozialstaat
niemand mehr. Jede Kommentierung beginnt mit der Akzentuierung der Sozialisierung als ein aliud zur Enteignung. Nur wird gleich darauf entfaltet, dass bei dem gegenüber der Enteignung nach Artikel 14 Absatz 3 GG angeblich so selbstständigen Rechtsinstitut des Artikel 15 GG trotzdem dieselben Maßstäbe gelten sollen wie unter Artikel 14 GG: Die Sozialisierung müsse der Erfüllung einer bestimmten Staatsaufgabe dienen und für die Erreichung des darunter verfolgten konkreten Zwecks geeignet und erforderlich sein, und schließlich dürfe das Erreichte nicht außer Verhältnis zur Belastung der betroffenen Eigentümer stehen (vgl. Depenheuer 2018: Rn. 14 u. 39; Durner 2019: Rn. 62 u. 102; Wendt 2018: Rn. 3 u. 14). Wenn so die Parallele im Maßstab zur Enteignung nach Artikel 14 Absatz 3 GG erst gesetzt ist, dann können hunderte von Seiten zusammengeschrieben werden, warum die Sozialisierung jedenfalls nicht erforderlich ist, weil es viele andere Mittel gäbe. Und vor allem, dass es zu hart wäre für die betroffenen Eigentümer, also nicht angemessen. Die Akzentuierung der Sozialisierung als aliud zur Enteignung läuft damit leer und Artikel 15 GG degeneriert materiell eben doch nur zur Spezialregelung zu Artikel 14 Absatz 3 GG. Aber Grundrechtsteile einer Verfassung sind selten geschwätzig. Auch das Grundgesetz wiederholt nicht einfach in Artikel 15 GG die Enteignungsgrundlage aus Artikel 14 Absatz 3 GG für den besonderen Gegenstand des Bodens, der zudem unter Artikel 14 Absatz 3 GG gar nicht zweifelhaft ist. Mit Artikel 15 GG ist vielmehr ein neuer Zweck aufgerufen, der neben die öffentliche Sicherheit des Rechtsstaats, das Gemeinwohl der Republik und neben die Verpflichtungen des sozialen Staates tritt (vgl. Bryde 2012: Rn. 10; Rittstieg 2001: Rn. 245, sowie Meyer-Abich 1980: 150 ff.). Es ist ein Zweck, der tatsächlich die Logik und die Struktur des bürgerlichen Sozialstaates überschreitet. Die Formulierung in Artikel 15 GG ist insoweit völlig klar: »zum Zwecke der Vergesellschaftung«. Die Vergesellschaftung des Bodens ist damit kein Mittel, das für einen sozialstaatlichen Zweck verhältnismäßig erscheinen müsste. Die Vergesellschaftung ist selbst Zweck: Es geht darum, den Boden als Grundkapital der bürgerlichen Verwertungslogik zu entziehen. Dieser Zweck wird erreicht mit dem Mittel der Überführung in Gemeinwirtschaft. Nach der Verhältnismäßigkeit mag man gleichwohl fragen wollen. Aber die Frage hat nun einen ganz anderen Bezug (Ipsen 2019: 527 ff.): Das Mittel einer Überführung in Gemeineigentum muss geeignet, erforderlich und angemessen sein für den Zweck der Vergesellschaftung. Das kann man nur bejahen, eigentlich aus rein logischen Gründen. Versteht man Sozialisierung wirklich als Gegenstück zur Enteignung, können sich auch die Maßstäbe einer angemessenen Entschädigung verschieben (vgl. Jarass 2018: Rn. 4; Bryde 2012: Rn. 22), das ist die abschließende Pointe. Die Enteignung ist ein Zwangskauf. Der Staat hat gegen den Eigentumstitel des Inhabers nichts einzuwenden. Man würde ihm das Grundstück ohne Weiteres belassen, der
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Staat braucht es nur leider dringend zur Erfüllung einer Aufgabe. Angemessen ist unter Artikel 14 Absatz 3 GG darum tatsächlich eine Entschädigung zum Marktwert, jedenfalls im Regelfall. Hingegen braucht der sozialisierende Gesetzgeber nicht zufällig bestimmte Grundstücke, sondern er will die privatkapitalistische Verwertung von Boden aufheben. Der Marktwert reflektiert aber nichts anderes als die kapitalistische Verwertbarkeit des Grundstücks in der Zukunft. Für die Bemessung der Entschädigung unter Artikel 15 GG vom Verkehrswert auszugehen, ist darum ein Widerspruch in sich (Ridder 1951). Man kann zugeben, dass das zum Marktwert alternative Maß nicht leicht zu finden ist. Salomonisch sei als erste Orientierung vorgeschlagen: jedenfalls nicht mehr als die Hälfte.
Schluss Es sei abschließend gesagt: Vielleicht stehen Recht am Boden und Recht auf Wohnen in einem am Ende unauflöslichen Spannungsverhältnis. Gleichwohl geben die sozialstaatliche Verpflichtung der Gewähr eines menschenwürdigen Existenzminimums, die republikanische Gemeinwohlverpflichtung und die ebenfalls verfassungsrechtlich verbürgte Sozialisierungsermächtigung dem Staat vielfältige Möglichkeiten, das Recht auf Wohnen auch zulasten des Rechts am Boden zu verwirklichen, sei es durch Schrankenbestimmungen oder sogar Sozialisierung. Was man dafür wesentlich braucht, sind politische Mehrheiten.
Literatur Abendroth, Wolfgang (1972): »Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaats«, in: Wolfgang Abendroth (Hg.), Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie (= Soziologische Texte 47), Neuwied/Berlin: Luchterhand. Blankenagel, Alexander/Schröder, Rainer/Spoerr, Wolfgang (2015): »Verfassungsmäßigkeit des Instituts und der Ausgestaltung der sog. Mietpreisbremse auf Grundlage des MietNovGE, Gutachten im Auftrag von Haus & Grund Deutschland«, in: Neue Zeitschrift für Mietrecht, S. 1-28. Bryde, Brun-Otto (2012): Artikel 15 GG, in: Ingo von Münch/Philip Kunig (Hg.), Grundgesetz-Kommentar. Bundesgerichtshof (BGH) (2019) in: Neue Juristische Wochenschrift. Bundesgerichtshof (BGH) (2016) in: Neue Juristische Wochenschrift. Depenheuer, Otto (2018): Artikel 15 GG in: Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein/Christian Stack (Hg.), Kommentar zum Grundgesetz.
Recht am Boden und Recht auf Wohnen im bürgerlichen Sozialstaat
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Die Wohnungsfrage ist eine Bodenfrage Bodenpolitische Instrumente zur Sicherstellung des preisgünstigen Wohnraums im Bestand in Schweizer Städten Gabriela Debrunner, Andreas Hengstermann und Jean-David Gerber Die im Frühjahr 2019 geführte Enteignungsdebatte1 in Deutschland zeigt, dass eine passive Planung, die rein auf die Wohnungsversorgung durch den Markt vertraut, in der Wahrnehmung eines zunehmend großen Bevölkerungsanteils nicht ausreicht. Die politische Forderung nach einer aktiven kommunalen Bodenpolitik wird in vielen westeuropäischen Städten immer lauter (vgl. Vollmer/Kadi 2018; Deleja-Hotko et al. 2019). Zu stark sind die städtischen Mieten in den letzten beiden Jahrzehnten gestiegen und zu prekär ist die Wohnsituation insbesondere im preisgünstigen Segment (UN Habitat 2016; Schönig et al. 2017). In Schweizer Städten ist preisgünstiger Wohnraum für untere und mittlere Einkommen nicht nur aufgrund der steigenden Nachfrage zu einer knappen Ressource geworden (BWO 2016b). Zudem ist auf Bundesebene am 01. Mai 2014 die Revision des Raumplanungsgesetzes (RPG) zugunsten der »Innenentwicklung« in Kraft getreten. Diese verpflichtet die 26 Kantone und über 2000 Gemeinden nun deutlich strenger dazu, die Entwicklung ihrer Siedlungen »unter der Berücksichtigung einer angemessenen Wohnqualität nach innen zu lenken« (Art. 1 § 2 lit. abis RPG). Dabei ist Verdichtung als Prozess zu verstehen, welcher innerhalb bestehender Gemeindegrenzen zu einer Erhöhung der Anzahl von Personen auf gleicher Fläche führen soll (Saglie 1998), und zwar mit dem politischen Ziel, Zersiedlung zu stoppen und Landwirtschaftsland zu schützen (Gennaio et al. 2009). Das Bauen auf der »grünen Wiese« außerhalb der bestehenden Siedlungsgrenzen gehört damit der Vergangenheit an und auch freistehende innerstädtische Industriebrachen sind in Schweizer Städten bereits weitestgehend überbaut (Nebel et al. 2017). Das zukünftige Bevölkerungswachstum und die damit verbundene steigende Nachfrage nach Wohnraum werden aufgrund des Gesetzes zur Innenentwicklung deshalb
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Siehe dazu eingereichte Volksinitiative »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« im Senat Berlin.
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zunehmend durch eine Verdichtung im Bestand aufgefangen werden müssen, konkret also über die Umnutzung, Aufstockung, Erneuerung oder den Abriss und Neubau von bestehenden Gebäuden (Schweizer Bundesrat 2017). Diese Form der Umsetzung von Verdichtungsbestrebungen birgt hingegen soziale Risiken, insbesondere für Mieter/-innen des profitorientierten Mietwohnungssektors. In der Schweiz, einem liberalen Staat par excellence (Lawson 2009: 26), beträgt dieser Anteil in den Städten rund 63 Prozent des Gesamtwohnungsbestandes (BWO 2017): Werden bestehende Wohnungen nun aufgrund von Verdichtungsmaßnahmen saniert, umgebaut, abgerissen und neu aufgebaut, ist dieser bauliche Eingriff häufig mit einer Mietpreissteigerung in Folge der Modernisierung und Aufwertung verknüpft (BWO 2016a). Ansässige Bewohner/-innen können sich vielfach die steigenden Mieten nach Verdichtung und Erneuerung nicht mehr leisten und müssen in Gebiete außerhalb der Städte ziehen. Betroffen von sozialer Verdrängung sind insbesondere solche Haushalte, welche in Wohnungen des profitorientierten Mietwohnungsmarktes leben, da dort die Mietpreissteigerung – im Gegensatz zu nicht-gewinnorientierten Wohnbauträgern wie Genossenschaften – nach Verdichtung am höchsten ist und keine Alternativwohnungen zur Verfügung gestellt werden müssen (BWO 2016b). Als Folge dieser sozialen Exklusionsprozesse haben Widerstandsbewegungen gegen Verdichtungsprojekte in Schweizer Städten in den letzten Jahren zugenommen (Maissen 2018). Viele Schweizer Kommunen haben inzwischen den Weg zugunsten der Förderung des preisgünstigen Wohnraums über bodenpolitische Instrumente eingeschlagen, z. B. über den Kauf von Bauland oder die Abgabe von Land im Erbbaurecht2 , insbesondere an Genossenschaften. Tatsächlich machen öffentliche und genossenschaftliche Wohnungsbestände in Schweizer Städten – abgesehen von den weit bekannten Leuchtturmprojekten wie z. B. Zürich und Basel – durchschnittlich nur fünf Prozent des städtischen Wohnungsbestandes aus (BWO 2017). Genossenschaften verfügen zudem über lange Wartelisten und die zu bezahlenden Anteilsscheine können sich viele der Wohnungssuchenden nicht leisten (Balmer/Gerber 2017). Sie sind deshalb angewiesen auf eine Wohnung im profitorientierten Mietwohnungsmarkt, wo sie wiederum von Verdichtung und Gentrifizierung akut bedroht sind. Hinzu kommt, dass dieses Wohnsegment gleichzeitig Zielobjekt für das
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Im schweizerischen Kontext wird das »Erbbaurecht« mit dem Instrument des »Baurechts« übersetzt. Dabei bleibt die Gemeinde Grundbesitzerin, während das Eigentum am Gebäude für bis zu 99 Jahre auf einen Dritten übertragen wird (z. B. Wohnbaugenossenschaft). Eine solche öffentlich-private Partnerschaft zwischen der Stadt und einem Bauherrn führt nicht zu einer direkten Subventionierung von Wohnungen, sondern setzt auf günstige Konditionen, die von öffentlichen Akteuren angeboten werden (z. B. Darlehen) (Gerber et al. 2017).
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Renditeinteresse institutioneller Investoren – z. B. Banken, Versicherungen, Anlagefonds, Pensionskassen – darstellt. Anders als die Bewohner/-innen selbst, sehen diese in Wohnraum kein Grundbedürfnis oder eine essentielle Ressource, sondern eine potentielle Investitionsmöglichkeit, insbesondere in städtischen Zentren, wo die Nachfrage konstant hoch ist und deshalb keine zusätzlichen Anlagerisiken eingegangen werden müssen (Aalbers 2017). Umso wichtiger erscheint es uns in diesem Artikel, die Rolle der öffentlichen Hand im Konkurrenzkampf um die Nutzung der »Ressource Wohnraum« bei Verdichtung zu analysieren. Konkret verfolgen wir das Ziel, die Rolle kommunaler bodenpolitischer Instrumente zugunsten des preisgünstigen Wohnraums im Bestand aufzuzeigen und zu diskutieren. Heterogene Eigentumsstrukturen und stark divergierende Partikularinteressen machen die Bestandsverdichtung – insbesondere im Hinblick auf den Erhalt von preisgünstigem Wohnraum – zu einer der schwierigsten Aufgabe der Schweizer Raumplanung in den nächsten Jahrzehnten. Wir wollen deshalb bereits heute auf mögliche Handlungsmechanismen für Kommunen aufmerksam machen. Wir fragen: 1. Mit welchen bodenpolitischen Instrumenten stellen Schweizer Gemeinden preisgünstigen Wohnraum im Bestand sicher? 2. Wo liegen die sozio-politischen Herausforderungen bei der Anwendung dieser bodenpolitischen Instrumente bei Verdichtung im Bestand?
Um diese Fragen zu beantworten, gehen wir in diesem Artikel wie folgt vor: Erstens definieren wir ein für das Verständnis von preisgünstigem Wohnraum im Kontext der Innentwicklung grundlegendes theoretisches Konzept – die »Bodenpolitik«. Wir differenzieren zwischen aktiver und passiver Bodenpolitik. Zudem führen wir vier Kriterien ein, welche zur Bewertung bodenpolitischer Instrumente in der Praxis herangezogen werden können. Zweitens präsentieren wir die Resultate einer umfassenden Dokumentenanalyse zum Thema »Verdichtung und Wohnraumentwicklung« in der Schweiz. Das Ergebnis ist eine Zusammenstellung der in Schweizer Gemeinden vorhandenen bodenpolitischen Instrumente zugunsten des preisgünstigen Wohnraums bei Bestandsverdichtung. Abschließend diskutieren wir diese Instrumente im Hinblick auf deren sozio-politische Herausforderungen bei der Umsetzung in der Praxis. Der Artikel liefert somit einen wertvollen und zukunftsorientierten Beitrag zur Wohnungs- und Bodenfrage im Kontext der Verdichtung im Bestand in Städten.
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Die Wohnungsfrage ist eine Bodenfrage. Das Konzept der Bodenpolitik im Kontext der Verdichtung Die Sicherstellung von Wohnraum für alle Einkommenssegmente ist laut Artikel 25 der UN-Menschenrechtskonvention3 ein Grundbedürfnis. Die Wohnraumnutzung ist aber – insbesondere im Kontext der Verdichtung – abhängig von der knapper werdenden »Ressource Boden«. Dies, weil einerseits die Mieten steigen, wenn die Bodennachfrage pro gleicher Fläche und der damit korrespondierende Bodenwert zunehmen. Andererseits kann insbesondere die Bestandsverdichtung zu einer Mietpreissteigerung führen, weil sie mit einer Aufwertung der bestehenden Gebäude verknüpft ist, woraufhin die Bodenrente und die Mietpreise ebenfalls steigen (Stone 2006). Bodenpolitik ist in diesem Zusammenhang definiert als »die Gesamtheit aller staatlichen Entscheidungen und Handlungen, welche darauf abzielen, den Wert, die Nutzung und die Verteilung des Bodens zur Erreichung eines bestimmten räumlichen Zwecks zu verändern« (Hengstermann/Gerber 2015). Diese aktive Definition von Bodenpolitik unterscheidet sich von einer passiven Bodenpolitik (siehe z. B. Davy 2005) insofern, als dass es nicht nur darum geht, ob die Bodennutzung verändert wird (passiv), sondern insbesondere auch darum, warum bzw. mit welchem räumlichen Entwicklungsziel (aktiv). Die staatlichen Eingriffe können dabei über öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche Instrumente erfolgen (Hood 1983; Hood/Margetts 2007). Instrumente sind definiert als »die Art der Intervention oder die Maßnahmen, die vorgesehen sind, um die Ziele einer öffentlichen Politik zu verwirklichen« (Knoepfel et al. 2011: 181). Die Unterscheidung zwischen öffentlich- und privatrechtlich ist deshalb wichtig, weil diese zwei Arten bodenpolitischer Instrumente sich in ihrer Anwendung und Umsetzung mit unterschiedlichen sozio-politischen Herausforderungen in der planerischen Praxis konfrontiert sehen: •
Öffentlich-rechtliche Instrumente sind die Maßnahmen einer öffentlichen Politik, die darauf abzielt ein öffentliches Problem, welches von den staatlichen Behörden als solches definiert wurde, zu lösen, z. B. die Zersiedlung durch Verdichtung zu stoppen. Durch die Anwendung öffentlich-rechtlicher Instrumente erhält der Staat die hoheitlichen Befugnisse, die Handlungen derjenigen Akteure, von denen angenommen wird, dass sie die Ursache des Problems darstellen, im Namen des öffentlichen Interesses zu beeinflussen. Zudem werden öffentliche Politiken und Instrumente laufend überarbeitet und verändert. Nicht nur,
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Die »Universal Declaration of Human Rights« wurde am 10. Dezember 1948 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet.
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weil sich das Problem, auf das sie abzielen, laufend ändert, sondern auch, weil wechselnde politische Mehrheiten alternative Lösungen für das Problem vorschlagen (Knoepfel et al. 2011). Angewendet auf das in diesem Artikel diskutierte öffentliche Problem des Erhalts preisgünstiger Mieten im Kontext der Bestandsverdichtung sind unterschiedliche öffentliche Politiken mit verschiedenen Bereichen des öffentlichen Rechts an der Lösung des Problems beteiligt. Nebst dem Planungsrecht, welches die Bodennutzung direkt reguliert, wirken unter anderem auch das Energierecht (z. B. bei Vorgaben zu energetischen Sanierungen im Mietwohnsegment), das Steuerrecht (z. B. bei Steuerabzügen) oder der Denkmalschutz (z. B. bei Schutz vor Abriss) regulierend auf die Bodennutzung ein. Privatrechtliche Instrumente regeln die Beziehung zwischen zwei rechtlich gleichgestellten Subjekten. Staatliche Organe können dabei in hoheitlicher Funktion auftreten und in dieser Rolle die Eigentumsrechte beschützen. Andererseits kann der Staat auch als einfaches Rechtssubjekt auftreten und selbst privatrechtliche Instrumente anwenden (Hengstermann 2018). Im Kontext der Verdichtung werden privatrechtliche Instrumente (u.a. Eigentumsrechte, privatrechtliche Verträge, Erbbaurechte, Mietrecht) besonders relevant. So können Behörden die Entscheidung von Grundeigentümer/-innen, ob die Mieten nach Verdichtung erhöht werden oder nicht, zwar beeinflussen, z. B. mit gezielten Eingriffen über die Raumplanung. Letztendlich liegt es jedoch in der Entscheidungs- und Verfügungsgewalt der Eigentümer/-innen selbst, über die Höhe der Renditen auf ihren Grundstücken zu entscheiden (Marcuse 1998; Buitelaar/Needham 2007). Auch werden neue planerische Rahmenbedingungen – wie z. B. die Neuaufstellung des Flächennutzungsplans – nur dann umgesetzt, wenn Eigentümer/-innen den Entwicklungsvorhaben zustimmen. Solange Eigentümer/-innen ihre Parzelle nicht entwickeln wollen, wird der Plan nicht umgesetzt (Gerber et al. 2017). In der Schweiz schützt die Verfassung das »Recht auf Eigentum« als ein Grundrecht (Art. 22 BV), das nur eingeschränkt werden kann, wenn erstens eine Rechtsgrundlage und ein überwiegendes öffentliches Interesse bestehen, zweitens die Maßnahme verhältnismäßig ist und drittens eine volle Entschädigung gezahlt wird (Art. 5; Art. 36 Abs. 1-3; Art. 26 Abs. X BV). Im Rahmen dieser Rechtsordnung können Eigentümer/-innen einer Parzelle beliebig über diese verfügen.
Aktive kommunale bodenpolitische Strategien zeichnen sich dadurch aus, dass sowohl öffentlich-rechtliche als auch privatrechtliche Instrumente verwendet werden. Anders als bei der passiven Bodennutzungsplanung umfasst dies auch eigentumsrechtliche Instrumente wie z. B. Bodenbevorratung und die Vergabe in Erbpacht (Hengstermann 2018).
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Bewertungskriterien bodenpolitischer Instrumente Selbst wenn Kommunen in der Lage sind, bodenpolitische Instrumente zur Erreichung eines bestimmten räumlichen Entwicklungsziels anzuwenden, bleiben offene Fragen: Wie wirksam ist beispielsweise ein bodenpolitisches Instrument im Hinblick auf die Erreichung eines bestimmten räumlichen Entwicklungsziels? Welche Auswirkungen haben solche Ansätze auf andere Fachpolitiken, z. B. auf das Gemeindebudget? Und wie kann durch die Anwendung dieser Instrumente insbesondere die bezahlbare Wohnraumversorgung für die ärmsten Bevölkerungsgruppen sichergestellt werden? Die Beantwortung dieser Fragen gibt schlussendlich Auskunft darüber, wie es um das preisgünstige Wohnraumangebot im Kontext der Bestandsverdichtung aktuell steht. Die folgenden Bewertungskriterien bodenpolitischer Instrumente können voneinander unterschieden werden (Hartmann/Spit 2015): •
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Wirksamkeit beschreibt, ob durch den Einsatz eines Instruments das gewünschte Nutzungsziel im gewünschten Zeitraum, im richtigen Moment und ohne Auslösung zusätzlicher Nutzungskonflikte erreicht werden kann (Needham 2007). Kosten (kurzfristig) beschreiben den Umfang der finanziellen Belastung, die bei der Gemeinde kurzfristig durch das Ergreifen einer Maßnahme entstehen (ebd. 2014). Kosteneinsparnisse (langfristig) beschreiben die Höhe der finanziellen Kosteneinsparnisse, welche bei der Gemeinde langfristig durch das Ergreifen einer Maßnahme entstehen (Knoepfel et al. 2011; Needham 2014). Soziale Gerechtigkeit beschreibt, wie die Rechte, Positionen und Handlungsmöglichkeiten – insbesondere im Hinblick auf die Inklusion der ärmsten Bevölkerungsgruppen – durch den Einsatz dieses Instruments gestärkt werden (Rawls 2005).
Alle diese Kriterien dienen der Modellierung. In der planungspraktischen Realität ist eine Vielzahl von weiteren Abstufungen und Varianten zu beobachten.
Kommunale bodenpolitische Instrumente zur Sicherstellung des preisgünstigen Wohnraums bei Verdichtung im Bestand in Schweizer Städten In Abbildung 1 sind kommunale bodenpolitische Instrumente zugunsten des preisgünstigen Wohnraums im Bestand – analysiert anhand von Schweizer Gemeinden – dargestellt. Die aufgelisteten Instrumente in Abbildung und Tabelle 1 stammen
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aus der Analyse von fünf nationalen Forschungsberichten sowie den Aussagen aus neun Expert/-innen-Interviews.4
Abbildung 1: Kommunale bodenpolitische Instrumente zur Sicherstellung des preisgünstigen Wohnraums bei Verdichtung im Bestand – dargestellt anhand von Schweizer Gemeinden. Quelle: Eigene Darstellung. Anmerkung: Das Instrument des »Vorkaufsrechts« kann sowohl öffentlich- als auch privatrechtlich sein: öffentlich-rechtlich, wenn in der kommunalen Bau- und Zonenordnung ein Vorkaufsrecht, z. B. zugunsten gemeinnütziger Wohnbauträger festgehalten wird, privatrechtlich, wenn ein Vorkaufsrecht in der Praxis über die Unterzeichnung von Verträgen zwischen zwei Privatpersonen erfolgt, d.h. über eine vertragliche Einigung zwischen zwei Privatpersonen.
Die Auflistung und Einschätzung der Instrumente ist nicht als abschließend zu bewerten, sondern entspricht dem aktuellen Forschungsstand über die Schweiz.
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Insgesamt wurden fünf nationale Forschungsberichte (Schweizerischer Städteverband 2013; BWO 2014, 2016a; Schweizer Bundesrat 2017, 2018), sowie nationale Gesetzestexte, politische Strategie- und Positionspapiere, Protokolle politischer Debatten sowie neun Interviews mit Expert/-innen auf Bundesebene zum Thema der Wohnraumentwicklung im Kontext der Bestandsverdichtung in der Schweiz ausgewertet. Die Expert/-innen hatten die folgenden Funktionen: Präsident des Schweizerischen Mieterverbands, Präsidentin des Schweizerischen Verbands der Bauwirtschaft, Präsident des Schweizerischen Verbands der institutionellen Investoren, Leiter der Abteilung »Nachhaltiges Sanieren« beim Bundesamt für Energie, Direktor des Bundesamtes für Wohnungswesen sowie der Leiter der Abteilung »Siedlung und Landschaft« beim Bundesamt für Raumentwicklung. Zusätzlich wurden zwei Bundesparlamentarier (Grüne, FDP), welche über hohe Fachkenntnisse zum Thema verfügen, befragt.
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Abhängig von den lokalen Bedingungen kann es ortsspezifische Abweichungen und/oder Ergänzungen zu den einzelnen Instrumenten geben. Tabelle 1 (s. Anhang dieses Beitrags) ist eine Einschätzung der vorhandenen kommunalen bodenpolitischen Instrumente zur Sicherstellung des preisgünstigen Wohnraums im Bestand in Schweizer Gemeinden entlang der vier in der Literatur beschriebenen Bewertungskriterien (siehe oben). Es geht in der Analyse nicht darum abschließend zu bewerten, ob und wie genau ein Plan bzw. ein Instrument umgesetzt werden kann, sondern darum, die Folgen der Umsetzung eines Instruments zu beurteilen. Ziel ist es, die einzelnen in Abbildung 1 dargestellten Instrumente in Tabelle 1 näher vorzustellen und die Bewertung derselben exemplarisch durchzuspielen.
Diskussion und Schlussfolgerung: Wie weiter mit dem preisgünstigen Wohnraumangebot in dichter werdenden Schweizer Städten? Die obige Analyse zeigt, welche der vorhandenen bodenpolitischen Instrumente in der Schweiz die gewünschte Wirkung – nämlich den Erhalt preisgünstigen Wohnraums im Bestand – unter Berücksichtigung des Gemeindehaushalts und der sozialen Gerechtigkeit erzielen und welche nicht. Obwohl die vier Indikatoren bei vielen der dargelegten Instrumente erfüllt sind (konkret bei Mechanismen wie z. B. Zonierung, Mehrwertausgleich oder Quoten), scheint die Umsetzung dieser Instrumente in der schweizerischen Planungspraxis dennoch zu scheitern. Wir wollen die Gründe dafür diskutieren.
Die Sicherstellung preisgünstiger Mieten im Bestand bedarf strategischen Verhandlungsgeschicks kommunaler Planungsbehörden Aus der Sicht öffentlicher Akteure bedarf die Entwicklung einer aktiven bodenpolitischen Strategie zugunsten des preisgünstigen Wohnraums im Bestand viel Zeit, da hierfür politischer Konsens (primäre Legitimation) notwendig ist. Nur wenn das Ziel – d.h. die Bekämpfung der Wohnungsknappheit im preisgünstigen Segment – über mehrere Legislaturperioden verfolgt wird, kann sich eine breite politische Akzeptanz und Unterstützung für bodenpolitische Maßnahmen entwickeln (sekundäre Legitimation). Für eine solche bodenpolitische Strategie spricht, dass vielfältige politische Ziele verfolgt werden können. Von sozialpolitischen Zielen der politischen Linken (u.a. Inklusion der Armen) über umweltschützerische Belange der Grünen (u.a. Energiesparmaßnahmen effektiv umsetzen) bis zu protektionistischen und konservativen Motiven der politischen Rechten (u.a. langfristige Kosteneinsparnisse). Hauptargument gegen eine solche Strategie ist aber die Haltung, dass Wohnbedürfnisse
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auch ausschließlich über den Markt geregelt werden können. Problematisch ist auch, dass vor allem eigentumsbasierte Lösungen wie der Kauf von Bauland entsprechende Finanzmittel benötigen, deren politische Zweckmäßigkeit und ökonomischer Ertrag sich erst deutlich später einstellen. Die politische Herausforderung besteht also darin, diesen Teufelskreis zwischen primärer und sekundärer Legitimation zu durchbrechen: Sekundäre Legitimation für eine aktive kommunale bodenpolitische Strategie kann sich nur einstellen, wenn primäre Legitimation dafür vorhanden ist. Diese kann aber nur in spezifischen windows of opportunity erhöht werden, beispielsweise bei grundsätzlich geführten Debatten zum Thema Eigentum oder Enteignung, wie z. B. in Berlin im Frühjahr 2019. In der Schweiz ergreifen aktuell viele Gemeinden aufgrund dieser fehlenden primären Legitimation für starke bodenpolitische Instrumente zugunsten des preisgünstigen Wohnraums im Bestand (z. B. Mehrwertausgleich, Enteignung) insbesondere diejenigen Maßnahmen, welche private Investoren nicht direkt in ihrer Handlungs- und Investitionsfreiheit einschränken. In der Planungspraxis sind dies einerseits Instrumente, welche der Erhöhung des Anteils öffentlichen Eigentums dienen (z. B. über Landkauf). Diese sind wiederum stark abhängig von den zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln einer Gemeinde. Andererseits kommen insbesondere vertragliche Verhandlungen mit Privaten zum Zug. Im letzteren Fall kann eine Gemeinde beispielsweise im Rahmen einer Sondernutzungsplanung dem Investor eine höhere Ausnutzung vertraglich zusichern5 , aber nur, wenn dieser als Gegenleistung der Sicherstellung preisgünstiger Wohnungen einwilligt. Diese Vorgehensweise erfordert aber strategisches Verhandlungsgeschick der kommunalen Planungsbehörden, welches wiederum abhängig ist von den einer Gemeinde zur Verfügung stehenden politischen Ressourcen (Wissen, Personal, Zeit, Geld etc.) sowie den vorhandenen Entscheidungskompetenzen (Vollmer/Kadi 2018). Kleinen und mittleren Kommunen stehen diese politischen Ressourcen kaum bzw. gar nicht zur Verfügung, weswegen preisgünstige Mieten im Bestand stetig zu schwinden drohen. Abschließend betrachtet sind einkommensschwache Haushalte bei Verdichtung hauptsächlich betroffen von passiv gewählten bodenpolitischen Strategien der Gemeinden. Aufgrund der Mietpreissteigerung nach Verdichtungsmaßnahmen haben sie Mühe, eine preisgünstige Wohnung im städtischen Mietwohnungsmarkt zu finden. Sie müssen deshalb an periphere Lagen außerhalb der Stadt ausweichen. Der Verlust sozialer (Lebens-)Qualität, tragbarer Mieten und das Risiko
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Ob eine Sondernutzungsplanung, welche eine Abweichung von der baurechtlichen Grundordnung bewirkt, die Bewilligung des Gemeinderats oder sogar eine kommunale Volksabstimmung benötigt, ist kantonal geregelt. Es bestehen in der Praxis diesbezüglich Unterschiede zwischen den Kantonen in der Schweiz.
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der sozialen Segregation spitzen sich in Schweizer Städten somit zu. Selbst diejenigen Mieter/-innen, welche sich über öffentliche Kundgebungen, Demonstrationen oder Kündigungsanfechtungen gegen Verdichtungs- und Aufwertungsmaßnahmen im Mietwohnungssektor wehren, müssen aufgrund stark geschützter Eigentumsrechte und schwacher Mietrechte in der Schweiz ihre Wohnungen – über kurz oder lang – verlassen. Dieser Artikel leistet einen Beitrag zur Frage, wie eine soziale Wohnraumversorgung zugunsten der Inklusion einkommensschwacher Mieter/-innen durch eine dauerhafte Eindämmung von Boden- und Mietpreissteigerung im profitorientierten Wohnungsmarkt gelingen kann. Das Spektrum der in der Schweiz vorhandenen bodenpolitischen Instrumente wurde aufgezeigt und deren sozio-politische Herausforderungen bei der Umsetzung diskutiert.
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Die Wohnungsfrage ist eine Bodenfrage
Anhang: Tabelle 1 – Bewertung kommunaler bodenpolitischer Instrumente zur Sicherstellung des preisgünstigen Wohnraums im Bestand in Schweizer Städten entlang der vier ausgewählten Kriterien – Wirksamkeit, Kosten (kurzfristig), Kostenersparnisse (langfristig) und soziale Gerechtigkeit. Anmerkung: Die Tabelle gibt Auskunft darüber, welche der vorhandenen Instrumente, die gewünschte Wirkung – nämlich den Erhalt preisgünstigen Wohnraums im Bestand – unter Berücksichtigung des Gemeindehaushalts und der sozialen Gerechtigkeit erzielen können und welche nicht (Die Beurteilungen basieren auf der Auswertung folgender Quellen und Interviews: Schweizerischer Städteverband 2013; BWO 2014, 2016a; Schweizer Bundesrat 2017, 2018 und Expert/-innen-Gespräche). * ISOS steht für »Inventar schützenswerter Ortsbilder« in der Schweiz von nationaler Bedeutung. Das ISOS ist im Schweizerischen Natur- und Heimatschutzgesetz (NHG, SR 451) verankert und verfolgt u.a. das Ziel, schützenswerte Ortsbilder vor Abriss und Neubau zu schützen. ** Bei der »Objekthilfe« werden nicht einzelne Grundeigentümer/-innen, sondern einzelne Gebäude unterstützt. In der Regel erfolgt diese Unterstützung durch öffentlich subventionierte Darlehen und rückzahlbare Zuschüsse von Baukosten mit Zinssubventionen. Die Eigentümerschaft ist damit verpflichtet, die Mietpreise den entsprechenden Einsparungen anzupassen. Um diese Förderkonditionen nutzen zu können, müssen gemeinnützige Wohnbauträger in der Schweiz Mitglied in einer der zwei Dachorganisationen – »Wohnbaugenossenschaften Schweiz« und »Wohnen Schweiz« – sein und sich zu den Prinzipien der Kostenmiete bekennen (Bekenntnis zur Charta der gemeinnützigen Wohnbauträger in der Schweiz). Diese beiden Dachorganisationen verwalten gemeinsam den vom Bund finanzierten »fonds de roulement« (gemäß nationalem Wohnraumförderungsgesetz WFG). Nur so können die gemeinnützigen Wohnbauträger von der Trägerförderung des Bundes profitieren und objektbezogene Subventionsleistungen beantragen (Balmer/Gerber 2017; Gerber 2019)
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Das Erbbaurecht als Beitrag zu mehr bezahlbarem Wohnraum Learning from Amsterdam? Cilia Lichtenberg
Die Bodenpreise in Deutschland sind innerhalb der letzten Jahrzehnte stark angestiegen. Hans-Jochen Vogel, ein wichtiger Vertreter der Diskussion um den städtischen Boden in den 1970er Jahren, zeigte 2017 in einem Artikel auf, dass die Baulandpreise von 1962 bis 2015 um 1600 Prozent gestiegen sind, während die Mietpreise im gleichen Zeitraum nur um 495 Prozent stiegen. Diese Preissteigerungen bilden jedoch lediglich die deutschlandweiten Preise ab, das heißt sowohl die städtischen als auch ländlichen Bodenpreise. In der Stadt München stiegen die Bodenpreise hingegen von 1950 bis 2015 um ganze 34.263 Prozent an (Hans-Jochen Vogel in der SZ vom 11.11.2017 [Nr. 259]). Auch eine Studie des Bundesinstituts für Bau-, Stadt-, und Raumforschung (BBSR) von 2017 hat aufgezeigt, dass die aktuellen Baulandpreise in Deutschland den größten Kostentreiber beim Wohnungsbau darstellen und folglich die Entstehung von bezahlbarem Wohnungsbau behindern. Der durchschnittliche Preis für einen Quadratmeter Bauland stieg allein zwischen 2000 bis 2016 um 46 Prozent, während die Wohnungspreise im gleichen Zeitraum um 25 Prozent stiegen (BBSR 2017: 2). In den Großstädten verteuerte sich der durchschnittliche Quadratmeter Bauland in nur fünf Jahren, zwischen 2011 und 2016, um 33 Prozent (ebd.: 5). Die in Folge der steigenden Baulandpreise ebenso gestiegenen Mieten haben dazu geführt, dass der Umgang mit Grund und Boden in Deutschland wieder Eingang in die Diskussion gefunden hat. Dabei wird das Erbbaurecht als eine Lösung diskutiert, Einfluss auf die steigenden Boden- und Wohnungspreise zu nehmen. Im Folgenden soll daher der Frage nachgegangen werden, welchen Beitrag das Erbbaurecht in Deutschland zu mehr bezahlbarem Wohnraum leisten kann. Vor diesem Hintergrund wird zunächst der Umgang mit Grund und Boden als Ware betrachtet. Daraufhin werden die Entstehungsgeschichte des Erbbaurechts und die heutigen gesetzlichen Rahmenbedingungen dargestellt. Im Anschluss wird ein Blick in die niederländische Gemeinde Amsterdam gewagt, die einen Großteil ihres Bodens besitzt und diesen in Erfpacht vergibt. Schlussendlich werden die Verpach-
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tungsgesetze in den Niederlanden und Deutschland sowie die Anwendungen in der Praxis miteinander verglichen. Dafür wurden neben der Dokumentenanalyse Expert/-innen-Interviews geführt.
Der Umgang mit Grund und Boden als Ware Der Boden ist eine endliche Ressource, die als Ware gehandelt wird, obwohl diese weder mobil ist noch produziert werden kann. Boden kann lediglich durch die Bauleitplanung »baureif« gemacht werden. Die Stadt- und Bauleitplanung legt die Nutzung des Bodens fest, die sich im Bodenpreis widerspiegelt. Gutachterausschüsse erstellen regelmäßig Bodenwertgutachten, die die Preise für den Boden festlegen. Dabei setzen sich die Bodenwerte aus den durchschnittlich gezahlten Bodenpreisen, der Lage sowie der zu erwartenden maximalen Nutzung des Bodens zusammen. Mit dem Bodenpreis kauft man dadurch gewissermaßen die zu erwartende Rendite, die durch die Nutzung des Bodens möglich ist. Dadurch haben die in den Gutachten festgelegten Bodenwerte immer auch einen spekulativen Charakter, da sie eine zukünftige Nutzung des Bodens mit einpreisen und folglich eine preistreibende Wirkung haben. Zusätzlich hält die Baubranche den Boden bewusst knapp, um den Wert des eigenen Baugrundstücks weiter steigern zu können (Dieterich/Dieterich 1997: 70; Hagemeier 2003: 128). In Deutschland kommt hinzu, dass es sich besonders lohnt den baureifen Boden – der Boden, der über eine Baugenehmigung verfügt – unbebaut liegen zu lassen, da die aktuellen Wertsteigerungen für unbebauten Boden höher sind als die Rendite, die sich durch Wohnungsbau erwirtschaften ließe. Baugenehmigungen sind zeitlich unbefristet, das verschärft zusätzlich den Mangel an Boden und insbesondere an preiswertem Bauland. Das deutsche Planungssystem ermöglicht dadurch »nahezu kostenlose Spekulationen« (Hagemeier 2003: 300) für Grundstückseigentümer/-innen durch die Abschöpfung der planungsbedingten Wertsteigerungen, die kostenintensiv von der Gemeinde geschaffen werden, ohne dass die Nutzung oder die Erträge aus der Flächennutzung wieder der Gemeinde beziehungsweise Allgemeinheit zur Verfügung stehen. Auch die Diskussion einer »gesamtgesellschaftlich sinnvollen Nutzung« (ebd.) bleibt aus. In der Folge ist Bodeneigentum in Deutschland heute ähnlich ungleich verteilt wie Vermögen (Felsch 2010: 19f.) und konzentriert sich bei wenigen Personen und Gesellschaften, die ihre Interessen gegenüber der Gemeinde durchsetzen können (Dieterich/Dieterich 1997: 79) und das Ziel verfolgen, Bauland zu einem späteren Zeitpunkt renditeträchtig weiterzuverkaufen (Schreer 1998: 89). Eine wichtige Frage ist daher, wie deutsche Kommunen wieder eine steuernde Rolle auf dem Bodenmarkt einnehmen können und wie eine »sozialgerechtere Bodenordnung« aussehen kann, die durch den Boden geschaffene Wertsteigerungen
Das Erbbaurecht als Beitrag zu mehr bezahlbarem Wohnraum
der Allgemeinheit zuführen würde (vgl. Bodensteiner 2000). Der Handlungsspielraum der Kommunen, die auf dem Bodenmarkt sowohl als Teilnehmerinnen als auch als steuernde Instanzen auftreten, ist gering, da sie nicht über das nötige Geld verfügen, die benötigten Flächen aufzukaufen. Neben ihrer Rolle als Marktakteurin hat die Kommune jedoch auch die gesetzliche Aufgabe, den Boden für Wohnen, Verkehr und Arbeiten bereitzustellen (vgl. Art. 28 GG). Privateigentum ist in Deutschland gut geschützt, der Zugriff ist im Rahmen der regulären Bebauungsplanung begrenzt. Lediglich im Rahmen des Sonderfalls der städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme, mit dem »im Wohle der Allgemeinheit« (§ 165 Abs. 2 S. 2 BauGB) ein stärkerer Eingriff – wie eine Enteignung – durch die Gemeinde möglich ist, ist ein Zugriff auf Privateigentum ausführbar. Ebenso im Rahmen von städtebaulichen Erhaltungssatzungen (§ 172 BauGB), in denen die bauliche Substanz zum Schutze der Bebauung oder der Wohnbevölkerung (Milieuschutz) genehmigungsbedürftig sind (§ 172 Abs. 1 S. 1-3 BauGB) und das Vorkaufsrecht angewendet werden kann. Im Regelfall muss die Kommune jedoch privaten Boden teuer von Grundeigentümer/-innen aufkaufen, die bereit sind, ihren Boden zu veräußern. Einige Kommunen rückten daher in den letzten Jahren davon ab, ihren Grund und Boden zu veräußern und erkennen, dass der Aufkauf bzw. die Bevorratung von Boden eine wichtige Stellschraube zur Bereitstellung preiswerten Wohnraums darstellt. Denn über kommunales Bodeneigentum lässt sich wesentlich mehr und langfristigeren Einfluss auf Boden- und Wohnraumentwicklung ausüben als über planerische Instrumente auf Privatboden (difu/vhw 2017: 2). Das Erbbaurecht stellt ein wichtiges Instrument der Kommunen dar, um kommunalen Boden zur Bebauung zur Verfügung zu stellen und dabei Grundbesitzerin zu bleiben, ohne selbst Bauherrin sein zu müssen. Zudem wird dem Instrument zugesprochen, dass es Bodenspekulation verhindert. Deshalb soll im Folgenden dargelegt werden, wie sich das Erbbaurecht in Deutschland entwickelt hat.
Das Erbbaurecht in Deutschland Das Erbbaurechtsgesetz ist ein Instrument, das älter ist als unser aktuell gültiges Rechtssystem. Das Pachtgesetz hat seine Ursprünge im römischen Recht sowie in verschiedenen Instrumenten des Mittelalters wie der städtischen Bodenleihe oder ländlichen Erbpacht. Zu dieser Zeit war Boden noch unverkäuflich und nicht Gegenstand von Privateigentum (Dieterich/Dieterich 1997: 66). Der Boden war Eigentum der Kirche, aber im faktischen Besitz von Grundherren als kirchliche Vertreter (Bernoulli 1949: 24), bis das enorme Städtewachstum im 18. und 19. Jahrhundert zum Verkauf des städtischen Bodens führte, um die Bebauung zu beschleunigen (ebd.: 44).
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Nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870-1871 und dem Ersten Weltkrieg 1914-1917 führten zerstörte Gebäude und der Wohnraumbedarf Kriegsgeflüchteter sowie die Spekulation mit Boden zu enormen Bodenpreiserhöhungen, die steigende Grundstückspreise und folglich auch steigende Mietpreise nach sich zogen. Daraufhin wurde öffentlich über den Umgang mit Grund und Boden diskutiert und der Bau von bezahlbarem Wohnraum für breite Bevölkerungsgruppen eingefordert. Die »Bodenfrage« rückte in den Mittelpunkt der sozial- und wohnungswirtschaftlichen Überlegungen und wurde als wichtige Voraussetzung für die Bekämpfung von Armut angesehen (Wätzmann 2013). Um die Jahrhundertwende beschäftigten sich zahlreiche Personen mit der Problematik des Bodens und schufen eine Grundlage für das heutige Erbbaurechtsgesetz: Zum Beispiel beschäftigte sich Henry George in seinem Werk »Fortschritt und Armut« 1897 mit der steuerlichen Abschöpfung des Bodenwertzuwachses. Adolf Damaschke, Schüler Henry Georges, forderte mit dem von ihm gegründeten »Bund deutscher Bodenreformer« eine Besteuerung sowie Verpachtung von Boden, die in der Verfassung verankert werden sollte. Auch Wiederkaufsrechte und eine Bodenvorratspolitik sah Damaschke vor (Dransfeld 2015: 5). Das Erbbaurecht wurde erstmals 1900 rudimentär im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) als »Bau- und Kellerrecht« festgeschrieben und löste damit die mittelalterlichen Instrumente wie die Erbpacht1 oder die Bodenleihe ab. Mit dem Bau- und Kellerrecht wurde verglichen mit beispielsweise einer flächendeckenden Besteuerung des Bodens allerdings nur eine der konservativeren Forderungen der Bodenreformer gesetzlich festgehalten. Da es in dieser ersten Form jedoch als »ungenügend und unsicher« (Velić 2011: 6) angesehen wurde, stand es Anfang des 20. Jahrhunderts erneut zur Diskussion und fiel bereits 1912 wieder aus dem BGB heraus (ebd.). Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Diskussion um das Erbbaurecht wieder aufgenommen und eine novellierte Verordnung erlassen. Diese »Erbbaurechtsverordnung« trat am 22. Januar 1919 in Kraft und änderte auch das Ansehen des Instruments. Die Erbbaurechtsverordnung2 regelte nun umfassend die Verpachtung von Grund und Boden und wurde als Instrument zur Lösung sozialer Probleme angesehen. In der Vorbemerkung der Rechtsverordnung von 1919 heißt es:
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Die Erbpacht darf trotz phonetischer Ähnlichkeit zur niederländischen Erfpacht nicht mit dem Erbbaurecht verwechselt werden, auch wenn die Begriffe fälschlicherweise umgangssprachlich synonym verwendet werden. Die Erbpacht war Teil des mittelalterlichen Lehnswesens und wurde 1900 durch das »Bau- und Kellerrecht« im BGB und später durch die Erbbaurechtsverordnung und das Erbbaurechtsgesetz abgeschafft. Die Erbbaurechtsverordnung von 1919 hatte Gesetzesrang und ist bis auf wenige Veränderungen noch heute gültig. Die Umbenennung zum Erbbaurechtsgesetz (ErbbauRG) erfolgte 2007.
Das Erbbaurecht als Beitrag zu mehr bezahlbarem Wohnraum
»Die Bodenreform erkannte im Erbbaurecht ein Hauptmittel zur Verwirklichung ihres praktischen Ideals, dass nämlich der Gemeinschaft auch die aus ihrem Wachsen hervorgehende Bodenwertsteigerung zugewendet werden müsse. […] Gerade die herrschende Wohnungsnot war und ist der Hauptfaktor, durch den das Erbbaurecht mehr zur Geltung kommt.« (zitiert in: Novy-Huy/Dellgrün 2010: 50) Das Gesetz stellte insbesondere in den Nachkriegsjahren beider Weltkriege günstigen Boden für Genossenschaften und öffentliche Wohnungsunternehmen zur Wohnbebauung bereit (ebd.: 50). Für »minderbemittelte Bevölkerungskreise« (§27, §32 ErbbauRG), die damalige Formulierung für »untere Einkommensgruppen«, regelte es Mindestanforderungen, die die gemeinnützigen Wohnungsbauträger für sich nutzen konnten. Der Charakter des deutschen Erbbaurechtgesetzes – die Wohnbedürfnisse insbesondere der unteren Einkommensgruppen zu befriedigen – wird dadurch im Gesetz von 1919 noch heute sichtbar (Novy-Huy/Dellgrün 2010). Das Erbbaurechtsgesetz ermöglicht die Verpachtung des Grundstücks durch die juristische Trennung von Gebäude und Boden. Für die Dauer des Erbbaurechtvertrages haben die Erbbauberechtigen (die Pächter/-innen) die Sachherrschaft über das Grundstück; es wird daher auch als »eigentumsgleiches Recht« (Velić 2011: 16) bezeichnet. Das Erbbaurecht ermöglicht dadurch, Gebäude zu besitzen (als selbstgenutztes Eigentum, Mietwohnungsbau und auch Gewerbe), ohne Eigentümer/-in des Grundstücks zu sein, aber für die Dauer des Erbbaurechtsvertrags alle Rechte von Eigentümer/-innen zu erlangen (ebd.). Das Erbbaurecht wird durch die Vereinbarung eines Erbbaurechtsvertrags begründet. Die Vertragsfreiheit ermöglicht es dabei, die Zinsen, die Dauer und auch die Nutzung individuell zu vereinbaren. Dabei kann der Vertrag beispielsweise die Nutzung oder die Zielgruppe festlegen, eine Bebauungspflicht oder Vertragsstrafen festschreiben sowie eine Entschädigungssumme bei Beendigung des Vertrages bestimmen (von Oefele et al. 2016). Der für die Nutzung des Grundstücks zu zahlende Erbbauzins ist eine wesentliche Stellschraube und auch ein Knackpunkt des Erbbaurechts, wie unzählige Gerichtsentscheidungen zur komplexen Erhöhung, Senkung und Anpassung des Zinses zeigen. Als Bemessungsgrundlage dient in der Praxis der Bodenwert bei Bestellung des Erbbaurechts. Die Erbbauzinsen dürfen während der Vertragslaufzeit erhöht werden. Bis zum 23.01.1974 war es möglich, den Erbbauzins an den aktuellen Bodenwert anzupassen, doch aufgrund starker Bodenpreissteigerungen und demzufolge steigender Erbbauzinsen wurde die Anpassung der Erbbauzinsen verändert. Seitdem regelt der § 9a, dass der Erbbauzins alle drei Jahre an die »allgemein wirtschaftlichen Verhältnisse« (§ 9a ErbbauRG) angepasst werden darf (von Oefele et al. 2016: 14f.). Diese werden auf Grundlage des Lebenshaltungskostenindex sowie der Bruttoarbeitslöhne ausgewählter Arbeitnehmer/-innen berechnet
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(Thiel 2004: 17f.). Die Berechnungsmethode bildet zwar nicht die Nettolohn- und Rentenentwicklung ab, dennoch steigen die Erbbauzinsen dadurch aktuell deutlich geringer, als wenn die Erbbauzinsen an die aktuellen Bodenwerte angepasst werden würden. Dies vergünstigt die Kosten für den Boden für Erbbauberechtigte langfristig bzw. verringert die Einnahmen des Erbbaurechtsausgebenden und wird als »schleppender« oder »hinkender« Zins bezeichnet (Thiel 2018: 1195). Je länger der Vertrag läuft, desto stärker kommt dies zum Tragen (ebd.). Einen anderen Vorschlag zur Berechnung der Zinshöhe führen Thiel und Löhr in die Diskussion um einen »marktgerechten Erbbauzins« ein. Dieser sollte unter dem Kapitalmarktzins beziehungsweise Hypothekenzins liegen und damit »wesentlich tiefer« (Löhr 2017: 28) als aktuell von vielen Kommunen und Kirchen ausgegeben (Löhr 2017; Thiel 2018). Denn ein Zins von vier bis fünf Prozent, wie ihn auch viele Kommunen ausgegeben, kann nicht als »marktgerecht« bezeichnet werden, wenn die Finanzierung eines Grundstückkaufes für weniger als die Hälfte möglich ist (Thiel 2018: 1195). Im Folgenden werden weitere Probleme des Erbbaurechts benannt. Das Erbbaurechtsgesetz schreibt keine Vertragslänge vor; diese unterliegt der Vertragsfreiheit und beträgt in der kommunalen Praxis meistens 99 Jahre (Licher 2009: 52). Die Beendigung sowie Verlängerung des Erbbaurechts gestalten sich in der Praxis jedoch problematisch. Nach Ablauf des Vertrages kann der Erbbauzins im Rahmen eines Neuvertrags wieder an den aktuellen Bodenwert angepasst werden, was in der Regel zu enormen Preissteigerungen für die Pächter/-innen führt. Das Erbbaurecht kann folglich durch den zuvor beschriebenen »hinkenden Zins« während der Vertragslaufzeit eine bodenpreismildernde Wirkung für die Pächter/-innen entfalten, nach der Laufzeit jedoch durch die Anpassung an die aktuellen Bodenwerte die aktuellen Grundstückspreise im neuen Erbbauzins widerspiegeln. In der Vergabepraxis führt dies mitunter dazu, dass Grundstückseigentümer/-innen die Vertragslaufzeiten von Erbbaurechtsverträgen auf 20 bis 30 Jahre verkürzen, um an der Wertsteigerung beteiligt zu sein, was zu Unsicherheiten der Pächter/-innen führt (Heynitz 2004: 7). Weiterhin ist problematisch, dass bei Vertragsablauf nicht die volle Entschädigung3 für das Gebäude an die Pächter/-innen bezahlt wird wie beim Verkauf von Volleigentum. In der besonderen Situation des Heimfalls (dem Vertragsbruch) fallen Hypotheken und Beleihungen an den Grundstückeigentümer/die Grundstückeigentümerin zurück, weshalb Banken diese ungerne und geringer beleihen (Thiel 2004: 28) und somit das Erbbaurecht gegenüber dem Grundstücksvolleigentum benachteiligt wird.
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Üblich ist eine Entschädigung von zwei Dritteln des Verkehrswertes bei Ablauf oder Heimfall des Erbbaurechtes.
Das Erbbaurecht als Beitrag zu mehr bezahlbarem Wohnraum
Die Erfpacht in Amsterdam Die Niederlande verfügen ebenfalls seit Ende des 19. Jahrhunderts über ein Erbbaurechtsgesetz. Das Gesetz der Erfpacht gleicht in Definition und Funktion dem deutschen Erbbaurechtsgesetz (BW Buch 5 Titel 7 Art. 85-100). Wie auch in Deutschland können alle Grundeigentümer/-innen ihre Grundstücke in Erfpacht vergeben, doch insbesondere die Kommunen machen davon Gebrauch (OGA 2007: 52). Die Kommunen verfügen im Rahmen des nationalen Gesetzes über kommunale Erfpacht-Satzungen für Eigenheimbesitzer/-innen. Der Gemeinde Amsterdam gehören 70 Prozent ihres Bodens, den sie überwiegend in Erfpacht vergibt (van Veen 2005: 1). Die Gemeinde sieht den Boden als »besonderes Gut« an und vertritt die Meinung, dass »privater Grundbesitz […] gesellschaftlich inakzeptable Folgen haben [kann]« (OGA 2007: 50). Amsterdam nutzt die Erfpacht seit 1896 und hat seitdem eine Vielzahl an kommunalen Satzungen erlassen, mit denen sie auf die aktuellen Anforderungen sowie politische Ziele reagiert hat und eine langfristige Kontrolle auf die Nutzung des Bodens sowie die sich darauf befindlichen Gebäude behält. Es sind umfassende Regelwerke, die Vertragsbruch, Instandhaltungspflichten, bestimmungsgemäße Nutzung, die Höhe und Berechnungsgrundlage des Erbbauzinses (Canon) sowie die Berechnungsgrundlage der Zinserhöhung regeln (ebd.: 51f.). Die Erbbaurechte in Deutschland und die Erfpacht in den Niederlanden unterscheiden sich insbesondere in der Anpassung der Erbbauzinsen bzw. des Canon. Dieser kann in den Niederlanden, im Gegensatz zu Deutschland, während der Vertragslaufzeit an den aktuellen Bodenwert angepasst werden. Die Stadt Amsterdam indexiert die Erbbauzinsen so, dass der Preis regelmäßig an den aktuellen Bodenwert angepasst wird (OGA 2007: 55f.). Die Entwicklung der Erfpacht-Zinsen ist für alle Vertragspartner/-innen transparent und führt zu einer größeren Planungssicherheit, aber ermöglicht auch weniger individuelle Lösungen als in Deutschland. Die Gemeinde verfügt über eigene Erfpacht-Satzungen für die Wohnungsgesellschaften als Träger des sozialen Wohnungsbaus (van Veen 2005: 5f.). Sie erhalten von der Gemeinde vergünstigte Grundstücke in Erfpacht, das heißt einen Zins unter dem Marktwert sowie eine befristete Verpachtung von 30 bis 75 Jahren, je nach Satzung. Im Gegenzug verpflichten sich die Wohnungsbaugesellschaften zu den Regularien des sozialen Wohnungsbaus und übernehmen Aufgaben der Stadterneuerung. Überschüsse aus den Pachtzahlungen werden in einen zweckgebundenen Fonds eingezahlt, der wiederum Projekte der Stadtentwicklung und Stadterneuerung finanziert (ebd.). Neben der Erfpacht nutzt die Gemeinde Amsterdam weitere bodenpolitische Instrumente wie Enteignung oder kommunale Vorkaufsrechte. Sie tritt auf dem Bodenmarkt als größte Akteurin auf und die »städtebauliche Entwicklungsmaßnahme« stellt das Regelmodell der Stadtentwicklung dar. Private Bauherr/-innen wie in
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Deutschland gibt es nur wenige in den Niederlanden. Stattdessen entwickeln große Projektentwickler/-innen im Rahmen von Öffentlich-Privaten-Partnerschaften den Boden und die Bebauung gemeinsam mit beziehungsweise für die Kommune. Die Niederlande verfügen zudem nicht über ein transparentes Bodenbegutachtungsverfahren (Dieterich/Dieterich 1997: 109f.), da unbebauter Boden durch die Kommune entwickelt und verkauft beziehungsweise in Erfpacht vergeben wird. Die Kommune verfügt über das Bodenmonopol und profitiert von der Abschöpfung der planungsbedingten Wertsteigerung. Dafür übernimmt sie jedoch auch die Risiken, weshalb die niederländischen Kommunen deutlich stärker von der Weltwirtschaftskrise betroffen waren als die deutschen (Interview mit Prof. Dr. Thomas Hartmann4 am 08.11.2018 ). Seit der Finanzkrise stiegen die Boden- und Wohnungspreise in den Niederlanden und insbesondere in Amsterdam enorm an und davon profitierte auch die kommunale Kasse (ebd.). Die Erfpacht stellt mit rund 100 Millionen Euro eine große Einnahme für die Kommune dar (Ploeger/de Wolff 2014: 1). Dabei ist die Verpachtung von kommunalem Boden insbesondere für die privaten Eigenheimbesitzer/-innen teuer, die sich folglich »geschröpft« fühlen und die Erfpacht als »Cash Cow« (ebd.: 2) der Kommune bezeichnen. Der Boden für den sozialen Wohnungsbau wird hingegen preiswert vergeben (van Veen 2005: 5f.); so wird die Bodenwertsteigerung aus privater Nutzung an die Stadtgesellschaft umverteilt. Aufgrund der lautstarken Diskussionen um die Abschaffung dieses starren Instruments Erfpacht in Amsterdam innerhalb der letzten Jahre durch die konservativen Parteien, führte die Stadt Amsterdam unbefristete Pachten ein (Ploeger/de Wolff 2014). Diese erhöhen die gefühlte Sicherheit für die Pächter/-innen, aber durch die kontinuierlichen Anpassungen an den aktuellen Bodenwert auch die finanzielle Belastung für die Pächter/-innen sowie die regelmäßigen Einnahmen für die städtische Kasse. Hingegen verringert es die Flexibilität der Bodennutzung durch die Kommune und gleicht die Verpachtung des Bodens und das Bodenvolleigentum einander an.
Zusammenführung Der Vergleich der beiden städtischen Verpachtungsinstrumente in Deutschland und den Niederlanden macht deutlich, dass in den Niederlande ein stärkeres Ver4
Prof. Dr. Thomas Hartmann ist Associate Professor in der »Land Use Planning Group« an der Universität in Wageningen, Niederlande. Dort forscht und lehrt er zu Planungstheorie, Bodenpolitik und Planungsinstrumenten sowie Hochwasserschutz. Er ist Mitglied in der »International Association on Planning, Law, and Property Rights« (PLPR) innerhalb der AESOP. Thomas Hartman wurde im Rahmen der Promotion der Autorin zu Bodenpolitik in Deutschland und den Niederlanden interviewt.
Das Erbbaurecht als Beitrag zu mehr bezahlbarem Wohnraum
ständnis von »Boden als Allgemeingut« herrscht – der Wert des Bodens wird im Rahmen der großflächigen Verpachtung abgeschöpft und durch den kommunalen Haushalt an die Stadtbevölkerung umverteilt. Der privat genutzte Boden wird als Einnahmequelle der Gemeinde verstanden und subventioniert im Gegenzug den sozialen Wohnungsbau sowie Stadtentwicklungsprojekte. Die Erfpacht wird als bodenpolitisches Instrument verstanden, mit dem planerische und strategische Ziele erreicht werden sollen. Durch die großflächige Nutzung der Erfpacht kann die Gemeinde langfristig steuern (Ploeger/de Wolff 2014: 7f.). Es zeigt sich im Vergleich jedoch auch, wie sich an den aktuellen Bodenwert angepasste Erbbauzinsen auswirken können, denn die Eigenheimbesitzer/-innen nehmen die steigenden Erfpacht-Zinsen als große finanzielle Belastung wahr. Schaut man sich die Immobilienpreise in Amsterdam an, so scheint die Erfpacht dort keinen Einfluss auf die Bezahlbarkeit von Wohnraum zu haben. Die Preise für Wohneigentum unterscheiden sich nicht zwischen Wohnraum auf privatem und gepachtetem Boden. Trotz regelmäßiger Erfpacht-Zinsen zusätzlich zum Kaufpreis wird hier eine vergleichbar hohe Summe für das Gebäude verlangt (vgl. Gemeente Amsterdam o.J.)5 . Deutsche Kommunen nutzen die in deutlich begrenzterem Maße zur Verfügung stehenden öffentlichen Flächen für die ursprüngliche Idee des Erbbaurechts, die Bereitstellung bezahlbaren Wohnraums. In Amsterdam zeigt sich die ursprüngliche Idee durch die Vergabe preisreduzierten Bodens an die gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften für Sozialwohnungsbaus im Rahmen der sozialen Wohnraumförderung. Umfangreicher wird dort jedoch die Erfpacht zur Wertabschöpfung genutzt. Die Wertabschöpfung hat in Deutschland durch die geringe Anzahl von Erbbaurechten kaum Bedeutung, dafür findet eine direktere Besteuerung des einzelnen Grundstücks statt. Die zwei unterschiedlichen Ansätze sowie deren Wirksamkeit resultieren insbesondere aus den sich unterscheidenden Ressourcen – die kommunale Eigentümerschaft am Boden sowie die gesetzlichen Möglichkeiten auf kommunaler Ebene. Würden die deutschen Kommunen über mehr Boden verfügen, so wäre ihr direktes Modell effektiv. Im aktuellen Umfang bleibt es jedoch sehr beschränkt und bleibt hinter den bodenpolitischen sowie auch sozialpolitischen Möglichkeiten zurück. Der Vergleich zeigt, dass das Erbbaurecht zunächst ein »blindes Instrument« ist. Es trägt nicht per sé zu mehr bezahlbarem Wohnraum bei, sondern muss gezielt für diesen Zweck eingesetzt werden. Dafür bedarf es eines politischen Willens
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Die Eigentumspreise in Amsterdam lagen 2019 im Zentrum bei 6000 bis über 7500 €/m2 und unterscheiden sich nicht zwischen den Lagen, die vornehmlich im Privateigentum verkauft werden (Innenstadt, erbaut vor 1896) und auf Erfpacht erbautem Wohneigentum (erbaut nach 1896) (vgl. Gemeente Amsterdam o.J.).
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und »rechtlichen Geschicks«. Amsterdam nutzt kommunale Satzungen und Musterverträge, die auch den Verwaltungsaufwand des Erbbaurechts in Deutschland verringern könnten. Eine unbefristete Dauer, wie sie in Amsterdam möglich ist, könnte die (wahrgenommene) Sicherheit für die Pächter/-innen erhöhen und auch Bankkredite erleichtern, erschwert allerdings die Anpassung der Zinsen und führt langfristig dazu, dass das Erbbaurecht für die Grundeigentümer/-innen finanziell unattraktiv ist. Eine marktorientiertere Ausgestaltung des Erbbaurechts durch eine mögliche Anpassung der Zinsen an den Bodenwert wie in Amsterdam könnte zu einer höheren Attraktivität des Gesetzes bei deutschen Grundeigentümer/-innen und Banken beitragen, aber auch zu weiteren Preissteigerungen für die Pächter/innen führen und somit den Charakter eines Instruments für benachteilige Gruppen oder bezahlbaren Wohnraum schwächen. Der Vergleich macht deutlich, dass das Erbbaurecht strategisch als bodenund sozialpolitisches Instrument genutzt werden kann. Im Rahmen der Vertragsfreiheit kann es beispielsweise Lücken des deutschen Planungsrechts füllen, wie die Vereinbarung von befristeten Baugenehmigungen, Baugeboten oder der Festschreibung von Nutzer/-innen oder spezifischen Nutzungen. Es kann dadurch eine gezielte Steuerung des städtischen Bodens ermöglichen und auch einen Einfluss auf die Bezahlbarkeit von Wohnraum nehmen. Das Erbbaurecht löst jedoch nicht die allgemeinen Probleme des deutschen Bodenmarktes: Das Erbbaurecht hat keinen Einfluss auf die Bodenpreisbildung, da es keinen Verkaufsfall darstellt und dadurch nicht in die Bodengutachten mit eingeht. Zudem hat die Kommune auch weiterhin nur einen eingeschränkten Zugriff durch die kommunale Planung auf den privaten Grund und Boden, der einen Großteil der Fläche ausmacht. Im Regelfall muss die Kommune den Boden weiterhin teuer von privaten Grundeigentümer/-innen aufkaufen, bevor sie diesen im Erbbaurecht vergeben kann. Die Erbbauzinsen spiegeln dann jedoch auch die hohen Bodenpreise wider und führen nicht zu bezahlbarem Wohnraum, was die Vergabe derzeit unattraktiv macht. Daher bedarf es weiterer Instrumente und Konzepte, die die langfristige Sicherung städtischen Bodens und preiswerter Wohnungen sowie die Versorgung von am Wohnungsmarkt benachteiligten Gruppen sicherstellen.
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Das Erbbaurecht als Beitrag zu mehr bezahlbarem Wohnraum
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Wohnungsfrage(n) und Rollen der Wohnungswirtschaft
Die Privatisierung kommunaler Wohnungsbestände als Herausforderung für die europäische Stadt Sebastian Klus
Im vorliegenden Beitrag wird die Privatisierung kommunaler Wohnungsbestände vor dem Hintergrund des Leitbildes der »europäischen Stadt« betrachtet. Dieses stellt einen Idealtypus von Stadt dar, der erstmals von Max Weber (2000 [1924]) skizziert und seither – durchaus in kontroverser Debatte – weiterentwickelt wurde. Die Behandlung zweier Fragestellungen steht im Mittelpunkt der Ausführungen: Inwiefern stellt die Privatisierung kommunaler Wohnungsbestände die Idee der europäischen Stadt grundsätzlich in Frage? Welche Perspektiven der Weiterentwicklung der europäischen Stadt bestehen im 21. Jahrhundert – auch und gerade im Feld der kommunalen Wohnungsversorgung? Zu diesem Zweck wird zunächst die europäische Stadt als Leitbild umrissen. Alsdann wird die Privatisierung kommunaler Wohnungsbestände vor diesem Hintergrund eingeordnet. Abschließend werden auf die Fragestellungen bezogene Perspektiven skizziert.
Die europäische Stadt Der Diskurs um die europäische Stadt wird in der Stadtforschung lebhaft geführt. Dabei geht es nicht zuletzt um die Frage, ob das Modell der europäischen Stadt, welches eine spezifische Vorstellung und Ausprägung von Stadt skizziert, noch ein taugliches Leitbild für das 21. Jahrhundert darstellen kann. Während die einen dem Modell die Zukunftsfähigkeit absprechen und eine romantisierende Verklärung konstatieren (Kunzmann 2011: 36ff.), verweisen andere auf den nach wie vor damit verbundenen Erklärungswert (Hannemann/Mettenberger 2011: 55ff.). Die europäische Stadt wird dabei zum einen als normatives Leitbild herangezogen, zum anderen dient sie als Folie für die Analyse und Beschreibung städtischer Strukturen und Prozesse (Frey/Koch 2011: 420ff.). In diesem Sinne kann sie als Idealtypus mit bestimmten charakteristischen Merkmalen verstanden werden, die Siebel wie folgt benennt:
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Emanzipation: Die Geschichte der europäischen Stadt kann als eine Geschichte der Emanzipation von natürlichen, politischen, ökonomischen und sozialen Zwängen gelesen werden. Präsenz von Geschichte: Als »Orte steingewordener Erinnerung« (Siebel 2012: 202) bergen Städte Zeugnisse vergangener Epochen und machen die Entwicklungsgeschichte der modernen Gesellschaft sicht- und erfahrbar. Urbane Lebensweise: Der Alltag der Stadtbewohner/-innen ist von einer bestimmten urbanen Lebensweise geprägt, für welche die Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit, Wohnen und Arbeiten sowie die Differenzierung und Individualisierung von Lebensläufen kennzeichnend sind. Gestalt: Die europäische Stadt verfügt über eine bestimmte gebaute Gestalt, welche ihre Geschichte sowie die spezifischen Funktionen und die urbane Lebensweise räumlich fassen und symbolisieren. Die Stadt als politisches Subjekt: Das Leben in der europäischen Stadt ist durch eine öffentliche soziale und technische Infrastruktur sowie eine eigenständige Stadtpolitik auf Basis bürgerschaftlicher Selbstverwaltung geprägt, die sich etwa in Form von Stadtplanung oder kommunaler Sozial- und Wohnungspolitik äußert. Stadtentwicklung als Wachstumsprozess: Seit dem 19. Jahrhundert sind Stadtentwicklungsprozesse vor allem Wachstumsprozesse, die aus der industriellen Urbanisierung mit der Zunahme von Einwohner/-innen, bebauten Flächen, Arbeitsplätzen usw. resultieren (Siebel 2012: 202f.).
Siebel weist darauf hin, dass die skizzierten Merkmale nicht exklusiv für die europäische Stadt beschrieben werden können, in ihrer Gesamtheit aber das idealtypisierende Modell ausmachen (ebd.). Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Figur des Stadtbürgers/der Stadtbürgerin (citoyen), die als wesentliches soziales Kapital der Stadt angesehen wird. Als Träger der urbanen Lebensweise hat das städtische Bürgertum Strukturen und Prozesse der kommunalen Selbstverwaltung etabliert, welche die Basis für die Ausgestaltung der Stadt als eigenständiges politisches Subjekt bilden. Die kulturelle, soziale und ökonomische Entwicklung der europäischen Stadt wird in dieser Perspektive wesentlich durch die Stadtbürgerin und den Stadtbürger bestimmt (Häußermann 2001: 24f.). Die Geschichte der europäischen Stadt, die eng mit der Befreiung aus feudalen Zwängen und der Etablierung von bürgerschaftlichen Selbstverwaltungsstrukturen verknüpft ist, kann durchaus als Emanzipationsgeschichte gelesen werden. Dies kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie zugleich auch immer eine Geschichte der Ausgrenzung war. Der Bürgerstatus und eine damit verbundene umfassende Partizipation wurden stets nur bestimmten Gruppen vorbehalten. Standes-, Klassen- und Geschlechtergrenzen waren hierbei ebenso wirkmächtig wie Zuwanderungsgeschichten. Und während Frauen mit deutscher Staatsan-
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gehörigkeit zumindest formal seit Ende der 1920er die vollwertige Teilnahme an der kommunalen Selbstverwaltung offen steht, bleibt sie zahlreichen Stadtbewohner/-innen mit Migrationsgeschichte aufgrund eines fehlenden Bürgerstatus bis heute verwehrt. Die europäische Stadt war in ihrer Vergangenheit und ist auch in ihrer Gegenwart stets mit widerstreitenden Ansprüchen und Realitäten konfrontiert; sie ist eben auch »die Stadt sozialer Gegensätze und Armutsinseln, die Stadt, die von Grundbesitzern dominiert und von Grundstücksspekulanten manipuliert wird« (Kunzmann 2011: 36). Mit dem Modell der europäischen Stadt wird ein Ideal formuliert, welches schon immer nur zum Teil und selten für alle Stadtbewohner/ -innen Wirklichkeit wurde. Eine Analyse städtischer Realitäten in ihrer historischen Entwicklung macht deutlich, dass für eine Verklärung oder Romantisierung keinerlei Anlass besteht. Vor diesem Hintergrund erscheinen Zweifel am Modell der europäischen Stadt mit ihren Versprechungen von Emanzipation, sozialer Kohäsion und Selbstverwaltung durchaus berechtigt. Tatsächlich sind es im 21. Jahrhundert gleich mehrere Entwicklungen, die von einer Krise der europäischen Stadt zeugen: •
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Eine mehr oder minder weitgehende soziale Polarisierung innerhalb von Städten stellt die Idee einer Befreiung aus ökonomischen, sozialen und politischen Zwängen nachdrücklich in Frage. Demgegenüber scheint die Stadt als ein Ort der Ausgrenzung dominant zu sein, wo Integration und Inklusion nachdrücklich gefährdet sind und residentielle Segregation sowie Gentrifizierungsprozesse das Bild prägen (Müller 2012; Klus 2018). »An den Rändern der Städte« (Häußermann et al. 2004) sind Armut und soziale Exklusion allgegenwärtig – wobei die Polarisierungstendenzen sich eher verschärfen. Die Spaltung der Städte scheint mit einem Verlust politischer Steuerungsfähigkeit einherzugehen, der zum einen daraus resultiert, dass Städte vielfach ohnehin von den Entscheidungen übergeordneter politischer Ebenen abhängig sind. Zum anderen sind aber auch die Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume in den städtischen Politikfeldern vor dem Hintergrund einer Krise der kommunalen Haushalte oftmals enorm eingeschränkt bzw. machen eine starke Fokussierung des Mitteleinsatzes unumgänglich (Mäding 2013). Dies verringert die Möglichkeiten sozialstaatlicher Regulierung und Intervention mit dem Ziel, soziale Kohäsion aufrechtzuerhalten bzw. herzustellen. Gleichwohl sind die Städte unterschiedlich stark in ihren Steuerungsmöglichkeiten beeinträchtigt. Die Polarisierung zwischen den Städten wird deutlich, wenn man die Ausgangssituationen und Möglichkeiten von prosperierenden und schrumpfenden oder weitgehend deindustrialisierten Stadtregionen einem Vergleich unterzieht. Es erscheint fraglich, ob angesichts einer Gleichzeitigkeit und eines
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Nebeneinanders von Schrumpfung und Wachstum noch von einem gemeinsamen Typus von (europäischer) Stadt gesprochen werden kann. Schließlich wird das Modell der kommunalen Selbstverwaltung durch eine relativ umfassende Demokratiekrise in Frage gestellt: »Sie äußert sich in sinkender Wahlbeteiligung, in Alterung der Parteienlandschaft, aber auch im rapide nachlassenden Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der politischen Führung und der klassischen Institutionen der liberal-repräsentativen Demokratie, vor allem der Parlamente und Regierungen.« (Nolte 2011: 6) Dies ist für die europäische Stadt, zu deren Wesenskern die demokratische Willensbildung und Entscheidungsfindung durch souveräne Stadtbürger/-innen zählt, zweifelsfrei ein beunruhigender Befund.
Betrachtet man die skizzierten Krisentendenzen in ihrer Gesamtheit, stellt sich offenkundig die Frage, ob Idee und Tradition der europäischen Stadt noch eine gewisse Gültigkeit beanspruchen können. Dies gilt umso mehr, wenn man verschiedene politische und territoriale Ebenen in ihrem Zusammenwirken und ihren Abhängigkeiten betrachtet. Zweifellos haben europäische Städte als Knotenpunkte in globalen Netzwerken immer eine bedeutende Rolle gespielt und insbesondere auch die europäische Kolonialgeschichte mit ihren Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnissen entscheidend mitgeprägt. Kann die europäische Stadt aber tatsächlich als Subjekt in einer globalisierten Welt angesehen werden? Stellt sie wirklich eine politische Einheit dar, die in einem gewissen Maße unabhängig und selbstbestimmt agieren kann? Aufgrund komplexer Wirkungszusammenhänge und vielschichtiger Interdependenzen sind gesellschaftlich-ökonomische Wandlungsprozesse, die unter dem Schlagwort der Globalisierung diskutiert werden, häufig schwer zu erfassen. Auf die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung des Globalisierungsphänomens verweist daher Brenner (1997), der auf ein dialektisches Zusammenspiel von Prozessen der Ent-Territorialisierung und Re-Territorialisierung aufmerksam macht. Durch eine Re-Dimensionierung der Beziehungen und Verhältnisse zwischen verschiedenen wirtschaftlichen und politischen Ebenen werde staatliche Macht nicht etwa aufgelöst, sondern vielmehr neu verteilt und dimensioniert (Brenner 1997: 11ff.). Tatsächlich würden Städte und Stadtregionen an politischer und wirtschaftlicher Bedeutung gewinnen, während Nationalstaaten Kompetenzen und Befugnisse an supranationale Organisationen abgeben – ein Prozess der als »Glokalisierung« bezeichnet werden könne: »Während Städte heute in zunehmendem Maße als urbane Knotenpunkte in einer globalen urbanen Hierarchie handeln, strukturieren sich Staaten mit dem Ziel um, die globale Wettbewerbsfähigkeit ihrer Städte und Regionen zu stärken.« (Brenner 1997: 24)
Die Privatisierung kommunaler Wohnungsbestände
Es handelt sich hierbei um einen Umstand, auf den auch schon Sassen (1996) mit ihrem Konzept der »global cities« aufmerksam gemacht hatte. Wenn nun allerdings ein Bedeutungsgewinn von Städten in einer globalisierten Welt konstatiert wird, ist damit noch nicht zwangsläufig eine Aussage darüber getroffen, welche Rolle sie spielen werden. Vieles spricht dafür, dass durchaus Entscheidungsspielräume bestehen, welche Wege der Stadtentwicklung und Stadtpolitik eingeschlagen werden. Gerade im Umgang mit krisenhaften Entwicklungen zeigt sich, ob und inwieweit die europäische Stadt eine Zukunft haben wird. Dies wird etwa vor dem Hintergrund der »neuen Wohnungsfrage« deutlich, die vor allem auch durch hohe Profitforderungen international agierender Finanzinvestoren geprägt ist und mit der »Privatisierung, Deregulierung, Internationalisierung und Finanzialisierung der Immobilienwirtschaft« (Rink et al. 2015: 71) einhergeht. Meistens – wie bei der Privatisierung von kommunalen Wohnungsbeständen – sind Entscheidungen nicht ohne Weiteres reversibel und damit sehr grundsätzlich. In ihnen offenbart sich das präferierte Modell von Stadt, das sich beispielsweise eher an der »unternehmerische Stadt« (Harvey 1989) orientieren oder am Leitbild der »europäischen Stadt« (Le Galès 2002) festhalten kann. Die damit verbundenen Auseinandersetzungen werden im Feld der kommunalen Wohnungspolitik besonders anschaulich und erleben im Konflikt um die Privatisierung kommunaler Wohnungsbestände gewissermaßen ihre Zuspitzung. Diese wird vor dem Hintergrund angespannter Haushalte zwar häufig als unumgänglich beschrieben, stellt tatsächlich aber eine bewusste Entscheidung dar: »Die Haushaltskrise ist aber nicht das Ende der Politik und alternativer Entscheidungsmöglichkeiten, wie es von Entscheidungsträgern nicht selten zur Legitimationsentlastung angeführt wird. Ganz im Gegenteil: Gerade in diesen schwierigen Konfliktsituationen muss zwischen unterschiedlichen politischen Zielsetzungen gerungen und entschieden werden.« (Holtkamp 2010: 74f.)
Privatisierung kommunaler Wohnungsbestände in Deutschland Betrachtet man Zahl und Umfang der Verkäufe von kommunalen Wohnungsbeständen oder gar ganzen kommunalen Wohnungsgesellschaften, ist schon seit Jahren ein starker Rückgang zu verzeichnen. Die Hochphase der kommunalen en-blocVerkäufe, die auch medial eine gewisse Aufmerksamkeit erlangten und kommunalpolitische Debatten auslösten, dauerte bis Mitte/Ende der 2000er Jahre an. Allein im Zeitraum 1999 bis 2006 verringerte sich der kommunale Wohnungsbestand um acht Prozent – den spektakulären Höhepunkt stellte 2006 der Verkauf des kommunalen Wohnungsunternehmens »WoBa« in Dresden mit 47.500 Wohnungen an die
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»GAGFAH« (Fortress) dar (BMVBS 2007: 12ff.). Seither sind die Verkäufe allerdings deutlich rückläufig und inzwischen fast zum Erliegen gekommen. Als Wohnungsanbieter haben sich kommunale Akteure weitgehend zurückgezogen, was in einer deutlichen Diskrepanz zur anhaltend großen Nachfrage nach Wohnungsportfolios steht. In jüngerer Zeit sind sogar nennenswerte Zukäufe und eine Erweiterung des kommunalen Wohnungsbestandes zu beobachten (BBSR 2018: 6). Neben einer entspannteren Lage der kommunalen Haushalte ist hierfür sicherlich der Bedeutungszuwachs der kommunalen Wohnungspolitik durch die »Wiederkehr der Wohnungsfrage« (Holm 2014) ursächlich. Vor dem Hintergrund steigender Wohnkosten und der Zunahme sozialer Polarisierungen wird die Wohnungspolitik wieder vermehrt als bedeutsames kommunales Politikfeld angesehen. Hinzu kommt, dass die Konflikte um die Privatisierung in der Vergangenheit teils äußerst heftig geführt wurden und nicht selten in der erfolgreichen Verhinderung von Privatisierungsplänen mündeten (Klus 2013). Von der materiellen Privatisierung – also dem Verkauf von Wohnungen oder ganzen Gesellschaften – ist die formale Privatisierung zu unterscheiden. Hierbei geht es um die Überführung der kommunalen Wohnungsbestände in eine private Rechtsform, also beispielsweise eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Die Kommune bleibt in der Regel Mehrheits- oder Alleingesellschafterin; die Rahmenbedingungen und rechtlichen Grundlagen des Handelns sind jedoch deutlich andere als bei einer unmittelbar kommunalen Einrichtung. Gründe hierfür liegen in einer angestrebten Entlastung der öffentlichen Haushalte, einer Verwaltungsmodernisierung durch New Public Management und einer grundlegenden Ökonomisierung des (sozialen) Dienstleistungssektors. Damit verbunden sind in der Regel eine Abnahme demokratisch-öffentlicher Kontrolle und Steuerung sowie die Etablierung von privatwirtschaftlichen Organisationsprinzipien und Handlungslogiken. Kernbereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge werden auf diese Weise restrukturiert (Wohlfahrt 2011: 93ff.). Im Bereich der kommunalen Wohnungsversorgung sind formale Privatisierungen durchaus verbreitet. Dies führt nicht selten dazu, dass zentrale Entscheidungen, etwa in Bezug auf Mietpreisgestaltung, Sanierungen oder Aufbau des Wohnungsportfolios verstärkt nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten und im Unternehmensinteresse getroffen werden, während sozial- und stadtentwicklungspolitische Aspekte in den Hintergrund treten und dem öffentlichen Diskurs vorenthalten werden. Es steht außer Frage, dass das Wohnen als »Grundform menschlichen Seins« (Rausch 2011: 235) eine existentielle Notwendigkeit für das dauerhafte (Über-)Leben der Menschen darstellt. Vor diesem Hintergrund wird das Wohnen als Menschenrecht und wesentliches Element der öffentlichen Daseinsvorsorge angesehen. In diesem Feld verbinden und überlagern sich sozialpolitische und stadtentwicklungspolitische Fragestellungen. Legt man das Modell der europäischen Stadt als Leitbild der Stadtentwicklung zugrunde, besteht kein Zweifel daran, dass woh-
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nungspolitische Gestaltungsmöglichkeiten zentraler Bestandteil der Stadtpolitik sind. Soziale Kohäsion und die demokratisch legitimierte politische Steuerung der Stadtentwicklung sind Kernelemente der europäischen Stadt. Kommunale Wohnungsbestände stellen neben Planungshoheit und Bodenpolitik das wesentliche kommunalpolitische Steuerungsinstrument im Feld des Wohnens dar. Eine Privatisierung kann somit letztlich auch als eine Entscheidung für oder wider die europäische Stadt gesehen werden: »Kann und darf eine Stadt ihre Wohnungsgesellschaft(en) restlos verkaufen? Das ist eine eminent politische Frage, weil sie das Selbstverständnis von Stadt- und Kommunalpolitik betrifft. Sie kann nur im Rahmen einer Vorstellung davon, welche Rolle die Stadt als Körperschaft für das Zusammenleben in der Gemeinde spielen soll, beantwortet werden.« (Häußermann et al. 2008: 285) Im Wesentlichen sind es drei Argumente, die gegen eine Privatisierung kommunaler Wohnungsbestände und damit für ein Festhalten am Leitbild der europäischen Stadt vorgebracht werden können: •
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Das stadtentwicklungspolitische Argument: Kommunale Wohnungsbestände versetzen Gemeinden in die Lage, auf Struktur und Entwicklung der Stadt politisch Einfluss zu nehmen, etwa wenn es um die Gestaltung von neuen Baugebieten oder Veränderungen in bestehenden Quartieren geht. Als bedeutsames und wirkungsvolles Steuerungsinstrument sind kommunale Wohnungsunternehmen unverzichtbar, um sozialräumliche Entwicklungen aktiv zu gestalten und auf Gentrifizierungs- und Segregationsprozesse einzuwirken. Das sozialpolitische Argument: Es besteht eine sozialpolitische Notwendigkeit und Verpflichtung der Wohnversorgung einkommensschwacher und diskriminierter Gruppen, die sich am freien Wohnungsmarkt nicht ohne Weiteres versorgen können. Durch die Verfügung über einen eigenen Wohnungsbestand werden Kommunen in die Lage versetzt, ein marktfernes Segment der Wohnversorgung zu etablieren. So können etwa soziale Aspekte in der Mietpreisgestaltung berücksichtigt oder spezielle Wohnanforderungen unterprivilegierter Gruppen (bspw. ehemals wohnungsloser Menschen) konstruktiv aufgegriffen werden. Das demokratiepolitische Argument: Kommunales Eigentum bedeutet, dass Ausrichtung und Politik eines kommunalen Wohnungsunternehmens zumindest mittelbar demokratisch legitimiert sind. Dies gilt auch im Falle einer formalen Privatisierung, wenn die Kommune gewillt ist, ihren politischen Einfluss zu nutzen, und ggf. entsprechende Vorkehrungen trifft, etwa durch Regelungen im Gesellschaftervertrag.
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Der Verkauf kommunaler Wohnungsbestände stellt einen Rückzug aus den drei genannten Feldern dar, was zugleich die Aufgabe zentraler Elemente der europäischen Stadt bedeutet. Führt die Krise der kommunalen Haushalte über diesen Weg zu einem Verlust von sozial- und stadtentwicklungspolitischen Steuerungsmöglichkeiten, sind kommunale Selbstverwaltung und soziale Kohäsion nachdrücklich in Frage gestellt. Mangels Möglichkeiten können relevante Zukunftsfragen der Stadtentwicklung dann nicht mehr in bürgerschaftlichen Prozessen erörtert und beeinflusst werden (Klus 2013: 206).
Perspektiven Geht man davon aus, dass mit der Idee der europäischen Stadt ein Anspruch formuliert wird, der sich auch in den sozialen Realitäten der Städte widerspiegeln muss, stellt sich die Frage, ob dieses Leitbild angesichts sozialer und ökologischer Verwerfungen auch noch im 21. Jahrhundert tragen kann. Gibt es also so etwas wie ein Zukunftspotential der europäischen Stadt, welches an zentrale Elemente und Traditionen anknüpft, zugleich aber aktuelle und zukünftige Herausforderungen angemessen reflektiert und Weiterentwicklungen zulässt? An dieser Stelle soll die These vertreten werden, dass die europäische Stadt in der Lage ist, als soziales und politisches Subjekt zu agieren, obgleich sie unter dem Druck globaler Einflüsse steht (Marcuse 2004; Klus 2013). Gerade im Bereich des Wohnens, welcher ein wesentliches Element der Daseinsvorsorge in der europäischen Stadt darstellt, wird sich ihre Zukunftsfähigkeit beweisen müssen. Die Privatisierung kommunaler Wohnungsbestände stellt eine wesentliche Herausforderung für die europäische Stadt dar, weil sie hierdurch wesentlich an Handlungsfähigkeit einbüßt. Dies wird in zwei zentralen Feldern deutlich, welche die Stadtentwicklung der kommenden Jahrzehnte bestimmen werden: Migration und Klimapolitik. Seit jeher war die Idee der europäischen Stadt mit einem Emanzipationsversprechen verknüpft, das den Zuwanderinnen und Zuwanderern in der Stadt ein besseres Leben in Aussicht stellte, Schutz vor Verfolgung und die Befreiung aus politischen und sozialen Zwängen. »Stadtluft macht frei« – wie dieses Versprechen angesichts der Migrationsbewegungen des 21. Jahrhunderts neu buchstabiert werden kann, ist eine wesentliche Zukunftsfrage der europäischen Stadt. Dies gilt auch und gerade dann, wenn die Notwendigkeit europäischer und globaler Lösungsansätze offenkundig ist. Die konstatierte »Re-Dimensionierung« (Brenner 1997) von Politik und Ökonomie führt zu einem Bedeutungszuwachs der Städte, da hier Migrationsbewegungen und -geschichten konkret bewältigt werden. Vor diesem Hintergrund thematisieren etwa Solidarity-City-Initiativen die sozialen Rechte und die Stadtbürgerschaft der Ankommenden – unabhängig vom jeweiligen Aufenthaltstitel (Mayer 2019: 43). Inwiefern die europäische Stadt ihr Versprechen auf
Die Privatisierung kommunaler Wohnungsbestände
ein besseres Leben in die politische und soziale Gestaltung einer »solidarischen Stadt« überführen kann, zeigt sich nicht zuletzt im Feld der Wohnungspolitik und bei der kommunalen Gestaltung der Wohnbedingungen von Menschen mit Migrationsgeschichte: »Das Feld des Wohnens stellt einen integralen Bestandteil der Bewältigungsumwelt von Menschen dar. [...] Je nachdem, wie sich Wohnsituation und Wohnumwelt von Menschen darstellen, können hier Ressourcen entfaltet, Spielräume eröffnet und somit die Perspektiven personalen Bewältigungshandelns erweitert werden.« (Klus 2018: 731) Mit der sozialen Dimension geht die politische einher: Gelingt es, einen politischen Raum zu öffnen und Verfahren zu entwickeln, in denen Ankommende und bereits Angekommene sich in kommunal- und stadtentwicklungspolitische Diskussionen und Debatten über die Gestaltung von Orten des Ankommens und die Rolle der kommunalen Wohnungsversorgung einbringen können? Hierbei geht es dann um nichts weniger als die Weiterentwicklung der Figur des Stadtbürgers/der Stadtbürgerin und die Überwindung sozialer und politischer Schranken, gerade dort, wo formale (an die Staatsangehörigkeit geknüpfte) Bürgerrechte vorenthalten werden. Gerade im Feld des Wohnens bietet sich das Potential einer politischen Aneignung, wie die Beispiele städtischer sozialer Bewegungen in verschiedenen Städten deutlich machen (Vogelpohl et al. 2018). Die Zukunft der europäischen Stadt ist zweifellos mit einer Re-Politisierung im Sinne einer Öffnung und Aneignung kommunalpolitischer Räume verbunden – auch und gerade im Feld der kommunalen Wohnungspolitik. Nicht zuletzt angesichts des Klimawandels als zentraler Menschheitsherausforderung der kommenden Jahrzehnte wird deutlich, dass ökologische Fragestellungen in die Überlegungen zur Zukunftsfähigkeit der europäischen Stadt einbezogen werden müssen. Städte tragen aktiv zum Klimawandel bei und sind ebenso von diesem und seinen Auswirkungen betroffen. Zugleich besteht für sie aber auch die Möglichkeit, sowohl ihren Beitrag zum Klimawandel als auch ihre Betroffenheit zu verringern. Im Bereich der kommunalen Wohnversorgung geht es hierbei vor allem um die Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen, etwa durch die Steigerung der Energieeffizienz von Gebäuden oder die Integration von Klimawandelbelangen in die Planung von Baugebieten (Weiland 2018). Für die europäische Stadt ist damit die Aufgabe verbunden, Stadtentwicklung nicht mehr in erster Linie als quantitatives Wachstum im Sinne eines Mehr an Arbeitsplätzen, Bewohner/-innen, Wirtschaft usw. zu begreifen, sondern Ideen für eine qualitative Weiterentwicklung von baulichen und sozialen Infrastrukturen zu entwickeln, um als politischer Akteur in einer globalisierten Welt auch ökologische Verantwortung zu übernehmen. Im Sinne einer nachhaltigen Stadtentwicklung gilt es verschiedene Aspekte und Anforderungen miteinander zu verknüpfen:
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»Nachhaltigkeit meint dabei die ökonomische, soziale und ökologische Zukunftsfähigkeit städtischer Entwicklung. Sie wiederum ist in Abhängigkeit von den jeweils spezifischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu sehen. Die Kunst nachhaltigen Handelns besteht darin, die jeweils angestrebten ökologischen, ökonomischen und sozialen Aspekte von Nachhaltigkeit so miteinander zu verzahnen, dass Ungleichheiten im Zugang zu städtischen Lebensbedingungen möglichst vermieden werden.« (Breckner 2018) Es liegt auf der Hand, dass eine solche Verknüpfung vor allem da gelingen kann, wo den Städten entsprechende Instrumente und Möglichkeiten zur Verfügung stehen. So kann beispielsweise die ökologische Modernisierung im eigenen kommunalen Gebäudebestand gut mit sozialen Anforderungen in Einklang gebracht werden, da es hier um ein potentiell marktfernes Segment geht, bei dem Renditeanforderungen hinter ökologischen und sozialen Aspekten zurückstehen können. Hinzu kommt die Möglichkeit, die Bewohner/-innen partizipativ einzubeziehen und an wesentlichen Entscheidungen und Weichenstellungen zu beteiligen – und so einem wesentlichen Anspruch der europäischen Stadt nachzukommen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die europäische Stadt aus Sicht des Autors dann eine Zukunft und Berechtigung haben wird, wenn sie als handlungsfähiges politisches Subjekt begriffen und verortet wird, welches sich der zentralen sozialen und ökologischen Herausforderungen annimmt. Voraussetzung hierfür ist eine (Re-)Politisierung des Sozialen, also die Behandlung wesentlicher Fragen der Gemeinde in diskursiven Prozessen, was die Partizipation unterprivilegierter, nicht im klassischen Sinne »bürgerlicher« Gruppen ausdrücklich einbezieht. In diesem Sinne geht es um eine Weiterentwicklung der bürgerschaftlichen Selbstverwaltung und die Entwicklung solidarischer Perspektiven durch die Aneignung städtischer und politischer Räume für alle Stadtbewohner/-innen. Bezogen auf die kommunale Wohnungsversorgung bedeutet dies, kommunale Wohnungsunternehmen und Wohnungsbestände als politisches Steuerungsinstrument und zentrales Element sozialer Infrastruktur zu begreifen. Dies schließt eine materielle Privatisierung aus, zumal diese selten reversibel ist. Zugleich gilt es aber auch, Formen der formalen Privatisierung so zu überwinden oder zumindest zu gestalten, dass ein weitgehender kommunaler und vor allem bürgerschaftlicher Einfluss erhalten bleibt. Dies kann die Behandlung relevanter wohnungspolitischer Fragen im Gemeinderat ebenso umfassen wie die Einrichtung von Partizipationsverfahren auf Nachbarschaftsebene und die Etablierung demokratisch legitimierter Vertretungen der Mieter/-innen innerhalb der kommunalen Gesellschaften. Gerade die Etablierung kommunikativer Prozesse der demokratischen Willensbildung und die Verlagerung von politischen Entscheidungskompetenzen werden Gradmesser für die europäische Stadt im 21. Jahrhundert sein.
Die Privatisierung kommunaler Wohnungsbestände
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Handlungslogiken wohnungswirtschaftlicher Akteure als Schlüssel zur Sicherung sozialer Wohnraumversorgung Eine soziologische Perspektive Antonia Josefa Krahl
Im öffentlichen Diskurs begegnet man häufig der wirtschaftspolitischen Meinung, der Staat solle sich möglichst weit aus der Ökonomie heraushalten, da Staaten wirtschaftliche Probleme verursachen und allein die Märkte solche zu lösen vermögen (vgl. Beckert 2006: 427). Konträr dazu wird in diesem Artikel argumentiert, dass Märkte nicht unabhängig von sozialen, kulturellen sowie institutionellen Voraussetzungen bestehen können und nicht davon ausgegangen werden kann, dass »[...] eine demokratische politische Ordnung auf einer Organisation der Wirtschaft beruhen könnte, die nur der Logik der wirtschaftlichen Effizienz folgt, den sozialen Konsequenzen von Märkten aber indifferent gegenübersteht« (ebd.). In der Konsequenz ist der Rückzug des Staates aus den Bereichen der Daseinsvorsorge im Zuge der neoliberalen Restrukturierung als äußerst problematisch zu bewerten. Am Beispiel der divergenten Perspektiven und Handlungslogiken unterschiedlicher wohnungswirtschaftlicher Akteure und der sich daraus ergebenden jeweiligen Rolle für eine Sicherung sozialer Wohnraumversorgung lässt sich dies zeigen. Während Prozessen der Privatisierung (vgl. Klus in diesem Band), der Finanzialisierung (vgl. Heeg 2017: 47ff.) und der Deregulierungen (vgl. Madden/Marcuse 2016: 198) bereits umfangreich Forschungsarbeiten gewidmet worden sind, bedarf es auch einer Auseinandersetzung mit Strategien zur Sicherung sozialer Wohnraumversorgung (vgl. Jensen und Lichtenberg in diesem Band). Dabei fehlt es insbesondere an Expertise darüber, welche wohnungswirtschaftlichen Akteure mit welchem Selbstverständnis, welcher Handlungsstrategie und welchen strukturellen Herausforderungen jeweils in spezifischen, angespannten Wohnungsmärkten agieren. Um Stellschrauben zur Sicherung einer sozialen Wohnraumversorgung auch mit Blick auf wohnungswirtschaftliche Akteure eruieren zu können, bedarf es der Entwicklung eines theoretischen Konzepts zur systematischen Erforschung solcher Handlungslogiken. Dieser Artikel setzt sich eben dieses als Ziel.
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Forschungsdesign Theoretisches Fundament: Soziologischer Neo-Institutionalismus Aus dem Theoriekanon der Soziologie hat der Forschungsansatz des NeoInstitutionalismus hier das Potential einen Beitrag zu leisten (vgl. Abb. 1). Er fokussiert die Abhängigkeit eines Unternehmens von normativen Rahmenbedingungen, die außerhalb des Unternehmens liegen (vgl. Miebach 2010: 100).1 Dreierlei Annahmen sind wesentlich für diesen Forschungsansatz: Aus einer Makro-Perspektive ist die Bedeutung übergreifender institutioneller Faktoren, also beispielsweise gesetzlicher Regulierungen oder allgemeiner gesellschaftlicher Normen, für die Reproduktion von Unternehmen wichtig. Aus einer MikroPerspektive werden Akteure in ihren institutionellen Verflechtungen fokussiert. Schließlich unterstellt der Neo-Institutionalismus in Abgrenzung zum klassischen Institutionalismus, dass »[...] (e)xplizite Normen und hierauf bezogene Sozialisationsprozesse oder Anreize und Sanktionen [...] nicht die einzigen und nicht unbedingt die zentralen Regulative moderner Gesellschaften (sind)« (Hasse/Krücken 2005: 102). Vielmehr wird der Ausformung und Nutzung nicht-bewusster Hintergrundüberzeugungen Wichtigkeit zugeschrieben (vgl. Berger/Luckmann 1966; Garfinkel 1967), die sich in »kognitiven Modellen« (vgl. DiMaggio/Powell 1991: 15) konstituieren und Entscheidungen von Akteuren anleiten. Trotz der Unterschiede teilen beide Richtungen (klassischer Institutionalismus und NeoInstitutionalismus) zwei zentrale Annahmen: Erstens wird eine Interdependenz zwischen Umwelt und Unternehmen angenommen. Zweitens stehen beide Ansätze Unternehmensmodellen skeptisch gegenüber, die auf der Annahme eines eindimensional-rationalen Akteurs beruhen. In Anknüpfung an drei aus dem soziologischen Neo-Institutionalismus entwickelte Ansätze lassen sich für die Betrachtung wohnungswirtschaftlicher Akteure drei Perspektiven generieren (vgl. Abb. 1), entlang derer die Handlungslogiken eben jener Akteure systematisch erforscht werden können: •
Perspektive 1: anhand des institutionellen Kontexts (Akteurzentrierter Institutionalismus),
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Insgesamt umfasst der soziologische Neo-Institutionalismus mehrere Strömungen (historischer, soziologischer, konstruktivistischer, diskursiver und rational-choice Institutionalismus) mit jeweils verschiedenen Ansätzen (z. B. Akteurzentrierter Institutionalismus, Fiktionale Erwartungen, Neuer Soziologischer Institutionalismus usw.), die jeweils in Reaktion auf behavioralistische Perspektiven (vgl. Hall/Taylor 1996: 936) von einer Zunahme an Bedeutung von Institutionen für soziales Handeln ausgehen (vgl. Zuber/Kaiser 2016: 302).
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Perspektive 2: anhand des Strebens nach Herstellung von Legitimation des Akteurshandelns (Neuer Soziologischer Institutionalismus mit Corporate Social Responsibility) Perspektive 3: durch das Erstellen von Zuversichtsnarrativen, um auf das ungewisse Zukünftige reagieren zu können (Fiktionale Erwartungen)
Diese drei Perspektiven sollen im nachfolgenden Teil des Artikels entwickelt werden, um letztlich zu erklären, warum und mit welchen Motivationen einzelne wohnungswirtschaftliche Akteure sich in bestimmten Segmenten des Wohnungsmarkts oder z. B. der Wohnumfeldgestaltung engagieren oder nicht. Die Anwendung der drei zu einem Forschungsansatz synthetisierten Perspektiven auf die empirische Untersuchung von wohnungswirtschaftlichen Akteuren wird sodann anhand einer exemplarischen Mikroanalyse dargestellt. Schlussendlich werden dann ebenso exemplarisch die damit generierten empirischen Ergebnisse auf das theoretische Konzept rückbezogen.
Perspektive 1: Institutioneller Kontext Um Erkenntnisse über die Handlungslogik wohnungswirtschaftlicher Akteure gewinnen zu können, muss zunächst der institutionelle Kontext – in den diese eingebunden sind – betrachtet und danach gefragt werden, in welcher Weise die Akteure ihr Handeln auf diesen beziehen und inwiefern sie diesen Rahmen nach eigenen Zielsetzungen justieren (können). Es geht also darum zu verstehen, in welchem Maß das Handeln der wohnungswirtschaftlichen Akteure durch existierende Regularien, Normen, Strukturen oder gesellschaftliche Kontexte bestimmt wird, also z. B. durch die Strukturen der Wohnbauförderung, die Beschaffenheit eines spezifischen Wohnungsmarkts, andere wohnungswirtschaftliche Akteure sowie Fremd- und Eigenbilder der wohnungswirtschaftlichen Akteure selbst. Hier setzt der theoretische Ausgangspunkt des akteurzentrierten Institutionalismus (AZI) mit der Annahme an (Mayntz/Scharpf 1995), dass für die Erklärungen von (Policy-)Entscheidungen einerseits die beteiligten Akteure und die Einflüsse des institutionellen Kontextes, andererseits die Entscheidungsfindungsprozesse selbst herangezogen werden müssen (vgl. Treib 2015: 277f.). Strategien zweckgerichteter Akteure, die im Rahmen eines institutionellen Kontextes handeln, bestimmen politische Interaktionen. Dieser Kontext kann solche Strategien zweckgerichteter Akteure ermöglichen, zugleich aber auch beschränken (vgl. Scharpf 2000: 74f.). Generell haben Akteure das Interesse, bestimmte Ergebnisse zu erzielen. Sie handeln dabei nicht ausschließlich entlang kultureller Normen oder institutionalisierter Regeln und die verfolgten Ziele und Interessen sind nicht für alle Akteure gleich. Darüber hinaus reagieren sie unterschiedlich auf von außen an sie herangetragene Möglichkeiten, Beschränkungen oder gar Drohungen, weil sie in
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Abbildung 1: Forschungsdesign Quelle: Eigene Darstellung.
ihren Präferenzen und Wahrnehmungen vom jeweiligen institutionellen Kontext, in dem sie agieren, beeinflusst werden (vgl. ebd.: 74). Institutionen werden als formelle und informelle Regelsysteme einer Gruppe von Akteuren definiert, die offenstehende und mögliche Handlungsabläufe strukturieren. Einerseits manifestieren sich solche in formal-rechtlichen Regeln, die durch den Staat und das Rechtssystem sanktioniert werden. Andererseits umfassen sie soziale Normen, die durch eine breite Akzeptanz charakterisiert sind und deren Verletzung Konsequenzen, z. B. Reputationsverlust, soziale Missbilligung,
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Entzug von Kooperationen, Belohnungen oder gar soziale Ächtung, zur Folge haben (vgl. ebd.: 77). Die Beschränkung auf formelle Regeln sowie die Definition von Unternehmen als Institutionen werden im AZI abgelehnt. Obwohl Unternehmen in der Beziehung zu ihren Mitgliedern (nach innen) als institutionalisierte Regelsysteme verstanden werden können, so betrachtet sie der AZI in ihrer Außenperspektive. Konkret werden sie in der Beziehung zu anderen Unternehmen erforscht. Damit können Ergebnisse von Steuerungs- und Selbstorganisationsprozessen auf der Makroebene gesellschaftlicher Sektoren erklärt und durch diesen engen Institutionenbegriff das Handeln von Akteuren als eigenständige Variable betrachtet werden. Damit ist eine Analyse von Sachverhalten möglich, in welchen trotz prinzipiell unveränderter institutioneller Rahmenbedingungen weitreichende Veränderungen im Handeln beobachtbar sind. Anknüpfend daran bleibt erstens Raum, das »eigensinnige Handeln« von Akteuren zu erfassen (vgl. Scharpf 2000: 77; Treib 2015: 279), zweitens kann durch die Unterscheidung zwischen »institutionellem Kontext« und »Handeln der Akteure innerhalb dieses Kontextes« politischer Wandel erklärt werden (vgl. Treib 2015: 279). Der AZI geht davon aus, dass Institutionen Einfluss auf die interne Organisation, die interne Handlungsfähigkeit sowie auf die Präferenzen und Wahrnehmungen der Akteure nehmen können (vgl. ebd.). Es werden de facto also Informationen über die institutionelle Beschaffenheit von Akteuren genutzt, um ihre Motive und Wahrnehmungen aufzudecken. Das Konzept des institutionellen Kontextes hat im Verständnis des AZI nicht den Status einer theoretisch definierten Anzahl von Variablen, die in der Konsequenz systematisch operationalisiert und anschließend als erklärende Faktoren in der empirischen Forschung analysiert werden können. Er wird im AZI vielmehr als Sammelbegriff zur Deskription der wichtigsten Einflüsse auf diejenigen Faktoren verstanden, die die Erklärungen bestimmen: Also Akteure mit ihren Fähigkeiten und Handlungsorientierungen sowie die Akteurskonstellationen und die Interaktionsformen, in die die Akteure eingegliedert sind.
Perspektive 2: Das Streben nach gesellschaftlicher Legitimation Mit Hilfe des Neuen Soziologischen Institutionalismus (NSI) kann die Perspektive des Akteurs eingenommen werden. Hier geht es im Fall der Wohnungsunternehmen um die Frage, was Handlungen wohnungswirtschaftlicher Akteure motiviert jenseits der unmittelbar institutionell erklärbaren Logiken, die der AZI in den Fokus nimmt. Der Ansatz stellt dabei generell in Frage, dass sich institutionelle Strukturen deshalb durchsetzen, weil sie im Vergleich zu anderen Lösungen die effizienteste anbieten können. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass Akteure sich institutionelle Strukturen nicht nur aufgrund dieser vermeintlichen Effizienz, sondern vor allem auch aufgrund gesellschaftlicher Legitimation durch die Umsetzung kultureller Praktiken aneignen (vgl. Hall/Taylor 1996: 949). Der NSI wirft mit Blick auf
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wohnungswirtschaftliche Akteure folgende Fragen auf: Warum setzen sie ganz bestimmte Prozeduren, Symbole und Handlungen um? Warum führen nur bestimmte institutionelle Konfigurationen zu gesellschaftlicher Legitimation, werden also gesellschaftlich als sozial angemessen erachtet? Wie verbreiten sich solche Institutionen im organisationalen Feld (vgl. Hiß 2006: 122f.; Hall/Taylor 1996: 946ff.)? In Anlehnung an Hiß (2006) sowie Hasse und Krücken (1999) können folgende Grundannahmen für die Beantwortung dieser Fragen Orientierung geben: Erstens wird angenommen, dass Entwicklungen und Verhaltensweisen nicht nur über explizite Vorschriften erklärt werden, sondern auch unhinterfragbare Traditionen, Grundüberzeugungen und Ideale der Gesellschaft hinzugezogen werden müssen. Institutionen sind also keine notwendig rationalen, instrumentalisierten und intentional gewählten Lösungsstrukturen (vgl. Millonig 2002: 13; Hasse/Krücken 1999: 10ff, 64f.; Hiß 2006: 123; DiMaggio 1988: 3). Zweitens ist davon auszugehen, dass die Vielzahl an institutionellen Vorgaben Freiräume für Entscheidungen schaffen, die von prägenden Routinen und Angemessenheitskriterien ausgefüllt werden. Drittens können aufgrund der Vielzahl unterschiedlicher und teilweise auch widersprüchlicher gesellschaftlicher Erwartungen weder alle institutionellen Erwartungen abgedeckt, noch kann allen Normen entsprochen werden. Nach Hiß (2006: 123), die vor allem das Handeln von Akteuren der Wirtschaft in den Blick nimmt, müssen diese Akteure in Reaktion auf komplexe gesellschaftliche und eigene Erwartungsstrukturen daher auch unvereinbare Erwartungen in ihre Entscheidungsprozesse mit einbeziehen. Gesellschaftliche Erwartungen üben damit einen großen Einfluss auf die Reproduktion dieser Akteure aus (vgl. Hasse/Krücken 1999: 63). Im Umgang mit widersprüchlichen Erwartungen kann im Rahmen dieser Auseinandersetzung von Akteuren in der Wirtschaft Corporate Social Responsibility (CSR), also die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung durch ein Unternehmen, angestrebt werden, um gesellschaftliche Legitimation herzustellen und/oder hinsichtlich komplexer Erwartungsstrukturen auch unvereinbare Erwartungen miteinzubeziehen. Definiert wird CSR in ihren Einzelaspekten wie folgt: Corporate kann sich auf alle Arten sowie Formen von Unternehmen beziehen (vgl. Hiß 2006: 23), also auch auf wohnungswirtschaftliche Akteure. Social meint die gesellschaftliche Verantwortung, die sowohl soziale als auch ökologische Belange umfasst (vgl. ebd.: 23f.). Responsibility bezieht sich abschließend darauf, dass Unternehmen als Teil der Gesellschaft mit einer breiten Verantwortung spezifiziert werden (vgl. Quazi/O’Brien 2000: 34). Hiß (2006) unterscheidet drei Arten der Corporate Social Responsibility, die sich hinsichtlich der Bestimmung der Reichweite gesellschaftlicher Verantwortung (»Verantwortungsbereich«) durch das Unternehmen voneinander abgrenzen lassen (vgl. Abb. 2). CSR im engsten Sinne wäre eine Begrenzung auf den inneren Verantwortungsbereich und damit auf jene Felder, die durch Markt und Gesetz
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Abbildung 2: Arten der Corporate Social Responsibility (CSR) anhand des Verantwortungsgrads Quelle: Eigene Darstellung, Grundmodell nach Hiß 2006.
strukturiert werden: Durch das Erfüllen ihrer ökonomischen Funktion sowie die Beachtung von Gesetzen und Abkommen handeln Akteure hier bereits nach einer letztlich unfreiwilligen CSR. Von CSR wird hierbei gesprochen, »[...] da der unternehmerische Beitrag für die Gesellschaft durch die Teilnahme am Markt und die Respektierung von Recht und Gesetz erfolgt« (Hiß 2006: 37ff.). Hierüber hinaus geht eine freiwillige CSR, die sich auf den mittleren Verantwortungsbereich bezieht: Damit gemeint ist die freiwillige Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortung, die sich innerhalb der Wertschöpfungskette des jeweiligen Unternehmens realisieren lässt. Ein Beispiel hierfür wäre die Integration von Sozialstandards eigener Produkte oder Leistungen, die über das gesetzlich geforderte Maß hinausgehen (vgl. ebd.: 40). CSR im äußeren Verantwortungsbereich nimmt die freiwillige Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung durch Unternehmen in den Blick, die ein Wirken außerhalb der eigenen Wertschöpfungskette mit einschließt, jenseits des Gegenstands der eigentlichen unternehmerischen Tätigkeit liegt. CSR-Aktivitäten in diesem Bereich beziehen sich auf das Interesse des Akteurs für gesellschaftliche Problemzusammenhänge im Allgemeinen (vgl. ebd.: 40f.).
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Perspektive 3: Erstellung von Zuversichtsnarrativen in Reaktion auf ungewisse Zukunft Während Perspektive 1 und 2 also dazu beitragen, die Bedeutung des institutionellen Kontexts sowie den Bedarf an gesellschaftlicher Legitimation für die Handlungslogiken wohnungswirtschaftlicher Akteure aufzuklären, lässt sich mit Hilfe des Ansatzes »Fiktionaler Erwartungen« (Beckert 2013) den besonderen Bedingungen von Wohnungsunternehmen als wirtschaftlichen Akteuren begegnen, deren Entscheidungen stets als »Entscheiden unter Ungewissheit« erfolgen (Beckert 2018 [2016]). Der kapitalistischen Wirtschaft, in die wohnungswirtschaftliche Akteure eingebettet sind, ist eine temporale Struktur inhärent, die die Basis ihrer Dynamiken darstellt. Aus der Perspektive einer kapitalistischen Ordnung und deren Dynamik sind erstens die Erweiterung des Zeithorizonts in eine unbekannte wirtschaftliche Zukunft sowie zweitens die Veränderung der zeitlichen Orientierung der dort existierenden Akteure wichtige Bestandteile (vgl. Beckert 2015: 30). Somit müssen die beteiligten Akteure ihre Aktivitäten und Entscheidungen auf die Zukunft ausrichten. Dabei kann die Zukunft sowohl Chancen als auch Risiken als Konsequenz mit sich bringen. Durch die Fähigkeit zur Vorstellungskraft ist es dem Menschen möglich, sich eine Welt und damit Imaginationen einer wirtschaftlichen Zukunft vorzustellen. Die Entscheidungen werden in der Folge danach ausgerichtet, ob diese imaginierte Zukunft vermieden oder verwirklicht werden soll (vgl. Beckert 2018 [2016]: 11ff.). Wohnungswirtschaftliche Akteure – ebenso wie andere wirtschaftliche Akteure – nehmen also eine auf Basis probabilistischer Einschätzungen, Modellierungen sowie fiktionaler Erwartungen konstruierte Zukunft als Entscheidungsgrundlage (vgl. Beckert 2013: 220). Eingebettet in einen Markt, der nicht zuletzt durch die Dynamiken globalisierter Wirtschafts- und Finanzströme an Unübersichtlichkeit erheblich zugenommen hat, stellt dies eine Herausforderung dar, welcher über die Etablierung von »Zuversichtsnarrativen« entgegengesteuert wird: »Die Aufforderung zu finanzieller ›Eigenverantwortlichkeit‹ verlangt letztlich von jedem Einzelnen, ein Portfoliomanager zu sein [...] und erzeugt die Notwendigkeit ständiger narrativer Konstruktion von Zuversicht. Die Unsicherheit zukünftiger Entwicklung der Finanzmärkte und der Mangel an Finanzmarktexpertise der Investoren verlangt nach Geschichten als ›Platzhalter‹ [...], mit deren Hilfe Handlungsbereitschaft erzeugt wird« (Beckert 2017: 10; Herv. i.O.). Allgemein definiert Beckert Erwartungen »[...] als [...] (den) zukünftigen Wert [...], den wirtschaftliche Akteure einer gegebenen Variablen beimessen« (Beckert 2018 [2016]: 22). Auch wenn Akteure bestrebt wären, ihren Nutzen zu maximieren, so versagt die Theorie des rationalen Handelns dennoch, weil sie die Konsequenzen der Ungewissheit nicht erfassen kann (vgl. ebd.: 22f.). Kapitalinvestitionen beruhen
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auf Imaginationen der Zukunft und entspringen fiktionalen Erwartungen, »[...] selbst dann, wenn sie mit ausgeklügelten Berechnungen begründet werden« (ebd.: 217). Allgemein werden sie also als Narrative vermittelt. Zusammengefasst werden die Handlungen wohnungswirtschaftlicher Akteure also geformt durch erstens den institutionellen Kontext (Perspektive 1), zweitens das Streben nach Herstellung von Legitimation des Akteurshandelns (Perspektive 2) und drittens durch das Erstellen von »Zuversichtsnarrativen«, durch die auf das ungewisse Zukünftige reagiert wird (Perspektive 3).
Empirische Mikroanalyse In der exemplarischen Mikroanalyse der Handlungslogiken einer Wohnungsgenossenschaft sowie eines kommunalen Wohnungsunternehmens soll nun gezeigt werden, wie dieser Forschungsansatz in der Empirie zur Anwendung kommen kann. Um die Handlungslogiken dieser wohnungswirtschaftlichen Akteure auf Basis der drei zu einem Forschungsansatz synthetisierten Perspektiven empirisch erforschen zu können, wurde eine qualitativ ausgerichtete Methode2 angewendet. Ausgewählt wurden für die exemplarischen Fallstudien zwei wohnungswirtschaftliche Akteure, die in der gleichen Metropolregion im Kontext eines angespannten Wohnungsmarktes operieren. Beiden Akteuren ist gemeinsam, dass ihr Selbstverständnis als kommunales Unternehmen bzw. Genossenschaft jeweils auf unterschiedliche Weise ein Spannungsverhältnis zwischen unternehmerischer Eigenlogik und der Übernahme sozialer Verantwortung vermuten lässt. Sie sind sich zudem in der Anzahl der beschäftigten Mitarbeiter/-innen3 , des Alters der Unternehmen4 und dem Bauvolumen ähnlich, unterscheiden sich aber bedeutend hinsichtlich der jeweils zur Verfügung stehenden Bilanzsumme5 und der angebotenen Nettokaltmiete6 . 2
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Aufgrund der theoriegeleiteten Forschung mit Fokus auf maßgebliche Aspekte der Problemanalyse wurden Expert/-innen-Interviews entlang eines semi-strukturierten Leitfadens durchgeführt. Die Wohnungsgenossenschaft hat 52 Mitarbeiter/-innen, das kommunale Wohnungsunternehmen 50 Mitarbeiter/-innen. Die Wohnungsgenossenschaft existiert seit 70 Jahren, das kommunale Wohnungsunternehmen seit 83 Jahren. Die Bilanzsumme ist beim kommunalen Wohnungsunternehmen fast sechsfach so hoch wie die Bilanzsumme der Genossenschaft. Die angebotene Nettokaltmiete liegt bei beiden Akteuren deutlich unter dem ortsspezifischen Mietspiegelniveau der Region. Die geringste Nettokaltmiete kann dabei das kommunale Wohnungsunternehmen mit zwei Dritteln des durchschnittlichen Mietspiegelniveaus realisieren. Dieser Mietspiegel gilt dabei nur für Mietwohnungen auf dem freien, also dem nicht preisgebundenen Wohnungsmarkt im Wohnflächenbereich zwischen 30 m2 und 150
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Die Wohnungsgenossenschaft Perspektive 1 – Institutioneller Kontext: Das Selbstverständnis und damit die normativen Rollenerwartungen von Seiten der Gesellschaft sind in der Satzung des Akteurs in Form »genossenschaftlicher Grundprinzipien« festgeschrieben. Das übergreifende Ziel ist es, den Mitgliedern eine gute, sichere und sozial verantwortbare Wohnungsversorgung bieten zu können. Genossenschaftswohnungen sind »keine Spekulationsobjekte« (Interview 1, 2018, eigene Erhebung). Diese Prinzipien, auf die die Genossenschaft von Seiten der Bewohnerschaft hin geprüft wird, sind gesellschaftlich allgemein bekannt. Bei der Frage nach den primären institutionellen Bezugseinheiten, auf die das Handeln der Genossenschaft gründet, wird eine Marktorientierung deutlich: »[...] Wir sind in einer glücklichen Lage als Anbieter, weil wir uns um die Vermietung von Wohnungen weniger Gedanken machen müssen, weil ein hoher Nachfragedruck da ist« (ebd.). Die deutlich unter dem ortsspezifischen Mietspiegelniveau angebotene Nettokaltmiete wird vom Akteur durch die lange Existenz einer »gewachsenen Genossenschaft« (ebd.) begründet, die Spielräume eröffne. Das Grundinteresse liegt notwendigerweise auch im Erhalt des Bestands des genossenschaftlich getragenen Eigentums und damit in der Existenzsicherung des eigenen Unternehmens. Satzungsgemäß ist Zweck der Genossenschaft vordringlich, insgesamt »[...] Wohnraum dauerhaft für breite Schichten bereitstellen zu können« (ebd.). Dabei wird der Autonomie höchste Priorität beigemessen. So sollen beispielsweise keine Abhängigkeiten zu Förderprogrammen bestehen. Angestrebt ist eine vollumfängliche Entscheidungsfreiheit. In Bezug auf die Wahrnehmung anderer Akteure im Feld ist die Genossenschaft hauptsächlich auf sich und ihre Mitglieder fokussiert und grenzt sich sogar aktiv von den Unternehmenspolitiken anderer Genossenschaften innerhalb dieser spezifischen Metropolregion ab: »Wir distanzieren uns von Genossenschaften, die mit ihren Mietpreisen an den obersten Rand gehen« (ebd.). Die Interaktion zu anderen wohnungswirtschaftlichen Akteuren ist informell. Perspektive 2 – Herstellung von Legitimation: Aufgrund der festgeschriebenen genossenschaftlichen Grundprinzipien, die von außen fortwährend geprüft werden, handelt dieser Akteur im mittleren Verantwortungsbereich und zeichnet sich damit durch die Übernahme einer freiwilligen CSR aus. Für diesen Akteur gehen unternehmerische Handlungslogik und die Schaffung bezahlbaren Wohnraums unter Verweis auf die erarbeiteten »Spielräume« zusammen. Diese ergeben sich
m2 . Bei den Mietpreisangaben im Mietspiegel handelt es sich um monatliche Nettokaltmieten in Euro pro Quadratmeter Wohnfläche (€/m2 ). Wobei unter der Nettokaltmiete das Entgelt für die Überlassung der Wohnung, das Mietausfallrisiko, die Verwaltungskosten sowie Aufwendungen für Instandhaltung ohne Betriebskosten gemäß § 2 Beriebskostenverordnung verstanden wird.
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aufgrund der langjährigen Existenz und der Struktur der Genossenschaft, die eine unternehmerische Handlungslogik voraussetzen (vgl. Interview 1, 2018, eigene Erhebung). Unabdingbar ist in diesem Zusammenhang die Sicherung von Handlungsautonomie. So werden Subventionen als kritisch bewertet, wenngleich sie »günstigen Wohnraum« schaffen können: »Mittel- und langfristig kann das aber einem Wohnungsunternehmen das Genick brechen, da die Instandhaltungskosten an einem Punkt nicht mehr refinanziert werden können« (ebd.) und damit die Angst entsteht, die fortlaufenden Kosten nach Auslaufen der Subventionen nicht mehr decken zu können. Perspektive 3 – Erstellung von Zuversichtsnarrativen: Die Investitionsentscheidungen erwachsen nach »Zahlen und dem Bauch. [...] Wenn das Bauchgefühl stimmt, dann rechnet man die Zahlen so, dass sie passen« (ebd.). Wichtige Kennmarken sind dabei die Lage und die Infrastruktur. Um das »Bauchgefühl« zu einer imaginierten Zukunft zu verdichten, wird viel Zeit investiert. Beispielsweise durch wiederholte Ortsbegehungen, verbunden mit Ansprüchen zur Herstellung unterschiedlicher Architekturen: »Wenn wir investieren, soll der Gegenwert langfristig immer vorhanden sein. Und da sind wir in Bezug auf die Infrastruktur immer wieder bei Lage, Lage, Lage. Vielleicht verschiebt sich das dann aber mit dem autonomen Fahren wieder« (ebd.). Akteur 1 handelt zusammenfassend also vor allem konform seiner sehr beständigen Grundprinzipien und hat sich während seiner langen Existenz über 70 Jahre Spielräume erarbeitet, die gegenüber der Umwelt ein vergleichsweise autonomes Entscheiden über staatliche Subventionen erlauben. Akteur 1 übernimmt innerhalb seiner Wertschöpfungskette gesellschaftliche Verantwortung und zieht zur Erstellung von Zuversichtsnarrativen für die Entwicklung des Bestands hauptsächlich das Bauchgefühl heran. Wichtige Bestandteile für Entscheidungen über Investitionen und die Einschätzung zukünftig realisierbarer Werte von Genossenschaftsanteilen bzw. Mieteinnahmen sind die Lage und Infrastruktur möglicher neuer Projekte und Bestandsentwicklungen.
Das kommunale Wohnungsunternehmen Perspektive 1 – Institutioneller Kontext: Das kommunale Wohnungsunternehmen verfolgt soziale sowie umweltbewusste Ziele, aber auch den Anspruch wirtschaftlicher Unternehmensführung. Dieses Selbstverständnis wird nach außen kommuniziert. Aufgrund der angespannten Wohnungsmarktsituation werden für diesen Akteur Statistiken des Landesamtes als eine Orientierung für seinen »Aktionsradius Landkreis« wichtig. Mit Blick auf die institutionellen Bezugseinheiten, auf die der Akteur sein Handeln gründet, kann auf einen Zusammenschluss verschiedener Akteure verwiesen werden. Institutionell obliegt diesem Akteur in kommunalem Eigentum in besonderer Weise auch politisch getragen das Interesse, den
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Erhalt des eigenen Unternehmens langfristig zu sichern. Durch einen Zusammenschluss mit anderen privaten, genossenschaftlichen und kommunalen Wohnungsunternehmen sowie auch der Wirtschaft (Industrie und Banken) in einer neuen Gesellschaft7 hat der Akteur sein eigenes Ziel, nämlich Wohnraum zu »fairen« Preisen bereitzustellen, auf ein neues Unternehmen übertragen (Interview 2, 2018, eigene Erhebung). Durch diese Gründung wird der Akteur von anderen wohnungswirtschaftlichen Akteuren als starker Impulsgeber wahrgenommen. Es bestehen enge Kooperationen zu genossenschaftlichen Akteuren, um »den Schulterschluss zu suchen« (ebd.). Perspektive 2 – Herstellung von Legitimation: Auch dieser Akteur handelt im Sinne einer CSR des mittleren Verantwortungsbereichs, wenn auch in vergleichsweise differenzierter Form: Neben der Schaffung von Wohnraum zu fairen Preisen, sogar unter Einbezug lokaler Handwerker, wurden auch Gemeinschaftsräume für das Quartier installiert, die für soziale Einrichtungen kostenfrei nutzbar sind. Wenngleich vor diesem Hintergrund höhere Kosten und damit möglicherweise ein Anstieg der Mietkosten erwartbar wären, so beläuft sich die Nettokaltmiete dennoch auf nur zwei Drittel des durchschnittlichen Mietspiegelniveaus. Auch für diesen Akteur ist die Schaffung bezahlbaren Wohnraums mit seiner unternehmerischen Handlungslogik vereinbar. Ermöglicht wird ein Spielraum unter Rückgriff auf eine Systembauweise, durch die »hohe Standards aufgrund von Mehrfachherstellung in Modulform zu fairen Preisen erstellt werden können« (ebd.). Perspektive 3 – Erstellung von Zuversichtsnarrativen: Die Investitionsentscheidungen dieses Akteurs basieren auf Zahlen mit »kurzfristiger Vergangenheit« und einer »Mehrjahresplanung, die über fünf Jahre deutlich hinausgeht« (ebd.). Neben einer Fokussierung auf den Umgang mit vorhandenen Ressourcen wird aber auch eine starke Ausrichtung auf die Industrie deutlich: »Wenn die [...] (Industrie) hustet, dann ist die ganze Region verschnupft. [...] Wir sind am Ende der Nahrungskette« (ebd.). Akteur 2 orientiert zusammenfassend sein Handeln an den Statistiken des Landesamtes, um seinem Selbstverständnis eines wirtschaftlich geführten Unternehmens gerecht zu werden. Er agiert zudem entlang seiner zwei weiteren Ziele: sozial und umweltbewusst. Erstens manifestiert sich dies in der Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung innerhalb der Wertschöpfungskette sowie zweitens in der realisierten »fairen« Nettokaltmiete, die zwei Drittel des durchschnittlichen Mietspiegelniveaus der Region markiert. Bei der Erstellung von Zuversichtsnarrativen orientiert sich Akteur 2 wohnungswirtschaftlich im engeren Sinne an den Prognosen des Landes und sieht sich mit Blick auf die Entwicklung von Nachfrage und 7
Diese neu gegründete Gesellschaft ist als zusätzlicher wohnungswirtschaftlicher Akteur zu sehen. Nachfolgend beziehen sich die Ergebnisse allerdings alleine auf das kommunale Wohnungsunternehmen selbst.
Handlungslogiken wohnungswirtschaftlicher Akteure
bezahlbaren Preisen insbesondere in Abhängigkeit von der regional ansässigen Industrie.
Synopsis Der Ausgangspunkt der empirischen Mikroanalyse war das Handeln zweier wohnungswirtschaftlicher Akteure, die sich in ihrem sozial-orientierten Selbstverständnis, in der Dauer des Bestehens der Unternehmen und der Anzahl der Mitarbeiter/-innen ähnlich sind. Wenngleich sich die Bilanzsummen der Akteure unterschieden, können dennoch beide eine Nettokaltmiete unter dem durchschnittlichen Mietspiegelniveau anbieten. Beide sehen damit ihre Pflicht erfüllt, eine »sozial verantwortbare Wohnraumversorgung« (Genossenschaft, Interview 1, 2018, eigene Erhebung) bzw. »faire Wohnraumversorgung« (kommunales Wohnungsunternehmen, Interview 2, 2018, eigene Erhebung) zu realisieren. Dabei wurden unterschiedliche Schwerpunktsetzungen deutlich: Während die Genossenschaft die Schaffung sozial verantwortbarer Wohnraumversorgung mit guter infrastruktureller Anbindung und unterschiedlichen Architekturen fokussierte (Interview 1, 2018, eigene Erhebung), lag der Fokus des kommunalen Wohnungsunternehmens auf der Schaffung von Wohnraum zu fairen Preisen und die Realisation von Gemeinschaftsräumen für das Quartier zu kostenfreier Nutzung durch soziale Einrichtungen (Interview 2, 2018, eigene Erhebung). Damit konnten das Spannungsverhältnis unternehmerischer Eigenlogik und die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung balanciert werden (CSR mittlerer Reichweite). Insbesondere bei der Genossenschaft wurde darüber hinaus das Ziel deutlich, frei von monetären Abhängigkeiten sein zu wollen. Aus ihrer Sicht wäre vor allem ein Paradigmenwechsel im regionalspezifischen Kontext wichtig, in welchem die öffentliche Hand insbesondere in Infrastrukturen investieren solle (Interview 1, 2018, eigene Erhebung). Mit Blick auf die drei Perspektiven und die empirische Mikroanalyse zeigt sich: Die Handlungen der wohnungswirtschaftlichen Akteure werden durch die Umwelt geformt, wobei der regional angespannte Wohnungsmarkt notwendigerweise den Rahmen sowohl für institutionell begründete (Perspektive 1), legitimationsbezogene (Perspektive 2) als auch erwartungsbezogene (Perspektive 3) Entscheidungen und Handlungen stark prägt. Die Mikroanalyse zweier ähnlicher Akteure durch die synthetisierten Perspektiven zeigt aber auch, wie vielfältig und vielschichtig die Erklärungen des Handelns für einzelne wohnungswirtschaftliche Akteure sind: So zeigt sie beispielsweise auch, warum sich wohnungswirtschaftliche Akteure möglichen Zusammenschlüssen verwehren oder aber diese gar forcieren. Akteur 1 distanziert sich von potentiell Gleichgesinnten (hier andere Genossenschaften) aufgrund divergierender Selbstverständnisse und bündelt seine Kräfte stattdessen für
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die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung. Akteur 2 hingegen forciert und initiiert den Zusammenschluss mit anderen wohnungswirtschaftlichen Akteuren unter Einbezug der Wirtschaft und Industrie. Daraus aber ergibt sich auch eine erweiterte Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung (mittlere CSR) durch das eigene Ziel (hier Schaffung »fairen Wohnraums«), das auch auf weitere Akteure ausgedehnt wird. Dies könnte durchaus auch ein Ergebnis der spezifischen Rolle von Akteur 2 als kommunales Wohnungsunternehmen sein könnte, das in besonderer Weise die (widersprüchlichen) Erwartungen der Gesellschaft im Hinblick auf einerseits seine Wirtschaftlichkeit und andererseits seine soziale Verantwortung zu erfüllen sucht, um seine Handlungen zu legitimieren. In der Zusammenschau scheint es daher lohnenswert, diesen Forschungsansatz auf eine Variation wohnungswirtschaftlicher Akteure (kirchliche, kommunale, genossenschaftliche, private usw.) mit Blick auf unterschiedliche Merkmale (Selbstverständnis, tatsächlich angebotene Nettokaltmiete, Unternehmensgröße, Tätigkeitsgebiet usw.) auszuweiten und dabei insbesondere jene Stellschrauben in den Blick zu nehmen, die zur Sicherung sozialer Wohnraumversorgung beitragen könnten. Indem nachvollzogen wird, welche spezifischen und unterschiedlichen Logiken das Handeln wohnungswirtschaftlicher Akteure bestimmen, öffnet sich ein Blick auf deren Handlungsspielraum und -interessen zur Schaffung bezahlbaren Wohnraums. Dabei ist mit der hier entworfenen Forschungsperspektive die komplexe Bindung (unter anderem) wohnungswirtschaftlicher Akteure an unterschiedliche, zum Teil widerstreitende Handlungslogiken entschlüsselbar. Betrachtbar wird, dass sich diese nicht nur aus den Logiken kapitalistischer Verwertungsinteressen von Wohnraum zu ergeben scheint. Während dies hier exemplarisch für zwei bereits nach ihrem Selbstverständnis sozial gebundene Akteure gezeigt wurde, ließe sich vermuten, dass dies auch für andere wohnungswirtschaftliche Akteure gilt. Zu betrachten wäre auf Basis dieses Ansatzes folglich, in welcher Weise und aus welchen Gründen sich unterschiedliche wohnungswirtschaftliche Akteure mit oder ohne soziales Selbstverständnis angesichts dieser komplexen und widerstreitenden Handlungslogiken für oder gegen die Bereitstellung bezahlbaren Wohnraums entscheiden. Hieraus könnten sich sodann auch Hinweise darauf ergeben, wie die Bereitstellung bezahlbaren Wohnraums durch die Wohnungswirtschaft durch die Veränderung institutioneller Rahmenbedingungen oder gesellschaftlicher Diskurse über die Legitimation wohnungswirtschaftlichen Handelns produktiver gesteuert werden könnte.
Handlungslogiken wohnungswirtschaftlicher Akteure
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Beiträge der Wohnungswirtschaft zur Stadterneuerung: Möglichkeiten und Grenzen Arvid Krüger
Die Wohnungswirtschaft als Akteur ist Adressat für viele kommunale stadtentwicklungspolitische Ziele, insbesondere in der Stadterneuerung. Die Fragestellung dieses Beitrags ist, inwieweit es Kommunen gelungen ist, Stadterneuerung gemeinsam mit Wohnungsunternehmen zu betreiben bzw. ob sich aus solchen Fällen der Kooperation eine generelle Eignung für eine kooperative Stadterneuerung ableiten lässt. Die Erkenntnisse dieses Artikels beruhen auf der Dissertation des Autors (Krüger 2019a). In dieser wurden u.a. die wohnungswirtschaftlichen Quartiersmanagements dreier Einzelfälle untersucht, die vor ca. einer Dekade in Hamburg (Housing Improvement District Steilshoop), Berlin (Neu-Hohenschönhausen) und Dortmund (Scharnhorst) implementiert wurden. Alle drei sind Großsiedlungen der Moderne in eher randstädtischer Lage. Die Ergebnisse der Akteursanalyse beziehen sich insofern auf die spezifischen lokalen Akteurskonstellationen und Nachbarschaften. Doch wer ist »die Wohnungswirtschaft«? In den Großsiedlungen der Moderne ist die Frage spezifisch beantwortbar. Die Siedlungen sind nicht nur zwischen 1919 und 1989 unter besonderen Stadtproduktionsbedingungen entstanden, sondern auch seit mehr als drei Jahrzehnten Gebiete der Stadterneuerung. Die Perspektive der Großsiedlungen wird eingenommen, weil hier vereinfachte Ausgangsbedingungen für eine Kooperation vorherrschen. Es gibt eine begrenzte Anzahl an Akteuren der Wohnungswirtschaft. Jene wenigen Akteure besitzen meist so viele Bestände, dass ihr Tun schon rein quantitativ Auswirkungen auf die Siedlungsentwicklung hat. Die Eigentumsbedingungen sind in den Großsiedlungen deutlich übersichtlicher als in innerstädtischen Altbauquartieren (siehe Tab. 1) – und Potential und Grenzen der unterschiedlichen Eigentümertypen deshalb besser ablesbar. Deswegen sollen sie exemplarisch betrachtet werden. Großsiedlungen der Wohnungsmoderne (1919-1989) sind seinerzeit jeweils fast vollständig von öffentlichen und genossenschaftlichen Unternehmen errichtet worden; große von kommerziellen Unternehmen besessene Bestände sind erst durch die Privatisierung zu solchen geworden, manche Großsiedlung befindet sich inzwischen gar vollständig in deren Hand. In 76 Prozent der Großsiedlun-
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Tabelle 1: Zahl der Eigentümertypen in Großsiedlungsbeständen Quelle: Eigene Darstellung nach Kompetenzzentrum Großsiedlungen 2015: 59.
gen ist ein kommunales Unternehmen ein relevanter Akteur, in 63 Prozent der Siedlungen eine Genossenschaft und in 46 Prozent der Siedlungen ein privatwirtschaftliches Unternehmen (Kompetenzzentrum Großsiedlungen 2015: 61) – letzteres ist oft ein Ergebnis von Privatisierungen seit 1994. Lediglich etwas mehr als ein Drittel der Siedlungen kennen Bestände im Einzeleigentum oder in Eigentümergemeinschaften (ebd.). Hinzu kommt: Großsiedlungen sind nicht nur ein Erbe der Moderne, sondern ihr Charakter ist auch durch die Stadterneuerung seit den 1980er Jahren geprägt worden. Die Heterogenisierung der Bevölkerungsgruppen in diesen Jahrzehnten hat die Großsiedlungen »normalisiert«. Die Bilder aus der Honecker- oder BrandtZeit (je nach Ost oder West), wo ausschließlich glückliche Kleinfamilien in fordistischen Gesellschaftsstrukturen in die Platte zogen, sind Geschichte. Damit unterscheiden sie sich immer weniger von anderen Quartierstypen der Stadterneuerung. Heute eignen sich die Siedlungen für ganz unterschiedliche Zielgruppen, wie sich im Wesentlichen aus ihrer Infrastrukturausstattung herleiten lässt.
Beiträge der Wohnungswirtschaft zur Stadterneuerung: Möglichkeiten und Grenzen
Das bedeutet, dass, entgegen dem Klischee, Großsiedlungen eben nicht automatisch soziale Brennpunkte sind – ebenso wenig, wie alle gründerzeitlichen »Soziale-Stadt«-Quartiere automatisch gentrifiziert werden. Genauso wenig entspricht die Bevölkerungsmischung einer Großsiedlung nach 30, 50 oder 90 Jahren Existenz noch den homogenen Strukturen ihrer Entstehungszeit. Großsiedlungen des 20. Jahrhunderts sind heute nichts Besonderes mehr: Ihre soziale Situation hat oft mehr mit der gesamtstädtischen sozioökonomischen Lage und mit der Verteilung bezahlbaren Wohnraums in der Stadtregion zu tun als mit den eigenen städtebaulichen Qualitäten. Das unterscheidet sie nicht (mehr) von anderen Quartierstypen. Sie sind kontinuierlich Zielquartiere der Stadterneuerung bzw. Städtebauförderung gewesen, was sie ebenfalls nicht von anderen, vormodernen Quartierstypen unterscheidet. Dennoch sind sie weiterhin davon geprägt, dass pro Siedlung jeweils nur eine Handvoll Eigentümer/-innen deren Entwicklung mitbestimmt. Im Folgenden werden die zentralen wohnungswirtschaftlichen Akteure der Großsiedlungen vorgestellt, um das oft einheitlich gedachte Bild der Wohnungswirtschaft zu differenzieren.
Kommunale Wohnungsunternehmen Die öffentlichen Unternehmen sind in der Regel trotz Abschaffung der gesetzlichen Wohnungsgemeinnützigkeit 1990 qua eigener Unternehmenssatzung gemeinnützig, da die öffentlichen Gesellschafter diese Aufgabe weiterhin den Unternehmen zugewiesen haben. Ihre Geschäftstätigkeit wurde seit den 1990er Jahren betriebswirtschaftlich an »normale« Unternehmen angeglichen und Gewinne der Unternehmen für den Haushalt abgeführt (Duvigneau 2001: 1; ähnlich auch Franzen 2008: 85ff.). Öffentliche Wohnungsunternehmen sind im Prinzip in der Lage, an einem Ort Renditen zu erwirtschaften, die anderenorts unrentierliche Kosten auffangen. Diese Art der Renditeorientierung ist zwar nicht nur öffentlichen Unternehmen vorbehalten, aber ein freiwilliger unternehmerischer Renditeverzicht zugunsten von quartiersbezogenen Aufgaben ist sicherlich ein Merkmal, dass auf diesen Unternehmenstypus zutrifft, da sie der politischen Steuerung der Kommune unterliegen. Eine veränderte Dienstleistungsorientierung gegenüber der Mieterschaft hat sich zuerst bei ostdeutschen kommunalen Unternehmen etabliert, denn die alten Regeln der Wohnungsgemeinnützigkeit waren für sie nicht jene vor einer Gesetzesänderung, sondern jene eines anderen Staats. Ostdeutsche Unternehmen kamen 1990 gar nicht erst unter die Regelungen des »Wohngemeinnützigkeitsgesetzes« der alten BRD, wurden also gleich beschränkungslos ins freie Unternehmertum entlassen. Dort mussten sie feststellen, dass sie sich auf stärker und stärker entspannten Märkten deutlich mehr um ihre Mieterschaft bemühen mussten, als
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das zu DDR-Zeiten nötig war. Was sich also aus der Erfahrung des »Stadtumbaus Ost« (dem 2002 eingeführten Städtebauförderprogramm), aber auch bereits aus den 1990er Jahren ableitet, ist ein verändertes Selbstverständnis der kommunalen Wohnungsunternehmen in einem neuen Deutschland, in dem sich auch jüngst, in den 1980er Jahren, die behutsame Stadterneuerung etabliert hatte. Nach 1990 entstanden nach Duvigneau (2001: 3) Leistungen, die – nicht nur im Osten – bei kommunalen Wohnungsunternehmen mittlerweile Standard geworden sind: • • • •
Vor-Ort-Büros, Ständig erreichbarer Telefonservice, Schnelle Erledigung gemeldeter Mängel, Hilfestellungen bei Mietzahlungsschwierigkeiten.
Heute sind kommunale Wohnungsunternehmen, nachdem sie in der Phase der Stadtumbauprogramme eher als Bestandshalter fungierten, seit deren Auslaufen 2017 wieder verstärkt sowohl bei Zukäufen als auch bei Neubauten aktiv. Weitere Aufträge sind außerdem energetische Modernisierungen und gleichzeitig das Halten von Beständen für die preiswerte bzw. dem untersten Segment dienende Wohnraumreserve (vgl. Lichtenberg 2014: 80) – ein Spagat, der ihnen nicht ohne Förderung gelingen wird. Die Förderung der ostdeutschen Wohnungsunternehmen in den 1990er Jahren und deren realisierte energetische Einsparungen können hierfür als Vorbild dienen (Protz 2012: 26ff.). Seit dem »Ersten Wohnungsbaugesetz« von 1950 gilt: Wohnungsfördermittel, die in den öffentlichen Wohnungssektor fließen, verbleiben in öffentlichem Eigentum (Lompscher et al. 2014: 5). Um eine sozial gerechte Wohnraumversorgung zu erreichen, sollte der öffentliche Sektor nicht nur eine soziale Version des privaten Sektors sein. Auf dem Wohnungssektor sollten kommunale Wohnungsunternehmen nicht nur sozial Schwächere behausen, sondern sie sollten auch eigenständig und impulsgebend den Wohnungsmarkt beeinflussen – dies natürlich im Einklang mit den stadtentwicklungspolitischen Zielstellungen des kommunalen Eigentümers. Durch die stetige Verlagerung der Kompetenzen im Politikfeld Wohnen auf die Kommune (vgl. Krummacher 2011: 205; Schönig et al. 2017: 25ff.) sind diese dabei einerseits in die Lage versetzt worden, lokalspezifische Wohnungsmarktpolitiken zu entwickeln. Andererseits fehlen den Kommunen sowohl allgemein als auch politikfeldspezifisch oft die Ressourcen, diese Spielräume auch wirklich nutzen zu können. Die kommunalen Wohnungsunternehmen sind eine solche Ressource. Der Auftrag der Versorgung einkommensschwacher Haushalte kann in Widerspruch zum stadtentwicklungspolitischen Auftrag, räumliche Segregation zu vermeiden, geraten. Wenn das Unternehmen in einem Quartier die meisten Bestände besitzt, kann es diese nur schwerlich immer an die gleiche Schicht vermieten, wenn es Segregation vermeiden will. Hier zeigt sich die oben gestellte Grundfrage:
Beiträge der Wohnungswirtschaft zur Stadterneuerung: Möglichkeiten und Grenzen
Ist das öffentliche Unternehmen nur ein Reparateur des ansonsten marktförmigen Sektors oder ein die gesamte Wohnraumversorgung voranbringender Akteur? Wenn letzteres gewünscht ist, kann keiner der genannten Aufträge allein prioritär sein.
Genossenschaften Wohnungsbaugenossenschaften waren eines der zentralen Instrumente zur Linderung der Wohnungsnot nach dem Ersten Weltkrieg gewesen (Knorr-Siedow 2008: 132; Karhoff/Kiehle 2005: 192f.). Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Westdeutschland die Wohnungsbaugenossenschaften durch die Wohnungsgemeinnützigkeit systematisch in die Förderung von Wohnraum einbezogen. Die DDR führte den Genossenschaftsgedanken mittels Arbeiterwohnungsgenossenschaften weiter (Knorr-Siedow 2008: 133). Entscheidend ist hier der hohe Stellenwert der Genossenschaften bei der Errichtung der Plattenbaugebiete. Noch heute sind sie in Ostdeutschland nach den öffentlichen Wohnungsunternehmen meist zweit- oder drittgrößter Eigentümer, wohingegen im Westen meistens die Inhaber/-innen privatisierter Bestände auf Platz 2 folgen und Genossenschaften eher kleinere Bestände in Siedlungen halten. Heute sind etwa zehn Prozent des gesamten Mietwohnungsbestandes in Deutschland genossenschaftlich (Karhoff/Kiehle 2005: 192). Genossenschaften gelten oft als »Tanker«: wirksam, aber schwerfällig, was ihren Einfluss auf den Wohnungsmarkt betrifft. Die Akteurslandschaft der Wohnungsbaugenossenschaften ist höchst differenziert: Nur etwas mehr als ein Zehntel aller Genossenschaften in Deutschland besitzen mehr als 2500 Wohnungen, deren Bestände stellen aber mehr als die Hälfte der genossenschaftlichen Wohneinheiten dar, und etwa zwei Fünftel der Genossenschaften mit etwa der Hälfte der Bestände haben ihren Sitz im Osten (ebd.). Diese großen ostdeutschen Genossenschaften haben sich im Kontext des demographischen Wandels als sehr aktive Akteure der Stadterneuerung hervorgetan. Ihre Bestände befinden sich überwiegend in Plattenbausiedlungen, womit sie dem Wohl dieser Gebiete positiv wie negativ verbunden waren. Sie agierten zunächst aus einer präventiv-defensiven Haltung heraus: Durch die absehbare Schrumpfung der Bevölkerung war es besonders dringlich, die eigenen Mieter/-innen zu halten; und das waren just jene, die alterten. Ihre Zufriedenheit mit der eigenen Wohnsituation war besonders hoch im Vergleich zu anderen Unternehmenstypen (BMVBS 2007: 2). Das Mitbestimmungsmodell der Genossenschaften kam auch Personen ihres eigenen über Jahre gewachsenen Milieus entgegen. Inzwischen haben die meisten Genossenschaften kleine »Baukästen« entwickelt (z. B. Abb. 1), um das Altern in der eigenen Großwohnsiedlungswohnung auch baulich zu ermöglichen (in Ost wie inzwischen auch West). Durch die standardisierte Bauweise konnten bald
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standardisierbare Lösungen entwickelt werden. Die Genossenschaften engagieren sich zudem immer häufiger in der Seniorenarbeit und im soziokulturellen Sektor; Bedarfe ermitteln sie meist über die eigenen Mitbestimmungsinstrumente. Das teils flexible Reagieren der Genossenschaften auf die veränderten Bedingungen nach 1990 lässt sich unter anderem durch ihre dezentrale Struktur erklären (vgl. Corneo 2014: 249ff)1 . Es gibt in den meisten Siedlungen eben nicht die eine Großgenossenschaft, sondern viele kleinere, die sich auch auf die ein oder andere Weise im Raum verorten – wie z. B. die »Berliner Humboldt-Universität e.G.« in doppelter Hinsicht: aus ihrer Geschichte als Bereitsteller von Wohnraum für die Universitätsangestellten nach dem Krieg oder aus ihrer Gegenwart als in Neu-Hohenschönhausen bewusst örtlich verankertes Unternehmen. Genossenschaften sind das tradierte Instrument, privates Engagement auf dem Wohnungsmarkt einem gemeinwohlorientierten Ziel zu unterwerfen. Sie sind seit mehr als 100 Jahren etabliert; sie haben bewiesen, dass sie langfristig Mietpreisstabilität wahren können und dabei auch eine soziale Mischung ihrer eigenen Bestände im Blick haben (Walk/Schröder 2011: 91f.). Aber sie gelten als altbacken (Karhoff/Kiehle 2005: 195). Genossenschaften haben eine wichtige Gemeinsamkeit mit Aktiengesellschaften und teilen daher auch einen ihrer wesentlichen Nachteile. Sie sind closed shops: Man muss sich die Mitgliedschaft in einer Genossenschaft leisten können und muss über die monetären und nichtmonetären Ressourcen (z. B. Zeit) verfügen, um an den Mitbestimmungsprozeduren partizipieren zu können. Als oft lokal verankerte Akteure sind Genossenschaften heute verlässliche Partner der Stadterneuerung und leisten auch den ein oder anderen eigenständigen Beitrag zur Gesamtentwicklung eines Quartiers. Sie bleiben dabei aber strukturell fokussiert auf die eigene Mitgliedschaft. Indem sie sich institutionell einbinden lassen, wenn sie als kleinteilige Akteure den Hauptakteur – meist das öffentliche
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Ein damit zusammenhängender, nicht zu vernachlässigender Umstand lässt sich mit dem Stichwort »Aktienmarktsozialismus« benennen, wie er von Corneo (2014: 236ff.) in seiner »Reise durch alternative Wirtschaftssysteme« beschrieben wurde. Als Achillesfersen des Systems Aktienmarktsozialismus benennt der Autor die politische Beeinflussbarkeit des Unternehmens und die Trägheit gegenüber schlechtem Management – das im Kapitalismus durch eine feindliche Übernahme gefährdet wäre, die es durch die gesetzliche Staatsmehrheit nicht gibt (ebd.: 245). Auch Genossenschaften besitzen eine gewisse Trägheit und nicht immer waren sie in der Lage, schnell und innovativ auf veränderte Marktbedingungen zu reagieren. Interessanterweise findet sich einer der Auswege Corneos in seinem Bezug zu einem schwerfälligen Staatsaktionär im Aktienmarktsozialismus (ebd.: 249ff.) bezüglich Wohnungsgenossenschaften bereits verwirklicht: Dezentralisierung. Diese Dezentralisierung ist für Corneo ein komparativer Vorteil dieser Form eines Aktienmarktsozialismus gegenüber anderen »alternativen Wirtschaftssystemen« (ebd.).
Beiträge der Wohnungswirtschaft zur Stadterneuerung: Möglichkeiten und Grenzen
Abbildung 1: Demographischer Baukasten: kleinteilige Maßnahmen der Genossenschaft »Neues Berlin« für den wohnungsweisen altersgerechten Umbau Quelle: Eigene Darstellung nach Neues Berlin 2013: 7.
Unternehmen – unterstützen, und wenn sie ihre eigenen Akzente gut komplementär zum gemeindlichen Handeln setzen, sind sie ein unverzichtbarer Bestandteil der Kooperation in der Stadterneuerung – gerade mit Blick auf deren altersgerechten Umbau.
Ein neuer Akteur in Großsiedlungen: Kommerzielle Wohnungsunternehmen Nachdem in den beiden vorangegangenen Kapiteln die »Traditionalisten« des Siedlungsbaus – staatliche wie genossenschaftliche Wohnungsunternehmen – betrachtet wurden, soll nun der Fokus auf eine Entwicklung gelegt werden, die in den 1980er Jahren im Westen ideologisch vorbereitet wurde, nämlich durch die Abschaffung des Gemeinnützigkeitsparagraphen im Jahr 1989: »Der allgemeine Konsens, öffentliche Wohnungsunternehmen als ein wesentliches Fundament einer sozialen Wohnungsversorgung zu sehen, ist mittlerweile zerbrochen« (Schmitt 2003: 53). Es begann also eine Ära, an deren Ende sich die Eigentumsverhältnisse in manchen Großsiedlungen vollständig gedreht haben, wie man an der eingangs aufgeführten Tabelle ablesen kann: Fast in der Hälfte aller Großsiedlungen kommt mit maßgeblicher quantitativer Relevanz nun ein Akteur ins Spiel, den es dort zur Zeit
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des Baus der Siedlung (1920-1980er Jahre) nicht gegeben hat: große private Wohnungsunternehmen, die sich in der Regel in Fondseigentum befinden und deren Ziele somit durch die Aktieneigentümer/-innen postuliert werden. Entstehungsgeschichtlich sind sie Produkte einer Ära der Privatisierung (Krüger 2019a; 2019b). Für die Siedlungen änderten sich die governenziellen Arrangements mit den neuen Akteuren deutlich. Die Rolle der kommerziellen Wohnungsunternehmen in einem Quartier ist strukturell eine andere als die von öffentlichen oder genossenschaftlichen Wohnungsunternehmen. Letztere beide waren als Erbauer zwangsläufig Motoren der Siedlungsentwicklung. Egal ob als milieuspezifische Genossenschaften mit Namen wie »Spar- & Bauverein«, »Humboldt-Universität«, ob als Beamtenwohnungsbau, als Wohnbaugesellschaften der Bahn und Post, als kommunale Unternehmen oder gar als »Neue Heimat«: Diese Unternehmen führten ihre Programmatik im Namen oft mit. All dies zu sein, dazu haben kommerzielle Unternehmen keinen Grund. Sie sind in den Siedlungen im positiven Sinne Bereitsteller preiswerten Wohnraums (vgl. Krüger 2019b: 45). So negativ vor Ort die Effizienzsteigerung der Immobilienverwaltung durch Zentralisierung, Verschleppung der Instandhaltung und Digitalisierung bei manchen ankommt; es gelingt den Kommerziellen in großem Maßstab, Bestände mit minimalen Kosten zu bewirtschaften. So entsteht die Rendite, die die kommerziellen Unternehmen an ihre Anleger/-innen, meist institutionelle Anleger wie Pensionsfonds, ausschütten. Umverteilt wird hier also nicht im Quartier, sondern im globalen Maßstab. Und nach 2003 hat die öffentliche Hand das passende Kalkulationsmodell dazu geliefert: Mit der Hartz-IV-Reform wurde ein Satz für die Kosten der Unterkunft festgelegt, der eine sichere, kalkulierbare Einnahmequelle darstellt, sodass ein Portfoliomanagement samt der durch Masse erzielbaren Skaleneffekte darauf abgestimmt werden konnte (Bernt et al. 2017). Damit war aber auch kalkulierbar, wie das Verhältnis von Aufwand und Ertrag der Bewirtschaftung der Wohnungen in den Quartieren für die erwarteten Renditen der Eigentümer (Fonds und andere) zu sein hat. Dieser eigentlich banale Umstand führte dann logisch dazu, dass für weitere Aufwände keine Ressourcen durch das Unternehmen zur Verfügung gestellt werden konnten oder sollten. Und, wie eingangs dargestellt, war eine immaterielle Verbundenheit des Unternehmens mit dem Ort seiner Immobilien auch nicht (mehr) vorhanden: Im Unterschied zu den Aktionär/-innen von Genossenschaften (dem genossenschaftlichen Anteil der nun mal meist dort wohnenden Genossenschaftsmitglieder) und von öffentlichen Unternehmen (die meist im Eigentum der Kommune sind) korrelieren die Standorte der Eigentümer eines »normalen« Unternehmens im Aktienbesitz eben nicht mit dem bzw. den Standorten des Unternehmens. Die strukturellen Merkmale dieses Unternehmenstyps legen also nahe, dass er keinen eigenständigen Beitrag zur Quartiersentwicklung aus sich heraus leistet.
Beiträge der Wohnungswirtschaft zur Stadterneuerung: Möglichkeiten und Grenzen
Solches zu tun, wäre »unnormal«. Diese Umstände einer Normalität von Unternehmertum lassen wiederum das faktisch ortsgebundene Unternehmertum der besonderen Unternehmenstypen Genossenschaft und öffentliches Unternehmen als Ausnahme erscheinen. Zumindest in den Großsiedlungen war diese Ausnahme aber die eigentliche Normalität. Das Rollenverständnis der kommerziellen Unternehmen ist also nur im Kontext der anderen Typen zu verstehen. Darauf soll im Folgenden eingegangen werden.
Beiträge der Unternehmenstypen für die Stadterneuerung (von Großsiedlungen) Das Rollenverhalten der unterschiedlichen Akteure tritt in Großsiedlungen stärker zutage, als es in hinsichtlich der Anbieter stärker gemischten Quartieren der Fall ist; hier können sie gezielt untersucht werden. Diese Analyse ermöglicht es, das »Grundverhalten« unterschiedlicher Unternehmenstypen hier und in anderen Quartieren einzuschätzen und zielgerichteter Steuerungsmittel einzusetzen, die eine kooperative Stadterneuerung erreichen sollen. Die Analyse der unterschiedlichen Unternehmenstypen zeigt, dass kein Unternehmen, egal welchen Typs, aus sich heraus zusätzliche Ressourcen in die Bestandsentwicklung einbringt. Es gibt Wohnungsunternehmen, die lediglich Wohnraum – eines bestimmten Segments – anbieten möchten. Den Preis für die eben erläuterte Reduktion der Rolle kommerzieller Unternehmen auf das schiere Bereitstellen von Wohnraum (und nichts anderes darüber hinaus) bezahlen die Siedlungen indirekt: nicht durch die Tatsache, dass innerhalb der Siedlung auch Cash Cows und Poor Dogs existieren2 oder dass die eine Fassade weniger aufwendig saniert ist als die andere. Der Preis liegt woanders: Über lange Jahre galt unausgesprochen und unwidersprochen, dass das Wohnungsunternehmen einer Siedlung der Wohnungsmoderne sich dort über die reine Bewirtschaftung des Wohnraums hinaus engagiert – hierfür hat sich der Begriff der »Stadtrendite« etabliert. Eigentliche Ursache für dieses Rollenverständnis der Wohnungsunternehmen im Kontext des Siedlungsbaus der 1920-1980er Jahre ist aber eine Idee des Wohnungsbaus der Moderne, die davon ausgeht, dass die Eigentümer des Unternehmens (die Kommune, das nahegelegene öffentliche Unternehmen wie Bahn oder Post, die Genossenschaftsmitglieder) ein ununterbrochenes Interesse an dem Wohlergehen der Siedlung und ihrer Bewohnerschaft haben: z. B. durch Sozialsponsoring in Form von Bereitstellung von preiswerten/kostenlosen
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Im Portfoliomanagement von Immobilienunternehmen werden als Cash Cows solche Immobilien bezeichnet, die sichere Gewinne erzielen, und als Poor Dogs solche, die kaum bis keine Gewinne erzielen und in die folglich desinvestiert wird (zu den Begriffen vgl. u.a. Benischke 2004).
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Ressourcen und Räumen für soziale Infrastruktur, oder durch ein dichtes Netz beispielsweise an Hausmeister/-innen, die Ansprechbarkeit und Sicherheit im Quartier vermitteln. Diese Aufgabe müssen nun die Öffentlichen und Genossenschaftlichen in den Siedlungen alleine schultern, weil die kommerziellen Unternehmen keine Anreize haben, diese Beiträge zu übernehmen. Das bedeutet, dass den Öffentlichen in stärkerem Maße als früher der Auftrag zukommt, sowohl untere Einkommensschichten mit Wohnraum in den Siedlungen zu versorgen als auch die Stadtrenditeressourcen für das Quartier bereitzustellen. Dies gilt auch für kooperative Modelle der Stadterneuerung wie das Housing Improvement District in Hamburg-Steilshoop oder das wohnungswirtschaftliche Quartiersmanagement in Dortmund-Steilshoop. Hier gelingt es zwar, kommerzielle Unternehmen zu Co-Akteuren der Stadterneuerung zu machen, aber zugleich werden in diesen Kooperationen jeweils nur Teile einer Erneuerung des Quartiers durchgeführt; andere (ebenso aufwändige) Teile der Quartierserneuerung werden parallel in alleinig öffentlicher Verantwortung und mit öffentlichen Fördermitteln getragen (Krüger 2019a). Der damit verbundene verstärkte Einsatz von Stadtrenditeressourcen der öffentlichen Unternehmen erfordert auf der anderen Seite eine entsprechende Einnahmesituation – oder anders ausgedrückt, mehr mietende Mittelschichtshaushalte – was wiederum dem Auftrag der Versorgung unterer Einkommensschichten widerspricht. Genossenschaften werden mittelbar durch ihre vor Ort ansässige Mieterschaft mitgesteuert, öffentliche (kommunale) Unternehmen durch die lokale Politik, die auch Stadterneuerung verantwortet und deshalb Anlass hat, ihre kommunalen Unternehmen in diese Aufgabe einzubinden. Kommerzielle Unternehmen müssen – um am Ende die Erwartung der responsibilisierten Pensionsfondsanleger/-innen (Heeg 2013) zu erfüllen – ein bestimmtes Geschäftsmodell fahren. Das verhindert nicht unbedingt die lokale Versorgung mit preiswertem Wohnraum. Aber ihr »Hartz-IV-Geschäftsmodell« verhindert den Einsatz von Stadtrenditeressourcen, welche für die Siedlungen der Wohnungsmoderne konstituierend waren.
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Beiträge der Wohnungswirtschaft zur Stadterneuerung: Möglichkeiten und Grenzen
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Wohnungsbau für das Gesellschaftsminimum Über ein prozesshaftes Architekturverständnis Anne Kockelkorn
Wie verändern sich die Definition von Architektur und die Form des Wohnungsbaus unter den Vorzeichen von Privatisierung und Finanzialisierung? Was kann Architektur heute, fünfzig Jahre nach dem neoliberalen Wandel der 1970er Jahre, anbieten, um einen gerechteren Zugang zu Ressourcen zu ermöglichen? Ausgehend von diesen Fragen untersuche ich im folgenden Essay einige jüngere Beispiele des Berliner Wohnungsbaus. Dabei interessiert mich zum einen, welchen Beitrag Architektur – im Sinne von der Gestaltung der gebauten Umwelt – zur Stabilisierung von Machtverhältnissen leistet und wie sich die Definition von Architektur unter dem Vorzeichen der Finanzialisierung verändert. Zum anderen interessiert mich, was Architektur zur Veränderung dominierender Machtverhältnisse beitragen kann und stelle unter dem Begriff »Luxus des Gebrauchswerts« architektonische Strategien zum Zugang von gemeinnützig geteilten Ressourcen vor.
Juwelen der Segregation. Über die Eigenschaften finanzialisierten Wohnungsbaus Um zu verstehen, wie Machtverhältnisse durch Architektur wirksam werden, helfen stilistische Kriterien für sich allein genommen kaum weiter. Das gilt insbesondere für den Wohnungsbau und lässt sich gut am Berliner Siedlungsbau der Weimarer Republik veranschaulichen. Historisch betrachtet vollzog der Moderne Siedlungsbau die Mechanisierung der Häuslichkeit und war damit Ausdruck und Mittel der Anpassung an einen kapitalistischen Rationalisierungsprozess (vgl. Tafuri 1977 [1973]; Martin 2011). Zugleich verwirklichten die Siedlungen des Neuen Bauens das Projekt sozialdemokratisch regierter Kommunen, die untere Mittelschicht mit angemessenem Wohnraum zu versorgen, und boten verbesserte hygienische Bedingungen und höheren Komfort. Formalästhetisch betrachtet gehören die herausragenden Beispiele des Neuen Bauens – wie die Hufeisensiedlung oder die Waldsiedlung in Zehlendorf – zu den Ikonen der Architekturgeschichte. Die stadtpolitischen Ziele ihrer architektonischen Qualität haben sich innerhalb der
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letzten zwanzig Jahre jedoch geradezu umgekehrt. 1998 wurde die 1924 gegründete Bauherrin der Hufeisensiedlung, die »GEHAG« (Gemeinnützige Heimstätten-, Spar- und Bau-Aktiengesellschaft), privatisiert – zusammen mit weiteren 728.000 Wohnungen, die Bund, Länder und Kommunen zwischen 1999 und 2006 in Form von en-bloc-Verkäufen privatisierten.1 2005 übernahm der US-amerikanische Investor »Oaktree« die mehrheitlichen Anteile der »GEHAG« und seit 2007 sind die Aktien der Gesellschaft im Besitz der »Deutsche Wohnen AG«. 2008 wurden sechs der Berliner Siedlungen der »Deutsche Wohnen« zum Weltkulturerbe erklärt und die »Deutsche Wohnen« nahm die Form der Hufeisensiedlung in ihr Logo auf.2 Die feste Assoziation von modernem Wohnungsbau und sozialdemokratischen Werten ist spätestens seit diesem Moment obsolet. Aus der rationalen Ästhetik des Neuen Bauens, das dem politischen Projekt der sozialen Wohnraumversorgung der 1920er Jahre Form verliehen hatte, wird nun ein »Architekturjuwel«3 , das der Steigerung des Aktionärsvermögens der neuen Anteilseigner dient. Nach der »GEHAG« kaufte die »Deutschen Wohnen AG« im Jahr 2013 auch die Berliner »Gemeinnützige Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaft« (GSW), wobei sie mit 3,3 Milliarden Euro bereits das Achtfache des Verkaufspreises zum Zeitpunkt der Privatisierung der GSW von 2004 aufbrachte. Damals war die GSW für 405 Millionen Euro an den Risikokapitalinvestor »Cerberus« verkauft worden samt Übernahme von 1,6 Milliarden Euro Schulden.4 2015 lag der Gewinn der »Deutsche Wohnen AG« bei 1,2 Milliarden Euro. Im selben Jahr stiegen die Gehälter der Vorstandsmitglieder der »Deutsche Wohnen« von 2,5 auf 6,5 Millionen Euro Jahresgehalt (vgl. Hinck 2016). Das Beispiel veranschaulicht die neoliberale Logik der Privatisierung von Gewinnen und der Sozialisierung von Verlusten: Denn zu den Strategien der »Rentabilisierung« gehört nicht nur das Ausreizen der legalen Mieterhöhungen und das Vernachlässigen des Bestands oder radikaler Mitarbei-
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Zu den Zahlen siehe Holm 2007; Kockelkorn 2007; zu den Gründen der Verkäufe siehe Elsinga et al. 2014. Zu den Berliner Wohnsiedlungen im Besitz der »Deutsche Wohnen AG«, die 2008 zum Weltkulturerbe erklärt wurden, gehören die Gartenstadt Falkenberg (1913-16), die Siedlung Schillerpark (1924-30) die Hufeisensiedlung (1925-30) und die Siedlungen Carl Legien (1928-30, alle von Bruno Taut); sowie die Siedlungen Siemensstadt (1929–34, Hans Scharoun, Martin Wagner) und die Weiße Stadt (1929-31, Otto Rudolf Salvisberg, Martin Wagner). Zitat Webseite zur Waldsiedlung Zehlendorf der »Deutsche Wohnen AG«, www.deutsche-wohnen.com/quartiere-trends/quartiere/berlin-waldsiedlung/ (letzter Zugriff am 23.3.2020). Laut Pressemitteilung des Berliner Senat (2004) waren es rund 1,56 Milliarden € Schulden, die Berliner Zeitung berichtete einen Monat später (am 18.06.2004) von rund 1,7 Milliarden € Schulden (vgl. Paul 2004); zur strategischen Unterbewertung der GSW durch die Beraterfirma »Ernst & Young« siehe Holm 2006.
Wohnungsbau für das Gesellschaftsminimum
terabbau jenseits der Vorstandsebene.5 Noch entscheidender ist, dass sich soziale Polarisierung ökonomisch rentiert. Weiterverkäufe und Betrieb von Wohnimmobilien sind umso lukrativer, je eindeutiger der Bestand zuvor spezialisiert wurde (Fields/Uffer 2016). Je nach sozialer Schicht wohnt man nun im »Architekturjuwel« oder im Substandard und teilt die gemeinsame Angst, sich den zugewiesenen Lebensstandard bald nicht mehr leisten zu können. Die privaten Gewinne gehen zu Lasten der Mieter/-innen und Mitarbeiter/-innen; die Sozialisierung von Verlusten gehen zu Lasten des sozialen Zusammenhalts.
Finanzialisierter Wohnungsbau und prozesshaftes Architekturverständnis Prozesse der Finanzialisierung kündigen unmittelbare Beziehungen zwischen Ort, Nutzerbedürfnissen, und den Kapitalgewinnen einer Immobilie auf. Sie bedingen eine wachsende Kluft zwischen gelebten Räumen, sozialer Praxis und dem Warenwert von Wohnimmobilien.6 Maßstab und Logik dieser Prozesse sind jedoch unter anderem deshalb schwer zu greifen, weil ihre sozialen Räume und urbanen Formen in keinem phänomenologisch fassbaren Zusammenhang zu den Gewinnen stehen, die sie erwirtschaften können. Die zunehmende Diskrepanz zwischen der körperlichen Erfahrung eines Ortes und seinen finanziellen Repräsentationen hat Konsequenzen für die Art und Weise, wie eine Architektur des Wohnens unter der Prämisse der Finanzialisierung gedacht werden kann. Um dies genauer zu erklären, sei kurz allgemein auf die Rolle von Repräsentationen im Architekturdiskurs hingewiesen – und daran erinnert, dass der Diskurs über Wohnen, Wohnraum und seine Architektur immer nur spezifische Repräsentationen bezeichnet (der sozialen Praxis des Wohnens, des Warenwerts von Wohnraum, soziale und ästhetische Normvorstellungen etc.) und nie das Wohnen als Ganzes erreicht. Gleichzeitig gilt, dass die unterschiedlichen Repräsentationen des Wohnens seine gelebte soziale Praxis gewissermaßen verdoppeln. Was sich unter der Prämisse der Finanzialisierung verändert, ist, erstens, dass die unterschiedlichen Repräsentationen des Wohnens gegenüber der gelebten sozialen Praxis zunehmend größeres Gewicht erhalten,
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Zwischen 2004 und 2014 reduzierte sich die Zahl der Mitarbeiter/-innen der GSW von 950 auf 170, siehe Hinck 2014; diejenigen, die nach dem Kauf der GSW von der »Deutsche Wohnen AG« übernommen wurden, mussten ab 2017 zu im Verhältnis zur GSW schlechteren Tarifverträgen der »Deutsche Wohnen AG« wechseln, siehe Hinck 2016. Andererseits wurde die Immobiliengesellschaft dafür bekannt, Mieterhöhungen nach Möglichkeit auf die maximale legale Grenze auszureizen, siehe Werle 2007. Zur Entkopplung als Paradigma der gegenwärtigen Transformation urbaner Territorien durch die Mechanismen fiktiver Kapitalströme siehe Raffestin 2012.
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und sich zweitens mit zunehmend unterschiedlicher Geschwindigkeit verändern.7 Was sich gegenüber einer herkömmlichen Immobilienökonomie ebenfalls verändert, ist drittens, dass die verschiedenen Repräsentationen des Wohnens noch seltener als zuvor eine sinnvolle kongruente Einheit bilden: Schlechte Nachrichten für Leute, die das Eindeutige lieben. Versucht man dennoch, die unterschiedlichen Repräsentationen des Wohnens in Bezug zueinander zu setzen – etwa die der Alltagsroutinen eines Rentners in der Hufeisensiedlung, die Wertvorstellungen, die 2020 an eine modernistische Grundriss- und Fassadenästhetik geknüpft sind und die Gewinne der »Deutsche Wohnen AG« im letzten Jahrzehnt – so lässt sich dieses Ensemble lediglich aufgrund von »partiellen Verbindungen«8 erfassen: partielle Verbindungen der Repräsentationen von Gestaltung, Ware, Normen und sozialer Praxis, die besser in Erzählungen als in Konzepten erfasst werden können, und denen als stehender Begriff keine Dauerhaftigkeit beschieden ist. Gegenüber dem instabilen Ensemble partieller Verbindungen verliert jedoch die stabile diskursive Repräsentation, die jeweils nur einen einzelnen Aspekt des Wohnens beleuchtet, in zunehmendem Maße ihren »Sinn«, das heißt, die Möglichkeit, sinnlich und kognitiv wahrnehmbaren Erfahrungen eine Rahmung zu verleihen.9 Mit Blick auf diese instabilen Verbindungen plädiere ich daher dafür, die ästhetischen Merkmale von Architektur als Prozess zu definieren: als Prozess, der territoriale Entwicklungen in Alltagsroutinen übersetzt und damit für Stadt und ihre Bewohner/-innen wirksam macht; als Prozess, der von unterschiedlichen Akteursinteressen geprägt ist und die Mikroebene des Lokalen mit der Makroebene des Globalen verschränkt; als Prozess, der analog zur Zunahme fiktiver Kapitalströme in zunehmendem Maße mit Vorstellungsbildern und Affekten aufgeladen ist, die ein entkoppeltes Eigenleben führen und gleichzeitig mit zunehmender Gewalt auf den Raum der sozialen Praxis zurückwirken.
Architektonische und städtebauliche Strategien zur Finanzialisierung Im Sinne jenes prozesshaften Architekturverständnisses veranschauliche ich die Wirksamkeit finanzialisierter Wohnarchitektur in Berlin anhand von fünf Strate-
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Zur These unterschiedlicher Repräsentationsräume (»scapes«), die sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und zunehmender Diskrepanz voneinander verändern siehe Appadurai 1996. Zu diesem Konzept der Bedeutungsproduktion im Vergleich disparater sozialer und kultureller Konfigurationen siehe Strathern 1991. Goffman 1977 [1974], S. 31: »Wenn der einzelne in unserer westlichen Gesellschaft ein bestimmtes Ereignis erkennt, neigt er dazu – was immer er sonst er tut – seine Reaktion faktisch von einem oder mehreren Rahmen oder Interpretationsschemata bestimmen zu lassen, und zwar von solchen, die man primäre nennen könnte. […] ein primärer Rahmen wird eben so gesehen, daß er einen sonst sinnlosen Aspekt der Szene zu etwas Sinnvollem macht.«
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gien, die jeweils ein Set an partiellen Verbindungen von Gestaltung, Ware, Normen und sozialer Praxis beinhalten. Eine erste Gewinnstrategie ist die Senkung des Standards oder, lapidar ausgedrückt, etwas schlechtere Qualität als nötig. Sie bezeichnet die Strategie privater Immobilienmakler, bei entsprechendem Druck auf den Mietwohnungsmarkt eine Altbauwohnung gerade dann besser zu überteuerten Preisen vermieten zu können, wenn sie nicht den Eindruck von Luxus vermittele – wie zum Beispiel aufgrund eines abgeschliffenen Dielenbodens. Laminatboden statt massiver Diele löse bei der zukünftigen Mieterin eher das Gefühl aus, sie könne sich die Wohnung eben gerade noch leisten. Dielenboden und andere Qualitätsmerkmale würden hingegen eher zur Überlegung führen, dass die Wohnung vielleicht doch zu teuer sei.10 Die zweite Strategie Standard als Luxus ist die Beibehaltung des Prinzips der etwas schlechteren Qualität auch im gehobenen Preissegment: Grundrissqualität und Ausstattung entsprechen einem durchschnittlichen Standard, stehen aber ab 6000 Euro pro Quadratmeter zum Verkauf.11 »Luxus« bedeutet für eine 44 m2 Wohnung eine offene Wohnküche mit französischem Fenster und Balkon, ein fensterloses Duschbad, ein per Trennwand abgegrenztes Schlafzimmer mit Einbauschränken und jener Laminatboden, den wir schon von den Mietwohnungen kennen. Die dritte Strategie der Klumpen-Morphologie bezieht sich auf die Ebene des Städtebaus und bezeichnet die maximale baurechtliche Flächenausnutzung mit dem Ziel maximaler Vermarktbarkeit. Alles, was diesem Prinzip widerspricht, verschwindet: Loggien, Terrassierungen, gemeinschaftlich genutzte Raumangebote, großzügige Erschließungen und andere Arten der Zwischenzonen zwischen privat und öffentlich. Die vierte Strategie der Abschottung des Erdgeschosses sichert die Ausgrenzung der Anderen. Ein finanzialisierter Stadtraum eliminiert räumliche Angebote der Durchwegung und des Aufenthalts unterschiedlicher sozialer Gruppen; grenzt Nicht-Konsumierende und Nicht-Besitzende aus und bietet Gemeinschaftseinrichtungen lediglich als Verkaufsargument für die Zielklientel an. Die wichtigsten Auswirkungen finanzialisierten Wohnungsbaus sind jedoch am Gebäude selbst nicht ohne Weiteres ablesbar. Finanzialisierte Wohnimmobilien materialisieren und verstetigen territoriale Ungleichheit und soziale Polarisierung im Gefüge eines urbanen Großraums. Sie binden fiktives Kapital in den Stadtraum, verdrängen Einwohnende im unteren Drittel der Einkommensskala in Stadtrandbezirke, zerstören dabei sozialräumliche Ressourcen und schränken den alltäglichen Zugang zu den Infrastrukturen und öffentlichen Einrichtungen der
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Ich entnehme diese Beobachtung der Feststellung eines Immobilienmaklers im Film »Die Stadt als Beute«, Regie: Andreas Wilcke, Berlin, 2015. Zum Vergleich: Der durchschnittliche Kaufpreis pro Quadratmeter einer Berliner Wohnung lag im ersten Quartal 2019 bei 4200€ (Berliner Sparkasse o.J.).
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Innenstadt ein. Finanzialisierte Wohngebäude sind damit gleichzeitig Abstraktion globalisierter Kapitalflüsse und ein konkretes Instrument der Vermittlung und Stabilisierung dominierender Machtverhältnisse und urbaner Segregation.12
Vom Luxus des Gebrauchswerts. Architektonische Strategien für urbane Gemeinnützigkeit Eine Architektur des Wohnens kann jedoch ebenso der Schlüssel sein, um einen nachhaltigen Umgang mit Ressourcen bewusst zu leben und die gemeinschaftliche Nutzung dieser Ressourcen möglich zu machen.13 Der Unterschied zwischen beiden Versionen der gesellschaftspolitischen Wirksamkeit von Architektur – finanzialisiert oder gemeinnützig – wird verständlich, wenn Architektur und territoriale Regulation gemeinsam ins Blickfeld genommen werden. Anders gesagt: Die impliziten und expliziten Normen, Gesetze und Moralvorstellungen, die den Besitz und die Nutzung von Boden und Wohnraum regulieren innerhalb eines urbanen Gefüges, zueinander in Verhältnis zu setzen (sprich: die territoriale Regulation), ist essentiell zum Verständnis der Wirksamkeit von gebauter Form. Anhand von vier Berliner Projekten und einem Projekt aus Bremen zeige ich im Folgenden eine Serie von Strategien auf, wie architektonische Gestaltung, verstanden als Prozess, im Zusammenspiel mit territorialer Regulation zu urbaner Gemeinnützigkeit beiträgt.14 Die ersten drei Strategien kleine Eingriffe, flexible Standardisierung und typologische Angebote handeln vom Luxus des Gebrauchswerts, den Architektur in bestimmten urbanen und regulativen Situationen ermöglichen kann: Das heißt, sie handeln von der konkreten Qualität von Nutzungsroutinen innerhalb einer Wohnung, eines Quartiers und einer Stadt. Die letzten beiden Strategien Recht auf Stadt und organisatorische Software erweitern das konventionelle Architekturverständnis um die Ebene des Zugangs zur Ressource Boden und die Ebene der Verwaltung und Organisation.
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Zu dieser Auslegeordnung finanzialisierter Architektur als konkreter Abstraktion siehe auch Gabrielsson/Mattsson 2017; Martin 2011. Diese Formulierung verdanke ich der Züricher Stadtplanerin Sabine Wolf, geäußert in einem Gespräch mit Rebekka Hirschberg, Susanne Schindler und der Autorin am 29.1.2020. Ich interpretiere den Begriff der Gemeinnützigkeit an dieser Stelle philosophisch und nicht juristisch oder ökonomisch, das heißt, als Praxis, die dem Gemeinwohl (als Voraussetzung und Ressource für ein gelingendes Leben) möglichst vieler Mitglieder einer Gesellschaft dient.
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Kleine Eingriffe Die von Niloufar Tajeri und Walter Nägeli untersuchten »Kleinen Eingriffe« bezeichnen die programmatische Strategie und das ästhetische Resultat von Umnutzungsprojekten, die die Schere von minimalen Baukosten bei maximalem Gebrauchswert zusammenführen (vgl. Nägeli/Tajeri 2016). Im Bestandsgebäude wird ein anderes Nutzungs- und Lebensmodell umgesetzt, aber die Baukosten – und damit auch die späteren Mieten – bleiben so gering wie möglich. Für Architekturschaffende bedeutet dies architektonische Fürsorgearbeit, das heißt, ein Mehr an Arbeit, um kluge Lösungen zu entwickeln, um am Ende weniger Honorar ausbezahlt zu bekommen. Ästhetisch bedeutet dies ein Verneigen vor dem Bestand, und zwar auch dann, wenn dieser – wie etwa bei einem DDR-Plattenbau – den ästhetischen Norm- und Wertvorstellungen der zukünftigen Nutzer/-innen nicht entspricht. Die »WiLMa19«, der Umbau eines ehemaligen Verwaltungsgebäudes der DDR in Berlin-Lichtenberg, veranschaulicht diese Strategie. Das Gebäude wurde aus dem Liegenschaftsfonds der Stadt entlassen und zu einem gemeinschaftlich selbstverwalteten Haus nach den Regularien des Mietshäusersyndikats umgewandelt. Durch das geschickte Gegeneinanderstellen von Interessen durch die rechtliche Verkopplung von Hausvereinen und Gesamtgesellschaft m.b.H. gelingt es dem Mietshäusersyndikat, Wohnraum dauerhaft der Gewinnlogik des Marktes zu entziehen: Weder Hausgemeinschaft noch der Verbund aller Syndikat-Projekte können unabhängig voneinander über einen Verkauf entscheiden. Ziel des Umbauprojektes der »WiLMa19« war es, das Verwaltungsgebäude der DDR mit seiner starren Korridorstruktur in einen Wohnraum für gemeinschaftliche Lebensformen zu transformieren und eine deutlich geringere Quadratmetermiete zu erreichen als der örtliche Mietspiegel. Am Ende lagen die Baukosten bei 425 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche und die Nettokaltmiete bei Fertigstellung im Jahr 2016 bei 4,70 Euro, das heißt, einen Euro unter dem Ostberliner Mietspiegel.15 Die architektonischen Eingriffe zum Umbau entsprachen den sozialen und politischen Zielen: Die Architekten Arge Clemens Krug und Bernhard Hummel Architekten ließen den Plattenbau, seine Fassade, seine Konstruktion, seine städtebauliche Geschlossenheit weitgehend intakt und verzichteten auf eine Anhebung des Standards im Innenausbaus. Die Umbaumaßnahmen beschränkten sich auf eine begrenzte Zahl größerer Durchbrüche durch Wände und Decken der Stahlbetonkonstruktion und eine ebenso beschränkte Zahl neuer Einbauten. Allein mit diesen Maßnahmen konnte die Korridorstruktur in 14 unterschiedliche Grundrisstypen für gemeinschaftliches Wohnen umgewandelt werden. Details des 15
Zum Vergleich: Der von der Beraterfirma »f&b« ermittelte Mietspiegelindex für Ostberlin lag 2016 bei 5,85 €/m2 , siehe https://www.f-und-b.de/beitrag/fb-mietspiegelindex-2016veroeffentlicht.html (Zugriff am 23.03.2020).
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Abbildung 1: WiLMa19, Berlin-Lichtenberg. Mietshäusersyndikat/Arge Clemens Krug und Bernhard Hummel Architekten, 2014-16 Quelle: © WiLMa19
Innenausbaus des Verwaltungsgebäudes wie etwa die Aufputz-Steckdosen blieben jedoch unverändert. Der Bestand wurde lediglich so weit transformiert, dass eine neue Nutzung möglich geworden ist, aber die ursprüngliche Funktion und Konstruktionsweise bleiben sicht- und spürbar.16 Der Luxus des Gebrauchswerts liegt hier sowohl in den neuen Grundrissdispositionen gemeinschaftlichen Wohnens als auch in den Zeit- und finanziellen Spielräumen, die durch die günstigen Mieten eröffnet werden.
Flexible Standardisierung Die Strategie der flexiblen Standardisierung setzt dort an, wo der gemeinnützige Wohnungsbau in Deutschland in den 1970er Jahren scheiterte: nämlich an der Notwendigkeit, für vielfältig ausdifferenzierende Haushalts- und Lebensmodelle flexi-
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Für eine genauer Beschreibung der Umbaumaßnahmen, siehe Nägeli/Tajeri 2016.
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Abbildung 2: WiLMa19. Innenansicht nach der Renovierung Quelle: © WiLMa19
ble Grundrisstypologien kostengünstig und in großer Zahl zu entwickeln.17 Ähnlich wie bei einem fordistischen Industrieprodukt ist es das Ziel flexibler Standardisierung, bessere Qualität und hohe Stückzahlen bei sinkenden Kosten zu erreichen, im Fall des Wohnungsbaus, eine breite Vielfalt an Grundrisstypen anbieten zu können, ohne entscheidende Mehrkosten in Kauf nehmen zu müssen. Die Strategie der flexiblen Standardisierung betrifft heute insbesondere die behutsame städtebauliche Nachverdichtung der Neubauquartiere der Boomjahre der Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts im Zusammenspiel mit dem öffentlich geförderten gemeinnützigen Wohnungsbau. Ein Fallbeispiel ist der »Bremer Punkt« des Architekturbüros LIN. Ausgangslage dieses Projektes war ein Wettbewerb der Bremer Wohnungsbaugesellschaft »GEWOBA« von 2011, dessen Auslobung nach standardisierten Wohntypen zur Nachverdichtung von Wohnquartieren der Nachkriegszeit fragte: bezahlbar, nachhaltig gebaut und aufnahmebereit für ein breites
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Zu den Hintergründen der Abschaffung des Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetze (WGG) von 1940 im Rahmen der Steuerreform von 1990s, siehe Kockelkorn 2017 sowie Krüger in diesem Band.
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Spektrum von Haushalts- und Bewohnerstrukturen. Für diese Aufgabe entwickelte LIN ein Set aus standardisierten Konstruktions- und Grundrisselementen, deren 22 Grundrisstypen zu viergeschossigen Häusern mit quadratischer Grundfläche zusammengesetzt werden können (14x14m): pro Haus vier bis elf Wohnungen, von der Einraumwohnung bis zum Sechs-Zimmer-Apartment. Der Luxus des Gebrauchswerts dieses Systems entsteht durch die kombinatorische Vielfalt an unterschiedlichen Haushalts- und Lebensformen und deren Integration in eine kompakte urbane Form. Dabei erfüllt das Projekt mit einer konstruktiven Holzbauweise zugleich Kriterien des langfristigen Investierens und der Nachhaltigkeit und bietet mit einer Fußbodenheizung technischen Komfort.
Abbildung 3: Bremer Punkt. GEWOBA Bremen/LIN, 2011-laufend. Grundriss-Bausatz Quelle: © LIN
Typologische Angebote Der Luxus des Gebrauchswerts entsteht beim »Bremer Punkt« jedoch nicht zuletzt durch die architektonische und ökonomische Entscheidung, die Wohnungen mit raumhoch verglasten Loggien auszustatten. Die nach Innen gezogene Loggia verringert den möglichen Mietpreis und ist teurer zu realisieren als ein angehängter Balkon. Doch gerade für die älteren Bewohner/-innen des Quartiers bietet sie die besondere Qualität des geschützten Beobachtens. Ein schwerhöriger älterer Be-
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Abbildung 4: Bremer Punkt. Außenansicht eines realisierten Wohnwürfels auf 14 x 14 Meter Grundfläche; Abbildung 5: Bremer Punkt. Wohnküche mit Loggia Quelle: © Nikolai Wolff, Fotoetage
wohner erklärte dazu, die Loggia sei ihm der liebste Ort in der Wohnung, der ihm die Möglichkeit gäbe, »Mittendrin« zu sein – in der eigenen Wohnung und im Außenraum.18 Die mit Loggien versehene Fassade ist ein typologisches Angebot, das heißt, ein räumliches und ästhetisches Dispositiv, das die Beziehungen zwischen Stadt und Haus, Individuum und Gemeinschaft, Privatheit und Öffentlichkeit artikuliert.19 Solche typologischen Angebote sind strategisch einsetzbar und vermitteln in der entsprechenden regulativen Ausgangslage nicht nur den Luxus des Gebrauchswerts einer Wohnung, sondern auch den einer Nachbarschaft. Beim »Bremer Punkt« bietet die Loggia einerseits den Bewohnenden einen Mehrwert an Wohnqualität und nimmt andererseits auf den Kontext der Nachverdichtung Rücksicht. Die großen Fassadenöffnungen liegen innerhalb der Fassadenlinie des Wohnwürfels. Sie erlauben damit Einblicke, forcieren aber nicht die Projektion des Privaten in den Außenraum. Typologische Angebote tauchen auch beim IBeB auf, dem »Integrativen Bauprojekt am ehemaligen Blumengroßmarkt« in Berlin-Mitte, geplant und realisiert von »Heide & von Beckerath« und »ifau – Institut für angewandte Urbanistik«, geplant und realisiert zwischen 2012 und 2018. Die gemischte Nutzungs- und Eigentümergemeinschaft der IBeB GbR ist zu etwa einem Viertel in genossenschaftlichem Besitz; der Rest befindet sich im Besitz privater Eigentümer/-innen. Für 18 19
Gespräch mit Kaye Geipel bei einer Ortsbegehung im Rahmen der Jury für den Bremer Wohnbaupreis, 20.10.2017. Mit dem Begriff des Dispositivs verweise ich darauf, dass es hier weniger um die Form an sich geht, als um ein Netz an Beziehungen, das Materialität, Regierungstechniken und soziale Praxis verbindet, siehe Foucault 1978; Deleuze 1991.
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diese gemischte Gruppe an Mietenden und Besitzenden schafft die Architektur im Zusammenspiel mit der Programmierung langfristige Gebrauchswerte – und damit letztlich auch einen langfristig monetär messbaren Mehrwert. Ein Beispiel dafür ist die Erschließungshalle, die im zweiten Obergeschoss das Gebäude längs durchzieht und zu den durchgesteckten Maisonettewohnungen führt, ähnlich wie bei der Unité d’Habitation Le Corbusiers. Aber anders als beim historischen Vorbild ist die »Straße« hier mit einer Serie punktueller Lichthöfe ausgestattet, die den fensterlosen, dunklen Korridor der Unité in eine einladende Sequenz von Hell und Dunkel verwandeln. Kein auf Profitmaximierung und Verkauf fokussierter Investor würde solche komplexen und kostspieligen Erschließungsräume realisieren, die die zwischenmenschlichen Beziehungen der Wohngemeinschaft durch Blickbeziehungen und Aufenthaltsqualitäten unterstützten, zusammenhalten – und von den Bewohnenden einfordern.
Abbildung 6: Integratives Bauprojekt am ehemaligen Blumengroßmarkt (IBeB), BerlinKreuzberg. Selbstbaugenossenschaft Berlin eG & Eigentümergemeinschaft/ ifau, Heide & von Beckerath, 2012-2018. Grundriss 3.OG Foto: Andrew Alberts
Abbildung 7: IBeB. Querschnitt Quelle: © ifau, Heide & von Beckerath
Während die Erschließungshalle des IBeBs in erster Linie der Hausgemeinschaft selbst zugutekommt, dient die Artikulation der Dachterrasse auch der Stadt
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Abbildung 8: IBeB. Außenansicht von der Lindenstraße; Abbildung 9: IBeB. Spielplatz auf der Dachterrasse Foto (Abb. 8): Andrew Alberts; Foto (Abb. 9): Anne Kockelkorn
und ihren Bewohner/-innern. Programmatisch ist auf der letzten Etage des Gebäudes die gewerbliche Nutzung und, Richtung Jüdisches Museum, eine Gemeinschaftsterrasse platziert, und zwar hinter einer fensterlosen Fassadenwand. Damit bietet die Dachterrasse ihren Nutzer/-innen zwar Luft, Licht, und Himmel, aber keinen Ausblick. Hausgemeinschaft und Öffentlichkeit sind klar voneinander getrennt und geschützt. Architektinnen und Bauherrinnen verzichteten auf die Kommodifizierung des Stadtpanoramas und die Geste der Dominanz durch den Blick von oben – wie dies etwa bei einer verglasten Loftwohnung mit privatem Balkon der Fall gewesen wäre.
Recht auf Stadt. Konzeption und Vermittlung bodenpolitischer Instrumente Die zwei letzten Strategien erweitern den Architektur- und Gestaltungsbegriff um die politische Ökonomie von Regierungstechniken. Sie sind in der gegenwärtigen Ausgangslage finanzialisierter Stadtproduktion essentiell, um mittels architektonischer Strategien einen gemeinnützigen Zugang zu Ressourcen erschließen zu können. Die erste der beiden Strategie betrifft die Verfügungsgewalt über Bodennutzung. Erbbaurecht, Community Land Trusts, Bodenfonds, Bodensicherungsgesetze und der Grundstücksvorrat der öffentlichen Hand sind Instrumente einer gemeinnützigen Bodenpolitik, die es möglich machen, langfristig über Stadt- und Wohnraum zu verfügen (vgl. dazu Rödl, Debrunner et al. und Lichtenberg in diesem Band). Langfristig bezieht sich hier auf Zeiträume ab hundert Jahren, in etwa zwei Lebenszyklen einer nachhaltig geplanten Immobilie: ein dezidierter Gegensatz zum kurzen Zeitraum von 15 bis 30 Jahren, wie er der Belegungsbindung des sozialen Wohnungsbaus in Westdeutschland seit den 1950er Jahren entspricht. Bo-
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denpolitische Instrumente langfristiger Planungshorizonte sind deshalb für den Architekturentwurf so entscheidend, weil sie es ermöglichen, den Gestaltungsprozess an der Dimension des Gebrauchswerts auszurichten. Zudem ist die Erschließung bodenpolitischer Instrumente als einzige der in diesem Text genannten Strategien dazu in der Lage, der Verstetigung sozialer Ungleichheit und Segregation innerhalb des territorialen Gefüges urbaner Großräume entgegenzuwirken: Sie sind der »Grund«, auf dem die »Figur« der Architektur in Erscheinung tritt.20 Die Konzeption und Vermittlungsarbeit bodenpolitischer Instrumente gehören damit essentiell zum Set der architektonischen Strategien für eine neue Gemeinnützigkeit. Henri Lefebvre war einer der ersten Philosophen und Stadtsoziologen, der die Relation zwischen territorialen Prozessen und der »konkreten Utopie« des architektonischen Projektes erkannt und theoretisch erfasst hat (vgl. Schmid 2005).21 Das kurz vor den Ereignissen von Mai 1968 verfasste Manifest »Recht auf Stadt« (Lefebvre 1968) verbindet die abstrakte Dimension der Bodenpolitik mit der konkreten Frage, wo und wie Leute innerhalb eines urbanen Großraums schlafen dürfen und wie sie, davon ausgehend, ihren Alltag organisieren können. Ein Berliner Beispiel, wie Bodenpolitik, die Forderung nach »Recht auf Stadt« und architektonische Vorstellungskraft zusammenspielen, ist das Quartier »Haus der Statistik« in Berlin. Auf Initiative des Vereins ZKB – »ZUsammenKUNFT Berlin eG« – konnte es gelingen, die Ruine des »Haus der Statistik« am Berliner Alexanderplatz als Bestandsgebäude zu erhalten und ein komplexes gemeinnütziges Umnutzungsprojekt zu entwickeln. In Zusammenarbeit mit dem Berliner Senat, der öffentlichen Wohnungsbaugesellschaft WBM und der BIM (Berliner Immobilien Management GmbH) entstehen hier Räume für Kultur und Bildung, bezahlbares Wohnen und ein neues Rathaus.22 Hier ist nicht nur entscheidend, dass dieses Projekt realisiert werden wird, sondern wo, nämlich an einem der zentralsten und am besten zu erreichenden Orte der Stadt.
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Ich erweitere hier das formalästhetische Figur-Grund-Motiv der klassischen Städtebaulehre um die Dimension der Machtverhältnisse, die in jede Bodenpolitik mit eingeschrieben sind und richte den Blick auf die »partiellen Verbindungen« (siehe Strathern 1991), unter denen das Figur-Grund-Motiv unter spezifischen politischen Bedingungen und historischen Kontexten in Gebrauch genommen werden kann. Für eine klassische Auslegung des Figur-GrundMotivs siehe Rowe/Koetter 1978. Zur konkreten Utopie des architektonischen Projekts bei Henri Lefebvre siehe auch Stanek 2011, S. 165-248: Project. Urban Society and Its Architecture. Weiterführende Informationen zum Modellprojekt Haus der Statistik unter https://hausderstatistik.org/koop5/
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Abbildungen 10 und 11: Quartier aus der Statistik, Berlin-Mitte. Koop5/ Teleinternetcafe und Treibhaus. Stand des Ergebnisses des Werkstattverfahrens von Februar 2019 Quelle: ©Teleinternetcafe und Treibhaus
Organisatorische Software. Konzeption und Vermittlung von Architektur Die zweite Strategie, die den Architekturbegriff um die politische Ökonomie von Regierungstechniken erweitert, ist die »Organisatorische Software«. Mit diesem Begriff bezeichnet der Generalintendant der IBA’27 in Stuttgart, Andreas Hofer, jene Arbeit, die für die demokratische Verwaltung und Aneignung von Gemeinschaftsgütern notwendig ist.23 Organisatorische Software spielt vor allem für Wohnungsbaugenossenschaften eine Rolle, aber auch für andere gemeinnützig organisierte Verwaltungsformen des Wohnens. Einerseits sind Genossenschaften eigenständige wohnungswirtschaftliche Betriebe, die innerhalb eines kapitalistisch organisierten Wohnungs- und Bodenmarktes wirtschaften müssen. Andererseits fungieren sie als gemeinnützige Wohnbauträger, die das Ziel einer langfristigen Verwaltung und Bewirtschaftung verfolgen und mit dem Instrument der Kostenmiete keine Gewinne erwirtschaften. Dieser Balanceakt zwischen ökonomischer Funktionalität, Gemeinnützigkeit und Selbstverwaltung erfordert eine organisatorische Software, die sowohl das Kuratieren der inneren Verwaltungsprozesse übernimmt als auch die Vermittlung nach Außen garantiert.24 23 24
»Bauen für Morgen. Die IBA StadtRegion Stuttgart 2027«, Vortrag von Andreas Hofer im Rahmen des Entwurfsstudios von Anne Lacaton, ETH Zürich, 02.10.2018. Jüngere und experimentelle Züricher Genossenschaften wie »Mehr als Wohnen« (2007) entwickeln ihre Programme und Bauvorhaben in jahrelangen Verhandlungsprozessen mit Bewohner/-innen und Verwalter/-innen und größere Projekte wie die Kalkbreite oder das Hunziker-Areal beschäftigen später einen Concierge, der nicht nur die Schlüssel für die Gästeund Hotelzimmer bereit hält, sondern auch andere interne Kommunikationsfunktionen erfüllt. Alle größeren Zürcher Genossenschaften beschäftigen ein bis zwei Öffentlichkeitsarbeiter/-innen.
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Zwei Argumente veranschaulichen, weshalb die Konzeption und Vermittlung der genossenschaftlichen Selbstorganisation als »Software« auch als architektonische Arbeit definiert werden sollte. Erstens, weil durch sie sowohl neue Programme und neue Typologien entstehen wie ein Clustergrundriss, eine lichtdurchflutete Erschließungshalle oder ein Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss. Zweitens, weil Architektur erst im Zusammenspiel von Programmierung, Typus und Unterhaltsorganisation gesellschaftspolitisch wirksam wird. Organisatorische Software verbindet Gestaltung und Gestalt unmittelbar mit der Dimension des Gebrauchswertes und dem Ort gelebter sozialer Praxis und unterstellt die Frage nach Produktivität dem Kriterium der Gemeinnützigkeit. Der Blick auf organisatorische Software eröffnet an dieser Stelle auch den Blick auf die geisterhafte Eigenschaft von Wohnungsbau, im Sinne eines Immobilienproduktes innerhalb des Marktes einen Preis zu haben und, im Sinne des Gebrauchswertes für soziale Reproduktionsarbeit, außerhalb des Marktes benutzt zu werden.25 Sie macht die Grenze zwischen Kommodifizierung und Dekommodifizierung von gebauter Umwelt spürbar und stellt den Nutzen einer lediglich monetär definierten Wertschöpfung in Frage.
Fazit 100 Jahre nach dem Bauhaus und dem Neuen Bauen der Weimarer Republik geht es für Architekt/-innen heute nicht mehr darum, das Existenzminimum zu behausen, sondern das Gesellschaftsminimum zu konzipieren. Im Wohnungsbau artikuliert sich dieses Gesellschaftsminimum zum einen anhand der Frage, wie Wohnraum dauerhaft dem Markt entzogen und trotzdem innerhalb einer kapitalistischen Ökonomie rentabel betrieben werden kann. Beide Fragen beantworten sowohl die Forderung nach einem Recht auf Stadt durch bodenpolitische Instrumente als auch die organisatorische Software des gemeinnützigen Wohnungsbaus: Gemeinsam adressieren sie die Triade von Langfristigkeit, Nachhaltigkeit und Gemeinnützigkeit. Wird Boden einem am Gemeinwohl orientierten Zweck zugeschrieben, und produziert die organisatorische Software konsequente Repräsentationen des Gebrauchswerts von Wohnraum, verschwindet auch das Charakteristikum des finanzialisierten Wohnungsbaus, nämlich die extreme
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Zu den Prämissen der kapitalistischen Ökonomie, deren Existenz viele Analysen stillschweigend voraussetzen, aber weder kommentieren noch als integralen Teil eines funktionierenden Marktes anerkennen – unbezahlte Reproduktionsarbeit, unbegrenzte Ausbeutung natürlicher und sozialer Ressourcen sowie die schützende Gesetzgebung und Normung durch Nationalstaaten und globalisierte Institutionen (zusammengenommen das unsichtbare »Außerhalb« des Marktes) – siehe Fraser 2014; für dessen Konsequenzen für ein Architekturdenken der Gegenwart, siehe u.a. Gabrielsson/Mattsson 2017.
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Diskrepanz der unterschiedlichen Repräsentationen von Architektur. Repräsentationen von Gestalt, Gebrauchswert und soziale Praxis von Architektur können in diesem Moment wieder leichter auf einen sinnvollen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Zum anderen artikuliert Wohnungsbau das Gesellschaftsminimum der Gegenwart anhand seiner architektonischen und städtebaulichen Form: dazu gehören Gemeinschaftseinrichtungen und Grundrissangebote für sich immer weiter ausdifferenzierende Lebensmodelle; die sozialräumliche Durchlässigkeit des Erdgeschosses; und der gegenseitige Schutz und die Übergänge zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Organisatorische Software, typologische Angebote, flexible Standardisierung und kleine Eingriffe sind Strategien, die diese Forderungen des Gesellschaftsminimums thematisieren und umsetzen können. In der Verbindung dieser Strategien wird Architektur zum Prozess, der die Dimensionen von Gemeinnützigkeit, Gemeinschaftlichkeit, Wohlbefinden und individuellem Selbstwert räumlich artikuliert. Dieses prozesshafte Architekturdenken verbindet die Reflektion über Form, Gestalt, Stil und Bedeutung von Architektur mit der sozialen Praxis ihres Gebrauchs und der territorialen Regulation ihres Standorts. Dies ist etwas grundlegend anderes, als Stilkritik zum Zweck diskursiver Machtdemonstration zu betreiben und auf einer metaphorischen Ebene darüber zu streiten, was etwas bedeutet oder nicht.
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Wohnungsbau für das Gesellschaftsminimum
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Wohnungsfrage(n) und die Rekommunalisierung von Wohnraum
Wohnraum als soziale Infrastruktur Ansätze zur (Re-)Kommunalisierung von Wohnraum betrachtet am Beispiel Berlin Inga Jensen
Seit im Juni 2019 mehr als 77.000 Menschen ein Berliner Volksbegehren unterschrieben, das die »Enteignung«, bzw. Sozialisierung der größten Berliner Wohnungsunternehmen fordert, ist eine breite gesellschaftliche Debatte entbrannt: Wie können angesichts des sich stetig weiter verknappenden Wohnungsmarktes und steigender Mieten Wohnungsbestände in kommunales Eigentum (rück-)überführt werden? Das große Interesse mag überraschen, wurden (Re-)Kommunalisierungen bis vor einigen Jahren doch fast ausschließlich im Bereich der technischen und netzgebundenen Infrastrukturen – etwa bei Strom- und Wassernetzen – diskutiert. Jedoch ist in den vergangenen Jahren im Bereich der Wohnraumversorgung wie in nahezu keinem anderen Politikfeld eine Verschiebung des gesellschaftlichen Diskurses und des damit verknüpften Handlungsspielraums politischer Akteure zu beobachten. Während die marktliberale Politik der Privatisierung, wie sie in den 2000er Jahren dominant war, im öffentlichen Diskurs in die Defensive geraten ist, wird nun über die (Rück-)Überführung von Wohnraum in öffentliches und damit meist kommunales Eigentum sowie über mögliche Instrumente zur Implementierung dieses Ziels diskutiert. Das neue Interesse an diesen hier als (Re-)Kommunalisierung von Wohnraum gefassten Handlungsansätzen spiegelt sich quantitativ in der Presseberichterstattung1 wider (siehe Abb.1). Im Zeitraum zwischen den Jahren 2000 und 2009 sind die Worte »Rekommunalisierung« und »Wohnraum« in nur insgesamt acht Presseartikel gemeinsam verwendet worden. Dieser Wert hat sich in den 2010er Jahren vervielfacht, wobei eine stark wachsende Tendenz zu beobachten ist (vgl. WiSONet). So wurde allein im Jahr 2017 der Begriff »Rekommunalisierung« in Bezug auf »Wohnraum« insgesamt 23-mal verwendet, 2018 bereits 39-mal und im Jahr 2019
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Die Daten beruhen auf einer systematischen Stichwortsuche nach den Begriffen »Wohnraum« und »Rekommunalisierung« in den 167 deutschen Presseerzeugnissen der »WiSO-Net Zeitschriftendatenbank« für den Zeitraum zwischen dem 01.01.2000 und dem 31.12.2019.
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wurde in insgesamt 86 Artikeln über die »Rekommunalisierung« von Wohnraum berichtet (ebd.).
Abbildung 1: Presseberichte über »Wohnraum« und »Rekommunalisierung« Quelle: Eigene Darstellung, Daten: WiSo-Net Datenbank.
Zu beobachten ist aber nicht nur eine Verschiebung im medialen Diskurs, sondern auch eine Zunahme an erfolgten (Rück-)Überführungen von Wohnraum in öffentliches bzw. kommunales Eigentum. Dies lässt sich seit 2015 insbesondere in Berlin beobachten. Zudem sind vielfältige zivilgesellschaftliche Aktivitäten auszumachen, die die (Re-)Kommunalisierung von Wohnraum explizit thematisieren. Neben der Berliner Initiative »Deutsche Wohnen & co enteignen«, die für eine Vergesellschaftung der größten Berliner Wohnungsunternehmen eintritt, können beispielsweise noch der »Mietentscheid Frankfurt«, der für leistbaren kommunalen Wohnungs(neu)bau eintritt, oder auch die bundesweiten Bürgerinitiativen für neue kommunale Wohnungsunternehmen genannt werden. Bisher sind diese Entwicklungen weder aus einer wissenschaftlichen Perspektive noch theoretisch reflektiert und im Hinblick auf ihre institutionelle Trag- und politische Durchsetzungsfähigkeit, aber auch ihre tatsächlichen Potentiale hinsichtlich der Bereitstellung bezahlbaren Wohnraums überprüft worden. Diese Fragen aufgreifend betrachtet der vorliegende Beitrag, anknüpfend an die theoretischen Perspektiven zur (Re-)Kommunalisierung technischer Infrastrukturen, Strategien zur (Re-)Kommunalisierung von Wohnraum am Beispiel der Stadt Berlin. Hierfür wird zunächst die Rolle der Wohnraumversorgung in der Infrastrukturde-
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batte dargestellt und anschließend diskutiert, inwieweit der Begriff der (Re-)Kommunalisierung in Bezug auf die Wohnraumversorgung genutzt werden kann. Am Beispiel von Berlin wird diese Konzeptionalisierung sodann unter Zugriff auf die in Berlin genutzten Instrumente zur Übertragung von Wohnraum in Gemeineigentum konkretisiert und erweitert. Schlussendlich werden Potentiale und Schwächen der Instrumente für die Ausweitung bezahlbarer Wohnungsbestände skizziert.
Die (Re-)Kommunalisierung von Wohnraum im Kontext von Wohnungspolitik und Infrastrukturforschung Die gegenwärtige Debatte und Praxis der (Re-)Kommunalisierung von Wohnraum findet in einem politisch und diskursiv bereits vorstrukturierten Feld statt. Wesentlich sind neben der Transformation der Wohnraumversorgung allgemein hier vor allem drei Entwicklungen: 1. In den vergangenen Jahrzehnten wurden in großem Maßstab kommunale Wohnungsbestände und Infrastrukturen privatisiert. Die Zahl der kommunalen Wohnungsbestände sank bundesweit zwischen 1995 und 2010 um mehr als eine Millionen Wohnungen (Holm 2010; Holm et al. 2017). Allein in Berlin nahm die Zahl der landeseigenen2 Wohnungen hierbei stark ab und sank von 480.000 landeseigenen Wohnungen zu Beginn der 1990er Jahre auf 290.000 Wohnungen im Jahr 2009 (Holm et al. 2016: 17). 2. Die Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit Ende der 1990er Jahre und das Auslaufen der Belegungsbindungen im sozialen Wohnungsbau führten zu einer Verknappung leistbaren Wohnraums auf dem Wohnungsmarkt (vgl. Kuhnert/Leps 2017; Holm et al. 2017). 3. Der Ausbruch der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise im Jahr 2008 und die darauffolgende Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank führten schließlich zu einer »Flucht« von anlagesuchendem Kapital in das sogenannte »Betongold« (Scharmanski 2012: 15; Heeg 2013). Insbesondere das vermeintlich krisensichere Deutschland wurde hierbei zum Sehnsuchtsort renditeorien-
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In Bezug auf Berlin wird in diesem Beitrag von »landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften« (LWU) anstelle von »kommunalen Wohnungsbaugesellschaften« gesprochen. Diese begriffliche Unterscheidung ergibt sich hierbei aus der Tatsache, dass in Berlin als Stadtstaat die Bezirke die kommunale Ebene darstellen, die Wohnungsbaugesellschaften jedoch 100% Tochtergesellschaften des Landes Berlins sind und dem Abgeordnetenhaus unterstellt sind. Dennoch wird in diesem Beitrag der Begriff der (Re-)Kommunalisierung verwendet, meint in Bezug auf das Berliner Fallbeispiel jedoch die (Rück-)Überführung in öffentliches und Landeseigentum.
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tierter Anleger/-innen, die auf weiter steigende Mieten- und Immobilienpreise spekulierten und so den Immobilienmarkt weiter anheizten (ebd.). Die in diesem Band vielfach geschilderten Folgen dieser Entwicklungen führten dazu, dass die Kommodifizierung der Wohnraumversorgung in den vergangenen Jahren weitgehend in Frage gestellt wurde. Insbesondere auf der kommunalen Ebene gab es eine deutliche Abkehr von der zuvor verfolgten Privatisierungspolitik. So wurden in einigen Kommunen öffentliche Wohnungsunternehmen neu gegründet, um der Wohnraumknappheit auf lokaler Ebene zu begegnen. Dies lässt sich exemplarisch am Beispiel Dresdens darstellen. Dort wird seit 2017 mit der Neugründung der »Wohnen in Dresden« (WID) eine kommunale Strategie des Wiederaufbaus von öffentlichem Wohnungsbestand verfolgt, nachdem im Jahr 2006 der komplette kommunale Wohnungsbestand privatisiert worden war3 . Ein anderes Beispiel ist die Stadt Kiel4 , wo nach der Privatisierung des einstigen kommunalen Kieler Wohnungsunternehmens KWG im Jahr 1999 zwanzig Jahre später nun ebenfalls die Neugründung eines kommunalen Wohnungsunternehmens beschlossen wurde.
Wohnen als (soziale) Infrastruktur Während (Re-)Kommunalisierungspraktiken erst seit kurzem im Bereich des Wohnens Anwendung finden, werden sie in anderen Infrastrukturbereichen bereits seit Jahren umgesetzt. Denn genau wie die kommunalen Wohnungsbestände wurden auch die technischen und netzgebundenen Infrastrukturen (wie beispielsweise die Strom- und Wasserversorgung) sowie die Abfallwirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten privatisiert, indem die Netzkonzessionen und Dienstleistungen von den Kommunen an private Unternehmen vergeben wurden. Mit dem Auslaufen vieler Nutzungs- und Betreiberverträgen in Verbindung mit den oftmals schlechten Erfahrungen mit der profitorientierten Bewirtschaf-
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In Dresden wurde im Jahr 2006 die kommunale Wohnungsbaugesellschaft »WOBA« mit ihren insgesamt 48.000 Wohnungen für 1,7 Milliarden € an den Immobilienkonzern »Fortress« verkauft. Durch diesen Verkauf wurde Dresden als erste deutsche Stadt schuldenfrei. Elf Jahre nach der Privatisierung wurde dann im Jahr 2017 die Neugründung eines kommunalen Wohnungsunternehmens (WID) beschlossen (Stadt Dresden 2017). In Kiel wurde das kommunale Wohnungsunternehmen KWG mit seinen knapp 12.000 Wohnungen bereits im Jahr 1999 für 128 Millionen € an einen privaten Immobilieninvestor verkauft. Nach mehrmaligen Weiterverkäufen sind die ehemals kommunalen Wohnungsbestände nun im Besitz des börsennotierten Immobilienkonzerns »Vonovia«. Im Jahr 2018 beschloss die Kieler Ratsversammlung nun die Gründung eines neuen kommunalen Wohnungsunternehmens (S-H Landtag 2006: 33; DMB S-H 2018).
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tung gelangte die Frage nach ihrer Rücküberführung in öffentliches Eigentum auf die politische Tagesordnung. Die daran anschließende gesellschaftliche Debatte führte zu einer (Re-)Kommunalisierungswelle im Bereich der Wasser- und Stromversorgung. So wurden zwischen 2007 und 2011 bundesweit in über 170 Fällen die Netzkonzessionen an die Kommunen zurückübertragen, während im selben Zeitraum, ebenfalls bundesweit, über 60 Stadtwerke neu gegründet wurden (Libbe et al. 2011: 7f.; Friedländer 2013: 30). Begründet wurde das Wiederaufgreifen der öffentlichen Dienstleistungen durch die Kommunen auf vielfältige Weise. Einerseits wurde die Unzufriedenheit der Nutzer/-innen mit der privatbetrieblichen Bewirtschaftung genannt. So hatten viele der beauftragten Betreibergesellschaften die Versorgungsqualität gesenkt und bei zumeist steigenden Anbieterpreisen gleichzeitig Investitionen in die Versorgungsinfrastruktur vermieden, um die Profitrate zu steigern. Andererseits strebten die Kommunen danach, Handlungs- und Gestaltungsmacht über die Infrastrukturen und ihre Bereitstellung zurückzugewinnen, und hofften zugleich auf positive finanzielle Effekte5 (Bauer 2012: 23; Friedländer 2013: 18; Libbe 2013; Matecki/Schulten 2013: 12f.; Schaefer/Papenfuß 2013: 76). Dies ist insofern interessant, als die meisten Privatisierungen gerade mit dem Argument der finanziellen Entlastung begründet worden waren. Tatsächlich gleichen sich also die Entwicklungen im Wohnen und bei den technischen Infrastrukturen. Davon unabhängig aber spricht auch konzeptionell vieles dafür, dass das Wohnen analog zu vulnerablen und »kritischen Infrastrukturen« (Libbe 2014: 31) wie Wasser, Wärme oder Strom als Infrastruktur zu verstehen ist. So kann Wohnen, ähnlich wie auch netzgebundene Infrastrukturen, als elementares Grundbedürfnis verstanden werden, dessen ausreichende Sicherung aufgrund der der kapitalistischen Marktwirtschaften inhärenten Profitorientierung durch private Unternehmen nicht gewährleistet wird. Darüber hinaus ist Wohnraum, wie andere Infrastrukturen auch, in der Herstellung schwerfällig sowie kostenintensiv 5
Vielfach wurden im Rahmen der Privatisierung von Infrastrukturen fiskalpolitische Gründe angeführt: So wurden öffentliche Infrastrukturen vielfach als Defizitgeschäfte angesehen und ihr Verkauf als Möglichkeit, Einnahmen für die Kommunen zu generieren. Inzwischen werden verschiedene Infrastrukturbereiche, insbesondere technische Infrastrukturen, als Möglichkeiten angesehen, kommunale Einnahmen zu generieren und auf diese Weise finanzielle Spielräume zu gewinnen. So erhoffen sich die Kommunen von öffentlichen Unternehmen »Finanzstabilität, Kostendeckung und einen sinnvollen Umgang mit Zuschüssen« (Friedländer 2013: 18) sowie positive Auswirkungen auf die Fiskalpolitik durch Gewinnabführungen und Steuereinnahmen (ebd.). Darüber hinaus werden kommunale Unternehmen »als ein Instrument angesehen, mit dem sich der regionale Arbeitsmarkt und die lokale Wirtschaft durch Vermeidung von Lohndumping stärken lassen« (Libbe et al. 2011: 5). Darüber hinaus könnten kommunale Unternehmen durch lokale Auftragsvergaben die Lokalwirtschaft und somit auch die lokale Kaufkraft stärken (Friedländer 2013: 19; Schäfer/Stoffels 2016: 32).
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und von hoher Persistenz, weshalb es von den meisten Nutzer/-innen nicht selbst erzeugt werden kann (Holm 2013; vgl. Schönig/Vollmer in diesem Band). Anders jedoch als viele netzgebundene Infrastrukturen wird Wohnraum deutlich individueller genutzt als es bei netzgebundenen Infrastrukturen der Fall ist. Dies deutet daraufhin, dass die (Re-)Kommunalisierung von Wohnraum breiter gedacht werden muss als im Bereich der netzgebundenen Infrastrukturen. So wird (Re-)Kommunalisierung in der Literatur zumeist als eine institutionelle Rückübertragung von Nutzungsrechten an Versorgungsnetzen verstanden. Dazu werden der Rückerwerb von Netzkonzessionen, eine Erhöhung von Unternehmensanteilen durch kommunale Betreiber und die Neugründung von kommunalen Unternehmen als hauptsächlich genutzte Formen der (Re-)Kommunalisierung genannt. Neben den oben dargestellten Unterschieden zwischen netzgebundenen Infrastrukturen und Wohnraum deutet insbesondere die Fokussierung auf eine Übertragung von Nutzungsrechten auf einen erheblichen Unterschied hin. Eine Übertragung des Begriffs bzw. des Konzepts (Re-)Kommunalisierung vom Bereich der netzgebundenen und technischen Infrastrukturen auf den Bereich des Wohnens ist somit nicht möglich, ohne diesem Unterschieden zwischen den Infrastrukturen selbst Rechnung zu tragen. Durch eine Betrachtung der Aktivitäten und Instrumente, mit denen im Land Berlin Wohnraum in öffentliche Bewirtschaftung bzw. öffentliches Eigentum (rück-)überführt werden soll, nähert sich dieser Text Begriff und Konzept der (Re-)Kommunalisierung im Bereich der Wohnraumversorgung an.
In der Berliner Praxis: Instrumente und Herausforderungen der (Re-)Kommunalisierung Für eine Untersuchung der aktuellen Entwicklungen im Bereich der (Re-)Kommunalisierung der Wohnraumversorgung bietet sich Berlin als Fallbeispiel an. Einerseits wurde hier in den vergangenen Jahrzehnten in großem Umfang landeseigener Wohnraum privatisiert, wodurch der Anteil landeseigener Wohnungen von 480.000 zu Beginn der 1990er Jahre um nahezu fünfzig Prozent (260.000) bis zum Jahr 2009 sank (Holm et al. 2016: 17). Den Höhepunkt dieser Privatisierungswelle stellte der Verkauf der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft GSW im Jahr 2004 mit über 65.000 Wohnungen dar, die sich mittlerweile im Besitz des börsennotierten Immobilienkonzerns »Deutsche Wohnen« (DW) befinden. Andererseits hat Berlin seit dem Ausbruch der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise einen starken Anstieg sowohl der Neuvermietungs- als auch der Bestandsmieten und daraus resultierend eine starke Verknappung des Wohnungsmarktes erfahren, welche von einer erstarkten Mieter/-innen-Bewegung begleitet wurde.
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Parallel zu den Privatisierungen der landeseigenen Wohnungsbestände wurden auch weitere kommunale Infrastrukturen wie die Wasser-, Energie und Gasnetze (teil-)privatisiert und nach Auseinandersetzungen zum Teil über Volksentscheide in den vergangenen Jahren wieder in kommunale Verantwortung überführt (vgl. Becker et al. 2016; Moss et al. 2015). Das Leitbild des »schlanken Gewährleistungsstaates« wurde in Berlin bereits frühzeitig durch Proteste und Organisationen, wie etwa den Berliner Wassertisch oder den Volksentscheid über die Rekommunalisierung der Energieversorgung, in Frage gestellt. Die Debatte und Praxis der Wohnraumrekommunalisierung findet daher in einem Umfeld statt, in dem seit Jahren aktiv um die Wiederaufnahme kommunaler Daseinsvorsorge gerungen wird. Vor diesem Hintergrund hat die Debatte um die Rekommunalisierung von Wohnraum in Berlin eine starke Dynamisierung erfahren. Wurde die Rekommunalisierung von Wohnraum vor zwei Jahren nahezu ausschließlich von sozialen Bewegungen thematisiert, ist diese Forderung heute im breiten gesellschaftlichen Diskurs, aber auch in der Praxis der Bezirke angekommen. Diese Praxis der Berliner (Re-)Kommunalisierung auf Landes- und Bezirksebene erweist sich allerdings als ein Potpourri unterschiedlicher Instrumente, Möglichkeiten und Forderungen, welche bisher weder systematisch aufgearbeitet noch evaluiert worden sind. Fünf Formen der Rekommunalisierung lassen sich derzeit identifizieren: 1. Der Ankauf großer privater (vormals staatlicher) Bestände durch die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften auf dem freien Wohnungsmarkt: Dies geschieht, wenn die bisherigen Immobilienbesitzer diese veräußern möchten und sich entweder direkt an die landeseigenen Immobiliengesellschaften wenden oder die Immobilien durch Bieterverfahren auf dem Immobilienmarkt erwerben. Beispiele für solche Ankäufe im großen Stil sind etwa das »Neue Kreuzberger Zentrum« (NKZ) (367 Wohnungen) das »Pallasseum« in Schöneberg (514 Wohnungen) oder das »Kosmosviertel« in Treptow (1812 Wohnungen). Das »Kosmosviertel« wurden in den 1990er Jahren von der Wohnungsbaugesellschaft »Stadt und Land« an ein privates Immobilienunternehmen verkauft und nun im vergangenen Jahr durch eben jene Wohnungsbaugesellschaft (»Stadt und Land«) zurückerworben. Das »Neue Kreuzberger Zentrum« sowie das »Pallasseum« wurden beide mit Fördermitteln des sozialen Wohnungsbaus (Erster Förderweg nach dem 2. Wohnungsbaugesetz) durch private Unternehmer in den Jahren 1974 bzw. 1977 errichtet und in den Jahren 2017 und 2018 von der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft »Gewobag« angekauft. 2. Das kommunale Vorkaufsrecht: Hierbei treten in Gebieten mit Erhaltungsverordnungen die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften (oder gemeinnützige Stiftungen) als vorkaufsberechtigte Dritte in bereits bestehende Kaufverträge zwischen zwei Parteien bei einem Immobilienverkauf in einem sozialen Erhaltungsgebiet ein, falls sich der Käufer einer Immobilie weigert, eine Abwen-
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dungsvereinbarung6 zu unterzeichnen und sich den Zielen des Milieuschutzes zu unterwerfen. Als vorkaufsberechtigte Dritte, zu deren Gunsten die Bezirke das Vorkaufsrecht ausüben können, kommen hierbei die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften aber auch gemeinnützige Genossenschaften, Stiftungen oder Vereine in Frage. Die Senatsverwaltung für Finanzen kann in diesem Prozess auch Zuschüsse als Eigenkapitalzuführungen an die Wohnungsbaugesellschaften bewilligen. Seit dem Frühjahr 2019 ist die eigens gegründete Mietergenossenschaft »DIESE e.G.«7 auch bereits mehrfach als vorkaufsberechtigter Dritter in Kaufverträge eingestiegen. 3. Der gestreckte Erwerb stellt ein Instrument dar, welches bisher erst einmal in Berlin zur Anwendung gekommen ist. Hierbei erwarben die Mieter/-innen der Karl-Marx-Allee, für deren Wohnungen im Besitz von »Predac« die »Deutsche Wohnen« ein Kaufangebot unterbreitet hatte, mit Hilfe von Krediten aus dem Landeshaushalt individuell ihre Wohnungen und verkauften sie im Anschluss direkt an eine landeseigene Wohnungsbaugesellschaft weiter, wodurch sie in Landeseigentum überführt werden sollten. Dies wurde möglich, da es sich um einen Erstverkauf nach Aufteilung handelte. Auf diese Weise sollten mit Hilfe dieses Instruments 670 Wohnungen an die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft »Gewobag« verkauft werden, wodurch eine Veräußerung an die »Deutsche Wohnen AG« verhindert werden sollte. Letztlich kam das Instrument jedoch nicht zur Anwendung, da sich die »Gewobag«, die Senatsverwaltung für Wohnen und der Voreigentümer »Predac« auf einen normalen
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Eine Abwendungsvereinbarung wird bei einem Verkauf in einem Milieuschutzgebiet von dem Käufer unterschrieben, um einen Ankauf der Immobilie über das kommunale Vorkaufsrecht abzuwenden. In der Abwendungsvereinbarung verpflichtet sich der Käufer die Ziele des Milieuschutzes zu berücksichtigen. Konkret regelt die Abwendungsvereinbarung etwa die zulässigen (baulichen) Veränderungen, die an der Immobilie vorgenommen werden können. Hierzu zählt klassischerweise, dass der Bezirk seine Einwilligung zu geplanten Modernisierungsmaßnahmen, wie etwa dem Einbau von Fahrstühlen und weiteren Bädern, also Maßnahmen, die den Wohn-, aber auch Marktwert der Immobilie stark steigern würden, zustimmen muss, aber auch Regularien zur Inanspruchnahme von Mitteln der sozialen Wohnbauförderung oder der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen (SenStadt 2019; Berliner Mieterverein 2019). Die »DIESE e.G.« ist eine Mietergenossenschaft, welche auf das maßgebliche Treiben des aktuellen Bezirksstadtrats von Friedrichshain-Kreuzberg, Florian Schmidt, im Frühjahr 2019 gegründet wurde. Das erklärte Ziel der Genossenschaft ist es, »dem Ausverkauf der Berliner Innenstadtbezirke eine andere Art des Umgangs mit dem Eigentum an urbaner Wohn-, Lebens- und Existenzgrundlage entgegenzusetzen, die den Menschen, die hier leben den Verbleib sichert und sie nicht verdrängt.« (DIESE e.G. 2020) Die Genossenschaft finanziert sich hierbei mit einem Modell der Anteilszeichnung durch Mieter/-innen, aber auch durch unterstützende Nachbarschaftsfonds und zinslose Förderkredite der »Investitionsbank Berlin Brandenburg« (IBB).
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Ankauf der Bestände durch das landeseigene Wohnungsunternehmen einigten, nachdem sich die »Deutsche Wohnen« aus verschiedenen Gründen aus dem Geschäft zurückgezogen hatte. 4. Der Neubau von Wohnraum durch die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften: Durch Nachverdichtungen, den Neubau ganzer Quartiere oder auch den Ankauf schlüsselfertiger Bauten von privaten Projektentwicklern wird nach Jahren des Neubaustopps das Angebot an Wohnraum durch die Kommune bzw. das Land Berlin wieder ausgeweitet. Dafür werden Projektentwicklungen einerseits aber auch Grundstücke andererseits genutzt, die sich bereits im Besitz der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften befinden, vom Land Berlin in diese Gesellschaften eingebracht werden oder angekauft werden. Beispiele wären hier etwa die »Pepitahöfe« in Berlin Spandau oder das »Mein Falkenberg« Projekt in Berlin Lichtenberg von »Gewobag«, »Gesobau« und »Howoge«. Für das »Mein Falkenberg« Projekt kauften die landeseigenen Gesellschaften fertige Projektentwicklungen auf Flächen an, die noch bis in die frühen 2000er Jahre hinein der »Howoge« gehörten, dann jedoch an einen privaten Investor bzw. Projektentwickler veräußert wurden. 5. Einen Sonderfall stellen die Modellprojekte zur Selbstverwaltung von Wohnraum unter kommunalem Dach dar: Ein Beispiel hierfür ist das Modellprojekt am Kottbusser Tor, das zur Unterstützung »selbstverwalteter Mietergenossenschaften« nach jahrelangem Druck der Mieter/-innen-Initiative 2016 in den Koalitionsvertrag der rot-rot-grünen Regierung aufgenommen wurde (Koalitionsvereinbarung 2016: 20). Gestützt auf eine lokale Studie, die die Bereitschaft und Fähigkeiten der Anwohner/-innen zur Beteiligung an »der Mit-Verwaltung ihrer Häuser« (Kotti-Koop e.V. 2018) untersuchte und zu dem Schluss kam, dass »es eine große Bereitschaft gibt, sich in tatsächlichen Mitbestimmungsformaten zu engagieren«, wird dieses Modellprojekt derzeit mit den Bewohner/-innen ausgestaltet (Koalitionsvereinbarung 2016: 20; Quelle Koalitionsvertrag, Kotti-Koop e.V. 2018). Wie der Blick auf Berlin zeigt, werden die Instrumente zur (Re-)Kommunalisierung von Wohnraum in der Praxis sehr unterschiedlich angewendet und ausgedeutet. Sie sind zugleich mit verschiedenen Herausforderungen und Problemen für die kommunale Praxis verbunden. Bislang kristallisieren sich hierbei besonders zwei Aspekte heraus, die im Folgenden näher beleuchtet werden sollen.
Steigende Preise und Spekulation Einige der Instrumente zur Rekommunalisierung und Bestandserweiterung, wie etwa der gestreckte Erwerb, der Bestandsankauf und insbesondere das kommunale Vorkaufsrecht, können sich den spekulativen Tendenzen auf dem Wohnungsmarkt
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nicht entziehen. So wurde das Vorkaufsrecht, welches zunächst als Drohkulisse der Bezirke etabliert wurde, um eine Abwendungsvereinbarung zu erzwingen, auch zu einem Geschäftsmodell für Investoren. Denn die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften steigen zu hohen Kosten in bereits bestehende Kaufverträge ein, zu denen ihnen häufig außer einer Mieterliste keine Vertragsdaten vorliegen (vgl. Interview LWU I). Die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften finanzieren dementsprechend die hohen Kaufpreise, während ihnen gleichzeitig aufgrund des Zeitdrucks und der fehlenden Informationen aus den Kaufverträgen keine wirkliche Prüfung des anzukaufenden Bestandes möglich ist. Nach Aussage der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften ist zudem zu beobachten, »dass auch die Marktteilnehmer auf das Verhalten, das die Bezirke und das Land Berlin an den Tag legen also auch reagieren. [...] Also die Kaufverträge werden immer spärlicher, die Informationen werden immer spärlicher [...] und die Preise sind enorm [...] angestiegen. [...] Am Anfang gab es nie eine Maklerklausel in den Verträgen. Jetzt ist eigentlich jeder Vertrag mit einer Maklerklausel [...] bestückt. [...] Wir reden hier nicht über zwei Prozent, sondern dann schon wirklich über die sieben Prozent.« (Interview LWU I) Nichtsdestotrotz führt das kommunale Vorkaufsrecht dazu, dass laufende Veräußerungsprozesse in sozialen Erhaltungsgebieten unterbrochen und Bestände an gemeinwohlorientierte vorkaufsberechtigte Dritte übertragen werden können. Auch wenn das kommunale Vorkaufsrecht wie beschrieben den Kaufpreis der Immobilie nicht beeinflussen kann, führt dessen Ausübung dennoch zu einer Dämpfung der Mietpreisentwicklung im Bestand und einer Veränderung der Eigentümerstruktur zugunsten gemeinwohlorientierter Eigentümer mit der Perspektive, Bestandsimmobilien langfristig der Preissteigerung zu entziehen. Es bleibt jedoch zu diskutieren, inwieweit ein Ankauf durch die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften in sozialen Erhaltungsgebieten zu anderen Konditionen möglich gemacht und das Instrument weiter geschärft werden könnte. Dass die Investoren mit der verstärkten Marktpräsenz der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften kalkulieren, zeigt auch das Beispiels eines privaten Verkäufers, der allen sechs Berliner Wohnungsbaugesellschaften unter einer Vertraulichkeitsvereinbarung dasselbe Objekt angeboten hat »in der Hoffnung, dass die sich gegenseitig dann überbieten. Das haben wir dann unterbunden, also die [landeseigenen Wohnungsunternehmen, I.J.] müssen sich abstimmen, wer wann wo auf dem Markt ist, wer mit welchem Investor spricht.« (Interview SenFin). Durch genauere Absprachen unter den verschiedenen Wohnungsbaugesellschaften wird nun versucht, zu vermeiden, dass die landeseigenen Wohnungsunternehmen auf dem freien Markt in Konkurrenz zueinander treten und zum kalkulierten Teil privater Renditebestrebungen und Preissteigerungsmechanismen werden.
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Masse schaffen (Neubau vs. Bestand) Die Debatte um die Wirksamkeit der Bestandserweiterung und Rekommunalisierung mit verschiedenen Mitteln wird vielfach unter dem Aspekt des »Masse Schaffens« diskutiert. Hierbei wird zumeist die Frage nach der Quantität der Ankäufe und der Nutzung des kommunalen Vorkaufsrechtes gegen die Errichtung von vermeintlich günstigerem Neubau diskutiert, wobei die Strategie und die Wirksamkeit von Bestandsankäufen mehrheitlich von den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften selbst in Frage gestellt werden: »Das Vorkaufsrecht ist ein Instrument, das in seiner Quantität null wirksam ist. Und was höchstens, und so wird es ja auch benutzt, von vielen Bezirkspolitikern, [...] als, ich sag jetzt mal abschreckendes Instrument für Investoren irgendwie aufgebaut wird. Das hat keinen Mengeneffekt, und ob es einen inhaltlichen Effekt hat und ob es sinnvoll ist, steht noch auf einem ganz anderen Blatt« (Interview LWU II). Vielfach wird von den institutionellen Akteuren daher der Neubau als Lösung für die aktuelle Wohnungsfrage genannt, da dieser nicht nur größere quantitative Effekte habe, sondern auch besser auf die »Zielgruppe«8 der Mieter/-innen des kommunalen Wohnungsbaus zugeschnitten werden könne. Die Argumentation wird hierbei zumeist durch vermeintlich »soziale« Kriterien begründet. So könne im Neubau besser gesteuert werden, wer dort einziehe, während bei Bestandsankäufen die Wohnungen in der Regel bereits vermietet seien (Interview LWU I; II; Interview SenFin). Doch auch wenn Neubau durch die institutionellen Akteure als Lösung präsentiert wird, kristallisiert sich heraus, dass alleine mit Neubau das aktuelle Ziel des Senats, den landeseigenen Wohnungsbestand bis 2026 auf 400.000 Wohnungen zu erhöhen (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt 2016), nicht erreicht werden kann. Dies gilt auch, weil der Neubau vielfachen Problemstellungen, wie etwa Mangel an Flächen, hohe Auslastung der Baubranche und Verzögerungen bei der Erteilung von Baugenehmigungen, ausgesetzt ist: »Eigentlich ist ja der Schwerpunkt auch im Neubau. [...] Die Ankäufe sind quasi nur aus meiner Sicht, um das Delta für die Gesamtzahl zu erfüllen. Ein Neubau ist ja immer ein bisschen schwierig in Berlin. Vielleicht noch schwieriger als anderswo. Um die Zahlen der Gesamtzeit zu erreichen, ja 400.000, dann muss man dann notfalls auch Ankäufe bewilligen.« (Interview SenFin) 8
Als Zielgruppe werden von den kommunalen Wohnungsunternehmen etwa Wohnberechtigungsschein-Berechtigte verstanden, da die Wohnungsunternehmen angehalten sind, 50% ihrer Neuvermietungen an Menschen mit Wohnberechtigungsschein zu vergeben.
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Nichtsdestotrotz hält sich die Idee des Neubaus als Königsweg weiterhin, während Rekommunalisierungen lediglich als Delta angesehen werden, um die Maßgaben der aktuellen Legislatur zu erfüllen. Dass Rekommunalisierungen über die quantitative Bestandserweiterung hinaus unter anderem das Mietniveau im Bestand sowie die soziale Zusammensetzung auch in zentrumsnahen Quartieren sicherstellen und für eine bauliche und räumliche Vielfalt im landeseigenen Bestand sorgen, wird hierbei zumeist übersehen.
Fazit Das Fallbeispiel Berlin zeigt, dass eine Übertragung des Konzepts/Begriffs der Rekommunalisierung, welches bei technischen und netzgebundenen Infrastrukturen Anwendung findet, in Bezug auf Wohnraum mit einigen Problemen verbunden ist. Auch wenn Wohnraum als Infrastruktur verstanden wird, kann und muss Rekommunalisierung aufgrund der Spezifik des Wohnens anders gefasst werden. So wurde gezeigt, dass vor allem der Fokus auf die Übertragung von Nutzungsrechten, sowohl aufgrund der individuellen Nutzung von Wohnraum als auch aufgrund der Fragmentierung des Wohnraumbestandes, einer schlichten Übertragung des Rekommunalisierungsbegriffs, der mit Blick auf (netzgebundene) Infrastrukturen entwickelt wurde, im Weg steht. Auch die Erhöhung von Unternehmensanteilen zu Rekommunalisierungszwecken findet in der Praxis kaum Anwendung ebenso wenig wie der Rückkauf ganzer Wohnungsbaugesellschaften. Andere Praktiken der Bestandserweiterung stehen dagegen deutlicher im Fokus, wurden bisher in der Literatur zu Rekommunalisierung aber kaum erwähnt. Dazu gehören vor allem die Bestandserweiterung durch Neubau und Ankauf, welche wiederum in Bezug auf technische Infrastrukturen, bis auf Initiativen zum Netzausbau, kaum eine Rolle spielen. Darüber hinaus lässt sich festhalten, dass die Praxis der (Re)Kommunalisierung von Wohnraum, wie sie an dem Berliner Fallbeispiel beobachtet werden kann, deutlich ausdifferenzierter ist als das Rekommunalisierungsinstrumentarium anderer Infrastrukturbereiche. Dies lässt sich damit erklären, dass bei der Rekommunalisierung von Wohnraum neben stadtplanerischen Instrumenten auch neue juristische Konstrukte, wie etwa das Modell des gestreckten Erwerbs, angewendet werden. Der Einblick in die Entwicklungen der Wohnraumrekommunalisierung zeigt zudem, dass die Herausforderungen, welche hiermit in der kommunalen Praxis einhergehen, sowohl einer weiterführenden Untersuchung und Evaluierung als auch die Instrumente einer Schärfung bedürfen. Hierbei ist es relevant den Fokus darauf zu richten, dass Rekommunalisierungsinstrumente wie etwa das kommunale Vorkaufsrecht nicht unbeabsichtigt zu Preistreibern auf dem Wohnungsmarkt und landeseigene Wohnungsbaugesellschaften nicht zum kalkulierten Teil
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von Marktstrategien der Immobilienwirtschaft werden. Diese Herausforderungen für die Kommunen und die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften gilt es offen zu diskutieren, um langfristig leistbare Mieten sicherzustellen. Darüber hinaus werden insbesondere in Berlin aktuell eine Vielzahl von Instrumenten geschaffen, wie etwa der gestreckte Erwerb oder die neu gegründete »DIESE e.G.«, welche neue Formen der Rekommunalisierung im Rahmen bestehender rechtlicher Rahmenbedingungen möglich machen sollen. Jedoch ist die Bandbreite der Formen der Rekommunalisierung ebenso wie der dafür genutzten Instrumente, wie die Debatte um die Vergesellschaftung der ehemaligen GSW-Bestände zeigt, noch nicht ausgeschöpft. Sie hält durchaus weitere Möglichkeiten bereit, um Bestände auch im großen Maßstab in Landeseigentum (rück-)zu überführen. Dies zeigt sich auch in den aktuellen Entwicklungen und Debatten rund um die Vergesellschaftung von Wohnungsbeständen. So könnte diese einerseits eine Erweiterung des Instrumentenkoffers der (Re-)Kommunalisierung von Wohnraum darstellen (vgl. Interview mit Florian Schmidt in diesem Band) und dazu genutzt werden, Wohnungsbestände zu dekommodifizieren. Andererseits eröffnet sie auch Perspektiven für die Rekommunalisierung anderer Infrastrukturbereiche abseits kleinteiliger und bürokratischer Lösungen.
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Vollmer, Lisa/Kadi, Justin (2018): »Wohnungspolitik in der Krise des Neoliberalismus in Berlin und Wien«, in: PROKLA. Zeitschrift für Kritische Sozialwissenschaft Heft 191, S. 247-264. WISO-Net (2019): Datenbankrecherche zu den Begriffen »Wohnraum« und »Rekommunalisierung« in den Jahren zwischen 2000 und 2019 in den 167 deutschen Presseerzeugnissen. Lizensierte Datenbank verfügbar unter: https://www.wiso-net.de
Interview-Quellen Landeseigene Wohnungsbaugesellschaft I (02.05.2019): Interview geführt von Inga Jensen, Berlin. Landeseigene Wohnungsbaugesellschaft II (01.10.2018): Interview geführt von Inga Jensen, Berlin. Senatsverwaltung für Finanzen Berlin (05.07.2019): Interview geführt von Inga Jensen, Berlin.
Strategien der »Communalisierung« der Wohnraumversorgung in Friedrichshain-Kreuzberg Interview von Inga Jensen mit Florian Schmidt, Bezirksstadtrat Friedrichshain-Kreuzberg, Berlin
Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg in Berlin ist seit Jahren von Mietsteigerung und Verdrängung einkommensarmer Haushalte in Folge einer neoliberalen Stadtpolitik betroffen (Holm 2013). Hier haben auch viele Initiativen der Mieter/-innenBewegung Berlins ihren Ursprung (Hamann/Vollmer 2019), die sich gegen Privatisierungen, den Verlust des sozialen Wohnungsbaus und Gentrifizierung einsetzt. Auf ihren Druck hin – und auf Basis von in dieser Bewegung entwickelten Ideen und konkreten Politikvorschlägen – hat sich auf Landes- und Bezirksebene ein Schwenk hin zu einer sozial gerechteren Wohnungspolitik vollzogen (Vollmer/Kadi 2018). Aktiv vorangetrieben wird dieser Wandel auch von Florian Schmidt, seit 2016 Baustadtrat für Friedrichshain-Kreuzberg und Mitglied von Bündnis 90/die Grünen. Zuvor war er Atelierbeauftragter des Landes Berlin und im »Runden Tisch Liegenschaftspolitik« und damit der mietenpolitischen Bewegung aktiv. Er war Mitgründer und Sprecher der Initiative »Stadt Neudenken« und ist ein bekannter Berliner Stadtaktivist. Mit der aktiven Nutzung des kommunalen Vorkaufsrechts (vgl. Sarnow 2019, siehe auch Beitrag von Jensen in diesem Band), der Idee eines Masterplans »50% Communal« und der neu gegründeten Mietergenossenschaft »DIESE e.G.« sorgte er bundesweit für Aufmerksamkeit. Seit seinem Amtsantritt wurden in Friedrichshain-Kreuzberg rund 30 Häuser mit Hilfe des kommunalen Vorkaufsrechts angekauft und somit in kommunales oder gemeinnütziges Eigentum überführt. Darüber hinaus war Schmidt an der Kommunalisierung von mehreren Siedlungen im Bezirk beteiligt. Insgesamt konnten laut Schmidt ca. 4000 Wohnungen in eine gemeinwohlorientierte Absicherung überführt werden. Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg kann das kommunale Vorkaufsrecht in sozialen Erhaltungsgebieten ausüben, wenn sich der Käufer/die Käuferin bei einem Verkauf weigert eine Abwendungsvereinbarung zu unterzeichnen und sich damit den festgelegten Zielen zum Erhalt der Wohnbevölkerung zu verpflichten. In diesem Fall kann eine landeseigene Wohnungsbaugesellschaft das Haus zu den zwi-
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schen Käufer/-in und Verkäufer/-in vereinbarten Konditionen erwerben. In einzelnen Fällen werden die Ankäufe auch mit anderen vorkaufsberechtigten Dritten, etwa gemeinnützigen Stiftungen oder Genossenschaften, realisiert und die Häuser in entsprechende gemeinnützige oder genossenschaftliche Strukturen überführt Im Interview, das Inga Jensen im Februar 2020 mit ihm führte, wird er zu diesen wohnungspolitischen Instrumenten befragt, die auf Bezirksebene eingesetzt werden können. Die Aufgaben und Rechte der Bezirke Berlins entsprechen in Flächenbundesländern in etwa denjenigen einer Kommunen. I. Jensen: Du bist mit dem Motto »Wir kaufen uns den Kiez zurück!« und deinem Masterplan »50% Communal« als Bezirksstadtrat angetreten, was bedeutet das für Dich und was ist Dein Ziel? F. Schmidt: Ein Motto, was es ja auch schon gab, war »Die Häuser denen, die darin wohnen«. Dass es dann aber diese Formen angenommen hat, mit dem Thema Vorkaufsrecht, habe ich erst entdeckt, als ich im Amt war. Und wie ich dann damit umgegangen bin, hat eben gezeigt, dass man damit durchaus relevante Anteile aus den Beständen des Bezirks dem Markt entziehen kann. Dass man relevante Anteile tatsächlich absichern kann über das Vorkaufsrecht, aber auch über Ankauf. Das sind teilweise auch große Quartiere, Hauskomplexe wie das »Neue Kreuzberger Zentrum«. Aus dieser Erfahrung heraus entstand die Idee, zu sagen: Okay, wir können uns als langfristiges Ziel auch setzten, den Anteil von 25 Prozent, der in Friedrichshain-Kreuzberg schon jetzt kommunal ist, auf 50 Prozent zu erhöhen. Bis heute haben wir schon ungefähr zwei Prozent, also ungefähr 3000, 4000 Wohneinheiten, abgesichert durch Ankäufe, Vorkauf, Abwendungsvereinbarungen. Das ist eine relevante Anzahl. Wenn man sich das über die Jahre vorstellt, über 10, 20 Jahre oder mehr, dann sind die 50 Prozent erreichbar. Wie könnten wir das denn schaffen? Man braucht einen Masterplan. Dazu gab es einen Austausch mit Vertretern aus Genossenschaften, aus der Zivilgesellschaft und aus der Politik von rotrot-grün aus verschiedenen Ebenen. Aber die Herausforderungen des Alltags haben mich dann ein bisschen eingeholt. Die Mietendeckel-Debatte hat das Ganze zwar nicht ausgebremst, aber es war doch klar, dass man erst einmal abwartet: Wie läuft das jetzt eigentlich? Und wichtig war mir auch von Anfang an, dass wir nicht nur auf landeseigene, staatliche Eigentumsformen setzten, sondern auch auf solidarische und gemeinschaftliche. Das kann das Mietshäusersyndikat sein, das können Genossenschaften oder Stiftungen sein. Und eines der ersten Häuser – das erste Haus, für das ich verantwortlich war –, das vorgekauft wurde, wurde mit dem Mietshäusersyndikat und einer Stiftung erworben. Sodass auch diese Idee mit diesem Haus und dann später mit der »DIESE e.G.« tatsächlich auch schon eine Umsetzung im Kleinen findet. Es geht also nicht nur um Kommunalisierung mit
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›K‹ geht, sondern auch um Communialisierung mit ›C‹, wie ich das nenne, eben im Sinne eines Commons, eines Gemeingutes, wie man diese durch die zivilgesellschaftliche Initiative dem spekulativen Grundstücksmarkt dauerhaft entzogenen Bestände verstehen kann. Du hast viel über Ankauf, Vorkauf und weitere Formen der Bestandserweiterung erzählt. Wäre denn eine Neubauoffensive nicht eigentlich deutlich effektiver, um die Ziele der aktuellen Legislatur zu erreichen? Das Problem mit dem Neubau ist, er deckt immer nur einen minimalen Teil dessen ab, was das Wohnungswesen insgesamt betrifft. Selbst wenn wir jetzt über eine wahnsinnige Kraftanstrengung 300.000 Wohnungen in Berlin bauen würden, wäre das ein Prozess über Jahrzehnte und es würde pro Jahr immer nur einen sehr kleinen Bestandteil dessen, was insgesamt an Wohnungen da ist, betreffen. Klar, der Bedarf ist da und das Angebot an bedarfsgerechten, leistbaren Wohnungen herzustellen, ist richtig. Aber das Problem ist an Städten, dass sie im inneren Bereich sehr verdichtet sind. Dort gibt es weniger Neubaupotential. Das heißt, man baut die Stadt vor allem an den Rändern neu. Der kommunale Neubau ist dann zu einem überwiegenden Anteil eher außerhalb des Zentrums. Die Leute wollen jedoch innerstädtisch wohnen. Und die, die mehr Geld haben, stechen dann andere aus, sei es beim Zuschlag für eine Mietwohnung, weil sie ein höheres Einkommen, eine höhere Bonität haben, sei es bei Eigentumswohnungen. Das heißt aus meiner Sicht, dass die Innenstädte, wenn wir nur auf Neubau setzten, sich sozial entmischen. Das schwächt den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft und bedeutet schmerzhafte Verdrängung aus ihrem sozialen Umfeld für sehr viele Menschen. Und im Übrigen glaube ich, dass wir, wenn überhaupt, mit Neubau nur etwas erreichen, wenn es gemeinwohlorientierter Neubau ist. Ist es kein gemeinwohlorientierter Neubau, dann ist dieser Neubau, wenn er nur über den Markt gesteuert wird, oft ein Anlageobjekt, das so teuer wie möglich auf den Markt gebracht wird. So gesehen ist gemeinwohlorientierter geförderter Wohnungsbau, kommunal oder genossenschaftlich, positiv und als Baustadtrat befördere ich diesen, wo ich kann. Aber wir müssen auch eine andere Sache sehen und die ist ganz schön unterbelichtet: Wir haben in Deutschland einen Wohnflächenverbrauch von 46m2 pro Person. In den 70er lag dieser bei 25m2 . Die Frage ist auch, wie flächensparsam wird eigentlich gewohnt? Und was hat das eigentlich für ökologische Auswirkungen? Denn das Bauen macht einen unglaublichen Bestandteil des Abfalls, des ökologischen Fußabdrucks unserer Gesellschaft, aus. Damit müssen wir uns auch beschäftigen. Müssten wir nicht eigentlich viel flächeneffektiver wohnen? Das hieße aber, ganz anders zu denken. Man müsste sagen: Wer über mehr als z. B. 40m2 Wohnfläche pro Person verfügt, dem sollte ein Anreiz und die Möglichkeit gegeben werden, dass er/sie kostenneutral oder kosteneinsparend umziehen kann. So
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könnte der Flächenverbrauch gesenkt werden und es bräuchte weniger neu gebaut werden. Leider hat dieses Thema noch niemand so richtig in Angriff genommen. Ich glaube, man braucht den Diskurs der Menschen untereinander in der Nachbarschaft, dass das ein erstrebenswertes Umdenken ist, das auch Spaß macht, weil man vielleicht auch ganz andere Wege findet, um seinen Flächenbedürfnisse oder seine Nutzungsbedürfnisse zu erfüllen. Ich denke zum Beispiel, gemeinschaftliches Wohnen, wie es teilweise auch ausprobiert wird, könnte in den Kiezen ganz anders funktionieren, wenn wir die Straßen umnutzen würden. Also wenn wir die Autos entfernen und auf der Straße mehr Gemeinschaft sattfinden lassen. Und ich meine jetzt nicht nur Spielstraßen, wo man dann spielen kann, sondern man könnte auch mit Holzbau andere gemeinschaftliche Räumlichkeiten schaffen, die flexibel sind. Man sagt dann: Meine Wohnung erfüllt meine Grundbedürfnisse und die Möglichkeit zum Rückzug, aber in Gemeinschafsräumen verbringe ich viel Zeit mit anderen und kann andere Dinge tun, die ich auch brauche, daher kann die Wohnung kleiner sein. Aber um solche Modelle müsste man sich als Staat oder Bewegung viel mehr kümmern und es müssten auch viel mehr Bereiche vernetzt werden, die in Richtung Umdenken der Lebensverhältnisse gehen. Das passiert, finde ich, noch viel zu wenig. Bei den Quartiersentwicklungen »Haus der Statistik« am Alexanderplatz oder beim »Dragonerareal« in Kreuzberg wird das gemacht. Aber diese Ideen fristen, meiner Meinung nach, noch ein Nischendasein. Bestimmte Projekte werden als Modellprojekte gehypt. Alle sagen: Wie schön, dass ihr so was jetzt auch habt. Aber es müsste eigentlich auch um den Bestand gehen. Da hatte man angefangen, energetisch zu sanieren, hat da überall Pappe drauf gepackt. Aber mit der Flächenfrage und der Frage von gemeinschaftlicher Infrastruktur, z. B. im öffentlichen Raum, damit beschäftigen wir uns kaum. Das sollte sich ändern. Du hast es gerade schon angeschnitten, aber vielleicht können wir es nochmal konkretisieren: Über welche Instrumentarien verfügt denn der Bezirk, um den Wohnungsbestand in kommunales Eigentum zu überführen und was sind die Grenzen dieser Instrumente? Die Bezirke haben zwar den Charakter von Kommunen, aber die Struktur der Verwaltung in Berlin ist eine zweigliedrige. Bezirke haben bestimmte Aufgaben und das Land hat andere. Bezirke haben zum Beispiel die Aufgabe der Bauleitplanung, die Aufgabe des Milieuschutzes und damit verbunden des Vorkaufrechtes. Aber was zum Beispiel die Finanzen betrifft, sind die Bezirke immer auf das Land angewiesen. Das heißt, die Haushalte und Sondermittel werden vom Land vorgegeben. Kein Bezirk in Berlin kann Geld zurücklegen, um Ankäufe zu finanzieren. Er dürfte es auch gar nicht ohne Zustimmung des Landes Berlin, wenn es um größere Beträge geht. Das heißt, die Bezirke sind zwar ausführend, aber wenn es um Finanzen geht, angewiesen auf das Land. Selbstverständlich sind wir in einer komplexen Situation, weil Vorkaufsrecht zu Marktpreisen schwierig ist. Auch deshalb
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ist hier wieder der Bezirk darauf angewiesen, dass insgesamt ein regulatives Klima herrscht, dass der Bezirk wiederum selbst gar nicht herstellen kann. Das muss auf Landes- oder Bundesebene passieren. Wie zum Beispiel? Zum Beispiel indem der Bund Gesetze anpasst, damit die Aufteilung von Häusern in Eigentumswohnungen nicht mehr möglich ist, was ja der Preistreiber ist beim Umschlag von Immobilien. Oder dass die Mietenpolitik strenger ist. Wenn dieses Umfeld da ist, dann kann das Vorkaufsrecht ziemlich effektiv sein, weil es dann in Preiskategorien stattfindet, wo auch Genossenschaften oder das Mietshäusersyndikat mithalten können. Denn viele Menschen sind bereit, wenn sie bisher moderate Mieten in Häusern gezahlt haben, in dem Moment, wo sie das Haus selber haben können als Gemeinschaft, vermögensbildend mit einzusteigen, wenn sie zum Beispiel über Direktkredite oder über Genossenschaftsanteile unterstützen. Das können auch Leute von außerhalb des Hauses. Dann kann eine finanzielle Kraft aus der Gesellschaft heraus entstehen, die aktuell vielleicht in Windräder fließt. Und wenn das wiederum kofinanziert wird über staatliche Förderung mit Belegungsbindungen für die Wohnraumversorgung zahlungsschwacher Haushalte, dann wird ein Schuh draus. Aber in einer Extremsituation, wo alles schlecht ist Drumherum, ist der Bezirk ziemlich machtlos. Also wenn es keine Regulierung des Marktes gibt, keine finanzielle Unterstützung für Ankäufe, dann kannst du mit dem Vorkaufsrecht auch gar nichts anfangen. Wenn es aber ineinandergreifende Maßnahmen gibt, dann kann man sogar kreativ mit dem Vorkaufsrecht arbeiten. Ein anderes Thema ist natürlich die Frage: Was für Strukturen könnte man anlegen, Unterstützungsstrukturen, Strukturen der Moderation? Und da sind Ideen im Werden. Wie können Mieter/-innen ihre Eigentümer/-innen ansprechen, bevor die verkaufen wollen, damit sie es selber erwerben können? Inwiefern kann der Bezirk denn auch preisdämpfend auf den Ankauf wirken? Bisher kaufen ja die Bezirke zum Marktpreis an, weil sie in einen bereits bestehenden Kaufvertrag einsteigen. Gäbe es Instrumente, den Preis zu senken? Im Baugesetzbuch ist vorgesehen, wenn der Kaufpreis erheblich vom Verkehrswert abweicht, dass man dann zum Verkehrswert ausüben kann. Das Problem ist aber, dass der Verkehrswert sich, wie das Wort schon sagt, an dem, was so im Verkehr ist, orientiert. Die Kaufpreise werden darin abgebildet, sodass im Grunde nur extreme Ausreißer aus dem aktuellen Marktgeschehen als Ausreißer vom Verkehrswert festgestellt werden können. Das haben wir auch schon gehabt in Berlin in drei Fällen. Einmal in Tempelhof-Schöneberg, das war ja der erste Vorkauf in
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Berlin überhaupt. Damals hat allerdings die BImA (Bundesanstalt für Immobilienaufgaben) gekauft und da ist noch ein Gerichtsverfahren schwebend. Wir haben es in Friedrichshain-Kreuzberg auch in einem Fall gemacht, auch hier gibt es ein schwebendes Gerichtsverfahren. Und jetzt haben wir gerade vor ein paar Monaten nochmal zum Verkehrswert ausgeübt in der Glogauerstraße, dort allerdings im Sonderfall, weil eben zwei Drittel dieses Gebäudes Ferienwohnungen waren. Dort haben wir einen überschlägigen Verkehrswert ermittelt. Jetzt ist die Frage, ob wir vor Gericht scheitern. Denn wenn das Gericht den Verkehrswert kippt, dann muss man den höheren Preis zahlen als Kommune und dann hat man echt ein Problem. Diese Preislimitierung müsste auf Bundesebene geändert werden. Das ist eine Forderung: Der Preis muss sich an einer Art Ertragswert orientieren, damit die Kommune zu einem Preis das Vorkaufsrecht ausüben kann, der dem Ertrag entspricht, den das Haus jetzt erwirtschaftet. Aber das ist rechtlich nicht einfach, denn dann redet man nicht mehr vom Verkehrswert sondern von einem anderen Wert. Und dieselbe Debatte haben wir ja auch bei der Enteignungsfrage immer wieder: Wie wird der Wert eigentlich bemessen? Ich sehe es deshalb so: Das regulative Umfeld muss erwirken, dass die Preise sinken. Aber das ist auch eine Frage der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Jeder, der zu einem sehr hohen Preis kauft, will diesen Preis irgendwann wieder reinhaben. Wenn eine gewisse Diskussionskultur und ein Widerstand gegen solche preistreibenden Vorgänge in der Gesellschaft bestehen, wenn die Menschen jedes Mal protestieren, wenn ihre Häuser verkauft werden, dann kann sich auch etwas ändern. Es gibt zum Beispiel die »200-Häuser«-Initiative, die sagt, wir stören die Vermarktung, wir gehen da rein, bzw. wir stehen vor der Tür, wenn der Makler kommt. Wenn Leute Wohnungen besichtigen von Leuten, die da noch wohnen und die mit einer Eigenbedarfskündigung ihre Wohnung verlieren könnten, dann sagen wir: Nee! Dann sind wir vor Ort präsent, mit einer Demo zum Beispiel. Diese Vermarktungsprozesse zu stören, das halte ich für absolut legitim im Rahmen des politischen Protests, der verfassungsrechtlich abgesichert ist. Aber warum überhaupt die Überführung in kommunales Eigentum? Also was können Kommunale besser als Private? In Berlin sind die landeseigenen Wohnungsunternehmen ja auch als Aktiengesellschaften organisiert und verfolgen damit ein Gewinnstreben. Sie dürfen zum Beispiel keine nachteiligen Geschäfte eingehen. Also finanziell nachteilige Geschäfte machen, das darf so gut wie niemand, ob privat oder nicht privat. Ich propagiere ja nicht eine Kommunalisierung, also Verstaatlichung, per sé. Es sollte eine Mischung sein zwischen kommunalen und gemeinschaftlichen Eigentumsformen. Am liebsten ist mir sogar das Modell, dass eine Stiftung und eine Genossenschaft zusammenarbeiten, und durch eine Bodenstiftung als Anker auch eine langfristige Absicherung vor Verkauf und ande-
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rem Schindluder, das getrieben werden kann mit Immobilien, besteht. Gleichzeitig müssen wir auch feststellen: Das kommunale Eigentum ist letztlich den gesellschaftlichen und politischen Bedingungen unterworfen. Und man kann nicht sagen, hier ist der Mensch, da ist der Staat. Die Menschen sind für den Staat verantwortlich und umgekehrt auch. Was für eine Ökonomie der Staat selber umsetzt, ist letztlich auch Sache der Wähler/-innen, die richtige Entscheidung an der Urne zu treffen. Das hat natürlich auch mit gesellschaftlichen Diskursen zu tun. Jetzt, wo der Neoliberalismus allgemeinhin für gescheitert erklärt wird, genau wie die Wachstumsgesellschaft, müssten die Konsequenzen daraus eigentlich sein, dass die Menschen kapiert haben, sobald irgendwie eine Partei Privatisierungsfantasien entwickelt, wird sie abgewählt. Und die landeseigenen Wohnungsunternehmen, das ist richtig, die tragen in der Struktur und teilweise auch in der Art, wie man da denkt, noch den marktwirtschaftlichen oder neoliberalen Geist in sich. Aber sie sind eben von der Politik gesteuert und keine Börsenunternehmen. Selbst wenn es eine Aktiengesellschaft ist; diese ist 100 Prozent landeseigen, der Gesellschafter ist das Land Berlin und der führt den Aufsichtsrat. Der kann Entscheidungen treffen bis hin zu Weisungen. Insofern stellt sich die Frage, wie kann man etwas politisch absichern, sodass eine nächste Regierung das nicht einfach kippen kann. Aber ich muss auch sagen, wenn eine nächste Regierung das kippt, dann haben die Leute diese nächste Regierung auch gewählt. Und das heißt, die Politisierung des Wohnungsthemas ist sehr wichtig. Und wenn wir irgendwann eine FDP-CDU-AfD Regierung haben und eine »Orbanisierung« der Politik in Deutschland, dann würde alles darauf hinauslaufen, dass kommunales Eigentum wieder zerschlagen wird. Und da finde ich, kann man sich jetzt auch nicht darauf zurückziehen, dass kommunale oder landeseigene Gesellschaften schlecht sind, sondern die müssen wir verbessern und nach Möglichkeit absichern. So absurd das klingt. Aber würde man öffentliche Wohnungsbaugesellschaften über private Bodenstiftungen absichern, wäre das wahrscheinlich die beste Garantie für die Zukunft. Wie funktioniert das Modell der Mietergenossenschaft der »DIESE e.G.«? Tauchen dabei Probleme auf und wenn ja, welche? Also die Entstehungsgeschichte der »DIESE e.G.« ist recht einfach: Wir hatten ganz viele Vorkaufsfälle auf einmal und die Wohnungsbaugesellschaften haben alle abgesagt. Die Mieter/-innen aus den Häusern gemeinsam mit Leuten aus der Genossenschaftsszene haben gesagt: Wir wollen es aber trotzdem irgendwie schaffen! Und parallel hat der Finanzsenator gesagt: Ab jetzt gibt es auch Zuschüsse für Genossenschaften. Es gab schon ein Förderprogramm für Genossenschaften für den Bestandserwerb mit Darlehen. Und aus diesen beiden Komponenten, den zwei Förderstrukturen plus Genossenschaftsanteilen plus Bankkrediten und zu-
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sätzlich noch der Option, dass auch Dritte Direktkredite oder Genossenschaftsanteile zeichnen können – wir haben das »Nachbarschaftsfonds« genannt – aus diesen fünf Finanzierungssäulen konnte man dann eine wirtschaftliche Finanzierungsstruktur prognostizieren. Parallel zur Ausübung von sieben Fällen über einen Zeitraum von drei Monaten wurde mit dem Senat darüber verhandelt, wie die Finanzierung funktionieren soll. Und das sah eigentlich auch alles ganz gut aus bis zu dem Zeitpunkt, als der Finanzsenator aus politischen Gründen gesagt hat, es gebe nur Zuschüsse für zwei Fälle, weil da ein formaler Beschluss erst zu einem bestimmten Zeitpunkt gefasst wurde. Das ist aber noch Gegenstand von Aufarbeitung. Von der »DIESE e.G.« wurde dann eine angepasste Finanzierungsstruktur vorgelegt, das heißt, es musste die Säule Darlehensförderung erhöht werden, weil weniger in der Säule Zuschuss drin war. Nur so konnte am Ende eine wirtschaftliche Struktur generiert werden. Insofern ist dieses Modell aus meiner Sicht erfolgreich, aber es ist auf politischen Widerstand gestoßen sowohl bei Teilen der Sozialdemokratie in der Landesregierung als auch im politischen Diskursraum, massiv bei den neoliberalen Parteien FDP, CDU, AfD. Und da hat sich eine Gemengelage zusammengebraut, die extrem destruktiv und manipulativ war. Mit allen Mitteln wurde ich als Person und die »DIESE e.G.« als Idee bekämpft, doch am Ende konnte man uns nicht stoppen und über 350 Menschen leben jetzt in ihren eigenen selbstverwalteten und dauerhaft vor Spekulation geschützten Häusern. Etwas, was Genossenschaften ja oft vorgeworfen wird, ist, dass das Genossenschaftsmodell schon eine gewisse Exklusivität hat. Wie siehst du das in Bezug auf die »DIESE e.G.«? Richtig, dass müssen wir noch erklären. Beide Fördermodelle, Zuschuss zum Kaufpreis und Darlehen, beinhalten eine Belegungsbindung von 25 Prozent für Menschen mit WBS (Wohnberechtigungsschein). Beim Darlehensprogramm für Genossenschaften bringen die Menschen auch Genossenschaftsanteile ein, und zwar in Höhe von 500 Euro pro Quadratmeter. Das ist nicht wenig, aber auch nicht wahnsinnig viel, weil das über Kredite oder auch Förderprogramme aufgefangen werden kann, also geförderte Kredite. Es gibt auch Modelle, die man zum Beispiel in Hamburg schon angewandt hat, bei denen ALGII-Bezieher, die gesamten Genossenschaftsanteile durch ein Förderprogramm finanziert bekommen. Als Gegenleistung für die Zuschüsse zum Kaufpreis müssen auch Mieter/-innen ohne Genossenschaftsanteile reingenommen werden. Das ist auch ein bisschen problematisch, weil man dadurch im Grunde langfristig der Genossenschaft Genossenschaftskapital entzieht und die Genossenschaftsidee auch ein bisschen verwässert wird. Ich fände es gut, wenn man eine Art Deckel findet und sagt: 25 Prozent der Leute sind Mieter/-innen ohne Genossenschaftsanteil, aber aus bestimmten sozialen Gründen. Das ist jedoch fine tuning. Wir haben es jetzt erstmals in der Berliner Geschichte mit einem geförderten Genossenschaftsprojekt im Bestand zu tun.
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Es gibt die Darlehensförderung auch für Genossenschaften, aktuell in der »Schöneberger Linse«. In einem Konzeptverfahren hat eine Genossenschaft den Zuschlag bekommen. Da sie diese Darlehen in Anspruch nimmt, gibt es dort auch eine genossenschaftliche Belegungsbindung. Das sind erste Schritte in die Richtung, dass Genossenschaften mit hohen Anfangskosten anders funktionieren. Aber wir müssen auch ganz klar sagen: Die großen Genossenschaften in Berlin haben die niedrigsten Mieten und die Genossenschaftsanteile haben eher den Charakter einer Kaution. Also der Vorwurf, dass Genossenschaften nicht mieterfreundlich sind, das ist totaler Quatsch! In der jüngeren Vergangenheit waren es Baugruppen, die keinen Zugang geboten haben für Leute ohne Vermögen. Und es gibt, allerdings selten, Mischformen wie die »Möckernkiez Genossenschaft«, die ohne jegliche Förderung mit Marktpreisen gearbeitet haben und eben trotzdem bei 900 Euro Genossenschaftsanteil plus Mieten von 8-12€/m2 landen. Aber ohne Förderung kann man, wie gesagt, im Neubau oder bei Ankauf keine Sozialwohnungen anbieten. Das waren schon einige Instrumente, die wir angesprochen haben. In der jüngsten Debatte ist ja auch Enteignung bzw. Vergesellschaftung dazu gekommen. Inwiefern wäre das auch ein Instrument zur Sicherung leistbarer Mieten? Und wie kann so etwas auch auf der bezirklichen Ebene umgesetzt werden? Also bezirklich kann Enteignung, in der Regel, nur in Zusammenarbeit mit dem Berliner Senat stattfinden, denn da geht es im Rahmen der Bauleitplanung fast immer um erhebliche Entschädigungen. Enteignung von Wohnungsgebäuden oder eben auch von ganzen Unternehmensstrukturen kann zum Zwecke der Wohnraumversorgung nicht umgesetzt werden auf Basis der aktuellen Gesetzeslage. Ob solche Gesetzte möglich sind, das ist eine sehr interessante Frage. Und das würde ich befürworten. Die verfassungsrechtliche Debatte ist ja eröffnet und da gibt es solche und solche Meinungen. Ich finde das schon sehr überraschend, dass es absolut seriöse Kanzleien gib, die Gutachten gemacht haben, die sagen: Das geht! Also das zeigt uns, dass da ein Möglichkeitskanal besteht in diese Richtung. Ich finde auch die Initiative »Deutsche Wohnen & Co enteignen« ganz hervorragend, sie stellt ja diese Frage. Und sie löst dadurch einen Druck aus in der gesellschaftlichen Debatte, der immens ist. Das ist fast eine Schockwelle, die da durch die Gesellschaft, die Immobilienwirtschaft vor allem, geht. Das merkt man schon daran, dass die »Deutsche Wohnen« quasi schon so tut, als wäre sie eine öffentliche Wohnungsbaugesellschaft mit bestimmten Regeln, die sie sich gibt, usw. Das halte ich alles für ein bisschen Schaumschlägerei, weil so eine Selbstverpflichtung ist ja nur so lange gültig, wie der Druck da ist. Und überhaupt, wer überprüft das? Ob dann tatsächlich ein Enteignungsmodell umsetzbar ist, das dürfte die spannendste Frage überhaupt sein. Ich halte es aber für politisch und auch gesellschaft-
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lich und ökonomisch sehr sinnvoll, sich zu fragen: Sollte eigentlich Wohnraum überhaupt ein Warengut auf einem freien Markt sein, wo er in die Dynamiken der Finanzwirtschaft, der globalen Finanzwirtschaft, eingebunden ist? Das halte ich für das eigentliche Problem, das auch dieser Volksentscheid und die Initiative adressieren. Wir können natürlich Bodenspekulation und Spekulation mit Immobilien oder die Finanzialisierung von Immobilien und anderen Gütern hinnehmen, so wie wir auch den Klimawandel und Raubbau an der Natur hinnehmen und sagen: Noch sind wir ja nicht tot, noch geht es ja irgendwie. Es ist letztlich eine Frage der Daseinsvorsorge, ob man bestimmte Versorgungsgüter eher in einer gemeinwohlorientierten Richtung organisieren will oder sagt: Der Markt steuert das schon selber. Und da glaube ich, brauchen wir eine Gesamtstrategie. Ich halte den Ansatz von »Deutsche Wohnen & Co enteignen« für extrem produktiv, weil er den Stein ins Rollen bringt. Aber eigentlich bräuchten wir eine Gesamtstrategie. Und deshalb ist für mich der Masterplan-Ansatz wichtig, damit man auch bei kleinteiligen Eigentumsstrukturen den Fuß reinkriegt. Das gelingt nur über eine vielseitige Strategie, bei der man auch die Eigeninitiative der Menschen mit ihrem eigenen Geld solidarisch zu agieren, mit einbezieht. Aber gleichzeitig: Wie kommen wir an die großen Unternehmen ran, die einfach schon da sind, die riesen Bestände haben? Und die natürlich eine Geschichte haben von Privatisierung, wo der Staat, meiner Meinung nach, eine riesen Verantwortung hat, Privatisierungsorgien der Vergangenheit zurückzudrehen. Und dafür braucht man natürlich Gesetzte, die rechtssicher sind. Und dann brauchen wir auch Regelungen für Entschädigungen, die wirtschaftlich sind, die den Staat nicht ausbluten lassen. Und das ist wiederum eine Auseinandersetzung, eine Konfliktlinie, wo es um Millionen-, Milliardengelder geht. Also um materielle Interessen. Und was das für Widerstände in Bewegung setzt! Also wenn die Wähler/-innen es ernst meinen – sei es über Parteien, sei es über Volksbegehren – und man dann Hand anlegt an die Eigentumsstrukturen, dann wird es Konfliktlinien geben, die werden noch härter als jetzt. Nun zu deiner Rolle als Stadtrat: Wie war es für dich, aus den sozialen Bewegungen heraus in die Politik, in die Verwaltung zu wechseln? Und gab es dabei Probleme? Es gab unerwartet die Möglichkeit, dass ich Stadtrat werden könnte. Und als diese Idee aufkam, habe ich sofort gespürt, das muss man machen. Denn die Chance, die Seiten zu wechseln, von innen heraus Dinge zu bewegen, die gibt es im Leben, glaube ich, ganz, ganz selten. Ich habe es gemacht, obwohl mir Freunde gesagt haben, dass es ein Himmelfahrtskommando ist – und langsam merke ich das auch. Am Anfang war es nicht so, aber jetzt merke ich, was für ein Widerstand da ist. Gereizt hat mich nicht nur die Situation, dass man vom Gestalten her eine andere Perspektive einnimmt, sondern auch die Option, eine munizipalistische Regie-
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rungsform einzuführen, in der die Institution Kommune sich öffnet, und soziale Bewegungen Gestaltungsverantwortung übernehmen. Aber ich finde es schon bemerkenswert, dass in einem Bezirk eine Partei sagt: Okay, jemand, der ist zwar irgendwie Parteimitglied seit zehn Jahren, aber der ist ja eindeutig gelablet als einer aus der Stadtentwicklungsbewegung, dass man dem jetzt mal Verantwortung übergibt; das ist ja auch ein Zeichen von Öffnung der Institution. Der Weg, dass man Aktive aus der Stadtentwicklungsbewegung reinholt in die Exekutive, der sollte eigentlich öfters gegangen werden. Die Erfahrung bei mir ist schon, dass es sehr viele eingetretene Pfade gibt in der Verwaltung, in dem Verwaltungshandeln und auch in dem, wie Politiker damit umgehen. Und dass man da schon eine Menge anders machen kann. Und das geht dann natürlich einher mit einer Angriffsfläche, die man bietet. Manche sagen dann: Ja, aber du machst hier ja keine ordentliche Verwaltungsarbeit! Weil, wenn ich »ordentliche Verwaltungsarbeit« in dem Sinne machen würde, dass ich jede Entscheidung zehn Mal durchprüfen lasse von zehn Instanzen in der Verwaltung und nicht einfach mal sage: Und so machen wir das jetzt!, dann würde Bestimmtes auch gar nicht erst zustande kommen. Und das ist eben auch bei dem Vorkaufsrecht so. Da habe ich mich – nie alleine, immer mit anderen Akteuren – in den Anfangsphasen um jedes Haus einzeln gekümmert und immer nach Wegen gesucht. Und ein klassischer Politiker, Chef der Verwaltung hätte halt gesagt: So und an dem Punkt hier ist jetzt Schluss! Denn so haben wir es ja schon immer gemacht, da können wir nichts mehr machen. Und es war bei mir eben immer so, dass ich diese Haltung hatte: So Leute, geht nicht, gibt’s nicht. Aber wenn man »geht nicht, gibt’s nicht« sagt, aber die Verwaltung sagt: Moment Mal, wir sind nicht zuständig! Dann kommt man natürlich in eine Situation rein, wo es spannend wird und wo man teilweise sagt, okay jetzt müsste ich erstmal zwei Jahre neue Strukturen aufbauen, damit ich hier handlungsfähig werde. Aber ich und die Menschen in ihren Notlagen haben nicht diese Zeit. Also muss ich jetzt schon mal pilothaft ins Handeln kommen. Aber man kommt, weil man ja auch nur Bezirk ist und somit abhängig vom Land Berlin, in Situationen hinein, wo es sehr schwierig ist, den Kopf über Wasser zu halten und diese Angriffsfläche brutalst genutzt wird von den politischen Gegnern, um zu sagen: Guck mal, dieser Aktivist hier im Amt, dieser Spinner, was macht denn der da eigentlich?! Du erfährst viel Unterstützung in der Öffentlichkeit, aber auch viel Anfeindung. Wie gehen Du und dein Mitarbeiter/-innen in der Verwaltung damit um? Für mich war das interessant. Ich habe zwei Phasen gehabt in den letzten paar Monaten, die sehr belastend waren. Einmal war es so, dass dieser ganze »DIESE e.G.«-Finanzierungsprozess extrem auf der Kippe stand. Weil die Fristen ausgelaufen waren, mussten wir Zwischenfinanzierungen organisieren mit einer unglaublichen Anstrengung, wo auch andere gesagt haben, das ist eigentlich unmöglich,
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dass ihr das schafft! Und für ein Haus mussten wir eine Notlösung finden, die Übernahme durch eine Genossenschaft. Eigentlich ein Wunder, dass wir das alles geschafft haben. Und jetzt wird daraus konstruiert: Da muss ja Korruption im Gange sein. Was absoluter Schwachsinn ist! Die eigentlich belastende Situation war, dass klar war: Wenn das kippt, ist das ganze Projekt tot. Und dann ist die Anstrengung und auch die Mitbeteiligung der ganzen Mieter/-innen, von 350 Menschen, für die Katz und es gibt sogar die Unklarheit, die Unsicherheit, die Angst, dass die eingezahlten Genossenschaftsanteile weg sind. Und eben auch die Häuser; was passiert mit den Häusern? Das war meine größte Angst, da ging es mir richtig schlecht in dieser Zeit. Wir haben gekämpft wie Löwen mit sehr vielen schlaflosen Nächten. Das war eigentlich erst einmal erledigt und dann kam das mit dieser angeblichen Aktenmanipulation. Das war auch sehr belastend. Das war auch psychisch so, dass ich wirklich nicht wusste, wie man damit umgehen soll. Andererseits gab es aber auch so viel Unterstützung, nachdem direkt intern geklärt war, dass da nichts dran ist, von den Grünen, von der Verwaltung und von der Mietenbewegung. Und eine Handvoll Verwaltungsmitarbeiter sind davon wirklich auch sehr belastet. Wir haben Personen, die sich unglaublich reingehängt haben. Aber wir stehen sehr geschlossen zusammen. Und wir sehnen uns auch alle danach, dass es irgendwie ruhigere Zeiten gibt. Gleichzeitig ist das aber auch ein riesen Problem, weil man dann natürlich dazu tendieren könnte, ängstlich zu werden und zu sagen: Okay, jetzt haben wir etwas gewagt, und das gab viel Ärger. Jetzt werden wir nichts mehr wagen. Und das ist ein richtig großes Problem. Da war es dann auch sehr gut und wichtig, dass auch die Initiativen gesagt haben: Nee, wir stehen zu Schmidt! Es braucht aber, meiner Meinung nach, viel mehr Kraft aus der Bewegung heraus, weil was wir aufgebaut haben an verschiedenen Strukturen hängt, initiativartigen, kollaborativen Strukturen, hybriden Gemeinwohlstrukturen zwischen sozialen Bewegungen und kommunaler Politik und Verwaltung; die müssen viel mehr zusammenhalten. Denn am Ende des Tages sind die Gegenkräfte, die sich bis in die Sozialdemokratie hineinziehen, doch sehr stark. Wir haben am Anfang über den Masterplan »50% Communal« gesprochen. Was sind denn die größten Hindernisse bisher, die sich für dich aufgetan haben? Bisher gibt es ja nur Entwurfselemente und eine grobe Strategie. Ich glaube, dass so ein Plan, so eine Idee nur als Bewegung funktionieren kann. Damit die Grundidee »Wir wollen uns die Stadt zurückholen!« Fuß fasst, braucht es eine Handvoll von Instrumenten, die gut durchdacht sind und die eingeführt werden. Ein Punkt davon ist das Vorkaufsrecht und eine genossenschaftliche Ankaufsagentur, die auch auf Eigentümer zugeht, damit sie eben nicht spekulativ zum Höchstpreis verkaufen. Eine Art Enteignungsoption für Unternehmen, die rein am Finanzmarkt ope-
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rieren und den Mieterinteressen wirklich schaden, braucht es auch. Solche Elemente müssten jeweils für sich durchdacht und eingeführt werden. Dafür braucht es einen Konsens über das gemeinsame Ziel und in den einzelnen Instrumenten. Und das ist eine Herausforderung. Ich glaube, die größte Kraftanstrengung ist, genug intellektuelle und politische Energie für so ein komplexes Projekt zu gewinnen. Das kann nicht Aufgabe einer Person sein, das muss auch parteiübergreifend und zivilgesellschaftlich getragen werden. Und es braucht eine einfache Sprache, die dieses Konzept und die Umsetzung, an die Menschen heranträgt. Und da es ein sehr langfristiges Projekt ist, ist das Greifbarmachen von Zukunftsszenarien ganz wichtig. Ähnlich wie wir bei den Themen öffentlicher Raum und Verkehr Zukunftsvisionen eines anderen Lebens brauchen. Es ist wichtig, dass wir bestimmte Praxen der Selbstaneignung von Stadt, die jetzt schon existieren, sichtbarer machen. Gleichzeitig müssen sie aber auch kompatibler werden für Menschen, die noch nicht so in diesen Diskursen die Füße drin haben. Das ist wiederum eine Vermittlungsaufgabe, da können eigentlich nur Techniken des community organizings helfen, was wiederum eine weitere Kraftanstrengung darstellt. Es ist also ein sehr komplexer, mehrschichtiger Prozess.
Literatur Hamann, Ulrike/Vollmer, Lisa (2019): »Mieter*innenproteste in der postmigrantischen Stadt. Verhandlung von gesellschaftlicher Teilhabe in der mietenpolitischen Bewegung Berlins«, in: Forschungsjournal soziale Bewegungen Heft 32 (3), S. 364-378. Holm, Andrej (2013): »Berlin’s Gentrification Mainstream«, in: Matthias Bernt/Britta Grell/Andrej Holm (Hg.), The Berlin reader. A compendium on urban change and activism, Bielefeld: transcript, S. 171-187. Sarnow, Martin (2019): »›Wir kaufen den Kiez zurück‹. Milieuschutz und Vorkaufsrecht als Ansätze einer postneoliberalen Wohnraumversorgung in Berlin Friedrichshain-Kreuzberg?«, in: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung Heft 7(1/2), S. 115-136. Vollmer, Lisa/Kadi, Justin (2018): »Wohnungspolitik in der Krise des Neoliberalismus in Berlin und Wien. Postneoliberaler Paradigmenwechsel oder punktuelle staatliche Beruhigungspolitik?«, in: PROKLA. Zeitschrift für Kritische Sozialwissenschaft Heft 191, S. 247-264.
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Öffentliche Hand und alles gut? Mieter*innen für die Demokratisierung der öffentlichen Wohnraumversorgung Bündnis »kommunal & selbstverwaltet Wohnen«
Seit Sommer 2017 haben wir, das Bündnis »kommunal & selbstverwaltet Wohnen« (kusWo), uns zusammengetan, um uns für die Demokratisierung der öffentlichen Wohnraumversorgung, im Speziellen der landeseigenen Wohnungsunternehmen (LWU), in Berlin einzusetzen. In diesem Text möchten wir uns vorstellen, die Genese unserer Forderungen erklären, darstellen, wie sie genau aussehen und wie wir darum kämpfen, sie – auch gegen Widerstände – durchzusetzen. Das Bündnis »kommunal & selbstverwaltet Wohnen« besteht aus Mieter*innen aus Häusern und Siedlungen, die in den letzten Jahren (re-)kommunalisiert wurden oder sich für die (Re-)Kommunalisierung1 ihres Zuhauses einsetzen, aus Bewohner*innen von Anfang der 1980er oder 1990er Jahre besetzten Häusern, die mit Hilfe von Pachtverträgen seit Jahrzehnten ein Modell der Selbstverwaltung unter dem Dach der landeseigenen Wohnungsunternehmen praktizieren, und stadtpolitisch Aktiven, die sich bei öffentlichen Neubauprojekten für die Ausweitung von Mitbestimmung und Selbstverwaltung der Mieter*innen einsetzen. Die meisten unserer Mitglieder sind also bereits Mieter*innen der landeseigenen Wohnungsunternehmen – manche wollen es noch werden. Trotzdem sagen wir: Wohnraum in das Eigentum der öffentlichen Hand zu überführen allein bedeutet keineswegs, dass alles gut wäre. Warum wir uns für die Demokratisierung der öffentlichen Wohnraumversorgung einsetzen und was wir konkret darunter verstehen, haben wir in einer Broschüre aufgeschrieben, die 2018 veröffentlicht wurde. Darin heißt es zu Beginn:
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Wir sprechen von (Re-)Kommunalisierung, da sich manche der in unserem Bündnis aktiven Häuser und Siedlungen früher im öffentlichen Eigentum befanden, privatisiert wurden und nun für eine Rekommunalisierung kämpfen und andere für ihre erstmalige Kommunalisierung. Vgl. zum Thema (Re-)Kommunalisierung die Beiträge von Inga Jensen und Florian Schmidt in diesem Band.
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Bündnis »kommunal & selbstverwaltet Wohnen«
»Die kommunale und selbstverwaltete Kooperation bietet Vorteile für die Mieter*innen und die LWU. Die Mieter*innen können durch die Mitbestimmung Verdrängung und Privatisierung verhindern und ihre eigene Wohnsituation sowie die anderer Mieter*innen sozial gestalten. […] Mit der Mitbestimmung verändert sich das Verhältnis der Mieter*innen zum Haus. Sie tragen vermehrt Sorge für die Häuser, Gemeinschaftsflächen und die Nachbarschaft. Denn stabile Hausgemeinschaften wirken nicht nur nach innen, sondern auch in den Stadtteil. Darüber hinaus trägt die Demokratisierung des Wohnens zu einer Demokratisierung und Gemeinwohlentwicklung in der gesamten Gesellschaft bei. Beispiele aus Berlin und anderen Städten zeigen, dass Mitbestimmung und Selbstverwaltung geeignete Mittel sind, um: • die Mieten langfristig niedrig zu halten, • Reprivatisierung zu verhindern, • soziale Strukturen in Nachbarschaften zu schaffen, • demokratische Prozesse einzuüben und zu stärken.« (kusWo 2018: 6). Die Adressaten unserer Kampagne sind die sechs landeseigenen Wohnungsunternehmen (LWU). Jahrzehntelang hat die Wohnungspolitik des Landes öffentliches Wohneigentum zur Sanierung des Haushalts durch Privatisierung oder »Melken« der Unternehmen respektive der Mieter*innen durch Mieterhöhungen genutzt. Diese Politik ebenso wie der Ausstieg aus der Anschlussförderung des sozialen Wohnungsbaus des Landes, gezielte Aufwertungspolitiken und die Deregulierung von Mietrecht und Finanzmarkt haben in Berlin, so wie in vielen anderen Städten, zu einer Explosion der Mieten geführt. In Reaktion darauf ist eine breite Mieter*innenbewegung entstanden, die sich gegen Mietsteigerungen und Verdrängung zur Wehr setzt und konkrete Vorschläge für eine sozial gerechte Wohnungspolitik macht. Wir sehen uns als Teil dieser Bewegung. Diese Mieter*innenbewegung konnte durch öffentlichen Druck bereits in Teilen einen Politikwechsel herbeiführen: Statt Privatisierung und Deregulierung steht nun die Ausweitung des öffentlichen Wohnungsbestandes durch Neubau und Rekommunalisierung sowie stärkere Regulierung des privaten Mietmarktes, zum Beispiel durch den »Mietendeckel«,2 auf der Agenda der regierenden Parteien.
Erfahrungen im öffentlichen Eigentum Wie zuvor erläutert, befinden sich die in unserem Bündnis organisierten Häuser und Siedlungen im öffentlichen Eigentum oder streben eine (Re-)Kommunali-
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Durch die Einführung eines gesetzlichen »Mietendeckels« Anfang 2020 werden Miethöhen in fast allen Mietwohnungen Berlins für fünf Jahre auf ein festgesetztes Niveau begrenzt.
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sierung an. Unsere Forderungen nach Demokratisierung der öffentlichen Wohnraumversorgung und speziell der landeseigenen Wohnungsunternehmen beruhen auf konkreten Erfahrungen aus mehreren Jahrzehnten Mieter*innenbewegung. Im Folgenden werden wir von den Erfahrungen der in unserem Bündnis organisierten Gruppen und Hausgemeinschaften seit den 1980er Jahren berichten. Die Hausbesetzungen Anfang der 1980er Jahre in Westberlin und Anfang der 1990er Jahre im Ostteil der Stadt reagierten auf das Versagen einer Wohnungspolitik, die massenhaften Leerstand bei gleichzeitigem Wohnungsmangel produzierte. Öffentliche Wohnungsunternehmen waren als Sanierungsträger direkt an dieser »Abriss-Politik«, der verdrängenden Kahlschlagsanierung und dem dadurch ausgelösten Verfall der Altbausubstanz beteiligt. Es ist also kein Wunder, dass sich die Mieter*innen und die Besetzer*innen mit Forderungen der Selbstbestimmung und Selbstverwaltung von diesen Institutionen abgrenzten. Da die prekäre Situation der Besetzungen eine schnelle Legalisierung nötig erscheinen ließ, wurden dennoch zahlreiche besetzte Häuser durch landeseigene Wohnungsunternehmen übernommen. Den Besetzer*innen wurden dabei in Pachtverträgen jedoch weitgehende Möglichkeiten der Selbstverwaltung eingeräumt. Diese umfassten auch die eigenständige Instandsetzung der Häuser. Die dabei eingesetzte »Muskelhypothek« rechtfertigte die in der Folge niedrigen Mietpreise. Einige dieser Pachtverträge laufen aktuell aus. Nun müssen die ehemals besetzten Häuser einzeln mit den unterschiedlichen landeseigenen Wohnungsunternehmen in Verhandlung über die Verlängerung der Pachtverträge treten. Dabei machen sie die Erfahrung, dass die LWU die Pachtverträge gerne zugunsten von regulären Mietverträgen auflösen wollen, um dem politischen Anspruch nachzukommen, den Bestand an öffentlichem Wohnraum statistisch auszuweiten,3 zusätzlichen Verwaltungsaufwand einzusparen und – darin liegt wohl das Hauptinteresse – marktübliche Preise in den Häusern erzielen zu können, die sich meist in guter Lage in den Innenstadtbezirken befinden. Die ehemals besetzten Häuser wollen einfach nicht zur heutigen unternehmerischen Logik der LWU passen. Während der Verhandlungen über die Verlängerung der Pachtverträge wird den Häusern von Seiten der LWU die Bewahrung ungerechter Privilegien vorgeworfen, um ihre Position zu delegitimieren und die besetzten Häuser vom Rest der Mieter*innenschaft zu spalten. In Reaktion auf diesen Vorwurf haben sich zum Beispiel die Mieter*innen der Mannsteinstr.10/10a und der Bülowstr. 52 in Berlin Schöneberg dazu entschlossen, Teil des Bündnisses »kommunal & selbstverwaltet Wohnen« zu werden, um zu zeigen, dass es ihnen nicht
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Die Pachtverträge zählen nicht als Wohneinheiten. Würden sie aufgelöst und in Einzelmietverträge überführt, könnte das LWU ein statistisches Wachstum seines Wohnungsbestandes nachweisen.
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um Besitzstandwahrung geht, sondern darum, ein Modell lebendiger Selbstverwaltung von Wohnraum zu erhalten und auch für andere zugänglich zu machen. Wie in den 1980er Jahren so werden auch im Zuge der gegenwärtigen Krise der Wohnraumversorgung wieder Häuser und ganze Siedlungen von der öffentlichen Hand übernommen. Konkrete Fälle solcher (Re-)Kommunalisierung von Häusern und Siedlungen – durch direkten Ankauf oder durch die Ausübung des Vorkaufsrechts in sozialen Erhaltungsgebieten – wurden dabei meist von den Mieter*innen der betroffenen Häuser angeregt und bei Bezirken und dem Land durchgesetzt. Bei einem anstehenden Verkauf einer Immobilie in einem sozialen Erhaltungsgebiet, auch Milieuschutzgebiet genannt, hat die Kommune ein Vorkaufsrecht zum aufgerufenen Marktpreis, das innerhalb von zwei Monaten ausgeübt werden muss. Die Bezirke erfüllen in Berlin die meisten kommunalen Aufgaben, bei ihnen liegen viele Planungsrechte und die formelle Ausübung des Vorkaufsrechts. Da die Bezirke aber selbst nicht über ausreichende Finanzmittel oder kommunale Wohnungsunternehmen verfügen, tritt meist ein landeseigenes Wohnungsunternehmen für die Kommunalisierung ein. Das erste Haus, das in Berlin eine solche Kommunalisierung über Vorkauf durchgesetzt hat, ist ebenfalls Mitglied in unserem Bündnis. In der Wrangelstr. 66 in Friedrichshain-Kreuzberg haben die Mieter*innen mit der Unterstützung stadtpolitisch Aktiver dafür gesorgt, dass der Bezirk sein Vorkaufsrecht ausübt und damit ein bestehendes planungsrechtliches Instrument nutzt. Wie viele andere Vorkaufsrecht-Häuser fand sich die Hausgemeinschaft in der Wrangelstr. 66 erst durch den drohenden Verkauf zusammen, wurde politisch aktiv und schnupperte Mitbestimmungsluft. Zu ähnlichem Anlass organisierten sich auch die Mieter*innen des »Neuen Kreuzberger Zentrums« (NKZ), einer Siedlung am nördlichen Kottbusser Tor, die in den 1970er Jahren als sozialer Wohnungsbau im privaten Eigentum errichtet wurde. Ihren Wohnungen drohte der Verkauf an die Unternehmensgruppe »Padovicz«, einen in Berlin für Mieterhöhungen und mangelnde Instandhaltung berüchtigten Eigentümer. Die Bewohner*innen der knapp 300 Wohneinheiten und die Gewerbetreibenden der ca. 90 Gewerbeeinheiten wählten eigenständig einen Mieterrat, um ihre Interessen in den Verkaufsvorgang einzubringen. Er erwirkte, dass der Gebäudekomplex durch ein landeseigenes Wohnungsunternehmen aufgekauft wurde. Beide, die Wrangelstr. 66 und das NKZ, machten nach ihrer Kommunalisierung die Erfahrung, dass das landeseigene Wohnungsunternehmen »Gewobag«, kein Interesse zeigte, die im Kampf um die Kommunalisierung etablierte Mitbestimmung der Mieter*innen weiterzuführen. Nur mit massivem politischem Druck gelang es dem Mieterrat des NKZ, eine modellhafte Kooperationsvereinbarung mit der »Gewobag« abzuschließen, in der er als legitime Vertretung der Bewohner*innenschaft anerkannt wurde (Mieterrat NKZ/Gewobag 2019).
Öffentliche Hand und alles gut?
In unmittelbarer Nähe des NKZ am südlichen Kottbusser Tor kämpfen zwei weitere Mitglieder von »kommunal & selbstverwaltet Wohnen« schon seit Langem für ihre (Re-)Kommunalisierung. Im »Block 89« zwischen Kohlfurther Str. und Fraenkelufer wurden in den 1980er Jahren sieben Häuser besetzt und in Pachtverträge mit der städtischen »Gemeinnützigen Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaft« (GSW) überführt. Durch die Privatisierung der GSW im Jahr 2004 und die anschließenden Weiterverkäufe ist das selbstverwaltete Projekt heute in der Hand der »Deutsche Wohnen SE«. Gleiches geschah mit weiteren Wohnungsbeständen am südlichen Kottbusser Tor, in denen die Initiative »Kotti & Co« aktiv ist. Die Mieter*inneninitiative setzt bereits seit 2012 verschiedene wohnungspolitische Themen, wie z. B. den sozialen Wohnungsbau, auf die stadtpolitische Agenda. Von Beginn an gehörte die (Re)Kommunalisierung von Wohnraum zu ihren Forderungen. Stets aber betonte die Initiative auch, dass Rekommunalisierung allein nicht genug sei. Denn die leidvollen Erfahrungen vieler Mieter*innen der landeseigenen Wohnungsunternehmen zeigen: Öffentliches Eigentum schützt nicht vor unsozialen Mietsteigerungen und Zwangsräumungen und ist auch kein hinreichender Schutz vor Privatisierung. Deshalb haben »Kotti & Co« ein Konzept unter dem Titel »RekommunalisierungPlus« erarbeitet (siehe Kotti & Co 2013; Kotti & Co 2018), das den Ausbau der Mitbestimmungsmöglichkeiten unter dem Dach der landeseigenen Wohnungsunternehmen gerade auch in Wohnsiedlungen fordert, in denen eine enge Abstimmung im Hausplenum oder in ähnlichen Gremien nicht möglich ist. Das Bündnis »kommunal & selbstverwaltet Wohnen« knüpft an dieses Konzept an und setzte sich für seine Umsetzung ein. Einen Ausbau der Mitbestimmungsmöglichkeiten fordert auch die Initiative »Stadt von Unten«, ein weiteres Mitglied des Bündnisses »kommunal & selbstverwaltet Wohnen«. Auf dem sogenannten »Dragonerareal« in Kreuzberg, dessen Privatisierung von ihr und anderen lokalen Initiativen verhindert wurde, versucht die Initiative im entstehenden Neubau das Modellprojekt »selbstverwaltet & kommunal« durchzusetzen (Stadt von Unten 2017). Auch die Forderungen von »Stadt von Unten« basieren auf den negativen Erfahrungen von Mieter*innen im öffentlichen Wohnungsbau. Um Privatisierung und unsoziale Mietsteigerungen zu verhindern, schlagen sie die Verschränkung verschiedener gesamtstädtischer sowie lokaler Interessen in den Strukturen der landeseigenen Wohnungsunternehmen und im Bodeneigentum vor.4 Einzelne Mitglieder des Bündnisses waren auch an anderen Aktivitäten der Berliner Mieter*innenbewegung beteiligt, welche in direkter Verbindung mit un4
So sollen in den Steuerungsgremien der in Erbbaurecht vergebenen Grundstücke zivilgesellschaftliche Vertreter*innen der Nutzer*innen des Geländes, der lokalen Nachbarschaft und der Stadtgesellschaft vertreten sein.
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seren Forderungen stehen. So enthielt der »Mietenvolksentscheid« 2015 zentrale Forderungen zur Demokratisierung der öffentlichen Wohnraumversorgung. Die Forderung nach der Umstrukturierung der sechs privatrechtlichen landeseigenen Wohnungsunternehmen in eine Anstalt des öffentlichen Rechts (A.ö.R.), die auch eine stärkere Beteiligung der Mieter*innen ermöglicht hätte, konnte nicht durchgesetzt werden. Es wurde aber eine Anstalt öffentlichen Rechts »Wohnraumversorgung Berlin« gegründet, die seit 2016 die Aufgabe hat, die Einhaltung der politischen Leitlinien zur Neuausrichtung der sozialen Wohnraumversorgung Berlins und die Kooperation zwischen LWU und dem Land5 durch die sechs betreffenden LWU zu prüfen. Diese »Wohnraumversorgung Berlin« unterstützt auch die Demokratisierungsbemühungen der Mieter*innen, zum Beispiel indem sie die ebenfalls in Folge des »Mietenvolksentscheids« eingeführten Mieterräte rechtlich schult. Auch die im Jahr 2019 begonnene Kampagne »Deutsche Wohnen & Co enteignen« hat in engem Austausch mit dem Bündnis »kommunal & selbstverwaltet Wohnen« ein Konzept entwickelt, wie der vergesellschaftete Wohnungsbestand demokratisch strukturiert werden könnte. In ihrer Broschüre »Vergesellschaftung und Gemeinwirtschaft« schlägt die Initiative die Einrichtung einer neuen Anstalt öffentlichen Rechts vor, deren Verwaltungsrat durch ein Rätesystem zentral von Vertreter*innen der Mieterschaft sowie Vertreter*innen der Stadtgesellschaft gesteuert wird (Deutsche Wohnen & Co enteignen 2020: 21ff). Das Bündnis »kommunal & selbstverwaltet Wohnen« ist also als Teil einer Mieter*innenbewegung zu verstehen; seine Forderungen speisen sich aus den zahlreichen Erfahrungen von Mieter*innen im öffentlichen Eigentum, die mit Mietsteigerungen, Zwangsräumungen und Privatisierungen konfrontiert (gewesen) sind. Trotz dieser negativen Erfahrungen auch mit öffentlichen Vermietern sehen die im Bündnis organisierten Mieter*innen keine massentaugliche Alternative in der Überführung von Wohnraum in privatrechtliche kollektive Eigentumsformen wie z. B. das Mietshäusersyndikat. Die öffentlichen Institutionen der Wohnraumversorgung sollen vielmehr demokratisiert werden. Was das konkret heißt, soll im Folgenden dargestellt werden.
Demokratisierung: Mitbestimmung und Selbstverwaltung Die Demokratisierung der Wohnraumversorgung wollen wir auf zwei Arten vorantreiben: Es gilt erstens, die Mitbestimmung der Mieter*innen in den Strukturen der Unternehmen zu stärken, und zweitens, die Möglichkeiten der Selbstverwaltung auf Haus- und Siedlungsebene auszubauen und zu vereinheitlichen (kusWo 5
Vgl. Gesetz über die Neuausrichtung der sozialen Wohnraumversorgung Berlin sowie »Kooperationsvereinbarung« zwischen LWU und dem Land Berlin.
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2018). Diese beiden Bereiche sind nicht voneinander zu trennen, denn eine lebhafte Selbstverwaltung auf Haus- und Siedlungsebene kann Grundlage einer gesteigerten Bereitschaft sein, auch in den Mitbestimmungsgremien der Unternehmen aktiv zu werden und dort Positionen zu vertreten, die an die Bewohner*innen rückgebunden sind. Eine überlokale Mitbestimmung setzt also eine lokale Mitbestimmung voraus. Die Bereitschaft, sich an dieser lokalen Mitbestimmung zu beteiligen, setzt wiederum voraus, dass es dort auch substantiell etwas zu entscheiden gibt. Wie bereits erwähnt, bestehen bereits Gremien der Mieter*innenmitbestimmung auf Unternehmensebene (Mieterräte) und auf Quartiersebene (Mieterbeiräte) bei den landeseigenen Wohnungsunternehmen, die teils auf Druck der Mieter*innen entstanden: Die Mieterräte werden in den sechs Unternehmen von allen Mieter*innen gewählt, jeweils zwei Mieterräte nehmen an den Aufsichtsratssitzungen teil, einer ist stimmberechtigt und damit direkt an Unternehmensentscheidungen beteiligt. Die Mieterräte vertreten die Interessen aller Mieter*innen eines Unternehmens im Aufsichtsrat, wobei ein Mieterrat 5000 bis 8000 Mieter*innen vertritt. Bereits in den 1980er Jahren haben sich erste Mieterbeiräte etabliert, die auf Quartiersebene von den Mieter*innen der LWU gewählt werden und auch dort agieren. Das heißt, sie werden bei der Gestaltung des Wohnumfelds und bei Instandhaltungsmaßnahmen miteinbezogen. Wie viele Mieter*innen sie jeweils repräsentieren und wie viele der Mieter*innen eines Unternehmens überhaupt durch Mieterbeiräte vertreten werden, ist je nach Unternehmen sehr unterschiedlich (Abgeordnetenhaus Berlin 2019). Im Jahr 2018 wurde die Arbeit der Mieterbeiräte auf deren eigenes Betreiben hin und mit Unterstützung der »Wohnraumversorgung Berlin« A.ö.R. zum ersten Mal zumindest in Leitlinien formalisiert (Landeseigenen Wohnungsunternehmen/Initiativgruppe Berliner Mieterbeiräte 2018). Sowohl die Mitbestimmungsstrukturen auf Quartiers- sowie auch auf Unternehmensebene sind wichtige Strukturen der Demokratisierung, haben aber entscheidende Schwachstellen, wie auch aktive Mitglieder dieser Strukturen selbst bemängeln (vgl. Šustr 2019). Die Wahlbeteiligung bei der ersten Wahl der Mieterräte 2016 war in allen Unternehmen mit 14-21 Prozent relativ gering (Wohnraumversorgung Berlin A.ö.R. 2016: 10), was bei einem neu etablierten Mitbestimmungsgremium aber kaum überrascht. Auch bei den Mieterbeiräten auf Quartiersebene ist die Bereitschaft zur aktiven und zur passiven Wahl überschaubar, was unter anderem auf deren geringe Entscheidungskompetenzen zurückgeführt werden kann. Außerdem besteht bisher kein formeller Zusammenhang zwischen Mieterbeiräten und Mieterräten, obwohl dies für die Demokratisierung sicherlich unerlässlich ist. So hat sich zum Beispiel noch keine einheitliche Praxis etabliert, mit der die Mieterräte die Positionen, die sie im Aufsichtsrat vertreten, mit den dezentralen lokalen Mitbestimmungsgremien, also den Mieterbeiräten und damit den Mieter*innen vor Ort selbst abstimmen.
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Das Bündnis »kommunal & selbstverwaltet Wohnen« fordert, um einigen dieser Probleme zu begegnen, eine dritte Ebene der Mitbestimmung: Neben der Unternehmensebene (Mieterräte) und der Quartiersebene (Mieterbeiräte) sollten auch auf Haus- oder Siedlungsebene (selbstorganisierte) Mieter*innenorganisationen von den LWU anerkannt werden. Außerdem müssten die drei Ebenen der Mitbestimmung besser miteinander verzahnt werden. So könnte es gelingen, eine lebendige Demokratisierung von unten nach oben aufzubauen (kusWo 2019). Die Selbstorganisation der Mieter*innen auf Haus- und Siedlungsebene kann verschiedene Formen demokratischer Selbstorganisation annehmen: Gesamtplena mit Konsensprinzip oder repräsentative Strukturen eignen sich für unterschiedliche Wohntypen und Mitbestimmungswünsche. Die selbstorganisierten Strukturen der Mieter*innenvertretung sollen die Möglichkeiten der Selbstverwaltung auf Haus- und Siedlungsebene ausbauen. Dafür haben wir in unserer Broschüre ein Konzept aus Bausteinen und Stufen der Selbstverwaltung entwickelt (kusWo 2018). Mit Bausteinen meinen wir verschiedene Bereiche des Wohnens: Planungsprozesse, Wohnen, Gewerbe, Verwaltung, Instandhaltung/Sanierung, Einbettung in die Nachbarschaft, Eigentum. In allen Bereichen können die Mitbestimmungs- und Selbstverwaltungsmöglichkeiten der Mieter*innen ausgebaut werden. Und mit Stufen meinen wir verschiedene Grade der Mitbestimmung, die sich nach Organisationsgrad und Wunsch der Mieter*innen im Haus bzw. in der Siedlung staffeln. Dieses Prinzip sei hier anhand von zwei Bausteinen veranschaulicht: Im Bereich der Verwaltung von Wohnraum sähe ein Stufenmodell der Mitbestimmung wie folgt aus: Auf der niedrigsten Stufe sind die Verwaltungsentscheidungen der LWU transparent und offen, auf der zweiten Stufe haben Mieter*innen ein Einspruchsrecht bei Fragen und Vergabe der Bewirtschaftung (z. B. welches Unternehmen für Hausmeisterdienste zuständig ist) und auf der höchsten Stufe der Selbstverwaltung erledigen sie diese Aufgaben selbst und sparen sich damit Verwaltungskosten. Im Bereich des Wohnens wäre die niedrigste Stufe der Mitbestimmung z. B. der Vorrang des Umzugs von Mieter*innen innerhalb des Hauses, die zweite Stufe ein Vorschlagsrecht bei Neubelegung und die dritte Stufe der Selbstverwaltung die Organisation der Vergabe durch die Mieter*innen selbst. Selbstverständlich sind in allen Fällen die sozialen Vergabekriterien des »Wohnraumversorgungsgesetzes« und der »Kooperationsvereinbarung« zwischen LWU und Land einzuhalten. Eine klientelistische Abschottung der Bestände des landeseigenen Wohnungsbaus ist deshalb und wegen der Größe des Bestandes kaum zu befürchten. Das Ziel von »kommunal & selbstverwaltet Wohnen« ist es nicht, alle Mieter*innen der landeseigenen Wohnungsunternehmen dazu zu verpflichten, alle möglichen Aufgaben der LWU in Selbstverantwortung zu überführen und die Unternehmen so zu entlasten. Es geht vielmehr darum, Möglichkeiten der Mitbestimmung und Selbstverwaltung zu schaffen, die alle Mieter*innen gleichermaßen einfordern
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können – sofern sie denn wollen. Wir fordern also ein Recht auf, keine Pflicht zu Mitbestimmung und Selbstverwaltung. Deshalb ist eine unserer zentralen Forderungen, dass die Möglichkeit zur Mitbestimmung standardisiert für alle Mieter*innen zur Verfügung stehen soll, ohne dass sie sich in langjährigen Kämpfen dafür einsetzen müssen. Bei der Verlängerung der Verträge der Pachthäuser bedeutet das ein einheitliches Verfahren mit klaren Kriterien der Festsetzung der Pachthöhe und der zu übernehmenden Selbstverwaltungsaufgaben bei allen sechs LWU und für alle Pachthäuser. Für reguläre Mieter*innen der LWU bedeutet das, dass sie das Recht haben, sich selbst zu organisieren und als Verhandlungspartner*innen um klar definierte Mitbestimmungsrechte – die Bausteine und Stufen – durch die LWU anerkannt zu werden. Dabei ist uns bewusst, dass nicht alle Mieter*innen die zeitlichen und sozialen Ressourcen haben – oder auch nur die Lust – sich in langwierigen Plenumssitzungen zu organisieren. Wir fordern gleichwohl für alle das Recht auf Mitbestimmung und Selbstverwaltung. Denn durch tatsächliche Mitbestimmung entstehen lokale demokratische Strukturen und Gemeinschaften, die sich positiv auf das Lebensumfeld der Mieter*innen – und auch der Nachbarschaft – auswirken können. Denn Menschen, die bei der Gestaltung ihres Umfelds mitreden können, identifizieren sich stärker mit diesem und sind in der Folge auch stärker bereit, Sorge dafür zu tragen. Die Angebote an die Nachbarschaft, die viele Pachthäuser machen – zum Beispiel die Nutzung von Räumen oder Selbsthilfewerkstätten – sind ein Beispiel, wie die lokalen demokratischen Strukturen auch in die Nachbarschaft hineinwirken. Außerdem sind die Mitsprache und Mitentscheidung bei alltäglichen Fragen des Wohnens und Zusammenlebens sowie das dabei angehäufte Erfahrungsund Praxiswissen Grundlage für eine lebendige Mitbestimmungskultur, auch bei übergeordneten Fragen der sozialen Wohnraumversorgung. Und eine lebendige Mieter*innendemokratie ist das beste Bollwerk gegen Bestrebungen der Privatisierung, wie sie auch zukünftige Regierungen wieder anstreben könnten. Ein gutes Beispiel dafür sind die Aktivitäten des »Mieterbeirats Karl-MarxAllee«6 , ebenfalls Mitglied im Bündnis »kommunal & selbstverwaltet Wohnen«. In den 1990er Jahren wurde er im Zuge der Privatisierung großer Teile der Bestände des berühmten sozialistischen Wohnungsbaus als Zugeständnis an die Mieter*innen gegründet und wurde zur Keimzelle für deren Rekommunalisierung im Jahr 2019. Ohne die Expertise und die Organisationsfähigkeit des Mieterbeirates wäre die für den Ankauf notwendige schnelle Mobilisierung der Mieter*innen nicht möglich gewesen.
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Der »Mieterbeirat Karl-Marx-Alle« trägt zwar den gleichen Namen wie die quartiersbezogenen Mieterbeiräte der landeseigenen Wohnungsunternehmen, ist aber ein damit nicht zu verwechselndes Gremium.
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Mit Demokratisierung meinen wir also den Ausbau von direkten und repräsentativen Formen der Demokratie innerhalb der Strukturen der landeseigenen Wohnungsunternehmen. Die öffentliche Eigentümerschaft (des Abgeordnetenhauses) an den Unternehmen steht dabei nicht in Frage. Im Gegenteil, die parlamentarische Kontrolle und Mitbestimmung in einer Anstalt öffentlichen Rechts im Vergleich zu den jetzt privatrechtlich strukturierten Unternehmen (GmbHs, AGs) würde deutlich ausgebaut.
Gegen Widerstände: Strategien und Aktionen Diese Idee der Demokratisierung der öffentlichen Wohnraumversorgung und ihre neuerliche soziale Ausrichtung trifft allerdings bei den landeseigenen Wohnungsunternehmen auf Widerstand, wie sich an einigen Beispielen zeigen lässt. Die durch den »Mietenvolksentscheid« durchgesetzte erste Wahl der Mieterräte wurde von einigen Skandalen begleitet: Manche der Unternehmen versuchten durch den Ausschluss von Kandidat*innen Einfluss auf die Zusammensetzung der Mieterräte zu nehmen. Als Begründung für den Entzug des passiven Wahlrechts wurden Mietrückstände oder »Verstöße gegen das friedliche Zusammenleben« genannt (Wohnraumversorgung Berlin A.ö.R. 2016: 11). Die auffällige Häufung bei einzelnen Unternehmen spricht für ein strategisches Vorgehen. Gegen die Demokratisierung von Planungsverfahren beim Wohnungsneubau zogen die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften mit einem in der Presse veröffentlichten Brandbrief an die Senatorin für Stadtentwicklung, Katrin Lompscher (DIE LINKE), ins Feld, indem sie Bürger*innenbeteiligung als Ausdruck von Partikular- und Minderheiteninteressen abtaten (Landeseigene Wohnungsunternehmen 2017) und damit ihre generelle Haltung zu Mitbestimmung deutlich machten. Zudem zeigten die seit den 1990er Jahren auf Prinzipien neoliberaler Wohnungspolitik und unternehmerisches Handeln getrimmten landeseigenen Wohnungsunternehmen verschiedentlich, dass sie sich nicht ohne Weiteres dem auf Druck der Mieter*innen durchgesetzten sozialen Schwenk in der Wohnungspolitik unterwerfen würden: Kurz bevor eine durch die »Kooperationsvereinbarung« zwischen LWU und Land festgesetzte Begrenzung der Mieterhöhung auf jährlich zwei Prozent im Frühjahr 2017 Gültigkeit erlangen sollte, nutzte ein Unternehmen, die »Degewo«, das Zeitfenster für Mieterhöhungen um bis zu 15 Prozent. Auf politischen Druck einer Mieter*inneninitative im Mariannenkiez in Kreuzberg und der amtierenden Senatorin Lompscher hin wurden diese Mieterhöhungen dann wieder zurückgenommen (Frey 2017). Eben diese Wohnungen im Mariannenkiez löste die »Degewo« zum Jahreswechsel 2019/2020 durch frühzeitige Rückzahlung
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öffentlicher Mittel aus dem Sozialwohnungsbestand.7 Dies wiederum erlaubt der »Degewo«, die Modernisierungskosten auf die Mieter*innen umzulegen, welche wiederum mit Mieterhöhungen von bis zu 28 Prozent konfrontiert sind und gegen diese protestieren (Paul 2019). Im NKZ machten die Mieter*innen Anfang 2020 nach der Kommunalisierung ihrer Wohnungen darauf aufmerksam, dass sich die Verwaltung ihrer Siedlung im Vergleich zur vorherigen Situation – der Verwaltung durch einen privaten Besitzer – deutlich verschlechtert habe (Kistler 2020). Damit verwiesen sie auf ein weiteres Problem der neoliberalen Umstrukturierung der öffentlichen Wohnraumversorgung: dem von den LWU vollzogenen Outsourcing, also der Zentralisierung und Privatisierung von Bewirtschaftungsaufgaben, z. B. Hausmeisterdiensten, um vermeintlich Kosten zu sparen. Wie sich hier zeigt, lassen sich die seit den 1990er Jahren tiefgreifend neoliberal reformierten landeseigenen Wohnungsunternehmen nicht ohne politischen Konflikt auf einen sozialen Kurs verpflichten. Auch darin sehen wir einen Grund, die Mieter*innendemokratie in diesen Institutionen auszubauen. In unserer eigenen Arbeit wurden wir mit dem Widerstand der landeseigenen Wohnungsunternehmen gegen Forderungen nach mehr Mitbestimmung immer wieder konfrontiert. Bewohner*innen von Pachthäusern, deren Verträge auslaufen, berichten, dass es keinen Willen gibt, diese Vereinbarungen zu annehmbaren Konditionen zu verlängern. Jüngst rekommunalisierte Häuser mussten erfahren, dass ihr Anspruch zurückgewiesen wurde als Hausgemeinschaft, organisiert als Verein o.Ä., von den LWU als Gesprächspartner anerkannt zu werden. Allein diese Anerkennung gelang nur, wenn politischer Druck über Abgeordnete oder Mitglieder der Berliner Regierung organisiert wurde. Da aber das Recht auf Mitbestimmung nicht von den sozialen Netzwerken, Ressourcen und Kompetenzen in jedem einzelnen Haus abhängen darf, hat sich das Bündnis »kommunal & selbstverwaltet Wohnen« zusammengetan. Eine unserer zentralen Forderungen lautet, dass jede Haus- und Siedlungsgemeinschaft das Recht auf Anerkennung als Gesprächspartnerin und auf ihr zustehende Mitbestimmungsmöglichkeiten unter den gleichen Bedingungen haben sollte. Diese Anliegen haben wir auf verschiedene Arten an die LWU herangetragen. Wir treffen uns in regelmäßigen Abständen mit den beiden Sprecher*innen der Vorstände der sechs LWU. Allein diese Anerkennung unserer Gruppe als Gesprächs- und Verhandlungspartnerin verbuchen wir als Erfolg im Vergleich zur vorherigen Situation. Es bleibt aber noch einiges an Überzeugungsarbeit zu leisten, wie die Gespräche zeigen: Deutlich vermittelt wurde uns, wir sollten uns mit 7
Der Berliner soziale Wohnungsbau sieht vor, dass Eigentümer durch vorzeitige Rückzahlung der aufgewendeten öffentlichen Mittel Sozialwohnungen frühzeitig aus der Bindung lösen können.
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dem »Privileg« zufriedengeben, eine Wohnung der öffentlichen Hand bewohnen zu dürfen. Auch versuchten die LWU, die Forderungen der selbstorganisierten Mieter*innen gegen die existierenden Mitbestimmungsgremien der Mieterräte und Mieterbeiräte auszuspielen. Durch Austausch und gemeinsames öffentliches Auftreten mit deren gewählten Vertreter*innen konnten wir diesen Versuch der Spaltung aber abwehren. Neben direkten Gesprächen mit den LWU haben wir unsere Anliegen auch bei Vertreter*innen der derzeitigen Regierungsparteien Berlins (SPD, Linke und Grüne) und in der »Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen« vorgebracht. So hat sich die Möglichkeit ergeben, eine Stellungnahme zur aktuell laufenden Evaluation und Überarbeitung der »Kooperationsvereinbarung« zwischen LWU und Land einzubringen (kusWo 2019). Zentraler Punkt unserer Forderungen ist hier, einheitliche Verfahren zur Festlegung von Mitbestimmungsrechten festzulegen, von denen alle Mieter*innen öffentlicher Wohnungen profitieren könnten – ob sie organisiert sind oder nicht. Denn nur damit ist eine wirkliche, nachhaltige Demokratisierung der Wohnraumversorgung auch jenseits bewegungspolitischer Hochphasen und Zentren in einzelnen Stadtteilen möglich, die langfristig vor künftigen Privatisierungen und einer unsozialen Ausrichtung der öffentlichen Wohnraumversorgung schützt.
Literatur Abgeordnetenhaus Berlin (2019): Drucksache 18 / 17 791. Antwort auf Schriftliche Anfrage »Mieterbeiräte der landeseigenen Wohnungsunternehmen« des Abgeordneten Tino Schopf (SPD). https://www.tino-schopf.de/dl/2019_02_22_Mieterbeiraete_der_landeseigenen_Wohnungsunternehmen.pdf (letzter Zugriff am 03.01.2020). Deutsche Wohnen & Co enteignen (2020): Vergesellschaftung und Gemeinwirtschaft. Lösungen für die Berliner Wohnungskrise. https://www.dwenteignen.de/wp-content/uploads/2020/01/2020-01-29_Vergesellschaftungund-Gemeinwirtschaft_Download.pdf (letzter Zugriff am 11.02.2020). Frey, Thomas (2017): »Mit Senatorin gegen Mieterhöhungen: Katrin Lompscher unterstützt Degewo-Bewohner«, in: Berliner Woche vom 02.03.2017. https://www.berliner-woche.de/kreuzberg/c-bauen/mit-senatorin-gegenmieterhoehungen-katrin-lompscher-unterstuetzt-degewo-bewohner_a119968 (letzter Zugriff am 18.02.2020). Kistler, Florian (2020): »Dieses Haus im Herzen von Kreuzberg verkommt zur Ekelfalle«, in: B.Z. vom 05.01.2020. https://www.bz-berlin.de/berlin/friedrichshain-kreuzberg/dieses-haus-im-herzen-von-kreuzberg-verkommtzur-ekel-falle (letzter Zugriff am 14.02.2020).
Öffentliche Hand und alles gut?
Kotti & Co (2013): Rekommunalisierung Plus Kotti. Blogeintrag. https://kottiundco.net/2013/10/30/rekommunalisierung-plus-kotti/ (letzter Zugriff am 03.01.2020). Kotti & Co (2018): Rekommunalisierung Plus. Modellprojekt am Kottbusser Tor. Studie. https://kottbussertor.org/ (letzter Zugriff am 03.01.2020). kusWo (2018): kommunal & selbstverwaltet Wohnen. Mieter*innen für die Demokratisierung der Wohnraumversorgung. Broschüre, Berlin. https://kommunal-selbstverwaltet-wohnen.de/kuswo_broschuere.pdf (letzter Zugriff am 03.01.2020). kusWo (2019): Überarbeitung Kooperationsvereinbarung mit den landeseigenen Wohnungsunternehmen Berlins (LWU): Änderungs- und Ergänzungsvorschläge des Netzwerk es »kommunal & selbstverwaltet Wohnen, kusWo« https://kommunal-selbstverwaltet-wohnen.de/2019_ueberarbeitung_koopv_kuswo.pdf (letzter Zugriff am 16.03.2020). Landeseigene Wohnungsunternehmen (2017): Offener Brief »Betreff: Neubau Kooperationsvereinbarung ›Leistbare Mieten, Wohnungsneubau und soziale Wohnraumversorgung‹ vom 5. April 2017, Roadmap zum Neubau vom 12. April 2016« https://www.tagesspiegel.de/downloads/20324282/1/brief_lompscher.pdf (letzter Zugriff am 04.01.2020). Landeseigene Wohnungsunternehmen/Initiativgruppe Berliner Mieterbeiräte (2018): Leitlinien für Mieterbeiräte. https://inberlinwohnen.de/wpcontent/uploads/2018/05/Mieterbeirat.pdf (letzter Zugriff am 03.01.2020). Mieterrat NKZ/Gewobag (2019): Kooperationsvereinbarung. Mieterratnkz.de/wpcontent/uploads/2019/08/Kooperationsvereinbarung_Gewobag_NKZ.pdf (letzter Zugriff am 03.01.2020). Paul, Ulrich (2019): »Soll das moderat sein, liebe Degewo? 28 Prozent Miete rauf wegen Modernisierung!«, in: Berliner Kurier vom 19.12.2019. https://www.berliner-kurier.de/berlin/kiez–stadt/soll-das-moderat-sein–liebe-degewo–28prozent-miete-rauf-wegen-modernisierung–33635086 (letzter Zugriff am 18.02.2020). Stadt von Unten (2017): selbstverwaltet & kommunal. Mit einem Modellprojekt für eine Stadt von Unten. https://stadtvonunten.de/wp-content/uploads/2014/07/Modellprojekt-Selbstverwaltet-Kommunal-f%C3%BCrStadt-von-Unten.pdf (letzter Zugriff am 03.01.2020). Šustr, Nicolas (2019): »Echte Beteiligung gefordert. Mieterbeiräte wollen verbindliche Rechte bei landeseigenen Wohnungsunternehmen«, in: Neues Deutschland vom 01.09.2019. https://www.neues-deutschland.de/artikel/1125174.mieterbeiraete-echte-beteiligung-gefordert.html (letzter Zugriff am 25.02.2020). Wohnraumversorgung Berlin A.ö.R. (2016): Evaluation der Mieterratswahlen. Bericht. https://www.stadtentwicklung.berlin.de/wohnen/wohnraumversor-
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gung/download/Evaluation_der_Mieterratswahlen_WVB.pdf (letzter Zugriff am 03.01.2020).
Wohnungsfrage(n) jenseits (groß-)städtischen Wachstums
Wohnen auf dem Land: Infrastrukturen für »gleichwertige Lebensverhältnisse« Maike Simmank »Etwa 90 Prozent der Fläche in Deutschland ist ländlich geprägt«1 . Der ländliche Raum ist Produktionsstätte für Lebensmittel- und Energieversorgung, er bietet eine abwechslungsreiche Kultur- und Naturlandschaft, ist beliebte Szenerie für Erholung, Tourismus und Freizeitaktivitäten – und: er ist Wohnort von mehr als der Hälfte der in Deutschland lebenden Menschen. Dabei ist zwischen verschiedenen Typen ländlicher Räume mit abweichenden sozialräumlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Merkmalen zu unterscheiden. Neben der Bevölkerungsdichte lassen sich ländliche Regionen zudem anhand ihrer geografischen Lage klassifizieren, die Rückschlüsse über die Anbindung und die Erreichbarkeit von Städten, Ausbildungs- und Arbeitsplätzen sowie zentralen Versorgungseinrichtungen erlaubt (vgl. BMEL 2019: 10). Neben der oft von Städter/-innen romantisierten Idealvorstellung des idyllischen Landlebens in der Natur mit viel Platz und Ruhe (das freilich existiert!) sind Abwanderung, Infrastrukturrückbau und Herausforderungen durch ein steigendes Durchschnittsalter ebenfalls Realitäten innerhalb ländlicher Regionen. In dünn besiedelten Gebieten macht sich die veränderte demografische Lage besonders dort bemerkbar, wo es um die Aufrechterhaltung örtlicher Strukturen und Leistungen geht. Die jungen Leute zieht es in die Städte; es kommt zu Binnenwanderung und Bildungsmigration in angebotsreiche Ballungsräume und Universitätsstädte. Laut Raumordnungsbericht der Bundesregierung lassen sich diese Entwicklungen seit 1995 sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland beobachten. Es sind zunehmende Wanderungen aus Mittel- und Kleinstädten sowie Landgemeinden in die ost- und westdeutschen Großstädte und die westdeutschen städtischen
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Zur Abgrenzung und Typisierung des Begriffs »ländlicher Raum« unterscheidet das »Thünen Institut« zwischen dem »nicht-ländlichen Raum« (= nicht-ländliche Kreise) sowie vier Ausprägungen des »ländlichen Raums« (Kombinationen der Merkmale: eher ländlich/sehr ländlich; gute sozioökonomische Lage/weniger gute sozioökonomische Lage). Anhand dieser Abgrenzung leben 57,2% der Einwohner/-innen Deutschlands in ländlichen Räumen, die eine Gesamtfläche von 91,3% ausmachen (Küpper 2016).
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Kreise zu verzeichnen (BBSR 2017: 15). Von jährlich etwa 2,6 Mio. Wanderungen über Kreisgrenzen hinweg beträgt die Mobilitätsrate der Bildungs- und Berufseinstiegswanderer (die Altersgruppen der 18-25- bzw. 25-30-Jährigen) das Dreifache des Wanderungsdurchschnitts (ebd.: 14). Diese Entwicklungen führen mitunter dazu, dass das Durchschnittsalter in den betreffenden Regionen steigt, folglich verändern sich auch die Bedarfe der Daseinsvorsorge: Steigt der Altersdurchschnitt im Dorf, nimmt die Bedeutung von Angeboten in der Altenpflege oder des wohnortnahen Zugangs zu ärztlicher und medizinischer Versorgung zu. Immer mehr Dörfer sehen sich in Folge von strukturellen und demografischen Entwicklungen mit Herausforderungen konfrontiert, die dringende Handlungsfelder offenlegen, Anpassungsmaßnahmen verlangen und bedarfsorientierte Lösungskonzepte benötigen. Die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit in Deutschland spitzt sich territorial immer stärker zu (Kersten et al. 2019: 4): Städtische Quartiere, Dörfer und ganze Regionen werden einander immer unähnlicher. Ohnehin bestehende Ungleichgewichte werden durch demografische und soziökonomische Effekte weiter verschärft. Für peripher gelegene und strukturschwache Wohnorte bedeuten diese Entwicklungen, dass sie an baulicher und sozialer Substanz, Attraktivität und Lebensqualität zu verlieren drohen. Der vorliegende Text richtet den Blick auf die infrastrukturellen und sozialen Zusammenhänge, die das Wohnen in vielen Dörfern beeinflussen. Wie wirken die gegenwärtigen demografischen Veränderungen und das Wegbrechen örtlicher (Versorgungs-)Angebote auf soziale Alltagsprozesse und die Wohnqualität in Dörfern? Den Bezugsrahmen bildet ein Transferprojekt am »Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI)«, das diesen und weiteren Fragestellungen im ländlichen Raum Südniedersachsens nachgeht.2 Mit der Durchführung qualitativer Partizipations- und Kommunikationsformate nimmt das Projekt in exemplarischen Dörfern die Lebenswirklichkeit des Postulats »gleichwertiger Lebensverhältnisse« in den Blick. In diesem Text sind einige ausgewählte Impulse und Themenpunkte aus dem Projektkontext zusammengetragen. Im Ergebnis weisen diese darauf hin, dass der Zugang zu Daseinsvorsorge und das Vorhandensein von Infrastrukturen notwendige Bausteine einer angemessenen Wohnraumversorgung (in ländlichen Räumen) sind.
Gleichwertiges Wohnen auf dem Land? Der Grundsatz der »Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse« (Art. 72 Abs. 2 GG; §2 Abs. 2 ROG) beabsichtigt, die gesellschaftliche Teilhabe und räumliche Chan2
Projekt »Gleichwertigkeit – Mehr als eine gute Idee?!«, nähere Informationen unter: www.sofi-goettingen.de/projekte/gleichwertigkeit-mehr-als-eine-gute-idee/
Wohnen auf dem Land: Infrastrukturen für »gleichwertige Lebensverhältnisse«
cengleichheit aller Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. Konkret heißt es in den Grundsätzen der Raumordnung: »Die Versorgung mit Dienstleistungen und Infrastrukturen der Daseinsvorsorge, insbesondere die Erreichbarkeit von Einrichtungen und Angeboten der Grundversorgung für alle Bevölkerungsgruppen, ist zur Sicherung von Chancengerechtigkeit in den Teilräumen in angemessener Weise zu gewährleisten; dies gilt auch in dünn besiedelten Regionen.« (§2 Abs. 2 Nr. 3 ROG) Bis zu seiner Neufassung im Jahr 1994 war in Artikel 72 Absatz 2 im Grundgesetz noch die Rede von der »Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse«. Im Zuge der deutschen Wiedervereinigung indizierten die erheblichen räumlichen Disparitäten, dass eine Angleichung der Lebensverhältnisse kaum möglich sei. Im Rahmen der umfangreichen Grundgesetznovelle von 1994 und dem Ziel der föderalen Stärkung der Eigenständigkeit der Länder veranlasste die Verfassungskommission daher die Umformulierung zur »Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse«. Mit der Erneuerung durch den Terminus »Gleichwertigkeit« lässt sich der staatliche Versorgungsauftrag jedoch auf eine »Minimalkohäsion« reduzieren: Im Ergebnis wird die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse zwar als ein »bundesstaatliches Rechtsgut« anerkannt. Eingriffe des Staats sind jedoch nur vorgesehen, »wenn sich die Lebensverhältnisse in den Ländern der Bundesrepublik in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinanderentwickelt haben oder sich eine derartige Entwicklung konkret abzeichnet« (BVerfGE 106, 62 (144); vgl. Kersten et al. 2019: 6f.; Heinrich-Böll-Stiftung 2015: 24). Gewiss ist: Gleichwertigkeit meint nicht Gleichheit oder Vereinheitlichung. Orte sollen einander nicht gleichen, sondern ihre Identitäten bei einem qualitativ vergleichbaren Lebensniveau behalten. Welche Leistungen und Institutionen unter die zu gewährleistenden »Dienstleistungen«, »Infrastrukturen der Daseinsvorsorge« und »Angebote der Grundversorgung« fallen, ist jedoch nicht näher definiert. Einerseits lässt diese fehlende Präzision Handlungsfreiräume für regionalspezifische Anforderungen und kulturelle Vielfalt, andererseits verpflichtet sie »den Staat lediglich, eine gewisse Grundversorgung der Bevölkerung, insbesondere bereichsspezifisch in gewissen Infrastrukturbereichen, sicherzustellen« (Kahl/Lorenzen 2019: 57). Mit Blick auf die räumliche Entwicklung, die zunehmende Disparitäten zwischen Stadt und Land sowie innerhalb von Regionen, Kommunen und Gemeinden aufweist, kann in zahlreichen Regionen von gleichwertigen Lebensverhältnissen nicht die Rede sein. Mehr als 13,5 Millionen Menschen in Deutschland leben in Regionen mit schweren Strukturproblemen, die durch hohe kommunale Verschuldung, schwerwiegende Defizite in der örtlichen Infrastruktur, geringere Beschäftigungs- und Einkommensperspektiven bis hin zu hoher Armutsgefährdung für Kinder und ältere Menschen gekennzeichnet sind (Fink et al. 2019: 14).
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Besonders stark betroffen sind die ländlichen Räume ostdeutscher Landkreise, die im Disparitätenbericht der »Friedrich Ebert Stiftung« als »ländlich geprägte Regionen in der dauerhaften Strukturkrise« klassifiziert sind (ebd.: 9f.). Zudem lassen sich Cluster im Ruhrgebiet und im Nordosten identifizieren, die sich mehr und mehr von der bundesdurchschnittlichen Entwicklung der Lebensverhältnisse entfernen (BBSR 2017; Kersten et al. 2019: 7). Viele der davon betroffenen Kommunen und Gemeinden können den Negativentwicklungen aufgrund geringer Haushaltsbudgets und Sparzwängen aus eigener Kraft kaum gegensteuern. Um das Leitbild der sozialen Teilhabe und Chancengerechtigkeit zu verfolgen sowie den sozialen Zusammenhalt und die territoriale Kohäsion zu stärken, bedarf es mit Blick auf die Aufrechterhaltung und Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse geeigneter Anpassungsmaßnahmen: Eine wichtige Weichenstellung hat die Bundeskommission »Gleichwertige Lebensverhältnisse« mit dem sogenannten »Gleichwertigkeits-Check« beschlossen, der künftig alle Gesetzesvorhaben auf die Chancengerechtigkeit der Menschen in Stadt und Land prüfen soll. Er stellt eine von zwölf beabsichtigten Maßnahmen dar, die darauf abzielen, den ländlichen Raum in Gesetzgebungsprozessen stärker zu berücksichtigen (BMI 2019: 59). Dass eine bedarfsgerechte örtliche Infrastrukturversorgung immer größere Herausforderungen für Dörfer und Kommunen darstellt, hängt zunehmend auch mit Effekten zentraler Entwicklungstrends, wie der Flexibilisierung von Arbeit sowie der Digitalisierung des Alltags, zusammen. Obwohl der ländliche Raum insgesamt mit vielen Industrie- und Handwerksbetrieben über eine hohe wirtschaftliche Leistungskraft verfügt, sind Arbeitsplätze für höher Qualifizierte, besonders im Dienstleistungsbereich, rar (vgl. Henkel 2016: 30f.). Immer mehr Dörfer gelten als »Schlaforte«, die tagsüber verlassen und nur abends und am Wochenende belebt sind. Das öffentliche Leben, das in dörflichen Kontexten fast ausschließlich von Vereinen getragen wird, verliert an Präsenz und Wirkungskraft (vgl. Winkel 2017: 51). Mit einer hohen Zahl an Auspendelnden gehen auch veränderte Gewohnheiten im Alltag einher: Wer zum Arbeiten, zum Erledigen von Behördengängen oder Arztbesuchen ohnehin aus dem Dorf oder der Kleinstadt hinauspendelt, nutzt häufig Einkaufsmöglichkeiten im Umland der nächstgelegenen größeren Zentren, wo das Angebot diversifizierter und räumlich konzentriert ist oder auch günstiger erscheint (vgl. Kokorsch/Küpper 2019: 10f.). Nicht zuletzt gerät lokaler Einzelhandel auf dem Dorf, wie in vielen kleineren Innenstädten, durch den stetig wachsenden Onlinehandel unter Druck, der preislich sowie mit örtlicher und zeitlicher Ungebundenheit lokal ansässige Läden in die Knie zwingt. Im »Tante-Emma-Laden« können heute kaum noch Gewinne erzielt werden. Verloren geht mit dem kleinteiligen dörflichen Einzelhandel aber nicht nur die Nahversorgung des täglichen Bedarfs, sondern auch ein Ort für Austausch und Geselligkeit. Im Dorf haben insbesondere ältere Generationen das Nachsehen, die weder mobil noch online sind (vgl. ebd.: 23f.).
Wohnen auf dem Land: Infrastrukturen für »gleichwertige Lebensverhältnisse«
Veränderte Rahmenbedingungen und Handlungsmuster, wie sie hier exemplarisch skizziert worden sind, bestimmten die sozialen und strukturellen Zusammenhänge sowie die Qualität von Wohnorten stets mit. Die Gestaltung des Lebens auf dem Land ist dabei nicht allein Staatsangelegenheit (vgl. Vogel 2007), sondern sie stellt eine dauerhafte Gemeinschaftsaufgabe für Bund, Länder, Gemeinden, Wirtschaft, Vereine, Initiativen und die Zivilgesellschaft dar (vgl. BMEL 2019: 5).
Zum Verhältnis staatlicher Grundversorgung und zivilgesellschaftlichen Engagements: Grenzen und Potentiale Noch bis vor gut 50 Jahren haben sich Dörfer mit öffentlicher und privater Infrastruktur zu großen Teilen selbstversorgt. Um 1950 hatten 80 Prozent der Dorfgebäude landwirtschaftliche Funktionen. Handwerksbetriebe, Dorfläden, Gasthöfe sowie eine eigene Gemeindeverwaltung, Bürgermeister und Polizeiposten gehörten zur dörflichen Standardausstattung. Im Zuge von Raumordnungs- und Eingemeindungsprozessen und der damit einhergehenden Zentralisierung von öffentlichen Gütern, Ämtern und Institutionen gaben die Dörfer den Selbstversorgerstatus zu großen Teilen ab. Neugewonnene Chancen durch die veränderten Organisationsstrukturen bedeuteten auf der anderen Seite den Abbau der über Jahrhunderte gewachsenen lokalen Kompetenzen (vgl. Henkel 2016: 44). Grundlegend geht es bei Infrastruktur und Daseinsvorsorgeleistungen um die Sicherung von Bildung und Gesundheit, Energie und Telekommunikation, Mobilität und Verkehr, Wasserversorgung und Abfallentsorgung (vgl. Kersten et al. 2016: 2). Diese Grundfunktionen gelten als Voraussetzungen für ein gelingendes Leben in der modernen Gesellschaft, als Basis eines stabilen Zusammenlebens und der persönlichen Entfaltung. Ihr Abbau zieht aber nicht nur einen Verlust an Grundversorgung, sondern auch von sozialen Strukturen, tragenden Berufsbildern und sozialen Milieus nach sich, die die traditionellen lokalen Zusammenhänge des Kultur-, Vereins- und Parteilebens in Gemeinden und Regionen stärken und mitgestalten (vgl. Vogel 2017: 22f.; Kersten et al. 2019: 4). Das Vorhandensein von Bildungsangeboten, Gesundheitsträgern und Verwaltungsämtern in der Fläche trägt zur Absicherung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung von Regionen bei. Die Bereitstellung und Gewährleistung daseinsvorsorgender Infrastruktur ist, auch mit Blick auf die Herstellung »gleichwertiger Lebensverhältnisse«, eine Schnittstellenaufgabe für Bund, Länder, Kommunen, Wirtschaftsunternehmen und Zivilgesellschaft. Dass die Verantwortung an verschiedene Stellen verteilt werden muss, zeigt sich etwa in der Berücksichtigung lokaler Bedarfe: Bundespolitische Vorgaben bei der Ausstattung einzelner Regionen mit Daseinsvorsorgekapazitäten können regionale Unterschiede, Präferenzen und lokale Vielfalt nicht in dem Maße berücksichtigen, wie dies aufgrund der räumlichen
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Nähe durch die Landes- und Kommunalebene möglich ist (vgl. Ragnitz/Thum 2019: 18). Regional unterschiedliche Bedarfe zeigen sich etwa in den Aufgabenbereichen von Schulbildung, Kinderbetreuung, Gesundheitsversorgung, Pflege, Kommunikationsinfrastruktur, Verkehrsmobilität oder Müllentsorgung (vgl. Dehne 2019: 78). Viele dieser Leistungen werden in der Fläche vor allem von Verbänden der Wohlfahrtspflege, Vereinen, den Kirchen, in privatwirtschaftlichen Aktivitäten und von Ehrenamtlichen gestaltet, die aufgrund der räumlichen Nähe eher im Interesse der Bürger/-innen und lokalen Anforderungen handeln können. Auf Gemeindeebene und innerhalb dörflicher Strukturen sind ehrenamtliche Tätigkeiten und bürgerschaftliches Engagement wichtige Träger für die Gewährleistung von Daseinsvorsorge: Die Freiwilligen Feuerwehren, Kultur- und Sportvereine, die Kirchen sowie Initiativen, Verbände und Netzwerke tragen nicht nur zur Herstellung »gleichwertiger Lebensverhältnisse« bei, indem sie Leistungen der Daseinsvorsorge erbringen oder wichtige Funktionen zur öffentlichen Sicherheit übernehmen. Sie fördern zugleich gesellschaftlichen Zusammenhalt und stärken die Teilhabe an Gesellschaft und Demokratie (vgl. Kersten et al. 2017: 56).
Dörfer als »Soziale Orte«: Ansätze zur Erhaltung und Sicherung lokaler (Infra-)Strukturen und lebendiger Wohnorte Während die Immobilienpreise und Mieten in den großen Städten in die Höhe schießen, sind sie im ländlichen Raum jenseits der wachsenden Stadtregionen mehr und mehr am Verfallen (vgl. Henkel 2016: 26). Bundesweit verschärft sich die Kluft zwischen hochpreisigen und für die breite Bevölkerung erschwinglicheren Regionen, dennoch sind viele Dörfer trotz niedriger Immobilienpreise und günstiger Mieten von Abwanderung und Leerstand betroffen. Wo öffentliche Güter und die Versorgung mit Grundangeboten des täglichen Bedarfs nicht mehr in hinreichendem Maß oder hinreichender Erreichbarkeit angeboten werden, hat dies Auswirkungen auf den öffentlichen Raum und das soziale Alltagshandeln; mögliche Gestaltungsräume werden eingeschränkt. Speziell in Dörfern bedeutet die Abwesenheit von Bäcker, Post und Bushaltestelle das Fehlen von sozialen Begegnungsorten. Hinzu kommt, dass Wohnorte Elemente ihrer ortsprägenden Identitäten verlieren: Mit der Schließung von Schulen, Bankfilialen, Polizeidienststellen, Verwaltungen und der Einschränkung des Personennahverkehrs lässt in betroffenen Dörfern und Kleinstädten die Attraktivität des Wohnumfelds nach. Bemerkbar macht sich dies wiederum in sinkenden Immobilienpreisen oder Gebäudeleerstand, der vorwiegend in den Dorfkernen einschlägt. Über Jahre ungenutzte Immobilien verfallen baulich und identitätsprägende Gebäude und Ortsbilder gehen als wesentliche Bezugspunkte lokaler Gemeinschaften verloren.
Wohnen auf dem Land: Infrastrukturen für »gleichwertige Lebensverhältnisse«
Mit ihrem Konzept »Sozialer Orte« reagieren Jens Kersten, Claudia Neu und Berthold Vogel (2017) auf die demografischen und strukturellen Veränderungen, die insbesondere in sehr ländlich gelegenen Dörfern und Kleinstädten Abwanderung, Leerstand und Infrastrukturabbau zur Folge haben. Als »Soziale Orte« bezeichnen die Autorin und Autoren lokale Prozesse und Zusammenschlüsse, die solchen Entwicklungen entgegenwirken. Dies können Netzwerke, Vereine, bürgerschaftliche Initiativen oder Projekte sein, die darauf ausgerichtet sind, den öffentlichen Raum bedarfsgerecht zu gestalten und mit der Entwicklung neuer Kommunikations- und Infrastrukturen den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken (ebd.). Als Grundvoraussetzungen für die Entstehung »Sozialer Orte« werden unter anderem die »staatliche Gewährleistung von Infrastrukturen und öffentlichen Gütern« sowie »engagierte und innovationsfähige Akteure« genannt (Kersten et al. 2019: 10). Es brauche die richtigen Leute am richtigen Ort (ebd.): engagierte Menschen, die Verantwortung übernehmen, um die Lebensbedingungen an ihren Wohnorten aktiv mitzugestalten. Beides, also die Sicherung infrastruktureller Versorgung ebenso wie bürgerschaftliches bzw. privates Engagement, stellen insofern auch wesentliche Voraussetzungen für die Bewahrung, Entwicklung oder nötigenfalls eben auch die qualitative Aufwertung von Wohnumgebung und Wohnraum dar. Das soziale und räumliche Umfeld, die lokale Ausstattung und örtlichen Leistungsangebote, Kultur und Mentalität sowie gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten nehmen notwendig auf die Qualität eines Wohnorts und damit des Wohnens als Grundbedürfnis Einfluss. Wohnen bedeutet mehr, als eine Behausung zu haben, Gemeinden sind mehr als reine Wohnsiedlungen. Wer an einem Ort wohnt, ist eingebunden in sozialräumliche Zusammenhänge, die von den ansässigen Menschen mitgestaltet werden können. Selbstverantwortung und aktive Beteiligung sind Qualitäten, die seit dem Mittelalter tief im Dorf verwurzelt sind (Henkel 2016: 270). Gerade angesichts ausgedünnter staatlicher Netze der Daseinsvorsorge scheint die Entwicklung von Dörfern und ihrer sozialen Strukturen wesentlich von diesem lokalen Engagement abhängig.3 Einen Beitrag hierzu kann das gemeinschaftliche Wohnen liefern, das sich nicht nur in Städten, sondern zunehmend auch in ländlichen Räumen als eine beliebte Wohnform etabliert hat, die »für kleine Gemeinden ein Kristallisationspunkt für eine neue, nach vorne gerichtete Entwicklung« sein kann (Gütschow 2018: VI; vgl. Wonneberger 2018: 1). Ob im Eigentum, zur Miete oder in Genossenschaften kann das Konzept von gemeinschaftlich genutztem und multifunktionsfähigem Wohn- und/oder Versorgungsraum mehrere Zwecke erfüllen: Das Leben in
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Zu diesem Ergebnis kommt die Langzeitstudie »Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel 1952, 1872, 1993, 2012« des Thünen Instituts, beauftragt vom BMEL (2019: 15).
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Hausgemeinschaften, die private Wohnungen mit Gemeinschaftsräumen kombinieren, befriedigt den sozialen Bedarf nach engen nachbarschaftlichen Kontakten, Gemeinschaft und Unterstützung im Alltag (ebd.). Darüber hinaus wird gemeinschaftlichen Wohnformen das Potential zugeschrieben, zur Aktivierung von Dorfkernen beizutragen, da der häufig dort zu findende Leerstand prädestiniert für neue Nutzungskonzepte erscheint (vgl. ebd.). Vorwiegend sind es junge Familien und älteren Menschen, die an solchen Wohnarrangements interessiert sind und von der Gemeinschaft profitieren (ebd.). Vielerorts ermöglichen die (natürlichen) Ressourcen und (veränderten) Gegebenheiten in ländlichen Räumen, das Wohnen dort weitgehend nach individuellen und bedarfsorientierten Vorstellungen zu gestalten. Dies sind Vorzüge des Dorflebens, die zunehmend für Familien mit Kindern und »urbane Kreative« in den Fokus rücken.4 Überdies wird im Rahmen der Innenentwicklung in vielen Kommunen eine nachhaltige Flächennutzung als politische und planerische Strategie verfolgt, um strukturschwache Dörfer als Wohnorte wieder attraktiv und für Zuzügler interessant zu machen: Dabei gilt es vorrangig, vorhandene Flächen zu nutzen, leerstehende Gebäude zu sanieren und einer neuen Nutzung zuzuführen, anstatt neue Flächen im Umland und an den Dorfrändern zu erschließen. »Umnutzung statt Neubau« lautet die Devise (vgl. BMEL 2019: 24). Denn die fortwährende Entleerung der Dorfkerne ist mitunter dem gestiegenen privaten wie auch wirtschaftlichen Interesse an der »grünen Wiese« geschuldet. Neubaugebiete sowie Discounter, Filialisten und Fachmärkte entstehen bevorzugt auf unbebauten Flächen entlang der Siedlungsgrenzen. In der Folge werden Wohnen und Konsum an die Dorfränder verlagert, was die Revitalisierung der Zentren hemmt. Solche Entwicklungen tragen dazu bei, dass sich der Leerstand im Dorfkern auch in Gemeinden, die an Einwohner/-innen zunehmen, nicht verringert (Henkel 2016: 19). Dies gefährdet letztlich die Lebensqualität auf dem Land (ebd.: 26). Mittlerweile gibt es auf Bundes- und Landesebene eine Vielzahl von Förderprogrammen, die den Hauskauf und damit verbundene Sanierungskosten in von Leerstand gezeichneten Ortskernen bezuschussen. So richtet sich etwa das westfälische Förderprogramm »Jung kauft Alt« gezielt an junge Familien mit Kindern, die beim Erwerb eines Altbaus unterstützt werden und zudem ein zusätzliches Kindergeld erhalten5 . Leerstehende Gemeindehäuser, Schulgebäude und Gaststätten können demnach als eine Chance für Fortschritt begriffen werden: Angepasst an die veränderten Bedarfe der Menschen können in leerstehenden Objekten zum
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Siehe dazu die Studie »Urbane Dörfer. Wie digitales Arbeiten Städter aufs Land bringen kann.« (2019, Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung/Neuland 21 e.V.). In Hiddenhausen ist das Projekt »Jung kauft Alt – Junge Menschen kaufen alte Häuser« seit einigen Jahren erfolgreiche Praxis: www.hiddenhausen.de/Wohnen/Jung-kauft-Alt
Wohnen auf dem Land: Infrastrukturen für »gleichwertige Lebensverhältnisse«
Beispiel Wohnungen für Alleinstehende entstehen oder Multifunktionsstätten angesiedelt werden, die flexibel und temporär nutzbare Räumlichkeiten für (mobilen) Einzelhandel, Facharztsprechstunden und Finanzdienstleistungen bereitstellen. Immobilien- und Wohnungsmärkte stellen mögliche Handlungsfelder für Dörfer und ihre Bewohnerinnen und Bewohner dar, um den demografischen Entwicklungen initiativ zu begegnen und ihre Wohnräume und -umfelder aktiv mitzugestalten. Demgegenüber liegen andere Bereiche, welche die Wohnqualität maßgeblich bestimmen, nicht im Handlungsspielraum der Bürgerinnen und Bürger. Um den lokalen Akteuren überhaupt eine Handlungsbasis für Engagement bereitzustellen, sind Wohnorte auf eine gesicherte Grundversorgung an Infrastruktur- und Daseinsvorsorgeleistungen angewiesen. Es bedarf der Vorhaltung technischer Infrastrukturen (Energie- und Wasserversorgung, Abwasser- und Abfallentsorgung, Telekommunikation6 , Mobilität und Verkehr) sowie sozialer Infrastrukturen (Bildung, Gesundheit und Sicherheit), um ein gesichertes Leben in der modernen Gesellschaft zu ermöglichen und Teilhabe zu garantieren.
Stadt oder Land? Für eine ganzheitliche Sozialraumentwicklung! Je nach Betrachtungsperspektive klingt beim Thema »ländlicher Raum« oftmals eine negative Konnotation mit, die das »Landleben« im Vergleich zu urbanen Lebensweisen marginalisiert. Die Debatte um Wohnorte sollte hingegen unvoreingenommen sein: Ob in der Großstadt oder im kleinen Dorf zeigt sich ein diversifiziertes Spektrum an Lebensmodellen und Wohnumfeldern. Beinhaltet die Freiheit, sich für den präferierten Wohnort zu entscheiden, den Anspruch auf die Bereitstellung bestimmter staatlicher Leistungen? Im Sinne der Formel »gleichwertiger Lebensverhältnisse« sollte ein Wohnort zumindest nicht aufgrund mangelnder (Mindest-) Ausstattung und Teilhabeeinbuße ausscheiden müssen. Dieser Beitrag weist darauf hin, dass die Investition in grundlegende Infrastrukturen und Daseinsvorsorgeleistungen für die Erhaltung ländlicher Räume als attraktive Wohnorte zentral ist. Dies zu gewährleisten, liegt nicht allein in der Verantwortung staatlichen Handelns. Darüber hinaus scheint es geboten, dass lokale Verwaltungen, Unternehmen und zivilgesellschaftliche Akteure zusammenwirken.7 Bei der Herstellung und Aufrechterhaltung der Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen sind die Beteiligten gefordert, einen ständigen Dialog auf Augenhöhe zu führen, transparent zu handeln und ein gemeinsames Ziel anzuvisieren. Ein konstruktiver Austausch und die Vermittlung zwischen politischen sowie wissenschaftlichen Debatten und lokalen Akteuren muss über Stadtgrenzen hinausgehen 6 7
Darunter fallen Post, Mobilfunk, Internet, Festnetzleitungen und Rundfunk. Siehe hierzu »Das Soziale-Orte-Konzept« (Kersten et al. 2017).
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und fester Bestandteil auch innerhalb dörflicher Lebenswirklichkeiten sein (Simmank/Vogel 2019: 174). Gleichwertige Lebensverhältnisse sollten sich letztlich darin manifestieren, dass bundesweit gesellschaftliche Teilhabechancen unabhängig vom Wohnort bestehen und einzelne Dörfer oder gar ganze Regionen sich nicht als »abgehängt« und geringer geschätzt empfinden. Es gibt keine Generallösung für die Zukunft von Dörfern und Gemeinden, aber »im Mittelpunkt müssen die Menschen jeder einzelnen Kommune mit ihren Bedürfnissen und Interessen stehen« (Henkel 2018). Kompromisse müssen an jedem Wohnort eingegangen werden, ob in der Stadt oder im Dorf: »Während den einen kulturelle Angebote besonders wichtig sind, die es nur in der Stadt gibt, zieht es die anderen in den naturnahen ländlichen Raum« (Ragnitz/Thum 2019: 16). Und wer inmitten der städtischen Angebotsfülle lebt, ist in der Regel Lärm und einem stärkeren Verkehrsaufkommen ausgesetzt, wohingegen Dorfbewohner/-innen zwar gute Luft, aber weitere Wege zurückzulegen haben. Aus einer (unterdurchschnittlichen) Ausstattung mit bestimmten Daseinsvorsorgeleistungen lässt sich noch nicht zwingend auf ein Defizit schließen, denn letztlich kommt es bei der Bewertung von »Gleichwertigkeit« auf die Balance unterschiedlicher Qualitäten von Wohnorten an (vgl. Ragnitz/Thum 2019: 16; Hirte 2019: 10), deren Bedeutung sicherlich auch nach sozialer Lage und individuellen Bedürfnissen verschieden eingeschätzt werden dürfte. Und dennoch gilt, dass Daseinsvorsorge und Infrastrukturen lokale Kontextbedingungen darstellen, die im Netz öffentlicher Aktivität und zur Sicherung von Lebensqualität vorhanden sein müssen. Sie machen Orte zu lebenswerten Wohnorten und sind Voraussetzung für darauf aufbauende Entwicklungen. Im ländlichen Raum findet sich eine große Bandbreite unterschiedlicher Dörfer und Lebenswirklichkeiten, die auch in der öffentlichen und politischen Debatte entsprechend zu würdigen sind. Der Stadtsoziologe Walter Siebel beobachtet, dass urbane und ländliche Lebensweisen mehrheitlich angeglichen sind und keine gesellschaftlichen Gegensetze mehr darstellen. Während die Lebensführung von Dörfler/-innen und Städter/-innen historisch durch ökonomische, politische und kulturelle Unterschiede gekennzeichnet waren, lassen Individualisierungs-, Digitalisierungsund Globalisierungsprozesse die urbanen und dörflichen Grenzen verwischen. Der Wohnort bestimmt heute längst nicht mehr über individuelle Lebensweisen (Siebel 2009: 89). Warum also wird in der Diskussion und Praxis um »gleichwertige Lebensverhältnisse« weiterhin mehrheitlich in den Kategorien Stadt und Land gedacht, wenn sich der Alltag und die individuellen Lebenskonzepte längst außerhalb der Grenzen solch vermeintlich eindeutiger Raumtypologien abspielen? Ist es im Rahmen der Gestaltung von Wohnräumen und Wohnumfeldern unbedingt nötig, in den dichotomen Denk- und Argumentationsweisen zu verharren: Stadt oder Land? Unter
Wohnen auf dem Land: Infrastrukturen für »gleichwertige Lebensverhältnisse«
dem Begriff »Stadtland« verfolgt die Internationale Bauausstellung (IBA) in Thüringen den Ansatz, »anders auf das Land zu blicken, um anders darin handeln zu können« und setzt mit Projektpartner/-innen vor Ort neue stadtlandschaftliche Lebensmodelle und Organisationsformen um (Doehler-Behzadi 2017: 12). Die IBA Thüringen bricht mit dieser Zweiteilung und entwickelt Konzepte, die Stadt und Land. Diesem Ansatz sollte Folge geleistet werden: Pläne zur Stadt- und Dorfentwicklung sollten nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Regionalentwicklung hat den Zweck, die Lebensverhältnisse an Orten zu optimieren und möglichst adäquate Bedingungen und Lebensqualitäten zu schaffen. Um ländliche Regionen als gleichwertige Wohnorte in ihrer Beachtung und Relevanz neben den Städten zu stärken, muss nach integrierten und ganzheitlichen Ansätzen gesucht werden, die im Sinne einer übergreifenden Sozialraumentwicklung die strikte Trennung zwischen Stadt und Land überwinden.
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Wohnen auf dem Land: Infrastrukturen für »gleichwertige Lebensverhältnisse«
Wonneberger, Eva (2018): Neues Wohnen auf dem Land. Demografischer Wandel und gemeinschaftliche Wohnformen im ländlichen Raum. Wiesbaden: Springer VS.
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Unter dem Radar Wohnungsfragen abseits der Wachstumsräume in Thüringer Klein- und Mittelstädten Barbara Schönig
Konsultiert man die deutsche Medien- und Fachpresse, so spaltet sich das Land derzeit in zwei Teile: Auf der einen Seite gibt es jene Regionen, in denen das Wohnen seit Jahren immer teurer geworden und nun für breite Schichten kaum noch bezahlbar ist. Auf der anderen Seite dieser Berichterstattungen stehen jene Orte, in denen zwar Wohnraum vorhanden ist, aber zu wenig Menschen, die dort wohnen, und es also – in Marktterminologie – einen Angebotsüberhang gibt (Arbeitskreis der Oberen Gutachterausschüsse 2019: 2). Aufmerksamkeit erlangen letztere Orte allenfalls mit Blick auf Leerstand, Schrumpfung, einen Mangel an Infrastruktur oder hohe Wahlergebnisse rechter Parteien, selten aber im Kontext von Wohnungsfragen. Für jene Regionen, die im Fokus der Diskussion um bezahlbaren Wohnraum stehen, wurde vielfach konstatiert, dass der Anstieg der Wohn- und Immobilienpreise in Städten und Stadtregionen in Deutschland nicht allein das Ergebnis unmittelbar gebrauchsbezogener nachfrageorientierter Faktoren (Zuwanderung, eine wachsende Zahl immer kleiner werdender Haushalte und steigender Wohnflächenansprüche) ist (vgl. Schönig/Vollmer 2018: 14ff.). Stattdessen sind sie auch das Ergebnis einer Veränderung der Art des Angebots an Wohnraum in Folge wohnungs- und stadtentwicklungspolitischer Restrukturierungen: Zu nennen sind hier insbesondere die marktorientierte Restrukturierung und Dezentralisierung von Wohnungspolitik sowie unternehmerische Stadtentwicklungspolitiken, die angesichts chronischer kommunaler Haushaltsdefizite und intensiviertem Standortwettbewerb (inner-)städtische Aufwertungsprozesse und Stadtentwicklungspolitik einseitig auf steuerkräftige Mittelschichten und Unternehmen ausrichteten. In Reaktion auf die Konsequenzen dieser Entwicklungen erleben wir derzeit einen neuen Zyklus an gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit für Wohnungspolitik auf kommunaler und – in geringerem Ausmaß – auf nationaler Ebene, in dessen Fokus die Schaffung bezahlbaren Wohnraums in sogenannten »engen Wohnungsmärkten« steht.
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Nun ist anzunehmen, dass innerhalb eines nationalen Regimes der Wohnraumversorgung1 trotz unterschiedlicher regionaler Wachstumsdynamiken vergleichbare, durch Politik und Gesellschaft geprägte Kräfte die soziale Wohnraumversorgung strukturieren. Folglich stellt sich auch die Frage, in welcher Weise sich die einschneidenden strukturellen Veränderungen in Wohnungs- und Stadtentwicklungspolitik sowie der Funktionsweise des Wohnungsmarktes jenseits der wachsenden Kerne des Landes zeigen. Welche Wohnungsfragen also stellen sich heute abseits von prosperierenden ländlichen Regionen, Städten oder Großstädten in strukturschwachen Räumen, in denen allgemein eher über Leerstand als über Mangel an Wohnraum berichtet wird?
Wohnen als Grundbedürfnis und Rückgrat der Stadtentwicklung Allein die Tatsache, dass Leerstand an Wohnraum existiert, bedeutet keineswegs, dass über Wohnraumversorgung nicht nachzudenken wäre. Das hat zwei Gründe: Sozialpolitisch gilt dies, weil Wohnen ein individuelles Grundbedürfnis darstellt. Dieses schließt neben dem schlichten Vorhandensein eines Obdachs auch qualitative Aspekte mit ein, die zu einem für das Individuum bezahlbaren Preis gewährleistet sein sollen. Neben wohnungsbezogenen Aspekten, wie einer angemessenen Wohnfläche oder Sicherung der Grundbedürfnisse (Bad/WC, Privatsphäre u.a.), zählen hierzu auch wohnumfeldbezogene Aspekte wie die Anbindung an Arbeitsplätze und die Zugänglichkeit von Einrichtungen der Daseinsvorsorge bzw. des täglichen Bedarfs (UN 2009).2 Bekanntermaßen wird eine adäquate Wohnraumversorgung insbesondere für untere und zunehmend auch für mittlere Einkommensgruppen in wachsenden Städten und Regionen derzeit weder in quantitativer noch in qualitativer Hinsicht allein durch den Markt gesichert. Wie Studien zu schrumpfenden Wohnungsmärkten gezeigt haben, gilt dies aber auch für Regionen, die als »schrumpfende Wohnungsmärkte« bezeichnet werden. Denn Wohnungsleerstand oder ein entspannter Wohnungsmarkt allein
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Mit dem Begriff »Wohnraumregime« wird anschließend an Diskussionen in den Comparative Welfare und Housing Studies das eng mit dem jeweiligen wohlfahrtsstaatlichen Regime geknüpfte Arrangement von Institutionen und Regelungen, sozialen und kulturellen Normen sowie baulich-räumlicher Materialität der Wohnraumversorgung bezeichnet (vgl. EspingAndersen 2012; Matznetter/Mundt 2012; siehe auch Schönig/Vollmer in diesem Band). Die UN (Office of the United Nations. High Commissioner for Human Rights) bestimmt in ihrem Fact Sheet No.21/Rev. 1 »The Human Right to Adequate Housing« (2009) angemessenes Wohnen wie folgt: »Security of tenure […]; Availability of services, materials, facilities and infrastructure […]; Affordability […]; Habitability […] [physical safety or adequate space and protection against threats to health and structural hazards, BS]; Accessibility […]; Location […]« (OHCHR 2009: 4).
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lassen nicht notwendig darauf schließen, dass Wohnraum in angemessener Qualität zu bezahlbaren Preisen für alle Haushalte durch »den Markt« vorgehalten wird: Wohnraum kann mangels Investition in schlechtem Zustand sein, wird mangels Profitabilität im nachgefragten Segment gar nicht angeboten oder aber leerstehender Wohnraum entspricht nicht den finanziellen Möglichkeiten, Wohnbedarfen oder Wohnwünschen potentieller Bewohner/-innen (Schiffers 2009: 31f.; vgl. auch Pristl 2015: 14f., Porsche/Milbert 2018: 16). Insbesondere ist die Sicherung der oben genannten wohnumfeldbezogenen Qualitäten vielfach gefährdet (Neu 2014: 117f.; siehe auch Beitrag Simmank in diesem Band). Auch in schrumpfenden Märkten kann es folgerichtig zu »Wohnungsfragen« kommen, und zwar in quantitativer ebenso wie in qualitativer Hinsicht. Wohnraumversorgung aber ist nicht nur ein individuelles Grundbedürfnis. Die Gestaltung, räumliche Lage und soziale Strukturierung der Wohnraumversorgung prägen wesentlich die Funktionalität von Städten und deren ökologischen »Fußabdruck«. Die Steuerung von Siedlungsentwicklung und die Gestaltung von Wohnraum sind entscheidende Faktoren einer klimafreundlichen und ökologisch nachhaltigen Entwicklung (Kenkmann et al. 2019: 93). Neben gebäudebezogenen Faktoren gilt dies insbesondere mit Blick auf Siedlungsfläche oder Verkehrsentwicklung, die beispielsweise durch die Planung suburbaner Einfamilienhausgebiete auf der »grünen Wiese« in höherem Maße als durch die Nachverdichtung auf innerstädtischen Brachen verursacht werden. Aber auch mit Blick auf die soziale Integration der Gesellschaft spielt das Wohnen eine entscheidende Rolle, weil die marktgesteuerte Preisentwicklung von Boden, Immobilien und Wohnraum notwendig zu einer sozialen Ungleichverteilung von Wohnraumqualität – insbesondere mit Blick auf die Lage und Anbindung von Wohnraum – und folglich zu einer sozialräumlichen Differenzierung von Städten und vielfach Segregation beiträgt. Steigende Wohnkosten, die nur durch Reduktion von Flächen oder Lagequalitäten gesenkt bzw. kompensiert werden können, aber auch sinkende Einkommen verstärken Tendenzen dieser durch Wohnkosten induzierten sozialräumlichen Polarisierung, welche letztlich soziale Benachteiligungen vertieft (aktuell dazu Helbig/Jähnen 2018). Wohnraumversorgung ist also eine Infrastruktur, die für individuelle Daseinsvorsorge und die soziale und ökologische Funktionalität unserer Städte von existentieller Bedeutung ist (vgl. auch Schönig/Vollmer in diesem Band). Und in doppeltem Sinne – sowohl mit Blick auf die Sicherung adäquater Wohnraumversorgung als Grundbedürfnis als auch mit Blick auf die gesellschaftliche Bedeutung nachhaltiger Stadtentwicklung – erfordert sie auch dann Aufmerksamkeit und Intervention, wenn nicht eine quantitative Wohnungskrise im Vordergrund steht. Versteht man nun die Sicherung von Wohnraumversorgung als Infrastruktur in diesem umfassenden stadtentwicklungspolitischen und letztlich auch gesellschaftspolitischen Sinne, so zeigt sich, dass die mit ihr verbundenen Heraus-
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forderungen im Grundsatz nicht so verschieden sind zwischen Wachstumsräumen und strukturschwachen Regionen. Mit Blick auf eben diese Herausforderungen haben sich in den letzten Jahren breite gesellschaftliche Diskussionen zur Restrukturierung von Wohnraumversorgung entsponnen. Gestritten wird über Mietobergrenzen, Kommunalisierung oder Sozialisierung von Wohnraum, kommunale Bodenpolitik oder planungsrechtliche Maßnahmen zur Integration geförderten Wohnraums in Grundstücksentwicklungen bspw. Konzeptvergaben oder Formen der sozialgerechten Bodennutzung (vgl. exemplarisch Rödl, Lichtenberg, Jensen, Bündnis »kommunal & selbstverwaltet Wohnen«, Interview mit Florian Schmidt in diesem Band). Letztlich wird hierbei stets das notwendig widersprüchliche Verhältnis von Wohnraum als Ware und Grundbedürfnis verhandelt, das die »Wohnungsfrage« im ursprünglichen Sinne gesellschaftspolitisch konstituiert. Wohnungs- und stadtentwicklungspolitisch wird darum gerungen, inwieweit der Staat durch Förderung, Planungsrecht oder direkte Teilnahme in den Markt eingreifen soll und darf, um langfristig Wohnraumversorgung zu sichern und zu gestalten. Weil sich diese Frage nach Rolle und Verhältnis zwischen Markt und Staat bei der Bereitstellung und Gestaltung von Wohnraumversorgung wie erwähnt auch jenseits von sogenannten Wachstumsräumen stellt, erfordert sie auch forschende ebenso wie verstärkte gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Am Beispiel von Thüringen soll daher exemplarisch gezeigt werden, welche Wohnungsfragen die Restrukturierung von Wohnungspolitik und Stadtentwicklung in Klein- und Mittelstädten in strukturschwachen Räumen hat entstehen lassen.
Wohnungsfragen in Thüringen – ein Blick in sechs kleinere Städte Räumliche Entwicklung in Thüringen verläuft zunehmend polarisiert und spiegelt damit im Grunde Trends, die sich auch andernorts in der Bundesrepublik zeigen: Es gibt (moderat) wachsende und stabile Bereiche, die sich entlang der mitteldeutschen Städtekette von Eisenach bis Jena an der A4 aufreihen. Abseits dieser gibt es große Bereiche, deren Bevölkerung seit Jahr(zehnt)en abnimmt (TMIL 2018: 10). Im Zuge einer empirischen Studie wurden Wohnungsfragen in sechs kleineren Städten untersucht, die im strukturschwachen Raum liegen, der mehr oder weniger ländlich geprägt ist.3 Ziel der Studie war es, die wesentlichen Herausforderungen
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Durchgeführt wurde die Studie in einem explorativ forschenden Planungsprojekt mit 26 Studierenden im Master und Bachelor der Urbanistik an der Bauhaus-Universität Weimar im Wintersemester 2018/19. Geleitet wurde das Projekt von Carsten Praum gemeinsam mit der Autorin. Allen Teilnehmer/-innen des Projekts und Carsten Praum sei an dieser Stelle herzlich gedankt ebenso wie allen Akteuren aus der kommunalen Praxis und Planung, Zivilgesell-
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bei der Sicherung von Wohnraumversorgung als Infrastruktur der Daseinsvorsorge und städtischer Entwicklung im oben ausgeführten Sinne zu identifizieren, mit denen kleinere Städte jenseits der Wachstumsräume konfrontiert sind. Für die Fallstudien wurden die kreisfreien Städte Eisenach und Suhl sowie die Kreisstädte Sondershausen, Saalfeld, Altenburg und die Kommune Blankenhain ausgewählt. Alle betrachteten Städte außer Blankenhain sind stadttypologisch als kleine Mittelstädte, Blankenhain als Kleinstadt einzuordnen (vgl. BBSR 2012a: 18). Darüber hinaus haben alle sechs Städte bereits einen erheblichen Bevölkerungsverlust erlitten, der sich nach derzeitigen Prognosen fortsetzen wird; ihre Bevölkerung altert zunehmend, doch die Städte schrumpfen langsamer als die umliegenden Kreise (vgl. Tabelle im Anhang dieses Beitrags). Historisch sind alle sechs Städte durch die Prozesse der Stadtentwicklung in der DDR und die ab 1990 einsetzenden gesellschafts- und wohnungspolitische Transformation geprägt. Die Wahl von sechs Städten mit in diesem Sinne ähnlichen Merkmalen sollte es ermöglichen, vergleichsweise »typische« Wohnungsfragen zu identifizieren und mögliche Unterschiede und deren Ursachen einzukreisen. Um die Wohnungsfragen in diesen kleineren Städten in Thüringen zu identifizieren, wurde zunächst in allen sechs Städten eine Bestandsaufnahme zu Stadtentwicklung und Wohnraumversorgung durchgeführt, die die vorhandenen Informationen und Daten zu Stadtentwicklung und Wohnungsmarkt zusammenführte, zentrale Akteure und deren Rolle in Wohnungs- und Stadtentwicklung vor Ort identifizierte, stadträumliche Entwicklungen kartographisch erfasste und die jüngsten Transformationsprozesse in Stadtentwicklung und Wohnraumversorgung seit 1990 umriss. Auf Basis dieser vergleichenden Bestandsanalyse wurden ausgewählte Themenfelder vertiefend erforscht. Die empirische Forschung basiert auf der Analyse vorhandener statistischer Daten,4 qualitativen Expert/-innen-Interviews mit Akteuren aus der Kommunalverwaltung, Politik und Zivilgesellschaft ebenso wie mit Vertreter/-innen institutioneller Wohnungsanbieter, Vor-Ort-Begehungen und kartographischen Analysen, wobei für die unterschiedlichen thematischen Vertiefungen verschiedene Untersuchungsansätze gewählt wurden.5 Notwendigerweise konnten aufgrund der zeitlichen
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schaft und Wohnungswirtschaft, die das Projekt durch die Bereitstellung von Informationen unterstützten oder zu einem Interview bereit waren. Einschränkend muss angemerkt werden, dass die im Zuge der Studie genutzten, lokal bereit gestellten Daten sich in Umfang, Menge und Gegenstand erheblich unterscheiden. Nicht in jeder Hinsicht können diese also unmittelbar vergleichend genutzt werden. Diese Themenfelder (und die darin jeweils fokussierten Städte) waren: Handlungsrahmen kommunaler Wohnungsunternehmen (Sondershausen und Eisenach, bearbeitet von Bianca Gebhart, Leon Claus, Paul Beenen und Tim Hübel), Umbaustrategien (Suhl, Saalfeld, Sondershausen, Altenburg, bearbeitet von Anna Magin, Clara Müller, Dana Pietsch, Carlos Jakob Quintel, Katja Heckendorf, Marvin Krämer, Sabine Schertler, Winona Tabea Walk); Wohnen
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Begrenzung im Rahmen dieser Studie nur Einzelaspekte anhand einiger ausgewählter Städte exemplarisch untersucht werden, die in weiterführenden und vergleichenden Studien vertiefend betrachtet werden sollten. Für die Aufbereitung der Ergebnisse konnte im Anschluss an das Projekt zudem auf den Thüringer Wohnungsmarktbericht 2019 zurückgegriffen werden (vgl. TMIL 2018). Nachfolgend werden basierend auf den empirischen Ergebnissen der Studie drei zentrale Wohnungsfragen in kleineren Städten in Thüringen identifiziert und durch exemplarische Verweise auf einzelne Fallbeispiele illustriert. Vorab werden jedoch die für alle sechs Städte prägenden Momente ihrer »kleinen« Größe identifiziert und die Rolle der DDR- bzw. Transformationsgeschichte für Wohnraumversorgung und Stadtentwicklung im Allgemeinen skizziert.
1.
Die Wohnungsfrage in kleineren Städten
Kleinere Städte, und dabei Mittelstädte noch stärker als Kleinstädte, werden in der Stadtforschung und im planungswissenschaftlichen Diskurs eher wenig beachtet (vgl. z. B. Schmidt-Lauber 2010: 13; Baumgart/Rüdiger 2011: 202; Porsche/Milbert 2018: 19), auch wenn in der anwendungsbezogenen Forschung vor dem Hintergrund strategischer Förderprogramme in den letzten Jahren kleinere Städte etwas mehr Aufmerksamkeit erlangten (vgl. Porsche/Milbert 2018: 16ff.; auch BojarraBecker et al. 2017). Übereinstimmend wird sowohl in der Klein- als auch in der Mittelstadtforschung das Defizit an (vergleichbaren) Daten ebenso wie die Notwendigkeit einer auf soziostrukturelle Aspekte, Akteure und die vergleichende Analyse von kleineren Städten in unterschiedlichen räumlichen Kontexten gerichteten empirischen Forschung herausgestellt (Schmidt-Lauber 2010: 18; Porsche/Milbert 2018: 6; Steinführer et al. 2018: 76) Anders als die Forschungslage suggerieren mag, sind in Deutschland kleinere Städte als Wohnstandort bedeutend, denn etwa 61 Prozent aller Menschen in Deutschland leben in Städten bis 100.000 Einwohner/-innen (Porsche/Milbert 2018: 8). Obgleich sich diese Städte mit Blick auf Stadtstrukturen, ökonomische und soziale Rahmenbedingungen sowie Einbindung in regionale Wirtschafts- und Verkehrsnetze sehr heterogen darstellen, teilen sie einige strukturelle Merkmale, die auch die Rahmenbedingungen von Wohnraumversorgung und Wohnungspolitik prägen.
von Flüchtlingen (Altenburg, bearbeitet von Caspar Rehlinger, Felix Jonathan Josten, Felix Mayer, Morgan Darian Doll, Johanna Reckewerth, Lotta Alber), Verräumlichung städtischer Armut (Saalfeld, bearbeitet von Laura Fritsche, Natalie Gräbner, Richard Leißner, Viktoria Walk), Neubau vermeiden – Neuausweisung von Einfamilienhäusern reduzieren (Saalfeld, bearbeitet von Clara-Marlen Wilke, Lukas Lindemann, Maximilian Mayer, Paul Marx).
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Stadtmorphologisch sind kleinere Städte heterogen, nicht zuletzt in Folge von Gebietszusammenschlüssen gerade von Kleinstädten (BBSR 2012a: 20; Porsche/Milbert 2018 10ff.). Ihre zusammenhängenden Siedlungskerne aber sind meist von Wohnbebauung geprägt, dabei kleinteilig und auch in sich vielfach städtebaulich heterogen: räumlich nah nebeneinander finden sich dichte Innenstadtbebauung, Mehrfamilienhäuser und ein oftmals hoher Anteil an Einfamilienhäusern, wobei in Kleinstädten und Städten im ländlichen Raum historische Gebäude und Strukturen in hohem Maß, wenn auch nicht immer, präsent sind (Hannemann 2004: 274). Die Stadtmitte nimmt hierbei oft eine hohe Bedeutung ein, jedenfalls kulturell und für die städtische Identität. Kleinere Städte bilden – variierend nach Größe, Konzentration von Einrichtungen der Daseinsvorsorge, Einzelhandel und Arbeitsplätzen oder Lage im regionalen Kontext – einen wichtigen Bezugs- und Identifikationspunkt für ihr Umfeld. Dies gilt besonders im ländlichen Raum, wo sie oft zentrale Funktionen als Dienstleistungs- und Versorgungszentren einnehmen (BBSR 2012a: 24f.). Zugleich sind sie stark von Wachstum oder Schrumpfung des Umlands abhängig (Adam 2005: II, BBSR 2012a: 20). Den Handlungsrahmen lokaler Politik bestimmt in kleineren Städten eine grundsätzliche Knappheit von Ressourcen sowie Akteuren. Die öffentlichen Verwaltungen sind im Vergleich zu großstädtischen Verwaltungen personell schmaler besetzt und daher notwendig weniger spezialisiert. Sie sind, gerade in Kommunen mit knappem öffentlichem Haushalt, zudem weniger gut ausgestattet. Insbesondere für die Erfüllung freiwilliger kommunaler Aufgaben zum Beispiel der sozialen Stadtentwicklung bleibt oft wenig Zeit und Kraft (Bojarra-Becker et al. 2017: 36f.). Folgerichtig sind die Verwaltungen vielfach auf andere Akteure aus Zivilgesellschaft oder Wirtschaft angewiesen und nicht nur von deren Existenz, sondern bis zu einem gewissen Grad auch von deren zwangsläufig partikularen Interessen und Handlungsmotivationen abhängig (Kaschlik 2012: 21). Finanziell bedarf es für die meisten Zusatzaufgaben in kleineren Städten in strukturschwachen Räumen externer Fördermittel, die jedoch stets projektbezogen und befristet zur Verfügung stehen, erst mit aufwendigen Antragsverfahren eingeworben werden und, wie beispielsweise Städtebaufördermittel, meist kommunal kofinanziert werden müssen. Sie werden zudem von Akteuren auf anderer Ebene, z. B. Landes- oder Bundesebene, vergeben. Die Entwicklungsmöglichkeiten kleinerer Städte sind also nicht zuletzt von Entscheidungsträger/-innen und -instanzen jenseits der Städte selbst abhängig. Die Ressourcen für (proaktive) Stadt- und Wohnraumentwicklung jenseits der pflichtigen Bauleitplanung sind daher in kleineren Städten begrenzt (Beißwenger/Sommer 2013: 54f.; Kühn/Weck 2013: 103f.; Bojarra-Becker et al. 2017: 4, 34). Gleichzeitig aber sind die Netze zwischen den wenigen lokalen Akteuren sozial und auch räumlich notwendigerweise eng und können somit für Kooperationsprozesse, sofern diese gewünscht sind, produktiv genutzt werden.
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Welche Akteure und Ressourcen zur Verfügung stehen, um Stadtentwicklung aber auch Wohnraumversorgung zu steuern und zu gestalten, ist gleichwohl stark durch die spezifischen lokalen Bedingungen geprägt und folglich in jedem Ort unterschiedlich.
2.
Kommodifizierung der Wohnraumversorgung in Ostdeutschland. Ein »Nebenschauplatz« der Restrukturierung von Wohnungspolitik?
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Steuerung von Wohnraumversorgung für kleinere Städte eine besondere Herausforderung darstellen dürfte. In ostdeutschen Städten wirken hier zusätzlich die besonderen Bedingungen des Transformationsprozesses nach dem Ende der DDR. Die derzeitige Aufmerksamkeit für die Transformation der Wohnraumversorgung in Westdeutschland seit den 1980er Jahren darf nicht vergessen machen, dass auch in Ostdeutschland die Wohnraumversorgung seit den 1990er Jahren vermarktlicht und die lokale Verantwortung für soziale Wohnraumversorgung gestärkt wurden. Dies geschah aber vor dem Hintergrund ganz anderer wohnungs- und wirtschaftspolitischer sowie siedlungsstruktureller Ausgangsbedingungen (vgl. Borst 1997 sowie Wüstenrot-Stiftung 2018: 1617). Nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 erlebten die ostdeutschen Kommunen dramatische Umbrüche. Innerhalb kürzester Zeit verloren sie in großer Zahl Arbeitsplätze und in Folge dessen auch rasant an Bevölkerung zusätzlich zu jener, die ohnehin bereits 1989/90 die Region verlassen hatte. Zeitgleich restrukturierten die Städte die gesamte Verwaltung, vielfach verbunden mit umfangreichem Personalwechsel. Die Gesellschaft insgesamt hatte die Integration in eine andere Wirtschafts- und Gesellschaftslogik zu leisten (vgl. Mau 2019).6 Das veränderte viele Städte tiefgreifend (vgl. Tabelle im Anhang dieses Beitrags). Dies lässt sich beispielhaft an der Stadt Suhl in Südthüringen erläutern: In Suhl – in der DDR ein wichtiger Standort für die Produktion von Elektronik, Kleinmotoren und Waffen – betrug bereits 1991 die Zahl der als unterbeschäftigt und arbeitslos gemeldeten erwerbsfähigen Personen 20 Prozent der Einwohner/-innen (Bundesanstalt für Arbeit 1992: 800). Seit 1990 ist die Bevölkerung von knapp 57.000 auf 34.835 Einwohner/-innen im Jahr 2018 (TLS o.J.) gesunken und damit etwa auf die Zahl an Einwohner/-innen, die Mitte der 1970er Jahre in Suhl lebten. Neben diesen gesamtwirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Umbrüchen erfolgte auch eine Anpassung der Wohnraumversorgung an die im Westen gültigen Paradigmen. Dieser Prozess war grundsätzlicherer Natur als die Abschaf6
Steffen Mau umschreibt diesen Moment tiefgreifenden und rasend schnellen Wandels, den er aus dem Fokus auf die Rostocker Plattenbausiedlung »Lütten Klein« heraus rekonstruiert, als »Implosion eines Systems als kollektiven Schock« (Mau 2019: 113).
Unter dem Radar
fung der Gemeinnützigkeit in Westdeutschland, da die wohnungswirtschaftlichen Ausgangsbedingungen in der DDR zuvor nicht marktwirtschaftlich geprägt waren: Volkseigene und genossenschaftliche Wohnungsunternehmen hielten 1989 in der DDR 59 Prozent des Wohnungsbestandes, in der BRD waren es 1987 nur noch insgesamt 9 Prozent.7 Nach Maßgabe des »Einigungsvertrages« wurden die volkseigenen Wohnungsbestände der DDR zunächst den Kommunen aber auch Genossenschaften übertragen, sollten jedoch möglichst zügig in großen Teilen privatisiert werden. Abgesehen von der Rückübertragung von durch die DDR enteigneten Immobilienbesitzern (Restitution) zielte die Privatisierung ostdeutscher Wohnungsbestände ganz grundsätzlich darauf, den ostdeutschen Wohnungsmarkt dem überwiegend und zunehmend durch private Träger geprägten Wohnungsmarkt Westdeutschlands strukturell anzugleichen und in die Marktwirtschaft zu überführen (Borst 1997: 129). Neben der Privatisierung wurden schrittweise Mieten gesteigert und die Mietverträge an westdeutsches Recht angepasst. Da die Privatisierung institutioneller Wohnungsbestände aus Sicht der Bundesregierung zu langsam voranschritt, sollte sie ab 1993 mit dem »Altschuldenhilfegesetz« beschleunigt werden. Dieses versprach den Unternehmen den Teilerlass ihrer DDR-»Altschulden«8 . Im Gegenzug sollten sich die Unternehmen zur Privatisierung von mindestens 15 Prozent ihrer Bestände innerhalb von zehn Jahren verpflichten. Von den als privatisierungsfähig eingestuften rund 364.000 Wohnungen wurden im Zuge dieser Maßnahme rund 277.000 Wohnungen bis Ende 2001 privatisiert,9 wobei sich die Privatisierung der Bestände in den Großwohnsiedlungen am Rand der Städte und insbesondere deren Umwandlung in Einzeleigentum als mühsamer erwies als jene der innerstädtischen Altbaubestände (vgl. Kompetenzzentrum Großsiedlungen 2015: 61). Bis heute halten in Ostdeutschland – und auch in den betrachteten kleineren Städten in Thüringen – die kommunalen sowie genossenschaftlichen Wohnungsunternehmen 20 bis 25 Prozent des Wohnungsbestands und damit einen deutlich größeren Anteil als in Westdeutschland (Institut für Länderkunde 2014). Aufgrund dieser historischen Prägung waren und sind in
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Davon waren in der DDR 18% in genossenschaftlichem, 41% in kommunalem Besitz; in der BRD 5% in kommunaler Hand, 4% der Bestände genossenschaftlich organisiert (Borst 1997: 121). Mit den Beständen wurden den neu gegründeten kommunalen Wohnungsunternehmen ebenso wie den Genossenschaften auch die in der DDR den Beständen zugeschriebenen Kredite aus dem Staatshaushalt, die zur Zeit der DDR eher den Charakter von Subventionen hatte, mit übertragen. Mit dem Verkauf der DDR Staatsbank an westdeutsche Banken durch die Treuhand wiederum wurden diese zu realen Bankschulden, die in DM an die westdeutschen Banken zurückzuzahlen waren (Borst 1997: 125). Daten nach Kfw, https://www.kfw.de/KfW-Konzern/%C3%9Cber-die-KfW/Auftrag/Sonderaufgaben/Altschuldenhilfe-f%C3%BCr-ostdeutsche-Wohnungsunternehmen/ (Zugriff am 28.2.2020).
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ostdeutschen Kommunen lokale Wohnungsunternehmen bzw. Genossenschaften auch heute noch zentrale Akteure, wenn es darum geht, Wohnraumversorgung zu gestalten (vgl. Hunger 2019: 385f.). Dort findet sich der günstigste Wohnraum, in dem in vielen kleineren Städten eine besonders hohe Zahl an Transferleistungsbezieher/-innen sowie an unteren Einkommensgruppen lebt (Helbig/Jähnen 2018: 32, 103f.). Gleichwohl handelt es sich hier nicht im westdeutschen Sinne um »sozialen Wohnungsbau«, der nach entsprechenden Gesetzen gefördert und mit Belegungsbindungen versehen wurde (Schönig 2019), sondern um mit Hilfe staatlicher Fördermittel (der DDR) entstandenen Wohnungsbau. »Geförderte Sozialwohnungen« mit Belegungsbindungen im bundesdeutschen Sinne sind stattdessen in vielen kleineren Städten in Ostdeutschland nur in geringer Zahl vorhanden. Die wenigen nach 1990 als Sozialwohnungen belegungsgebundenen Wohnungen haben deshalb oft höhere Mieten als die mit »staatlicher Förderung« der DDR gebauten, nicht belegungsgebundenen Wohnungsbestände.
3.
Wohnungsfragen in kleineren Städten in Thüringen
Es zeigt sich hier also eine spezifisch ostdeutsche Variante der Restrukturierung der Wohnraumversorgung. Sie traf auf sozialistisch überformte Stadtstrukturen, auf Wohnungsunternehmen mit hohen Schulden und Bestände mit hohen Sanierungsbedarfen sowohl in Beständen der Nachkriegszeit als auch Altbauten. Parallel sank die Zahl der Einwohner/-innen, während die Zahl armer Haushalte wuchs und sich zunehmend in den – zu DDR-Zeiten sozial gemischten – Großwohnsiedlungen konzentrierte (vgl. Helbig/Jähnen 2018: 100ff.; Mau 2019: 36ff.). Bis heute sind diese Bedingungen für die Akteure der Wohnraumversorgung in Thüringen prägend. Dies gilt gerade in kleineren Städten, wo die Siedlungen industriell gefertigten Wohnungsbaus oft als stadtstrukturelle Fremdkörper wahrgenommen werden (Hunger 2019: 388), im übrigen Stadtgebiet institutionelle Anbieter nur kleinere Bestände vorhalten und private Einzeleigentümer/-innen den Wohnungsbestand dominieren. Wissenschaftlich werden diese Entwicklungen kaum mit den Transformationsprozessen der Wohnraumversorgung in Westdeutschland in Verbindung gebracht.10 Auch wenn Stadt- und Wohnraumentwicklung unabweislich durch im10
Stattdessen standen im Fokus die unmittelbar sichtbaren Entwicklungen von Stadtentwicklung und Wohnraumversorgung in Ostdeutschland, die sich stets auch in den großen Städtebauförderprogrammen spiegelten: die Sanierung der Altstädte und Großsiedlungen (frühe 1990er), Wohnungsleerstand und das daher notwendige »Gesundschrumpfen der Wohnungsmärkte« durch Abriss von (vornehmlich) industriell gefertigtem Wohnungsbau (ab den späten 1990ern) und schließlich die Anpassung von Daseinsvorsorge und Wohnraum vor dem Hintergrund einer schrumpfenden und älter werdenden Bevölkerung sowie des Klimawandels (ab den frühen 2000ern).
Unter dem Radar
mense staatliche Städtebaufördermaßnahmen nach 1990 beeinflusst und mitunter gesteuert wurde, ist die Wohnraumversorgung auch in Ostdeutschland durch die das gegenwärtige Regime der Wohnraumversorgung dominierende Maßgabe einer liberalisierten und dezentralisierten Wohnungs- und Stadtentwicklungspolitik geprägt. Fragt man nun vor diesen Hintergründen danach, welche Herausforderungen für die Gestaltung und Steuerung von Wohnraumversorgung sich zeigen, so lassen sich in den betrachteten Städten drei Dimensionen unterscheiden: Passfähigkeit und Bezahlbarkeit von Wohnraum, sozialräumliche (Des-)Integration durch Wohnraumversorgung sowie Steuerung von Wohnraumversorgung. Es zeigt sich außerdem, dass diese Wohnungsfrage(n) unter den Bedingungen kleinerer Städte besonders schwer zu lösen sind. Exemplarisch wird dies anhand der sechs betrachteten Städte in Thüringen erläutert.11
3.1
Bezahlbarkeit und Passfähigkeit des Wohnungsangebots
Die im Rahmen der Studie untersuchten Städte sind nicht in erster Linie von einer quantitativen Wohnungsfrage, also einem Mangel an Wohnraum, geprägt, sondern mit Wohnungsleerstand in den Siedlungen des industriell gefertigten Wohnungsbaus und Innenstädten konfrontiert (vgl. Tabelle im Anhang dieses Beitrags). Gleichwohl stellen sich Fragen hinsichtlich der Bezahlbarkeit und Passfähigkeit ihres Bestands. Die Bezahlbarkeit von Wohnraum scheint in Thüringen gemeinhin gesichert. Im Schnitt lag die durchschnittliche Mietbelastungsquote in Thüringen 2018 bei knapp 23,1 Prozent des Haushaltseinkommens und damit niedriger als im Bundesdurchschnitt (27%).12 Allerdings ist das verfügbare Haushaltseinkommen in Thüringen ebenfalls sehr gering (vgl. TMIL 2018: 53). Eine niedrige Wohnkostenbelastungsquote besagt daher nicht notwendig etwas darüber aus, ob der nach Abzug der Miete verfügbare Rest an Einkommen für Haushalte mit niedrigen Einkommen noch zum Leben reicht. Das lässt sich exemplarisch an der Stadt Eisenach zeigen: Die Angebotsmieten sind zwischen 2012 und 2016 laut Wohnungsmarktprognose Eisenach um 8,6 Prozent gestiegen (Veser et al. 2018: 33). Dort liegt das durchschnittlich verfügbare Haushaltseinkommen auch im Thüringer Vergleich niedrig bei knapp 29.900 Euro im Jahr (Durchschnitt Thüringen 36.623€) (TMIL 2018: 53, 59). 55,5 Prozent aller Haushalte aber sind Haushalte mit niedrigem Einkom-
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Soweit hier nicht anders ausgewiesen, basieren die empirischen Daten und Informationen auf der unveröffentlichten Dokumentation der erwähnten Studie des forschenden Planungsprojekts (Professur Stadtplanung Studienprojekt Urbanistik, 2019). Daten nach Statistischem Bundesamt, Mietbelastungsquote für Haushalte mit Einkommen (d.h. ohne Berücksichtigung der Empfänger/-innen von Transferleistungen) für die Bruttokaltmiete, https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Wohnen/Tabellen/mietbelastungsquote.html (Zugriff am 28.2.2020).
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men, also einem Haushaltnettojahreseinkommen unter 25.000 Euro,13 die die vergleichsweise hohe Wohnkostenbelastung von durchschnittlich 25,1 Prozent, vor allem aber auch weitere Mietpreissteigerungen, besonders belasten dürfte (TMIL 2018: 60). Dies gilt auch für die Kommune selbst, die in Teilen für die »Kosten der Unterkunft« (KdU) für jene aufkommen muss, die Transferleistungen nach SGB II oder XII erhalten (13,6% der Bevölkerung).14 Preissteigerungen gerade im preiswerten Segment des Wohnungsmarkts belasten also letztlich auch die Kommune. Oft fehlt es, so auch in Eisenach, trotz einer generellen Verfügbarkeit an preiswerten Wohnungen an bezahlbarem Wohnraum in bestimmten Segmenten, beispielsweise an größeren Wohnungen für Familien und an Wohnungen, die den Bedürfnissen älterer Menschen entgegenkommen (Veser et al. 2018: 81). Gerade letzteres wird besonders virulent, weil die Zahl einkommensarmer älterer Menschen laut Prognosen des Wohnungsmarktberichts Eisenach erheblich wachsen wird und barrierefreier, preisgünstiger Wohnraum kaum vorhanden ist (Veser et al. 2018: 73). In Eisenach wie auch in anderen Thüringer Städten befinden sich die günstigen Bestände in den industriell gefertigten Großwohnbeständen der 1970er und 80er Jahre. Diese aber sind selten altersgerecht ausgestattet, auch lassen sich nicht alle diese Bestände altersgerecht umbauen (ebd.: 81). Oft sind sie zudem in Quartieren am Stadt- oder Siedlungsrand konzentriert und sind vielfach nicht fußläufig mit Nahversorgungseinrichtungen oder sozialen Infrastrukturen der Stadt verbunden. Zum Problem wird dies gerade in den kleineren Kommunen und im ländlichen Raum, wo der öffentliche Nahverkehr zunehmend ausgedünnt wird (vgl. auch Simmank in diesem Band). Andererseits ist neu errichteter barrierefreier Wohnraum für ältere Menschen, der infrastrukturell gut in den städtischen Kontext eingebunden ist, selbst im strukturschwachen Raum und den vergleichsweise entspannten Wohnungsmärkten der betrachteten Städte kaum im preisgünstigen Segment zu haben (TMIL 2018: 85). Neben dem Mangel an preiswerten größeren und altersgerechten Wohnungen wird von vielen befragten lokalen Akteuren in den betrachteten Städten auch ein Mangel an höherwertigem Wohnraum für Familien artikuliert; eine Annahme, die auch im Wohnungsmarktbericht bestätigt wird (TMIL 2018: 79ff.). Die von Bevölkerungsverlust gezeichneten Kommunen suchen daher auch aus fiskal- und bevölkerungspolitischen Gründen nach Wegen, den Wohnwünschen einkommensstärkerer Familien nachzukommen, um deren Abwanderung in nahegelegene Dörfer entgegenzuwirken und Angebote für Zuzüge zu machen. In diesem Zusammenhang
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Daten für 2017 nach Landesamt für Statistik Thüringen (https://statistik.thueringen.de/datenbank/TabAnzeige.asp?tabelle=kz002022%7C%7C, Zugriff am 28.2.2020); Sozialbericht Eisenach 2017, wegweiser-kommune.de, Zugriff am 28.2.2020. Sozialbericht Eisenach 2017, wegweiser-kommune.de, Zugriff am 28.2.2020.
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weist beispielsweise die Stadt Saalfeld, wie viele andere Kommunen, Einfamilienhausgebiete am Rand der Stadt aus, durch die Bauland geschaffen und der Neubau von individuellem Wohneigentum rasch ermöglicht wird. Weder siedlungsstrukturell noch wohnungsmarktpolitisch erscheint diese Strategie dort angesichts einer prognostizierten Abnahme der Bevölkerung als besonders nachhaltig: Denn während neue Flächen am Rand versiegelt werden, stehen in der Innenstadt oder in den kleineren Großsiedlungen unsanierte Bestände leer (Hunger 2019: 387). Wie sich auch andernorts in kleineren Kommunen gezeigt hat, sind gerade ältere Einfamilienhausgebiete im Zuge solcher Prozesse von Leerstand betroffen, wenn Eigentümer/-innen versterben, Investitionen für Modernisierung in den Bestand nicht erfolgen und sich keine neuen Bewohner/-innen für die Immobilien finden. Neues Bauland leistet nicht nur dem Wertverlust existierender Einfamilienhausgebiete Vorschub und verhindert eine ökologisch gebotene flächensparende Nutzung vorhandener Siedlungsflächen (vgl. Krajewski/Werring 2013: 100). Es schafft auch Kosten für die öffentliche Hand, welche die zukünftig ausgedünnten Einfamilienhausgebiete dann kaum noch kostendeckend in die notwendigen Infrastrukturnetze einbinden und mit Nahverkehr, Ver- und Entsorgung von Wasser, Abwasser und Müll sowie sozialen Dienstleistungen versorgen kann (Wüstenrot-Stiftung 2012: 241ff.).
3.2
Sozialräumliche (Des-)Integration durch Wohnraumversorgung
In den betrachteten Städten zeigen sich auch Probleme mit Blick auf die sozialräumliche Integration des preisgünstigen Wohnraums. Zwar verfügte keine der Fallstädte über umfassende Daten zu sozialräumlicher Segregation (vgl. dazu Steinführer et al. 2018). Doch sahen die befragten Akteure aus Stadt und Wohnungsunternehmen meist eine Konzentration einkommensärmerer Haushalte in den von den Zentren der Städte aus eher peripher gelegenen, oft schlecht angebundenen Quartieren mit industriellem Wohnungsbau.15 Oft stechen die Quartiere auch städtebaulich innerhalb der kleineren Städte besonders hervor und werden eher als »Fremdkörper« wahrgenommen (vgl. ebd.: 76). So wird beispielsweise eine kleine Siedlung am Rand der Stadt Blankenhain in bewusster Distinktion von der kleinteilig ländlich bebauten Siedlungsstruktur des übrigen Orts von den Ortsbewohner/-innen »Klein-Manhattan« genannt – bezeichnet wird damit ein Ensemble, das aus einem Block mit drei fünfgeschossigen Zeilen aus den 1970ern und einigen Geschosswohnungsbauten aus der Nachwendezeit besteht.
15
Dies deckt sich auch mit den Ergebnissen der Studie von Helbig und Jähnen, die die Verteilung von Einkommen auch nach siedlungstypologischen Kriterien in Städten vorgenommen haben und eine signifikante Konzentration von einkommensarmen Haushalten in ostdeutschen »Plattenbausiedlungen« nachgewiesen haben (Helbig/Jähnen 2018: 103f.).
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Anders als in Westdeutschland (vgl. Wüstenrot-Stiftung 2018: 137) sind in Ostdeutschland und so auch in Thüringen die (kleinen) Großsiedlungen in kleineren Städten in den Händen weniger institutioneller Träger: alte Bestandsgenossenschaften, kommunale Unternehmen, sporadisch auch private Bestandshalter. In solchen Quartieren, z. B. in Saalfeld und Altenburg, ließen sich auch vereinzelt Blöcke kommerzieller Bestandshalter finden, die dem am Beispiel Halle von Bernt et al. nachgezeichneten »Geschäftsmodell Hartz-IV« (vgl. hierzu Bernt et al. 2017) verwandt zu sein scheinen: Private Finanzinvestoren kaufen preisgünstige Wohnungsbestände auf und verzichten weitgehend auf Instandhaltung und -setzung. Als Zielgruppe ihrer Bestände sehen sie vorrangig Transferleistungsempfänger/innen, deren Optionen zur Wohnstandortwahl eingeschränkt sind. Sie passen daher ihre Mietsätze der Höhe der staatlichen Sätze der »Kosten der Unterkunft« an und verzichten weitgehend auf Investitionen (vgl. ebd.). Demgegenüber sehen sich zwar auch die lokal ansässigen kommunalen Wohnungsunternehmen und Genossenschaften in der Verantwortung, ihren Wohnraum für Haushalte mit niedrigem Einkommen zugänglich zu machen. Ihnen kommt aber gleichzeitig die Aufgabe zu, eine tragende Rolle in der Quartiersentwicklung und für die Sicherung sozialer Einrichtungen und Qualität öffentlicher Räume Verantwortung zu übernehmen (vgl. Krüger in diesem Band). Sichtbar wurde dies beispielsweise bei der Gestaltung des Stadtumbaus in Saalfeld und Sondershausen (kommunal) sowie Suhl (genossenschaftlich). Allerdings sind die Ressourcen der Städte ebenso wie der kommunalen und genossenschaftlichen Unternehmen auf die Bedürfnisse der Bewohner/innen und die daraus folgenden zusätzlichen Bedarfe an sozialer Infrastruktur und stadträumlicher Quartiersentwicklung zu reagieren begrenzt. Zusätzliches Engagement für die Quartiere ist meist abhängig von temporären Projekten,16 Förderungen des Landes oder Bundes (z. B. Städtebauförderung) oder dem Engagement lokaler Akteure bzw. der Bestandshalter17 selbst. Aus dieser Gemengelage an Ressourcenknappheit auf Seiten der verantwortlichen Akteure in Stadt und Wohnungswirtschaft und der Zunahme (dauerhaft) bedürftiger Haushalte ohne andere Wohnoptionen, sind diese Quartiere doppelt »peripherisiert« (Kühn 2016: 151)18 und stigmatisiert: Sie erscheinen nämlich nicht nur aus Sicht der (räumlichen und gesellschaftlichen) Zentren der kleineren Städte 16
17 18
So ist im Rahmen der »Internationalen Bauausstellung Thüringen« bspw. im Quartier Beulwitzer Straße in Saalfeld das Projekt »Arrival StatdLand« entstanden (siehe https://www.ibathueringen.de/projekte/liste/arrival-stadtland, letzter Zugriff am 02.03.2020). In vielen Quartieren bieten die institutionellen Bestandshalte Zusatzangebote an wie Quartiersfeste, Mieterzeitschriften, Quartierstreffs für Senior/-innen oder Jugendliche etc. Im Sinne eines sozialwissenschaftlichen Verständnis wird hier davon ausgegangen, dass »Peripherie« nicht nur räumlich zu verstehen ist, sondern auch etwas über die Einbindung an, den Zugang zu und die Vernetzung mit gesellschaftlichen Ressourcen und Prozessen meint. Sie ist zudem nicht allein das Ergebnis einer räumlichen Lage, sondern auch eines gesell-
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als peripher und stigmatisiert, sondern befinden sich auch in Städten, die aus Sicht der wachsenden Regionen des Landes als peripher wahrgenommen werden und auch jenseits der auf großstädtische »soziale Brennpunkte« gerichteten Aufmerksamkeit von (Fach-)Öffentlichkeit und Politik liegen. Umso mehr sollten Prozesse sozial-räumlicher Segregation in kleineren Städten und insbesondere in jenen, die nicht durch Wohnungsmangel gekennzeichnet sind, in der Stadtforschung höhere Aufmerksamkeit erlangen (vgl. hierzu auch Steinführer et al. 2018: 78). Verstärkt werden diese Prozesse der »Peripherisierung« solcher Quartiere, wenn sie durch Rückbau im Zuge des Stadtumbaus und/oder Leerstand stadträumlich perforiert wurden. Rückbauprozesse im Zuge des Stadtumbaus vollziehen sich über viele Jahre und werden mitunter fragmentiert ausgeführt. Bestandshalter verzichten auf Instandhaltung und Investitionen in Wohngebäude, die zum Abriss geplant sind, oder reduzieren diese auf ein Minimum. Gleichzeitig werden diese Gebäude so lange wie möglich bewohnt gehalten, um Mieteinnahmen zu generieren. Oft werden diese Wohnungen an Flüchtlinge oder Transferleistungsbezieher/-innen vermietet, die auf dem lokalen Wohnungsmarkt wenig andere Optionen haben. Während angesichts der Einwohnerentwicklung der Kommunen der Verlust an Wohnraum quantitativ und qualitativ als unproblematisch oder geboten erscheinen mag, ist die Qualität von Wohnraum und Wohnumfeld für diejenigen, die bis zuletzt und mitunter über Jahre hinweg in diesen Quartieren wohnen, mangelhaft. Das gilt umso mehr, als die zwischen den verbleibenden Gebäuden entstehenden Abrissflächen selten als Freiflächen gestaltet und in Wert gesetzt werden und soziale Einrichtungen, Einkaufsmöglichkeiten sowie öffentlicher Nahverkehr nur noch ausgedünnt vorhanden sind und sukzessive ganz verschwinden.
3.3
Steuerung und Ressourcen
Wie hieraus ersichtlich wird, sind ostdeutsche Kommunen angesichts der gesellschaftlichen und räumlichen Transformationsprozesse der letzten Jahrzehnte noch immer mit erheblichen Herausforderungen hinsichtlich der Sicherung adäquater Wohnraumversorgung für alle Einwohner/-innen und Haushaltstypen konfrontiert. Soll der mit dieser Transformation verbundene Prozess räumlicher Restrukturierung so organisiert werden, dass er Wohn- oder Raumqualitäten schafft, braucht es zweierlei: eine enge Kooperation der beteiligten Akteure und eine zielgerichtete Steuerung, die gerade in kleineren Städten unter den Bedingungen knapper finanzieller und personeller Ressourcen erfolgen muss. Wie zuvor erläutert, ist ein strukturelles Merkmal kleinerer Städte die Knappheit und Nähe von verantwortlichen bzw. engagierten Personen und institutionelschaftlichen bzw. politischen Prozesses und insofern weder unvermeidbar noch unumkehrbar (Kühn 2016: 151f.).
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len Akteuren. Dabei sind mit Blick auf die Wohnraumversorgung die großen, lokal ansässigen Wohnungsunternehmen zentrale Akteure in kleineren Thüringer Städten. Ausmaß und Qualität der Kooperation der Stadt mit diesen Unternehmen und anderen Akteuren beeinflusst maßgeblich die Qualität der Wohnraumversorgung. Zeigen lässt sich dies daran, wie in den Großsiedlungen mit Leerstand im Rahmen der Städtebauförderung auf Basis integrierter Stadtentwicklungs- und Wohnungsmarktkonzepte Abriss- und Umbaumaßnahmen umgesetzt wurden. Exemplarisch sei dies an zwei sehr gegensätzlichen Beispielen illustriert. In Saalfeld Neu-Gorndorf lebten 1990 mehr als 10.000 Einwohner, 2016 waren es noch knapp 5.400 (Stadt Saalfeld 2019: Stadtteilpass 12). Insgesamt wurden bislang etwa 950 Wohneinheiten abgerissen, weitere 160 werden folgen und 160 Wohnungen werden um- bzw. teilrückgebaut. Vor allem die kommunale Wohnungsbaugesellschaft trieb die Restrukturierung proaktiv voran, indem sie mit neuen Gebäudeformen experimentierte und das Wohnraumangebot zu diversifizieren suchte. Dabei hatte sie stets auch im Sinn, den Stadtraum nicht zurückzubauen, sondern weiterzuentwickeln. Sie handelte Hand in Hand mit der Kommune, aber auch in Abstimmung mit den anderen institutionellen Anbietern von Wohnraum. Die Kommune wies zugleich den Standort als zweites Zentrum der Stadt aus und setzte damit ein wichtiges Zeichen. Entstanden ist durch diese konzeptionelle Integration von Wohnungs- und Stadtentwicklungspolitik mit gesamtstädtischer Perspektive ein preiswertes, beliebtes Quartier. Ganz anders entwickelte sich Altenburg Nord, ein Quartier für ehemals ca. 12.000 Einwohner mit ca. 5000 Wohneinheiten. Von 1995 bis 2013 verlor das Quartier 32,5 Prozent der Bevölkerung. Vorgesehen war wie in den meisten Quartieren des Stadtumbaus-Ost ein abgestimmter Rückbau von außen nach innen. Bis 2016 waren etwas weniger als die Hälfte, nämlich 2054 Wohneinheiten, abgerissen. Dies geschah aber nicht in abgestimmter Weise, sondern folgte vor allem den betriebswirtschaftlichen Logiken der unterschiedlichen Bestandshalter. Nun stehen leere und sanierte Gebäude, abrissreife Häuser und Brachen ohne erkennbares stadträumliches Konzept nebeneinander. Mit viel Förderung ist eine perforierte Stadtlandschaft entstanden, in einer Siedlung am Rand der Stadt, die ohnedies als »peripherisiert« wahrgenommenen wird. In kleineren wie in größeren Städten ist Kooperation in gewissem Maße stets abhängig von zufälligen Interessen und Akteurskonstellationen. Aufgrund der geringeren Zahl an möglichen Kooperationspartnern ist diese Zufälligkeit für kleinere Städte besonders folgenreich. Umso wichtiger aber ist es wahrzunehmen, dass, wie sich zum Beispiel in Saalfeld zeigt, die Existenz großer institutioneller, lokal verankerter Anbieter und insbesondere auch kommunaler Wohnungsunternehmen eine Chance darstellt, konzertiert Wohnraumentwicklung anzugehen und Qualitäten zu sichern. Umgekehrt ist es entscheidend, dass die Kommunen dieses Engagement der starken Akteure im Dialog hinreichend steuern, indem sie sicher-
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stellen, dass nicht allein wohnungswirtschaftliche Kriterien Quartiersentwicklung bestimmen, sondern auch die Qualitäten stadträumlicher Entwicklung gesichert werden. Wie erwähnt sind allerdings die Ressourcen der Planungsämter kleinerer Städte und der öffentlichen Haushalte jenseits der Wachstumsräume begrenzt. Gerade weil aber nun den Kommunen eine verstärkte Rolle bei der Wohnraumversorgung zukommt, ist dies problematisch: Außer projektbezogenen Fördermitteln braucht es langfristige fachliche Steuerung, um Wohnraumversorgung adäquat zu sichern und eine produktive Kooperation der zentralen Akteure ins Leben zu rufen. Außerdem wäre darüber nachzudenken, wie die ausgedünnten Planungsämter dauerhaft auf überregionale Ressourcen fachlicher Begleitung für das breite Spektrum an Aufgaben der Wohnraum- und Stadtentwicklung unterstützt werden könnten. Ein vom Land finanziertes »mobiles Einsatzteam Stadtentwicklung«, auf das kleinere Kommunen für konzeptionelle Planungen, die Unterstützung beim Einwerben von Fördermitteln und die Begleitung aufwendiger und langfristiger Kooperationsprozesse zugreifen könnten, wäre eine Möglichkeit, die Kommunen von den zahlreichen Zusatz- und Spezialaufgaben zu entlasten, für Austausch zwischen den Kommunen zu sorgen und regelmäßig auch externe fachliche Kompetenz ohne Zusatzkosten für die Kommunen in lokale Stadtentwicklungsprozesse einzubringen.19
Fazit und Ausblick Wohnungsfrage(n) gibt es also auch in kleineren Städten jenseits der Wachstumszentren. Gerade in strukturschwachen Räumen, in denen die Zahl der Einwohner/-innen abnimmt, zeigt sich, dass mehr noch als die quantitative Verfügbarkeit von Wohnraum und die Versorgung aller Einkommensgruppen mit Wohnraum, die qualitativen Wohnungsfragen drängend sind. Herausforderungen stellen sich vor allem mit Blick auf die Sicherung von bezahlbarem und gleichwohl im zuvor angeführten Sinne angemessenen Wohnraum für ältere aber auch einkommensarme Haushalte, bei der flächen- und ressourcensparenden Bereitstellung von Wohnraum für eigentumsorientierte Haushalte und den Erhalt bzw. die Verbesserung sozialräumlicher Integration der kleineren »Großsiedlungen« in kleineren Städten. 19
Vergleichbar agiert auch die Internationale Bauausstellung Thüringens, wenngleich diese auch v.a. auf lokale Leuchtturmprojekte fokussiert und ihre Wirkungszeit befristet ist: Die Projekte lokaler Akteure werden durch die Expertise und Arbeitszeit der bei der IBA Thüringen beschäftigten Projektleiter/-innen unterstützt. So können die Projektleiter/-innen die lokalen Akteure bei der inhaltlichen Entwicklung ihrer Projekte beraten. Sie können mit ihrer Expertise Anträge für Fördermittel vorbereiten, aber auch die Steuerung der Projektentwicklung selbst und die Koordination der Implementierung übernehmen, deren inhaltliche Gestaltung jedoch den lokalen Akteuren obliegt.
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Diese Herausforderungen aber lassen sich, umso mehr in diesem Umfeld, nicht allein durch den Wohnungsmarkt lösen. Gerade in kleineren Städten gilt es, die sozialen, stadträumlichen und landschaftlichen Qualitäten des Wohnens im Auge zu behalten – macht doch die Qualität des Wohnens in nicht unwesentlichem Maß die Attraktivität gerade dieser Städte aus. Will man diese Qualitäten erhalten und kleinere Städte als Wohnstandort fördern, so bedarf es folglich der erhöhten Aufmerksamkeit von Gesellschaft, Politik und Fachöffentlichkeit auch für Wohnungsfragen in kleineren Städten. Weil Wohnen in unserer Gesellschaft als Ware konzeptioniert ist, ist die Sicherung der Infrastruktur Wohnen in hinreichender Quantität und Qualität für alle dort, wo der Markt nicht profitabel erscheint, keineswegs gewährleistet. Tatsächlich erscheint es gerade dort zwingend, Wohnungsfrage(n) nicht nur entlang der Logiken des Wohnungsmarkts in den Blick zu nehmen bzw. zu lösen. Dass sich auf diese Weise Wohnqualitäten erhalten und schaffen lassen, zeigt das Wirken tendenziell weniger profitorientierter, dafür aber lokal verankerter kommunaler und genossenschaftlicher wohnungswirtschaftlicher Akteure bei der Gestaltung von Stadtumbau und Quartiersentwicklung. Angesichts der Komplexität, Bedeutung und lokalen Ausprägung von Wohnungsfrage(n) ist es zwingend, die Aufmerksamkeit für die Herausforderungen sozialer Wohnraumversorgung nicht auf den zyklisch wiederkehrenden Mangel an Wohnraum in Großstädten und wachsenden Regionen zu reduzieren. Dabei stehen Bundes- und Landespolitik angesichts der polarisierten Bedingungen der Wohnraumentwicklung zwischen Stadt und Land, wachsenden und schrumpfenden Regionen vor der Herausforderung Aufmerksamkeitsstrukturen und Förderbedingungen für ganz unterschiedliche Bedarfe und lokale Bedingungen ebenso wie Akteurskonstellationen zu entwickeln. Stadtforschung ebenso wie Planungswissenschaft hingegen sind gehalten, die Wohnungsfrage(n) dieser Räume nicht aus den Augen zu verlieren und mit empirischer Forschung weiter zu ergründen.
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Unter dem Radar
Schönig, Barbara (2019): »Sozialer Wohnungsbau in Deutschland – Vom Wohnungsbau für alle zum Ausnahmesegment«, in: Bürger & Staat, Wohnen, S. 166-75. Schönig, Barbara/Vollmer, Lisa (2018): »Wohnungsnot gestern und heute«, in: Informationen zur Raumentwicklung Heft 4, S. 8-19. Stadt Saalfeld (2019): Integriertes Stadtentwicklungskonzept: Saalfeld 2035. Fortschreibung 2018 (Entwurf 14.10.2019), Saalfeld. Stadt Weimar (2009): Statistisches Jahrbuch 2009. Teil I. https://stadt.weimar.de/ fileadmin/redaktion/Dokumente/ueber_weimar/statistik/jahrbuecher/JB_ 2009_Teil1.pdf (letzter Zugriff am 25.03.2020). Steinführer, Annett/Großmann, Katrin/Schenkel, Kerstin (2018): »Wohnen in kleinen Städten. Plädoyer für eine sozialräumliche Perspektive«, in: Informationen zur Raumentwicklung Heft 6, S. 68-79. Thüringer Landesamt für Statistik (TLS) (o.J.): Bevölkerungsstand und Struktur. Bevölkerung der Gemeinden, erfüllenden Gemeinden und Verwaltungsgemeinschaften nach Geschlecht in Thüringen. https://statistik.thueringen.de/datenbank/TabAnzeige.asp?tabelle=gg000102%7C%7C (letzter Zugriff am 10.03.2020). Thüringer Ministerium für Bau, Landesentwicklung und Verkehr (TMBLV) (2014): Landesentwicklungsprogramm Thüringen 2025, Erfurt. Thüringer Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft (TMIL) (2018): 2. Wohnungsmarktbericht Thüringen, Erfurt. UN Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) (2009): The Human Right to Adequate Housing, Fact Sheet No. 21, United Nations. Veser, Jürgen/Jacobs, Tobias/Diez, Beatrice (2018): Wohnungsmarktprognose für die Stadt Eisenach. Endbericht, IfS Institut für Stadtforschung und Strukturpolitik GmbH, timourou Wohn- und Stadtentwicklungskonzepte, Stadt Eisenach. Wüstenrot-Stiftung (Hg.) (2012): Die Zukunft von Einfamilienhausgebieten aus den 1950er bis 1970er Jahren. Handlungsempfehlungen für eine nachhaltige Nutzung, Ludwigsburg: Wüstenrot-Stiftung. Wüstenrot-Stiftung (Hg.) (2018): Große Siedlungen in kleinen Städten. Probleme, Herausforderungen, Perspektiven, Ludwigsburg: Wüstenrot-Stiftung.
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Barbara Schönig
Anhang: Tabelle – Übersicht über zentrale Merkmale und Entwicklungen in den sechs untersuchten Klein- und Mittelstädten Thüringens
Quelle: Eigene Darstellung unter Verwendung von folgenden Datengrundlagen: Raumtyp: BBSR 2012b; Gemeindetyp: BBSR 2012a; Kategorisierung LEP Thüringen: TMBLV 2014: 16.
Quelle: Eigene Darstellung unter Verwendung von folgenden Datengrundlagen: Bevölkerung 1990: Stadt Weimar 2009; Bevölkerung 1995-2015: TLS o.J.; Bevölkerung 2020/Bevölkerungsprognose/Altersdurchschnitt/Altenquotient: Bertelsmann-Stiftung o.J.
Unter dem Radar
Quelle: Eigene Darstellung unter Verwendung von folgenden Datengrundlagen: Arbeitslosigkeit/SGB II-/SGB XII-Quote/ALG II-Quote/Kinderarmut: Bertelsmann-Stiftung o.J.; verfügbares Einkommen pro Haushalt: TMIL 2018; Haushalte mit niedrigem Einkommen: Bertelsmann-Stiftung o.J..; Mietbelastung, Wohnungsüberhänge, Leerstand: TMIL 2018.
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Autorinnen und Autoren
Das Bündnis »kommunal & selbstverwaltet Wohnen« aus Berlin besteht aus Mieter/-innen aus Häusern und Siedlungen der landeseigenen Wohnungsunternehmen und solchen, die es werden wollen, und setzt sich für die Ausweitung von Mitbestimmung und Selbstverwaltung von Mieter/-innen ein. Gabriela Debrunner ist Humangeographin und arbeitet als Doktorandin und wissenschaftliche Assistentin am Geographischen Institut der Universität Bern. Sie studierte Geographie an den Universitäten Bern und Stockholm und war wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Regionalplanung Zürich und Umgebung (RZU). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Stadtgeographie, Strategien lokaler Wohnungs- und Bodenpolitik sowie der Umgang mit Bestand bei Innenentwicklungsprozessen. Jean-David Gerber ist Associate Professor am Geographischen Institut der Universität Bern. Er leitet die Abteilung politische Stadtforschung und nachhaltige Raumentwicklung. Seine Forschungsinteressen liegen u.a. in der Bodenpolitik, der Rolle der Eigentumsrechte bei der Landnutzungsplanung sowie der sozialen Wohnraumversorgung. Andreas Hengstermann arbeitete zwischen 2012 und 2018 als Doktorand und PostDoc am Lehrstuhl für politische Stadtforschung und nachhaltige Raumentwicklung am Geographischen Institut der Universität Bern. Er hat Stadtplanung an der TU Dortmund studiert. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Analyse von bodenpolitischen Strategien von Gemeinden. Er arbeitet zudem als wissenschaftlicher Assistent in der Hochschuldidaktik und Lehrentwicklung der Universität Bern. Inga Jensen ist Politikwissenschaftlerin und Historische Urbanistin. Schwerpunkte ihrer Forschung sind die Rekommunalisierung und Dekommodifizierung von Wohnraum sowie die soziale Wohnraumversorgung. Derzeit promoviert sie an der Bauhaus-Universität Weimar in der Nachwuchsforscherinnengruppe »Soziale
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Wohnungsfragen ohne Ende?!
Wohnraumversorgung in wachsenden Stadtregionen. Stadtplanerische und rechtliche Perspektiven« der Hans-Böckler-Stiftung zu Wohnraum als Infrastruktur und erforscht insbesondere Ansätze zu Rekommunalisierung von Wohnraum. Sebastian Klus ist Sozialarbeiter und Professor für Soziale Arbeit und Politik an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Villingen-Schwenningen. Er hat Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Freiburg studiert und am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin im Lehrbereich Stadtsoziologie promoviert. Vor seiner Berufung an die Hochschule war er neun Jahre lang als Gemeinwesenarbeiter tätig. Seine Schwerpunkte in Lehre und Forschung liegen in den Bereichen Sozialarbeitspolitik, Gemeinwesenarbeit und soziale Stadtentwicklung sowie Armut und soziale Ausgrenzung. Anne Kockelkorn ist promovierte Stadt- und Architekturhistorikerin und KoLeiterin des Studiengangs Master of Advanced Studies (MAS) für Geschichte und Theorie der Architektur an der ETH Zürich. Ihr Forschungsschwerpunkt ist der europäische Wohnungsbau ab der Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts, ihr Fokus liegt auf den Schnittstellen zwischen architektonischer Gestalt, Stadtentwicklung und Subjektivierungsprozessen. Ihre Dissertation »The Social Condenser II« erhielt 2018 die ETH-Medaille. Antonia Josefa Krahl ist Soziologin und Doktorandin am Institut für Europäische Urbanistik der Bauhaus-Universität Weimar. Sie promoviert in der Nachwuchsforscherinnengruppe »Soziale Wohnraumversorgung in wachsenden Stadtregionen. Stadtplanerische und rechtliche Perspektiven«, die von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert wird. Sie hat Empirische Politik- und Sozialwissenschaften an der NTNU Trondheim sowie der Universität Stuttgart studiert und ist dort wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Architektur- und Wohnsoziologie der Fakultät für Architektur. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Architektur-, Stadt- und Wohnsoziologie und deren empirische Forschungsmethoden. Arvid Krüger ist Stadt-/Raumplaner und Post-Doktorand an der Universität Kassel im Forschungsverbund Neue Suburbanität sowie seit 2020 Gastprofessor am FG Stadterneuerung und Integrierte Stadtentwicklung an der FH Erfurt. Er hat in Berlin und Stockholm studiert und 2018 an der Bauhaus-Universität Weimar zur Stadterneuerung von Großsiedlungen promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte verbindet er kontinuierlich mit der Planungspraxis und ist ehrenamtlich bei der SRL aktiv.
Autorinnen und Autoren
Cilia Lichtenberg ist Urbanistin und promoviert zum deutschen und niederländischen Erbbaurecht an der Bauhaus-Universität Weimar. Sie ist Promotionsstipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung in der Nachwuchsforscherinnengruppe »Soziale Wohnraumversorgung in wachsenden Stadtregionen. Stadtplanerische und rechtliche Perspektiven«. Florian Rödl ist Rechtswissenschaftler und hat seit 2016 eine Professur für Bürgerliches Recht, Arbeits- und Sozialrecht am Institut für Arbeitsrecht an der Freien Universität Berlin inne. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Grundlagen des Bürgerlichen Rechts und des kollektiven Arbeitsrechts sowie dem Recht der Arbeitsbeziehungen und der Sozialstaatlichkeit unter Einfluss des Unionsrechts. Florian Schmidt ist seit 2016 Baustadtrat für den Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg in Berlin und Mitglied der Partei Bündnis 90/die Grünen. Er ist in der mietenpolitischen Bewegung aktiv und setzt sich für eine Neuausrichtung der Berliner Liegenschaftspolitik sowie für eine sozial gerechtere Wohnraumversorgung ein. Mit der aktiven Nutzung des kommunalen Vorkaufsrechts, der Idee eines Masterplans »50% Communal« und der neu gegründeten Mietergenossenschaft »DIESE e.G.« sorgte er bundesweit für Aufmerksamkeit. Barbara Schönig ist Professorin für Stadtplanung an der Fakultät Architektur und Urbanistik der Bauhaus Universität Weimar und seit 2013 Direktorin des Instituts für Europäische Urbanistik. Ihre Forschungsschwerpunkte sind soziale Wohnraumversorgung, Governance und Partizipation in Planung und Stadtentwicklung sowie die (Re-)Strukturierung städtischer, suburbaner ebenso wie ländlicher Räume im Kontext gesellschaftlicher Transformation. Maike Simmank (M.A.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI). Im Rahmen eines Transferprojekts beschäftigt sie sich mit Versorgungsstrukturen und Alltagsarrangements im Kontext »gleichwertiger Lebensverhältnisse« in ländlichen Gemeinden Südniedersachsens. Lisa Vollmer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Urbanistik, Bauhaus-Universität Weimar. Ihre Forschungsschwerpunkte sind soziale Bewegungsforschung, Wohnungsforschung und Governanceforschung. Ihre Promotion hat sie zu aktuellen Mieter/-innenbewegungen in Berlin und New York verfasst. Sie ist Mitglied der Redaktion von »sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung«.
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Soziologie Naika Foroutan
Die postmigrantische Gesellschaft Ein Versprechen der pluralen Demokratie 2019, 280 S., kart., 18 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4263-6 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4263-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4263-6
Maria Björkman (Hg.)
Der Mann und die Prostata Kulturelle, medizinische und gesellschaftliche Perspektiven 2019, 162 S., kart., 10 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4866-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4866-3
Franz Schultheis
Unternehmen Bourdieu Ein Erfahrungsbericht 2019, 106 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4786-0 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4786-4 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4786-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Soziologie Sybille Bauriedl, Anke Strüver (Hg.)
Smart City – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten
2018, 364 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4336-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4336-1 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4336-7
Weert Canzler, Andreas Knie, Lisa Ruhrort, Christian Scherf
Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende Soziologische Deutungen 2018, 174 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4568-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4568-6 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4568-2
Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)
movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018 2019, 246 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4474-6
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de